Eine neue lyrische Anthologie bedarf einiger Worte der Rechtfertigung, denn es könnte dem Fernerstehenden scheinen, es seien schon allzuviel solcher Sammlungen im Umlauf. Wer aber recht zusieht, der wird mir wenigstens darin recht geben, daß diese Sammlungen neben dem unantastbaren Besitzstand unserer klassischen Lyrik nur noch den Epigonen bereitwillig Raum, ach, allzubreiten Raum, gewährt haben. Daß auch unsere Zeit ihren Anteil, ihren ehrlich erkämpften Anteil an der Lyrik und ihrer Entwickelung hatte, davon wollten die Herausgeber dieser vielen Anthologieen nichts wissen. Dann kamen die kampfesfrohen Zeiten der achtziger und neunziger Jahre; die Modernen vereinigten sich in modernen Musenalmanachen und Anthologieen, die nun zeigen sollten, was die „Jungen“ im Gegensatz zu den abgethanen Alten konnten. Es lag in der Natur der Sache, daß diese Sammlungen alle mehr oder weniger Kampf– und Streitschriften wurden, die manchmal allzu hitzig in den Krieg zogen; daran mag es liegen, daß sich diese Bücher so wenig Freunde gewannen: es lag zu viel Unfertiges, zu viel Kampf und Erbitterung über ihnen, zu viel Programm und zu wenig rein künstlerische [VI]Leistung, heute aber hat sich die moderne Lyrik ihren Platz erobert: sie kann schon freieren Blickes auf das Erreichte zurückblicken und darf darauf bedacht sein, nun auch ihre Stellung zu befestigen. Eine gewisse Ruhe ladet jetzt zum Verweilen ein, eine Ruhe, in der wir uns des Sieges freuen dürfen.
Und ein Zeichen dieses Sieges will auch dieses Buch sein: es stellt die jungen Künstler, die heute leben und schaffen, als gleichberechtigt neben die Alten; gleichberechtigt wenigstens in dem Anspruch, wie diese Gelegenheit zu haben, bekannt zu werden; das aber kann fast allein durch eine Anthologie geschehen, da in der Unrast der heutigen Tage den Meisten zu wenig Zeit übrig bleibt, sich aus der großen Zahl der neuen Erscheinungen dasjenige herauszusuchen, das ihnen etwas zu sagen hat. Dann hat die Auswahl ihren Zweck erfüllt: wem ein tieferes Eindringen in die dichterischen Persönlichkeiten lieb ist, der wird dann zu den Werken selber greifen.
Man wird mir vorwerfen, daß viele Namen in diesem Buche fehlen; Namen, um die gerade in letzter Zeit der Kampf entbrannt ist; wer aber aufmerksam diese Einleitung gelesen hat, wird mir zugeben, daß gerade diese Dichter nicht aufgenommen werden konnten, wenn der Charakter des Buches nicht darunter leiden sollte. Vollständigkeit habe ich nicht angestrebt; es lag mir wenig daran, mit einer langen Reihe von Namen aufzuwarten; die Aufnahme sollte sich in erster Linie durch das gesamte Schaffen oder durch die Persönlichkeit, wie sie sich aus den Werken darstellt, rechtfertigen. Auch der bei solchen Gelegenheiten vielbemühten Objektivität rühme ich mich nicht. Diese Objektivität erscheint mir immer etwas verdächtig; eine solche Auswahl kann nur subjektiv sein und [VII] man sollte den Mut haben, das offen zu bekennen. Auch bei der Auswahl der einzelnen Gedichte wird der Eine oder Andere etwas auszusetzen haben — und vielleicht mit Recht; aber hier wird das subjektive Gefühl immer das letzte Wort behalten:
singt Richard Schaukal.
Ist es nötig, darauf hinzuweisen, daß die Auswahl auch mit Rücksicht auf die Klangschönheit getroffen wurde? Daß es im Wesen der Lyrik liegt, laut gelesen zu werden? Es scheint so selbstverständlich, und doch, wie Wenige verstehen es, Gedichte so auf sich wirken zu lassen!
Berlin, im November 1898.
Ludwig Gemmel.
[VIII][1](Dehmel)