Berlin, den 14. Mai 1980
Sehr geehrte Genossen!

Seit 1953 werden in unserer Republik hörgeschädigte Jugendliche in den verschiedensten Berufen zu Facharbeitern ausgebildet. Die berufspraktische Ausbildung dieser Geschädigten erfolgt vorwiegend in Betriebsberufsschulen bzw. Betriebsschulen volkseigener Betriebe bzw. staatlicher Einrichtungen.

Der berufstheoretische sowie allgemeinbildende Unterricht wird an Berufsschulen für Hörgeschädigte und an Berufsschulteilen verschiedener Gehörlosen- und Schwerhörigenschulen der DDR durchgeführt. Die praktische und theoretische Ausbildung weniger Berufe erfolgt an der Medizinischen Fachschule Bad Berka und im Rehabilitationszentrum Langenstein. In diesen genannten Bildungsstätten werden die hörgeschädigten Jugendlichen z.Z. in 25 Berufen ausgebildet (siehe Anlage).

Es kann eingeschätzt werden, daß sich die Berufe für Hörgeschädigte bewährt haben. Das beweist auch die geringe Fluktuationsquote in den einzelnen Berufen. Einige der Berufe für Hörgeschädigte weisen aber lärmexponierte Arbeitsplätze auf. Deshalb häuften sich in den letzten Jahren Fälle, wo Hörgeschädigte durch HNO-Fachärzte keine Genehmigung zum Erlernen eines solchen Berufes erteilt bzw. der Facharbeitereinsatz untersagt wurde. Maßgebend dafür war die Anwendung der 5. Durchführungsbestimmung zur Arbeitsschutzverordnung. In der Durchführungsbestimmung wird u.a. gesagt, daß Hörgeschädigte an Arbeitsplätzen mit hörschädigendem Lärm (über 80 dB) nicht eingesetzt werden dürfen.

Es sind bedauerlicherweise Bestrebungen im Gange, in einzelnen Berufen (u.a. Schlosser, Zerspannungsfacharbeiter, Facharbeiter für Holztechnik und Facharbeiter für buchbinderische Weiterverarbeitung) keine Berufsausbildung mehr durchzuführen:

1. Dem Ministerium für Volksbildung, Abt. Sonderschulen, wurde am 22.2. 1980 durch MR Dr. Kreibich, Leiter der Abteilung Gesundheitsschutz in den Betrieben und Arbeitshygieneinspektion im Ministerium für Gesundheitswesen, mitgeteilt, daß die Ausbildung Schwerhöriger im Beruf Schlosser zum nächstmöglichen Termin einzustellen ist.

2. Dem Zentrum für Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung Hörgeschädigter in Leipzig wurde am 24.4.d.J. durch den Direktor der Berufsschule für Hörgeschädigte in Gotha mitgeteilt, daß er ab 1981 keine Hörgeschädigten als Schlosser ausbilden kann und auch bereits abgeschlossene Lehrverträge wieder gelöst werden müssen.

Diese Entscheidung ist das Ergebnis eines Gespräches zwischen der Betriebsärztin des VEB Lufttechnik Gotha (in diesem Betrieb erfolgte die praktische Berufsausbildung der Hörgeschädigten) und dem Direktor der Berufsschule für Hörgeschädigte. Die Betriebsärztin ist nicht mehr bereit, die Betreuung der schwerhörigen Schlosserlehrlinge zu übernehmen bzw. bereits bestätigte Tauglichkeitsuntersuchungen von Ärzten aus anderen Kreisen und Betrieben anzuerkennen. Auch wir sind der Meinung, daß vorhandenes Restgehör bei einem hörgeschädigten Menschen durch Einsatz an lärmexponierten Arbeitsplätzen nicht weiter geschädigt werden darf. Es müßten deshalb in den Ausbildungsstätten und Betriebsabteilungen Bedingungen geschaffen werden, die eine Ausbildung bzw. den Facharbeitereinsatz in bewährten Berufen ermöglichen. Unsere Gedanken gehen dahin, solche Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu schaffen bzw. bereitzustellen, wo der Lärm unter dem gesetzlich festgelegten Pegel liegt.

Es sollte nicht von vornherein dieser oder jener Beruf aufgrund erhöhter Lärmbelästigung für den Hörgeschädigten abgelehnt werden, da die Anzahl der zur Verfügung stehenden Berufe ohnehin schon begrenzt ist. Es ist u.E. auch nicht vertretbar, daß gerade in Vorbereitung und Durchführung des Internationalen Jahres der Geschädigten 1981 eine derartige Unruhe in die Berufsausbildung Hörgeschädigter getragen wird.

Wir bitten Sie, in dieser Angelegenheit zu helfen. Das Ziel muß sein, nicht die Berufsmöglichkeiten Hörgeschädigter einzuschränken, nicht attraktive Metallberufe einfach von der Ausbildungsliste zu streichen, sondern vielmehr die Palette der Berufe zu erweitern und auch Hörgeschädigten die Möglichkeit zu geben, in Metallbearbeitungs- bzw. Metallverarbeitungsberufen tätig zu sein.

Siebert
Sekretär des Zentralvorstandes

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