Meiner Lotte.
Wenn man von der ästhetisierenden Literaturbetrachtung absieht, so bleiben dem Geschichtsschreiber der Dichtung zwei Wege. Einmal kann er in seiner Darstellung den Nachdruck auf diejenigen Erzeugnisse der Einbildungskraft legen, welche sich der grössten Verbreitung und Beliebtheit erfreuen, und sodann auf diejenigen, welche neue geistige Strömungen in der Weltanschauungsentwicklung zuerst und am vollkommensten zum Ausdruck bringen. Was sind die Lieder einer Zeit? Die in ihr am meisten gesungen werden, an denen sie sich am meisten freut, oder die in ihr entstehen? In der ersten Gruppe treten die Stimmungen und Strebungen der breiten Masse zutage, und wer da untersuchen will, welche geistigen Richtungen zu einer bestimmten Zeit in einem Volke vorwalten, der wird der Lieder, die es in ihr singt, schwerlich entraten können. In der zweiten Gruppe finden die Anschauungen und Gefühle von ein paar einsamen Menschenkindern ihre Gestaltung, die die Fähigkeit haben, im Gedicht auszusprechen, was in ihrem Bewusstsein lebt. Wenn für die Massen ein Lied nicht eher geboren wird als in dem Augenblicke, wo es Volkstümlichkeit erreicht, und wenn somit Schneckenburgers Wacht am Rhein ein Erzeugnis des deutsch-französischen Krieges von 1870 heissen kann, so entsteht doch ein Lied andrerseits in dem Augenblicke, in dem es der Geist des [X]Dichters schafft, und die Wacht am Rhein ist die Schöpfung gewisser Stimmungen und Anschauungen, die 1840 gewisse Kreise des deutschen Volkes beherrschten, und sie würde als geschichtliches Zeugnis für das Erwachen des neuen Vaterlandsgefühles in jenen Tagen genügen, auch wenn Geibel nicht 1845 geschrieben hätte:
und Storm nicht 1853 dem Weltbürgertum des Revolutionsalters das Wort entgegengesetzt hätte:
Was von dem einen Gesichtspunkt aus die Lyrik von heute ist, das ist von dem anderen die Lyrik von gestern, und was dieser die Lyrik von heute nennt, das könnte jener nur als Lyrik von morgen bezeichnen. Sicherlich hat die Literaturgeschichte die Betrachtung dessen, was in verschiedenen Zeiten die künstlerische Nahrung der Massen gebildet hat, bisher ganz ungebührlich vernachlässigt. Gründliche Statistiken über die Lieder, die auf Programmen erscheinen und in Konzerten, Salons und einfachen Wohnzimmern gesungen werden, die in billigen Liederbüchern enthalten sind und aus dem Munde marschierender Regimenter durch die Strassen dröhnen, die die Kinderstube jeden Tag hundert Mal hört und von denen das Tagewerk des Arbeiters erzählen kann, deren Weisen von Musikanten geblasen, auf Leierkästen gespielt und von Schusterjungen gepfiffen werden, vermöchten uns wohl ganz überraschende Einblicke in den lyrischen Geschmack unserer Zeit zu geben und die Unterschiede aufzuzeigen, die zwischen der lyrischen Nahrung der verschie- [XI]denen Klassen unserer Zeitgenossen bestehen. Da die Wirkung jeder dichterischen Neuschöpfung in weitem Masse von den herrschenden Strebungen und Neigungen oder von der sie aufnehmenden Umwelt abhängt, so hätte eine solche Kenntnis sogar eine gewisse praktische Bedeutung, und dieser Zweig der Literaturgeschichte ist wohl nur deswegen so vernachlässigt worden, weil man der Meinung gewesen ist, die Zeitfolge künstlerischer Wirkungen auf die Massen sei von keinerlei Wichtigkeit für die Kenntnis der Literaturentwicklung und die Aufgabe des Geschichtsschreibers der Dichtung ende in jedem einzelnen Falle mit dem Zeitpunkte des Erscheinens eines Literaturwerkes in der Öffentlichkeit.
Es wäre weder unmöglich noch auch nur schwierig, in einem Bändchen die deutsche Lyrik zusammenzustellen, die sich unter dem lebenden Geschlecht in Deutschland der grössten Beliebtheit erfreut. In einer solchen Sammlung würden Goethes schönste Lieder dicht neben den Couplets der letzten Operette oder vielmehr der Operetten des letzten Vierteljahrhunderts stehen. Fischerin, du kleine fände eine Stelle neben Über allen Gipfeln ist Ruh, und Ach, ich hab sie ja nur auf die Schulter geküsst neben Mignons Lied von Italiens ewiger Schönheit: Goethe, Schiller, Wilhelm Müller, Lenau, Heine, Uhland, Geibel, Scheffel sie alle würden darin vertreten sein, und jeder mit mehr als einem Liede; aber ebenso auch Strauss, Offenbach, Millöcker und Nessler. Ihren Sängen würden sich die Reste des älteren Volksliedes anzuschliessen haben, und weiterhin seltsame geschichtliche Erinnerungen wie Prinz Eugenius, der edle Ritter und Kaiser Wilhelm sass ganz heiter. Es ist bedauerlich, dass wir nichts dergleichen besitzen, keine Sammlung in welche die Aufnahme nur durch zahlenmässiges Vorkommen eines Liedes und in keiner Weise durch den Geschmack des Herausgebers bestimmt würde. Aber bei den vielen wichtigen [XII]Aufgaben, die der literaturgeschichtlichen Forschung noch harren, ist es kaum verwunderlich.
Ein vollständiges Bild von dem Empfinden, Denken und Arbeiten der Zeit vermöchte eine solche Zusammenstellung allerdings nicht zu geben; denn in ihr müsste notwendigerweise die „Lyrik von morgen“ fehlen, d. h. diejenigen Dichtungen, in denen die dichterisch veranlagten grösseren einzelnen Menschen von heute ihre Ideen, Stimmungen und Bestrebungen niederlegen, jene einzelnen, die die geistigen und künstlerischen Führer der Zeit sind und deren Anschauungswelt in vieler Beziehung einen Stand der allgemeinen Überzeugung darstellt, den die Massen mit der nötigen Einschränkung in einem halben Jahrhundert erreichen werden. Gerade für die stärksten Persönlichkeiten und die fortgeschrittensten Geister unter den zeitgenössischen Dichtern wäre kein Platz, und in je bezeichnenderer und schärferer Form ein Poet zu sagen vermöchte, was seiner Zeit vor allen anderen eigen ist, um so weniger dürfte er Aufnahme finden. Alle jene Dinge, Gedanken, Empfindungen, Stoffe, Probleme, die uns am tiefsten ans Herz greifen, in denen wir den Puls unserer Zeit am deutlichsten schlagen hören, wir, die eine Million Gebildete eines Fünfzigmillionenvolkes, müssten grundsätzlich ausgeschlossen bleiben. Allerdings hat es eine Zeit gegeben, in der bei den Menschen die Herde fast alles und der einzelne fast nichts bedeutete aber diese Zeit ist unwiederbringlich vorüber, und wir haben keinen Grund, um ihr Dahinschwinden zu trauern. Trotz des demokratischen Feldgeschreies unserer Tage und des Traumes von der „natürlichen Gleichheit der Menschen“ wächst die Macht und der Einfluss des einzelnen mit reissender Schnelle. Je mehr wir uns der modernen Zeit nähern, ein um so grösserer Fehler ist es, dieses persönliche Element in einer geschichtlichen Betrachtung zu vernachlässigen und statt auf die schöpferischen Geister auf die wiederkäuenden Massen zu schauen.
[XIII]Jenes persönliche Element ist jedoch keineswegs allmächtig. Im Gegenteil ist es durch die Einrichtungen, Sitten, Anschauungen, Ideale, Wünsche und Nöte einer Zeit in sehr enge Grenzen eingeschlossen, und ganz in derselben Weise, wie wir aus dem Vorkommen eines Wortes, wie Eisenbahn, elektrische Maschine, Entwicklungslehre, Sozialdemokratie und Lebensversicherung sofort den Schluss ziehen könnten, das literarische Werk, das sie enthält, müsse dem neunzehnten Jahrhundert angehören, und wie wir seine Entstehungszeit in vielen Fällen noch in viel engere Grenzen einschliessen könnten, so lässt sich auch das Wachsen, Werden und Vergehen von Gedanken, Stimmungen und Bestrebungen, von geistigen Interessen und Bewegungen, von Geschmacksrichtungen und Überzeugungen verfolgen und auf Grund von derlei Beobachtungen ein Lied einer bestimmten Literaturepoche zuteilen, ja seine Entstehungszeit bis auf das Jahrzehent genau feststellen. Hätte sich die Geschichte der allgemeinen Weltanschauung schon zu einer einheitlichen Wissenschaft zusammengeschlossen und wäre die Weltanschauungsgeschichte nur ein wenig reichlicher angebaut, so würden sich solche Zeitbestimmungen noch mit weit grösserer Genauigkeit vornehmen lassen. Unsere Zeit besitzt ihre geistigen Kennmale so gut wie jede andere, und diejenigen poetischen Erzeugnisse, welche sie zeigen und nicht künstliche Gebräue aus Bestandteilen der verschiedensten Zeiten und Weltanschauungen sind, bilden die wahre Dichtung von heute, mögen sie auch selbst den weiteren Kreisen der Gebildeten erst morgen vertraut werden.
Es ist eine bekannte Thatsache, dass Übersetzungen von Dichtungen aus einer fremden Sprache selten oder niemals eine Volkstümlichkeit erreichen, wie sie selbst unbedeutenden Werken der eigenen Literatur eines Volkes nicht selten zufällt. Zum Teil mag ja das Fehlen eines einheitlich-ureigenen Stiles daran schuld sein, aber die Hauptursache dafür ist [XIV]zweifellos, dass das Gesammtbewusstsein eines Volkes sich von dem jedes anderen Volkes unterscheidet und dass somit die Saiten, auf welche die einzelnen Schläge berechnet sind, entweder gar nicht anklingen oder doch einen ganz anderen Ton von sich geben, dass hundert kleine Dinge, Worte, Vorstellungen, Gruppen von Ideen, Ideale, Empfindungen in einem Lande hohe ästhetische Werte sind, in dem anderen jedoch niedrige oder fast neutrale. Die Anschauungen der Menschen unterscheiden sich ja weit weniger in den Punkten, über die sie sich streiten, als in denen, an deren Erörterung sie niemals denken. Jene niemals ausgesprochenen, stillschweigend angenommenen Voraussetzungen des Denkens und Sprechens, mit denen man vielleicht sein ganzes Leben lang niemals ins Gericht geht, können trotzdem im höchsten Masse angreifbar sein. Solche Annahmen gelten vielfach in einem Lande als selbstverständlich, während sie kein Fremder unangefochten lassen würde. Jedes Literaturwerk macht unbewusst von ihnen Gebrauch, auch wenn es ein Roman über eine altassyrische Prinzessin oder ein Drama aus der mittelalterlichen Kirchengeschichte ist. Was von verschiedenen Ländern zu ein und derselben Zeit gilt, gilt in noch höherem Grade von verschiedenen Zeiten innerhalb ein und desselben Volkes. Könnten wir uns magisch in die Zeiten der Freiheitskriege versetzen, so würden wir uns trotz unserer lebendigen Teilnahme für ihre Kämpfer doch unter ihnen sehr wenig heimisch fühlen und wir würden zu ihren Begriffen von Freiheit und Würde, Tugend und Weisheit, Ehre und Liebe jede Stunde den Kopf zu schütteln haben. Und wenn Theodor Körner oder De La Motte Fouqué ein paar Wochen im modernen Berlin zubringen könnten, so würde ihre Begeisterung für das neue Reich wahrscheinlich nicht gerade überschwänglich sein. Der grösste Teil dieser unbewussten Voraussetzungen in der Lyrik hingt davon ab, was ein Volk als lyrische Nahrung zu sich [XV]zu nehmen gewöhnt ist, oder von seiner lyrischen Tradition.
Die literarische Tradition ist so stark, weil jeder Schriftsteller in der Sprache dasselbe Wortmaterial wie seine Vorgänger benutzen muss, während in den anderen Künsten die Tradition nur in den Methoden der Behandlung eines an sich neutralen Stoffes besteht, seien es nun Farbentöpfe, Marmorblöcke oder die Tonskala. Die Tradition ist vielleicht auf keinem Literaturgebiete stärker als in der Lyrik. In ihr giebt es traditionelle Versmasse und traditionelle Reime, einen traditionellen Rythmus, traditionelle Redensarten und grössere Wortgruppen, eine traditionelle Stiltechnik, traditionelle Gegenstände, traditionelle Stimmungen und traditionelle Gedanken, traditionelle Anschauungen und selbst traditionelle Verse. Es giebt eine Reihe Verse, die drei, vier und fünf Mal in der deutschen Lyrik vorkommen. Liebe und Natur (und nach Geibel ausserdem noch Gott) sollen die ewigen Gegenstände der Lyrik sein, und das ist ja der Grund, warum ernste Menschen einen Band lyrische Gedichte so oft mit verdächtigem Kopfschütteln betrachten. In Deutschland, wo das letzte Jahrhundert eine solche Fülle machtvoller Lyriker hervorgebracht hat, muss die Tradition in der Lyrik noch ganz besonders stark sein. Goethe und Heine haben zweifellos den tiefsten Einfluss auf die Entstehung der modernen lyrischen Tradition ausgeübt, aber Wilhelm Müller, Lenau, Uhland, Geibel, Scheffel haben ebenso ihr Teil dazu beigetragen, und es ist nur natürlich, dass die ungeheure Masse der lyrischen Erzeugnisse in Deutschland heute auf den von ihnen getretenen Pfaden einherschreitet. Aber auch ihre Überlieferung ist nicht allmächtig, und um so geringer ist ihre Macht, je stärker die Persönlichkeit des Dichters ist. In der Auflehnung gegen die Tradition freilich zeigt sich die starke dichterische Individualität nicht, sondern in weit höherem Grade in ihrer Fortbildung.
[XVI]Herwegh hat einmal gesagt:
Aber weise Dichterworte finden nicht immer die Beachtung, die sie verdienen. So hat die Mehrzahl der deutschen Lyriker des letzten halben Jahrhunderts es sich keineswegs angelegen sein lassen, den Wünschen und Nöten der Zeit in ihren Dichtungen zum Ausdruck zu verhelfen, sondern hat sich damit begnügt, die Gedanken und Formen ihrer grösseren Vorgänger zu wiederholen. Erst das letzte Vierteljahrhundert, die Zeit des neuen deutschen Reiches, hat eine grössere Anzahl neuer lyrischer Ansätze gebracht, die zwar die Tradition der vorausgehenden Zeit fortpflanzen, zugleich aber der deutschen Dichtung namentlich inhaltlich eine ganze Reihe Gebiete erschlossen und neue Züge einverleibt haben. Diese Ansätze zusammen und ihren Zusammenhang mit den Bestrebungen unserer Zeit aufzuzeigen, ist die Aufgabe des vorliegenden Bändchens gewesen, dessen Titel nach dem Gesagten kaum mehr einer Erklärung bedarf. Es enthält nur Dichtungen aus den Jahren 1869 bis 1895 und beschränkt sich auf solche, die in irgend einer Weise für das geistige Leben unserer Zeit bezeichnend sind. Ob sie aus der Feder von Dichtergreisen oder Dichterjünglingen stammen, hat dabei keinen Unterschied gemacht. Sie alle reihen sich zwanglos unter die drei Titel Modernes Leben, Moderne Liebe und Modernes Denken ein und geben in ihrer Gesammtheit eine Art Miniaturbild der neuen geistigen Strömungen, die während des letzten Menschenalters durch die Gebildeten Deutschlands gegangen sind.
Die Modernität in der Lyrik kann je nach den verschiedenen Seiten der lyrischen Tradition eine sehr verschiedene [XVII]sein, aber im Ganzen lassen sich doch drei Hauptentwicklungsstufen unterscheiden: Der Gegenstand kann ein moderner sein, er kann mittels alter Symbole und Redewendungen von einem modernen Gesichtspunkt behandelt werden, und die Darstellung kann sich in modernen Sinnbildern und Ausdrücken vollziehen. Zwischen diesen drei Entwicklungsstufen sind nun allerhand Kombinationen möglich; die beiden ersten, die beiden letzten, oder die erste und die dritte Stufe können vereinigt sein, nur eine von ihnen oder alle drei können sich finden. Die Schilderung des Elends der niedrigsten Arbeitergruppe ist gewiss ein moderner Gegenstand. Wenn Freiligrath ihn sich in seinem Liede Aus dem schlesischen Gebirge zum Vorwurfe wählt, dann muss er ihn noch an die Rübezahlsage anknüpfen, um ihn überhaupt zum Kunstwerk zu gestalten. Sein dreizehnjähriger Weberknabe, der dem Rübezahl sein Leinwandpäckchen verkaufen will und dabei eine Schilderung der Not daheim giebt, drängt sich ihm mit Notwendigkeit als poetische Fiktion auf. Ähnlich, wenn Theodor Fontane das furchtbare Eisenbahnunglück des Winters 1879 in seiner Brück' am Tay schildert. Ihm müssen die Hexen aus Macbeth noch zur Einkleidung des modernen Stoffes in ein poetisches Gewand herhalten, und ein anderes Ausstattungsstück der modernen Dichtung, der Weihnachtsbaum, den Schottland nicht kennt muss die Wirkung verstärken helfen. Die Tierfabel, die von Baumbach und Otto Ernst (Die Grille; und Wahlgeschichten der vorliegenden Sammlung) mit grossem Glück auf moderne Stoffe, die geringen Erträge lyrischer Gedichte und die Tragikomik des Wahlfeldzuges, angewandt worden ist, gehört gleichfalls hierher. Wo es sich um die Darstellung moderner Ideen handelt, da leitete immer die ausgesprochene Tendenzdichtung die Geschichte einer Idee in der Dichtung ein. Erst nach und nach beginnen die neuen Hauptgesichtspunkte für den Dichter zur selbstverständlichen Voraussetzung zu [XVIII]werden. Sie sind es geworden, sobald er es nicht mehr für nötig befindet sie zu erwähnen, sondern sie zur unausgesprochenen Grundlage seines Denkens macht. Die moderne Arbeiterbewegung hatte anfangs mit dem Standpunkte des Sklavenhalters sich abzufinden. Daher zunächst die Betonung des Satzes, der Arbeiter habe gleiche Rechte mit den übrigen Menschen, wie er in der sozialistischen Lyrik von heute noch eine Rolle spielt, und erst dann das Bewusstsein dieser Rechte, kraft dessen die heutige Wirtschaftsordnung angegriffen wird. So geht ein Zeitgegenstand in fest bestimmter Ordnung durch die verschiedenen Stufen der literarischen Behandlung, um, sobald er der Zeit selbstverständlich geworden ist, wieder ganz aus der Lyrik zu verschwinden, so dass man sein Vorhandensein in der Wirklichkeit nur noch aus gelegentlichen Äusserungen erraten kann. Die Tendenzdichtung, die stets am Anfang steht, ist für diejenigen, deren Überzeugung sie zum Ausdruck bringt, deren politische, soziale, religiöse Wünsche sie verkörpert, genau so gut „wahre Poesie“ und stellt genau so gut „das Schöne“ dar, wie nur jemandem, der in den Anschauungen des griechischen Dramas gross geworden ist, Goethes Iphigenie als erhabenes Kunstwerk erscheint. So sind häufig für verschiedene Klassen eines Volkes zu der gleichen Zeit auf verschiedener Entwicklungsstufe stehende Dichtungen die höchsten Kunstwerke.
Die Entwicklung der modernen deutschen Lyrik, insonderheit der Unterschied zwischen ihr und der sogenannten romantischen oder sentimentalen Lyrik, die ihr zeitlich unmittelbar vorausgeht, ist einzig vermittels einer Kenntnis der Weltanschauungsentwicklung Europas in den letzten beiden Jahrhunderten zu verstehen. Im allgemeinen ist jene Entwicklung durch zwei geistige Mächte bestimmt, von denen das letzte Jahrhundert noch sehr wenig wusste: die reissenden Fortschritte der Naturwissenschaft und dem Eintreten sozialer [XIX]Probleme in den Mittelpunkt der allgemeinen Teilnahme. Unter dem Einfluss dieser Mächte ist in der allgemeinen Weltanschauung des begabteren Teiles des Volkes ein Umschwung eingetreten, der häufig unterschätzt wird. Allerdings hat er sich bereits seit dem sechzehnten Jahrhundert in aller Stille vorbereitet, aber erst in unseren Tagen sind Fragen wie, ob die Erde der Lieblingsstern und der Mensch das Lieblingskind eines Gottes, oder ob die Erde ein ziemlich unbedeutender Planet neben anderen und der Mensch ein Zweig des grossen Säugetierstammbaumes ist, endgiltig entschieden worden. Derartige Veränderungen der Auffassung der eigenen Stellung im Weltall können unmöglich ohne Einfluss auf die ästhetischen Werte der Zeit bleiben, sondern müssen im Gegenteil notwendigerweise zu einer raschen Entwertung jener geistigen Werte führen, welche sich auf den geozentrischen und anthropozentrischen Irrtum stützen. Dasselbe gilt z. B. von der Rolle, die einst die spekulative Philosophie gespielt hat, von der veränderten sozialen Stellung der Frauen, der Art und Weise der modernen Gütererzeugung und Güterverteilung, des modernen Verkehrs und der modernen Bildung. —
Im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts, während noch der Rationalismus in voller Blüte stand und die deutsche Dichtung sich zu einer ihrer höchsten Höhen erhoben hatte, tritt — scheinbar ganz unvermittelt — der Pessimismus in die Literaturen Westeuropas ein. Er breitet sich mit unglaublicher Schnelle aus, erreicht rasch in der romantischen Dichtung einen vorläufigen Gipfelpunkt, setzt sich in Platen, Heine, Lenau fort, um am Ende der sechziger Jahre noch einmal eine Blütezeit zu feiern. Sein Hauptfeld ist die Lyrik und bleibt es auch, als sich der Roman unter Freytags Einfluss modernen Stoffen zuwendet und das Drama sich weiter tapfer mit den ethischen Problemen des achtzehnten Jahrhunderts herumschlägt. Die oberflächliche Psycho- [XX]logie des modernen Frankreich meint, alle Kulturvölker Europas seien in eine Niedergangsperiode eingetreten und spricht mit Vorliebe vom fin de siècle als dem Anfang vom Ende. Es ist kaum zu leugnen, dass eine solche décadence im französischen Volke bemerkbar ist, das nicht einmal mehr durch Geburten die Lücken zu füllen vermag, die der Tod in seine Reihen reisst. Aber ein Stichwort wie décadence oder dégénération erklärt nicht nur nichts, sondern führt vielmehr nur allzuleicht zu einer völlig falschen Auffassung der geistigen Konstellation des modernen Europa.
Die Frage, ob Optimismus oder Pessimismus „das Wahre“ ist, ist keine Frage der philosophischen Überzeugung, die sich durch Gründe entscheiden liesse, sondern eine Frage der physiologischen Organisation. In wem der Lebensprozess sich mit Leichtigkeit und Schnelle vollzieht, der wird eine „leichte Seele“ haben, wird ein Optimist sein, während der Gallenkranke mit beharrlichen Störungen seiner wichtigsten Lebensfunktionen ein Pessimist sein muss. Keine Philosophie der Welt wird imstande sein, ihn für den Optimismus zu gewinnen. Wenn Kranke, z. B. Schwindsüchtige häufig guten Mutes sind, so ist das kein Einwand gegen diesen Satz, sondern nur ein Beleg dafür, dass, obgleich ihr Körper sich mit Riesenschritten der Auflösung nähert, der Lebensprozess in ihnen ohne Hindernisse und Schmerzen, häufig sogar mit aussergewöhnlicher Geschwindigkeit, vonstatten geht. Aber z. B. bei Schopenhauer, dem missgestalteten, hässlichen Manne mit dem hinfälligen Körper und dem riesigen Kopfe, der gestörten Verdauung und allerhand körperlichen Beschwerden ist der Pessimismus das unvermeidliche Ergebnis der Langsamkeit und Stauung des Lebensprozesses. Er ist der Typus des Menschen mit „schwerer Seele“. Soweit kann man der physiologischen Erklärung des Pessimismus unbedenklich folgen und diese Lehre als Verfalls- und Entartungserscheinung bezeichnen. [XXI]Gilt aber diese Erklärung, die wahrscheinlich für ausnahmsweise pessimistische Einzelwesen völlig zutrifft, auch für ganze Zeiträume mit mehr oder weniger ausgesprochenen pessimistischen Tendenzen und melancholischen Motiven in der Literatur?
Die Geschichte zeigt, dass derartige Tendenzen unter Umständen sehr rasch entstehen können. Die deutsche Literatur des siebzehnten Jahrhunderts, ja der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, weiss so gut wie nichts von pessimistischen Neigungen. Die Theodiceenliteratur trägt siegreich darüber hinweg, wo sie als leichte Schatten erscheinen. Das starke, selbstgewisse, gesunde Leben mit seinem übergrossen Reichtum an Kraft, Lust und Wohlbehagen beherrscht die Literatur des ganzen siebzehnten Jahrhunderts, und als dann weichere Stimmungen erscheinen, sind sie doch durchaus nicht pessimistischer Natur. Da setzt plötzlich eine entschieden pessimistische Lyrik ein. Ist von 1740 bis 1770 das deutsche Volk in dem Masse physiologisch verfallen, dass der Pessimismus die Oberhand gewinnen musste, und was waren die Ursachen dieses Verfalls? Was führte seit 1874 das deutsche Volk derartig der Gesundung zu, dass es den Pessimismus siegreich zurückschlug? Ein solcher Wechsel in der Volksgesundheit wäre einzig durch eine plötzliche Stockung und eine ebenso plötzliche Beschleunigung der natürlichen Auslese innerhalb des Volkes zu erklären, durch eine Hemmung und Wiederförderung der sozialen Ausscheidung und Auslese, wie sie dem aufmerksamen Beobachter des sozialen Organismus unmöglich verborgen bleiben könnte wo sie wirklich vorhanden wäre. Aber ganz im Gegenteil setzt am Ende des vorigen Jahrhunderts eine Beschleunigung der sozialen Auslese ein, indem eine grössere Beweglichkeit in die Bevölkerung kommt und die Anwendung von Maschinerie den einzelnen rascher reich werden und rascher verarmen lässt.
In Wirklichkeit ist die Grundlage dieses Pessimismus [XXII]überhaupt auf völlig anderem Gebiete zu suchen. Schiller, der in derlei Dingen weit mehr ein Kind seiner Zeit war als Goethe, dessen kühner Geist ihr weit voraus eilte, ist vielleicht die beste Brücke zu seiner Erklärung. Wenn wir nicht wüssten, wie Schiller zu seinen elegischen Stimmungen kam, wir könnten es aus seinen eigenen Liedern lernen. Es ist kein Zufall, dass er mit ganzem Herzen am Platonismus hing, der in der deutschen Gesellschaft etwa seit 1700, wo der Gegensatz zwischen dem guten Gotte und dem Teufel im Glauben der Gebildeten durch den Gegensatz zwischen Gott und Welt, Geist und Materie, ersetzt worden war, eine Neubelebung erfahren hatte. Der Dichter, der da in seinen „Idealen“ sang:
der die „Götter Griechenlands“ zu schreiben und sich zu dem Paradoxon zu versteigen vermochte:
war sich auch bewusst, dass in seiner Zeit etwas dahinschwand, etwas, an das ihm die wahre Poesie unauflöslich geknüpft schien, dass gewisse geistige Werte, obgleich immer noch geschützt durch die Gefühle weiter Kreise, doch durch den Fortschritt des Denkens entwertet worden waren oder doch ihre frühere Alleinherrschaft verloren hatten. Was sollte an ihre Stelle treten? Würde der Verlust jemals ersetzbar sein? Jedenfalls war die Trauer um das verlorene Ideal einstweilen die Empfindung, die sich am stärksten über die Schwelle des Bewusstseins drängte. Ein moderner däni- [XXIII]scher Denker1Harald Höffig in seiner Ethik 1887. hat einmal ausgeführt, dass sich Anschauungen weit rascher entwickeln als Gefühle, dass jedoch mindestens auf ethischem Gebiete neugewonnene Anschauungen die Handlungen des Menschen nicht eher beeinflussen, als bis sie in Beziehung zu seiner Gefühlswelt treten. Bis dahin sind sie einzig Ergebnisse des Nachdenkens, stützen sich auf Gründe, haben sich aber noch nicht völlig seiner Weltanschauung eingefügt. Was von den ethischen Anschauungen gilt, gilt auch von demjenigen Teil unserer Weltanschauung, der die Frage beantwortet: wie schaut die Welt aus? was ist die Stellung des Menschen in ihr? was sind seine natürlichen Neigungen und Strebungen? Solange hier neugewonnene Anschauungen noch nicht zu festen hohen Gefühlswerten geworden sind, gelten sie als unpoetisch, als Zerstörer aller poetischen Weltbetrachtung, aller Poesie überhaupt. Die pessimistisch gefärbte Lyrik, die etwa mit dem Jahre 1770 einsetzt, und die Schiller unter dem Namen der sentimentalen Dichtung zum Gegensatz der, „naiven“ Dichtung des Altertums zu stempeln versuchte, jene Dichtung, die man nachmals statt sentimental romantisch nannte und die auch unter dem Namen der Weltschmerzpoesie geht, erhält ihren Kernzug eben von der Entwertung jener alten Ideale und bezeichnet eine flüchtige Episode in der Weltanschauungsentwicklung Westeuropas. Sie ist keineswegs etwas der modernen Zeit Eigentümliches, sie bedeutet keineswegs einen „Gegensatz“ zur griechischen Dichtung, sondern sie ist die natürliche Begleiterscheinung jeder Zersetzung einer Weltanschauung. Ihre Vorbedingung war vorhanden, als Stoizismus und Neuplatonismus den Angriffen des Christentums erlagen, zu dessen Ausbildung beide ihr Teil beigesteuert hatten, und sie herrscht naturgemäss zu einer Zeit, in der das grandiose System der mittelalterlich- priesterlichen Weltanschauung unter den Angriffen des Ra- [XXIV]tionalismus, der Naturwissenschaft und den Anforderungen eines beschleunigten sozialen Lebens zusammenbricht. Ein geistiger Kampf von drei Jahrhunderten hatte besonders auf ethischem Gebiete eine Art Ausgleich zwischen dem mittelalterlichen Christentum und der Welt des südeuropäischen Altertums zustande gebracht, und ersteres war in weitem Umfange durch die letztere umgebildet worden, aber schliesslich diente dieses Kompromiss, dem Lessing und Schiller sich ganz hingaben, und über das Goethe niemals hinausgelangt ist, so sehr er sich auch angestrengt hat, doch nur dazu das riesige Glaubensgebäude zu erschüttern, das das mittelalterliche Kirchentum aufgebaut hatte, und erleichterte somit dem Rationalismus seine Aufgabe.
Goethe hat lange genug gelebt, um die beiden Mächte, welche das Werk des Rationalismus fortsetzen sollten, ins Dasein eintreten zu sehen. Er ist zugleich der erste Deutsche gewesen, der die moderne Naturwissenschaft und die moderne soziale Bewegung auf ihre künftige Bedeutung hin abzuschätzen verstanden hat. Auf jenem Felde war es vor allem der Begriff der Entwicklung, den Buffon schon gekannt und den dann Kant und Laplace zunächst auf das Weltall angewandt hatten, was befruchtend und umstürzend wirkte. Auf diesem Felde war es die Beschleunigung des sozialen Lebensprozesses, welche der Anwendung von Maschinerie in grossem Massstabe und der dadurch erfolgten Beschleunigung des Kreislaufes der Daseinsmittel entsprang. Goethe hat versucht, beide Gegenstände dichterisch zu bemeistern. Es ist ihm nicht gelungen; ja es ist nicht zuviel gesagt, dass seine Schöpferkraft an dem Versuche zerbrochen ist, beide Vorwürfe künstlerisch zu gestalten.2Vergl. über den ersteren Versuch Wolfgang Kirchbach: Was kann die Dichtung für die moderne Welt noch bedeuten? Berlin 1888. S.28. Die ganze Welt, welche die naturwissenschaftliche Forschung eröffnet hatte, vermochte er sich wohl forschend zu eigen zu machen, aber sie war für [XXV]ihn noch nichts „Poetisches“, d.h. noch kein fester, heller, hoher ästhetischer Wert. So sind die Metamorphose der Pflanzen und die Metamorphose der Tiere zwei Lehrvorträge geblieben, welche die Dame, der sie gewidmet waren, schwerlich verstanden hat. Ganz ähnlich war es auf dem sozialen Gebiete. Der Brief Goethes an Schiller vom 29. August 1795 lässt keinen Zweifel daran, dass sein Verfasser den Übergang vom Handwerksbetrieb zum Maschinenbetrieb in Ilmenau deutlich erkannt hatte, ja sich über seine überwältigende Bedeutung klar war. Trotzdem ist Goethes Versuch, in Leonardos Tagebuch in Wilhelm Meisters Wanderjahren ein Bild von dem Leben der Schweizer Spinner- und Weber- Bevölkerung zu zeichnen, als kläglich gescheitert zu betrachten. Es überstieg die Fähigkeiten des Goethealters dieser Aufgabe zu genügen. Es war nicht Altersschwäche, was Goethe daran hinderte, denn 1797 kann man ihn doch nicht gut einen Greis nennen, und auf anderen Gebieten besass er noch lange nach der Abfassung der Geschichte vom nussbraunen Mädchen die Fähigkeit seine Gedanken, soweit sie für ihn hohe ästhetische Werte bedeuteten, klar und schön zum Ausdruck zu bringen. Aber hier liegt eben der Unterschied. Goethe hat wohl das Aufsteigen der naturwissenschaftlichen Weltanschauung und der modernen Sozialverhältnisse erlebt, aber ihre Einzelheiten bedeuteten noch keine festen Gefühlswerte für sein Bewusstsein, sie erregten in ihm nicht jene beredte Begeisterung wie der Gegensatz zwischen unseren Trieben und unseren sittlichen Überzeugungen im Faust oder wie Iphigeniens humane Ideale. Infolgedessen fehlt ihm ein gewisser Sinn für das Bezeichnende und Unbedeutende, und er sieht sich gezwungen, seiner farblosen Geschichte kritische Bemerkungen über ihren Gegenstand beizugeben.
In einem Punkte aber war ihm die neue Weltanschauung, deren Thore die Naturforschung aufgethan hatte, bereits zur heiligen Überzeugung geworden, und das war in ihrer letzten [XXVI]und höchsten Frage, im Monismus. Mochte er auch am Schlusse seines Faust und anderwärts in den Platonismus zurückfallen und in einem schwachen Augenblicke sich zu dem Satze bekennen:
er hat an mehr als einer Stelle sein monistisches Glaubensbekenntnis voller Schönheit ausgesprochen. Nicht nur in dem Gespräch Fausts mit Gretchen in Marthens Garten:
sondern auch im Epirrhema und Antepirrehma und in der Sammlung „Gott, Gemüt, Welt“, in der die Verse stehen:
Daher seine Stellung zur Religion:
Über den dichterischen Spruch aber ist Goethe auch auf diesem Gebiete nicht hinausgekommen.
[XXVII]Derselbe soziale Prozess, der die Erwerbsverhältnisse so vollständig umwandelte und die Beziehungen zwischen der herrschenden Klasse und den Beherrschten beinahe auf den Kopf stellte, so dass die arbeitenden Schichten zunächst mit dem Anspruch auf gleiche Rechte auftraten, brachte das um Lohn arbeitende Weib in den Vordergrund, von der die Frühzeit des achtzehnten Jahrhunderts noch so gut wie nichts gewusst hatte. Der immer steigende Individualismus, der in den Tagen der Reformation vor der Bibel Halt gemacht hatte und auch nicht kühn genug gewesen war, an der Stellung zu rütteln, die das mittelalterlich-christliche Dogma dem Weibe zuwies, ging jetzt noch einen guten Schritt weiter. War einst das Weib der Ursprung alles Übels für den Mann und eine cloaca multorum diabolorum gewesen, so ward es jetzt, nachdem begabte Frauen in den höheren Kreisen der Gesellschaft seit einem Jahrhundert eine bedeutende Rolle gespielt hatten, dem Manne ein gutes Stück nähergerückt. Die Gelegenheit einer besseren Bildung trat hinzu, und die Stellung der Frau hob sich verhältnismässig rasch, obwohl das griechische Altertum entschieden gegen eine soziale Gleichheit beider Geschlechter war. Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts trat die Sittlichkeit hinsichtlich der Beziehungen der Geschlechter zu einander in der deutschen Dichtung und besonders im Romane in eine neue Periode ein. Das deutsche Drama der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts war gleich dem sozialen Leben der Zeit in seinen Anschauungen über geschlechtliche Sittlichkeit in und ausser der Ehe sehr weitherzig gewesen. Jetzt begann in der Literatur ein seltsamer äusserlicher oder oberflächlicher Formalismus in diesen Dingen vorzuwiegen. Gellerts Roman Leben der Schwedischen Gräfin von G** ist das beste Beispiel dafür, und es ist ein weiterer Beleg für die schnelle Weiterentwicklung ethischer Probleme in der Folgezeit, dass zwischen diesem Roman (1747) und Goethes Wahlverwandt- [XXVIII]schaften (1809) nur zwei Generationen liegen. Goethes Roman vertrat zum ersten Male in der Literatur den Satz, dass nur diejenige Ehe sittlich ist, welche sich auf wechselseitige persönliche Geschlechtsliebe gründet, und dass sie unsittlich wird, sobald diese Voraussetzung auf einer Seite verloren geht. Es ist nur natürlich, dass sich ein solcher Umschwung in den sittlichen Idealen einer Zeit in der Lyrik bemerkbar macht, deren ewiger Gegenstand ja die Liebe sein soll. Er muss die Stellung der Geliebten heben, ein neues Ideal weiblicher Schönheit und Liebenswürdigkeit verkünden und zu einer Wiederherstellung der sittlichen Reinheit gesunder Geschlechtsliebe führen, die durch die ethische Theorien des Mittelalters schwer erschüttert worden war. Zunächst gilt es, die intimen Liebesbeziehungen vor dem sittlichen Richterstuhle zu rechtfertigen. Sobald diese Rechtfertigung Gemeingut einer grösseren Menschenzahl geworden ist, erklärt das neue sittliche Bewusstsein die alte Verdammung dieses natürlichen schönen Fühlens und Sehnens selbst für unsittlich. Auf dem langen Wege dieser Entwicklung treten naturgemäss Verzerrungen und Übertreibungen aller Art auf. Das Ideal der „freien Liebe“ als einer allgemeinen geschlechtlichen Vermischung erscheint, und der moderne Roman mit seiner starken Neigung zum Experimentellen gelangt zu Verschrobenheiten wie Gutzkows Wally, die Zweiflerin (1835). „Emanzipation des Fleisches“ ist der Name, den die protestantische Theologie dieser Denkrichtung gegeben hat, und soweit sie sich überhaupt von einem mittelalterlichen Gesichtspunkte aus und in mittelalterlicher Phraseologie bezeichnen lässt, ist diese Benennung nicht übel. Vor der modernen naturwissenschaftlichen Kenntnis hält sie freilich nicht stand; denn diese hält es nicht mehr für richtig, die Denkkraft unseres Hirnes von seiner Fühlkraft und Liebkraft zu trennen und die eine Geist und die andere Fleisch zu nennen. Entweder sind beide Geist oder beide Fleisch, und der natur- [XXIX]wissenschaftliche Monismus, für den die Seele gleichbedeutend mit dem Lebensprozess und folglich ein Bewegungsvorgang und nicht mehr etwas Stoffliches ist, kennt nur noch lebendigen Stoff und nicht mehr eine Zusammensetzung aus „totem Stoff“ und „Geist“. — Die immer wachsende Anzahl durch eigene Arbeit oder ererbtes Vermögen sozial unabhängiger Frauen wirkte in derselben Richtung, und so ward das Ideal des gehorsamen, schwachen und gegen ihren Herren demütigen Mädchens ganz unmerklich einigermassen durch das neue Ideal des starken, frischen und ihrem männlichen Kameraden im Leben treu ergebenen Weibes ersetzt. Die Treue, die vordem nur eine weibliche Tugend gewesen war, erzwungen durch die sozial stärkeren Männer, verwandelte sich jetzt in eine gegenseitige Treue, die den Mann genau so sehr band wie das Weib.
Goethes Liebesdichtung bezeichnet eine bemerkenswerte Stufe in diesem Entwicklungsgange. Sie zeigt seine Freiheit von den alten kirchlichen Fesseln in noch reicherem Masse als sein Leben, aber sie hat noch nicht jene neue Stabilität gefunden, die sich auf das persönliche Liebesgefühl des Menschen gründet. Hätte er auch niemals sich zu Anschauungen bekannt wie sie der überschwänglichere Schiller in seiner Würde der Frauen niedergelegt hat, so steht sein weibliches Ideal doch noch stark unter dem Einfluss der Weltanschauung, von der er sich in vielen anderen Punkten freigemacht hat. Auch Heine ist nicht über jenes Ideal und den Sich daran knüpfenden Kreis von Gefühlen hinausgekommen. Sein Empfinden stand vielmehr noch völlig unter der Macht der alten Anschauungen, obgleich sein Verstand ihn m manchen Punkten darüber hinausgeführt hatte. So vermochte er zu gleicher Zeit, die alten Vorwürfe in vollendetster Form zum dichterischen Ausdruck zu bringen und sich über sie lustig zu machen. Aus den neuen ästhetischen Werten, die sich in seinen Tagen vorbereiteten, eine neue [XXX]Poesie aufzubauen, vermochte er jedoch nicht. So steht er an der Schwelle zweier Zeitalter, nicht ein Pfadfinder gleich Goethe und doch mit fast unbeschränkter Herrschaft über die technischen Mittel der Lyrik der Zeit, die sich eben dem Ende zuneigte und folglich mit einer Ausdrucksfähigkeit ohne Gleichen zu seinen Lebzeiten.
Die Stellung der mittelalterlich-christlichen Weltanschauung war durch die Fortschritte der Erkenntnis seit dem fünfzehnten Jahrhundert unwiderruflich erschüttert; die Anschauungswelt des griechisch-römischen Altertums vermochte angesichts der unendlich zusammengesetzteren modernen Lebensbedingungen sich nicht mehr als einziger Leitstern zu behaupten. Wissenschaftliche Entdeckungen von der Bedeutung der Erhaltung der Kraft und der Entwicklungslehre und die Neubelebung von Theorien wie Atomismus und Vererbung begannen die alte mythologische Weltbetrachtung der Zeit zu entfremden. Die alten Gefühlswerte sanken von ihrem Throne, neue hatten sich noch nicht ausgebildet: — was war da natürlicher als dass sich die Lyrik der Zeit der Klage über diese Verluste hingab und bejammerte, dass der Gegenwart alle grossen und erhabenen Züge fehlten? Verlorene Ideale, verlorene Liebe, verlorener Waffenruhm des Vaterlandes, verlorener Glaube, verlorene Hoffnung, verlorenes Glück, verlorene Lebensfreude, verlorene Aussicht auf ein Leben in einem Jenseits — das sind die Vorwürfe der romantischen Lyrik. Es ist eine Lyrik der Entsagung und teilweise der Selbstaufopferung. Schiller eröffnet sie. Noch heute scheint sie uns unauflöslich mit dem verknüpft, was uns für das Schönste und Erhabenste gilt, aber es ist dennoch eine Lyrik des Unterganges, des Endes.
Den ersten Schritt über das Reich der Entsagung und die Klage über das unwiederbringlich Verlorene hinaus thut die Lyrik der Befreiungskriege, obgleich auch sie stark mit melancholischen Tönen gesättigt ist. Diesem politischen Sich- [XXXI]aufraffen folgt ein soziales im Jungen Deutschland, dessen Dichtung im Revolutionsjahre 1848 ihren Mittelpunkt hat. Der Kampf der Demokratie gegen den Absolutismus und des Weltbürgertums gegen nationale Schranken erscheint in enger Verbindung mit dem Kampf gegen die enge Fessel der Ehe und der geschlechtlichen. Sittlichkeit überhaupt und mit dem Kampfe gegen das herkömmliche Ansehen der Kirche und jede Art von Dogma. Herwegh steht mit seinen Gedichten eines Lebendigen von 1841 hier voran, aber Heine, Dingelstedt, Freiligrath schreiten in derselben Bahn, und selbst lyrische Sammlungen, die ausserhalb dieses Kreises ihren Ursprung haben, zeigen dieselbe Kritik an dem Bestehenden, meist in Form von Ermahnungen, die politische Sklaverei, die geschlechtlichen Vorurteile und den religiösen Aberglauben aufzugeben. So z. B. Jordans „Schaum“3Leipzig 1846.. Ob Jordan den deutschen Fürsten es vorhält:4Denkt ihr daran, Schaum S. 98.
ob er eine neue geschlechtliche Sittlichkeit aufstellt:5Liebesgedichte romantisch und modern. Nr. 4 in Schaum S. 222-223.
oder ob er den Priestern das Wort ins Gesicht schleudert: Note: Dem Freunde R. Gottschall, Schaum S. 106.
und jeden Zeitgenossen auffordert:7Der Schiffer und der Gott in Schaum S. 129.
es ist auf allen drei Gebieten dieselbe Kritik und dieselbe Auflehnung gegen das Bestehende, was sich zum Worte meldet, und es ist bezeichnend, dass beim. Druck des ersten Gedichtes auf die Verfügung der Zensur hin die Worte: deutsche Fürsten und bürsten ausgelassen werden mussten, und dass der Dichter für den Vortrag des letzten Gedichtes zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt wurde.
Zwischen den Dichtungen der Schiller-Goethe-Zeit und denen des Jungen Deutschland gähnt eine ganze Weltanschauungskluft. Die zweite klassische Periode der deutschen [XXXIII]Dichtung hatte ihren wesentlichen geistigen Gehalt aus der wohlbekannten Mischung der Ideale des mittelalterlichen Christentums und des griechischen Altertums gefunden, welche die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts kennzeichnet und unter dem Namen des „Allgemein Menschlichen“ geht, obwohl sie nicht einmal etwas annähernd allgemein Kulturmenschliches darstellt. Ihre Anschauungen über Schuld und Sühne, Entsagung und Selbstüberwindung, Ehre und Würde, Monarchie und Absolutismus, Mord und Krieg haben in den Meisterwerken jener Zeit klassischen Ausdruck gefunden. Schiller schrieb in genauer Übereinstimmung mit den Ideen seines Zeitalters in der Braut von Messina:
Aber schon Robert Prutz dachte in diesem Punkte anders. In seinem geschichtlichen Schauspiel Moritz von Sachsen steht die Stelle:
Dieser Gedanke ist nachmals von Friedrich Nietzsche ein gutes Stück weiter entwickelt worden, indem dieser Denker im Gegensatz zu Schopenhauer alle Spekulationen über den Wert des Lebens für töricht erklärte, aus dem einfachen Grunde, weil ein Standpunkt ausserhalb des Lebens, von dem allein sich die Sache objektiv entscheiden lassen würde, wie nicht erst bewiesen zu werden braucht, unmöglich sei.
Schiller hatte in seiner Jungfrau von Orleans den Satz ausgesprochen:
und Ferdinand Freiligrath sang:
War es ehedem die Erbweisheit des Feudalstaates gewesen:
so machte jetzt die moderne Dichtung Ernst mit dem Rousseauschen Satze, dessen praktische Folgerungen Schiller sicher nicht anerkannt hätte:
Die Lyrik des Jungen Deutschland ist nicht eine Lyrik des vierten Standes, sondern eine Lyrik des liberalen Bürgertums. Trotz ihrer ausgesprochenen politischen Tendenzen fehlt ihr mit Ausnahme ihrer neuen Eheideale jeder im engeren Sinne soziale Zug. Wenn sich Heine an dem Geschick der schlesischen Weber versucht, so ist ein politisch und religiös radikales Gedicht das Ergebnis,10Die Weber in den „Zeitgedichten“. aber kein soziales. Den schwarzen Galafrack, die seidene Weste, Manschetten und Kragen vermochte Heine in die deutsche Lyrik einzuführen, für die soziale Not des deutschen Volkes fand er nicht die Worte. Das lag noch jenseits des Hori- [XXXIV]zontes seiner Zeit. Aber die Dichtergruppe, die sich unmittelbar an das Junge Deutschland anschloss, vermochte das bereits. Auch hier steht zunächst die Abneigung gegen die Vorrechte des privilegierten Adels im Vordergrunde, bald erweitert sich aber der Gesichtskreis. Adolf Glassbrenner schreibt sein kleines Gedicht Der Adlige:
Moritz Hartmann findet den rechten Ton für das erste kleine soziale Lied:
und Karl Mayer fasst in „Spatz und Spätzin“ die Gedanken der modernen Frau über ihr Schicksal zusammen:
Hermann von Gilm unternimmt es sogar, die sittliche Forderung der Wahlverwandtschaften lyrisch zu behandeln. [XXXVII]Wie Charaktergegensätze zur Lösung eines Liebesverhältnisses führen, das zeigt sein erst nach seinem (1864) erfolgten Tode veröffentlichter kleiner Sang Es musste sein:11Deutsche Dichtung, herausgegeben von K.E. Franzos. Bd. VI, S. 320. (April bis September 1889; Oktavausgabe). Dresden 1889.
Die Revolution von 1848 war, trotzdem in Einzelheiten manches erreicht worden war, doch im Grossen fehlgeschlagen und ebenso der Versuch, unter der Führung Preussens ein neues deutsches Reich aufzurichten. Die religiöse Bewegung der vierziger Jahre, von der man bereits eine neue Reformation [XXXVIII]erwartet hatte, war völlig im Sande verlaufen, und damit waren alle Aussichten geschwunden, die Verhältnisse der Gegenwart den Idealen der Zeit in Bälde näher zu bringen. Gleichzeitig schwanden die letzten Reste der alten absolutistischen, hierarchischen und humanistischen Ideale aus den Kreisen der Gebildeten. Selbst Hegels Philosophie, die eine Zeit lang als Betäubungsmittel der Vernunft gewirkt hatte, war nicht mehr imstande, der Zeit einen Trost zu bieten. So kam es, dass der Pessimismus eine neue Blütezeit erlebte, diesmal aber ingestalt einer Philosophie. Schon 1819 war ihm in Arthur Schopenhauer ein philosophischer Vertreter erstanden, der eine Reihe Bildungselemente der Zeit durch pessimistische Gedankengänge verknüpfte. Aber erst in den Sechzigern wirkte diese Popularphilosophie auf weitere Kreise. Die neue Welle des theoretischen Pessimismus verkündet sich in der Erscheinung, dass 1859 Die Welt als Wille und Vorstellung neu aufgelegt werden muss. Spielhagen, Raabe, Jensen, Heyse nehmen diese Ideen rasch in ihre Prosadichtungen herüber, und Jensen, Leuthold, Grisebach, Dramnor (Ferdinand von Schmidt) und Ada Christen (Christiane von Neupauer, geb. Friderik) geben ihr Ausdruck in der Lyrik. Eduard Grisebachs anonyme lyrische Sammlung Der Neue Tanhäuser (1869) eröffnet diese ausgesprochen pessimistische Liederdichtung. Sie hat auf die folgende Dichtung einen Einfluss gehabt wie kein anderes Buch seit Heines Buch der Lieder und ist, obwohl ein Jahr vor 1870 erschienen, in der vorliegenden Sammlung vertreten, damit das wichtigste Glied dieser pessimistischen Strömung nicht fehle. In ihr ist Schopenhauers Einfluss nur allzudeutlich erkennbar:
Gelegentlich zeigt dieser starke Unterton des Schmerzes deutlich seinen Ursprung. Das Gedicht: Leuchtend aus dem Lindengrün beklagt geradezu das Schwinden jener alten Ideale in wehmütiger Stimmung, aber nicht ohne sich zu einer neuen Selbstgenügsamkeit aufzuraffen, die dem Verse Heyses nahekommt :
Hier und da erscheint auch die Trauer über die angeblich ausschliesslich materialistischen Neigungen der Zeit, und schliesslich wird der Pessimismus in seiner grellsten Form nach indischen Vorbildern als das höchste Ideal des Dichters gepriesen. Der Neue Tanhäuser entlehnt dem alten Meister Eckart das Motto: Die Wollust der Kreaturen ist gemenget mit Bitterkeit, legt aber auf die Wollust mindestens ebensoviel Gewicht wie auf die Bitterkeit.
Das Jahr 1878 brachte eine neue lyrische Sammlung pessimistischen Charakters und voll hoher dichterischer Schönheit, in der sich theoretische Überzeugung und die trüben Ereignisse eines verfehlten Lebens vereinigten, um der Formenpracht Goethes und Platens einen neuen melancholischen Inhalt zu geben. Sie wurde herausgegeben von Jacob Bächtold, da ihr Dichter Heinrich Leuthold bereits in der Irrenanstalt Burghölzli bei Zürich schmachtete, wo er dann am 1. Juli 1879 starb. Leutholds Gedichte haben gleich denen Grisebachs einen gewissen litterarischen Einfluss gehabt, obgleich [XL]keinen gleich grossen. Als sie erschienen, verebbte die Woge des theoretischen Pessimismus eben, und an seiner Stelle kam eine andere Strömung auf, der soziale Pessimismus, der das Geschick des niedrigeren Teiles der Arbeiterbevölkerung zu seinem Lieblingsgegenstand machte. Trotzdem klingt der philosophische Pessimismus noch geraume Zeit in der deutschen Literatur nach, und noch 1884 schrieb ein begabter Dichter:12Karl Kösting. Der Weg nach Eden, Leipzig 1884.
Die erste Kraftäusserung des deutschen Volkes, in der sich die Neigung zeigte, den Pessimismus zu überwinden, ist der deutsch-französische Krieg von 1870. Die Errichtung des neuen deutschen Reiches im Rausche des Sieges führte zu einer riesigen Verstärkung des Vaterlandsgefühls. Eine neue klassische Periode der deutschen Literatur wurde allgemein erwartet, und die Kriegslieder zahlreicher Dichter galten schon als ihr Anfang. Und doch bewegten sich selbst die besten von ihnen vollständig in dem alten traditionellen Stil und dem mythologischen Gedankenkreise, der die Dichtung der Freiheitskriege auszeichnet. Selbst Geibels „Am dritten September 1870“ ist keine Ausnahme:
Der Aufschwung des geistigen Lebens Deutschlands und die Umbildung der herrschenden christlich-demokratischen Weltanschauung zum Evangelium der Lebensfreude, des Kraftbewusstseins und der Zukunftsfreudigkeit knüpft sich nicht an ein Ereignis des politischen Lebens, sondern an eine neue geistige Errungenschaft, die· scheinbar von dem, was Völker begeistern kann und sie den Pfad zur Grösse führt, weit abliegt und doch den Anbruch einer neuen Weltanschauungsepoche bedeutet, weil sie gewissermassen die Energie der Lage, die durch die Anhäufung naturwissenschaftlicher Entdeckungen seit dem sechzehnten Jahrhundert geschaffen worden war, in lebendige Kraft übergeführt hat.
Im November 1859 war Charles Darwins Werk Über den Ursprung der Arten erschienen, und fast sofort begann es nicht nur die Wissenschaft der Biologie, sondern zugleich auch die Weltanschauung der Gebildeten zu beeinflussen. Das Hagelwetter der Entrüstung, das darüber losbrach, und die Begeisterung, die es auf der anderen Seite weckte, hoben es sofort aus den gewöhnlichen Erscheinungen des Büchermarktes heraus und förderten seine Verbreitung. Was die Hypothesen von Kant und Laplace für das Weltall behaupteten, und was Lyell für die unorganische Welt der Erde nachgewiesen hatte, das war dadurch auch für die organische Natur erwiesen. Der ewige Stillstand, der ewige Kreislauf und die Entartung ursprünglich vollkommener Verhältnisse, sie alle drei mussten dem Begriffe der natürlichen Entwicklung in endlosen Zeiträumen weichen. Durch das Mittel von Huxley's Zeugnissen für die Stellung des Menschen in der Natur stürzte die neue Erkenntnis den Menschen mit einem Schlage von dem spiritualistischen Sockel, auf den ihn seine Unwissenheit gestellt hatte und machte ihn zum Vetter der höheren Zweige des Säugetierstammbaumes. Erst durch Darwins Theorie bekam das moderne Gebäude der Natur- [XLII]wissenschaft seinen endgiltigen Stil und die neue Weltanschauung ihren sicheren Mittelpunkt. Seit den Tagen der Entdeckung Amerikas und den Leistungen von Köpernick und Kepler war die Naturwissenschaft damit beschäftigt gewesen, den Dom der mittelalterlichen Mythologie niederzubrechen und an seiner Statt einen neuen Turm aufzubauen. Die Zeit, wo Licht, Farbe, Schall, Blitz, Seele als überirdische Stoffe betrachtet wurden, und Berge, Ströme, menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten, Wünsche und Ideale als ewig und unveränderlich, entschwand langsam, und die Stelle des überirdischen Stoffes begannen gewisse Vorgänge oder Bewegungsformen einzunehmen, und die Stelle der Ewigkeit und Unveränderlichkeit der Begriff der Entwicklung. Ein solcher Umschwung musste notwendigerweise von den schwersten Folgen für die Weiterbildung der Ausdrücke, Gefühle, Wünsche, Bestrebungen, sittlichen Anschauungen, Ideale und selbst Handlungen des Menschen sein, kurz für die Weiterbildung aller der Vorstellungen, die überhaupt einen Gefühlswert für den modernen Menschen besitzen. Gefühlswerte oder ästhetische Werte, d.h. Vorstellungen, die aufs engste an gewisse Gefühle geknüpft sind, sind die Bausteine der Dichtung, und somit können in ihnen keine Veränderungen eintreten, die nicht zugleich auf den Inhalt der Dichtung wirkten, und dies in noch weit stärkerem Masse als der Stil eines Gebäudes von seinem Baumaterial beeinflusst wird. Da Gefühlswerte und Literaturen jedoch sehr konservativ sind und überdies die letzteren ihre eigene geschriebene Überlieferung besitzen — ein Umstand, der immer dazu dient, einen einmal vorhandenen Zustand festzuhalten —, so gehen solche Veränderungen in der Literatur immer noch weit langsamer vonstatten als die Entwertung alter ästhetischer Werte im Bewusstsein der Gebildeten. Trotzdem sind sie unverkennbar. Hatte Schiller in der Braut von Messina noch geschrieben:
[XLIII]und noch Herwegh in den Strophen aus der Fremde den Satz ausgesprochen:
so musste die neue Anschauung, die in der ganzen belebten Natur nichts als einen millionenfachen Kampf ums Dasein sah, die Fröhlichkeit und das sanfte Sterben in der Natur alsbald ins Land der Träume verweisen und die Stellung des Menschen im allgemeinen wie des Dichters im besonderen zur Natur völlig verändern. Eine Dichtung, die es sich zum Ziele machte, das moderne Leben im Lichte der neuen wissenschaftlichen Weltanschauung darzustellen und die neuen ästhetischen Werte der Zeit als ihre Bausteine zu benutzen, die darauf ausging, das Handeln des Menschen an neuen sittlichen Idealen zu messen, die aus jener Entwicklungsanschauung abgeleitet waren, konnte naturgemäss nur langsam emporwachsen und musste in verschiedenen Ländern zu verschiedener Zeit eintreten. Aber es ist gewiss bezeichnend, dass Deutschland das erste Land ist, das eine solche Dichtung hervorgebracht hat.
Erst im achtzehnten Jahrhundert ist Köpernicks Theorie unseres Planetensystems, die in England noch Milton in seinem Verlorenen Paradies erörtert und verworfen hatte, ein dauerndes Gut der deutschen Literatur geworden. Erst durch Hallers Vermittlung kamen Dichtung und Naturwissenschaft überhaupt in Berührung. Seit seinen Tagen sind wenigstens gelegentlich naturwissenschaftliche Gegenstände in der Lyrik behandelt worden. Als dann in der Mitte unseres Jahrhunderts zahlreiche Ausgrabungen eine ganze Welt fossiler Reste einer vorweltlichen Fauna und [XLIV]Flora ans Tageslicht brachten und die Gebildeten begannen, für vorgeschichtliche Funde lebendige Teilnahme zu fühlen, da kamen sie auch in die deutsche Lyrik. Josef Viktor von Scheffel war es, der sie 1867 mit vielem Humor in das Studentenlied einführte und zunächst damit auf eine komische Wirkung ausging, die er auch erzielte.13Gaudeamus, Lieder aus dem Engeren und Weiteren. Stuttgart 1867. S. 5.
Damit war ein erster Schritt zur Einführung des Darwinismus in die deutsche Lyrik gethan. Die Entwicklungslehre selbst hielt im Jahre 1871 ihren Einzug in sie in Wilhelm Jordans lyrischer Sammlung Strophen und Stäbe. In ihr steht das Sonett Kampf heisst das Weltgesetz, das auch in der vorliegenden Sammlung enthalten ist. In ihr steht das Lied An einige Kritiker,14Strophen und Stäbe, Frankfurt a.M. 1871. S. 209. in dem er von Darwin sagt:
Der Darwinismus, der aus diesen Versen spricht, ist nicht mehr bloss eine biologische Hypothese oder eine naturwissenschaftliche Theorie, sondern er ist ein Stück neue Weltanschauung. Er ist Naturanschauung und Lebenswissenschaft zu gleicher Zeit, er ist die neue frohe Botschaft der Lebensfreude und des Zukunftsmutes des starken, gesunden Menschen, der stolz ist auf den mühsamen Aufstieg seiner Gattung im Kampf ums Dasein durch Millionen von Jahren. Er ist der Optimismus, der zugleich mit dem neuen erhabenen Ideal der Höherentwicklung der Gattung Mensch heraufkommt.
Sechs Jahre später gab derselbe Dichter seinem Volke ein anderes Buch, die reifste Frucht seines Lebens und den höchsten Ausdruck seiner Dichterkraft, seine Andachten.15Andachten von Wilhelm Jordan, Frankfurt a.M. 1877. In ihnen umfasst er bereits die neue Weltanschauung mit der ganzen Glut einer heiligen Überzeugung und giebt ihr an vielen Stellen begeisterten Ausdruck. Am Eingang steht noch die Frage:
aber schon die ersten Seiten zeigen dass auch die neue Weltansicht ihre Poesie hat. Es ist nicht mehr die Lehre [XLVI]von der Entwicklung und dem Daseinskampf, was der Dichter predigt, sondern diese Dinge sind seinem Denken bereits zu selbstverständlichen Voraussetzungen geworden. Von ihrem Standpunkt aus betrachtet er Natur und Menschenleben und greift er die noch immer in der Öffentlichkeit herrschende Weltanschauung an. Die Heilslehre der Entwicklung ist ihm gleichsam der Kern einer neuen Religion, und wenn es nach seinen Wünschen ginge, dann müssten die Kirchenreligionen die neue Erkenntnis freudig in sich aufnehmen und sich damit verjüngen. Statt dessen wenden sie ihr Gesicht ab und verlieren immer mehr die Fühlung mit dem Geiste der Zeit. Die Schuld daran trifft ihre amtlichen Vertreter, die Priesterschaft, und mit ihr geht Jordan scharf ins Gericht:
Von den Folgen des Schwindens des Gottesglaubens erzählt das Gedicht Nur drei, vier Sterne lugten halberblichen.18S. 58 der vorliegenden Sammlung.
Während Jordan es noch versucht, mit den Sagen und dem Formenschatz der Kirche Fühlung zu behalten und so wenigstens die Schale des Christentums in die Zukunft hinüberzuretten, tritt ein Jordan vielfach verwandter und von ihm stark beeinflusster Geist dieser ganzen Überlieferungswelt schroff gegenüber und kündet ihr jede Gemeinschaft auf. Wie Jordan einst in seinen philosophischen Jugendarbeiten in der Wigandschen Vierteljahrschrift dem Platonismus und der Hegelei zugleich den Krieg angekündigt hatte, so thut es jetzt Friedrich Nietzsche in seinen philosophischen Schriften, nachdem er den Pessimismus Schopenhauers endgiltig überwunden hat. An Goethes platonisches Faustschlusswort anknüpfend, widmet er diesem Dichter in seinen Liedern des Prinzen Vogelfrei, die er 1887 seiner Fröhlichen Wissenschaft mit auf den Weg gab, ein kleines Hohnlied:19Nietzsches Werke Bd. 5. Leipzig 1895. S. 349, unter dem Titel „An Goethe“.
Auf diesem Boden wächst eine ganze kirchenfreie Poesie auf, die in allen denkbaren Tönen wiederklingt. Bald ist sie streitbar, bald versöhnlich, bald erschüttert sie das Alte, bald baut sie am Neuen. Alte und junge Dichter vereinen sich in ihr. Neben Jordan und Jensen20Wer? S. 144 der vorliegenden Sammlung. stehen Adler,21S. 151. Backhaus,22S. 142. Hartleben,23S. 150. Herold24S. 149. und zahlreiche andere. Der Abschnitt Modernes Denken dieser Sammlung giebt ein gedrängtes Bild davon. Lebensfreude, Kraft und Logik lehnen sich gegen den alten Anschauungszwang auf. Arno Holz singt begeistert in seinem Buch der Zeit 1886: 25S. Arno Holz, Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zürich 1886. S. 253.
Graf Schack schreibt 1874 im Prolog zu seinen Nächten des Orients:
und B. Johannes Grosse bekennt, dass er aufgezogen ward26Buch der Erinnerungen, Strassburg 1895. S. 216.
Jesus von Nazara ward nach der Sage dereinst gefragt, was man thun solle, um im Jenseits selig zu werden, und er gab eine asketische Antwort darauf. Sie befriedigt heute nicht mehr, und Grosse nimmt das Problem von neuem auf:27Ebenda. Wie Rückert einst gesungen hatte:“
so fragt Grosse:
Statt der Religion des Todes bedarf die Zeit einer Religion des Lebens. Grosse wirft dem Weisen von Nazara geradezu vor:28Ebenda. S. 213-214.
[L]Astarte giebt die Antwort auf die Frage nach der Seligkeit:
So verkündet der Dichter eine neue Religion der Liebe,29In der vorliegenden Sammlung S. 135. die die Menschheit zu einer höheren Stufe emportragen soll. — —
Was in Dichtungen dieser Art zum Ausdruck kommt, lässt sich nicht mehr richtig mit dem Gegensatze Glauben [LI]und Unglauben bezeichnen, wie ihn die mittelalterliche Weltanschauung sich dachte, die als drittes Glied im Bunde noch den Aberglauben hinzufügte, sondern hier handelt es sich um einen Streit zwischen Kirchenglauben und Wissenschaftsglauben, zwischen der dualistischen Weltanschauung des Christentums und der monistischen Weltanschauung der Naturwissenschaft, wie sie Ernst Häckel30Ernst Häckel. Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntnis eines Naturforschers. Bonn 1893. Vierte Auflage. vertritt und wie sie in Dichtungen wie Backhausens Monismus31S. 144 dieser Sammlung. oder Jensens Wer?32S. 142. scharf hervortritt, in dem letzteren Gedicht im engen Anklang an Fausts poetisches Glaubensbekenntnis bei Goethe. Gerade in Deutschland, wo weder Comtes Positivismus noch Huxleys Agnostizismus irgend welchen Boden gewonnen hat und wo das synthetische Denken fast Nationaleigenschaft ist, tritt nicht nur das Streben nach der Bildung einer einheitlichen, widerspruchslosen Weltanschauung ausgeprägt hervor, sondern auch die ernsteste Arbeit wird nicht gescheut, um zu ihr zu gelangen. Wissenschaftliche Beobachtung und Vergleichung des Beobachteten allein vermögen eine Weltanschauung nicht aufzubauen, sondern dazu ist in ganz hervorragendem Masse induktives Schliessen und der Gebrauch wissenschaftlich geschulter Einbildungskraft nötig. Aber gerade darin liegt auch die Stärke der neuen Überzeugung, dass sie nicht nur ein Haufen beobachteter Thatsachen, sondern in einem Masse eine einheitliche Weltanschauung ist, wie sie z.B. das Christentum kaum in einer Phase seiner Entwicklung dargestellt hat. Seit dem Auftreten von Jordan, Carneri, Radenhausen und Nietzsche beschränkt sie sich nicht mehr auf die theoretische Seite, welche unserer Erkenntnis der Welt dient, sondern ein ethischer Flügel ist dem Gebäude der neuen Weltanschauung angebaut worden. Wäh- [LII]rend noch Friedrich Albert Lange nach einem Grundsatz ausschaute, durch den sich der Egoismus überwinden liesse, gründet die Entwicklungsethik ihre Mauern gerade auf diesen Egoismus. Sie unterscheidet allerdings zwischen kurzsichtiger und weitsichtiger Selbstsucht, aber sie betrachtet den Menschen nicht mehr als isoliertes Individuum, oder auch nur als einen Teil eines sozialen Organismus, sondern als ein Glied der menschlichen Gattung, und kommt so zu wesentlich anderen Ergebnissen als Leslie Stephen oder Wilhelm Wundt,33Vgl. des Verfassers Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik. Leipzig 1895. von denen der erste den Hauptnachdruck auf das soziale Gewebe legt, während der zweite den entscheidenden Punkt im Geistesleben der Menschheit findet. Der physiologische Gesichtspunkt steht ihr allenthalben im Vordergrund. Die Natur weiss nichts davon, dass die Glücklichsten irgendwo überlebten, und darum hält das Ideal des Glücksutilitarismus, die unendliche Steigerung des Glückes der grössten Menschenzahl, vor der Naturwissenschaft nicht stand. Es ist ein völlig unnaturwissenschaftliches und unnatürliches Ideal und muss daher notwendigerweise dem anderen Ideal der Höherentwicklung der menschlichen Rasse mittels natürlicher Auslese und natürlicher Ausscheidung weichen. In der darwinistischen Weltanschauung ist kein Raum mehr für ewigen Frieden.
Es ist eine ausserordentlich seltene Erscheinung in der Weltanschauungsgeschichte, dass eine Dichtung als erster Vorstoss in ein neues, unbekanntes Gebiet dient. Um zu wirken, muss der Dichter in hohem Masse mit den Gefühlswerten seiner Zeit rechnen und darf sich höchstens ausnahmsweise einmal hinaus auf das Meer dessen wagen, was selbst für die Gebildeten noch jenseits der Zeit liegt. Hier und da geschieht es aber doch, und dann ist er zugleich Führer in der Weltanschauungsentwicklung. Noch ehe die [LIII]Entwicklungshypothese von Darwin für die organische Natur bewiesen worden war, hatte sich Jordan 1854 an ein paar verstreuten Stellen seiner Dichtung Demiurgos34Demiurgos. Ein Mysterium von Wilh. Jordan. Leipzig 1854. mit ihrer Anwendung auf das künftige Geschick der Menschheit beschäftigt:
und36Demiurgos I. S. 75.
Er lässt ein Ideal von Weib erscheinen:37Demiurgos I. S. 70.
und gegen Ende des Werkes38Demiurgos III. S. 187. spricht der Fürst:
[LIV]Das ist eine Lebensfrage für jedes Volk, denn39Demiurgos III. S. 143.
In Jordans Doppelepos Die Nibelungen klingt dieselbe Gedankenreihe fast noch deutlicher wieder, nachdem Darwin den Entwicklungsgedanken auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt hatte. Das ganze Epos ist auf die Idee der Zucht gestellt, und gipfelt in der Idee, die menschliche Gattung über sich hinaus zu steigern:
Brünhild reckt sich zu mehr als menschlichem Denken auf, indem sie sich mit ihrer Todfeindin Krimhild an Sigfrids Leiche versöhnt.4154. Gesang. Bd. 2. S. 377.
[LV]Das Wort Übermensch, mit dem der Erdgeist bei Goethe höhnend Faust bezeichnet, braucht Jordan nicht in diesem Sinne, sondern nur einmal in einer Prosaschrift zur Bezeichnung Homers. 42Das Kunstgesetz Homers und die Rhapsodik. Frankfurt 1869. S. 17. Aber die Sache bezeichnet Wodan in nicht misszuverstehen der Weise, wenn er sagt43Sigfridsage. 1. Gesang Bd. 1. S. 22.:
In die Lyrik hat Jordan diesen Gegenstand nicht eingeführt, wenn er ihn auch ein paar Mal in seinen Andachten streift. Auch anderen Lyrikern hat er den Stoff nicht direkt an die Hand gegeben. In den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren steht er, der dichtende Recke mit der überschäumenden Lebenslust, noch ganz allein, während ringsum [LVI]die Meute des demokratischen Liberalismus und des Pessimismus heult. Er gewinnt sich namentlich durch seine Nibelunge ein grosses Publikum, aber er ist in seinen Ideen seiner Zeit zu weit voraus, um Schule zu machen. Erst um die Mitte der siebziger Jahre bekommt er an einem jungen Universitätsprofessor, der eben von Schopenhauer und Wagner kommt, und durch den Ring des Nibelungen der deutschen Heldensage nahe gebracht worden ist, einen eifrigen Leser und Schüler und wird dadurch das entscheidende Ereignis in der geistigen Entwicklung eines Philosophen, der noch bei Lebzeiten im stärksten Masse auf die Litteratur und vor allem auf die Lyrik gewirkt hat, in der geistigen Entwicklung Friedrich Nietzsches.
In den Jahren 1874 und 1876 hatte Friedrich Nietzsche in zwei Unzeitgemässen Betrachtungen Schopenhauer als Erzieher und dessen Gefolgsmann Richard Wagner als den Stern von Baireuth verherrlicht. Es war gerade um die Zeit der letzten Phase des theoretischen Pessimismus, und diese Flugschriften machten ein gewisses Aufsehen. Als er sich dann jedoch ethischen Problemen zuwandte, schrumpfte sein Leserkreis nicht unbeträchtlich zusammen. Der spottende Kritiker und der Pessimist der ewigen Wiederkehr in ihm hatte zuerst von Jordans Nibelungen und dann von seinem Demiurgos einen scharfen Stoss erhalten, der ihn in das entgegengesetzte Lager hinüberwarf, ihn den Kern des Pessimismus im Physiologischen suchen liess und ihn zu einer Reihe Studien auf dem Felde der Weltanschauungsgeschichte veranlasste, als deren reife Früchte er nachmals die Schriften Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral veröffentlichte und eine weitere, den Antichrist schrieb. Erst während der Arbeit an seiner Götzendämmerung wurde er mit Darwin aus eigener Anschauung bekannt, und erst im Antichrist, zu dessen Veröffentlichung er nicht mehr kam, zeitigt diese Lektüre praktische Früchte, indem die natürliche [LVI]Auslese auf die Menschenwelt angewandt wird. Bis dahin waren Rolphs Biologische Probleme seine Hauptquelle über den Darwinismus gewesen. Die Aufmerksamkeit weiterer Kreise richtete sich erst auf den Einsiedler von Sils-Maria, der unterdessen seine Professur niedergelegt hatte, als unmittelbar nach der Veröffentlichung der Götzendämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert, die Kunde kam, er sei von einer schweren Nervenstörung befallen worden, die zu dauerndem Irrsinn und seiner Unterbringung in einer Irrenanstalt führte. Jetzt wandte sich seinen Werken rasch die Teilnahme der Gebildeten zu. Von 1889 an sind die deutschen Zeitschriften voll von Nietzsche; insonderheit die literarischen Monatsschriften wie M. G. Conrads Gesellschaft,44München 1885 und 1886, Leipzig 1887 ff. L. M. Kafkas Moderne Dichtung45Leipzig, Brünn, Wien 1890. Seit 1891 unter dem Titel Moderne Rundschau. und Brahms und Bölsches Freie Bühne46Berlin 1890 und 1891 (Wochenschrift), 1892 und 1893 (Monatsschrift). Seit 1894 unter dem Titel Neue deutsche Rundschau. beschäftigten sich ausführlich mit seinem Leben und seinen Schriften. Hermann Conradis Lieder eines Sünders47Leipzig (1887). sind die erste lyrische Sammlung, die Nietzsches Einfluss auf die deutsche Lyrik zeigt. Triumph des Übermenschen nennt sich das Lied, in dem der junge Dichter singt:48S. 145.
Seitdem werden die Spuren, die Nietzsches Werke in den Schöpfungen namentlich jüngerer Dichter gelassen haben, immer deutlicher. Seit 1888 steht die literarische Jugend [LVIII]Deutschlands in weitem Masse unter seinem Bann. Verschiedene Umstände wirken dazu zusammen: die Macht der neuen Ideen, seine leuchtenden Geistesblitze, die künstlerische Vollendung des aphoristischen Stiles seiner späteren Schriften und der Ernst und die Erhabenheit, die er namentlich seinem Hauptwerk Also sprach Zarathustra zu geben wusste, in dem er die neue von Jordan zuerst verkündete Heilslehre von der Höherentwicklung der künftigen Menschheit in ein Prosaepos nach dem Muster des buddhistischen Tripitaka einkleidete und sie dem alten Zarathustra in den Mund legte. Nietzsches Zarathustra hat nichts mit dem Zarathustra zu thun, der einst für den Verfasser des Avesta oder wenigstens von dessen ältestem Teile, der Gâthas galt. Der Held des Buches ist weder ein Glied der Familie Spitama, noch der Gatte von Fraschaoschtras Tochter Huogvî, sondern ein freies Erzeugnis der Einbildungskraft Nietzsches, wenn auch hie und da kleine Züge aus morgenländischen Heilandssagen benutzt sind.
Ob ein junger Dichter dem Philosophen von Basel Sonette widmet49Johann Gottfried Oswald, Deutsche Dichtung hrsg. Von Franzos Band XII. Berlin 1890, S. 173.
ob ein anderer in einer kleinen Novelle das Gastzimmer eines alten Wirtshauses folgendermassen beschreibt:50Otto Erich Hartleben. Die Geschichte vom gastfreien Pastor. Freie Bühne. Juli 1893, S. 808. „Es war etwas Besonderes, dieses alte Gastzimmer. Es hatte seine verborgenen Tiefen und gefährlichen Heimlichkeiten wie ein Buch von Friedrich Nietzsche“, oder ob Hermann Conradis Roman Adam Mensch51Leipzig 1888. und seine Flugschrift Wilhelm II. [LIX]und die junge Generation52Leipzig 1889. oder ein Pamphlet Leo Bergs53Das sexuelle Problem in der modernen Literatur, Zweite Aufl. Berlin 1890. den Einfluss von Nietzsches aphoristischem Stil nur allzu deutlich zeigen — alle diese Züge deuten auf dasselbe hin. Bald genug wirken auch Nietzsches entwicklungsethische Ideen auf die deutsche Lyrik. In dem Kapitel Von Kind und Ehe in Also sprach Zarathustra hatte Nietzsche im engen Anschluss an Brunhilds Worte bei Jordan aus dem neuen sittlichen Ideal die Folgerungen für die moderne Liebe gezogen, und schon 1893 giebt Richard Dehmel diesem neuen Liebesideal Ausdruck in seinem Gedichte Venus Madonna54Aber die Liebe. München 1893, p. 216. In der vorliegenden Sammlung S. 98.; in Jenseits von Gut und Böse (1886) hatte Nietzsche seine Herrenmoral verkündet, und bereits 1895 giebt Johannes Grosse in seinem Buch der Erinnerungen einem ganzen Kapitel die Überschrift Herrenmoral und singt in dem bereits erwähnten Gedichte Religion der Liebe55S. 135. der vorliegenden Sammlung. den Preis des neuen Ideals einer Höherentwicklung der Menschengattung, während Fritz Kögel zahlreiche Nietzschesche Gedanken in Verse bringt und damit ein ganzes Bändchen füllt.56Gastgaben. Sprüche eines Wanderes Leipzig (o.J.). Vgl. S. 159 und 160 der vorliegenden Sammlung. — —
In vielleicht noch stärkerem Masse als die allgemeine Weltanschauung wurden im neunzehnten Jahrhundert die Formen des äusseren Lebens durch allerhand Erfindungen und Entdeckungen fortgebildet. Während sich jedoch die genauere Kenntnis der industriellen Betriebe die durch die Einführung des Maschinenwesens geradezu auf den Kopf gestellt wurden, auf die engeren Kreise derer beschränkte, die in irgend einer Form in ihnen arbeiteten, wurden die neuen Verkehrseinrichtungen Gemeingut des gesammten Volkes, [LX]und es ist daher kaum wunderbar, dass sie zuerst Einzug in die Lyrik halten.
Während Alberta von Puttkammer in einem schönen Gedichte der alten Post noch eine Thräne nachweint,57Da einst die Post fuhr. S. 69 dieser Sammlung. versucht Conrad Ferdinand Meyer bereits der Poesie der Eisenbahn Ausdruck zu verleihen. Aber wie zur Entschuldigung, dass er einen solchen Stoff behandele, hält er es noch für nötig, hinzuzufügen, das sei die Poesie unseres Zeitalters, genau wie Arno Holz in seinem schönsten Grossstadtgedichte bemerkt:
Diese neue Eisenbahnlyrik ist zunächst fast rein beschreibend und bedarf noch des Hochgebirges als Hintergrund, zeigt aber bereits deutlich genug, was für Schätze hier noch der Hebung harren:
Julius Harts Gedicht Auf der Fahrt nach Berlin60S. 8 dieser Sammlung. dringt schon tiefer in seinen Gegenstand ein und giebt im Rahmen einer Eisenbahnfahrt zugleich ein Miniaturbild des Drängens der Bevölkerung nach der Grossstadt und des Daseinskampfes in dieser. Nachdem einmal die Thore der Lyrik aufgethan sind, geht das moderne Leben in hellen Haufen in sie ein.
Im Anfang der achziger Jahre erwacht in der literarischen Jugend Deutschlands ganz langsam das Bewusstsein, dass die alten Ideale unaufhaltsam dahinschwinden. Aber statt nach neuen Idealen auszuschauen, versuchen die Dichter in ihren Schriften das Leben abzubilden „wie es ist“. Daher der Ausdruck Realismus. In Wirklichkeit thun sie natürlich nichts Derartiges. Sie sehen das Leben nicht nur durch ihr Temperament an, sondern mindestens ebensosehr durch die Brille überkommener Ideen und beschreiben daher weniger ihre Eindrücke als dass sie ihren Ideen Ausdruck verleihen. Trotzdem führt das Streben, im Gedicht die eigenen Eindrücke in Worten darzustellen, zum umfassenderen Studium des modernen Lebens, der Daseinsbedingungen der Massen [LXII]und der geistigen Umwelt. Rasch erschliessen sich der Literatur eine ganze Reihe neuer Schauplätze und Stoffe. Der Roman erstreckt sich schnell über Krankheit, Elend, Verbrechen, Kneipenleben, Dirnentum und alle Arten sozialer Eiterbeulen; das Drama behandelt die ethischen Probleme des achtzehnten Jahrhunderts in ihrer Beziehung zu Heuchelei, krankhaften Lebensverhältnissen, persönlicher Unfähigkeit, erblicher Krankheit und Wahnsinn, und die Lyrik wendet sich allerhand Einzelbeobachtungen aus dem modernen Leben zu, wie sie sich in bunter bezeichnender Fülle aus der immer wachsenden sozialen Differenzierung unter dem Einfluss der Arbeitsteilung ergeben. Die Leiden der untersten Arbeiterklasse,61S. 11 Verfallen. ihr Kampf mit Hunger, Frost und Krankheit,62S. 12, 13 Die Näherin. Lass gut sein Mutter. der Daseinskampf des einzelnen Weibes,63S. 19, 37 Was will sie nur. Den . der Pomp in den Schaufenstern der Grossstädte,64S. 27 Vor einem Laden. das ungerechte Urteil des Gerichtes,65S. 17 Der Trunkenbold. die wachsende Unzufriedenheit der Arbeitermasse,66S. 15 Hört ihr es nicht. der Wahlkampf,67S. 21 Wahlgeschichten. das soziale Leben der Reichen mit ihrem müssigen Dilettantismus,68S. 24 Die Mittelmässigen. die astronomische Entdeckung,69S. 30 Der neue Stern. die Welt der Kinderstube,70S. 62, 63 Kindermund. Fitzebutze. das Schicksal des modernen Dichters,71S. 40, 43, 49, 51 Phantasus. Ich weiss, ich weiss. Guter Rat. Die Grille. kleine Familienbilder,72S. 54 Ja, das möcht’ ich. Tod und Krankheit im Kreise der nächsten Angehörigen,73S. 56, 58 Ein Brief kam. Nur drei, vier Sterne. das Eisenbahnunglück,74S. 33 Die Brück’ am Tay. alle diese Stoffe werden behandelt, viele von ihnen zum ersten Male in der gesammten Literaturentwicklung, manche in alten, manche in neuen Symbolen, manche noch humoristisch, manche schon bitter ernst. Der Wunsch, den Stoff zu deut- [LXIII]lichem Ausdruck zu bringen, überwiegt nicht selten den Trieb zur Schönheit, und der gewaltig neu andringende Stoff sprengt die alten Weisen. Statt des melodiösen Reimverses tauchen die freien Rythmen auf und damit ergiesst sich der poetische Strom in die Breite über Wiesen und Felder. Der nahe Verkehr der Dichter mit Malern namentlich in Berlin und München giebt den so entstehenden breiten Schilderungen, aus Natur und Menschenleben zum Schaden des dichterischen Gehaltes oft den Charakter einer Farbenstudie, das beschreibende Element drängt sich wie einst bei den Schweizern im vorigen Jahrhundert allzustark in den Vordergrund und beeinträchtigt die Wirkungskraft.
Die deutsche realistische Bewegung datiert von 1882. Der mittelbare Anlass war wohl das Durchschlagen von ein paar Dichtungen Ernst von Wildenbruchs um 1880, in denen ein eigentümliches Feuer auf grosse dichterische Kraft zu deuten schien. Die eigentlichen Begründer der Bewegung aber sind die Brüder Heinrich und Julius Hart, die 1882 eine Reihe literarischer Kampfschriften unter dem Namen Kritische Waffengänge75Leipzig 1882 bis 1884. Sechs Hefte. zu veröffentlichen begannen. Diese Kundgebung wurde der Anlass dazu, dass sich im Sommer 1883 ein kleiner literarischer Kreis um die beiden Brüder bildete, von denen der ältere durch seine epische, der jüngere durch seine lyrische Begabung hervorragte. Es waren meist Studenten der Universität Berlin, und bald stieg ihre Zahl auf zwanzig. Die Brüder Hart waren die leitenden Geister; aber der Kreis enthielt ausser ihnen noch eine Reihe hochbegabter Lyriker wie Karl Henckell, Hermann Conradi, Arno Holz und Otto Erich Hartleben. Ihrer aller Lieblingsfeld war die Lyrik. Nur Heinrich Hart fühlte sich der Epik ergeben. Ausser Stande, für ihre dichterischen Erzeugnisse einen Verleger zu finden, veröffentlichten sie im Herbste 1884 [LXIV]eine Auswahl aus ihren Dichtungen unter dem Titel Moderne Dichtercharaktere, und sandten sie kostenfrei jedem zu, der darnach Verlangen trug. 1886 folgte dann eine neue Titelauflage unter dem Namen Jungdeutschland.76Jungdeutschland. Unter Mitwirkung von Hermann Conradi und Karl Henckell, herausgegeben von Wilhelm Arent. Zweite Auflage. Friedenau (Berlin) und Leipzig. 1886. Das Buch ist noch in weitem Masse dem sozialen Pessimismus gewidmet, den Wilhelm Arent folgendermassen einführt:
Im Jahre 1885 gründete Martin Georg Conrad in München eine neue Zeitschrift: Die Gesellschaft. Realistische Monatsschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben, in der er der Lyrik einen breiten Raum widmete. Dasselbe that Karl Emil Franzos in seiner Halbmonatsschrift Deutsche Dichtung, die er 1887 begründete, und L. M. Kafka in seiner Modernen Dichtung, Monatsschrift für Literatur und Kritik, die seit 1890 erschien und 1891 in Moderne Rundschau umgetauft wurde. Seitdem sind diese drei Zeitschriften die Mittelpunkte der lyrischen Dichtung gewesen, die Deutsche Dichtung mehr der der altidealistischen und romantischen Lyrik, die anderen beiden fast ausschliesslich die der impressionistischen oder im Allgemeinen modernen Lyrik. [LXV]1891 weckte die Cottasche Verlagsbuchhandlung nach hundertjährigem Schlummer ihren Musen-Almanach77Cottascher Musen-Almanach für das Jahr 1891 u.s.w. Herausgegeben von Otto Braun. Stuttgart 1891ff. wieder aus dem Grabe, von dem seitdem unter der Leitung Otto Brauns sechs Jahrgänge erschienen sind, ohne dass er irgendwelche literarische Bedeutung erlangt hätte; denn er vertritt im Wesentlichen die kraft- und saftlose Lyrik der eben absterbenden Generation. Als Gegenstück rief er 1893 den Modernen Musen-Almanach78Moderner Musen-Almanach auf das Jahr 1893 ff., herausgegeben von Otto Julius Bierbaum. Ein Sammelbuch deutscher Kunst. München (o.J.). hervor, der unter Otto Julius Bierbaums Leitung hie und da einen glücklichen Griff that, obgleich sich gerade in ihm das In-die-Breite-Gehen der freien Rythmen und der Einfluss der Malerart, zu beobachten, störend geltend machen. Von zwei anderen Sammlungen, die literarischen Zwecken dienten, der deutschen Lyrik von 189179Deutsche Lyrik von 1891. Gesammelt und herausgegeben von C.G. Bruno, Felix Montanus, Franz Servaes. Stuttgart, Berlin, Leipzig 1892. und der Modernen Lyrik80Moderne Lyrik. Eine Sammlung zeitgenössischer Dichtungen. Herausgegeben von Leo Berg und Wilhelm Lilienthal. Berlin 1892. ist die zweite sicherlich die besser redigierte. Von beiden aber heben sich durch ihre Frische, ihren Sinn für glücklichen Humor und ihren entschieden inhaltlich modernen Zug die Mittheilungen der Neuen Klause, Verein zur Pflege deutscher Dichtung81Berlin 1893ff. vorteilhaft ab. Ihr Herausgeber ist Cäsar Flaischlen.
Die bedeutendsten lyrischen Schöpfungen stehen jedoch nicht in diesen Sammelbänden, sondern in Liederbänden einzelner Dichter. An erster Stelle steht im sozialen Lied Arno Holz mit seinem Buch der Zeit 1886.82Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Von Arno Holz. Zürich 1886. Er ruft die deutschen Dichter auf 83S. 70.:
[LXVI]und er selbst klagt84S. 244.:
Er eröffnet das Leben der arbeitenden Klasse der modernen Lyrik, er findet die poetische Seite am Wirken und Leiden des Arbeiterführers85S. 163.:
Johannes Grosse singt das Leben und Treiben der modernen Weltstadt86B. Johannes Grosse. Buch der Erinnerungen. Strassburg i.E. 1895, S. 49.:
[LXVII]und die Brüder Hart greifen noch tiefer:
Eine Reihe hochbegabter Dichter wie der mit dem Augsburger Schillerpreis gekrönte Dichter des Strandgut Reinhold Fuchs, der Mathematiker Richard Dehmel, der pensionierte Offizier Detlev von Liliencron und der Journalist Otto Julius Bierbaum versuchen sich an gleichen Stoffen. Karl Henckell wird der Dichter des Sozialismus und in John Henry Mackay reiht sich ihm ein Anarchist an. Gustav Falke beleuchtet von ähnlichen Gesichtspunkten das Grossstadtelend, während in Alberta von Puttkammers Akkorden und Gesängen (1889) und Offenbarungen (1894) der reine [LXVIII]Born eines reichen Innenlebens fliesst. Am schwächsten ist diese Lyrik, wo sie sich an die weiten Massen wendet wie in den Sängen des Sozialismus, am stärksten, wo sie am reinsten individualistisch ist und sich gegen das zurückgebliebene Gesammtbewusstsein auflehnt. Es ist das die Stärke unserer Zeit, die Fulda spottend in dem kleinen Vierzeiler verteidigt:
Vielleicht die eigentümlichste Blüte dieser sozialen Lyrik ist das Kindergedicht, oder vielmehr das Gedicht, das sich auf den Standpunkt der kindlichen Anschauung stellt. Richard Dehmel ist vielleicht sein grösster Meister, sein Schöpfer aber ist Viktor Blüthgen, der in Frisch vom Storch die Gedanken der Kleinen über das neue Geschwisterchen behandelt:
Am meisten kommt dieser modern-individualistische Zug fraglos in der Lyrik des modernen Liebens zum Ausdruck. [LXIX]Die Überwindung des Schablonenmässigen, das In-den- Vordergrund-Treten des Persönlichen, Persönlichsten, ist ihr bezeichnendstes Merkmal. Die kleinen individuellen Erlebnisse, die eine Liebe von der anderen unterscheiden, sind ihr Gegenstand, und die Verschiedenheit der Liebesverhältnisse in den verschiedenen Ständen wird von dieser Lyrik zuweilen grell beleuchtet. Von der Kinderliebe87S. 67 Die Kirche. S. 69 Da einst die Post fuhr. zu der Liebe, die sich in scheuem, fernem Sehnen äussert88S. 71, 72 Nacht. Mädchenfrühling. und zur Backfischphilosophie,89S. 81 Mädchenlied. zum Tanz im Frühling90S. 73, 75 Erste Blüten, erster Mai. Maitanz. und zum heimlichen Suchen und Finden,91S. 77, 79 Einen Sommer lang. Festtag. zur allvergessenden Verliebnis unterm Regenschirme92S. 80 Versunken. und zu der Annäherung der Liebenden an einander im „du“,93S. 85 Bitte. zur Lösung kaum geknüpfter Bande94S. 86 Ein Rauschen nur. und zum Ausbruch der heissen begehrenden Leidenschaft,95S. 87 Fragment. zur Grossstadtliebschaft96S. 88, 102 Feil hat sie. Anna. und zur Studentenliebelei,97S. 89 Lore. zum Liebesgeständnis im vornehmen Salon98S. 90 Therese hat Besuch. und zum nächtlichen Gespräch aus dem Fenster,99S. 92 Jugendliebe. zum Missverstehen und heimlichen Weinen,100S. 94 Weil ich nur lächelnd. zum Sträuben des stark persönlich empfindenden Mädchens101S. 96 Wann, wo und wie? und zum endlichen Bruche,102S. 99, 100 Laub am Boden. Das Mädchen von Rekko. zum treulosen Verlassen103S. 106 Reue. und zum freiwilligen Scheiden,104S. 108 Neue Bahnen. zum Tode der Geliebten105S. 110 Der Maibaum. und zur bedachtsamen Liebesphilosophie,106S. 113, 114 Kein Mäschchen. Beruf und Pflichten. zu dem sittlichen Probleme der Ehe107S. 115 Mutter und Kind. und zum Lieben am Rande des Verhungerns,108S. 116 Idyll. zu trüben Ehetagen109S. 118 Ein Erinnern. und zum Bekenntnis zum Unglauben [LXX]an eine persönliche Unsterblichkeit am Todesbett der Gattin110S. 123 Die letzte Frage. — das ist das Reich dieser modernen Liebeslyrik. Wie sich das Mädchen den ersten Kuss von den Lippen wischt, dem sie sich doch nicht entzogen hat,111S. 79 Festtag. und wie das starke, auf sich selbst stehende Mädchen dem Gedanken an die Ehe sich kühl gegenüberstellt, und doch innerlich ihm anheimgefallen ist,112S. 96 Wann, wo und wie? wie das Mädchen dem Geliebten die Kämpfe zu verbergen sucht, die sie um seinetwillen zu erdulden hat!113S. 94 Weil ich nur lächelnd. — Wenn Eduard Grisebach im Neuen Tanhäuser sogar die heisse Umarmung zu nächtlicher Stunde schildert und seinem Verlangen nach Schönheit und Lust gewagten aber kraftvollen Ausdruck verleiht, so dehnt er das Gebiet der Lyrik noch über Goethes Römische Elegien hinaus aus und erschüttert leise die Schranken der Prüderie, wenn ihm die Zeit seine Freiheit auch noch vielfach übel vermerkt. Noch mehr leisten freilich die Dichter, die das Liebesproblem von seiner ethischen Seite anfassen.
Schon Theodor Storm hat in seinem Gedicht Elisabeth den Vorwurf des Mädchens behandelt, das auf Drängen der Mutter einen ungeliebten Mann heiratet. Aber was für ein Stammeln ist es noch:
Aber das Mädchen fügt sich und klagt nur sein Leid. Anders schon bei Hermann Hango in Mutter und Kind.114S. 113. Auch hier fügt sich die Tochter, aber mit Trotz, und in dem dunklen Bewusstsein, in ihrem Gefühl eine höhere Sittlichkeit zu vertreten, antwortet sie der Mutter auf ihre Frage, ob sie glücklich sei:
[LXXI]Johannes Grosse geht in seinem kraftvollen Gedicht An eine moderne Brynhild noch ein gutes Stück weiter115Buch der Erinnerungen. Strassburg 1895. S. 64. im Kampfe gegen die unfreiwillige Ehe:
Hier ist der Satz, den schon Goethes Wahlverwandtschaften in Romanform behandelten, zum ersten Male in der Lyrik scharf vertreten. Dass eine Ehe nicht sittlich ist ohne persönliche Geschlechtsliebe, ja ohne die physiologischen Grundlagen, auf die sich jede gesunde Ehe gründet, das er- [LXXIII]scheint in der Lyrik wie eine neue Erkenntnis, obgleich es seit Goethes Tagen ein stehendes Romanmotiv und für die Romantiker, für Gustav Freytag und zahlreiche andere Menschen bereits ein Stück Leben geworden ist. Die moderne Lyrik fasst dieses Problem als eine ernste sittliche Frage und behandelt es mit nichts weniger als mit Leichtfertigkeit. In E. Heilborns Ehebrecherin ist es nach dieser Seite hin am reifsten dargestellt:116Moderner Musenalmanach auf das Jahr 1893. Herausgegeben von Otto Julius Bierbaum. München (1893). S. 29.
Einen weiteren entscheidenden Zug erhält die moderne Liebe und ihre Dichtung durch die Entwicklungsethik, wie schon bei Besprechung des Einflusses Nietzsches erwähnt wurde. Wenn Richard Dehmel in Venus Madonna singt:117S. 98 dieser Sammlung.
oder wenn Johannes Grosse sich vernehmen lässt:118S. 135 in Religion der Liebe.
da hat ein neuer grosser schöpferischer Gedanke in die moderne Liebeslyrik seinen Einzug gehalten, ein Gedanke, der vielleicht dereinst unsere gesammte Lebensweisheit von heute mitumbilden helfen wird.
Schon haben die Dichter selbst die Theorie des Realismus überwunden und damit die Dichtung wieder als eine der grossen Weltanschauungsmächte anerkannt. Seit Wilhelm Jordan 1876 in seinen Epischen Briefen schrieb:119Epische Briefe von Wilhelm Jordan, Frankfurt a.M. 1876. S. 95 „Ja, auch [LXXVI]die Poesie ist eine weltgeschichtliche Macht, und die Lieder Homers haben das Völkergeschick mindestens ebenso wirksam bestimmt wie die Eroberungszüge des grossen Alexander. Aber sie ist eine Macht nicht nur des Heiles, sondern auch des Verderbens. Sie vermag Nationen zu schaffen und aus der Zersplitterung herzustellen; wie denn uns die Möglichkeit, durch Blut und Eisen wieder eine Nation zu werden, erst hergestellt worden war durch die Poesie unseres Lessing, Goethe und Schiller. Aber sie kann Nationen auch vergiften zu unheilbarem Siechtum, wenn sie sich hergiebt zur schminkenden Helferin der Despotie und des geistesknechtenden Priesterdünkels; wie wir auch davon eben jetzt ein Beispiel erleben in dem hoffnungslosen Todeskampfe eines der höchstbegabten Völker, das auch seine Philippe zusammt der Inquisition so gänzlich zu verderben nimmer imstande gewesen wären, wenn nicht seine Lope de Vega und Calderon geholfen hätten, es in den Abgrund des Elends hinunter zu dichten“120Vergl. dazu Andachten, von Wilhelm Jordan, Frankfurt 1877. S. 197. — und seit Friedrich Nietzsche 1889 in seiner Götzendämmerung121Nietzsche. Gesammelte Werke Bd.8. S. 135. § 24. donnerte: „L'art pour l' art. — Der Kampf gegen den Zweck in der Kunst ist immer der Kampf gegen die moralisierende Tendenz in der Kunst, gegen ihre Unterordnung unter die Moral!“ L'art pour l'art heisst: „Der Teufel hole die Moral!“ — Aber selbst noch diese Feindschaft verrät die Übergewalt des Vorurteils. Wenn man den Zweck des Moralpredigens und Menschenverbesserns von der Kunst ausgeschlossen hat, so folgt daraus noch lange nicht, dass die Kunst überhaupt zwecklos, ziellos, sinnlos, kurz l'art jour l'art — ein Wurm, der sich in den Schwanz beisst — ist. „Lieber gar keinen Zweck als einen moralischen Zweck!“ — so redet die blosse Leidenschaft. Ein Psycholog fragt dagegen: was thut alle [LXXVII]Kunst? lobt sie nicht? verherrlicht sie nicht? wählt sie nicht aus? zieht sie nicht hervor? Mit dem Allen stärkt oder schwächt sie gewisse Wertschätzungen..... Ist dies nur ein Nebenbei? ein Zufall? Etwas, bei dem der Instinkt des Künstlers gar nicht beteiligt wäre? Oder aber: ist es nicht die Voraussetzung dazu, dass der Künstler kann? Geht dessen unterster Instinkt auf die Kunst oder nicht vielmehr auf den Sinn der Kunst, das Leben? auf eine Wünschbarkeit von Leben? — Die Kunst ist das grosse Stimulans zum Leben: wie könnte man sie als zwecklos, als ziellos, als l'art pour l'art verstehen?“ — seit diese beiden Aussprüche gethan wurden, ist in der Erkenntnis der Stellung, welche der Kunst in der geschichtlichen Entwicklung der Weltanschauung zukommt, mehr als ein Schritt nach vorwärts geschehen, und zum Teil geleitet durch diese neugewonnene Einsicht haben die jüngeren Dichter ihre Aufgabe nicht unwesentlich vertieft. Es ist kein Zufall, dass Deutschland nach der riesigen Kraftprobe von 1870 unerschöpft, mit jährlich einer halben Million Volksstandszuwachs und mit einer vergleichsweise leidlichen sozialen Auslese, zuerst von den Kulturvölkern Europas die grossen geistigen Errungenschaften des Jahrhunderts poetisch zu bemeistern unternommen hat und auf geistigem Gebiete unbestritten die Führung behauptet. Wie das deutsche Denken im Allgemeinen, ist die deutsche Dichtung, und ganz besonders die Lyrik noch stark auf dem Wege nach aufwärts. Und mit ihr das ganze Volk? Seine Dichter erwarten es von ihm. 122S. LXXIX dieser Sammlung. Aus Heinrich Hart, Vorgesang zu „Lied der Menschheit“ in Jungdeutschland, herausgegeben von W. Arent. Friedenau (Berlin) und Leipzig 1886. S. 178.
Alexander Tille.
Heinrich Hart