795. An Hermann Nöldeke
795. An Hermann Nöldeke
Wiedensahl 17. Juli 90
Lieber Hermann!
Sei bedankt für deinen Brief, den ich gestern erhielt. – Nur gut, daß es mit Sophiechen immer beßer geht. – So sind wir Menschen. Wir singen und beten in aller Gemüthlichkeit. Geht aber mal Was verquer, dann zeigt sich's, wie erbärmlich wenig Gottvertraun wir haben. – Mutter ist seit Sonnabend in Lüethorst. Sie zögerte natürlich mit dem Reisen, aber ich drängte zum Entschluß. – Adolf fand ich neulich so gesund aussehend wie nie vorher. Ich besuchte die Herren Einjährigen im Negligée der Frühstückspause. Ihr Metier kommt gleich nach dem Mistfahren; sie sind halb Bauern halb Stallknechte und denken und reden absolut über Nichts wie Das. – Was die Philologen betrifft, so hab ich aus der kölnischen Zeitung etwa Folgendes entnommen: Vom 1. Oct. 90. an kann nur ein Kandidat mit vollem Zeugniß in's Seminar (Göttingen, Goslar, so viel ich weiß), und, wenn er hier ein genügendes Zeugniß erhält, zum Probejahr übergehn. Mit unvollständigem Zeugniß wird überhaupt keiner mehr angestellt. Nun hat die Verordnung aber keine rückwirkende Kraft. Dies träfe für Adolf zu. Er kann bis zum 1. Oct. in's Seminar eintreten, muß dann später aber natürlich sein Zeugniß vervollständigen. – Es wäre gut, wenn du darüber in Göttingen direkt an der Quelle, beim Vorstande des Seminars, dich erkundigtest. – Seit ein paar Tagen haben wir gutes Wetter. – Die Gartenfrüchte sind leidlich; die Kartoffeln, wenn auch nicht ergiebig, schmecken vorzüglich. – Die Rosen, die sich vom Raupenfraß noch nicht erholt, sehen zerzaust aus, rüsten sich nun aber zur zweiten Blüthe. – Die beiden Rosensorten, die du erwähnst, besitz ich nicht.
Leb wohl, lieber Hermann! Herzlichen Gruß an Sophiechen, meine Empfehlung an Frl. Grummen.
Stets dein getr. Onkel
Wilhelm.