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Du wirst wohl meinen, liebster Freund, bey mir heiße es: aus den Au-
gen, aus dem Sinn - da ich vierzehn Tage habe vergehen lassen
ohne Dir weitere Nachricht von mir zu geben; dem ist indeß, - wie
Du willst, leider oder (und auch wohl besser) glücklicherweise,
keinewegs so. Ich habe die neue Heimath in der alten so wenig
vergessen, daß, in der befreundetsten Umgebung, und mehr noch
wenn ich allein bin, die unmittelbare Gegenwart mir oft
als ein Traum erscheint und es mir in der That nicht leicht
wird den gerechten Anforderungen derer die mir hier
wohl wolten, mit wachem {Bewustseyn} zu genügen. Du
kannst Dir deshalb vorstellen, wie erwünscht mir die Erschei-
nung Deines lieben Briefes war, den ich, bey der Rückkehr
von einer kleinen Reise nach Beichlingen und Neuhausen,
den Wohnsitzen meines Jugendgenossen Werthern und seiner
Mutter, gestern Abend hier vorgefunden habe. Unsre bey-
den Festtage, die Ihr auf eine so heitre und würdige Weise
gefeyert habt, sind von mir Einsamem zwar einsam, aber
übrigens doch mit gleich inniger Empfindung, ja selbst mit Heiter-
keit begangen worden. Den 27sten bin ich mit zweyen meiner
Geschwister, die mir bis zu einem Verwandten in der güldenen
Aue
entgegengereißt waren, hier in der Vaterstadt angekom-
men. Wir fuhren beym schönsten Herbstwetter beym alten
Kiffhäuser, wo ehedem der große Schwabenkaiser Friedrich Bar-
barossa
oft zu hausen pflegte, vorüber, sahen dann in der
Ferne Kloster Memleben, die Grabstätten Heinrichs des 1sten und
der Ottonen und bestiegen, während unsre Pferde ruhten, die
Ruine der Sachsenburg, von wo aus man gleichzeitig die beyden
Gränzen des Thüringerlandes, im Norden den Harz und im Sü-
[[1v]]den den ThüringerWald, übersieht. Vormals hätte ich wohl unbe-
dingt mit meinen Geschwistern in das Lob der schönen Heimath ein-
gestimmt und auf das Ansehen unseres Dichters, die sandige Mark
mit ihren Musen und Grazien dagegen preisgegeben; allein
die Zeiten ändern sich und mit der Zeit gelangt man auch zu
besserer Einsicht. So habe ich denn wenigstens im Allgemeinen den
Satz geltend gemacht, daß der Geist auch bey geringerer Be-
günstigung der Natur sich eine Heimath zu bereiten versteht
und übrigens im Stillen meinen Theil noch hinzugedacht. Als
ein guter Logiker brachte ich denn auch das alte: ubi bene ibi
patria
, durch Hinzufügung des minor, bene ubi illa, für mich
zur bündigsten Schlußform und Du wirst hoffentlich an dieser
philosophischen Übung, rücksichtlich der Wahl des medius terminus
nichts auszusetzen haben.
1 Du magst mich übrigens immerhin ge-
legentlich auch mit Blumen und Sternen mein harmloses Spiel
treiben lassen; über Verlohrnes und Vergangenes habe ich
mich nicht zu beklagen und auch dafür daß ich mich im Fer-
nen nicht verliere, ist gesorgt, denn Alles treibt mich mit
Gewalt zur Gegenwart, einer Gegenwart deren Unver-
gänglichkeit ich mir auf das Entschiedenste bewußt bin. Die
Verweisung an das eigne Herz ist bedenklich; wenigstens ge-
hört, um die Ruhe zu finden, dazu daß das Herz schon durch
Leiden geprüft und berührt sey und daß es den Verlust sei-
ner selbst zu ertragen gelernt habe. Mit so manchem An-
dern habe ich auch dieß gelernt ohne dadurch ärmer gewor-
den [zu] seyn, und so kann ich es denn allerdings wagen, mich zu
mir selbst, als dem Andern meiner selbst zu wenden ohne
Furcht, wie die Blumen der Sonne gegenüber, zu verge-
hen. -

Den 28sten habe ich damit begonnen unserm lieben Alten mei-
[[2r]] nen Glückwunsch2 dazubringen; er ist, wie ich in Neuhausen ver-
nommen, erst den Abend zuvor aus Böhmen zurückgekehrt
und man hat ihn sogleich mit einer Abendmusik begrüßt.
Wie gern ich an Eurem Fest in Buchholz Theil genommen
hätte, kannst Du Dir leicht vorstellen; Deine Beschreibung
hat mich höchlich erfreut und ich zweifle nicht daß auch un-
ser Dichter, wenn er wahrnimmt, auf welche heitre und
anmuthige Weise unsre Musen und Grazien es sich
haben angelegen seyn lassen früheres Unrecht wieder gut
zu machen, sich, wozu er ohnehin schon geneigt war, mit
unserer lieben Mark und zumahl mit der guten Stadt
Berlin völlig versöhnen wird. Überhaupt ist es wohl ent-
schieden daß, wie groß auch die Anzahl derer seyn mag
die unsern trefflichen Meister lieben und verehren, gleich-
viehl nirgends in Teutschland sein Fest mit einem lei-
sern und innigern Bewußtseyn seines Werths begangen
worden ist als von den mir bekannten Mitgliedern jener
kleinen Gemeinde in Buchholz. Auch eine bessere Chorfüh-
rerin hätte sich nicht finden können, als die dem Dichter
selbst werthe Madonna Laura, der ich es, nächst dem
Verdienst das sie sich um meinen Freund erworben hat,
immer zum größten Ruhm anrechnen werde daß sie das
Vortreffliche so gründlich zu schätzen weiß, ohne sich dabey nach
der Weise gelehrter Frauen auf ein weises Critisieren ein-
zulassen. Ich erkenne {diß} Verdienst um so mehr an, da ich
früher nicht selten und noch neuerlich die Erfahrung habe ma-
chen müssen, wie leicht es geschieht daß edle und gebilde-
te Frauen in diesem Fall die zarte Gränzlinie zwi-
schen dem Zuwenig und Zuviel überschreiten, und indem
sie einerseits Unbedeutendes und Vergängliches mehr als bil-
[[2v]] lig gewähren lassen, andererseits sich den Genuß des als
wahrhaft und ewig Anerkannten durch unnütze Reflexionen
zu1 trüben und zu2 verkümmern lassenpflegen3. Jener freye und
unbefangene Sinn trägt wohl wesentlich dazu bey daß die
götheschen Lieder, von der Freundin vorgetragen, sich so gut
ausnahmen und wenn etwa sonst unerwünschte Stimmung sich
einstellen sollte, so sollte ich meinen, dieselben Lieder müß-
ten sich geistig und leiblich als die beste Medicin erweisen.
Freylich lehrt auch hier die Erfahrung, daß der Entschluß, das
Heilmittel zu gebrauchen, schon eine halbe Genesung voraus-
setzt. Nun ich will hoffen und freylich wünschen daß wenn
wir uns wiedersehen, es dann unseres Philosophierens über
diesen Punkt nicht mehr bedarf. -

Diesen Morgen habe ich bereits Antwort von Weimar3
erhalten, kurz aber wohlwollend und gütig, wie immer. Über
meine kleine Schrift, die ich dem Alten übersendet, schreibt
er mir unter Andern: „Ihre Einleitung billige sehr, sie ist
erschöpfend, wohlgedacht und wohl geordnet“ Diese Billigung
ist mir der allerbeste und erwünschteste Lohn; die Physiker mö-
gen nur sagen was sie wollen, oder auch gänzlich schweigen,
das soll mir gleich viel gelten und mich auf keine Weise
irre machen. Da ich heute und morgen noch zwey meiner
Geschwister hier erwarte, welche überhaupt nur ohngefähr
acht Tage hier werden verbringen können, so gedenke ich
meine Reise nach Weimar erst gegen das Ende der nächsten
Woche anzutreten; Göthe schreibt mir ich könne kommen wann
ich wolle, je eher, um so lieber, ich möge ihn indeß vorher
wissen lassen wann, damit er sich um diese Zeit zu Hau-
se halten könne. Gar erwünscht wäre es wenn Du, und
besser noch wenn Ihr beyde, noch zum Reisen gelangtet und
[[3r]] wir dann in Weimar zusammentreffen könnten. Ich zweifle
nicht daß Du das Deinige dazu thun wirst und ich an meinem
Theil kann mich, bey der geringen Entfernung zwischen
hier und Weimar, auf jeden Fall so einrichten daß ich zu
der Zeit dort bin die Dir die gelegenste ist. Für dieses
Mal würde ich wohl nur bis zum 17ten in Weimar blei-
ben da ich den 18ten in Beichlingen zu seyn wünsche um
dort mit meinem Freund Werthern den Geburtstag sei-
ner Mutter zu begehen. Laß mich nur bey Zeiten wissen
was ich hoffen darf und schreibe hierher nach Gotha: ich bin
zu Allem bereit und komme Dir mit offenen Armen ent-
gegen wann und wohin Du es wünschst. Ich freue mich ge-
wiß freylich über das Zusammenseyn mit meinen Geschwistern
die sämmtlich mit so vieler Liebe an mir hängen und mich
gar nicht wieder aus ihrer Mitte lassen möchten; allein ich
sehe nun einmal die Heimath jetzt mit andern Augen an
wie sonst und so bin ich denn auch entschlossen, alle wei-
tern Pläne aufzugeben, und freudigen Muthes zu Euch zu-
rückzukehren. Ich habe früher Thöriges genug gethan und
mich eigensinnig waltend im Grunde aber plan- und willen-
los in der weiten Welt herumtreiben lassen; es ist
nunmehr Zeit vernünftig zu werden und ich ich will mir da-
zu
wenigstens ein Herz fassen, das Vernünftige und Ge-
hörige zu thun, ohne weiter drüber zu grübeln was
für mich selbst daraus hervorgehen mag. Obschon die Philoso-
phie, wenn ich mit mir mich ins Gleiche zu setzen suche,
oft selbst gegen mich Parthei zu nehmen pflegt, so brauchst
Du doch nicht zu fürchten daß ich am Ende noch dazu wer-
de getrieben worden zu seyn: hang up philosophy4 ­
denn ich weiß nur zu gut, daß der Gegensatz um das es
sich {das} handelt kein leichter ist und nicht umsonst habe ich vom
[[3v]] göttlichen Dante erfahren, daß ein Blick der Beatrice es
gewesen ist, der ihn ins Paradiso erhoben hat. Lange genug
habe ich am Tage nach jenen beyden Terzinen5 gesucht, die
ich träumend aus dem Munde des hohen Kindes vernom-
men zu haben meine und ich überzeuge mich nunmehr
wachend daß die Worte die ich suchte, keine andern sind
als die welche Du so schön für mich ins Deutsche übertragen
hast. Voglio dunque rofarmi[?] in quella lustra – und so nimm
mich wieder und laß uns heitern Sinnes auf unsrer ge-
meinschaftlichen Bahn mit einander fortschreiten. Hyacinthen
und Astern haben wir blühen gesehen und so wollen wir
ferner das Ende mit dem Anfang in Eins zusammenzie-
hen und des Unvergänglichen uns erfreuen. Unsre Freun-
de grüße von mir auf das Freundlichste; Hegel sage wie
sehr ich mich über die gute Nachricht6 die ich von Dir erhalten freue
und daß ich freylich wünsche daß die schönen Septembertage ihm noch zu Gute kommen mögen. Demnächst will ich, bey
aller sonstigen Übereinstimmung mit Deiner Frau, wünschen
daß der Kopfschmerz, wovon ich seit acht Tagen heimgesucht
worden bin, nervopathisch seyn und ihr in Abrechnung gebracht werden mag. Daß sie mich im Ganzen verständ-
lich findet ist mir lieb; sie thut wohl daran das Einzelne
zu übersehen, denn unser aller Herr sagt: Das Leben
im Einzelnen sey oft ungenießbar, ja bedenklich. Auch
die beyden schönen Sterne welche an Euerem Horizont
aufgegangen sind und deren Anblick mir hier versagt
ist, grüße, wenn Du sie erblickst, von mir schweigend
wie man die Sterne zu grüßen pflegt.–

Das Beste wünschend, mit treuem Herzen
Dein LvH.
Notes
1
Die Schlußfolgerung aus diesen beiden Prämissen lautet „ubi illa ibi patria“, „wo sie ist, ist Heimat", wobei mit sie von Hennings spätere Frau Emilie geb. Krutisch gemeint sein dürfte. Der „terminus medius“ (Mittelbegriff) ist „bene“ (gut).
2
3
4
So Romeo in Shakespeares Romeo und Julia, 3. Akt, 3. Szene, Vers 57.
5
Nicht ermittelt.
6
Vermutlich über die Genesung der Frau Hegels von einer längeren Krankheit, zu der am 9. Sept. 1822 Georg Friedrich Creuzer gratulierte; vgl. Briefe von und an Hegel II, S. 337.
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