Der Titel dieses Buches nennt den Namen eines Dichters nicht ohne Absicht. Wer von der lyrischen Dichtung unserer Zeit ein Bild geben möchte, wird den Namen Liliencron mit Nachdruck aussprechen müssen: einmal, weil er einen der ursprünglichsten und verehrungswürdigsten Dichter unserer Tage bezeichnet, und dann, weil dieser Name wie eine blitzende Grenzscheide zwischen den jungen Generationen und jenen Alten steht, die man, mit Ausnahme ihrer unvergeßlichen und von den Jungen mit Liebe gehegten Häupter, als die Vertreter einer ziemlich charakterlosen Übergangszeit bezeichnen darf. Freilich ist die gewöhnliche Vorstellung von der Zeit, die vor die bekannten literarischen Kämpfe in den achtziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts fällt, keine ganz richtige. Es sah damals nicht so öde aus, wie manche glauben möchten. Keller und Meyer, Storm, Fontane und Greif schrieben ihre Gedichte, die von Einfluß auch für viele Jüngere geworden sind. Was jene Zeit als Gesamtbild so unsympathisch und lau erscheinen läßt, ist vor allem das Niveau. Dieses, stagnierend und trivial oft bis zum Unerträglichen, war allerdings einer trostlosen Öde des Geistes und Geschmacks verfallen.
Es ist das Verdienst einer Reihe von mutigen und kampffrohen Männern, zu Anfang der achtziger Jahre auf die Schwächen der damaligen Salon-Literatur energisch hingewiesen zu haben. Sie verlangten eine gesunde Wiedergeburt des alten Geistes der Wirklichkeit und leiteten durch Gründung von Zeitschriften und Herausgabe von Broschüren[XIV] eine Revolution der Literatur in die Wege, die mit sozialen Tendenzen, wie sie gerade in der Zeit lagen, lebhaft Hand in Hand ging. Die begeisterten Apostel — Julius und Heinrich Hart, Bleibtreu und M. G. Conrad — waren zwar keine überragenden Dichternaturen, aber sie besaßen die ganze Jugendfrische, die Ausdauer und vor allem den schönen Glauben, die notwendig sind, um einem Kampf zum Siege zu verhelfen. Ideen Nietzsches, in dessen eigenen Versen sich die Trauer der Einsamkeit mit dem heftigen Begehren nach Schönheit, Lebensfreude und glücklichen Tänzen mischt, befruchteten die Bewegung, ohne daß man den Einfluß dieser Ideen überschätzen darf. Es wäre sehr bequem zu sagen, daß etwa Herrenmenschen wie Liliencron und Dehmel die künstlerischen Resultate Nietzschescher Ideen geworden sind. Der Philosoph hat auf den letzteren der beiden Dichter ohne Zweifel Einfluß gewonnen, aber man kann sich doch dem Gedanken nicht verschließen, daß Dehmel sowohl wie besonders Liliencron im Grunde die gleiche künstlerische Entwickelung durchgemacht hätten, wenn ihnen Nietzsche niemals in das Bewußtsein gekommen wäre.
Die jungen Stürmer verlangten mit lauten Stimmen nach neuer Schönheit und sahen sich nach einem Heros um. Glücklicherweise meldete er sich sofort.
Im Jahre 1883, zu Beginn der schönen Kämpferjahre, erscheinen die „Adjutantenritte“ von Liliencron. Ihre Frische steht wie ein blauäugiger Wächter vor unserer heutigen lyrischen Dichtung da. Die Verse dieses Buches wurden ein Osterläuten, das süß verlockend über das Land hinscholl: in ihrer Begleitschaft gab es eine Auferstehung, von der das vorliegende Sammelbuch einen Begriff geben möchte.
Liliencrons Bedeutung liegt vor allem in seiner wundervollen, dem Wirklichen zugewendeten Ursprünglichkeit, in seiner plastischen Kraft und seiner von ganz seltenen Bildern und Vorstellungen getragenen, fabelhaften Phantasie. Er ist ein Realist in der besten Bedeutung des Wortes, und[XV] der Urgrund seiner gesamten Dichtung ist eine Lebensfreude, die ihn wie eine ewige Jugend immer begleitet hat. Der lyrische Kreis, den er umspannt, ist nicht klein. Es gibt die duftigsten, von einem Hauch der letzten lyrischen Offenbarung überschimmerten, leis hingeflüsterten Liedchen von ihm, er hat Dinge geschrieben, die uns an die derben Weisen mittelalterlicher Landsknechte gemahnen, und seine Balladen sind von einer Stärke und Lebendigkeit, an die keiner von denen, die heute derartige Strophen schreiben, nur im entferntesten heranreicht. Er hat Gedichte des sprudelnden Übermuts und solche gebildet, in denen die ganze verschleierte Melancholie und nebelige Dämmerstimmung seiner nördlichen Heimat auferstehen. Denn daß er Norddeutscher ist, vergißt man nie. Die Landschaften, die er mit so großer Anschauung in unser Gefühl hinstellt, sind die Heide und die Knicks seiner holsteinischen Felder und die Marschen und die Watten und das Meer. Nachdem Storm diese Landschaft zuerst zu beseelen verstanden hat, ist ihr von Liliencron eine derbere realistische Nuance verliehen, die sie nicht minder liebenswert erscheinen läßt. Liliencron war Offizier, und die teuren Erinnerungen an Krieg und Manöver durchziehen sein Werk wie ein unvergängliches Glück. Nicht die unwichtigsten seiner Gedichte sind jene, in denen er den Mond über nächtlichen Biwakfeuern leuchten läßt; in denen er, von Erinnerungen heimgesucht, durch die Reihen der schlafenden Kameraden hingeht und die entfernten Rufe der Wachen vernimmt. Eins war der gewesene Offizier nie, nämlich geistreich. Zu dieser Richtung hat er sich keine Mühe gegeben. Er hat, eine Herrennatur, sein Leben gelebt, wie es ihm einfiel — „hinauf, hinab, wie tolle Kinder spielen“ —, und seine Kunst ist seinem Leben gemäß. Er hat kaum ein Gedicht aus einer Reflexion erbaut; die Basis seiner Dichtung ist Anschauung und Gefühl. Erstaunlich fein entwickelt sind die Werkzeuge seiner Sinne. Durch das Auge und vor allem durch das Ohr nimmt er die Welt in sich auf. Daneben besitzt er ein so glückliches Gefühl für die[XVI] Kultur des Wortes, daß man ihn auch in dieser Hinsicht als eine Persönlichkeit von besonderer Bedeutung ansprechen muß.
Als Gegensätze zu ihm, der sich um Zeittendenzen und soziale Probleme so gut wie nie gekümmert hat, sind einige Dichter zu nennen, die etwa um die gleiche Zeit wie er das erstemal vor die Öffentlichkeit traten, nämlich Arno Holz, Hermann Conradi, Karl Henckell und John Henry Mackay. Conradi starb früh und hat nur ein in jungen Jahren verfaßtes Gedichtbuch hinterlassen, die „Lieder eines Sünders“, voll Schwung, formal kaum neu, durchpulst von Leben und Pathos. Conradis Leidenschaft, in klangvolle Strophengebäude gebracht, hat eine ziemlich dekadente Note, und nur zu oft hat man das Gefühl, mit Phrasen bewirtet zu werden und ferner, daß hinter diesen tönenden Worten im Grunde eine große Müdigkeit schlummert. Arno Holz dagegen kommt mit Pausbacken daher. Die meisten seiner Gedichte im „Buch der Zeit“ sind wie wirbelnder Frühlingssturm. Sein soziales Mitgefühl konzentrirt sich in ganz bestimmte szenische Bilder, er ist ein lyrischer Plastiker, und sein gesundes Pathos ist darum so wirksam, weil es auf so flammenden Überzeugungen aufgebaut ist. Neben den sozialen Tönen zeigt das „Buch der Zeit“ freilich schon einige lyrische Innigkeiten, die Holzens spätere Weiterentwickelung anzeigen. Aus dem sozialen Pathetiker nämlich, der sich äußerlich noch in den Formen der Tradition bewegte, entwickelte sich allmählich ein reiner Künstler, dem öffentlichen Leben abgewendet, erfüllt vor allem von einem minutiösen Empfinden für Stil — oder besser: für Stilarten. Denn Holz liebt sich zu häuten. Mit der gleichen Energie, mit der er heute etwa den absoluten Realismus predigt, erklärt er ein andermal den Reim für eine überwundene Sache und bildet die interessanten freien Rhythmen des „Phantasus“. Neuerdings hat er die Manier des Rokoko auf sein Panier geschrieben und mit einer merkwürdig sicheren Erkenntnis der Besonderheiten jenes behaglichen Stiles närrische „Lieder auf einer alten Laute“ gespielt.
[XVII]Bei Henckell wurde das soziale Bewußtsein zu einem Parteigefühl, und er hat als Sozialdemokrat praktisch zu wirken gesucht. Das dichterisch Wertvollste von ihm hat freilich mit Sozialismus nichts zu tun; es ist aus rein lyrischem Empfinden erwachsen, das, im Gegensatz zu Conradis vorfrüher Weltmüdigkeit, durch eine sprudelnde Frische erfreut. Auch John Henry Mackay, ein Deutsch-Schotte, stellte sich in den Dienst einer Partei. Als Schüler Stirners, dessen Biograph er wurde, trat er für die Rechte des Einzelnen ein und brachte anarchistische Ideen zu dichterischem Ausdruck, ohne, ähnlich wie Henckell, im Dienste seiner sozialen Aufgabe seine beste Poesie zu formen. Auch er verdankt die wertvolleren seiner Gedichte den alten, immer neuen Gefühlen, die das Herz jedes Einzelnen erfüllen und die bei ihm allerdings das gedankliche Beiwerk selten ganz entbehren. Als Mitstrebende der Genannten seien noch die Folgenden erwähnt, die ihre ersten Versbücher alle um die Mitte der achtziger Jahre herausgaben und von denen keiner den sozialen Ideen der Zeit seinen Tribut versagte: Julius Hart, dem Pantheismus zugewendet und von idealen Träumen nach einem schöneren Menschentum erfüllt; Heinrich Hart, eine dem Bruder verwandte Natur, aber mehr auf den Boden der Wirklichkeit gestellt; Wilhelm Arent, ein ganz zerfaserter Mensch, der über ein paar zarte lyrische Brocken nicht hinauskam; endlich Maurice Reinhold von Stern, dem das Beste aus einem liebevollen Anschauen der Natur erwuchs, und Karl Bleibtren, eine eckige Kämpfernatur, lyrisch ohne Bedeutung.
Zwei Künstler, die in ihren Anfängen mit dem Fühlen und Streben aller dieser sozial ergriffenen Poeten mannigfach verknüpft sind, begaben sich bald auf stilistisch gesonderte Wege, anf denen sie sich zu sehr aparten Persönlichkeiten entwickelten, nämlich Richard Dehmel und Otto Erich Hartleben.
Dehmel, ein heißer Grübler voll tiefer und ehrlicher Inbrunst, ringt unermüdlich nach einem stilistisch adäquaten[XVIII] Ausdruck seiner sehr verzwickten Persönlichkeit. Er ist bewußt durch alle Tiefen gegangen und sucht bewußt auf alle Höhen emporzuklimmen, in einer feurigen Sehnsucht nach Erkenntnis des Daseins und der Geheimnisse, die in uns und um uns sind. Er hat die Liebe in wuchtigen und erbarmungslos offenen Geständnissen auf allen ihren Stufen lyrisch zu durchleuchten gesucht, und alles Menschliche, der beherrschende Trieb sowohl wie der erlösende Gedanke, gelangt in seiner Dichtung zu ergreifendem Ausdruck. Er hat kleine lyrische Wunderdinge geschrieben, deren Schönheit man wünscht, sie möge unvergänglich sein. Er hat sich, immer strebend bemüht, zu einem monumentalen Stil emporgearbeitet, der sein kosmisches Empfinden, seine unbegrenzte Liebe zur Welt, zu Gott und zur Sünde glücklich zum Ausdruck bringt. In der wundervoll brausenden „Harfe“ hat er in festen Umrissen ein Bekenntnis seines leidenschaftlichen Wesens gegeben, und die letzte Entwickelung seiner Natur zeigt der Roman in Romanzen „Zwei Menschen“. Dies Buch, voll lebendigen Reichtums und gedanklicher Fülle, die sich nicht selten zu überraschenden Sentenzen konzentriert, zeigt eine wortbildende Sprache von hoher Kraft. Diese Romanzen sind wie eherne Tafeln. Die breit hinflutende, phonetisch üppige Sprache, von einem Pathos durchrankt, das sie so wirkungsvoll erscheinen läßt, ist eine stilistische Einheit von seltener Konsequenz. So scheint das Buch ein einziger Rhythmus zu sein, der berufen sein mag, nachkommenden Geschlechtern vor die Augen zu führen, daß die Lyrik unserer Tage nicht nur Weichheit und zart verrinnende Klänge, sondern auch leidenschaftliche Erregung kannte.
Hartleben, der früh verstorbene, war kein Grübler, aber eine Natur ohne Komplikation war auch er nicht. Man kann leicht einen dreifachen Hartleben unterscheiden: erstens den Menschen, der für soziale Themen ein warm schlagendes Herz besitzt; auf literarischer Seite ist es der Dramatiker. Zweitens den übermütigen Pokulanten, voll Witz und Laune,[XIX] plötzlich aber von trüber Versonnenheit oder galliger Ironie: diese Seite gelangt in seinen Novellen zum Ausdruck. Und drittens den in Ernst und Einsamkeit betrachtenden Hartleben, den es zu Goethe, nach Italien und zu den Griechen zog: der Lyriker. In der ersten Ausgabe seines Gedichtbuches „Meine Verse“ herrschen die sanft elegischen Klänge vor; doch auch der Zyniker regt sich hie und da, und dunkle soziale Bilder steigen herauf. Das Buch enthält die schönste moderne Liebesode: „Im Arm der Liebe schliefen wir selig ein“. In den Maßen antiker Oden dichtete Hartleben in seinen Anfängen besonders gern. Er hat Vortreffliches in dieser Form gesagt, und in einer Blütenlese der schönsten deutschen Oden1Deutsche Oden. Herausgegeben von Hans Bethge. Max Hesses Volksbücherei Nr. 171. (M. 0, 20.) gebührt ihm ein hervorragender Platz. Die Verse eines zweiten dünnen Büchleins „Von reifen Früchten“, das nach fast zehnjähriger Pause erschien und jetzt mit dem ersten Buche verschmolzen ist, erheben sich über die früheren, was formale Reife und Ruhe der erlesensten Stücke betrifft. Hartlebens spätere Gebärden sind von der Einfachheit des Menschen, der die Stürme des Lebens überwunden hat. Die Klänge der Liebe sind ohne Leidenschaft, im Gegensatz zu Dehmel. Auch rhythmisch sind die Verse ohne Schwierigkeit, und das Maß der früher so geliebten Ode ist verschwunden. Am liebsten erging er sich zuletzt in reimlosen, langhinwallenden Jamben, die vom Gewande der Getragenheit umflossen sind. Eine griechisch kühle Klarheit macht sich geltend und eine weise Zurückhaltung, das Wappen jener Lyriker, die nicht auf eine breite Menge, sondern auf eine verhältnismäßig kleine, ästhetisch feinfühlende Schar zu wirken berufen sind. So leitet er zu jener Gruppe junger Künstler über, als deren wichtigste Vertreter heute Stefan George und Hugo von Hofmannsthal hervorragen. Der Betrachtung dieser jüngsten lyrischen Erscheinungen wollen wir uns aber nicht eher zuwenden, als bis der Kreis der älteren Poeten geschlossen ist.
[XX]Als ein vornehmer Vermittler zwischen der Übergangszeit vor Liliencron und den heute aufwachsenden Generationen steht der Prinz Emil von Schönaich-Carolath da, ein Ritter, in dem sich romantisches Fühlen mit Byronschem Weltschmerz, erhaben geschauten Bildern der Leidenschaft und einem oft ganz modernen Duft der Stimmung mischt. Er ist viel deutscher und sinnlich geläuterter als etwa Eduard Grisebach, der, einer gleichen Zeit zugehörig, durch eine schwüle Paarung von Müdigkeit und Ironie und durch eine absichtlich saloppe, kleine nachgeahmte Form eine Zeitlang der Dichter der Mode wurde. Schönaich-Carolath ist innerlich und äußerlich größer. Er hat, mit gedanklicher und poetischer Kraft ausgerüstet, faustischen Gefühlen in lyrisch-epischen Dichtungen einen bilderreichen Ausdruck verliehen. Etwas Glühendes, erotisch Gewaltiges pocht in diesen Dichtungen. Die sinnliche Schönheit des Weibes tritt, zur Sünde verlockend und Verderben bringend, weit in den Vordergrund, und auf ihrer betörenden Macht werden dämonisch-prächtige Szenen aufgebaut, in denen die Flammen brausender Leidenschaft lodern. Daneben schrieb dieser aristokratische Dichter einfache, innig deutsche Lieder, in deren schönsten er den Volkston mit überraschender Sicherheit traf. Deutsches Sehnen, der alte Jammer um verlorene Liebe und ein beseeltes Zeichnen der holsteinischen Landschaft charakterisieren diese im engeren Sinn lyrische Poesie, in denen wir rauschenden und mondscheinduftigen Klängen begegnen, schlicht und melodisch wie das Volkslied.
Gustav Falkes Talent wurde durch Liliencron geweckt. Aber bald schlug dieser diskrete Dichter besondere Wege ein, um, bei intensiver Betonung der Form, zu einer ruhigen, harmonischen Eigenart heranzureifen. Eine heitere, morgenfrische Pracht durchblüht seine Bücher. Er bekränzt sich die Tage mit Rosen, soviel er kann, er ist ein heiterer Lebensbejaher, aber eine dunkle Sehnsucht verläßt ihn nicht, die ihn zu schönen, unbekannten Küsten lockt, wo weiße Marmortempel stehen, schlanke Mädchen sich im Reigen[XXI] winden und eine köstliche Musik ertönt. Eine stille Vertiefung in das Leben und eine künstlerisch gebändigte Leidenschaft sind ihm eigen. Der bildhaft-symbolischen Personifizirung gewisser abstrakter Begriffe hat er diskrete Reize abgewonnen. Ernste, gütige Klänge der Liebe rauschen daher, und das Glück des Vaters, dem liebe Kinder durch die Zimmer laufen, leuchtet aus vielen Gedichten hervor. Falke ist ein Künstler von leiser, anmutiger Art, dem Tanz und der Andacht gleich freudig ergeben, doch immer von weiser Mäßigung beherrscht.
Auch Otto Julius Bierbaum hatte in seinen Anfängen mit Liliencron manches gemein. Später entwickelte er sich zu einem Liebhaber, der an den Stilen verklungener Epochen eine besondere Freude hat. Zumal die tändelnde Grazie der Biedermeierzeit hat es ihm angetan, und er hat von dem lavendelduftigen Hauch jener gefühlvollen Tage berührte Verse zu bilden gesucht. Gibt er Stimmungsmomente aus dem Weben der Natur, so läßt er den bocksbeinigen Gott Pan gerne spuken. Sein Gefühl ist von lebensfroher Hingabe. Formal hat er viele Einflüsse auf sich wirken lassen. Er ist Eklektiker. In seinen Naturgedichten klingen besonders Töne an Mathias Claudius an, auch von Dehmel ist er nicht unberührt. Aber es stehen ihm auch sehr eigene Töne zur Verfügung, Töne der Ruhe, verklärten Glückes, lächelnden Verlorenseins.
Franz Evers, zu einer jüngeren Generation hinüberleitend, ist der festlichste und feierlichste unter allen diesen Poeten. In den majestätischen „Hoben Liedern“ ist er wie ein pathetischer Priester, der in Melodieen redet. Diese „Hohen Lieder“ sind eine voll hinströmende Symphonie von großer Bilderfülle. Evers' Erkenntnisdrang wendet sich mit pathetischen Gesten dem Höchsten und Letzten zu, mit dem ihn ein Ahnen verbindet. Am innigsten ist sein lyrisches Gefühl aber dann, wenn er ein dämmeriges Lied der Liebe oder raunende Strophen über eine Stimmung in der Landschaft bildet.[XXII]
Jüngere Dichter schließen sich an. Christian Morgenstern ist eine grüblerische Natur, die eine liedhafte Wirkung nur selten erstrebt. Seine Verse stecken in rauher Schale, und das Gedankliche tritt in den Vordergrund. Er ist keine naive Natur, seine Gedichte machen den Eindruck des schwer Errungenen und mühevoll Durchdachten. Er versteht nicht zu tanzen, nichts Ätherisches ist an ihm. Sein Wesen ist ernste Ruhe und skeptische Gelassenheit. Wilhelm von Scholz steht ihm nahe, aber er ist dunkler und gedanklich verzwickter. Eine mystische Verworrenheit wallt in ihm, eine Dämmerung, aus der sich plötzlich wie Blitze die Strahlen einer nüchternen Erkenntnis des Ewig-Seienden lösen. Seine Diktion ist knorrig und schwerfällig, die Worte fallen ihm wie unbehauene Steine von den Lippen. Er führt uns, graue, unmelodische Verse murmelnd, an Abgründe, in deren Tiefen wir die Wurzeln alles Wesens sich mystisch verschlingen sehen. Sein Gegensatz ist Cäsar Flaischlen, der warme, sympathische Dichtungen in Vers und Prosa aus einem liebevollen Erschauen des Lebens herausschrieb; Dichtungen, in denen man so delikate kleine Dinge findet wie die Stimmung „So regnet es sich langsam ein...“. Weiterhin seien genannt: Wilhelm Weigand, eine Mischung von Reflexion und stillem Künstlertum; Wilhelm Holzamer, von Falke ausgehend, dann auf eigenen Wegen wandernd, von einer verhaltenen Leidenschaft durchglüht; Paul Remer, schweren Schrittes, einer Verklärung des Lebendigen zugewendet; Hermann Hesse, ein Süddeutscher von weichen abendlichen Mollakkorden und voll Sehnsucht nach Italien; Gustav Schüler, dessen erst etwas unbändige Leidenschaft sich durch die Bildung an volkstümlicher Art in erfreulicher Weise geklärt hat; Leo Greiner, von mystisch raunenden Stimmen erfüllt; Ludwig Jacobowski, ein sozial mitfühlendes Herz, in jungen Jahren vom Tode überrascht. Frank Wedekind, abseits stehend, mit traurig umflortem Lachen. Ferner: Hans Benzmann, Emanuel von Bodman, Carl Busse, Georg Busse-Palma, Max Bruns,[XXIII] Martin Bölitz, Carl Bulcke, H. A. Schröder, Ernst Collin, Börries von Münchhausen, Thassilo von Scheffer und andere. Etwas Abschließendes ist über die meisten dieser Talente bis jetzt noch nicht zu sagen. — —
Wenn alle diese Dichter nach altem Brauch mit ihren lyrischen Büchern direkt vor das Publikum hinzutreten wagten, mit dem sie sich also mindestens durch etwas (wenn auch oft durch recht wenig) verbunden fühlen mußten, schloß sich zu Anfang der neunziger Jahre ein Kreis von jungen Poeten zusammen, die, von streng ästhetischen Gesetzen beherrscht, sich nur untereinander und nicht der Öffentlichkeit mitzuteilen beschlossen: jener exklusive Kreis, der sich um Stefan George in den „Blättern für die Kunst“, einer nur für geladene Freunde gedruckten Zeitschrift, versammelte und der erst seit kurzem, nachdem die Zeit ihm genügend vorbereitet zu sein schien, aus seiner Reserve heraustrat. Was diesen Kreis und besonders sein Haupt, Stefan George, charakterisiert, ist das von jeder Nebenabsicht losgelöste, absolut Künstlerische seines Strebens, der Wille, alles Geschehen in reine lyrische Stimmung von höchster Prägnanz aufzulösen, keine Betrachtung, sondern Darstellung, keine Unterhaltung, sondern Eindruck zu geben. George, ein Künstler von erlesener sprachlicher Kultur und alle seine Freunde, von denen Ernst Hardt, Oskar A. H. Schmitz und Karl Wolfskehl genannt sein mögen, bei weitem überragend, ist diesem Programm mit ruhiger und strenger Selbstzucht treu geblieben. Er ist ein Pfadfinder und Anreger geworden, nach neuen Formen und einer stilistischen Verfeinerung des Ausdrucks ringend. Er hat eine ganze Fülle von Worten für die poetische Sprache neu entdeckt und besonders dem Reim Reize abzugewinnen verstanden, die lange vergebens darauf gewartet hatten, aus ihrem Schlaf erweckt zu werden. George hat Stimmungen zu kondensieren gewußt, die in ihrer starren, asketischen Abstraktion von allem betrachtenden Beiwerk wie Betäubungen und Räusche wirken. Wir sehen die mystischen Frauengestalten des [XXIV] Belgiers Fernand Khnopff ihre Augen auf uns richten, die langgliedrigen Figuren George Minnes, des gotisch verträumten, werden in uns wach, und ein Duft hüllt uns ein, der stärker ist als der Duft von Faulbaum, Hyazinthen und Jasmin. George weiß ein lyrisches Erlebnis in Worte zu fassen, daß man meint, einen kalten, farblosen Diamanten in einem goldenen Ringe blitzen zu sehen. Ja, diese Kunst ist kalt, oft unerwartet auffunkelnd und vornehm wie ein Diamant. Keine lauten Geräusche, nicht lautes Lachen noch lautes Weinen, sind ringsum; nur ein Ahnen und Verschweben. George ist ein Priester in der Einsamkeit. Er ist ein Herrscher über die geliebte Form, und zuweilen weiß er die inneren Beziehungen der Dinge und Klänge so hold zu entschleiern, daß wir mit neuen Augen zu sehen meinen. Er hat Symbole und Bilder heraufbeschworen, die uns mit ihrer malenden Schönheit und ihrem mystischen Zauber ganz erfüllen. So hat er, ohne freilich die Monotonie des Prinzips immer vermeiden zu können, mit einer schönen Freiheit der Bewegung in Wort, Reim und Rhythmus, starre, dem bequemen Wesen traditionellen Wortgefüges weit abgewendete lyrische Gebilde vor uns hingestellt, die eine dankenswerte Erweiterung unseres lyrischen Umkreises bedeuten und deren Einfluß auf die weitere Entwicklung unserer Lyrik man schon deutlich erkennen kann.
Hugo von Hofmannsthal, auch dem Freundeskreise der „Blätter für die Kunst“ zugehörend, hat George sprachlich mancherlei zu verdanken, ohne dabei die Selbstständigkeit seiner von erhabener Schwermut überschatteten lyrischen Natur beeinträchtigt zu haben. Auch er hat berauschende Verse geschrieben, aus denen große fremde Melodieen fluten. Ein fragendes Erstaunen vor dem Leben und seinen nicht greifbaren Werten durchzieht seine Strophen, ein Erstaunen vor dem rätselhaften Treiben der Menschen, vor der Wandlung aller Dinge, vor der Vergänglichkeit. Sowohl die bekannte wunderschöne „Ballade des äußeren Lebens“ wie die „Terzinen über Vergänglichkeit“ drücken [XXV] dieses Empfinden aus, das uns hier in einer schaudernden Bedeutung entgegentritt, beladen mit neuem Tiefsinn, neuer Trauer. Es ist als ob ein Kind Fragen stellte, die ein Großer nicht zu beantworten weiß; nun blicken die Augen des Kindes verwirrt und verlangend zu dem Großen empor, und da ihm keine Lösung wird, weiß es nicht aus noch ein, und eine namenlose Trauer kommt in seine Mienen, die zu groß ist und zu starr, als daß sie sich in Tränen lösen könnte. Eins der schönsten Gedichte, die Hofmannsthal geschrieben hat, heißt „Vorfrühling“. Er spricht von nichts weiter als von dem Frühlingswind, der wehend und flüsternd über die Erde geht. Aber es ist wundersam und ohnegleichen, wie dieser Wind gefühlt ist, wie er, ein holdes lebendiges Wesen, vor uns im Bilde aufersteht, dahintreibt, duftbringend, schluchzend durch eine Flöte geht und schnell verschwindet, gleich einer Erscheinung im Traum. So ganz Gefühl wie hier ist Hofmannsthal nicht oft. So völlig lyrische, von aller Reflexion befreite Empfindungen und Gesichte verdichtet er nur selten zu Versen. Er formt auch schwerlich ein schlichtes, glückliches Liebeslied. Das Nachdenkliche steht ihm mit erhobenem Finger zur Seite, und wo er Licht und Freude sieht, denkt er schon an die Schatten, die diesen Glanz einst überdecken werden. Die Kultur seines Verses ist groß; die Sprache am schönsten da, wo sie am einfachsten fließt; nicht selten ist sie preziös: besonders dort, wo sich eine Verwandtschaft mit George bemerkbar macht. Hofmannsthal liebt den Blankvers, den reimlosen fünffüßigen Jambus, das Maß der deutschen Tragödie seit Lessing. Er handhabt ihn — man weiß es schon von seinen Dramen her, die von lyrischen Blüten ganz durchwoben sind — mit gewissen eigenwilligen Verschiebungen des Akzentes, die ihm die Glätte nehmen und einen absichtlich schwebenden Charakter verleihen. Dann liebt er die Terzinen, dieses romanische Maß. Man darf ja behaupten, daß sein innerstes Wesen, das eine bewußte Betonung der Form darstellt, dem romanischen Geist im Grunde verwandter ist als[XXVI] dem spröden Geist der Germanen. Die großen Kulturen der lateinischen Völker üben starken Reiz auf ihn aus, und man wird sich keines unter seinen dramatischen Spielen erinnern, dessen Vorgänge Deutschland als Schauplatz hätten; die meisten spielen in Italien. Volkstümlicher Klang ist der kunstvoll gefügten Laute dieses Dichters versagt. Man horcht in ernste, von vielen edlen Gleichnissen der Trauer erfüllte Rhythmen. Eine Goldschmiedekunst, von einem Kenner für Kenner gebildet. Alles Lebendige wird stilisiert zum Ornament. Wenn man Hofmannsthals Verse mit Blüten vergleichen soll, wird man sie nicht mit Rosen vergleichen, sondern mit stark und seltsam duftenden Hyazinthen oder auch mit Orchideen, über deren kunstvoll gezüchtete Formen das geisterhafte Licht des Mondes rinnt.
Hofmannsthal ist Wiener. Österreich, das als eine Geburtsstätte lyrischer Poeten in der Geschichte der deutschen Literatur bisher eine wichtige Rolle zu spielen nicht berufen war, hat dem lyrischen Parnaß in den jüngsten Jahren einige Dichter geschenkt, deren Art sich aus dem literarischen Getriebe bedeutungsvoll heraushebt. Neben Hofmannsthal sind vor allem Rainer Maria Rilke und Richard Schaukal zu nennen.
Rilke ist ein unendlich zartes, mimosenhaftes Talent von köstlichen lyrischen Tiefen. Sein Gefühl für die Melodie des Rhythmus ist so entwickelt, daß man kaum weiß, wem man ihn in dieser Einsicht an die Seite stellen soll. Zu Jacobsen und Maeterlinck führen Fäden von ihm hin, und es ist einzig schön, wie er die Gefühle einer Blinden in Worte zu kleiden weiß. Eine tiefe Mystik, ein ahnungsvolles Vertrautsein mit dem rätselhaften Weben des All lebt in seinen Versen, die hingleiten wie das Licht der Nacht über die Zweige rieselnder Birken im Mai. Rilke hat keine Gebärde, die nicht zum Symbol eines schönen Gefühles würde. Alles beseelt sein Auge, alles erfüllt sein Traum mit Leben und Farbe, und die Beziehungen, die er zur Landschaft hat, sind so verklärt, als sei er selber eine[XXVII] Weile eine Ulme im Winde gewesen ober eine Weide am Teich oder eine Welle im Fluß. Seine Melodik hat eine Selbstverständlichkeit und einen inneren Reichtum an schönen Beziehungen, daß sie uns schnell gefangen nimmt. Seine Verse funkeln und spielen gleich den kristallenen Kugeln auf den Strahlen einer nächtlichen Fontäne. Rilkes lyrische Gesichte sind zumeist nicht in der prägnanten Weise konzentriert wie bei George oder bei Hofmannsthal, die ihn beide befruchtet haben. Rilke ist breiter und malender, und eine niederdeutsche Note mischt sich ein. Er ist ein mystischer Seher, von bilderreichen Träumen besucht, und über seinen Dichtungen liegt es wie Blütenstaub. Es ist zu bedauern, daß er und George der Einladung in dem vorliegenden Buche zu Gaste zu sein, nicht nachgekommen sind.
Schaukal, ein Dandy und Künstler von eigentümlichen Launen, gefällt sich in einem lächelnden Weltschmerz und formt am liebsten Gedichte in schleppendem, müd-dekadentem Ton. Er liebt es, in schillernden Versen mit stolzen, hochmütigen, die Menge lächelnd verachtenden Allüren seltsame Bilder heraufzubeschwören, die momentane seelische Stimmung oder wesentliche Gebärde eines Menschen festzuhalten, bei der ihn irgend etwas Geheimnisvolles, ein Schwingen von unheimlichen Untertönen reizt. So läßt er alte Marquis, verliebte Fürstinnen, Chevaliers, den spitzen Degen an der Seite, und Duchessen mit sonderbaren Wünschen und Regungen vor uns hintreten. Er liebt das Schnurrige, vertrackte, Abenteuerliche in poetischer Verklärung und erzählt es, ein Schelm, mit aristokratisch-verhaltener Miene, als sage er die allereinfachsten und allerernstesten Dinge von der Welt. In nonchalanten, vom Geiste Heines inspirierten Dichtungen über Pierrot und Colombine wird er zum Spötter, um in übermütigen und kecken sprachlichen Wendungen, bald hell auflachend, bald mit blassen Fingern und traurigen Augen kokettierend, Lieder von den Wonnen und Schmerzen der Liebe zu bilden, die er natürlich beide nicht ernstlich nimmt. Schaukal ist der launenhafteste und[XXVIII] am meisten wienerische unter den jungen österreichischen Dichtern, von denen hier noch kurz Hugo Salus, dessen spielende Grazie meist etwas Äußerliches hat, ferner Stefan Zweig und Paul Wertheimer genannt sein mögen.
Eine lyrische Gilde, die mit der von Stefan George begründeten insofern eine Verwandtschaft zeigt, als auch sie eine höchst diskrete Wahl ihrer künstlerischen Mittel betont, ist jene, als deren wichtigster Vertreter heute der kosmische Impressionist Alfred Mombert anzusprechen ist. Kosmisches Gefühl und eine impressionistisch subtil verfeinerte Technik von hohem rhythmischen Raffinement charakterisieren diesen Kreis, dem Maximilian Dauthendey die Wege gewiesen hat. Dauthendeys kleinen Gedichtband „Reliquien“ schmückt eine Deckelzeichnung von dem um unsere junge Buchkunst verdienstvoll bemühten Emil Rudolf Weiß: ein junges nacktes Menschenpaar liegt starr, wie in einem Rausch, nebeneinander; über ihnen, gleichsam aus ihrem Traum heraus, erhebt sich eine goldene Harfe, die von blassen, unnatürlich langen, sehnsüchtigen Händen gespielt wird; durch die Saiten der Harfe glänzen die Sterne des nächtlichen Himmels. Die Zeichnung drückt das dichterische Wesen Dauthendeys und derer, die von ihm angeregt worden sind, glücklich aus. Diese Kunst ist ein drangvolles Hinstammeln von Gefühlen, die aus intensiven nervösen Reizen erwachsen. Dauthendey formt kleine lyrische Schnitzel, in denen eine diskrete seelische Stimmung andeutend eingefangen wird. Er reiht oft nur in wenigen Versen ein paar Bilder aneinander und überläßt es dem Leser, das lyrische Gesamtbild sich selber zu gestalten. Der eigentümliche Rhythmus mag auf den ersten Blick lässig erscheinen, — in Wirklichkeit ist er Raffinement. Sonderbare Künsteleien in der Art zu reimen machen sich geltend: der Reim tritt etwa mitten im Verse auf oder er steht zu Anfang der Zeile. So resultieren Wirkungen von höchst fremdartigem musikalischen Reiz. Diese Kunst hat nichts Naives mehr, sie ist bewußter Ästhetizismus durch und durch.[XXIX]
Alfred Mombert ist in seinen Anfängen teilweise von Dauthendey ausgegangen, um sich bald durch sprachliche Kraft und Größe der Anschauung über ihn zu erheben. Er ist brodelnder, gärender, unruhiger als jener und ungleich mehr von Reflexionen beherrscht. Seine Stimmungen, deren schönste er in seinem Buch „Die Schöpfung“ zusammengetragen hat, sind von einer erhabenen Gewalt und Schwermut. Auch bei ihm der Verzicht auf regelmäßige Strophengebäude, auch bei ihm dieses raffinierte rhythmische Gefühl und, noch mehr als bei Dauthendey, ein Schwelgen in Bildern. Über Momberts Visionen und Phantasieen lagert ein dunkler Goldton. Sie fließen hin wie ein Strom im Abend, und große, klingende Worte rauschen empor. Dauthendey ist stiller und verträumter. Mombert hat Pathos und ist versunken in die kosmischen Urtöne des All. Das Meer zieht ihn mächtig an. Immer wieder singt er von ihm, von seinen Farben, seinen rätselhaft raunenden Klängen. Er stellt eine Harfe am Meere auf, greift mit Seherhänden in ihre goldenen Saiten und singt dunkle, mystische Lieder. Das Meerhorn klingt, und silbernes Licht schießt durch die Nacht. Wir fühlen die Einsamkeit eines Menschen, der fast zusammenbricht unter der Fülle der verworrenen Gefühle, die seine Brust erfüllen und die er mit heißem Bemühen in Worte zu fassen sucht. Er wandelt auf Wegen, die weit abseits liegen von den Wegen unkomplizierter Naturen. Aber jenen, die ein Gefühl für einen seltsamen, apart grübelnden und künstlerisch ehrlich mit sich ringenden Menschen haben, wird er vieles Anziehende und Überraschende sagen können.
Peter Hille, viel zarter und lieblicher als Mombert, ein Beseeler alles Seienden und tiefschauender Künder des Frühlings, hat manche hold beschwingten lyrischen Klänge gefunden, die er freilich nicht immer so meisterlich wie in der wundervollen „Brautseele“ zu einer geschlossenen Einheit zu verdichten verstand. Die Bedeutung dieses klugen, glücklichen, nun toten Kindes liegt in den lyrisch duftigen und psychologisch[XXX] nicht selten ergreifenden Einzelheiten seiner Dichtungen. Johannes Schlaf wandert in mystischer Ergriffenheit durch die geliebte Natur, in ihren kleinen Erscheinungen die Wunder ihrer Größe liebend. Ferner gehören noch in diesen Zusammenhang: Peter Baum, dessen Visionen zumeist etwas Gespenstiges haben; der Maler Emil Rudolf Weiß, ein Freund herbstlich-elegischer Stimmungen; und endlich eine Dame: Else Lasker-Schüler.
Die Frau, die sich in unserer Zeit so viele neue Gebiete für ihren wachsenden Betätigungsdrang zu erobern verstand, hat sich auch auf lyrischem Felde genugsam versucht, freilich ohne bisher etwas besonders Überragendes oder Erstaunliches an den Tag gefördert zu haben. Es fällt ihr gemeinhin schwer, das lyrische Gefühl künstlerisch zu bändigen, und die Klippe Tendenz ist ihr noch meist zum Verderben geworden. Am klarsten ragen aus der heutigen Frauendichtung die von formensicherem Können erfüllten Verse der Ricarda Huch hervor, jener seltenen Frau, der auch als der bewundernswerten Schöpferin des „Ludolf Ursleu“ und der „Triumphgasse“ unter den deutschen Erzählerinnen seit langem die Palme gebührt. Die Verse der Huch lassen zuweilen an die Lyrik Conrad Ferdinand Meyers denken: sie haben zumeist eine ähnliche Präzision und Kühle. Das Verlangen, die ganze Fülle des Lebens auszukosten, das Begehren nach bacchantischem, überschäumendem Genuß klingt uns aus ihnen entgegen. Die gleiche Melodie, die aus Meyers „Genug ist nicht genug!“ quellend emporströmt, waltet auch in Gedichten der Huch wie „Lebensfülle“ und „Alles oder nichts“. Freilich, es ist bezeichnend für sie, daß das eigentlich lyrische Empfinden, die vom Gedanklichen losgelöste lyrische Stimmung in ihren Prosabüchern gemeinhin zu einem reicheren und intimeren Ausdruck gelangt als in den Versen. Der Zwang von Reim-, Vers- und Strophengebäude beeinträchtigt nicht selten die Ursprünglichkeit ihrer poetischen Gesichte. Sie findet in der erzählenden Prosa glücklichere und originellere[XXXI] stilistische Wendungen und bedeutendere Bilder. In den Versen treten die kunstvoll hingefügten Worte bisweilen stärker in das Bewußtsein als der lyrische Duft. Zum Schönsten übrigens, was in ihrem bisher einzigen Gedichtbuch steht, gehören jene kleinen, sehnsüchtigen Liebesgedichte, die sich, Arabesken gleich, anmutig durch das ganze Werk hindurchziehen. Eine verhüllte Glut waltet darin. Dabei sind sie von einer herben Keuschheit und Reinheit. Das ganze Bangen und Sehnen der von ihrer Liebe Überwältigten raunt uns daraus entgegen. In diesen Liebesgedichten finden wir einige kleine, sicher gefaßte lyrische Perlen von allereinfachster Schönheit.
Weitaus früher als die Huch trat Alberta von Puttkamer auf, ein Talent, in dem sich romantische Leidenschaft mit lyrischem Pathos paart. Isolde Kurz, die ihren starken Formensinn in Italien schulte, schrieb einige Gedichte der Melancholie von schönem lyrischen Klang. Die künstlerisch interessantesten Talente der jüngeren Generationen sind Margarete Susman, Hedwig Lachmann und Else Lasker-Schüler. Die letztgenannte, in ihrem rhythmischen Gefühl, wie wir schon andeuteten, Mombert nahestehend, quillt über vor erotischer Sehnsucht und chaotischem Gefühl. Die Susman, von einer klugen Bändigung der Form beherrscht, spricht ruhige, wallende Rhythmen eines geläuterten Daseins aus. Hedwig Lachmann, in ihrer lyrischen Produktion weniger vom Herzen als vom Gehirn geleitet, ist eine grüblerische Frau, reich an Symbolen und stilistisch Dehmel verpflichtet. Agnes Miegel formte einige Gedichte an einen ungetreuen Geliebten, auf denen der stumpfe Glanz der Perlen ruht. Genannt seien ferner: Irene Forbes-Mosse, Margarete Bruns, Helene Voigt-Diederichs, Thekla Lingen, Lulu von Strauß und Torney, Margarete Beutler. In den Schöpfungen der Maria Janitschek macht sich leider eine überhitzte Erotik immer unerfreulicher geltend. Das Äußerste in dieser Hinsicht erlaubte sich eine ganze Gruppe von jungen, meist jüdischen[XXXII] Damen, die sich auf den Schlachtruf der Marie Madeleine hin mit erstaunlicher Schnelligkeit und Kühnheit meldeten. Mit der pathologischen Inbrunst dieser geschlechtlich so frappant intensiv empfindenden Frauen und Jungfrauen wollen wir uns lieber nicht weiter befassen.
Kurz rückblickend gewahren wir ein buntes, vielfarbiges Gewoge. Nichts von Einseitigkeit, nichts von Konvention und Erstarrung. Es ist eine üppige Wiese mit vielen bunten Blumen. Mächtige und fruchtbare Gegensätze machen sich geltend, und der allgemeine Geschmack zeigt eine ziemliche Höhe. Wieviel von dieser Lyrik dauernd in das Bewußtsein der Zukunft übergehen wird, kann heute noch niemand sagen. Es werden vermutlich jene Gedichte sein, die man nach Hugo von Hofmannsthals Ausspruch als vollkommen bezeichnen darf, weil sie Ahnung und Gegenwart, Sehnsucht und Erfüllung zugleich sind. Auch den bedeutenden Dichtern dürften solche vollkommenen lyrischen Gebilde nicht allzu häufig von den Lippen fließen. So sagt Rainer Maria Rilke:
Steglitz bei Berlin, Frühling 1905.
Hans Bethge.