[][][][][][][[I]]
Das Reich der Erfindungen.

Herausgegeben
von
Dr. Heinrich Samter
unter Mitwirkung von
Regierungsrat Max Geitel, Dr. Franz Kalckhoff, Dr. Otto Lubarſch,
Dr. Fritz Plato, Direktor Max Speer, Dr. Hans Stadthagen,
Dr. Max Weitz und Aſtronom Guſtav Witt.

In einem Band komplett.

Mit 534 Abbildungen.

Berlin: 1896.
Verlagsanſtalt Urania.

[[II]][[III]]

Zur Einleitung.


In der Geſchichte eines jeden Volkes hat es goldene Zeitalter
gegeben, wo ſich der menſchliche Geiſt von dem rohen kriegeriſchen
Handwerk, welches meiſt die Triebfeder des ganzen Staatenlebens aus-
machte, abwandte und ſein ganzes Denken und Können faſt nur den
Künſten und Wiſſenſchaften zulenkte. Dann feierten dieſe ihre höchſten
Triumphe, es ſchien, als habe es nur eines leiſen Anſtoßes bedurft, um
die gährenden Kräfte zu entfalten, und dem edelſten Wettſtreit verdanken
wir die unerreichten Kunſtwerke der Griechen, die wunderbaren Bauten
der Römer, die mannigfachen impoſanten Reſte einer früheren Zeit.


Und doch iſt aus den Reſultaten glanzvoller Epochen für die
Induſtrie wenig Erſprießliches zu melden. Es fehlten zu allen Zeiten
die Chroniſten, die nicht nur der Thaten eines Alexander und Cäſar
gedachten, ſondern auch den Mann würdigten, der grübelnd und
ſinnend der Natur ihre Geheimniſſe und Kräfte ablauſchte, um ſie in
den Dienſt der Menſchheit zu ſtellen, oder der mit bedeutender Geiſtes-
kraft Erfindungen machte, die der moderne Menſch ſo ſelbſtverſtändlich
und nichtachtend anſieht.


Wichtige, einſchneidende Erfindungen ſind ſchon früher und zu allen
Zeiten gemacht worden.


Welcher hochbedeutſame Schritt war es beiſpielsweiſe, als man
zum erſtenmale den Wind zum Treiben der Schiffe ausnutzte, als
man dem Schlitten ein drehendes Rad unterſetzte und ihn zum Wagen
machte.


Niemand kennt heute den Erfinder des Segels oder des Wagens,
niemand brachte das Genie, welches dieſe wunderbaren Entdeckungen
machte, auf die Nachwelt.


Es hat eine unendliche Zeit gedauert, bis die Geſchichtsforſcher
anfingen, der Induſtrie einen Platz in ihren Werken einzuräumen, vor
allem erſt ſeit jener Zeit, wo die Verwertung der Dampfkräfte die
koloſſalſten Umwälzungen auf allen Gebieten hervorbrachte.


Seit dieſer Zeit entwickelte ſich in allen Zweigen ein raſtloſer
Eifer, neue Induſtrieen entſtanden, Phyſik und Chemie, die Bahnbrecher
der Induſtrie überhaſteten ſich faſt in epochemachenden Entdeckungen.


Auch der unbedeutendſte Erwerbszweig iſt heute auf die Benutzung
von Erfindungen angewieſen, das ganze Getriebe iſt von Grund aus
umgeſtaltet worden.


[IV]

Der glänzende Aufſchwung, namentlich der letzten zwanzig Jahre,
der alle Induſtriezweige zu einer unvergleichlichen Höhe brachte, läßt
noch auf eine überraſchende, überreiche Zukunft ſchließen.


Wo jetzt der größte Teil der menſchlichen Handarbeit infolge des
erfinderiſchen Geiſtes des Menſchen in maſchinellen Betrieb umgeſetzt
iſt, iſt es ſelbſt für den Fachmann ſchwer, ſich in der Fülle der Re-
ſultate zurecht zu finden.


Tag für Tag erſinnt der grübelnde Menſchengeiſt neues oder
formt altes zu praktiſcherer Verwendung und höherer Brauchbarkeit um.


Jeder, auch der unbedeutendſte Gegenſtand hat ſeine Geſchichte
und ehe er zu der Vollendung gebracht wurde, in der er jetzt vor uns
erſcheint, hat das Denken unzähliger Köpfe, die Kenntnis und Exiſtenz
zahlloſer früherer Erfindungen dazu gehört.


Mit wie anderen Augen ſieht man ein Produkt an, deſſen Werden
und Entſtehen man kennt, von dem man weiß, wie viel tauſend fleißige
Hände, wie viel komplizierte Maſchinen an ihm gearbeitet haben.


Aber nicht bloß dies — das Jahrhundert ſtellt an die Bildung
des Menſchen ganz andere Anſprüche als die Vorzeit, es genügt nicht
mehr oberflächliche Kenntniſſe zu beſitzen — das Wiſſen iſt an die
erſte Stelle getreten, das Wiſſen vor allem wird geſchätzt, das Wiſſen
macht den Menſchen.


So lag das allgewaltige, faſt unabſehbare Gebiet der Induſtrieen
und Erfindungen vor, und es galt nur, Plan und Methode in das
reiche Feld zu bringen, um aus beſchaulicher Höhe ein Bild gewinnen
zu laſſen, auf welcher Stufe ſich heute der induſtrielle Betrieb befindet,
wie die zahlloſen Luxus- und Beiriebsgegenſtände entſtehen, wie die
Entwickelungsgeſchichte der Erfindungen iſt, welche Vorbedingungen
zu allen Fortſchritten erforderlich waren.


Bei der Fülle des Materials war dieſe Aufgabe keine leichte,
zumal unſer Werk ſich nicht an den Fachmann, ſondern an die große
Maſſe des Volkes — des denkenden Volkes — wendet.


Wir hoffen, unſer Programm zufriedenſtellend gelöſt zu haben;
bildend und belehrend in ſeiner Form, feſſelnd im Inhalt, den Bedürf-
niſſen jedes Gebildeten ſowie der reiferen Jugend, die nicht früh genug
mit der Kunde der Erfindungen vertraut gemacht werden kann, angepaßt,
wird dies Werk für jeden unentbehrlich ſein, der der ihn umgebenden
Welt und dem gewaltigen Ringen der Induſtrie ſein Intereſſe ent-
gegenbringt.


Die Verlagsanſtalt.


[[V]]

Inhalts-Überſicht.



[[XII]]

I. Die Meſſungen.


1. Die Erfindung der Maße und der Gewichte.


Die Erfindung des Längenmaßes.


Meſſungen und Maße ſind uralt, faſt ſo alt wie das Menſchen-
geſchlecht ſelbſt; in jenen Tagen des grauen Altertums, als der Menſchen
noch wenige waren, ſo wenige, daß die allgütige Mutter Natur alle
Bedürfniſſe des Lebens in überreichem Maße befriedigte, als der
Nomade auf ſeinen Wanderzügen überall wo auch immer er ſeine Zelte
aufſchlagen mochte, für Menſch und Vieh den Tiſch gedeckt fand, als
der Begriff des Mein und Dein noch nicht vorhanden war, da machte
ſich auch ein Bedürfnis nach Maßvergleichungen noch nicht geltend.
Bald aber begann die Bevölkerung ſich zu vermehren und auszubreiten,
ſie ſah ſich gezwungen, in harter Arbeit dem Boden ſeine Früchte ab-
zuringen, Handel und Wandel blühten empor, und wie mit wachſender
Kultur das Eigentum an Wert gewann, erhielten auch die Hilfsmittel,
letzteren zu beſtimmen, eine erhöhte Bedeutung, das Verlangen nach
Maßen und Gewichten machte ſich geltend. Wo die Wiege derſelben
geſtanden, welchem Volke ihre Einführung zu verdanken ſei, das wird ſich
wohl niemals mit Sicherheit feſtſtellen laſſen, doch ſcheinen die alten
Babylonier um die ſyſtematiſche Ausarbeitung der Maße ſich ein
beſonderes Verdienſt erworben zu haben. In fortwährendem Verkehr
mit der Natur ſtehend, entnahmen die Urvölker auch ihre Maße der
Natur — was war wohl auch einfacher, als die Länge eines Acker-
ſtückes nach der Anzahl der Schritte zu bemeſſen, die nötig waren, um
daſſelbe abzugehen? Viele der Bezeichnungen, wie Arm, Elle, Fuß,
Hand, Daumen, Schritt, Spanne, Klafter deuten auf dieſen Urſprung
hin. Hatte die Menſchheit der Vorzeit gleichſam inſtinktiv zu Natur-
maßen gegriffen, ſo wurden die Gelehrten ſpäterer Jahrhunderte durch
wiſſenſchaftliche Gründe zu dem gleichen Vorgehen geführt. Ein
Naturmaß hat den Vorzug, daß es ſich jederzeit leicht und ſicher wieder
Das Buch der Erfindungen. 1
[2]Die Erfindung der Maße und Gewichte.
herſtellen läßt, wenn auch ſeine ſämtlichen Verkörperungen an einem
Tage durch eine Kataſtrophe vernichtet werden ſollten. Mit den alten
Naturmaßen freilich ſah es böſe aus. Was z. B. hat man ſich unter
einem Fuß zu denken? Der Menſchen Füße ſind gar verſchieden, und
wie verſchieden die Größe derſelben aufgefaßt wurde, erſieht man daraus,
daß faſt jeder Staat ſein beſonderes Fußmaß hatte, ja mancher Staat
auch deren zwei und mehr. Das ging auch, ſo lange die Verkehrsmittel
ſo beſchwerliche waren, daß ein Handel nur von Ort zu Ort ſich er-
möglichen ließ; als aber Fahrzeuge aller Art Länder und Ozeane
durchquerten, da wurde dieſer Zuſtand für den internationalen Welten-
markt ein unerträglicher, und von Jahr zu Jahr machte ſich immer
lauter die Forderung nach einem einheitlichen Maßſyſtem für alle Völker
geltend. Die Abmeſſungen am menſchlichen Körper gaben, wie die
Erfahrung gezeigt hatte, zu wenig beſtimmte Einheiten, als daß man
auf dieſelben hätte zurückgreifen können; daher ſchlug der holländiſche
Aſtronom und Phyſiker Huyghens 1664 vor, die Länge desjenigen
Pendels als Maß zu wählen, welches genau eine Sekunde ſchlägt,
während der franzöſiſche Aſtronom Mouton 1670 die Länge einer Bogen-
minute auf dem Meridian gemeſſen hierfür angenommen wiſſen wollte.
Nachher iſt dieſes letztere Projekt noch vielfach umgeändert worden,
bis es mit gewiſſen Abänderungen und Feſtſetzungen in dem metriſchen
Syſtem verwirklicht wurde.


Es verging faſt ein Jahrhundert, ehe man einen dieſer Vorſchläge
ernſtlich in Angriff nahm. Erſt den Machthabern der franzöſiſchen
Revolution, die ja auf ſo vielen Gebieten die gewaltigſten Umwälzungen
hervorgerufen hat, blieb es vorbehalten, auch auf dem Gebiete des
Meßweſens Wandel zu ſchaffen. Es wurde eine Kommiſſion, beſtehend
aus Borda, Lagrange, Laplace, Monge und Condorcet, gewählt, die
mit dem Vorſchlag hervortrat, als Einheit den zehnmillionſten Teil
des Viertels eines Meridiankreiſes zu wählen, dieſe Länge ſpäter noch
mit der Länge des Sekundenpendels unter 45° Breite zu vergleichen
und die Einheit der Maſſe dadurch darzuſtellen, daß man ein durch
Teile der neuen Längeneinheiten gemeſſene Menge deſtillierten Waſſers
von der Temperatur des ſchmelzenden Eiſes im luftleeren Raum wägt.
Wie man ſieht, ging man hier auf die Dimenſionen des Erdballes
ſelbſt zurück, die nach menſchlichem Ermeſſen wenigſtens als ewig un-
veränderliche angeſehen werden können. Die Erde iſt nahezu eine Kugel,
ein Meridiankreis derjenige Bogen, welcher durch die beiden Erdpole
geht. Die Länge eines ſolches Bogens war durch Meſſungen von
Bouguer und Lacondamine in Peru, von Clairaut und Maupertuis
in Lappland und Méchain und Delambre in Frankreich ſehr genau
beſtimmt. Auf Grund der letzteren Meſſungen wurde die neue Längen-
einheit konſtruiert, und im Jahre 1799 dem Staatsarchiv zu Paris als
Repräſentant derſelben ein Platinſtab übergeben, deſſen Länge ein
Meter heißen ſollte. Da alle Körper ſich in der Wärme ausdehnen,
[3]Längenmeſſungen und Längenmaßvergleichungen.
alſo der Platinſtab bei verſchiedenen Wärmegraden verſchiedene Länge
hatte, ſo war feſtgeſetzt, daß er bei der Temperatur des ſchmelzenden
Eiſes die richtige Länge darſtellte. Während die alten Maße meiſt in
12 Teile geteilt wurden — der Fuß hatte z. B. 12 Zoll — wurde bei
der neuen Einheit die Zehnerteilung durchgeführt. 1 Meter hat 10 Dezi-
meter = 100 Zentimeter = 1000 Millimeter; 1000 Meter = ein Kilometer.
Als Einheit der Flächenmaße gilt ein Quadrat, deſſen Seiten ein Meter
lang ſind, das Quadratmeter; als Einheit der Raummaße der Würfel,
deſſen Seiten ein Meter lang ſind, das Kubikmeter. Die Gewichts-
einheit, das Kilogramm, wiegt ſoviel wie ein Kubikdezimeter deſtillierten
Waſſers im Zuſtande ſeiner größten Dichte (bei 4° Wärme) im luftleeren
Raume. So war denn endlich ein unveränderliches Naturmaß geſchaffen.
Wenn auch alle Meterſtäbe plötzlich und alle Kilogramme verloren
gehen, aus den Meſſungen eines Meridianbogens ließe ſich jederzeit
die Längeneinheit und aus dieſer die Gewichtseinheit wieder herſtellen.


Die Vorzüge des metriſchen Syſtems waren ſo offenkundige, daß
Frankreich dasſelbe noch im Jahre 1799 einführte, und jetzt benutzen
es faſt alle Staaten der Erde. Im ſtrengſten Sinne des Wortes iſt
freilich auch das Meter kein Naturmaß. Als Méchain und Delambre
ihren Meridianbogen maßen, thaten ſie es natürlich mit den Hilfs-
mitteln, die ihnen damals zu Gebote ſtanden; ſpätere Meſſungen mit
verfeinerten Einrichtungen ergaben einen genaueren Werth, und nach
hundert Jahren wird man abermals beſſere Reſultate erreichen können;
die Länge des 10000000. Teiles des Meridianquadranten wird alſo
auch mit immer größerer Sicherheit feſtgeſtellt werden. Mit einem
ſolchen Maß aber, das jede neue Unterſuchung wieder verändert, weiß
die Praxis nichts anzufangen, alle Maßſtäbe müßten ja immer wieder
von neuem verändert werden; es iſt daher feſtgeſetzt, daß das im
Pariſer Staatsarchiv aufbewahrte Platinmeter (mêtre des archives) als
alleinige Verkörperung der Längeneinheit gelten ſoll.


Längenmeſſungen und Längenmaßvergleichungen.


Es lag nun die Aufgabe vor, nach dieſem Urmeter für den all-
gemeinen Verkehr Maßſtäbe herzuſtellen. Man unterſcheidet zwei Arten
von Maßſtäben, Endmaße und Strichmaße; bei den Endmaßen hat der
Abſtand zwiſchen den beiden Endflächen die verlangte Länge, während
dieſe bei den Strichmaßen durch den Abſtand zweier auf dem Stabe
gezogener Striche dargeſtellt wird. Die Vergleichung zweier Strich-
maße — auf dieſe ſoll zunächſt eingegangen werden — erſcheint äußerſt
einfach, man legt dieſelbe ſo auf- oder aneinander, daß die Anfangs-
ſtriche beider genau zuſammenfallen, dann iſt — unter der Vorausſetzung,
daß der eine von beiden richtig iſt — der Betrag um den die beiden
Endſtriche von einander abſtehen, der Fehler des zweiten Maßſtabes.
Beim Aneinanderlegen der Nullſtriche wird der Einſtellungsfehler 0,1 mm
1*
[4]Die Erfindung der Maße und Gewichte.
ſelten überſchreiten, rechnet man dieſelbe Ungenauigkeit bei der Abſchätzung
oder Abmeſſung der Lage der Endſtriche, ſo iſt der geprüfte Stab
bis auf 2 Zehntel Millimeter bekannt, eine Genauigkeit, die für den
gewöhnlichen Markt- und Ladenverkehr vollkommen ausreicht, man hat
für metallene Stäbe 0,5 mm, für hölzerne Stäbe 1 mm als Fehlergrenze
feſtgeſetzt. Der für die Fehlerbeſtimmung der Verkehrsmaße benutzte
Stab, das Gebrauchsnormal, darf ſelbſtverſtändlich nur ſehr viel geringere
Abweichungen von der wahren Länge zeigen, man verlangt von ihm,
daß er bis auf 0,1 mm, oder wenn er zur Beſtimmung feinerer, ſo-
genannter Präziſionsmaßſtäbe benutzt wird, daß er bis auf 0,04 mm
richtig iſt. Da die Gebrauchsnormale in fortwährender Verwendung
ſind, ſo ſind ſie einer ziemlich ſtarken Abnutzung unterworfen und be-
dürfen daher einer häufigeren Neubeſtimmung und Nachprüfung. Dieſem
Zwecke dienen die Kontrolnormale, von denen verlangt wird, daß ihre
Länge bis auf 0,025 mm beſtimmt ſei. Die Kontrolnormale wieder
werden mit den Hauptnormalen verglichen, deren Fehler bis auf wenige
Tauſendteile des Millimeter bekannt ſein müſſen, dieſe endlich mit dem in
jedem Staate nur in einem Exemplare vorhandenen nationalen Prototyp,
das eine genaue Kopie des zu Paris aufbewahrten internationalen
Prototyps iſt.


Man kommt leicht zu der Frage: wozu dieſe großen Genauigkeiten?
Vorſtehende Darlegungen werden bereits gezeigt haben, daß ſchon
ſehr weit gehende Genauigkeiten erforderlich ſind, damit nur die Sicher-
heit geboten wird, daß die Maßſtäbe, wie ſie der Kaufmann oder
der Handwerker benutzt, den zu ſtellenden Anforderungen entſprechen,
die Wiſſenſchaft aber iſt ſo hoch entwickelt, daß das Beſte, was ihr die
Technik zu liefern im Stande iſt, für ihre Zwecke gerade gut genug
erſcheint.


Maßvergleichungen der einfachſten Art, wie ſie oben angegeben
ſind, werden mit bloßem Auge angeſtellt, bei feineren Unterſuchungen
bedarf es komplizierter Inſtrumente. Wenn man an eine einfache Holz-
platte eine feine Metallſpitze rechtwinklig zur Längsrichtung der Latte
befeſtigt, in gleicher Weiſe eine zweite Spitze, doch ſo, daß dieſelbe ſich
verſchieben läßt, ſo erhält man den einfachſten Maßvergleichungsapparat,
den Stangenzirkel. Setzt man die feſte Spitze auf den Nullſtrich eines
Stabes und ſtellt die bewegliche auf den Endſtrich ein, ſo kann man
die jetzt durch den Abſtand der beiden Spitzen gegebene Normallänge
leicht und bequem auf eine beliebige Anzahl anderer Stäbe übertragen
und ſomit deren Fehler beſtimmen.


Zum Abmeſſen und Übertragen kleinerer Längen benutzt man ſchon
ſeit ſehr alten Zeiten den gewöhnlichen Gelenkzirkel; derſelbe beſteht
aus zwei zugeſpitzten Schenkeln, welche ein Gelenk verbindet, ſodaß
die Spitzen einander beliebig genähert oder von einander entfernt werden
können. Damit die gemeſſene Länge beim Übergang von einem Stabe
zum andern ſich nicht verändert, wird beim Stangenzirkel der bewegliche
[5]Längenmeſſungen und Längenmaßvergleichungen.
Schenkel mitteltſt einer Schraube an der Führungsſchiene feſtgeklemmt.
Beim Gelenkzirkel dient demſelben Zwecke ein Gradbogen, der an dem
einen Schenkel feſtſitzt, während der andere Schenkel durchbrochen iſt
und auf dieſem Bogen gleitet, an dem er ebenfalls mit einer Schraube
geklemmt werden kann.


Die Zirkelmeſſungen ſind nun allerdings ſchon genauer wie die
Meſſungen mit bloßem Auge, aber ſie haben alle einen großen Nachteil.
Selbſt wenn man dieſelbe Länge nicht einmal, ſondern oft wiederholt
überträgt, iſt doch eine größere Sicherheit als 3 bis 5 Hundertteile
des Millimeters kaum zu erreichen, für feinere Meſſungen reicht alſo der
Zirkel nicht aus, ganz abgeſehen davon, daß bei mehrmaligem Ein-
ſetzen der Spitzen die Maßſtäbe ſtark zerſchrammt und verdorben werden.
Wenngleich daher der Benutzung des Zirkels ſelbſt, für dieſe Zwecke
ziemlich enge Grenzen gezogen ſind, ſo findet ſich doch das Prinzip
des Stangenzirkels bei allen Apparaten wieder, die zu Längenver-
gleichungen dienen, nur daß an Stelle der Spitzen Mikroſkope an-
gewendet werden. Man erhält ſo einen optiſchen Stangenzirkel oder
Comparator. Bevor jedoch auf dieſe etwas komplizierteren Inſtrumente
ſelbſt eingegangen wird, mögen noch einige Worte über Maßſtäbe und
einfache Längenmeſſungen Platz greifen.


Will man im gewöhnlichen Leben die Entfernung zweier Punkte
beſtimmen, die Länge eines Werkſtückes feſtlegen oder ſonſtige Länge-
meſſungen, welche die Praxis mit ſich bringt, vornehmen, ſo legt man
den Nullſtrich des Maßſtabes auf den einen Punkt, an das eine Ende des
Werkſtückes und ſieht dann nach, mit welchem anderen Striche des Maßes
der zweite Punkt, das andere Ende des Werkſtückes zuſammenfällt. Die
Anzahl der Teilſtriche des Maßſtabes giebt ſofort die gemeſſene Länge.
Die Ausführung der Meſſung ſelbſt bleibt immer die nämliche, und
dennoch ſind die Anforderungen an die Genauigkeit derſelben ſehr
verſchiedene. Wenn die Länge eines Ackerſtückes in Betracht kommt,
ſo ſpielen einige Dezimeter gar keine Rolle, dem Zimmermann iſt es
ganz gleichgültig, ob ſeine Balken einige Zentimeter länger oder kürzer
gerathen ſind, aber ſchon dem Tiſchler würde die Thür ſchlecht in den
Schrank paſſen, wenn er ſich um ganze Zentimeter verſieht, noch viel
genauer müſſen die Achſen bei Dampfmaſchinen in ihre Lager eingepaßt
ſein, und der Techniker, der Phyſiker iſt oft mit Bruchteilen des Milli-
meters nicht zufrieden geſtellt. Wenn das Meſſen dasſelbe bleibt,
ſo müſſen alſo die Maßſtäbe dementſprechend eingerichtet ſein.


Die gewöhnlichen Maßſtäbe ſind meiſt aus Holz hergeſtellt und
von rechteckigem Querſchnitt. In der That iſt Holz, da es durch die
Wärme wenig verändert wird, ein vorzügliches Material für dieſe
Zwecke. Langwarenmaßſtäbe, wie ſie in Tuch- und Leinengeſchäften
Verwendung finden, die Meßlatten der Feldmeſſer und die zuſammen-
klappbaren längeren Maße der Tiſchler und ähnlicher Handwerker ſind
aus Holz. Für feinere Meſſungen ſind dieſe Stäbe nicht zu gebrauchen.
[6]Die Erfindung der Maße und Gewichte.
Die erſte Bedingung für ein genaueres Meſſen iſt natürlich die mög-
lichſte Feinheit der Teilſtriche ſelbſt. Bei den weichen Holzarten ſind die
Teillinien bis zu 1 Millimeter dick und ihre Ränder ſtark verbogen.
Man hat deshalb tannene Stäbe mit Ahorn ausgelegt und erhält auf
dieſem Material Striche von 0,1 bis 0,05 mm Dicke. Sehr viel feinere
Striche, bis zu 0,001 mm Breite, kann man auf Metall- und Glas-
körpern auftragen, alle feinſten Stäbe ſind daher auch aus Metall —
Glas empfiehlt ſich ſeiner Zerbrechlichkeit wegen nicht — angefertigt.

Figure 1. Fig. 1.

Maßſtab mit gerader Kante.


Figure 2. Fig. 2.

Maßſtab mit abgeſchrägter Kante.


Ferner hat man verſucht, die Meſſungsſicherheit dadurch zu erhöhen, daß
man die Theilkanten abſchrägt. Legt man nämlich einen Maßſtab mit
rechteckigem Querſchnitt auf die Fläche, in welcher die Punkte a und b
Fig. 1 der zu meſſenden Länge ſich befinden, ſo iſt es ſehr ſchwer zu
erkennen, welcher Teilſtrich zu dem Punkte a oder b gehört, und noch viel
ſchwerer abzuſchätzen, um wie viel der Punkt von dem Strich abſteht.
Der Maßſtab, wie ihn Fig. 2 zeigt, hebt dieſe Übelſtände zum Teil.


Die Teilung der Stäbe iſt ſelten weiter als bis auf 1 mm getrieben,
Bruchteile dieſer Größe müſſen abgeſchätzt werden. Da dieſe Schätzungen
jedoch immer nur ungenaue Reſultate liefern können, ſo ſind verſchiedene
Einrichtungen getroffen, um dieſelben zu umgehen. Die einfachſte iſt
der Transverſalmaßſtab. Bei dieſem werden die Teilſtriche durch
10 Linien in gleichem Abſtande rechtwinklig geſchnitten, ferner iſt in
dem erſten der ſo gebildeten Rechtecke (Fig. 3) eine Diagonale gezogen.
Alsdann ſind die auf den Querlinien abgeſchnittenen Strecken Zehntel-

Figure 3. Fig. 3.

Transverſalmaßſtab.


millimeter. Die erſte Querlinie iſt
geteilt in 1 Zehntel und 9 Zehntel,
die zweite in 2 Zehntel und
8 Zehntel ꝛc. Die Zehntelmilli-
meter ſind auf dieſe Weiſe leicht
abzuleſen.


Sehr viel beſſer erfüllt den
gleichen Zweck der 1631 von
Peter Vernier erfundene und
nach ihm benannte Vernier oder Nonius. Bei zwei gleich langen
Strecken, deren erſter und letzter Strich zuſammenfallen, die aber in
eine ungleiche Anzahl von Teilen geteilt ſind, nimmt der Unterſchied
zweier Striche vom erſten bis zum letzten immer um den gleichen
Betrag zu. Legt man (Fig. 4) an die 9 erſten Striche eines Stabes AB
[7]Längenmeſſungen und Längenmaßvergleichungen.
einen zweiten kleinen Maßſtab CD, den Nonius, bei dem dieſelbe
Strecke 0 bis 9 in 10 Teile geteilt iſt, ſo iſt, wenn die 0-Striche zu-
ſammenfallen, die Entfernung 1 bis I gleich 1/10, 2 bis II gleich 2/10 u. ſ. w.,
9 bis IX gleich 9/10 eines Teiles von AB, Strich 9 trifft dann wieder mit
Strich X zuſammen.
Beim direkten Meſſen
wird der Nonius
weniger verwandt, um
ſo mehr beim Über-
tragen von Längen.
Habe ich beiſpiels-
weiſe eine Entfernung
in den Zirkel ge-
nommen, dann ſetze

Figure 4. Fig. 4.

Nonius oder Vernier.


ich die eine Spitze auf den Strich 0 des Stabes AB ein und verſchiebe
den Nonius ſo lange, bis ſein Strich 0 mit der zweiten Zirkelſpitze
zuſammenfällt. Dies möge zutreffen, wenn der Nonius die Stellung hat,
daß Strich 6 mit Strich VI zuſammenfällt, die gemeſſene Entfernung 0 bis 0
beträgt dann 6 Zehntel der Entfernung von 0 bis 1. Stände 0 am
Nonius zwiſchen 8 und 9 und Strich VII fiele wieder mit einem Strich
des Maßſtabes zuſammen, ſo wäre die gemeſſene Länge 8,7. Würde
man den Nonius ſo teilen, daß 20 Teile deſſelben gleich 19 Teilen des
Maßſtabes ſind, ſo könnte man direkt Zwanzigſtel ableſen. Die
häufigſten Verhältniſſe ſind Zehntel und Fünfundzwanzigſtel.


Die größten Genauigkeiten liefert indeſſen der Vernier noch nicht,
ſondern viel weiter kommt man mit der Mikrometerſchraube. Im
weiteren Sinne des Wortes verſteht man unter Mikrometerſchrauben
alle ſehr feingeſchnittenen Schrauben, damit an Inſtrumenten kurze,
gleichmäßige Bewegungen ausgeführt werden. Eine Schraube beſteht
aus einem feſten Cylinder, der Spindel, in welche das Gewinde ein-
geſchnitten iſt. Den Abſtand zweier Windungen nennt man die Gang-
höhe. Ein Ende der Schraube endigt in einen Cylinder, deſſen
Durchmeſſer mehrmals größer iſt, als der der Spindel, den Schrauben-
kopf. Der Mantel dieſes größeren Cylinders trägt meiſt auf der
gekrümmten Fläche eine gleichmäßige Teilung, am häufigſten in
100 Teile, in dieſem Falle bezeichnet man den Kopf als Schrauben-
trommel. Die Schraube bewegt ſich in einem Hohlcylinder, in welchen
innen ein genau gleiches Gewinde eingeſchnitten iſt, ſo daß die
Windungen der Schraube genau in die Windungen dieſer Schrauben-
mutter eingreifen. Entweder iſt nun die Schraube feſtgelegt, dann
bewegt ſich die Mutter bei einer Drehung derſelben, oder wenn die
Mutter feſtſitzt, bewegt ſich die Schraube vorwärts und rückwärts. Wenn
die Schraube mit einer Ableſungsvorrichtung — Lupe, Mikroſkop-
Fernrohr — verbunden iſt, ſo iſt die Mutter beweglich angeordnet
und führt einen viereckigen Rahmen, den Schlitten, der ein Faden,
[8]Die Erfindung der Maße und Gewichte.
paar oder Fadenkreuz zum Einſtellen trägt. Um noch Trommelteile
ſchätzen zu können, befindet ſich neben der Trommel ein Nonius, meiſt
aber nur eine einfache Strichmarke. Zeigt jetzt der Nullſtrich des
Nonius oder die Strichmarke auf den Nullſtrich der Trommel, und
die Schraube wird einmal ganz herumgedreht, ſo verſchiebt ſich die
Mutter und mit ihr der Schlitten um eine ganze Ganghöhe, und die
beiden Nullmarken ſtehen wieder einander gegenüber. Iſt die Trommel
in 100 Teile geteilt, und es wird nur 1/10 Umdrehung gemacht, ſo zeigt
die Strichmarke auf den Strich 10 der Trommel. Da der Nonius noch
Zehntel-Trommelteile abzuleſen geſtattet, ſo würde ein Tauſendſtel Um-
drehung, oder eine Verſchiebung des Schlittens um ein Tauſendſtel
Ganghöhe noch deutlich zu meſſen ſein. Bei feinen Mikrometerſchrauben
beträgt die Ganghöhe meiſt 0,1 mm, mit ihrer Hilfe ſind alſo noch
0,0001 mm genau einzuſtellen.


Nach dieſer Abſchweifung kehren wir zu den Komparatoren zurück.
Die Stelle der Latte des Stangenzirkels vertritt hier eine ſtarke guß-
eiſerne Schiene, welche mit ihren Enden auf zwei Steinpfeilern ruht.
Dieſe gehen durch den Fußboden des Beobachtungsraumes frei hindurch
und ſind direkt auf den Fundamenten des Gebäudes ſelbſt aufgemauert,
damit weder die unter den Tritten des Beobachters erzitternden Dielen,
noch vorüberfahrende Wagen ſie zu erſchüttern im Stande ſeien. Dieſe
Schiene — der Führungscylinder — trägt zwei an einem Schlitten
befeſtigte und mit dieſem längs des Cylinders bewegliche Mikroſkope*),
die die Stelle der Zirkelſpitzen vertreten. Unter der Schiene befindet
ſich ein ebenfalls gußeiſerner Tiſch, auf welchen die zu vergleichenden
Stäbe aufgelagert werden. Sollen zwei Längen jetzt mit einander
verglichen werden, ſo verſchiebt man die beiden Mikroſkope ſo lange,
bis das eine auf den erſten Strich, das andere auf den letzten Strich
des Normalſtabes weiſt, die feinere Einſtellung wird mit der Mikro-
meterſchraube gemacht. Dieſe iſt ſo mit dem Mikroſkop verbunden,
daß bei ihrer Umdrehung in der Bildebene deſſelben, ſich ein Paar
von Spinnenfäden über die Stabſtriche hinſchiebt. Man dreht nun ſo
lange an der Mikrometerſchraube, bis der Strich genau in der Mitte der
Fäden ſteht und lieſt alsdann die Trommel ab. Hierauf verſchiebt man,
rechtwinklig zur Richtung der Schiene, den beweglich eingerichteten Tiſch
mit den Stäben, bis der zweite, neben dem erſten aufgelegte Stab
unter die Mikroſkope zu liegen kommt, und dreht wieder die Mikrometer-
ſchraube ſo lange, bis das Fadenpaar den Strich des zweiten Stabes
einſchließt. Der Unterſchied der Trommelableſungen giebt dann den
Längenunterſchied der Stäbe. Sei z. B. die Ganghöhe der Schraube
0,1 mm, die Trommel in 100 Teile geteilt, ſeien ferner bei der Pointierung
auf den Normalſtab die Ableſungen am linken Mikroſkop 32,4, am
rechten 47,2, und beim Viſieren auf den zweiten Stab bezüglich 64,7
[9]Längenmeſſungen und Längenmaßvergleichungen.
und 93,1, bewegt ſich endlich mit wachſender Ableſung an der Trommel
das Fadenpaar gleichmäßig in beiden Mikroſkopen nach rechts, ſo
wären vorliegende Ableſungen ſo zu deuten: Der Nullſtrich des zweiten
Stabes liegt um 32,3 Trommelteile weiter nach rechts, als der ent-
ſprechende Strich des Normales, der Endſtrich dagegen um 45,9, würde
alſo der zweite Stab ſo lange nach links gerückt, bis auf beiden Stäben
ſich gleiche Ableſungen ergeben, ſo läge der Endſtrich des zweiten
Stabes noch um 13,6 Trommelteile weiter rechts, wie der des Normales,
der Stab iſt alſo um 13,6 Trommelteile oder 0,0136 mm länger, als
der Normalſtab.


Für weniger genaue Meſſungen hat man auch kleinere tragbare
Komparatoren mit meiſt nur einem Mikroſkop und feſtem Tiſch. Hier
werden dann die Stäbe mit ihren Teilungen an einander gelegt, ſo daß
beide gleichzeitig im Mikroſkop erſcheinen. Am beſten liegen die Stäbe ſo,
daß die beiden Anfangsſtriche genau eine gerade Linie bilden; verſchiebt
man das Mikroſkop auf der Schiene ſo lange, bis die Endſtriche in
demſelben erſcheinen, ſo ergiebt die Differenz der Trommelableſungen
beim Pointieren auf Stab I und Stab II ſofort den wahren Längen-
unterſchied beider Stäbe. Bei den feinſten Maßſtäben iſt freilich ein
Aneinanderlegen der Teilkanten nicht möglich, denn
dieſe tragen nicht, wie der in Fig. 1 abgebildete
Stab die Teilung an der Kante. Solche Stäbe mit
rechteckigem Querſchnitt verändern leicht ihre Form
und ihre Länge je nach der Unterlage, wie Fig. 5
zeigt. Iſt der Tiſch hohl, ſo ſind nur die Stab-
enden unterſtützt, der Stab biegt ſich nach [unten]
ein und der Abſtand der Endſtriche verkürzt ſich;
iſt der Tiſch dagegen gewölbt, ſo iſt nur die Mitte
des Stabes unterſtützt, der Stab wölbt ſich eben-
falls, der Abſtand der Endſtriche verlängert ſich.

Figure 5. Fig. 5.

Geſtaltsänderungen rechteckiger
Stäbe.


Wie man aber ſieht, bleibt der geradlinige Abſtand der Enden der
punktierten Mittellinie in beiden Fällen derſelbe. Dieſe Mittelebene nennt
man daher die unveränderliche Ebene oder die
neutrale Schicht und teilt feine Stäbe auf dieſer
Ebene. Fig. 6 ſtellt den Querſchnitt der Prototype
des Meter dar, wie ſie jeder der allgemeinen Meter-
konvention beigetretene Staat in einem Exemplar,
hergeſtellt aus einer Legierung von 90 Teilen
Platin und 10 Teilen Iridium, beſitzt.


Zum Abmeſſen größerer Längen, insbeſondere
auf freiem Felde, benutzt man die Meßlatten,
Meßketten, oder man bedient ſich der Meßbänder,
welche je nach den Zwecken, denen ſie dienen
ſollen, aus feinen Stahlſtreifen oder aus Köper
hergeſtellt ſind.


Figure 6. Fig. 6.

Querſchnitt eines Normal-
meters.


[10]Die Erfindung der Maße und Gewichte.

Meſſung der Dicken und Weiten.


Das mêtre des archives iſt kein Strichmaß, ſondern ein Endmaß.
Auf die feinſten Vergleichungen von Endmaßen braucht indeſſen hier
nicht eingegangen zu werden, da Endmaße für die Praxis ohne größere
Bedeutung ſind, wohl aber ſpielen die in dasſelbe Gebiet fallenden
Dickenmeſſungen eine ganz hervorragende Rolle. Auch hierbei werden
in erſter Linie Zirkel benutzt, die nur entſprechend anders geſtaltet ſind,
die ſogenannten Taſterzirkel, Kalibermaßſtäbe und Schublehren. Alle

Figure 7. Fig. 7.

Taſterzirkel.


dieſe Inſtrumente meſſen die Dicken durch Fühlen.
Den gebräuchlichſten Taſter ſtellt Fig. 7 dar, er iſt ein

Figure 8. Fig. 8.

Dicken- und
Weitentaſter.


Gelenkzirkel, aber die Schenkel ſind nicht
geradlinig, ſondern ausgebaucht, damit
ein größeres Werkſtück zwiſchen ihnen
Platz finden kann, die Enden ſind ein
wenig aus ihrer Ebene herausgebogen,
damit die Fühlflächen einander gegen-
über liegen. Man öffnet den Zirkel
ſoweit, daß er das Werkſtück eben an den beiden Punkten
berührt, deren Abſtand geſucht wird und mißt dann mit

Figure 9. Fig. 9.

Taſter mit Maßſtab.


einem Maßſtab die Entfernung der
beiden Fühlflächen. Will man mit dem-
ſelben Inſtrument auch Weiten meſſen
z. B. einen Durchmeſſer von Röhren, ſo
verlängert man die Zirkelſchenkel über den Dreh-
punkt hinaus geradlinig und biegt die Spitzen nach
außen um, der Taſter erhält dann die Geſtalt wie
Fig. 8. Man kann die Entfernung der Fühlflächen
mit einem Maßſtabe natürlich nur ganz roh meſſen,
für beſſere Meſſungen iſt daher der Maßſtab gleich
mit dem Taſter verbunden, wie bei Fig. 9; bei
dieſem Taſter ermöglicht zugleich die angebrachte
Mikrometerſchraube ein beſſeres Einſtellen. Würde
man die geradlinigen (Ableſungsſchenkel) länger
machen als die gekrümmten Schenkel, ſo müßte
auch der Bogen, den die Enden der langen Schenkel beſchreiben, größer
ſein, als die von den kurzen Schenkeln beſchriebenen, denn je größer
der Radius, um ſo größer der Kreis. Der Winkelwert bleibt natürlich
immer derſelbe, aber der Linearwert vergrößert ſich entſprechend der
Schenkellänge. Man nennt eine ſolche Vorrichtung, durch welche kleine
Meſſungen in große Ableſungen verwandelt werden, Fühlhebel. Beim
Fühlhebeltaſter (Fig. 10) erſcheinen kleine Bewegungen der Fühlflächen
als große Ableſungen auf dem geteilten Kreiſe.


Die Stelle des Stangenzirkels bei Längenmeſſungen vertritt bei
Dickenermittelungen die Schublehre. An einem metallenen Lineal iſt
[11]Meſſung der Dicken und Weiten.

Figure 10. Fig. 10.

Fühlhebeltaſter.


eine ebene Fühlfläche a am Ende befeſtigt, (Fig. 11). Auf dem Lineal,
das eine Teilung trägt, läßt ſich eine zweite Fühlfläche mit Hilfe eines
Rahmens verſchieben, der einen Nonius trägt. Man legt das zu
meſſende Stück zwiſchen die beiden Fühlflächen a und b, drückt die

Figure 11. Fig. 11.

Kalibermaßſtab oder
Schublehre.


Fläche b ſanft an und lieſt dann mit Hilfe des Nonius direkt die Dicke
am Maßſtabe ab. Vorausgeſetzt iſt hierbei, daß die beiden Flächen a, b
genau gleichlaufend und rechtwinklig zum Lineal ſtehen. Neben dieſen
Schublehren finden auch die Schrauben-
lehren vielfach Anwendung. Das Princip
iſt das gleiche. Bei der Palmerſchen
Lehre, Fig. 12, trägt ein Bügel S bei P
die feſte Fühlfläche, gegen welche eine
zweite Fühlfläche P durch eine Schraube
bewegt werden kann. Die Umdrehungen
der Schraube laſſen ſich an einem über
dem Bügel ſichtbaren Maßſtab ableſen.
Die kegelförmige Zuſpitzung der Hülſe K,
welche mit der Schraube verbunden über
dem inwendig als Mutter dienenden Maß-
ſtab ſitzt, iſt in 20 Teile geteilt, ſo daß
ſich noch zwanzigſtel Umdrehungen be-
ſtimmen laſſen.


Die weitgehendſte Verwendung findet
der Meßkeil, möge er nun als Weiten-

Figure 12. Fig. 12.

Palmerſche Lehre.


[12]Die Erfindung der Maße und Gewichte.
meſſer oder als Dickenmeſſer — in letzterem Fall iſt es ein Hohlkeil —
verwertet werden. Die Meßkeile liefern recht genaue Reſultate.


Von den Wägungen.


In innigem Zuſammenhange mit den Längen ſtehen die Gewichte,
die Gewichtseinheit iſt unmittelbar aus der Längeneinheit hergeleitet.
Urſprünglich war von der Kommiſſion, wie ſchon erwähnt, vorgeſchlagen,
eine durch Teile der neuen Längeneinheit gemeſſene Menge deſtillierten
Waſſers von der Temperatur des ſchmelzenden Eiſes, im luftleeren
Raume gewogen, als Gewichts- oder Maſſeneinheit zu betrachten; ſpäter
wurde feſtgeſetzt, daß ein Kilogramm gleich ſein ſolle dem Gewichte eines
Kubikdezimeters deſtillierten Waſſers im Zuſtande ſeiner größten Dichte,
gewogen im luftleeren Raum. Waſſer erleidet wie jeder Körper durch
die Wärme eine Ausdehnung, wenn man alſo ein Kubikdezimeter
(Liter) mit Waſſer von 10° Celſius füllt, und dann das Waſſer
erwärmt, ſo läuft es über, weil es jetzt einen größeren Raum einnimmt.
Bei 15°C. z. B. iſt alſo in demſelben Raum eine geringere Gewichts-
menge Waſſer als vorher. Kühlt man andrerſeits das Waſſer ab, ſo
zieht es ſich zuſammen, es nimmt weniger Raum ein, man muß
demnach Waſſer nachgießen, um das Maß wieder ganz zu füllen, es
iſt jetzt eine größere Gewichtsmenge in demſelben Raum. Ein Kubik-
dezimeter deſtillirten Waſſers würde alſo kein beſtimmtes Gewicht haben,
es muß noch die Temperatur deſſelben angegeben ſein. Waſſer hat
die Eigenſchaft, bei 4°C. am dichteſten zu ſein, wird es noch weiter
abgekühlt, ſo fängt es wieder an ſich auszudehnen.


Alle Körper in der Natur haben, wie die Erfahrung lehrt, das
Beſtreben zu fallen, — ſich nach dem Erdmittelpunkt zu bewegen, wenn
ſie an dieſer Bewegung nicht verhindert werden. Man muß daher
annehmen, daß dem Erdball eine Kraft innewohnt, die ſich darin
äußert, alle Körper nach dem Erdmittelpunkt anzuziehen und nennt
dieſe Kraft die Schwerkraft. Die Eigenſchaft der Körper, vermöge
deren ſie den Wirkungen der Schwerkraft ausgeſetzt ſind, iſt ihre Schwere.
Die Richtung, nach welcher hin die Schwerkraft zieht, heißt die vertikale
oder lotrechte, rechtwinklig zu dieſer ſteht die horizontale Richtung. —
Ruht der Körper auf einer horizontalen Unterlage, ſo wirkt zwar die
Schwerkraft ebenfalls auf ihn, aber ſie wird durch eine gleich große
und entgegengeſetzt gerichtete Einwirkung ſeitens der feſten Teile der
Unterlage aufgehoben, der Körper verharrt unter dem Einfluſſe der
beiden gleich großen aber entgegengeſetzt gerichteten Kräfte in Ruhe,
er befindet ſich im Gleichgewicht. Dieſelben Verhältniſſe treten ein,
wenn der Körper an einem hinreichend feſten Faden hängt. Die
Größe des Druckes, welchen die Unterlage von dem auf ihr ruhenden,
oder des Zuges, den der Faden von dem an ihm hängenden Körper
erfährt, heißt ſein Gewicht. Dieſes iſt abhängig erſtens natürlich von
der Größe der Schwerkraft, dann auch, da jedes einzelne Maſſen-
[13]Von den Wägungen.
teilchen der Schwerkraft unterworfen iſt, von der Maſſe des Körpers.
Man kann alſo die Maſſen zweier Körper vergleichen, indem man ihre
Gewichte vergleicht, hierzu dient die Wage.


Denkt man ſich alle die Wirkungen der Schwerkraft auf die
einzelnen Maſſenteilchen zu einer einzigen Kraft vereinigt, ſo wird
dieſe eine Kraft in dem Körper auch nur einen Angriffspunkt haben,
deſſen Lage zu dem Körper unveränderlich iſt und der der Schwerpunkt
des Körpers genannt wird. Man kann ſich daher auch das Gewicht
des Körpers im Schwerpunkt vereinigt denken. Bei ſymmetriſch geſtalteten
Körpern fällt der Schwerpunkt mit dem Mittelpunkt zuſammen. Man
kann nun einen Körper in dreifacher Weiſe unterſtützen, entweder im
Schwerpunkt, dann iſt derſelbe unter dem Einfluſſe der Schwerkraft in
jeder Lage im Gleichgewicht, oder in einem Punkte der vertikal über
oder unter dem Schwerpunkt liegt. Erſteres iſt der Fall, wenn er an
einem vertikalen Faden hängt, letzteres wenn er auf einer horizontalen
Unterlage ruht.


Das Gleichgewicht kann ein ſtabiles, labiles oder indifferentes
ſein. Man bezeichnet es als ſtabil, wenn der Körper, ein wenig aus
ſeiner Gleichgewichtslage gebracht, durch die auf ihn wirkenden Kräfte
wieder in die Gleichgewichtslage zurückgeführt wird, — labil, wenn
der Körper, einmal in ſeiner Gleichgewichtslage geſtört, nicht in dieſelbe
zurückkehrt, als indifferent, wenn der Körper in jeder Lage die man
ihm giebt im Gleichgewicht verharrt. Ein um eine feſte Axe drehbarer
Körper iſt im ſtabilen Gleichgewicht, wenn der Schwerpunkt unter dem
Unterſtützungspunkt liegt, im labilen, wenn der Schwerpunkt über dem
Drehpunkt liegt und im indifferenten Gleichgewicht, wenn der Schwer-
punkt in der Umdrehungsaxe liegt. Eine Schaukel z. B. iſt im ſtabilen
Gleichgewicht, wenn man ſie auch noch ſo hoch ſchwingt, kehrt ſie doch
von ſelbſt in die vertikale Lage zurück, ein Stock dagegen, den man
auf der Hand balanciert, iſt ſtabil, — der leiſeſte Stoß bringt ihn zum
Umfallen, ohne daß er ſich wieder aufrichtet. Eine Kugel, durch deren
Mittelpunkt ein Stock hindurchgezogen wird, bleibt in Ruhe, wie man
ſie auch dreht.


Unterſtützt man einen Stab in irgend einem Punkte, um den er
ſich drehen kann, ſo erhält man einen Hebel. Dieſer wird als ein-
armiger bezeichnet, wenn der Drehpunkt mit einem Endpunkte des
Stabes zuſammenfällt, im anderen Falle heißt er zweiarmig. Bringt
man an einem Hebel eine Laſt an, ſo wird der Punkt des Hebels,
an welchem die Laſt hängt, der Angriffspunkt genannt, und die Ent-
fernung zwiſchen dem Drehpunkt und dem Angriffspunkt — Hebelarm.
Wird der Hebel durch den Drehpunkt in zwei gleich lange Arme geteilt,
ſo iſt es ein gleicharmiger, iſt dies nicht der Fall, ſo hat man einen
ungleicharmigen Hebel vor ſich. Bringt man an einem Arme eines
zweiarmigen Hebels, der ſich im Gleichgewicht befindet, eine Laſt an, ſo
wird das Gleichgewicht geſtört, der Hebel neigt ſich nach der be-
[14]Die Erfindung der Maße und Gewichte.
laſteten Seite und es bedarf einer zweiten Laſt am andern Arm,
um das Gleichgewicht wieder herzuſtellen. Erfahrung und Theorie
haben gezeigt, daß bei einem Hebel, der im unbelaſteten Zuſtande
im Gleichgewicht war, wenn er belaſtet wird, wieder Gleichgewicht
herrſcht, ſobald das Produkt aus der Länge des Hebelarms und
der Laſt auf beiden Seiten des Drehpunktes gleich iſt. Hat man z. B.
einen gleicharmigen Hebel, deſſen Arme 25 cm lang ſind, auf einer
Seite mit 2 kg belaſtet, ſo daß alſo für dieſe Seite das Produkt
aus Laſt und Arm — das ſtatiſche Moment — gleich 25 × 2 = 50
iſt, ſo muß auch die andere Seite mit 2 kg belaſtet werden, wenn
wieder Gleichgewicht eintreten ſoll, denn dann iſt auch hier das
ſtatiſche Moment 25 × 2 = 50. Wäre bei einem ungleicharmigen Hebel
der eine Arm 25 cm lang, der andere 5 cm, und der längere Arm iſt
mit 2 kg belaſtet, ſo muß der kürzere Arm mit 10 kg belaſtet werden,
um Gleichgewicht hervorzurufen, denn in einem Falle iſt das ſtatiſche
Moment 25 × 2 = 50, auf der anderen Seite 5 × 10 = 50. Beim
gleicharmigen Hebel herrſcht alſo Gleichgewicht, wenn die Laſten auf
beiden Seiten gleich ſind, beim ungleicharmigen, wenn die Laſten im
umgekehrten Verhältnis zu den Armlängen ſtehen; iſt ein Arm fünf mal
ſo lang wie der andere, ſo darf er nur ein Fünftel der Laſt tragen,
mit welcher der kürzere Arm beſchwert iſt.


Die Wage iſt eine und vielleicht die am meiſten bekannte und
benutzte Anwendungsform des Hebels. In der That beſteht die ein-
fachſte Hebelwage nur aus einer metallenen Stange, dem Wagebalken,
der an einer Stelle unterſtützt iſt und an beiden Enden Vorrichtungen
aufweiſt, an denen Laſten befeſtigt werden können. Als Drehpunkt
dient in der Regel eine Schneide, welche die Schärfe eines in den Balken
eingeſprengten gehärteten Stahlkeiles bildet; ſie ruht auf einer Horizontal-
ebene, gleichfalls aus gehärtetem Stahl, der Mittelpfanne. An den
Enden ſind ebenfalls gehärtete Stahlkeile eingefügt, die aber im Gegen-
ſatz zu der Mittelſchneide die Schärfen nach oben gerichtet haben, die
Endſchneiden. Über dieſe ſind Bügel gelegt, die an einem Haken die
Schalen zur Aufnahme der Laſten tragen. Auch die Bügel lagern
mit gehärteten ebenen Stahlplättchen, den Endpfannen, auf den Schneiden.


Von einer guten Wage verlangt man 1. daß der Balken für ſich
allein ſich horizontal einſtellt, daß er ebenfalls horizontal bleibt, wenn
beide Seiten gleich belaſtet werden. — Der Wagebalken darf ſich
daher nicht im indifferenten Gleichgewicht befinden, ſondern nur im
ſtabilen, der Schwerpunkt muß demnach unter der Mittelſchneide liegen,
dies muß auch noch der Fall ſein, wenn in die Schalen Gewichte
gelegt ſind. Die beiden Balkenarme, — ſo nennt man entſprechend den
Bezeichnungen beim Hebel die Entfernungen zwiſchen Mittel- und
Endſchneiden — müſſen alſo gleich gearbeitet und vor allem genau
gleich lang ſein, die eine Laſt würde ſonſt an einem längeren Hebel-
arm angreifen wie die andere, und die ſtatiſchen Momente wären trotz
[15]Von den Wägungen.
der gleichen Belaſtung ungleich. Stellt Fig. 13 einen Wagebalken vor,
ſo iſt c die Mittelſchneide, a, b ſind die Endſchneiden, ac und bc die
gleich langen Arme, s der genau vertikal unter c liegende Schwerpunkt.

Figure 13. Fig. 13.

Schematiſche Darſtellung der Wage.


Legt man jetzt in die beiden Schalen zwei gleiche Gewichte P, ſo greifen
dieſelben in a und b an, der gemeinſame Schwerpunkt beider fällt
demnach in c, und der gemeinſame Schwerpunkt aller in c wirkenden
Maſſen, alſo auch des Balkens und der beiden Gewichte mit Schalen
und Gehängen, fällt in einen Punkt zwiſchen c und s. Aus der Figur
erſieht man ſofort, daß außer der Bedingung der gleichen Länge der
Arme auch noch die erfüllt ſein muß, daß alle drei Schneiden genau
in einer geraden Horizontallinie liegen müſſen. Läge b tiefer wie a,
und wäre c b keine Horizontale, ſo würde die Laſt in b nicht recht-
winklig zum Hebelarm angreifen, es würde demnach nur ein Teil der
Laſt und nicht die ganze wirken. Daſſelbe würde eintreten, wenn zwar
die drei Schneiden in einer Ebene lägen, aber die Schalen nicht einander
parallel hingen, ſo daß die Kräfte dann unter verſchiedenem Winkel
angreifen würden.


Man macht deshalb die Aufhängung der Schalen ſtets ſo leicht beweg-
lich wie möglich, damit ſie ſich immer vertikal einſtellen. Steht dann der
Wagebalken ſchief, ſo greifen die Laſten zwar unter einem Winkel an,
ſo daß ein Teil der Laſt nicht in Wirkung tritt; aber der Verluſt iſt
auf beiden Seiten der gleiche und da es ſich nur um Gewichts-
vergleichungen handelt, ſo bleiben die Verhältniſſe die nämlichen.
Bringt man jetzt auf der rechten Seite ein kleines Übergewicht an, ſo
fällt der Schwerpunkt der beiden Laſten, die in a und b angreifen, nicht
mehr mit c zuſammen. ſondern in d, und der gemeinſchaftliche Schwer-
punkt nicht mehr in die Linie c s, ſondern in die Linie d s in den
Punkt m. Da wir ein ſtabiles Syſtem haben, ſo wird der ganze
Wagebalken ſich ſoweit um c drehen, bis m vertikal unter c zu liegen
kommt. Der Winkel s c m, um den ſich der Balken dreht, heißt der
Ausſchlagswinkel für die Laſt r. Dieſer Ausſchlagswinkel bietet ein
[16]Die Erfindung der Maße und Gewichte.
Maß für die Empfindlichkeit der Wage, die um ſo größer iſt, je größer
der Ausſchlagswinkel im Verhältnis zu dem Gewicht r iſt.


Als zweite Bedingung für eine gute Wage iſt daher aufzuſtellen:
2. die Empfindlichkeit muß möglichſt groß ſein. Dieſer Bedingung läßt
ſich in dreifacher Weiſe genügen.


Liegt der Schwerpunkt s möglichſt nahe unter c, ſo rückt auch der
Punkt m vertikal in die Höhe und der Winkel s c m vergrößert ſich
infolge deſſen. Bei allen guten Wagen iſt entweder unterhalb des

Figure 14. Fig. 14.

Präziſionswage.


Balkens wie in Fig. 13 oder oberhalb deſſelben wie in Fig. 14 eine
feine Schraube angebracht, an der man ein kleines Gewicht auf- und
abſchrauben kann, wodurch man offenbar den Schwerpunkt höher oder
tiefer zu rücken im Stande iſt, je nachdem man die Empfindlichkeit
zu vergrößern oder zu verkleinern wünſcht.


Andrerſeits nimmt die Empfindlichkeit mit der Länge der Arme
zu, denn es iſt klar, daß, wenn man c b verlängert, auch d ſich weiter
von c entfernt, alſo auch der Punkt m in einer zu c b parallelen
Richtung von c s fort rückt und der Winkel s c m ſich vergrößert.


Endlich erhöht ſich die Empfindlichkeit, wenn man den Wagebalken
möglichſt leicht wählt.


Der Ausſchlag des Wagebalkens, der Winkel s c m wird an einer
Skala abgeleſen, über welcher ſich ein mit dem Wagebalken feſt ver-
bundener Zeiger bewegt.


Die Bedingungen für eine hochempfindliche Wage ſind ſomit
gegeben; in der Praxis hatte es aber ſeine Schwierigkeiten, dieſelben
[17]Von den Wägungen.
zu erfüllen. Macht man die Balken zu lang, ſo wird die Wage
ungeſchickt und nimmt zu viel Raum ein, außerdem ſchwingt ſie zu
langſam. Leicht ſucht man die Balken zu machen, indem man dieſelben
durchbrochen arbeitet, wie Fig. 14 zeigt, aber es muß immer darauf
geachtet werden, daß der Balken auch genügende Feſtigkeit hat, um die
Laſten tragen zu können, zu deren Abwägung er verwendet werden
ſoll. Biegt ſich der Balken durch, weil er zu ſchwach iſt, ſo liegen die
drei Schneiden nicht mehr in einer Ebene und die Wägungen werden
fehlerhaft. Bei kleineren Wagen arbeitet man die Balken ganz aus
Aluminium.


Rückt man endlich den Schwerpunkt s zu nahe nach c herauf, ſo
liegt die Gefahr nahe, daß das Gleichgewicht indifferent wird.


Die Erfindung der Wagen iſt ſicherlich bereits in den älteſten
Zeiten gemacht worden, aber wo und von wem, läßt ſich auch hier,
wie faſt überall, wo es ſich um die Anfänge der Meßkunde handelt,
nicht angeben. Die älteſte Methode des Wägens beſtand wohl darin,
daß man auf die eine, gewöhnlich die rechte Schale die Laſt legte und
dann auf die andere Schale ſo lange Gewichte that, bis das Gleich-
gewicht wieder hergeſtellt war. Auf dieſe Weiſe war die Schwere der
Laſt ſofort aus den Gewichten abzuleſen, ausgedrückt in Teilen oder
Vielfachen der Gewichtseinheit. Legt man auf die rechte Schale ein
Stück Fleiſch und muß die linke Schale mit 2,5 kg belaſtet werden,
damit die Zunge wieder in der Mitte der Skala einſpielt, ſo wiegt das
Fleiſch 2,5 kg. Für den gewöhnlichen Handel genügt dieſes alte ein-
fache Verfahren auch heute noch vollkommen, denn ob der Kaufmann
1 g Butter mehr oder weniger auf 1 kg giebt, iſt ſowohl ihm, wie dem
Käufer ziemlich gleichgültig; ſollen aber Edelmetalle abgewogen werden,
oder handelt es ſich überhaupt um wertvollere Gegenſtände, ſo ſpielen
bereits Milligramme eine Rolle, und da genügt dieſes Verfahren nicht.


Die Wagearme abſolut gleich lang zu machen, iſt ein Problem,
welches ſelbſt die moderne Technik noch nicht gelöſt hat, und wenn
auch dies gelingen ſollte, ſo werden dennoch die Balkenarme während
der Wägung Veränderungen unterworfen ſein. Befindet ſich beiſpiels-
weiſe der linke Arm näher dem Fenſter, der rechte näher einer Wärme-
quelle, ſo wird der linke Arm kälter ſein, als der rechte, oder, da alle
Körper durch die Wärme ausgedehnt werden, ſo wird der linke Arm
auch kürzer ſein, als der rechte; die rechts liegende Laſt wirkt alſo an
einem längeren Hebelarm, als die links liegenden Gewichte, die ſtatiſchen
Momente ſind bereits gleich, wenn die Laſt noch leichter iſt, als die
Summe der Gewichte; die Laſt erſcheint ſchwerer, als ſie in der That
iſt. Andrerſeits, wenn die Laſt aus einem Stück beſteht, ſo nähert
man ſich beim Aufſetzen derſelben nur einmal dem rechten Wagenarm;
hat man 7 Gewichte nöthig, um die Zunge zum Einſpielen zu bringen,
ſie auszutarieren, ſo nähert man die Hand dem linken Balkenarm
ſiebenmal und bei der großen Empfindlichkeit des Metalls gegen Wärme-
Das Buch der Erfindungen. 2
[18]Die Erfindung der Maße und Gewichte.
einflüſſe, wird ſich der linke Arm durch die Handwärme ungleich ſtärker
ausdehnen, wie der rechte; man erhält ein zu geringes Gewicht für
die Laſt. Gegen Erwärmung von außen, ſowie gegen Luftſtrömungen,
wie ſie entſtehen, wenn z. B. die Thür des Wagenzimmers geöffnet
wird, hat man ſich zu ſchützen geſucht, indem man die Wagen mit
einem Umſchlußkaſten verſieht, gegen die Handwärme, indem man die
Gewichte mit Pinzetten anfaßt und aufſetzt, aber erſt die Erfindung
der Bordaſchen Wägungsmethode führte zu genaueren Reſultaten.


Borda’s Methode ſucht die niemals zu umgehenden konſtruktiven
Unzulänglichkeiten der Wage, ſowie die von außen herantretenden
Störungen des Verfahrens durch die Anordnung der Beobachtungen
aufzuheben. Auf die rechte Schale wird zuerſt das Normalgewicht
geſetzt und durch links aufzulegende gewöhnliche Gewichtsſtücke aus-
tariert. Dann wird nach Ableſung der Gleichgewichtslage an der
Wagenſkala rechts das Normal durch die Laſt, ein Gewichtsſtück oder
was ſonſt beſtimmt werden ſoll, erſetzt und werden rechts oder links ſoviel
Zulagegewichte hinzugefügt, bis wieder Gleichgewicht eintritt. Endlich
wird rückwärts dieſelbe Anordnung wiederholt. Sei das Normal-
gewicht N, das zu beſtimmende P, die Zulage z, ſo hat man auf der
rechten Schale nach einander N, P + z, P + z, N. Durch dieſe Methode
werden in der That viele Ungenauigkeiten vermieden. Wäre z. B. der
rechte Walkebalken länger wie der linke, ſo würde beim Austarieren
links allerdings mehr hinaufgelegt werden müſſen, als der Schwere
des Stückes entſpricht, aber da ja P auf dieſelbe Schale kommt, ſo
würde dieſer Konſtruktionsfehler bei N und P genau gleich wirken,
P + z alſo genau ſo ſchwer ſein müſſen, wie N. Oder wenn z. B. der
linke Balken während der Wägung ſich durch Wärmeeinflüſſe ſtetig ver-
längerte, ſo würde freilich links die Tara ſcheinbar immer ſchwerer
werden, aber beim Wiederaufſetzen des Normals würde der Fehler ſich
bemerkbar machen, und in der Rechnung würde er verſchwinden. Nämlich
ſo: gegeben ſeien 2 Kilogrammſtücke, das fehlerfreie Normal, das
zweite um 5 mg zu leicht. Jetzt legt man erſt das Normal auf, tariert
aus, bis Gleichgewicht eingetreten iſt, nimmt das Normal herunter, und
legt das zweite Kilogramm auf die rechte Schale, dann werden zunächſt
rechts noch 5 mg zugelegt werden müſſen, damit wieder Gleichgewicht
eintritt. Nun ſoll aber der linke Balkenarm ſich ſoweit verlängert haben,
daß rechts noch 1 mg nöthig iſt, um dieſes ſcheinbare Schwererwerden
der Tara auszugleichen, es müſſen alſo rechts 6 mg zu gefügt werden.
Bei der folgenden Wägung iſt der Arm abermals länger geworden
um denſelben Betrag, wenn alſo das zweite Kilogramm der Vorſchrift
gemäß abermals aufgeſetzt wird, ſo müſſen 7 mg hinzugefügt werden.


Jetzt kommt das Normal an die Reihe und da der Balken ſich
fortgeſetzt verlängert, ſtimmt die Tara nicht mehr, ſondern zu dem
Normal müſſen 3 mg hinzugethan werden, bis Gleichgewicht eintritt.
Die Wägung iſt alſo fehlerhaft, aber durch die Anordnung geht der
[19]Von den Wägungen.
Fehler heraus, denn, wenn beim Anfang der Beobachtung rechts
nur N ſtand, beim Ende (N + 3) mg, ſo hätte, wenn in der Mitte der
verfloſſenen Zeit das Normal aufgeſetzt worden wäre, 1 kg + 1½ mg
aufgelegt werden müſſen, ebenſo wenn beim erſten Hinſetzen des zweiten
Kilogramms 6 mg Zulage waren, beim zweiten Auflegen dagegen 7 mg,
ſo wären in der Mitte der Zeit 1 kg + 6½ mg zur Erzeugung des Gleich-
gewichts nöthig geweſen. Alſo für die Mitte der Wägung beträgt der
Unterſchied der beiden Gewichte (1 kg + 6½ mg) — 1 kg + 1½ mg = 5 mg.
Trotz der fehlerhaften Wägung iſt alſo das Ergebnis ein richtiges,
denn es war vorausgeſetzt, daß das zweite Kilo um 5 mg leichter ſei
als das Normal.


Gauß erfand eine noch genauere Methode. Er vermeidet die Tara
ganz. Sei das Normal wieder N, das andere Gewicht P, ſo legt er
erſt links N, rechts P auf, dann werden die Gewichte vertauſcht, alſo
links P, rechts N aufgelegt, dieſelbe Wägung wiederholt, endlich aber-
mals links N, rechts P. Auf die Vorzüge dieſer Methode, ſowie auf
ganz feine Wägungen im luftleeren Raum einzugehen, würde hier
zu weit führen. Um die ſtörenden Wärmewirkungen des Beobachters
auszuſchalten, beobachtet man durch ein Fernrohr aus 1 bis 2 m Ent-
fernung, aus derſelben Entfernung kann man durch Hebelvorrichtungen
die Gewichte aufſetzen und abnehmen, ſie umtauſchen, daß das linke
nach rechts und das rechte nach links kommt, ohne daß der Beobachter
an die Wage herantritt, endlich können auch die Zulagegewichte auf
dieſelbe Weiſe hinzugefügt werden. Für letztere hat man noch eine
beſondere Vorrichtung getroffen. Namentlich bei Chemikerwagen findet
man oft jeden Balkenarm in 10 gleichmäßige Teile geteilt und mit
Kerben verſehen (ſiehe Fig. 14), in welche ſpitzwinklig gebogene Draht-
ſtückchen eingeſetzt werden können. Bei dieſer Einrichtung braucht
man für die Zulagegewichte immer an Stelle mehrerer nur ein Stück
und das Tarieren geht äußerſt ſchnell, denn dasſelbe Stück von beiſpiels-
weiſe 10 mg Schwere, wiegt am Ende des Balkens, am ganzen Hebel-
arm ſoviel, wie 10 mg auf der Schale; hängt man es aber in die
fünfte Kerbe, ſo wirkt es nur an einem halb ſo langen Hebelarm,
wird alſo auf der Schale der anderen Seite durch 5 mg im Gleich-
gewicht gehalten. Mit demſelben Gewichtsſtück oder Reiter, wie dieſe
Drähte genannt werden, kann man alſo je nach der Kerbe, in welche
man ſie hineinſetzt 1 mg, 2 mg u. ſ. w. bis 10 mg wiegen. Bei der-
ſelben Wage ſind alſo hier gleichzeitig für die auf den Schalen liegenden
Gewichte, die Geſetze des gleicharmigen, für die auf dem Balken
reitenden, die des ungleicharmigen Hebels benutzt. Für feinere
Wägungen ſind nur gleicharmige Wagen in Gebrauch, wo es aber
weniger auf Genauigkeit als auf Schnelligkeit ankommt, greift man
gern zu ungleicharmigen.


Die ungleicharmigen Wagen, die man auch Schnell- oder Höker-
wagen nennt, ſind meiſt ſo eingerichtet, daß die Mittelſchneide, um
2*
[20]Die Erfindung der Maße und Gewichte.
welche ſich der Balken dreht, ſowie eine Endſchneide, auf welcher die für
die Laſt beſtimmte Schale aufſitzt, feſt eingelaſſen ſind; der Hebelarm,
an welchem die Laſt hängt, iſt alſo unveränderlich, auf dem eingeteilten
zweiten Arme läßt ſich ein Gewicht verſchieben. Iſt der rechte Arm CE,
Fig. 15, ein Zehntel des linken, und iſt der zehnmal ſo lange linke
Arm in 10 Teile geteilt, ſo kann man durch Anhängen eines 1 kg Stückes

Figure 15. Fig. 15.

Schnellwage.


an D Laſten von 1 bis 10 Kilogramm Schwere wägen. Iſt die Laſt
größer, ſo wählt man G 10 kg ſchwer, und kann dann durch Ver-
ſchieben von D mit G Laſten bis 100 kg abwägen. Die einzelnen
Zehntel des linken Armes ſind meiſt noch in Unterabſchnitte geteilt,
ſo daß man auch kleinere Gewichte noch ableſen kann. Iſt der
Abſtand zwiſchen zwei Hauptſtrichen z. B. abermals in 10 Abſchnitte
geteilt, und mußte man D bis zum 7. Strich hinter dem 4. Hauptſtrich
ſchieben, bis Gleichgewicht vorhanden iſt, ſo würde die Laſt unter
der Vorausſetzung, daß G gleich 1 kg, alsdann 4,7 kg wiegen; wäre
G = 10 kg, ſo wöge ſie 47 Kilogramm. Bei vielen Wagen, wie auch
bei Fig. 15, iſt noch ein zweiter Unterſtützungspunkt C vorhanden. In
E iſt eine Doppelſchneide, eine nach oben, die andere nach unten ge-
richtet; man kehrt den ganzen Balken um, hängt die Schale wieder
an und hängt die Wage an dem zweiten, E näheren Punkt C auf.
Dadurch iſt das Hebelverhältnis geändert; war vorher der linke Arm
10 mal ſo lang wie der rechte, ſo wird er jetzt meiſt 20 mal ſo lang
ſein. Der Balken trägt auf der anderen Seite ebenfalls noch eine
zweite Teilung, und man kann nunmehr mit 1 kg Gewicht 20 kg Laſt
wägen. Mit dieſen Einrichtungen iſt die Schnellwage ein außerordentlich
bequemes Hilfsmittel zum Abwägen von Laſten innerhalb ſehr weiter
Grenzen der Schwere. Schnellwagen aus Elfenbeinſtäbchen hatten
übrigens ſchon die alten Chineſen. Jüngeren Datums ſind eine zweite
Klaſſe ungleicharmiger Wagen, bei denen im Gegenſatz zu den eben be-
[21]Von den Wägungen.
ſchriebenen das Verhältnis der beiden Hebelarme ein konſtantes, ſich
gleichbleibendes iſt, die ſogenannten Brückenwagen. Schon im vorigen
Jahrhundert gab es mehrere derartige Konſtruktionen, die aber ſo ſchwer-
fällig waren, daß ſie ſich keinen
Eingang zu verſchaffen ver-
mochten. Erſt dem Mechaniker
Quintenz in Straßburg gelang
es 1823 ſie in einer Form
herzuſtellen, die ihnen ſchnell
zu großer Verbreitung verhalf.
Fig. 16 giebt eine Anſicht dieſer
Straßburger Wage, ſchematiſch
dargeſtellt. Bei der Brücken-
wage ſind hauptſächlich ein-
armige Hebel in Anwendung

Figure 16. Fig. 16.

Brückenwage.


gebracht; auch bei dieſen findet Gleichgewicht ſtatt, wenn die ſtatiſchen
Momente gleich ſind, nur müſſen hier, da beide Kräfte auf derſelben
Seite des Drehungspunktes angreifen, die Kräfte entgegengeſetzte Rich-
tung haben.


Drückt eine Laſt nach unten, ſo kann dieſelbe nur aufgehoben
werden durch einen Zug nach oben. Wie man aus der Abbildung
erſieht, iſt die horizontale Brücke (der einarmige Laſthebel) mit dem
vorderen Ende E aufgehängt an der vertikalen Stange D E. Dieſe iſt
in D an dem Wagebalken A B befeſtigt, während das hintere Ende mittelſt
einer Schneide F auf einem zweiten einarmigen Hebel H K, dem Trag-
hebel aufruht. Auch dieſer hängt an einer ſenkrechten Stange H B, welche
frei durch die Brücke hindurchgeht und bei B an einem Ende mit
dem Wagebalken verbunden iſt, während das andere ſich um die
Schneide K dreht. Legt man auf die Brücke eine Laſt Q, ſo wird ein
Teil derſelben ſich bemerkbar machen als Zug p an der Stange E D,
ein anderer als Druck q auf die Schneide F wirken, dann iſt Q = p + q.
Das Verhältnis der Hebellängen iſt ſo gewählt, daß C D zu C B im
gleichen Verhältniſſe ſteht wie K F zu K H. Beiſpielsweiſe ſei C B
zehnmal ſo lang als C D, alſo auch K H zehnmal ſo lang als K F.
Dann würde ein in B wirkender Zug nach oben in Größe von p/10
dem Zuge nach unten p, den die Stange D E ausübt, gerade das
Gleichgewicht halten, und dieſer Teil der Laſt wäre aufgehoben.
Der Teil q drückt durch die Schneide F auf den Traghebel K H und
ruft wegen des Verhältniſſes von K F zu H F durch Vermittelung der
Stange H B in B einen Zug nach unten hervor gleich q/10. Ließe man
alſo in B einen Zug nach oben wirken gleich q/10 + p/10 = Q/10, ſo wäre
die ganze Laſt Q aufgehoben. Dieſen Zug bringt man hervor, indem
man die andere Seite des Wagebalkens belaſtet. Wäre C B = C A,
alſo wäre A B ein gleicharmiger Hebel, ſo brauchte man in eine bei A
hängende Schale nur ein Zehntel der Gewichtsmenge auflegen, welche
[22]Die Erfindung der Maße und Gewichte.
die Laſt Q wiegt. Dies findet bei den Dezimalwagen ſtatt, macht man
noch A C zehnmal ſo lang wie C B, ſo braucht man in der Gewichts-
ſchale nur ein Hundertſtel der Laſt, 1 Zentner wird durch 1 Pfund
abgewogen, man nennt dieſe Wage Zenteſimalwage. Bei einer gut
gearbeiteten Brückenwage muß im unbelaſteten Zuſtande der Balken A B
horizontal liegen, die Brücke muß bei den Schwingungen des Balkens,
bei ihrer Hebung und Senkung ſtets horizontal bleiben, endlich muß
es gleich ſein, auf welche Stelle der Brücke man die Laſt auflegt.


Als letzte Anwendung der Hebelgeſetze ſei noch die Tafelwage
angeführt, die bei Kaufleuten und in der Wirtſchaft vielfach in Gebrauch
iſt, ſowie die Zeigerwage, wie ſie namentlich als Briefwage Verwendung
findet. Beide bedürfen nach dem Vorangegangenen weiter keiner
Erläuterung.


Auf ganz anderen Prinzipien beruhen die Federwagen, ſowie alle
Wagen von elaſtiſchen Körpern. Wirklich in die Praxis eingeführt
haben ſich nur die Federwagen. Sie haben ſich vielfach deshalb in
Familien eingebürgert, weil zu ihrer Benutzung keine Gewichte erforderlich

Figure 17. Fig. 17.

Federwage.


ſind. Die Feder, mag ſie nun ſpiralig oder kreis-
förmig oder ſonſtwie gebogen ſein, ſetzt vermöge
ihrer Elaſtizität den Verſuchen, ſie weiter zuſammen
zu drücken, oder auseinander zu ziehen, einen ge-
wiſſen Widerſtand entgegen. Hängt man z. B. an
eine Spiralfeder, die mit ihrem oberen Ende befeſtigt
iſt, unten 1 kg an, ſo wird ſich dieſelbe, wenn ſie
genügend ſtark iſt, nur um einen kleinen Bruchteil
ihrer Länge ausdehnen; ſoll ſie ſich noch mehr ver-
längern, ſo muß ein neues Gewicht hinzukommen u. ſ. w.
Wenn man einen Zeiger feſt mit der Skala ver-
bindet, ſo kann man neben demſelben auf einer Skala
Marken anbringen, auf welche er weiſt, wenn die
Feder mit ein, zwei u. ſ. w. Kilogramm belaſtet iſt.
Fig. 17 zeigt eine ſolche Wage, bei der die Feder
zuſammen gedrückt wird. Auch als Zugkraftmeſſer
namentlich für Dampfmaſchinen finden dieſe Federn
vielfach Verwendung. Alle Federwagen aber haben den Nachteil, daß
die Federn, wenn ſie häufig gebraucht werden, allmählich in ihrer
Spannung nachlaſſen und ſchlaffer werden.


Ebenfalls zu den Wagen rechnet man ein Inſtrument, welches
dazu dient, Dichten zu beſtimmen, das Aräometer oder die Senkwage.
Dieſelbe beruht auf hydroſtatiſchen Prinzipien.


Jeder Körper verliert in einer Flüſſigkeit ſoviel an Gewicht, als
das Volumen der von ihm verdrängten Flüſſigkeitsmenge wiegt, oder
anders ausgedrückt: ein in eine Flüſſigkeit getauchter Körper wird mit
einer Kraft emporgehoben, welche dem Gewicht der Flüſſigkeits-
menge gleich iſt, welche durch den eingetauchten Teil des Körpers
[23]Von den Wägungen.
aus ſeiner Stelle verdrängt iſt. Dieſer Flüſſigkeitsauftrieb iſt abhängig
von der Dichte der Flüſſigkeit, je dichter die Flüſſigkeit, um ſo größer
der Auftrieb. Als Einheit der Dichte nimmt man die des Waſſers
bei 4° C. Wenn man alſo von der Dichte eines Körpers ſpricht,
ſo meint man die Zahl, welche angiebt, wieviel mal ſchwerer oder
leichter der Körper iſt als Waſſer von 4°. Aräometer
laſſen alſo zweierlei beſtimmen, einerſeits Volumina,
andrerſeits Dichten. Man benutzt zwei Arten von
Aräometern, Gewichtsaräometer und Skalenaräometer.
Als Vertreter der erſten Gattung möge die Nicholſon’ſche
Senkwage dienen (Fig. 18). Dieſelbe beſteht aus einem
meſſingenen Hohlkörper B, der unten ein kleines Sieb
trägt, oben ein feines Stäbchen mit einer ringsherum
gehenden Marke und einem Schälchen A. Das In-
ſtrument iſt ſo eingerichtet, daß es in Waſſer nur bis
zum Anfang des Stäbchens eintaucht. Legt man einen
Körper oben in die Schale, ſo wird es tiefer einſinken,
man legt nun noch ſoviel Gewichte zu, bis die Marke O
genau im Flüſſigkeitsſpiegel liegt. Nimmt man den
Körper wieder herunter und legt ſo lange Gewichte auf,
bis die Marke abermals den Flüſſigkeitsſpiegel trifft,
ſo geben die zugelegten Gewichte die Schwere des
Körpers. Thut man dann den Körper in das Sieb,
ſo wird er leichter und abermals müſſen auf das
Schälchen Gewichte gelegt werden, wenn die Senkwage
bis zur Marke eintauchen ſoll. Damit hat man den

Figure 18. Fig. 18.

Nicholſons Aräometer.


Gewichtsverluſt im Waſſer, oder was daſſelbe iſt das Gewicht, welches
ein dem Körper gleiche Waſſermenge hat. Wog der Körper im Schälchen
9 g, betrug der Gewichtsverluſt im Waſſer 3 g, ſo iſt das Volumen
des Körpers 3 ccm, ſeine Dichte (ſpezifiſches Gewicht) 9/3 = 3.


Dieſes Verfahren iſt ein äußerſt umſtändliches und beſchwerliches,
und da es noch andere beſſere Methoden zur Volumen- und Dichten-
beſtimmung giebt, ſo ſind die Nicholſon’ſchen Wagen wenig in Gebrauch.
Das erſte Gewichtsaräometer erfand übrigens Moncong, Arzt in Lyon
(† 1665), es wurde dann von Fahrenheit in vollkommenerer Geſtalt
eingeführt, doch iſt Nicholſons Form die beſte.


Weit bequemer als die Gewichtsaräometer ſind die jetzt mehr in
Aufnahme kommenden Skalenaräometer, die darauf beruhen, daß ein
Körper, deſſen Gewicht unveränderlich bleibt, in Flüſſigkeiten von ver-
ſchiednem ſpezifiſchen Gewicht verſchieden tief einſinkt. An einen cylindriſchen
hohlen Glaskörper iſt unten ein Glasgefäß angeblaſen, das mit Queck-
ſilber gefüllt iſt, damit der Schwerpunkt des ganzen Inſtrumentes
möglichſt tief liege, das Aräometer alſo möglichſt ſenkrecht ſchwimme.
Oben läuft der Glaskörper in eine feine cylindriſche Röhre, die Spindel
aus, welche im Innern eine Skala trägt. Der Anfang der Skalen-
[24]Die Erfindung der Maße und Gewichte.
aräometer iſt bis in das hohe Altertum hinein zu verfolgen; ſicher iſt,
daß ſchon Archimedes († 212 v. Chr.) ein gut konſtruirtes Aräometer
von Blech mit einer in Grade geteilten Skala entweder erfand oder
mindeſtens gebrauchte. In Deutſchland wurden ſie beſonders zur
Beſtimmung des Salzgehaltes der Sole benutzt, und als hölzerne
Cylinder, unten mit Blei ausgegoſſen, hergeſtellt. Jetzt dienen ſie den
allerverſchiedenſten Zwecken. Ein Normalinſtrument ſtellt man in der
Weiſe her, daß man von einer Flüſſigkeit ſich auf irgend eine Weiſe
das ſpezifiſche Gewicht beſtimmt, dann das Aräometer in dieſelbe
Flüſſigkeit hineinſenkt und dem Punkt, bis zu welchem das Aräometer
eintaucht, die Bezeichnung des ſpezifiſchen Gewichts der Flüſſigkeit
beifügt. In einer leichteren Flüſſigkeit hat das Aräometer geringeren
Auftrieb, wird alſo tiefer einſinken, in einer ſchwereren weniger tief.
Steckt man z. B. ein Aräometer zuerſt in Waſſer, ſo wird man den
Punkt bis zu dem es einſinkt mit 1,00 bezeichnen, in Petroleum ſinkt
es tiefer ein bis zu einem Punkte der entſprechend der Dichte der
Flüſſigkeit die Bezeichnung 0,82 erhalten würde. Hat man ſich auf
dieſe Weiſe ein ſolches Inſtrument hergeſtellt, ſo kann man wieder
umgekehrt, wenn man dasſelbe in eine Flüſſigkeit eintaucht, ſofort das
ſpezifiſche Gewicht an der Skala ableſen. Dies Verfahren iſt ſo einfach
und geht ſo leicht und ſchnell vor ſich, daß die Skalenaräometer die
weiteſte Verbreitung gefunden haben. Ebenſo wie für ſpezifiſche Ge-
wichte kann man die Aräometer natürlich auch für Prozente einrichten
und je nach der Flüſſigkeit für welche ſie beſtimmt ſind, tragen ſie
verſchiedene Namen. So zeigt ein Gewichtsalkoholometer, wieviel
Gewichtsteile Alkohol in hundert Gewichtsteilen einer Miſchung von
Alkohol mit Waſſer enthalten ſind, ein Saccharimeter wieviel Gewichtsteile
Zucker in hundert Gewichtsteilen einer Zuckerlöſung ſich befinden u. ſ. w.,
kurz faſt auf allen Gebieten, wo es ſich um die Wertbeſtimmung von
Flüſſigkeiten durch die Dichte derſelben handelt, trifft man auf Skalen-
aräometer.


Die Apparate zur Wärmemeſſung.


Alle Körper haben die Eigenſchaft, bei der Erwärmung ſich auszu-
dehnen, bei der Erkaltung ſich wieder zuſammenzuziehen, wie ſchon mehr-
fach erwähnt wurde. Dieſe Thatſache war ſchon im Altertum bekannt,
aber erſt im 16. Jahrhundert kam der Holländer Cornelius Drebbel auf
den Gedanken, dieſelbe nun auch zu der Meſſung der Wärme anzuwenden.
Das Drebbelſche Inſtrument beſtand aus einer dünnen Glasröhre, an
welche oben eine Kugel angeblaſen war, das untere offene Ende war
in ein Gefäß geſteckt, in welchem ſich eine Löſung von Kupfer in ver-
dünntem Scheidewaſſer befand. In Folge des Luftdrucks (ſiehe auch
Seite 29) drang die Flüſſigkeit in die Röhre bis zu einer gewiſſen
Höhe; wurde aber die Luft in der Kugel erwärmt, ſo dehnte ſie ſich
aus und zwang die Flüſſigkeit zu ſinken; bei abnehmender Wärme zog
[25]Die Apparate zur Wärmemeſſung
ſich die Luft wieder zuſammen und die Flüſſigkeit konnte ſteigen. Die
Höhe der Flüſſigkeitsſäule konnte man an einer Skala ableſen und
alſo die Wärme in Teilen dieſer Skala angeben.


Das Thermometer in ſeiner heutigen Form iſt eine Erfindung der
Florentiner Akademie oder der Academia del Cimento. Es beſtand
aus einer Kugel mit einer ſogenannten Thermometerröhre, war mit
Weingeiſt gefüllt und auf einer Skala befeſtigt, welche in Folge der
Ausdehnung oder Zuſammenziehung dieſer Flüſſigkeit die Vermehrung
oder Verminderung der Wärme anzeigte. Hier wurde alſo bereits die
Ausdehnung von Flüſſigkeiten benutzt und noch heute ſind im praktiſchen
Leben alle, im Laboratorium die meiſten Thermometer mit Queckſilber
oder Alkohol gefüllt. Man nimmt hierbei an, daß die genannten
Flüſſigkeiten ſich ſehr gleichmäßig mit der Temperatur ausdehnen. Dies
iſt nur in beſchränktem, aber für die Praxis im allgemeinen aus-
reichendem Maße richtig. Beide Flüſſigkeiten haben ihre Vorzüge und
ihre Nachtheile. Queckſilber gefriert bereits bei — 38° C., es wird
dann feſt; alſo unterhalb dieſer Temperatur kann nur ein Weingeiſt-
thermometer angewendet werden. Andrerſeits ſiedet der reine Weingeiſt
bereits bei 78,3°C.; er verwandelt ſich in Dampf; alſo oberhalb dieſer
Grenze kann nur ein Queckſilberthermometer benutzt werden; Queck-
ſilber ſiedet erſt bei 360°; darüber hinaus bedient man ſich der Gas-
thermometer.


Die Inſtrumente der Akademie bedeuteten allerdings einen Fort-
ſchritt, aber ihre Skala war eine ganz willkürliche; ſollten die Thermo-
meter einen praktiſchen und wiſſenſchaftlichen Wert erlangen, ſo mußte
eine Einheit für dieſe Skala geſchaffen werden und ein Ausgangspunkt,
von dem man zählte. Was lag näher, als daß man auch hierbei die
Eigenſchaften des Waſſers benutzte, des Körpers, der im täglichen
Leben eine ſo hervorragende Rolle ſpielte. Drei Forſcher verſuchten
die Löſung der Aufgabe. Als erſter Fahrenheit in Danzig um das
Jahr 1714. Dieſer ſteckte ſein Thermometer in eine Miſchung von
Schnee und Salz und nannte den Punkt, an welchem die Flüſſigkeit
ſich einſtellte, 0, dann ſteckte er dasſelbe Thermo-
meter in ſiedendes Waſſer und bezeichnete dieſen
Siedepunkt mit 212. Damit war die Willkür
noch nicht behoben, denn durch die Einführung
der Salzſchneemiſchung war wieder eine Künſtelei
hineingebracht. Réaumur und Celſius nahmen
beide als erſten feſten Punkt die Temperatur
des ſchmelzenden Eiſes, die ſich überaus lange
konſtant erhält, ſo lange, wie überhaupt in dem
Schmelzwaſſer noch Eis vorhanden iſt; den
zweiten Fixpunkt wählten ſie in Ueberein-
ſtimmung mit Fahrenheit. Réaumur teilte das
Intervall zwiſchen dem Gefrierpunkt und dem

Figure 19. Fig. 19.

Die drei Thermometerſkalen.


[26]Die Erfindung der Maße und Gewichte.
Siedepunkt in 80, Celſius in 100 Grade. Wir haben alſo heute
3 Thermometerſkalen: die Fahrenheitſche mit 212 Graden zeigt bei der
Temperatur des ſchmelzenden Eiſes + 32°, beim Siedepunkt 212 (Fig. 19),
die Réaumurſche zeigt entſprechend 0 und 80°, die Celſiusſche, in
ihrer heutigen Form Zenteſimal- oder hundertteilige Skala genannt,
entſprechend 0 und 100°. Die Wärmegrade über 0 werden mit +,
diejenigen unter 0 mit — bezeichnet. Die Fahrenheitſchen Thermometer
haben den Vorzug, daß die in unſeren Breiten üblichen Kältegrade
faſt durchweg über 0 liegen, ſind aber ſonſt höchſt unpraktiſch; ſie werden
in England und Amerika benutzt. Reaumurſche Thermometer haben
ſich beſonders in Deutſchland eingeführt; Celſius hat mit der Hundert-
teilung das allein Richtige getroffen und iſt deshalb auch allein von
der Wiſſenſchaft angenommen.


Von einem guten Thermometer verlangt man, daß die Fixpunkte
gut eingeſtellt ſind, und das Intervall zwiſchen denſelben richtig geteilt
iſt, kurz, daß es richtige Angaben mache. Daneben ſoll es aber auch
möglichſt empfindlich ſein, d. h., es ſoll die Temperatur der Umgebung
möglichſt ſchnell annehmen und einer geringen Temperaturänderung
ſoll eine möglichſt große Änderung der Höhe der Flüſſigkeitsſäule, ent-
ſprechen. Erſteres erreicht man, wenn die Wandungen des Thermometer-
gefäßes, der Thermometerkugel möglichſt dünn gemacht werden, letzteres,
wenn man das Gefäß möglichſt groß und die Röhre, die Kapillare,
möglichſt eng wählt. Soll das Thermometer richtig zeigen, ſo muß
ferner die Kapillare genau kalibriſch d. h. von Anfang bis zum Ende
innen gleich weit ſein, und endlich darf keine Luft eingeſchloſſen ſein.
Iſt nicht alle Luft entfernt, ſo wird ſie beim Anſteigen der Flüſſig-
keitsſäule zuſammengepreßt und übt auf dieſelbe einen Druck aus,
die Flüſſigkeit kann alſo nicht ſo hoch ſteigen, wie es dem Wärmegrad
der Umgebung entſpricht. In Frankreich pflegt man die Teilung auf
der Kapillarröhre ſelbſt anzubringen, (Stabthermometer), während man
in Deutſchland die Kapillare noch mit einer weiteren Röhre umhüllt, in
welcher hinter der Kapillare eine Milchglasſkala befeſtigt iſt (Umſchluß-
thermometer). Bei den gewöhnlichen Thermometern iſt die Kapillare
auf einer Holz-, Milchglas- oder Metall-Elfenbein- u. ſ. w. Skala
befeſtigt, nur die Badethermometer ſind meiſt Umſchlußthermometer.


Neben den Flüſſigkeitsthermometern haben auch Metallthermometer
Eingang gefunden. Am einfachſten wäre es, hinter einem Metallſtab
eine Skala anzubringen und die Länge des Stabes bei verſchiedenen
Temperaturen abzuleſen, wie man die Höhe der Flüſſigkeitsſäule ablieſt.
Die Ausdehnung des Metalles iſt indeſſen zu gering, ſo daß kleinere
Wärmeänderungen überhaupt nicht bemerkbar werden würden. Man
lötet daher zwei Metallſtreifen von ungleicher Ausdehnung in Form
einer Spiralfeder zuſammen, ſo daß das Metall mit ſtärkerer Aus-
dehnung ſich außen befindet, das mit geringerer Ausdehnung auf der
inneren Seite, dann wird die Krümmung der Spirale vergrößert bei
[27]Die Apparate zur Wärmemeſſung.
Temperaturerhöhung, verringert dagegen bei Temperaturerniedrigung.
Iſt dann die Spirale an einem Ende befeſtigt, ſo kann nur das andere
Ende eine Bewegung ausführen und ein an demſelben befeſtigter
Zeiger, der über einer kreisförmigen Skala ſich bewegt, zeigt die
Temperaturänderungen. Die Teilung der Skala kann durch Ver-
gleichung mit einem Queckſilber-
thermometer hergeſtellt werden.
Breguet, der berühmte Erfinder
der Kompenſationsſpiralen bei
Uhren, wendete für thermome-
triſche Zwecke eine Spirale an,
(Fig. 20), welche aus Silber und
Gold oder Platin zuſammengelötet
war, ſo zwar, daß Silber außen
und Platin innen war. Neben
der Breguetſchen Form giebt es
noch eine ganze Reihe anderer
Konſtruktionen von Metallthermo-
metern.


Ebenſo wie man die Aus-
dehnung der feſten und flüſſigen

Figure 20. Fig. 20.

Metallthermometer.


Körper zur Meſſung von Wärmeunterſchieden benutzt, kann man natürlich
auch die der luftförmigen verwerthen, und ebenſo wie man Metallthermo-
meter und Flüſſigkeitsthermometer in Anwendung bringt, hat man auch
Luftthermometer konſtruirt. Dieſe ſind ſogar die einzigen, welche
ziemlich für alle Temperaturen gleichmäßig ſich verwerthen laſſen.
Die Gaſe dehnen ſich faſt genau gleichmäßig mit der Temperatur aus
und zwar alle in gleicher Weiſe für jeden Temperaturgrad um 1/273 des
von ihnen bei 0° erfüllten Raumes. Daraus folgt, daß bei — 273°
das Volumen der Gaſe theoretiſch gleich 0 ſein müßte, ſie wären
bis auf ein Nichts zuſammengezogen; man nennt daher die Tempe-
ratur — 273° C. den abſoluten Nullpunkt. Die Temperaturmeſſungen
ſelbſt mit dem Luftthermometer ſind nicht einfach, ſondern erfordern
phyſikaliſche Kenntniſſe und mancherlei Rechnungen, dieſe Inſtrumente
finden daher auch nur in Laboratorien und auch da nur für ſpezielle
Unterſuchungen Anwendung.


Die Apparate zur Meſſung des Luftdruckes.


Die Erde iſt rings umhüllt von einem Luftmeere, der Atmoſphäre,
das ſich weit in den Weltenraum hinaus erſtreckt und allmählich immer
dünner und dünner werdend, eine Höhe von etwa 75 bis 80 Kilometern
erreicht. Früher hielt man die Luft für gewichtslos, aber daß die-
ſelbe ebenſo dem Geſetz der Schwere unterworfen iſt, wie jeder andere
Körper, davon kann man ſich durch einen ſehr einfachen Verſuch
[28]Die Erfindung der Maße und Gewichte.
überzeugen. Man wägt ein durch einen Hahn luftdicht abgeſchloſſenes
Gefäß zunächſt ſo ab, wie es iſt; dann öffnet man den Hahn und ſaugt
die Luft mit einer Luftpumpe oder dem Munde vollkommen aus,
ſchließt ſchnell den Hahn, damit keine Luft wieder eindringt, und wägt
abermals und man wird ſich ſofort überzeugen, daß für jeden Liter
Luft das Gefäß um 1,2 g leichter geworden iſt. Wog es mit Luft 3 kg
und hatte es 10 l Inhalt, ſo wiegt es nachher nur noch 2988 g, die
ausgepumpte Luft wiegt alſo 12 g.


Als einſt die Brunnenmacher in Florenz in einem Brunnenſaug-
rohre das Waſſer über 32 Fuß hoch heben wollten, bemerkten ſie zu
ihrem nicht geringen Erſtaunen, daß das Waſſer nicht höher ſteigen
wollte, ſie mochten noch ſo viel pumpen. Man erklärte damals das
Aufſteigen der Flüſſigkeit in Pumpen in der Weiſe, daß man meinte,
wenn über dem Waſſer die Luft weggeſaugt werde, ſo ſteige das Waſſer
nach, weil die Natur eine Angſt vor leeren Räumen habe (horror
vacui).
Dieſer horror vacui ſchien alſo in einer Höhe von 32 Fuß

Figure 21. Fig. 21.

Kommunizierende
Röhren.


ſein Ende gefunden zu haben. Galilei, den man um Rat
fragte, glaubte ſchon damals nicht an dieſe Erklärung der
Brunnenbauer und glaubte in der Schwere der Luft den
richtigen Beweggrund gefunden zu haben; aber erſt ſein
Schüler Torricelli, geb. 1643, brachte entſcheidende Beweiſe
dafür und erfand auch gleichzeitig ein Inſtrument, den
Luftdruck zu beſtimmen, das Barometer. Nach einem phyſi-
kaliſchen Geſetz, demjenigen der kommunizierenden Röhren,
halten ſich zwei Flüſſigkeitsſäulen das Gleichgewicht, wenn
die Höhen der beiden Säulen ſich umgekehrt verhalten, wie
die ſpezifiſchen Gewichte. Dies Geſetz läßt ſich leicht durch
einen Verſuch beweiſen. Füllt man in eine zweiſchenklige
Röhre (Fig. 21) zunächſt Queckſilber, ſo ſtellt die Flüſſigkeit
ſich in beiden Schenkeln ſo ein, daß die Höhen der Flüſſigkeits-
ſäulen genau dieſelben ſind, denn die Flüſſigkeit iſt in beiden
Schenkeln dieſelbe. Füllt man aber jetzt in den längeren
Schenkel Waſſer, ſo tritt folgendes ein. Denkt man ſich
durch die Berührungsſtelle von Queckſilber und Waſſer eine
horizontale Linie gezogen, A B, ſo iſt alles Queckſilber
unter A B für ſich im Gleichgewicht, die Höhe der Waſſer-
ſäule B F iſt aber 13,6 mal ſo groß als die Höhe der
Queckſilberſäule A E im anderen Schenkel, weil das ſpezifiſche Gewicht
des Queckſilbers 13,6 mal ſo groß iſt, als das des Waſſers. Die
Weite der Schenkel übt dabei auf den Erfolg des Experimentes keinen
Einfluß aus. Von dieſen Thatſachen ging Torricelli aus.


Man kann den eben beſchriebenen Verſuch auch in anderer Weiſe
anordnen. In ein beliebig großes Gefäß gießt man erſt Queckſilber,
darüber Waſſer. Dann füllt man eine offene Röhre mit Queckſilber
und indem man die untere Öffnung mit dem Finger ſchließt, ſenkt
[29]Die Apparate zur Meſſung des Luftdrucks.
man die Röhre ſo tief in die Flüſſigkeit, daß die untere Öffnung voll-
kommen in das Queckſilber eintaucht. Läßt man jetzt den Finger los,
ſo ſtellt ſich das Queckſilber in der Röhre wieder ſo ein, daß ſeine
Höhe 13,6 mal geringer als die des Waſſers in dem umgebenden Gefäße
iſt. Genau ſo liegen die Verhältniſſe mit der Luft. Die Atmoſphäre
iſt gleichſam ein mit Luft gefülltes Gefäß. Die Luft hält einer Waſſerſäule
von 32 Fuß das Gleichgewicht, würde man alſo in eine Brunnenröhre
in der das Waſſer ſo hoch ſteht, noch Waſſer hineingießen,
ſo würde dieſes den Flüſſigkeitsſtand doch nicht erhöhen, ſondern
es müßte unten ebenſo viel Waſſer abfließen. Torricelli ſagte
ſich, wenn die Luftſäule wirklich einer Waſſerſäule von 32 Fuß
das Gleichgewicht hält, ſo muß ſie einer Queckſilberſäule von
32/13,6 Fuß = 28 Zoll ebenfalls das Gleichgewicht halten,
denn Queckſilber iſt 13,6 mal ſchwerer wie Waſſer. Er füllte
daher ein Gefäß A (Fig. 22) mit Queckſilber, ebenſo eine
oben zugeſchmolzene Röhre, deren offenes Ende er mit dem
Finger zuhielt. Drehte er nun die Röhre um und tauchte
ſie mit dem offenen Ende in das Queckſilber des Gefäßes, ſo
ſtellt ſich, nachdem er den Finger losgelaſſen hatte, das Queck-
ſilber in der Röhre ſo ein, daß die Kuppe 28 Zoll, gleich
760 mm, höher ſtand wie das Niveau des Queckſilbers im
Gefäß. Über der Kuppe blieb ein luftleerer Raum, die
Torricelliſche Leere. Damit war ein Inſtrument erfunden,
welches geſtattete, jederzeit den Luftdruck zu meſſen. Natürlich
kann auch jede andere Flüſſigkeit benutzt werden, ſo hatte
Otto von Guericke, der berühmte Erfinder der Luftpumpe ſich
an ſeinem Hauſe ein 35 Fuß langes Waſſerbarometer an-
bringen laſſen, die Seewarte in Hamburg beſitzt ein etwa

Figure 22. Fig. 22.

Torricellis
Verſuch.


9 m langes Glycerinbarometer, aber wegen ſeiner verhältnismäßig
geringen Länge und ſeiner Handlichkeit bleibt das Queckſilberbarometer
doch das am meiſten benutzte.


Ein gutes Barometer muß drei Bedingungen genügen. 1. Muß
das Queckſilber ſehr rein ſein, denn unreines Queckſilber hat ein anderes
ſpezifiſches Gewicht, würde ſich alſo falſch einſtellen, 2. muß die Röhre
genau ſenkrecht ſtehen, weil ſonſt die Höhe der Säule falſch gemeſſen
wird, 3. muß der Raum über dem Queckſilber unbedingt luftleer ſein.
Die in der Röhre oben eingepreßte Luft würde ſonſt einen Druck auf
die Säule ausüben und ſomit den Barometerſtand niedriger machen,
als dem Luftdruck entſpricht.


Bei den heutigen Barometern unterſcheidet man zwei Hauptformen,
Gefäßbarometer und Heberbarometer. Die einfachſte Form des Gefäß-
barometers iſt diejenige, wie ſie eben bei dem Torricelliſchen Verſuch
beſchrieben wurde, ein Gefäß mit Queckſilber und eine möglichſt gleichmäßig
weite Röhre von etwa 800 mm Länge. Um dieſes einfache Inſtrument
transportabel und brauchbar zu machen, iſt nur noch nötig, Gefäß und
[30]Die Erfindung der Maße und Gewichte.
Röhre feſt mit einander zu verbinden und hinter der Röhre eine feſte
Skala anzubringen, welche die Röhre hält und eine Ableſung der Höhe
der Queckſilberſäule ermöglicht. Der Nullpunkt der Skala muß natürlich
mit dem Niveau des Queckſilbers im Gefäß zuſammenfallen, denn die

Figure 23. Fig. 23.

Heberbarometer.


Höhe der Säule über dieſem Niveau iſt es ja, die ge-
meſſen wird. Barometer dieſer einfachſten Konſtruktion
werden noch jetzt jährlich zu vielen Tauſenden angefertigt
und verkauft, ſie haben nur einen Fehler. Wenn — beim
Herannahen ſchönen Wetters — der Luftdruck ſich ver-
größert, ſo ſteigt Queckſilber aus dem Gefäße in die Röhre,
dadurch muß bei ſteigendem Barometer das Niveau im
Gefäße fallen, der Nullpunkt der Skala liegt dann über
dem Niveau und da ja an der Skala nur Abſtände von
dem Nullſtriche gemeſſen werden können, ſo erhält man
einen zu geringen Barometerſtand. Das Umgekehrte findet
bei fallendem Barometer ſtatt. Nun ſucht man freilich
dieſem Übelſtande zu begegnen dadurch, daß man das
Gefäß möglichſt groß wählt, denn wenn der horizontale
Querſchnitt des Gefäßes 10 mal ſo groß iſt, wie der der
Röhre, ſo werden auch die Höhenſchwankungen im Gefäß
nur 1/10 von denjenigen in der Röhre ſein. Man macht
auch die Skale beweglich und verſchiebt ſie vor der Ab-
leſung ſo lange bis der Nullpunkt derſelben wieder mit
dem Niveau im Gefäß zuſammenfällt; die beſte Konſtruktion
iſt indeſſen die von Fortin benutzte, wie ſie Fig. 24 zeigt.
Der Boden des Barometergefäßes iſt hier durch einen
Lederſack gebildet, gegen welchen von unten her der abge-
rundete Kopf der Schraube s drückt. Je nachdem man
die Schraube s rechts oder links dreht, wird der Leder-
beutel und das Niveau im Gefäß gehoben oder geſenkt.
Am Deckel des Gefäßes iſt ein unten zugeſpitzter Elfen-
beinſtift r angebracht, deſſen Spitze genau im Nullpunkt der
Skala liegt. Vor jeder Einſtellung wird durch Drehen der
Schraube die Oberfläche des Queckſilbers ſo lange ge-
hoben oder geſenkt, bis die Spitze eben den Queckſilber-
ſpiegel berührt. Das Rohr dieſer Fortinſchen Barometer
iſt rings von einer vernickelten Meſſinghülſe umgeben, in
welche oben, einander gegenüber liegend zwei Schlitze ein-
geſchnitten ſind, durch welche man die Kuppe ſehen kann.
Die Meſſinghülſe trägt eine Skala, deren Nullpunkt eben
mit der Spitze zuſammenfällt. Zum beſſeren Ableſen iſt auf
dem geteilten Meſſingrohr noch eine Hülſe aus gleichem Metall aufge-
ſchoben, ebenfalls mit zwei Schlitzen, die aber ſo breit ſind, daß neben
der Kuppe auch die Teilung noch ſichtbar wird. Beim Beobachten ſchiebt
man dieſe Hülſe ſo, daß die beiden oberen genau in gleicher Höhe liegen-
[31]Die Apparate zur Meſſung des Luftdrucks.
den Ränder der Schlitze, mit dem oberſten Punkt der gewölbten Queck-
ſilberkuppe in gleiche Höhe kommen. Mit Hülfe des an der vorderen
Seite des Schlitzes des Schiebers augebrachten
Nonius ſind dann ſehr genaue Ableſungen zu
machen. Angegeben wurde die Benutzung des
beweglichen Bodens zur Einſtellung des Queck-
ſilberſpiegels zuerſt von Horner.


Die Heberbarometer beſtehen nur aus einem
einzigen Rohr, welches Uförmig umgebogen iſt:
der eine längere Schenkel iſt natürlich geſchloſſen,
während der kürzere Schenkel offen iſt. Beim
Heberbarometer machen ſich die Höhenſchwank-
ungen der Queckſilberſäule in den beiden Schenkeln
in genau gleicher Weiſe bemerkbar, in jedem
Schenkel aber nur mit der Hälfte der Luftdruck-
wirkung; beim Gefäßbarometer wurde der ganze
Effekt nur im Rohre ſichtbar, während im Gefäß
nur geringe Niveaudifferenzen eintraten. Beim
Heberbarometer müſſen daher zwei Kuppenhöhen
gemeſſen werden, deren Differenz den Barometer-
ſtand ergiebt. Es giebt drei verſchiedene Kon-
ſtruktionen. 1. Das Rohr und die Skala ſind feſt;
bei dieſen Inſtrumenten iſt häufig die Teilung
direkt auf die Schenkel ſelbſt aufgeätzt. 2. Die
Skala iſt feſt und das Rohr läßt ſich vor der
Skala in vertikaler Richtung auf- und abbewegen.
Endlich kann 3. das Rohr feſt und die Skala
beweglich ſein. Fig. 23 ſtellt ein Barometer
der zweiten Konſtruktion vor. Dieſe, ſowie die
dritte, haben den Vorteil, daß nur die Höhe
einer Kuppe abgeleſen zu werden braucht, da
durch Heben oder Senken der Skala bez.
des Rohres, die zweite Kuppe im kürzeren
Schenkel auf den Nullſtrich eingeſtellt werden
kann. Um die Konſtruktion möglichſt bequem
transportabler Inſtrumente haben ſich beſonders
Gay-Luſſac und in jüngſter Zeit Fueß Ver-
dienſte erworben.


Figure 24. Fig. 24.

Fortinſches Barometer.


Vom Meſſen des Druckes eingeſchloſſener Gaſe.


Ganz ſo wie man den Druck der Luft mißt, kann man natürlich
auch den Druck beliebiger Gaſe in einem Gefäße meſſen, aus dem
Barometer wird dann ein Manometer. Von beſonderer Wichtigkeit ſind
dieſe Inſtrumente für Dampfmaſchinen, bei denen ſie dazu dienen, den
[32]Die Erfindung der Maße und Gewichte.
Druck anzugeben, der im Innern der Dampfkeſſel herrſcht. Man unter-
ſcheidet auch hier Gefäßmanometer und Hebermanometer. Die einfachſten
Hebermanometer beſtehen aus einer offenen Uförmig gebogenen Glas-
röhre. Das eine Ende des Manometers wird luftdicht, ſei es mittelſt
eines Korkes oder einer Verſchraubung auf eine entſprechende Öffnung
des Gasbehälters aufgeſetzt und dann die gebogene Röhre mit einer
Flüſſigkeit gefüllt. So lange der Druck, der aus dem Keſſel heraus
auf die Flüſſigkeitsſäule wirkt, nicht größer iſt, als der Druck der Luft,
der im anderen Schenkel wirkt, bleiben die Flüſſigkeitsſäulen in beiden
Schenkeln gleich hoch, ſobald aber der Druck im Gasgefäß ſich ver-
größert, muß die Flüſſigkeit in dem einen Schenkel ſinken, während ſie in
dem andern entſprechend ſteigt. Im erſteren Falle ſagt man, der
Druck des Gaſes betrage 1 Atmoſphäre. Genauer verſteht man unter
1 Atmoſphärendruck den Druck, den die Luft am Meere ausübt; derſelbe
hält, wie ſchon beim Barometer geſagt wurde, einer 760 mm langen
Queckſilberſäule das Gleichgewicht. Eine ſolche Säule, deren Grund-
fläche 1 qcm beträgt, hat einen Inhalt von 76 ccm, wiegt daher 1,033 kg.

Figure 25. Fig. 25.

Gefäßmanometer


In einem Dampfkeſſel alſo, in dem ein Druck von
1 Atmoſphäre herrſcht, hat jedes Quadratzenti-
meter der Wandung einen Druck von 1,033 kg
auszuhalten. Steht die Flüſſigkeit im offenen
Schenkel doppelt ſo hoch wie in dem an den
Keſſel angeſchloſſenen Schenkel, ſo iſt im Keſſel
ein Druck von 2 Atmoſphären u. ſ. w.


Das Gefäßmanometer hat die Form wie
Fig. 25. Das Rohr r führt nach dem Keſſel, der
Druck des durch r in das Gefäß gelangenden
Keſſelgaſes bewirkt ein Anſteigen der Flüſſigkeit
in dem luftdicht aufgekitteten Rohre. Wie beim
Gefäßbarometer finden im Gefäße ſelbſt nur geringe Niveauſchwankungen
ſtatt, während der ganze Druckeffekt durch das Aufſteigen der Flüſſigkeits-
ſäule im Rohre zu Tage tritt. Dieſe eben geſchilderten Manometer
ſind offene.


Bei ſehr hohen Drucken wird das offene Manometer unbequem
lang, man wendet daher ein Manometer an, bei dem die Flüſſigkeit in
eine oben geſchloſſene Röhre getrieben wird, das geſchloſſene oder
Kompreſſionsmanometer. Hier ſetzt die über der Flüſſigkeit ein-
geſchloſſene Luft, dadurch, daß auch ſie zuſammengedrückt wird, dem
Anſteigen der Flüſſigkeit einen ſehr erheblichen, mit der Vergrößerung
des Druckes immer mehr ſich ſteigernden Widerſtand entgegen. Wird
die Luft auf ein Achtel ihres Volumens komprimiert, ſo übt ſie auch
ihrerſeits einen Druck von 8 Atmoſphären aus.


Man kann den Überdruck im Dampfkeſſel auch auf eine Feder
wirken laſſen, deren Zuſammendrückung oder Durchbiegung an einer
geeigneten Skala abgeleſen werden kann.


[33]Meſſen des Druckes eingeſchloſſener Gaſe.

Eine geſchloſſene gekrümmte Metallröhre verringert ihre Krümmung,
wenn der Druck in derſelben zunimmt, und umgekehrt. Hierauf beruht
das Bourdonſche Metallmanometer, das auf Lokomotiven vielfach
benutzt wird.


Nach demſelben Prinzip iſt auch ein Barometer konſtruiert, das
eine ſehr große Verbreitung gefunden hat, das Aneroidbarometer.
Ein luftleer gemachtes, dünnwandiges
Rohr A B C (Fig. 26) iſt in der Mitte
bei B auf der Bodenplatte des Ge-
häuſes befeſtigt, im übrigen aber frei.
Wenn der Luftdruck abnimmt, ſo ent-
fernen ſich die beiden Enden A C
des Rohres von einander, weil die
Krümmung ebenfalls abnimmt, und
bewegen dadurch einen gezahnten
Hebel hik, deſſen Bewegung wiederum
mittels eines Triebes auf den Zeiger
übertragen wird. Bei zunehmendem
Luftdruck krümmt ſich die Röhre ſtärker,
und der Zeiger bewegt ſich in ent-
gegengeſetzter Richtung.


Soll die Röhre als Manometer
benutzt werden, ſo iſt das Ende A be-

Figure 26. Fig. 26.

Aneroidbarometer.


feſtigt und mit dem Keſſelraum durch eine Leitung verbunden, das
Ende C iſt frei. Strömt dann ſtark geſpannter Dampf aus dem Keſſel
in die Bourdonſche Röhre, ſo wird ſie durch den Druck desſelben mehr
geſtreckt und das Ende C nach rechts bewegt. Ein geeignetes Hebel-
werk überträgt auch hier dieſe Bewegung auf einen Zeiger, der ſich
vor einer Kreisſkala bewegt.


Die erſte Idee zu einem Manometer gab Ziegler mit ſeinem ſog.
Elaterometer, nach welchem Bétancourt um 1790 ſeinen Dampfmeſſer
konſtruierte.


2. Die Erfindung der Zeitmeßapparate.


Die erſten Zeitmeſſungen.


Wie das Bedürfnis, ſich über die Größe der Dinge ein genaues
Urteil zu bilden, die Menſchen frühzeitig zur Erfindung der Längen-
maße führte, ſo läßt ſich auch die Zeitmeßkunſt in ihren Urſprüngen
bis in die älteſten Kulturepochen verfolgen. Den Wunſch, die Länge
der verfließenden Zeit zu meſſen, befriedigten vorerſt wohl die natür-
Das Buch der Erfindungen. 3
[34]Erfindung der Zeitmeßapparate.
lichſten Zeitmeſſer, nämlich die Geſtirne. Die Sonne erreichte ſtets nach
Verlauf derſelben Zeit [i]hren höchſten Punkt am Himmel und ſo gab
die Zeit von einem Mittag zum andern das erſte Zeitmaß, den Sonnen-
tag; der Mond wechſelte ſein Licht gleichfalls in regelmäßigen Perioden
und wenn er wieder in erneuter Fülle am Himmel ſtrahlte, ſo war
die Zeit eines Monats vorbei. Die Sonne änderte von Tag zu
Tage die Höhe, welche ſie bei ihrem Wege über den Himmel erreichte.
Niemand konnte es entgehen, daß die Jahreszeiten die einfache Folge
dieſer Änderungen waren. Wenn in der Entwickelung der Pflanzen-
welt dieſelben Erſcheinungen wiederkehrten, ſo war die Sonne daran
ſchuld, die jetzt dieſelbe Höhe erlangt hatte, wie vor einem großen Zeit-
raum, den man das Jahr nannte. So gaben der Wechſel von Tag
und Nacht und derjenige der Jahreszeiten mit ihren vielfachen, ſo
unmittelbaren Wirkungen, denen niemand ſich entziehen kann, die natür-
lichſten Maße für die Zeit, den Tag und das Jahr. Aber recht bald
wird ſich auch das Bedürfnis geltend gemacht haben, innerhalb des
einzelnen Tages die Zeitpunkte genau feſtzuſtellen, die den Beginn und
das Ende der Arbeit markierten und die für die Nahrungsaufnahme
feſtgeſetzten Pauſen inne zu halten. Auch hierfür war die Sonne der
beſte Wegweiſer. Wenn der Schatten eines beſtimmten Körpers eine
gewiſſe Länge erreichte oder in eine gewiſſe Richtung fiel, ſo war jener
feſtgeſetzte Zeitpunkt gekommen. Der erſte Zeitmeßapparat, der Gnomon
wurde erfunden. Es war nichts als ein ſenkrechter Stab, der durch
die Länge ſeines Schattens die Zeit angab. Ein ſolcher Sonnenzeiger
war z. B. jener Obelisk von mehr als 30 m Höhe, den der Kaiſer
Auguſtus aus Ägypten nach Rom bringen ließ. In der Kuppel des
Domes zu Florenz befindet ſich in einer Höhe von faſt 90 m über
dem Fußboden eine Öffnung, durch welche die Sonne ihr Bild auf den
Fußboden wirft. Die ſchnelle Bewegung dieſes Bildchens aber erlaubt
eine ziemlich ſichere Feſtſtellung der Zeiten.


Keine neue Erfindung, ſondern nur die Vervollkommnungen dieſer
Gnomone ſind die Sonnenuhren. Der Schatten eines Stiftes fällt
auf eine Ebene und die Richtung, die er dabei einnimmt, läßt die Zeit
erkennen. Die Aufſtellung der Sonnenuhren iſt ſehr verſchieden. Der
Stift muß freilich immer dieſelbe Richtung haben, nämlich diejenige
der Weltachſe, er wird alſo bei uns in Deutſchland einen Winkel von
50 Grad mit der wagerechten Linie, die nach Norden weiſt, bilden müſſen;
aber die Ebene, auf die der Schatten fällt, kann die wagerechte oder
die ſenkrechte, ja jede ſchräge Richtung haben. Man wird ſich nur
nach dieſer Stellung immer eine beſondere Bezifferung herſtellen müſſen.
Die Gnomone und die Sonnenuhren haben zwei in die Augen fallende
Nachteile. Zuvörderſt iſt ja die Sonne kein recht verläßlicher Geſell-
ſchafter des Menſchen. Abgeſehen davon, daß wir ihrer in der Nacht
ganz entraten müſſen, verſteckt ſie ſich ſelbſt am Tage oft genug hinter
Wolken, und mit ihr verſchwinden die zeitmeſſenden Schatten. Sodann
[35]Die erſten Zeitmeſſungen.
aber iſt ihr Weg nicht ſo ganz regelmäßig, daß man danach die Zeit
leicht und genau beſtimmen kann. Wenn wir vorhin ſagten, daß von
einer größten Höhe der Sonne bis zur andern immer dieſelbe Zeit
verfließt, ſo müſſen wir das jetzt doch etwas abändern. Die größte
Höhe wird nämlich von der Sonne am 12. Februar um 15 Minuten
zu ſpät, am 18. November um 16 Minuten zu früh erreicht, und um
ſoviel kann man ſich alſo irren, wenn man glaubt, daß die Sonne
ganz gleichmäßig ihre Bahn am Himmel ziehe. Nun kommt noch
hinzu, daß man den Ort des Schattens auch nicht ſo genau beſtimmen
kann, um nicht noch einen Irrtum von einigen Minuten zu begehen,
und wir erkennen, daß man, um einen genauen Zeitmeßapparat zu
erhalten, auf die Beihilfe der Sonne verzichten mußte.


Sanduhren ſind die nächſten geweſen, die ſich darboten. Zwei
Gefäße ſtehen über einander und ſind durch eine enge Öffnung ver-
bunden. Man kann nun in das eine Gefäß gerade ſo viel Sand thun,
als in einer beſtimmten Spanne Zeit in das untere Gefäß ablaufen
kann. Man benutzt ſolche, die in wenigen Sekunden bereits, und
andere, die erſt innerhalb einer Stunde ablaufen. Man kennt ihren
Gebrauch in den Küchen, wo ſie die Zeit, welche zum Eierkochen
benötigt wird, anzeigen. Aber ſo unvollkommen ſie erſcheinen, haben
ſie noch im 17. Jahrhundert bei aſtronomiſchen Beobachtungen ihre
Dienſte gethan, und wenn man heute die Fahrgeſchwindigkeit der Schiffe
auf offener See feſtſtellen will, ſo geſchieht das auch gewöhnlich mit
Benutzung einer Sanduhr, die gerade in 14 reſp. in 28 Sekunden
ihren Sand ausſchüttet. Statt des Sandes kann man nun auch eine
Flüſſigkeit benutzen, die ſo gemeſſen iſt, daß ſie gerade in einer beſtimmten
Zeit ausfließt. Waſſer bot ſich als das einfachſte Mittel dar, aber
der bekannte Himmelsforſcher Tycho de Brahe hat ſich eine Queckſilberuhr
gebaut, weil dieſes Metall die Glaswände nicht benetzt und alſo
genauere Reſultate giebt. Er hat mit dieſer Uhr ſeine in der damaligen
Zeit unübertroffenen Beobachtungen angeſtellt. Schon vor zwei und
einem halben Jahrtauſend ſind Waſſeruhren bei den Aſſyrern in Gebrauch
geweſen, ſie ſind von dieſen auf die Griechen und Römer überkommen.
Viele Verbeſſerungen wurden angebracht und mit Hülfe des abfließenden
Waſſers ließ man Räderwerke treiben, ſo daß man bis zu ganz ver-
wickelten Kunſtuhren aufſtieg, wie der Kalif Harun al Raſchid eine
Karl dem Großen zum Geſchenke machte.


Die Pendeluhren.


Der Wunſch, immer kleinere Zeitteile recht genau feſtzuhalten, der
ſich beſonders lebhaft für die Himmelsbeobachtungen kundgab, ließ ſich
freilich auch mit Waſſeruhren nicht erfüllen. Sie müſſen außerdem
wohl zu teuer geweſen ſein, als daß ſie in den Haushaltungen überall
hätten Aufnahme finden können. Wir können uns heutzutage kaum
3*
[36]Erfindung der Zeitmeßapparate.
mehr einen ſolchen Kulturzuſtand ausmalen. Wir haben Uhren aller-
wege, im Zimmer, auf der Straße, in der Taſche und können ſo überall
und immer die vorbeſtimmte Zeit inne halten. Wie muß es zu jener
Zeit der Waſſeruhren wohl um die Pünktlichkeit beſtellt geweſen ſein!
Kaum anders wurde es durch die Erfindung verwickelter Räderwerke,
die durch Gewichte getrieben wurden, und wie ſie ſich im Laufe des
Mittelalters hier und dort einführten. Der Kaiſer Friedrich II erhielt
vom Sultan Saladin eine ſolche zum Geſchenke. Wir finden ſie auch
in Klöſtern und die erſten Turmuhren ſind auch fünf Jahrhunderte alt.
Es fehlte allen ein Mittel, die kleinſten Zeitteile, etwa von der Länge
einer Sekunde genau feſtzuhalten. Dieſes Mittel hat uns erſt Galilei
in dem Pendel gegeben. Galileo Galilei, geb. 1564 zu Piſa, geſt.
1642 zu Arcetri bei Florenz, iſt unſtreitig der bedeutendſte Phyſiker
aller Zeiten und einer der größten Erfinder, den der Erdball getragen
hat. Auf die Geſetze des Pendels ſoll er allerdings durch eine zufällige
Beobachtung geführt worden ſein. Als er einmal im Dome zu Piſa
weilte, ſoll dort eine Ampel in Schwingungen geraten ſein. Während
aber die Weite dieſer Schwingungen fortwährend abnahm, bemerkte
Galilei, daß die Zeit, welche die Ampel für eine Hin- und Herbewegung
benötigte, ſich nicht merklich änderte. Er ſchloß alſo


1. daß die Schwingungszeit der Ampel, alſo irgend eines auf-
gehängten und aus dem Gleichgewichte gebrachten Körpers ganz
unabhängig davon iſt, wie weit man denſelben aus ſeiner Ruhelage
entfernt.


Ganz richtig iſt nun dieſer Satz freilich nicht, aber doch ſehr nahe
an der Wahrheit. Wenn die Schwingungsweite nicht ſehr groß iſt, ſo
darf man ſehr genähert annehmen, daß die Schwingungszeit ſich mit
noch größerer Abnahme der Weite nicht verändert. Nur wo es auf die
allerhöchſte Genauigkeit ankommt, bei aſtronomiſchen Zeitbeſtimmungen,
wird auch den Veränderungen der Schwingweite Rechnung getragen
werden müſſen. Wie Galilei nun im Studierzimmer die Eigentümlichkeiten
eines ſchwingenden Pendels, d. h. einfach einer an einem Faden auf-
gehängten Kugel weiter verfolgte, fand er noch die folgenden bemerkens-
werten Geſetze:


2. Es iſt ganz gleichgültig, aus welchem Stoffe der pendelnde
Körper beſteht und wie ſchwer er iſt; immer braucht er dieſelbe Zeit
für eine Schwingung, wenn nur ſeine Entfernung vom Aufhängepunkte
oder die Pendellänge unverändert bleibt;


3. Wenn aber zwei Pendel verſchiedene Länge haben, ſo braucht
das längere mehr Zeit für eine Schwingung als das kürzere.


Jeder kann ſich durch ſehr einfache Verſuche von der Richtigkeit
dieſer Sätze überzeugen. Sie waren ganz neu, niemand hatte vorher
daran gedacht, die Schwingungszeiten der Pendel zu ſtudieren. Aber
Galilei war auch der Mann, ſeine Entdeckung praktiſch zu verwerten.
Er erkannte, daß beſonders die Eigenſchaft (1) das Pendel zum
[37]Die Pendeluhren.
Regulieren des Uhrgangs in hervorragender Weiſe geeignet machen
mußte, aber er ließ erſt kurz vor ſeinem Tode von Balcetri die erſte
Pendeluhr konſtruieren. Das ſcheint wenig bekannt geworden zu ſein,
denn man hält gewöhnlich den Holländer Huyghens, gleichfalls einen
ſehr hervorragenden naturwiſſenſchaftlichen Forſcher, für den Erfinder
der Pendeluhr, obgleich dieſer erſt 15 Jahre nach Galilei die ſeinige
konſtruierte. Die Verbindung des Pendels mit der Uhr iſt bis zum
heutigen Tage nur wenig verändert worden. Wir können uns alſo
darauf beſchränken, eine ſolche Einrichtung zu beſchreiben.


Figure 27. Fig. 27.

Pendeluhr von vorn geſehen.


Figure 28. Fig. 28.

Pendeluhr von der Seite geſehen.


Fig. 27 zeigt die Einrichtung
einer Pendeluhr von vorn, Fig. 28
von der Seite geſehen. Was das
Werk in fortwährendem Gange erhält, iſt das Gewicht A,
welches mit einer Schnur um die Walze B gewunden iſt.
Da es durch die Schwerkraft zum Fallen gezwungen iſt, ſo würde es in
kurzer Zeit ablaufen und die Walze ungleichmäßig umdrehen, wenn
ſeine Bewegung nicht in kurzen Pauſen gehemmt würde. Das ge-
ſchieht durch die Hemmung N. Dieſelbe vermag mit ihren Anker-
zähnen oder Paletten ſich dem Hemmungsrade M in die Zähne zu
werfen und ſo den Stillſtand desſelben zu bewirken. Das Hemmungs-
rad iſt aber mit der Walze auf die folgende Weiſe verbunden. An
dieſer iſt das Walzenrad C ſo befeſtigt, daß es die Drehung der
Walze unmittelbar mitmacht. Nun greifen die Zähne des Rades C in
den an der Achſe des Rades E angebrachten Trieb D ein. Die Zähne
von E wirken wiederum auf den Trieb F des Rades G, dieſes greift
[38]Erfindung der Zeitmeßapparate.
in den Trieb H des Minutenrades K ein und die Zähne des Rades K
ſchließlich erfaſſen den Trieb L des Hemmungsrades M. Wird alſo die
Umdrehung eines einzigen dieſer Teile verhindert, ſo muß zu gleicher
Zeit das ganze Werk ſtille ſtehen. Nun müſſen aber die Hemmungen
in gleichmäßiger Folge geſchehen, wenn anders der Gang der Uhr ſich
regelmäßig vollziehen ſoll. Die Hemmung muß reguliert werden, und
das geſchieht durch ihre Verbindung mit dem Pendel U. Wir erkennen,
daß der Anker N ſich um eine Achſe O drehen läßt, an welcher außerdem
noch die Gabel S T befeſtigt iſt. Dieſelbe iſt bei T ſo in zwei Teile
geſpalten, daß das Pendel U ſie bei ſeiner Bewegung mit ſich führen
muß und dabei einmal beim Hingang und einmal beim Hergang einen
Stoß durch Vermittelung der Gabeläſte bei T erhält. Wohl bemerkt,
das Pendel iſt durchaus ſonſt in keiner Verbindung mit den Teilen
des Uhrwerks, es würde ungeſtört hin und hergehen, wenn es nicht
die Gabel mit ſich nehmen müßte und damit auch den Anker, der ja
an derſelben befeſtigt iſt. Das Pendel hängt bei guten Uhren an einem
elaſtiſchen Bande aus Stahl, dem Stück einer Uhrfeder, an einer ent-
ſprechenden Stelle des Uhrgehäuſes herab oder wie in der Fig. 28 auch
an zwei ſolchen Federn. Nun haben wir aber gehört, daß das Pendel
für eine Schwingung immer derſelben Zeit bedarf, und daß dieſe auch
von der Schwingungsweite in ſehr geringem Grade abhängig iſt.
Setzen wir nun z. B. den Fall, wir hätten in der Uhr ein Sekunden-
pendel, d. h. eines, deſſen Länge ſo abgepaßt iſt, daß es gerade im
Verlauf einer Sekunde einen Hingang oder einen Hergang vollendet,
ſo wird am Anfang einer ſolchen Schwingung etwa die Hemmung mit
ihrer rechten Palette in das Hemmungsrad eingreifen; da dieſes durch
das Ablaufen des Gewichtes eine geringe Bewegung hat, ſo muß jetzt
das Peudel einen ſchwachen Stoß erhalten. Es würde freilich auch
ſonſt, aus ſeiner Ruhelage gebracht, eine Schwingung vollführen, aber
dieſer Stoß am Anfange jeder Schwingung trägt dazu bei, das Pendel
in ſeiner Bewegung zu erhalten, die es ſonſt bei dem Hindernis, das
ſeine Bewegung im Widerſtande der Luft findet, nicht lange würde
beibehalten können. Schwingt aber jetzt das Pendel nach rechts, ſo
giebt die rechte Palette den Zahn des Hemmungsrades frei. Dasſelbe
hatte aber gerade nur Zeit, ſich um einen Zahn vorwärts zu bewegen,
dann fällt ihm die linke Palette wieder in die Zähne und hemmt ſeine
weitere Bewegung. Zugleich empfängt ſie aber wieder jenen ſchwachen
Antrieb, den ſie durch Vermittelung der Gabel an das Pendel über-
trägt. So geht die Sache weiter, ſo lange überhaupt das Hemmungsrad
bewegt wird, d. h. ſo lange, bis das Gewicht abgelaufen iſt. Hat
dieſes Rad gerade 60 Zähne, ſo wird es ſich gerade im Verlaufe einer
Minute einmal um ſeine Achſe drehen und einen mit ſeiner Achſe ver-
bundenen Zeiger ebenfalls. Dieſer wird innerhalb der Minute ſechzig
mal ſeinen Ort wechſeln, er wird uns alſo Sekunden zeigen. Das
Rad K, welches ſich in einer Stunde einmal umdrehen, alſo durch
[39]Die Pendeluhren.
einen mit ihm verbundenen Zeiger Minuten weiſen ſoll, muß dann ſo
eingerichtet ſein, daß es ſich ſechzig mal langſamer als das Hemmungsrad
bewegt. Hat der Trieb L dieſes Rades fünf Zähne, ſo wird das
Rad K deren dreihundert haben müſſen. Der Stundenzeiger ſoll ſich
noch ſechzig mal langſamer bewegen; er wird alſo an einem Rade
angebracht ſein, das ſechzig mal ſoviel Zeit für eine Umdrehung braucht
als das Minutenrad. Wenn es bei unſeren Uhren ſo ſcheint, als ob
beide Zeiger ſich um dieſelbe Achſe bewegen, ſo liegt das einfach daran,
daß hier zwei Radachſen in einander ſtecken, die eben jene beiden Zeiger
tragen, während die beiden auf dieſen Achſen ſitzenden Räder keine
unmittelbare Verbindung haben.


Iſt das Gewicht ſtark geſunken, ſo muß die Uhr aufgezogen werden,
d. h. das Gewicht muß wieder genügend gehoben werden. Aber bei
der Verbindung aller Uhrteile ſollten wir erwarten, daß wenn die
Walze zu dieſem Zwecke bei α gedreht wird, alle Teile die rückläufige
Bewegung machen und ſo die Zeiger ſehr ſchnell rückwärts auf eine
ganz falſche Zeit ſich ſtellen müßten. Das muß vermieden werden,
und man bedient ſich dazu des Gegen-
geſperres, welches noch außerdem be-
wirkt, daß auch während des Aufziehens
die Uhr regelmäßig weiter geht. Da
dasſelbe ganz ähnlich auch in Taſchen-
uhren verwendet wird, ſo geben wir
durch Fig. 29 eine Vorſtellung davon.
In ihr bedeuten G das Walzenrad,
B1 die Walze, A und B zwei Räder,
die loſe auf der Walze ſitzen, die ſoge-
nannten Sperrräder. Die Zähne des
einen B ſind durch den Haken r T am
Weitergehen verhindert, welcher in T
am Uhrgehäuſe feſtſitzt. Die Zähne des
andern ſind entgegengeſetzt gerichtet, und
der Haken R läßt ſie nicht weiterrücken.
Dieſer iſt an B befeſtigt. Das Rad B
ſchließlich iſt mit dem Walzenrade durch

Figure 29. Fig. 29.

Gegengeſperre.


eine elaſtiſche Feder s s'; verbunden. So lange das Gewicht noch ab-
laufen kann, wird dieſe Feder immer durch den Zug des Gewichtes ſo
weit geſpannt, bis Gleichgewicht eintritt. Während aber das Gewicht
aufgewunden wird, ſpannt ſich die Feder in der anderen Richtung und
wirkt alſo in demſelben Sinne wie das aufgezogene Gewicht; ſie hält
alſo die Uhr während der kurzen Zeit, die das Aufziehen erfordert,
regelmäßig genug im Gange.


So oder ganz ähnlich haben wohl bereits die erſten Pendeluhren
ausgeſehen, die vor mehr als zwei Jahrhunderten gebaut wurden.
Von den Veränderungen, die ſeitdem angebracht worden ſind, wollen
[40]Erfindung der Zeitmeßapparate.
wir nur zwei erwähnen. Die eine betrifft das Pendel. Wir erfuhren,
daß dieſes immer eine beſtimmte Schwingungszeit beſitze, daß dieſe
aber für kürzere Pendel auch kürzer ſei. Will man z. B. eine Uhr
haben, welche halbe Sekunden ſchlägt, ſo muß man ein Pendel von
¼ m Länge haben, während das Sekundenpendel etwa 1 m lang iſt.
Es iſt nun bei den verſchiedenen Zwecken, denen die Uhr dienen ſoll,
bei der Verſchiedenheit des Raumes, den man ihnen anweiſen kann,
zwar die Länge des Pendels eine ſehr mannigfaltige und alle ſind an
ihrem Platze brauchbar, aber behält denn das Pendel wirklich überall
und immer die Länge bei, die man ihm gegeben hat? Wir erfuhren
doch bereits im vorigen Kapitel, daß die Wärme die Ausdehnung der
Körper ſehr weſentlich verändert, alſo müſſen wir ſchon hieraus ſchließen,
daß die Pendellänge bei bedeutender Wärme größer ſein wird, als
wenn es kalt iſt. Im Sommer werden ſich die Pendel verlängern,
im Winter verkürzen. Freilich, wo es auf keine ſo große Genauigkeit
ankommt, wie im gewöhnlichen Berufsleben, wo man nur den Gang
der Uhr bis auf eine Minute am Tage ſicher feſthalten möchte, da
wird man dieſe Längenänderung nicht zu berückſichtigen nötig haben.
Aber wo es auf große Genauigkeit ankommt, wo man — wie bei den
aſtronomiſchen Uhren — den Gang bis auf Bruchteile der Sekunde
ſichern muß, da wird man auch dieſer Eigentümlichkeit Rechnung tragen
müſſen. Das kann auf zweierlei Weiſen geſchehen. Entweder man
ſtellt die Uhr an einem Orte auf, an dem die Temperatur nur höchſtens
ganz ſchwache Änderungen erfährt. So ſind in der That die Haupt-
uhren der Sternwarten in Kellern aufgeſtellt, wo ſich die Temperatur
etwa innerhalb eines Grades konſtant erhält. Oder man ſorgt dafür,
daß dieſe Längenänderung des Pendels irgendwie wieder aufgehoben
wird. Man wird bei der Verfolgung dieſes Gedankens in höchſt glück-
licher Weiſe von der Natur unterſtützt. Die verſchiedenen Körper dehnen
ſich nämlich bei Erhöhung ihrer Temperatur keineswegs in gleichem
Maße aus, ſondern einmal ſind die flüſſigen Körper einer weit be-
trächtlicheren Ausdehnung fähig als die ſtarren, und dann ſind ſelbſt
die ſtarren Körper unter ſich noch recht verſchieden an Ausdehnbarkeit.
Man kann alſo z. B. ſehr leicht die Wirkungen der Wärme aufheben,
wenn man etwa die Pendelſtange von Eiſen macht, als pendelnden
ſchweren Körper aber ein Glasgefäß mit Queckſilber wählt, und beide
gegen einander ſo abpaßt, daß während die Stange ſich ausdehnt,
der Queckſilberſpiegel ſich gerade ſo hoch hebt, daß die wirkſame Länge
des Pendels ungeändert bleibt. Man erhält ſo die Queckſilberkompen-
ſation. Aber dieſe hat Nachteile, und zwar vor allem den, daß der
Pendelkörper für dieſen Zweck eine Geſtalt erhält, die ihn im Hinblick
auf andere Zwecke ungeeignet erſcheinen läßt. Zur leichteren Über-
windung des Luftwiderſtandes iſt es nämlich am vorteilhafteſten, jenem
die Geſtalt einer Linſe zu geben. Das kann bei dem Queckſilbergefäß
nicht geſchehen. Verfertigt man die Linſe aus einem ſtarren Metall,
[41]Die Pendeluhren.
ſo wird es darauf ankommen, ſchon die Pendelſtange ſo einzurichten,
daß die Linſe immer in derſelben Entfernung vom Aufhängepunkt bleibt.
Das geſchieht nun leicht durch Konſtruktion eines
Roſtpendels (vgl. Fig. 30). Es bedeuten f und a a
drei Eiſenſtangen, d d zwei ſolche von Zink. Die
Eiſenſtange f geht frei durch den Querbalken b b
hindurch, trägt aber am unteren Ende die Quer-
ſtange e e, die Zinkſtangen ſind an beiden Quer-
balken befeſtigt, während a a durch den Balken e e
frei hindurchgehen und erſt bei c c eine Querſtange
zum Feſthalten der Pendellinſe L tragen. Würden
bei der Erwärmung nur die Eiſenſtangen ausge-
dehnt, ſo müßte die Linſe ſich ſenken, nähmen nur
die Zinkſtangen an der Ausdehnung teil, ſo müßte
ſie ſich heben. Da ſich das Zink nun beträchtlicher
ausdehnt als das Eiſen, ſo iſt leicht zu erkennen,
daß man die Länge der verſchiedenen Stangen ſo
abpaſſen kann, daß bei der Erwärmung die Pendel-
linſe ſich weder hebt noch ſenkt.


Eine andere Änderung, die man an den
Pendeluhren angebracht hat, iſt die vollſtändige
Erſetzung des treibenden Gewichtes durch eine ge-
ſpannte Feder, d. h. durch ein langes, höchſt
elaſtiſches, ſpiralförmig gewundenes Stahlblatt.
Wickelt man ein Stahlband zu einer Spirale (vgl.
Fig. 31) auf, ſo wird dieſe, wenn ihre natürliche
Elaſtizität kein Hindernis findet, ſich allmählich
wieder ausbreiten und ſtrecken, da alle Stahl-
teilchen, die ſie zuſammenſetzen, dahin ſtreben, die
urſprüngliche Lage wieder anzunehmen, genau wie
ein Gummiball ſein erſtes Ausſehen beim Auf-
hören des Druckes wieder annimmt, der ihn zeit-
weiſe umgeſtaltete. Was würde nun wohl ge-
ſchehen, wenn die Stahlfeder nicht vollkommen frei
wäre? Wickeln wir ſie derart zu einer Spirale, daß
wir ihr äußeres Ende feſt machen, indem wir es an
einem feſten Punkt annageln und nageln wir auch
das innere Ende an einen Metallcylinder an, ſo
wird die elaſtiſche Kraft der Feder den Cylinder
zur Umdrehung um ſich ſelbſt zwingen, bis die
Spirale ſich wieder ſoweit geſtreckt haben wird als
es mit ihrer Länge und der Entfernung, die wir
ihren beiden Enden anweiſen, verträglich iſt. Wir
erkennen ſofort, daß bei dem geringen Raum, den
die Feder einnimmt, im Verhältnis zu dem langen

Figure 30. Fig. 30.

Roſtpende[l]


[42]Erſindung der Zeitmeßapparate.

Figure 31. Fig. 31.

Spirale mit Schnecke.


Wege, den die Gewichte zurückzulegen haben, ſehr viel an Platz geſpart
wird. Man tauſcht dagegen gewiſſe andere Unannehmlichkeiten ein und
wir können in der Einführung der Feder eine Verbeſſerung nicht erblicken.
Wir haben ſie erwähnt, weil die Taſchenuhren, welche auf dieſe Raum-
erſparnis angewieſen ſind, auch den Gebrauch der Triebfeder verlangen.
Wir wenden uns der Erfindung dieſer zu.


Die Taſchenuhren.


Die tragbaren Uhren waren ſicher ſchon in der Mitte des 14. Jahr-
hunderts bekannt, wenn ſie auch noch ſelten und ſehr teuer waren.
Man weiß nicht, wo und von wem ſie erfunden wurden. Aber es
heißt, daß eine in Deutſchland gebaute, welche kaum die Größe einer
Walnuß hatte, im Jahre 1380 dem Könige Karl V. von Frankreich
zum Geſchenk gemacht wurde. Allgemein wurde der Gebrauch dieſer
Uhren erſt im Laufe des 16. Jahrhunderts. Man nannte ſie da-
mals häufig Nürnberger Eier, wegen ihrer Form und wegen des
Ortes, wo ſie zuerſt allgemeiner verfertigt wurden. Als ihr Erfinder
galt — wahrſcheinlich mit Unrecht — der Nürnberger Peter Henlein
(Hele), der um 1500 lebte. Bald wußte man ſie ſo ausgezeichnet
klein zu machen, daß der Vicentiner Capobianco eine ſolche in den
Ring des Großtürken zu faſſen wußte, und eine andere ebenſo kleine
dem Herzog von Urbino zum Geſchenke machte. Dieſe letztere zeigte
ſogar die zwölf Zeichen des Tierkreiſes und eine Figur, die den Lauf
der Zeiten angab.


Die Taſchenuhren müſſen die Zeit anzeigen ſowohl wenn die Uhr
ſenkrecht gehalten wird, wie wenn ſie in mehr oder weniger geneigter,
ja ſelbſt wenn ſie in wagerechter Stellung ſich befindet. Hieraus
folgt ſchon, daß das Gewicht und das Pendel, die beſten Mittel, um
feſt aufgeſtellte Uhren in Gang zu halten, für die Taſchenuhren völlig
ungeeignet ſind. Sie erhalten ihre Bewegung durch die Elaſtizität der
Triebfeder. Dieſe ſetzt, wie oben beſchrieben wurde, einen Cylinder in
Umdrehung, und wie ſich dieſe auf die übrigen Teile der Uhren und
ſchließlich auch auf die Zeiger überträgt, das erſehen wir nun aus der
Figur 32.


[43]Die Taſchenuhren.
Figure 32. Fig. 32.

Einrichtung einer Taſchenuhr.


In ihr bedeutet A die Triebfeder, deren eines Ende bei u' am
Gehäuſe befeſtigt iſt, während das andere Ende an dem Wellbaum B
feſt iſt. Zu der ganzen Abbildung iſt zu bemerken, daß die einzelnen
Teile, um einen beſſeren Einblick in das Innere zu geſtatten, zu weit
aus einander gerückt ſind. Die Bewegung pflanzt ſich, wie wir erkennen,
durch das Räderwerk bis zu dem Hemmungs- oder Steigrade M
fort. Damit die Spirale nicht ſofort, nachdem ſie geſpannt wurde,
wieder plötzlich ablaufe, muß — ganz wie bei den Pendeluhren — an
dieſer Stelle ein fortwährender Stillſtand der Bewegung ſtattfinden.
Derſelbe muß auch wieder in durchaus gleichmäßigen Pauſen ge-
ſchehen, wenn anders die Uhrzeiger in gleichförmigem Schritte bleiben
ſollen. Da der Gebrauch des Pendels hier ausgeſchloſſen iſt, ſo mußte
man zum Regulieren des Uhrganges ein anderes Mittel anwenden,
und man erſann die Unruhe oder den Balancier N O, welcher genau
die Vorteile des Pendels in ſich vereinigt. Er iſt aus zwei Teilen
zuſammengeſetzt, nämlich einem Rade N, das ſich um eine Achſe ſehr
leicht drehen läßt und einer ſehr feinen Spiralfeder aus Stahl, einer
viel zarteren, als diejenige bei A, die man als Triebwerk benutzt.
Dieſe Stahlfeder iſt nun an dem einen Ende wieder mit den feſten
Teilen der Uhr in Verbindung, mit dem andern aber an der Achſe
des Unruherades befeſtigt. Wenn man alſo dieſes dreht und damit
die Feder ſpannt, ſo wird ſie vermöge ihrer Elaſtizität die Unruhe in
die Gleichgewichtslage zurückführen, aber — wie das Pendel, aus
ſeiner Ruhelage gebracht, nicht blos in dieſe zurückkehrt, ſondern durch
die erlangte Bewegung noch über dieſelbe hinausgeführt wird, — ſo wird
auch der Balancier ſich nach der andern Seite von der Gleichgewichts-
lage entfernen und ſo lange hin und herſchwingen, bis der Widerſtand
der Luft und die Reibung an den Lagern ſeiner Achſe ihn zur Ruhe
bringen. Die Unruhe gleicht ferner dem Pendel auch darin, daß die
[44]Erfindung der Zeitmeßapparate.
Zeit, welche eine Schwingung erfordert, dieſelbe bleibt, ob nun die
Spirale wenig oder weit aus ihrer Ruhelage entfernt wurde. Freilich
iſt dazu erforderlich, daß die Spirale gerade eine ganz beſtimmte Länge
habe, eine Länge, die ſich indeſſen durch eine Anzahl von Verſuchen
leicht finden läßt. Ferner würde ſich allerdings dieſe Schwingungszeit
verändern, wenn die Größe der Unruhe ſich änderte; wenn das Rad
der Unruhe ſich z. B. durch Verlängerung ſeiner Speichen weiter von
der Achſe entfernte, ſo würde die Zeit der Schwingungen verlangſamt
werden. Wir erkennen ſofort, daß alſo auch in den Gang der Taſchen-
uhren die Wärme als ſtörendes Element eingreifen wird, und wir
werden bald erfahren, wie man ſich von dieſem Übelſtande freimachen
kann. Schon jetzt aber dürfen wir die Spirale — wenigſtens innerhalb
gewiſſer Grenzen — als durchaus geeignet anſehen, den Uhrgang zu
regeln, wenn ſie ſich mit einer Hemmung verbindet. Die fortſchreitende
Technik der Taſchenuhren hat ſehr verſchiedene Arten von Hemmungen
gezeugt; die am meiſten verwendeten waren und ſind noch heute die
Spindel-, Cylinder- und Ankerhemmung, nach denen man auch die
Uhren als Spindel-, Cylinder- und Ankeruhren bezeichnet. Wir er-
wähnen die erſtere ſchon, weil ſie als die älteſte eine Betrachtung verdient.
Freilich iſt ſie immer mehr im Verſchwinden, aber noch im Jahre 1869
wurden allein im Kanton Bern in der Schweiz 300000 Uhren mit
Spindelhemmung konſtruiert.


Die Spindelhemmung iſt in Fig. 33 zweimal abgebildet, oben
erblicken wir das Steigrad in ſenkrechter, unten in wagerechter Stellung.

Figure 33. Fig. 33.

Die Spindelhemmung.


C C iſt die Achſe des Balanciers A.
Wir erblicken an derſelben zwei Flügel E
und F, die nach verſchiedenen Seiten ge-
richtet ſind, ſo daß ſie um einen ſtumpfen
Winkel gegen einander geneigt ſind. Bei
den Hin- und Herſchwingungen der Un-
ruhe greifen dieſe Lappen abwechſelnd
in die Zähne des Steigrades ein und
hemmen ſo ſeine Bewegung. Iſt die
Uhr im Gange, ſo läuft das Steigrad
in der Richtung, die der Pfeil anzeigt,
und der Flügel F wirft ſich dem Zahn a
entgegen. Der Stoß, den der Lappen
dabei empfängt, trägt dabei [zur] Auf-
rechterhaltung der Bewegung der Un-
ruhe bei. Aber bei dem weiteren Schwunge
dieſer wird bald der Zahn b vom Lappen E
getroffen werden, und dadurch wird das ganze Steigrad ein wenig zurück-
gedreht werden, ſo weit, als es die ſchwache Kraft der Unruheſpirale
eben vermag. Dann wird der Flügel E durch die vorwärts ſchreitende
Bewegung des Hemmungsrades wieder fort geſtoßen, bis ſich der
[45]Die Taſchenuhren.
Lappen F vor den Zahn m legt. Auch hier wird das Steigrad erſt
ein wenig zurückgedrängt, um gleich nachher den Lappen F fortzu-
ſtoßen, und ſo wiederholt ſich das Spiel der Flügel und des Steig-
rades [ſortgeſetzt], während dieſes immer um einen Zahn vorwärts kommt.
Das iſt die Spindelhemmung, die bis zum Jahre 1720 allein im
Gebrauche war. Was dieſelbe allmählich verdrängte, das waren
folgende Nachteile. Wenn die Zugkraft der Triebfeder ſich nur wenig
vermehrt, ſo werden offenbar die Schläge der Steigradzähne gegen die
Flügel ſchneller erfolgen und damit wird der Gang der Uhr ein
beſchleunigter werden. Nun iſt aber die Spannkraft der Feder keines-
wegs immer die gleiche. Nach dem Aufziehen iſt ſie am höchſten, dann
nimmt ſie allmählich ab und daher werden alle Bewegungen der Uhr
bald nach dem Aufziehen zu ſchnell, kurz vor dem Ablaufen aber zu
langſam erfolgen. Um dieſem Übelſtande abzuhelfen bediente man ſich
in den Spindeluhren — wie noch heute bei den für die Zwecke einer
genauen Zeitmeſſung beſtimmten Uhren, den Chronometern — des in
der Fig. 31 dargeſtellten Apparates. Die Triebfeder A ſitzt in einer
Trommel, das innere Ende bleibt, wie ſchon geſagt, am Cylinder
befeſtigt, während das äußere an der inneren Trommelfläche angelötet
iſt. An die äußere Fläche der letzteren aber legt ſich ein langes, ſehr
biegſames Stahlkettchen, deſſen eines Ende an die Trommel genagelt
iſt, während das andere am Grunde der Schnecke feſt ſitzt. Am
Umfange dieſer iſt eine ſpiralige Verkehlung angebracht, die — wie
wir nun ſehen werden — zur allmählichen Aufnahme der Kette dienen
ſoll. Um die Uhr aufzuziehen dreht man mittels eines Schlüſſels die
Schnecke herum, und dabei wickelt ſich die Kette von der Trommel
ab und auf die Schnecke. Bei dieſer Bewegung der Kette dreht ſich
natürlich auch die Trommel, und infolge deſſen windet ſich die Spirale
um den Cylinder in ihrer Mitte. Bald nachdem die Uhr aufgezogen
iſt, beginnt aber die Spirale ſich zu ſtrecken und bewirkt damit eine
Drehung der Trommel und damit auch der Schnecke in der entgegen-
geſetzten Richtung. Die Stahlkette wickelt ſich dabei wieder von der
Schnecke auf die Trommel herüber. Zuerſt, d. h. wenn die Spannung
der Spirale größer iſt, wirkt dieſelbe durch Vermittelung der Kette auf
die oberſten Schneckenwindungen. Dieſe aber hat den geringſten Durch-
meſſer und ſetzt daher der Spirale, die ſie umdrehen will, einen größeren
Widerſtand entgegen. Derſelbe nimmt allmählich ab in dem Maße,
als der Durchmeſſer der Auskehlung größer wird. Kurz vor dem
Ablaufen der Kette iſt zugleich die Spannkraft der Spirale und der
Widerſtand der Schnecke am geringſten geworden, weil jene ja auf den
größten Durchmeſſer der Schnecke wirkt, und da demnach die Kraft
mit dem Widerſtande, den ſie findet, gleichmäßig abnimmt, ſo wird ſie
durchaus gleichmäßig auf die Uhrteile wirken, indem das Zahnrad an der
Schnecke die Bewegung derſelben auf die übrigen Räder überträgt.
Durch dieſe höchſt geiſtreiche Verbindung von Schnecke und Trommel
[46]Erfindung der Zeitmeßapparate.
hat man alſo den Spindelgang gleichmäßig zu erhalten geſucht. Es
wirken freilich auch Änderungen in der Temperatur auf die Zugkraft
der Feder ein, und ſo wird die Gleichmäßigkeit der Uhrbewegung ſich
doch nicht genau aufrecht erhalten laſſen. Zudem waren Spindeluhren
auch oft reparaturbedürftig, weil z. B. durch die Schläge der Flügel
gegen das Steigrad der eine Zapfen desſelben das Lager, in dem er
läuft, ſehr ſchnell abnutzt.


Dieſe Gedanken mochten den Engländer Graham geleitet haben,
als er 1720 die Cylinderhemmung erſann. Wir erblicken in der Fig. 34

Figure 34. Fig. 34.

Die Cylinderhemmung.


das eigentümlich geſtaltete Steigrad — hier
Cylinderrad genannt — und links davon den
Cylinder. Dieſer ſtellt nichts als die verlängerte
Achſe der Unruhe vor, die indeſſen nicht voll,
ſondern in ihrem mittleren Teile ausgehöhlt und
noch außerdem auf beſondere Art zugeſchnitten
iſt, ſo daß in der Höhe, wo die Zähne des Steig-
rads ſtehen, die eine Hälfte der Wand, darunter
ſogar ein noch größerer Teil weggenommen iſt.
Wenn die Uhr aufgezogen iſt, ſo wird die Kraft
der geſpannten Feder ſich durch Vermittelung der
übrigen Räder auch dem Cylinderrade mitteilen, ſo daß es ſich in der
Richtung des Pfeiles drehen wird. Dieſe Drehung nun iſt es, welche
durch den Cylinder fortwährend gehemmt wird. Da dieſer mit der
Unruhe verbunden iſt, ſo ſchwingt er bald nach rechts, bald nach links.

Figure 35. Fig. 35.

Gang der Cylinderuhr.


Dabei bringt er in der
Stellung I das Steigrad
zur Ruhe, beim Vorwärts-
ſchwingen giebt er den ge-
fangenen Zahn a in der
Stellung II frei, ſo daß
er bei III an die innere
Wand des Cylinders an-
prallen muß, um ſchließlich
beim Rückwärtsſchwingen
des Balanciers in der
Stellung IV aus ſeiner
Zwangslage wieder be-
freit zu werden (vergl.
Fig. 35). Das Aufſchlagen
der Zähne auf die beiden
Cylinderflächen giebt zugleich dem Balancier jedesmal einen kleinen
Stoß, ſo daß derſelbe ſeine Schwingungen fortzuſetzen befähigt wird.
Der Nachteil der Cylinderhemmung iſt der, daß in den Ruhe-
lagen I und III ſich die Zähne zu ſehr am Cylinder reiben, wodurch
auch der Gang des Balanciers ſtark beeinflußt wird. Man muß
[47]Die Taſchenuhren.
alſo dieſe Reibung durch Einölen des Cylinders zu verringern ſuchen.
Aber das Öl behält leider ſeine Leichtflüſſigkeit nicht lange bei; dann
wird aber der Gang der Uhr ſich natürlich verlangſamen. Deshalb
bedürfen die Cylinderuhren einer häufigen Reinigung.


Dieſe Übelſtände werden durch die freien Hemmungen vermieden.
So nennt man ſie, weil ſie mit der Unruhe nicht in ſo feſter Verbindung
ſtehen, wie die Spindel- und die Cylinderhemmung. Sie drehen ſich
nicht um die Achſe der Unruhe, ſondern um eine eigene, die zwiſchen
dem Hemmungsrade und dem Balancier liegt. Die Hemmung liegt nur
auf Momente am Steigrade ſowohl, wie an der Unruhe an, und beide
Teile ſind alſo in ihrem Gange ſehr wenig von einander beeinflußt.
Wo es auf große Genauigkeit und Be-
ſtändigkeit im Uhrgang ankommt, wie bei
den Chronometern, iſt man auf eine ſolche
Hemmung geradezu angewieſen. So iſt u. a.
die Ankerhemmung beſchaffen. In der Fig. 36
bedeuten E, B und A reſp. die Unruhe,
den Anker und das Steigrad. Der Anker
ſetzt ſich nach oben in eine Gabel o o1 fort,
während die Unruhe noch den Hebeſtein h
trägt. Die Unruhe macht hier ſehr große
Schwingungen um die Gleichgewichtslage,
die eben erreicht iſt. Wir ſehen, daß in
dieſem Augenblicke der Hebeſtein zwiſchen
den beiden Fanghörnern o und o1 liegt.
Aber zugleich gleitet der Zahn e des Steig-
rades an der Fläche li des Ankers entlang
und erteilt ihm einen Stoß, der die Gabel
in die Lage B x1 verſetzt. In dieſer bleibt
der Anker liegen, ſperrt mit dem Zahn a1 b1

Figure 36. Fig. 36.

Die Ankerhemmung.


dem Steigrade den Weg ab und läßt zugleich den Balancier frei,
nachdem er ihm noch mit dem Horn o einen Antrieb verſetzt hat,
der zur Erhaltung ſeiner Bewegung beiträgt. Erſt wenn derſelbe
wieder umkehrt und der Hebeſtein gegen das Horn o ſtößt, wird
das Steigrad befreit, der Zahn e2 wird an der Fläche b1 c1 des
Ankers entlang gleiten und dabei dieſem einen Stoß verſetzen,
der die Gabel in die Lage B x verſetzt. Dieſer Stoß teilt ſich auch
durch den Hebeſtein der Unruhe mit, und ſo wird dieſe in der ange-
deuteten Richtung ein Stück weiter ſchwingen. Inzwiſchen hemmt der
rechte Arm des Ankers die Fortbewegung des Steigrades, bis der
Balancier wieder umkehrt. Dieſe Hemmung iſt als eine ſehr voll-
kommene anzuſehen, weil die Reibung an den Flächen b c und b1 c1 des
Ankers nur ſehr kurze Zeit andauert und die Stöße gegen den Balancier
auch faſt plötzlich erfolgen. So würde ſich die Einrichtung auch für
die Chronometer eignen. Doch zieht man hier gewöhnlich eine andere
[48]Erfindung der Zeitmeßapparate.
freie Hemmung vor, die gerade für die Zwecke ſolcher genauer In-
ſtrumente ausgedacht iſt.


Dieſe müſſen auch noch durch eine andere Vorſicht in ihrem Gange
geſichert ſein. Man braucht ſie vor allem für Reiſezwecke, bei denen
man ja der Pendeluhren vollſtändig entraten muß, und beſonders iſt
der Seefahrer auf ihre Benützung angewieſen. Sie ſollen ihm helfen,
die geographiſche Länge zu beſtimmen, in der er ſich gerade befindet.
Die Methode, nach der man dies vermag, iſt im Jahre 1530 kurz nach
Erfindung der Taſchenuhren von Gemma Friſius angegeben worden.
Wenn zwei Orte auf der Erde eine verſchiedene geographiſche Länge
haben, ſo haben ſie bekanntlich auch einen Zeitunterſchied, und zwar
für jeden Grad Unterſchied in der Länge 4 Minuten Zeitdifferenz.
Wenn man dieſe letztere kennt, ſo iſt alſo auch der Längenunterſchied
leicht zu finden. Man kann nun mit Hilfe eines aſtronomiſchen
Inſtrumentes ſich leicht durch Beobachtung der Sonne oder eines Sternes
die Kenntnis der Zeit verſchaffen an dem Orte, an dem man ſich eben
befindet. Das Chronometer aber, mit dem man verſehen iſt, geht ja
noch nach der Zeit des Ortes, von dem man fortgefahren iſt; ſo hat
man alſo ſofort den Längenunterſchied zwiſchen dieſen beiden Orten.
Der Seemann wird es alſo ſeine höchſte Sorge ſein laſſen müſſen, ein
recht gleichmäßig gehendes Chronometer zu beſitzen. Aber wir hörten

Figure 37. Fig. 37.

Chronometerkompenſation.


bereits, daß ſchon der Wechſel der Wärme
das Rad der Unruhe vergrößern und ver-
kleinern und damit den Uhrgang langſamer
oder ſchneller machen kann. Man muß
alſo der Wärme wieder entgegenwirken.
Das geſchieht durch die ſogenannte Kom-
penſation der Unruhe. Wir ſehen das hier
verwendete Rad der Unruhe in der Fig. 37
abgebildet. Der Umkreis des Rades iſt an
zwei Stellen m und n durchbrochen und die
Brücke a a' dient dazu, die beiden Teile des
Umkreiſes zuſammenzuhalten. Dieſe Teile
ſind nun ihrerſeits jeder aus zwei Streifen
von verſchiedenen Metallen, etwa aus Stahl
und Meſſing zuſammengeſetzt, wobei das
Metall, das ſich ſtärker auszudehnen vermag, alſo hier das Meſſing,
außen zu liegen kommt. Da ſich bei dieſer Einrichtung das äußere
Metall nicht gehörig auszuſtrecken vermag, ſo wird es mit ſteigender
Wärme ſich ſtärker krümmen müſſen, und ſo werden ſich viele Teile des
Umkreiſes der Radachſe nähern, ſo daß die Ausdehnung des Rades durch
dieſe Nebenwirkung aufgehoben wird. Auf dieſem Prinzipe beruht auch
das Metallthermometer, welches auf S. 26 beſchrieben wurde.


Wir haben im Vorhergehenden eine Reihe von Einrichtungen
beſprochen, durch die man im Laufe der Jahre die Zeitmeßapparate
[49]Die Taſchenuhren.
zu einer hohen Vollkommenheit entwickelt hat. Es iſt ja bekannt, daß
man noch allerhand Apparate mit den Uhren in Verbindung ſetzen
kann, z. B. die Schlagwerke; dieſe können entweder von ſelbſt wirken,
wie es bei unſeren Wanduhren gewöhnlich der Fall iſt, oder ſie ſchlagen
auf einen Druck, den man von außen auf das Werk ausübt. Dieſer Fall
liegt bei den bereits 1676 von Barlow erfundenen Repetieruhren vor.
Die Geſichtspunkte, welche bei der Erfindung der ſogenannten Remontoir-
uhren leiteten, d. h. bei denjenigen, die man ohne beſondere Schlüſſel
am Bügel aufzieht, waren außer der Bequemlichkeit wohl noch der
Umſtand, daß eine Uhr, die man nicht zu öffnen braucht, auch dauer-
hafter iſt. Es giebt ſogar ſchon Uhren, die überhaupt nicht aufgezogen
zu werden brauchen, wenn man ſie nur unterwegs in der Taſche trägt.
Eine ſolche hat Löhr konſtruiert: ein kleiner Hammer ſchwingt, während
der Träger ſeinen Weg zurücklegt, in der Uhr hin und her und beſorgt
von ſelbſt das Aufziehen. Aber wir können nicht alle Neuerungen
und Nebenapparate aufzählen. Werke, die für genaue Meſſungen be-
ſtimmt ſind, muß man von ſolchen Nebenſachen möglichſt frei halten,
weil jede Verwickelung des Uhrwerkes Störungen in den gleichmäßigen
Gang hineinträgt. Auf die elektriſchen und die pneumatiſchen Uhren
werden wir ſpäter zu ſprechen kommen.


Die Uhrmacherei wird jetzt in vielen Ländern fabrikmäßig betrieben.
Um die einzelnen Teile herzuſtellen, ſind beſondere Maſchinen erſonnen
worden. Die Hauptſitze der Uhrmacherei ſind die Schweiz, Deutſch-
land, Frankreich und die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika.


Das Buch der Erfindungen 4
[[50]]

II. Die Beherrſchung der Naturkräfte.


1. Die Motoren.


Allgemeines.


Das Streben des Menſchen, die in dem Kampfe um das Daſein
zu verrichtende Arbeit nach Möglichkeit ſich zu erleichtern und von
ſich fern zu halten, iſt faſt ſo alt wie die Geſchichte des menſchlichen
Geſchlechtes ſelbſt.


Schon bei den auf der niedrigſten Stufe der Kultur ſtehenden
Völkern finden wir die Ausnützung der Tiere und der Sklaven für
den Transport, für die Beſtellung des Ackers und für anderweitige
notwendige Verrichtungen.


Mit zunehmender Geſittung und Bildung wandte ſich die er-
finderiſche Thätigkeit der Ausnützung der in der Natur aufgeſpeicherten
Kräfte zu. Es kamen zunächſt für eine lange Reihe von Jahrhunderten
nur die Kraft des bewegten Waſſers und des Windes in Betracht.
Noch heute finden die zur Ausnützung dieſer Naturkräfte erſonnenen
Motoren eine weite Anwendung, und wir werden uns mit der Be-
ſprechung derſelben ebenſo eingehend zu befaſſen haben, wie mit der
Beſchreibung der nach den neueſten Prinzipien konſtruierten Dampf-
maſchinen.


Hatte man in den älteſten Zeiten des menſchlichen Geſchlechtes
ſich der teueren Arbeitskräfte der niedrig Geſtellten oder der Tiere
bedient, ſo war man hierbei gezwungen, die Kräfte dieſer lebendigen
Motoren durch geeignete Pflege zu erhalten, um dieſelben thunlichſt
lange ausnützen zu können. Dieſe Rückſicht fiel bei den mit Hilfe des
Waſſers oder des Windes bewegten toten Motoren fort. Dafür aber
hatten dieſe wiederum verſchiedene ſchwer wiegende Nachteile.


Um zunächſt bei der bewegten Luft, dem Winde, zu verweilen, ſo
iſt dieſe Betriebskraft außerordentlich abhängig von Verhältniſſen, welche
ſich der Beeinfluſſung und Regelung ſeitens der Menſchen vollſtändig
[51]Allgemeines.
entziehen. Die Verwendbarkeit derſelben war daher von Haus aus
naturgemäß eine ſehr beſchränkte.


Bei weitem unabhängiger waren die durch die bewegten Waſſer-
maſſen der Flüſſe und Ströme angetriebenen Waſſermotoren. Jedoch
auch bei Anwendung dieſer war man an ganz beſtimmte örtliche
Verhältniſſe gebunden, indem man dieſelben nur an denjenigen Plätzen
errichten und betreiben konnte, wo Betriebswaſſer und Gefälle in hin-
reichendem Maße vorhanden war.


Mit dieſen Wind- und Waſſermotoren hat ſich trotz ihrer Unzu-
verläſſigkeit das menſchliche Geſchlecht Jahrtauſende lang beholfen.
Die Folge hiervon war, daß der induſtrielle Betrieb, ſofern derſelbe
auf eine größere, ſichere Kraftquelle angewieſen war, ſich an den Fluß-
läufen konzentrierte. Das Merkmal der Induſtrie des Zeitalters der
Wind- und Waſſermotoren iſt der Kleinbetrieb und die Hausinduſtrie.
Hierin ſchaffte die Erfindung der Dampfmaſchine bezw. die Vervoll-
kommnung derſelben, wie ſie durch James Watt in der zweiten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts mit durchgreifendem Erfolge ausgeführt
wurde, einen völligen Wandel herbei. Als dritte Kraftquelle trat nun-
mehr neben dem Winde und dem Waſſer die Wärme auf.


Die Wirkung der Erfindung der Dampfmaſchine erſtreckte ſich
zunächſt auf den Bergwerksbetrieb. Hier übernahm der geſpannte
Waſſerdampf alsbald erfolgreich die bis dahin mühſam durch Tiere
und Menſchen bewirkte Förderung der unterirdiſchen Schätze aus der
Nacht der Schächte zum Tageslicht. Das Waſſerrad, welches Jahr-
hunderte lang mit ſchwerfälliger Behäbigkeit die Entwäſſerung der
unterirdiſchen Gänge bewirkt und dieſe vor der Überflutung bewahrt
hatte, mußte nun der mächtigen unterirdiſchen Dampfpumpe weichen.


Alsbald eroberte ſich der Dampf auch die übrigen Zweige der
menſchlichen Thätigkeit, die Gewerbe wie das Verkehrsweſen in raſchem
Siegeslaufe. Der großen Allgemeinheit erſcheint der Einfluß der Ein-
führung der Dampfmaſchine am gewaltigſten und überzeugendſten auf
dem Gebiete des Verkehrsweſens, wo das Dampfroß in unauf-
haltſamem Siegeszuge eine völlige Umwälzung von Handel und
Wandel bewirkte. Weniger bekannt dürfte die Wirkung ſein, welche
die Ausnützung der Dampfkraft auf dem Gebiete der Gewerbe ge-
zeitigt hat; man kann dieſelbe kurz dahin zuſammenfaſſen, daß an
Stelle der zahlreichen kleinen Gewerbebetriebe und der Hausinduſtrie
alsbald ein Überwiegen der Großinduſtrie eintrat. Ja, eine große
Anzahl ehemals blühender Kleininduſtrien mußte angeſichts der die
Dampfmaſchine in ihre Dienſte nehmenden Großinduſtrie alsbald faſt
völlig vom Schauplatz ihrer Thätigkeit zurücktreten. Dieſer Kampf
zwiſchen Groß- und Kleininduſtrie, das Kennzeichen des bisher ver-
floſſenen Teiles des Zeitalters der Dampfmaſchine, dauert auch noch
heute in alter Heftigkeit fort. Zum Beweiſe deſſen mögen hier einige
wenige Zahlenangaben folgen.


4*
[52]Die Motoren.

In den Jahren 1875 und 1882 haben im Deutſchen Reiche
Gewerbezählungen ſtattgefunden, und wurde hierbei die Anzahl der
Gewerbebetriebe überhaupt, ſowie der Kleinbetriebe und der Großbetriebe
feſtgeſtellt und zwar wurde als Großbetrieb jeder Gewerbebetrieb an-
geſehen, welcher mit mehr als 5 Gehilfen arbeitete. Das Ergebniß
dieſer Zählungen war folgendes:

Betrachten wir uns vorſtehende Zahlen etwas näher, ſo fällt uns
hier ſofort die außerordentliche Zunahme des Großbetriebes (39,2 %)
gegenüber dem Kleinbetriebe (1,4 %) auf. Die gleichen Verhältniſſe
liegen natürlicher Weiſe auch bei den betreffenden Klaſſen der Gewerbe-
treibenden vor; hier ſtellt ſich die Zunahme der im Großbetriebe
beſchäftigten auf 17,5 %, während die Zahl der im Kleinbetriebe be-
ſchäftigten nur um 7,6 % wuchs. Im Laufe der Zeit wird ſich dieſer
Prozeß der Zurückdrängung der Kleininduſtrie durch die Großinduſtrie
immer mehr und mehr mit unwiderſtehlicher Gewalt vollziehen, eine
Folge der gewaltigen Umwälzung, welche die Einführung des geſpannten
Waſſerdampfes in die Zahl der treibenden oder motoriſchen Kräfte
mit ſich brachte.


Angeſichts dieſer Thatſache iſt es nicht ohne Intereſſe, kurz die-
jenigen Induſtriegebiete aufzuzählen, auf denen im Jahre 1882 ein
meiſt bedeutendes Überwiegen der Großinduſtrie konſtatiert wurde:


Es entfielen im Jahre 1882

Die Ausnutzung der Kraft des Windes und des bewegten Waſſers
war an beſtimmte meteorologiſche und lokale Bedingungen geknüpft;
[53]Allgemeines.
waren dieſe nicht erfüllt, ſo ſtand eine mechaniſche Leiſtung nicht zur
Verfügung. Wohl konnte man das Gefälle der Flüſſe anſtauen und
aufſpeichern, wohl konnte man das Windrad auf beſonders dem Wind-
ſtrome ausgeſetzten Höhen errichten, ſtets aber war man gezwungen,
die natürliche Triebkraft dort zu benutzen, wo man ſie fand, und man
war genöthigt, mit ihrer vorhandenen Stärke ſich zu begnügen, da man
nicht im Stande war, dieſelbe nach Bedarf oder nach Belieben zu
erhöhen. Ganz anders liegen die Verhältniſſe bei der Ausnutzung der
Wärme. Dieſe kann man erzeugen, wo und wann man will; ſie war
es alſo, die den Menſchen zuerſt unabhängig machte von der Örtlichkeit.
Nicht mehr an beſtimmten Plätzen mußten von jetzt ab die Gewerbe-
betriebe ſich anſiedeln, ſondern überall da, wo das Vorhandenſein der
Rohſtoffe oder ſonſtige Verhältniſſe es wünſchenswerth machten, konnten
dieſelben ſich einrichten und ihre Thätigkeit entfalten. Dieſe Eigenſchaft
der Wärme, ihre Unabhängigkeit von Ort und Zeit, war es, welche
ihrer älteſten Tochter, der Dampfmaſchine, die Wege ebnete und derſelben
den ſchnellen Siegeslauf ermöglichte. Im Laufe der Jahrzehnte ge-
ſellte ſich zu der Dampfmaſchine dann noch die ebenfalls auf der Aus-
nützung der Wärme beruhende Heißluftmaſchine, bei welcher das
bekannte Naturgeſetz zur praktiſchen Anwendung gelangt, daß luft-
förmige Körper, ſobald ihnen Wärme zugeführt wird, ſich ausdehnen,
dagegen bei Wärmeentziehung einen geringeren Raum ausfüllen.


Jedoch der Bedarf an motoriſcher Kraft wuchs von Jahr zu Jahr
und regte die erfinderiſche Thätigkeit zur Aufſchließung weiterer motoriſcher
Kraftquellen an. So ſtellte ſich alsbald als vierte Kraft die chemiſche
Verwandtſchaft verſchiedener Naturkörper
ein. Auf ihrer Aus-
nützung beruhen die zahlreichen Gas-, Petroleum- und Benzinmotoren.


In der neueſten Zeit trat dann noch als letzte Kraftquelle der
elektriſche Strom hinzu, deſſen Ausnutzung durch die Elektromotoren
nicht in dieſem Abſchnitte, ſondern unter II. 2. beſchrieben werden
wird. Faſſen wir die heute uns zur Verfügung ſtehenden Kraftquellen,
ſofern wir von der Muskelkraft des Menſchen und der Tiere abſehen,
kurz zuſammen, ſo ſind dies folgende:


  • a) das bewegte Waſſer,
  • b) die bewegte Luft,
  • c) die Wärme,
  • d) die chemiſche Verwandtſchaft einzelner Körper,
  • e) der elektriſche Strom.

a) Die Waſſermotoren zerfallen in drei Abteilungen:


  • 1. die Waſſerräder im engeren Sinne oder vertikalen Waſſer-
    räder,
  • 2. die Turbinen oder horizontalen Waſſerräder,
  • 3. die Waſſerſäulenmaſchinen.

[54]Die Motoren.

Während bei den unter 1 und 2 genannten Motoren ein Rad,
deſſen Drehachſe entweder horizontal (Waſſerräder im engeren Sinne)
oder vertikal (Turbinen) liegt, durch das Waſſer in Drehung verſetzt
wird, beſteht das Kennzeichen der Waſſerſäulenmaſchinen darin, daß
das unter einem gewiſſen Druck ſtehende Waſſer in einem Cylinder einen,
auch mehrere Kolben in eine hin- und hergehende Bewegung verſetzt.
Bei dieſen Waſſerſäulenmaſchinen, welche durch gepreßtes Waſſer ge-
trieben werden, möge hier ſchon bemerkt werden, daß dieſelben in neueſter
Zeit für die ſogenannte Kraftübertragung von einer Centrale
mehrfach in Benutzung genommen werden. Öfters verwendet man
alsdann, ohne weſentliche Änderung der Motoren an Stelle des Preß-
waſſers Preßluft, d. h. Luft, welche durch große Luftpumpen in ſtarke
Preſſung verſetzt iſt und nun an Stelle des gepreßten Waſſers als
Betriebskraft in die Motoren eingeführt wird.


b) Was die durch die bewegte Luft oder den Wind angetriebenen
Motoren betrifft, ſo umfaſſen dieſelben nur eine einzige Klaſſe, nämlich:
die Windräder.


Der Vollſtändigkeit halber ſei hier aber nochmals kurz darauf hin-
gewieſen, daß in der neueſten Zeit auch die gepreßte Luft zum Betriebe
von Motoren verwendet wird. Da letztere eine ſehr nahe Verwandtſchaft
mit den durch gepreßtes Waſſer betriebenen Motoren beſitzen, ſo werden
dieſelben im Anſchluß an letztere zur Beſprechung kommen.


c) Unter den verſchiedenen Kraftquellen iſt die Wärme zur Zeit
die am meiſten benutzte. Die mit Hilfe derſelben betriebenen Motoren
zerfallen in:
1. Dampfmaſchinen, 2. Heißluftmaſchinen.


Die hervorragendſte Wärmequelle für den Betrieb der Motoren
wird gebildet durch die unterirdiſchen Steinkohlenlager, welche allerdings
gegenwärtig noch in gewaltiger Fülle zu unſerer Verfügung ſtehen.
Mit unfehlbarer Sicherheit muß aber dermaleinſt der Zeitpunkt ein-
treten, wo dieſe unterirdiſchen Schätze verbraucht ſind, und wo der Menſch
auf neue Mittel und Wege ſinnen muß, die für ſein Daſein unbedingt
erforderliche Wärme ſich zu ſchaffen.


Kraft, Licht und Wärme ſind wir [gewohnt,] in einem Maße aus
den Steinkohlenlagern zu beziehen, daß das Verſiegen derſelben natur-
gemäß eine tiefeingreifende Wandlung der Verhältniſſe des menſchlichen
Geſchlechtes mit ſich bringen muß. Unſer großer Landsmann William
Siemens
ließ ſich bereits im Jahre 1878 in einem in the Glasgow
Science Lecture Association
gehaltenen Vortrage: „Über die Nutzbarkeit
der Wärme und anderer Naturkräfte“ folgendermaßen aus:


„Der 1871 veröffentlichte Bericht der Kohlenbau-Kommiſſion giebt
das damals noch abzubauende Quantum Kohlen in Großbritannien
auf ungefähr 150000000000 Tonnen an. Gegenwärtig werden etwa
132000000 Tonnen jährlich verbraucht und zieht man noch die ſtatiſtiſch
feſtgeſtellte Konſumvermehrung von 3⅓ Millionen Tonnen pro Jahr in
[55]Allgemeines.
Betracht, ſo würden 250 Jahre genügen, um die Kohlenfelder voll-
ſtändig zu erſchöpfen. Dabei darf man nicht vergeſſen, daß, lange
bevor man die letzte Tonne Kohle zu Tage fördert, die graduelle Abnahme
ſich ſehr fühlbar machen wird. Diſtrikte, wo die Induſtrie und dem-
gemäß die Bevölkerung am größten iſt, werden den Wechſel am erſten
empfinden, und es iſt unſere Pflicht, bei Zeiten zu überlegen, ob und
welche Erſatzmittel dann zu unſerer Verfügung ſtehen.“


Die Erkenntnis der Wichtigkeit der thunlichſt ſparſamen Ausnützung
der unterirdiſchen Kohlenſchätze beginnt glücklicher Weiſe immer mehr
und mehr Allgemeingut zu werden. Die Frucht dieſer Erkenntnis zeigt
ſich auf dem Gebiete der Motoren in einer weit gehenden Ausnützung
des koſtbaren Brennſtoffes, angeſtrebt durch möglichſte Vervollkommung
der Feuerungsanlagen der Dampfkeſſel und der Konſtruktion der Wärme-
motoren.


Trotzdem aber nähert ſich unſere hauptſächlichſte Quelle motoriſcher
Kraft mit Rieſenſchritten ihrer Erſchöpfung. Mit Recht iſt daher die
erfinderiſche Thätigkeit ſeit längerer Zeit der Auffindung eines Erſatzes
der Wärme nach dieſer Richtung zugewendet. Es iſt mit Zuverſicht
anzunehmen, daß bis zu dem Tage, wo die letzte Tonne Kohle an
die Oberfläche der Erde hinaufbefördert werden wird, ein Erſatz der
Wärme als motoriſche Kraft in der Ausnützung anderer Naturkräfte
vorliegt, ſei es der Ebbe und Flut, der gewaltigen Waſſerfälle unſerer
Ströme, ſei es der altbekannten Kraftquelle des Windes.


Es liegt uns zunächſt ob, hier einige kurze Angaben über die
hauptſächlichſten Eigenſchaften des Waſſerdampfes folgen zu laſſen.


Der Waſſerdampf entſteht aus dem Waſſer dadurch, daß dieſem
Wärme zugeführt wird. Die Wärme wird hierbei zum Teil dazu
verbraucht, die Temperatur des Waſſers zu erhöhen, der andere Teil
dient dazu, das Waſſer aus dem tropfbar flüſſigen in den gasförmigen
oder dampfförmigen Zuſtand überzuführen. Erfolgt das Erhitzen des
Waſſers in einem offenen Gefäße, ſo entweicht der Dampf in die
Außenluft. Wird jedoch das Verdampfgefäß geſchloſſen, wird alſo der
Dampf daran gehindert, in die Außenluft überzutreten, ſo nimmt der-
ſelbe allmählich eine immer größere Spannung an, mittelſt welcher er
die ihn zurückhaltenden Wandungen des Gefäßes zu beſeitigen ſtrebt.
Dieſe Eigenſchaft intereſſiert uns hier in erſter Linie, da dieſelbe dazu
ausgenutzt wird, Körper in Bewegung zu ſetzen und zur Verrichtung
von Arbeit zu benutzen. Zur Meſſung des von dem Dampfe aus-
geübten Druckes dient das Manometer, welches direkt auf dem den
Dampf erzeugenden Gefäße, dem Dampfkeſſel, angebracht wird, und
an einem Zeiger den Druck ableſen läßt. Die näheren Einrichtungen
des Dampfkeſſels und ſeiner Armatur werden zugleich mit denjenigen
der Dampfmaſchine ſpäter beſprochen werden.


Bei Angabe des Dampfdruckes hat man zu unterſcheiden den
abſoluten und den effektiven Druck oder Überdruck. Bekanntlich übt
[56]Die Motoren.
die den Erdball umgebende Atmoſphäre auf jedes Quadratzentimeter
der Erdoberfläche einen Druck von 1 Kilogramm aus; dieſen Druck
nennt man den Atmoſphärendruck und mittelſt deſſelben mißt man den-
jenigen Druck, welchen der Dampf, ſowie andere gepreßte Medien,
z. B. Luft oder Waſſer, auf ihre Umgebung ausüben.*) Drückt der in
einem Dampfkeſſel enthaltene Dampf mit einem Druck von 5 Atmoſphären
gegen die Innenwandung des Keſſels, ſo will dieſes beſagen, daß der
Dampf auf jeden Quadratzentimeter der Innenwand einen Druck von
5 Kilogramm ausübt. Es iſt nun aber zu berückſichtigen, daß auf
die äußere Seite der Keſſelwandung die natürliche Atmoſphäre, d. h.
die den Erdball umgebende Luftſchicht, einen Druck von einem Kilo-
gramm pro Quadratzentimeter ausübt, welcher dem innern Drucke des
Keſſels entgegengerichtet wirkt, ſo daß die Wandung des Keſſels einen
von innen nach außen gerichteten Überdruck von 4 Kilogramm pro
Quadratzentimeter auszuhalten hat. Abſolut gemeſſen beträgt alſo der
im Keſſel herrſchende Druck 5 Atmoſphären; effektiv, d. h. unter Abzug
des Druckes der äußeren Atmoſphäre ſtellt ſich derſelbe jedoch auf nur
4 Atmoſphären. Bei dem Bau von Dampfkeſſeln und Maſchinen wird
ſtets dieſer effektive Druck oder Überdruck angegeben, da er es iſt, welcher
die treibende Kraft gegenüber dem äußeren Luftdruck repräſentirt.


Der in dem Dampfkeſſel herrſchenden Dampfſpannung entſpricht
ſtets ein beſtimmter Siedepunkt; ſo entſpricht einem abſoluten Druck
von 1 Atmoſphäre ein Siedepunkt von 100°C. Wird aus einem Dampf-
keſſel ein Quantum Dampf entnommen, ſo ſinkt hierdurch natürlich der
Druck, welcher im Innern des Keſſels herrſcht; da nun aber hierbei
die Waſſertemperatur eine höhere iſt, als der Siedepunkt, welcher dieſem
verminderten Dampfdruck entſpricht, ſo findet mit großer Schnelligkeit
nunmehr im Keſſel ſo lange eine ſtarke Dampfentwicklung ſtatt, bis
der Druck wiederum diejenige Höhe erreicht hat, welche der herrſchenden
Temperatur als Siedepunkt entſpricht. Der dieſer Bedingung ent-
ſprechende Dampf, welcher für die in ihm herrſchende Temperatur die
größtmögliche Dichte beſitzt, heißt geſättigter Dampf. In der nach-
ſtehenden Tabelle iſt der Siedepunkt des Waſſers für verſchiedene
Dampfſpannungen angegeben und zwar mit etwas abgerundeten Zahlen.


Es beträgt die Siedetemperatur bei einem Druck von


0,1 Atmoſphären 45,5°C.,
0,5 〃 81,0° 〃
1,0 〃 100,0° 〃
1,5 〃 111,0° 〃
2,0 〃 119,5° 〃
2,5 〃 127,0° 〃
4,0 〃 143,0° 〃
5,0 〃 151,0° 〃
10,0 〃 179,0° 〃
12,0 〃 187,0° 〃
14,0 〃 194,0° 〃
[57]Allgemeines.

Der Zuſtand der Sättigung dauert bei dem Dampfe ſo lange,
als er mit dem Waſſer, aus dem er ſich bildet, in Berührung bleibt.
Iſt alles Waſſer in Dampf verwandelt, und wird dieſer alsdann noch
in einem geſchloſſenen Gefäß des weiteren erhitzt, ſo nennt man ihn
überhitzten Dampf. Dieſer beſitzt ſomit eine Temperatur, welche die
ſeiner Spannung entſprechende Siedetemperatur überſteigt.


Außer der Beziehung zwiſchen dem Siedepunkte und der Spannung
exiſtiren auch noch ganz beſtimmte Verhältniſſe zwiſchen der Spannung
und dem Gewichte des Dampfes. Hierüber möge nachſtehende kleine
Tabelle Aufſchluß geben:

Die weſentlichſte Eigenſchaft des Dampfes iſt, wie bereits kurz
erwähnt wurde, die, daß er beſtrebt iſt, auf ſeine Umgebung einen
Druck auszuüben und die ihn umgebenden Wandungen zu verſchieben.
Es iſt dieſes eine Folge des dem Dampfe inne wohnenden Expanſions-
beſtrebens, d. h. des Strebens, ein möglichſt großes Volumen ein-
zunehmen. Dieſes wird bei der Dampfmaſchine in der Weiſe ausgenützt,
daß in einem cylindriſchen Gefäße, dem Dampfcylinder, ein Kolben
verſchiebbar angeordnet iſt. Läßt man in dieſen Cylinder Dampf
einſtrömen, ſo treibt dieſer den Kolben in der einen Richtung vorwärts
und es iſt nur noch eine Einrichtung erforderlich, welche dieſe dem
Kolben mitgeteilte Bewegung zu einer regelmäßigen macht und zur
Leiſtung einer Arbeit ausnützt. Als man die Expanſionskraft des
Dampfes näher erkannte, nutzte man dieſelbe noch des weiteren in der
Weiſe aus, daß man den Dampf nicht während des geſamten Kolben-
weges in den Cylinder einſtrömen ließ, ſondern nur während eines
Teiles des Kolbenweges. Man ſchnitt die Zufuhr des Dampfes als-
bald nach dem Eintritt eines gewiſſen Quantums ab, und ließ dieſes
dann durch ſeine Expanſion allein weiter wirken. Es iſt dieſes, wie
ſpäter noch des näheren ausgeführt werden wird, die jetzt allgemein
[58]Die Motoren.
gebräuchliche Art und Weiſe der Ausnutzung des Dampfes in den
Dampfmaſchinen.


Zum Schluſſe dieſer allgemeinen Vorbemerkung über das Weſen
des Dampfes müſſen wir noch kurz auf den Zuſammenhang zwiſchen
Wärme und mechaniſcher Arbeit eingehen.


Die Lehre der modernen Phyſik hinſichtlich des Weſens der
mechaniſchen Arbeit und der Wärme faßt letztere als eine Art der Be-
wegung auf. Wärme und mechaniſche Arbeit treten abwechſelnd bald als
Urſache, bald als Wirkung auf. Man kann daher jede Wärmeerſcheinung
als ein Produkt mechaniſcher Arbeit und jede mechaniſche Arbeit als
ein Produkt der Wärme auffaſſen.


Es iſt nun durch Verſuche feſtgeſtellt worden, daß bei einem
Barometerſtande von 760 mm eine Arbeit von etwa 424 Kilogrammetern
erforderlich iſt, um 1 Kalorie hervorzubringen, d. i. diejenige Wärme-
menge, welche erforderlich iſt, um 1 Kilogramm Waſſer von 0° auf
C. zu erwärmen. Dieſen Arbeitsbetrag von 424 Kilogrammetern
nennt man das mechaniſche Wärmeäquivalent.


Vorſtehende, von Joule und Mayer des weiteren ausgeſponnene
Beobachtung, auf welcher unſere geſamten modernen Anſchauungen von
dem Weſen der Wärme, die heutige mechaniſche Wärmetheorie, beruhen,
ſind wohl ſelten von einem Fachmanne ſo treffend zum Ausdruck ge-
bracht, wie von George Stephenſon, dem Vater der Lokomotive. Als
man ihn frug, worin die letzte Urſache der Bewegung ſeiner Lokomotiven
beſtehe, antwortete er: „bottled sun beams,“ „auf Flaſchen gezogene
Sonnenſtrahlen.“ In der That iſt hier in wenigen Worten das Prinzip
der Wechſelbeziehung zwiſchen Wärme und Kraft in ſchlagendſter Weiſe
zum Ausdruck gebracht. Die uns zur Verfügung ſtehenden Brennſtoffe
ſind ſämtlich ein Produkt der Thätigkeit der Sonne und ſo konnte
Stephenſon mit Recht die Steinkohlen, die Kraftquellen ſeines Dampf-
roſſes, als Sonnenſtrahlen bezeichnen, welche im Erdinnern aufge-
ſpeichert liegen, bis ſie an des Tages Licht gebracht werden, um wieder
in Arbeit umgeſetzt zu werden.


d) Die letzte der uns zur Verfügung ſtehenden, hier zu behandelnden
Kraftquellen iſt die chemiſche Verwandtſchaft einzelner Körper.
Dieſe findet ihre Anwendung bei den während der letzten Jahrzehnte in
vielen tauſenden von Exemplaren in Betrieb befindlichen
Gasmotoren und
Petroleum- bezw. Benzinmotoren.


Bei dieſen erfolgt die Bildung der motoriſchen Kraft in der Weiſe,
daß Gas, ſei es gewöhnliches Leuchtgas oder Petroleumgas, im
Gemiſch mit Luft zur Exploſion gebracht wird.


Nachdem wir ſo im Vorſtehenden einen kurzen Überblick über die
verſchiedenen Arten der Kraftquellen und der Motoren gegeben haben,
bleibt uns, bevor wir zu einer Beſprechung der einzelnen Konſtruktionen
[59]Allgemeines.
übergehen, nur noch übrig, einige für ſämtliche Motoren beſtehende
Verhältniſſe kurz zu erläutern.


Handelt es ſich darum, eine Kraftquelle auszunützen, ſo muß man
zunächſt die Kraft gleichſam einfangen, feſthalten und derſelben eine
ſolche Richtung geben, daß ſie im Stande iſt, eine beſtimmte nützliche
Arbeit zu verrichten.


Nehmen wir das Beiſpiel des bewegten Waſſers an. Hier müſſen
wir zunächſt dem Waſſer eine ſolche Richtung der Bewegung geben,
daß daſſelbe im Stande iſt, einen Motor, beiſpielsweiſe ein Waſſerrad
zu betreiben und mittelſt dieſes das Werk einer Mühle zu bewegen.
Wollen wir die Spannkraft des Dampfes ausnützen, ſo müſſen wir
dieſen zunächſt in einem Gefäße erzeugen und ſammeln und alsdann
einer Vorrichtung zuführen, durch welche derſelbe in den Stand geſetzt
wird, eine Anzahl von Werkzeugmaſchinen, z. B. zur Bearbeitung von
Holz oder Eiſen, oder eine Buchdruckerei, Spinnerei u. ſ. w., in Be-
wegung zu ſetzen. Bei der Ausnützung der Kraftquellen müſſen wir
daher unterſcheiden: den Motor oder die Kraftmaſchine, wodurch
die Kraft aufgefangen und in einer beſtimmten Richtung abgegeben
wird, und die Arbeitsmaſchine, welche die durch den Motor ge-
äußerte Kraft nutzbar verwertet. Zwiſchen beiden beſteht ein inniger
Zuſammenhang, indem letztere nur ſoviel Kraft verbrauchen kann, als
der Motor derſelben zuführt.


Dieſer letztere Umſtand iſt für die praktiſche Ausnützung der
motoriſchen Kräfte von ganz beſonderer Wichtigkeit, indem die dem
Motor zu gebende Größe oder Stärke genau nach dem Kraftverbrauche
der zu betreibenden Arbeitsmaſchine zu bemeſſen iſt. Dieſes führt uns
auf die Frage, wie man die Stärke eines Motors mißt bez. ausdrückt
und wie man dieſelbe je nach den vorliegenden Verhältniſſen zu bemeſſen
im Stande iſt.


Nach den Regeln der Mechanik iſt die von einem Motor zu
leiſtende Arbeit gleich dem Produkte von Kraft mal Weg. Welcher
Art nun auch dieſe Kraft ſein mag, dieſelbe läßt ſich ſtets mit dem
Gewichte eines den gleichen Zug und Druck ausübenden Körpers
vergleichen; als Einheitsmaß dieſes Zuges oder Druckes gilt gegen-
wärtig allgemein das Kilogramm. Da dieſes meiſt zu ſehr großen
und unbequemen Zahlen führt, ſo hat man für die Beſtimmung der
Stärke von Kraftmaſchinen oder Motoren eine größere Einheit, die
Pferdekraft oder Pferdeſtärke, eingeführt, und zwar verſteht man
unter dieſer eine Kraft, welche erforderlich iſt, um 1 Kilogramm in
einer Sekunde auf eine Höhe von 75 Metern oder 75 Kilogramm in
einer Sekunde auf eine Höhe von 1 Meter zu heben. Mit der Kraft
des Pferdes geſtattet dieſe Maßeinheit von 75 Kilogrammmetern keinerlei
Vergleich. Um einen derartigen, für den Laien ſehr nahe liegenden
Irrtum zu vermeiden, hat man vorgeſchlagen, den Ausdruck „Pferde-
kraft“ durch „Dampfpferd“ (cheval-vapeur) oder „Dynamiſches Pferd“
[60]Die Motoren.
(cheval dynamique) zu erſetzen; jedoch ohne Erfolg, da erſtere Be-
zeichnung ſich durch die lange Reihe der Jahre bereits vollkommen ein-
gebürgert hat. In der Abkürzung bezeichnet man die Pferdeſtärke meiſt
mit H. P. (Horse Power), ſo daß alſo unter einer Dampfmaſchine von
45 H. P. eine ſolche von 45 Pferdekräften zu verſtehen iſt.


Die dem Motor zugeführte Kraft kann in demſelben in Folge
verſchiedener ſtörender Umſtände niemals voll und ganz zur Ausnützung
gelangen. Es geht vielmehr ſtets ein Teil der Kraft durch die in dem
Motor vorhandenen Reibungswiderſtände, durch Abkühlung, durch
Erhitzung u. ſ. w. verloren. Die von dem Motor abgegebene Kraft-
leiſtung entſpricht daher niemals völlig der demſelben zugeführten
Kraftmenge. Wir wollen dieſes an einem Beiſpiele kurz näher erläutern.
Es betrage die von einem oberſchlägigen Waſſerrade nach Maßgabe
der in jeder Sekunde zugeführten Waſſermenge ſowie nach Maßgabe
des Gefälles zu leiſtende Zahl der Pferdekräfte 32. Thatſächlich
vermag jedoch das Rad dieſe 32 ihm theoretiſch zukommenden Pferde-
ſtärken nicht zu leiſten, ſondern nur 24 Pferdeſtärken. Die fehlenden
8 Pferdeſtärken werden verbraucht zur Überwindung der Reibung an
den Zapfen, durch zu frühes Austreten des Waſſers aus dem Rade u. ſ. w.
Man nennt nun die auf rein theoretiſchem Wege feſtgeſtellte, berechnete
Leiſtung eines Motors den Abſoluteffekt, dagegen den von demſelben
thatſächlich geleiſteten den Nutzeffekt; das Verhältniß zwiſchen beiden,
alſo Nutzeffekt dividirt durch Abſoluteffekt, nennt man den Wirkungs-
grad
des Motors; letzterer iſt ſtets kleiner als 1. Bei obigem Beiſpiele
beträgt der Abſoluteffekt 32 Pferdeſtärken, der Nutzeffekt dagegen nur
24 Pferdeſtärken; mithin ergiebt ſich ein Wirkungsgrad von 24/32=0,75.
Der Abſoluteffekt eines Motors kann durch Rechnung aus den Ab-
meſſungen deſſelben und der Kraftmenge feſtgeſtellt werden; der Nutz-
effekt wird durch beſondere Apparate, Dynamometer, gemeſſen.


Nach dieſen kurzen einleitenden Bemerkungen wenden wir uns
nunmehr der Beſprechung der verſchiedenen Arten der Motoren zu.


a) Der Menſch und das Tier als Motor.


Der Menſch mit ſeiner Muskelkraft, ſeinem Gewichte und ſeiner
die mannigfachſten Bewegungen geſtattenden Gelenkigkeit kennzeichnet
ſich als der bequemſte und, berückſichtigt man die Intelligenz desſelben,
als der vorzüglichſte Motor. In der That giebt es eine große
Anzahl motoriſcher Verrichtungen, welche durch die Muskelkraft des
Menſchen ausgeführt werden; wir erinnern nur an die zahlreichen
Winden, Spinnvorrichtungen, Nähmaſchinen, Baurammen u. ſ. w. welche
ſämmtlich durch die Hand oder die Füße von Menſchen bewegt werden.
Über die Leiſtungsfähigkeit des Menſchen als Motor ſind von ver-
ſchiedenen Fachleuten höchſt intereſſante Beobachtungen gemacht. So
[61]Der Menſch und das Tier als Motor.
ſtellte Dupin feſt, daß er die ſtärkſte Leiſtung bei den Fremdenführern
der Alpen gefunden habe, die bei fortwährendem Anſteigen und belaſtet
mit mindeſtens 12 Kilogrammen ohne Mühe einen täglichen Marſch
von 10 Stunden — nach Abzug der Erholungspauſen — zurücklegen.


Nimmt man an, daß das Gewicht eines ſolchen Führers im
Durchſchnitt 70 Kilogramm beträgt, und nimmt man ferner an, daß
einer Stunde des zurückgelegten Weges eine ſenkrechte Steigung von
400 Metern entſpricht, ſo ergiebt dieſes eine tägliche Leiſtung von
82 × 400 × 10 = 328000 Kilogrammeter.


Eine andere Beobachtung rührt von Coulomb her. Dieſer ließ
Holz in Körben in ſeine 12 Meter über dem Erdboden liegende Wohnung
bringen; hierbei wog die zu hebende Laſt (Korb und Holz) 68 Kilogramm
und der Träger ſelbſt 70 Kilogramm; das durch die Muskelkraft des
letzteren auf 12 Meter Höhe hinaufzuſchaffende Gewicht betrug alſo
138 Kilogramm. Während eines Tages machte der Träger 66 mal
den Weg von unten nach oben mit ſeiner Laſt auf der Schulter; hieraus
ergab ſich eine Leiſtung von 138 × 12 × 66 = 109296 Kilogrammetern.


Hierzu kommt noch die Arbeitsleiſtung für das Hinabſteigen ohne
Laſt; dieſe nahm Coulomb zu 1/25 der beim Hinaufſteigen geleiſteten
Arbeit an und erhielt ſomit 113668 Kilogrammeter als tägliche Geſamt-
leiſtung des Trägers.


Einen ſehr intereſſanten Vergleich ſtellt Rühlmann nach dem
Vorgange von Dr. Mayer, dem Vater der modernen mechaniſchen
Wärmetheorie, und Redtenbacher an, indem er den menſchlichen Or-
ganismus als eine kaloriſche Maſchine, d. h. als einen Motor betrachtet,
bei welchem diejenige Wärme als bewegende Kraft auftritt, welche
durch das Verbrennen ([Oxydieren]) des in den Nahrungsmitteln ent-
haltenen Kohlenſtoffes und Waſſerſtoffes entwickelt wird.


Es läßt ſich annehmen, daß ein geſunder mittelſtarker Mann in
mittlerem Alter innerhalb 24 Stunden 0,252 Kilogramm Kohlenſtoff
und 0,01558 Kilogramm Waſſerſtoff oxydiert.


Es iſt bekannt, daß durch das Verbrennen von 1 Kilogramm
Kohlenſtoff 8080 Wärmeeinheiten oder Kalorien entwickelt werden und
durch das Verbrennen von 1 Kilogramm Waſſerſtoff 34462 Wärme-
einheiten; man erhält ſomit für die geſamte Ernährungswärme des
Menſchen:
0,252 × 8080 + 0,01558 × 34462 = 2473,18 Wärmeeinheiten.


Mayer hat, wie wir bereits mitteilten, nachgewieſen, daß Wärme
und mechaniſche Arbeit äquivalent ſind und daß durch eine mechaniſche
Arbeit von etwa 425 Kilogrammetern eine Wärme erzeugt wird,
durch welche ein Kilogramm Waſſer von 0° auf 1°C. erhitzt wird.
Demnach ergiebt ſich, daß die vorſtehend berechnete Ernährungs-
wärme eines Menſchen einer mechaniſchen Arbeit oder einer Leiſtung
entſpricht von
2473,18 × 425 = 1051000 Kilogrammetern.


[62]Die Motoren.

Dividieren wir die von Dupin bei den Alpenführern feſtgeſtellte
Leiſtung mit dieſer Zahl, ſo erhalten wir einen Wirkungsgrad des
Menſchen als Motor von .


Zieht man noch ſolche Beobachtungen in Betracht, welche von
anderen Experimentatoren hinſichtlich der Leiſtungen von Menſchen
gemacht worden ſind, ſo ergiebt ſich der Wirkungsgrad des Menſchen als
Motor zu 0,26, d. h. der Menſch leiſtet 26 % derjenigen Arbeit, welche
der Wärme entſpricht, die ſich aus den täglich eingenommenen Nahrungs-
mitteln ergiebt. 74 % gehen mithin verloren durch den Stoffwechſel,
durch Transpiration u. ſ. w.


Zieht man in Rückſicht, daß bei der Dampfmaſchine der Nutz-
effekt im Durchſchnitt nur 0,063 beträgt, ſo kommt man zu dem inter-
eſſanten Ergebnis, daß der Menſch als Motor eine 4 mal beſſere
kaloriſche Maſchine iſt, als eine gute Dampfmaſchine. Zu beachten iſt
jedoch hier noch der ſchwerwiegende Umſtand, daß das Heizmaterial
der menſchlichen Maſchine, die Nahrung, faſt um das Dreißigfache
theurer iſt als Steinkohle.


Wie bereits erwähnt wurde, kann die Art und Weiſe, in welcher
die motoriſche Kraft des Menſchen ausgenutzt wird, eine ſehr verſchiedene
ſein. Gegenwärtig geſchieht dieſelbe meiſt durch den Hebel und die
Kurbel, an welchen die Hand oder der Fuß des Menſchen angreift
und mittelſt deren der Antrieb einer Arbeitsmaſchine erfolgt.


Als eine beſondere Art von Motoren, welche durch das Gewicht
des Menſchen bewegt werden, ſind die Treträder zu erwähnen. Es
ſind dieſes Räder mit horizontaler Drehachſe, welche an ihrem äußeren
Umfange mit Sproſſen verſehen ſind. In dieſen Sproſſen klettert der
Menſch aufwärts, in Folge deſſen eine Drehung des Rades und deſſen
Achſe erfolgt. Die Verwendung dieſer Maſchine beſchränkt ſich gegen-
wärtig nur noch auf die wenig ziviliſierten Völker und beſitzt zur Zeit
faſt nur noch ein rein hiſtoriſches Intereſſe.


Wenden wir uns nunmehr der Ausnützung der Muskelkräfte der
Tiere zu, ſo kommt hier in erſter Linie das Pferd in Betracht, indem
dasſelbe zur Ausübung eines Zuges benutzt wird, welcher alsdann
zur Leiſtung einer Arbeit verwendet wird. Die einfachſte Art der Aus-
nützung von Tierkraft geſchieht zum Heben von Laſten, indem das
die Laſt tragende Seil über eine in der gewünſchten Höhe angebrachte
Rolle geleitet wird; an dem freien Ende des Seiles wird ein Pferd
angeſpannt, welches bei ſeinem Vorwärtsſchreiten das Seil mit ſich
zieht und die Laſt zu der Höhe der Rolle emporhebt. Dieſe Art der
Hebung von Laſten auf mitunter recht erhebliche Höhen findet man noch
gegenwärtig bei dem Hinaufwinden von Balken auf die Höhen der
oberen Etagen von Bauwerken vielfach in Gebrauch.


Sehen wir von den durch das Eigengewicht von Tieren bewegten
Tretwerken, welche im Weſentlichen mit den vorſtehend für Menſchen-
[63]Der Menſch und das Tier als Motor.
kraft beſchriebenen übereinſtimmen, ab, ſo iſt der bei weitem hervor-
ragendſte durch Tierkraft betriebene Motor der Göpel oder das
Roßwerk. Man baut die Göpel entweder als feſtſtehende oder als
transportable. In erſterem Falle verbleiben dieſelben ein für alle mal
an einem beſtimmten Orte, während ſie im anderen Falle leicht je nach
Bedarf transportiert und verlegt werden können.


Figure 38. Fig. 38.

Göpel.


Fig. 38 ſtellt einen transportablen Göpel dar, wie derſelbe von
der bekannten Maſchinenfabrik Aktien-Geſellſchaft H. F. Eckert in Berlin
gebaut wird. Das große Triebrad, oberhalb deſſen ein Sitz für den
die ziehenden Pferde beaufſichtigenden Mann angebracht iſt, trägt die
4 Zugbäume, an welchen die Pferde angeſpannt werden. Wird durch
dieſe das große Rad in Drehung verſetzt, ſo wird durch eine mehrfache
Räderüberſetzung die nach links abgehende Welle bewegt, welche die
zu betreibenden Maſchinen, Dreſchmaſchine, Futterſchneider u. ſ. w., in
Gang ſetzt. Die ganze Vorrichtung ruht auf einem kräftigen Rahmen
aus Eichenholz und kann leicht von einem Ort zum andern geſchafft werden.


Mit der zunehmenden Kultur und mit dem immer mehr und mehr
wachſenden Verlangen nach einer großen und leiſtungsfähigen Triebkraft
verſchwand der Menſch und das Tier immer mehr und mehr aus der
Zahl der Motoren. Nur das letztere hat nach dieſer Richtung gegen-
wärtig noch eine größere Bedeutung und zwar als Antriebskraft für
die oben beſchriebenen Göpel, welche im landwirtſchaftlichen Betriebe
wegen ihrer Bequemlichkeit und wegen des Mangels der Feuergefähr-
lichkeit einer weiten Verbreitung noch jetzt ſich erfreuen.


b) Die Waſſermotoren.


1. Die vertikalen Waſſerräder oder Waſſerräder im engeren
Sinne.

Der Name des Erfinders dieſer in den früheren Jahrhunderten
hochbedeutſamen Motoren iſt geſchichtlich nicht feſtzuſtellen. Das Alter
der Waſſerräder iſt ein ſehr hohes und reicht mindeſtens bis zu den
[64]Die Motoren.
Ägyptern zurück, welche dieſelben zu ihren Schöpfanlagen, mit denen ſie
die Wäſſer des Niles auf die Äcker ſchafften, benutzten. Auch bei den Römern
wurde der Bau der Waſſerräder geübt. Rühlmann führt nachfolgende
poetiſche Äußerung eines gewiſſen Antipater, eines Zeitgenoſſen des
Cicero, an, welche des Waſſerrades bereits als eines gebräuchlichen
Motors Erwähnung thut:
„Höret auf, euch zu bemühen, ihr Mädchen, die ihr in
den Mühlen arbeitet, jetzt ſchlaft und laßt die Vögel der
Morgenröthe entgegenſingen; denn Ceres hat den Najaden
befohlen, eure Arbeit zu verrichten; dieſe gehorchen, werfen
ſich auf die Räder, treiben mächtig die Wellen und durch
dieſe die ſchwere Mühle.“


Bis in die jüngſte Zeit hat ſich der Bau der Waſſerräder fort-
geſetzt und auf Grund der neuen Theorien von Redtenbacher und
Weisbach iſt man heut zu Tage in den Stand geſetzt, Waſſerräder zu
konſtruieren, welche allen Anforderungen an Nutzeffekt und Leiſtung
zu genügen vermögen. Trotz der gewaltigen Fortſchritte, welche in
den letzten Jahrhunderten auf dem Gebiete des Dampfmaſchinenbaues
ſich vollzogen haben, wird das Waſſerrad mit ſeinem poetiſchen Nimbus
nach menſchlicher Vorausſicht nimmermehr aus unſeren waſſer- und
gefällreichen Gebirgsthälern verſchwinden.


Die Wirkungsweiſe des Waſſerrades beruht darauf, daß man das
fließende Waſſer veranlaßt, das Rad um ſeine horizontale Drehachſe
zu drehen. Der Angriff des Waſſers kann hierbei entweder unten an
der tiefſten Stelle des Rades erfolgen — unterſchlägiges Waſſerrad —
oder zwiſchen dem höchſten und dem tiefſten Punkte des Rades —
rückenſchlägiges Waſſerrad — oder endlich an dem höchſten Punkte des
Rades — oberſchlägiges Waſſerrad.


Figure 39. Fig. 39.

Schiffmühle (Anſicht).


Fig. 39 und 40 ſtellen ein unterſchlägiges Waſſerrad dar, welches
zugleich mit der von ihm betriebenen Mühle, einer ſogenannten Schiff-
mühle, auf dem Strome ſchwimmt und hier verankert iſt. Der Erfinder
[65]Die verticalen Waſſerräder.
dieſer Schiffmühle ſoll der bekannte Feldherr Juſtinians Beliſar ſein,
und zwar ſoll ihm die Rolle des Erfinders durch folgenden Zufall zu Teil
geworden ſein. Während der Belagerung Roms durch Vitiges, den
König der Oſtgothen, drohte in der Stadt Hungersnoth auszubrechen,

Figure 40. Fig. 40.

Schiffmühle (Querſchnitt).


da jener die zum Betriebe der Waſſermühlen dienenden Waſſerleitungen
ableiten ließ, in Folge deſſen kein Getreide mehr gemahlen werden
konnte. Beliſar kam jedoch auf den glücklichen Gedanken, die Mühlen
auf Wagen zum Tiber zu bringen und auf dem Fluſſe zu verankern,
wo ſie alsdann, auf dieſem ſchwimmend, von der Kraft des ſtrömenden
Waſſers getrieben wurden.


Die unterſchlägigen Waſſerräder gelangen dort zur Anwendung,
wo ein nur geringes Gefälle zu Verfügung ſteht, denn es iſt ohne
Weiteres einleuchtend, daß z. B. zum Betriebe eines oberſchlägigen
Waſſerrades ein Gefälle vorhanden ſein muß, welches mindeſtens gleich
dem Durchmeſſer des Rades iſt, was, wie aus Fig. 41, S. 66 hervor-
geht, bei dem unterſchlägigen Waſſerrade nicht der Fall iſt. Mit dem
Fortſchritte der mathematiſchen und mechaniſchen Kenntniſſe brach ſich
die Erkenntnis Bahn, daß die Ausnützung der Wirkung des Waſſers,
wie ſie in den alten unterſchlägigen Waſſerrädern geſchah, eine höchſt
unvollkommene ſei. Schon gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts
wurde feſtgeſtellt, daß hieran der Umſtand Schuld ſei, daß man bei
den unterſchlägigen Rädern den Stoß des Waſſers, nicht deſſen Gewicht
ausnutzte.


Es iſt eines der ſchönſten Probleme des Maſchinenbaues geweſen,
das unterſchlägige Waſſerrad in eine ſolche Geſtalt zu bringen, welche
in demſelben das Waſſer nicht — oder doch nur in geringem Maße —
durch Stoß, ſondern durch Druck wirken läßt. Dieſe Aufgabe wurde
in glänzendſter Weiſe durch Poncelet (geb. 1788) gelöſt. Das nach
ihm benannte Rad (in Fig. 41 dargeſtellt) kann bei richtiger Anwendung
einen Wirkungsgrad von über 0,6 erreichen, während die alten unter-
ſchlägigen Räder einen ſolchen von nur 0,3 beſaßen.


Das Buch der Erfindungen. 5
[66]Die Motoren.

Bei dem Poncelet-Rade wird dieſes dadurch erreicht, daß zunächſt
die Schaufeln m nicht grade, ſondern nach einer beſtimmten Kurve
gekrümmt ſind.


In Folge deſſen wirkt das Waſſer nicht durch direkten Stoß auf
die Schaufeln, ſondern läuft, wie aus Fig. 41 deutlich zu erſehen iſt,

Figure 41. Fig. 41.

Unterſchlägiges Waſſerrad (Poncelet-Rad).


an dieſen empor, um wieder zurück-
zufließen, hierbei durch Druck
wirkend. Außerdem aber iſt für
das Poncelet-Rad noch die ge-
krümmte Form des Waſſerge-
rinnes a b c d charakteriſtiſch, ſowie
der Austritt des Betriebswaſſers
unterhalb des Schützes f, welches
das Waſſer bis unmittelbar an
das Rad heranführt.


Fig. 42 ſtellt ein oberſchlägiges
Waſſerrad dar, wie man dasſelbe
bei dem Vorhandenſein eines
größeren Gefälles, ſo z. B. im
Gebirge, in vielen Exemplaren vorfindet. Das Betriebswaſſer tritt hier
an dem oberſten Punkte des Rades in die Radzellen ein, füllt dieſe an

Figure 42. Fig. 42.

Oberſchlägiges Waſſerrad.


[67]Die horizontalen Waſſerräder.
und verſetzt auf dieſe Weiſe durch ſein Gewicht das Rad in Drehung
um die Achſe A. Am tiefſten Punkte, oder doch in der nächſten Nähe
desſelben tritt dann das Waſſer wieder aus dem Rade hinaus. An
dem Waſſerrade iſt ein Zahnkranz F angebracht, welcher mittels des
kleinen Zahnrades M und der Welle N die Bewegung zum Antriebe
einer Mühle oder dergleichen weiter fortpflanzt.


2. Die horizontalen Waſſerräder oder Turbinen.

Dieſe Waſſermotoren unterſcheiden ſich von den vorſtehend be-
ſchriebenen in erſter Linie dadurch, daß das Rad derſelben horizontal
angeordnet iſt und ſich um eine vertikale Achſe dreht. Man benennt
ſie meiſt mit dem Namen Turbinen oder Kreiſelräder. Die Aus-
nützung der Waſſerkraft geſchieht bei denſelben entweder durch den
Stoß, den Druck oder die Reaktion des Waſſers und man unter-
ſcheidet daher: Stoß-, Druck- und Reaktions-Räder.


Die wichtigſten ſind diejenigen Räder, welche durch den Druck des
Waſſers betrieben werden; ſie führen ſpeziell den Namen: Turbinen.
Bevor wir uns einer näheren Beſprechung derſelben zuwenden, wollen
wir kurz das Weſentliche der Stoß- und der Reaktionsräder hier
folgen laſſen.


Die Stoßräder kennzeichnen ſich dadurch, daß bei ihnen ein
horizontal liegendes Flügelrad mit ebenen oder ausgehöhlten Schaufeln
durch den Stoß des Waſſers in Drehung um ſeine ſenkrechte Achſe
verſetzt wird. Dieſe Waſſermotoren ſind ſchon ſehr alt und finden ſich
ſeit Jahrhunderten in gebirgigen Gegenden, z. B. in den Pyrenäen,
in den Alpen, in Norwegen in zahlreichen Exemplaren im Betriebe
und zwar überall da, wo ein hohes Gefälle zur Verfügung ſteht,
welches den auf die Schaufeln fallenden Waſſerſtrahlen eine große
Geſchwindigkeit zu geben vermag. Bei dem Betriebe von Mühlen
kann man die Mahlſteine unmittelbar auf der ſenkrechten Achſe dieſer
Stoßräder anbringen, da die Umdrehungszahl derſelben eine ſo hohe
iſt, daß dieſelbe durch Einſchaltung von Zwiſchengetrieben nicht erhöht
zu werden braucht.


Die Reaktionsräder beruhen auf der ſogenannten Reaktions-
wirkung des aus einem Gefäße ausſtrömenden Waſſers. Dieſe äußert
ſich bekanntlich in der Weiſe, daß, wenn man das Waſſer aus einem um
eine ſenkrechte Achſe drehbaren horizontalen Rohre austreten läßt, letzteres
in Umdrehung verſetzt wird. Eine ſehr gebräuchliche Anwendung dieſer
Reaktionswirkung des austretenden Waſſers finden wir bei den zum
Sprengen von Blumenbeeten und Raſenflächen dienenden rotierenden
Brauſen. Danach beſtehen die Reaktionsturbinen aus enem Hohl-
körper, welcher ſich um eine ſenkrechte Achſe drehen kann, und in
deſſen Inneres Waſſer eingeführt wird, um aus einem oder mehreren
am Umfange angebrachten Öffnungen nach außen gelaſſen zu werden.
5*
[68]Die Motoren.
Die Drehung der ſenkrechten Achſe wird alsdann in derſelben Weiſe,
wie dieſes bei den Stoßrädern beſchrieben wurde, zum Antriebe der
Mühle oder dergl. benutzt.


Wenden wir uns nunmehr zu denjenigen Turbinen, in welchen
das Waſſer durch Druck zur Wirkung gelangt, ſo iſt hier zunächſt die in

Figure 43. Fig. 43.

Fourneyron-Turbine (Schnitt).


Fig. 43 und 44 dargeſtellte Fourneyron-Turbine zu nennen. Dieſelbe
ſtammt aus dem Anfange der dreißiger Jahre unſeres Jahrhunderts
und trägt ihren Namen nach ihrem Erfinder, dem Franzoſen Four-
neyron
. Dieſelbe unterſcheidet ſich von den bisher beſprochenen Waſſer-
motoren dadurch, daß ſie aus zwei ineinander liegenden horizontalen
Rädern beſteht, von denen das innere feſtſteht und das Waſſer in das
äußere Rad eintreten läßt. Beide Räder ſind in der aus Fig. 44
erſichtlichen Weiſe mit Schaufeln verſehen, und leuchtet es an der Hand
dieſer Zeichnung ohne Weiteres ein, daß, wenn das Waſſer aus den
Schaufeln des inneren feſten Rades, des ſogenannten Leitrades, aus-
tritt, es gegen die Schaufeln des außenliegenden beweglichen Rades
des Laufrades, drückt und dieſes in der Richtung des Pfeiles in
[69]Die horizontalen Waſſerräder.
Drehung verſetzt. Die weitere Einrichtung dieſes hochwichtigen Waſſer-
motors iſt aus Fig. 43 zu entnehmen. Das Waſſer tritt bei W
hinzu, ſinkt durch den Raum E abwärts und füllt das feſtſtehende
Leitrad F an, um von hier
in das Laufrad A überzu-
treten. Dieſes wird durch
den ſeitens des Waſſers aus-
geübten Druck in Drehung ver-
ſetzt und teilt dieſe ſeine Bewe-
gung der Welle D mit, welche
ihrerſeits wiederum mit Hilfe
eines Räder- und Riemen-
Triebes die zu betreiben-
den Maſchinen in Bewegung
ſetzt. Damit das Betriebs-
waſſer W nicht durch ſein er-
hebliches Gewicht das Lauf-
rad A belaſte und hemme, iſt
die Welle D mit einer Schutz-
hülſe H umgeben, welche unten
in einem das Rad A über-
deckenden Teller F endigt,

Figure 44. Fig. 44.

Fourneyron-Turbine (Obere Anſicht des Leit- und Laufrades).


welcher mit Leitſchaufeln verſehen iſt und ſo das Leitrad bildet. Die
Regulierung der aus dem Leitrade F in das Laufrad übertretenden
Waſſermenge kann auf zweierlei Weiſe erfolgen; erſtens durch das mittels
der Stangen MM auf- und abſchiebbare ringförmige Schütz K, ferner
aber noch dadurch, daß das Laufrad A mittelſt des Hebels O R und
der Zugſtange S gehoben oder geſenkt wird.


Noch wichtiger und verbreiteter als die Fourneyron-Turbine iſt
die in der Fig. 45 dargeſtellte Turbine von Henſchel. Der Erfinder
derſelben iſt der Oberbergrat Henſchel in Caſſel; derſelbe nahm im
Jahre 1837 auf ſeinen neuen Motor ein heſſiſches Patent. Jedoch es
währte einige Zeit, bis zum Jahre 1840, daß die erſte praktiſche Aus-
führung, und zwar auf der herzoglichen Steinſchleiferei zu Holzminden
a. d. Weſer, erfolgte. Alsbald wurde die Henſchel’ſche Konſtruktion
durch Jonval in Mühlhauſen im Elſaß nachgeahmt und man findet
daher für dieſe Art von Turbinen häufig den Namen Henſchel-Jonval-
Turbine.


Die Henſchel-Turbine unterſcheidet ſich von der Fourneyron’ſchen
im Weſentlichen dadurch, daß bei derſelben Leit- und Laufrad nicht
ineinander liegen, ſondern übereinander. Dieſe Anordnung iſt aus
Fig. 45 Seite 70, zu erſehen. Aus dem Mühlgraben E tritt das Betriebs-
waſſer zunächſt in den Leitſchaufelapparat B; die ſpezielle Anordnung
der Schaufeln iſt aus Fig. 45 III des Näheren zu entnehmen. Aus
dem Leitapparat B tritt das Aufſchlagwaſſer in das Laufrad A über
[70]Die Motoren.
und verſetzt dieſes in Drehung, hierdurch ebenfalls die Räder D und M
mittels ſeiner ſenkrechten Welle antreibend. Die Buchſtaben SS der
Fig. 45 I bezeichnen einen Schwimmer, der zur Beruhigung des Ober-

Figure 45. Fig. 45.

Henſchel-Turbine.


waſſers E dient. Hat das Waſſer in dem Laufrade A ſeine Arbeit
verrichtet, ſo ſtrömt es in der durch den Pfeil angedeuteten Richtung
durch das Abfallrohr C nach unten ab.


Bei dieſer Turbine wirkt das Waſſer nicht allein durch Druck von
oben, ſondern es übt auch eine ſaugende Wirkung von unten her bei
ſeinem Hinabfallen in dem Fallrohr aus. Man bezeichnet daher die
Henſchel-Turbine wohl auch als eine doppeltwirkende, und zwar nicht
mit Unrecht, denn da das luftdichte Rohr, welches die Turbine in ſich
aufnimmt, in das Unterwaſſer eintaucht, und hinter dem durch das
Rad hindurchgetretenen Waſſer ein leerer Raum entſtehen müßte, wenn
dieſes Waſſer ſich von dem Oberwaſſer losriſſe, ſo bewirkt das aus
dem Laufrade austretende Waſſer in Folge des auf dem Oberwaſſer
ruhenden Luftdruckes ein ſtetiges Nachſaugen des Waſſers in das Rad.
Die Leiſtung des Rades iſt mithin nicht allein abhängig von der ober-
halb desſelben liegenden Druckhöhe, ſondern auch von dem Abſtande,
in welchem das Rad oberhalb des Unterwaſſers liegt. Hierbei iſt es
innerhalb gewiſſer Grenzen ziemlich gleichgültig, ob die Turbine im Innern
[71]Die Waſſerſäulenmaſchinen.
des Waſſers eine höhere oder tiefere Lage einnimmt. Die Henſchel-
Turbine zeichnet ſich durch einen ſehr hohen Nutzeffekt aus und zählt
zu den verbreitetſten Waſſermotoren.


3. Die Waſſerſäulenmaſchinen.

Bei den Waſſerſäulenmaſchinen wird das Waſſer dazu verwendet,
einen in einem Hohlcylinder beweglichen Kolben hin und her zu treiben.
Die hier durch das Waſſer bewirkte Bewegung iſt alſo keine drehende,
ſondern eine hin- und hergehende, welche im Bedarfsfalle erſt durch
Einſchaltung einer Kurbel in eine drehende verwandelt wird. Je nachdem
die drückende Waſſerſäule dem Kolben nur die eine Bewegungsrichtung
giebt oder auch den Rückgang desſelben veranlaßt, unterſcheidet man
einfach und doppelt wirkende Waſſerſäulenmaſchinen. Das Verdienſt,
den Waſſerſäulenmaſchinen zuerſt eine lebensfähige Geſtalt gegeben zu
haben, gebührt dem Bayeriſchen Salinenrat von Reichenbach, welcher
im Jahre 1809 eine großartige Leitung zum Transport von Soole
von Traunſtein nach Roſenheim am Inn baute und die zur Speiſung
derſelben dienenden Pumpen mittelſt Waſſerſäulenmaſchinen eigener
Konſtruktion betrieb. Bei dieſer Reichenbach’ſchen Maſchine war der
Pumpenkolben direkt an die Kolbenſtange der Waſſerſäulenmaſchine
gekuppelt. In neuerer Zeit ſind die Waſſerſäulenmaſchinen durch ver-
ſchiedene hervorragende Konſtrukteure derartig vervollkommnet, daß
man dieſelben namentlich als Kleinmotoren in zahlreichen Exemplaren
im Betriebe findet. Hier iſt zunächſt zu nennen der Schmid’ſche Waſſer-
motor; derſelbe hat genau die Anordnung einer Dampfmaſchine und
unterſcheidet ſich von dieſer im Weſentlichen nur dadurch, daß er nicht
mit Dampf, ſondern mit gepreßtem Waſſer, alſo beiſpielsweiſe mit dem
Waſſer einer Hochdruck-Waſſerleitung betrieben wird.


Eine originelle Waſſerſäulenmaſchine iſt der in Fig. 46 und 47 dar-
geſtellte Waſſerdruckmotor von Hoppe in Berlin. Derſelbe beſitzt drei
um 120° gegen einander verſetzte, an ihrem einen Ende offene Druck-
cylinder, deren Kolben mittelſt kurzer Stangen an einem gemeinſamen
Zapfen der Schwungradwelle angreifen. Die in Fig. 46 links ſichtbaren
Röhren dienen zur Zu- bezw. Ableitung des Waſſers. Die Verteilung
des Betriebswaſſers auf die drei Cylinder erfolgt durch einen Dreh-
ſchieber.


Fig. 48 ſtellt die Anſicht eines ebenfalls von Hoppe in Berlin
gebauten Waſſermotors mit zwei Cylindern dar, deren Kolben gemeinſam
eine Schwungradwelle bewegen.


Schließlich bringen wir noch in Fig. 49 (Seite 75) einen Zwerg aus
dem Geſchlechte der Waſſermotoren. Derſelbe wird von Möller \& Blum
in Berlin geliefert und dient, indem er direkt an die Hauswaſſerleitung
geſchraubt wird, zum Betriebe von Nähmaſchinen.


Im Anſchluß an die durch gepreßtes Waſſer betriebenen Waſſer-
ſäulenmaſchinen ſind hier noch die durch Preßluft betriebenen Motoren
[72]Die Motoren.

Figure 46. Fig. 46.

Hoppes rotierender Dreicylinder-Waſſerdruck-Motor.


zu nennen. Konſtruktion und Wirkungsweiſe derſelben iſt im Großen
und Ganzen die gleiche, wie die der durch Waſſerdruck betriebenen
Cylindermaſchinen, nur daß die bewegende Kraft in gepreßter Luft
beſteht. In neuerer Zeit hat Popp nach dieſem Syſtem in Paris
eine Kraftverteilung von einer Centralſtation aus mittelſt gepreßter Luft
eingerichtet. In Bergwerken, wo man die gepreßte Luft zugleich zur
Ventilation benutzt, ſind mit Preßluft betriebene Motoren bereits ſeit
längerer Zeit im Gebrauch. Es iſt dieſes in ganz beſonderem Maße
in Nord-Amerika der Fall, wo man gepreßte Luft zum Betriebe von
Fördermaſchinen, Geſteinsbohrmaſchinen u. ſ. w. in ausgedehntem
Maße verwendet. Die die Preßluft liefernden Kompreſſoren werden
dort meiſt mittels Turbinen betrieben.


c) Die Windmotoren.


Der Name des Erfinders der Windmotoren iſt nicht feſtzuſtellen;
jedenfalls aber gehörte dieſer dem deutſchen Volke an, denn von jeher
wurden die älteſten Windmühlen als deutſche Windmühlen bezeichnet.
[73]Die Windmotoren.

Figure 47. Fig. 47.

Hoppes rotierender Dreicylinder-Waſſerdruck-Motor.
Die obere Figur ſtellt einen Schnitt durch die Cylinder, die untere eine Anſicht des Motors dar.


[74]Die Motoren.

Figure 48. Fig. 48.

Hoppes Zweicylinder-Waſſerdruck-Motor.


Es iſt auch wohl behauptet worden, daß die Windmühlen durch die
Kreuzfahrer aus dem Orient nach dem Abendlande übertragen worden
ſeien; es iſt jedoch hiſtoriſch nachzuweiſen, daß weder die Griechen noch
die Römer, noch die aſiatiſchen Völkerſchaften die Ausnutzung des
Windes zur Erzielung motoriſcher Kraft gekannt haben. Noch heute
ſind Windmühlen im geſammten Oriente verhältnismäßig ſehr ſelten
anzutreffen, und dürften die wenigen vorhandenen Exemplare jedenfalls
europäiſchen bezw. abendländiſchen Urſprunges ſein.


Das erſte urkundenmäßig feſtzuſtellende Vorkommen von Wind-
mühlen datiert nach Rühlmann aus dem Jahre 1105; zu dieſer Zeit
erhielt ein franzöſiſches Kloſter die Erlaubnis zur Anlage von Waſſer-
und Windmühlen (molendina ad ventum).


Die älteſten ſogenannten deutſchen Windmühlen waren in der
Weiſe angeordnet, daß der eigentliche Windmotor, das Flügelrad, mit
[75]Die Windmotoren.
dem zur Aufnahme des Mühl-
werkes dienenden Gebäude ſo
verbunden war, daß bei Rich-
tung der Änderung des Windes
das geſamte Gebäude um einen
ſenkrechten feſten Ständer, den
ſogenannten Hausbaum, ge-
dreht werden mußte. Dieſe An-
ordnung erforderte jedoch einen
außerordentlich hohen Aufwand
an Kraft und Zeit. Zur Ver-
meidung deſſen ging man in
Holland ſchon im 16. Jahr-
hundert dazu über, das eigent-
liche Mühlengebäude maſſiv
auszuführen, das Windrad in
dem Dache deſſelben anzu-
ordnen und dieſes mit einer
Vorrichtung zu verſehen, welche
es ermöglichte, das Windrad
und das Dach zugleich nach

Figure 49. Fig. 49.

Waſſermotor von Möller \& Blum.


der jeweilig herrſchenden Windrichtung einzuſtellen. Die letztere Art
der Windmühlen bezeichnet man als holländiſche Windmühlen.


In der letzten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts erfuhren dieſe
holländiſchen Windmühlen in England eine ſehr weſentliche Verbeſſerung
durch die Hinzufügung eines zweiten Windrades, welches entgegengeſetzt
zu dem eigentlichen Windmotor auf der andern Seite des beweglichen
Daches angeordnet iſt und den Zweck hat, das Dach nebſt dem Wind-
motor ſelbſtthätig in die erforderliche Stellung zu der Richtung des
Windes zu bringen.


Gegenwärtig findet man zahlreiche Exemplare der ſämtlichen vor-
ſtehend beſchriebenen Arten von Windmühlen in Gebrauch, nämlich ſowohl
die deutſche mit feſtem Ständer, wie die holländiſche Windmühle mit durch
Menſchenkraft oder ſelbſtthätig verſtellbarem Dache.


Was zunächſt die Konſtruktion der Windflügel betrifft, ſo iſt die-
ſelbe in den Figuren 50 und 51 in größerem Maßſtabe dargeſtellt.


An der Flügelwelle a, welche in der Wand bezw. in dem Dache
des Mühlengebäudes drehbar gelagert iſt, ſind die Flügel, meiſt deren
vier, befeſtigt. Jeder Flügel beſteht aus der ſogenannten Rute f von
Tannen- oder Kiefernholz; dieſelbe hat an der Welle a eine Stärke von
30 bis 32 cm und verjüngt ſich an ihrem äußerſten Ende bis auf etwa
15 cm; ihre Länge beträgt bis zu 25 m. Durch dieſe Rute f ſind
dann die Sproſſen k hindurchgeſteckt, welche mit Segeltuch überſpannt
werden und auf dieſe Weiſe den Winddruck aufnehmen, infolge deſſen die
Welle a ſich dreht und das eigentliche Mühlenwerk in Bewegung ſetzt.
[76]Die Motoren.

Figure 50. Fig. 50.

Windmühlenflügel. (Seitenanſicht.)


Figure 51. Fig. 51.

Windmühlenflügel. (Vorderanſicht.)


[77]Die Windmotoren.

Wie aus Fig. 50 zu erſehen iſt, ſind die Sproſſen k ſämtlich in
verſchiedenen Richtungen zu der Rute f angeordnet, ſo daß die Fläche
des Segeltuches nicht direkt rechtwinklig von dem in der Richtung des
Pfeiles W wirkenden Winde getroffen wird. Die Art und Weiſe, in
welcher die Prallfläche durch Stellung der Sproſſen k gebildet wird,
iſt Sache der Erfahrung, und es gelten hierfür zahlreiche praktiſch
erprobte Regeln, auf welche näher einzugehen hier nicht der Ort iſt.


Figure 52. Fig. 52.

Schnitt durch das Dach einer holländiſchen Windmühle mit ſelbſtthätiger Einſtellung des Windrades.


In der Fig. 52 iſt das Dach einer modernen holländiſchen
Windmühle mit ſelbſtthätiger Einſtellung des Windrades im Querſchnitt
dargeſtellt.


In der Figur iſt links das eigentliche Windrad B, deſſen Ruten
der Platzerſparnis halber nur zum Teil dargeſtellt ſind, zu ſehen,
während auf der entgegengeſetzten Seite des drehbaren Daches H das
kleine Windrad l ſich befindet, welches lediglich den Zweck hat, das
Dach und das eigentliche Hauptwindrad je nach der herrſchenden
Windrichtung in die richtige Stellung ſelbſtthätig hineinzubringen.


Die Wirkungsweiſe dieſer Vorrichtung iſt folgende. Sobald der
Wind eine Richtung annimmt, welche nicht mit der Richtung der Achſe A
des Windrades B zuſammenfällt, dreht ſich das Windrad l, welches
normal zum Windrade B angeordnet iſt. Durch Vermittelung von
Kegelrädern dreht ſich dann die Welle g und ſetzt mittels der Räder e
und f eine endloſe Schraube in Drehung, welche nunmehr das Zahn-
[78]Die Motoren.
rad b antreibt. Dieſes greift in einen Zahnkranz ein, welcher auf der
Oberkante des Mühlengebäudes unterhalb des beweglichen Daches
liegt. Die Folge dieſer Anordnung iſt die, daß das Dach bei ein-
tretender Änderung des Windes durch das Rad l ſelbſtthätig gedreht
wird, bis die Windrichtung mit der Richtung der Achſe A zuſammen-
fällt. Die in der Fig. 52 dargeſtellte Windmühle iſt noch inſofern
von Intereſſe, als bei derſelben die zur Aufnahme des Winddruckes
dienenden Flächen der Flügel nicht durch überſpanntes Segeltuch,
ſondern durch verſtellbare Jalouſieklappen gebildet werden. Um die
Lage dieſer Klappen je nach der Stärke des Windes bequem reguliren
zu können, iſt in dem Innern der hohlen Welle A eine Stange v an-
gebracht, welche einerſeits mittels des Hebels w an den Jalouſieklappen
angreift, und andererſeits mittels des Zahnbogens g, des Hebels r
und des Zugſeiles t vor- und rückwärts bewegt werden kann. Schließ-
lich iſt noch zu erwähnen, daß das auf der Welle A ſitzende große
Kegelrad D die in der Mitte der Mühle angeordnete ſenkrechte Haupt-
welle antreibt, von welcher aus die ſämtlichen Mahlgänge mit ihren
Hilfsmaſchinen in Bewegung geſetzt werden.


In der neueſten Zeit hat man das Windrad vielfach für Zwecke
der Landwirtſchaft und des Gartenbaues, ja ſogar auch für Zwecke
des Eiſenbahnbetriebes, nämlich zum Pumpen von Waſſer angewendet.
Wir bringen nebenſtehend einige Beiſpiele dieſer von der Firma Carl
Reinſch
in Dresden als Spezialität gebauten modernſten Windräder.
Wie aus der Abbildung ohne Weiteres zu erſehen, weichen dieſelben
hinſichtlich ihrer Bauart nicht unerheblich von den bisher beſchriebenen
Flügelrädern ab. Dieſelben haben einen Durchmeſſer von 3 bis 12 m
und leiſten bei einer ſekundlichen Geſchwindigkeit des Windes von 7 m
¾ bis 18 Pferdeſtärken. Fig. 53 zeigt die Anwendung eines
derartigen Motors zur Entwäſſerung eines Steinbruches. Auf einem
Felſenvorſprunge in der Tiefe des Bruches iſt ein Pumpwerk auf-
geſtellt, welches durch ein vom Motor hin- und herbewegtes Zug-
geſtänge ſeinen Antrieb erhält und das Waſſer von der Sohle des
Bruches nach oben befördert. Fig. 54 zeigt eine durch einen Wind-
motor betriebene Waſſerſtation, von welcher aus die Lokomotiven das
erforderliche Speiſewaſſer erhalten; Fig. 55 zeigt ein Pumpwerk mit
Waſſerelevator und Fig. 56 eine landwirtſchaftliche Maſchinenanlage
mit Schrotmühle, Quetſch- und Häckſelſchneidemaſchine.


Zum Schluß möge hier eine kleine Anzahl von Beobachtungen
Platz finden, welche in den fünfziger Jahren auf der Saline Dürren-
berg bei Merſeburg angeſtellt wurden, um zu zeigen, auf wie viele
Windſtunden man im Jahre rechnen darf, und um einen Maßſtab für die
Zuverläſſigkeit des Windes als Triebkraft zu haben. Hiernach ſtellte
ſich die Zahl der Windtage auf durchſchnittlich 280 im Jahre.


[79]Die Windmotoren.
Figure 53. Fig. 53.

Entwäſſerung eines Steinbruches durch einen
Reinſchſchen Windmotor.


Figure 54. Fig. 54.

Waſſerſtation mit Windmotorbetrieb.


Figure 55. Fig. 55.

Pumpwerk mit Windmotorbetrieb.


Figure 56. Fig. 56.

Landwirtſchaftliche Maſchinenanlage mit Windmotorbetrieb.


[80]Die Motoren.

Es betrug die Windſtundenzahl

Wenn daher zur Verwendung eines Windmotors geſchritten werden
ſoll, ſo iſt zunächſt zu unterſuchen, ob der betreffende Betrieb ſich für
eine in ſo hohem Maße vom Wetter abhängige Kraft eignet. Der
Windmotor wird nur dann zu empfehlen ſein, wenn deſſen Arbeit nicht
unbedingt zu einer beſtimmten Zeit benötigt wird, wenn man vielmehr
dann auf Vorrat arbeiten darf, wenn gerade Wind zur Verfügung
ſteht, um ſpäter den Betrieb ruhen zu laſſen, wenn Windſtille eintritt.
Für derartige maſchinelle Verrichtungen wird der Windmotor aber
wegen ſeiner Billigkeit und ſeiner Gefahrloſigkeit ſtets eine willkommene
Betriebsmaſchine bilden.


d) Die Wärmemotoren.


1. Die Heißluftmaſchinen.

Wenn man einem Körper Wärme zuführt, ſo dehnt ſich derſelbe
aus. Dieſe Eigenſchaft aller Körper wird bei der Heißluftmaſchine in
der Weiſe ausgenutzt, daß man Luft erhitzt, zu gleicher Zeit derſelben
aber ein Hindernis in den Weg legt, ſich auszudehnen. Die Folge
hiervon iſt, daß die Expanſionskraft der erwärmten Luft dieſes Hindernis
zu beſeitigen ſtrebt; wird nun dieſes in Geſtalt eines in einem Cylinder
beweglichen Kolbens ausgeführt, ſo kann man leicht die hin- und her-
gehende Bewegung des letzteren durch Einſchalten einer Kurbel in eine
rotierende Bewegung umſetzen. Kühlt man dann die vorhin erwärmte
Luft wiederum ab, und wiederholt man dieſes abwechſelnde Erwärmen
und Kühlen, ſo iſt hiermit das Prinzip der Heißluftmaſchinen oder
kaloriſchen Maſchinen gegeben. Bereits im Jahre 1824 wurden durch
den Franzoſen Carnot und drei Jahre ſpäter, im Jahre 1827, durch
den Engländer Stirling die erſten Heißluftmaſchinen konſtruiert; that-
ſächlich lebensfähig aber wurde die kaloriſche Maſchine erſt durch
John Ericſon im Jahre 1833. Man hat zwei Arten von Heißluft-
maſchinen zu unterſcheiden:


1. Offene Maſchinen. Bei dieſen wird dem Arbeitscylinder
mittels einer Luftpumpe ſtets friſche Luft zugeführt, welche nach ihrer
Erwärmung und Ausdehnung aus der Maſchine in’s Freie austritt.


[81]Die Heißluftmaſchinen.

2. Geſchloſſene Maſchinen. Bei dieſen wird ein und dasſelbe
Luftquantum abwechſelnd erwärmt und abgekühlt; dasſelbe verläßt alſo
die Maſchine nicht, ſondern verbleibt ein für alle mal in dem Arbeits-
cylinder.


Bevor wir dazu übergehen, für jede dieſer beiden Arten je ein
Beiſpiel in der Bénier’ſchen und in der Rider-Monski’ſchen Heißluft-
maſchine zu geben, wollen wir ganz kurz die Vorteile dieſer Motoren-
gattung hier angeben.


Der Heißluftmotor eignet ſich in ganz beſonderem Maße für das
Kleingewerbe, d. h. für den Betrieb kleiner maſchineller Anlagen. Zunächſt
iſt hier die Sicherheit gegen Exploſionsgefahr zu nennen, infolge deſſen
die Aufſtellung einer kaloriſchen Maſchine nicht der behördlichen Kon-
zeſſion bedarf. Des weiteren beruht ein ſchwer wiegender Vorteil
darin, daß die Aufſtellung von keiner Gas- oder Waſſerleitung oder

Figure 57. Fig. 57.

Béniers Heißluftmaſchine (Längenſchnitt).


elektriſchen Anlage abhängig iſt, vielmehr infolge der überall möglichen
Beſchaffung von Heizmaterial an keine Örtlichkeit gebunden iſt. Schließlich
kommt noch in Betracht, daß der Heißluftmotor ſtets ohne Weiteres
Das Buch der Erfindungen. 6
[82]Die Motoren.
betriebsfähig iſt, während z. B. bei der Dampfmaſchine erſt eine längere
Zeit auf die Beheizung des Dampfkeſſels verwendet werden muß.


Der als Beiſpiel einer offenen Heißluftmaſchine dienende, in Fig. 57
und 58 dargeſtellte Bénier-Motor beſteht im weſentlichen aus einem
ſenkrechten Cylinder a, in welchem ſich ein Kolben b unmittelbar oberhalb

Figure 58. Fig. 58.

Béniers Heißluftmaſchine.
(Querſchnitt durch den Arbeits-Cylinder.)


einer geſchloſſenen Feuerung c
auf- und abbewegen kann, und aus
einer Luftpumpe d. Der Kolben b
greift mittels ſeiner Kolbenſtange
an dem einen Ende des Balan-
ciers t an, welcher bei dem Auf-
und Niedergange des Kolbens
das Schwungrad f in Drehung
verſetzt und durch verſchiedene
Zwiſchenmechanismen die Luft-
pumpe d in der erforderlichen
Weiſe antreibt. Die Wirkungs-
weiſe der Maſchine iſt folgende.
Befindet ſich der Kolben b in
ſeiner tiefſten Stellung unmittel-
bar oberhalb der geſchloſſenen
Feuerung c, ſo wird in dieſe
durch die Luftpumpe d Luft
hineingepreßt. Infolge deſſen
wird das Feuer ſtark angefacht,
die in der Feuerung enthaltene
Luft dehnt ſich aus und treibt den
Kolben empor, um, nachdem ſie
dieſe Arbeit gethan hat, in die
Außenluft auszupuffen. Der
Niedergang des Kolbens wird
dadurch bewirkt, daß in dem
Schwungrade bei dem Aufwärts-
gange des Kolbens ſo viel leben-
dige Kraft aufgeſpeichert wird,
um das rechtsſeitige Ende des
Balanciers nach abwärts zu drücken. Hat der Kolben ſeine tiefſte
Lage wiederum erreicht, ſo beginnt das Spiel der Maſchine von Neuem,
indem ein neues Quantum Luft in die Feuerung c hineingepreßt wird.
Da die in der Feuerung c auftretende Hitze eine ſehr große iſt, ſo
wird in den hohlen Mantel i derſelben Kühlwaſſer eingeführt.


Die Hauptſchwierigkeit beſteht bei dieſer Heißluftmaſchine darin,
daß die Kraft der erwärmten Luft ſofort vernichtet ſein würde, ſobald
die geſchloſſene Feuerung c bei Nachfüllung des Brennmaterials geöffnet
werden würde. Es iſt daher eine ſehr ſinnreiche Vorkehrung getroffen,
[83]Die Heißluftmaſchinen.
welche während der Einführung von Brennſtoff in die Feuerung c die
in dieſer befindliche Luft zurückhält und außerdem die Zufuhr des
Brennmaterials ſelbſtthätig beſorgt. Dieſe Vorkehrung beſteht in einem
Becherwerke, welches das Brennmaterial in Geſtalt von zerkleinertem
Koks aus dem Behälter k entnimmt und auf den an der Füllöffnung
beweglichen Schieber m fallen läßt. Letzterer hat einen Schlitz, in
welchem er bei ſeinem größten Ausſchlage nach links die nußgroßen
Koksſtückchen aufnimmt, um dieſelben bei ſeinem größten Ausſchlage
nach rechts in das Feuerloch q hinabfallen zu laſſen. Stets aber iſt
durch dieſe Vorrichtung die Feuerung c nach außen hin abgeſchloſſen,
ſo daß die Expanſionskraft der erwärmten Luft niemals aufgehoben iſt.


[figure]
Figure 59. Fig. 59.

Fig. 60.
Heißluftmotor von Rider-Monski.
(Anſicht.) (Längsdurchſchnitt.)


Wenn wir nunmehr den in der Fig. 59 und 60 dargeſtellten
Heißluftmotor von Rider-Monski folgen laſſen, ſo wird der
charakteriſtiſche Unterſchied zwiſchen den offenen und geſchloſſenen
kaloriſchen Maſchinen ſofort in die Augen ſpringen.


Die Heißluftmaſchine von Rider-Monski beſteht aus zwei
ſenkrechten Cylindern L und K, in welchen die Kolben A und B ſich
auf- und abwärts bewegen können; der zur Erwärmung der die
Maſchine betreibenden Luft dienende Heiztopf H befindet ſich oberhalb
einer Feuerung. Wird nun dieſe Luft erhitzt, ſo dehnt ſie ſich aus
und treibt den Kolben B nach aufwärts; ſie tritt jedoch nun nicht, wie
dies bei dem Bénier-Motor der Fall iſt, ins Freie aus, ſondern geht
in den zwiſchen den Cylindern L und K liegenden ſog. Regenerator R
und von hier aus unter den Kolben A. Auf dieſem Wege kühlt ſich
die erhitzte Luft durch Berührung mit kalten Flächen ſehr erheblich ab.
6*
[84]Die Motoren.
Die in dem Schwungrade aufgeſpeicherte lebendige Kraft drückt im
Verein mit der äußeren Luft den Kolben A (derſelbe wird wegen dieſer
ſeiner Wirkungsweiſe auch „Verdränger“ genannt) nach abwärts, in-
folge deſſen die Luft durch den Regenerator R in den Heiztopf H
zurückgedrängt wird. Hier erhitzt ſie ſich dann wiederum, und das
Spiel der Maſchine beginnt von Neuem.


Während der Béniermotor in einer Größe von in maximo 20 Pferde-
kräften ausgeführt wird, gelangt der Rider-Monski-Motor in Größen
von ⅓, ½, ⅔, 1 und 2 Pferdeſtärken zur Anwendung.


Iſt die Dampfmaſchine das erfolgreichſte Rüſtzeug der Großinduſtrie
in ihrem Vernichtungskampfe gegen die Kleininduſtrie, ſo kann man
die Heißluftmaſchine als diejenige Motorgattung bezeichnen, welche
berufen ſein dürfte, der Kleininduſtrie in dieſem Kampfe, im Verein
mit der Gaskraftmaſchine, erfolgreich zur Seite zu ſtehen.


2. Die Dampfmaſchinen.

Wie ſich im Alterthum zahlreiche Städte Griechenlands um den
Vorzug ſtritten, der Geburtsort Homer’s zu ſein, ſo hat lange Zeit
hindurch unter den civiliſierten Völkern ein Wettbewerb beſtanden um
die Ehre, den Erfinder der Dampfmaſchine zu den ihrigen zählen zu
können. Dieſer Wettſtreit iſt durch die neueſte Geſchichtsforſchung als ein
müßiger gekennzeichnet. In der Dampfmaſchine findet ſich die praktiſche
Anwendung ſo vieler Naturgeſetze auf kleinſtem Raum vereinigt, welche
erſt allmälig im Laufe der Jahrhunderte durch die hervorragendſten
Geiſter der verſchiedenſten Nationen an das Tageslicht befördert wurden,
daß von einem einzigen Erfinder der Dampfmaſchine nicht die Rede
ſein kann. Nicht formvollendet wie die Minerva aus dem Haupte
des Jupiters entſprang die Dampfmaſchine dem erfinderiſchen Geiſte
eines einzigen Sterblichen; nein, allmälig entwickelte ſie ſich als ein
gemeinſames Produkt der angeſtrengteſten Arbeit der Beſten verſchiedener
Völker zu dem, was ſie heute iſt, zu dem gewaltigſten Hülfsmittel
menſchlicher Bildung und Geſittung. — Wen zuerſt die Beobachtung
des aus dem kochenden Waſſer aufſteigenden Dampfes zu der Erkenntnis
gebracht hat, daß dieſem eine Kraft inne wohne, welche, in die richtigen
Bahnen gelenkt, Arbeit zu verrichten im Stande ſei, hierüber iſt, wie leicht
erklärlich, eine gewiſſe Ueberlieferung nicht vorhanden. Jedenfalls aber
ſteht feſt, daß ſchon lange Zeit vor Beginn der chriſtlichen Zeitrechnung
die Thatſache bekannt war, daß der Waſſerdampf im Stande ſei, eine
gewiſſe Kraftleiſtung hervorzubringen.


Am bekannteſten ſind die Dampfkünſte Herons von Alexandrien,
der gegen 120 vor Chr. lebte. Fig. 61 ſtellt eine nach dieſem alten
Erfinder Heronsball genannte Vorrichtung zum Heben von Waſſer
mittels Dampfkraft dar. Dieſelbe beſteht aus einer Hohlkugel A, welche
bis ungefähr zu ihrer Hälfte mit Waſſer angefüllt iſt. Um dieſes in
[85]Die Dampfmaſchinen.
die Kugel A einbringen zu können, iſt bei B ein durch einen Hahn E
zu verſchließendes Rohr mit Trichter D angebracht. Außerdem tritt
noch ein Rohr CF von außen bis unterhalb des Waſſerſpiegels in das
Innere der Hohlkugel hinein. Die Wirkungs-
weiſe des Heronsballes iſt, wenn derſelbe durch
Feuer erhitzt wird, zunächſt die, daß in dem-
ſelben ſich Waſſerdampf bildet. Da dieſer
nirgends einen Ausgang findet, ſo nimmt
deſſen Spannung mit wachſender Erhitzung
mehr und mehr zu. Dieſes währt ſo lange,
bis der Dampfdruck ſo angewachſen iſt, daß
derſelbe den Waſſerſpiegel niederdrückt und das
Waſſer durch das Rohr FC wie einen Spring-
brunnen nach außen ſchleudert. Wenngleich hier
ein direkter Beweis vorliegt, daß Heron die
Spannkraft des Dampfes erkannt und ausge-
nutzt hat, ſo kann man ihn um deswillen doch
noch bei Weitem nicht als den Erfinder der
Dampfmaſchine bezeichnen, denn ſeine Verſuche
gingen über das Experimentelle in keiner Weiſe

Figure 60. Fig. 61.

Heronsball.


hinaus und trugen den Stempel der Spielerei an der Stirne. Den
gleichen Wert haben die mannigfachen angeblichen Erfindungen der
Dampfmaſchine, von welchen während des Mittelalters und der folgenden
Jahrhunderte berichtet wird.


Wir wollen uns darauf beſchränken, nur zwei derſelben hier kurz
zu erwähnen. Es war im Jahre 1825, als Gonzales in Simancoh
mit der Behauptung hervortrat, daß im Jahre 1543 der Spanier
Blasco de Garay nicht nur eine Dampfmaſchine gebaut, ſondern auch
bereits zur Fortbewegung von Schiffen benutzt habe. Es iſt das
Verdienſt des ſpaniſchen Geſchichtsſchreibers Lafuente und des Profeſſors
Gelcich zu Luſſinpiccolo, dieſe Behauptung des Gonzales auf das
richtige Maß zurückgeführt zu haben. Letzterer fand im 81. Bande der
„Colleccion de documentos inéditos para la historia de España“
einige Dokumente, aus denen hervorgeht, daß Blasco de Garay dem
Kaiſer Karl V. die Mitteilung machte, daß er folgende Erfindungen
gemacht habe:


1. Er will die Ruderer auf den Schiffen beſeitigen; nur ein Mann
ſolle genügen, um jedem Schiffe einer beliebigen Tragfähigkeit, eine gewiſſe
Geſchwindigkeit zu geben.


2. Ein geſunkenes Schiff will er mit zwei Mann auf die Ober-
fläche heben, wenn nicht die Tiefe des Grundes über 100 Faden beträgt.


3. Ferner will er Mittel angeben, um beliebig lange Zeit unter
Waſſer verweilen zu können, um bei geringerer Tiefe auch in trübem
Waſſer alle Gegenſtände, die auf dem Grunde ſich befinden, ganz
deutlich aufzunehmen, um das Salzwaſſer trinkbar zu machen. Endlich
[86]Die Motoren.
will er eine Mühle erfunden haben, welche von einem Manne allein
getrieben werden ſoll.


Man ſieht, daß Blasco de Garay jedenfalls ein ſehr vielſeitiger
Mann war. In der That hat derſelbe am 17. Juni 1543 zu Barcelona
ein Schiff ohne Ruder und ohne Segel in Bewegung geſetzt und von
Karl V. eine Belohnung von 200000 Maravedis erhalten. Nach
ſorgfältiger Prüfung des vorliegenden Dokumentenmateriales kommen
Lafuente und Gelcich zu dem Ergebnis, daß das Schiff Blasco de Garay’s
nicht durch Dampfkraft, ſondern durch ein von Menſchenhand in Drehung
verſetztes Schaufelrad angetrieben wurde. Am überzeugendſten geht
dieſes aus einer von Blasco de Garay aufgeſtellten Überſicht hervor.
Hiernach waren erforderlich:

Was ſollten beiſpielsweiſe 54 Mann anders zu verrichten haben,
als ein Schaufelrad mittels eines großen Räderwerkes zu drehen und
hierdurch das Schiff vorwärts zu treiben!


Eine andere Legende einer angeblichen Erfindung der Dampf-
maſchine bezieht ſich auf den Franzoſen Salomon de Caus, geboren
1576 zu Dieppe, um deſſen Schläfe die Nachwelt ſogar die Glorie
des Märtyrertums geſchlungen hat, indem ſie die Mär erſann, daß
der unglückliche Erfinder als wahnſinnig erklärt und von Richelieu in
das Irrenhaus zu Bicêtre geworfen ſei. Vor den kritiſchen Blicken
der neueren Geſchichtsforſchung iſt alles, was de Caus als den Erfinder
der Dampfmaſchine hinſtellen ſollte, in ein leeres Nichts zerfloſſen.


Figure 61. Fig. 62.

Brancas Äolipile.


Ein kleiner Schritt auf dem Wege
von der erſten Erkenntnis der Dampf-
kraft bis zu der Konſtruktion der
erſten Dampfmaſchine erfolgte durch
den in weiteren Kreiſen als Er-
bauer der Kirche zu Loretto be-
kannten italieniſchen Architekten Joh.
Branca. Von dieſem rührt die
in Fig. 62 dargeſtellte, den Namen
Äolipile tragende Vorrichtung her.
Bei dieſer wurde der in der Hohl-
kugel A gebildete Dampf dazu ver-
wendet, bei ſeinem Austritt aus dem Rohre C ein Schaufelrad D an-
zutreiben und auf dieſe Weiſe mit Hilfe der Kurbel E ein Stampf-
werk in Bewegung zu ſetzen.


[87]Die Dampfmaſchinen.

Alle dieſe Vorläufer müſſen zurückſtehen hinter dem Namen des-
jenigen Mannes, welchem es, nachdem die phyſikaliſchen Kenntniſſe von
dem Weſen des Luftdruckes durch Galilei, Torricelli und Otto v. Gericke
in völlig neue Bahnen gelenkt waren, endlich gelang, auf Grund
wiſſenſchaftlicher Kenntniſſe die erſte, grundlegende Erfindung auf dem
Gebiete des Dampfmaſchinenbaues zu machen. Es iſt dieſes der
franzöſiſche Arzt Dionyſius Papin, geboren 1647 zu Blois. An-
geregt durch den bekannten Huygens hatte ſich Papin dem Studium
der Phyſik mit großem Eifer zugewendet und nach dieſer Richtung
bereits in Paris und London ſehr wertvolle Arbeiten veröffentlicht;
wir erinnern nur an den noch heute bekannten Papin’ſchen Kochtopf,
in welchem geſpannter Dampf zum Kochen Verwendung findet. Eine
gewiſſe Unſtetigkeit des Weſens ließ dieſen bedeutenden Mann aber
nirgends zu längerer Ruhe gelangen, und dieſe Untugend ſollte denn
auch die Urſache ſein, weswegen ein durchſchlagender und nachhaltiger
Erfolg erſt von den auf Papin’s Schultern ſtehenden Epigonen erzielt
wurde. Nach mehrfachen Aufenthalten in Paris, London und Venedig
finden wir Papin im Jahre 1687 als Profeſſor der Mathematik an
der Univerſität zu Marburg. Hier entdeckte er die wichtige Eigenſchaft
des Dampfes ſich niederzuſchlagen und eine Luftleere zu bilden, wenn
er abgekühlt wird; er hatte ſomit das hochwichtige Prinzip der
Kondenſation des Dampfes und deren Folgewirkungen entdeckt. Es
handelte ſich nunmehr noch darum, dieſe wichtige Errungenſchaft für
den Bau der Dampfmaſchinen praktiſch auszunutzen. Papin that dies
folgendermaßen. Unterhalb des Kolbens einer gewöhnlichen, damals
bereits bekannten Pumpe, führte er Dampf in den Pumpencylinder
ein; die Folge hiervon war, daß der Kolben in dem Cylinder empor-
ſtieg. Hatte der Kolben ſeinen höchſten Stand erreicht, ſo wurde er
mittels eines Riegels feſtgeſtellt, worauf dann der Dampf unterhalb
desſelben ſich alsbald abkühlte, kondenſirte und ein Vakuum bildete.
Wurde alsdann der Riegel, welcher den Kolben feſthielt, entfernt, ſo
wurde letzterer durch den auf ihm laſtenden Druck der Atmoſphäre
abwärts getrieben. So unvollkommen dieſe erſte Dampfmaſchine nach
unſeren heutigen Begriffen auch war, ſo ging der Landgraf Karl von
Heſſen doch ſchon mit dem Bau einer Dampf-Waſſerkunſt zur Speiſung des
Fulda-Diemel-Kanals vor. Der zu dieſem Zwecke im Jahre 1700
gegoſſene Dampfcylinder wird noch heute im Muſeum zu Kaſſel auf-
bewahrt und erweckte im Jahre 1879 auf Anregung des Geheimrat
Reuleaux in der Londoner „Ausſtellung wiſſenſchaftlicher Apparate“
das Intereſſe weiteſter Kreiſe. Wirklich in Thätigkeit iſt aber dieſe Pump-
maſchine niemals geweſen. Ja ſogar zum Antrieb eines Schiffes ver-
wendete Papin ſeine Dampfmaſchine. Als er ſich auf dieſem erſten
Dampfſchiffe die Weſer hinab nach England begeben wollte, wurde
ihm dasſelbe von Schiffern, welche inſtinktiv die ihnen drohende Con-
currenz ahnten, zertrümmert. Nach zahlreichen Enttäuſchungen ſtarb
[88]Die Motoren.
Papin in den ärmlichſten Verhältniſſen. Inzwiſchen wurde deſſen
Entdeckung von der Kondenſation des Dampfes von anderer Seite
ausgenutzt und zwar durch den Engländer Savery, deſſen zum Heben
von Waſſer dienender Dampfapparat in Fig. 63 dargeſtellt iſt. Dieſer

Figure 62. Fig. 63.

Saverys Dampfapparat.


beſtand aus den beiden Gefäßen E und E' und dem Dampferzeuger A A.
Zunächſt wird durch den Hahn a das Gefäß E mit Dampf gefüllt;
indem dieſer ſich kondenſiert, tritt in E Luftleere ein, infolge deſſen
der Druck der äußeren Atmoſphäre durch c Waſſer in das Gefäß E
hineintreibt. Läßt man nun von Neuem Dampf durch a in das
Gefäß E eintreten, ſo drückt derſelbe das in dieſem befindliche Waſſer
durch das Ventil b und das Rohr F nach oben. Hierauf benutzt
man das Gefäß E' in derſelben Weiſe, wodurch man in den Stand
geſetzt iſt, einen ununterbrochenen Betrieb einzurichten.


Die durch den atmoſphäriſchen Überdruck betriebene Dampfmaſchine
Papins fand durch Newcomen in den erſten Jahren des achtzehnten
Jahrhunderts eine erfolgreiche Durchbildung und Neubearbeitung.
Dieſe, einen wichtigen Wendepunkt in der Geſchichte der Dampfmaſchine
repräſentierende Maſchine Newcomens iſt in Fig. 64 dargeſtellt. Links
ſehen wir einen mit Unterfeuerung verſehenen Dampfkeſſel, aus welchem
der Dampf direkt in den nach oben offenen Cylinder tritt, um den in
dieſem verſchiebbaren Kolben nach oben zu treiben. Hat der Kolben
ſeinen höchſten Stand erreicht, ſo wird aus einem neben dem Cylinder
angeordneten Gefäß kaltes Waſſer unter den Kolben eingetrieben, infolge
deſſen der Dampf im Cylinder ſich kondenſiert und einer Luftleere Platz
macht. Infolge deſſen vermag der äußere Luftdruck den Kolben wieder
abwärts zu treiben. Hat der Kolben ſeine tiefſte Stellung erreicht, ſo
wird wiederum Dampf in den Cylinder eingelaſſen, und das Spiel
beginnt von Neuem. Man nennt dieſe Maſchine eine einfach wirkende,
weil bei ihr der Dampf nur den Kolben nach einer Richtung, nach
oben, bewegt. Bei der in Fig. 64 dargeſtellten Anordnung dient
[89]Die Dampfmaſchinen.

Figure 63. Fig. 64.

Newcomens Dampfmaſchine.


die Maſchine zum Antriebe eines Schachtpumpengeſtänges, deſſen
Gewicht den Dampf beim Aufwärtstreiben des Kolbens unter Ver-
mittlung des auf dem Mauerwerk gelagerten Doppelhebels wirkſam
unterſtützt. Die zur Einführung des Dampfes und des Kühlwaſſers
erforderlichen Handgriffe mußten durch einen zu dieſem Zwecke angeſtellten
Mann ausgeführt werden, und es geht die Sage, daß ein gewiſſer
Potter zuerſt dieſe Arbeit durch geeignete Anbringung von Hebeln und
Zugſeilen der Maſchine auferlegt, mithin die erſte Steuerung erfunden habe.


Auf dieſem Standpunkte blieb die Dampfmaſchine ganze 60 Jahre,
alſo ungefähr bis zum Jahre 1770 ſtehen. Hier begann die durch-
greifende Thätigkeit desjenigen Mannes, welcher mit glücklicher Hand
die von andern bis dahin geſammelten Bauſteine zuſammenfügte, durch
neue ergänzte und ſo der Vater der Dampfmaſchine im heutigen
Sinne wurde.


Dieſer bevorzugte Sterbliche, James Watt, war geboren 1726
zu Greenock in Schottland und hatte, obwohl von Haus aus Kauf-
mann, im Jahre 1756 die Stellung eines Univerſitätsmechanikers in
Glasgow inne. Hier fügte es das Schickſal, daß er einſt das
[90]Die Motoren.
Modell einer Newcomenſchen einfach wirkenden Dampfmaſchine zu
reparieren hatte. Mit ſcharfem Blick erkannte er die ſchweren Mängel,
welche derſelben anhafteten und ging mit glücklichſtem Erfolge ſofort
dazu über, dieſelben zu beſeitigen. Die durchgreifendſten ſeiner
Änderungen beſtanden darin, daß er den Cylinder auch an dem
oberen Ende ſchloß und nun den Dampf abwechſelnd von beiden
Seiten auf den Kolben einwirken ließ. Er machte alſo die bisher
einfach wirkende Dampfmaſchine zu einer doppelt wirkenden. Einen
weiteren, ſehr erheblichen Fortſchritt erzielte er dadurch, daß er die
Kondenſierung des Dampfes nicht im Innern des Cylinders vornahm,
ſondern in einem beſonderen, neben der eigentlichen Dampfmaſchine
angeordneten Apparate, dem Kondenſator, vor ſich gehen ließ, aus
welchem alsdann die Produkte der Kondenſation durch beſondere
Pumpen entfernt wurden. Nachdem er im Jahre 1769 ein engliſches
Patent für ſeine Dampfmaſchine erhalten hatte, gründete James Watt
im Verein mit einem gewiſſen Boulton im Jahre 1774 die in der
Geſchichte des Maſchinenweſens ſo überaus hervorragende Maſchinen-
fabrik Soho, welche lange Zeit eine bahnbrechende Thätigkeit entwickelte.


Wohl wenige Aktenſtücke können ſich hinſichtlich der Wichtigkeit ihres
Inhaltes mit dem engliſchen Patente Nr. 913 vom Jahre 1769 meſſen,
welches dem glücklichen Erfinder den geſetzlichen Schutz ſeines geiſtigen
Eigenthums gewährleiſtete. Daſſelbe lautet in wörtlicher Überſetzung:
A. D. 1769 . . . . . . . . . . . Nr. 913.


Dampfmaſchinen etc.
Watts Patentbeſchreibung.


Allen denjenigen, welchen dieſes Schriftſtück zu
Geſicht gelangt
, ſende ich, James Watt, aus Glasgow in
Schottland, Kaufmann, meinen Gruß.


Sintemal Seine allerhöchſte Majeſtät, König Georg der
Dritte, durch ſeinen Patentbrief unter beigedrucktem Großſiegel
von Großbritannien vom 5. Januar des neunten Regierungs-
jahres Seiner Majeſtät, mir, dem genannten James Watt,
ſeine beſondere Erlaubnis, Vollmacht, Privilegium und Befugnis
gab, daß ich, der genannte James [Watt], meine Vollſtrecker,
Verwalter und Bevollmächtigten während einer beſtimmten Reihe
von Jahren meine „Neu erfundene Methode der Ver-
minderung des Verbrauches von Dampf und Brennſtoff
in Feuermaſchinen
“ zu benutzen, auszuüben und zu verkaufen
befugt bin und zwar überall in demjenigen Teile des Königreiches
Großbritannien, welcher England genannt wird, in der Herrſchaft
Wales, in der Stadt Berwick am Tweed und ferner in Seiner
Majeſtät Kolonien und Anſiedlungen, und ich, der erwähnte
James Watt in dem erwähnten Patentbriefe verpflichtet werde,

[91]Die Dampfmaſchinen.
unter Unterſchrift und Siegel eine eingehende Beſchreibung des
Weſens meiner Erfindung zu geben, welche in Seiner Majeſtät
Hoher Hofkanzlei eingetragen werden ſoll, innerhalb vier Monate
nach dem Datum des erwähnten Patentbriefes.


So wiſſet nun, daß in Erfüllung der genannten Ver-
pflichtung und Feſtſetzung ich, der erwähnte James Watt,
erkläre, daß das Folgende eine eingehende Beſchreibung meiner
in Rede ſtehenden Erfindung und der Art und Weiſe, in welcher
dieſelbe zur Ausführung gelangt, iſt,
(das will ſagen): —


Meine Methode der Verminderung des Verbrauches an
Dampf und, hierdurch bedingt, des Brennſtoffes in Feuer-
maſchinen ſetzt ſich aus folgenden Prinzipien zuſammen:


Erſtens, das Gefäß, in welchem die Kräfte des Dampfes
zum Antrieb der Maſchine Anwendung finden ſollen, welches bei
gewöhnlichen Feuermaſchinen Dampfcylinder genannt wird und
welches ich Dampfgefäß nenne, muß während der ganzen Zeit,
wo die Maſchine arbeitet, ſo heiß erhalten werden, als der Dampf
bei ſeinem Eintritte iſt und zwar erſtens dadurch, daß man das
Gefäß mit einem Mantel aus Holz oder einem anderen die
Wärme ſchlecht leitenden Material umgiebt, daß man dasſelbe
zweitens mit Dampf oder anderweitigen erhitzten Körpern umgiebt
und daß man drittens darauf achtet, daß weder Waſſer noch ein
anderer Körper von niedrigerer Wärme als der Dampf in das
Gefäß eintritt oder dasſelbe berührt.


Zweitens muß der Dampf bei ſolchen Maſchinen, welche
ganz oder teilweiſe mit Kondenſation arbeiten, in Gefäßen zur
Kondenſation gebracht werden, welche von den Dampfgefäßen
oder -Cylindern getrennt ſind und nur von Zeit zu Zeit mit
dieſen in Verbindung ſtehen. Dieſe Gefäße nenne ich Kondenſatoren
und ſollen dieſelben, während die Maſchinen arbeiten durch An-
wendung von Waſſer oder anderer kalter Körper mindeſtens ſo
kühl erhalten werden, als die die Maſchine umgebende Luft.


Drittens, ſobald Luft oder andere durch die Kälte des
Kondenſators nicht kondenſierte elaſtiſche Dämpfe den Gang der
Maſchine ſtören, ſo ſind dieſelben mittels Pumpen, welche durch
die Maſchine ſelbſt betrieben werden, oder auf andere Weiſe aus
den Dampfgefäßen oder Kondenſatoren zu entfernen.


Viertens beabſichtige ich in vielen Fällen die Expanſions-
kraft des Dampfes zum Antrieb der Kolben oder was an deren
Stelle angewendet wird, zu gebrauchen, in derſelben Weiſe, wie
der Druck der Atmoſphäre jetzt bei gewöhnlichen Feuermaſchinen
benutzt wird. In Fällen, wo kaltes Waſſer nicht in Fülle vor-
handen iſt, können die Maſchinen durch dieſe Dampfkraft allein
betrieben werden, indem man den Dampf, nachdem er ſeine

[92]Die Motoren.
Arbeit gethan hat (after it has done its office), in die freie Luft
austreten läßt.


Fünftens, wo Bewegungen um eine Achſe verlangt werden,
ſtelle ich die Dampfgefäße in Form von hohlen Ringen oder
kreisförmigen Kanälen her, mit beſonderen Ein- und Ausläſſen
für den Dampf, und montiere dieſelben auf horizontalen Achſen,
wie die Räder der Waſſermühlen. In denſelben iſt eine Anzahl
von Ventilen angebracht, welche einem Körper nur in einer
Richtung durch den Kanal umzulaufen geſtatten. In dieſen
Dampfgefäßen ſind Gewichte angebracht, welche die Kanäle zum
Teil ausfüllen und durch die noch anzugebenden Mittel in den-
ſelben bewegt werden. Wenn der Dampf in dieſe Maſchinen
zwiſchen jene Gewichte und die Ventile eingelaſſen wird, ſo drückt
er gegen beide gleichmäßig, ſo zwar, daß er das Gewicht nach
der einen Seite des Rades hebt und infolge der gegen die Ventile
wirkenden Reaktion das Rad in Drehung verſetzt, wobei die
Ventile ſich in derjenigen Richtung öffnen, in welcher die Gewichte
Druck empfangen, aber nicht in der entgegengeſetzten. Während-
dem, daß das Dampfgefäß ſich dreht, wird es mit Dampf vom
Keſſel aus geſpeiſt, und derjenige Dampf, welcher ſeine Arbeit
geleiſtet hat, kann entweder durch Kondenſation niedergeſchlagen
oder in die freie Luft entlaſſen werden.


Sechstens will ich in einigen Fällen einen gewiſſen Grad
von Kälte anwenden, welcher den Dampf allerdings nicht in
Waſſer zu verwandeln, wohl aber beträchtlich zu verdichten ver-
mag, ſo daß die Maſchinen abwechſelnd mit Expanſion und
Kontraktion des Dampfes arbeiten.


Endlich wende ich zur dampf- und luftdichten Dichtung des
Kolbens oder anderer Maſchinenteile an Stelle von Waſſer: Öle,
harzige Körper, Tierfett, Queckſilber und andere Metalle in
flüſſigem Zuſtande an.


Zur Bezeugung deſſen habe ich am heutigen Tage, am
fünfundzwanzigſten April im Jahre unſeres Herrn Ein Tauſend
Sieben Hundert und neunundſechzig meinen Namenszug und mein
Siegel hierunter geſetzt.


James Watt. (L. S.)


Geſiegelt und ausgehändigt in Gegenwart von


  • Coll. Wilkie.
  • Geo. Jardine.
  • John. Roebuck.

Es ſei noch bemerkt, daß beſagter James Watt erklärt,
daß ſich nichts von dem im vierten Abſatz Enthaltenen auf
Maſchinen bezieht, bei denen das zu hebende Waſſer in das

[93]Die Dampfmaſchinen.
Dampfgefäß ſelbſt eintritt oder in ein Gefäß, welches mit jenem
in offener Verbindung ſteht.


James Watt.


Zeugen:


  • Coll. Wilkie.
  • Geo. Jardine.

Und es ſei bekannt gegeben, daß der vorgenannte James
Watt
am fünfundzwanzigſten Tage des April, im Jahre unſeres
Herrn 1769, ſich in der Kanzlei unſeres Königlichen Herrn ein-
fand und die vorſtehende Beſchreibung nebſt allem dem in derſelben
Enthaltenen und Beſchriebenen in der oben niedergeſchriebenen
Weiſe anerkannte. Und ſo wird die vorſtehende Beſchreibung
gemäß der Verordnung aus dem ſechsten Jahre der Regierung
des verſtorbenen Königs und der Königin William und Mary
von England u. ſ. w. geſtempelt.


Eingetragen am neunundzwanzigſten April im Jahre unſeres
Herrn Ein Tauſend Sieben Hundert neunundſechzig.


Figure 64. Fig. 65.

Watts Dampfmaſchine (Anſicht).


Fig. 65 und 66 ſtellen die Dampfmaſchine in der Geſtalt dar,
wie dieſelbe durch Watt feſtgeſtellt wurde. In Fig. 65 ſehen wir rechts
den Cylinder A, in welchem der Kolben B (vergl. Fig. 66) dadurch auf
und abwärts bewegt wird, daß der Dampf abwechſelnd unter, bezw.
[94]Die Motoren.

Figure 65. Fig. 66.

Watts Dampfmaſchine (Schnitt).


über den Kolben tritt. Die Kolbenſtang C greift bei D an einem
gleicharmigen Balancier an, an deſſen anderem Ende F die Kurbel-
ſtange G gelenkig angebracht iſt und ſo beim Hin- und Hergange der
Kolbenſtange C die Kurbel K und das auf deſſen Achſe befeſtigte
Schwungrad L in Drehung verſetzt. Fig. 66 giebt die innere Ein-
richtung der Wattſchen Maſchine in größerem Maßſtabe wieder. Der
Dampf ſtrömt bei a hinzu und wird durch den von der Kurbelwelle
[95]Die Dampfmaſchinen.
aus betriebenen Schieber b abwechſelnd durch c oder c (am oberen
bezw. unteren Ende des Cylinders) in dieſen eingeführt. Hat der
Dampf in dem Cylinder ſeine Arbeit verrichtet, ſo wird er ebenfalls
durch Vermittlung des Schiebers b in den Kondenſator e geleitet.
In dieſen tritt ſtets ein Strahl kalten Waſſers ein, infolge deſſen der
Dampf ſofort kondenſiert und niedergeſchlagen wird. Die weitere Folge
iſt die, daß die im Kondenſator herrſchende Luftleere eine ſaugende
Wirkung auf den Kolben ausübt und ſomit die Kraft des auf die
andere Seite des Kolbens drückenden Dampfes unterſtützt. Aus dem
Kondenſator e wird das aus dem Dampfe niedergeſchlagene Waſſer,
ſowie der etwa noch vorhandene Dampf mittelſt der von dem Balancier
aus betriebenen Pumpe h in den Behälter 1 gebracht. Von hier aus
tritt ein Teil dieſes Waſſers aus der Maſchine aus; ein anderer Teil
aber wird mittels der Pumpe m in den Dampfkeſſel gedrückt, um hier
das verdampfte Waſſer wieder zu erſetzen. Es findet alſo ein richtiger
Kreislauf des Waſſers ſtatt, indem dieſes zunächſt im Dampfkeſſel in
Dampf verwandelt wird, alsdann in der Maſchine ſeine Arbeit leiſtet
und wieder zu Waſſer kondenſiert wird, um endlich wieder in den Dampf-
keſſel zurückgepumpt zu werden. Schließlich hat noch die ebenfalls von
dem Balancier aus betriebene Pumpe q den Zweck, den Kondenſator
mit kaltem Waſſer zu umgeben und einen Strahl kalten Waſſers in den-
ſelben hineinzudrücken. Hervorzuheben iſt noch der den Zutritt des
Dampfes zum Cylinder regelnde Schwungkugelregulator. Derſelbe
beruht auf der Wirkung, welche die Centrifugalkraft auf ſchnell ro-
tierende Körper ausübt. Die ſenkrechte Achſe y dieſes Regulators
wird von der Kurbelachſe aus durch den Riemen x in Drehung ver-
ſetzt; überſchreitet dieſe ein gewiſſes Maß der Schnelligkeit, ſo heben
ſich die beiden Kugeln des Regulators infolge der Centrifugalkraft
und bewegen einen Hebel z, welcher bei a durch Drehung einer Klappe
den Zutritt des Dampfes zu dem Schieber b ändert. Überſchreitet
alſo die Umdrehungszahl der Kurbelwelle einen gewiſſen Betrag, ſo
ſchließt der Regulator ſelbſtthätig den Dampf-
zutritt ab und mindert hierdurch die Geſchwindig-
keit der Maſchine. Verlangſamt ſich hingegen
durch irgend welche Umſtände der Gang der
Maſchine, z. B. durch zu viel ihr aufgebürdete
Arbeit, ſo ſinken die Kugeln des Regulators
infolge Nachlaſſens der Centrifugalkraft hinab
und laſſen mehr Dampf bei a in den Cylinder
eintreten. Die in Fig. 66 dargeſtellte Form des
die Dampfverteilung bewirkenden Schiebers b
wurde alsbald in der aus Fig. 67 und 68
erſichtlichen Weiſe abgeändert. Hierbei hat der
Schieber A eine muſchelförmige Geſtalt erhalten.
Derſelbe wird ebenfalls von der Kurbelwelle

Figure 66. Fig. 67

und 68.
Schnitt durch die Dampfkanäle
eines Dampfcylinders.


[96]Die Motoren.
angetrieben und läßt durch die Kanäle B und C den Dampf abwechſelnd
oberhalb oder unterhalb des Kolbens in den Cylinder eintreten, während
der verbrauchte Dampf durch den Kanal D entweicht.


Man ſieht, die Wattſche Dampfmaſchine repräſentiert ein faſt voll-
ſtändig neues Ganze, eine ſolche Unſumme von neuen Einzelheiten,
daß man nicht mit Unrecht James Watt als den Erfinder der Dampf-
maſchine bezeichnet. Die letzten Repräſentanten der durch Watt ge-
ſchaffenen Dampfmaſchine ſind erſt in den ſechziger Jahren von dem
Schauplatze ihrer Thätigkeit verſchwunden. Sie ſind es geweſen, welche
das Zeitalter des Dampfes ſchufen, und als ihr Schöpfer im Jahre
1819 ſein an beiſpielloſen Erfolgen reiches Leben beſchloß, da ſetzte
man ihm mit Recht in der Londoner Weſtminſter-Abtei folgende
Grabſchrift:


James Watt
welcher die Kraft eines schöpferischen

in wissenschaftlichen Forschungen früh geübten Geistes

wandte auf die Verbeßerung der Dampfmaschine,

dadurch die Hilfsquellen seines Landes erweiterte,

die Kraft des Menschen vermehrte,

und sich zu einem hervorragenden Platze erhob

unter den berühmtesten Männern der Wißenschaft und den

wahren Wohlthätern der Welt.

Watt wendete bei ſeiner Dampfmaſchine einen Überdruck von etwa
1 ½ Atmoſphären an. Bei dieſem niedrigen Druck — man bezeichnet
die betreffenden Maſchinen daher mit dem Namen Niederdruckmaſchinen —
iſt die Anbringung des Kondenſators erforderlich, damit der äußere
Atmoſphärendruck auf den Kolben zur Wirkung kommen kann. Schon
Watt trug ſich mit der Idee, höher geſpannten Dampf zu verwenden;
jedoch kamen ihm nach dieſer Richtung der Amerikaner Evans und der
Engländer Trevithick zuvor, welche bereits in den erſten Jahren des
neunzehnten Jahrhunderts mit Erfolg dazu übergingen, einen höheren
Dampfdruck, bis zu vier Atmoſphären, anzuwenden. Sie erreichten
hierdurch den Vorteil, daß ſie den Kondenſator entbehren konnten, in-
folge deſſen ſich die Einrichtung der Maſchine ſowie deren Bedienung
ganz weſentlich vereinfachte. Im Laufe der ferneren Jahrzehnte brach
ſich allmählich die Erkenntnis Bahn, daß die rationellſte Ausnutzung
des Brennmateriales und des Dampfes in der Weiſe erreicht werde, daß
man dem Dampfe eine möglichſt hohe Spannung giebt und ſeine
Expanſionskraft ſo viel als möglich ausnutzt. Nachdem man dieſes
Prinzip der Ausnutzung der Expanſion zunächſt in der Eincylindermaſchine
in weitgehendem Maße durchgebildet hatte, iſt man in der neueren
Zeit dazu übergegangen, die Expanſion des Dampfes in zwei, drei,
ja auch in vier Cylindern ſich vollziehen zu laſſen. Die erſten Grund-
[97]Die Dampfmaſchinen.
lagen dieſer modernen Dampfmaſchinen, welche wegen ihrer Anordnung
und Wirkung Compound- oder Verbundmaſchinen genannt werden,
ſtammen bereits aus dem Jahre 1804 und rühren von dem Engländer
Woolf her, weswegen man auch wohl jetzt noch die moderne Mehr-
cylinder-Dampfmaſchine als Woolfſche Maſchine bezeichnet findet.
Woolf ließ den Dampf zuerſt in einem kleineren Dampfcylinder expandieren
und ließ ihn alsdann, nachdem er hier ſeine Arbeit geleiſtet, in einen
zweiten größeren Cylinder übertreten, in welchem nun eine weitere Aus-
nutzung der Expanſionskraft des Dampfes geſchah. Bei dieſer Woolf-
ſchen Maſchine waren die Kurbeln beider Cylinder ſo zu einander
geſtellt, daß beide zu gleicher Zeit ihre äußerſten Stellungen, ihre toten
Punkte, erreichten; bei einer ſolchen Anordnung bietet das Ingangſetzen
der Maſchine, wenn ſie gerade in einem ihrer toten Punkte ſteht, be-
ſondere Schwierigkeiten. Man vermeidet dieſes in der neueſten Zeit
dadurch, daß man die Kurbeln ſo anordnet, daß die eine gerade im
toten Punkte liegt, wenn die andere auf der Mitte des Hubes ſteht;
es befindet ſich ſomit ſtets eine der beiden Kurbeln in einer Stellung,
welche ein Vorwärtsgehen der Maſchine ohne weiteres ermöglicht. Es
ſind dieſes die modernen Compound- oder Verbundmaſchinen;
man findet für dieſelben auch
des öfteren die Bezeichnung
Receivermaſchinen, weil in
Folge ihrer eigenartigen Kur-
belſtellung zwiſchen ihren Cy-
lindern ein Behälter (Receiver)
für den von dem kleinen zum
großen Cylinder übertretenden
Dampf angebracht ſein muß.


Fig. 69 ſtellt eine ſolche
moderne Receiver-Maſchine
von G. Hambruch in Berlin
dar. Bei derſelben ſieht man
als ferneres charakteriſtiſches
Merkmal ihrer Gattung die
Cylinder obenliegend, während
die Kurbelwelle unten liegt.
Dieſe Anordnung findet ſich
durchgängig bei den zahlreichen
Schiffsmaſchinen der Schrau-
bendampfer; bei dieſen greifen
die Kurbeln direkt an der die

Figure 67. Fig. 69.

Receiver-Maſchine von G. Hambruch.


Schiffsſchraube tragenden Welle an. In ihrem äußeren Ausſehen
erinnern dieſe Receivermaſchinen lebhaft an die Dampfhämmer; man
findet daher dieſelben häufig auch als „Hammermaſchinen“ be-
zeichnet.


Das Buch der Erfindungen. 7
[98]Die Motoren.

Es möge uns geſtattet ſein, hier noch zwei intereſſante Reprä-
ſentanten der Dampfmaſchine vorzuführen.


Fig. 70 und 71 ſtellen in zwei Schnitten eine von dem bekannten
amerikaniſchen Konſtrukteur Weſtinghouſe herrührende Maſchine mit

Figure 68. Fig. 70.

Schnelllaufende Dampfmaſchine von Weſtinghouſe. (Schnitt durch die Cylinder.)


zwei gleich großen Cylindern (Zwillingsmaſchine) dar und zwar giebt
Fig. 70 einen Längsſchnitt durch beide Cylinder, während Fig. 71
einen Einblick in das Innere des die Dampfverteilung bewirkenden
Schieberkaſtens gewährt. Dieſelbe zeichnet ſich beſonders dadurch aus,
[99]Die Dampfmaſchinen.
daß ſie imſtande iſt, eine außerordentlich lange Zeit hindurch ohne
Unterbrechung zu laufen; als Beiſpiel ſei angeführt, daß auf den Pitts-
burgher Gaswerken ein ſolcher Motor 13 Monate lang im ununter-
brochenen Gange bei 500 Umdrehungen per Minute ſich befunden hat.


Figure 69. Fig. 71.

Schnelllaufende Dampfmaſchine von Weſtinghouſe
(Schnitt durch den Schieberkaſten.)


Das Weſentlichſte der Dampfmaſchine von Weſtinghouſe beſteht
darin, daß zwei Dampfcylinder, in welchen der Dampfdruck nur von
oben nach unten wirkt, zwiſchen ſich den die Steuerung bewirkenden
7*
[100]Die Motoren.
Schieberkolben aufnehmen, und daß die bewegten Teile fortdauernd in
einem Gemiſch von Öl und Waſſer laufen. Aus dem zwiſchen den
beiden Dampfcylindern liegenden Raume s (Fig 71) tritt der Dampf
während des Auf- und Niederganges des Schieberkolbens V abwechſelnd
durch die Kanäle P bezw. P' in den einen oder den anderen der beiden
Arbeitscylinder AA und geht von hier zu dem Auspuffrohr N. Der
Dampf wirkt alſo, wie bereits angegeben wurde, lediglich in einer
Richtung, nämlich von oben nach unten.


Die Kurbelwelle H, welche zur Ausbalanzierung der Maſchine mit
Gegengewichten X verſehen iſt, erhält ihre Lagerung in der mit Lagern K

Figure 70. Fig. 72.

Dampfmotor von Altmann \& Co.


[101]Die Dampfmaſchinen.
und d ausgeſtatteten Kammer C. Auf das Oberteil dieſer Kammer C
ſind die beiden, mit dem Steuerungscylinder B ein einziges Gußſtück
bildenden Arbeitscylinder A direkt aufgeſchraubt. O iſt ein zur Schmierung
der Lager d dienender Ölbehälter; von d aus tritt das überflüſſige
Schmieröl durch den Kanal e (Fig. 70) in die Kammer C über, infolge
deſſen letztere mit dem Gemiſch von Waſſer und Öl gefüllt wird, in
welchem die Kurbeln der beiden Dampfkolben rotieren; die Höhe des
in C befindlichen Flüſſigkeitsſpiegels wird durch ein Überfallrohr konſtant
erhalten. Gegenwärtig wird dieſe Maſchine auch nach dem Compound-
ſyſtem gebaut.


In Fig. 72 bringen wir eine Dampfmaſchine, welche von Alt-
mann \& Comp. in Berlin gebaut wird und beſonders in den mannig-
fachen Zweigen des Kleinbetriebes in zahlreichen Exemplaren verbreitet
iſt. Wie aus der Fig. 72 zu erſehen iſt, kennzeichnet ſich dieſer Motor
dadurch, daß die eigentliche Maſchine auf den den Betriebsdampf er-
zeugenden Keſſel aufgeſetzt iſt. Es liegt alſo hier das denkbar geringſte
Raumbedürfnis vor. Die kleine Maſchine beſitzt einen Kondenſator,
in welchem der aus dem Dampfcylinder abgehende Dampf völlig nieder-
geſchlagen wird, um alsdann nach Paſſierung eines Filters durch eine
Speiſepumpe wieder in den Dampfkeſſel zurückgeführt zu werden.


Dieſe Anordnung der Dampfmaſchine auf dem Dampfkeſſel führt
uns auf eine wichtige große Klaſſe der Dampfmotoren, auf die Loko-
mobilen
.


Die älteſten Dampfmaſchinen mit ihren Dampfkeſſeln waren feſt-
ſtehende
oder ſtationäre. Es ſtellte ſich alsbald das Bedürfnis
heraus, die Dampfkraft hier und da vorübergehend anwenden und als-
dann an einen anderen Ort transportieren zu können. So entſtanden
mehrere Arten von Dampfmotoren, welche man als halbſtabile oder
halblokomobile und lokomobile bezeichnet. Die vorſtehend be-
ſchriebenen Motoren von Altmann \& Comp. gehören z. B. zu den halb-
lokomobilen Dampfmaſchinen, da dieſelben ohne erhebliche Schwierig-
keiten ſammt ihren Keſſeln von einem Orte fortgebracht und an einer
anderen Stelle wieder aufgeſtellt werden können.


Bei den lokomobilen Dampfmaſchinen, oder, wie man ſie kurz zu
bezeichnen pflegt, bei den Lokomobilen ging man nun noch einen
Schritt weiter, indem man Maſchine und Keſſel nebſt allem Zubehör
auf ein Wagengeſtell ſtellte und ſo zum Transport über Land geeignet
machte.


In Fig. 73 und 74 geben wir zwei Abbildungen von Lokomobilen
der bekannten Maſchinenfabrik von R. Wolf in Magdeburg—Buckau,
und zwar ſtellt Fig. 73 den Schnitt einer Hochdruck- und Fig. 74 eine
Receiver-Lokomobile dar. Bei erſterer tritt der Dampf aus dem auf
den Rädern liegenden Dampfkeſſel in den Dampfcylinder C und wirkt hier
durch einfache Expanſion. Bei letzterer dagegen, welche mit zwei Cy-
lindern verſehen iſt, tritt der Dampf, nachdem er ſeine Arbeit in dem
[102]Die Motoren.

Figure 71. Fig. 73.

Längenſchnitt durch eine Hochdruck-Lokomobile von Wolf.


kleineren Cylinder verrichtet hat, zur weiteren Ausnutzung ſeiner Expanſion
in den größeren Cylinder über. Dieſe Lokomobile iſt alſo nach dem ſchon
früher dargelegten Prinzip der Compound-Dampfmaſchine konſtruiert.


Neben der Konſtruktion der Dampfmaſchine ſelbſt iſt für einen
rationellen Betrieb von der größten Wichtigkeit der Dampferzeuger,
der Dampfkeſſel. In früheren Jahrzehnten, als man noch der
glücklichen Überzeugung lebte, daß die unterirdiſchen Schätze unſerer
Kohlenflöze ſchier unerſchöpflich ſeien, nahm man es mit der Konſtruktion
der Dampfkeſſel und ihrer Feuerungsanlagen nicht ſehr genau, und
eine dichte Rauchwolke gab ſchon von weitem dem Auge kund, daß
dort ein Dampfkeſſel betrieben werde. Hierin hat die Neuzeit tief-
greifende Wendung geſchaffen. Rigoroſe polizeiliche Vorſchriften hin-
ſichtlich der Rauchvermeidung ſowie hinſichtlich der Sicherheit des
Betriebes haben es im Verein mit den Fortſchritten der Technik zuwege
gebracht, daß heutzutage eine Dampfkeſſelanlage bei weitem nicht mehr
der unangenehme und gefährliche Nachbar iſt wie früher. Nachdem
Watt bei ſeinen Dampfkeſſeln zuerſt die Kofferform, (hierbei war der
Boden flach und die übrigen Flächen waren gekrümmt), angewendet
hatte, ging man alsbald dazu über, dem Dampferzeuger eine cylindriſche,
walzenförmige Geſtalt zu geben. Fig. 75 bis 78 geben einen Einblick
in die Anordnung und die Einrichtung eines modernen Dampfkeſſels.
[103]Die Dampfmaſchinen.

Figure 72. Fig. 74.

Compound-Lokomobile von Wolf.


Wie aus dem Querſchnitt und dem Längenſchnitt zu erſehen, durch-
ziehen den Dampfkeſſel zwei cylindriſche Rohre, welche ringsum von
dem in dem Keſſel enthaltenen Waſſer umgeben ſind. In jedem dieſer
Rohre iſt am vorderen Ende ein Roſt angebracht, auf welchem von
dem Heizer das Feuer unterhalten wird. Die Flammen ſtreichen von
der Feuerung nach vorn in der Richtung der Pfeile, ziehen dann
weiter nach unten, ſtreichen an der unteren Fläche des Keſſels wiederum
nach vorn und ziehen ſchließlich oberhalb des Keſſels nach hinten zum
[104]Die Motoren.

Figure 73. Fig. 75

bis 78. Doppelflammrohrkeſſel.


Schornſtein ab. Der ſich bildende Dampf ſteigt in den ſogenannten
Dom über; es iſt dieſes ein auf dem Keſſel angebrachter Aufſatz, welcher
dazu dient, den Dampf zu ſammeln und dieſem Gelegenheit zu geben,
etwa beim Kochen mitgeriſſenes Waſſer fallen zu laſſen. An dem Dome
iſt ein Sicherheitsventil (Fig. 79) angebracht, welches durch ein an einem
Hebel befindliches Gewicht geſchloſſen gehalten wird. Überſteigt der
[105]Die Dampfmaſchinen.

Figure 74. Fig. 79.

Sicherheitsventil.


Dampfdruck einen gewiſſen Betrag, ſo hebt er das Ventil, und es kann
nunmehr der Dampf ins Freie entweichen. Dieſe Sicherheitsventile
ſpielen eine große Rolle bei der Verhütung der Dampfkeſſelexploſionen.
Dieſelben müſſen ſtets auf das Sorgfältigſte imſtande gehalten werden,
damit der Dampf rechtzeitig entweichen kann. Neuerdings hat man
die Gewichte der Sicherheitsventile vielfach durch Spiralfedern, welche
das Ventil niederdrücken, erſetzt.


An der Vorderſeite des Keſſels iſt eine Vorrichtung, der ſogenannte
Waſſerſtandszeiger angebracht; hier kann der Keſſelheizer jederzeit erſehen,
wie hoch das Waſſer im Innern des Keſſels ſteht. Das Weſentliche
dieſes Apparates beſteht darin, daß derſelbe mit einer oder zwei Glas-
röhren verſehen iſt, in welchen nach dem Geſetze von den kommuni-
zierenden Gefäßen das Waſſer dieſelbe Höhenlage einnimmt als im
Innern des Keſſels. Zur Beurteilung des im Keſſel herrſchenden
Druckes dienen die Manometer. Im Innern eines ſolchen Manometers
liegt eine unter der Wirkung des Dampfes ſich ausdehnende Metall-
feder; die Formveränderung, welche dieſe Feder unter dem Dampfdruck
erleidet, wird auf einen Zeiger übertragen, welcher auf einer Skala
den Druck in Atmoſphären oder Kilogrammen pro Quadratzentimeter
an giebt.


Eine große Wichtigkeit für die Sicherheit des Betriebes wohnt
denjenigen Vorrichtungen bei, welche dazu dienen, die Keſſelſpeiſung zu
bewirken, d. h. das Waſſer in den Keſſel einzuführen. In früheren
Zeiten bediente man ſich hierzu der Pumpen, welche der Keſſelheizer
ſehr häufig direkt mit der Hand betrieb. Später verwendete man
beſondere Dampfpumpen. In der neueren Zeit iſt man faſt all-
gemein dazu übergegangen, die Speiſung der Keſſel durch Injektoren,
eine aus dem Jahre 1856 ſtammende Erfindung des Franzoſen
Giffard, zu bewirken. Das Weſentliche der Injektoren beſteht darin,
daß ſie das Waſſer mit Hülfe von Dampfdruck in den Keſſel hinein-
[106]Die Motoren.
ſaugen. Aus Fig. 80 iſt die nähere Einrichtung eines Giffardſchen
Injektors zu erſehen. Bei a tritt Keſſeldampf ein und reißt durch den
Rohranſatz b das Waſſer mit ſich und führt dieſes durch die Bohrung c

Figure 75. Fig. 80.

Injektor von Giffard.


in den Keſſel hinein. Das überſchüſſige
Waſſer fließt durch das ſogenannte
Schlabberrohr d ab. Fig. 81 ſtellt einen
Injektor modernſter Konſtruktion, den
Körtingſchen Univerſal-Injektor, dar;
derſelbe iſt imſtande, kaltes Waſſer bis
auf 6,5 m zu ſaugen. Die Wirkungs-
weiſe iſt folgende: Iſt die links befindliche
Düſe D durch das Ventil V geſchloſſen,
die rechts befindliche Düſe D' aber ge-
öffnet, ſo daß der bei H eintretende Keſſel-
dampf in die Kammer M' überſtrömen
und von hier durch den geöffneten Hahn L
austreten kann, ſo wird bei I kein Waſſer
angeſaugt, d. h. der Injektor iſt außer

Figure 76. Fig. 81.

Univerſal-Injektor von Körting.


Betrieb. Wird dagegen durch einen außen angebrachten Griff der
Doppelhebel OO' von links nach rechts verdreht, ſo wird die Düſe links
durch Lüftung des Ventiles V geöffnet, dagegen die rechts gelegene Düſe
durch Niederdrücken des Ventiles V' geſchloſſen. Es ſtrömt infolge
deſſen nunmehr der Dampf durch die Düſe links in die Kammer N,
ſaugt durch I Waſſer an und tritt, da Hahn L zugleich mit der Bewegung
des Doppelhebels OO' geſchloſſen wurde, durch die Düſe F' in die
Kammer M' über. Hier öffnen der Dampf und das mitgeriſſene Waſſer
das Ventil C und ſtrömen vereint bei K in den Dampfkeſſel ein.


Die Zahl der auf dem Gebiete des Dampfkeſſelbaues gemachten
Neuerungen iſt Legion. Sie alle ſtreben danach, eine thunlichſt hohe
Ökonomie und Sicherheit des Betriebes zu erreichen.


Eine der weſentlichſten dieſer Neuerungen ſind die ſogenannten
Waſſerrohrkeſſel. Als Beiſpiel bringen wir den in Fig. 82 im Schnitt
dargeſtellten Dampfkeſſel, Syſtem Heine. Im Gegenſatze zu dem in
Fig. 75—78 abgebildeten Walzenkeſſel mit zwei inneren Flammrohren
[107]Die Dampfmaſchinen.

Figure 77. Fig. 82.

Heines Waſſerrohrkeſſel.


beſteht der Heineſche Keſſel aus einem oberen, zugleich als Dampf-
ſammler dienenden Oberkeſſel und aus zahlreichen, von den Feuergaſen
umſpülten, unterhalb jenes Oberkeſſels angeordneten Waſſerrohren.
Dieſes untere Röhrenſyſtem iſt ſtets mit Waſſer angefüllt. Die Dampf-
bildung beginnt in dem vorderen Teile der Waſſerröhren, und von
hier aus ſteigen die ſich bildenden Dampfbläschen durch die über der
Feuerung liegenden Waſſerkammern nach oben.


Die Waſſerröhrenkeſſel nehmen im Verhältnis zu den Walzen-
keſſeln bei gleicher Dampfentwicklung einen kleinen Raum ein und zeichnen
ſich durch eine ſehr raſche Verdampfung aus.


Einen hervorragenden Rang unter den Dampfkeſſeln nehmen die
Keſſel der Lokomotiven ein. Da dieſelben gerade für die Entwickelung
des Lokomotiv- und des Eiſenbahnweſens eine hervorragende Rolle ge-
ſpielt haben, ſo werden dieſelben bei der Beſprechung der Konſtruktion
der Lokomotive eingehende Erläuterung finden. Es möge jedoch hier
noch darauf hingewieſen werden, daß dieſelben in kleinerem Maßſtabe
auch bei den Lokomobilen Anwendung finden.


Von einer großen Wichtigkeit für den rationellen Betrieb der
Dampfkeſſel iſt die Feuerungseinrichtung derſelben. In Fig. 83 iſt
eine ſogenannte Innenfeuerung für Dampfkeſſel dargeſtellt. Bei dieſer
wird das Brennmaterial durch die Feuerthür f auf die Roſtſtäbe e e
geworfen, verbrennt in dem Feuerraum und läßt dann ſeine Ver-
brennungsgaſe über die Feuerbrücke c in das Flammrohr d über-
[108]Die Motoren.

Figure 78. Fig. 83.

Innenfeuerung für einen Flammrohrkeſſel.


Figure 79. Fig. 84.

Treppenroſt.


[109]Die Gas-Motoren.
treten. Die erforderliche Verbrennungsluft tritt entweder durch die
Feuerthür f oder durch den Aſchenfall b in den Feuerraum a hinein.


Handelt es ſich um die Verbrennung von pulverförmigem oder
feinkörnigem Brennmaterial, wie z. B. Braunkohle, ſo bedient man
ſich des in Fig. 84 dargeſtellten Treppenroſtes. Bei dieſem wird das
Brennmaterial in den Trichter d eingefüllt und ſinkt von hier aus
auf dem ſchräg abwärts gerichteten Roſte a hinab, hierbei allmählich
verbrennend. Zur Entfernung der Aſche und der Schlacken dient der
Schieber f. e iſt ein kleiner Feuerroſt, auf welchem die völlige Ver-
brennung des auf a hinabrutſchenden Brennſtoffes ſich vollzieht. Die
Feuergaſe ziehen bei h zu dem Dampfkeſſel ab.


e) Die auf der chemiſchen Verwandtſchaft verſchiedener
Körper beruhenden Motoren.


1. Die Gasmotoren.

Das Verdienſt, zuerſt die Exploſion des Leuchtgaſes zur Erzeugung
motoriſcher Kraft ausgenutzt und eine auf dieſem Prinzipe beruhende
Kraftmaſchine gebaut zu haben, gebührt, wenn man von den das Stadium
der Verſuche nicht überſchreitenden Maſchinen von Brown, Weight, Bar-
ſanti u. A. abſieht, dem Franzoſen Lenoir. Die Gaskraftmaſchine
jedoch auf die heutige Vervollkommung gebracht und dieſelbe überhaupt
derartig geſtaltet zu haben, daß ſie in einen erfolgreichen Wettkampf
mit den bisher bekannten Motoren einzutreten vermochte, gebührt
Nicolaus Auguſt Otto, geboren im Jahre 1832 zu Holzhauſen in
Naſſau. Was James Watt für die Dampfmaſchine, das hat Otto der
Gasmaſchine geleiſtet.


Miſcht man Leuchtgas mit atmoſphäriſcher Luft, ſo explodiert dieſes
Gemiſch, ſobald es entzündet wird, eine Folge des Umſtandes, daß
die beiden bisher nur mechaniſch mit einander gemengten Körper, dank
der ihnen inne wohnenden chemiſchen Verwandtſchaft, ſich zu einem
einzigen Körper unter erheblicher Entwickelung von Kraft vereinigen.


Merkwürdigerweiſe gehörte der eigentliche Vater der Gasmaſchine,
Nicolaus Auguſt Otto, gleich James Watt dem Kaufmannsſtande
an, war alſo weder im Beſitz einer entſprechenden Vorbildung, noch
hatte er früher Anregung gefunden, ſich mit Problemen der praktiſchen
Mechanik zu befaſſen. Als jedoch im Jahre 1861 ſich die Kunde von
Lenoirs Entdeckung über die civiliſierte Welt verbreitete, da fühlte ſich
Otto durch dieſelbe ſo mächtig angeregt, daß er von Stund’ ab, mit
eiſerner Energie und Zähigkeit an ſeinem Streben feſthielt, in der Gas-
maſchine eine ebenbürtige Rivalin der damals noch allmächtigen Dampf-
maſchine zu ſchaffen. Die gleiche Anregung hatten durch Lenoirs Maſchine
noch viele andere Sterbliche empfangen, aber keinem derſelben war es
[110]Die Motoren.
beſchieden, die Löſung der geſtellten Aufgabe zu finden, außer unſerem,
leider viel zu früh verſtorbenen Landsmann Otto.


Allerdings ließ auch bei dieſem der Erfolg lange auf ſich warten;
eine lange Kette von Verſuchen, Mißerfolgen und Enttäuſchungen war
die nächſte Frucht ſeiner angeſtrengten Thätigkeit.


Es war in den Jahren 1861/62, als in der Werkſtatt des Mechanikers
Zons zu Köln die erſte Ottoſche Gaskraftmaſchine das Licht der Welt
erblickte. Dieſelbe beſaß vier Cylinder, in deren jedem ſich zwei Kolben
befanden. Die Mängel, welche dieſer Maſchine noch anhafteten, waren
ſo ſchwerwiegende, daß die mit derſelben gemachten Erfahrungen ſich
ſehr entmutigend geſtalten mußten.


Es war ein glücklicher Zufall, welcher in dieſer Zeit der Hoffnungs-
loſigkeit den mit reichem Erfinderſinn und hohem Konſtruktionstalent
begabten Otto mit dem wiſſenſchaftlich durchgebildeten Ingenieur
Eugen Langen zuſammenführte. Dem vereinten Wirken dieſer beiden
ſeltenen Männer verdankt die Welt das Geſchenk einer neuen Kraft-
quelle, ohne welche wir uns die heutige Induſtrie und Technik kaum
noch vorzuſtellen vermögen.


Die erſte Frucht der gemeinſamen am 30. September 1864 beginnen-
den Thätigkeit Ottos und Langens war eine atmoſphäriſche Gaskraft-
maſchine. Otto hatte im Laufe ſeiner Verſuche die Überzeugung ge-
wonnen, daß es unmöglich ſei, eine direkt wirkende Gasmaſchine zu
konſtruieren, da die Stöße und Erſchütterungen, welche hierbei auftraten,
die Maſchine alsbald außer Betrieb ſetzten. Infolge deſſen gingen
Otto und Langen dazu über, eine Gaskraftmaſchine zu konſtruieren,
welche nach ihrer Konſtruktion und Wirkungsweiſe gewiſſermaßen ein
Gegenſtück bildet zu der Newcomenſchen Dampfmaſchine. Ebenſo wie
bei dieſer fiel die eigentliche Aufgabe des Antriebes der äußeren atmo-
ſphäriſchen Luft zu, welche ihre Wirkung auf einen in einem Cylinder
auf- und abbeweglichen Kolben äußern konnte, nachdem unterhalb des
letzteren durch die Exploſion des Gasgemiſches ein luftleerer Raum
erzeugt war. Der Kolben wird bei dieſer Exploſion, ohne daß er
irgend welche Arbeit auf das Schwungrad überträgt, in dem Cylinder
emporgeſchleudert und in dieſer Lage wird die Schwungradwelle durch
eine äußerſt ſinnreiche Vorrichtung, die ſogenannte Langenſche Kuppelung,
verkuppelt um hierauf durch den Überdruck der Atmoſphäre wieder
abwärts gedrückt zu werden. Dieſe ſogenannte atmoſphäriſche Gaskraft-
maſchine ſtellten Otto und Langen auf der Pariſer Weltausſtellung im
Jahre 1867 aus.


Zu jener Zeit waren auch die Franzoſen nicht müßig geweſen in
der weiteren Ausbildung des von Lenoir angegebenen neuen Prinzipes
der motoriſchen Kraftentfaltung. So glänzte auf jener Ausſtellung die
Compagnie Lenoir durch eine große Zahl faſt geräuſchlos arbeitender
Gasmotoren und auch der hervorragende franzöſiſche Konſtrukteur
Hugon hatte durch eine geringe Waſſereinſpritzung eine weſentliche
[111]Die Gas-Motoren.
Verbeſſerung der Lenoir-Maſchine bewirkt. Dieſer gegenüber trat die
Otto-Langenſche Maſchine mit ihren ſtarke Detonationen verurſachenden
Exploſionen in den Augen der Mehrzahl der Jury weſentlich zurück.
Dem energiſchen Auftreten des deutſchen Mitgliedes der Preisjury, dem
Geh. Rath Profeſſor Reuleaux, gelang es jedoch hierin einen völligen
Umſchwung herbeizuführen, indem er es durchſetzte, daß bei der Preis-
erteilung lediglich eine Prüfung auf Leiſtung und Gasverbrauch als
maßgebend hingeſtellt wurde. Dieſe Prüfung wurde dem bekannten
Direktor des Conservatoire des Arts et Métiers, Tresca, übertragen.
Hier ſtellte ſich denn zu größtem Erſtaunen der Mehrzahl der Jury
Folgendes heraus: der Gasverbrauch zeigte bei ein und derſelben
Leiſtung bei den drei Gasmaſchinen von Lenoir, Hugon und Otto-
Langen ein Verhältnis von 10 : 6 : 4. Auf grund deſſen erhielt ſodann
letztere den wohlverdienten erſten Preis.


Nunmehr war das Eis gebrochen. Im Jahre 1869 wurde die
Otto-Langenſche Fabrik wegen der erforderlichen Vergrößerungen von
Köln nach Deutz verlegt und im Jahre 1871 bildete ſich zu deren
weiterem Betriebe die Gasmotoren-Fabrik Deutz in Köln-Deutz.
Insgeſamt wurden 5000 Stück der atmoſphäriſchen Gaskraftmaſchinen
gebaut und zwar in Größen von ¼ bis 3 Pferdekräften. Jedoch der
bisher erzielte reiche Erfolg ließ Otto nicht raſten. Es waren in erſter
Linie zwei Umſtände, welche denſelben veranlaßten, an der weiteren
Vervollkommnung ſeines Motors weiterzuarbeiten: zunächſt war es das
unangenehme Geräuſch der Exploſionen, das eine Verwendung des

Figure 80. Fig. 85.

Ottos neuer Motor (liegende Anordnung).


[112]Die Motoren.
Motors in bewohnten Häuſern unmöglich machte; dann aber war es
die geringe Leiſtung von höchſtens 3 Pferdeſtärken, welche ſeiner Ver-
breitung als unüberwindliches Hindernis im Wege ſtand. Das Ergebnis
der weiteren Bemühungen Ottos war die in Fig. 85 dargeſtellte, unter
dem Namen „Ottos neuer Motor“ bekannte Maſchine. Hierbei führte
Otto zum erſten Male den ſogenannten Viertakt ein, d. h. es kommt bei

Figure 81. Fig. 86.

Steuerung von Ottos neuem Motor.


[113]Die Gas- und Petroleum-Motoren.
dieſem Motor auf je zwei Umdrehungen des Schwungrades eine
Exploſion. Die Viertaktmotoren, welche, inzwiſchen mit beſonderen
Abänderungen auch von anderen hervorragenden Maſchinenfabriken
gebaut werden, ſtehen im Gegenſatze zu den ſogenannten Zweitakt-
motoren, bei denen auf jede einzelne Umdrehung des Schwungrades eine
Exploſion entfällt. Letztere ſind jedoch bei weitem weniger verbreitet.


Die Wirkungsweiſe des neuen Ottoſchen Motors beruht auf
folgenden vier auf einander folgenden Phaſen des Arbeitsganges:


  • I.Die Saugeperiode: Der Kolben ſaugt ein Gemiſch von
    Gas und atmoſphäriſcher Luft an.
  • II.Die Kompreſſionsperiode: Der Kolben komprimiert das
    angeſaugte Gemiſch von Gas und atmoſphäriſcher Luft.
  • III.Die Arbeitsperiode: Bei der Lage des Kolbens im toten
    Punkte erfolgt die Zündung des Gemiſches und der Kolben
    wird arbeitsleiſtend zurückgetrieben.
  • IV.Die Ausblaſeperiode: Der Kolben treibt die Verbrennungs-
    und Exploſionsgaſe aus dem Cylinder hinaus.

Zur Ermöglichung dieſes Arbeitsganges, bei welchem das Schwung-
rad während der Perioden I, II und IV die Bewegung des Kolbens zu
bewirken hat, dient ein an der Hinterſeite des Cylinders angeordneter

Figure 82. Fig. 87.

Zündvorrichtung von Ottos neuem Motor


Schieber mit Zündvorrichtung, welcher durch eine mit der Längsachſe
des Motors parallel liegende Steuerungswelle, die ihren Antrieb von der
Schwungradwelle durch Kegelräder empfängt, in Thätigkeit geſetzt wird.
Das Buch der Erfindungen. 8
[114]Die Motoren.
Dieſer Schieber F iſt nebſt der Zündvorrichtung in den Fig. 86—87
in größerem Maßſtabe im Schnitt dargeſtellt und hat folgende Ein-
richtung. Durch die Öffnung k kann in der in Fig. 86 gezeichneten Lage
atmoſphäriſche Luft und durch die Bohrung g und Schlitz d zugleich
Gas in den Kanal r und von hier aus in den Motorcylinder C über-
treten. Hat der Kolben dieſes Gemiſch in den Cylinder C eingeſaugt,
ſo ſchließt der Schieber F den Cylinder C ab, ſodaß nunmehr das
Gemiſch nicht wieder aus demſelben hinaustreten kann und beim
Rückgange des Kolbens komprimiert wird. Hierauf wird das kompri-
mierte Gemiſch von Luft und Gas durch die aus Fig. 87 erſichtliche
Gasflamme b entzündet, und es erfolgt die Exploſion, welche den
Kolben wieder nach vorwärts treibt. Beim Rückwärtsgange des Kolbens

Figure 83. Fig. 88.

Ottos neuer Motor (ſtehende Anordnung).


werden ſodann die Verbrennungs-
und Exploſions-Gaſe aus dem
Cylinder hinausgetrieben, worauf
das Spiel mit dem Eintritte von
Luft und Gas von Neuem beginnt.


In Fig. 88 iſt der neue Ottoſche
Motor in ſtehender Anordnung dar-
geſtellt. Um denſelben auch an
ſolchen Orten aufſtellen zu können,
an welchen eine Gasanſtalt nicht
vorhanden iſt, wird für denſelben
noch ein beſonderer Gaserzeuger,
wie derſelbe in Fig. 89 dargeſtellt
iſt, gebaut. Das Gas wird er-
halten, indem man einen Strom
atmoſphäriſcher Luft mittels eines
Strahles überhitzten Waſſerdampfes
durch eine in dem Gasgenerator c
befindliche glühende Säule von
Brennmaterial hindurchbläſt und
die abziehenden Produkte in dem
ſogenannten Scrubber oder Waſch-
apparat d reinigt und hierauf in den
Gasbehälter e überführt. Der er-
forderliche überhitzte Dampf wird
in dem kleinen Dampfkeſſel a erzeugt
und durch den Injektor b in den
Gasgenerator c eingeblaſen. Be-
ſonders iſt hier noch zu betonen,
daß die Erzeugung des Gaſes ſelbſtthätig erfolgt und zwar je nachdem
mehr oder weniger Gas verbraucht wird. Dieſes geſchieht in der Weiſe,
daß der Dampfzutritt zu dem Injector b durch die Gasbehälterglocke e,
ſobald dieſe ihre höchſte Stellung erreicht hat, alſo vollſtändig gefüllt
[115]Die Gas- und Petroleum-Motoren.

Figure 84. Fig. 89.

Ottos Gasgenerator.


iſt, geſchloſſen wird, infolge deſſen die Gaserzeugung aufhört. Für die
Verbreitung, welcher ſich die Motoren der Fabrik Deutz erfreuen, möge
als Beweis dienen, daß deren etwa 38000 mit mehr als 150000 Pferde-
kräften ſich im Betriebe befinden. Gegenwärtig werden dort Gasmotoren
bis zu 125 Pferdeſtärken gebaut.


In der neueren Zeit haben ſich auch andere hervorragende Ma-
ſchinenbauanſtalten dem Bau von Gasmotoren gewidmet.


In Fig. 90 bringen wir einen Gasmotor nach Kaſelowskys
Syſtem, erbaut von der Berliner Maſchinenbau-Aktien-Geſellſchaft, vor-
mals L. Schwartzkopff in Berlin. Derſelbe iſt wie der vorhin be-
ſchriebene, ein Viertaktmotor und unterſcheidet ſich von dieſem im weſent-
8*
[116]Die Motoren.

Figure 85. Fig. 90.

Gasmotor nach Kaſelowskys Syſtem.


lichen durch die Art der Zün-
dung. Letztere wird nicht, wie
bei dem Ottoſchen Motor durch
eine im erforderlichen Zeit-
punkte zur Wirkung gebrachte
Flamme bewirkt, ſondern durch
eine Präziſions-Glühzündung.
Dieſelbe beſteht, wie aus Fig. 91
und 92 zu erſehen iſt, aus den
beiden ein Gemiſch von Luft und
Gas in den Cylinder einfüh-
renden Ventilen c und d, ſowie
aus dem, durch eine Flamme b
zum Glühen gebrachten Röhr-
chen a. Die Zündung wird ge-
nau zu der Zeit bewirkt, in
welchem der Kolben im toten
Punkte ſich befindet, und zwar indem mittels einer von der Haupt-
welle aus bethätigten Hebelanordnung das Ventil c (Fig. 92) ſo
geöffnet wird, daß das Gasgemiſch an der glühenden Wandung des
Röhrchens a ſich entzündet. Damit dieſe Zündung unter allen Um-
ſtänden pünktlich ſich vollziehe, wird während der Saugperiode durch
das Ventil d und Kanal e Luft und Gas in den Cylinder f eingeführt,
während das eigentliche, weniger Gas enthaltende Exploſionsgemiſch
durch ein beſonderes Hauptgasventil herzugeführt wird.


In Fig. 93 bringen wir ſchließlich noch die Abbildung eines
Zweitaktmotors, nämlich desjenigen von Benz \& Co. in Mannheim. Wie
bereits dargelegt worden iſt, müſſen bei den Zweitaktmotoren die
vier erforderlichen Perioden ſich ſtatt bei zwei Schwungradum-
drehungen bei einer einzigen vollziehen. Die Folge hiervon iſt, daß
der Cylinder nicht wie bei den Viertaktmotoren an einer Seite offen
ſein kann, ſondern hinten ſowohl wie vorn geſchloſſen ſein muß. Die
Gasmotoren, Syſtem Benz, haben entweder eine Flammenzündung
nach Art der Ottoſchen, oder eine elektriſche Zündung. Bei der letzteren
wird vom Schwungrade aus eine kleine Dynamomaſchine angetrieben.
Der durch dieſe erzeugte Strom wird durch einen Induktionsapparat
auf eine hohe Spannung gebracht, wobei beide Pole der Induktions-
ſpule für gewöhnlich Kurzſchluß haben. Dieſer wird, wenn die Zündung
erfolgen ſoll, aufgehoben und es ſpringen alsdann zwiſchen den ſeitlich
in den Cylinder geführten Platinſpitzen Funken über und bringen die
Zündung hervor.


2) Die Petroleum- und Benzin-Motoren.

Die Benutzung eines Gasmotors iſt ſtets davon abhängig, ob an
dem Orte der Aufſtellung der Anſchluß an eine Gasleitung möglich iſt.
[117]Die Petroleum- und Benzin-Motoren

Figure 86. Fig. 91

und 92.
Präciſtons-Glühzündung für den Gasmotor nach Kaſelowskys Syſtem.


Wo dieſes nicht der Fall iſt, muß die Verwendung des Gasmotors
unterbleiben oder aber man muß ſich dazu entſchließen, für den Motor
[118]Die Motoren.
eine eigene kleine Gasanſtalt zu errichten. Nach dieſem letzten Geſichts-
punkte iſt der in Fig. 89 dargeſtellte Apparat der Gasmotorenfabrik
Deutz ausgeführt.


Das Streben nach einem Motor, welcher unabhängig iſt von dem
Vorhandenſein einer Gasanſtalt, hat die Petroleum- und Benzin-
Motoren
ins Leben gerufen. Der weſentliche Unterſchied zwiſchen

Figure 87. Fig. 93.

Zweitaktmotor (Syſtem Benz).


[119]Die Petroleum- und Benzin-Motoren.
dieſen und den Gasmotoren beſteht darin, daß nicht explodierendes
Leuchtgas ſondern explodierendes Petroleum- oder Benzin-Gas
als Triebkraft Verwendung findet. Dieſe Gattung von Motoren hat
binnen kurzem insbeſondere auf dem Gebiete des Kleingewerbes eine
weite Verbreitung gefunden.


Das Petroleum, ein Mineralöl, findet ſich an vielen Stellen der
Erde, insbeſondere in den allgemein bekannten Ölgegenden Penſylvaniens
in Nord-Amerika und in Baku am kaſpiſchen Meere. Dasſelbe iſt ein
Gemenge von


  • 80—86,5 Prozent Kohlenſtoff,
  • 12—14,5 „ Waſſerſtoff,
  • 1— 6,5 „ Sauerſtoff.

Das Petroleum, wie es aus dem Innern der Erde entſpringt, iſt
nicht ohne weiteres verwendbar, ſondern muß zunächſt mittels Waſſer-
dampfes deſtilliert werden. Im Laufe dieſes Prozeſſes ſcheiden ſich
zunächſt diejenigen Beſtandteile aus, welche ein geringeres ſpezifiſches
Gewicht beſitzen als 0,78 und einen ungefähr bei 150° liegenden Siede-
punkt haben. Das übrige Petroleum wird alsdann noch einer weiteren
Reinigung durch konzentrierte Schwefelſäure, Waſſer und Atznatronlauge
unterzogen, hierauf noch gebleicht und gelangt ſo als das gewöhnliche,
mit dem Namen Petroleum bezeichnete Leuchtmaterial in den Handel.
Dasſelbe läßt ſich leicht verdampfen und zeigt in dieſem Zuſtande mit
atmoſphäriſcher Luft gemiſcht bei Entzündung die Eigenſchaft, heftig zu
explodieren.


In Fig. 94 iſt zunächſt ein liegender Petroleum-Motor, Syſtem
Altmann-Küppermann dargeſtellt. Derſelbe iſt ein Viertaktmotor,
d. h. es erfolgt nur eine einzige Exploſion, während der Kolben viermal
von dem einen Ende des Cylinders zum andern ſich bewegt. Der Vorgang
iſt bei dieſer Maſchine der gleiche wie bei der Gasmaſchine. Das
in Dampfform übergeführte Petroleum wird nämlich mit Luft gemiſcht
und von dem Kolben in den Cylinder hineingeſaugt, hierauf komprimiert
und dann entzündet, worauf ſchließlich die Verbrennungsgaſe aus dem
Cylinder hinausgetrieben werden. Da nur während der Exploſion
eine Bewegung des Kolbens durch die Expanſionskraft des Petroleum-
gaſes erfolgt, ſo muß während der übrigen Perioden die Maſchine
durch das Schwungrad bewegt werden. Infolge deſſen müſſen dieſe
Maſchinen, wie die Gasmotoren mit großen, ſchweren Schwungrädern
ausgerüſtet werden und eine große Umdrehungszahl zurücklegen, d. h.
mit großer Geſchwindigkeit laufen. Der in Fig. 94 dargeſtellte Petroleum-
motor, Syſtem Altmann-Küppermann, wird übrigens auch in ſtehender
Anordnung ausgeführt.


Auch auf dem Gebiete des Baues der Petroleummotore iſt der Wett-
bewerb der Maſchinenfabriken ein ſehr reger. So zeigt Fig. 95 einen
von der Berliner Maſchinenbau-Aktien-Geſellſchaft, vormals L. Schwartz-
kopff, in Berlin gebauten Petroleummotor, Syſtem Kaſelowsky. Wie
[120]Die Motoren.
aus jener Abbildung zu erſehen iſt, befindet ſich auf dem Cylinder der
Maſchine ein Petroleumbehälter B, welcher zur Erkennung der in dem-
ſelben enthaltenen Ölmenge einen Schwimmer R beſitzt. Aus dem Be-
hälter B tritt das Petroleum durch ein Röhrchen in das Gefäß C über.
Von hier aus wird dann das Petroleum durch eine Luftpumpe H im
Verein mit Luft in zerſtäubtem Zuſtande in den Verdampfer oder Ver-

Figure 88. Fig. 94.

Liegender Petroleum-Motor (Syſtem Altmann-Küppermann).


[121]Die Petroleum- und Benzin-Motoren.
gaſer A geführt. Zur Erwärmung dieſes Vergaſers A dienen die aus
der Maſchine abziehenden verbrauchten heißen Gaſe. Aus dem Ver-
gaſer A wird das Petroleumgas durch das Rohr D und außerdem noch
Luft durch das Rohr F in den Miſchapparat E geleitet, von wo aus

Figure 89. Fig. 95.

Petroleummotor (Syſtem Kaſelowsky).


dann dieſes Gemiſch von Petroleumgas und Luft durch ein Einlaß-
ventil in den Cylinder tritt, um hier durch eine Zündvorrichtung N zur
Exploſion gebracht zu werden. Mit L iſt eine Reguliervorrichtung be-
zeichnet, welche bewirkt, daß bei allzu hoher Umdrehungsgeſchwindigkeit
der Schwungradwelle, eine Exploſion ausfällt, wodurch ſich dann der
Gang der Maſchine verlangſamt und auf die gewünſchte Schnellig-
keit ſinkt.


Außer dem Petroleum hat man auch das weit entzündlichere und
daher auch gefährlichere Benzin zum Betriebe kleiner Motoren ver-
wendet. Ein ſolcher Benzinmotor, welcher im Weſentlichen nach den
gleichen Konſtruktionsprinzipien eingerichtet iſt, wie die Petroleummotoren,
iſt in Fig. 96 nach einer Ausführung von Benz \& Co. in Mannheim
dargeſtellt.


[122]Die Motoren.
Figure 90. Fig. 96.

Benzinmotor von Benz.


[123]Die Erfindung des Blitzableiters.

So haben wir vorſtehend in großen Zügen den Standpunkt der
Motoren, wie er ſich aus der Vergangenheit bis zur Gegenwart ent-
wickelt hat, in großen Umriſſen dargelegt. Täglich, ſtündlich wächſt das
Bedürfnis des menſchlichen Geſchlechtes nach motoriſcher Kraft. In
gleichem Maße aber nehmen die natürlichen Kraftquellen, welche aus
unſern Steinkohlenlagern entſpringen und die Mehrzahl der erforderlichen
Pferdekräfte leiſten, ab. Mit Recht muß daher das Streben aller der-
jenigen, welche nicht nur von heute bis morgen denken und nicht nach
dem Grundſatze „après nous le déluge“ leben, darauf gerichtet ſein,
die vorhandenen Kraftquellen nicht nur thunlichſt auszunutzen, ſondern
auch durch neue zu erſetzen.


Sehen wir von der in der Fluthwelle der Meere aufgeſpeicherten
Energie ab, zu deren Ausnutzung ebenfalls bereits Schritte gethan ſind,
die aber über das Verſuchsſtadium kaum hinaus gegangen ſind, ſo
wird ſich bei dem allmählichen Verſiegen der Steinkohlenflötze der
Menſch vorausſichtlich wieder mehr der Ausnutzung der Gefälle der
Ströme zuwenden müſſen.


In der That vermag uns ſchon das eine Faktum eine große Be-
ruhigung nach dieſer Richtung zu verleihen, daß nach Reuleaux allein
der Niagarafall eine Arbeitsfähigkeit von 12500000 Pferdekräfte in
ſich birgt, welche, nur zur Hälfte ausgenutzt, imſtande ſein würden,
5/16 der Leiſtungen der ſämtlichen Dampfmaſchinen der Erde bei Tag-
und Nachtarbeit zu erſetzen.


Bis dahin aber, wo das Verſiegen der Kohlenlager in abſehbarer
Zeit uns näher tritt, wird die Technik in gleicher Weiſe wie bisher, ihr
ganzes Streben dafür einſetzen, daß die Konſtruktion und der Betrieb
der Motoren ſich immer rationeller und ſparſamer geſtaltet, und daß der
Verſchwendung der Wärme ſpendenden Stoffe erfolgreich entgegen-
getreten wird. Die Geſchichte der Motoren iſt die Geſchichte fortgeſetzter
Siege des menſchlichen Geiſtes über die Elemente.


2. Die elektriſchen Erfindungen.


a) Die Erfindung des Blitzableiters.


Keine Natur-Erſcheinung hat von jeher auf das Gemüt des
Menſchen dermaßen eingewirkt, wie das Gewitter. Plötzlich — im
Vergleich zu anderen Erſcheinungen — entwickelt es ſich, mit Ungeſtüm
vernichtet es, was die fleißige Hand des Menſchen in langen Zeit-
räumen ſchuf und ſchaffte, und macht nicht halt vor dem Lebenden ſelbſt.
[124]Die elektriſchen Erfindungen.
Was Wunder, wenn die grelle Farbe zuckender Blitze, das gewaltige
Poltern rollenden Donners überall und immer den Schrecken in die
Gemüter der aus ihrer Ruhe jäh emporgeſcheuchten Erdenkinder trugen.
Die Natur des Menſchengeiſtes aber iſt allüberall dieſelbe, und auf
wie verſchiedener Kulturſtufe der Europäer und der Bewohner Inner-
Afrikas ſtehen mögen, das Suchen nach Urſachen für die Erſcheinungen
iſt ihnen gemeinſam. Dieſen befriedigt es, den erſten beſten Fetiſch
als die Urſache des Schreckens anzuſehen; ihn zu beſänftigen gilt ihm
als das erfolgreichſte Mittel zur Abwendung der Gefahr. Als die
europäiſche Menſchheit noch in den Kinderſchuhen der Naturauffaſſung
ſteckte, da war ihnen das Schütteln des Hauptes des Gerndonnerers
Zeus die genügende Veranlaſſung des Donners; die Blitze zückte er
mit der ausgeſtreckten Rechten. Solchen naiven Auffaſſungen entwächſt
die Wiſſenſchaft erſt dann ganz und gar, wenn ſie ſich auf den Boden
des Experimentes ſtellt, und nicht eher konnte daher eine befriedigende
Gewittertheorie aufgeſtellt werden, bis es gelang, ein ſolches mit
allen ſeinen Begleiterſcheinungen wirklich hervorzuzaubern. Ein wirk-
ſames Schutzmittel gegen die Fährlichkeiten des Gewitters aber konnte
natürlich auch erſt erdacht werden, als man ſich über die Natur des
Phänomens im Klaren war. Der erſte, der den Weg des Verſuches
betrat, war Benjamin Franklin. Zwar hatten andere bereits vor ihm
das als Vermutung ausgeſprochen, was Franklin experimentell be-
gründete, aber das Verdienſt dieſes wird dadurch in nichts geſchmälert.
So hatte Wall 1698 beobachtet, daß man durch Reiben eines Stückes
Bernſtein eine ſtarke Lichtentwickelung erhalten könne, daß nämlich von
dem Bernſtein auf einen genäherten Finger ein Funke hinüberfährt,
und daß man auch gleichzeitig ein Kniſtern oder Geräuſch vernimmt.
Hieran hatte er die Bemerkung geknüpft: „Das Licht und das Kniſtern
ſcheint einigermaßen Blitz und Donner darzuſtellen.“ Nun iſt der
griechiſche Name des Bernſteins Elektron, und jene Erſcheinung, die
im Zuſammenhange mit noch andern zuerſt an dieſem Material be-
obachtet wurde, wird daher als eine elektriſche bezeichnet. Somit hatte
Wall zuerſt die elektriſche Natur des Gewitters vermutet. Wir wollen
dieſe am Bernſtein auftretenden Phänomene ganz kurz erläutern; das
wird uns dazu dienen, Franklins Verſuche genauer zu verſtehen.


Reibt man ein Stück dieſes koſtbaren Harzes mit einem Tuche,
ſo gewinnt es dadurch die Fähigkeit, leichte Körperchen an ſich heran
zu ziehen. Aber die Umarmung dauert nicht eben lange. Nach kurzer
Friſt werden die Teilchen mit derſelben Heftigkeit fortgeſtoßen, mit der
ſie vorher gegen den Bernſtein hingezogen wurden. Das iſt nun keine
Eigentümlichkeit des Bernſteins allein. Er teilt dieſelbe mit anderen
Harzen, z. B. dem Hartgummi und dem Siegellack, und auch manche
Glasart nimmt beim Reiben jene Anziehungskraft an. Man ſagt
deshalb, daß alle dieſe Körper beim Reiben elektriſch werden. Es hat
ſich aber herausgeſtellt, daß jenes Körperchen, nachdem es einmal von
[125]Die Erfindung des Blitzableiters.
dem Bernſtein lieblos beiſeite geſchoben wurde, auch von einer geriebenen
Siegellack- oder Hartgummiſtange nicht ſofort angezogen wird, deſto
freundlicher wird es dagegen von der geriebenen Glasſtange auf-
genommen, um freilich wieder nach kurzer Zeit davon geſtoßen zu
werden. Jetzt erſt findet es auf kurze Zeit bei den Harzſtangen die
ihm früher verſagte liebevolle Aufnahme. Alle dieſe Erſcheinungen —
ſo ſonderbar ſie ſich zuerſt ausnehmen mögen — erfahren eine einfache
Erklärung, wenn man die folgende Anſicht, welche Symmer 1759
aufgeſtellt hat, zu Grunde legt. Durch das Reiben werden ſowohl
die Harzſtücke wie die Glasſtangen in einen elektriſchen Zuſtand verſetzt.
Aber die Zuſtände ſind doch von einander ſehr verſchieden, ſo daß
man den einen den harzelektriſchen, den andern den glaselektriſchen
nennen könnte. Die Urſache dieſer Zuſtände geht uns hier nichts weiter
an; man hat auch erſt in allerneueſter Zeit eine klare Einſicht in das
wahre Weſen derſelben erlangt. Für uns genügt es anzunehmen, daß
ein nicht näher zu beſchreibendes Etwas daran ſchuld iſt, welches man
im erſten Falle die Harzelektrizität, im letzteren die Glaselektrizität
nennen könnte. Man iſt übereingekommen, die letztere die poſitive
und die erſtere die negative zu nennen. Nun muß man annehmen,
daß die angezogenen Körperchen ſelbſt die Fähigkeit haben, etwas von
der Elektrizität des elektriſchen Körpers in ſich aufzunehmen, jene teilt
ſich auch dem anliegenden Körperchen mit, dasſelbe wird elektriſiert.
Jedoch bleibt das Körperchen an der Harzſtange nur ſo lange Zeit liegen,
als es zur Aufnahme einiger negativer Elektrizität bedarf. Wir müſſen
alſo ſchließen, daß der Körper nur abgeſtoßen wird, weil er jetzt ſelbſt
harzelektriſch geworden iſt. Unſer bisheriges Ergebnis würde alſo
lauten: ein harzelektriſcher Körper zieht einen unelektriſchen an, ſtößt
aber einen harzelektriſchen von ſich. Das wird auch dadurch beſtätigt,
daß die anderen Harzſtücke jetzt den davongejagten Körper nicht auf-
nehmen wollen. Da aber unſer Körperchen ſich von der geriebenen
Glasſtange anziehen läßt, ſo folgt der Schluß, daß ein glaselektriſcher
Körper für einen harzelektriſchen eine beſondere Vorliebe hat. Der weitere
Verlauf der Erſcheinung läßt ſich ganz ebenſo deuten, und kurz heraus-
geſagt iſt alles aus dem Satze verſtändlich:


Elektriſche Körper ziehen unelektriſche und ſolche mit der entgegen-
geſetzten Elektrizität an, ſtoßen aber ſolche mit der gleichen Elektrizität ab.


So hätten wir eine grundſätzliche Verſchiedenheit der Körper nach
ihrem elektriſchen Zuſtande erkannt, man findet eine andere Zweiteilung
derſelben durch den folgenden Verſuch: Man hängt einen beliebig
langen Metalldraht, der an einem Ende ein metallenes Scheibchen
trägt, an zwei Seidenfäden auf, teilt einer ganz beliebigen Stelle
dieſes Drahtes die Elektrizität eines geriebenen Harzſtückes oder einer
Glasſtange mit, indem man ihn einfach dort mit dem elektriſchen
Körper berührt und nähert der Endplatte einen kleinen Körper, am
einfachſten eine Kugel von Hollundermark, die man an einem Seiden-
[126]Die elektriſchen Erfindungen.
faden hält, ſo wird dieſelbe ſogleich heftig angezogen, dann aber ebenſo
heftig abgeſtoßen. Was haben wir hieraus zu ſchließen? Offenbar
nichts anderes, als daß ſich die Elektrizität mit großer Geſchwindigkeit
von jener Stelle aus in alle Teile des Drahtes verbreitet hat, ſo auch
zu der Platte gelangte, die daher auf die Hollunderkugel anziehend und,
nach Mitteilung ihrer Elektrizität an dieſelbe, abſtoßend auf ſie wirkte.
Während dieſer Verſuch mit einem Metalldraht ſehr leicht auszuführen
iſt, gelingt er nicht mit einem Körper von Holz, Gummi und vielen
anderen Stoffen: auch wenn man davon viel, viel kleinere Stücke aus-
wählt, wartet man vergeblich auf die Verbreitung der Elektrizität von
der elektriſierten Stelle an bis an die Enden des Körpers. Man ſagt
demnach, daß die Metalle gute Leiter für die Elektrizität ſind, während
die Harze und das Glas ſich als ſchlechte Leiter verhalten. Wenn
man alſo wünſcht, daß die Elektrizität, die man einem guten Leiter
mitgeteilt hat, ihm möglichſt lange erhalten bleibe, ſo wird man ihn
nicht mit andern guten Leitern in Verbindung bringen dürfen. Man
muß ihn vielmehr iſolieren, d. h. mit ſchlechten Leitern umgeben, daher
haben wir in dem vorigen Verſuche den Metalldraht an Seidenfäden
hängend gedacht, weil ſolche als ſchlechte Leiter der Elektrizität ihm
möglichſt wenig davon entziehen. Auf die Dauer wird übrigens kein Leiter
den elektriſchen Zuſtand zu behalten fähig ſein, allmählich wird er ſelbſt
gegen einen ſo ſchlechten Leiter, wie die Luft einer iſt, ſeinen elektriſchen
Beſitz abtreten. Bis jetzt haben wir nur immer einerlei Elektrizität
innerhalb eines Körpers nachzuweiſen vermocht, der folgende Verſuch
wird uns das Vorhandenſein beider Elektrizitäten ſogar in jedem un-
elektriſchen Körper beweiſen. Man nähere zwei iſolierte Leiter bis zur
Berührung, am einfachſten etwa zwei große Silbermünzen, die man
an Siegellackſtangen hält. Sie bilden dann offenbar während der
Berührung einen einzigen Leiter. Jetzt nähere man dem einen (I) von
ihnen einen elektriſchen Körper, etwa einen geriebenen Glasſtab, und
trenne die beiden Leiter, während noch der elektriſche Körper in ihrer
Nähe iſt, dann erſt entferne man dieſen. Man wird finden, daß jetzt
beide Münzen Elektrizität enthalten und zwar (I) die Harz-, (II) die
Glaselektrizität. Man nennt dieſe Erſcheinung die elektriſche Verteilung.
Es iſt offenbar unmöglich, daß dieſe beiden gleichzeitig der Glasſtange
entſtammen ſollten, man muß vielmehr annehmen, daß ſie beide bereits
in dem unelektriſchen Leiter vorhanden waren, aber durch die Annäherung
des elektriſchen Körpers zur Trennung gebracht wurden. Dieſer zieht
die der ſeinigen entgegengeſetzte Elektrizität zu ſich hin in den Körper (I)
und ſtößt die entgegengeſetzte ab in den Körper (II) hinein. Wenn
wir die beiden Körper wieder vereinigen, ſo erzeugt ſich aus ihnen
ſofort wieder ein unelektriſcher Leiter. Die beiden Elektrizitäten gleichen
ſich nämlich ſofort aus, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu bietet.
Jetzt wird es uns möglich ſein, auch die zuerſt erwähnte Erſcheinung
zu verſtehen, daß beim Annähern eines Fingers an den geriebenen
[127]Die Erfindung des Blitzableiters.
Bernſtein ein Funke überſpringt. Der Finger iſt auch ein unelektriſcher
Körper, und er enthält als ſolcher auch beide Elektrizitäten ganz wie
der Leiter von vorhin. Nähert er ſich dem Bernſtein, ſo wird ſeine
poſitive Elektrizität von dieſem angezogen, ſich in der Fingerſpitze
ſammeln. Dieſe und die negative des Bernſteins ſuchen ſich nun zu
vereinigen und wenn man ihnen keine Gelegenheit dazu durch Berührung
des Harzes giebt, ſo geht dieſe Vereinigung auch durch die Luft vor
ſich. Der elektriſche Ausgleich kann dabei eine ſolche Gewalt erreichen,
daß er die Luftteilchen dazwiſchen in Glut verſetzt und ſich in Geſtalt
eines Funkens ſichtbar macht. So iſt dieſer Funke nur ein Zeichen
des Ausgleichs zweier entgegengeſetzter Elektrizitäten. Das dabei
hörbare Kniſtern kommt von einer heftigen Beiſeiteſchiebung der Luft-
teilchen, die gleich wieder ebenſo heftig aufeinander prallen.


Dieſer Funke aber ſollte nach Wall auch ein Bild des Blitzes
ſein. Dann muß auch dieſer ſich durch den Ausgleich entgegengeſetzter
Elektrizitäten erklären. Nun zeigt ſich der Blitz entweder als die
Verbindungslinie zweier Wolken oder er ſpringt zwiſchen der Wolke
und dem Erdboden über. Es mußte alſo — wenn man die elektriſche
Natur des Blitzes zeigen wollte — zum mindeſten nachgewieſen werden,
daß die Gewitterwolken mit Elektrizität behaftet ſind. Jede einzelne
Wolke, welche mit einer gewiſſen Elektrizität geladen iſt, wird ja ſchon
durch die elektriſche Verteilung die entgegengeſetzte der Nachbarwolke
an ſich zu ziehen und mit ihr ſich auszugleichen ſuchen. Ebenſo wird
in der Erde, die auch einen Leiter darſtellt, die der Wolkenelektrizität
entgegengeſetzte an die Oberfläche ſteigen. In beiden Fällen wird ein
Ausgleich eintreten und der Blitz, das Zeichen dieſes Ausgleichs, wird
deſto kräftigere Wirkungen zeitigen, je gewaltigere Elektrizitätsmaſſen
in der Gewitterwolke angeſammelt waren. Der Donner wird die
furchtbare Lufterſchütterung anmelden, welche ein ſolcher Ausgleich
hervorzubringen fähig iſt. Es kommt alſo für den Nachweis der
Richtigkeit dieſer Betrachtungen einzig und allein darauf an, das Vor-
handenſein eines gewiſſen elektriſchen Zuſtandes in der Gewitterwolke
nachzuweiſen, und für die Verhinderung der ſchädlichen Wirkungen des
Blitzes nur darauf, daß man der Wolke ihre Elektrizität zu einem
guten Teile entzieht, oder auch dem Ausgleiche eine Bahn weiſt,
auf der er ſich nicht ſchädlich machen kann. Alle dieſe Aufgaben hat
der eine Benjamin Franklin ſo vollkommen gelöſt, als es überhaupt
verlangt werden konnte. Benjamin Franklin wurde als das 16. Kind
eines armen Seifenſieders am 17. Januar 1706 zu Boſton geboren.
Er war nach einander Buchdrucker, Schriftſteller, Buchhändler und
Generalpoſtmeiſter aller engliſch-amerikaniſchen Kolonien. Energiſch
verteidigte er die Freiheiten ſeines Landes gegenüber den Engländern
und hatte er den weitaus größten Anteil daran, daß die Vereinigten
Staaten ſich ſchließlich von dem Mutterlande unabhängig machten.
Wichtige Verbeſſerungen an der Harmonika und an der Kupferdruck-
[128]Die elektriſchen Erfindungen.
preſſe würden ſeinem Namen eine geachtete Stellung unter den Erfindern
anweiſen, die Erfindung des Blitzableiters ſtellt ihn in die erſte Reihe
derſelben.


Um den elektriſchen Zuſtand der Gewitterwolken herauszubekommen,
bediente ſich Franklin einer Entdeckung, die er ſeinem Freunde Collinſon
zuſchrieb. Wenn er eine Eiſenkugel von etwa 8 bis 10 cm Durch-
meſſer elektriſierte und die Spitze einer Nadel mit der Hand gegen ſie
kehrte, ſo beobachtete er, daß die Kugel ihre Ladung ſehr ſchnell verlor.
Das erklärt ſich wieder einfach genug. Die Kugel wirkt nämlich auf
die Nadel durch Verteilung, ſie zieht die entgegengeſetzte Elektrizität in
die Spitze. Je enger der Querſchnitt eines Leiters iſt, deſto mehr
drängen ſich die elektriſchen Teilchen dort zuſammen. Sie fliehen aber
einander, und die Gewalt, die ſie von einander zu trennen ſucht, heißt
ihre Spannung. Wir erſehen demnach, daß dieſe Spannung in den
Spitzen am größten ſein muß. Sie wird, wenn ſie ſo übermäßig
wächſt, ſo wirken wie der Druck, den wir auf die Luft ausüben. Je
ſtärker wir ſie zuſammenpreſſen, mit deſto größerer Gewalt ſucht ſie zu
entweichen, und genau ſo iſt es mit der Elektrizität; dort iſt die Spann-
kraft oder Expanſion der Luft die treibende Kraft, hier heißt ſie die
Spannung, im Weſentlichen iſt ihre Wirkung dieſelbe. Die Elektrizität
kann ſich in dem engen Raume der Spitze nicht halten, ſie ſtrömt alſo
in die Luft aus und vereinigt ſich mit der entgegengeſetzten Elektrizität
der Kugel, und ſo erſcheint uns dieſe unelektriſch. Franklin ſchloß,
daß, wenn man einer Gewitterwolke eine Spitze an einer Stange gegen-
überſtellt, dieſer ganz ebenſo die Elektrizität, die ihr doch vermutlich
eignete, entzogen werden könnte. Zuvor müßte die Stange ſelbſt die
der Wolkenelektrizität entgegengeſetzte aufweiſen. Die Idee dieſes Ver-
ſuches auszuführen, wartete Franklin lange Zeit auf die Vollendung
einer Kirchturmſpitze, ſo daß ihm in der Verwirklichung zwei Franzoſen,
Dalibard und Delor vorauskamen. Der erſtere errichtete in der Nähe
von Paris eine 40 Fuß hohe Eiſenſtange, die durch ſeidene Schnüre
an drei Holzpfoſten befeſtigt war. Ein gewiſſer Coiffier, der ſie
bewachen ſollte, konnte zuerſt am 10. Mai 1752 während eines Gewitters
der Stange Funken entziehen, womit gezeigt war, daß ſie ſich durch
das Vorüberziehen der Gewitterwolken mit Elektrizität geladen hatte.
Delor hatte eine 99 Fuß lange Eiſenſtange zur Verfügung und er ver-
mochte ſelbſt zu Zeiten, da die Luft völlig ruhig war, dieſer Stange
Funken zu entziehen — ein Beweis, daß die Luft auch ſonſt elektriſch
iſt. Franklin war ſchließlich auf eine Abänderung dieſes urſprünglichen
Verſuches angewieſen. Er ließ im Juni 1752, ohne von den Pariſer
Verſuchen zu wiſſen, einen papiernen Drachen beim Herannahen eines
Gewitters aufſteigen. Das beliebte Kinderſpielzeug ward hier in den
Dienſt der Wiſſenſchaft geſtellt. Franklin gab ihm eine Spitze aus Eiſen-
draht mit und knüpfte an das Ende der Hanfſchnur, die den Drachen
hielt, einen eiſernen Schlüſſel, ſowie an dieſen wiederum eine Seiden-
[129]Die Erfindung des Blitzableiters.
ſchnur. Zunächſt war eine elektriſche Erregung nicht zu ſpüren. Später
aber durchnäßte der Regen die Hanfſchnur und machte ſie ſo beſſer
leitend. Da ließen ſich dem Schlüſſel Funken entziehen, und damit
war Franklins Vermutung über die Natur der Gewitter beſtätigt.
Seine Verſuche gaben ihm gleichzeitig einen Wink, wie er den Schaden
der Blitze bekämpfen könnte. In erſter Linie handelte es ſich darum,
das Zuſtandekommen des gewaltigen Ausgleichs überhaupt möglichſt
zu verhindern, in zweiter darum, dem Blitzſchlage eine paſſende Bahn
zu weiſen. Wollte man den Ausgleich ſchwächer machen, ſo war das
naheliegende Mittel die Aufſtellung einer mit der Erde in leitender
Verbindung ſtehenden Spitze gegenüber der Gewitterwolke. Jede auf-
rechte, oben zugeſpitzte Metallſtange muß ja die Elektrizität vorbei-
ziehender Wolken ſchwächen und damit einen Blitzſchlag, der trotzdem
noch erfolgt, viel weniger heftig machen, als er ſonſt werden würde.
Eine ſolche Metallſtange iſt auch der geeigneteſte Weg für den Aus-
gleich, wenn er doch heftig erfolgen ſollte. Offenbar wird ſich die
Elektrizität, wenn ſie die Wahl für ihren Weg hat, den beſten ihr zur
Verfügung ſtehenden Leiter, in dieſem Falle die Metallſtange, aus-
ſuchen, und dadurch ſind dann alle umgebenden Gegenſtände gegen die
Gefahr des Einſchlagens geſchützt. Dieſe Idee hat Franklin zuerſt in
einem vom 29. Juli 1750 datierten Briefe an Collinſon entwickelt, der
aber — wie er angiebt — bereits 1749 verfaßt iſt. Dies wäre alſo
das Erfindungsjahr des Blitzableiters.


Wir würden fürchten, ungerecht gegen einen Anderen zu ſein, wenn
wir nicht auch der durchaus ſelbſtſtändigen Erfindung des Blitzſchutzes
durch den Pfarrer Prokop Diviſch zu Brenditz in Mähren gedächten. Bei
Gelegenheit eines Beſuches in Wien machte er die Elektriſirmaſchine des
gelehrten Jeſuitenpaters Franz durch eine Anzahl von Spitzen unwirkſam,
die er in ſeiner Perrücke verborgen hielt. Die Elektrizität vermochte ſich
nicht zu ſammeln, weil ſie mit Hilfe der Spitzen durch den Körper des
Pfarrers mit der Erde ausgeglichen wurde. Das war im Jahre 1750,
und zwei Jahre ſpäter vollendete Diviſch eine „meteorologiſche Maſchine“,
die durch die Wirkung vieler Spitzen mehr beſtimmt war, einen
ruhigen Ausgleich der Elektrizität herbeizuführen, denn als Blitzableiter
zu dienen. Diviſch fand nicht die Anerkennung, wie der berühmte
Amerikaner, obgleich aus ſicheren Nachrichten hervorgeht, daß ſeine
Maſchine zur Abwendung der Blitzgefahr in ſeiner Pfarre weſentlich
beigetragen hat. Franklins Blitzableiter fanden zuerſt zwar lang-
ſame, dann aber immer raſchere Verbreitung, und wenn ſie auch im
einzelnen manche Veränderung erfuhren, ſo iſt die Geſtalt, die ihnen
Franklin gegeben hat, noch heute erhalten. Wie wichtig die Erfindung
iſt, wie ihre Bedeutung ſogar von Jahr zu Jahr wächſt, das mag
daraus entnommen werden, daß die Blitzgefahr ſelbſt alljährlich zu-
nimmt, und zwar in dem Maße, daß die Zahl der Brandfälle durch
Blitz in Bayern ſich nach v. Bezold in 50 Jahren vervierfacht hat. Über-
Das Buch der Erfindungen. 9
[130]Die elektriſchen Erfindungen.
legen wir, welches die rationellſte Einrichtung eines Blitzableiters iſt.
Im weſentlichen iſt er ja nichts anderes als eine oben zugeſpitzte Metall-
ſtange. Aber welche Dicke muß man der Stange geben? welches Material
für ſie wählen? Der heftige elektriſche Ausgleich, den der Blitz darſtellt,
hat bekanntlich furchtbar zerſtörende Wirkungen. Wie er ſengend in
die Wohnungen der Menſchen dringt, wie er das Lebendige, das ihm
in den Weg tritt, zum Tode führt, ſo wird er in dem Leiter ſelbſt auch
Änderungen hervorbringen, und zwar vor allem ſeine elektriſche Gewalt
in eine ſtarke Erwärmung umſetzen. Ein Draht, den ein elektriſcher
Schlag paſſiert, erwärmt ſich aber um ſo mehr, je dünner
er iſt, und hieraus folgt, daß man die Stange des
Blitzableiters nicht zu dünn wählen darf. Sodann wird
man berückſichtigen müſſen,
daß eine ſtarke Erwärmung
den Leiter auch wohl weg-
ſchmelzen kann, und man
wird deshalb nur Metalle
zur Auswahl haben, deren
Schmelzpunkt ſo hoch liegt,
daß man kein Fortſchmelzen
zu befürchten hat. Man hat
dann mit Rückſichtnahme auf
die Koſten nur Eiſen und
Kupfer als Material zur Ver-
fügung. Die Spitze aber,
die ſich bei ihrem geringen

    • Figure 91. Fig. 97.
      Auffangeſtange
    • Figure 92. Fig. 98.
      Spitze
    • Figure 93. Fig. 99.
      Erdleitung
    eines Blitzableiters.


[131]Der galvaniſche Strom.
Durchmeſſer viel mehr erwärmt und auch der Witterung beſſeren
Widerſtand leiſten muß, wird aus Platin beſtehen oder vergoldet ſein
müſſen. Schließlich wird man auf die Verbindung mit dem Erd-
boden große Sorgfalt verwenden müſſen, weil ſonſt immer zu befürchten
iſt, daß der Blitz die Ableitung zur Erde verſchmäht und lieber in
einen benachbarten Leiter überſchlägt. Man hat daher die Stange
mit den vorzüglich leitenden Teilen der Erde, alſo am beſten mit dem
Grundwaſſer in Verbindung zu bringen und, damit die Verbindung
eine möglichſt innige ſei, die Erdleitung aus einem mit Koks gefüllten
Korbe oder einem metallenen Netzwerk, überhaupt aus einem möglichſt
ausgebreiteten metallenen Leiter beſtehen zu laſſen. Wir ſehen in
den Figuren 97, 98 und 99 ſowohl die Auffangeſtange, wie die Erd-
leitung in einer der mehr gebrauchten Anordnungen.


Es iſt hier vielleicht der Ort, einer für die Abänderung der meteoro-
logiſchen Bedingungen, beſonders der großen Städte, wie uns ſcheint,
nicht unwichtigen Anwendung der Elektrizität zu gedenken. Der Staub,
der ſich aus den Tauſenden von Schloten der Wohnungen und Fabriken
entwickelt, wirkt bekanntlich einmal direkt in ſehr unangenehmer Weiſe
auf die Lungen der Großſtadtbewohner ein, ſodann aber erzeugt er die
Nebel mit allen ihren unangenehmen Wirkungen. Da iſt der vor
wenigen Jahren aufgetauchte und zuerſt von Nahrwoldt praktiſch durch-
geführte Gedanke freudig zu begrüßen, den Staub durch Elektrizität
fortzuſchaffen. Erzeugt man ſolche durch ſtarke Maſchinen in geſchloſſenen
Räumen und läßt ſie aus Spitzen ausſtrömen, ſo wird gerade dahin
der Staub in Maſſen hingezogen und geſammelt, ſo daß ein Zimmer,
das von dickem Qualm erfüllt war, in wenigen Minuten ſich reinigen
ließ. In der Ausbildung dieſer Methode liegt offenbar eine ſehr
wichtige Aufgabe der nächſten Jahre, die, der Staubzufuhr in die
Atmoſphäre die nötigen Zügel anzulegen, ſich hoffentlich befähigt er-
weiſen wird.


b) Die Erfindung der Galvanoplaſtik.


Der galvaniſche Strom.

Im unteren Nilthale fand man die überwältigenden Reſte einer
uralten Kultur. Sie ward einſt mit den Pharaonen begraben und
ſchlummerte, bis in unſerem Jahrhundert fleißige Gelehrte an die
Grabespforten pochten und mit den ihrer Gruft entriſſenen Schätzen
die Muſeen Europas füllten. So kann man z. B. im Pariſer Muſeum
hölzerne Lanzenſpitzen und hölzerne Klingen von Schwertern finden,
die nur deshalb ſich ihrer Verweſung entzogen, weil ſie einen ſtarken
Überzug von Kupfer haben; da ſchaut man Bildſäulen in Lebensgröße,
aber von einer ſtaunenswerten Leichtigkeit, weil ſie nur aus einer dünnen
9*
[132]Die elektriſchen Erfindungen.
Haut von Kupfer beſtehen. Dieſe, faſt möchte man meinen, für eine
ſo frühe Kulturepoche unmögliche Kunſtfertigkeit, erklärt ſich durch eine
genaue Kenntnis von Naturgeſetzen, die neu entdeckt zu haben unſerem
Jahrhunderte zur Ehre gereicht: es ſind die Geſetze derjenigen Er-
ſcheinungen, die man nach dem Arzte Luigi Galvani, einem Bologneſer
Medizinprofeſſor, die galvaniſchen nennt. Einen dünnen Kupferüberzug
konnte man ſich auch wohl früher ſchon wenigſtens an Metallen ver-
ſchaffen. Wenn man einen blanken eiſernen Gegenſtand in die Löſung
eines Kupferſalzes taucht, z. B. jenes prächtig blauen Körpers, der als
Kupfervitriol bekannt iſt, ſo färbt ſich das Eiſen ſchön rot, ein Zeichen,
daß ſich Kupfer darauf niedergeſchlagen hat. Das Kupfervitriol iſt
nämlich aus dieſem Metall und der Schwefelſäure zuſammengeſetzt; dieſelbe
hat aber eine große Vorliebe für das Eiſen und zieht dasſelbe an, geht
mit ihm eine Verbindung ein, wofür ſie das Kupfer frei giebt. So
einfach kann aber die Kunſt der Ägypter nicht erklärt werden, weil die
Metallſchicht immerhin viel dicker iſt, als die bei dieſem Verfahren er-
haltene, und weil ſich jene Überzüge auf Holz nicht wohl durch die
beſchriebene Methode herſtellen laſſen. Sie müſſen ſchon die Kunſt
der Galvanoplaſtik gekannt haben. Was bei dieſer das Kupfer von
der Schwefelſäure des Kupfervitriols trennt, um es an einer paſſenden
Stelle abzuladen, iſt nun nichts anderes als eine elektriſche Kraft,
freilich eine etwas anders geartete als jene, welche im geriebenen
Bernſtein ihren Sitz hat, die aber in ihrem innerſten Weſen nicht davon
verſchieden iſt. Sie wird nicht durch eine Bewegung, wie die Reibungs-
Elektrizität, hervorgebracht, ſondern wahrſcheinlich durch chemiſche Kräfte
erzeugt, wie ſie ſchon bei der unmittelbaren Berührung zweier Körper
wirkſam werden. Taucht man z. B. ein Stück Zink in verdünnte
Schwefelſäure, ſo zieht dieſe das Zink an, vermöge jener chemiſchen
Gewalt, welche man die Verwandtſchaft nennt, ſie verbindet ſich mit
dem Zink zu Zinkvitriol; zugleich kann man aber beobachten, daß
das Zinkende, welches aus der Flüſſigkeit hervorragt, negative Elek-
trizität enthält, freilich nur eine ganz geringe Spur davon, die
ſich nur durch ſehr feine Apparate nachweiſen läßt. So lange die
chemiſche Kraft wirkſam iſt, wird dieſe Elektrizität fortwährend er-
höht, bis ſie eine gewiſſe Spannkraft erlangt hat, die freilich
immer noch ſehr gering gegen diejenige des geriebenen Bernſteins
iſt. Es iſt als ob in der Flüſſigkeit ein Pumpwerk angebracht
wäre, welches fortwährend negative Elektrizität in die obere Hälfte
des Zinks hineinpumpt. Das iſt nun keine andere Elektrizität, als
diejenige des Zinks ſelbſt, während die poſitive Elektrizität unten
feſtgehalten wird. Jetzt wollen wir uns ferner vorſtellen, daß an dem
oberen Zinkende ein anderer Leiter, etwa ein Kupferdraht befeſtigt
ſei, ſo wird natürlich auch dieſem die negative Elektrizität ſich mit-
teilen, und wenn man ſchließlich den Kupferdraht umbiegt, daß er auch
in die ſaure Flüſſigkeit eintaucht, ſo wird die negative Elektrizität durch
[133]Der galvaniſche Strom.
dieſe weiter fließen nach dem unteren Zinkende hin, wo ſie mit der
poſitiven Zinkelektrizität ſich ausgleichen kann. Bei dieſer Anordnung
wird ſich fortwährend neue negative Elektrizität in das obere Zinkende
begeben, denn es iſt ihr ja fortwährend Gelegenheit zu einem Ausgleich
mit der poſitiven Elektrizität gegeben. Wir haben hier einen geſchloſſenen
Strom von negativer Elektrizität. Das Pumpwerk am untern Zinkende
kann noch ſo unermüdlich thätig ſein, es füllt ein Danaidenfaß, da die
Elektrizität immer wieder zur Ausgangsſtelle zurückkehrt. Wir haben
nun keinen Grund anzunehmen, daß nur die negative Elektrizität ſtrömen
wird, offenbar hat die poſitive Elektrizität dasſelbe Bedürfnis nach
einem Ausgleich, und ſie fließt vom unteren Zinkende durch die Flüſſigkeit
zum Kupferdraht, durch dieſen zum oberen Zinkende. Wenn wir uns
ſchließlich den Draht, ſo weit er in die Flüſſigkeit taucht, zu einer
Platte verbreitert denken, ſo haben wir ein galvaniſches Element vor
uns. Jene Kraft, welche die Elektrizität erzeugt, und die — wie ge-
ſagt — wohl nichts anderes iſt als die chemiſche Verwandtſchaft, heißt
die elektromotoriſche Kraft; ſie dachten wir uns als am unteren Zinkende
ſitzend. Der Draht, ſo weit er jetzt noch da iſt, und der ſich übrigens
beliebig lang machen läßt, heißt der Schließungsbogen. Den Namen
des Bologneſer Arztes führt dieſer Apparat, wie alle ſich anſchließenden,
nicht ganz mit Recht. Galvani hat ſeinen Verſuch mit einem abge-
häuteten Froſchſchenkel gemacht, den wir uns in der obigen Einrichtung
an Stelle der ſauren Flüſſigkeit denken können. Dieſer gerät in eine
Zuckung, ſobald er gleichzeitig von beiden mit einander verbundenen
Metallen berührt wird. Dieſe Zuckung iſt ganz ſicher eine elektriſche
Wirkung. Aber Galvani nahm an, daß die elektromotoriſche Kraft in
dem tieriſchen Teile des Apparats ihren Sitz habe, und das war
grundfalſch. Als der eigentliche Erfinder der ſtrömenden Elektrizität
iſt vielmehr Aleſſandro Volta anzuſehen, der zuerſt ein Element, ähnlich
dem beſchriebenen konſtruierte. Er erkannte auch den Wert ſeiner Er-
findung, der eben darin zu ſuchen iſt, daß hier bei der fortwährend
wirkenden elektromotoriſchen Kraft große Elektrizitätsmengen im Spiele
ſind, die freilich keine hohe Spannung beſitzen. Die Reibungs-Elektrizität,
welche ſehr hohe Spannungen hat, aber nur geringe Mengen, läßt ſich
etwa mit einem hohen Waſſerfall vergleichen, der aber wenig Waſſer
führt, und der für beſtimmte Zwecke zwar ſehr wirkſam ſein, im all-
gemeinen aber mit dem ruhig dahin fließenden, aber ſehr waſſerreichen
Strom, dem die galvaniſche Elektrizität gleicht, nicht konkurrieren kann.
Volta hat auch erkannt, daß man die Wirkungen des Stromes vermehren
könne, wenn man viele Elemente zur gemeinſamen Arbeit vereinigt.
Man nennt eine ſolche Zuſammenſetzung von galvaniſchen Elementen
eine galvaniſche Batterie. Man kann dabei ſo verfahren, daß man von
ſämtlichen Elementen einmal die oberen Zinkenden — die Zinkpole, oder
negativen Pole — mit einander verbindet und auch ſämtliche Kupferenden
oder die poſitiven Pole in leitende Verbindung bringt. (Vgl. die Fig. 100.)
[134]Die elektriſchen Erfindungen.
Der Schließungsbogen, der jetzt das Kupfer mit dem Zink verbindet,
wird dann von einer zehnmal größeren Elektrizitätsmenge durchfloſſen,
wenn etwa zehn Elemente vorhanden ſind. Es kann andererſeits für
gewiſſe, gleich zu behandelnde Wirkungen des Stromes wichtig ſein,
die Spannung der Elektrizität zu erhöhen, ohne daß man beträchtliche

Figure 94. Fig. 100.

Schema für die Parallelſchaltung von galvaniſchen Elementen.


Mengen braucht, man wird dann die Elemente ſo ver-
binden, wie die Fig. 101 es zeigt, nämlich immer den
Zinkpol des einen mit dem Kupferpol des folgenden
Elements verknüpfen. In dem Schließungsbogen fließt
jetzt die Elektrizität mit größerem Gefälle, wenn auch
nicht in ſolcher Menge. Man nennt die erſte Art von
Verbindung die Parallelſchaltung, die zweite die Hinter-
einanderſchaltung. Mit einer genügenden Anzahl ſolcher
Elemente kann man nun eigentümliche Wirkungen er-
zielen, zu denen die Reibungselektrizität nicht fähig iſt.
Man kann im Schließungsbogen einen Teil des Kupfer-
drahtes durch einen ſolchen, der ſchlechter leitet, etwa
einen Platindraht erſetzen, ſo wird dieſer ins Glühen
geraten, weil die Elektrizität, die er nicht ſo leicht hin-
durch läßt, ſich in Wärme und in Licht verwandelt.

Figure 95. Fig. 101.

Schema für die
Hintereinander-
ſchaltung von gal-
vaniſchen Elementen.


Man kann dasſelbe auch mit Kupferdraht erreichen, wenn man ihn
nur hinreichend dünn wählt, denn dann muß ſich die Elektrizität durch
den engen Draht zwängen und dabei ſich auch in Wärme umſetzen.


Die Galvanoplaſtik.

Wenn man einen Teil des Drahtes durch einen Leiter erſetzt,
welcher keinen einfachen chemiſchen Stoff darſtellt, ſondern aus mehreren
chemiſchen Elementen ſich zuſammenſetzt, ſo hat der elektriſche Strom
die Fähigkeit, dieſen Körper in ſeine Beſtandteile zu zerlegen. Wenn
man ihn alſo z. B. durch eine Löſung von Kupfervitriol hindurchſchickt,
ſo wird dieſes in das Kupfer und die Schwefelſäure zerlegt, und wir
erkennen ſofort, daß, wenn man die Kupferteile, die ſich aus der
Flüſſigkeit abſcheiden, an einer beſtimmten Stelle vereinigen kann, ſo
[135]Die Galvanoplaſtik.
daß ſie feſt zuſammen liegen bleiben, dann die Möglichkeit gegeben iſt,
dem Metall jene Formen anzuweiſen, in welche die alten Ägypter bereits
dasſelbe zu bringen verſtanden. Daß dieſe Möglichkeit vorliegt, er-
kannte zuerſt Moritz Hermann Jacobi, geboren 1801 zu Potsdam,
geſtorben 1874 als Staatsrat und Mitglied des Manufakturkonſeils zu
Petersburg, und dieſe Erkennt-
nis führte ihn 1838 zur Er-
findung der Galvanoplaſtik.
Die Anordnung ſeines Appa-
rates war freilich eine etwas
andere, aus der Fig. 102 er-
ſichtliche. Wenn der Strom
im Schließungsbogen ſolche
chemiſche Wirkungen zeitigt, ſo

Figure 96. Fig. 102.

Jacobis galvanoplaſtiſcher Apparat.


darf man nämlich annehmen, daß er es auch innerhalb der Flüſſigkeit
des Elements thun wird; es fließt ja durch dieſelbe die nämliche
Elektrizitätsmenge mit derſelben Spannung, wie durch den Schließungs-
draht und, wenn die Flüſſigkeit zerſetzbar iſt, ſo wird ſie eine Trennung
in ihre Beſtandteile erdulden. Der Strom, ſelbſt hervorgebracht durch
eine chemiſche Wirkung, wird ſeinerſeits ſolche Arbeiten leiſten, wie
die, aus denen er gezeugt ward. Bei dem Jakobiſchen Elemente
iſt ein Gefäß A, welches oben offen iſt, deſſen Boden aber aus einer
Schweins- oder Ochſenblaſe gebildet wird, ſo in ein weiteres Gefäß B
eingeſetzt, daß der Boden von A ungefähr 5 cm über dem Boden des
Gefäßes B ſich befindet; das Gefäß A iſt mit ſtark verdünnter Schwefel-
ſäure, das Gefäß B aber mit einer konzentrierten Löſung von Kupfer-
vitriol gefüllt. In die Flüſſigkeit des oberen Gefäßes wird dann eine
Zinkplatte, in die Flüſſigkeit des unteren Gefäßes wird die Form
eingeſetzt, welcher der Kupferniederſchlag ſich anpaſſen ſoll. Der
elektriſche Strom wird durch die Blaſe nicht gehemmt, da dieſe ſogar
den beiden Flüſſigkeiten den Durchtritt durch ihre Poren geſtattet. Die
Form muß ſelbſt eine metalliſche ſein, oder doch mit einem guten
Leiter, z. B. mit Graphitpulver überzogen ſein. Dann haben die
Beſtandteile des Kupfervitriols die Eigentümlichkeit gerade nach be-
ſtimmten Stellen des Apparates hingezogen zu werden. Die Schwefel-
ſäure tritt durch die Blaſe in das Gefäß A hinein, wo ſie weiter
im Verein mit dem Zink elektromotoriſche Kraft erzeugt, das Kupfer
ſetzt ſich in mikroſkopiſch kleinen Kryſtallen an die Form an, und, wenn
nun der Vorgang lange genug dauert, ſo ſetzt ſich ein Teilchen ſo
genau ans andere, daß ſie zuſammen eine harte Maſſe bilden, die ſich
ganz genau der Form angepaßt hat. Eine Vorſichtsmaßregel muß
freilich noch angewendet werden: der die Form mit dem Zink ver-
bindende Metalldraht muß, ſoweit er im Bereiche der Flüſſigkeit ſich
befindet, iſoliert ſein, weil ſich ſonſt an ihm nicht weniger Kupfer
niederſchlägt, als auf der Form. Man kann ſo ſehr genaue Nach-
[136]Die elektriſchen Erfindungen.
bildungen von Medaillen und Münzen erhalten, freilich zunächſt nur
einſeitige, wie ja die Form nur einſeitig iſt. Dieſe ſo einfache Erfindung
hat nun große Induſtriezweige hervorgebracht, da durch ſie die Nach-
bildung aller möglichen Gegenſtände und auch das Überziehen derſelben
mit dünnen Metallſchichten ermöglicht iſt. Wir wollen dieſelben einzeln
durchgehen, zuvor aber bemerken, daß die Ströme, welche die galvaniſchen
Niederſchläge liefern, heute nicht mehr alle durch galvaniſche Elemente
geliefert werden, ſondern auf einem von dem beſchriebenen verſchiedenen
Wege, durch die ſpäter zu beſchreibenden Dynamomaſchinen, erzeugt
werden. Man leitet dieſen Strom, wie den der galvaniſchen Elemente,
durch eine Flüſſigkeit hindurch, welche das niederzuſchlagende Metall
in irgend einem Salze gelöſt enthält. Man wird durch allmählichen
Zuſatz von Stücken dieſes Salzes immer dafür ſorgen können, daß
die Löſung konzentriert bleibt.


Will man nicht blos die einſeitigen Abdrücke einer Form haben,
ſondern eine vollſtändige Nachbildung eines Gegenſtandes, ſo wird
man das Original in Wachs oder Stearin abdrücken, und zwar beide
Seiten deſſelben, dann die Abdrücke durch Einpinſeln mit Graphitpulver
leitend machen und zu einer Hohlform zuſammenſetzen. Man kann
die nachzubildenden Körper beliebig groß wählen, immer gelingt das
Verfahren. Wenn man eine Statue einer Form nachbilden will, ſo
wird man entweder dieſe in mehrere Teile zerlegen und die auf ihnen
gebildeten Niederſchläge nachträglich an einanderpaſſen oder nach einem
Verfahren des Pariſer Galvanoplaſtikers Lenoir ſich eine Hohlform
aus mehreren Stücken Guttapercha zuſammenſetzen, dann einen viel-
verzweigten Leiter in das Innere ſo hineinfügen, daß er die Wände
nicht berührt, während die innere Fläche mit Graphit überzogen wird.
In den Hohlraum kann die Kupfervitriollöſung an zwei Stellen ein-
treten und darin zirkulieren. Jetzt leitet man einen Strom durch
die Flüſſigkeit und es wird ſich die Innenwand gleichmäßig mit
Kupfer überziehen, während die ſich bildende Säure den Leiter nicht
angreift, wenn er, wie Lenoir ihn wählt, aus Platin beſteht. Freilich
gehört ſchon ein kräftiger galvaniſcher Strom dazu, und das Platin
ſtellt ſich nicht billig — für ein Kilogramm Kupferniederſchlag auf über
100 Mark. Das ſind die Gründe, aus denen man für größere Kunſt-
werke jener Methode ſich zuwandte, die wohl einſt auch im Nilthale
im Dienſte einer entwickelten Induſtrie geſtanden hat. Man überzieht
eine Form aus Wachs oder Thon in einer Zerſetzungszelle — ſo nennt
man das Gefäß, durch welches der Strom geleitet wird — mit einem
Kupferniederſchlag, hört aber mit der Zerſetzung auf, wenn derſelbe
noch ſehr dünn iſt und nur genügende Haltbarkeit hat, um nicht in
ſich zu zerfallen. Dann brennt man den Thon oder ſchmilzt das
Wachs heraus, und man hat jetzt eines jener dünnwandigen Stand-
bilder der Ägypter vor ſich. Aber man hat die Fähigkeit, wenn man
dieſe auswendig, etwa durch einen Überzug von Firnis, iſoliert, nun
[137]Die Galvanoplaſtik.
inwendig noch ſoviel Metall niederzuſchlagen, bis das Ganze eine
genügende Feſtigkeit erlangt hat. Das größte auf dieſem Wege her-
geſtellte Standbild iſt die 3,3 Meter hohe Figur des Gutenbergdenkmals,
welche aus der Werkſtatt von Kreß in Frankfurt a. M. hervorging.
So hat das galvanoplaſtiſche Verfahren alle Ausſicht, das Gießen von
Denkmälern ganz zu verdrängen. Es iſt bedeutend bequemer und giebt
alle feinen Details des Modells viel genauer wieder, ſo daß eine
Nacharbeit durchaus überflüſſig wird. Ganz aus dem Felde geſchlagen
iſt das Gießen in Bronze bereits bei der Anfertigung von kleineren
Figuren, Lampenträgern und anderen Gegenſtänden des Zimmerſchmucks,
die man heute alle gavanoplaſtiſch herſtellt. Es iſt nur natürlich, daß
auch andere Metallgegenſtände, die man früher durch Preſſen herſtellte,
jetzt meiſt auf dieſem Wege erhalten werden, wenn nur eine einzige
genau gearbeitete Vorlage vorhanden iſt. Von dieſer Art ſind z. B.
Knöpfe, Decken für Etuis und Käſtchen in getriebener Arbeit, ſowie
Verzierungen an Möbeln; vorzüglich ſind es aber Uhrgehäuſe, die jetzt
auf dieſem Wege gearbeitet werden. Man bekommt dieſelben ſamt der
Uhr heute für einen erſtaunlich billigen Preis. Das Rätſel der billigen
Herſtellung löſt ſich ganz einfach: es werden jene Kupferniederſchläge
nur höchſt dünn hergeſtellt und zur Verſtärkung mit Zinn ausgegoſſen,
ſpäter noch ganz leicht galvaniſch vergoldet. Auch größere Reliefs
werden auf dem naſſen Wege viel leichter und billiger erzeugt als bei
getriebener Arbeit, ſo z. B. große Relief-Landſchaften.


Die Kupferplatten, welche der Kupferſtecher für ſeine Zwecke
verwenden will, litten bisher an mancherlei Mängeln. Durch Gießen
oder Hämmern hergeſtellt, konnten ſie oft nicht denjenigen Grad
von Gleichförmigkeit erlangen, welcher hier nötig war. Seitdem dieſe
Platten vom Galvanoplaſtiker hergeſtellt werden, laſſen ſie an Gleich-
artigkeit der Maſſe nichts zu wünſchen übrig und der Grabſtichel des
Kupferſtechers ſtößt überall auf denſelben Widerſtand. Man legt die
Formplatte, auf der ſich das Kupferblatt niederſchlagen ſoll, horizontal
auf den Boden der Zerſetzungszelle und bringt 2 cm höher eine zweite
Kupferplatte an, bei welcher der poſitive Strom in die Flüſſigkeit ein-
tritt. Dieſe Platte liefert durch ihre Auflöſung in der entſtehenden
Säure den Erſatz für das zerſetzte Kupfervitriol, ſo daß die Löſung
immer gleich konzentriert bleibt.


Wie der Kupferſtecher arbeitet, das möge der verehrliche Leſer
in dem Kapitel über die vervielfältigenden Künſte nachleſen. Er
wird dort auch finden, daß die Platte nicht eben für viele Drucke
gleich brauchbar bleibt, daß die erſten Abdrücke, die ſogenannten
avant la lettre, die weitaus am meiſten geſchätzten ſind, weil eben
die Platte beim Drucke ſich abnützt. Man iſt gerade deshalb zum
Stahlſtich übergegangen, da die Stahlplatte mehr Nachdrücke aus-
halten kann. Aber dieſelbe iſt auch viel ſchwieriger zu behandeln
wegen ihrer Härte, die es dem Künſtler unmöglich macht, ſo voll-
[138]Die elektriſchen Erfindungen.
endete Kunſtwerke herzuſtellen, wie auf Kupfer. Jetzt iſt man aber
allen dieſen Schwierigkeiten überhoben, denn man braucht die Original-
Kupferplatte nur noch, um davon eine Reihe von Abdrücken in
Kupfer auf galvaniſchem Wege, ſogenannte Galvanos herzuſtellen,
die dann allein für den Druck verwendet werden. Damit ſich der Ab-
klatſch leichter vom Original abhebe, wird dieſes zuvor auf galvaniſchem
Wege ſchwach verſilbert, ſo wie wir es bald leſen werden. Damit die
Druckplatte ſich weniger ſchnell abnutze, wird auch wohl zuerſt ein
Nickelniederſchlag und darüber erſt der kupferne erzeugt. Und ganz
ebenſo macht man es mit den Holzſchnitten, das Original dient nur
als Matrize, um die Kupferklichees herzuſtellen, welche viel dauerhafter
als die Holzplatte ſind. So ſind die Abbildungen in dieſem Buche
ausſchließlich mit ſolchen Galvanos hergeſtellt. Sie ſind dadurch
weſentlich ſchärfer, als wenn ſie mit dem Holzſtock direkt gedruckt
worden wären. Auch für den Buchdruck ſelbſt iſt die Galvanoplaſtik
nutzbar gemacht worden. Man ſtereotypiert die Platten jetzt auf naſſem
Wege. Nachdem von dem Satze ein Abdruck in Guttapercha hergeſtellt
iſt, läßt man in dieſen ſich Kupfer niederſchlagen und hat ſo die
Möglichkeit, zu jeder beliebigen Zeit, wenn der Satz längſt auseinander
genommen iſt, immer neue Auflagen des Buches herzuſtellen.


Nicht genug, daß die Galvanoplaſtik ſo die Vervielfältigung von
Originalen lehrte, die auf einem älteren, bekannten Wege hergeſtellt waren,
ſie hat auch noch den Anſtoß zur Erfindung ganz neuer Zeichenmanieren
und zur Verwendung alter, bisher wenig brauchbarer gegeben. Ein
neues Verfahren iſt z. B. die vom Kupferſtecher Schöler in Kopenhagen
erfundene Stilographie. Sie liefert die ſchönſten Radierungen auf
die leichteſte Weiſe. Der Grund, auf welchen die Zeichnung eingeriſſen
wird, iſt ungemein weich, da er aus Stearin und Schellack beſteht.
Man kann die Zeichnung leicht verfolgen, wenn man den Grund mit
Kienruß ſchwarz färbt und oberflächlich mit weißem Silberpulver bedeckt.
Iſt die Zeichnung vollendet, ſo braucht man ſie nur durch Graphit
leitend zu machen, davon einen erhabenen und ſchließlich von dieſem
einen vertieften Abdruck zu nehmen, ſo iſt die zum Druck bereite Platte
geliefert.


Noch einfacher iſt die bereits 1840 von Kobell in München
empfohlene Galvanographie. Da wird auf einer verſilberten Kupfer-
platte die gewünſchte Zeichnung mit Tuſche entworfen, und zwar werden
diejenigen Stellen, die ſpäter im Druck beſonders dunkel erſcheinen
ſollen, ſtärker aufgetragen, als die helleren. Man erhält ſo eine erhabene
Platte, und wenn man dieſelbe nach dem Trocknen durch Einreiben
mit Graphitpulver leitend macht und davon einen galvaniſchen Abdruck
nimmt, ſo erhält man die zum Druck fertige vertiefte Platte, welche
hübſche Abdrücke in Tuſchmanier liefert.


Im Jahre 1854 hat Pretſch in Wien ein Verfahren angegeben,
um ſogar Photographien durch die Galvanoplaſtik zu vervielfältigen.
[139]Die Galvanoplaſtik.
Jene werden auf einer Glasplatte entworfen und ſo gewaſchen, daß ſie
ein Relief bilden, von dem man Abklatſche in Kupfer herſtellen kann.
1873 wurde dieſe Methode durch Dallas in London verbeſſert, und
ſie heißt die Dallastypie oder Photogalvanographie. Man braucht
den Kupferplatten kaum mit dem Grabſtichel nachzuhelfen und erhält
doch in den Bildern das feine Korn des Kupferſtiches. Auf dieſem
Wege hat der Direktor Leipold von der Banknotendruckerei in Liſſabon
unvergleichliche photographiſche Vervielfältigungen erhalten.


Der Direktor der Wiener Staatsdruckerei Auer erſann vor 40 Jahren
ein höchſt einfaches Verfahren, um Abdrücke der verſchiedenartigſten
Körper zu erhalten, den Naturſelbſtdruck. Es handele ſich z. B. darum,
den Abdruck einer foſſilen Pflanze zu vervielfältigen, ſo hat man dieſen
zwiſchen eine polierte Stahlplatte und ein dünnes Bleiblech zu legen
und nun das Ganze bei einem geeigneten Druck zwiſchen zwei Walzen
hindurchgehen zu laſſen. Man ſieht dann im Blei den abgeformten
Gegenſtand mit allen Details. Natürlich kann man von der Bleiplatte
einen galvanoplaſtiſchen, für den Druck geeigneten Abklatſch nehmen;
aber man verfährt auch ſo, daß man die Kupfertiefplatte, die man ſo
erhält, erſt durch die Preſſe in eine Zinkplatte drückt und dieſe ſo lange
ätzt, bis der Abdruck erhaben hervortritt. Man erhält ſo Abdrücke,
welche den beſten Kupfern nicht nachſtehen. Aber freilich iſt das Ver-
fahren ziemlich koſtſpielig, ſo daß es noch nicht allgemein eingeführt
iſt. Auf ganz ähnliche Weiſe gelangt man auch zu Abdrücken von
Juchtenleder in Papier. Man hat nur nötig, durch den Naturſelbſt-
druck die genarbte Lederfläche auf Blei oder Guttapercha abzudrucken
und dann die Platten zum Preſſen des Papiers auf galvano-
plaſtiſchem Wege zu gewinnen.


Einige andere Methoden der Galvanoplaſtik ſind in ihrem Weſen
von den vorhergehenden etwas verſchieden. Wenn dort, wo der
Strom in die Zerſetzungszelle eintritt, eine Kupferplatte hängt, ſo wird
dieſe — wie wir vernahmen — durch die ſich entwickelnde Schwefel-
ſäure angegriffen. Je nachdem man den Strom ſtark oder ſchwach
wählt, lange oder kurze Zeit wirken läßt, kann man dieſe Ätzung des
Kupfers nach Belieben tief werden laſſen. Man wird natürlich nur
diejenigen Stellen der Platten, welche geätzt werden ſollen, bloslegen,
im übrigen aber das Kupfer mit einer iſolierenden Schicht überziehen.
Man radiert die Zeichnung in dieſe Schicht hinein und bringt ſie an
der paſſenden Stelle in die Löſung von Kupfervitriol. Leitet man jetzt
den Strom hindurch, ſo wird das Metall an allen nicht bedeckten
Stellen von der entſtehenden Säure angefreſſen. Aber die ätzende
Flüſſigkeit bleibt dabei ſo dünn, daß das bei anderen Ätzverfahren
vorkommende Unterfreſſen der Linien der Zeichnung vermieden wird.
Man kann die Wirkung des Stromes kontrollieren, indem man öfters
die Platten aus dem Bade nimmt und nun immer diejenigen Stellen
überdeckt, welche nicht tiefer geätzt werden ſollen. So hat man noch
[140]Die elektriſchen Erfindungen.
immer die Fähigkeit, Licht und Schatten angemeſſen zu verteilen. Es
giebt kein Verfahren der Ätzung, welches eine ſo feine Arbeit hervor-
brächte, wie dieſes, bei welchem ſelbſt ganz benachbarte Linien nicht
in einander fließen. Man nennt es die Galvanokauſtik oder das
galvaniſche Gravieren. Es wird namentlich zur Herſtellung von
Walzen für Zeug- und Tapetendruck verwendet.


Um noch ein letztes von den faſt unzählbar gewordenen Vervicl-
fältigungsverfahren der Galvanoplaſtik zu erwähnen, ſo verſteht man
unter Galvanoglyphie die Kunſt, von geätzten Zinkplatten erhabene
für den Druck mit der Preſſe geeignete Kupferkliſchees abzunehmen.
Das Zink wird mit einer dünnen Fett- oder Firnisſchicht bedeckt, hier
die Zeichnung eingegraben und flach geätzt. Nachdem man eine neue
Schicht von Firnis oder fetter Farbe aufgetragen hat, wird alles
wiederholt und zwar ſo oft nacheinander, bis die Ätzung genügend tief
erſcheint, damit jetzt das Kupfer darauf niedergeſchlagen werden kann.
Man hat hier zu beachten, daß auf der Zinkplatte alles wie im ſpäteren
Druck erſcheint, weil die erhabene Kupferplatte direkt für den Druck
verwendet wird.


In neueſter Zeit kommen bereits im Handel ſehr hübſche Pflanzen-
und Tiernachbildungen vor, die uns auf den erſten Blick wie von
Metall gemacht erſcheinen. Das ſind ſie nun zwar nicht, ſondern nur auf
galvanoplaſtiſchem Wege mit einem dünnen Mantel von Kupfer oder
anderen Metallen umgeben. Man kann ja jeden Gegenſtand durch
Einpinſeln mit einem leitenden Pulver ſelbſt leitend machen und ihn
im Kupferbade metalliſch überziehen. Die Blüten, Gräſer, Blätter,
welche von München aus in den Handel gebracht werden, wurden
zunächſt ſorgfältig getrocknet, durch Glycerin geſchmeidig gemacht und
mit Bronzepulver überzogen. Erſt jetzt wurden ſie im galvaniſchen
Bade verkupfert oder verſilbert. So erhält man ſchöne Ausſchmückungs-
mittel für Wohnräume und Schmuckſachen; aber es iſt wohl denkbar,
daß dieſe Methode auch für die Wiſſenſchaft zum Conſervieren von
Naturkörpern nutzbar gemacht werden kann. Gipsabgüſſe auf ſolche
Art zu verkupfern iſt erſt ganz neuerdings gelungen. Man fand nämlich
eine Schwierigkeit darin, daß der im Bade naß gewordene Gips an
Haltbarkeit einbüßte. Aber man durchtränkt heute den Gegenſtand erſt
mit Theer, welcher ihm ſogar eine größere Feſtigkeit verleiht, und
überzieht ihn mit einem dünnen Kupferniederſchlage, der ſich nun wie
Metallguß ziſelieren und auch vergolden läßt. Die Formänderungen,
die der Niederſchlag hervorbringt, laſſen ſich ſchon vorher berückſichtigen.
Es erſcheint die Zeit nicht fern, daß die bisher ſehr koſtbare Anwendung
von Metallverzierungen, von Metallkapitälen und Vaſen in echter
Vergoldung in Zimmern ſich Bahn brechen und die bisher verwendeten
nur metallartig angeſtrichenen Stuckformen verdrängen wird.


Ein weiteres Verdienſt der Galvanoplaſtik iſt es, daß mit ihrer
Hilfe Körper, die ſonſt unter dem Einfluſſe der Luft leicht leiden, mit
[141]Das Verſilbern, Vergolden und Vernickeln.
dem den Angriffen der Atmoſphäre beſſer ſtandhaltenden Überzuge
von Kupfer verſehen werden können. Solche Körper ſind z. B. die
Telegraphendrähte. Dieſelben ganz aus Kupfer herzuſtellen, wäre
zu teuer. Man benutzt als Material das viel billigere Eiſen,
aber man giebt ihm einen Überzug von Kupfer. Am ausgedehnteſten
wird dieſe Verkupferung der Drähte von der Pontal-Telegraph-
Company in New-York betrieben. 25 Dynamomaſchinen liefern den
Strom, der durch 200 Zerſetzungszellen geht und in einem Tage
16 Kilometer Stahldraht mit 5 Zentnern Kupfer überzieht, indem der
Draht langſam durch eine Reihe von Bädern hindurchwandert. Die
Betriebskoſten werden dabei zum guten Teil durch einen Nebenverdienſt
aufgebracht. Es fällt nämlich bei dem Prozeſſe in den Zellen viel
metalliſches Silber zu Boden, welches in dem verwendeten Kupfervitriol
vorkommt, das aber ſelbſtändig zu gewinnen nicht lohnen würde.


Das Verſilbern, Vergolden und Vernickeln.

Das Kupfer, an ſich durch ſeine Widerſtandsfähigkeit gegen die
Einflüſſe der Luft hinreichend geſchützt, wird immerhin nicht dauernd ſein
Ausſehen behalten. Andere Metalle ſind darin bevorzugter und dem Auge
gefälliger. Silber, Gold und Nickel ſind von dieſer Art. Das Meſſing,
freilich kein einfaches Metall, ſondern aus Zink und Kupfer zuſammen-
geſetzt, hat dieſelbe Eigentümlichkeit. Silber und Gold, die als edle
Metalle das Bleiben an der Luft ohne Schaden vertragen, ſind durch
ihre Koſtbarkeit an vielen Stellen ausgeſchloſſen. Das Nickel macht ſich
durch ſeine Härte ganz beſonders geeignet, als Uberzug zu dienen.
Man iſt im Stande, alle dieſe Körper aus entſprechenden Löſungen,
ebenſo wie das Kupfer aus der Kupfervitriollöſung, durch einen
galvaniſchen Strom an der paſſenden Stelle zum Niederſchlage zu
zwingen. Das Vermeſſingen von Eiſen- und Zinkwaren geſchieht
durch Zerſetzung einer Cyankupfer- und -Zinklöſung. Durch paſſende
Regulierung der Stromſtärke hat man es dabei in der Gewalt, die
Farbe des Niederſchlages zwiſchen dem Kupferrot und dem Zinkweiß
beliebig variieren zu laſſen. Man überzieht jetzt viele Haushaltungs-
gegenſtände, Lampenfüße u. dgl., mit einer dünnen Schicht von Meſſing,
die ihnen das Ausſehen von Bronzen giebt. Werden ſie dann noch
poliert, ſo iſt kein Unterſchied von echten Bronzen zu erkennen, ſie
erhalten ſogar nach längerem Gebrauch jenen ſchönen blauen Überzug
von kohlenſaurem Kupfer, der als Edelpatina bekannt iſt.


Da wir von der Patina ſprechen, wollen wir im Vorübergehen eines
ſehr wenig erwünſchten Überzuges von Bronzen gedenken, der ſogenannten
unechten Patina, welche aus Chlorkupfer beſteht, ſich recht oft zum
Schmerze des Forſchers an antiken Bronzen findet und, indem ſie die
ganze Maſſe derſelben durchſetzt, den Gegenſtand der Zerſtörung anheim
giebt. Nun iſt — und deshalb kommen wir darauf zu ſprechen —
[142]Die elektriſchen Erfindungen.
neuerdings ein elektriſches Verfahren von Finkener in Berlin angegeben
worden, um durch Zerſetzung des Kupferſalzes die Bronzen zu kon-
ſervieren. Man legt dazu den Gegenſtand ſo in eine ſchwache
Cyankaliumlöſung, daß der poſitive Strom, der nur ſehr ſchwach zu
ſein braucht, bei ihm eintritt, dann wird das Waſſer der Löſung in
ſeine Beſtandteile Waſſerſtoff und Sauerſtoff zerlegt, von denen der
erſtere die Fähigkeit hat, die Patina zu Kupfer zu machen. So gelingt
es, viele Bronzen vor dem drohenden oder ſchon beginnenden Zerfall
zu retten und viele Details der Zeichnung auf ihnen zu Tage treten
zu laſſen, welche vorher nicht ſichtbar waren.


Eine der erſten praktiſchen Anwendungen der Galvanoplaſtik war
die zum Verſilbern und Vergolden von Gegenſtänden. De la Rive
in Genf führte ſie bereits 1840 erfolgreich aus und bald nachher

Figure 97. Fig. 103.

Kleiner Apparat zum galvaniſchen Verſilbern
und Vergolden.


richteten die beiden Elkington in
Birmingham die heute noch blühende
Werkſtatt zur Verſilberung ein. Eine
kleine Zerſetzungszelle zum Verſilbern
zeigt Fig. 103 einen größeren Trog
Fig. 104.


In der erſteren erblicken wir in
der Mitte eines runden Gefäßes einen
ſilbernen Cylinder, welcher mit dem
poſitiven Pole der Batterie in Ver-
bindung ſteht, während die zu ver-
ſilbernden Gegenſtände, etwa Meſſer
und Gabeln an einem kreisförmigen
Drahte hängen, der mit dem Zink-
pol der Batterie verbunden iſt. Die
Flüſſigkeit des Bades iſt die Auflöſung eines Silberſalzes in Cyan-
kaliumlöſung; die Löſung würde durch den Niederſchlag allmählich ihres
Silbergehaltes beraubt werden, wenn nicht durch Einhängen des Silber-

Figure 98. Fig. 104.

Größerer Apparat zum galvaniſchen Verſilbern und Vergolden.


[143]Das Verſilbern, Vergolden und Vernickeln.
cylinders, der durch den Strom aufgelöſt wird, für Erſatz geſorgt wäre.
Das größere Bild ſtellt einen Trog CC' dar, auf dem zwei Metall-
ſtäbe vv' und tt feſt liegen, bei vv' tritt der poſitive Strom in das Bad
ein, während der Zinkpol der Batterie mit tt leitend verbunden iſt. In
dem Troge befindet ſich die Verſilberungsflüſſigkeit, in welche die beiden
mit der poſitiven Stange vv' leitend verbundenen Silberplatten oo' hinein-
hangen. An dieſen tritt alſo der poſitive Strom in die Flüſſigkeit ein.
Dagegen ſind die zu verſilbernden Gegenſtände an den Drähten a b
aufgehängt, welche mit dem negativen Stabe tt in Verbindung ſtehen,
aber den Stab vv' nicht berühren dürfen. An ihnen tritt der Strom
wieder aus, welcher nach der Figur durch eine galvaniſche Batterie von
ſechs Elementen geliefert wird, aber beim Großbetriebe auch von einer
Dynamomaſchine kommen kann. Das Silber haftet an den meiſten
Metallen ohne Weiteres, nur bei Zinn- und Zinkgegenſtänden iſt es
nötig, zuerſt eine oberflächliche Verkupferung und dann erſt das Verſilbern
vorzunehmen. Die Dicke der Silberſchicht, die man auf gewöhnlichen
Tafelſervicen ſich niederſchlagen läßt, beträgt nur 8/100 Millimeter und
iſt doch genügend, denſelben jahrelang das ſchöne Ausſehen zu be-
wahren. Das geſamte Silber, das auf einem Dutzend Löffel oder
Gabeln ſich abſetzt, repräſentiert zwar einen Wert von 15 Mark, aber
das Beſteck koſtet nur ein Sechſtel von dem, was ein maſſives wert
iſt. Es iſt übrigens nach erfolgter Abnutzung eine neue Verſilberung
immer wieder möglich. Bei vielen anderen Gegenſtänden, die ja meiſt
nicht ſo ſtark abgenutzt werden als Beſtecke, wird übrigens nur ein
noch viel dünnerer Belag hergeſtellt — von nur 1/1000 Millimeter Dicke.
Das in Europa und Amerika alljährlich auf galvaniſchem Wege
niedergeſchlagene Silber ſoll nicht weniger als 125 Tonnen wiegen, alſo
einen Wert von 20 Millionen Mark beſitzen.


Beſonders iſt dieſe Induſtrie in Paris entwickelt, wo jährlich ein
Fünftel dieſes Betrages verarbeitet wird, und die Fabrik von Chriſtofle
allein ſeit ihrer Gründung vor 50 Jahren 169 Tonnen Silber verbraucht
hat. In Deutſchland iſt die Metallwarenfabrik zu Geißlingen in Würtem-
berg die hervorragendſte Vertreterin der Silbertechnik. Sie beſchäftigt
600 Arbeiter. Die Waren werden in zwei Gießereien gegoſſen, in fünf
Walzwerken werden Bleche gewalzt. In anderen Räumen werden dieſe
plattiert, d. h. auf trockenem Wege mit Platten von anderen Metallen
belegt, die Gußſachen gefeilt, ciſeliert und gedreht, geſchliffen oder durch
Blaſen mit Sand auf ihrer Außenſeite an beſtimmten Stellen rauh
gemacht. Nach dieſen und noch einigen Vorbereitungen gelangen die
Gegenſtände erſt zur Verſilberung, bei der ſich das durch das Sand-
gebläſe erlangte ſchöne matte Ausſehen erhält, wenn man ſie nicht
nachträglich an geeigneten Stellen poliert. Auch die ſogenannten
Oxydſachen werden galvaniſch erhalten. Es ſind in Wahrheit verſilberte
Gegenſtände, welche oberflächlich mit einer Schicht von Schwefelſilber
überzogen ſind. Man erlangt ſie durch Einbringen an die Stelle,
[144]Die elektriſchen Erfindungen.
wo der poſitive Strom in die zu zerſetzende Flüſſigkeit eintreten ſoll,
die hier Schwefelammonium gelöſt enthält; der ſich entwickelnde
Schwefel wird von dem Silber angezogen und bildet mit ihm den
als Oxyd bekannten Überzug.


Die galvaniſche Vergoldung kam gleichzeitig mit der Verſilberung
auf. Brugnatelli vergoldete bereits 1805 eine ſilberne Medaille mit
Hülfe der Voltaſchen Batterie. De la Rive ſoll das Verfahren bereits
1828 gekannt haben. Nach ſeiner Veröffentlichung im Jahre 1840
nahmen Ruolz in Frankreich und die beiden Elkingtons in England
Patente darauf. Sie iſt auch ganz ebenſo einfach auszuführen. Das
Bad, in welches die zu vergoldenden Gegenſtände kommen, enthält
eine Löſung von Cyankalium und eine ſolche von Gold in Königs-
waſſer. Je nach der Stärke des Stromes und der Wärme des Bades
ändert ſich die Farbe des Goldniederſchlags von lichtem zu lebhaftem
Hellgelb. Durch Zuſatz von Silber aber hat man es in der Gewalt,
die Farben von Grün bis Rot wechſeln zu laſſen je nach dem Ver-
hältniſſe der Miſchung. Dieſes Verfahren hat zwar noch nicht alle
übrigen Vergoldungsarten verdrängt, aber ſie doch mehr in den Hinter-
grund treten laſſen; denn wenn der galvaniſche Niederſchlag auch nicht
ſo feſt halten ſoll, wie der durch die Feuervergoldung erlangte, ſo hat
das Feuerverfahren, bei dem giftige Queckſilberdämpfe ſich entwickeln,
ſo ſchädliche Einflüſſe auf die Geſundheit der Arbeiter, daß man ſchon
deshalb davon zurückkommt. Eine beſonders gefällige Anwendung
dieſer Technik iſt die jetzt ſchon verbreitete Kunſt der galvanoplaſtiſchen
Niellos. Man verſteht darunter Metallarbeiten nach Art der ein-
gelegten Holzarbeiten, bei denen in die Riſſe und Lücken eines Metalls
durch Einpreſſen ein anderes gebracht wird, wie z. B. Gold in Silber.
Ähnlich waren die tauſchierten Holzarbeiten, bei denen ein Metall an
gewiſſen vertieften Stellen des Holzes eingepreßt ward. Ganz das-
ſelbe erreicht man jetzt mit viel weniger Mühe und weitaus ſchöner auf
galvaniſchem Wege. Man überzieht etwa eine Kupferplatte mit einer
iſolierenden Schicht und macht nur diejenigen Stellen frei, welche
einen Niederſchlag empfangen ſollen. Nimmt man dann die Platte
aus dem Bade, bedeckt die niedergeſchlagenen Stellen und macht andere
frei, an denen in einer neuen Zelle ein anderes Metall ſich anſetzen
ſoll, ſo kann man nacheinander die Platte mit drei oder vierfarbigen
Arabesken überziehen, wie z. B. mit Kupfer, Silber, Gold und Oxyd.
Oder man ätzt einfach gewiſſe Stellen in der Kupferplatte ein und
läßt dann dieſe Stellen ſich mit Gold- oder Silberniederſchlag anfüllen,
bis derſelbe gleiche Höhe mit der Oberfläche der Platte erlangt hat.
Der bekannte Schriftſteller Corvin hat ein ſehr hübſches und dabei
höchſt einfaches, nach ihm Corvinniello genanntes, Verfahren angegeben,
um eingelegte Arbeiten zu erhalten. Man fertigt eine Zeichnung der
Arbeit auf beliebigem, am beſten metalliſchem Hintergrunde und belegt
dieſen an den paſſenden Stellen mit Stücken von Jet, Bernſtein, Perl-
[145]Das Verſilbern, Vergolden und Vernickeln.
mutter oder Metallen, aber ſo, daß ſie mit ihrer rechten Seite dem
Hintergrunde zugekehrt ſind, der noch übrige Raum wird galvaniſch mit
Metall gefüllt; wenn dieſes die hinreichende Stärke erlangt hat, kann
das Ganze vom Hintergrunde losgelöſt werden. Die aufgeklebten
Stücke erſcheinen dann in der ſauberſten Weiſe in das Metall eingelegt.
Natürlich kann man durch Eingravieren, Vergolden oder Verſilbern
das Stück noch weſentlich verſchönern. So laſſen ſich Tiſchplatten,
Buchdeckel, Möbeleinlagen und Platten für allerlei Dinge zu beſonders
billigen Preiſen herſtellen.


Im Jahre 1846 machte Böttger den Vorſchlag, Gegenſtände, die
den ſchädlichen Einflüſſen der Luft ausgeſetzt ſind, durch einen Überzug
mit Nickel zu ſchützen, aber erſt 1869 kam das von Böttger angegebene
Verfahren in größerem Maßſtabe zur Anwendung, und zwar zuerſt in
Nordamerika. Feuerwaffen, die vor dem Roſten bewahrt werden ſollten,
wurden damals der Vernickelung unterzogen, heut aber werden Schlöſſer,
Schlüſſel und Zimmeröfen ſo gut wie wiſſenſchaftliche Inſtrumente, ja
ſogar vielerlei Zink- und Meſſinggeräte mit einem Nickelüberzuge ver-
ſehen. Es giebt kaum einen Induſtriezweig, der ſo ſchnell ſich überall
Eingang verſchafft hätte, wie die Vernickelung. Die Gegenſtände werden
an der Austrittsſtelle des poſitiven Stroms in eine konzentrierte Löſung
von ſchwefelſaurem Nickel und ſchwefelſaurem Ammonium eingebracht
und bei hinreichend ſtarkem Strome in kurzer Zeit mit einer dünnen,
aber ſehr feſt haftenden Schicht von Nickel überzogen. Durch Einhängen
eines Nickelblechs an der Eintrittsſtelle des Stroms ſorgt man dafür,
daß die Löſung fortwährend ihre Stärke beibehält. Abgeſehen davon,
daß die meiſten Gegenſtände dadurch ein viel ſchöneres Ausſehen er-
langen, ſind ſie durch den Nickelüberzug gegen den Schaden, den die
Luft und das ihr in geringem Maße beigemengte Schwefelwaſſerſtoffgas
ihnen zufügen, gegen welches ſelbſt das Silber nicht ſicher iſt, gut
geſchützt.


Indem man die chemiſchen Wirkungen des elektriſchen Stromes
genauer ſtudierte, iſt man auch zu anderen ebenſo wirkſamen, dabei
äußerſt intereſſanten Methoden gelangt, um Metalle gegen die Angriffe
der Luft und anderer mit ihnen in Berührung kommender Stoffe zu
ſchützen. So wird eine Kupferplatte, die man in Seewaſſer eintaucht,
leicht und ſchnell von dieſem angefreſſen, weil ihm Spuren von ver-
dünnten Säuren beigemiſcht ſind. Die Platten, welche den Belag von
Schiffskörpern bilden, nutzen ſich alſo leicht ab. Verbindet man aber
mit dem Kupfer ein Stückchen Zink, ſo wird nach dem, was wir am
Anfange dieſes Kapitels geſagt haben, ein Strom von poſitiver Elektrizität
innerhalb der Flüſſigkeit vom Zink zum Kupfer gehen. Die ſo erzeugte
elektromotoriſche Kraft wirkt aber gerade der chemiſchen Verwandtſchaft
zwiſchen dem Kupfer und jenen dünnen Säuren entgegen und verhindert
ſomit die Abnutzung des Kupfers. Dagegen wird allerdings jetzt das
Zink ſchneller angegriffen, als es ſonſt im Seewaſſer mit ihm der Fall
Das Buch der Erfindungen. 10
[146]Die elektriſchen Erfindungen.
wäre. Aber es genügen nach den Verſuchen, welche der berühmte
Chemiker Davy am Anfange des Jahrhunderts anſtellte, 11 Stückchen
Zink, ſo groß wie die Köpfe kleiner Nägel, um ein Quadratmeter des
Belags zu ſchützen. Leider iſt dieſe geiſtreiche Erfindung praktiſch wenig
angewendet worden, weil ſich herausgeſtellt hat, daß die Seegräſer
und Schaltiere ſich mit Vorliebe an die nicht angefreſſenen Kupfer-
platten anſetzen.


Das Verſieden von Salzſoolen geſchieht gewöhnlich in eiſernen
Pfannen, welche auch den Angriffen gewiſſer chemiſcher Beimengungen
der Soole nicht ſtandhalten. Althaus kam auf die Idee, den Eiſen-
trog ganz ähnlich zu ſchützen, wie Davy die Kupferplatte ſicherte.
Auch hier ſollte Zink der Retter aus der Not ſein, indem es in der
Flüſſigkeit eine elektromotoriſche Kraft erzeugt, die der chemiſchen An-
ziehung zwiſchen dem Eiſen und derſelben gerade entgegenwirkt. Aber
freilich ſtieß die Sache auf eine Schwierigkeit: das Zink wurde deſto
mehr angegriffen und die entſtehende Chlorzinklöſung hätte der Soole
giftige Eigenſchaften gegeben. Die Ecken der Tröge wurden daher mit
Holzbrettern abgeſchnitten und nur die ſo entſtehenden Kammern mit
Zink ausgefüllt. Dann ſtellte die durch das Holz ſickernde Soole die
leitende Flüſſigkeit dar und es entſtand ein Strom zwiſchen Eiſen und
Zink, während das ſich bildende Chlorzink die Soole nicht verunreinigte.


Man hat die Beobachtung gemacht, daß die Eiſenbahnſchienen
nicht leicht roſten, wie man doch von ihnen erwarten ſollte, da ſie
immerfort den Einflüſſen des Regens, des Sauerſtoffs und der Kohlen-
ſäure der Luft ausgeſetzt ſind. Wenn ſie ſich noch im Lager befinden,
ſo müſſen ſie ſehr trocken gehalten werden, um nicht bald vom Roſt an-
gefreſſen zu werden. Als man nun die im Gebrauche befindlichen Schienen
genauer unterſuchte, fand man, daß ſie in der erſten Zeit allerdings ſich
mit Roſt bedecken, daß aber der fortwährende Druck darüber hinfahrender
Eiſenbahnzüge dieſen Roſt in das ſogenannte Eiſenoxyduloxyd verwandelt,
eine Verbindung, die in der Natur als Magneteiſenſtein vorkommt und
durch dunkle Farbe charakteriſiert iſt. Dieſe ſchützt nun die Schienen ganz
ähnlich vor dem Roſten, wie der Zinknagel die Kupferplatte; ſie ent-
wickelt mit den Waſſern der Niederſchläge eine elektromotoriſche Kraft,
welche gerade wieder jenen roſterzeugenden chemiſchen Kräften entgegen-
wirkt. Um auch das erſte Roſten der Schiene zu verhindern, kann
man ſie daher mit einem ſolchen Überzuge von Magneteiſenſtein oder
einem ähnlich wirkenden Material verſehen. Ein ſolches iſt z. B. das
Manganſuperoxyd, das in der Natur als Braunſtein vorkommt.
Haswell in Wien ſchlägt es auf galvaniſchem Wege auf den Eiſen-
ſchienen und anderen Eiſengeräten nieder und ganz neuerdings behandelt
er die Gewehrläufe in ähnlicher Weiſe, indem er ihnen einen galvano-
plaſtiſchen Überzug von Bleiſuperoxyd verleiht, ein Mittel, welches das
Roſten von Eiſen und Stahl ebenſo wenig zuläßt, wie die ſchon er-
wähnten Stoffe.


[147]Die Induktion.

c) Die Erfindung der Induktion und der Dynamo-
maſchinen.


Die Induktion.

Wir erwähnten, daß man bald herausfand, wie fähig der elektriſche
Strom ſei, um neben den chemiſchen Arbeiten auch noch andere,
ſchwierigere Dinge zu vollbringen. Weniger gute Leiter, die er zu
paſſieren gezwungen wird, verſetzt er ins Glühen und daher muß er
auch zum Hervorbringen von Licht geeignet ſein. Er kann, wie wir
ſpäter ſehen werden, auch mannigfache Arbeiten vollbringen, zu denen
ſonſt menſchliche und tieriſche Muskelkraft, ſowie die des Dampfes
herangezogen werden. Was ſich der Nutzbarmachung dieſer Entdeckungen
in den Weg ſtellte, das war aber vor allem die Teuerkeit eines Stromes,
den man durch eine Batterie erlangte. Hätte man mit der bisher be-
ſchriebenen galvaniſchen Kette große Arbeiten vollbringen wollen, ſo
wäre die Zahl der dafür nötigen Elemente ins Unglaubliche gewachſen.
Man fand aber bald, daß andere auf demſelben Prinzip beruhende
Elemente weit wirkſamer waren, als das urſprüngliche Voltaſche. Die
ſich erweiternden Kenntniſſe über die chemiſchen Kräfte gaben die Mittel
an die Hand, ſtärkere Batterien zu bauen. Ein ſehr viel gebrauchtes,
kräftiges Element iſt dasjenige, welches der berühmte Chemiker
Bunſen 1842 zuſammenſetzte. Ein Zinkcylinder ſteht in verdünnter
Schwefelſäure, ihn umgiebt eine unten geſchloſſene Thonröhre, die mit
konzentrierter Salpeterſäure gefüllt iſt und ein Stück Kohle enthält.
Die Thonzelle iſt porös, ſie geſtattet alſo beiden Flüſſigkeiten den Durch-
tritt und ſomit ein Weiterſtrömen der Elektrizität. Verbindet man außer-
halb des Elements die Kohle und das Zink, ſo ſtrömt in dieſem
Schließungsbogen poſitive Elektrizität von der Kohle zum Zink und
negative umgekehrt. Man ſagt aber kurz: der Strom geht von der
Kohle, dem poſitiven Pol, zum Zink, dem negativen Pol. Innerhalb
des Elements fließt der Strom dagegen vom Zink zur Kohle. Dies
iſt nur eines von einer Anzahl in ihrer Art ſehr geeigneter Elemente,
die nun zu vielen zuſammengeſetzt eine erſtaunliche Arbeitskraft ent-
wickeln können. Aber im Großen ließ ſich eben deshalb kein Gebrauch
von ihnen machen, weil neben den Säuren, die ſich auch in einiger
Zeit aufbrauchen, vor allem immer das Zink binnen kurzem einer Er-
neuerung bedarf, da die Schwefelſäure es aufzehrt. Nun wird 1 kg
Zink durch die Verbrennung von 15 bis 20 kg Kohle erzeugt (vgl. „Metall-
gewinnung“); während aber 1 kg Kohle durch ſeine Verbrennung 12½ kg
eiskaltes Waſſer in Dampf von 100 Grad zu verwandeln fähig iſt, ver-
mag ein kg Zink dies nur mit 2½ kg Waſſer. Das Zink leiſtet alſo
durch ſeine Zerſtörung nur ein Fünftel der Wirkung, welche die Kohle
giebt, und da es etwa 50 mal ſo teuer als die Kohle iſt, ſo folgt, daß
die durch eine galvaniſche Batterie geleiſtete Arbeit ungefähr 250 mal
10*
[148]Die elektriſchen Erfindungen.
teurer zu ſtehen kommt, als die der Dampfmaſchine. Alſo für die in
Induſtrie und Verkehr nötigen Kraftwirkungen war die Elektrizität, ſo
lange man zur Erzeugung des Stromes auf die galvaniſchen Batterien
angewieſen war, nicht brauchbar.


Aber bereits 1822 fand der Phyſiker Seebeck in Berlin ein Mittel,
galvaniſchen Strom in einer Verbindung von Metallen zu erzeugen,
ohne dieſe zu ſchädigen. Nicht die chemiſche Verwandtſchaft, ſondern
die Wärme war die Kraft, die den Strom lieferte. Man braucht nur
zwei verſchiedene Metalle an ihrem einen Ende zu verlöten und die
innern Enden durch einen Schließungsdraht zu verbinden, ſo wird dieſer
von einem Strome durchfloſſen, ſobald man die Lötſtelle erwärmt.
Will man ſtärkere Wirkungen erzielen, ſo kann man das eben be-
ſchriebene Metallpaar, das Thermoelement mit anderen in geeigneter
Weiſe verbinden, ſo wie man die galvaniſchen Elemente zu Batterien
verbindet. Die paſſende Erwärmung der Thermobatterien liefert dann
ſchon Ströme, die größerer Wirkungen fähig ſind. Am beſten wählt
man als Metalle Wismuth und Antimon, verbindet ſie an ihren Enden
zu Paaren, erwärmt etwa mit Gas immer eine Verbindungsſtelle,
während man die folgende kühl hält, ſo entſteht ein Strom von der
heißen zur kalten Verbindungsſtelle, und die ſo erzeugte elektromotoriſche
Kraft iſt deſto größer, je mehr ſich die Temperatur der heißen und der
kalten Stellen von einander unterſcheiden. Wenn die Thermobatterien ſich
bisher kein großes Feld erobern konnten, ſo liegt das daran, daß von
der zugeführten Wärme recht viel verloren geht, einmal durch Leitung
in den Metallſtreifen ſelbſt — ein Betrag, der dann den abzukühlen-
den Enden rundweg entzogen wird, um den für die Hervorbringung
des Stromes nötigen Temperaturunterſchied aufrecht zu halten, und
dann dadurch, daß viel von der Wärme in die Luft ausſtrömt. Ähn-
liche Gründe bewirken es, daß die Dampfmaſchine nur den ſiebenten
Teil derjenigen Arbeitsmenge liefern kann, welche ſie theoretiſch aus
der Verbrennung der Kohlen liefern müßte. Es war bisher nur etwa
der 300ſte Teil von derjenigen Elektrizitätsmenge durch die Thermo-
batterie erhaltbar, welche man durch die Verwendung der Wärme in
elektriſche Kraft zu erhalten hoffen durfte. Nur wenig beſſer war der
Erfolg, den der berühmte Erfinder Thomas Alva Ediſon zu Menlo
Park bei New-York (geb. 1847) mit einem ähnlichen Apparate, der
pyromagnetelektriſchen Maſchine, erzielte. Jetzt ſcheint aber die Zeit ge-
kommen, wo ſich die Erwärmung für die Zwecke der Stromerzeugung in der
Technik Eingang verſchaffen wird. Der Berliner Elektrotechniker Gülcher
hat als Frucht mühevoller Arbeiten im vorigen Jahre eine Thermobatterie
konſtruiert, die bereits 15 mal ſoviel Elektrizität als jene älteren Apparate
liefert. Er verbindet 50 Thermoelemente aus chemiſch reinem Nickel und
einer Miſchung aus Antimon mit anderen Metallen. Dieſe werden
durch Koks erhitzt und man kann durch die einfache Erwärmung mit
2 kg Koks in der Stunde ſchon acht gewöhnliche Glühlampen fort-
[149]Die Induktion.
während im Glühen erhalten. Zugleich hat Dr. Giraud in Paris einen
entſprechenden Apparat gebaut, den er im Winter mit dem Zimmerofen
verbindet. Während dieſer dem Zimmer die nötige Wärme liefert,
ſchickt er der Thermobatterie einen Strom zu, der freilich nur eine
Glühlampe ſpeiſt. Offenbar liegt in der weiteren Vervollkommnung
dieſer Apparate ein Stück Zukunft der Elektrotechnik. Es wird hoffent-
lich gelingen, denſelben immer mehr Elektrizität durch die Wärme abzu-
gewinnen und dann werden ſie im Verkehr und in der Technik eine
größere Rolle ſpielen. Vorläufig iſt man darauf angewieſen, die durch
Wärme gelieferte Arbeit in ganz anderer Weiſe zur Stromerzeugung
nutzbar zu machen. Man muß erſt Dampfmaſchinen treiben und durch
dieſe andere Apparate in Bewegung ſetzen, die als magnetelektriſche und
Dynamomaſchinen überall verbreitet ſind. Um ihren Aufbau ganz zu
verſtehen, wird es nötig ſein, weit zurückzugreifen und vor allem den
Beziehungen zwiſchen der Elektrizität und einer anderen rätſelhaften
Naturkraft, dem Magnetismus, uns zuzuwenden.


Eine ſeit uralten Zeiten bekannte Thatſache iſt es, daß der im
vorigen Kapitel bereits erwähnte Magneteiſenſtein Eiſenſtückchen an ſich
zu ziehen vermag. Dieſe Anziehung ähnelt derjenigen der elektriſchen
Körper, nur daß ſie eben bei den magnetiſchen auf eiſerne Dinge
beſchränkt bleibt. Heute macht man Körper von bleibenden magnetiſchen
Eigenſchaften aus Stahl. Ein ſolcher Magnet hat z. B. die Eigen-
tümlichkeit, durch eine unſerer Erde innewohnende Richtkraft immer
von Norden nach Süden eingeſtellt zu werden. Dieſe auch hin-
reichend lange bekannte Seite ſeines Weſens macht ihn zu einem
Kompaß, jenem für die Schifffahrt ſo unentbehrlichen Inſtrumente
tauglich (vergl. „Sicherung der Schifffahrt.“). Er hat einen Nord-
pol, der ſich nach Norden zu zeigen beſtrebt, während die gegenüber-
liegende Stelle, der Südpol, nach Süden gezogen wird. Wenn
man einem frei aufgehängten Magnete einen andern nähert, ſo
überzeugt man ſich leicht, daß die Nordpole einander fliehen und
ebenſo die Südpole, während jeder Nordpol ſich zu jedem Südpole
hingezogen fühlt. Man faßt dies in die ſchon zum Sprichwort ge-
wordene Regel zuſammen: Gleichnamige Pole ſtoßen ſich ab, un-
gleichnamige ziehen ſich an. Wie der elektriſche Körper den unelektriſchen
nur deshalb anzieht, weil er in dieſem eine Verteilung der Elektrizitäten
hervorruft, ſo kann man auch unſchwer zeigen, daß jene Anziehungs-
kraft der Magnete gegen das Eiſen einfach darauf beruht, daß in
dieſem, ſo lange es in der Nähe des Magnets liegt, ein Nordpol und
ein Südpol hervorgerufen werden, die ihrerſeits der Anziehung durch die
ungleichnamigen Pole des Magnets unterliegen. Jedes Stück Eiſen
wird in der Nähe des Magnets ſelbſt zum Magnete, es iſt befähigt
Eiſenſtücke anzuziehen und auch dieſe wieder ſind dazu im Stande,
nur nimmt mit der Entfernung von dem urſprünglichen Magneten die
erworbene magnetiſche Kraft allmählich ab.


[150]Die elektriſchen Erfindungen.

Der erſte, welcher eine Beziehung zwiſchen einem elektriſchen
Strome und einem Magneten auffand, war der däniſche Phyſiker
Örſted. Er zeigte 1820, daß eine frei aufgehängte Magnetnadel von
einem in der Nähe vorbeigehenden elektriſchen Strome abgelenkt wird.
Wird der Strom unterbrochen, ſo kehrt die Nadel in ihre erſte Lage
zurück, wird er umgekehrt, ſo wird auch dieſe nach der andern Seite
abgelenkt. Ampère hat die folgende Regel aufgeſtellt, durch die man

Figure 99. Fig. 105.

Ablenkung einer Magnetnadel
durch den elektriſchen Strom.


allezeit die Richtung der Nadel beſtimmen kann:
Man denke ſich in der Richtung des Stromes
ſchwimmend und richte ſeine Augen nach dem
Nordpole, ſo wird man ihn ſtets zur linken Hand
erblicken. (Vgl. Fig. 105.) Jene Ablenkung wird
um ſo ſtärker ſein, je kräftiger der ſtörende Strom
iſt. Man kann die Wirkung verſtärken, wenn man
mehrere Teile des Schließungsdrahtes, welche die
Elektrizität in der gleichen Richtung durchſtrömt,
neben einander legt und gemeinſam wirken läßt.
Man kann die Ablenkung am weiteſten treiben,
wenn man einen guten Teil des Schließungs-
drahtes zu einer Spirale aufwickelt. Jedes
Stückchen wird dann die Magnetnadel richten,
im ganzen wird die Spirale, ſo lange ſie von
einem Strome durchfloſſen iſt, wirken, wie ein
Magnet, der ſich in ihrem Inneren befindet. Daß
ſie auch die anderen Thätigkeiten eines Magnets
ausübt, das erkennt man leicht, wenn man ihr
Eiſenſtücke nähert, ſie zieht dieſe an und macht
ſie für kurze Zeit zu Magneten. Am ſtärkſten
wird dieſe magnetiſierende Kraft, wenn man ein Stück weiches Eiſen
in die Spirale ſelbſt hineinlegt. (Vgl. Fig. 106.) Sobald dieſe
vom Strome durchfloſſen wird, wird jenes zum Magnete; hört der
Strom auf, ſo iſt es auch mit dem Magnetismus des Eiſens zu Ende.
Man bezeichnet einen ſolcherweiſe vom Strom erzeugten Magnet als
Elektromagnet und man hat es in der Gewalt ſich recht kräftige
Magnete auf dieſe Art zu verſchaffen. Man braucht dazu nur die
Wirkungen der Spirale zu vervielfachen, ſie zu Spulen zuſammen-
zufügen und den Strom recht kräftig zu wählen, ſo erzeugt man
Magnete, die viel mehr ausrichten als ſelbſt die aus Stahl verfertigten.
Man kann dem Magneten die verſchiedenſten Formen geben und eine
ſehr viel gebrauchte iſt die Hufeiſenform, die wir in Fig. 107 erblicken.
Wir ſehen die Schenkel des Hufeiſens von zwei Spulen umgeben,
welche das Eiſen zu einem Magneten machen, wenn ein Strom ſie in
gleicher Richtung oder auch in entgegengeſetzter Richtung umkreiſt.
Während im erſten Falle ſich an den beiden Enden ein Nordpol und
ein Südpol ausbildet, iſt aber im zweiten Falle nur entweder Süd-
[151]Die Induktion.
magnetismus oder Nordmagnetismus an den Enden nachweisbar,
während ſich ein Pol von der umgekehrten Wirkung an der Biegung
des Hufeiſens befindet. Jede Umkehrung des Stromes bewirkt auch
eine ſolche der Pole. Ein Stück Eiſen, welches, wie in der Fig. 107

Figure 100. Fig. 106.

Stabförmiger Elektromagnet.


Figure 101. Fig. 107.

Hufeiſenförmiger Elektromagnet.


vor den Polen liegt, bezeichnet man als einen Anker. Dieſe
Erſcheinungen ſind zum größten Teile bald nach Örſteds Entdeckung
von dem Franzoſen Arago bekannt gegeben worden. Eine ſehr
weſentliche Nutzbarmachung erfuhren ſie — wie wir ſpäter des
Genaueren erfahren werden — bei den elektriſchen Läutewerken,
Uhren und Telegraphen. Hier intereſſieren ſie uns zunächſt, weil ſie
geeignet waren, dem genialen Inſtinkte phyſikaliſcher Forſcher die
Wege für neue Erzeugungsarten des elektriſchen Stromes zu weiſen.
Der erſte und bedeutendſte unter jenen war Michael Faraday (geb.
1791 bei London, geſt. 1867 zu Hamptoncourt). Er war nach ein-
ander Buchbinder, Gehilfe des berühmten Chemikers Davy und Profeſſor
der Chemie in London. Durch eine Reihe geradezu gewaltiger Ent-
deckungen hat er ſich den Namen des bedeutendſten Experimentalforſchers
dieſes an Entdeckungen ſo reichen Jahrhunderts verdient. Den kräftigſten
Anſtoß zu neuen Erfindungen gab ſicher ſeine 1831 erfolgte Auffindung
der Induktion. Dies war der Gedankengang, der ihn leitete und ſeit
dem Jahre 1826 oder 1827 nicht mehr zur Ruhe kommen ließ:


Wenn ich einem ſtählernen Magneten den eiſernen Anker entreiße,
was wird aus der Kraft, die ich dazu verwende? Daß ſie verſchwinde, iſt
[152]Die elektriſchen Erfindungen.
unmöglich; iſt ſie vielleicht im Stande, in einem Drahte, den ich um den
Anker wickle, zu einem elektriſchen Strome zu werden? Wenn ein Stück
Eiſen zum Magnet wird, ſobald ich es einem vom Strome durch-
floſſenen Leiter nähere, warum ſoll nicht umgekehrt ein Stahlmagnet
fähig ſein in einer Drahtſpule, die ich ihm nahe bringe oder von
ihm entferne einen Strom zu erzeugen? Im Jahre 1831 ſah er
endlich, daß in der Drahtſpule, die bis auf eine ganz geringe Unter-
brechung geſchloſſen war, jedesmal, wenn er einen kräftigen Magneten
näherte, an der Unterbrechungsſtelle ein winziges Fünkchen ſich
zeigte, ein Beweis, daß in dieſem Augenblick ein Strom die Spule
paſſierte; und dasſelbe geſchah, ſobald der Magnet ſchnell wieder von
der Spule entfernt wurde. Als er der Londoner Geſellſchaft der
Wiſſenſchaften dieſen Funken zeigte, war er von der Tragweite ſeiner
Idee bereits ſo überzeugt, daß er die Worte ſprach: „Wenn dieſer
Funken auch ſehr klein iſt, ſo daß man ihn kaum bemerken kann, ſo
werden andere kommen, die dieſe Kraft zu wichtigen Zwecken nutzbar
machen werden.“ Man ſagt, daß der Magnet in dem Leiter einen
Strom induziert, und zwar hängt die Richtung des Stromes weſentlich

Figure 102. Fig. 108.

Induktion eines Stromes durch einen Magnet.


davon ab, ob man den Magnet
nähert oder entfernt, ob man den
Südpol vorſchickt oder den Nord-
pol. (Vgl. Fig. 108.) Der Strom
dauert nur eine ganz kurze Zeit,
ebenſo lange wie die Bewegung des
Magnets und er iſt auch in dieſer
kurzen Zeit nur ſo lange ſtark genug,
um ſich wahrnehmbar zu machen,
als der Magnet noch in der unmittel-
baren Nähe des Leiters liegt. Aber
durch fortwährendes Annähern und Fortnehmen des Magnets wird
es möglich, immer neue Ströme in dem Leiter zu induzieren, und zwar
ſolche von immer wechſelnder Richtung.


Dieſer Entdeckung der Magnetinduktion folgte eine andere auf
dem Fuße. Da jede von einem Strome durchfloſſene Spule magnetiſche
Eigenſchaften hat, ſo lag es nahe, auch durch Annähern einer
ſolchen an eine andere, in der noch keine Elektrizität iſt, einen
Strom zu induzieren. Das gelang auch vollkommen. Jedesmal, wenn
ſich die ſtromdurchfloſſene Spirale näherte oder entfernte, entſtand in
der ruhenden Spule ein Strom, wie man daran ſehen konnte, daß
eine Magnetnadel in ihrer Nähe abgelenkt wurde. Statt den Strom-
kreis zu nähern oder zu entfernen, kann man ihn auch plötzlich in der
Nähe des ruhenden Leiters entſtehen laſſen. In der Fig. 109 iſt AA'
der Schließungsbogen einer Batterie, welche durch die wagerechten
Striche angedeutet iſt. Durch einen Taſter kann man nach Belieben
Strom in den Draht ſchicken oder denſelben unterbrechen. Jedesmal
[153]Die Induktion.
beim Schließen und beim Öffnen des Stromes wird auch in dem
benachbarten Drahte BB' ein Strom induziert, welcher beim Schließen
von B' nach B, beim Öffnen von B nach B' fließt, wenn die Richtung
des urſprünglichen Stromes die des Pfeiles iſt.
Man nennt den urſprünglichen Strom auch den
primären, den induzierten den ſekundären, und
ebenſo bezeichnet man die beiden Leiter AA' und BB',
denen man gewöhnlich die Form zweier Spulen
giebt, über welche der Draht in vielen Windungen
zu einer Spirale gewickelt iſt. Dieſe Drahtwindungen
müſſen von einander iſoliert ſein, und dazu iſt es
nötig, den Draht mit einem ſchlecht leitenden
Stoff zu umſpinnen, am beſten mit Seide, und wohl
auch mit Wachs zu tränken. Gewöhnlich ſind ſolche
Induktionsapparate derart eingerichtet, daß die
primäre Spule, aus verhältnismäßig wenigen
Windungen dickeren Drahtes, die ſekundäre da-
gegen aus ſehr vielen Windungen recht dünnen
Drahtes beſteht. Die Gründe, welche gerade dieſe
Einrichtung vorteilhaft erſcheinen laſſen, werden

Figure 103. Fig. 109.

Induktion eines Stromes
durch einen anderen Strom.


wir ſofort entwickeln. Man hat zweierlei ſolcher Apparate. Die einen,
bei denen die beiden Spulen ſich nicht gegen einander bewegen laſſen,
heißen nach dem Pariſer Mechaniker Ruhmkorff, der ſie in beſonderer
Vollkommenheit herſtellte, Ruhmkorffſche, die andern, bei denen die eine
Spirale ſich in die andere hineinſchieben läßt, ſind die Dubois-
Reymondſchen Schlittenapparate. Man kann bei beiden die Wirkung
noch dadurch verſtärken, daß man in ihrem Innern einen Kern von
Eiſendrähten anbringt. In dieſem wird durch den Strom Magnetismus
erregt, der beim Entſtehen oder Vergehen ſeinerſeits in der ſekundären
Spule einen Strom induzieren kann. Man kann gerade mit dem
ſekundären Strome Wirkungen erzielen, zu denen der urſprüngliche
Batterieſtrom untauglich iſt. Dieſer Strom läßt, wenn man ihn öffnet
ganz geringe Funken erkennen. Man kann ihn von einer großen
Zahl von Elementen entnehmen und, ohne das geringſte zu ſpüren,
durch den Körper hindurchleiten. Wo dagegen der Schließungsbogen
des ſekundären Stromes unterbrochen wird, treten Funken auf, wie
man ſie ſonſt nur bei der Reibungselektrizität beobachtet mit einer
Schlagweite von mehreren Dezimetern. Der induzierte Strom bringt,
wenn der menſchliche Körper in den Schließungsbogen eingeſchaltet iſt,
ſehr fühlbare Wirkungen hervor, erzeugt bei ſchwachen Strömen eine
leiſe Kontraktion der Muskeln, bei ſtärkeren ſchmerzhafte Zuſammen-
ziehungen und der ſekundäre Strom eines ſtarken Ruhmkorffſchen
Apparates mag ſogar tötliche Wirkungen haben. Der Funken zer-
trümmert dickes Glas, und es iſt, als ob die gezähmte Elektrizität des
galvaniſchen Stromes hier in jene alte Wildheit zurückfiele, die wir beim
[154]Die elektriſchen Erfindungen.
Blitze in ihren furchtbaren Wirkungen kennen lernten. Wie ſollen wir
uns dieſe ſonderbare Verwandlung erklären?


Die vielen Windungen der ſekundären Spule ſetzen dem Durchgange
des Stromes einen mit ihrer Zahl wachſenden Widerſtand entgegen.
Die Zahl der Windungen vermehrt alſo den Druck, unter dem die
elektriſchen Teilchen ſtehen, und dieſer Druck iſt es ja, der auch das
Beſtreben dieſer erzeugt, einander zu fliehen, jenes Beſtreben, welches
wir die Spannung nennen. Die Spannung wächſt demnach, je mehr
Windungen die ſekundäre Spule erhält, während die Stärke des
Stromes, der ſich jetzt auf ſo viele Windungen verteilt, in demſelben
Maße abnehmen wird. Jene Spannung nun iſt es, die ſich in der
ſekundären Spule ſo auffällig macht, während die durchfließende
Elektrizitätsmenge in dem Apparate ſehr geſchwächt erſcheinen wird.
Jene Verwandlung, welche der Induktionsapparat leiſtet, iſt alſo die-
jenige eines ſchwachgeſpannten, aber reichlich fließenden Stromes in
einen hochgeſpannten, aber geringere Elektrizitätsmengen liefernden.
Es iſt, wie wenn man den Waſſern eines Fluſſes in einer Nebenleitung
erſt ein geringes Gefälle verſchafft, um ſie mit plötzlicher Gewalt im
jähen Sturze des Waſſerfalls den beſonderen Zwecken raſch ſtürzenden
Waſſers dienſtbar zu machen. Die Waſſermenge entſpricht derjenigen
der Elektrizität, ihr Gefälle der Spannung des galvaniſchen Stromes.
Man kann die Stromſtärke ſowohl wie die Spannung meſſen. Die
Maße dafür heißen das Ampère und das Volt. Wenn die Strom-
ſtärke ein Ampère beträgt, ſo iſt z. B. der galvaniſche Strom ſtark
genug, um innerhalb einer Stunde etwas über ein Gramm Kupfer
aus der Löſung niederzuſchlagen. Ein Strom von 5 Ampère voll-
bringt die fünffache Leiſtung. Die Spannung von 1 Volt beſitzen z. B.
die galvaniſchen Elemente, welche im Hauſe elektriſche Läutewerke aus-
löſen; ein ſolcher Strom iſt für den Körper ganz unmerklich, und er
bleibt es, wenn wir auch die Zahl der Elemente verzehnfachen und
auf Spannung verbinden. Aber der Strom wird wenigſtens beim
Öffnen und Schließen auf die Länge des Fingers fühlbar, wenn
100 Elemente zu je einem Volt auf Spannung kombiniert ſind, und
mehrere 1000 Volt können uns bei hinreichender Elektrizitätsmenge den
Tod bringen. Wenn die Elektrizitätsmenge gering iſt, ſo vertragen
wir ſie auch in hochgeſpanntem Zuſtande ohne irgend welche Nachteile:
die Schläge der Elektriſiermaſchinen ſind faſt unmerklich, obgleich die
Spannung der Elektrizität einige tauſend Volt betragen kann. Wäre
die Menge größer und flöſſe fortwährend neue hinzu, nur dann würde
ſie bei hoher Spannung Schaden am Leben anrichten. Immer wenn
es ſich darum handelt, einen momentanen ſchwachgeſpannten Strom
in einen ſolchen von hoher Spannung zu verwandeln, wird man einen
Induktionsapparat dazu verwenden können, und ebenſo, wenn das
Umgekehrte erforderlich iſt. Man hat dazu aber beſondere Apparate,
ſogenannte Transformatoren, d. h. Verwandler des Stromes, bei denen
[155]Die Induktion.
mehrere Drahtſpiralen auf eine gemeinſame Spule oder einen eiſernen Ring
gewunden ſind, ſo daß man es in der Gewalt hat, durch beſtimmte Ver-
bindungen gerade die ge-
wünſchte Spannung in dem
einzuſchaltenden ſekundären
Leiter zu erhalten. Da die
hohen Spannungen leicht
von der einen zur anderen
Windung einen Ausgleich
der Elektrizität herbeiführen,
und wo ein ſolcher einmal
ſtattgefunden hat, er ſich
dauernd macht, ſo muß man
auf die Iſolierung eine
beſondere Sorgfalt ver-
wenden. Man kann es z. B.
dadurch, daß man den
ganzen Transformator in Öl
legt, weil gerade dieſes
Mittel ſich als in hohem
Grade undurchläſſig für die
Elektrizität gezeigt hat.
Man muß auch das Ganze
gegen die Umgebung ab-
ſperren, damit nicht etwa
hochgeſpannte Ströme an
dem Leben der den Trans-

Figure 104. Fig. 110.

Wechſelſtromtransformator von Siemens \& Halske.


formator bedienenden Perſonen Schaden anrichten. Einen ſolchen
Transformator, wie ihn jetzt die Firma Siemens \& Halske baut, zeigen
wir mit den Schaltvorrichtungen in Fig. 110.


Die magnetelektriſchen Apparate.

Faradays Induktionsfunken, ſo winzig er erſchien, erleuchtete
gewaltig das Dunkel, welches bisher über der vorteilhaften Erzeugung
elektriſcher Ströme gelagert hatte. Bereits ein Jahr darauf erblickte
Pixiis magnetelektriſche Maſchine das Licht der Welt. Wir geben ſie
in der Fig. 111 ſchematiſch. Die Pole eines Stahlmagnets SN werden,
wenn ich ſie den mit Draht umwickelten Schenkeln des darüber befind-
lichen Hufeiſens a b aus weichem Eiſen nähere, dieſe zu Magneten
machen, in b einen Nordpol, in a einen Südpol erzeugend, und in dem
Drahte einen Strom hervorbringen, der von p nach p' geht; beim
Umkehren des Stahlmagnets SN, d. h. wenn der Nordpol nach S,
der Südpol nach N gebracht wird, wird im oberen Hufeiſen ein Pol-
wechſel und eine Umkehrung der Stromrichtung eintreten. Wenn man
[156]Die elektriſchen Erfindungen.
dies ſchnell wiederholt, ſo werden in dem Drahte p p' fortwährend
Ströme von wechſelnder Richtung, ſogenannte Wechſelſtröme auftreten.
Man kann bei der in Fig. 112 gegebenen Anordnung den Stahl-
magnet ſehr ſchnell um eine ſenk-
rechte Achſe drehen. Die Wechſel-
ſtröme, welche in den beiden Draht-

Figure 105. Fig. 111.

Der Vorgang in einer magnetelektriſchen
Maſchine.


Figure 106. Fig. 112.

Pixiis magnetelektriſche Maſchine.


ſpulen oberhalb der Magnetpole erregt werden, laſſen ſich durch Drähte
zu einer unterhalb des Magnets ſichtbaren Vorrichtung, dem ſogenannten
Kommutator führen. Dieſer iſt ein Cylinder aus einem iſolierenden
Material und trägt ebenfalls von einander iſolierte, aber ſtufenförmig
übereinander greifende Metallbänder, gegen welche beiderſeits zwei Federn
drücken. Da dieſe Vorrichtung ſich mit dem Magnete dreht, ſo iſt erſicht-
lich, daß gerade in den Momenten, wo ein Stromwechſel eintreten ſollte,
zwei Federn von dem einen zum anderen Bande überſpringen. Die
Folge iſt, daß wenn man durch zwei Federn die Wechſelſtröme in den
Kommutator eintreten läßt, man durch Verbindung der beiden andern
Federn gleichgerichtete Ströme in einem Schließungsdrahte erhält, freilich
nur Ströme von ſehr kurzer Dauer, die aber durch ihre ſchnelle Auf-
einanderfolge den Eindruck eines einzigen Stromes hervorbringen.
Spätere Erfinder, wie Saxton und Clarke, haben dieſen magnet-
elektriſchen Apparat dahin abgeändert, daß ſie den Magnet feſt ließen,
während die Drahtſpulen, welche den ſogenannten Induktor oder Anker
bilden, mit der Welle gedreht wurden. Das iſt offenbar praktiſcher,
weil der letztere leichter als der Magnet iſt; die Wirkung aber bleibt
genau dieſelbe. Jedesmal, wenn eine Spule in die Nähe eines Magnet-
[157]Die magnetelektriſchen Apparate.
poles, in ſein „magnetiſches Feld“ kommt, wird ſie von dem Magneten
angezogen; derjenige, welcher die Maſchine dreht, könnte alſo Arbeit
ſparen, und dieſe Arbeit iſt es, die einen Strom erzeugt; dagegen
koſtet es eine gewiſſe Mehrarbeit, um die Spule aus dem Magnet-
felde herauszubringen, und dieſe Mehrarbeit iſt es, die den entgegen-
geſetzten Strom entſtehen läßt. Der Strom, den man erregt, wird
ſtärker, je mehr man ſich beim Drehen der Maſchine anſtrengt, d. h. je
ſchneller man dreht und je ſtärker der Feldmagnet iſt. So zeigt ſich
die mechaniſche Arbeit, welche beim Drehen des Magnets oder der
Spulen geleiſtet wird, ſofort in einen elektriſchen Strom verwandelt.
Man kann die Wirkungen zunächſt dadurch ſteigern, daß man die
Zahl der Magnete und der Induktionsrollen vermehrte. Dieſem
Gedanken entſprangen die Maſchinen von Holmes und der Geſellſchaft
L’Alliance zu Brüſſel, welche bereits in dieſem frühen Stadium der
Elektrotechnik bei der Beleuchtung von Leuchttürmen an den Küſten
Frankreichs und Englands ihre Dienſte thaten. An der Alliance-
maſchine waren acht Reihen zu je drei rieſigen Stahlmagneten, an-
gebracht, zwiſchen deren Polen ſich Rollen mit iſoliertem Drahte
wälzten. In dieſen entſtanden durch die Induktion Wechſelſtröme, die
ihrerſeits, ohne mittels eines Kommutators in einen gleichmäßigen
Strom umgeſetzt zu werden, zur elektriſchen Lampe gelangten. Der
nächſte Fortſchritt nach Faradays erſter Erfaſſung der induktiven
Wirkungen war ein Anker,
durch welchen ſich dieſe be-
trächtlich vermehren laſſen.
Faradays unmittelbare Nach-
folger ließen die Trennung
des Induktors vom Mag-
nete durch Wegführung des-
ſelben geſchehen. Bei dem
neuen, von Werner Siemens
1851 angegebenen Anker,
welcher als Cylinder- oder
als Doppel-T-Induktor be-
kannt iſt, kommt die Draht-
wickelung auf ein Stück Eiſen
von der in Figur 113 abge-
bildeten Form a, ſo daß ſie
mit dem Eiſen die Form b
eines Cylinders annimmt.

Figure 107. Fig. 113.

Siemens Doppel-T-Induktor.


Dieſen läßt man nun in einem magnetiſchen Felde ſich drehen. In
der unter c abgebildeten Geſtalt der Maſchine ſehen wir acht Paare
von Stahlmagneten über einander gelegt und an einer gemeinſamen
Grundplatte befeſtigt. Zwiſchen den ausgehöhlten Enden dieſer Magnete
dreht ſich der Anker mit beträchtlicher Geſchwindigkeit. Es iſt leicht
[158]Die elektriſchen Erfindungen.
zu ſehen, wie jedesmal, wenn eine Eiſenfläche des Ankers, ſei es bei
N oder bei S vorbeigeführt wird, d. h. bei jeder halben Umdrehung
jeder von dieſen Magneten einen Strom induziert. Nun haben wir
beiderſeits die Thätigkeit von acht ſolchen Induktionen, ſo daß bei jeder
halben Umdrehung ſich die Wirkung auf nicht weniger als ſechzehn
ſolcher Funken erhöht, wie ſie Faradays Verſuch zeigte, und da dies ſehr
ſchnell wiederholt werden kann, ſo läßt ſich dieſe Wirkung innerhalb einer
Sekunde wohl zehnmal erhalten. Der Strom, den eine ſolche Maſchine,

Figure 108. Fig. 114.

Magnetelektriſche Maſchine
mit Doppel-T-Induktor.


wie die hier abgebildete, (Fig. 114)
liefert, iſt alſo ſtark genug, um einen
dünnen Draht ins Glühen zu
bringen, ſelbſt dann, wenn eine
lange Leitung erſt den Strom dort-
hin führen muß. Das machte dieſen
Apparat, wie andere ſtromliefernde
Maſchinen, in hohem Grade geeignet,
um entfernt liegende Minen zu
ſprengen. Irgendwo verſetzt die
Kraft des Armes den Anker der
Maſchine in Drehung und erzeugt
einen elektriſchen Strom, weit davon verwandelt ſich dieſer in Wärme, die
nun ihrerſeits chemiſche Kräfte entbindet, deren Thätigkeit in gewaltigen mit
dem Arme des Menſchen nur in langer Zeit zu leiſtenden Arbeiten beſteht.
Der bekannte engliſche Phyſiker Wheatſtone baute in den funfziger Jahren
ſolche gerade für den Zweck der Sprengtechnik geeignete kleine Apparate,
die doch mächtig genug waren, Kanonen aus weiten Entfernungen zu
entzünden, unterirdiſche und unterſeeiſche Minen zu jeder gewünſchten
Zeit zu ſprengen. Siemens \& Halske folgten mit mächtigeren Apparaten,
und Markus in Wien baute ſehr wirkſame Inſtrumente, bei denen die
einmalige Umkehr des Ankers genügte, die Ladungen in Brand zu ſetzen.


Einen weiteren Schritt zur Entwickelung der Maſchinen that Wilde
in Mancheſter im Jahre 1866. Er baute eine ſehr große magnet-
elektriſche Maſchine, bei der die Magnete, welche man bisher immer
von Stahl gemacht hatte, durch die viel wirkſameren Elektromagnete
erſetzt wurden. Aber um ſich dieſe zu verſchaffen, brauchte er einen
Strom, und woher ſollte er dieſen nehmen, ohne auf die galvaniſchen
Batterien zurückzugehen? Er verband dazu dieſe erſte Maſchine mit
einer zweiten, die noch Stahlmagnete beſaß und nichts zu thun hatte, als
die Elektromagnete jener Maſchine mit Strom zu verſorgen. Die Anker
wurden durch eine dreipferdige Dampfmaſchine getrieben und gaben ſchon
einen ſtarken Strom. Wilde erzeugte aber mittels dieſes Stromes einen
noch kräftigeren Elektromagnet, zwiſchen deſſen Schenkeln ein dritter, noch
größerer Anker durch eine Dampfmaſchine von 15 Pferdeſtärken umgedreht
wurde. So entſtand ein Strom, durch den es gelang, einen Platinſtab
von 6 mm Dicke und 60 cm Länge zum Schmelzen zu bringen.


[159]Die magnetelektriſchen Apparate.

Da der Cylinderinduktor nicht überall gleichmäßig mit Draht
umwickelt iſt, ſo hat er den Nachteil, daß die Stromſtärke während
ſeines Umlaufs mehrfach wechſelt, wenn auch die Richtung durch
einen Kommutator für alle entſtehenden Ströme gleich gemacht werden
kann. Dieſen Nachteil beſiegte — zwar nicht zuerſt, aber am ein-
fachſten — der Ingenieur der Firma Siemens \& Halske in Berlin
Friedrich von Hefner-Alteneck durch ſeinen 1872 erfundenen Trommel-
induktor. Wir erblicken ihn in der Fig. 115. im Durchſchnitt. Es

Figure 109. Fig. 115.

v. Hefner-Altenecks Trommel-Induktor


bedeuten NN1 die Nordpole, SS1 die Südpole einer Anzahl von Stahl-
magneten, s s1 n1 n eine eiſerne Trommel, die man zwiſchen den Polen
derſelben um die Zapfen F1 und F2 drehen kann, wenn etwa die
Riemenſcheibe bei Q durch eine Transmiſſion mit einer Kraftmaſchine
in Verbindung ſteht. Liegt der Cylinder, wie in der Figur, ſo hat
der Eiſencylinder oben einen Südpol s s1, unten einen Nordpol n n1
angenommen, und wenn man ihn dreht, ſo bleibt die Lage dieſer
Pole dieſelbe, der Cylinder geht gewiſſermaßen unter ihnen weg.
Derſelbe iſt nun allſeitig
mit einer großen Anzahl
von Drahtwindungen um-
wickelt, dieſe laufen immer
um entgegengeſetzte Ab-
teilungen der Trommel
herum, und wir wollen
annehmen, daß die Zahl
dieſer Abſchnitte ſechzehn
ſei, es werden dann acht
in ſich zuſammenhängende
Drahtleitungen die Trom-
mel umwinden. Während
der Drehungen paſſieren
dieſe Drähte den Raum
zwiſchen den urſprüng-
lichen und den Trommel-
polen, es wird alſo in
ihnen ein Strom erregt
werden, und um die Draht-

Figure 110. Fig. 116.

Der zum Trommel-Induktor gehörige Kollektor.


[160]Die elektriſchen Erfindungen.
windungen möglichſt gut zu dieſem Zwecke auszunutzen, iſt den Pol-
flächen N und S die Geſtalt gegeben, welche wir in Fig. 116. ſehen, ſo
daß immer in möglichſt vielen Drathwindungen zugleich ein Strom indu-
ziert wird. Die ſechzehn Drahtenden ſind nun nicht unter ſich, ſondern
mit einem Kommutator oder — wie er hier auch heißt — Kollektor ver-
bunden, ſo wie es die Fig. 117. erkennen läßt. Man ſieht leicht ein, daß

Figure 111. Fig. 117.

Wirkungsweiſe des Trommel-Induktors.


die ganze Einrichtung folgenden Zweck erfüllt. Die Ströme, welche in dem
Raum zwiſchen NN1 und ss1, ſowie in dem zwiſchen SS1 und nn1 erzeugt
werden, ſind in ihren Richtungen zwar, vom Beſchauer aus geſehen,
entgegengeſetzt, aber ſie gehen durch die Drahtwindung in dem gleichen
Sinne und müſſen ſich demnach verſtärken. Dagegen wird der Strom
während jeder vollen Drehung zweimal umgekehrt. Der Kollektor hat
den Zweck, ſämtliche induzierten Ströme zu ſammeln und in die
gleiche Richtung zu bringen. Sein wahres Ausſehen zeigt Fig. 116.
Er beſteht aus acht von einander iſolierten Teilen. Immer ſind die-
jenigen Teile, welche bei der Drehung in die Lagen g und c gelangen,
mit ſchleifenden Federn oder Metallbürſten in Verbindung, welche den
Strom in den Schließungsbogen überführen. Bei der Verbindung,
welche Fig. 117. zeigt, werden nun gerade alle nach einer Richtung
gehenden Induktionsſtröme, die mit + bezeichneten, nach der Stelle g,
alle entgegengeſetzt fließenden, mit — bezeichneten, nach der gegenüber
liegenden Stelle c des Kollektors geführt. Die Bezeichnung iſt derart,
daß immer z. B. 1 und 1', 8 und 8' Teile der Leitung an entgegen-
geſetzten Trommelabteilungen ſind. Nun iſt leicht einzuſehen, daß etwa
von g zwei verſchiedene Zweige der Leitung ausgehen. Der eine iſt,
[161]Die magnetelektriſchen Maſchinen.
wie leicht zu verfolgen, g44'f11'e7'7d5'5c, der andere g6'6h8'8a
22'b33'c.
Somit werden an der Stelle c die ſämtlichen von beiden
Hälften der Trommel ausgehenden Ströme geſammelt, und wenn auch
andere Stücke des Kollektors nach einander an dieſe Stellen treten, ſo
ändert ſich doch nichts an der Sache. Von den Schleifbürſten bei g
und c gelangen ſämtliche induzierten Ströme als ein einziger gleich-
gerichteter und ſeine Stärke nicht wechſelnder Strom in den Schließungs-
draht. Die Fig. 118 zeigt eine von der Firma Siemens und Halske

Figure 112. Fig. 118.

v. Hefner-Altenecks magnetelektriſche Maſchine.


gebaute Trommelmaſchine, bei welcher 50 Stahlmagnete durch ihre
induzierende Wirkung den Strom liefern. Die Trommel läßt ſich mit
Hilfe von Transmiſſionen ſehr ſchnell umdrehen, wenn ſie auch blos
mit der Hand betrieben wird. Mit größeren Maſchinen, die von zwei
bis vier Mann bedient werden, läßt ſich ſogar ſchon elektriſches Bogen-
licht hervorbringen. Der Trommelinduktor beſitzt neben den an-
gegebenen noch eine Reihe von Vorteilen vor den älteren Ankern.
Bei dieſen enſtanden große Verluſte der beim Drehen der Maſchine
geleiſteten Arbeit. Dieſelbe wurde nicht blos für die Erzeugung von
Strom verbraucht, ſondern der Widerſtand, den dieſer fand, verwandelte
einen Teil der elektriſchen Kraft in Wärme. Werden ferner nicht in
den Eiſenſtücken, die bei jeder halben Umdrehung zu Magneten und
wieder entmagnetiſiert werden, Ströme entſtehen, da doch das Eiſen
ſelbſt ein Leiter iſt, wenn auch ein ſchlechterer, wie die umgebenden
Kupferdrähte? Wird nicht jenem ein Teil der Nahrung zufließen,
welche nur dieſen zu gute kommen ſollte? Man nennt dieſe im Eiſen
des Ankers auftretenden Ströme die Foucaultſchen nach dem bekannten
Das Buch der Erfindungen. 11
[162]Die elektriſchen Erfindungen.
franzöſiſchen Gelehrten, der ihnen ein beſonderes Studium zuwendete.
Aber gerade dieſe Ströme ſind den Technikern höchſt unwillkommen,
ſie verzögern die Bewegung des Ankers, und wenn man dieſe zu
beſchleunigen trachtet, ſo erwärmen ſie das Eiſen ganz beträchtlich.
Der Trommelinduktor iſt allen dieſen Übeln ausgeſetzt, aber man kann
wenigſtens das letzterwähnte leicht verringern, wenn man nur ſtatt der
maſſiven eine hohle Eiſentrommel nimmt, deren Inneres etwa mit
Holz ausgefüllt iſt.


Überhaupt iſt leicht einzuſehen, daß die genannten Verluſte durch
eine Vermehrung der Größe und des Leitungsvermögens der Drähte,
ſowie durch eine Verminderung des Eiſenkörpers ſich auf ein Minimum
einſchränken laſſen. Was den letzteren anbetrifft, ſo hat bereits 1860
Dr. Pacinotti in Florenz eine Form des Ankers erfunden und 1864
ausführlich beſchrieben, welche für den bezeichneten Zweck völlig geeignet
erſcheint. Sie geriet aber in Vergeſſenheit und wurde im Jahre 1871
von Zénobe Theophile Gramme, welcher als Modelltiſchler bei der
Geſellſchaft L’Alliance in Brüſſel angeſtellt war und bereits mehrere
elektriſche Patente beſaß, ſelbſtändig noch einmal erfunden, und ſie heißt
meiſt nach dieſem der Grammeſche Ringanker. Um die Wirkung desſelben
ganz zu verſtehen, müſſen wir noch einmal auf Faradays Grundverſuch
zurückweiſen. Durch die Bewegung eines Magnetſtabes in eine Draht-
rolle hinein oder aus ihr heraus konnte er verſchieden gerichtete elektriſche
Ströme in ihr erregen. Wenn man zwei Magnetſtäbe etwa an ihren
Südpolen an einander legt und mit dieſem Doppelmagneten die Spule
durchwandert, ſo kann man leicht zeigen, daß der Induktionsſtrom
nicht immer ſeine Richtung behält, ſondern dieſelbe gerade dann
wechſelt, wenn beſtimmte Punkte der Magnete, welche ziemlich die
Mitte zwiſchen Nord- und Südpol halten, und an denen die Magnete
gar keine Anziehung ausüben, die ſogenannten Indifferenzpunkte, die
Rolle paſſieren. Man kann ſich nun zunächſt ſtatt der geraden Mag-
nete halbkreisförmig gebogene gerade an ihren gleichnamigen Polen
verbunden und zu einem Ringe zuſammengeſetzt denken, auch kann
man ſtatt einer zwei mit einander verbundene Induktionsrollen ſich
denken, die wie diejenigen eines Elektromagnets über den Ring geſchoben
werden. Dreht man den Ring innerhalb der beiden Spulen, ſo treten
in dieſen Wechſelſtöme auf, und zwar vertauſcht der Induktionsſtrom
gerade immer in dem Augenblicke ſeine Richtung, wenn die beiden
Indifferenzpunkte durch die Drahtrollen gehen. Denken wir uns ferner,
der Ring in der Fig. 119 ſei der eben beſchriebene Magnetring; er ſei
mit einer Menge von Spulen umgeben, die hier durch einzelne Striche
angedeutet ſind, ſo werden beim Durchpaſſieren des Ringes durch die
Spulen immer in denjenigen, die der Nordhälfte des Ringes anliegen,
Ströme von einer beſtimmten Richtung, in der entgegengeſetzten Hälfte,
aber ſolche von dem entgegengeſetzten Strome induziert werden, wie
dies durch die Pfeile in der Figur angedeutet iſt und noch beſſer aus
[163]Die magnetelektriſchen Maſchinen.
der Fig. 120 zu erſehen iſt, wo A und B die Indifferenzpunkte der
Magnete bedeuten. Wenn der Magnetring innerhalb der Spulen
gedreht wird, ſo ändern ſich freilich die Richtungen der Ströme, die an
einer beſtimmten Stelle vorbeifließen. Aber man kann auch umgekehrt
die Einrichtung treffen, daß man den Ring feſtſtehen und die Geſamtheit

Figure 113. Fig. 119.

Fig. 120.
Wirkungsweiſe des Pacinotti-Grammeſchen Ringes.


der Spulen im Kreiſe über ihn hinweggehen läßt. Dann werden
ebenſolche Ströme in den Spulen angeregt und ſie wechſeln auch
jedesmal die Richtung, wenn eine Spule über einen Indifferenzpunkt
läuft. Jetzt wird aber an jeder Stelle des Ringes der induzierte
Strom ſeine beſtimmte Richtung fortwährend beibehalten. Aber wie
ſoll man es fertig bringen, die Spulen in ihrer Geſamtheit gleichmäßig
und ſchnell über den Magnetring wandern zu laſſen? Darauf antworten
die Erfinder: Sehr einfach, wir benutzen ſtatt des Stahlrings einen
ſolchen von Eiſen und laſſen ihn gemeinſam mit den Spulen innerhalb
eines magnetiſchen Feldes ſich drehen. Wird dann nicht bei der An-
ordnung der Fig. 119, wo der Feldmagnet oben ſeinen Nordpol, unten
den Südpol hat, unter dem Einfluſſe desſelben der Eiſenring fort-
während oben Süd- und unten Nordmagnetismus aufweiſen, die nun
ihrerſeits die wandernden Spulen in der angegebenen Weiſe beeinfluſſen
werden? Beim Durchgehen durch die in der Figur als Indifferenzlinie
bezeichnete wagerechte Linie werden die Ströme in den Spulen ihre
Richtung wechſeln. Natürlich würden, wenn man die Spulen unter
einander verbände, die Ströme ſich gegenſeitig aufheben. Aber Gramme
leitete ſie alleſamt einem Kollektor zu, der aus ſoviel von einander
iſolierten Stücken beſtand, als Spulen vorhanden waren; in einem
Stücke desſelben fließt bei der verzeichneten Anordnung der Strom
einer Spule zu, der einer andern ab; aber an der Indifferenzlinie
ſehen wir links beide Spulen dem Kollektor ihren Strom zuſenden,
während rechts beide Ströme dem Kollektor poſitive Elektrizität entziehen.
11*
[164]Die elektriſchen Erfindungen.
Bringt man nun gerade hier rechts und links eine ſchleifende Feder
an und verbindet beide durch einen Schließungsbogen, ſo wird dieſer
von einem gleichmäßigen Strome durchfloſſen, ſo lange der Ring in
dem magnetiſchen Felde ſich dreht. Das iſt das Prinzip der Grammeſchen
Maſchine, welche Jamin 1871 der Pariſer Akademie vorzeigte.


Die Dynamomaſchinen.

So weſentlich die aufgeführten Verbeſſerungen waren, ſo konnten
bei der immerhin noch ſchwachen Wirkung, welche Stahlmagnete auf
die bewegten Anker ausüben, die gelieferten Ströme noch nicht den
gewünſchten Stärkegrad erlangen. Das ward aber anders, als man
ein bereits 1865 zugleich von Werner Siemens in Berlin und Profeſſor
Wheatſtone in London ausgeſprochenes Prinzip in die Praxis einführte.
Zwar hatte Wilde, wie wir anführten, ſich ſtärkeren Magnetismus
durch Elektromagnete verſchafft, aber er brauchte, um dieſe anzuregen,
noch eine magnetelektriſche Maſchine. Nun fragte ſich Siemens, ob
nicht derſelbe Strom, den die eine Maſchine lieferte, zu gleicher Zeit
den Magnetismus des Feldmagneten erregen könne, wenn dieſe Elektro-
magnete ſeien. Uns ſcheint auf den erſten Blick die Frage nur die
Antwort Nein zuzulaſſen, denn wenn wir einen Strom in der Bewickelung
des Ankers haben, ſo kann er doch nur durch den Magnetismus der
Feldmagnete induziert ſein, wir ſetzen ja doch das Vorhandenſein von
Magneten voraus. Siemens aber berückſichtigte die Eigentümlichkeit
des weichen Eiſens, daß es den ihm einmal durch einen Strom mit-
geteilten Magnetismus nicht völlig verliert, ſondern einen Reſt davon
zurückbehält, daß auch der Magnetismus der Erde fortwährend in
jedem Eiſen eine Spur von Magnetismus hervorruft. Das weiche
Eiſen giebt alſo ein, wenn auch nur ſchwaches magnetiſches Feld,
welches in dem ſich wälzenden Anker einen ſchwachen Strom hervor-
ruft; in dieſen ſchaltet man die Wickelung der Feldmagnete ein, verſtärkt
alſo durch den Strom die Kraft derſelben und wird alſo auch in der
Ankerwickelung einen kräftigeren Strom erhalten. So erkennt man,
daß der Magnetismus des Feldes und die Stärke der induzierten
Ströme gleichzeitig fortwährend wachſen. Freilich kann man nun
weder die magnetiſche noch die elektriſche Kraft auf dieſem Wege ins
Unbegrenzte vermehren; es tritt vielmehr ein Augenblick ein, in dem
das Eiſen mit Magnetismus ſo vollgeſogen iſt, daß es weiteren nicht
aufnehmen kann. Mit der Kräftigung der Feldmagnete wächſt natürlich
auch der Widerſtand, den der Anker bei ſeiner Bewegung durch das
Feld findet und man hat immer größere Schwierigkeit, ihn in ſchneller
Drehung zu erhalten. So wird die Kraft des Armes direkt in elektriſche
verwandelt. Jede ſolche Maſchine, bei der dieſe direkte Umwandlung
ſtattfindet, ohne daß urſprünglich große magnetiſche Kräfte einwirken
müßten, heißt eine Dynamomaſchine. Alle ſind ſie auf dieſes Siemensſche
[165]Die Dynamomaſchinen.
Prinzip begründet. In ihnen haben wir jetzt jene billigen und kräftig
fließenden Quellen der Elektrizität, die man ſeit Anfang des Jahrhunderts
geſucht hatte. Faraday hatte bei ſeinem erſten Verſuch dieſes Wachstum
unſerer Kraft vorausgeſehen, als er ahnungsvoll die Behauptung
aufſtellte, daß die Zukunft jene erſten Induktionswirkungen ins Un-
begrenzte vermehren würde. Dieſe Entdeckung von Siemens zuſamt
den Erfindungen der wirkſamen Trommel- und Ringanker haben der
Benutzung der Elektrizität als Kraftquelle in den beiden letzten Jahr-
zehnten einen ungeheuren Aufſchwung gegeben. Durch fortwährende
Steigerungen der Größe der Maſchinen, die nun nicht mehr mit der
Hand betrieben werden, ſondern im großen durch Dampfmaſchinen,
Turbinen oder anderen Motoren in Bewegung geſetzt werden müſſen,
erzielt man heute Wirkungen, die vor einigen Jahrzehnten nicht einmal
geahnt wurden. Was dieſe Maſchinen für den Gebrauch noch beſonders
vorteilhaft macht, das iſt ein Umſtand, den einer der bedeutendſten
Phyſiker Englands, Clerk Maxwell, als unter die größten Entdeckungen
dieſes Jahrhunderts gehörig bezeichnete. Jede Dynamomaſchine kann,
wie ſie uns aus mechaniſcher Arbeit elektriſche Kraft entbindet, unmittelbar
auch benutzt werden, um Arbeit zu leiſten, wenn ihr von außen ein
elektriſcher Strom zugeführt wird. Man ſchickt dieſen durch das Gewinde
von Draht, welches um Anker und Feldmagnete gewickelt iſt und man
erzeugt eine Drehung des vorher unbewegten Ankers, eine langſame,
wenn der Strom nur ſchwach iſt, eine immer ſchnellere, je mehr man
die Zufuhr der Elektrizität ſteigert. Jede ſolche Drehung um eine feſte
Achſe läßt ſich aber durch Transmiſſionen auf Arbeitsmaſchinen und
andere Apparate übertragen. Jede Dynamomaſchine läßt ſich dem-
nach auch als Motor verwenden, um, wenn ihr der Strom eines weit
entfernten ähnlichen Apparates zugeſendet wird, diejenigen Arbeiten zu
vollbringen, die man ihr aufträgt.*) Damit zeigt ſie ſich für den
Zweck der Übertragung weit entfernter Kräfte einzig geeignet, denn die
früher beſchriebenen Motoren ließen eine ſolche eben nur auf geringe
Weglängen zu. Wir wollen uns jetzt der Beſchreibung einiger Typen
[166]Die elektriſchen Erfindungen.
dieſer Maſchinen zuwenden, wie ſie in Anpaſſung an beſtimmte
Zwecke ſich dem Geiſte der Erfinder darboten. Immer werden wir
beſonders geformte Feldmagnete, einen beſtimmten Induktor, einen
Kollektor finden und Metallbürſten, die den Strom abnehmen. Eine
Niemenſcheibe zur Seite dient, den Riemen aufzunehmen, durch welche
der Induktor im magnetiſchen Felde gedreht wird.


Wir beginnen mit der unten ſtehenden Grammeſchen Dynamo-
maſchine, wie ſie jetzt von Schuckert \& Co. in Nürnberg als Flachring-

Figure 114. Fig. 121.

Schuckerts Flachring-Dynamomaſchine.


[167]Die Dynamomaſchinen.
maſchine gebaut wird. Statt des einen Elektromagnets in Fig. 119
ſehen wir hier acht Pole als Feldmagnete, die zuſammen wie vier Huf-
eiſen-Elektromagnete wirken; ſie liegen hier wagerecht und ſind mit
der Grundplatte und den Seitenwänden zu einem feſten Ganzen ver-
einigt. Die einander rechts und links gegenüberſtehenden Pole ſind
gleichnamig und verſtärken ſich in ihren induzierenden Wirkungen. Der
Strom umkreiſt zuerſt die Magnete auf der linken Seite, tritt dann
auf die rechte über und geht dann noch weiter rechts zur Achſe; dort
iſt der Kollektor zu ſehen, welcher zwei Paar Bürſten zur Abnahme
des Stromes hat. Durch die eine Bürſte fortgeführt, läuft der Strom
nun um den Ring, deſſen Kern aus einer Menge von gegeneinander
iſolierten Eiſenblechſtücken zuſammengeſetzt iſt, dann geht er zur anderen
Bürſte und von dieſer durch den Schließungsbogen, wo er ſeine
mannigfachen Arbeiten leiſtet, und kehrt ſchließlich auf die linke Seite
der Maſchine zurück. Die flache Form des Ringes macht es möglich,
daß die Wickelung des Ankers in allen ihren Teilen dem Feldmagneten
möglichſt nahe iſt. Da-
durch werden die Draht-
windungen gut aus-
genutzt, ſo daß die
Leiſtungsfähigkeit der
Maſchine im Verhältnis
zu ihrer Größe eine recht
beträchtliche iſt.


Die Fig. 122 zeigt
eine Siemensſche Ma-
ſchine, bei welcher ein
Trommelinduktor inner-
halb der flachen, ſenkrecht
ſtehenden Elektromagnete
ſich umdreht, die vorderen
ſowohl, wie die hinteren
Pole ſind mit einander
durch flache Eiſenſtücke,
ſogenannte Polſchuhe,
verbunden, welche auch
Magnetismus annehmen
und zwar etwa vorn
den Nordmagnetismus,
hinten den Südmagne-
tismus; dadurch werden
auch die vorn und hinten

Figure 115. Fig. 122.

Älterer Typus der Dynamomaſchine mit Trommelanker
von Siemens \& Halske.


liegenden Windungen, nicht allein die gerade an den Polen vorbei-
laufenden für die Stromlieferung gewonnen. Die auf der rechten Seite
ſichtbaren Metallbürſten nehmen von dem Kollektor den Strom ab.


[168]Die elektriſchen Erfindungen.
Figure 116. Fig. 123.

Siemens \& Halskes Maſchine zur Gewinnung der Reinmetalle.


[169]Die Dynamomaſchinen.

In der Fig. 123 erkennen wir auf den erſten Blick dasſelbe Prinzip,
wie in der vorigen, zwar liegen die Feldmagnete wagerecht, ſtatt ſenk-
recht zu ſtehen, aber wir ſehen auch hier den Trommelinduktor und
die Polſchuhe. Nur die Wickelung iſt eine andere, ſie beſteht weder
bei den Feldmagneten, noch beim Anker aus dem gewöhnlichen Kupfer-
draht, ſondern aus dicken Kupferſchienen, mit einem Querſchnitt von
13 qcm. Jeder von den Elektromagneten trägt nur ſieben Windungen
des leitenden Materials, und ebenſo iſt die Trommel nur mit wenigen
Kupferſtangen belegt, die gegeneinander durch Asbeſt iſoliert und an
den Verbindungsſtellen mit dem Kollektor verſchraubt ſind. Der Zweck
dieſer verſchiedenen Einrichtungen wird uns klar, wenn wir an den
Induktionsapparat zurückdenken. Der Strom in den dicken Windungen
der primären Spule iſt da von großer Stärke, aber von geringer
Spannung, der ſekundäre Strom in den dünnen Drähten dagegen von
hoher Spannung, aber nicht ſo reichlich fließend. Wir werden ſchließen
dürfen, daß der vorliegende Apparat ein ſolcher iſt, der beſonders große
Elektrizitätsmengen, aber von ganz unbeträchtlicher Spannung liefert.
Er wird alſo nur bei ſolchen Betrieben Verwendung zu finden haben,
bei denen eine hohe Spannung überflüſſig oder unerwünſcht und alles
an einer großen Elektrizitätsmenge gelegen iſt. Das iſt bei den chemiſchen
Wirkungen des Stromes der Fall, z. B. denjenigen, die wir als die
galvanoplaſtiſchen beſprochen haben. Die Maſchine wird in der That
angewendet, wo es ſich darum handelt, aus Salzlöſungen die Metalle
rein niederzuſchlagen. So wird in dem Hüttenwerk zu Oker am Harz
das rohe Kupfer, welches noch 2% Beimengungen hat, durch ſolche
Dynamomaſchinen gereinigt, deren jede im Laufe eines Tages bis zu
6 Zentnern reines Kupfer in zwölf Zerſetzungszellen, die der Strom
einer Maſchine paſſiert, liefern kann. An der Eintrittsſtelle des Stromes
hängen dabei immer je 30 Platten rohen Kupfers von zuſammen 15 qm
Oberfläche, das Bad iſt mit Kupfervitriol gefüllt, aus der Löſung wird
an der Austrittsſtelle des Stromes reines Kupfer an ebenſo großen
Kupferplatten niedergeſchlagen, die Löſung wird durch die fortwährende
Auflöſung des Kupfers immer konzentriert erhalten.


Hier liegt offenbar die Frage nahe: Wie gewinnt man denn das
rohe Kupfer? Wir könnten in Bezug hierauf uns auf den Teil des
Buches, welcher von der Metallgewinnung handelt, beziehen, aber wir
ſind in der Lage, eine Antwort hierauf auch an dieſer Stelle zu er-
teilen, weil die Elektrizität, wie überall hilfsbereit, ſich auch mit Vorteil
in den Dienſt der Metallbereitung hat ſtellen laſſen. Wenn die Kupfer-
bergwerke Erze liefern, deren Metallgehalt ein ſehr reicher iſt, und
wenn außerdem das Feuermaterial billig iſt, ſo wird ſicherlich eines
der in dem zitierten Teile angeführten Verfahren der Verhüttung kurz
und billig zum Ziele führen. Wenn aber weder die eine noch die
andere Bedingung zutrifft, wie bei vielen metallarmen Erzen noch im
Betriebe befindlicher Bergwerke, wird ſich ein ſolcher Prozeß kaum
[170]Die elektriſchen Erfindungen.
lohnen, und die Metallbereitung auf dem naſſen Wege iſt langwierig
und wenig ausgiebig. Seit zwei Jahren wird nun auf dem Werke
der Firma Siemens \& Halske zu Martinikenfelde bei Berlin das
chemiſch reine Kupfer aus den verſchiedenſten Erzen nach einem neuen
Verfahren gewonnen, welches kaum den geringſten Rückſtand von
Kupfer in jenen beläßt. Wir wollen die einzelnen Operationen an
der Hand der ſchematiſchen Fig. 124 ſtudieren. Die Erze werden in

Figure 117. Fig. 124.

Siemens \& Halskeſches Verfahren zur directen Gewinnung des Kupfers aus den Erzen.


die Kugelmühle E geladen, gelangen dann durch die Rinne F in den
niedrigen Trog H, wo ſie mit der aus der Zerſetzungszelle C abfließenden
Lauge unter Erwärmung durch Schaufelräder verarbeitet werden.
Durch den Ablauf J wird das Gemiſch auf den Saugfilter K gebracht
und aus dieſem tritt die vom Erzpulver befreite, kupferhaltige Lauge
in den Behälter A und in das vom elektriſchen Strome durchfloſſene
Bad C ein. Der obere Teil dieſes enthält Kupferplatten an der Aus-
trittsſtelle des Stroms; dieſelben ſind wagerecht an der Unterſeite der
Bretter k befeſtigt, der Strom wird am Boden durch Kohlenſtäbe a
eingeleitet. Zwiſchen a und k iſt ein Filter im oberen Teile des Bades
ein hölzernes Rührwerk angebracht. Das Bad enthält jetzt eine Löſung
von Kupfervitriol und Eiſenvitriol, aus welcher das Kupfer an den
Kupferplatten k rein niedergeſchlagen wird, während die übrigen
Zerſetzungsprodukte das Eiſenvitriol in ſchwefelſaures Eiſenoxyd über-
[171]Die Dynamomaſchinen.
führen. Iſt der Prozeß beendigt, ſo läßt man die Lauge in den
Trog H ablaufen; ſie beſitzt jetzt gerade die Fähigkeit, das Kupfer aus
den Erzen in Löſung zu bringen, wobei ſie ſich zum Teil in Eiſen-
vitriollöſung zurückverwandelt. Wir erkennen, daß ſonach die Lauge
gar nicht verbraucht wird, ſondern mit derſelben Löſung beliebig große
Mengen von Kupfer gewonnen werden können. Der diesmal ſtärker
geſpannte Strom wird natürlich wieder von einer Dynamomaſchine
geliefert, und zwar von einer nach dem neueſten Typus, den die Firma
Siemens \& Halske baut. (Vgl.
Fig. 125.) Es iſt auch eine Trom-
melmaſchine, welche ſonſt noch für
den gleichzeitigen Betrieb von
Bogen- und Glühlampen ſich be-
ſonders eignet. Hier iſt nur ein
einziger Feldmagnet mit ſehr kurzen
dicken Schenkeln vorhanden, und
die Eiſenkerne derſelben ſind mit
der Grundplatte aus einem Stücke
gearbeitet. Die Bürſten ſind wieder
auf zwei entgegengeſetzten Seiten
der Trommelachſe angebracht und
nehmen den Strom vom Kollektor
ab, deſſen Stücke von einander
durch die Luft iſoliert ſind, weil

Figure 118. Fig. 125.

Neuerer Typus der Dynamomaſchine mit Trommel-
anker von Siemens \& Halske.


ſich über feſte Nichtleiter leicht ein leitender Überzug von dem den
Bürſten entriſſenen Kupferſtaube bildet, der die Iſolierung aufhebt.


Da wir auf die neue Gewinnung des ſeit uralter Zeit ſo viel
gebrauchten Metalles zu ſprechen kamen, ſo wollen wir hier auch die
erwünſchte Gelegenheit ergreifen, des allerneueſten, ſeit etwa drei Jahren
erſt in die Praxis eingeführten, aber von den größten Erfolgen gekrönten
Verfahrens zu gedenken, durch welches ein neues Metall dem allgemeinen
Gebrauche zugänglicher gemacht ward. Das Aluminium, deſſen auch
in dem Kapitel über die Metallgewinnung gedacht werden wird, das
früher ſeiner Teuerkeit wegen nur zur Herſtellung wiſſenſchaftlicher
Gegenſtände oder in Vermiſchung mit anderen Metallen für Gebrauchs-
gegenſtände nutzbar zu machen war, hat ſich mit einer erſtaunlichen
Geſchwindigkeit jetzt überall eingeführt. Daran Schuld hat ſeine
enorme Verbilligung, und dieſe wieder iſt eine Frucht des von Héroult
vor drei Jahren angegebenen Verfahrens, Aluminium zu gewinnen.
Das Metall iſt ein weitverbreitetes, es kommt z. B. im Thon, dem
allbekannten Geſtein vor, aber die Schwierigkeiten, welche die Ge-
winnung bietet, ſind erſt jetzt als in befriedigender Weiſe überwunden
anzuſehen. Eine kräftige Dynamomaſchine und ein eigentümlicher Ofen
ſind die dazu nötigen Dinge. Zu Neuhauſen am Rheinfall wird das
Verfahren jetzt von der Aluminium-Induſtrie-Aktiengeſellſchaft in groß-
[172]Die elektriſchen Erfindungen.
artigem Maßſtabe betrieben. Die Kraft, welche die Dynamomaſchinen
in Umlauf verſetzen muß, wird durch Jonval-Turbinen dem Rhein
entnommen. Die größeren Maſchinen erzeugen eine Stromſtärke von
14000 Ampère und eine Spannung von 30 Volt. Sie ſind fähig, eine
mächtige Wärme zu entwickeln und zugleich gewaltige chemiſche Kräfte
zu entbinden. Den Schmelzofen erblicken wir in den Fig. 126 a und b
im Grund- und Aufriß. Er ſtellt ein von der Erde iſoliertes, oben

Figure 119. Fig. 126

a. Grundriß und


Figure 120. Fig. 126

b.
Aufriß des Héroult-Ofens zur Aluminium-Gewinnung.


offenes Eiſengefäß dar,
welches mit Kohlenplatten
ausgefüttert iſt; der Strom
wird durch eine Anzahl
zuſammengeſchichteter, eben-
ſolcher Platten zugeführt,
die an einer Kette in den
Ofen hineinhangen, wäh-
rend an der Austrittsſtelle
des Stromes ſich ein Metall,
wie Kupfer, Eiſen oder
Meſſing befindet, das mit
dem entſtehenden Aluminium
eine Verbindung eingeht.
Bevor der Prozeß beginnt,
wird der Ofen mit Stücken
des Metalls und der Thon-
erde angefüllt. Die Hitze,
welche der Strom entwickelt,
ſchmelzt zunächſt dieſen In-
halt des Ofens zu einer
feurig flüſſigen Maſſe zu-
ſammen, die ſich am Boden
anſammelt. Die chemiſche
Wirkung aber äußert ſich
darin, daß die Thonerde in
ihre Beſtandteile zerfällt,
deren einer, das Aluminium,
von dem Metallbade auf-
genommen wird, während
der andere, der Sauerſtoff,
zur Eintrittsſtelle des Stromes, zu den Kohlenplatten hingezogen wird
und mit dem Kohlenſtoff derſelben verbunden, als Kohlenoxydgas in die
Luft entweicht. Man kann natürlich von oben her die zerſetzte Thonerde
fortwährend durch neue erſetzen, ebenſo wie das Metall, während
die flüſſige Verbindung des Aluminiums mit dem Metall durch eine
Öffnung im Boden abgelaſſen werden kann. Man hat es durchaus
in der Gewalt, eine Miſchung von ganz beſtimmtem Gehalte zu
[173]Die Dynamomaſchinen.
erzeugen. Die Fabrik ſtellte gleich anfangs täglich vier Zentner
von dieſem ſo leichten Metall her, wollte aber die Produktion bis
auf das Fünffache ſteigern. Bei dem billigen Betriebe ſtellt ſich der
Preis des Aluminiums jetzt kaum noch auf ein Zehntel ſeines früheren
Preiſes, welcher 125 Mark für das Kilogramm betrug. Welchen
Aufſchwung die Aluminium-Induſtrie dadurch erfahren hat, das iſt an
einer anderen Stelle des Buches nachzuleſen. Nach dieſem Exkurs
wollen wir noch einige Typen von Dynamomaſchinen betrachten.


[figure]

Innenpolmaſchine für die Berliner Zentralen von Siemens \& Halske.


Die Fig. 127 zeigt eine der größten Maſchinen, die überhaupt gebaut
worden ſind. In den großen Zentralen, von denen viele Stellen
in weitem Umkreiſe mit Kraft und Licht verſorgt werden ſollen, hat
man bisher viele Maſchinen aufgeſtellt, die in ihrer Geſamtheit das
Bedürfnis an Strömen befriedigten. Aber ſchon der Erſparnis koſt-
baren Raumes halber iſt es gut, ſich auf möglichſt wenige Maſchinen
[174]Die elektriſchen Erfindungen.
zu beſchränken, die dann natürlich kräftig gebaut ſein müſſen. Eine
ſolche iſt die von der Firma Siemens \& Halske hergeſtellte Rieſen-
maſchine, die wir hier abbilden. Sie iſt eine ſogenannte Innenpol-
maſchine, d. h. die Feldmagnete liegen im Innern des Ankers. Man
kann ſie durch die Speichen des großen Rades, als welches die ganze
Maſchine erſcheint, unſchwer erkennen. Es ſind im ganzen zehn mit
Spulen umwickelte Eiſenkerne zu einem Sterne geordnet. Der Anker
iſt ein Grammeſcher Ring von 3 m Durchmeſſer und 28 cm Dicke.
Bei dieſer Anordnung wird die Kraft der Feldmagnete weit beſſer
ausgenutzt, als bei der vorher beſprochenen. Aber freilich iſt ein Ring
von ſo rieſigen Dimenſionen nicht eben leicht zu bewegen, und dieſer
hier ſoll 65 Umdrehungen in der Minute machen, um ſeine normale
Leiſtung zu vollbringen. Da ſind Dampfmaſchinen von 500 Pferde-
ſtärken erforderlich, um ihn in Bewegung zu erhalten. Dem entſpricht
aber auch die Leiſtung der Maſchine. Der Strom hat eine Spannung
von 150 Volt und, bei der normalen Drehungsgeſchwindigkeit der
Maſchine, eine Stärke von 2200 Ampère, die bei 100 Umdrehungen in
der Minute auf über 4000 Ampères ſteigen kann, was im erſten Falle
450, im zweiten aber 820 Pferdeſtärken entſpricht, welche die Arbeits-
fähigkeit des Stroms meſſen. Wir machen noch darauf aufmerkſam, daß
die Bürſten, die den Strom abnehmen, hier an keinem beſonderen
Kollektor arbeiten, ſondern einfach auf dem Ringe ſelbſt ſchleifen, deſſen
Windungen aus Kupferſtangen von 14 qcm Querſchnitt beſtehen, die
zwar gegen einander iſoliert, aber nach außen jeder Hülle beraubt,
ſich den Schleifbürſten darbieten müſſen.


Für manche Zwecke erſcheint es durchaus nötig, ſtatt eines fort-
während in gleicher Richtung den Schließungsbogen durcheilenden
Stromes, jenen mit Strömen zu beſchicken, die immerzu ihre Richtung
wechſeln, ſo z. B. für gewiſſe Beleuchtungsapparate, die dauernd ein
gleichmäßiges Licht ſpenden ſollen. Da die bisher beſchriebenen
Dynamomaſchinen einen ſtets gleichgerichteten Strom liefern, — ſie
heißen deshalb auch Gleichſtrommaſchinen — ſo ſind für jenen Zweck
beſondere, die ſogenannten Wechſelſtrommaſchinen zu bauen. Sie
haben vor den Gleichſtrommaſchinen, um dies gleich hervorzuheben,
u. a. den Vorzug, daß ſie eine größere Spannung zulaſſen, und das iſt
— wie wir ſpäter ſehen werden — für die Übertragung des Stromes auf
weite Entfernungen hin von großer Wichtigkeit. Auch dieſe Maſchinen
ſind aus den magnet-elektriſchen hervorgegangen. Zu ihnen gehört
u. a. jene große Alliance-Maſchine, die den Leuchttürmen Frankreichs
und Englands Licht ſpendete. Der Belgier de Meritens verwendete
auch noch Stahlmagnete, vor denen er einen Ringanker in Drehung
verſetzte. Alle folgenden Wechſelſtrommaſchinen aber beſitzen Elektro-
magnete. Wie ſollte man nun dieſe anregen? Da doch die induzierten
Ströme fortwährend ihre Richtung wechſeln ſollen, ſo konnte man
dieſe für die Magnetiſierung der Feldmagnete abſolut nicht brauchen, ſie
[175]Die Dynamomaſchinen.
hätten ja bei ihrer fortwährenden Umkehr die Kraft derſelben nur immer
geſchwächt, ſtatt ſie zu erhöhen. Dieſe Maſchinen konnten alſo nicht auf
das Siemensſche Prinzip gegründet werden; da die induzierten Ströme
für die Erregung der Feldmagnete unbrauchbar waren, ſo mußte
dieſen von außen der Strom zugeführt werden. Das geſchieht nun
leicht ähnlich wie bei der Wildeſchen Maſchine durch die von einer

Figure 121. Fig. 128.

Wechſelſtrommaſchine von Siemens \& Halske mit der Gleichſtrommaſchine verbunden.


Gleichſtrommaſchine zufließende Elektrizität. Wir ſehen in der Fig. 128
eine Wechſelſtrommaſchine von Siemens \& Halske, welche aus der
daneben abgebildeten, uns bereits bekannten Gleichſtrommaſchine mit
Strom für die Elektromagnete verſehen wird. Dieſe ſtehen in zwei
Kränzen angeordnet einander gegenüber. Sowohl die gegenüberſtehenden,
als die benachbarten Magnete weiſen verſchiedenen Magnetismus auf.
Die Induktionsſpulen ſitzen auf einer Scheibe und auch hier ſind die
benachbarten entgegengeſetzt gewickelt. Daß der Eiſenkern in den
Ankerſpulen unterdrückt iſt, das hat offenbare Vorteile; denn ab-
[176]Die elektriſchen Erfindungen.
geſehen davon, daß bei der raſchen Bewegung weniger Gewicht mit-
geſchleppt werden muß, ſo werden auch den Wechſelſtrömen die ſonſt in den
Eiſenkernen auftretenden Wärmewirkungen erſpart, ſo daß ihre Kraft
ganz und gar erhalten bleibt. Deshalb ſind es auch gerade dieſe
Maſchinen, welche für eine beſtimmte Arbeitsleiſtung, die man zu ihrer
Drehung verwendet, die höchſte Leiſtungsfähigkeit erreichen. Dieſelbe
Firma hatte auf der Frankfurter Ausſtellung 1891 eine hier wegen
Raummangels nicht abgebildete Innenpolmaſchine für Wechſelſtrom aus-
geſtellt, bei der 60 Feldmagnete zuſammen drehbar ſind, während der
Anker, der auch die Form eines Ringes hat, feſtſteht. Der Durchmeſſer
des drehbaren Ringes mit den Elektromagneten iſt nicht geringer als
3,7 m, der feſtſtehende Ankerring aber mißt 4,6 m. Die Spannung
beträgt 2000 Volt, die Stromſtärke 165 Ampère, die Leiſtung alſo
entſpricht 450 Pferdeſtärken. Mit dieſen Maſchinen kehrt man zu
Faradays erſtem Verſuch zurück, Ströme in einem Leiter aufzuweiſen,
der durch ein magnetiſches Feld hindurchwandert; auch damals gelang
es bereits, Wechſelſtröme in der Drahtleitung zu erzeugen. Wir ſahen
aber, daß in den Induktionsapparaten, die Faradays Entdeckung auf
dem Fuße folgten, ein Mittel gegeben iſt, gerade dieſe häufig an
Stärke wechſelnden und ſich umkehrenden Ströme zu transformieren,
alſo hochgeſpannte Ströme von geringer Elektrizitätsmenge in reichlicher
fließende, aber niedriger geſpannte Ströme zu verwandeln und auch
umgekehrt. In Verbindung mit ſolchen den Induktionsapparaten
nachgebildeten Transformatoren werden alſo gerade die Wechſelſtröme,
bei denen die Richtung des Stromes gleichgültig, aber an einer leichten
Verwandlung der Ströme etwas gelegen iſt, am beſten verwendbar
ſein. Wir erfuhren bereits, daß bei den chemiſchen Wirkungen der
Elektrizität es ſehr auf eine hohe Stromſtärke ankommt, wogegen die
Spannung gering ſein kann; aber freilich ſind Wechſelſtröme für chemiſche
Zwecke im allgemeinen unbrauchbar. Auch für die Erwärmung von
in den Stromkreis eingeſchalteten Leitern ſind gerade ſtarke Ströme
weſentlich. Auf dieſer Thatſache beruht ein von Elihu Thomſon
vor drei Jahren angegebenes Verfahren, um Stücke desſelben Metalls
oder auch verſchiedene Metalle an den Enden zuſammen zu ſchmelzen,
alſo z. B. Stahl- und Eiſenſtücke an einander zu ſchweißen. Er bedient
ſich dazu der in der Fig. 129 rechts ſichtbaren Dynamomaſchine. Wir
ſehen an dieſer die Feldmagnete, ſechs an der Zahl und innerhalb des
von ihnen eingeſchloſſenen Raumes eine Trommel, deren Drahtwickelung
die beim Drehen entſtehenden Wechſelſtröme zwei rechts ſichtbaren, von
einander iſolierten Ringen zuführt, von denen die hoch geſpannten,
aber geringe Stromſtärke aufweiſenden Ströme in den links unten
ſichtbaren Transformator gelangen. Als ſtark geſpannte Ströme kommen
ſie hier in dünne Drahtwindungen, die als primäre Spule dienen,
während der ſekundäre Leitungsdraht von einem einzigen ſehr dicken
und zu einem Ringe gebogenen Kupferreifen gebildet iſt. Die An-
[177]Die Dynamomaſchinen.

Figure 122. Fig. 129.

Wechſelſtrommaſchine zum Schweißen der Metalle von Elihu Thomſon.


ordnung iſt alſo gerade umgekehrt, wie bei dem bekannten Induktions-
apparat von Ruhmkorff; hier iſt gerade die primäre Spule aus ſtarkem
Drahte gewunden, die ſekundäre dagegen beſteht aus ſehr vielen
Windungen von recht dünnem Drahte. Dieſe Teile ſind in dem Bilde
nicht ſichtbar, wohl aber ſieht man die ſtarken Backen, mit denen dieſe
Das Buch der Erfindungen. 12
[178]Die elektriſchen Erfindungen.
Leitung endigt, und in welche die beiden mit einander zu ver-
ſchweißenden Eiſenſtücke geklemmt werden. Man muß wiſſen, daß
das Eiſen ein viel ſchlechterer Leiter der Elektrizität iſt, als das
Kupfer. Wo die Elektrizität mehr Widerſtand findet, wird ſie beim
Durchgange ſich in Wärme umwandeln, alſo wird ſie das Kupfer
nicht weſentlich, deſto mehr das Eiſen erhitzen. Aber zum Schmelzen
des Eiſens gehört eine Temperaturerhöhung um mehr als 1000 Grad
Celſius. Iſt der Strom wirklich kräftig genug, um dieſe Erhitzung zu
vollbringen in Eiſenſtäben von mehreren Zentimetern Dicke? Und
wenn dies der Fall iſt, wird dann nicht mehr Kraft verbraucht, als
eigentlich nötig iſt? Es bedarf ja doch nur einer oberflächlichen
Schmelzung gerade an den beiden zu verſchweißenden Enden der
Eiſenſtangen, jede in der Mitte derſelben geleiſtete Erwärmung ver-
ringert unnütz die Arbeitsfähigkeit der Maſchine. Die Natur des
elektriſchen Widerſtandes hebt alle dieſe Sorgen in der befriedigendſten
Weiſe. Derſelbe hängt ja von dem Querſchnitt des Leiters ab, und
er iſt um ſo größer, je enger der Raum iſt, durch den der Strom ſich
hindurch zu zwängen hat. Aber der leitende Querſchnitt iſt gerade an
der Berührungsfläche der Leiter am geringſten, denn wenn dort auch,
wie die Figur zeigt, die Eiſenſchienen oder -ſtangen mit Gewalt gegen
einander gepreßt werden, ſo ſind doch die Endflächen nie ſo gut ge-
arbeitet, daß ſie in ihrer ganzen Ausdehnung einander decken; ſie
berühren ſich nur in vielen kleinen Flächen und Punkten, und dort iſt
demnach auch der größte Widerſtand und damit eine beſonders ſtarke
Erhitzung zu erwarten. Schon innerhalb weniger Sekunden machen
dieſe Ströme, die in der Sekunde zweihundertmal ihre Richtung wechſeln,
die auf einander gepreßten Enden glühend, erweichen ſie, ſo daß ſie durch
erneuten Druck, den man mit den gezeichneten Kurbeln ausüben kann,
noch ein wenig gegen einander gedrückt werden können. Hierauf läßt
man das Stück abkühlen und findet, daß die Schweißung vollzogen iſt.


d) Die Erfindung des elektriſchen Lichtes.


Auf Adlersflügeln vorwärts ſtrebend weicht der Flug des menſch-
lichen Erfindungsgeiſtes auch der Sonne nicht. Das Licht des Tages-
geſtirns mit ſeiner unübertroffenen, jede andere natürliche Leuchte
zum Halbdunkel herabſetzenden Leuchtkraft, dieſes Licht zu jeder
Zeit in der Gewalt zu haben, das war das lange für erſtrebens-
wert gehaltene Ziel der Technik. Sie hat es erreicht, oder ſie iſt
ihm doch ſo nahe gekommen, wie ſie immer hoffen durfte. In
einem beſonderen Abſchnitte dieſes Buches wird der Weg, den der
Erfindungstrieb durch die verſchiedenen Arten der Beleuchtung zurück-
zulegen hatte, beſchrieben werden. Wir wollen uns ſofort jenem End-
ziele, dem elektriſchen Lichte zuwenden, das als Bogenlicht gegen
[179]Die Erfindung des elektriſchen Lichtes.
die Lichtſtärke der Sonne nur noch um die Hälfte zurückſteht. Die
andere wohlbekannte Art, das Glühlicht, mit ſeiner gelben, die Augen
nicht blendenden Farbe, iſt uns im Innern der Wohnräume ſym-
pathiſcher; für die Beleuchtung großer Räume und der Straßen erſcheint
das weiße Bogenlicht geeigneter. Kaum hat wohl eine Erfindung ſich
mit dieſer erſtaunlichen Geſchwindigkeit eingeführt und verbreitet, wie
dieſe beiden Lichtarten. Wo iſt es vor 15 Jahren dauernd eingeführt
geweſen? und am 1. Januar 1890 waren in Deutſchland 2590 Anlagen
für elektriſche Beleuchtung mit 339000 Glühlampen und 21000 Bogen-
lampen vorhanden, Berlin allein zählte Ende März 1890 5000 Bogen-
lampen neben 81000 Glühlampen, welche zuſammen den Leuchtwert von
mehr als 110000 Gasflammen repräſentieren, wenn man eine Glühlampe
als gleichwertig mit einer Gasflamme anſieht, der Bogenlampe aber den
ſechsfachen Leuchtwert zuſchreibt. Neben der Leuchtkraft iſt es jedenfalls
auch die bequeme Bedienung, welche elektriſche Lichtapparate geſtatten,
und welche durch eine Menge geiſtreicher Erfindungen garantiert iſt, die
dieſe Verbreitung herbeiführte. Sehen wir uns beide Arten der Leucht-
apparate etwas näher an!


Die Glühlampe beſteht aus einer luftleeren Glasglocke, in welcher
ein dünner Faden von einem verkohlten Stoffe ſitzt. Dieſer wird zu
heller Glut entflammt, und damit er nicht verbrenne, muß die
Glocke jedes meßbaren Luftgehaltes bar ſein. In die heiße Glut
verſetzt wird der Kohlenfaden beim Durchgange eines elektriſchen Stromes.
Wir wiſſen ja bereits, daß dieſer, wo er Widerſtand findet, ſich in Wärme
umſetzt. Die Kohle aber iſt an ſich ein ziemlich ſchlechter Leiter der
Elektrizität und wird einen immer größeren Widerſtand leiſten, je mehr
man ihren Querſchnitt verkleinert. Alſo wird der dünne verkohlte Körper
ſich ſchon deshalb für die elektriſche Beleuchtung geeignet machen. Er iſt
es noch aus einem anderen Grunde. Es giebt zwar noch andere
weniger gute Leiter, die beim Durchgange des Stromes in Glut ge-
raten, wie z. B. das Platin, das in dünnen Drähten ſchon durch einen
ziemlich ſchwachen Strom glühend gemacht wird, aber dieſe Körper
werden alle viel leichter durch die entwickelte Hitze zum Schmelzen
gebracht, als gerade die Kohle, die bei den höchſten Wärmegraden,
die wir zu erzeugen fähig ſind, nicht ſchmilzt. Und ſchließlich laſſen
gerade verkohlte Stoffe ſich in die paſſende Form von dünnen und dabei
gleichmäßigen Querſchnitt beſitzenden Fäden bringen. Wenigſtens kann
man das heute, nachdem man lange und mühevolle Verſuche gemacht hat.
Früher mußte man ſich mit Platin behelfen. So hat William Grove
ſchon 1845 eine elektriſche Lampe gebaut, die ſich beſonders für Berg-
werke eignen ſollte, weil der glühende Platindraht in einem abgeſchloſſenen
Gefäß ſaß und alſo die gefährlichen Grubengaſe nicht entzünden konnte.
Sein Apparat war einfach ein Glas, das nach Art der Taucherglocke
in ein Gefäß mit Waſſer geſtülpt war. Innerhalb deſſelben glühte
der Platindraht, der durch zwei iſolierte Kupferdrähte mit Strom aus
12*
[180]Die elektriſchen Erfindungen.
einer galvaniſchen Batterie verſorgt wurde. Das war die erſte Glüh-
lampe. Zwar hatte Jobard in Brüſſel bereits 1838 den Vorſchlag
gemacht, die Kohle in einem luftleeren Raume als lichtgebenden Leiter
zu benutzen, und die Engländer Starr und King konnten 1845 ein
Stäbchen aus Kohle, das ſie bis zur Fadendünne abgeſchliffen hatten,
in einem leer gepumpten Glasballon durch den Strom einer magnet-
elektriſchen Maſchine zum Glühen bringen. Aber eine Fortſetzung
dieſer Verſuche erſchien damals ſchon deshalb wenig lohnend, weil ja
die Stromquellen zu teuer waren, das elektriſche Licht zu koſtſpielig
wurde. Erſt als die Dynamomaſchinen aufkamen, und durch die
Erfindung der verbeſſerten Queckſilberluftpumpe von Sprengel die
Herſtellung außerordentlicher Luftverdünnungen möglich wurde, da
wurde die Suche nach geeigneten Glühlampen von Swan 1877 und
Ediſon 1878 wieder aufgenommen. Die Dauerhaftigkeit einer ſolchen
Lampe hängt ſehr weſentlich davon ab, daß eine möglichſt vollkommene
Luftleere hergeſtellt wird, weil der Kohlenfaden bei Anweſenheit eines
Luftreſtes ſchnell dahinſchwindet. Nun hatte Crookes durch großartige
Verſuche gezeigt, wie weit die Luftentleerung mit Hülfe der Sprengelſchen
Pumpe getrieben werden konnte, und Swan konnte jetzt ſeine Glas-
gefäße, nachdem er verkohlte Papierfäden hineingebracht hatte, ſo
vollkommen entleeren, daß der Druck der übrigbleibenden Luft nur
noch ein Milliontel einer Atmoſphäre betrug. Man mußte dabei die
Kohlenfäden während des Auspumpens gehörig erhitzen, weil ſie in der
Kälte einen hohen Betrag von der umgebenden Luft in ſich aufzu-
nehmen vermögen, der beim ſpäteren Gebrauche ſchädlich wirken würde.
Die auf dieſe und ähnliche Einzelheiten gerichtete Sorgfalt Swans
und Ediſons hat erſt die glänzenden Erfolge der [elektriſchen] Beleuchtung
ermöglicht. Die Drähte, welche der Lampe den Strom zuführen,
ſind mit der metalliſchen Hülle des Lampenfußes und der durch
eine Gipsfüllung davon iſolierten Fußſchraube in Verbindung zu
bringen, und deshalb wird beſondere Sorgfalt auf die Vereinigung
des Kohlefadens mit dieſem Fuße zu verwenden ſein. Platindrähte,
die den gläſernen Lampenfuß durchſetzen, ſtellen dieſe Verbindung her
und ſind mit der Kohle durch einen galvaniſchen Niederſchlag von
Kupfer vereinigt. An der Vereinigungsſtelle könnte die Berührung an
Innigkeit zu wünſchen übrig laſſen. Dann würde gerade hier der
Widerſtand bedeutend ſein, und es wäre ein Fortſchmelzen des Kupfer-
belags zu fürchten. Darum ſorgte Swan durch Verdickung des Kohlen-
fadens gerade an ſeinen Enden für eine Verminderung des Wider-
ſtandes. Der Kohlenfaden hat bei den Lampen verſchiedener Firmen
eine immer andere Form. Wir zeigen in den Fig. 130 bis 132 die
einfache U-Geſtalt der Ediſonſchen Kohlenfaſer, die gewundene der
Swanſchen und die Zickzackform der Maximſchen Glühlampe. Woher
aber bekommt man dieſe feinen Fäden? Wir kennen die Kohle doch
als ein ſprödes Material, das ſich der Formung immer entzieht. Hören
[181]Die Erfindung des elektriſchen Lichtes.
wir alſo, wie der große Mann von Menlo Park ſich dieſelben durch
Verkohlung von Bambusfaſern verſchafft.


Die von der Pflanze kommenden röhrenförmigen Stengel werden
zuerſt mit Hilfe einer für dieſen Zweck erfundenen Maſchine ſo präpariert,
daß man ſchnell eine größere Zahl gleichförmiger, in paſſenden Längen
abgeſchnittener Stücke, und jedes Stück in zwei Halbröhren mitten
durchgeſpalten, erhält. Dieſe beiden werden wieder in drei Streifen
geteilt; die harte, Kieſelſäure enthaltende äußere Rinde wird entfernt,
und die Stücke werden derart abgehobelt, daß ſie einen flachen und
geraden Streifen von der ganzen Länge nach gleichförmiger Dicke
abgeben, und dann ſo abgeſchnitten, daß ſie genau dieſelbe Länge

    • Figure 123. Fig. 130.
    • Figure 124. Fig. 131.
      Elektriſche Glühlampen von
    • Figure 125. Fig. 132.
    • Ediſon.
    • Swan.
    • Maxim.


erhalten. Nachdem man ſo einen Satz gleicher Faſern präpariert hat,
ſtellt man ſie in Blöcke zuſammen und ſchneidet ſie ſo, daß ſie endlich
die Geſtalt einer ſchmalen Bambusfaſer mit Verdickungen an den Enden
annehmen, mit denen ſie ſpäter an die Zuleitungsdrähte angeheftet
werden. Die Faſern werden hierauf in die gewünſchte Form gebogen,
nämlich die eines Hufeiſens, und durch Erhitzung bis zur Weißglut
unter Luftabſchluß in Öfen verkohlt. Dann werden ſie mit ihren
Platinhaltern galvaniſch verbunden, um eine durchaus gute Verbindung
herbeizuführen, und ſchließlich in die Glasglocken gebracht. Dieſe letzteren
werden wiederholt luftleer gepumpt, während die in ihnen enthaltene
Faſer immer wieder durch einen elektriſchen Strom auf eine ſehr hohe
Temperatur erhitzt wird, nachdem man ſie dazwiſchen immer wieder
hat abkühlen laſſen. Dadurch wird die Luft und jedes andere in
ihnen noch enthaltene Gas freigemacht, und außerdem werden die
Faſern dabei noch einer ſcharfen Probe unterworfen, welche nur die
ganz geſunden aushalten können, und ſchließlich erhält man eine dem
beabſichtigten Zweck angepaßte, einer langen Ausdauer fähige Faſer.
Die Dicke der Kohle in den gewöhnlichen Ediſonſchen Glühlampen iſt
[182]Die elektriſchen Erfindungen.
0,1 bei einer Breite von 0,2 Millimetern, die Swanſchen Kohlenfaſern
beſitzen einen Querſchnitt von ¼ Millimeter Durchmeſſer und dabei
erhält man ſie überall von derſelben Dicke, weil gerade durch das
vorherige elektriſche Glühen ein Ausgleich des Widerſtandes durch die
ganze Länge herbeigeführt wird. Das iſt auch durchaus notwendig,
denn von dem Widerſtande, den der Faden an den einzelnen Stellen
ſeiner Länge leiſtet, hängt offenbar auch der Grad der Erwärmung
und damit auch die Farbe des Lichtes ab, das er dort ausſendet.
Derſelbe Strom wird die Stellen von geringem Widerſtand nur zur
Rotglut erwärmen, während er die mehr widerſtehenden in gelber Farbe
leuchten läßt oder gar zu heller Weißglut erhitzt. Es iſt aber offenbar
nötig, daß der Faden durch die ganze Länge mit demſelben Farbentone
leuchte. Dieſer Ton ſelbſt wird außer von dem Widerſtande, den die
Glühlampe leiſtet, hauptſächlich von der Spannung des durchgehenden
Stromes abhängen. Dieſe beträgt bei den gewöhnlichen Ediſonlampen
über 100 Volt, bei den Swanſchen nur die Hälfte, wogegen die Strom-
ſtärke der erſteren nur ½ Ampère, diejenige, welche die letztere erfordert,
mehr als 1 Ampère beträgt. Hieraus läßt ſich auch auf die Wirkſamkeit
und die Teuerkeit des Glühlichtes ein Schluß ziehen, freilich nur ein
ganz allgemeiner, da die Koſten für die verbrauchte Kraft ſehr ver-
ſchieden ſind und ſich z. B danach richten, ob Waſſerkräfte zum Treiben
der Dynamomaſchinen ſich darbieten oder nicht. Wenn wir aber eine
beſtimmte Gasmenge einmal verwenden, um mit ihr eine Kraftmaſchine
zu treiben, die auf eine Dynamomaſchine wirkt und einen Strom durch
eine Reihe von Glühlampen ſchickt, und andererſeits das Gas direkt ver-
brennen, um es als Leuchtkörper zu benutzen, ſo ergiebt ſich, daß die
erzielten Wirkungen im erſten Fall drei Mal ſo groß, als im zweiten
ſind. Wenn trotzdem heutzutage die Koſten des elektriſchen Lichtes
ſich noch höher als die des Gaslichtes ſtellen, ſo liegt das nur an
der erſten Ausgabe und den Koſten der Inſtandhaltung der Gas- und
der Dynamomaſchine.


Die Glühlampen ſind den an ſie geſtellten Aufgaben in hohem
Grade angepaßt. Während ſie bei voller Leuchtkraft in Weißglut ſind,
kann man durch Einſchalten eines größeren Widerſtandes, wie man
ihn künſtlich aus Metalldrähten erhält, ſie auf gedämpftes gelbes
oder auf rotes Licht beſchränken. Die Zuleitung des Stromes zur
Lampe kann durch lockere Drähte erfolgen, dann iſt dieſelbe leicht
tragbar und man kann mit ihr überall hinleuchten. Feuersgefahr
erſcheint bei ihnen abſolut ausgeſchloſſen, weil der Kohlenfaden unter
Luftabſchluß glüht und nur wenn die Glasglocke durch einen unglück-
lichen Zufall zerbrechen ſollte, mit äußeren Gegenſtänden in Berührung
käme; aber dann wird er ja ſofort durch die Anweſenheit der Luft
verzehrt, der Strom wird ſofort unterbrochen und die Glut erliſcht.
So ſind ſie an ſolchen Stellen beſonders brauchbar, wo ſonſt der
Feuersgefahr wegen der Gebrauch von Lampen möglichſt umgangen
[183]Die Erfindung des elektriſchen Lichtes.
wurde; in Sprengſtofffabriken werden ſie ſich nützlich machen und in
den Gruben der Bergwerke als die allein gegen ſchlagende Wetter
ſicheren Leuchten ſich einführen. Die Feuersgefahr in den Theatern
iſt ganz beträchtlich eingeſchränkt worden, ſeitdem man ſich zur Er-
leuchtung der Bühne und des Zuſchauerraumes immer ausſchließlicher
der Glühlampen bedient. Gerade in der Theatertechnik aber ſind ſie
von den wunderbarſten Wirkungen. Eine allen Anforderungen der
Neuzeit genügende Bühnenbeleuchtung muß derart eingerichtet ſein,
daß man jeden Teil der Bühne beliebig ſtark und mit beliebig gefärbtem
Lichte beleuchten kann, und man muß es in der Hand haben, von
jedem beſonderen Lichteffekte ſtetig, ohne für das Auge des Zuſchauers
wahrnehmbare Sprünge, auf eine andere Belichtungsart, beiſpielsweiſe
vom Tageslichte auf Gewitterbeleuchtung, Abenddämmerung, Mondlicht
überzugehen. Für dieſen Zweck hat der Obermaſchinen-Inſpektor Brand
des Berliner Opernhauſes ein beſonderes Syſtem erfunden, welches
für die Praxis ſich als völlig genügend herausgeſtellt hat. Während
man früher vor die weißen Lampen beſonders gefärbte Gläſer ſetzte,
bringt man jetzt bereits von vorn herein auf der Bühne eine Reihe
von Lampengruppen an, deren Mitglieder zu je einem Drittel in
weißen, roten und blauen (oder grünen) Gläſern ſitzen. Nun kann
die Lichtſtärke der gleichfarbigen Lampen einer Gruppe von einem
Punkte aus, der hinter der Bühne liegt, aber einen Überblick derſelben
geſtattet, leicht reguliert werden. Man braucht dazu nur einen paſſenden
Widerſtand in die Leitung einzuſchalten, was ein Angeſtellter mit
Leichtigkeit durch einen Bühnenregulator beſorgt. Damit kann man
die Lichtfärbung und den Helligkeitsgrad jedes Satzes ſo regulieren,
daß er eine ins Unbegrenzte gehende Veränderungsfähigkeit erhält.
Die Regulierwiderſtände können durch Drehen von Kurbeln ein- und
ausgeſchaltet oder die Lichter eines Satzes ganz ausgelöſcht werden.
Erſtaunlich ſind die Anwendungen dieſer Beleuchtung. Wir finden ſie
im Helme des Tauchers, der nun ſeine Hände nicht mehr mit einer
Lampe zu beſchweren braucht; der Strom wird ihm vom Schiffe durch
gut iſolierte Drähte zugeſandt. Wir begegnen ihr in den Wagen der
Eiſenbahnen, ſo zwar zunächſt nur in denen der Jura-Simplonbahn und
der Schnellzüge von Paris nach Havre. Statt der ſchweren Dynamo-
maſchinen braucht die Lokomotive nur beſondere, ſpäter zu beſchreibende
Batterien, die ſogenannten Akkumulatoren, mitzunehmen und jeder
Fahrgaſt kann an ſeinem Platze ſich die paſſende Beleuchtung ſchaffen.
Dabei wird jenes unbequeme Anzünden der bisher gebräuchlichen
Pintſchſchen Fettgaslampen von der Decke des Wagens her geſpart.
Wo die Beleuchtung wegen vorhandener Waſſerkräfte ſich billig ſtellt,
in den Thälern der Alpen z. B., hat ſie feſten Fuß gefaßt, und wir
vernehmen, daß die nördlichſte Stadt der Erde, das kleine Hammerfeſt,
ſich den Erſatz für das ihr monatelang mangelnde Sonnenlicht jetzt
durch eine elektriſche Anlage für die Speiſung von Glühlampen in den
[184]Die elektriſchen Erfindungen.
Straßen und Häuſern ſchaffte, für die eine nahe Stromſchnelle die
Kraft liefert. So brannte im letzten Winter das Licht auf den Straßen
ununterbrochen vom 18. November bis zum 23. Januar, während das
Werk vom 16. Mai bis zum 26. Juli feiern konnte, weil in dieſer Zeit
die Sonne nicht unterging. Doch ſehen wir uns jetzt nach der andern
elektriſchen Leuchte, dem Bogenlichte, um!


Dasſelbe wurde zuerſt 1813 von dem engliſchen Chemiker Davy
dargeſtellt. Er leitete dazu den Strom von 2000 Voltaſchen Elementen
durch zwei Kohlenſtifte, die einander an ihren Enden berührten. Der
Widerſtand iſt natürlich gerade an ſolchen zugeſpitzten Enden beſonders
ſtark und daher wurden ſie in Glut verſetzt. Sie blieben aber leuchtend,
wenn man ſie jetzt von einander langſam entfernte, während doch der
Batterieſtrom keineswegs jene hohe Spannung aufwies, die nötig iſt,
damit ein Ausgleich der Elektrizitäten durch die Luft erfolgen könne.
Der Widerſpruch löſt ſich leicht, wenn man bedenkt, daß der Strom
kleine Kohleteilchen abreißt, die dann eine faſt ununterbrochene Ver-
bindung zwiſchen den beiden Kohlen herſtellen. Wiewohl der Wider-
ſtand bedeutender iſt, wird er doch vom Strome überwunden, es bildet
ſich eine weißglühende Lichtbrücke in der Luft, und dieſelbe bricht erſt
dann, wenn die Entfernung der Spitzen zu groß geworden iſt. Dieſer
glühende Bogen hat dem Lichte den Namen gegeben. Wir haben in
ihm die höchſte Hitze, die wir künſtlich herzuſtellen fähig ſind, und
ein Licht, das eben nur dem des Tagesgeſtirns an Helligkeit nachſteht.
Die Kohlen, die als Träger des Lichtes dienen, ſind hier mit viel
geringerer Mühe zu beſchaffen, als die feinen Fäden der Glühlampen.
Bei der Gasfabrikation bleibt in den Retorten ein Rückſtand von Koks,
der gerade als Herſtellungsmaterial für die Bogenlichtkohlen geeignet
iſt. Offenbar wird dieſes Licht recht viele Unterſchiede gegen das
Glühlicht aufweiſen. Einmal wird bei dem vielmal größeren Wider-
ſtande, den die Lampe leiſtet, der Strom viel höher geſpannt ſein müſſen.
Die zugeführte Wärme wird andererſeits nicht blos den Flammenbogen
in Glut erhalten, er wird auch im Beiſein der Luft die Kohlen zur Ver-
brennung bringen, und wenn auch dies bei der allzu hoch geſteigerten Hitze
in keinem großen Umfange geſchehen kann, ſo wird doch ein anderes die
allmähliche Aufzehrung der Lichtträger bewirken. In jenen glühenden
Kohlenteilchen, welche den Lichtbogen bilden, wird den Kohlen viel
Material entzogen, und zwar hat ſich herausgeſtellt, daß die Kohle,
an der der Strom eintritt, einer viel größeren Stoffmenge beraubt
wird, als diejenige, an der er aus dem Lichtbogen austritt. Die
erſtere verliert ihre Spitze und höhlt ſich allmählich aus, während die
andere dauernd ihre Form behält, obgleich ſie auch etwa die Hälfte
jenes Stoffes verliert, den die erſtere abgiebt. Dieſer Verluſt an
Material führt zu einer Verkürzung der Kohlen und da der Lichtbogen
nicht über eine gewiſſe Grenze wachſen kann, ohne zu zerreißen, ſo
muß man Vorkehrungen treffen, welche die Kohlen immer um ſoviel
[185]Die Erfindung des elektriſchen Lichtes.
nähern, als ſie durch das Verbrennen verkürzt wurden. Dieſer Apparat
wird zugleich auch die Trennung der Kohlen in den erſten Momenten
des Aufleuchtens zu bewirken haben, damit der Lichtbogen ſich bilden
könne. Nur wenn ein ſolcher guter Regulierapparat beigegeben iſt,
wird auch der Widerſtand, den der Licht-
bogen dem Strome entgegenſetzt, immer
derſelbe bleiben können, während ſonſt
mit dem Widerſtande auch die Leucht-
kraft der Lampe eine fortwährende
Änderung erführe, wie wir auch bei
ſchlechter Regulierung ein fortwähren-
des Flackern und eine ruckweiſe Ver-
änderung des Lichtes wahrnehmen.


Sehr geiſtreiche Erfindungen ſind
gemacht worden, um die Beſtändigkeit

Figure 126. Fig. 133.

Elektriſche Bogenlampe.


Figure 127. Fig 134.

Regulator für Bogenlampen
von Schuckert \& Co.


[186]Die elektriſchen Erfindungen.
des Lichtbogens zu garantieren. Die erſte regulierte Bogenlampe
konſtruierte Dubosq. Wir bilden hier diejenige ab, welche Krizik \& Piette
vor einigen Jahren erfunden haben, und die von Schuckert in Nürnberg
gebaut wird. Die Lampe ſelbſt iſt in Fig. 133 zu ſehen. Die Kohlen-
ſpitzen ſtehen einander in dem unteren Teile des Apparats gegenüber,
welcher mit einer Hülle von Milchglas umgeben iſt, um nicht die
ganze Fülle blendenden Lichtes in unſer Auge gelangen zu laſſen.
Das Glas wiederum iſt, um beſſer Widerſtand leiſten zu können, mit
einem Drahtgeflechte umgeben. Die Reguliervorrichtung ſitzt in einem
darüber ſichtbaren Metallzylinder, der des ſchöneren Ausſehens halber
auswendig ornamentiert wird. Beim Aufhängen werden die Lampen
entweder zum Abhaken eingerichtet oder mit einem Gegengewichte ab-
balanciert, damit man ſie jederzeit zu einer Erneuerung der Kohlen-
ſtifte herablaſſen könne. Den ſehr einfachen und wirkſamen Regulator
zeigt die Fig. 134. Wir ſehen die beiden Kohlen einander gegenüber-
ſtehen. Die obere, bei welcher der Strom eintritt, hat den doppelten Quer-
ſchnitt wie die untere, bei der er austritt. Dadurch wird — weil der Licht-
bogen von der unteren Kohle halb ſoviel verzehrt, wie von der oberen
— erzielt, daß beide Kohlen um gleiche Längen abbrennen. Die
Hauptleuchtkraft des Bogenlichts ſitzt immer dort, wo der Strom ein-
tritt, durch eine dickere untere Kohle würde uns alſo auch zuviel von
dem Lichte der oberen entzogen werden, und das iſt der andere Grund,
warum die untere dünner iſt. Beide Stifte ſitzen in Metallhülſen,
die an beſonderen Trägern angebracht ſind. Mit dieſen wieder
ſind Stangen aus weichem Eiſen verbunden; beide hängen an einer
Schnur, die um ein Rad geſchlungen iſt. Infolge dieſer Aufhängung
legen beide Kohlen immer gleiche Wege zurück und zwar gehen gleich-
zeitig die eine nach unten und die andere nach oben. So bleibt
der Lichtbogen während der geſamten Branddauer ſtets an derſelben
Stelle und der wirkſamſte Teil der Lichtquelle wird ſich demnach
in die günſtigſte Stelle zu der Glocke oder auch zu einem Spiegel
bringen laſſen, der das Licht weit fortwerfen ſoll und wie wir ihn
ſpäter im Scheinwerfer kennen lernen werden (vergl. „Sicherung der
Schifffahrt“). Wie wird nun der Lichtbogen gerade immer in der-
ſelben Länge erhalten? Dazu dienen die beiden Drahtſpulen, welche der
Strom paſſieren muß. Die eine Hauptſpule enthält dicken Draht in
verhältnismäßig wenigen Windungen, während die Nebenſpule deren
viele aber ſehr dünne beſitzt. Wenn der Strom ſie durchfließt, ſo nehmen
ſie magnetiſche Eigenſchaften an und ziehen dann die Eiſenkerne in ſich
hinein. Die Stellung dieſer wird alſo nicht allein durch ihre Schwere
bedingt ſein, ſondern auch von der Kraft der beiden Drahtſpulen ab-
hängen. Die Anziehungskräfte beider Spulen wirken einander ent-
gegen; die Hauptſpule, wird ein Auseinandergehen, die Nebenſpule,
ein Zuſammengehen der Kohlenſpitzen herbeizuführen ſtreben. Findet
der Strom bei zu kleinem Lichtbogen einen zu geringen Widerſtand,
[187]Die Erfindung des elektriſchen Lichtes.
ſo wird er zu ſtark, die Hauptſpule wird die Übermacht haben und
den Lichtbogen vergrößern; iſt der Lichtbogen aber zu groß, ſo wächſt
die Spannung des Stromes, und dann hat die dünndrahtige Spule
die Oberhand und bewirkt eine Verkürzung des Bogens. So gleichen
ſich ſtets die Änderungen im Lichtbogen ſofort wieder aus. Dies iſt
nur einer von den vielen in der Praxis gebräuchlichen Lichtbogen-
bildern, der ſich dadurch auszeichnet, daß die Lampen in jede mögliche,
ſelbſt in horizontale Lage gebracht werden können, alſo für die Be-
leuchtung im Freien und in Bahnhofshallen, wo die Lampen dem
Winde ausgeſetzt ſind, ſowie auf Schiffen von Vorteil iſt. Andere
Vorrichtungen ſind den beſonderen Arten von Schaltungen der Lampen
und von Zuleitungen des Stromes in eigentümlicher Weiſe an-
gepaßt, wie die 1879 von v. Hefner-Alteneck erfundene Differentiallampe,
die erſte, welche eine Verteilung des elektriſchen Stromes an viele
Lampen ermöglichte.


Ohne eine ſo verwickelte Anordnung hat bereits 1876 Jablochkoff
mit ſeiner elektriſchen Kerze die Regulierung des Lichtbogens erreicht.
Bei ihm ſtehen die Kohlenſtifte nicht einander gegenüber, ſondern
parallel zu einander, die Enden in gleicher Höhe, von einander durch
eine Miſchung von Gips und Schwerſpat iſoliert. Zwiſchen ihren
oberen Enden entſteht der Flammenbogen. Die beiden Kohlen werden
ſich nur dann gleichmäßig abnutzen, wenn man Wechſelſtröme hinein-
leitet. In dem Maße, als die Stifte abbrennen, ſchmilzt zugleich die
iſolierende Schicht weg, ſo daß ſich der Bogen immer wieder bilden
kann. Schwierigkeit macht hier freilich das Einleiten der Bogenbildung,
da man die Stifte einander nicht nähern kann. Man muß alſo durch
Aufdrücken eines dritten dünneren Kohleſtiftes zuerſt eine leitende
Verbindung herſtellen und wird nach dem Abbrennen deſſelben den
Lichtbogen aufleuchten ſehen.


Das Bogenlicht, ſonſt nur in großen Räumen und für die
Beleuchtung von Gärten und Straßen angewendet, bricht ſich jetzt
auch an anderen Stellen Bahn. So haben Sedlaczek und Wikulill
eine Lampe für Eiſenbahn- und Schiffsbeleuchtung gebaut, mit
denen in Öſterreich Verſuche gemacht wurden. Die Lampe wird am
Schornſtein einer Lokomotive befeſtigt und durch den Strom einer
Dynamomaſchine entzündet, die von der Lokomotive ſelbſt mit Kraft
verſorgt wird. Der Lokomotivführer kann durch einen hinter dem
Lichtbogen befeſtigten Spiegel die Bahnſtrecke weithin beleuchten, ſo
daß er die Signale deutlich bis auf ein oder zwei Kilometer erkennen
kann. Offenbar würde die Gefahr des Zuſammenſtoßes von See-
ſchiffen auch bedeutend vermindert werden, wenn man das Fahrwaſſer
mit Bogenlicht beleuchtete, das, wie kein anderes, ſelbſt zur Durchdringung
des dichteſten Nebels geeignet iſt. Dort, wo Lokomobilen zur Feld-
arbeit benutzt werden, wird ſich vielleicht eine Art von Beleuchtungs-
wagen einführen, welche die Firma Siemens \& Halske neuerdings
[188]Die elektriſchen Erfindungen.
konſtruiert hat. Die während der Ernte beſonders koſtbare Arbeits-
zeit wird auch auf den Abend ſich ausdehnen laſſen, wenn man
für genügende Helligkeit ſorgt. Solche liefern eben die genannten
Apparate. Sie enthalten auf einem Wagen eine Dynamomaſchine,
die von der Lokomobile aus durch eine Transmiſſion in Thätigkeit
geſetzt werden kann und drei Bogenlampen, ſowie einige Glühlampen
mit Strom verſorgt. An anderen Stellen werden wir die Anwendung
des elektriſchen Lichtes auf Leuchttürmen und für die elektriſchen Schein-
werfer beſprechen (vergl. „Sicherung der Schifffahrt“).


e) Die elektriſche Kraftübertragung.


Frühere Anſichten und Beſtrebungen.

In dem Kapitel über Dynamomaſchinen ſahen wir, daß jeder
ſolcher Apparat ſich zugleich als Motor verwenden läßt, der wie ein
Dampf- oder Gasmotor für den Betrieb von Arbeitsmaſchinen geeignet
iſt. Man braucht ihm nur von einer primären Maſchine Strom zu-
zuſenden, ſo wird er in Bewegung geſetzt. Dieſes Zuſchicken von
Elektrizität erſcheint uns ohne alle Schwierigkeit. Man hat ja in den
Metallen vorzügliche Leiter, jeder Metalldraht wird alſo geeignet ſein,
die Kraft auf jede beliebige Entfernung zu übertragen. Leider ver-
hält ſich die Sache anders. Zunächſt nämlich muß die Leitung durch
eine vorzügliche Iſolation gegen die Umgebung geſchützt ſein, ſonſt
wird zu viel Elektrizität dorthin überfließen. Bei den Telegraphen-
leitungen, in denen auch nichts anderes als die Elektrizität fließt, ſind
die Drähte an beſonderen Porzellannäpfen angebracht, die ihrerſeits
erſt wieder an den Holzſtangen befeſtigt ſind. Das Porzellan hat eine
ſehr geringe Leitungsfähigkeit. Aber auf ſeiner Oberfläche ſchlägt ſich
ſtets aus der Atmoſphäre eine dünne Schicht von Waſſer nieder, die
immer ſchon etwas Elektrizität aus dem Drahte über die nicht beſonders

Figure 128. Fig. 135.

Öl-Iſolatoren.


ſchlecht leitenden Holzſtangen zur Erde
führt und damit bei der großen Zahl von
Stangen in einer viele Kilometer langen
Leitung einen anſehnlichen Stromverluſt
herbeiführt. Beim Telegraphieren hat das
nicht viel zu ſagen; die dazu erforder-
liche Kraft iſt gering, aber wo es ſich um
die Übertragung ſtarker Kräfte handelt, mit
denen zu ſparen iſt, da wird man die jetzt an
Verbreitung ſehr zunehmenden Öl-Iſola-
toren anwenden, von denen unſere Fig. 135
drei an einem Holzkreuze befeſtigte zeigt.
Der oben abgebildete Querſchnitt läßt er-
[189]Frühere Anſichten über die elektriſche Kraftübertragung.
kennen, daß ſie inwendig Rinnen haben, die mit Öl gefüllt werden.
Das Öl aber iſt der vollkommenſte Iſolator, den man bis jetzt hat.
Was das Holzkreuz bedeutet, wird uns bald klar werden.


Woraus ſoll man die Leitungen herſtellen? Natürlich aus einem
möglichſt vollkommenen Elektrizitätsleiter. Da iſt vor allem das Kupfer
brauchbar, das dem beſten Leiter, dem Silber, an Billigkeit ſo viel über-
legen iſt. Für die Leitung geringerer Kräfte iſt ſelbſt Eiſendraht völlig
ausreichend, in ihm erblicken wir den üblichen Vermittler telegraphiſcher
Depeſchen. Nachdem die elektriſche Beleuchtung einen größeren Umfang
angenommen hatte, beſonders für die Leitung aus den Kraftzentralen der
Großſtädte, mußte man auch für die Beleuchtungszwecke wohl oder übel
von der oberirdiſchen Stromleitung zur unterirdiſchen übergehen. Dieſe
Leitungen oder Kabel ſollen bequem verlegt werden können, dazu muß
man beſonders, wenn die Leiter einen großen Querſchnitt haben, eine
Reihe von dünnen Drähten zu einem Seile verbinden. Dadurch erreicht
man erſt die nötige
Biegſamkeit des Leiters
trotz ſeiner Dicke. Wir
bilden hier ein ſolches
Kabel ab, das Patent-
bleikabel, welches ſeit

Figure 129. Fig. 136.

Aufgewickeltes Bleikabel von Siemens \& Halske.


etwa vier Jahren von Siemens \& Halske eingeführt wurde. Rechts iſt
das Kupferſeil ſichtbar, aber was bedeuten die teilweiſe zurückgeſchlagenen
und entfernten Hüllen, die es umſchließen? Da iſt zu innerſt ein Blei-
mantel, welcher unter einem ſehr hohen hydrauliſchen Drucke von
2500 Atmoſphären eng um die Kabelſeele herumgepreßt wurde. Er
ſoll die Zuleitung der Erdfeuchtigkeit zu dem Leiter verhindern. Wo
dieſes Kabel direkt in den Erdboden verlegt werden ſoll, kommt nach
einer Umwickelung mit Papier eine theergetränkte Umſpinnung herum
und ſchließlich, um es bei Erdarbeiten gegen Verletzungen zu ſichern,
eine Umhüllung, die aus zwei ſich überdeckenden Eiſenbandſpiralen von
mm Dicke beſteht. So ein Kabel entſpricht ſchon den hohen
Anforderungen, welche an die Iſolation und die Dauerhaftigkeit der
Leitung zu ſtellen ſind. Es iſt nicht möglich, dieſelben über gewiſſe
Längen hinaus anzufertigen: da man nicht wohl kilometerlange Leiter
von einem beſtimmten Querſchnitte transportieren kann, ſo müſſen die
gelieferten Enden noch unter Berückſichtigung des Schutzes dieſer Be-
rührungsſtellen und der Iſolierung verbunden werden. Dazu dienen
Muffen von der Art, wie wir ſie umſtehend abbilden; die Kupferſeile werden
dort durch Verſchrauben mit einander verbunden und die Muffen dann
mit dem iſolierenden Material ausgegoſſen. Die ſogenannte T-Muffe
in unſerer Fig. 137 zeigt, wie ſich der Anſchluß der Hausleitungen an
das Kabelnetz darſtellt.


Leider iſt noch eine andere Schwierigkeit dabei, die alle Verſuche
der elektriſchen Kraftübertragung ſeit den Tagen Voltas lange unmöglich
[190]Die elektriſchen Erfindungen.
und erſt in den letzten Jahren in größerem Umfange praktiſch aus-
führbar machte. Noch im Jahre 1877 wurde die Elektrizität für un-
fähig gehalten, ſich zu einer Wirkung von vielen Pferdeſtärken ſteigern

Figure 130. Fig. 137.

T-Muffe zur Verbindung von Kabeln.


zu laſſen, und eine Äußerung, die
William Siemens damals that,
wurde für kaum mehr als die
Ausgeburt einer lebhaften, von
der kritiſchen Vernunft verlaſſenen
Phantaſie gehalten. Dieſer Aus-
ſpruch lautete: „Die Zeit wird
uns wahrſcheinlich Mittel weiſen,
um Kraft auf große Entfernungen
zu übertragen. Ich kann nicht umhin, auf eines hinzudeuten, das
meiner Anſicht nach beachtenswert iſt, nämlich den elektriſchen Leiter.
Nehmen wir an, eine Waſſerkraft werde angewendet, um eine Dynamo-
maſchine in Bewegung zu ſetzen, ſo wird ein ſehr kräftiger Strom
entſtehen, der durch einen großen metalliſchen Leiter auf eine große
Entfernung übertragen und ſo eingerichtet werden kann, daß er dort
Elektromotoren treibt, die Kohlenſpitzen elektriſcher Lampen in Glut
verſetzt oder die Metalle aus ihren Verbindungen abſcheidet. Ein
Kupferdraht von 76 mm Durchmeſſer könnte 1000 Pferdekräfte auf
eine Entfernung von — ſagen wir — 50 km übertragen, ein
Betrag, der genügen würde, eine Viertelmillion Normalkerzen (ent-
ſprechend 16000 Ediſonlämpchen) zu verſehen, was zur Beleuchtung
einer großen Stadt genügen würde.“ Wie ſich William Siemens die
Sache dachte, würden die Koſten des Kupfers für das eine Zuleitungs-
kabel nicht weniger als 4 Millionen Mark betragen, und ſchon deshalb
mußte die Idee für unausführbar gelten. Aber wie kam der berühmte
Techniker gerade auf einen ſo dicken Leiter? Iſt nicht die Elektrizität
auch in dünneren Drähten leitbar? Wir wiſſen ſchon, daß dieſelbe
beim Durchgange durch einen dünnen Leiter einen größeren Widerſtand
erfährt, daß dabei der Draht erwärmt wird und infolge deſſen Kraft
verloren geht. Es iſt, wie wenn Waſſer unter einem beſtimmten Drucke
durch eine Waſſerleitung fließt. Durch ſeine fortwährende Reibung an
den Wänden der Röhre büßt es offenbar an Kraft ein und beſitzt am
Ende ſeines Laufes lange nicht die Wirkungsfähigkeit, die ihm am
Anfang zukam. Es iſt am Ende der Leitung noch als Waſſer zu
verwenden, aber es iſt möglich, daß es nur ſo wenig Druck beſitzt,
um als Krafterzeuger unbrauchbar zu ſein. Dem Drucke des Waſſers
entſpricht die Spannung der Elektrizität. Von dieſer geht beim Durch-
gang durch den Leiter immer eine beſtimmte Anzahl Volt verloren,
die eben zur Überwindung des Leitungswiderſtandes dient, in engen
Drähten natürlich mehr als in dicken Drähten. Es giebt alſo offenbar
zwei Mittel, um dieſen Verluſten vorzubeugen, entweder man verwendet
recht dicke Drähte, wie das Siemens vorſchlug, oder man erhöht die
[191]Frühere Anſichten über die elektriſche Kraftübertragung.
Spannung der für die Kraftübertragung beſtimmten Elektrizität. Denn
es iſt offenbar nicht gleichgültig, ob ein Strom, der nur 100 Volt
Spannung beſitzt, dieſe 100 Volt verliert, oder ob ein auf 1000 Volt
geſpannter Strom 100 Volt abgiebt. Der erſtere behält gar keine
Kraft übrig, der letztere hat nur ein Zehntel derſelben eingebüßt.
Beides hat offenbare Nachteile. Drähte von genügender Stärke, welche
ſchwache Ströme ohne bedeutenden Spannungsverluſt leiten, ſind
natürlich teuer, hochgeſpannte [Elektrizität] aber iſt lebensgefährlich für
jeden, der ſich dem Leiter nähert, denn die Elektrizität wird dann
ſelbſt durch eine gewiſſe Weite in der Luft ſich auszugleichen ſuchen
und dem menſchlichen Körper verderblich werden. Der letzte ſchwer-
wiegende Umſtand hatte Siemens veranlaßt, in dem obigen Beiſpiele
einen Strom von nur 200 Volt Spannung anzunehmen und demſelben
einen Verluſt von 60 % der mitgeteilten Leiſtungsfähigkeit zu geſtatten.
Aber bereits auf der Münchener Ausſtellung 1882 gelang es Marcel
Deprez zwei leergehende Dreſchmaſchinen durch eine Waſſerkraft zu
treiben, die in einer Entfernung von 5 Kilometern ſich zunächſt auf
die primäre Dynamomaſchine übertrug und, von dieſer in Elektrizität
umgeſetzt, durch Kupferdrähte der ſekundären Maſchine zugeleitet ward.
Nachts diente der Strom, um am Glaspalaſte und dem Königsplatze
elektriſche Lampen zu ſpeiſen. Ebenſo gelang es Deprez drei Pferde-
ſtärken durch ein paar gewöhnliche eiſerne Telegraphendrähte auf Ent-
fernungen bis zu 40 Kilometern fortzuleiten. Freilich gingen in dem
ſchlechten Leiter nicht weniger als 68 % von der Arbeitsfähigkeit der
Maſchine verloren; aber es war nicht mehr verlangt. Die Spannung
der Ströme hatte die Höhe von 2000 Volt. So verlor Siemens’ Idee
das Phantaſtiſche, das ihr zuerſt anzuhaften ſchien, und auch die eines
Mannes, wie des berühmten Phyſikers Sir William Thomſon, welcher
1879 durch Rechnungen feſtſtellte, daß durch einen Kupferdraht von
nur 12 mm Durchmeſſer 2100 Pferdeſtärken auf eine Entfernung von
500 Kilometern mit einer Stromſpannung von 80,000 Volt übertragen
werden könnten, wurde jetzt nicht mehr belächelt. Vielleicht kommt einſt
der Tag, wo man ſolche Elektrizität mit einer Schlagweite von 36 Zenti-
metern durch die Luft in Drähten übertragen wird.


Die hohen Koſten eines ſtarken Drahtes ließen die Elektrotechnik nicht
weiter gehen in den Verſuchen ſchwach geſpannte Elektrizität zu über-
tragen. Thomſon ſelbſt hatte in dieſer Beziehung ein praktiſches Geſetz
ausgeſprochen, welches offenbar von Deprez in ſeinen Verſuchen noch
nicht beachtet war. Wir können uns leicht eine Vorſtellung von dieſem
Geſetze verſchaffen. Die Koſten einer Pferdeſtärke darf man bei nicht zu
hohen Kohlenpreiſen und einer großen Dampfmaſchine auf 10 Pfennige für
die Stunde, alſo 1 Mark an einem zehnſtündigen Arbeitstage, d. h. im
Jahre auf 300 Mark veranſchlagen. Werden durch eine Leitung etwa
200 Pferdeſtärke übertragen, ſo macht das eine jährliche Ausgabe von
60,000 Mark. Mehr als dieſen Betrag dürfen demnach auch die
[192]Die elektriſchen Erfindungen.
jährlichen Zinſen der Anlage ſamt den Betriebskoſten nicht ausmachen,
ſonſt iſt eben eine Kraftquelle, an Ort und Stelle aufgeſtellt, zweck-
dienlicher. Man iſt alſo für die Übertragung auf hochgeſpannte
Elektrizität angewieſen, und es handelt ſich vor allem darum, eine
derartige Anlage zu machen, daß möglichſt viel von der zu über-
tragenden Kraft auch wirklich an den Beſtimmungsort gelange. Alſo
heißt es: die Drähte nicht zu dünn und die Spannung möglichſt hoch
zu wählen. Die erſte ſolche Anlage auf größere Entfernung, bei der die
zugeführte Kraft wenigſtens zu drei Vierteln an den Beſtimmungsort
gelangte, wurde nach den Angaben des Direktors Brown von der
elektriſchen Fabrik in Örlikon bei Zürich ausgeführt. Es handelte ſich
darum, die mittels einer Turbine in Kriegsſtetten gewonnene Waſſerkraft
von 30 bis 50 Pferdeſtärken nach dem 8 Kilometer entfernten Solothurn
zu leiten. Zwei Dynamomaſchinen gaben einen Strom von 1150 Volt
und 15 bis 18 Ampère, der mittels blanker Kupferleitungen von
6 mm Dicke nach den Motoren geleitet ward. Die Anlage iſt ſeit
Dezember 1886 dauernd in Betrieb.


Die Lauffener Übertragung.

Diejenige elektriſche Leitung, welche ſeit einem Jahre am meiſten
von ſich reden machte, iſt aber die von Lauffen am Neckar nach der
Frankfurter Elektrizitätsausſtellung hergeſtellte Kraftübertragung. Hier
legte die Elektrizität einen Weg von 175 Kilometern zurück und es
wurden nicht weniger als 300 Pferdeſtärken übertragen, und alles dies
geſchah in drei Drähten, die zwar nicht dicker als 4 Millimeter waren,
aber zuſammen immerhin die Kleinigkeit von 60,000 Kilogramm wogen.
Sie waren an jenen Öl-Iſolatoren angebracht, die wir kennen lernten;
mehr als 3000 Holzſtangen markierten den Weg und an jeder waren
immer drei Porzellannäpfe in der Anordnung, die wir in Fig. 135.
ſahen. Aber warum waren es gerade drei Drähte? Welche Spannung
mochte wohl der Strom haben, der in ihnen entlang ging, ohne
weſentliche Abſchwächung zu erfahren? Das ſind Fragen, die ſich
ſofort jedem aufdrängten, der von der wunderbaren Einrichtung hörte.
Beantworten wir zunächſt die zweite. Der Strom war auf nicht
weniger als 27,000 Volt geſpannt. Um wenigſtens einen kleinen
Begriff von einer ſolchen Spannung zu geben, bemerken wir, daß wir uns
dem Strome nicht auf weniger als 8½ Zentimeter nähern dürfen, ohne
einen gefährlichen Schlag zu erhalten, daß er im Stande iſt, ſchlechte
Leiter, die man in ihn einſchaltet, wie Glasplatten von mehreren Milli-
metern Dicke, zu durchbrechen. Wegen der Gefahren, die ſeine Nachbar-
ſchaft in ſich barg, war er auch in unerreichbarer Höhe entlang geführ’
Nun können in keiner Dynamomaſchine der Welt die Wickelungsdrähte
ſo von einander iſoliert werden, daß die Maſchine eine ſo hohe
Spannung vertrüge. Wie oben die Glasplatte, ſo könnten die Iſo-
[193]Die Lauffener Übertragung.
lierungen der Drähte von einem Funken durchbohrt werden, und wo
ein ſolcher einmal ſich einen Weg gebahnt hat, da wird ein fort-
währender Funkenſtrom ſich einniſten, wie das Bogenlicht die iſolierende
Luftſtrecke in einem fortwährenden Strome glühender Kohlenſtäubchen
durchbricht. Die Maſchine — ſagt man — hat jetzt Kurzſchluß, und
ihre Wirkſamkeit nach außen iſt ſehr herabgeſetzt. Am allerwenigſten
werden die bewegten Teile der Maſchine hochgeſpannten Strom ver-
tragen. Die Gleichſtrommaſchinen werden höchſtens für wenige hundert
Volt, die Wechſelſtrommaſchinen allerdings für 2000 Volt Spannung
gebaut.


Wie erhält man nun den hochgeſpannten Strom? Offenbar
durch das Mittel der Transformatoren, welches durch die vorzügliche
Iſolierung mit Öl auch für ſo gewaltige Spannungen ſeine Dienſte
nicht verſagt. Der Strom der Dynamomaſchine durchkreiſt die wenigen
dickdrahtigen Windungen der primären Spule des Transformators
und erregt in den viel zahlreicheren dünnen Windungen der ſekundären
Spule einen viel höher geſpannten Strom, der nun weiter geleitet
werden kann. Da der Strom bereits eine hohe Spannung beſitzen
muß, bevor er zur Transformierung gelangt und andererſeits Gleich-
ſtröme zu ihrer Verwandlung eines ſchwerer zu iſolierenden, weil nicht
ruhenden Transformators bedürfen, ſo war man folglich darauf an-
gewieſen, die Elektrizität einer Wechſelſtrommaſchine zu entnehmen.
Man hätte dazu eine von den beſchriebenen nehmen können, aber es
wurde bei der Lauffener Übertragung eine beſondere Art des Wechſel-
ſtromes gewählt, den man gewöhnlich als Drehſtrom bezeichnet. Wir
werden bald auf ihn zurückkommen. Vorerſt wollen wir unſere Leitung
noch bis nach ihrem Endziele verfolgen. Wie ſollte man ſie bei der
furchtbaren Spannung praktiſch weiter verwerten? Natürlich nur ſo,
daß man den Strom vorher wieder auf niedrige Spannung brachte,
indem man ihn in die dünne Leitung eines ganz ähnlichen Trans-
formators ſendete und aus der dicken Umwickelung den verwandelten
Strom zur ferneren Benutzung
entnahm. Erſt jetzt wird man
ihn einer als Elektromotor
zu verwendenden Dynamo-
maſchine zuſchicken dürfen, die
nun ihre Arbeiten verrichten
oder ihn zur Speiſung von

Figure 131. Fig. 138.

Schematiſche Darſtellung der Lauffener Übertragung.


elektriſchen Lampen benutzen kann. Die Anordnung iſt alſo die in der
ſchematiſchen Fig. 138 verzeichnete. Und nun zum Drehſtrom. Seine
Erklärung wird uns auch die Frage nach den drei Drähten beantworten.


Sehen wir uns zunächſt die in der Fig. 139 abgebildeten 6 Figuren
an. In allen erblicken wir einen Ring, den wir uns von Eiſen denken
wollen. Über ihn geſchoben ſind vier Spulen, von denen die gegen-
überſtehenden bei A und bei B mit einander verbunden ſind. Es iſt
Das Buch der Erfindungen. 13
[194]Die elektriſchen Erfindungen.
alſo ein Ringanker, bei dem nur nicht alle Spulen mit einander in
Verbindung ſtehen. Nehmen wir ferner an, daß durch A ein Strom
in der bei I verzeichneten Richtung fließe, ſo wird der Eiſenring zum
Magnet, der ſeine Pole bei N und S hat. Eine Magnetnadel im

Figure 132. Fig. 139.

Schematiſche Darſtellung der Wirkung des Drehſtroms.


Innern des Ringes wird ſich alſo ſo einſtellen, wie die Fig. 139 andeutet.
Jetzt laſſen wir den durch A fließenden Strom an Stärke abnehmen,
während wir gleichzeitig durch B in der angedeuteten Richtung einen
ebenſo ſtarken Strom ſenden. Wird dann nicht der Ring ein Magnet
bleiben, wenn auch ſeine Pole um ein Achtel des Kreisumfanges gewandert
ſind? Damit wird auch die Magnetnadel im Innern ihre Richtung
um ein Achtel einer vollen Umdrehung verſchieben. In einem dritten
Stadium wollen wir den Strom in B uns ſtärker angewachſen vorſtellen,
während der durch A gehende zu fließen aufgehört hat. Wieder hat
die Nadel ihre Richtung geändert, da auch die Pole des Kreismagnets
ihre Wanderung fortgeſetzt haben. Bei IV ſei der Strom A wieder
erſchienen, aber freilich von der entgegengeſetzten Richtung her kommend,
während der bei B ſeinen Wert ſo weit herabgeſetzt habe, bis er dem
andern gleich wird, wieder haben die Ringpole ihren Ort verlegt,
wieder hat die Magnetnadel eine Drehung ausgeführt. So könnten
wir weiter gehen und wir würden finden, daß zwei Ströme, welche
je ein Paar von dem Spulenkreuz durchfließen, wenn ſie in einem
ſolchen Rythmus ihre Richtung und Stärke ändern, in dem Eiſenringe
zwei einander gegenüberliegende Magnetpole auf die Wanderſchaft
ſchicken und einer Magnetnadel in ihrem Innern eine fortgeſetzte Drehung
erteilen. Wenn wir eine ſolche Einrichtung treffen könnten und recht
[195]Die Lauffener Ubertragung.
ſtarke Ströme wählen würden, ſo würden wir ſtatt der Magnetnadel
auch andere ſchwere Körper zu Drehungen veranlaſſen können, und
dieſe Drehung ließe ſich auf die einfachſte Weiſe zum Betriebe aller
möglichen Apparate verwenden. Wenn wir aber umgekehrt einen
ſtark magnetiſchen Körper innerhalb eines ſolchen Ringes in Um-
drehung verſetzen würden, ſo wäre die Folge, daß der Magnet in
den Spulen Ströme induziert, die gerade die Eigentümlichkeit beſitzen,
ſo gleichmäßig ihre Richtung und Stärke zu ändern, daß ſie niemals
beide gleichzeitig zu Null werden, ſondern daß der eine ſein Maximum
immer erreicht, wenn der andere Null wird. Denſelben Zweck würden
wir natürlich auch erreichen, wenn der Magnet feſtgehalten wird, und
der Ring um ihn herumgeführt wird, und auch wenn wir ſtatt des
innern Feldmagneten einen verwenden, deſſen Pole ſich außerhalb des
Ringankers befinden. Wir erhalten dann ganz die Einrichtung einer
Grammeſchen Maſchine, nur ſind die Spulen anders verbunden. Die
Fig. 140 zeigt, daß der Ring der ganz gewöhnliche Ringanker ſein
kann; von vier Punkten ſeiner Umwickelung gehen Verbindungsdrähte
C D E F nach vier verſchiedenen von einander iſolierten Metallringen
hin, die auf der Ringachſe ſitzen. Verbindet man für ſich D und C
oder F und E durch je einen Schließungsdraht, ſo werden beide Drähte

Figure 133. Fig. 140.

Schematiſche Darſtellung eines
Drehſtrom-Erzeugers.


Figure 134. Fig. 141.

Schematiſche Darſtellung eines
Gleichſtrom-Erzeugers.


bei der Drehung des Rings im magnetiſchen Felde gerade von ſolchen
rythmiſch auf und abgehenden Strömen durchfloſſen. Jeder Strom
für ſich iſt ein Wechſelſtrom, alſo läßt er ſich leicht transformieren.


Nehmen wir an, daß dieſe Ströme durch Bürſten, die auf den vier
Ringen ſchleifen, abgenommen ſeien und daß ſie jetzt in die vier Schleif-
ringe einer ganz ähnlich gebauten Maſchine eintreten, dann werden
den Ring dieſer Maſchine zwei Wechſelſtröme hinter einander umkreiſen,
und daher würden ſich, genau wie die Fig. 139 es lehrte, auch in dieſem
Ringe zwei Magnetpole ausbilden, die ihn ebenſo ſchnell durchlaufen
würden, wie der Ringanker der primären Maſchine von den ſeinigen
durchwandert wird. Nun ſei auch dieſe Maſchine mit Feldmagneten
verſehen, die aber vorerſt nicht von irgend welchem Strome erregt
ſind, ſondern nur unmagnetiſches Eiſen enthalten. Dann werden die
13*
[196]Die elektriſchen Erfindungen.
Pole des Ringankers ſich zu den Eiſenkernen hingezogen fühlen, ſich
ihnen gegenüberzuſtellen ſuchen, und da ſie ihre Lage im Ringe ändern,
ſo wird dieſes Beſtreben den Ring veranlaſſen, ſich entgegengeſetzt zu
drehen, damit die Pole immer ihren Ort gegen die Eiſenkerne behalten.
So ſetzt alſo die eine Maſchine die andere auch ohne Erregung der
Feldmagnete in Drehung, und das iſt die Eigenſchaft, derentwegen
man dieſe Stromverbindung als Drehſtrom bezeichnet. Die ſekundäre
Maſchine wird dieſes Beſtreben erſt dann völlig erfüllt haben, wenn
ſie ſich genau in demſelben Tempo wie die primäre dreht. Dann kann
man auch dazu übergehen, die Feldmagnete zu erregen. Die Wirkungen,
die ſie als Motor leiſten kann, ſind dann bedeutend größere. Man
kann dieſe Erregung der Feldmagnete entweder durch eine beſondere
Gleichſtrommaſchine beſorgen laſſen oder mit einem neben die vier
Schleifringe aufgeſetzten Gleichſtromabnehmer, welchen wir in Fig. 141
abbilden, aus dem Wechſelſtrommotor ſelbſt ſpeiſen. Daß die Dreh-
ſtrommotoren auch ohne beſondere Magnetiſierung der Feldmagneten
ſich in Thätigkeit ſetzen, das macht ſie für die Kraftübertragung beſonders
brauchbar.


Die Erfindung des Drehſtroms durch Galileo Ferraris in Turin
fällt in das Jahr 1888, und er wurde faſt zu gleicher Zeit auch von
Bradley und von Nikola Tesla in Amerika in die Praxis eingeführt.
Die Form, welche in Lauffen und Frankfurt verwendet ward, hat
ihnen der Ingenieur der Allgemeinen Elektrizitäts-Geſellſchaft v. Dolivo-
Dobrowolski gegeben. Es wurde dabei nicht ein Kreuz von vier,
ſondern ein Vielfaches von 6 Spulen auf einen Grammeſchen Ring
geſetzt, und dieſem konnten drei Wechſelſtröme entnommen werden. Die
drei Drähte waren es, welche dieſen Strömen als Leiter dienten. Die
Ausführung dieſes ſchwierigſten und großartigſten Verſuchs, der auf
dem Gebiete der Elektrotechnik je gemacht worden iſt, ſeit jene geheim-
nisvolle Naturkraft, die wir Elektrizität nennen, der Technik dienſtbar
gemacht wurde, hatten die eben genannte Geſellſchaft und die Maſchinen-
fabrik Örlikon gemeinſam übernommen, nachdem ihnen die erforderlichen
1200 Zentner Draht von Heſſe in Heddernheim leihweiſe überlaſſen
und in wenigen Tagen an Ort und Stelle geſchafft war. Die Anlage
ſelbſt beſteht aus folgenden Teilen. Die Portlandzementfabrik in
Lauffen ſtellte eine Turbine von 300 Pferdeſtärken zur Verfügung,
welche in der Minute 38 Umdrehungen macht. Durch eine Zahnrad-
übertragung wurde eine Drehſtrommaſchine getrieben, die einen drei-
fachen Strom von 50 Volt Spannung und 1400 Ampères lieferte.
Wir ſehen in der Fig. 142 die gewaltige Drehſtrommaſchine, eine Innenpol-
Maſchine mit rotierenden Feldmagneten, welche von der im Vordergrunde
ſichtbaren kleinen Gleichſtrommaſchine erregt werden. Die Figur zeigt
den Ring derſelben etwas nach rechts verſchoben. Der links abgebildete
iſt der Anker-Ring. Von hier ging der Strom in die Öltransformatoren
und zwar in Kabeln von 27 Millimeter Durchmeſſer, alſo von dem
[[197]]

Figure 135. Fig. 142.

Drehſtrommaſchine für die Lauffener Übertragung von der Fabrik Örlikon (Zürich).


[198]Die elektriſchen Erfindungen.
46 fachen Querſchnitt der ſpäteren Leitungsdrähte. Um ſo viel mehr hätte
die Leitung wiegen müſſen, wenn eben jene Verwandlung in den hoch-
geſpannten Strom unterblieben wäre, und dann hätte man ſchon wegen
der Koſten die Hand davon laſſen müſſen. Die Leitung ging nun über
die Öl-Iſolatoren, in welchen nicht weniger als 15 Zentner Öl verwendet
ward, nach Frankfurt. Dort gelangte der Strom in ſeinen verſchiedenen

Figure 136. Fig. 143.

Pumpwerk aus der Frankfurter Ausſtellung von Schuckert \& Co.


[199]Die Lauffener Übertragung.
Teilen wieder in Transformatoren. Ein Teilſtrom ſetzte ſeine Spannung
auf 100 Volt herab und ſpeiſte 1000 Glühlampen, das Übrige trieb
wieder mehrere Drehſtrommotoren mit 600 Umdrehungen in der Minute.
Der eine übertrug ſeine Drehung auf eine Pumpe, welche einen
Waſſerfall von 6 Meter Höhe verſorgte, und ſo ward ein Teil von
jener Kraft, die in Lauffen durch den Fall des Waſſers hervorgebracht
war, in Frankfurt verwendet, um einen neuen Waſſerfall zu erzeugen
— ein Kreislauf der Kräfte, wie wir ihn eben nur mit Hilfe der
Elektrizität herzuſtellen im Stande ſind. Ein Zeichen, in Frankfurt
gegeben, genügte, daß in Lauffen die Turbine in Bewegung geſetzt
wurde, in der Ausſtellung 1000 Glühlampen zugleich ihr Licht aus-
goſſen, die Pumpe ihre Arbeit und das Waſſer ſeinen Sturz begann.


Wir reproduzieren hier nach einem Photogramme eine andere
Einrichtung von der Frankfurter Ausſtellung, bei welcher freilich nur
ein Strom von 100 Pferdeſtärken von der Firma Schuckert \& Co. in
Nürnberg (Fig. 143) auf vier Kilometer übertragen wurde. Wir erblicken
links den Drehſtrommotor, der von dem ſo weit entfernten Palmengarten
her ſeinen Antrieb erhielt, und rechts eine Centrifugalpumpe, die mit
dem Motor ihre Achſe gemein hat, alſo ſofort in Thätigkeit trat,
wenn der Ringanker ſeine Drehung begann. Übrigens war der Verluſt
an Kraft bei der Lauffener Übertragung ein ſo geringer, wie man ihn
kaum erwarten durfte. Drei Viertel von der Leiſtungsfähigkeit der
Turbine waren als niedrig geſpannter Strom noch in Frankfurt zur
Verfügung.


Die elektriſchen Zentralanlagen.

Solche Verſuche berechtigen zu den kühnſten Hoffnungen für die
Zukunft. Überall liegen unbenützte Naturkräfte brach, die auf ihre
geeignete [Verwertung] warten. Der Sturz des fließenden Waſſers, das
Wehen der Winde, die Gewalt der Gezeiten, ſie ſind noch längſt nicht, auch
nur in einem geringen Bruchteil nutzbar gemacht, (vgl. auch S. 123) und
doch iſt die Elektrizität geeignet, wie kein Mittel ſonſt, die rohen Natur-
gewalten in dem Metalldrahte gebändigt an dem gewünſchten Orte
zu wohlthätiger Wirkung zu bringen. Neuerdings werden die erſten
Anfänge in dieſer Ausnutzung und Fortleitung gegebener Kräfte gemacht.
Die Lauffener Übertragung gab das Muſter einer Anlage, welche dem
Ausfluß der Adda aus dem Comerſee die Kraft entnehmen ſoll, die
in den Straßen Mailands nachts ein helles Licht verbreiten, am Tage
tauſend fleißigen Händen bei ihrer Arbeit helfen wird. Und ſo haben
auch jene 550000 Kubikmeter Waſſer, welche innerhalb jeder Minute
im Niagarafalle 70 bis 80 Meter herabſtürzen, die Augen der Techniker
längſt auf ſich gelenkt. Eine großartige, jetzt vollendete Turbinen-
anlage entzieht dem Falle eine kaum merkliche Waſſermenge und entnimmt
ihm dadurch 120000 Pferdeſtärken, während die Hälfte ſeiner Kraft
genügen würde, um fünf Sechſtel aller mit Kohle geſpeiſten Maſchinen
[200]Die elektriſchen Erfindungen.
der Welt zu treiben. So wird in dem Getriebe von vielen hundert
benachbarten Fabriken das furchtbare Getöſe des Niagara nachtönen
und die Stadt Buffalo wird nachts mit Tageshelle verſehen ſein durch
die bis jetzt ſo unbenutzt gebliebene leiſtungsfähigſte Naturkraft des
Erdballs. Es iſt nicht ausgeſchloſſen, daß den Beſuchern der Chikagoer
Ausſtellung im nächſten Jahre ein Teil von jener Kraft, die von dem
700 km entfernten Waſſerſturze geliefert wird, dort die Augen blenden
wird. Dazu braucht noch nicht der etwas abenteuerlich klingende Plan
des Engländers Swinburne ausgeführt zu werden, dem es gelungen
iſt, Spannungen von 130000 Volt in elektriſchen Strömen hervorzu-
bringen, und der bei dieſer hohen Spannung wenigſtens fünfzig Pferde-
ſtärken aus dem Niagara nach Chikago zu übertragen denkt.


Wie einſt zuerſt Sir William Armſtrong 1878 durch die Kraft eines
freilich kaum 20 Minuten entfernten Waſſerfalles ſein Haus in Cragſide
nachts mit Licht verſah und am Tage die Ekektrizität zur Hausarbeit ver-
wandte, ſo hält der amerikaniſche Elektriker Bruſh auf ſeinem Landgute bei
Cleveland mittels eines großen Windrades eine Dynamomaſchine in
Thätigkeit und erleuchtet ſein Haus dadurch mit 350 Glühlampen. Ihm
vorangegangen iſt freilich der Herzog von Feltre, der bei Havre die Kraft
des Windes ſeit einiger Zeit zur Lichterzeugung auf einem Leuchtturm ver-
wendet, und nachgefolgt iſt die Carvardineſche Mühle in London, die ſich
auch vom Winde mit Licht verſehen läßt. Die Ausnutzung der in der Ebbe
und Flut vorhandenen Kräfte hat am längſten auf ſich warten laſſen,
obgleich gerade ſie berufen zu ſein ſcheinen, bei der Zuverſicht, mit
der man ihrer regelmäßigen Wiederkehr entgegenſehen darf, in der
Zukunft eine große Rolle zu ſpielen. Decoeur in Havre und Diamant
in Melbourne haben wohldurchdachte Pläne ausgearbeitet, um die
bei der Flut gelieferte Waſſermenge in Reſervoirs unterzubringen und
ihr bei der Ebbe ſo viel Kraft des fallenden Waſſers zu entnehmen,
als eben nötig iſt. Der letztgenannte Ingenieur wird ſeine Motoren
fortlaufend und mit großer Kraft arbeiten laſſen, die Koſten für die
Eindämmung der Waſſerbecken werden bei ſeinem Syſtem ſich nicht zu
hoch belaufen. So werden wohl die Gezeiten bald berufen ſein, bei
der Löſung der mannigfachen Kulturaufgaben, welche die Gegenwart
ſtellt, mitzuarbeiten.


Es wird dem aufmerkſamen Leſer nicht entgangen ſein, daß alle
ſolche Anlagen, bei denen die Naturkräfte zur Mitwirkung herangezogen
ſind, einen Mangel aufweiſen. Die Waſſerkraft, welche bei normalem
Waſſerſtande zum Treiben der Maſchinen ausreicht, wird in beſonderen
Fällen auf ein ſo niedriges Maß herabſinken, daß ſie unbrauchbar
wird. Der Wind kann durch ſein Ausbleiben alle Pläne für die Aus-
nützung ſeiner Gewalt zu nichte machen. Ebbe und Flut haben
wenigſtens vor den genannten den Vorzug, daß ſich der Eintritt ihres
Wechſels vorherſagen läßt. Der Menſch darf ſich wenigſtens auf
jene ſo unberechenbaren Kräfte nicht verlaſſen, ſonſt begiebt er ſich
[201]Die elektriſchen Zentralanlagen.
desjeniges Anrechtes auf fortwährende Kraftverſorgung, welches ihm
im Übrigen die Fortſchritte der modernen Technik garantieren. Er
hat zwar das Mittel, vorzubauen. Das bei höherem Waſſerſtande
ohne Nutzen abfließende Material kann er in hochgelegenen Becken
aufſpeichern und für ſpäteren Bedarf ſeinem Sturze die nötige Kraft
entnehmen. Ebenſo läßt es ſich etwa denken, daß die überflüſſige
Windſtärke zum Spannen einer elaſtiſchen Feder, zum Aufwinden von
Gewichten, zum Pumpen von Waſſer verwendet werden kann, die zu
einer ſpäteren Gelegenheit ſich nützlich machen laſſen. Aber ſolche
Mittel ſind kompliziert und mit hohen Koſten verbunden im Vergleich
zu jenen, die die Elektrizität uns in den Akkumulatoren oder Sekundär-
batterien an die Hand giebt.


Schon im Jahre 1803 fand Ritter das Prinzip, auf dem dieſe
beruhen. Er leitete einen kräftigen galvaniſchen Strom in zwei Platin-
platten, die in einem Gefäße mit verdünnter Schwefelſäure hingen.
Der Strom trennt dann die Elemente des zerſetzbaren Leiters, das
Waſſerſtoffgas wendet ſich dem einen, der Sauerſtoff dem anderen
Platinblech zu, wo ſie ſich einige Zeit halten können, ohne von der
Flüſſigkeit aufgelöſt zu werden oder nach oben zu ſteigen. Wenn man
nun den Strom unterbricht und dafür die beiden Bleche durch einen
Schließungsgraht verbindet, ſo zeigt ſich, daß dieſen dann ein Strom
durchkreiſt, der dem vorigen entgegengeſetzt war, es ward durch den
Waſſerſtoff in der leitenden Flüſſigkeit eine elektromotoriſche Kraft er-
zeugt. Dies benutzte Sir William Grove 1841 um eine Waſſerſtoff-
batterie aufzubauen. Er brauchte nur viele ſolche Gefäße zu verbinden,
in denen durch Zerſetzung ſich Waſſerſtoff gebildet hatte und konnte
dadurch einen freilich immer noch ſchwachen Strom erhalten, der auch
nicht lange anhielt, aber zur Verrichtung geringerer Arbeiten ſich fähig
erwies. William Siemens erſetzte ſpäter das Platin durch poröſe
Kohle, die vorher mit Blei imprägnirt war. An dieſer Kohle wurde
durch einen Strom einer Zerſetzungszelle Sauerſtoff abgeſchieden, der
ſich vermöge ſeiner chemiſchen Verwandtſchaft mit Blei zu Bleiſuperoxyd
verband, und Siemens erhielt damit einen kräftigeren Strom. Damals
aber hielt man die Sache für praktiſch ſehr unwichtig, und ſelbſt als
der franzöſiſche Chemiker Planté 1860 ſeine Sekundärbatterie baute,
die auch aus Bleiplatten beſtand, an denen durch einen galvaniſchen
Strom vorher Bleiſuperoxyd gebildet war, und mit ihnen recht kräftige
Ströme erzeugte, da hielt man doch das Ganze nur für eine wiſſen-
ſchaftliche Kurioſität. Erſt nachdem die Dynamomaſchine eine vollendete
Thatſache geworden war, iſt dieſe Art von Kraftaufſpeicherung von
praktiſcher Bedeutung geworden. Hören wir, wie Planté ſeine Akkumu-
latoren, d. h. Sammler der elektriſchen Kraft ſich verſchaffte. Er rollte
zwei Bleiplatten mit einem zwiſchen ihnen liegenden Streifen aus
Kautſchuck ſo zuſammen, daß ſie ſich nicht berühren konnten, alſo von
einander völlig iſoliert waren. Wir haben dieſe Herſtellung in der
[202]Die elektriſchen Erfindungen.
Fig. 144 aufgezeichnet. Jetzt kommt die Doppelrolle in einen Bottich
mit verdünnter Schwefelſäure, und es wird ein Strom durch die eine
Bleiplatte in die Flüſſigkeit ein-, zur andern wieder herausgeleitet.
Da der Strom durch die Schwefelſäure geht, ſo wird er ſie zerſetzen

Figure 137. Fig. 144.

Plantés Akkumulator.


und an der Eintrittsſtelle des Stromes wird das Blei ſich allmählich
mit einem braunen Stoffe überziehen, der aus Bleiſuperoxyd beſteht
und aus dem entſtandenen Sauerſtoff, ſowie dem Blei der Platte ſich
gebildet hat. An der Austrittsſtelle des Stromes ſammelt ſich das
Waſſerſtoffgas, es bewirkt, daß die andere Platte ganz blank wird,
verläßt aber ſelbſt ſehr bald das Gefäß. Die verſchiedene chemiſche Natur
der beiden Platten erzeugt nun eine ſtarke elektromotoriſche Kraft in der
Flüſſigkeit und ſchickt durch einen, dieſelben verbindenden Schließungs-
bogen einen galvaniſchen Strom, wobei ſich das Bleiſuperoxyd all-
mählich in einen ſchwammigen Bleibelag verwandelt, und die andere
Platte einen Überzug von jenem Stoffe erhält. Iſt dieſe Umwand-
lung vollendet, ſo hat der Akkumulator ſeine Kraft erſchöpft und kann
durch Zuführung eines neuen Stromes wiederum geladen werden.
Dabei werden die beiden Platten wieder ihren Überzug austauſchen,
und wenn das Verfahren oft genug wiederholt iſt, ſo werden beide
Platten mit einem ziemlich tiefgehenden, ſchwammigen Gebilde über-
zogen ſein, das ſie jetzt zum praktiſchen Gebrauche geeignet macht.
Erteilt man jetzt dem Akkumulator eine Ladung, ſo iſt er im Stande,
durch dieſelbe längere Zeit einen kräftigen Strom zu geben. Durch
Vereinigung recht vieler ſolcher Sekundärelemente kann man ſchließlich
eine ſtarke Batterie erhalten, in welcher ſich eine große Arbeitskraft
aufgeſpeichert hat, die ſich zu jeder Zeit bequem weiter verwenden läßt.


Faure, ein franzöſiſcher Ingenieur, hat das Verfahren der
Akkumulatorenbildung mit großem Erfolge zu beſchleunigen geſucht.
Dazu überzieht er die Bleiplatten von vornherein mit einer Schicht
von Mennige, welches mit Stärkekleiſter zuſammen auf dieſelbe ge-
bracht wird. Leitet er dann einen Strom hindurch, ſo bildet ſich durch
dieſen an der einen Platte der Überzug von Bleiſuperoxyd, an der
[203]Die elektriſchen Zentralanlagen.
anderen aber ein ſehr in die Tiefe gehender Belag mit ſchwammigem
Blei, welches ſich mit ſeiner großen Oberfläche für die Aufnahme des
Sauerſtoffes ſehr geeignet erweiſt. Das fertige Element kommt, mit
einer Zwiſchenlage von Pergamentpapier oder Tuch bedeckt und zu
einer Rolle gebunden, in ein Glas-
gefäß, und iſt in der Fig. 145 darge-
ſtellt. Die Faureſchen Elemente können
ſchon eine dreimal ſo große Elektrizi-
tätsmenge für den ſpäteren Gebrauch
aufſpeichern, wie die Plantéſchen. In
neueſter Zeit ſind noch viele Abände-
rungen an ihnen angebracht worden;
ihre Anordnung zu beſonderen Zellen
wird in vielen Fabriken auf die ver-
ſchiedenartigſte Weiſe betrieben, und
wiewohl ſie noch nicht beſonders billig
ſind, ſo lohnt ſich doch ihre Anſchaffung
ſehr, wo es eben darauf ankommt, ſich
Kraft zum ſpäteren Gebrauch anzu-
chaffen. So wird bei jenen von Natur-
kräften betriebenen Dynamomaſchinen
ſtets, wenn von jenen Kräften ein
mehr als ausreichender Betrag zur
Verfügung ſteht, nicht blos die ge-
wöhnliche Arbeit, das Treiben von
Arbeitsmaſchinen und die Beleuchtung
verſehen, ſondern auch noch die Ladung

Figure 138. Fig. 145.

Faures Akkumulator.


einer Anzahl von Akkumulatoren beſorgt werden können. Wenn dann
einmal niedriger Waſſerſtand, zu ſchwacher Wind oder Flut die Be-
treibung der Kraftmaſchinen nicht zuläßt, ſo wird man ja die Speicher
zu öffnen, aus den Sekundärbatterien jenen Betrieb zu decken im
Stande ſein. So ſind die Akkumulatoren ſozuſagen die Sparbüchſen,
in denen ein ökonomiſcher Betrieb die zeitweiſe überſchüſſigen Mittel
aufſammelt, um ſie bei ſpäter gegebener Gelegenheit paſſend anwenden
zu können.


Man wird aber dieſe Sammler auch dann vorteilhaft anwenden,
wenn es ſich nicht gerade um die Aufſpeicherung roher Natur-
gewalten handelt, auch dann, wenn das Drehen der Dynamo-
maſchinen von Dampf- oder anderen Motoren beſorgt wird, wie es
in den elektriſchen Zentralen der großen Städte der Fall iſt. Um
mit einem Beiſpiel zu beginnen, ſo ſei die Arbeitszeit eines ſolchen
Werkes auf 18 Stunden des Tages beſchränkt. Nun werden aber zu
jeder Tageszeit wenigſtens an einzelnen Stellen Lampen zu brennen
haben, wenn auch nicht ſo viele als in der Nacht, ferner wird dafür
am Tage die Kraft für den Betrieb einer größeren Anzahl von Elektro-
[204]Die elektriſchen Erfindungen.
motoren zu beſchaffen ſein. Dann ſollten wir annehmen, daß die
Dynamomaſchinen zu jeder Zeit raſtlos arbeiten müßten, um dieſen
Aufgaben zu genügen. Aber wenn man zur Zeit der vollen Thätig-
keit des Werkes, die nicht für die Beleuchtung und Kraftverteilung
verbrauchte Elektrizität zum Laden von Sammlern verwendet, ſo werden
dieſe in den Zeiten der Ruhe des Kraftzentrums für ſich den Bedarf
an Strom zu decken im Stande ſein. Wäre es nicht äußerſt un-
ökonomiſch, wenn man alle Zeit alle Maſchinen in Thätigkeit haben
müßte? Wenn es angeht, die Zentrale Tag und Nacht ununterbrochen
arbeiten zu laſſen, ſo wird doch zu den verſchiedenen Tageszeiten ihre
Leiſtungsfähigkeit in verſchiedener Weiſe beanſprucht. Es mag Stunden
geben, wo für den Kraftverbrauch die Zahl der Umdrehungen der Haupt-
dynamomaſchinen bis über die Grenze deſſen ſteigen müßte, was ſie
vertragen kann, während zu anderer Zeit die geringſte Geſchwindigkeit
noch immer zu groß wäre im Verhältnis zu dem geringen Anſpruch
an Kraft. Iſt es da nicht weit geſcheiter, die Maſchine ſtets gleich-
mäßig laufen zu laſſen und die im letzten Falle in den Akkumulatoren
aufgeſpeicherte Kraft zu Zeiten, wo höhere Anſprüche geſtellt werden,
mit in Wirkſamkeit zu ſetzen, ſo daß ſie die Kraft der Maſchinen
unterſtützen? Man wird auf dieſe Weiſe ſich mit der Aufſtellung
kleinerer Maſchinen in den Zentralen genügen laſſen können, als ohne
die Anweſenheit der Sammler nötig wären, weil eben dieſe im Bedarfs-
falle den Hauptmaſchinen ihre Hülfe leihen.


Solche Zentralen giebt es jetzt in vielen Städten Deutſchlands. Als
die bemerkenswerteſte dürften wohl die Berliner Elektrizitätswerke gelten.
Fünf große Stationen ſind mit Gleichſtrommaſchinen ausgeſtattet und
übertragen ihre elektriſche Arbeitskraft durch ein Kabelnetz von zuſammen
612 Kilometer Länge auf die Lampen und Motoren, die in dieſes
eingeſchaltet ſind. Das Werk in der Mauerſtraße allein beſitzt eine
4800 Pferdeſtärken entſprechende Leiſtungsfähigkeit. Wie ſind nun die
Lampen und Motoren in dieſes Netz eingeſchaltet? Es ließe ſich denken,
daß etwa eine einzige geſchloſſene Leitung von Apparat zu Apparat geht,
und nachdem ſie den Weg durch alle gemacht hat, zu der Maſchine
zurückkehrt. Dann würde offenbar jede Stromunterbrechung, welche
in einer Lampe vorkäme, in allen Apparaten plötzlich die Zufuhr der
Elektrizität abſchneiden. Deshalb müſſen vielmehr von jeder Maſchine
zwei Leitungen ausgehen, deren eine — wenn es ſich etwa um Bogen-
lampen handelt — immer nur mit einer Kohle derſelben in Verbindung
ſteht, während die andere die anderen Kohlen mit einander verbindet.
Die beiden Leitungen müſſen freilich an einem fernen Punkte, außer-
halb der Lampen mit einander verbunden ſein, und man kann ſie
ſogar beide in demſelben Kabel führen, wenn man nur die eine von
der anderen gehörig iſoliert. Jetzt wird es offenbar den anderen
Apparaten nichts ſchaden, wenn auch irgend eine der Lampen ein un-
erwünſchter Zufall trifft. Wir haben dann das Zweileiterſyſtem vor
[205]Die elektriſchen Zentralanlagen.
uns, welches bei den Werken in der Markgrafen- und der Mauerſtraße
verwendet wird.


Aber dasſelbe läßt ſich auf weite Entfernung nicht wohl an-
wenden. Die eingeſchalteten Apparate ſind nämlich für eine niedrige
Spannung des Stromes eingerichtet, Glühlampen vertragen z. B.
keine höhere als 150 Volt, und ſolche Elektrizität höchſtens könnte dann
ohne Schaden durch die Leitung gehen; dann müßten bei größeren
Entfernungen die Leiter ſehr dick ſein, wenn nicht ein guter Teil der
Elektrizität unterweges Schiffbruch leiden ſoll. Man wird daher zu
einem anderen Leiterſyſtem ſeine Zuflucht nehmen, wenn es ſich um
Übertragungen auf mehr
als 600 Meter handelt.
Die Fig. 146 zeigt dieſes,
wie es z. B. von den Zen-
tralen am Schiffbauer-
damm und in der Span-
dauerſtraße angewendet
wird. Da gehen in der

Figure 139. Fig. 146.

Schaltſchema eines Dreileiter-Syſtems.


aus der Zeichnung zu erſehenden Weiſe drei Leitungen von zwei Dynamo-
maſchinen aus; die Spannung zwiſchen der erſten und dritten iſt groß
und daher die Führung des Stromes nicht ſchwierig, die Apparate
aber ſind zwiſchen dem erſten und zweiten oder zwiſchen dem zweiten
und dritten Leiter eingeſchaltet, ſtehen alſo nur unter der Hälfte jener
Spannung, welche beide Maſchinen zuſammen liefern. Man hat alſo
den Vorteil der geringen Spannung in den Apparaten und der hohen
Spannung in den Leitungen, welche dieſe um ein Drittel billiger
machen, als ſie bei einem Zweileiterſyſtem auf etwa ein Kilometer zu
ſtehen kämen. Das iſt das Dreileiterſyſtem, welches von Ediſon und
Hopkinſon erfunden und angewendet wurde. Dabei iſt es natür-
lich geſtattet, die drei Leitungen in
ein gemeinſames Kabel zu verlegen,
wenn man ſie nur gehörig von ein-
ander iſoliert. Ein ſolches iſt im Quer-
ſchnitt in der Fig. 147 zu ſehen; daß
die drei Leitungen nicht gleich ſtark ſind,
das iſt leicht zu erklären, die eine und
zwar in der vorigen Figur die mittlere,
hier die äußere, dient nämlich nur dazu,
den etwaigen Überſchuß von Elektri-
zität, den die eine Gruppe von Appa-
raten vor der andern hat, den Ma-
ſchinen wieder zuzuführen, und da es
ſich um nur wenig Elektrizität handeln
kann, ſo iſt eben eine dünne Leitung
dafür ausreichend.


Figure 140. Fig. 147.

Querſchnitt eines Dreileiterkabels.


[206]Die elektriſchen Erfindungen.

So weitergehend kann man bei einem Netze von mehr als 3 Kilo-
metern Durchmeſſer etwa ein Fünfleiterſyſtem einführen. Die Verhältniſſe
werden auch noch weiter kompliziert, wenn man Akkumulatoren benutzt
und durch beſondere Einrichtungen darauf hält, daß ſich die Spannung
in dem ganzen Netze immer ziemlich auf derſelben Höhe erhalte. Wie das
bewirkt werden kann, das wollen wir an einer beſonders intereſſanten
Anlage erörtern, welche im vorigen Jahre in der Stadt Trient durch
Siemeus \& Halske zur Ausführung gelangte. Im Oſten dieſer Stadt
fließt der waſſerreiche Ferſinabach durch eine enge Schlucht. Bei
Hochwaſſer verurſachte er ſeit uralter Zeit der Stadt großen Schaden.
Durch eine Sperre, die in den letzten Jahren dort ausgeführt wurde
— ein großartiges Werk in dem 73 Meter tiefen Abgrund erbaut —
und eine ſchon im vorigen Jahrhundert an einer höheren Stelle an-
gelegte ebenſolche Sperre ſind die Trientiner jetzt gegen dieſe Gefahren
geſchützt. Zwiſchen den beiden Bauwerken hat der Bach ein Gefälle
von 52 Metern, und dieſes zum Vorteil der Stadtgemeinde auszunutzen,
war ein Rat, welchen die überaus ſchnellen Fortſchritte der Elektro-
technik der Verwaltung nahelegten. Dazu wurde das Waſſer der
Ferſina an der oberen Sperre durch einen in den Felſen gehauenen
Kanal abgeleitet, daß es an der Sohle desſelben in einem Strahle
von 1 Meter Dicke ausſtrömt. Es kommt zunächſt in ein unterirdiſches
Baſſin und von dieſem in einen ebenſolchen zum Teil ausgemauerten, zum
Teil in Fels gehauenen Kanal von 752 Metern Länge und 1 Meter
Breite, und dieſen können in der Sekunde 1200 Liter Waſſer durch-
ſtrömen. Er füllt zunächſt ein Reſervoir von 1000 Kubikmetern
Inhalt, aus dem die Druckleitungen das Waſſer zum ferneren Gebrauche
weiter führen. Ihren an ſich ſehr intereſſanten Bau wollen wir nicht
näher erörtern, ſondern ihnen nur in das 860 Meter weiter liegende
Maſchinenhaus folgen, wo ſie ſechs Turbinen treiben, deren jede über
200 Umdrehungen in der Minute ausführt und über 120 Pferdeſtärken
zu leiſten vermag. Mit ihnen ſind die ſechs Innenpol-Dynamomaſchinen
gekuppelt. Gewöhnlich ſind nur vier Turbinen und vier Maſchinen in
Thätigkeit, die andern dienen nur zur Reſerve. Da ſich bald heraus-
ſtellte, daß der Verbrauch an Kraft für Lampen und Motoren nachts
von 11 Uhr bis 6 Uhr nicht einmal die Hälfte des täglichen Maximums
erreicht, ſo wird man natürlich viel an Arbeit erſparen, wenn man

Figure 141. Fig. 148.

Schaltſchema des Fünfleiter-Syſtems der Trienter Zentrale.


gerade in dieſer Zeit Akku-
mulatoren laden läßt. In
unſerem Schema haben wir
uns links dieſe Haupt-
ſtation zu denken; ſtatt der
vier Maſchinen iſt nur
eine gezeichnet, die wir
uns in ihrer Wirkung mit
jenen gleichwertig vor-
[207]Die elektriſchen Zentralanlagen.
ſtellen müſſen. Zwei Paar Hauptkabel führen den Strom zu einem
Hauptverteilungskaſten, von dem ſich die Fünfleiterkabel abzweigen.
L in der Fig. 148 bedeutet etwa Lampen, die, wie wir ſehen, ſtets
nur zwiſchen zwei benachbarte Leitungen eingeſchaltet ſind, zwiſchen
denen der Strom nur ein Viertel der Geſamtſpannung hat, welche
die Zentrale liefert. Aber was bedeuten die am Ende der Leitung
gezeichneten Kreiſe? Es ſind noch weitere Dynamomaſchinen, welche
ſich in einer beſonderen Ausgleich- und Reſerveſtation befinden, und
durch welche eben der Ausgleich der Spannung in dem ganzen
Stromnetze derartig hergeſtellt wird, daß jeder von den vier ver-
ſchiedenen Gruppen, auch wenn in ihnen nicht gleich viele Lampen
brennen oder Maſchinen arbeiten, die nämliche Spannung verbleibt.
Alle vier Maſchinen ſind gezwungen, ſich um eine gemeinſame Achſe
zu drehen, der ihnen zugeführte Strom iſt freilich ein verſchiedener,
und ſie würden ſich auch mit verſchiedener Geſchwindigkeit drehen,
wenn ſie eben nicht unter dem genannten Zwange ſtänden. Aus
dieſem Zwange aber entſteht das Beſtreben, die Spannung zwiſchen
je zwei einander benachbarten Leitern auszugleichen. Ihnen iſt dann
natürlich noch weiterer Strom zu entnehmen, der zur Ladung einer in
dem Raume daneben angebrachten Sekundärbatterie verwendet wird.
Dieſelbe iſt ſo ſtark, daß ſie für ſich allein vier Stunden lang einen
Strom von 100 Ampère Stärke liefern könnte. Von den Hauptleitungen
ſind weiter die Nebenſtröme zur Verſorgung von Häuſern abgezweigt.


Bei der geringen Spannung iſt von dieſen eine Schädigung nicht
zu erwarten, wohl aber kann ein unglücklicher Zufall die Stromſtärke
in ihnen einmal ſo erhöhen, daß ſie ſich zu ſtark erwärmen und damit
Feuersgefahr für das Haus bringen. Es braucht kaum geſagt zu
werden, daß auch dagegen hier — wie überall — Vorſorge getroffen
iſt durch ſogenannte Bleiſicherungen.
Wir ſehen eine ſolche in der Fig. 149.
Es iſt nichts als ein in die Leitung
eingeſchaltetes Stück Blei. Dieſes
hat eine viel geringere Leitfähigkeit
für den Strom als das Kupfer,
wird ſich alſo beim Durchgange
deſſelben ſtärker erhitzen, und man
kann es ſo einrichten, daß es gerade
dann ſchmilzt, wenn der Strom

Figure 142. Fig. 149.

Bleiſicherung.


eine gewiſſe nicht zuläſſige Stärke erreicht. Damit wird aber dieſer
unterbrochen und kann nun keinen weiteren Schaden anrichten. Die
zur Verfügung ſtehenden billigen Kräfte haben die Einrichtungen
für die Stadt Trient äußerſt vorteilhaft gemacht. Die Straßen
und Plätze werden abends mit einer Fülle von Licht übergoſſen,
und bei der Billigkeit der Konſum-Tarife haben viele Privatleute
ihr Haus mit elektriſchen Beleuchtungsanlagen verſehen, und das
[208]Die elektriſchen Erfindungen.
Kleingewerbe, dem es bisher an genügenden Motoren fehlte, wird
durch die billigen und überall aufſtellbaren Elektromotoren eminent
gefördert. Dem Stadtſäckel von Trient aber fließt eine ſolche jähr-
liche Einnahme zu, daß das Anlagekapital ſich mit mehr als ſechs
Prozent verzinſt.


Hat der Raum, den man mit Kraft verſorgen ſoll, einen Durch-
meſſer von etwa zehn Kilometern, ſo wird es trotz der Mehrleiterſyſteme
ſchon ſchwierig, das Gebiet gleichmäßig zu verſorgen. Es geht bei
den ſchwach geſpannten Gleichſtrömen zuviel davon verloren. Beſſer
läßt es ſich dann mit Wechſelſtrömen machen. Freilich haben dieſe
den Nachteil, daß man mit ihnen keine Akkumulatoren laden kann;
aber dafür bieten hier die leicht zu verſehenden Transformatoren ihre
Dienſte an. Man kann mit ihrer Hilfe die Ströme ſo hoch ſpannen,
daß ſie in viel dünneren Drähten leitbar ſind, und wird nur an den
Orten, wo der Strom verbraucht wird, ſeine Spannung auf ein
niedriges Maß herabſetzen müſſen. Da der Grund und Boden in
den großen Städten ſehr teuer iſt, ſo kann es für dieſe geraten ſein,
die Zentrale außerhalb des Weichbildes anzulegen; dann wird aber
die Enfernung zu den Konſumenten ſehr anwachſen, und man wird
deshalb von Wechſelſtrommaſchinen vorteilhaften Gebrauch machen.
So wird neuerdings das moderne Babel, London von einer Wechſel-
ſtromzentrale aus mit Licht verſorgt. Vorläufig ſtehen dort zwei
Maſchinen von je 1500 Pferdeſtärken. Das Projekt, noch vier von
je 10,000 Pferdeſtärken hinzuzufügen, welche 14 Meter hoch ſein und
10,000 Centner wiegen ſollten, iſt geſcheitert.


Wie bezahlen die Abnehmer die ihnen gelieferten Kraftmengen?
Läßt ſich die verbrauchte Elektrizität meſſen, wie ſich das konſumierte
Material meſſen und wägen läßt? Es giebt viele Apparate, die dazu
dienen, die verbrauchte Elektrizitätsmengen zu beſtimmen und ſo auf
Heller und Pfennig dem Abnehmer die Rechnung auszuſtellen. Ein
ſehr ſinnreicher, trotz ſeiner Einfachheit vollkommen ausreichender
Apparat iſt der vor drei Jahren von Prof. Aron in Berlin erfundene
Elektrizitätszähler, den wir in Fig. 150 darſtellen. Wir erblicken dort
zwei Pendel, welche in der gleichen Zeit ihre Schwingungen vollenden.
Das linker Hand abgebildete iſt ein gewöhnliches Uhrpendel; rechts
aber ſehen wir eines, das unten einen Stahlmagnet trägt. Beide
übertragen ihre Bewegung auf ein Uhrwerk, das ſo eingerichtet iſt,
daß der Zeiger nicht vorwärts geht, ſo lange beide Pendel gleich ſchnell
gehen. Das wird aber mit einem Schlage anders, ſobald durch die
rechts unten ſichtbare Spule ein Strom hindurchgeht. Dann wird
das rechte Pendel außer von der Schwerkraft der Erde auch noch von
dem elektriſchen Strom beeinflußt. Dieſer zieht ja den Magnet an
und daher wird das Pendel ſchneller zu ſchwingen anfangen, und zwar
wird die Schwingungszeit immer kürzer, je ſtärker der hindurchgeführte
Strom iſt. Jetzt wird der Zeiger der Uhr vorwärts rücken, und der
[209]Die elektriſchen Zentralanlagen.

Figure 143. Fig. 150.

Elektrizitätszähler von Prof. Aron.


Apparat läßt ſich ſo konſtruieren, daß der Zeiger ſofort diejenige
Elektrizitätsmenge anzeigt, welche durch die Spule gefloſſen iſt. Dieſer
Apparat wird nun jedesmal, wenn durch die Hausleitung Strom
eintritt, mit eingeſchaltet und mißt alſo den Verbrauch, analog wie
die Gasmeſſer den Gasverbrauch anzeigen.


Das Buch der Erfindungen. 14
[210]Die elektriſchen Erfindungen.

f) Die Erfindung der Elektromotoren, der elektriſchen
Schiffe und der elektriſchen Eiſenbahnen.


Die Elektromotoren.

Wir ſind im Vorhergehenden öfters auf die Eigentümlichkeit der
Dynamomaſchinen zu ſprechen gekommen, daß ſie die doppelte Fähig-
keit haben, durch eine ihnen übertragene Bewegung elektriſchen Strom
hervorzubringen und andererſeits, den ihnen zugeführten Strom in eine
mechaniſche Bewegung zu verwandeln. Wenn ſie der letzteren Aufgabe
in beſonderer Weiſe angepaßt ſind, ſo nennt man ſie Elektromotoren.
So war die Dynamomaſchine des Schuckertſchen Pumpenwerkes in der
Fig. 143 ein Drehſtrommotor, weil ſie ihre Bewegung durch einen
Drehſtrom empfing und ſie auf andere Apparate übertragen konnte.
Je nach der Art des Stroms, den man zur Verfügung hat, und nach

Figure 144. Fig. 151.

Gleichſtrom-Motor von Siemens \& Halske.


der Arbeit, die man vollbringen
will, richtet ſich die Geſtalt und
Größe der Motoren. Die Fig. 151
zeigt einen Gleichſtrommotor von
Siemens \& Halske’, der je nach
ſeinem Zwecke für 0,1 bis 1 Pferde-
ſtärke gebaut wird. Der Feld-
magnet liegt hinten, in der Mitte
ſind die ſichelförmigen Polſchuhe
zu ſehen, welche den Gramme-
ſchen Ring umgeben. Dem rechts
hervorſchauenden Achſenende wird
durch ſchleifende Kupferfedern der Strom mitgeteilt, der den Ring zur
Umdrehung bringt. Die ganz rechts ſichtbare Riemenſcheibe dient zur
Übertragung der Drehung auf die Arbeitsmaſchinen. Dieſe können
ganz verſchieden ſein. So ſind in Berlin eine große Menge von Näh-
maſchinen durch ſolche Motoren an die ſtädtiſchen Elektrizitätswerke
angeſchloſſen. Dadurch wird es den Arbeiterinnen der Fabriken, die
jetzt das läſtige Treten ſparen, möglich das Doppelte zu leiſten. In
einer großen Gewehrfabrik daſelbſt wird der ganze Betrieb durch An-
ſchluß an dieſelbe Kraftzentrale elektriſch beſorgt, und das Charlotten-
burger Werk von Siemens \& Halske hat ſich eine eigene ſehr kräftige
Station gebaut, um den ganzen Konſum an Arbeitskraft dieſer zu
entnehmen.


Der Elektromotor nimmt von allen Kraftmaſchinen den geringſten
Raum weg, und da Raum in großen Städten Geld iſt, ſo wird auch
dieſes dabei geſpart; er rüſtet auch den kleinen Handwerker mit den Mitteln
aus, die ihn mit der Großinduſtrie in Konkurrenz treten laſſen, und darin
liegt die große wirtſchaftliche und ethiſche Bedeutung der elektriſchen Kraft-
[211]Die Elektromotoren.
verſorgung. In Trient kann z. B. jeder Schuhmacher einen Teil ſeines
Betriebes durch die in dem Ferſina niederſtürzenden Waſſermengen
leiſten. Auf der Frankfurter Ausſtellung waren eine Molkerei und
eine Schuhfabrik mit elektriſcher Kraft verſehen, und die vielſeitige
Verwendung der Elektromotoren wurde an dem Beiſpiel eines Berg-
werks gezeigt. Nicht nur die Grubenpumpen, wie ſie z. B. in Japan
im Gebrauche ſind, waren ausgeſtellt; eine Geſteinsbohrmaſchine, die
in der Minute 340 Umdrehungen voll-
bringt, konnte bei einer Leiſtungsfähigkeit
von einer Pferdeſtärke in dieſer Zeit ein
Bohrloch von 12 ccm Inhalt in feſtem
Granit ausbohren. Ein Ventilator, in
Bergwerken ein äußerſt wichtiges Inſtru-
ment, war mit einem Motor ähnlich ver-
bunden, wie wir dies in Fig. 152 an
einem von der Allgemeinen Elektrizitäts-
Geſellſchaft gelieferten Ventilator zeigen.
So wirkt die jetzt allgegenwärtige Freundin
der Kulturmenſchheit, die Elektrizität, zur
Reinerhaltung der von uns zu atmenden
Luft und hat damit eine hohe hygieniſche
Bedeutung. Wir können die verſchiedenen
Verrichtungen der Elektromotoren nicht

Figure 145. Fig. 152.

Elektromotor mit Ventilator
der Allgemeinen Elektrizitäts-Geſellſchaft.


alle aufzählen, aber einige wollen wir hervorheben, um in der Auswahl
einen Begriff von den mannigfachen Anwendungen desſelben zu geben.


Die Fig. 153 zeigt eine von der eben genannten Geſellſchaft gebaute
Bohrmaſchine. Sie hat vor den gewöhnlichen Maſchinen dieſer Art den
beſonderen Vorzug, daß ſie auf einem zweirädrigen Wagen in der Werk-
ſtatt überallhin gefahren werden kann, wo ſie gerade gebraucht wird. Dieſe
muß natürlich mit elektriſchem Betriebe verſehen ſein. Das linker Hand
aufgewickelt gezeichnete Kabel leitet den Strom auf den in der Mitte
gezeichneten Elektromotor, und dieſer überträgt ſeine Bewegung auf den
rechts hinten zum Vorſchein kommenden Schlüſſel, in welchem der Bohrer
ſitzt. Dieſer läßt ſich mit Leichtigkeit ohne eine Verſchiebung des Motors
in jede gewünſchte Lage bringen, wo er eben arbeiten ſoll. Es hat
keine Schwierigkeit, bei einer Zahl von 195 Umdrehungen in der
Minute, Löcher bis zu vier Zentimeter Durchmeſſer zu bohren. Das bisher
unentbehrliche Faktotum des Orgelſpielers, der Bälgetreter wird über-
flüſſig werden, nachdem bereits eine New-Yorker Kirche den geräuſchlos
arbeitenden und ſtets mit voller Kraft einſetzenden Elektromotor in
ihren Dienſt geſtellt hat. Die Dampfſpritze wird der durch die Ge-
brüder Siemens in London eingeführten elektriſchen Feuerſpritze weichen,
welche überall, wo ein Anſchluß an ein Elektrizitätswerk durch ein
mitgeführtes Kabel zu erreichen iſt, in Funktion wird treten können.
Die Deutſche Warte iſt die erſte Zeitung, deren Preſſen durch Elektrizität
14*
[212]Die elektriſchen Erfindungen.

Figure 146. Fig. 153.

Bohrmaſchine der Allgemeinen Elektrizitäts-Geſellſchaft.


betrieben werden. Sie ſind an die Berliner Elektrizitätswerke an-
geſchloſſen, und die Kraftverſorgung kann ſich gerade für den Zeitungs-
druck, der zu anderer Zeit als die übrigen Gewerbe betrieben wird,
und nur kurze Zeit in Anſpruch nimmt, äußerſt billig geſtalten.


Am wirkſamſten aber hat ſich der Elektromotor bisher bewieſen,
wo es ſich um das Fortſchaffen von Laſten auf ebener Bahn oder
[213]Die Elektromotoren.
um das Heben derſelben handelt. Auf Kriegsſchiffen, die jetzt meiſtens
Dynamomaſchinen ſchon zur Speiſung der elektriſchen Lampen beſitzen,
kann die vorhandene Kraft zum Abfeuern und Richten der Kanonen in
wagerechter und ſenkrechter Richtung verwendet werden, wie ſich auch die
bei der Sicherung der Schiffahrt zu beſchreibenden Scheinwerfer leicht
durch den Elektromotor in die gewünſchte Stellung bringen laſſen. Der
Vorſchlag eines amerikaniſchen Offiziers, auch die Landgeſchütze, vorzüglich
Mitrailleuſen, elektriſch zu betreiben, wird dagegen wohl ſchon deshalb
keine Ausführung finden, weil der Transport der Dynamomaſchinen
Schwierigkeiten hat, und die bedienenden Soldaten in der Technik
ausgebildet ſein müßten. Die Laſthebewerke par excellence, die
Krahnen, die man bislang im großen immer nur mit Dampf betrieben
hat, laſſen ſich heute durch Anſchluß an Elektrizitätswerke ſehr leicht
und ſicher elektriſch betreiben. Am Peterſen-Quai in Hamburg ſteht
jetzt eine von der Allgemeinen Elektrizitäts-Geſellſchaft gebaute Ein-
richtung, welche im Stande iſt, eine Laſt von fünfzig Centnern faſt
vierzehn Meter emporzuheben. Der 40 pferdige Elektromotor, der
von der Beleuchtungsanlage des Hafens aus mit Kraft verſorgt
wird, vermag zugleich den Krahn zu drehen. Selbſt das Bremſen
des Krahnes geſchieht ganz ſelbſtthätig auf elektriſchem Wege. Wo
es ſich ſonſt um die Fortſchaffung großer Laſten in Werkſtätten
handelte, und der Laufkrahn in Dienſt geſtellt wurde, da erreicht
man jetzt das Ziel weit ſicherer und ſchneller, indem man von den
Elektromotoren geeigneten Gebrauch macht.


Für die Aufzüge von Perſonen und Materialien hat man ſich bisher
meiſt des Waſſcrdrucks bedient. So war noch der berühmte Fahrſtuhl im
Eiffelturm eingerichtet. Solche Apparate waren natürlich allen jenen Miß-
ſtänden ausgeſetzt, welche der Gebrauch des Waſſerdrucks als direkte Kraft-
quelle mit ſich bringt. Die Elektrizität hat hierin weittragende Reformen
geſchaffen. Einen muſtergiltigen Aufzug beſitzt die ſtädtiſche Zentrale in
der Markgrafenſtraße zu Berlin. Bei dieſer mußten wegen Raummangels
die Dampfkeſſel in den oberen Stockwerken angelegt werden. So würde
das fortwährende Heraufſchaffen der Kohlen natürlich Schwierigkeiten
bieten, wenn nicht der elektriſche Fahrſtuhl da wäre, welcher einen
Kohlenwagen von 20 Zentnern Gewicht in etwa 40 Sekunden über
9 m emporhebt. Nachdem derſelbe auf den Fahrkorb geſchoben iſt,
leitet der Maſchiniſt den Strom in den fünfpferdigen Motor und ſetzt
damit die Winde in Betrieb, die ſich am Ziele der Bahn wieder ſelbſt-
ſtändig ausrückt. Dann bleibt der Fahrkorb durch eine Bremſe ſo
lange ſchwebend, bis die Kohlen in einen am Keſſel befindlichen
Trichter ausgeladen ſind, und nimmt dann den Wagen wieder mit
hinunter, was ohne die Thätigkeit des Motors langſam und gleich-
mäßig durch die Schwere geſchieht. Sollte durch einen Zufall einmal
die Winde reißen, ſo iſt eine Einrichtung getroffen, daß der Wagen
ſich ſelbſtändig bremſt, ſobald ſeine Geſchwindigkeit 30 cm in der
[214]Die elektriſchen Erfindungen.
Sekunde überſchreitet. Der Preis und die Betriebskoſten dieſes ſo
ſicher arbeitenden Aufzugs ſind äußerſt gering.


Auch im Dienſte der Eiſenbahnen iſt die Elektrizität berufen, eine große
Rolle zu ſpielen. Welche Mühe macht das Drehen der Wagen, beſonders
der Lokomotiven, welche Fülle von Kraft wird verſchlungen beim Ausladen
der Laſtwagen, was für Arbeit erfordert das Verſchieben der Wagen!
Hier iſt die Elektrizität die berufene Retterin aus allen Mühſalen. Sie iſt
bereits an zwei Stellen mit Erfolg für den Bahnhofsbetrieb heran-
gezogen worden. Einmal beſitzt der größte Bahnhof Deutſchlands,
derjenige in Frankfurt am Main, eine elektriſche Anlage, welche früher
mit einer Druckwaſſerleitung zuſammen den beſchriebenen Dienſt ver-
ſah, während jetzt die letztere außer Thätigkeit tritt und auch durch
ein elektriſches Werk erſetzt wird. Andererſeits hat die franzöſiſche
Nordbahn auf ihrem Pariſer Bahnhofe Akkumulatoren in Dienſt
genommen, welche ihren Strom an Elektromotoren abliefern und damit
die ſchwerbelaſteten Scheiben drehen. Ebenſo verſorgen die Sammler
einen Laufkrahn mit Kraft, welcher hauptſächlich Säcke aus den Wagen
oder in die Wagen ſchaffen ſoll. Mit ihm vermag man in 20 Minuten
hundert Säcke aufeinander zu ſtapeln oder in 35 Sekunden eine Laſt
von 140 kg 32 m fort zu ſchleppen, worauf der Laufkrahn nach ſeinem
Ausgangspunkte umkehrt. In einigen amerikaniſchen Städten wird das
Aufziehen der Zugbrücken jetzt durch Elektromotoren beſorgt. So war in
Chicago auf der im Zuge von Bruſh-Street gelegenen Brücke bisher
eine Dampfmaſchine in einem beſonderen Hauſe mit zuſammen 40 Tonnen
Gewicht aufgeſtellt; heute beſorgt dies ein unterhalb der Brücke an-
gebrachter und von einem nahen Werke mit Strom geſpeiſter Elektromotor
leicht und viel wohlfeiler, als die Dampfkraft. In derſelben Stadt
wird das Eis des Fluſſes und des ſeenartigen Hafens jetzt auf eine
höchſt ſonderbare Art zu Blöcken zerſchnitten. Schon früher nahm
man dazu Kreisſägen, die auf einem Wagen ſaßen. Jetzt benutzt
Kinsmann einen elektriſchen Eispflug, d. h. ein Dreirad, an dem die
Sägen und auf dem der Motor angebracht iſt. Derſelbe bewegt das
Dreirad vorwärts und ſetzt zugleich die Sägen in Thätigkeit; er wird
natürlich durch eine Leitung aus einem Elektrizitätswerke mit Strom
verſorgt, und dieſe wickelt ſich allmählich von einer Trommel ab.
Wie viel menſchliche und tieriſche Kraft wird hier nicht durch die Hilfe
des elektriſchen Stromes geſpart! Bedarf es der Erwähnung, daß
auch der Schnee der Straßen bereits durch elektriſche Schneepflüge bei-
ſeite gefegt wird? Freilich ſind diejenigen, welche die Firma Thomſon-
Houſton bis jetzt gebaut hat, nur für den Gebrauch der elektriſchen
Bahnen beſtimmt und erhalten für ihre Elektromotoren den Strom
aus der Station der Eiſenbahn, aber es werden ſich vielleicht auch
Einrichtungen treffen laſſen, die ihnen eine allgemeine Einführung
ſichern. Sie erinnern in ihrem Baue an die Kehrmaſchinen der Berliner
Straßenreinigung. Nur beſitzen ſie neben den Bürſten, welche den
[215]Die elektriſchen Eiſenbahnen.
loſen Schnee fortfegen, auch noch Walzen mit Schaufeln, welche
eine härtere Schneedecke erſt auflockern. Im ganzen braucht jeder
Pflug vier Motoren, zwei zu ſeiner Fortbewegung und je einen
für die beiden Walzen.


Die elektriſchen Eiſenbahnen.

So hätten wir bereits verraten, daß die elektriſchen Eiſenbahnen
auch durch nichts anderes bewegt werden, wie durch Elektromotoren,
die aus einer für ſie beſonders eingerichteten Maſchinenſtation mit
Kraft verſorgt werden. Freilich liegt ein Mittel nahe, um die Not-
wendigkeit einer ſolchen zu umgehen. Man könnte ja die primäre
Dynamo-Maſchine mit auf den Wagen nehmen, aber man müßte
auch einen Dampf- oder anderen Motor mithaben, und dann iſt es
eben ſchon klüger, die Dampfkraft direkt zum Betriebe des Wagens zu
verwerten. Oder man kann den Strom einer hinreichend geladenen
Akkumulatoren-Batterie entnehmen, die man mit in den Wagen auf-
nimmt. Dies würde aber zunächſt das Gefährt ſehr belaſten und ſeine
Bewegung weſentlich erſchweren, ſo daß man zu keiner großen Ge-
ſchwindigkeit gelangen konnte und andererſeits müßten die Akkumulatoren
doch an gewiſſen Stationen, nachdem ſie ihre Kraft erſchöpft haben,
wieder geladen werden. Das erfordert Zeit, und da Maſchinen zum
Laden der Batterie jedenfalls da ſein müßten, ſo iſt es offenbar zweck-
dienlicher, wenn man den Wagen von der Station aus direkt mit
Kraft verſieht und die Akkumulatoren auf der Station läßt, wo ſie
bei der Aufſpeicherung überſchießender Kraftvorräte immerhin gute
Dienſte leiſten können. Trotzdem ſind zahlreiche Gefährte für den
Akkumulatorenbetrieb eingerichtet worden. Wir haben ſo elektriſche
Droſchken und Dreiräder erhalten und auch Wagen für den Straßen-
betrieb. Beſonders hat Huber in Hamburg in der letzten Richtung
Verſuche angeſtellt, die er indeſſen Ende 1886 wieder aufgab, weil die
Wagen zu ſchwer beweglich waren. So ein Gefährt mit Sammler-
betrieb wog mit 29 Fahrgäſten, dem Führer und dem Schaffner
7000 kg, wovon ein Sechſtel auf die Sekundärbatterie kam. Dieſe
beſtand aus 96 Zellen, deren jede für ſich eine Stunde lang einen
Strom von 170 Ampère leiſten konnte. Jetzt iſt dieſes Syſtem durch
eine Erleichterung des Sammlergewichts ſoweit verbeſſert worden, daß
man bei normaler Witterung mit 14 Fahrgäſten wenigſtens 70 km
weit bei einmaliger Ladung der Sammler gelangt. Dann müſſen
dieſelben wieder von einer bereit gehaltenen Dynamomaſchine aus ver-
ſorgt werden. Siemens \& Halske haben im Anſchluß an die Lichter-
felder elektriſche Eiſenbahn Verſuche mit ſolchen Akkumulatorenwagen
gemacht, und ſind ſelbſt zu der Anſicht gelangt, daß für größere
Bahnen, auf denen erſt in längeren Pauſen einzelne Wagen den Ver-
kehr vermitteln, in jenen die beſte Ausnutzung der Elektrizität liege.


[216]Die elektriſchen Erfindungen.

Für kurze Bahnen aber empfiehlt es ſich, eine Kraftzentrale
einzurichten und durch Leiter den Elektromotoren des Wagens Strom
zuzuführen. Der erſte Verſuch einer ſolchen Anlage wurde von der
eben genannten Firma auf der Berliner Gewerbeausſtellung 1879
gemacht. Zwiſchen den beiden Hauptſchienen der Bahn lag eine dritte
flache und auf die Kante geſtellte Schiene, welche den Elektromotor
des Wagens mit Kraft verſorgte. Die Rückleitung nach dem Maſchinen-
hauſe geſchah durch die beiden erſtgenannten. Die erſte dauernd für
den Betrieb beſtimmte elektriſche Eiſenbahn fährt vom Anhalter Bahn-
hof in Lichterfelde zur Kadettenanſtalt. Obgleich für die Iſolierung
der Schienen keine große Vorſorge getroffen war, hat doch die Bahn
von 1881 bis heute vollſtändig zur Zufriedenheit funktioniert. Sie
fährt jedesmal, wenn ein Zug am Anhalter Bahnhof ankommt,
und legt die 2,6 Kilometer lange Strecke in acht Minuten zurück,
obgleich es keine Schwierigkeiten hätte, ihre Geſchwindigkeit noch zu
ſteigern. Seitdem iſt in Deutſchland die Entwickelung der elektriſchen
Bahnen ſehr zurück geblieben, während die großen Städte Amerikas
ſich mit einem Netze von ſolchen Betrieben überſponnen haben. Wie
raſch dort die Pferdebahnen den elektriſchen weichen müſſen, das können
folgende Zahlen zeigen. Noch 1885 waren dort nur drei ſolche Bahnen
mit 12 Kilometern Weglänge und 13 Maſchinenwagen in Betrieb, Ende
1889 gab es ſchon 103 Bahnen mit 870 Kilometern und 851 Wagen
und am Anfange des Jahres 1892 war die Weglänge der elektriſchen
Straßenbahnen auf 4061 Kilometer geſtiegen, während die der Pferde-
bahnen im letzten Jahre um 100 Kilometer zurückging. Es iſt ja
offenbar, daß die elektriſchen gegen dieſe die Vorteile der Sauberkeit und
Billigkeit voraushaben müſſen, welche der Dienſt der Thiere ausſchließt.
Wir müſſen, wollen wir den Bau dieſer Bahnen recht verſtehen, die
einzelnen Teile derſelben, alſo die Maſchinenſtation, die Zuleitung des
Stromes und die Motorenwagen genauer ins Auge faſſen.


Die Fig. 154 zeigt die Kraftſtation der Straßenbahn, welche die
Allgemeine Elektrizitäts-Geſellſchaft zu Halle an der Saale im vorigen
Jahre als die erſte elektriſch betriebene in Deutſchland dem Verkehr über-
geben hat. Wir ſehen links die eine der beiden gewaltigen Dampfmaſchinen,
welche bis zu 200 Umdrehungen in der Minute machen, und rechts die
mittels Riemenüberſetzung mit ihr verbundenen vier Dynamomaſchinen.
Jede von dieſen leiſtet mehr als 80 Pferdeſtärken. Die Leiſtungsfähigkeit
derſelben muß etwas höher bemeſſen ſein, als der gleichmäßige Betrieb
nötig machen würde, weil bei dem Anfahren der Wagen immer eine
große Menge Kraft verbraucht wird. Die Zuführung des Stromes
zum Wagen kann eine ſehr verſchiedene ſein, nämlich entweder durch
die Fahrſchienen oder eine andere Schiene erfolgen oder durch eine
davon getrennte oberirdiſche oder ſchließlich durch eine unterirdiſche
Leitung geſchehen. In dem erſten Falle wird für eine hinreichende
Iſolierung der Schienen ſowie dafür geſorgt ſein müſſen, daß Zugtiere
[217]Die elektriſchen Eiſenbahnen.

Figure 147. Fig. 154.

Maſchinenhaus der Halleſchen Straßenbahn der Allgemeinen Elektrizitäts-Geſellſchaft.


und Menſchen, die den Schienenweg auf einer Wegkreuzung über-
ſchreiten, nicht gefährdet werden und auch den Betrieb nicht ſtören.
In der Lichterfelder Bahn, bei welcher eine der beiden Schienen die
Zuführung, die andere die Fortleitung des Stromes verſieht, wird
dieſe Leitung an den Kreuzungsſtellen nicht durch die Schienen, ſondern
[218]Die elektriſchen Erfindungen.
anders weitergeführt, ſo daß eine Berührung derſelben ganz unſchädlich
iſt. Der Strom wird von dem Radreifen aufgenommen, der von der
Achſe hinreichend iſoliert ſein muß und ihn dem Elektromotor zuführt,
aus welchem er an der anderen Seite heraustritt. Die Achſen der
Räder ſind zugleich diejenigen der Motoren oder es findet eine
Zahnradübertragung ſtatt, welche die Geſchwindigkeit der Räder mildert.
Wenn man die Schienen genügend vom Erdboden iſolieren ſoll, ſo
wird dies wenigſtens für lange Strecken ſehr teuer zu ſtehen kommen,
und immer wird bei ſchlechtem Wetter ein ſo großer Kraftverluſt un-
umgänglich ſein, daß die Schienenleitung nicht recht vorteilhaft erſcheint.
Nimmt man eine dritte gut iſolierte Schiene zu Hilfe, wie das 1879
bei dem erſten Verſuche geſchah, ſo findet eine weitere Steigerung der
Anlagekoſten ſtatt, welche dieſes Syſtem gar nicht hat in Aufnahme
kommen laſſen.


Die oberirdiſche Zuführung des Stromes iſt auf die verſchiedenſten
Weiſen verſucht worden. Bei dem älteren Syſtem von Siemens \& Halske
wird er in zwei geſchlitzten Röhren längs des Geleiſes zu- und weg-
geführt. Auf dieſen Leitern, die an Säulen hingen und genügend
iſoliert ſein mußten, ſchleifte ein Wägelchen, welches von dem Wagen
mitgenommen wurde und dem Motor deſſelben den Strom durch einen
Leiter zuſchickte. In einer neueren Ausführung bedarf es nur eines
Drahtes, der über der Mitte des Geleiſes an ſeitlich ſtehenden Säulen
aufgehängt iſt; eine an dem Motorwagen angebrachte Vorrichtung ſchleift
an dieſem Draht und führt ihm den Strom zu. Die Drahtleitung iſt
nur dünn und wäre für die eigentliche Zuleitung ungenügend. Dieſe
Hauptzuleitung geſchieht vielmehr durch ſtärkere Leiter, welche an den
ſeitlich ſtehenden Säulen befeſtigt ſind. Als Rückleitung dienen bei
dieſer Anordnung die Schienen. So iſt die Verlängerung der Lichter-
felder Bahn 1890 ausgeführt worden. Am vollkommenſten entwickelt
iſt jetzt dieſe Art der Stromführung in den von Sprague und Thomſon-
Houſton ausgebildeten Syſtemen. Nach dem erſteren iſt die Halleſche
Straßenbahn gebaut. Unſer Bild (Fig. 155) zeigt die Halteſtelle derſelben
auf dem Marktplatze. Die Arbeitsleitung, von der Feinheit der
Telephondrähte, iſt durch Querdrähte mit der eigentlichen Stromführung
verknüpft. Die Pfähle, an welchen dieſe angebracht ſind, beſtehen
aus Schmiedeeiſen, beleidigen durch ihr Ausſehen das Auge nicht und
können auch als Maſten für elektriſche Lampen dienen. Der Strom
wird zum Wagen durch ein auf dem Dache angebrachtes Stahlrohr
übergeführt, welches eine metallene Nutrolle von unten gegen den
Leitungsdraht drückt und dadurch die Berührung recht innig macht.


Nun wird es an vielen Orten ſchwierig ſein, die Erlaubnis zu einer
oberirdiſchen Stromführung zu erlangen. In größeren Städten vor
allem wird wegen der Verkehrsſtörungen, die ſie im Gefolge haben
können, eine Belaſtung der Straßen mit eiſernen Maſten nicht auf
Entgegenkommen zu rechnen haben. Auf Chauſſeen, in Vororten und
[219]Die elekriſchen Eiſenbahnen.

Figure 148. Fig. 155.

Halteſtelle der Halleſchen Straßenbahn.


bei Sekundärbahnen wird aber dieſe Methode ſchon ihrer Billigkeit
wegen die richtige ſein. Im Innern der Großſtädte wird die unter-
irdiſche Zuführung, die allerdings ſchon für recht viele Leitungen,
wie die des Gaſes und Waſſers, in Anſpruch genommen iſt, die ange-
[220]Die elektriſchen Erfindungen.
brachte ſein. Wir zeigen in unſerem Bilde (Fig. 156.) das Schienenſyſtem
der 1889 von Siemens \& Halske in Budapeſt ausgeführten Eiſenbahn.
Links ſieht man unter dem Schienenſtrange des Geleiſes einen Kanal,
in welchem links und rechts je eine Stromleitung, die Hin- und die

Figure 149. Fig. 156.

Schienenſyſtem der Budapeſter Straßenbahn von Siemens \& Halske.


Rückleitung, geſchützt gegen äußere Einflüſſe und von einander iſoliert, an-
gebracht ſind. Der Kanal ſchließt an der Straße mit den Fahrſchienen
ab, welche auf gußeiſernen Böcken gelagert und feſtgeſchraubt ſind.
In dieſen ſind die beiden Stromleitungen mittels geeigneter Iſolatoren
befeſtigt. Im Übrigen iſt der Kanal aus Beton hergeſtellt. An dem
Wagen iſt unten eine Vorrichtung befeſtigt, welche durch den zwei-
teiligen Schienenbau in den Kanal hinabreicht und ein Schiffchen
mitnimmt. Dieſes ſchleift im Kanal zwiſchen den Stromleitungen und
vermittelt auf dieſe Weiſe eine beſtändige Stromzuführung nach
dem Wagen. Äußerlich gleicht die Bahn völlig einer gewöhnlichen
Straßenbahn, da von den Kanälen und den Leitungen auf der
Straße nichts zu ſehen iſt. Das Syſtem, welches ſich ausgezeichnet
bewährt, iſt freilich auch das teuerſte. Trotzdem rentiert ſich eine
ſolche Anlage immer noch beſſer als die Pferdebahn.


Das Ausſehen der elektriſchen Wagen gleicht äußerlich völlig dem-
jenigen der Pferdebahnwagen, nur daß dieſe im allgemeinen einen größeren
Raum einnehmen. Die Arbeitsmaſchine ſitzt, den Blicken des Beſchauers
vollig verborgen, im Untergeſtell des Wagens. In der Mitte iſt der Motor
angebracht, durch welchen der aufgenommene Strom in eine drehende
Bewegung verwandelt wird; dieſe überträgt er durch ein Vorgelege
auf die eine Wagenachſe und bewegt ſo den Wagen vorwärts. Statt
[221]Die elektriſchen Eiſenbahnen.
eines Elektromotors ſind z. B. auf der Halleſchen Straßenbahn zwei
vorhanden, für jede der beiden Wagenachſen eine. Wie kann der
Kutſcher die Bewegung des Wagens regulieren, wie wird die rückwärts
gerichtete Bewegung des Wagens erhalten? Er kann dies alles durch
Zuhilfenahme zweier Kurbeln leiſten, wie ſie ähnlich bei den Pferde-
bahnen als Bremſen dienen. Durch die eine kann er ein gewöhnliches
mechaniſches Bremſen bewirken. Die andere aber dient zum Ein-
und Ausſchalten von metallenen Widerſtänden in die Stromleitung,
wie wir ſie bei der Theaterbeleuchtung kennen lernten, ſowie zum
Umſteuern für Her- und Hinfahrt der Lokomotive. Solche Wider-
ſtände müſſen für die Regulierung vorhanden ſein, weil ſonſt beim
An- und Abſtellen des Motors das zu ſtarke Anſteigen des Stromes
die Bewickelungsdrähte ſchmelzen könnte; bei ihrer Einſchaltung wird
der Strom durch Umſetzung in Wärme entſprechend abgeſchwächt.
Dieſe Widerſtände nehmen auch von dem verfügbaren Raume nichts
fort, weil ſie unter den Plattformen der Wagen in vier Gruppen
verteilt liegen. Das Umkehren der Lokomotive wird dadurch bewirkt,
daß man den Strom in umgekehrter Richtung durch den Motor leitet,
was alles durch eine verſchiedene Stellung derſelben Kurbel zu erreichen
iſt. Man braucht hier, am Endziele angekommen, nicht umzuſpannen,
wie bei den Pferdebahnen, noch den Wagen zu wenden, wie bei den
Dampfwagen. Der Kutſcher braucht nur ſeinen Platz am andern
Ende des Wagens einzunehmen, um die Strecke überſehen zu können.
Auch dort findet er zwei ebenſolche Kurbeln zur Bedienung. Die
Betriebskoſten ſind für alle dieſe Bahnen weit geringer, als für die
bisherigen Straßenbahnen; auf der halliſchen Bahn wird ſogar der
Schaffner geſpart durch die Einführung des Zahlkaſtenſyſtems bei
einem Einheitsſatze für alle Touren. Die Bahnen ſind auch in
hygieniſcher Beziehung vollkommner als die Dampfbahnen, da ſie nicht
den für die Lungen der Stadtbewohner ſchier unerträglich gewordenen
Kohlendunſt noch vermehren.


Dies macht ſie ganz vorzüglich für unterirdiſche Betriebe ver-
wendbar. Auf ſolche angewieſen ſind natürlich die Bergwerke. Die
erſte elektriſche Grubenbahn wurde von Siemens \& Halske 1883 im
Zaukeroder Werk eröffnet, ihr folgte diejenige des Neuſtaßfurter Salz-
bergwerkes, welche wir im Bilde (Fig. 157) veranſchaulichen. Dieſe hatte
1885 eine Länge von insgeſamt 1550 Metern. Die Stromzuführung
von der über Tage aufgeſtellten Dampfmaſchine geſchieht durch die
an dem Stollenfirſt ſichtbaren Schienen, an denen die Zuleiter
ſchleifen. Dieſe Bahn dient dazu, das am Stollenende abgehauene
Salz zu fördern. So wurden im Februar 1884 in 87 achtſtündigen
Schichten 23868 Wagen in Zügen von meiſt 16 Wagen gefördert, zu
denen der Waſſerwagen tritt, welcher die Geleiſe von dem ſchlüpfrigen
Salzüberzug durch Waſſerberieſelung zu befreien hat. Es wurden ſo
allein im Jahre 1884 an 140000 Tonnen Salz gefördert, die ſich bei
[222]Die elektriſchen Erfindungen.

Figure 150. Fig. 157.

Elektriſche Grubenbahn von Siemens \& Halske.


Anwendung von Pferden oder Menſchen weſentlich teurer geſtellt haben
würden. Ein ebenfalls elektriſch getriebener Göpel bildet ſeit 1885 die
Fortſetzung dieſer Bahn. Aus einem um 40 Grad geneigten Stollen
holt der Förderwagen die Salze herauf, während gleichzeitig an dem
Seile ein leerer Wagen heruntergleitet. Die Geſchwindigkeit dieſes
Werkes und der Eiſenbahn brauchte nicht über wenige Kilometer in
der Stunde hinausgetrieben zu werden. Das großartigſte Werk unter
allen ähnlichen iſt dasjenige, welches jetzt von der Carolina Mining
Company auf einer Silbergrube in Colorado in Betrieb iſt. Dieſe
Grube liegt 3900 Meter über dem Meeresſpiegel, 100 Meter über der
Schneegrenze. Eine Waſſerkraft iſt es, welche die Dynamomaſchinen
treibt. Den eigentümlichen Verhältniſſen angepaßt ſind die Leitungen,
welche gegen den Schnee geſchützt ſein müſſen und den Fall der die
im Sturme brechenden Maſten zu ertragen haben. Hier werden die
Pumpen, Förderſtühle, Erzwagen, Geſteinbohrer und Ventilatoren —
wie auch an andern Stellen — elektriſch betrieben, — ein großartiges
Beiſpiel dafür, daß die heutige Technik Hinderniſſe nicht mehr kennt.


So drängt ſich uns die Frage auf, ob nicht für den Betrieb der
Straßenbahnen überhaupt der unterirdiſche derjenige der Zukunft ſei.
Sind nicht die Straßen und Plätze der Großſtädte bereits genügend
durch den Verkehr belaſtet und ſchließt nicht eine weitere Vermehrung
[223]Die elektriſchen Eiſenbahnen.
desſelben die ſchwerſten Gefahren für die Sicherheit der Bürger ein.
Gerade unter Tage aber hat der Verkehr die ſchönſten Gelegenheiten zur
Ausbreitung. Hier iſt Raum für Stadtbahnen, wie in anderen Ent-
fernungen von der Erdoberfläche für die Leitungen des Waſſers, des
Gaſes und der elektriſchen Kraft. Die einzige bisher wirklich unter
Tage ausgeführte Stadtbahn mit elektriſchem Betriebe hat diejenige
Metropole, welche längſt ſich durch Zuhilfenahme unterirdiſcher Räume
von ihrem Verkehrsüberfluſſe entlaſtete, nämlich London. Die Stadtteile
City und Southwark ſind jetzt hier elektriſch unter der Erde verbunden,
und dieſe Bahn hat vor den ſonſtigen unterirdiſchen, die London aufweiſt,
eben den großen Vorteil, daß der läſtige Qualm der Dampflokomotiven,
für welchen dort nie genügender Abzug zu verſchaffen war, in Fortfall
kommt. In anderen Großſtädten iſt dieſes ſicherlich einzige Mittel, neue
Verbindungen zu ſchaffen, noch Projekt, unter anderen in Berlin, wo die
Allgemeine Elektrizitätsgeſellſchaft ein ſolches ausgearbeitet hat, während
Siemens \& Halske durch eine Hochbahn die Entlaſtung herbeiführen
möchten.


Übrigens muß erwähnt werden, daß die Elektrizität ſich zwar auf
kürzeren Strecken, wie bei Stadtbahnen als Betriebskraft ſehr bewährt
hat, daß aber für größere Entfernungen doch zuviel Kraft wegen der
mangelhaften Iſolierung der Zuleiter verloren geht. Die bisher längſte
elektriſch betriebene Strecke, iſt die von San Franzisko nach San Joſé
in Kalifornien auf 128 Kilometern Länge. Sechs Dynamomaſchinen
liefern hier den Strom und 30 Wagen mit 15 bis 25 pferdigen Motoren
beſorgen den Verkehr. Eine noch größere, von 460 Kilometern, ſoll
demnächſt St. Louis mit Chikago verbinden und nach einem beſonderen
Syſtem betrieben werden.


Was noch in Großſtädten als ein beſonderer Mangel empfunden
wird, das iſt das Fehlen eines bequemen Packetverkehrs und einer ſchnellen
Beförderung von Poſtſachen von einer zur andern Großſtadt, welcher
letztere Mangel der Telegraphie ihren ungeheuren Aufſchwung ſicherte.
Vorſchläge, dieſen Mängeln abzuhelfen, ſind viele gemacht worden,
und wenn ſie auch noch nicht zur Ausführung gelangten, ſo können
wir ſie bei dem Intereſſe, das ſie beanſpruchen, kaum übergehen.
Werner von Siemens kam vor einigen Jahren auf die Idee einer
elektriſchen Bahnpoſt. An dem Körper der Bahnen ſollten eiſerne
Röhren entlang führen, in deren Innerem kleine durch Elektrizität
betriebene Wagen mit Briefen und kleinen Packeten auf Schienen laufen
ſollten, natürlich viel ſchneller als die ſchnellſten Eiſenbahnzüge. In
Amerika geht ein ähnlicher Gedanke jetzt ſeiner Verwirklichung entgegen,
den Wemes in Baltimore auf einer Verſuchsſtrecke ausführte. In
einem langen Kanal legt ein Wägelchen 800 Meter in der Minute
zurück, ſo daß die Poſtſachen von New-York nach San Franzisko ſtatt
wie bisher in ſechs Tagen in ebenſoviel Stunden dorthin gelangen
könnten. Der Plan iſt bis ins Einzelnſte geiſtreich ausgearbeitet.
[224]Die elektriſchen Erfindungen.
So wird von dem Maſchinenwerke aus der Wagen jeden Augenblick
an der richtigen Stelle zum Stillſtand und zur Weiterfahrt zu bringen
ſein. Ein dem Telephonnetz vergleichbares Schienennetz wird endlich
das Port-Electric-Syſtem (von Dolbear 1889 erfunden) zur Aus-
bildung bringen. Die an dasſelbe angeſchloſſenen Firmen werden
durch Vermittelung eines Betriebsamtes ſich mit einer anderen eben-
ſolchen verbinden und ihnen die gewünſchten Waaren in einem auf
Schienen rollenden Wagen zuſenden.


Die elektriſche Schiffahrt.

Gegen den elektriſchen Verkehr auf dem Erdboden iſt derjenige zu
Waſſer weſentlich zurückgeblieben. Das iſt auch nur zu erklärlich: die
Zuführung des Stromes von einer Kraftſtation iſt ja im Waſſer nur
in Ausnahmefällen möglich, da man im allgemeinen dem Schiffe nicht
den Weg ſo genau wird weiſen können. Möglich iſt das z. B. bei
der Kanalſchiffahrt, bei der man bisher ſchwere und durch ihre läſtige
Rauchentwickelung die Nachbarſchaft ſtörende Schleppdampfer benutzte.
Jetzt ſollen auf einen Vorſchlag des Ingenieurs Büſſer die Schlepp-
ſchiffe durch eine feſte Leitung, ähnlich wie die Eiſenbahnen, mit Strom
verſehen werden. Nimmt man aber eine Kraftquelle mit an Bord, ſo
wiegt ſie, ſei ſie nun eine durch Dampf getriebene Dynamomaſchine
oder eine Batterie, im allgemeinen ſo ſchwer, daß ſie das Gefährt zu
keiner rechten Beweglichkeit gelangen läßt. Will man Dampfkraft mit-
nehmen, ſo iſt es natürlich an ſich beſſer, dieſe auf die Schiffsſchraube
direkt wirken zu laſſen, da bei der elektriſchen Übertragung immer
Kraft verloren geht. Trotzdem iſt gerade die elektriſche Schiffahrt eine
der erſten praktiſchen Anwendungen des Elektromotors. Jacobi, der
Erfinder der Galvanoplaſtik war es, der ſchon vor 53 Jahren mit
einem aus vier feſten und vier drehbaren Elektromagneten beſtehenden
Motor das Schaufelrad eines Bootes drehte und mit ihm die Newa
befuhr. Die feſten waren die Feldmagnete, die beweglichen bildeten
den Anker, und der Strom, welcher die Bewegung hervorbrachte, ward
natürlich aus einer Batterie entnommen. Batterien mitzunehmen iſt
auch heute noch das einzige Auskunftsmittel, wenn man ſein Schiff
elektriſch betreiben will. So war das Boot, welches Trouvé auf der
Pariſer Ausſtellung 1871 betrieb, mit einer Bunſenſchen Batterie von
12 großen Elementen verſehen, die zuſammen 94 Kilogramm wogen.
Zwei Kabel dienten dazu, den Strom an den Schraubenmotor zu
ſenden und zugleich das Steuerruder zu regieren.


Einen etwas höheren Schwung konnte die elektriſche Schiffahrt erſt
nehmen, ſeitdem die Sekundärbatterien eine allgemeinere Verbreitung
fanden. Dieſelben haben zwar zwei ſchwerwiegende Nachteile, nämlich
einmal, daß ſie ihre Kraft nicht dauernd behalten und alſo das Fahr-
zeug nach einiger Zeit wieder einem primären Stromerzeuger zugeführt
[225]Die elektriſche Schiffahrt.
werden muß, ſo daß es eben nur kleinere Strecken zurückzulegen fähig iſt,
und zweitens, daß dieſelben das Gewicht des Schiffes zu ſehr erhöhen.
Das letztere iſt nun freilich ein wenig einzuſchränken. Jedes Schiff
braucht Ballaſt, damit das Kentern erſchwert werde. Wenn man die
Sammlerbatterie am Boden des Gefährtes anbringen kann, ſo erfüllt
ſie damit auch den Zweck des Ballaſtes, und es erſetzt das Gewicht
derſelben ja dasjenige der Kohlen, das hier in Fortfall kommt. Solche
mit Akkumulatoren verſehenen Schiffe giebt es jetzt ſchon in großer
Anzahl. Das der Firma Siemens \& Halske gehörige Boot „Elektra“
befährt die Spree. In London ſind Sammlerboote etwas Gewöhnliches
geworden, ſeitdem die Firma Immiſh eine ganze Flotille davon, die jetzt
bis zur Zahl von 30 angewachſen iſt, für Bootfahrten auf der Themſe
zur Vermietung ſtellte. Sie können 90 bis 100 Kilometer zurücklegen;
dann müſſen die Sammler neu geladen werden. Der Elektromotor macht
700 bis 900 Umdrehungen in der Minute, und die Schiffsſchraube ſitzt
auf ſeiner Achſe, ohne daß — wie bei den Eiſenbahnen — noch eine
Übertragung nötig wäre. Der Führer des Boots iſt Steuermann und
Maſchiniſt zugleich, da er mittels einer Kurbel die Geſchwindigkeit
regeln kann, indem er von den Sammlern mehr oder weniger ein-
ſchaltet und mit einer anderen Kurbel das Steuerruder regiert. Ab-
fahren, Stoppen und Umkehren beſorgt er ebenfalls mit Hilfe der erſten
Kurbel mit großer Leichtigkeit. Für Vergnügungsfahrten ſind dieſe
Boote ganz ausgezeichnet, weil kein Qualm der Maſchine die Paſſagiere
beläſtigt, die Gefahr von Exploſionen ausgeſchloſſen iſt, der Führer
keiner langen Schulung bedarf und die Maſchine beim Verlaſſen des
Fahrzeuges ſich ſelbſt überlaſſen werden kann. Sie müſſen freilich
von Zeit zu Zeit mit Kraft verſorgt werden. Doch das geſchieht jetzt
von den Unternehmern auf die einfachſte Art, nämlich durch ein größeres,
zugleich die Reparaturwerkſtatt enthaltendes Schiff, welches die ſtrom-
gebende Dynamomaſchine trägt. Die Boote finden ſich an einer
beſtimmten Stelle auf dem Waſſer ein und empfangen dort ihre
Ladung. Dieſes Schiff verſieht alſo für die elektriſchen Boote den-
ſelben Dienſt wie die Tenderfahrzeuge, welche den Dampfſchiffen
Kohle zuführen.


Eine ernſtere Bedeutung erhalten die elektriſchen Boote im Kriegs-
dienſte. Die Beiboote der großen Kriegsſchiffe ſind leicht als Sammler-
boote zu bauen, und da die Schiffe ſchon zum Zwecke der Beleuchtung
Dynamomaſchinen haben, leicht mit Kraft zu verſehen. Ferner ſind
ſie für die Beförderung von Truppen konſtruiert worden, und zwiſchen
den Häfen Chatham und Sheerneß läuft jetzt das Boot „Electric“,
das, bei einer Länge von 15 und einer Breite von 3 Metern,
48 Soldaten in voller Ausrüſtung bei einer Geſchwindigkeit von
15 Kilometern in der Stunde hin- und herbefördert. Für die See-
ſchiffahrt auf kürzeren Strecken ſind elektriſche Boote alſo brauchbar,
und ſo hat auch eines bereits die Überfahrt von Calais nach Dover
Das Buch der Erfindungen. 15
[226]Die elektriſchen Erfindungen.
gemacht; für weitere Seereiſen wird man ſich einſtweilen mit Dampfern
beſcheiden.


Eine eigentümliche, mit den eben beſchriebenen Gefährten nicht
vergleichbare Erfindung iſt das Sims-Ediſonſche lenkbare Torpedo.
Sims hat die äußeren Einrichtungen dieſes furchtbaren Geſchoſſes,
Ediſon den elektriſchen Apparat konſtruiert. Dieſer letztere iſt ein
doppelter: der eine Teil ſoll das Fahrzeug vorwärts bewegen, es iſt
alſo ein Motor, der ſeine Bewegung der Schraube mitteilt, der andere
wirkt auf das Steuerruder. Man hat es in der Gewalt, von der
Stelle aus, von der das Torpedo abgeſchickt iſt, fortwährend ſeine Richtung
und Geſchwindigkeit zu ändern, und zwar durch eine Dynamomaſchine
und eine einfache Batterie. Die Zuführung der beiden verſchiedenen
Ströme geſchieht durch ein Doppelkabel, welches mit Hanf umwickelt
und mit Theer getränkt wird, daß es gerade ſoviel als das Waſſer
wiegt. Dieſes Seil iſt im Torpedo um eine Trommel geſchlungen,
und wenn es während der Bewegung des Gefährtes ſich von dieſer
abwickelt, ſo dringt Seewaſſer ein, macht aber das Fahrzeug aus dem
angeführten Grunde weder ſchwerer noch leichter. Die Wirkungen
dieſes Geſchoſſes ſollen ungeheure ſein, und es iſt zunächſt in den
Dienſt der nordamerikaniſchen Küſtenverteidigung geſtellt worden, wird
ſich aber für denſelben Zweck wohl auch in anderen Ländern einführen.


g) Die Erfindung des Phonographen und des Telephons.


Der Phonograph.

Die wichtigſte Erfindung, welche der Menſch gemacht hat, zugleich
wahrſcheinlich die älteſte, iſt die der Sprache, jener — mit Wilhelm von
Humboldt zu reden — „ewig ſich wiederholenden Arbeit des Geiſtes,
den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen.“
Sie iſt es, die ihn über die Stufe des Tieres hinaushob. Wie ſie
entſtand und ſich entwickelte, darüber liegen die Anſichten noch in
heißem Kampfe. Das Kind, welches zuerſt durch Geberden ſich ver-
ſtändlich zu machen ſucht und erſt ſpäter den Gebrauch ſeiner Sprach-
organe lernt, es kann uns einen Anhalt geben, wie ſich jene Ent-
wickelung vollzog. Den Gedanken in Gebärden auszudrücken war die
erſte Kunſt der Menſchen, die Fähigkeit, mit verſchiedenen Lauten,
welche die Sprachorgane hervorbringen, Begriffe zu verbinden, erſt
die zweite. Woher die Mannigfaltigkeit der Laute und ihrer Ver-
bindungen ſich her ſchreibt, dies genauer zu ſtudieren, war unſerem
Jahrhunderte vorbehalten, welches die Lautphyſiologie erzeugte oder
doch der kaum vorhandenen glänzende Förderung brachte. Was
iſt ein Laut? Soviel weiß jeder, daß es etwas iſt, was die Sprach-
werkzeuge hervorbringen und das Ohr wahrnimmt. Aber welches ſind
[227]Der Phonograph.
überhaupt die Werkzeuge der Sprache? Man hat früher den Kehlkopf
für das einzige erachtet, und erſt die genaueren Studien dieſes Jahr-
hunderts ergaben die Mitwirkung der verſchiedenen Mundteile, der
Zunge und der Lippen ſelbſt für die Vokalbildung. Was dieſe zuſammen
bewirken, der Stimmlaut, gelangt an unſer Ohr, und er kann dies
offenbar nur durch Vermittelung der dazwiſchen befindlichen Luft, wie
man einfach dadurch zeigen kann, daß man eine Schallquelle unter
der Luftpumpe ihrer luftigen Umgebung beraubt; ſie wird jetzt viel
weniger deutlich vernehmbar ſein. Die Bewegung der Luft iſt es,
welche den Laut zu uns herüberträgt und in unſerem Ohre wieder
andere Bewegungen hervorbringt. Das ſind Hin- und Hergänge des
Trommelfelles und der dahinter liegenden Ohrteile, welche ſich ſchließlich
bis zu den feinen Enden des Hörnervs verbreiten und dort die Em-
pfindung des Gehörten hervorbringen.


Schwingungen, denen des Trommelfells ähnlich, zu erzeugen hält
nicht ſchwer. Man braucht dazu nichts als eine Platte von Metall oder
Holz, die man in ihrer Mitte befeſtigt. Ihr kann man durch Streichen
mit einem Violinbogen die verſchiedenartigſten Töne entlocken, und wenn
man dabei Sand auf die Platte ſtreut, ſo wird ſich dieſer, je nach dem
Tone in immer anderer Weiſe anordnen und uns ſo die Schwingungen
vergegenwärtigen, welche die Platte ausführt. Der Phyſiker Chladni,
deſſen Namen dieſe Sandfiguren tragen, hat dieſelben genauer ſtudiert
und dadurch nicht wenig zu der Erkenntnis der Natur des Hörens
und Sprechens beigetragen. Es liegt nahe anzunehmen, daß am
Ausgangspunkte der Stimmlaute ebenſolche Hin- und Hergänge von
Körperteilchen ſtattfinden, und das iſt wirklich der Fall. Die Stimm-
bänder bewegen ſich rythmiſch auf und nieder, und die in der Mund-
höhle eingeſchloſſene Luft macht ähnliche Schwingungen durch. Das
ſind alles Beobachtungen, die durch die Erfindung des Kehlkopfſpiegels
und des akuſtiſchen Flammenzeigers erſt vor wenigen Jahrzehnten
ermöglicht wurden. Sie legten den Gedanken nahe, dieſe Schwingungen
auch irgendwo aufzeichnen zu laſſen und Mittel und Wege zu ſuchen,
aus dieſen Aufzeichnungen wieder, nachdem das geſprochene Wort
längſt verhallt ſei, es zum Ertönen zu bringen. Dieſer Plan war
eigentlich nicht neu, aber ſeine Verwirklichung konnte erſt nach dieſem
genauen Studium der Sprache gelingen. Bereits 1653 ſchreibt ein
phantaſiereicher franzöſiſcher Schriftſteller, er habe von einem Bewohner
des Mondes einen buchförmigen Kaſten zum Geſchenke erhalten. „Als
ich ihn öffnete, fand ich darin einen Metallgegenſtand, den Uhren
ähnlich und voll von kleinen Federn und kaum ſichtbaren Maſchinen.
Es iſt zwar ein Buch, aber ein Wunderbuch ohne Blätter und Schrift,
kurz ein Buch, bei welchem man zum Leſen und Lernen der Augen
nicht bedarf; man braucht nur Ohren. Wünſcht alſo jemand zu leſen,
ſo ſpannt er dieſe Maſchine mit Hülfe einer Menge kleiner Sehnen,
dann verſetzt er die Nadel nach dem Kapitel, welches er zu hören
15*
[228]Die elektriſchen Erfindungen.
wünſcht, und es klingen ſofort, wie aus dem Munde eines Menſchen
oder aus einem Muſikinſtrumente, alle die verſchiedenen Laute heraus,
welche bei den Mondbewohnern als Sprache dienen.“


Der beſchriebene Apparat iſt der Phonograph, aber ſeine Erfindung
wurde nicht früher als im Jahre 1877 gemacht, und der ſie machte, war
wieder kein anderer als Ediſon, der ſich alſo auf akuſtiſchem Gebiete als
ebenſo bewandert bewies, wie wir ihn in ſeinem eigentlichen Fache, der
Elektrotechnik kennen gelernt haben. Der Apparat läßt an Einfachheit
nichts zu wünſchen übrig. Die Worte, welche aufgeſchrieben werden
ſollen, brauchen nur in einen Trichter gerufen zu werden, der unten
mit einer elaſtiſchen Haut abſchließt. So weit iſt das Inſtrument
offenbar unſerem Ohre nachgebildet: der Trichter iſt der Ohrmuſchel,
die Membran dem Trommelfelle vergleichbar. Bei den verſchiedenen
Lauten, die hineinſchallen, wird dieſe Haut verſchiedene ſchwingende
Bewegungen durchmachen. Iſt die Stimme laut, ſo werden die
Schwingungen ſtärker ſein, iſt ſie hoch, wie etwa die der Frauen, ſo
werden ſie ſchneller erfolgen, als wenn ſie tief iſt, wie die der Männer,
und alle Modulationen der Sprache werden ſich ſchließlich in den
Beſonderheiten der einzelnen Schwingungen wiederſpiegeln.


Aber Worte ſind wie Hauch, den der Wind verweht. Iſt es
nicht möglich dieſe Bewegungen der Membran irgend wie zu fixieren?
Darf man nicht hoffen, den Apparat zur nachträglichen Wiederholung
des geſprochenen Wortes zu veranlaſſen? Beides iſt möglich. Das
Aufſchreiben geſchieht durch einen ſpitzen Stift, der an der außer-
halb des Trichters befindlichen Seite der Membran ſitzt, und ſtatt des
Papieres zum Schreiben bedient man ſich hier eines Blattes aus dünnem
Zinn, wie es als Stanniol zum Einpacken vieler Dinge vermendet
wird. Dieſes wird um eine Walze gewickelt, welche ſich drehen läßt.
Beim Drehen bewegt ſie ſich zugleich im ganzen vorwärts, da in die
Drehungsachſe ein Schraubengewinde eingeſchnitten iſt, welches ſich in
eine feſtſtehende Schraubenmutter hineindreht. Ein Gewinde von der-
ſelben Ganghöhe iſt auch in die Walzen eingeſchnitten. Der Stift an
der Membran drückt das Stanniol gerade in dieſes Gewinde hinein.
Wenn alles ruhig iſt, ſo drückt der Stift ſtets gleichmäßig gegen das
Zinnblatt, und erſt wenn man hineinſpricht, ändert ſich durch die Auf-
und Abbewegung des Stiftes die Tiefe der Schraubenlinie, deren
Durchſchnitt jetzt wellig erſcheinen wird. Wir haben jetzt ſozuſagen
das Geſprochene auf dem Zinnblatte abgebildet. Es iſt eine Schrift,
die wir vor uns haben, aber eine viel vollkommenere als diejenige,
die wir mit der Feder ſchreiben. Oder iſt es möglich, daß die ge-
ſchriebene oder gedruckte Rede uns völlig den Eindruck der geſprochenen
macht, merken wir die feinen Hebungen und Senkungen des Organs
während des Leſens, durch welche der Redner ſeinen Worten Nach-
druck leiht? Nein, aber der Phonograph hat alles dies mit auf-
gezeichnet, er iſt ein ſo bedeutender Schnellſchreiber, wie keiner je in
[229]Der Phonograph.
Parlamenten gearbeitet hat. Er iſt auch fähig, uns das, was er ſich
notiert hat, alles wieder vorzuleſen, ganz in dem Tonfall, der beim
Sprechen angewendet ward. Dazu iſt nur nötig, durch Rückwärts-
drehen die Walze an ihren Ausgangspunkt zurückzubringen, den Stift,
der während dieſes letzten Vorgangs zurückgelegt war, an den Anfangs-
punkt jener eigentümlichen Schrift zu ſetzen, und aus dem Sprachrohr,
zu welchem das Schallrohr von vorhin geworden iſt, tönt uns die
hineingeſprochene Rede wieder. Der Stift folgt nämlich allen Uneben-
heiten des Stanniolblattes, die er ſelbſt erzeugt hat, und gerät da-
durch in ähnliche Schwingungen, wie während des Schreibens, er
überträgt ſein Zittern auf die elaſtiſche Haut, welche nun dieſelben
Schwingungen wiederholt, die ſie vorher vollführte, und vor ſich die
Luft im Trichter in Bewegung ſetzt, daß dieſe in unſer Ohr dringend
uns zur Empfindung der Rede verhilft.


Aber freilich hatte dieſer Apparat, ſo einfach und ſo lehrreich er
war, wenn er ſich auch zur Wiedergabe des Geſungenen und der mit
Muſikinſtrumenten ihm anvertrauten Melodien ganz ebenſo eignete,
auch ſeine ſchwachen Seiten, und der geniale Erfinder war nicht nur
umſichtig genug, dieſelben herauszufinden, er war auch der Mann, die
Schwierigkeiten, die ſich den Verbeſſerungen des Apparates in den
Weg ſtellten, mit der zähen Energie, welche mit der Genialität
gepaart den Erfinder Großes erreichen läßt, zu überwinden. Zwölf
Jahre arbeitete er unausgeſetzt an den Verbeſſerungen ſeines Stimm-
ſchreibers, dann übergab er der Welt einen Apparat, wie ſie ihn voll-
kommener nicht wünſchen kann. Einmal war die Membran, die Ediſon
damals verwandt hatte, nicht gleichmäßig elaſtiſch; heute verwendet er
für dieſelbe ein dünnes Blatt aus Glas. Dieſer Körper, deſſen Zer-
brechlichkeit ſprichwörtlich geworden iſt, den wir für ſo wenig bieg-
ſam halten, beſitzt in Blattform die gleichmäßige Elaſtizität in allen
Richtungen, welche ihn für den Phonographen geeignet macht. Anderer-
ſeits war das Material der Walze zu ändern, da die Zinnfolie leicht
nachgab und ihre Eindrücke nicht bleibend behielt, ſo daß ſie ſich nicht
zum öfteren Gebrauche aufheben ließ. Jetzt iſt dieſelbe durch eine
Walze erſetzt, die aus einem weichen Stoffe, man ſagt aus einer
Miſchung von Wachs und Seife beſteht, die aber noch einige nicht
allgemein bekannte Beimengungen enthält. Auf ihr werden die Spuren
des Stifts auch nicht blos oberflächlich eingedrückt, vielmehr ſchneidet
ein ſcharfes Meſſer, das denſelben erſetzt, in das weiche Material
ein, ähnlich wie der Grabſtichel des Kupferſtechers in die Platte
einſchneidet. Die Spähne können ſorgfältig weggenommen werden, ſo
daß die Schrift höchſt ſorgfältig eingemeißelt erſcheint. Dieſe Walzen
laſſen ſich nun aufheben, und jederzeit kann man die ihnen überlieferten
Laute ſich wieder in die Ohren klingen laſſen. Das wird jetzt auch
in viel ſaubererer Weiſe erreicht, als früher, da man die Maſchine
mit der Hand bewegen mußte. Damals war der Gang niemals ſo
[230]Die elektriſchen Erfindungen.
gleichmäßig, daß nicht auch in der Wiedergabe der Töne Unreinheiten
vorkamen. Heute geſchieht die Drehung der Walze durch einen unter
ihr in einem Kaſten ſitzenden kleinen Elektromotor. Derſelbe dreht ſich ſo
gleichförmig, daß auch in dieſer Richtung der Apparat vollkommen iſt.


Figure 151. Fig. 158.

Edijons neuer Phonograph mit Zubehör.


[231]Der Phonograph.

Wir erblicken in dem Bilde (Fig. 158) den Phonographen mit
allem Zubehör, fertig, um zu uns zu ſprechen. Wollen wir ihn deutlich
vernehmen, ſo kann dies durch das Einbringen zweier Hörſchläuche
in unſere Ohren geſchehen. Aber er kann mit Hilfe des dahinter
ſichtbaren Hörtrichters auch zu einer größeren Anzahl von Perſonen
vernehmlich reden. Wir ſehen hier nur noch die Walze, den
Motorkaſten, einen Teil der Übertragung und den die Schnelligkeit

Figure 152. Fig. 159.

Aufnahme von Tönen durch den Phonographen.


regulierenden Apparat auf der linken Seite. Unten ſtehen einige von
den Walzen, welche zur Aufnahme des Geſprochenen dienen. Wie
dieſe Aufnahme erfolgt, das zeigt dann die Fig. 159. Der Schall-
trichter endigt bei d mit der Glas-
platte a, die ihre Bewegungen
auf den Grabſtichel b überträgt;
m ſchließlich bedeutet die ſich
drehende Walze. In der Fig. 160
ſehen wir den Stift b bei der
Arbeit; er hat eine wellenförmige
Vertiefung in die Walze einge-
riſſen. Die Geſtalt dieſes Ein-
ſchnittes kann eine ſehr verſchiedene
ſein, wie ſie die Fig. 161 zeigt,
welche die Buchſtaben A, B, C, D
darſtellt. Selbſt wenn die Stärke
und die Höhe eines Lautes die-
ſelbe bleibt, ſo kommen noch jene
Feinheiten hier zum Ausdruck,

Figure 153. Fig. 160.

Aufnahme von Tönen durch den Phonographen.


[232]Die elektriſchen Erfindungen.

Figure 154. Fig. 161.

Die Buchſtaben A, B, C, D in phonographiſcher Schrift.


welche die Stimmen der Menſchen
von einander unterſcheiden laſſen.


Zu gleicher Zeit mit Edi-
ſon hatten noch andere an der
Vervollkommnung ſeines Appa-
rates gearbeitet. In einer etwas
anderen Richtung als jener iſt
dabei E. Berliner vorgegangen,
und der von ihm erfundene ſinn-
reiche Apparat, das Grammo-
phon (Fig. 162), verdient hier
ſchon deshalb eine Beſprechung,
weil er, ohne in der getreuen
Wiedergabe der Sprache an den verbeſſerten Ediſonſchen Phonographen
heranzureichen, durch ſeine Einfachheit ſich eine wohlverdiente Ver-
breitung verſchafft hat. Der Aufnahme-Apparat iſt hier vom Wieder-
gabe-Grammophon etwas verſchieden. Bei dem erſteren wird eine ſehr
ebene Zinkplatte B mit einem dünnen Überzuge von Wachsfett bedeckt,
welcher durch Ausziehen des Bienenwachſes in Petroleumbenzin hergeſtellt
wird. Dieſe Platte ſoll die Schrift aufnehmen und ſie wird dazu um

Figure 155. Fig. 162.

Grammophon von Berliner.


eine ſenkrechte Achſe gedreht. Das Hörrohr und
der Schreibſtift ſind hier etwas anders gegen ein-
ander geſtellt, ſo daß der Stift ſeitliche Be-
wegungen während des Schreibens ausführt, er
kratzt dabei die dünne Wachsſchicht von der Zink-
platte fort. Nun ſollte man glauben, daß bei
dem fortwährenden Drehen der Stift immer auf
derſelben Kreislinie bleiben müßte, aber es iſt
dafür geſorgt, daß er etwas nach dem Innern
der Scheibe fortſchreitet und ſo eine Spirale be-
ſchreibt, von der er freilich kleine Spaziergänge
nach rechts und links macht, die durch die
Schwingungen der Membran F hervorgebracht
werden. Dieſe iſt hier ein Gummiblättchen, der
Stift aber beſteht aus der härteſten Metallmiſchung,
die wir kennen, nämlich einer ſolchen von Osmium
und Iridium. Iſt bei der Aufnahme durch den Stift die Wachs-
ſchicht fortgeſchafft, ſo kann nunmehr die Platte durch Chromſäure
geätzt werden. Dabei bilden ſich an den vom Überzuge befreiten
Stellen Vertiefungen in der Platte, die man bis zu einem gewiſſen
Maße treiben kann. Wenn man dann von der Platte einen galvano-
plaſtiſchen Abzug herſtellt und dieſen in Hartgummi oder in Wachs,
das beſonders präpariert wird, abdruckt, ſo erhält man ſo viele Ver-
vielfältigungen der Aufnahmeplatte, als man irgend will, und das iſt
ein Vorzug des Grammophons vor dem Phonographen, da deſſen
[233]Der Phonograph.
Aufnahmen eine Nachbildung nicht zulaſſen. Die Wiederholung der
dem Grammophon diktierten Reden hat gar keine Schwierigkeit. Jede
Stopfnadel, in einen Kork geſteckt, kann dazu dienen. Faßt man den
Kork loſe an, ſo gleitet die Nadel über die Schrift und hält ſich durch
die Reibung gerade über der Spirale. Sie macht alſo genau die
Schwingungen durch, welche vorhin der Stift vollführte und teilt
durch die Luft unſerem Ohre die längſt verhallte Rede wieder mit.
Durch ein Schallrohr läßt ſich der Ton beliebig verſtärken. Die
Einfachheit des Grammophons verſchafft ihm allmählich Eingang in
Familien, wo er ein allezeit launenloſer Unterhalter iſt. Muſikſtücke,
die ihm durch Spiel und Geſang jemals anvertraut wurden, weiß er
ebenfalls mit der peinlichſten Genauigkeit wieder von ſich zu geben.


Praktiſche Anwendung dieſer Inſtrumente von beſonderem In-
tereſſe ſind freilich bisher nicht gemacht worden — wenn wir von
Spielereien abſehen, die von Amerika aus auch auf den europäiſchen
Spielwaarenmarkt gelangten, wie jenen ſprechenden Puppen, die
vermöge eines in ihrem Innern ſitzenden Phonographen einen früher
hineingeſprochenen Satz wiederholen können. Aber er beſitzt für die
Wiſſenſchaft einen unſchätzbaren Wert. Wie genau wird man jetzt
die Sprachen der verſchiedenen Völker, die jemals und irgendwo er-
klungen ſind, nach langer Zeit noch unterſuchen können! Wie wird
es möglich ſein, den Aufbau der je von Muſikinſtrumenten oder vom
Menſchenmund oder durch die Stimmen der Tiere hervorgebrachten
Laute in ihre feinſten Details aufzulöſen und mit welcher Muße wird
man ſich dieſem Studium hingeben können, welches ſonſt mit dem
ſchwierigen Verſuche begann und endigte! Die Unterſuchung der
menſchlichen Sprachen, das Feſthalten ſolcher, die dem Untergange
anheimfallen, das ſind die Hauptdienſte, zu denen der Phonograph
ſich darbietet.


Das Telephon.

Aber wie kommen wir gerade hier auf dieſen Apparat zu ſprechen,
der doch ſeiner ganzen Natur nach keine elektriſche Erfindung dar-
ſtellt, denn der Elektromotor, dem Ediſon die Führung der Phono-
graphenwalze übertrug, kann ja ohne großen Schaden auch durch
einen anderen Motor erſetzt werden. Wir ſind gerade hier näher auf
ihn eingegangen, weil wir durch ihn über die Natur der Laute belehrt
worden ſind, deren Übertragung auf weite Fernen eine Aufgabe iſt,
für welche die Elektrizität ſich als einzig tauglich erwies. Sie iſt es,
die mit ungeheurer Geſchwindigkeit ſich verbreitend, ſich als der pünktlichſte
Bote für allerhand Übermittelungen erwieſen hat; auf ſie alſo mußte
ſich vor allem das Augenmerk derjenigen Erfinder richten, denen ein
Sprechen in weite Fernen als erſtrebenswertes Ziel galt. Der Schall,
der in die Luft eindringt, pflanzt ſich wohl auch mit einiger Schnelligkeit
fort, da er in drei Sekunden ein Kilometer zurückzulegen vermag.
[234]Die elektriſchen Erfindungen.
Aber jeder weiß, daß er ſchon in geringer Entfernung nur noch un-
deutlich vernehmbar iſt, und auf immer weitere Strecken eine direkte
Verſtändigung ausgeſchloſſen iſt. Jedermann kennt aber ſchon das
Spielzeug der Kinder, durch welches ſie ein beſſeres Verſtehen weit
entfernter Schallquellen möglich machen, den geſpannten Hanffaden.
Man braucht nur zwei Cigarrenkiſten durch eine hundert Meter lange
Schnur zu verbinden und vermag am anderen Ende deutlich das Ticken
einer Uhr zu vernehmen, deren Schall in der Luft kaum auf ein Meter
[Entfernung] hörbar iſt. Die Hanfſchnur iſt, das ſchließen wir hieraus,
ein beſſerer Leiter für den Schall als die Luft. Es ließe ſich vielleicht
noch der eine oder andere beſſere Leiter finden, aber auf weitere Ent-
fernungen ließ dieſe Methode, Nachrichten zu übermitteln, ſtets im Stiche.


Die Elektrizität, das ahnte man, mußte hierfür vorzüglich geeignet
ſein, und ſie war auch längſt zur Übermittelung von Tönen verwendet
worden. Man kann, um dies zu zeigen, ſich einfach zweier Stimm-
gabeln bedienen. Auch dieſe ſchwingen hin und her, wenn man ſie
mit dem Violinbogen ſtreicht, und das iſt die Urſache, weshalb ſie
tönen. Man braucht nur den Finger an eine tönende Gabel zu legen
und man wird dieſe Schwingungen ſofort fühlen. Man wird eine
ſolche Gabel deshalb auch ſo ſtellen können, daß ſie bei ihrem Erzittern
einen elektriſchen Strom fortwährend öffnet und ſchließt und ein weit
entfernter Eiſenſtab, den der Strom umfließt, wird alſo abwechſelnd
zum Magneten werden und ſchnell wieder ſeinen Magnetismus verlieren,
und eine Stimmgabel in ſeiner Nähe wird in demſelben Rythmus
hin- und herſchwingen, da ſie von dem Magneten in denſelben Pauſen
angezogen wird, und wird alſo denſelben Ton wie jenes erſte Inſtrument
hervorbringen — allerdings nur dann, wenn ſie genau auf denſelben
Ton, wie die vorige Gabel abgeſtimmt iſt. Eine Gabel hat nämlich
die Eigentümlichkeit, daß ſie nur immer einen beſtimmten Ton giebt oder
höchſtens zweier ganz beſtimmter Töne fähig iſt. Das iſt ein großer
Mangel, den ſie den Platten gegenüber beſitzt, welche wir im Phono-
graphen bei ihren ſchwingenden Bewegungen ſahen. Ein Ton iſt außer-
dem kein Laut und es iſt etwas anderes, die Töne eines Muſikinſtrumentes
oder den Klang der menſchlichen Stimme auf Meilenweite zu übertragen.
Der Ton jedes Muſikinſtrumentes erſcheint unſerem Ohre härter wie der
Stimmlaut, der durch viele Nebentöne und Geräuſche erſt zu dem wird,
was er iſt. Noch hat kein Inſtrument, vom Phonographen abgeſehen,
dieſe Fülle von Einzelheiten, welche die Stimme ausmachen, wirkſam
zuſammenzufaſſen, den Stimmlaut nachzuahmen vermocht, und der
Phonograph vermochte dies durch die ſchwingende Platte, deren Be-
wegung ſich dem ſchreibenden Stifte mitteilte. Vor Ediſon hatte kaum
jemand geglaubt, daß ſelbſt ſolche Glas- oder Glimmerblättchen einer
ſolchen Mannigfaltigkeit der Schwingungen fähig wären, am aller-
wenigſten kam man auf den Gedanken, daß Metallblättchen es ver-
möchten.


[235]Das Telephon.

Ein Verſuch, den Philipp Reis in Friedrichsdorf am Taunus
1862 anſtellte, hätte in dieſer Beziehung anregen können. Er übertrug
die Schwingungen auf eine tieriſche Haut und auf ein daran ſitzendes
Metallblättchen. Fortwährend wurde durch dieſes der Strom einer
Batterie unterbrochen und wieder geſchloſſen. An weit entfernter
Stelle war ein weicher Eiſenkern, der innerhalb einer vom Strom
durchfloſſenen Spirale lag. Dieſer geriet bei ſeinem ſchnell erfolgenden
Ummagnetiſieren ſelbſt ins Tönen und man konnte wohl Melodien,
aber nicht oder doch nur ſehr unvollkommen menſchliche Stimm-
laute übertragen. Hierauf ruhte die Sache, und es war um die
Zeit, als Ediſon an ſeinem Phonographen arbeitete, daß zugleich
Graham Bell, Profeſſor der Phyſiologie in Boſton den Gedanken,
eine ſchwingende Metallplatte zum Nachahmen der [menſchlichen]
Stimme zu benutzen, verwirklichte. Ihre Übertragung in weite Ferne,
ſo ſagte ſich Bell weiter, war nur deshalb auf elektriſchem Wege
bisher nicht gelungen, weil das fortwährende Öffnen und Schließen
eines Batterieſtroms zu ſtarke und plötzliche Stöße in dem Stromkreiſe
hervorbringt, wie ſie die menſchliche Stimme nicht aufweiſt. Um jenen
melodiſchen Klang unſerer Sprachorgane zu erhalten, bedurfte es eines
Stromkreiſes, der ſich während des Sprechens nicht öffnet und ſchließt,
ſondern geſchloſſen bleibt und nur durch den geſprochenen Laut ſich
ein wenig verſtärkt oder ſchwächt. Dieſe — ſozuſagen von Wellen
durchzogenen — Ströme, ſo ſagte er wörtlich, würden an Schnelligkeit
des Wechſels den Schwingungen der Metallplatte entſprechen müſſen,
welche ſie hervorbrachte, das Anwachſen der Stromſtärke müßte der
Bewegung der Platte in der einen, ihre Abnahme derjenigen in der
anderen Richtung entſprechen, die Größe der Ab- und Zunahme müßte
der Stärke der Schwingungen oder vielmehr der Geſchwindigkeit ent-
ſprechen, mit welcher die Platte ſich bewegt. Solche Ströme würden
am anderen Ende einem Empfangsapparate und durch dieſen der Luft
eine bis ins Kleinſte getreue Nachbildung derjenigen Luftbewegung
übermitteln, welche an der Aufgabeſtation auf die Platte gewirkt hatte,
und damit jene zum Gehör bringen. Dieſen Gedankengang überſetzte
Bell in die That, indem er 1875 der Welt ſein Telephon übergab.
Für die Erfindung deſſelben benutzte er die folgende Erſcheinung.
Nähert man einem Stahlmagneten ein Stück Eiſen, ſo wächſt deſſen
Kraft ein wenig an, bei der Entfernung des Eiſens nimmt ſie wieder
um eben ſoviel ab. Wenn nun den Magneten eine in ſich geſchloſſene
Drahtſpule umgiebt, ſo wird jede Vermehrung des Magnetismus
in dieſer einen Strom induzieren und jede Verminderung deſſelben
einen ſolchen von der entgegengeſetzten Richtung hervorbringen, ganz
wie wenn man einen Magneten der Spule nähert oder ihn entfernt.
Erſetzt man das große Eiſenſtück durch eine dünne Platte, welche bei
dem geſprochenen Wort erzittert, ſo werden ihre Schwingungen auch
noch ſolche Ströme hervorbringen, freilich ſehr ſchwache nur, die aber
[236]Die elektriſchen Erfindungen.
vielleicht noch immer genügen, dieſelben Schwingungen in einer ähnlichen
Platte hervorzurufen.


Die Fig. 163 zeigt uns Bells Inſtrument. Den Magnetſtab ſehen wir
bei S N. Seinem Nordpole gegenüber iſt die Platte P P, eine kreisrunde
papierdünne Eiſenplatte, durch das Aufſchrauben des Holzſtückes B B ſo
befeſtigt, daß ſie ſich nicht verſchieben kann. Wenn ſie nicht eingeklemmt

Figure 156. Fig. 163.

Bells Telephon.


wäre, würde ſie ſich nach dem
Magnetpole N hinbegeben. Sie
iſt aber von dieſem noch ſo weit
entfernt, daß der ſtärkſte Luft-
hauch, den wir mit dem Munde
hervorbringen, ſie nicht bis an N
heranbringt. Aber wenn in den
Schalltrichter M hineingeſprochen
wird, ſo werden die entſtehenden
Schwingungen der Luft auch in
der Scheibe Schwingungen von
ganz beſtimmter Form erzeugen,
dann werden in der Induktions-
ſpule D Ströme hin und her-
zucken, die in ihrem Wechſel
ein getreues Abbild der Schall-
ſchwingungen ſind. Die Draht-
enden a und b dieſer Spule ſind
zu den Schrauben c und d hin-
geführt, und von hier aus können
viele Kilometer lange Leitungen
ausgehen, die man meiſt zu-
ſammenſpinnt. Dann werden in
einem anderen gleichgeſtalteten
Apparate, an deſſen Schrauben
c d dieſe Leitungen endigen, die
Ströme auch durch die ent-
ſprechende Induktionsſpule gehen.
Dieſe werden in ihrer Reihenfolge
bald ſtärkend, bald ſchwächend
auf die Kraft des dortigen Mag-
neten einwirken und damit die
Eiſenplatte bald ſtärker, bald
ſchwächer anziehen, ſo daß dieſe ganz dieſelben Schwingungen vollführen
wird, wie die erſte, welche die Induktionsſtröme hervorrief. Wir werden
in dem empfangenden Telephon durch Vermittelung der Luft dieſe
Schwingungen als dieſelben Laute empfinden, welche in das gebende
Telephon gerufen wurden. Und das iſt wunderbar. Denn jene
ſchwachen Induktionsſtröme, die bei ſtundenlanger Wirkung noch nicht
[237]Das. Telephon.
ein Tröpfchen Schwefelſäure in ſeine Beſtandteile aufzulöſen vermöchten,
und darin den konträren Gegenſatz zu jenen gewaltigen Induktions-
wirkungen liefern, die wir bei den Dynamomaſchinen beobachteten,
ſie ſind dennoch fähig, uns in weiter Ferne Geſprochenes zum deutlichen
Gehör zu bringen. Es giebt auch kaum einen feinfühligeren Apparat,
als das Telephon. Innerhalb eines Hauſes oder ſelbſt auf mehrere
hundert Schritt geſtattet es die Verſtändigung durch den dünnſten
Eiſendraht, trotz der großen Widerſtände, die ſich der Fortleitung
des Stromes entgegenſtellen, trotz der großen Verluſte, welche die
Kraft der Schwingungen bei ihrer doppelten Umſetzung in Magnetismus
und Elektrizität erfahren muß. Es iſt ſo gefügig, daß ſelbſt die Ein-
ſchaltung einiger menſchlicher Körper in den Stromkreis die Wirkſamkeit
nicht aufhebt, obgleich ſich denken läßt, was für einen koloſſalen Wider-
ſtand im Vergleiche zu Metalldrähten gerade der menſchliche Körper
leiſtet. Es iſt ein äußerſt beſcheidener Apparat, es verlangt nicht den
Strom irgend einer galvaniſchen Batterie, nicht die Mitwirkung einer
anderen ſtromliefernden Maſchine, es erzeugt ſich diejenigen ſchwachen
Ströme aus eigener Kraft, die es zu ſeinen ſchönen Wirkungen be-
fähigen.


Aber man darf nicht zuviel verlangen. Wenn man viele
Meilen weit ſich vernehmbar machen will, ſo kommt man doch mit
dem gewöhnlichen Fernſprecher nicht aus, und wenn man die beſte
von allen dabei zur Verfügung ſtehenden Leitungen ausſuchte. Es
geht dann von den an ſich ſo geringen Elektrizitätsmengen das meiſte
in die Luft hinüber oder ſetzen ſich in den Drähten in Wärme um.
Man mußte alſo auf Verbeſſerungen und Hülfsapparate denken, um
immer ſtärkere Wirkungen möglich zu machen. Dieſer Gedanke führte
auf den alten Vorſchlag von Reis zurück, daß man mit dem gebenden
Fernſprecher auf die Kraft eines Stroms einwirken müſſe, der von
einer beſonderen Quelle geliefert wird. So ſannen Ediſon wie Bell
darüber nach, ob man vielleicht die Leitungsfähigkeit eines flüſſigen
Leiters in paſſender Weiſe durch den Gebe-Apparat beeinfluſſen könne,
beide gaben aber dieſe Verſuche auf und entſchloſſen ſich, eine andere
Klaſſe von Leitern darauf hin zu unterſuchen. Endlich verfiel Ediſon
auf die Kohle als das Material, welches ſeinem Vorhaben günſtig
ſchien. Wir müſſen erwähnen, daß wenige Jahre vorher Clerac an
der Kohle eine wunderbare Eigenſchaft entdeckt hatte, welche man am
einfachſten durch den folgenden Verſuch deutlich macht. Man leite
den Strom einer galvaniſchen Batterie durch zwei Kohlenſtücke, die nur
loſe aufeinander liegen und durch die Spule eines Elektromagneten.
Der Strom iſt nur ſchwach. weil die Kohle dem Durchgange des
Stromes einen viel größeren Widerſtand entgegenſetzt als di? Metalle
daher iſt auch die magnetiſche Kraft, die er erzeugt nur gering, aber
dieſelbe wächſt, wenn man die eine Kohle feſt gegen die andere drückt,
der Magnet ſtärkt ſich, er vermag jetzt ein beweglich aufgehängtes
[238]Die elektriſchen Erfindungen.
Eiſenblättchen anzuziehen, wozu er früher nicht fähig war. Wir
ſchließen, daß der Druck auf die Kohlen den Widerſtand derſelben
vermindert. Clerac hatte Kohlenſtücke innerhalb einer Röhre in den
Stromkreis eingeſchaltet. Durch feſteres Anziehen einer Schraube
konnte er die Kohle immer ſtärker zuſammenpreſſen und damit
den Widerſtand des Stromkreiſes beliebig vermindern. Aber die
Schraube blieb auf dem Punkte ſtehen, bis zu dem ſie angezogen
war, wenn ſie nicht für einen ſpäteren Verſuch eine andere Stellung
erhielt: daß die Kohle von Zeit zu Zeit Änderungen erfahren könne, daß
ſie eine ausgezeichnete Fähigkeit beſitze, ihr Leitungsvermögen bei den
leiſeſten Stößen zu ändern, das wußte man vor Ediſon noch nicht, und
es bleibt ihm das Verdienſt, dieſe für die Verbeſſerung des Telephons
wichtige Entdeckung gemacht zu haben. Sie führte ihn zur Abänderung
des Fernſprechers. Faſt zu gleicher Zeit war dieſelbe Entdeckung
ſelbſtſtändig 1878 von Dr. Robert Lüdtge in Berlin, von dem Ameri-
kaner Hughes und von dem Erfinder des Grammophons E. Berliner 1877
gemacht worden und hatte alle vier zur Erfindung eines Mikrophons
geführt.


Die Fig. 164 zeigt eines, welches man mit den einfachſten
Mitteln herſtellen kann. Wir ſehen hier ein hölzernes Käſtchen, das

Figure 157. Fig. 164.

Mikrophon.


in ſeiner Wirkung den Reſonanzböden der muſikaliſchen Inſtrumente
gleicht, zwei darüber gelegte Kohlenſtäbchen ſind in der gezeichneten
Art mit den Polen eines galvaniſchen Elements E und den Schrauben
eines Telephons T verbunden. So lange nun vollſtändige Ruhe herrſcht
und nichts das Käſtchen A erſchüttert, bleibt auch überall der Wider-
ſtand derſelbe, der Strom ändert ſich nicht, und am Telephon iſt nichts
[239]Das Telephon.
zu hören. Wenn aber auch nur eine Fliege darüberſchreitet, in der
Nähe leiſe geſprochen wird, ſo giebt das Schwingungen der Stäbe,
zwar ganz kleine nur, die aber doch die Berührungsſtellen derart
beeinfluſſen, daß ſich dort der Widerſtand auch in denſelben regelmäßigen
kurzen Zeiträumen ändert, in denen die Schwingungen des Schalles
ſtattfinden. Die Folgen ſind leicht zu überſehen. Damit ändert ſich
nämlich die Stärke des Stromes im Draht und die des Telephon-
magneten. Schwingungen des Eiſenplättchens werden erfolgen, welche
durch die umgebende Luft an unſer Ohr gelangen. So werden wir
am Telephon Geräuſche wahrnehmen, viel lauter, als ſie ein Aufgabe-
telephon zu erzeugen fähig iſt, weil bei dem Mikrophon der Wechſel
in der Stromſtärke weit bedeutender iſt. Hauptſächlich war es die
Einführung dieſes Apparates an Stelle oder in Geſellſchaft des Auf-
gabetelephons, welche dem Fernſprechweſen die Vollkommenheit und
Bequemlichkeit verſchaffte, welche heute dieſem unentbehrlich gewordenen
Verkehrsmittel eignet. Hunderte von Änderungen ſind freilich noch
angebracht worden neben dieſer wichtigſten, aber der Raum fehlt uns
auf alle einzugehen. So hat Siemens durch die Einſtellung eines
Hufeiſenmagnets, ſtatt des ſtabförmigen, die Lautwirkung weſentlich
vergrößert, ſo iſt durch fortwährende Verbeſſerungen des mikrophoniſchen
Aufgebers jene weittragende Wirkung desſelben erzielt worden, welche
uns mit Freunden zu ſprechen erlaubt, die durch weite Länderſtrecken,
ſelbſt durch Meere von uns getrennt ſind.


Je nach der Tragweite, die wir von unſeren Apparaten ver-
langen, werden ſie beſonders eingerichtet ſein müſſen. Der Privat-
gebrauch, bei dem es ſich gewöhnlich nur um eine einzige Leitung
handeln wird, und der öffentliche Dienſt, bei welchem viele Linien einem
gemeinſamen Mittelpunkte zuſtreben müſſen, werden verſchiedene Tele-
phonanlagen bedingen. Bei den Privatlinien wird der Aufgabe-, der

Figure 158. Fig. 165.

Mikrophon von Mix \& Geneſt.


[240]Die elektriſchen Erfindungen.
Empfangsapparat und die Rufglocke in Frage kommen. In Deutſchland
haben die Mix \& Geneſtſchen Mikrophone als Aufgabeapparate die weiteſte
Verbreitung gefunden. Wir zeigen hier in Fig. 165 die Rückenanſicht
eines ſolchen. In einem gußeiſernen Rahmen iſt das Mikrophon durch
vier Schrauben mit dem Apparatkaſten verbunden. Die Sprechplatte
(hell gezeichnet) aus Tannenholz liegt in einem Gummibande. Sie beſteht
gerade aus dieſem Holze, weil dasſelbe, wie kein anderes, die Fähigkeit
hat, die Schallſchwingungen mitzumachen und zu leiten. Vor ihr liegen
zwei Balken von Kohle, welche die Lager für die drei Querbalken ent-
halten; ganz loſe lagern dieſe mit Zapfen in den erſteren. Zur Dämpfung
dient die durch zwei Schrauben ſtellbare Blattfeder, welche darüber
ſichtbar iſt und ein Stück Klavierfilz trägt. Der Trichter zum Sprechen

Figure 159. Fig. 166.

Wandtelephon von Mix \& Geneſt.


liegt dahinter. Natürlich muß nun jede Auf-
gabeſtation auch eine Batterie haben, deren
Strom eben durch das Mikrophon fortwährend
verſtärkt und geſchwächt wird. Will man
ſprechen, ſo wird man erſt die Rufglocke zum
Läuten bringen, um der andern Station den
Wunſch einer Ausſprache auszudrücken. Man
drückt auf einen Knopf und die Glocke ertönt
an jenem Leitungsende. Der Klöppel wird
nämlich, ſo lange der Strom geſchloſſen iſt
von einem dann magnetiſch werdenden Stück
Eiſen angezogen und ſchlägt dabei an die
Glocke. Fortwährend unterbricht und ſchließt
ſich der Strom, ſo lange der Knopf gedrückt
wird. Erſt wenn der Angerufene ein Gewicht
abnimmt, unterbricht er den Glockenſtrom, nur
ein Element der Batterie bleibt eingeſchaltet
und nun kann der Apparat zum Sprechen dienen.


Fig. 167 zeigt eine telephoniſche Einrich-
tung, die zum Aufſtellen auf einen Tiſch ge-
eignet iſt, in der Fig. 166 aber erblicken wir

Figure 160. Fig. 167.

Tiſchtelephon von Mix \& Geneſt.


[241]Das Telephon.
eine Wandſtation, welche oben den Schalltrichter (den Gebeapparat), zur
Seite zwei Hörtelephone erkennen läßt. So iſt die Einrichtung der-
jenigen Stationen, welche die deutſche Reichspoſtverwaltung ausrüſtet.


Anders iſt es, wenn Fernſprech-Anſtalten den Verkehr zwiſchen den
Bewohnern desſelben Ortes vermitteln ſollen. Dann ſind von einer
Zentralſtelle aus Leitungsdrähte nach den Teilnehmern hingelegt.
Wünſcht A mit B zu ſprechen, ſo hat er dies, ähnlich wie bei der eben
beſprochenen Privatlinie, den Beamten in der Zentrale wiſſen zu laſſen.
Dieſer ſtellt dann die Verbindung her, und wenn ſein Geſpräch zu
Ende iſt, ſo vermag der Beamte dem A auch eine neue Verbindung
zu C oder D zu ſchaffen. In großen Städten aber genügt eine Zentral-
ſtelle nicht. Es müſſen Bezirksämter da ſein, wie dort auch viele
Poſtämter ſind, und damit werden die Einrichtungen weit komplizierter.
Dann muß der Beamte die Verbindung nach dem anderen Betriebs-
amte herſtellen, das ſeinerſeits mit dem dort angeſchloſſenen Teil-
nehmer, den man zu ſprechen wünſcht, die Verbindung herſtellt. In
Berlin allein waren ſchon 1890 13800 Sprechſtellen mit einem Leitungs-
netz von 29,962 Kilometern Länge, mehr als z. B. in ganz Frankreich
zuſammen. Da würden die Beamten der Betriebsämter ihren Dienſt
unmöglich leiſten können, wenn nicht der ihnen dort zur Verfügung
ſtehende Apparat an Einfachheit der Bedienung unübertrefflich wäre.
Der dort aufgeſtellte Vielfachumſchalter erlaubt jedem Beamten, von
ſeinem Platze aus die Verbindung zwiſchen allen Teilnehmern und
auch die Aufhebung derſelben mit Leichtigkeit auszuführen. Jeder
Leitungsdraht endigt hier in eine Schnur mit einem Stöpſel. In
jedem Amte ſind alſo ſoviel Stöpſelſchnüre als Leitungen, und durch
Emporheben eines von ihnen ſchaltet ſich von ſelbſt der Sprach-
reſp. Hörapparat des Beamten in die betreffende Leitung ein. Er
ſtellt dann nur feſt, ob die verlangte Anſchlußleitung frei iſt und ſetzt
denſelben Stöpſel in den Umſchalter jener Leitung ein, womit er die
gewünſchte Verbindung herſtellt. So hat der Beamte ſtets nur mit
einem einzigen Stöpſel zu operieren.


Für das Sprechen in weite Fernen endlich müſſen die Leitungen
zunächſt höchſt ſorgfältig eingerichtet ſein. Mit dem ſchlecht leitenden
Eiſendraht kommt man da nicht aus und es mußte erſt die Erfindung der
Siliciumbronze erfolgen, aus denen man jetzt die Leitungsdrähte herſtellt.
Das iſt eine Miſchung aus Kupfer, Zinn und Blei mit geringen Bei-
mengungen von Eiſen und Silicium. Ein Draht daraus iſt feſter und
leitet die Elektrizität bedeutend beſſer. Ein ſolcher Draht von drei
Millimetern Stärke hat ſich für die längſten bisher hergeſtellten Ver-
bindungen als ausreichend erwieſen, in den Städten aber brauchen
die Anſchlußdrähte nur die halbe Dicke zu beſitzen. Bei der in der
kurzen Zeit rapide wachſenden Ausdehnung des Fernſprechnetzes aber
müſſen in den Großſtädten jetzt die Leitungen unterirdiſch verlegt werden,
weil man ſo allein den fortwährend geſteigerten Anforderungen gerecht
Das Buch der Erfindungen. 16
[242]Die elektriſchen Erfindungen.
werden kann. Die Kabel enthalten immer 28 von einander durch
theergetränktes Geſpinnſt getrennte Kupferleitungen, die mit Stanniol
umwickelt ſind, damit eine Leitung nicht die andere ſtöre. So liegen
in Berlin 148 Kilometer Kabel und an 46 Stellen finden die Ver-
bindungen derſelben mit den oberirdiſchen Einführungen der Drähte
in die Sprechſtellen der Teilnehmer ſtatt. Das Mikrophon und der
Bronzedraht ermöglichen es, daß man ſich über weite Fernen unter-
halten kann; ſo iſt in Deutſchland die Ausſprache zwiſchen Hamburg
und Breslau über eine Strecke von 650 Kilometern möglich, und daß
die trennenden Meere eine ſolche nicht hindern, das mag die Fern-
ſprechlinie zwiſchen Paris oder Brüſſel und London lehren, die ſeit
zwei Jahren in Betrieb iſt, oder die von Cuxhaven nach Helgoland.
Die längſte Telephonleitung iſt übrigens in Amerika, ſie verbindet die
Städte Portland und Buffalo und die ununterbrochene Benutzung der
Anlage hat gezeigt, daß eine Ausſprache auf 1380 Kilometer Entfernung
recht wohl möglich iſt.


Einige intereſſante Verbindungen ſind noch die jetzt von Chicago
nach New-York im Bau befindliche, bei der 50 oberirdiſche Leitungen
mit einem Gewichte von 8526 Tonnen und einer Länge, die zuſammen
das Vierfache des Erdumfangs ausmacht, den Fernſprechverkehr ver-
mitteln, dann die höchſte, welche den 4000 m hohen Gipfel des Pikes
Peak in Colorado mit dem Badeort Manitu verbindet, und bei der
die Rückleitung durch die Schienen der hinauf fahrenden Zahnradbahn
geſchieht. Das ausgedehnteſte Telephonnetz beſitzt, wie geſagt, von
allen Städten die deutſche Hauptſtadt, aber die meiſten Teilnehmer
im Verhältniſſe zur Einwohnerzahl haben die Fernſprechanlage der
nordiſchen Metropole Stockholm, weil die Verwaltung den Anſchluß
hier am billigſten herſtellt, und die der Hauptſtadt der Sandwichinſeln
Honolulu, wo 5 Prozent der Einwohnerſchaft Teilnehmer des Telephon-
betriebes ſind.


h) Die Erfindung des elektriſchen Telegraphen
und der elektriſchen Uhren.


Die Vorgeſchichte des Telegraphen.

Frühzeitig machte ſich bei den Menſchen das Bedürfnis geltend,
Nachrichten einander ſchneller zukommen zu laſſen, als durch tieriſchen
und menſchlichen Transport allein möglich war. Töne, die man ein-
ander durch eingeſchaltete Mittelsperſonen zurief, hatten keine genügende
Tragweite. In Folge deſſen war die Geſchwindigkeit dieſer Nachrichten-
vermittelung gering. Das ſchnellfüßige Licht erwies ſich als beſſerer
Bote. Feuer auf den Bergen, waren die verabredeten Zeichen, welche
die Eroberung Trojas noch in derſelben Nacht zu Klytämneſtras
[243]Die Vorgeſchichte der Telegraphen.
Kenntnis gelangen ließen, obgleich eine Entfernung von 520 Kilo-
metern zurückzulegen war. Das Verdienſt, dieſes Signalweſen ſo
umgeſtaltet zu haben, daß eine ſchnelle Gedankenvermittelung auf
weite Entfernungen möglich ward, gebührt aber dem franzöſiſchen
Edelmanne Claude Chappe. Auf Veranlaſſung des Wohlfahrtsaus-
ſchuſſes wurde 1794 die erſte optiſche Telegraphenlinie vom Pariſer
Louvre nach Lille eingerichtet. Drei Balken waren an einem weithin
ſichtbaren Orte an einem Geſtelle ſo angebracht, daß durch Verbindung
ihrer Stellungen es möglich war, eine große Zahl von Zeichen zu
geben. Zwanzig ſolcher Geſtelle auf der genannten Strecke vermittelten
der Hauptſtadt die Nachricht von der Übergabe von Condé an die
Franzoſen innerhalb 20 Minuten. Durch ſolche bisher kaum geahnte
Geſchwindigkeiten war die Republik ihren Gegnern immer einen Schritt
voraus. 1795 wurde das optiſche Netz ausgedehnt; aber erſt 1832
ward es in Preußen eingeführt, wo Berlin und Koblenz durch
70 Stationen mit einander verbunden wurden. Ohne die vielfachen
Mittel, durch welche die optiſche Zeichengebung verbeſſert ward, hier
zu erwähnen, wollen wir nur darauf hinweiſen, daß er eine weit-
gehende Anwendung im Signaldienſte der Eiſenbahnen erfahren hat.


Die unvergleichliche Schnelligkeit, mit welcher elektriſche Ladungen
ſich in einem Drahte verbreiteten, ließ von dieſer Seite einen günſtigeren
Erfolg erhoffen. Der Schotte Stephan Gray hatte 1742 einen 220 Meter
langen Kupferdraht an Seidenfäden aufgehängt, durch den die Reibungs-
elektrizität in raſender Eile ſich verbreitete. Winkler in Leipzig und
Franklin in Philadelphia wiederholten dieſe Verſuche und der erſtere
zeigte, daß ſelbſt Flüſſe, wie die Pleiße, eine elektriſche Ladung eine
Strecke hindurch fortleiten könnten. Bei den geringen Mengen von
Elektrizität, welche wir durch die Reibung erhalten können, war es
nur natürlich, daß ihre Fortleitung auf große Entfernungen, für welche
eine Reform des Nachrichtenweſens nötig ſchien, unmöglich war; ſie ging
aus dem Drahte in die umgebende Luft. Die Erfolge der galvaniſchen
Elektrizität nährten von neuem die Hoffnungen, welche die Erfinder auf
die Zuverläſſigkeit dieſes Boten aufbauten. Die erſten chemiſchen
Wirkungen ſchon zeitigten 1809 Sömmerings chemiſchen Telegraphen.
35 Drähte waren von einer an der Aufgabeſtation befindlichen Batterie
zu ebenſovielen Zerſetzungszellen mit verdünnter Schwefelſäure an der
Empfangsſtation geleitet. So konnte man, je nachdem man dieſen oder
jenen Draht benutzte und beobachtete, wo beim Schließen des Stromes
die Gasblaſen ſich zeigten, alle Buchſtaben und alle Ziffern von hier
nach dort telegraphieren. Aber die Herſtellung einer genügend ſtarken
35 fachen Leitung auf größere Entfernungen hin war bitter teuer.
Daher unterblieb die praktiſche Einführung derſelben. Erſt die Ent-
deckung Örſteds, daß eine Magneten-Nadel in der Nähe des Schließungs-
drahtes einer Batterie, je nach der Stromrichtung nach der einen oder
andern Seite abgelenkt werde, ſchien für die neue Verwendung der
16*
[244]Die elektriſchen Erfindungen.
Elektrizität günſtigere Zeiten einzuleiten. Schon in demſelben Jahre
ließ Ampère von Ritchie einen Telegraphen bauen, der aus nicht
weniger als 60 Drähten und 30 Nadeln beſtand, ſo daß ein Zeichen,
wie es immer durch eine Nadel gegeben ward, zwei Drähte er-
forderte, einen für die Hin-, den andern für die Rückleitung. Natür-
lich war der folgende Fortſchritt der, daß man die Rückleitung für
alle 30 Ströme einem einzigen Drahte anvertraute, während die
Nadelzahl ſich ſchon durch den bloßen Gedanken auf die Hälfte bringen
ließ, da ja jede Nadel zwei Zeichen zu geben fähig war, je nach
der Richtung, in der man den Strom hindurchſchickte. So gingen die
Koſten für die Leitung allmählich immer mehr herunter.


Aber erſt 1837 gelang es den berühmten Phyſikern Gauß und Weber
einen Nadeltelegraphen herzuſtellen, der nur zwei Drähte erforderte, und
bei dem alle Zeichen von einer einzigen Nadel gegeben wurden, indem
man deren Rechts- und Linksabweichungen in paſſender Weiſe verband.
Dieſe Leitung führte von der Sternwarte nach dem phyſikaliſchen Kabinet
in Göttingen, die 900 Meter von einander entfernt lagen. Eine
5½ Kilometer lange Verbindung zwiſchen der bairiſchen Hauptſtadt und
der Sternwarte in Bogenhauſen war 1837 Karl Auguſt Steinheils
Werk. Dabei benutzte er die Induktionsſtröme eines magnetelektriſchen
Apparates. Einige Jahre ſpäter machte er die für das ganze Tele-
graphenweſen ſo überaus wichtige Entdeckung, daß man nur den einen
Draht noch brauche und die Rückleitung durch die Erde erfolgen laſſen
könne, die ſich dazu ſehr geeignet erweiſt. Wenn dabei auch Elektrizität
verloren geht, ſo wird doch ſoviel Leitungsmaterial geſpart, daß die
Koſten der elektriſchen Benachrichtigung ſehr herabgeſetzt werden. Zu-
gleich hatte Steinheil noch eine Einrichtung getroffen, daß ſelbſt dann,
wenn man auf die Bewegungen der Nadel nicht genau Obacht gab,
die Nachricht nicht verloren ging. Bei ihren Bewegungen verzeichnete
die Nadel nämlich immer Punkte auf einem durch ein Uhrwerk vorbei-
geführten Papierſtreifen. So war hier bereits ein Schreibapparat kon-
ſtruiert, freilich nicht der vollkommene, den wir bald kennen lernen
werden.


Die Nadeltelegraphen ſind heute keineswegs ganz beiſeite gelegt
worden, man bedient ſich ihrer vielmehr immer noch mit großem
Vorteil dort, wo man über geringe elektriſche Kräfte verfügt. So
entſtehen bei der Leitung durch unterſeeiſche Kabel koloſſale Verluſte
und daher wird man nur mit feinfühligen Apparaten noch Erfolge
erzielen, ſelbſt bei Anwendung urſprünglich großer elektriſcher Kräfte.
Man muß dazu die Wirkung des Stroms auf die Nadel möglichſt
vervielfältigen. Das geſchieht durch den Multiplikator, welchen
Schweigger in Halle noch 1820 gleich nach Örſteds Entdeckung
erfand. Der Leitungsdraht iſt hier in ſehr vielen Windungen um
eine ſehr feine Magnetnadel herumgeführt. Das giebt ſchon ſtarke
Wirkungen, aber man kann das Inſtrument immer feinfühliger machen.
[245]Die Vorgeſchichte des Telegraphen.
Man kann die Nadel verdoppeln, daß ein Magnet ſich innerhalb, der
andere außerhalb der Drahtwindungen bewegt, ſo wird ſchon die
Wirkung verdoppelt. Man kann ſelbſt die feinſten Bewegungen einer
ſolchen Nadel — und ſie wird bei der unterſeeiſchen Telegraphie nur
ſehr ſchwache Bewegungen ausführen — verfolgen, wenn man ihr
ein Spiegelchen zu tragen giebt und dieſes mit einer Lampe be-
leuchtet. Dann wird man mit einem Fernrohr beobachten können,
ob das Licht nach rechts oder links geht. Das iſt im weſent-
lichen das Prinzip, welches Thomſon in ſeinem Spiegelgalvanometer
verwirklicht hat. Derſelbe hat aber auch einen Apparat gebaut, der
bei ſo ſchwachen Strömen ſelbſt noch zum Schreiben befähigt iſt. Der
Hauptteil ſeines Heberſchreibers iſt eine Spule auf feinem Drahte,
welcher man die Ströme in der einen oder anderen Richtung zuſchickt.
Sie iſt beweglich aufgehängt zwiſchen den Polen eines kräftigen
Elektromagneten, der aber von der Empfangsſtation aus durch
einen beſonderen Strom fortwährend erregt iſt. Dieſer wirkt an-
ziehend auf die ſtromdurchfloſſene Spule und dreht dieſelbe bald nach
rechts, bald nach links; ſie nimmt dabei einen Glasheber mit, der
in ein Tintenfaß taucht, und aus deſſen feiner Spitze fortwährend
Tröpfchen auf einen Papierſtreifen fallen. Wenn die Spule in Ruhe
iſt, ſo ſteht die Heberöffnung immer über der Mitte des Papierſtreifens,
und ſo wird eine punktierte, gerade Linie entſtehen, wenn dieſer durch
ein Uhrwerk abgerollt wird. Wenn aber von der Aufgabeſtation aus
Ströme in die Spule treten, ſo wird dieſe und der Heber abgelenkt
und man ſieht nun auf dem Papier eine Schlangenlinie entſtehen, aus
welcher der Kundige die telegraphierte Nachricht abzuleſen verſteht.


Eine raſche Entwickelung konnte das Telegraphenweſen erſt nehmen,
als man die Elektromagneten anwenden lernte. Der erſte, der dies ver-
ſtand, war der engliſche Phyſiker Wheatſtone. Noch vor Ende des vierten
Jahrzehntes unſeres Jahrhunderts erfand er das elektriſche Läutewerk,
durch welches er die Aufmerkſamkeit der Empfangsſtation zu erwecken
wußte, und dann ſeinen Zeigertelegraphen. Bei beiden ſpielte ein weiches
Eiſenſtück die Hauptrolle, welches magnetiſch wurde, ſo oft man den
Strom in Windungen herumführt. Im erſten Falle zog es den Glocken-
klöppel an ſich, der an die Alarmglocke anſchlug, im zweiten war der
Anker des Elektromagneten mit der Hemmung eines Uhrwerks ver-
bunden. Dieſes drehte die Zeiger eines Zifferblattes, das ſtatt der
Zahlen die Buchſtaben des Alphabetes trug. Durch fortwährendes
Öffnen und Schließen des Stromes war man ſo an der Aufgabeſtation
in den Stand geſetzt, die Zeiger des Zifferblattes vor einem beſtimmten
Buchſtaben Halt machen zu laſſen. Dieſer Apparat iſt noch mehrfach,
u. A. von Werner Siemens verbeſſert worden, ohne daß er ſich all-
gemeinen Eingang verſchafft hätte, und das lag ſehr einfach daran,
daß inzwiſchen ein höchſt einfacher Schreibapparat das Licht der Welt
erblickt hatte, der Morſeſche.


[246]Die elektriſchen Erfindungen.
Die heutige Telegraphie.

Samuel F. B. Morſe, geboren 1791 in Amerika und von Beruf
Maler, erfuhr bei einer Reiſe von Europa nach ſeinem Heimatlande
zufällig von den damals in Paris angeſtellten elektromagnetiſchen
Verſuchen und wurde durch die Schilderung zu dem ſofortigen Be-
ſchluſſe gebracht, dieſes ihm vorher ganz unbekannte Feld zu beackern.
Schon 1835 hatte er das Modell eines zum Telegraphieren geeigneten
elektromagnetiſchen Apparates fertig geſtellt, aber erſt 1844 wurde
die erſte Depeſche mit dieſem nach unſeren heutigen Begriffen äußerſt
primitiven Schreibtelegraphen zwiſchen Waſhington und Baltimore
befördert. Im Jahre 1846 hatte Morſe ſeine erſte Konſtruktion weiter
verbeſſert und einen Reliefſchreiber gebaut (Fig. 168).


Figure 161. Fig. 168.

Morſes Schreibtelegraph.


Dieſer beſteht aus einem Elektromagneten b b, der mit der eiſernen
Platte a zuſammen ein Hufeiſen bildet. Sein Anker c c iſt beweglich,
ſo daß er jedesmal herabgeht, wenn durch die Magnetiſierungs-
ſpiralen b b ein Strom geſchickt wird. Nun ſitzt der Anker an einem
Meſſinghebel d d, deſſen rechtes Ende immer mit heruntergezogen wird.
Sobald aber der Strom geöffnet und damit der Eiſenkern unmagnetiſch
wird, ſo wird der Hebel durch die an ſeinem Seitenarme d ziehende
Feder f wieder in die alte Lage zurückgeführt. Linker Hand erblicken
wir einen Papierſtreifen, der durch ein Uhrwerk mit der gleichmäßigen
Geſchwindigkeit von ungefähr 3 cm in der Sekunde fortgezogen wird.
Das erſte Rad g deſſelben wird durch ein an ſeiner Welle hängendes
Gewicht langſam umgedreht, und es überträgt ſeine Bewegung allmählich
[247]Die heutige Telegraphie.
durch mehrere Zwiſchenräder auf die Walze h, welche ſich ſchneller herum-
dreht. Zwiſchen dieſer und einer anderen gleich großen Walze r gleitet
der Papierſtreifen, welcher von einer höher aufgeſtellten Rolle herkommt.
Die Walze r iſt in keiner ſonſtigen Verbindung mit dem Uhrwerke, ſie wird
nur durch die Reibung in der entgegengeſetzten Richtung von h bewegt.
Der Hebel d trägt an ſeinem linken Ende einen Stahlſtift, der,
immer wenn der Anker niedergeht, gegen den Streifen gedrückt wird;
da die Rolle c in ihrer Mitte eine Rinne hat, ſo preßt der Stift eine
Vertiefung in den Papierſtreifen. Dieſe Vertiefung iſt ein Punkt, wenn
der Strom nur für einen Augenblick geſchloſſen iſt, ein Strich, wenn
er einige Zeit geſchloſſen bleibt, weil das Papier inzwiſchen weitergeht.
An der Aufgabeſtation hat man alſo den Strom einer zur Verfügung
ſtehenden galvaniſchen Batterie auf Augenblicke und auf Sekunden zu
ſchließen, um auf dem Papierſtreifen der Empfangsſtation eine bunte
Folge von Punkten und Strichen in Relief hervorzubringen. Aus
Punkten und Strichen aber ſetzen ſich die ein für allemal feſtgeſtellten
Buchſtaben des telegraphiſchen Alphabetes und die Ziffern zuſammen,
ſo daß jede Nachricht auf dem Streifen abzuleſen iſt. In neuerer Zeit
läßt man die Morſeapparate, ſtatt dieſer einfachen Eindrücke lieber mit
Farbe ſchreiben, indem man durch den Stift die Streifen gegen ein
Farbenrädchen andrückt. So können die Papierſtreifen noch nach langer
Zeit als die Belege für jede Depeſche dienen.


Nun muß der aufgebende Telegraphiſt in den Stand geſetzt ſein,
den Strom ſicher und ohne Mühe zu ſchließen und zu öffnen. Dazu

Figure 162. Fig. 169.

Schlüſſel zum Morſeſchen Schreibtelegraphen.


dient der Schlüſſel, den wir in Fig. 169 abbilden. Wir erblicken hier
drei Meſſingſäulchen a, s und n, welche auf ein Brettchen aufgeſetzt
ſind. In dem mittleren a iſt die ſtählerne Achſe des meſſingnen
[248]Die elektriſchen Erfindungen.
Hebels f befeſtigt. Eine Stahlfeder g drückt dieſen Hebel von links
unten ſo, daß die rechts unten befindliche Meſſingwarze d ſich an
das Säulchen s anpreßt. Durch Niederdrücken des Hebels mittels
des Handgriffes, kommt andererſeits die Hervorragung mit dem
[...]ulchen n in Berührung, während die Spitze d ſich hebt, alſo die
Verbindung mit s dort unterbrochen iſt. Wir ſehen ferner in jedes
der Säulchen einen Draht eingelaſſen. Von dieſen führt L zur
nächſten Station, K zu dem einen Pol der Batterie, E ſpaltet ſich
alsbald, und der eine Teil geht zu der Umwickelung des Elektromagnets
und von dort weiter zu einer in der feuchten Erde liegenden Kupfer-
platte, an welcher die Erdleitung einſetzt, die andere Hälfte von E aber
führt zum andren Pole der Batterie. Wenn auf beiden Stationen die
Schlüſſel ſo ſtehen, wie in der Abbildung, ſo geht kein Strom durch
die Leitung, weil ja bei n der Zuſammenhang derſelben unterbrochen
iſt. Anders wird es, wenn der Schlüſſel an der Aufgabeſtation
niedergedrückt wird, wobei c mit n in Berührung kommt. Dann tritt
hier ein Strom durch den Leitungsdraht K in n ein, geht durch den
Schlüſſel und, da bei d eine Unterbrechung hergeſtellt iſt, ſo muß er
zur Leitung L hinausgehen. Er kommt nun auf die Empfangsſtation,
wo der Schüſſel vollſtändig in Ruhe bleibt, dort tritt er bei a ein und,
da auf der andern Seite der Batterie die Leitung unterbrochen iſt, ſo
ſucht er ſich den Weg zum Elektromagneten und über dieſen zur Erd-
platte der Empfangsſtation, kehrt durch die Erde zur Aufgabeſtation
zurück und gelangt durch den Draht E in den andern Pol der Batterie
derſelben. Es wird alſo nur der Strom dieſer geſchloſſen, die Batterie
der Empfangsſtation iſt dagegen unthätig. Wenn der Telegraphiſt
eine Depeſche nach einer andern Station ſchicken will, ſo macht er ſich
zunächſt durch ſchnelles mehrmaliges Niederdrücken ſeines Schlüſſels
bemerkbar. Dann klappert nämlich der Anker des Elektromagneten
der Empfangsſtation. Der dortige Beamte antwortet auf dieſelbe Weiſe
und ſetzt das Uhrwerk mittels des kleinen Hebels n in Gang.
(Fig. 168.) Jetzt drückt der abſendende Beamte auf längere oder
kürzere Zeiten ſeinen Schlüſſel nieder, um als Wirkung jene Punkte
und Striche auf dem Apparate der Empfangsſtation hervorzubringen.
Wenn er den dortigen Beamten über den Schluß der Depeſche in-
formieren will, ſo ſetzt er noch einige zwanzig Punkte hinter dieſelbe.


Nun iſt freilich die Sache etwas komplizierter. Soviel iſt ein-
zuſehen, daß die Stärke des zum Telegraphieren nötigen Stromes
mindeſtens ſo groß ſein muß, daß der Anker c kräftig angezogen wird,
damit auch der Stahlſtift mit hinlänglicher Kraft gegen das Papier
drücke. Nun geht aber bei einem langen Wege ſehr viel von der
Stromſtärke verloren und man müßte auf allen Stationen ſehr große
Batterien aufbauen, um auf jede Entfernung hin telegraphieren zu
können. Das würde das Verfahren weſentlich verteuern, denn eine
Batterie iſt ſchon durch das Zink, das ſie verzehrt, eine ſehr koſtſpielige
[249]Die heutige Telegraphie.
Sache. Da hat man ſich auf die folgende Weiſe aus der Verlegenheit
geholfen. Jede Station wird mit zwei Batterien verſehen, der Linien-
batterie und der Lokalbatterie. Die erſtere beſteht aus ſechs Bunſenſchen
Elementen oder einer größeren Anzahl von ſchwächeren, ſogenannten
Meidingerſchen Elementen. Bei dieſen ſitzt die Zinkplatte in einer
Löſung von Bitterſalz, das Kupfer in einer ſolchen von Kupfervitriol.
Sie haben den Vorteil, daß die Füllung nicht ſo bald erneuert zu
werden braucht, ſodaß ſie bis zu einem Jahre ununterbrochen im Dienſte
ſein können. Aber neben dieſer Linienbatterie iſt noch überall eine aus
wenigen Elementen beſtehende Lokalbatterie aufgeſtellt, L B in der
Fig. 170. Beide ſind unthätig,
ſo lange nicht telegraphiert
wird, die zweite ſoll aber ihre
Hülfe nur dazu leihen, daß
der Schreibapparat kräftig
wirke. Wir erblicken denſelben
bei S und ſehen rechts noch einen
zweiten Elektromagneten M,
der im weſentlichen ebenſo
eingerichtet iſt, wie jener. Auch
er hat einen Anker a, der aber
viel leichter beweglich iſt, als
der des Schreibapparates. Er
würde fortwährend auf M auf-
liegen, wenn nicht eine ſchwache,
hier nicht ſichtbare Feder, ihn
in der Höhe hielte. Er iſt
an einem Winkelhebel a b c von

Figure 163. Fig. 170.

Relais des Morſeſchen Schreibtelegraphen.


Eiſen befeſtigt, der mit ſeinem unteren Ende, ſo lange a in der Höhe
liegt, gegen einen Schraubenkopf im Ständer drückt. Anders, wenn ein
Strom die Spirale M durchläuft, und wenn er auch nur ganz, ganz
ſchwach ſein ſollte, dann wird das leichte Ankerchen niedergezogen und
das untere Ende des Hebels ſtößt gegen die Schraube t, noch ehe jenes
ganz auf dem Eiſenkerne liegt. Es iſt ja ſehr leicht beweglich und
hat auch nur einen ganz kleinen Weg zurückzulegen, alſo braucht es
nur den ganz ſchwachen Strom, der von der Linienbatterie der Aufgabe-
ſtation geliefert wird.


Dieſer Apparat, das Relais genannt, hat nun nur den Zweck,
den Schreibapparat S in den kurzen Stromkreis der Lokalbatterie
L B einzuſchalten. Wir können leicht verfolgen, daß er dies erreicht.
Der eine Pol derſelben iſt ja durch einen Draht mit der Meſſing-
platte p verbunden, und dieſe ſteht durch den Ständer mit dem
Winkelhebelarme b c in leitender Verbindung. Vom anderen Pole der
Batterie geht aber der Schließungsbogen in vielen Windungen um den
Elektromagneten des Schreibapparates S und von dort zur Schraube t,
[250]Die elektriſchen Erfindungen.
die von der Unterlage p durch ein Stückchen Hartgummi iſoliert iſt.
So lange der Hebel ſo liegt, wie in der Figur, iſt alſo der Strom
der Lokalbatterie zwiſchen c und t geöffnet, geht aber durch den Linien-
ſtrom der Anker a nach unten und der Arm b c nach links, ſo iſt der
Lokalſtrom im Schreibapparate wirkſam. Wegen der Kürze ſeines
Schließungsbogens iſt dieſer Strom kräftig genug, um den Schreibhebel
zur Arbeit zu bringen. Der Telegraphiſt, welcher in der Aufgabeſtation
den Schlüſſel niederdrückt, ſendet damit den Strom ſeiner Linienbatterie
durch die Umwickelungen der beiden Relais, wodurch er den Strom
jeder der beiden Lokalbatterien ſchließt und bewirkt, daß die Anker beider
Schreibapparate angezogen werden. Auf nicht zu große Entfernungen
hin läßt ſich freilich die Hülfe der Relais ganz entbehren, wenigſtens
bei Anwendung des weniger Kraft erfordernden Farbeſchreibers.


Morſes Apparat, zuerſt in Amerika angewendet, kam bald
auch in England und ſpäter auf dem europäiſchen Kontinente in
Aufnahme. 1883 gab es in England 1330, auf dem Kontinente
40000 Morſe-Apparate. Der Fortſchritt, den das geſamte Verkehrs-
weſen dieſer einfachen Anwendung der Elektrizität verdankt, iſt ein
ungeheurer, ſie zeugte andererſeits eine Fülle neuer Fortſchritte auch im
Charakter der Apparate, in ihrer Art zu arbeiten und in der Leiſtungs-
fähigkeit des Beamtenkörpers. Sorgfältige Beachtung aller Einzelheiten,
tüchtiges und fleißiges Arbeiten und eine ſtrenge Kontrole haben dem
elektriſchen Telegraphen einen Charakter aufgeprägt, der ihn mit jedem
anderen Werkzeug in der Welt den Kampf aufnehmen läßt. Die fernere
Entwickelung der Telegraphie iſt ein ausgezeichnetes Beiſpiel davon,
daß in der Wiſſenſchaft, wie in der Natur, alles wächſt mit der Pflege,
die ihm zukommt, alles Beſtehende zu Grunde geht und nur dasjenige,
was am meiſten allen Bedürfniſſen angepaßt iſt, erhalten bleibt. Man
hat verſchiedene Arten zu telegraphieren eingeführt, aber von allen
Maſchinen iſt es eine, die in Europa ſich am meiſten eingeführt hat
und der in Plan und Ausarbeitung keine gleichkommt, nämlich der
prächtige Typendrucktelegraph, den Profeſſor Hughes in Amerika 1855
erfand, und der ſich in den ſechziger Jahren auch in Deutſchland ein-
führte. Er wird ausſchließlich verwendet von der ſubmarinen Geſell-
ſchaft zwiſchen England und dem europäiſchen Feſtlande und iſt neben
dem Morſe-Apparate das in der internationalen Telegraphie über ganz
Europa verwendete Inſtrument. Es arbeitet direkt zwiſchen Paris und
Konſtantinopel. Aber wegen ſeiner Teuerkeit und der ſchwierigen Be-
dienung iſt es nur an größeren Plätzen in Gebrauch. Es beſteht aus
einer Klaviatur als Aufgabe-Apparat und einem Rade mit Buchſtaben-
typen an ſeinem Umfange als Empfangsapparat. Wird dort eine
Taſte angeſchlagen, ſo dreht ſie hier das Rad ſoweit, bis der gewünſchte
Buchſtabe unten zu ſtehen kommt und der abrollende Papierſtreifen ſich
an die geſchwärzte Letter anlegt. Man erhält dann die Depeſche in
lateiniſchen Typen gedruckt.


[251]Die heutige Telegraphie.

Man kann mit dem elektriſchen Telegraphen nicht blos eine Bot-
ſchaft in der einen Richtung ſenden, ſondern auch zwei gleichzeitige
Nachrichten in entgegengeſetzten Richtungen — man nennt dies das
Gegenſprechen — oder auch zwei Depeſchen zur ſelben Zeit in der-
ſelben Richtung bei dem ſogenannten Doppelſprechen. Nun wird man
weitergehend auch gleichzeitig zwei Botſchaften nach der einen und zwei
nach der anderen Richtung ſchicken können und erreicht ſo ein vierfaches
Telegraphieren. Aber die Einrichtungen hierfür ſind verwickelt, und es iſt
mit ihnen noch nicht viel Zeit erſpart worden. Um dies zu erreichen,
hat man vielmehr ſich anderen Apparaten zugewendet. Da iſt zunächſt
in Anlage, Leiſtungsfähigkeit und Anpaſſung an die geſtellte Aufgabe
unerreicht Wheatſtones Selbſtſchreiber. Bei ihm benutzte man Morſes
Alphabet und erſetzte durch einen Mechanismus die Arbeit der Hand.
Selbſt beim vierfachen Sprechen laſſen ſich nur 20 bis 30 Worte
innerhalb einer Minute durch denſelben Draht ſenden, aber durch den
Selbſtſchreiber kann man dieſes Maximum faſt ins Grenzenloſe erhöhen
und in der Minute unter günſtigen Verhältniſſen bis 600 Wörter be-
fördern, ſodaß in England, als dieſes Syſtem ſich einbürgerte, die Zahl
der Depeſchen in drei bis vier Jahren um 230 Prozent zunahm,
während die Zahl der Drähte ſich blos verdoppelte. Man präpariert
dabei die aufzugebenden Nachrichten erſt durch einen Mechanismus.
Anſtatt ſie gleich mit der Hand abzuſenden, ſtanzt man ſie in Papier
und ſie ſehen dann aus wie die Karten für die Jaquardmaſchinen
(vgl. Weberei). Dieſes Papier wird nun durch einen Aufgabe-Apparat
hindurchgeführt, ſo ſchnell, daß die Geſchwindigkeit die zwanzigfache des
ſchnellſten Telegraphiſten iſt. Der Apparat wird namentlich in der vom
Engländer Stroh vorgenommenen Verbeſſerung zur Übermittelung von
langen Preßtelegrammen gebraucht. Einige Beamte ſtanzen in der
Zentralſtation mehrere Papiere zugleich, welche in die Aufgabe-Apparate
gelangen und in demſelben Augenblicke kann man die Nachricht in die
verſchiedenſten Himmelsgegenden hinausſenden, jeder Streifen geht durch
ſeinen beſonderen Apparat, alle ſind ſie gleich, alle geben ſie an die
Endſtationen die gleiche Botſchaft ab, ſo daß durch dieſes Verfahren
wer weiß wie viele Schreiber zugleich an vielen Stationen Beſchäftigung
erhalten. Denſelben Zweck ſucht man jetzt in Frankreich für den Ver-
kehr zwiſchen Paris und den Hauptbörſenplätzen durch ein anderes
Syſtem, nämlich den Multiplexapparat von Meyer und Baudot zu
erreichen. Eine Zeiteinheit, etwa eine Fünftelſekunde, wird in vier oder
mehr Abſchnitte zerlegt und jeder Abſchnitt einem paar Telegraphiſten
an den beiden Enden einer Leitung zugeteilt, einem Abſender und einem
Empfänger. In jedem Zeitabſchnitte läßt ſich ein Buchſtabe ab-
ſenden, ſo daß zur ſelben Zeit vier Nachrichten in der Übertragung
begriffen ſein können. Man erhält ſo mit Typendruckapparaten einen
Gewinn an Zeit, aber der verwendete Apparat iſt ſehr verwickelt
und delikat.


[252]Die elektriſchen Erfindungen.

In neueſter Zeit ſind die läſtigen und nur geringe Stromſtärke
entfaltenden Batterien an vielen Stellen in ihrer Arbeit durch Dynamo-
maſchinen erſetzt worden. Bahnbrechend ging in dieſer Hinſicht die
von Hughes in New-York ins Leben gerufene Weſtern Union Telegraph
Company vor, welche im Vereine mit anderen in Amerika das dort nicht
in Staatshänden befindliche Telegraphenweſen verwaltet. So ſind
dort in Boſton auf dem Betriebsamte ſeit 1881 einige Sekundärdynamos
aufgeſtellt, die von den dortigen Elektrizitätswerken mit Strom verſehen
werden und hier nicht als Bewegungsapparate dienen, ſondern ihren
Strom in die Leitungen weiterſenden. Hier iſt kein einziges galvaniſches
Element mehr zu finden. In Berlin hat man es ſeit 1889 mit einem
etwas anderen Syſteme verſucht. Auf dem Haupttelegraphenamte ſteht
hier auch eine Dynamomaſchine, die ihren Strom ſelbſtſtändig, durch
einen achtpferdigen Gasmotor getrieben, erzeugt; ſie dient aber nur
zur Reſerve, im allgemeinen liefern die ſtädtiſchen Elektrizitätswerke den
Strom. Aber dieſer wird nicht direkt in die Leitungen gelaſſen, weil
er dann wohl zu heftige Wirkungen mit ſich brächte, ſondern er dient
nur um eine große Sekundärbatterie zu laden, die ihrerſeits jeden
Strombedarf deckt, ſo daß man auch hier die unbequemen Kupfer-
Zink-Elemente ganz umgehen kann. Es ſind 25 Sammlerbatterien in
Betrieb geſetzt worden, deren Strom 68 Leitungen verſorgt, in welchen
41 Morſe- und 27 Hughes-Apparate arbeiten. Wenn die Batterien
zehn Tage gearbeitet haben, ſo werden ſie mit Hülfe des Stromes
der [Elektrizitätswerke] oder der Dynamomaſchine von neuem geladen.
Auf der New-Yorker Centrale der genannten amerikaniſchen Geſellſchaft,
die bisher 10000 galvaniſche Elemente in Thätigkeit hatte, ſind jetzt
21 Dynamomaſchinen in Thätigkeit, die den geſamten Strombedarf liefern.
Dadurch wird Raum und Mühe geſpart.


Wir müſſen auch über die Telegraphenleitungen ein paar Worte
ſagen. Man benutzt oberirdiſche, unterirdiſche und unterſeeiſche Ver-
bindungen. Die erſten kennt jedes Kind, denn es ſieht die langen
Holzſtangen, an welche die Porzellan-Iſolatoren mit eiſernen Stützen ange-
ſchraubt ſind. An dieſen iſt der Leitungsdraht befeſtigt; gewöhnlich genügt
Eiſendraht, der zum Schutze galvaniſch oder auf anderem Wege verzinkt
wird. Erſt neuerdings kommt auch Bronze in Aufnahme. Die unter-
irdiſchen Linien beſtehen aus Kupferdrähten, die mit Guttapercha iſoliert
ſind. Um einen Kabel von vier bis ſieben Adern kommt noch eine Schutz-
hülle von verzinkten Eiſendrähten. Die deutſche Telegraphenverwaltung
hat über ganz Deutſchland ein Netz ſolcher Kabel verteilt, beſonders um
die militäriſch-wichtigen Orte in direkter Verbindung mit einander zu
haben. So ſind unter den 98391 Kilometern, welche das Liniennetz
Deutſchlands aus machen, 5648 Kilometer unterirdiſche Leitungen.


Der Wunſch, auch über die Grenzen des Landes hinaus, Nachrichten
zu verbreiten, ſtieß lange auf den zähen Widerſtand der Ozeane. Zwar
war bereits 1851 die kurze Verbindung zwiſchen Frankreich und England
[253]Die heutige Telegraphie.
hergeſtellt, aber der atlantiſche Ozean wehrte ſich beharrlich die ihm
anvertrauten Kabel in Schutz zu nehmen. 1858 war bereits die Ver-
legung einer Leitung gelungen, aber ſie hielt kaum einen Monat
ſtand, ſo hatte das Seewaſſer ſeine ländertrennende Kraft behauptet.
Die Urſachen des Mißerfolges zu ſtudieren, ſetzte die engliſche Regierung
einen Ausſchuß nieder, dem Wheatſtone und die Gebrüder Siemens an-
gehörten. Die Störungen wurden hauptſächlich durch einen mangel-
haften Kabelbau entſchuldigt, und für die Ausführung eines guten
Kabels ward eine Geſellſchaft gewonnen, die 1865 das größte Schiff
der Welt, den Great Eaſtern, über den Ozean ſandte. Es zeigte ſich,
daß die Einrichtungen noch mangelhaft waren, da das Kabel riß und
das Schiff unverrichteter Sache umkehren mußte. Im nächſten Jahre
gelang es ſchließlich, die erſte Verbindung zwiſchen dem Inſelchen
Valentia und der Bank von Neufundland, zwiſchen der alten und neuen
Welt herzuſtellen. Die Arbeit iſt nicht zu unterſchätzen. Das Kabel
war 17 Millimeter, an ſeinen Enden gar 56 Millimeter dick und das
Gewicht betrug über 1500 Tonnen. Dabei waren die Einrichtungen
des Schiffes keinesweges der ſchwierigen Aufgabe angepaßt, die es über-
nommen hatte. Heute giebt es nicht weniger als 27 Kabelſchiffe, welche
mit nichts anderem, als dem Legen und Ausbeſſern unterſeeiſcher
Leitungen befaßt ſind. Sie ſind mit einer rieſigen Trommel zum Auf-
wickeln des Kabels und mit einem beſonderen Verſenkungsapparat ver-
ſehen und führen jetzt ihre Arbeiten mit einer ganz anderen Gewandt-
heit aus, als der Great Eaſtern. Die Zahl der großen Ozeankabel iſt
jetzt für die Verbindung der alten und neuen Welt allein auf zwölf
geſtiegen, von denen acht England mit Nordamerika verketten. Selbſt
der ſtille bisher von keiner telegraphiſchen Nachricht durchquerte Ozean
erhält jetzt eine Kabellinie von Kalifornien nach den Sandwichinſeln.
Nur die neueſten ſind in den Händen der Regierungen, die allermeiſten
Linien ſind das Eigentum beſonderer Kabelgeſellſchaften. Ihre geſamte
Länge iſt fünfmal ſo groß als der Erdumfang. Die Geſamtlänge aller
zur Zeit auf der Erde verlegten Telegraphenleitungen aber iſt mit
3200000 Kilometern mehr als achtmal ſo groß, wie die Entfernung
der Erde vom Monde. Ihr Geſamtwert beträgt fünf Viertelmilliarden
Mark, wovon die unterſeeiſchen Kabel zwei Drittel repräſentieren. So
ſind in den letzten 25 Jahren etwa zwei Milliarden in Telegraphen-
anlagen feſtgelegt worden, um dem geſteigerten Verkehr zu dienen und
damit den Wohlſtand der Nationen zu heben.


Auch die Aufgabe hat man ſich vielfach geſtellt, Bilder und Hand-
ſchriften in genauer Nachahmung in kurzer Zeit auf weite Entfernungen
zu übertragen. Offenbar würde die Löſung dieſer Aufgabe von mannig-
facher Bedeutung ſein. Man braucht garnicht an die Verfolgung von
Verbrechern zu denken, deren Bilder ſchnell in die weite Welt telegraphiert
werden könnten, die heutige, ſchnelle Nachrichten verlangende Geſellſchaft
will auch raſch durch das Bild über die neueſten Geſchehniſſe unter-
[254]Die elektriſchen Erfindungen.
richtet ſein. Dieſem Bedürfniſſe ſucht jetzt z. B. eine in London täglich
erſcheinende illuſtrierte Zeitung Rechnung zu tragen. Aber freilich iſt
es mit der Löſung unſerer Aufgabe noch nicht weit her, obgleich viel
Scharfſinn auf die Erfindung eines geeigneten Bildertelegraphen ver-
wendet ward. Der erſte, der einen Kopiertelegraphen baute, war der
Engländer Bakewell (1848), einen anderen, den ſogenannten Pan-
telegraphen, konſtruierte Caſelli in Florenz 1865, welcher vorübergehend
zwiſchen Paris und Lyon in Gebrauch war. An jeder der beiden
Stationen befindet ſich eine Metallplatte, die mit einem Pole der
Batterie in leitender Verbindung ſteht. Auf der einen liegt ein Blatt
Papier, welches mit gelbem Blutlaugenſalz durchtränkt iſt, auf der
anderen ein Stanniolblatt. Wird durch die Salzlöſung ein galvaniſcher
Strom geführt, ſo zerſetzt ſie ſich und es entſteht Berliner Blau. Man
kann dieſe Zuleitung einfach durch einen Metallſtift geſchehen laſſen,
den man über die Platte hinführt. Wo der Strom unterbrochen wird,
da bleibt die Blaufärbung des Papiers aus. Auf das Stanniolblatt
der Aufgabeſtation wird das Bild oder die Depeſche mit Harzlöſung
aufgezeichnet. Nun iſt eine ſehr ſinnreiche Einrichtung getroffen, daß
auf beiden Stationen ein Griffel mit derſelben Geſchwindigkeit in vielen
parallelen Linien nacheinander über die Platten gleitet und, wo er
metalliſche oder feuchte Verbindung mit dieſen hat, einen Strom ſchließt.
Dieſer iſt natürlich an der iſolierenden Harzſchicht unterbrochen und
ſo wird an den entſprechenden Stellen der andern Station die Blau-
färbung ausbleiben. Es wird ſich alſo als Kopie des Bildes ein
weißes Bild auf blauem Grunde ergeben, das aus lauter parallelen
Strichen beſteht. Die Ausführung ſetzt natürlich voraus, daß beide
Griffel ſich höchſt gleichmäßig über die Platten bewegen, und das ge-
ſchieht durch zwei Pendel, die auf elektriſchem Wege in Übereinſtimmung
gehalten werden. Es iſt klar, daß man nur höchſt unvollkommene
Nachbildungen auf dieſem Wege erlangt hat, und das allerneueſte Ver-
fahren von Amſtutz in Cleveland (1891) zeigt auch noch große Mängel.
Derſelbe benutzte die Eigentümlichkeit einer chromierten Gelatineſchicht,
daß ſie bei Belichtung in heißem Waſſer unlöslich wird. Man kann
alſo auf photographiſchem Wege ein Bild, etwa ein Portrait, auf die
Platte bringen. Dieſes wird auf einen der Phonographenwalze nach-
gebildeten Cylinder gebracht und ähnlich wie beim Pantelegraphen von
einem Stifte mit einer hier ſpiraligen Linie überzogen, wodurch ein
galvaniſcher Strom bald ſtärker bald ſchwächer wird, und auf einer
Wachswalze der Empfangsſtation durch einen Griffel ein entſprechendes
Bild gezeichnet wird, wenn beide Walzen gleiche Umdrehungsgeſchwindig-
keiten haben. Wenn die Reſultate noch viele Mängel aufweiſen, ſo
iſt doch zu hoffen, daß die Vervollkommnung dieſes Verfahrens die
telegraphiſche Übermittelung von Bildern erlauben wird.


[255]Die Wohlthaten der Telegraphie.
Die Wohlthaten der Telegraphie.

Es giebt kaum noch eine ſo wohlthätige Einrichtung, wie die
Telegraphie. Sie iſt nicht nur die ſchnelle Ubermittlerin weltbewegender
Nachrichten in weite Ferne, ſie waltet auch im Hauſe als die uns vor
Überfall ſchützende Wächterin, ſie bezähmt und bewacht des Feuers
Macht, ſie beugt den Unfällen der Eiſenbahnen vor und ſchützt das
Menſchenleben im Fabrikbetriebe. Im Hauſe hat ſie zunächſt zu einer
Entwickelung des Signalweſens geführt, für welche ſich die Elektrizität
und die Kraft des Luftdruckes als gleich tüchtige Dienerinnen erwieſen
haben. Zu Diebesſicherungen zeigte ſich die erſtere einzig geeignet.
Wenn eine unbefugte Öffnung der Thür oder des Fenſters geſchieht,
ſo wird dies ſofort durch ein Läutewerk gemeldet. Am Tage kann man
den Strom irgendwo unterbrechen, ſo daß die Ausgänge des Hauſes
ſich ohne Störung öffnen laſſen. Erſt abends werden die Verbindungen
hier geſchloſſen, an den Fenſtern und Thüren dagegen geöffnet; jeder
Einbruch in dieſelben ſchließt aber den Strom und das Glockenſignal
ertönt, während an einem Tableauanzeiger die Stelle des Einbruchs
ſich anzeigt. Für das Feuerlöſchweſen haben ſich die Telegraphen ein
großes Verdienſt erworben. 1851 wurden zuerſt von Siemens \& Halske
Feuermelder in Berlin eingeführt. Auf den Berliner Straßen ſtehen
ſelbſtthätige Zeichengeber, die im Falle einer Feuersnot leicht in
Thätigkeit zu ſetzen ſind. Man braucht nur ihre Glasthür zu zer-
brechen und eine Taſte niederzudrücken, ſo meldet der Telegraph ſofort
der Zentralſtelle den Ort des Melders, in deſſen Gebiete die Feuers-
not ausgebrochen iſt. Die Organiſation iſt eine derartige, daß von
der Zeit der Meldung bis zum Erſcheinen der Feuerwehr nur wenige
Minuten vergehen.


Die Anwendung der Telegraphie zur Sicherung des Eiſenbahn-
betriebes iſt außerordentlich ausgedehnt, ohne ſie wäre derſelbe
auf Strecken mit regem Verkehr gar nicht möglich. Die zur
Sicherung des Zugverkehrs auf Bahnhöfen und Bahnſtrecken in
Anwendung kommenden Apparate ſind ſo eingerichtet, daß ſie auf
mechaniſchem oder elektriſchem Wege von der Stellung der Signale,
Weichen, Barrièren, Drehbrücken, Drehſcheiben u. ſ. w. ſowie auch vom
Zuge ſelbſt abhängig gemacht werden, und daß ihre Bedienung zur
Regelung des Zugverkehrs zwangsweiſe erfolgen muß. So ſind z. B.
zwiſchen weit entfernten Stationen, zwiſchen denen die Züge in raſcherer
Reihenfolge hinter einander herfahren ſollen, ſogenannte Blockſtationen
eingerichtet und mit Signalen ausgerüſtet, die dem Blockwärter von
der benachbarten Station aus die Kenntnis von dem dort Ge-
ſchehenden geben. Ein elektriſcher Blockapparat, wie ihn ſo eine Block-
ſtation beſitzt, beſteht aus einem eiſernen Kaſten, der an ſeiner Vorderſeite
zwei Fenſterchen hat, von denen jedes für eine Fahrtrichtung beſtimmt
[256]Die elektriſchen Erfindungen.
iſt. Durch eine ſeitlich davon angebrachte Kurbel wird ein elektriſcher
Strom geſchloſſen, welcher die Farbe des Blockfenſterchens verändert,
wenn gleichzeitig ein über dem Fenſterchen ſitzender Knopf gedrückt
wird. Zeigt es die weiße Farbe, ſo kann das Signal zur Weiterfahrt
des Zuges gezogen werden, ſolange es aber rot iſt, darf der gerade
in der Fahrt begriffene Zug dieſelbe nicht fortſetzen. Ebenſo ſind
Signale am Zuge ſelbſt angebracht, und den Bahnwärtern wird in ihren
Buden angezeigt, ob der Zug auf dem richtigen Geleiſe fährt, ob ſich
unterwegs nicht vielleicht ein Wagen losgelöſt hat, ob ein Sonderzug
zu erwarten iſt u. ſ. w. Alles dies erfährt der Wärter durch die ver-
ſchiedene Zahl der Töne eines elektriſchen Läutewerks. Ähnliche
Einrichtungen, wie auf den Blockſtationen, ſind auch auf größeren
Bahnhöfen. Der Blockapparat erlaubt hier die ſofortige Einſtellung
der für die einzelnen Geleiſe paſſenden Signale. Das ſind nur wenige
Beiſpiele der ausgedehnten Verwendung der Telegraphie im Eiſen-
bahndienſt.


Ihre Tauglichkeit als Warnerin beweiſt die Elektrizität auch im
Bergwerksbetriebe. Die ſchädlichen Wirkungen, welche hier das Ent-
ſtehen von Grubengaſen mit ſich führt, ſind allgemein bekannt. Als
ſchlagende Wetter vernichten ſie, was der Fleiß von tauſend Händen
ſchafft, vernichten ſie das Leben des ihnen auf Gnade oder Ungnade
verfallenen Bergmannes. Der telegraphiſche Apparat aber läßt ſeinen
Warnungsruf zur rechten Zeit ertönen, auf daß er ſich retten könne.
Das Grubengas hat nämlich die Eigentümlichkeit, daß es leichter
als die atmoſphäriſche Luft iſt. Nun hat man die Erſcheinung wahr-
genommen, daß, wenn zwei Gaſe durch eine poröſe Wand, etwa eine
Thonzelle oder einen Gipspfropfen getrennt ſind, das leichtere ſchneller
durch dieſelbe hindurchgeht, als das ſchwerere. Es wird alſo auf der
Seite des ſchwereren Gaſes zuerſt eine größere Gasmenge ſich einfinden,
als auf der andern und dieſe Gasmenge wird einen gewiſſen Druck
ausüben, den man nun benutzen kann, um einen elektriſchen Strom zu
ſchließen. Eine Glocke, die in den Stromkreis eingeſchaltet iſt, wird
alſo durch ihr Läuten ſofort die Entſtehung des Grubengaſes anzeigen.
Ähnlich ſind die Leiſtungen der Elektrizität im Fabrikbetriebe. Sie
meldet an einer weit entfernten Stelle, wenn das Waſſer im Dampf-
keſſel zu niedrig ſteht und verhütet ſo die ſchrecklichen Exploſionen, die
das zur Folge haben kann. Sie tritt als erſte Helferin zu dem Un-
glücklichen, der in das Getriebe der Maſchinen hineingerät. Die elek-
tromagnetiſche Sicherheitskuppelung von Siemens \& Halske ſchaltet
ſelbſtthätig den Riemen oder den Maſchinenteil aus, von dem ein
Arbeiter erfaßt iſt, und zwar in ſo kurzer Zeit, daß die Vergrößerung
des Unfalles verhütet wird. Dabei wird im Übrigen der Betrieb der
Fabrik nicht geſtört, ſondern nur der Teil, in welchem ſich das Unglück
zutrug, gelangt ſofort zur Abſtellung. Die Telegraphie meldet dem
[257]Die telegraphiſche Zeitverſorgung.
wachſamen Gärtner, wenn in einem ſeiner Gewächshäuſer die Temperatur
zu hoch wird und den Pflanzen ſchaden könnte. Das Queckſilber des
dort befindlichen Thermometers ſchließt nämlich, wenn es einen be-
ſtimmten Punkt erreicht, einen galvaniſchen Strom, der ein Läutewerk
in Thätigkeit ſetzt.


Die telegraphiſche Zeitverſorgung.

Und ſo giebt es ſchließlich nichts, was uns nicht durch die Elektrizität
bekannt gegeben würde. Selbſt die Zeit zeigt ſie uns an. Aber haben
wir nicht vernommen, daß dieſe uns durch gute Uhren bis auf die
Sekunde genau geliefert wird, und glaubt nicht jeder von uns, daß ſeine
Uhr richtig genug gehe, um ihn wenigſtens auf die Minute pünktlich
ſein Werk verrichten zu laſſen? Es iſt von keiner der gewöhnlichen
Taſchen- oder Wanduhren zu verlangen, daß ſie ihren richtigen Gang
immer innehalte. Gute Uhren, von denen man das verlangen kann,
ſind von ſchwer erſchwinglichem Preiſe. Es kommt aber an vielen
Stellen auch darauf an, Uhren in genau gleichem Gange zu erhalten,
ſo z. B. im Eiſenbahnbetriebe. Welche Störungen kann hier nicht eine
Abweichung der einen von der anderen Uhr zur Folge haben! Nun
braucht man ſich durch die Elektrizität ja blos die richtige Zeit von
einer beſtimmten Centralſtation aus telegraphieren zu laſſen, und das
geſchieht z. B. einmal täglich an alle deutſchen Telegraphenämter.
Aber wäre es nicht beſſer, wenn die elektriſche Kraft ſelbſtthätig das
Regulieren der Uhren beſorgen könnte, ohne daß man ſie jedesmal
ſtellen oder die mitgeteilte Zeitkorrektur in Betracht ziehen müßte? Die
Elektrizität hilft auch hierzu. Es giebt vielerlei elektriſche Uhren, die
von einer Zentrale aus mit Zeit verſorgt werden. In Berlin ſind
zwei von dieſen Syſtemen jedem bekannt. Das eine von Hipp erfundene
iſt auf der Stadtbahn in Verwendung. Die Zentrale befindet ſich da
auf dem ſchleſiſchen Bahnhofe und die Uhren, die man in den Bahnhofs-
hallen ſieht, ſind kaum etwas mehr als bloße Zifferblätter. Jedesmal
nach einer Minute ſchließt das Pendel der Zentraluhr einen elektriſchen
Strom und die Zeiger aller Zifferblätter gehen damit um einen Teil
weiter. Die Zentraluhr kann nun entweder eine gewöhnliche gut
gehende Uhr ſein, oder ſie kann mit Hülfe einer ſolchen, wie ſie z. B. die
Sternwarten beſitzen, auf elektromagnetiſchem Wege reguliert werden.
Dieſes Syſtem ſehen wir in den Berliner Normaluhren verwirklicht.
Hier ſind nicht bloße Zifferblätter vorhanden, ſondern jede Uhr hat
ihr beſonderes Gangwerk, das aber mit demjenigen einer Uhr auf der
Sternwarte ſo in elektriſcher Verbindung ſteht, daß die Pendel beider
ſtets gleiche Zeiten zum Durchlaufen ihrer Wege gebrauchen. Iſt eine
von dieſen Uhren trotzdem um mehr als eine halbe Sekunde zurück
oder vor, was ſie ſelbſtthätig täglich auf der Sternwarte meldet, ſo
Das Buch der Erfindungen. 17
[258]Die elektriſchen Erfindungen.
kann ſie dort mit einer ſchneller oder langſamer gehenden Uhr ver-
bunden werden, bis ſie die Differenz eingeholt hat. Aber natürlich
ſind nur wenige ſolcher teuren und komplizierten Werke über die Stadt
verteilt. Sollte es nicht möglich ſein, auch im Zimmer allezeit zu
wiſſen, welches die richtige Zeit iſt?


Man hat zur Erreichung dieſes Zweckes bereits vielfach die
Elektrizität zu benutzen verſucht. Es ſtellten ſich indes dabei techniſche
Schwierigkeiten heraus, deren Bewältigung nur bei verhältnismäßig
geringem Umfange einer ſolchen Anlage möglich iſt. Die erforderlichen
elektriſchen Ströme brauchen zwar nur ziemlich ſchwach zu ſein, müſſen
aber einen beſonders hohen Grad von Gleichförmigkeit beſitzen, wenn
ſie den atmoſphäriſchen Einflüſſen mit der gehörigen Widerſtandskraft
entgegenwirken und dabei eine große Anzahl von Uhren in Gang
halten ſollen. Störungen ſind ſchließlich unvermeidlich, und Schäden,
die in der Leitung oder im Apparate entſtehen, ſind oft nicht leicht zu
reparieren. Deshalb iſt ein ſolches Unternehmen für elektriſche Uhren
auch immer nur in kleinem Umfange zur Ausführung gekommen. Da-
gegen beſtand bereits vor mehreren Jahren in Paris die Compagnie
générale des horloges pneumatiques,
welche es unternommen hatte,
dieſe Uebertragung der Zeit von gewiſſen Centralpunkten aus durch
den Luftdruck beſorgen zu laſſen. Die Kraft, welche die Rohrpoſtbriefe
von einem Stadtteil zum anderen treibt, ſie war hier zu einer eigen-
tümlichen Regelung vieler weithin zerſtreuter Uhren oder beſſer von
Zeigerwerken verwendet. Dieſe Apparate waren, wie auf der Berliner
Stadtbahn, keine ſelbſtändigen Uhren, die durch Gewichte oder Federn
im Gange erhalten werden, ſondern eigentlich nur Zifferblätter, deren
Zeiger durch den Luftdruck ſelbſt fortbewegt wurden. Natürlich waren
für dieſe Arbeit immerhin beträchtliche Kräfte erforderlich. Die Spannung
der Luft mußte jede Minute in dem vielfach veräſtelten Rohre von
10 km Geſamtlänge auf 1½ Atmoſphären vermehrt werden. So waren
kräftige Maſchinen erforderlich, und dementſprechend wurden auch die
Koſten der Einrichtung nicht unbeträchtliche. Deshalb machte der Er-
finder der pneumatiſchen Uhren, der Ingenieur Mayrhofer, in den neueren
Einrichtungen von dieſem „Springſyſtem“ keinen Gebrauch mehr. Die
einzelnen Uhren, die er ſpäter verwendete, ſind nicht mehr bloße Ziffer-
blätter mit Zeigern, ſondern wirkliche Pendeluhren, die auch ohne die
Einwirkung des Luftdruckes ihren Lauf fortſetzen und nach einmaligem
Aufziehen acht Tage lang im Gange bleiben, ehe ſie abgelaufen ſind.
Der Luftdruck ſoll hier in erſter Linie nicht das treibende, ſondern das
regelnde Prinzip ſein. Durch eine ſinnreiche Kombination wird er aber
zugleich dem weiteren Zwecke dienſtbar gemacht, die Uhren gar nicht
ablaufen zu laſſen. Die Einzelheiten ſind folgende:


Eine Hauptuhr — wir wollen ſie aus ſpäter zu erörternden
Gründen die Gruppenuhr nennen, — welche ſich durch einen beſon-
[259]Die telegraphiſche Zeitverſorgung.
ders gleichmäßigen Gang auszeichnet, hat die Aufgabe, die ihr unter-
geordneten Uhren ſtets nach Ablauf einer Stunde genau zu ſtellen und
zu gleicher Zeit ſoweit wieder aufzuziehen, als dieſelben inzwiſchen ab-
gelaufen ſind. Dazu ſind die einzelnen Uhren in ein Kreisrohr ein-
geſchaltet, das bei der Gruppenuhr anfängt und endigt. In dieſem
Kreisrohr wird nun die Luft nicht mehr verdichtet, ſondern vielmehr
ſoweit verdünnt, daß ſie etwa nur ⅔ Atmoſphären Spannung hat.
Das geſchieht auch durch keine koſtſpielige Pumpenvorrichtung mehr,
ſondern die Luft wird durch das Ausſtrömen einiger Liter Waſſer aus
der Waſſerleitung aus dem Röhrenſyſtem herausgeſaugt, ähnlich wie
dies bei dem vielfach verwendeten Waſſerſtrahlgebläſe geſchieht. Das
Waſſer kommt jedoch mit den Uhren ſelbſt in keine Berührung, ſondern
läuft einfach weg. Die dabei entwickelte Kraft iſt ungemein groß: ſie
genügt, um Gewichte von mehreren Zentnern zu heben, und der Er-
finder berechnet die Zahl der Uhren, die ſich durch eine einzige Gruppen-
uhr verſorgen laſſen, nach Tauſenden. Dabei hat das täglich ver-
brauchte Waſſer einen Wert von nur wenigen Pfennigen; alſo die Ver-
ſorgung läßt in Beziehung auf Billigkeit nichts zu wünſchen übrig. Da
die Gruppenuhr in ihrem Gange möglichſt wenig geſtört werden ſoll, und
vielleicht auch weil ihren Gewichten nicht noch dieſe Arbeit zugemutet
werden darf, wird die Auslöſung der Waſſermenge nicht von ihr ſelbſt,
ſondern erſt indirekt hervorgebracht. Die Uhr löſt nur einen kleinen,
elektriſchen Hilfsapparat aus, der ſeinerſeits den Ausweg für das
Waſſer freizumachen beſtimmt iſt. Durch dieſes Auspumpen der Luft
wird nun an jeder der einzelnen Uhren ein Hebelwerk in Bewegung
geſetzt, das einmal die Zeiger der Uhr richtet, wenn ſie nicht die volle
Stunde genau angeben ſollten, und zugleich die Arbeit des Aufziehens
beſorgt. Die Einzeluhren werden ſicher ſchon nahezu richtig gehen, ſie
werden in der Stunde kaum jemals um einen für das Auge wahr-
nehmbaren Betrag zurückbleiben oder voraneilen, aber ſelbſt wenn dieſer
Fehler bedeutend größer würde, ſo würde trotzdem die Richtigſtellung
ſtets nach Ablauf einer Stunde erfolgen. Nachdem die Gruppenuhr
in dieſer Weiſe die Einzeluhren gerichtet und zugleich mit neuer Kraft
geſpeiſt hat, bringt ſie nun auch ſelbſtthätig wieder die Luft in dem
Röhrenſyſtem auf die Spannung der Atmoſphäre. Das Ganze voll-
zieht ſich im Laufe weniger Sekunden.


Sollte die Wirkung der Waſſerleitung einmal ausbleiben, weil ſie
etwa wegen Froſtwetters oder einer Feuersbrunſt abgeſperrt werden
mußte, ſo wird dadurch kein Schaden herbeigeführt, weil gerade des-
halb die Einzeluhren ſo eingerichtet ſind, daß ſie, einmal aufgezogen,
acht Tage lang im Gange bleiben.


Für die Einführung dieſes Uhrenſyſtemes in Berlin arbeitet jetzt
die Urania-Säulen-Geſellſchaft. Die Ausführung iſt die folgende:
Einzelne öffentliche Gebäude, Hotels oder andere größere Privatbauten
17*
[260]Die elektriſchen Erfindungen.
werden mit je einer Gruppenuhr verſehen, welche eine beliebige Anzahl
von [einzelnen] Uhren treiben und regeln kann. Dadurch werden vor
allem die Erdleitungen erſpart, die übrigens auch nach einer neueren
Verbeſſerung durch die gewöhnlichen Telephondrähte erſetzt werden können.
Wo mehrere kleinere Privathäuſer, die einander benachbart ſind, den
Anſchluß wünſchen, wird ihnen zuſammen eine Gruppenuhr gegeben.
So denkt man ſich in ganz Berlin eine große Anzahl von Gruppen,
deren jede eine Hauptuhr bekommen ſoll. Für das Ganze wird eine
Zentralſtelle errichtet, die ſich die aſtronomiſche Zeit von einer wiſſen-
ſchaftlichen Anſtalt verſchafft.


[[261]]

III.Die Wohnung.


1. Die Baumaterialien.


Die Bauten aus Holz und natürlichen Steinen.


Wenn der Satz, daß die Not der Erfindungen Mutter iſt, zu irgend
einer Zeit Geltung gehabt hat, ſo war dies offenbar in der Kindheit
des Menſchengeſchlechtes. Wenn der Urmenſch vor dem Wüten ent-
feſſelter Elemente Schutz ſuchend, in der Haut der erlegten Jagdbeute
die ſeinige barg, ſo ward er zum Erfinder der Kleidung, wenn er die
Zweige und Stämme der Bäume aus der gleichen Not zum wohn-
lichen Obdach verband, ſo hatte er die Wohnung erfunden. Beides
erhob ihn keineswegs über die Stufe des Tieres. Wir begegnen im
Tierreiche manchem Weſen, das durch ſeinen geſchickten Wohnungsbau
und durch die Fähigkeit, ſich mit einer künſtlich zuſammengefügten Hülle
zu umgeben, die erſten Menſchen offenbar übertraf. Jene hervorragende
Stellung unter den lebenden Weſen erringt derſelbe erſt durch das
Hinzutreten einer Vielfachheit von anderen Fähigkeiten.


„Im Fleiß kann dich die Biene meiſtern,

In der Geſchicklichkeit ein Wurm Dein Lehrer ſein,

Dein Wiſſen teileſt Du mit höheren Geiſtern,

Die Kunſt, o Menſch, haſt Du allein.“

Es iſt jene Mannigfaltigkeit des Könnens, welche jede einzelne
Kunſtfertigkeit des Menſchen einſchließt, die ihm die oberſte Stufe im
Range der lebenden Weſen ſicherte. Jede Tierſpezies beſitzt eben
höchſtens zwei oder drei in ganz beſtimmter Richtung wirkſame Fertig-
keiten, der Menſch beſitzt deren ſo viele und in ſo verſchiedener Weiſe
variierbare, daß er als alleinige Spezies eine Vielheit von Bauſtilen
und von Moden zu erzeugen wußte. In dieſen Namen faſſen wir die
höchſten Staffeln zuſammen, denen der Erfindungstrieb ſeit den Tagen
der Urzeit zuſtrebte. Lang war der Weg zu dieſen, und es iſt derſelbe
Weg, den jede Erfindung nehmen muß, die ſich im Laufe der Zeiten
[262]Die Baumaterialien.
den geſteigerten Bedürfniſſen, den allweilig vorhandenen Materialien
und einem Schönheitsgefühle anpaßten, welches auch dem Tiere
keineswegs ganz abgeht. In Gegenden, die einen Überfluß an Holz
aufwieſen, war man notwendig auf dieſes als das geeigneteſte Material
angewieſen. War es auch der Gefahr der Zerſtörung durch die Feuchtig-
keit etwas mehr ausgeſetzt, als die dem Erdboden entnommenen Stoffe,
ſo hatte es vor dieſem den Vorteil, daß es dem Froſt weit weniger
unterliegt. Die aus der Urzeit erhaltenen Pfahlbauten zeigen ſeine
bedeutende Widerſtandskraft. Für Bauten auf Höhen iſt es einzig
tauglich. Das Blockhaus der amerikaniſchen Anſiedler und das
Schweizerhaus zeigen uns die Holzbaukunſt auf verſchiedenen Ent-
wickelungsſtufen. Am meiſten vorgeſchritten erſcheint dieſelbe wohl im
Norden, und die norwegiſchen Kirchen weiſen hier ihre vollendetſten
Formen auf, ausgeſtattet mit einer unübertroffenen Ornamentik.


Es iſt klar, daß, wo die Erde keine Steine liefert und die Wälder
mangeln, niedrige Fachwerkbauten diejenigen ſein werden, die das
Wohnungsbedürfnis hervorbringt. So iſt es z. B. in den eigentlichen
Ungarſtädten, wo das Alföld keinerlei Steine darbietet. Überall ſonſt
wird der Bau aus Steinen, wie ſie vom Boden aufgenommen werden
können, ebenſo nahe gelegen haben, wie der Holzbau. Mit den Pfahl-
bauten Weſteuropas ſind die Steinbauten des Orients gewiß gleichaltrig,
während die Grabdenkmale, welche uns aus der Urzeit Weſt- und
Mitteleuropas überkommen ſind, die Dolmen und Steinkreiſe ihnen
vielleicht in der Zeit vorangingen. Der Stein, ſo viel härter als das
Holz, ließ ſich nur ſchwer in die Form bringen, die ihn zur Verwendung
in Bauten tauglich erſcheinen ließ, und ſo ſtanden die erſten Steinbauten
an geſchmackvoller Ausführung hinter denen aus Holz weit zurück. Es
fehlten eben die Werkzeuge, mit denen heute die Bearbeitung ſelbſt der
ſtärkſten Steine ausführbar iſt. Man ſchichtete ſie zuſammen, nachdem
man ſie einigermaßen aneinander gepaßt hatte, fügte in die Lücken zwiſchen
ihnen kleinere Steine und dichtete dann den ganzen Bau mit Moos.
Erſt verhältnismäßig ſpät gelang es, auch die Steine in ähnliche
Schichten zu ordnen, wie die gleichmäßig dicken Holzbalken des Block-
hauſes, ſie zu wagerechten Reihen von gleichförmiger Höhe an ein-
ander zu fügen. Heute iſt die Verwendung der natürlichen Steine
beim Hochbau nur eine beſchränkte; aber immerhin werden ſie für die
Zwecke des Fundamentierens, der Bekleidung, der Fußböden und
der Dachlegung allerwege gebraucht. Weiter geht freilich ihre Ver-
wendung im Straßenbau.


Wie gewinnt man die für dieſe Zwecke geeigneten Steine und wie
gelingt es, den harten Materialien die paſſenden Formen zu geben?
In vielen Fällen kann man das geeignete Material in der Geſtalt
lockerer Geſchiebe oder erratiſcher Blöcke einfach vom Boden aufnehmen,
in anderen muß man es ſeiner Unterlage mit Gewalt entreißen. So
in den Steinbrüchen. Hier ſind die Brechſtange und der Keil für die
[263]Die Bauten aus Holz und natürlichen Steinen.
Gewinnung der Steine längſt nicht mehr die einzigen Mittel. Pulver
und das furchtbare Dynamit ſind jetzt bei der Arbeit. Man muß mit
beſonderen Steinbohrmaſchinen das Geſtein aushöhlen, um die Spreng-
maſſe in ſeine Eingeweide zu bringen. Oder man muß mit Stein-
ſtemmaſchinen die abzutrennende Maſſe mit Teilungsfugen umgeben.
Solche werden mit Dampf betrieben: ſtangenförmige Meißel keilen ſich
mit der Geſchwindigkeit von mehr als einem Meter in der Minute
mehrere Meter tief in das Geſtein ein und erlauben mit nachheriger
Zuhilfenahme von Sprengmitteln, die Blöcke von mehreren Kubikmetern
Inhalt von ihrem Lager zu trennen. Für die weitere Verwendung
wird man ihnen die paſſende Geſtalt anweiſen. Pflaſterſteine werden
nahe die Würfelform, Trottoirplatten die flache Geſtalt erhalten
müſſen. Dazu werden ſie der Steinſchneidemaſchine anvertraut.
Die weicheren Geſteine, wie Sandſtein, laſſen ſich allenfalls mit
mit einer harten Zahnſäge durchſchneiden, für die meiſten Steinarten
aber nimmt man Schwertſägen, das ſind lange Eiſenblätter, die durch
die Thätigkeit der Maſchine in das Geſtein eindringen, indem ſie mit
einem Schleifmittel, wie Quarzſand in Waſſer, neuerdings Gußeiſenſchrot,
ſich den Weg bahnen. In Amerika kommen jetzt dieſe Metallblätter
mit Diamantzähnen in Aufnahme. Weiter müſſen die Flächen der
gewonnenen Steinquadern geebnet werden, was mit Hülfe von Stein-
abricht- und Flachhobelmaſchinen geſchieht, die denjenigen für Holz und
Metall nachgebildet ſind. Der Stein wird entweder auf einem Schlitten
unter den feſtſtehenden oder ſich drehenden Meißeln hinbewegt, oder es
findet das Umgekehrte ſtatt. Die Meißel ſelbſt kann ein gewöhnlicher
zugeſpitzter oder flach endigender Stahl ſein, oder er bildet eine runde
Scheibe, von der Geſtalt eines ſtumpfen Kegels; endlich verwendet man
auch hier Diamanten. Bei Bauſteinen wird man Verkehlungen oder
ähnliche Verzierungen anbringen wollen. Man hat die erwähnten
Maſchinen bisher zu dieſem Ende mit beſonders geformten Meißeln
verſehen; aber heute giebt es ſchon Maſchinen, um an gebogenen
Flächen Geſimſe anzubringen. Am vollkommenſten für dieſen Zweck
geeignet iſt die Hunterſche Duplexmaſchine. An ihr wirken die eben
erwähnten runden Stahlſcheiben, die durch ihre raſche Drehung die
Vorarbeit übernehmen, während das Werk durch Schaber vollendet
wird. Um kreisrunde Stücke zu erlangen, verfährt man — wie in
vielen Fällen auch beim Holz und bei Metallen — man giebt dem
Stücke eine achteckige Form und thut es dann in die Steindrehbank,
wo es mit dem Stahl zum Rundkörper gedreht wird. Mit dieſen
Manipulationen ſind die Bauſteine meiſt als vollendet anzuſehen. Nur
in wenigen Fällen — z. B. bei Granit, der zur Verkleidung von Pracht-
bauten dienen ſoll — wird noch das Schleifen und Polieren folgen
müſſen. In den Schleifmaſchinen bewegen ſich gußeiſerne Scheiben
drehend oder fortſchreitend und mit ihnen die Schleifmittel (Quarzſand
mit Waſſer), mit denen ſie ſich unter Druck an den Steinen reiben.
[264]Die Baumaterialien.
Das Polieren folgt auf dieſelbe Weiſe hinterher, Schmirgel und Zinn-
aſche ſind die dabei verwendeten Mittel. Der Stein ſelbſt bewegt ſich
dabei auf einem Schlitten unter den Eiſenſcheiben hin. Mit der Ver-
wendung zu Bauten iſt — wie jeder weiß — der Gebrauch der Steine
nicht abgeſchloſſen. Wir begegnen ihnen bei Denkmälern in ihrer Ge-
ſtaltung zu mannigfachen Figuren und in Schmuckſachen. Für alle
dieſe Verwendungen ſind ebenfalls beſondere Maſchinen gebaut worden;
Graviermaſchinen, in denen ein Stahlſtift ſchnell gedreht wird, halfen
bei den feineren Arbeiten. In den letzten Jahren haben ſich für dieſe
Zwecke die ſogenannten Preßluftwerkzeuge eingeführt, bei denen die
Expanſion verdichteter Luft die treibende Kraft iſt; ſie helfen dem
Steinmetzen und dem Bildhauer, die Steine zu verarbeiten, und erhöhen
die Leiſtungsfähigkeit eines Arbeiters auf das Sechsfache. Den Steinen,
die ſich bereits in Bauwerken befinden, geben ſie die gewünſchte Form,
und bringen die ſchönſten Reliefs an Giebelfeldern und Kapitälen an.
Alle dieſe Inſtrumente enthalten einen Schlagkolben, den die gepreßte
Luft in der Minute ſechs- bis zehntauſend Schläge ausführen läßt.


Die Verbindungsſtoffe.


Sehr bald wird das bloße Aufeinanderlegen der Steine den
Wunſch nach einem genügend feſten Bau nicht mehr erfüllt haben. Die
älteſten aus künſtlichen Steinen aufgemauerten Bauten Ägyptens und
Babyloniens zeigen uns die Anwendung beſonderer Bindemittel, ja
der Mörtel mag älter als dieſe Kunſtſteine ſelbſt ſein. Man verſtand
darunter einen Kalkbrei, der mit Sand oder anderen Zuſätzen gemengt
iſt. Die Eigenſchaften des Kalkes laſſen ihn zu dem bezeichneten
Dienſte hervorragend tauglich erſcheinen. Der Kalk iſt ein in der
Natur ungemein verbreiteter Körper. Aber er findet ſich nicht in der
Form, in der er ſofort zu Mörtel verarbeitet werden könnte. Mit der
Kohlenſäure verbunden bildet er als körniger Kalk, Marmor, Kreide
und Kalkſtein ungeheure Lager. Erſt wenn dieſe Geſteine ihres Ge-
haltes an Kohlenſäure beraubt ſind, bieten ſie ſich zu ferneren Dienſten
dar. Das geſchieht, indem man die kalkhaltigen Mineralien brennt.
So erhält man den gebrannten Kalk. Dieſer wieder muß in eine
innige Verbindung mit Waſſer gebracht, er muß gelöſcht werden. An
der Luft trocknet der gelöſchte Kalk bald ein, indem er die in der
Atmoſphäre enthaltene Kohlenſäure wieder an ſich zieht, und wenn er
dabei unter einem hinreichenden Drucke ſteht, ſo erlangt er nach dem
Trocknen die Härte des Marmors. Das iſt die Eigenſchaft, die ihn
zu Mörtel verwenden läßt. Das erſte Verfahren alſo, dem der natür-
liche Kalkſtein zu unterwerfen iſt, iſt das Brennen. Dasſelbe geſchah
früher vielfach in beſonders gebauten Meilern, heute wird es meiſt in
Öfen vorgenommen, die, je nachdem ſie in fortwährendem Betriebe ſind,
oder nur periodiſch dem Zwecke des Kalkbrennens dienen, verſchieden
[265]Die Verbindungsſtoffe.
konſtruiert werden. Die Fig. 171 zeigt uns einen periodiſchen Kalkofen
im Aufriß, Fig. 172 im Grundriß. Der zu brennende Kalkſtein gelangt
in den nach oben etwas verjüngten und oben überwölbten Raum A.

Figure 164. Fig. 171.

Aufriß eines periodiſchen Kalkofens


Die e bedeuten vier Schürlöcher, zu denen das Brennmaterial (Stein-
oder Braunkohle) hereingebracht wird; dasſelbe ruht auf Roſten. b iſt
eine in der Ummauerung des Ofens gelaſſene Lücke, die zum Ein-
fördern des Kalkſteines dient. Während des Brennens iſt dieſelbe mit

Figure 165. Fig. 172.

Grundriß eines periodiſchen Ka kofens.


Ziegeln vermauert. Die gebrannten
Steine werden am Ende des Verfahrens
zur Thür d herausgeſchafft, die eben-

Figure 166. Fig. 173.

Beſchickung eines periodiſchen Kalkofens.


falls während desſelben vermauert war. Die Flamme kann durch
Öffnungen aus dem Gewölbe über A austreten. Von dem Eingang a
des oberen kegelförmigen Teils des Ofens läßt ſich das beobachten, und
man hat es in der Gewalt, durch teilweiſes Verſchließen dieſer Öffnungen,
dem Brande eine andere Richtung zu geben. Wie der Ofen beſchickt
wird, das zeigt ſchließlich Fig. 173. Bei jeder Feuerung wird ein
beſonderes Gewölbe für die Verteilung der Flamme angebracht. Der
Holzpflock in der Mitte des Kalkſteins wird bald verzehrt, und es
[266]Die Baumaterialien.
entſteht an ſeiner Stelle ein Kanal zum Durchzug der Flammengaſe.
Man feuert zuerſt nur ſchwach an und geht allmählich erſt zur vollen
Glut über. Dieſe darf bei unreinen, mit Thonerde oder Magneſia
und Kieſelſäure vermengten Kalkſteinen nicht über eine gewiſſe Temperatur
geſteigert werden, weil ſonſt die Maſſe zuſammenſchmilzt, der Kalk
totgebrannt wird, wie man ſich ausdrückt, und nun nicht mehr zu ver-
werten iſt.


Die Fig. 174 zeigt einen Durchſchnitt durch einen Kalkofen mit
ununterbrochenem Brande, wie er in den Rüdersdorfer Kalkbergen bei
Berlin verwendet wird. In ihm iſt der Raum der Feuerung von dem-

Figure 167. Fig. 174.

Rüdersdorfer Kalkofen.


jenigen für die Kalkſteine völlig
getrennt. Das Weſentliche an
ihm ſind die beiden cylinder-
förmigen Mauern d d, die aus
feuerfeſten Steinen aufgeführten
Futtermauern, und e e, die
Rauhmauer. Beide ſind durch
einen mit Bauſchutt und Aſche
gefüllten Raum von einander
getrennt. Eine ſolche Füllung
iſt ein ſchlechter Wärmeleiter
und läßt alſo die Wärme des
Ofens nicht ſo leicht fortgehen.
Sie hat außerdem den Zweck,
durch ihre eigene Ausdehnung
den Druck des im Schachte B C
liegenden Materials, welches
mit wachſender Wärme ſich auch
ausdehnt, aufzuheben. Der nach unten verjüngte Teil B des Schachtes
füllt ſich während des Brennens mit durchgebranntem Kalk, welcher durch
die Öffnungen a am Grunde von Zeit zu Zeit abgelaſſen werden kann.
Der 14 Meter hohe Schacht iſt noch von einer Außenmauer B B um-
geben, die keinen weſentlichen Teil des Ganzen bildet, aber mit der
Rauhmauer Kammern einſchließt, die zum Aufenthalt der Arbeiter und
anderen Zwecken dienen. In der Fig. 174 bedeutet ferner h eine der
drei bis fünf Feuerungen für Holz oder Torf, die einen Roſt haben
und die Aſche durch denſelben und den Aſchenfall i in den Behälter E
fallen laſſen. Das Feuer gelangt durch den Kanal b in den Schacht,
und ein zweiter Kanal k dient dazu, die dem abgelaſſenen Kalk ent-
ſtrömende Wärme in die Gewölbe H abzuführen, damit die Arbeiter
in F davor bewahrt werden. Das Feuer wird zunächſt nicht in den
ſeitlichen Kammern h angefacht, ſondern man beginnt damit, daß man
einen Holzſtoß in B einbringt, bis zur Höhe von b Kalkſteine darüber
ſchüttet und nun das Holz anzündet. Wenn es ausgebrannt iſt, ſo
entwickelt die dem gargebrannten Kalk entſtrömende Wärme hinreichenden
[267]Die Verbindungsſtoffe.
Zug, um nun die eigentlichen Feuerungen in Gang zu bringen, die
jetzt den bis oben hin mit Kalkſteinen angefüllten Schacht erhitzen. In
dem Maße als unten gar gebrannter Kalk fortgeſchafft wird, kann
man oben unaufhörlich neuen nachſchütten, ſo lange der Ofen es
aushält.


In Amerika wird neuerdings ein eigentümliches Verfahren an-
gewendet, um den in Küchenabfällen, wie Auſtern, Muſcheln und Eier-
ſchalen enthaltenen kohlenſauren Kalk, der früher nicht verwendet wurde,
nutzbar zu machen. Dazu werden in einfachen Schächten Lagen von
dieſem Material und ſolche von Koks abwechſelnd über einander ge-
ſchichtet. Wenn die unterſte Kalkſchicht dabei in Rotglut gerät, ſetzt ſie
die folgende Kohleſchicht in Brand und ſo fort bis zur Mündung des
8 Meter hohen Ofens. Die Öfen werden von unten entleert, während
oben Material nach Bedürfnis nachgeſchüttet wird. Auch dieſe Öfen
können immer in Betrieb bleiben. So haben wir hier ein Beiſpiel,
wie die heutige Induſtrie auch ganz wertloſes Material zu verarbeiten
und nützlichen Zwecken zuzuführen verſteht. Freilich wird der ſo in New-
York und Brooklyn gewonnene Kalk nicht für Bauzwecke, ſondern zur
Gasreinigung, Seifen- und Düngerfabrikation weiter verwendet, für
welche der gebrannte Kalk auch bei uns zum Teil hergeſtellt wird.


Der gebrannte Kalk wird, wenn er zu Mörtel verwendet werden
ſoll, gelöſcht, d. h. mit Waſſer chemiſch verbunden. Im Mörtel wird
er dann mit Sand gemiſcht, was bei größeren Bauten in beſonderen
Maſchinen geſchieht. Der naſſe Mörtel trocknet allmählich aus, indem
der Kalk gierig Kohlenſäure der Luft aufnimmt, und er erſtarrt dabei
unter dem Drucke des darüber laſtenden Mauerwerks zu einer feſten
Maſſe, indem ſeine Oberfläche und die der Sandkörner ſich heftig anziehen.
Das Austrocknen nimmt beim Altern des Mörtels immer zu, ſo daß
er in den älteſten Bauwerken am feſteſten iſt. Trotz dieſer vor-
züglichen Eigenſchaften ſind doch dem Kalkmörtel Konkurrenten er-
wachſen, die in beſonderen Fällen beſſere Dienſte leiſten. So
wird man Öfen, die einen bedeutenden Hitzegrad aushalten müſſen,
natürlich nicht mit Kalk bauen, weil dieſer ja von neuem gebrannt
werden und zerfallen würde. Man iſt dann auf Lehmmörtel ange-
wieſen, der zwar nicht ſo ſtark erhärtet, als der Kalkmörtel, aber
andererſeits auch den Vorzug hat, daß er ſchneller trocknet, ſo daß z. B.
Wohnungen, die man damit auskleidet, eher bewohnbar ſind. Bei den
anderen Mörteln benutzt man ein ebenfalls in der Natur weit ver-
breitetes Material, den Gips. Man findet ihn kryſtalliſiert als Marien-
glas, aber er hat größere Verbreitung nur als körniger Gipsſtein, deſſen
ſchönſte Abart der Alabaſter iſt. Der natürlich vorkommende Gips be-
ſteht aus ſchwefelſaurem Kalk und Waſſer. Das Letztere kann man
ihm, wie dem Kalk die Kohlenſäure, durch die Hitze entziehen, man
muß ihn alſo brennen, und die beſondere Vorliebe, die der gebrannte
Gips für Waſſer beſitzt, mit dem er ſich zu einer harten Maſſe ver-
[268]Die Baumaterialien.
bindet, macht ihn als Bindemittel ſo tauglich, wie den Kalk. Man
muß ſich auch beim Gips hüten, ihn während des Brandes einer zu
hohen Temperatur auszuſetzen. Er muß nämlich ein Viertel des ihm
zukommenden Waſſers behalten. Iſt ihm dieſes durch eine Wärme von
200 Grad entzogen, ſo geht er mit Waſſer nicht mehr jene feſte Ver-
bindung ein, er iſt totgebrannt. Die Gipsöfen werden alſo, rationell
gebaut, dieſes Totbrennen zu verhindern haben, ſie werden auch die
Kohle in keine unmittelbare Berührung mit dem Gips gelangen laſſen,
weil dieſer ſonſt noch weitere unerwünſchte Zerſetzungen erfährt. Am
beſten ſind Öfen von der Art derjenigen, welche zum Brotbacken
dienen. Der gebrannte Gips wird zwiſchen Mühlſteinen und Walzen
zu einem feinen Mehl vermahlen, das nun unmittelbar zu Mörtel ver-
wendet werden kann. Das iſt ſeit altersher bekannt und vielfach ange-
wendet: ſo beſteht der Mörtel, mit dem die Cheops-Pyramide erbaut
ward, zum größten Teile aus Gips. An Feſtigkeit übertrifft der Gips,
den man natürlich beſonders in gipsreichen Gegenden verarbeitet, ſogar den
Kalkmörtel. So halten die Bruchſteine, aus denen eine 1530 bei Oſterode
zerſtörte Burg erbaut war, heute noch feſt zuſammen, der ſie verbindende
Gips iſt ſogar noch feſter als die Steine. Neuerdings führt er ſich
als Bindemittel zu Bauten immer mehr ein, da er in der Kälte nicht
leidet, wie der Kalk, alſo ſelbſt bei einer Temperatur von — 10 Grad
noch das Mauern geſtattet. Aber ſeine hervorragenden Eigenſchaften
verſchaffen ihm auch als Material für Fußböden, als Kitt und zu
den Stuckaturarbeiten ausgiebige Verwendung bei Bauten. Die letzt-
genannten Dienſte leiſtet er infolge ſeiner Fähigkeit, ſich leicht in
Formen bringen zu laſſen, wegen welcher er ebenfalls im grauen Altertum
bereits berühmt war. So erzählt Plinius, daß der Sikyonier Lyſiſtratus
zuerſt ein menſchliches Geſicht in Gips abgegoſſen und von dieſer
Form einen Wachsabdruck verfertigt habe. Dieſe Kunſt ſcheint im
Mittelalter in Vergeſſenheit geraten zu ſein, und erſt zur Zeit Rafaels
hatte ſie ſich in Italien wieder zu der Höhe emporgerungen, die wir
in den Stuckaturen des Vatikans bewundern. Im 18. Jahrhundert
wird er aber den Gipfel ſeiner Verwendung erreicht haben, damals
als er der Rokokozeit ihr Gepräge gab. Abgüſſe von Bildhauer-
arbeiten, von Münzen, Formen für Metallgießereien und für die Zwecke
der Galvanoplaſtik, erlaubt der Gips in unvergleichlicher Vollendung
herzuſtellen. Namentlich iſt die Herſtellung der Gipsfiguren neuerdings
in hohem Grade vervollkommnet. Man verſteht es, die Maſſe mit
Alaun zu härten und ihr durch Imprägnieren mit Wachs oder Fett
ein marmor- oder elfenbeinartiges Ausſehen zu geben. Man vermag
dieſelbe zu färben und — wie auf S. 140 nachzuleſen — auch gal-
vaniſch zu verſilbern oder zu vergolden. Nicht zu unterſchätzen iſt die
volkswirtſchaftliche Bedeutung dieſer Induſtrie, indem ſie den minder
Bemittelten die berühmten Werke der Bildhauerkunſt in Nachbildungen
zugänglich macht.


[269]Die Verbindungsſtoffe.

Für Bauten im Waſſer oder in feuchter Erde ſind die bisher be-
ſchriebenen Bindemittel unzulänglich. Man iſt dann auf ſolche Mörtel
angewieſen, die gerade im Waſſer zu erhärten fähig ſind, auf die ſo-
genannten Zemente. Dieſelben waren bereits den Römern bekannt.
Ihnen dienten Trümmer vulkaniſcher Auswurfsſtoffe von Puteoli und
aus der Gegend von Bonn am Rhein, welche dieſe Eigenſchaft er-
langen, wenn man ſie mit gelöſchtem Kalk vermengt. Die Neuzeit
verwendete die Beobachtung Smeatons vom Jahre 1759, daß Mörtel
aus thonhaltigem Kalk im Waſſer erhärte, welche derſelbe für den
Bau des Eddyſtoner Leuchtturmes 1774 verwertete. Hierauf fußend
erfand Parker 1796 den Romanzement. Man erhält denſelben einfach
durch das Brennen gewiſſer Thonmaſſen als ein rotbraunes Pulver.
Das Material beſteht nämlich aus kohlenſaurem Kalk und kieſelſaurer
Thonerde, und beim Brennen entweicht die Kohlenſäure, während der
Kalk ſich teilweiſe mit der Kieſelſäure verbindet. Wird ſpäter der
Zement mit Waſſer angerührt, ſo vollzieht auch der übrige Kalk dieſe
Verbindung und damit erhärtet der Zement. Wo immer jene kalk-
haltigen Thone ſich fanden, da wurde nunmehr auch Zement gebrannt.
Zugleich verſuchte man künſtliche Gemiſche mit derſelben Eigenſchaft
zu erlangen, und der erſte, dem dies glückte, war Aspdin in Leeds,
welcher 1824 den Portlandzement erfand. Man erhält denſelben aus
einem auf feuchtem Wege hergeſtellten Gemiſche von kohlenſaurem Kalk
mit Thon durch Brennen bis zur Weißglut. Da das Gemiſch ein ſehr
inniges ſein muß, ſo muß man den Kalk aus der Kreide oder ähnlichem
weichen Material entnehmen. Der Thon muß vor dem Miſchen durch
Schlämmen von ſeinem Sandgehalte befreit werden. Dies iſt jetzt
noch die geſchätzteſte unter allen Zementarten. In Deutſchland, wo
1850 die erſte Zementfabrik in Stettin gebaut wurde, lieferte die Zement-
induſtrie bereits 1878 2½ Million Tonnen. Der Zement wird bei
Bauten im Waſſer oder im feuchten Boden rein verwendet, er wird
dann innerhalb dreier Monate zu einer ſteinharten Maſſe; für Bauten
in der Luft miſcht man ihn mit Sand zu einem mehr oder weniger
feinen Mörtel.


Die künſtlichen Bauſteine.


Nur die älteſten Mauerwerke zeigen uns natürliche Steine. Die
Schwierigkeit, ſolche in die paſſende Form zu bringen, und der Umſtand,
daß viele Gegenden derſelben überhaupt entbehrten, führte zur Erfindung
künſtlicher Bauſteine. Die Bauten der Ägypter weiſen Ziegel auf, und
ebenſo benutzten die Babylonier teils ungebrannte Steine, teils Back-
ſteine, ſogar ſolche mit farbiger Glaſur. Auch die uns von Griechen
und Römern überkommenen Bauten ſind mit Mauerſteinen ausgeführt;
ſie bekleideten dieſelben mit Marmor oder Putz. Die Römer verbreiteten
mit ihrer Herrſchaft auch die Kunſt des Ziegelbaus über die europäiſchen
Länder, und mit einer längeren Unterbrechung im erſten Teile des Mittel-
[270]Die Baumaterialien.
alters hat dieſe Kunſt ſich immer mehr entfaltet, und bereits in den
früheſten Werken der Gothik eine hohe Vollendung erreicht. In neueſter
Zeit iſt durch Erfindung paſſender Maſchinen, durch Herſtellung voll-
kommener Öfen und durch Benutzung der Fortſchritte der Chemie die
Backſteintechnik auf einer Stufe angelangt, die uns heute nicht mehr
überſchreitbar erſcheint.


Das Material für die Herſtellung der Ziegel lieferte von Anfang
an die als Thon weit verbreitete kieſelſaure Thonerde. Wenn ſie nur
nicht zu ſandhaltig war, und eine nicht zu große Beimengung von
kohlenſaurem Kalk enthielt, ſo war ſie für den bezeichneten Zweck brauch-
bar. Aber der Weg von dem rohen Thon bis zum fertigen Mauer-
ſtein iſt immerhin ein langwieriger, den durch ſeine einzelnen Staffeln
zu verfolgen, wir uns jetzt anſchicken. Es iſt der Weg durch einen der
am weiteſten verbreiteten Fabrikbetriebe, der in Deutſchland 1889 an
11000 Stätten von 218000 Arbeitern gepflegt und in der Zahl der

Figure 168. Fig. 175.

Einſumpfen des Thones.


Beſchäftigten nur von dem Bergwerksbetriebe übertroffen wurde. Das
rohe Material läßt ſich im Allgemeinen nicht ſofort weiter verarbeiten.
Es wird im Sommer oder im Herbſte aus den Thongruben gegraben,
weil dieſe Zeiten die trockenſten des Jahres ſind, und der dann wenig
ſchwere Thon mit geringeren Koſten gefördert werden kann. Derſelbe
wird ſodann in niedrigen Schichten auf dem Erdboden ausgebreitet
und einen oder mehrere Winter lang im Freien liegen gelaſſen. Der
Froſt wirkt mit nachfolgendem Thauwetter lockernd auf ihn ein. Hierauf
kommt das Einſumpfen des Thones. Dazu bringt man ihn in tiefe
gemauerte Baſſins und übergießt ihn mit Waſſer. In denſelben werden
ſchwere eiſerne Körper, wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem bekannten Acker-
werkzeug Eggen genannt, fortwährend herumbewegt, daß ſie mit ihren
Zinken den Thon zerkleinern und ihn möglichſt eng mit dem Waſſer
vermiſchen, ſo wie dies Fig. 175 erkennen läßt. Dabei trennen
ſich feinere Sandteile und die lösbaren Stoffe und werden vom Waſſer
[271]Die künſtlichen Bauſteine.
fortgeſchlämmt, in dem Maße als man friſches zuſetzt. Man füllt mit
ihnen in größeren Ziegeleien nach einander eine Reihe von Schlamm-
gruben, in denen man das Ganze ſich niederſchlagen läßt und das
klare Waſſer abzieht. Das Austrocknen des Schlammes in dieſen
Baſſins erfordert Monate. Der Thon läßt ſich aber jetzt direkt weiter ver-
wenden, wenn nicht etwa naſſes Wetter zuviel Feuchtigkeit in ihm zurück-
gehalten hat. Im letzteren Falle muß er erſt mit trockenem Material,
welches in den Ziegeleien aufgeſpeichert iſt, verkneſtet werden. Er ge-
langt zunächſt in den Thonſchneideapparat, wo er noch einmal gehörig
durchgeknetet und zu einer völlig gleichförmigen Maſſe ausgearbeitet
wird. Dieſe Arbeit — heute meiſt durch Maſchinen geleiſtet — wurde
früher immer und wird auch heute noch ſtellenweiſe durch menſchliche Arbeits-
kraft, durch Treten vollbracht. Nachdem durch dieſe Vorarbeiten die

Figure 169. Fig. 176.

Ziegelpreſſe von L. Schmelzer.


Gleichmäßigkeit und Feſtigkeit der Ziegel hinreichend garantiert iſt, gelangt
der Thon in ein Walzwerk, wo er zerquetſcht und zu einem dünnen
Bande ausgezogen wird. Jetzt kann er geformt oder — wie man ſagt —
können die Ziegel geſtrichen werden. Das geſchah früher überall durch
Handarbeit mit einer Form aus Holz oder Gußeiſen. Man drückte den
Thon hinein, entfernte den Überſchuß durch Streichen mit einem Brett
und nahm dann die Form fort. Auch heute iſt dieſes Verfahren noch vielfach
üblich, aber meiſt durch Maſchinen verdrängt. Die erſte ſolche erfand
der Nordamerikaner Kinsley 1799, weſentlich verbeſſert wurden ſie durch
Hattenberg in Petersburg 1807 und Deyerlein in London 1810. Wir
bilden in Fig. 176 die Schmelzerſche Ziegelpreſſe ab. Der Thon wird bei
ihr durch ein Walzwerk zu einer dichten Maſſe gepreßt und erſcheint durch
viele ſchraubenförmig geſtellte Meſſer verarbeitet links in Form eines
Stranges von der Breite und Länge der zu gewinnenden Ziegel. Durch
[272]Die Baumaterialien.
einen davor angebrachten Abſchneideapparat werden die Stücke in der
gewünſchten Dicke abgeſchnitten. So erhält man die ungebrannten
Ziegel, die nunmehr in Trockenräume gelangen, heizbare Räume in der
Nähe der Ziegelöfen. Dieſe an der Luft getrockneten Ziegel — daher
Luftſteine genannt — eignen ſich für manche Zwecke, wo ſie größerem
Drucke, aber nicht der Feuchtigkeit ausgeſetzt ſind. Sonſt müſſen ſie gebrannt
werden. Dabei ſchmelzen zum Teil die Teilchen, die durch die Anweſen-
heit von Kalkſtein und Eiſenoxyd einen niedrigen Schmelzpunkt beſitzen,
zuſammen. Der Brand geſchieht in Feldziegeleien, indem man einfach
einen Haufen von paſſend verteilten Steinen mit einem Lehmbewurf
bedeckt und das Feuer in den Räumen entzündet, welche beim Aufſtellen
freigeblieben ſind. Beſſere Waare wird ſtets in Öfen gebrannt und
es wird genügen, hier den wohl am meiſten eingeführten Ringofen
von Hoffmann und Licht zu beſchreiben, deſſen Erfindung für die
Ziegelfabrikation geradezu bahnbrechend gewirkt hat. Was iſt ein Ring-
ofen? Bei den Öfen, die ſonſt in dieſem Buche beſchrieben ſind (vgl. Heizung,
Metallgewinnung, Kalk) wird das Feuer an einer beſtimmten oder auch
an mehreren Stellen entzündet und bleibt nun an dieſen brennen, ſo
lange es eben nötig erſcheint. Was dazu gehört, das Feuer in Gang
zu erhalten, wie man der atmoſphäriſchen Luft den Zutritt geſtattet,
das iſt alles in dem Abſchnitte über die Heizung nachzuleſen. Beim
Ringofen aber brennt das Feuer nicht immer an demſelben Platze; es
wandert vielmehr im Kreiſe herum, heute iſt es hier und morgen einige
Meter weiter an einer anderen Stelle des langen für die Feuerung
beſummten Kanals. Wie lange das Brennen dauert, das hängt dann
natürlich von der Länge eben dieſer Feuerungsringe und von der
Schnelligkeit ab, mit der das Feuer in denſelben voranſchreitet. Die
überſchüſſige Hitze wird infolge deſſen nicht unmittelbar in den Schorn-
ſtein übergeführt, ſondern erſt, nachdem ſie noch einen guten Teil des

Figure 170. Fig. 177.

Ringofen von rundem
Querſchnitt.


Kanals mit erwärmt hat. Der Kanal iſt nun von
Kreis- oder Ovalform, jetzt meiſt von viereckiger
Geſtalt, immer in ſich zurücklaufend. In der
Fig. 177 ſehen wir ihn in der erſten Geſtalt. Wir
erblicken die zwölf Einſatzöffnungen in der Außen-
wand und diejenigen für den Rauchabzug in der
inneren. Die Mitte nimmt der Schornſtein ein,
dem der Rauch durch Kanäle zugeführt wird. Die
Figuren 178 bis 180 ſtellen dagegen einen Ring-
ofen von neuerer Form dar. Wir ſehen, mit den
Zahlen von 1 bis 16 bezeichnet, ebenſo viele Ab-
ſchnitte des viereckigen Kanals, der eigentlich aus zwei parallelen, zwiſchen
den Teilen 8 und 9, ſowie 16 und 1 mit einander zuſammenhängenden
Gängen beſteht. Nehmen wir an, daß augenblicklich gar zu brennendes
Material ſich in der Abteilung 6 des Ofens befinde, ſo wird das in den
fünf erſten Abſchnitten vorhandene auf dem Wege der Abkühlung ſein.
[273]Die künſtlichen Bauſteine.

Figure 171. Fig. 178.

Grundriß eines viereckigen Ringofens.


Figure 172. Fig. 179.

Aufriß eines viereckigen Ringofens.


Nur jene Abteilung wird geheizt, die
vorhergehenden aber werden von der
in Abteilung 1 einſtrömenden Zugluft
durchzogen, die in dem Maße, als ſie
die gargebrannten Ziegel kühlt, ſich
ſelbſt bis zu glühender Hitze erwärmt;
ſo kommt ſie bereits heiß an der Stelle

Figure 173. Fig. 180.

Zuſammenhang der Teile eines viereckigen
Ringofens.


des Ofens an, wo ſie zur Verzehrung des Heizmaterials verwandt wird,
nicht kalt, wie bei unſeren Stubenöfen. Die Ziegel in den vorhergehenden
Kammern aber kühlen ſich nur ſehr allmählich ab. Die gasförmigen Ver-
brennungsprodukte, welche beim Zimmerofen direkt in den Schornſtein
entweichen, und deren Hitze alſo ſofort verloren geht, werden hier nicht
gleich in die Eſſe entlaſſen, ſondern durchſtrömen zunächſt die folgenden
Kammern, etwa bis zur zwölften, erſt dort ſteht ihnen der Zugang nach
außen offen. Der dort verzeichnete ſchwarze Strich bedeutet nämlich eine
einfache Papierſcheibe, die den Feuergaſen den Weiterweg abſchneidet und
Schieber heißt. An dieſer Stelle erſt müſſen dieſelben in den Schorn-
ſtein entweichen, wofür ihnen gerade hier ein Ausweg geſchaffen wird,
während die übrigen Teile gegen die Eſſe abgeſchloſſen werden. Aber
ſie betreten den Schornſtein bereits ſoweit abgekühlt, daß dem Ofen weitere
Wärme nicht entzogen wird. Der Vorteil, der hierin liegt, iſt ſofort zu
ſehen. Die Hitze dieſer Gaſe läßt ſich ja verwenden, um Ziegel, die
inzwiſchen in den folgenden Abteilungen aufgeſtapelt ſind, vorzuwärmen,
damit ihr Brand nachher nicht mehr ſo lange Zeit beanſpruche. Papier
hat ſich für den genannten Zweck als völlig ausreichend erwieſen, es
ſperrt den Gaſen ihren Weg durch den Kanal ab, und erhitzt ſich nicht
ſo weit, um zu verbrennen. Nach einer beſtimmten Zeit, etwa nach
Verlauf eines Tages, mag nun der Brand der Ziegel in 6 als beendigt
anzuſeyen ſein, ſo wird das Feuer durch eines der verzeichneten Löcher
Das Buch der Erfindungen. 18
[274]Die Baumaterialien.
in der folgenden Abteilung angelegt, während zugleich der Papierſchieber
hinter 13 verſetzt, und in dieſem Abſchnitt die Verbindung zum Schorn-
ſtein hergeſtellt wird, nachdem ein Stapel von friſchen Ziegeln hier ein-
gebracht iſt. So fortſchreitend kann man nach einander jeden Tag eine
Abteilung mit Ziegeln garbrennen und immer eine bereits völlig ab-
gekühlte herausſchaffen. Am dritten Tage wird im Abſchnitt 8 gebrannt,
in 1 werden friſche Ziegel eingeſtellt, während die friſche Luft in 3 ein-
zieht. In 16 Tagen kommt man einmal um den Ofen herum, kann
aber ununterbrochen im Betriebe fortfahren. Es giebt Ringöfen, in
denen ſeit 20 Jahren das Feuer nicht ausgegangen iſt, und dabei kann
man täglich 25000 bis 40000 Stück in einem Ofen garbrennen. Der
Hauptvorzug dieſes Syſtems vor dem älteren iſt natürlich, daß dadurch
ſehr viel an Brennmaterial erſpart wird, und zwar nicht weniger als
50 Prozent. Für das Hartbrennen von tauſend Ziegeln braucht man
kaum drei Zentner Steinkohlen. In Fig. 179 erblicken wir die Hälfte
der Anſicht und des Längsſchnittes unſeres Ofens, und aus der Fig. 180
läßt ſich unmittelbar erſehen, wie die Zirkulation der Luft und der
Feuergaſe innerhalb des Rauchkanals und des Schornſteins ermöglicht iſt.


Bei der langen Flamme dieſer Öfen eignen ſie ſich insbeſondere
für die Verarbeitung kalkreicher Thone, weil dieſe leicht ſchmelzen. Für
die kalkärmeren Thone hat Eſcherich einen Gas-Ringofen konſtruiert,
bei dem die Steine nicht direkt mit der Feuerung in Berührung kommen.
Die rote Farbe der Steine kommt übrigens von ihrem Gehalte an
Eiſenverbindungen. Je weniger ſie davon enthalten, deſto mehr nähert
ſich ihr Farbenton dem Schwefelgelb. Aber auch die Zuſammenſetzung
der Feuergaſe, die ihrerſeits durch diejenige der Steinkohlen mit bedingt
iſt, übt einen weſentlichen Einfluß auf die Farbe der Ziegel aus. Man
hat es durchaus in der Gewalt durch die Wahl des Brennmaterials
und durch Miſchung der verſchiedenen Thone immer andere Farben zu
erhalten. Für gewiſſe Zwecke bedarf man eines beſſeren Materials.
So werden Dachziegel, die dem Wetter beſonderen Trotz zu bieten
haben, aus ſtein- und kalkfreieren Thonen zu gewinnen ſein. Unter
„Verblendern“ verſteht man beſſere Steine, die beim Bau von nicht zu
verputzenden Mauern angewendet werden, alſo einmal dauerhafter ſein
müſſen [und] das Auge des Beſchauers nicht beleidigen dürfen. Auch
hohle Ziegel fertigt man und erreicht bei ihrer Verwendung, daß in den
Häuſermauern eine ſtehende Luftſchicht beſteht, die als ſchlechter Wärme-
leiter der Wärme des Hauſes den Austritt in die Atmoſphäre wehrt.
Solche hohle Ziegel ſind natürlich auch mit großer Erſparnis an
Material herzuſtellen und mit geringeren Transportkoſten fortzuſchaffen.
Sie werden, wie die Drainröhren, mit beſonderen Preßmaſchinen her-
geſtellt.


Wo es ſich um die Ausführung von beſonders feuerfeſten Bauten
handelt, da wird man andere Fabrikate anzuwenden haben. Man
verwendet dann die ſogenannten Schamotteſteine. Von den Ziegeln
[275]Die künſtlichen Bauſteine.
ſind dieſelben weſentlich verſchieden ſchon dadurch, daß ſie nicht porös,
ſondern von glaſiger Struktur ſind. Man brennt ſie aus ſehr kalk-
armen Thonen, alſo bei einer ungemein hohen Temperatur, aber ſonſt
wie die Ziegelſteine. Sie vertragen ſehr leicht raſche Temperatur-
änderungen und ſind für Waſſer ganz undurchläſſig. Zum andern
verwendet man in jenen Fällen die Dinaſteine. Das ſind keine Thon-
ſteine, ſondern ſie werden aus faſt reinem Sande bei einem geringen Zu-
ſatze von Kalk gewonnen, welcher ihre Schmelzung etwas erleichtert.
Man verwendet ſie z. B. zur Herſtellung von Gasretorten (vgl. Be-
leuchtung) und von Zinkmuffeln (vgl. Metallgewinnung).


Andere künſtliche Bauſteine kann man aus allen möglichen na-
türlichen Geſteinen gewinnen, wenn man ſie durch eines der behandelten
Bindemittel bis zur nötigen Feſtigkeit vereinigt. So kann der einfache
Kalkmörtel, bei welchem Sand und Kalk vereinigt waren, für ſich zu
Kalkſandſteinen verarbeitet werden. Man braucht ihn nur in geeigneten
Formen zu preſſen und an der Luft zu trocknen. Dieſelbe Maſſe
wird geſtampft zu Straßenpflaſter und Trottoirs verwendet. Noch
beſſere Anwendung geſtattet der Gips. Man braucht ihn dazu nur
mit gröberem Sande und größeren Steintrümmern zu miſchen und mit
Waſſer angegoſſen in Formen zu bringen. Das ſo erhaltene Material,
Annalith genannt, zeichnet ſich, wie der Gips für ſich, durch ſeine
Feſtigkeit und Dauerhaftigkeit aus. Man kann es ſowohl bei Ge-
wölben, Treppen und Plafonds verbrauchen, als auch Fabrikſchornſteine,
Anſchlagſäulen u. ſ. w. daraus herſtellen. Wenn die Annalithe quader-
förmig gearbeitet ſind, ſo kann man größere Gebäude aus ihnen auf-
führen, wie ein Hotel in Paris beweiſt, das, vor 85 Jahren aufgeführt,
heute noch keinerlei Zeichen von Alter hat. Offenbar hat dieſes Bau-
material beſonders an Stellen, wo der Gips billig zu beſchaffen iſt,
eine große Zukunft. Ebenſo läßt ſich auch der Zement, rein oder mit
Sand vermengt, in Formen gießen und zu Bauſteinen, Platten oder
Quadern verarbeiten. Man erhält durch feines Zermahlen des beſten
Zements einen ſo harten, gegen jeden äußeren Angriff eines ſcharfen
Werkzeugs oder der Atmoſphäre ſo geſicherten Stein, daß derſelbe ſelbſt
guten Backſteinen überlegen iſt und nur vom Granit übertroffen wird.
Auch mit Stücken von Stein, Schlacken u. dgl. hat man den Zement
gemiſcht und Quadern bis zu 18 Kubikmetern Inhalt hergeſtellt, wie
ſie zu Hafenbauten Verwendung fanden. In den Zendrinſteinen iſt
derſelbe Stoff mit Kohlenſtaub oder Aſche vermengt. Ein anderes
Bindemittel, das ſich zur Herſtellung künſtlicher Steine in hohem Grade
paſſend erwies, iſt das Natriumwaſſerglas oder Natriumſilikat, eine
gallertartige, durchſichtige Maſſe. So wird zur Fabrikation von Ran-
ſomes marmorartigen künſtlichen Steinen, die namentlich in Amerika,
Indien und England verbraucht werden, das Waſſerglas in einer
Mühle mit getrocknetem feinem Sande vermengt. Sodann wird die
bildſame Maſſe geformt und durch eine Luftpumpe mit einer Löſung
18*
[276]Die Baumaterialien.
von Chlorcalcium vollgeſaugt. Dabei bildet ſich der unlösliche kieſel-
ſaure Kalk, während das noch entſtehende Kochſalz ausgewaſchen werden
kann. Die Zahl der verſchiedenen mit Hülfe von Waſſerglas her-
geſtellten Bauſteine iſt übrigens eine ſehr große. Man kann z. B. beim
obigen Verfahren das Chlorcalcium durch Portlandzement und feinen,
reinen Sand erſetzen, und gewinnt dadurch einen immer härter werdenden
Stein infolge einer Reihe hier nicht näher zu entwickelnder chemiſcher
Vorgänge, die in ſeinem Innern geſchehen. Die Victoria Stone Com-
pany in London ſtellt ihre Steine aus Granitabfällen her, die mit
Zement gemiſcht und geformt, nach vier Tagen aber zwölf Stunden
lang in Waſſerglas gelegt werden. Sie finden eine mannigfache
Verwendung zu Treppenſtufen, Flieſen, Kaminſimſen u. dgl. Sogar
harzige Bindemittel ſind für die Herſtellung von Kunſtſteinen angewendet
worden. So verſteht man unter Metall-Lava eine aus Steintrümmern,
Sand, Kalkſtein, Teer und Wachs verbundene Maſſe, die ſich leicht
in Platten gießen und polieren läßt. Ganz neuerdings hat, um dies
noch zu erwähnen, die Glasfabrik Carlswerk in Bunzlau, einen neuen
Bauſtoff, Vitrit genannt, eingeführt, der durch die Mannigfaltigkeit
ſeiner Dienſte Beachtung verdient. Er ſoll nämlich zur Verblendung
der Wände nicht weniger geeignet ſein, wie zur Herſtellung von Tiſch-
platten. Er beſitzt eine glaſige Oberfläche, die aber nicht ſo ſpröde iſt,
wie Glas, und doch wie dieſes der Feuchtigkeit und den Einflüſſen der
Atmoſphäre Widerſtand leiſtet. Er läßt ſich leicht färben und durch
Ätzen verzieren.


2. Beleuchtung und Heizung.


Der Weg, den die Entwicklung aller gewaltigen und nutzenbrin-
genden Zweige der Technik nimmt, iſt in der Regel derſelbe. Es ſind
zuerſt einfache, längſt bekannte Thatſachen, auf welche der Menſch eben
ſo einfache, oft Jahrhunderte hindurch unverändert beibehaltene Anwen-
dungen baut. Dann folgt gewöhnlich, angeregt durch rein zufällige
Beobachtungen, die Erforſchung der Urſachen jener anſcheinend einfachen
und oft doch recht komplizierten Thatſachen. Häufig vergeht ein langer
Zeitraum, und es koſtet viele Mühe, bis die Unterſuchung zu einem
gedeihlichen oder wenigſtens vorerſt befriedigenden Abſchluſſe geführt iſt.
Aber die Arbeit lohnt die Anſtrengung; denn während man bisher aufs
Geratewohl, d. h. ohne Berechnung des Erfolges, vorging, iſt es nun-
mehr möglich, aus ſelbſtgeſchaffenen, abſichtlich hergeſtellten, aus der
[277]Der Verbrennungsprozeß.
bekannt gewordenen Theorie geſchöpften Vorausſetzungen vervollkomm-
nete Methoden herzuleiten, den Erfolg alſo, wenigſtens zum größten
Teile, voraus zu berechnen.


Einen ſolchen Weg hat auch die Entwicklung der beiden hoch-
wichtigen Teile der heutigen Technik genommen, welche die Überſchrift
dieſes Kapitels bilden. Ja, das Erwähnte trifft, mehr als in anderen
Fällen, gerade bei der Heizung und Beleuchtung beſonders ſcharf zu.
Das eigentliche Erfindungszeitalter der Heizung und Beleuchtung konnte,
der Lage der Sache nach, erſt beginnen, nachdem es der Naturwiſſen-
ſchaft gegen Ende des vorigen Jahrhunderts gelungen war, für die
Natur derjenigen elementaren Erſcheinung, welche uns Licht und Wärme
ſchafft, des Feuers nämlich, die richtige Erklärung zu finden. Daher
gehört die Entwicklung der Heizung und Beleuchtung erſt unſerem Jahr-
hundert an; wie ſo viele andere Erfindungen, hat dasſelbe auch die
früher ſo äußerſt primitiven Einrichtungen des vorliegenden Zweiges
der Technik in verhältnismäßig kurzer Zeit auf eine Stufe der Vollen-
dung gebracht, welche einem weiteren Fortſchritt auf dieſem Gebiete,
wenigſtens in näher liegenden Zeiten, Grenzen zu ſetzen ſcheint.


Wenn wir demnach in dem Folgenden ein kurzes und überſicht-
liches Bild der Erfindungen auf dem Gebiete der Beleuchtung und
Heizung geben wollen, ſo wird ſich, zur Erleichterung des Verſtändniſſes
der zu berührenden Dinge, kaum eine beſſere Einleitung für dieſes
Kapitel denken laſſen, als ein hiſtoriſcher Überblick über die Forſchungen,
welche rückſichtlich der Natur des Feuers, des Verbrennungs-
prozeſſes
, wie wir heute ſagen müſſen, angeſtellt worden ſind. Daran
wird ſich dann eine kurze Darſtellung der Reſultate dieſer Forſchungen,
als der Baſis für das heutige Beleuchtungs- und Heizungsweſen, an-
zuſchließen haben.


Der Verbrennungsprozeß.


Wie groß die Wichtigkeit iſt, die der Menſch, ſelbſt im Kindheits-
zuſtande, dem Feuer beimaß, geht aus der göttlichen Verehrung hervor,
welche im grauen Altertum allgemein, heute noch von einigen unberührt
gebliebenen Völkern, ſowohl den wohlthätigen, wie den verderblichen
Wirkungen desſelben gezollt wurde. Derſelbe Gedanke ſpricht ſich in
der griechiſchen Prometheusſage aus, welche die Neuerſchaffung des
Menſchengeſchlechtes und die Nutzbarmachung des Feuers gewiſſermaßen
in eine und dieſelbe Periode legt. Erſt dann, als man den göttlich
verehrten Weſen menſchliche Form verlieh, begann ſich der forſchende
Geiſt mit der Unterſuchung der Natur des bis dahin unter die Götter
verſetzten Elementes zu beſchäftigen. Aber die griechiſchen Naturphilo-
ſophen, beſonders Demokrit, konnten in dieſer Beziehung nicht zu
treffenden Vorſtellungen kommen, weil ſie das Feuer als etwas rein
Materielles betrachteten; ein Fehler, welcher von den Naturforſchern und
Philoſophen der folgenden Jahrhunderte in gleicher Weiſe gemacht
[278]Beleuchtung und Heizung.
wurde. Die Alchimiſten des Mittelalters, welche allerdings nur
nebenbei rein chemiſche Forſchungen betrieben, da ſie durch das
gierige Suchen nach der Goldtinktur, dem „Stein der Weiſen“,
gänzlich in Anſpruch genommen wurden, gleichwie die edleren
Zielen nachſtrebenden arabiſchen Gelehrten Spaniens, vermochten dem
bisher Bekannten nur wenig hinzuzufügen. Aber eins fanden ſie doch,
daß nämlich auch Körper exiſtierten, welche ohne Flamme verbrennen;
es ſind dies die meiſten Metalle. Ein überaus wichtiger Fortſchritt
geſchah erſt im ſiebzehnten Jahrhundert durch den berühmten eng-
liſchen Arzt, Philoſophen und Naturforſcher Robert Boyle, welchem es
gelang, nachzuweiſen, daß die Metalle infolge ihrer Verbrennung, oder,
wie man es damals nannte, ihrer Verkalkung ſchwerer werden. Hieraus
ſchloß Boyle, daß die Metalle beim Verbrennen einen neuen Stoff —
vielleicht aus der Luft — aufnehmen müſſen. Leider geſchah der bahn-
brechenden Entdeckung des großen Engländers dasſelbe, was großen
Entdeckungen und Erfindungen ſo häufig begegnet; ſie wurde achtlos
bei Seite geworfen und ſchon wenige Jahre nach Boyles Tode ſtellte
Stahl in Halle ſeine Phlogiſtontheorie auf, nach welcher alle brenn-
baren Körper einen gemeinſamen Stoff, das Phlogiſton, enthalten ſollten,
welches während der Verbrennung aus dem brennenden Körper ent-
weicht. Man überſieht leicht, daß dieſe Theorie der von Boyle entdeckten
Thatſache ins Geſicht ſchlägt, indem ſie gerade ein Leichterwerden der
Körper beim Verbrennen fordert. Trotzdem machte die Stahlſche
Theorie Schule und hielt ſich während des ganzen vergangenen Jahr-
hunderts; ja es ſchien ſogar einzelnen hervorragenden Gelehrten unſeres
Jahrhunderts, auch angeſichts der gleich zu erwähnenden weiteren Ent-
deckungen, nach nicht angängig, ſie aufzugeben.


Aber ſchon 1774 hatten Scheele und Prieſtley den Sauerſtoff ent-
deckt und Lavoiſier, der Vater der heutigen Chemie und Erfinder der
modernen chemiſchen Experimentalforſchung, bewies kurze Zeit nachher
durch ſeine geniale Unterſuchung der Verbrennung des Queckſilbers,
daß der brennende Körper während der Verbrennung ſich mit einem
Teile der Luft unter Wärmeentwicklung vereinigt, daß alſo in der That
das Produkt der Verbrennung ſchwerer iſt, als der Körper vor der
Verbrennung. Die Luft erwies ſich nach dieſer bahnbrechenden Unter-
ſuchung als ein mechaniſches Gemenge aus zwei Gaſen, dem zur Ver-
brennung nötigen und dieſe allein ermöglichenden Sauerſtoff und dem
brennende Körper zum Erlöſchen bringenden Stickſtoff. Verbrennt man
eine leicht brennbare Subſtanz in reinem Sauerſtoff, wie man ihn durch
vorſichtiges Schmelzen von chlorſaurem Kalium in größerer Menge er-
halten kann, ſo iſt die mit dem Verbrennungsprozeß verbundene Wärme-
und Lichtentwicklung eine ganz gewaltige und höchſt bedeutende; ſie
übertrifft die bei der Verbrennung desſelben Körpers in gewöhnlicher
Luft erfolgende um ebenſo viel, wie das Geſamtvolum der Luft den
Sauerſtoffgehalt übertrifft, nämlich um das fünffache. Wir erkennen
[279]Der Verbrennungsprozeß.
hieraus, daß der anſcheinend ganz unnütze Stickſtoff eine höchſt wichtige
Rolle im Haushalte der Natur ſpielt: er iſt der Regulator für die
Verbrennungsprozeſſe, ohne welchen ein Bekämpfen von Bränden über-
haupt unmöglich wäre.


Die verſchiedenen Subſtanzen, welche der Verbrennung fähig ſind,
gebrauchen zu dieſer alſo zunächſt Luft. Dann zeigte ſich aber bald,
daß die Entzündlichkeit ein zweiter weſentlicher Punkt iſt, welcher außer-
ordentliche Verſchiedenheit bedingt. Wir finden Körper, die wir erſt bis
zum heftigen Glühen erhitzen müſſen, ehe ſie verbrennen. Andere Sub-
ſtanzen bedürfen dagegen nur der Berührung mit einem brennenden
Körper, um in Flammen aufzugehen. Beiſpiele für ein ſolches Verhalten
ſind viele bekannt. Der Phosphor braucht ſogar nur gerieben werden,
um ſich zu entzünden; ja, wir kennen auch Subſtanzen, welche ohne
weiteres Feuer fangen, wenn ſie mit der Atmoſphäre in Berührung
kommen. Zu dieſen „Pyrophoren“ gehört z. B. das feinſt gepulverte, friſch
dargeſtellte Eiſen, ſowie jene ſeltſame Verbindung des Phosphors, die
wir Phosphorwaſſerſtoff nennen, ein ſehr giftiges und feuergefähr-
liches Gas, welches ſich beim Kochen von Phosphor in Kalilauge bildet
und beim Austritt ſich von ſelbſt an der Luft entzündet. Die Chemiker
haben die Erklärung der verſchieden ſtarken Entzündlichkeit der brenn-
baren Subſtanzen in der gut begründeten Annahme gefunden, daß die
Maſſe ſämtlicher Elemente und Verbindungen aus kleinſten Teilchen,
Molekülen, beſteht und daß jedes dieſer letzteren wieder aus noch
kleineren Teilen, Atomen, zuſammengeſetzt iſt, die durch Kräfte be-
ſtimmter Art im Molekül zuſammengehalten werden. Es gehört daher
offenbar im allgemeinen ein äußerer Kraftanſtoß dazu, um die Atome
von einander zu löſen; ſind ſie dann einmal frei geworden, ſo äußern
ſich nunmehr — und zwar ſofort im Momente des Freiwerdens (in
statu nascendi
) — andere Kräfte, die der chemiſchen Affinität, welche
aus den Atomen neue Moleküle bilden, von anderen Eigenſchaften, wie
die alten. Dieſe anderen Kräfte pflegen viel ſtärker zu ſein, als die
erſt erwähnten, ſo daß in den weitaus meiſten Fällen der ſich bei dem
Prozeß ergebende Kraftüberſchuß in Form von Wärme zur äußeren
Wahrnehmung kommt. Der oben erwähnte „äußere Kraftanſtoß“ wird
alſo in der Regel nicht zu entbehren ſein, wenn es darauf ankommt,
eine Verbrennung, welche ja auch ein chemiſcher Prozeß iſt — einzu-
leiten; deshalb müſſen wir den zu verbrennenden Körper anzünden,
d. h. bis auf eine beſtimmte Temperatur erhitzen. Iſt aber die
Verbrennung erſt an einem Punkte eingeleitet, ſo genügt in den
meiſten Fällen der freiwerdende Wärmeüberſchuß, um den ganzen
Körper in Flammen zu ſetzen. Nur in den wenigen Fällen, wo
die chemiſche Affinität ſo koloſſal iſt, daß die Atome ſich aus den
urſprünglichen Molekülen von ſelbſt löſen, iſt ein Entzünden garnicht
nötig, und es erfolgt eine Selbſtentzündung, wie beim Phosphor-
waſſerſtoff.


[280]Beleuchtung und Heizung.

Die eben entwickelte Theorie, welche von der neueren Schule der
Chemiker herrührt, erhält eine Stütze in der weiteren Überlegung, daß
die Zerſetzung der Moleküle um ſo heftiger und plötzlicher erfolgen
muß, je heftiger der „äußere Kraftanſtoß“ iſt. Das wird aber be-
ſtätigt durch die Erſcheinung der Detonation der exploſiven Körper.
Hierbei iſt der Initialſtoß überaus heftig, die Zerſetzung daher eine
faſt momentan durch die ganze Maſſe fortſchreitende. Das Genauere
über dieſe intereſſanten Forſchungen findet ſich unter dem Kapitel
„Sprengſtoffe“.


Die Körper verbrennen unter äußerlich verſchiedenen Erſcheinungen.
Das Eiſen glüht nur, ebenſo die Kohle; Schwefel, Phosphor, Leucht-
gas brennen dagegen mit Flamme. Der Umſtand, daß Eiſen und
Kohle nicht zu verflüchtigen ſind, während Leuchtgas an ſich gasförmig
iſt, und Schwefel und Phosphor durch die Hitze der Verbrennung in
Gaſe verwandelt werden, läßt leicht den Grund des Unterſchiedes
finden: Nur ſolche Körper, welche ſelbſt Gaſe ſind oder ſich durch
Wärme vergaſen laſſen, brennen mit Flamme. Während die Ver-
brennung uns die unter Licht- und Wärmeentwicklung erfolgende
Verbindung des brennenden Körpers mit Sauerſtoff ankündigt, bedeutet
die Erſcheinung der Flamme ſtets die Verbrennung eines gasförmigen
Körpers; ſie ſtellt geradezu ein glühendes, verbrennendes Gas vor.
Das iſt die einfache Erklärung der Natur des Feuers — denn mit
dieſem Worte bezeichnet man vorzugsweiſe die Flamme —, welche
Jahrtauſende hindurch vergeblich geſucht wurde.


Aber wir begegnen in der Flamme ſelbſt wieder verſchiedenen nicht
ſofort erklärbaren Erſcheinungen. So ſehen wir, daß der brennende
Schwefel und der brennende Waſſerſtoff nicht leuchten, während die
Leuchtgasflamme und die Phosphorflamme helles Licht ausſtrahlen.
Die Erklärung dieſes auffallenden Verhaltens ergiebt ſich aus einem
einfachen Experiment. Man kennt unter der großen Menge der Kohlen-
waſſerſtoffverbindungen zwei, welche im Leuchtgas vorhanden ſind: das
Methan oder Grubengas und das Äthylen oder ölbildende Gas. Das
letztere enthält gerade noch einmal ſoviel Kohle, wie das erſtere; es
leuchtet beim Brennen, während jenes eine nicht leuchtende Flamme
hat. Leitet man aber das Äthylen, bevor man es anzündet, durch
ein glühendes Eiſenrohr, ſo wird ſeine Flamme nichtleuchtend, indem
es, wie der Verſuch ergiebt, die Hälfte ſeiner Kohle verloren hat und
in Methan übergegangen iſt. Was in dem Eiſenrohr geſchah, geſchieht
aber offenbar auch in der hoch temperierten Flamme des Äthylens;
d. h. das Gas zerfällt in Methan, welches weiter brennt und in fein
zerteilte, in der Flamme ſchwebende, glühende Kohle. Dieſe iſt es
alſo, welche das Leuchten der Flamme bedingt. Soll eine Flamme
leuchten, ſo muß ſie einen feinzerteilten, glühenden, feſten Körper
ſchwebend enthaltend. In der Regel beſteht dieſer aus Kohle; er kann
aber auch das Produkt der Verbrennung ſein. So iſt es z. B. beim
[281]Der Verbrennungsprozeß.
Phosphor, in deſſen Flamme das Leuchten durch fein zerteiltes
Phosphorpentoxyd, die durch die Verbrennung entſtehende Verbindung
des Phosphors mit dem Sauerſtoff der Luft, bewirkt wird.


Die Thatſache, daß in jeder gewöhnlichen leuchtenden Flamme
eine vorgängige Zerſetzung des vergaſten Leuchtſtoffes in ein brennbares
Gas und fein zerteilte glühende Kohle ſtattfindet, bedingt ſehr ver-
ſchiedene Temperaturen in den einzelnen Regionen der Flamme.
Dieſer Umſtand läßt ſich am einfachſten an einer ganz gewöhn-
lichen Kerzenflamme feſtſtellen. Eine ſolche zeigt (Fig. 181)
um den Docht herum eine mattblaue, nicht leuchtende Zone c,
welche offenbar aus den aus dem geſchmolzenen Leuchtſtoff
ſich erhebenden vergasten Kohlenwaſſerſtoffen beſteht. Etwas
weiter nach oben zerſetzt ſich das brennbare Gas infolge der
Hitze in Methan und Kohle. Daher ſehen wir die nicht
leuchtende Mittelzone von einem ſehr hell leuchtenden Mantel d
umgeben, welcher dadurch entſteht, daß die ſich ausſcheidenden
Kohleteilchen zum Weißglühen erhitzt werden. Jedes Teilchen
legt hierbei den Weg von der Mitte der Flamme nach dem
äußeren Rande derſelben zurück, kommt alſo zuletzt mit der

Figure 174. Fig. 181.

Kerzenflamme.


äußeren Luft in Berührung und verbrennt dann vollſtändig. Daher zeigt
ſich auch die Leuchtregion von einem ſchmalen mattblauen Saume e, f
umgeben, den wir die Verbrennungszone nennen müſſen. Aus dem An-
geführten ergiebt ſich, daß in der Mittelregion der Flamme eine verhältnis-
mäßig ſehr niedrige Temperatur herrſchen wird, während die ſchmale
Verbrennungszone am heißeſten ſein muß. Daß dies wirklich der Fall
iſt, zeigt ſich, wenn man den Kopf eines Zündhölzchens recht ſchnell in
die Mittelzone hineinſtößt; es vergeht eine erhebliche Zeit, ehe ſich das
Hölzchen entzündet. Dagegen erfolgt die Entzündung ſofort, wenn
man den Kopf desſelben in die äußere Zone hineinhält. Bei einer
großen Gasflamme, welche man aus einem weiten Metallcylinder
hervorbrennen läßt, gelingt es ſogar, Schießpulver, welches man auf
einem Löffelchen in den kalten Flammenkern hält, lange Zeit vor Ent-
zündung zu bewahren.


Aus dem Angeführten erſieht man leicht, daß die leuchtende Zone
der Flamme eine Temperatur haben muß, welche zwiſchen der niedrigen
des Kerns und der ſehr hohen der Verbrennungszone die Mitte halten
wird. Wir folgern weiter, daß, wenn dieſe Temperatur zu niedrig iſt,
die Kohle nicht ganz zum Glühen gebracht werden wird, während im
Gegenteil bei zu hoher Temperatur die Kohle verbrennt, ohne überhaupt
zum Glühen zu kommen. Im erſteren Falle zeigt ſich alſo die aus-
geſchiedene Kohle zum Teil ſchwarz, eine Erſcheinung, welche wir als das
Blaken der Flamme bezeichnen; im letzteren wird die ganze Flamme
nichtleuchtend, ſie wird entleuchtet.


Wie begegnen wir dieſen beiden Fehlern? Wir korrigieren einfach
die mangelhaften Temperaturverhältniſſe der Flamme, indem wir den
[282]Beleuchtung und Heizung.
Luftzufluß, welcher ja bekanntlich über die Temperatur der Flamme
entſcheidet, entſprechend regulieren. Wir werden alſo einer blakenden
Flamme mehr Luft zuzuführen haben, während wir den Luftzufluß
bei einer entleuchteten beſchränken müſſen. Dieſe Regulierung geſchieht,
wie weiterhin genauer erörtert werden wird, durch die Zuggläſer oder
Cylinder, mit denen man die Flammen umgiebt.


Es ergiebt ſich alſo, daß die Bedingungen für das ausgiebige
Leuchten einer Flamme im weſentlichen zwei ſind. nämlich genügende
Entwicklung von fein zerteilter Kohle in der Flamme und richtig
gewählter, d. h. weder zu ſchwacher, noch zu ſtarker Luftzutritt.
Daneben mag erwähnt werden, daß beſondere vorgängige Erhitzung
der Leuchtgaſe auch ein Mittel iſt, um — ohne beſonders ſtarken Luft-
zutritt — die Leuchtkraft zu ſteigern.


Verlangen wir von einer Flamme nicht ſowohl Leuchtkraft, als
vielmehr beſonders ausgiebige Wärmeentwicklung, ſo folgt aus dem
ſoeben Angeführten, daß einmal die Güte des Brennmaterials, alſo in
erſter Linie ſein Kohlengehalt, und ſodann das Maß des Luftzutrittes
auf die Hitze der Flamme von Einfluß iſt. Es zeigt ſich das z. B. ſehr
ſchön, wenn wir einen mehrere Millimeter dicken Eiſendraht zuerſt in
einer gewöhnlichen, d. h. leuchtenden Gasflamme, dann in der Flamme
eines Bunſenbrenners, hierauf in der Flamme einer Glasbläſerlampe
und endlich in einer Gasflamme erhitzen, welche durch reinen Sauer-
ſtoff angeblaſen wird. Im erſten Falle dauert es ſehr lange, ehe
der Draht ſchwach glüht, im zweiten erfolgt das Glühen ſchon
ſchneller, im dritten wird der Draht nach kurzer Zeit hell glühend,
im letzten wird er ſchnell weißglühend und verbrennt unter heftigem
Funkenſprühen. Der Grund dafür iſt das allmähliche
Anſteigen des Sauerſtoffzufluſſes bei den gewählten
vier Erhitzungsarten. Die einfache Gasflamme hat
gar keinen beſonderen Luftzutritt. Beim Bunſenbrenner
(Fig. 182) miſcht ſich das Gas vor dem Verbrennen
mit Luft, welche durch die zwei ſeitlichen Zuglöcher

Figure 175. Fig. 182.

Bunſenbrenner.


Zutritt hat; hierdurch wird das Gas
verdünnt, die ausgeſchiedenen Kohlen-
teilchen rücken weiter von einander
und verbrennen, ohne glühend zu
werden, infolge des intenſiveren Luft-
zufluſſes. Bei der Glasbläſerlampe
(Fig. 183) wird in die Gasflamme,
welche aus einem weiten Rohre a
herausbrennt, durch ein konzentriſches
engeres Rohr b ein heftiger Luftſtrom
geblaſen, ſo daß eine erheblich ener-
giſchere Verbrennung erfolgt. Bläſt
man vollends mit reinem Sauerſtoff

Figure 176. Fig. 183.

Glasbläſerlampe.


[283]Der Verbrennungsprozeß.
an, ſo ſteigert ſich die Wirkung bis auf das höchſte erreichbare Maß;
nur wenn man ſtatt des Leuchtgaſes reinen Waſſerſtoff verwendet
(Knallgasgebläſe), läßt ſich eine noch ein wenig höhere Temperatur
erzielen.


Aus dem Geſagten ergiebt ſich, daß die Wärmeentwicklung einer
Flamme einmal von der Wahl des Brennſtoffes, ſodann aber von einer
möglichſt kräftigen Luftzufuhr abhängt. Der Gehalt des Brennſtoffes,
d. h. die Qualität und Quantität der verbrennenden Subſtanzen ſchafft
die Verbrennungswärme, welche durch energiſche Sauerſtoffzuführung
bis auf das gewünſchte Maß geſteigert werden kann.


Ein ganz beſonderer Fall der Verbrennung liegt vor, wenn der
zu verbrennende gasförmige Körper vorher mit einem Quantum Sauer-
ſtoff, reſp. Luft gemiſcht wird. Reicht in dieſem Falle der beigemengte
Sauerſtoff zur völligen Verbrennung aus, ſo wird die letztere auf
einmal durch die ganze Maſſe des Gasgemiſches erfolgen müſſen und
durch die in einem Momente entfeſſelte bedeutende Verbrennungswärme
werden die gasförmigen Verbrennungsprodukte plötzlich derartig aus-
gedehnt werden, daß die umſchließenden Wände zerſprengt werden
können: es erfolgt eine Exploſion. Ein ſolcher Fall liegt beim Knall-
gaſe, einem Gemiſch von Waſſerſtoff und Sauerſtoff, ſowie bei den
Gemiſchen der meiſten brennbaren Gaſe mit Luft vor. Für das Auf-
treten einer energiſchen Exploſion bedarf es aber, wie geſagt, eines
genügenden Luftquantums. Auch von dieſer an ſich verderbenbringenden
Erſcheinung, welche im großen Maßſtabe z. B. in den ſchlagenden
Wettern der Kohlengruben vorkommt, hat man eine nutzbringende
Anwendung bei der Konſtruktion der Gaskraftmaſchinen gemacht. (Vgl.
S. 109 bis 116).


Nachdem wir durch das bisher Angeführte in das Verſtändnis
der Verbrennungserſcheinungen eingeführt worden ſind, wenden wir
uns zu der ſpezielleren Betrachtung der Erfindungen auf dem Gebiete
der Beleuchtung und Heizung.


a) Die Beleuchtung.


Von den verſchiedenen Hauptarten der Beleuchtung unterſcheidet
man im weſentlichen die folgenden:


  • 1. mittels feſter Beleuchtungsſtoffe (Kerzenbeleuchtung);
  • 2. mittels flüſſiger Beleuchtungsſtoffe (Lampenbeleuchtung), welche
    entweder ohne Zerſetzung nicht flüchtig oder aber unzerſetzt
    flüchtig ſind;
  • 3. mittels gasförmiger Stoffe (Gasbeleuchtung), welche ſtets
    Kohlenwaſſerſtoffe ſind, aber aus ſehr verſchiedenen Subſtanzen
    bereitet werden können;

[284]Die Beleuchtung.
  • 4. Beleuchtung durch Erhitzen von beſonderen feſten Beleuchtungs-
    körpern zum Glühen (Magneſiumlicht, Drummondſches Licht,
    Hydrooxygengaslicht);
  • 5. Durch Elektrizität (elektriſches Licht, Bogenlicht, Glühlicht).

Wir betrachten hier nur die erſten vier Arten, da das elektriſche
Licht auf S. 178 bis 188 ſpeziell abgehandelt wurde.


1. Feſte Beleuchtungsſtoffe; Beleuchtung mit Kerzen.

Bei einer Kerze wird der Beleuchtungsſtoff in eine cylindriſche
Form gebracht und birgt in deren Achſe den Docht. Beim Anzünden
der Kerze ſchmilzt der Brennſtoff zunächſt, dann wird er durch die
Capillarität des Dochtes in die Höhe geſaugt, am oberſten Ende des
Dochtes in Gasform übergeführt und in der Flamme verbrannt.


Die zur Kerzenbeleuchtung verwendeten Stoffe ſind im weſentlichen
feſte Kohlenwaſſerſtoff- oder Kohlenwaſſerſtoffſauerſtoffverbindungen, von
welchen zahlreiche fertig gebildet in der Natur vorkommen, andere künſt-
lich durch Bearbeitung der natürlich vorkommenden hergeſtellt werden.
Die in beſonders großem Umfange verwandten ſind: Talg, Stearin,
Paraffin, Walrat und Wachs.


Talg findet ſich in winzigen Kügelchen in den Zellen beſtimmter
Stellen des tieriſchen Gewebes. Beſonders bei den Wiederkäuern tritt
Talg von hervorragend feſter Beſchaffenheit auf; der Grad der letzteren
bedingt den Wert des Produktes. Das Ausſchmelzen des Talges,
welches in der neueſten Zeit in großen, häufig gleich mit den Schlacht-
häuſern verbundenen Gebäuden ausgeführt wird, hat den Zweck, die
zerſtreuten Fettkügelchen zu ſammeln und zu einer kompakten Maſſe zu
vereinigen. Die zerſchnittenen Fettlappen werden in Keſſeln bei einer
Temperatur von etwas über 100°C. behandelt und geben hierbei 90
bis 95 % Talg ab, welcher ſich von den zurückbleibenden Grieben
trennt.


Der Umſtand, daß bei dieſem Verfahren ein bemerkbarer Verluſt
entſteht, ſowie der überaus widerliche Geruch, der dasſelbe begleitet
und die weite Entfernung der Talgſchmelzen von menſchlichen Wohnungen
zu einer Notwendigkeit macht, war die Veranlaſſung zur Anwendung
anderer Methoden der Talggewinnung. Unter ihnen ſind beſonders
das Verfahren von Darcet und dasjenige von Lefebure zu nennen.
Bei dem erſteren wird der Talg mit Waſſer erhitzt, welchem wenige
Prozente Schwefelſäure zugeſetzt ſind; bei dem letzteren läßt man den
Talg mehrere Tage in einem kalten Bade von ſehr verdünnter Schwefel-
ſäure mazerieren und ſchmilzt ihn dann aus. In beiden Fällen erhält
man eine größere Ausbeute und der Geruch iſt wenigſtens erträglich.


Der ſo gewonnene Talg wird, ehe man ihn zur Kerzenfabrikation
gebraucht, geläutert, indem man ihn mit Löſungen verſchiedener Salze,
wie Salpeter, Salmiak, Alaun, Kochſalz, Bitterſalz u. ſ. w. durchwäſcht.
[285]Feſte Beleuchtungsſtoffe, Beleuchtung mit Kerzen.
Hierdurch werden noch vorhandene Verunreinigungen, Reſte von Gela-
tine und Leim, beſeitigt und das Talgfett rein erhalten.


Stearin iſt ein Beſtandteil des Talges, wie überhaupt aller feſten
Fette. Dieſe beſtehen aus einem Gemenge der Verbindungen des Gly-
cerins, einer ſüßlich ſchmeckenden, ölartigen Flüſſigkeit, mit drei Fett-
ſäuren, der Stearinſäure, Palmitinſäure und Ölſäure. Je feſter das
Fett, deſto mehr Stearinſäure, je weicher, deſto mehr Ölſäure ent-
hält es.


Zur Abſcheidung der Stearinſäure, welche man gewöhnlich unter
dem Vulgärnamen Stearin verſteht, verdrängt man das Glycerin aus
dem Fette durch Kalk, der ſich mit den Fettſäuren zu in Waſſer unlös-
lichen Seifen vereinigt; die Seife wird dann durch Schwefelſäure, welche
ſich mit dem Kalk vereinigt, zerlegt, und aus der zurückbleibenden Lö-
ſung von Stearin- und Palmitinſäure in Ölſäure durch Kryſtalliſieren
und Auspreſſen wird das Gemenge der genannten beiden feſten Fett-
ſäuren, das Stearin, gewonnen.


Der erſte Prozeß, das Verſeifen des Fettes, geſchieht in großen,
mit überhitztem Dampf geheizten Gefäßen (Autoklaven) und iſt ſehr
ſchnell beendigt. Die obenauf ſchwimmende Kalkſeife wird dann in
großen Kufen mit ſtark verdünnter Schwefelſäure ebenfalls mittels
Dampfes erwärmt, bis eine helle, durchſichtige, wie Öl ausſehende
Schicht ſich obenauf geſammelt hat. Dieſe wird abgeſtochen und erſtarrt
in den Formen bald zu einer gelblichen, talgähnlichen Maſſe, welche
nunmehr zerkleinert und dann erſt in der Kälte, ſpäter nochmals in
gelinder Wärme, unter ſtarken hydrauliſchen Preſſen behandelt wird.
Hierbei läuft die flüſſige Ölſäure ab und das Stearin bleibt zurück.
Es ſtellt eine weiße kryſtalliniſche Maſſe dar, welche bei etwa 70° C.
ſchmilzt.


Außer dem geſchilderten Verfahren iſt noch ein zweites im Ge-
brauch, bei welchem der Talg direkt durch 6prozentige Schwefelſäure
zerſetzt und die gewonnenen Fette mit übermäßig erhitzten Waſſer-
dämpfen abdeſtilliert, dann kryſtalliſiert und ausgepreßt werden. In
dieſem Falle gewinnt man als Nebenprodukt ſchwefelſaures Glycerin,
während bei dem Verſeifungsverfahren das Glycerin ſelbſt erhalten wird.


Paraffin iſt ein eigentümlicher, nicht ſtets gleichmäßig zuſammen-
geſetzter, feſter Kohlenwaſſerſtoff, welcher als ein Gemenge aus verſchiedenen
einfacheren Verbindungen betrachtet werden muß. Es iſt eine weiße, ſehr
durchſcheinende Maſſe, deren Schmelzpunkt, je nach der Mengung,
zwiſchen 30° und 60°C. ſchwankt.


Man gewinnt das Paraffin meiſtens aus Braunkohle, welche man
in aufrecht ſtehenden Cylindern von feuerfeſtem Thon bei niederer
Temperatur deſtilliert, die abziehenden Teerdämpfe werden abgeſaugt
und in Vorlagen verdichtet. Der ſo erhaltene Teer wird durch Dampf-
heizung entwäſſert und hierauf aus eiſernen Apparaten deſtilliert. Die
übergehenden Produkte ſind der Regel nach: wenig zurückgebliebenes
[286]Die Beleuchtung.
Waſſer, Öle, Paraffinöle. In dem Deſtillationsapparat bleibt als Rück-
ſtand Asphalt. Die Öle werden zur Reinigung erſt mit Ratronlauge,
dann mit Schwefelſäure gewaſchen. Endlich deſtilliert man die ge-
reinigten Öle nochmals mit überhitztem Waſſerdampf; ſie trennen ſich
in flüſſige Öle (Benzin, Solaröl, Photogen) und erſtarrende Öle. Dieſe
letzteren werden nochmals mit Lauge und Schwefelſäure raffiniert und
das erhaltene Rohparaffin ſchließlich nochmals mit Dampf deſtilliert.


Außer aus Braunkohle erhält man Paraffin auch aus beſtimmten
Sorten Petroleum (z. B. dem aus Birma ſtammenden), ſowie aus dem
Ozokerit oder Erdwachs, welches man in Galizien und am kaspiſchen
Meer, neuerdings auch in den amerikaniſchen Staaten Utah und Arizona
in Menge gefunden hat. Man bedient ſich in dieſem Falle einfach der
Deſtillation mit überhitztem Waſſerdampf und raffiniert das Rohprodukt
in der eben geſchilderten Weiſe.


Walrat findet ſich als eine kryſtalliniſche, wachsähnliche, in
flüſſigen, fetten Kohlenwaſſerſtoffen gelöſte Maſſe in beſonderen Höhlen
des Schädels von Physeter macrocephalus, dem Pottwal. Das nach
dem Tode des Tieres dem Schädel entnommene Fett wird ausgepreßt
und der ſich ausſcheidende feſte Beſtandteil nochmals mit Kalilauge
gewaſchen, welche die letzten Spuren flüſſigen Fettes beſeitigt, ohne
die feſten Fette, den eigentlichen Walrat, ſtark anzugreifen. Durch
Schmelzen mit Tierkohle wird der Walrat vollends gereinigt und
entfärbt. Er bildet dann eine glänzend weiße, kryſtalliniſche Maſſe,
welche eine Verbindung der oben genannten feſten Fettſäuren mit einem
dem Glycerin ähnlich zuſammengeſetzten Körper, dem Cetylalkohol, iſt.
Das abgepreßte Walratöl läßt ſich in Lampen brennen, während der
feſte Walrat zur Kerzenfabrikation dient.


Wachs ſtammt zum Teil aus dem Tierreich, zum Teil von Pflanzen.
Das Bienenwachs, welches zwiſchen den Hinterleibsringen unſerer
Honigbiene in winzigen Blättchen hervortritt und dem Tiere zum
Wabenbau dient, wird zuvörderſt von anhängendem Honig gereinigt
und dann in ſiedendem Waſſer geſchmelzt. Das ſo erhaltene rohe
Wachs iſt gelb bis bräunlich, weil es durch aus Blütenſtaub und
Honig herſtammende Verunreinigungen gefärbt wird. Da dieſe bei
der Anwendung des Wachſes als Beleuchtungsſtoff ſtören, ſo entfernt
man ſie durch einen Bleichprozeß. Am beſten wirkt die Sonnenbleiche;
alle anderen Methoden liefern kein Wachs von haltbarer Weiße.
Man ſchmilzt das Wachs über Waſſer mit einem geringen Zuſatz von
Weinſteinpulver (zum Klären) und läßt es in ein zweites Gefäß laufen,
welches laues Waſſer von einer Temperatur enthält, welche der des
Schmelzpunktes des Wachſes nahe liegt. Aus dieſem Gefäß läuft die
geſchmolzene Maſſe langſam in dünnem Strahl in einen flachen und
weiten, ſteinernen, ſtets naß gehaltenen Cylinder; man erhält das
Wachs hierdurch in dünnen Bändern (das „Bändern“ des Wachſes).
Dieſe werden auf Leinwand gebreitet und den Sonnenſtrahlen aus-
[287]Feſte Beleuchtungsſtoffe, Beleuchtung mit Kerzen.
geſetzt, bis dieſe nicht mehr bleichend wirken. Dann ſchmilzt man
wieder um, bändert nochmals, bleicht wieder und wiederholt dieſe
Operationen, bis völlige Bleichung bis in den Kern hinein erfolgt iſt.
Das Verfahren iſt ziemlich koſtſpielig, da es mehrere Wochen dauert.


Von Pflanzenwachsſorten kennt man mehrere, welche als Surro-
gate für das Bienenwachs gebraucht werden. Beſonders zu nennen
ſind das japaniſche Wachs, von Rhus succedania herſtammend, welches
fettiger und talgartiger iſt, als das Bienenwachs, dem es nicht gleich-
kommt; ſodann das Carnaubawachs, der wachsartige Überzug der
Blätter einer braſilianiſchen Palmenart, welches ſich durch große
Feſtigkeit und hohen Schmelzpunkt von allen anderen Wachsarten
unterſcheidet.


Als ein anderes Wachsſurrogat dient das Cereſin, welches aus
dem natürlich vorkommenden Erdwachs oder Ozokerit durch Schmelzen
mit Schwefelſäure und nachfolgendes Entfärben mit Tierkohle gewonnen
wird. Es iſt in ſeiner Zuſammenſetzung dem Paraffin ähnlich, in
ſeinen äußeren Eigenſchaften ſteht es dagegen dem Wachs ſehr nahe.
Es wird zur Fabrikation von Kerzen auch mit Carnaubawachs gemiſcht.


Die bisher aufgezählten feſten Leuchtſtoffe werden zu Kerzen ver-
arbeitet. Nach der Fabrikationsmethode unterſcheidet man gezogene
und gegoſſene Kerzen; nur beſonders ſtarke Exemplare (zu kirchlichen
Zwecken) werden aus einzelnen Wachsplatten mit eingelegtem Docht
zuſammengebogen und gerollt.


Das Ziehen der Kerzen erfolgt meiſt nur noch bei Talglichtern.
Man hat zwei Gefäße, das eine zum Vorratſchmelzen, das andere zur
Aufnahme des gußrechten Talges. Die Dochte werden zu 16 bis 18
Stück an Holzſtäben ſenkrecht angereiht und „auflaufengelaſſen“, d. h.
durch ſchnelles Eintauchen mit heißem Talg getränkt und nach dem
Erkalten abgerundet und geſchlichtet. Dann beginnt das eigentliche
„Ziehen“, indem man die getränkten Dochte abwechſelnd in gußrecht
abgekühlten Talg eintaucht, herauszieht und auf einem Holzgerüſt, der
„Werkbank“, erkalten läßt. So wird die Kerze allmählich dicker. Der
natürlichen Neigung des Talges, ſich am unteren Ende dicker anzulegen,
begegnet man durch verſchieden tiefes Eintauchen, ſowie dadurch, daß
man gegen Schluß der Prozedur das untere Ende länger im Bade
läßt, ſo daß ein Teil wieder abſchmilzt. Dann wird endlich die
Geſtalt der Kerze mittels eines kreisförmig ausgeſchnittenen, erwärmten
Bleches nachgebeſſert.


Das Ziehen iſt ſehr mühſam, bietet aber den Vorteil, daß man
für die inneren Schichten der Kerze geringere, für die äußeren beſſere
Talgſorten verwenden kann.


Zum Gießen der Kerzen, welches beſonders für Stearin, Walrat
und Paraffin angewendet wird, gebraucht man meiſt Metallformen.
Die letzteren beſtehen aus einem inwendig ſorgfältig geglätteten, ſich
ſehr wenig verjüngenden Rohre, deſſen unteres Ende in eine offene
[288]Die Beleuchtung.
Spitze ausläuft und deſſen oberſter Teil einen außen vorſpringende
Wulſt hat. Viele ſolcher Formen werden in ſenkrechter Stellung in

Figure 177. Fig. 184.

Kerzenform.


eine Werkbank eingeſetzt. Der Docht geht etwas
ſtraff durch die untere Öffnung, die er alſo ver-
ſchließt und wird oben durch einen kapſelförmigen,
beweglichen Einſatz gehalten, der für das Ein-
gießen der Maſſe Spielraum läßt (Fig. 184). So
befindet ſich der Docht in genau zentraler Lage.
Die gußrechte Lichtmaſſe, welche am beſten eine
Temperatur von 40—46°C. hat, wird mittels einer
kleinen Kanne in die Form eingegoſſen. Erſt am
Tage nach dem Guß laſſen ſich die Kerzen bequem
aus der Form löſen; ſie werden dann nur noch
an dem Gußende gleichmäßig beſchnitten.


Für die Fabrikation von Wachskerzen,
welche erfahrungsmäßig ſehr feſt an den Form
wänden hafteten, ſo daß ſie häufig zerbrachen, be-
nutzt man ein Verfahren, welches zwiſchen dem Ziehen und dem Gießen
gewiſſermaßen die Mitte hält, das ſogenannte Angießen. Hierbei
werden die ſenkrecht hängenden Dochte und Gießlöffel wiederholt
abwechſelnd mit Wachs begoſſen und abgekühlt, dazwiſchen wieder zwiſchen
Brettern gerollt. Auf dieſem Wege erhält man Kerzen mit konzen-
triſchen Schichten, wie man beim Zerbrechen der fertigen Kerzen noch
genau bemerken kann.


Sehr dünne Wachskerzen, welche als Wachsſtöcke in den Handel
kommen, werden gezogen oder auch gepreßt, indem man das Wachs
aus dem Preſſenreſervoir durch eine der gewünſchten Dicke entſprechende
Öffnung zugleich mit dem Docht unter ſehr ſtarkem Drucke hindurchpreßt.


In neuerer Zeit hat man auch Lichtgießmaſchinen konſtruiert, deren
Prinzip genau dasſelbe iſt, wie das bei der Handarbeit befolgte. Das
Produkt läßt aber, wenn nicht langſam gearbeitet wird, häufig zu
wünſchen übrig, obgleich natürlich die produzierte Menge weſentlich
größer iſt.


2. Flüſſige Beleuchtungsſtoffe; Beleuchtung mit Lampen.

Die weſentlichſten flüſſigen Leuchtſtoffe, welche naturgemäß an ſich
ſchon größere Bedeutung haben, als die feſten, ſind: das Rüböl und
das Petroleum. Heute iſt das erſtere durch das letztere faſt völlig
verdrängt.


Das Rüböl findet ſich in den Samen vieler Arten der Cruciferen-
gattung brassica, beſonders im Raps und Rübſamen. Um beim Aus-
preſſen der Samen nicht zugleich Nebenſtoffe, beſonders Waſſer, Schleim
und Eiweiß zu erhalten, benutzt man nur mehrere Monate lagernden,
ganz trockenen Samen, der überdies vorher, um die letzten Waſſerſpuren
[289]Flüſſige Beleuchtungsſtoffe; Beleuchtung mit Lampen.
zu vertreiben und das Eiweiß zum Gerinnen zu bringen, erwärmt wird.
Die gequetſchten Samen werden unter dem Mühlſtein fein gemahlen
und das Mehl, angewärmt in Preßtücher eingeſchlagen, unter die Preſſe
— am beſten eine hydrauliſche — gebracht. Das Öl rinnt von den
Preßplatten herunter und ſammelt ſich in einem Reſervoir. Die Aus-
beute beträgt zwiſchen 16 und 50 %.


Das rohe Öl muß einem Läuterungsprozeß unterworfen werden,
um es von den noch in ihm enthaltenen, beim Brennen ſchädlich wir-
kenden Verunreinigungen zu befreien. Zu dieſem Zwecke wird das Öl,
bis auf 60—70° C. erwärmt, in horizontal liegende Fäſſer gebracht,
in welchen ſich eine Flügelwelle dreht. Dann läßt man, unter fort-
währendem Bewegen der Welle, 1—1 ½ prozentige Schwefelſäure im
dünnen Strahl hinzulaufen. Die Säure verkohlt die Verunreinigungen,
welche ſich infolge deſſen als dunkle Flocken abſetzen. Dann unter-
bricht man den Prozeß und reinigt das Öl durch Zuſatz von warmem
Waſſer möglichſt vollſtändig von der anhängenden Schwefelſäure. Die
letzten Spuren derſelben werden durch Kreidewaſſer und einem Dampf-
ſtrom entfernt, das Öl geklärt und in die Transportgefäße geleitet.


Das Petroleum (Erdöl, Steinöl, Naphta) iſt eine mineraliſch
vorkommende, leichter oder ſchwerer entzündliche Flüſſigkeit von ſehr
wechſelnder Zuſammenſetzung. Sie beſteht aus einem Gemiſch von
ſehr zahlreichen Kohlenwaſſerſtoffen, die in ganz verſchiedenen Mengen
auftreten können, ſo daß ſich ſchon hieraus die verſchiedenen Eigen-
ſchaften der einzelnen Sorten erklären. Die Fundorte ſind ſehr ver-
breitet; zuweilen liegen ſie in der Nähe vulkaniſcher Gebiete, meiſt aber
in gewöhnlichen geſchichteten Geſteinen. Das Erdöl ſtammt zum Teil
aus den älteſten, zum Teil wieder gerade aus den jüngſten Erdforma-
tionen. Es durchdringt die Zwiſchenräume der Geſteinſchichten, er-
füllt Spalten und Klüfte und ſammelt ſich in den verſchiedenſten
Tiefen, in denen es durch Bohrung erreicht wird. Meiſt findet es
ſich mit brennbaren Gaſen zugleich vor und ſteht dann, wie dieſe
ſelbſt, unter hohem Druck. Trifft dann die Bohrung zunächſt den
Gasraum, ſo entweichen große Mengen brennbarer Gaſe, welche unter
dem Namen „Naturgas“ häufig zur Beleuchtung gebraucht werden,
und das Öl muß dann durch Pumpen gehoben werden. Erreicht
man dagegen beim Bohren zuerſt die Ölſchicht, ſo ſprudelt das Erdöl,
durch den gewaltigen Gasdruck emporgetrieben als Springquell aus
dem Bohrloch auf. Die größten Mengen werden in Nordamerika
gewonnen, in welchem Erdteil ſich eine reiche Zone von der Südweſt-
grenze Pennſylvaniens, quer durch dieſen Staat und durch den Staat
New-York in nordöſtlicher Richtung erſtreckt. Dieſer Diſtrikt ergab zu
Anfang der achtziger Jahre täglich die ungeheure Menge von über
60000 Barrels. Außer den genannten Staaten liefern auch Ohio,
Kentucky und Kalifornien Erdöl; ebenſo beſtimmte Diſtrikte von Kanada
und eine ganze Anzahl von Gegenden Südamerikas. Das wichtigſte
Das Buch der Erfindungen. 19
[290]Beleuchtung.
aſiatiſche Erdölgebiet iſt Birma, hauptſächlich wegen der großen Menge
koſtbarer Nebenprodukte, welche gerade dieſes Petroleum ergiebt. Die
bedeutendſte Menge Erdöl nach den nordamerikaniſchen Gebiete giebt
aber die kaukaſiſch-kaspiſche Zone, deren Mittelpunkt Baku iſt, eine
vulkaniſche, an Mineralquellen reiche Gegend. Bei Tiflis entſtrömen
der Erde fortwährend brennbare Gaſe. Auſtralien und Afrika haben
in Bezug auf die Erdölgewinnung noch keine Bedeutung; in Europa
produziert bisher nur Galizien größere Mengen Petroleum und, ver-
eint damit, Ozokerit. Erwähnenswert iſt indeſſen noch das Vorkommen
von Erdöl im nordweſtlichen Deutſchland, beſonders in Hannover, wo
die geologiſchen Bildungsverhältniſſe des Erdöls ähnlich zu liegen
ſcheinen, wie in Nordamerika. Über die Art, in welcher ſich das Erdöl
bildet, giebt es verſchiedene Anſchauungen, doch iſt bisher nichts Sicheres
bekannt. Ja, es ſteht nicht einmal ganz feſt, ob es organiſchen oder
anorganiſchen Urſprungs iſt, obgleich dies letztere für wahrſcheinlicher
gehalten wird.


Das rohe Petroleum, welches meiſt eine dunkle, bräunliche oder
grünliche Färbung hat, wird einem Deſtillationsprozeß unterworfen.
Man benutzt hierzu große eiſerne Deſtillierblaſen. Die Deſtillations-
produkte werden getrennt aufgefangen. Das zuerſt Übergehende wird ge-
ſammelt, bis das ſpezifiſche Gewicht 0,82 beträgt; es heißt leichtes
Öl. Dann erfolgt bei höherer Temperatur das ſchwere Öl. Es
bleibt ein Rückſtand von 5—10 % zurück, der aber in einzelnen
Fällen bis über 50 % ſteigen kann. Manche Fabrikanten ändern das
angegebene Verfahren dahin ab, daß ſie unter fortwährendem Roh-
ölzufluß deſtillieren, bis die Blaſe ſchließlich nur noch ſchweres
Öl enthält.


Das gewonnene leichte Öl wird unter lebhaftem Rühren zuerſt
mit Schwefelſäure, darauf mit Natronlauge gewaſchen. Nach erneutem
Waſchen mit reinem Waſſer deſtilliert man vorſichtig unter getrenntem
Auffangen der Produkte. Dieſe letzteren ſind, je nach der Natur und
Beſchaffenheit des Rohöls, ſehr verſchieden. Die wichtigſten ſind:


1. Petroleumäther, Aether petrolei, Siedepunkt 45—60°, äußerſt
entzündlich. Dient mediziniſch, ſowie als Löſungsmittel für Kautſchuk
und Harze.


2. Gaſolin, Siedepunkt 70—90°.


3. Benzin, Siedepunkt ſehr verſchieden (50—110°). Zum Extra-
hieren aller Arten Fette.


4. Ligroin, Siedepunkt 120°. Brennmaterial in beſonderen
Lampen.


5. Petroleumſprit, Putzöl, ein Surrogat für Terpentinöl.


Die Rückſtände der Deſtillation des leichten Öls werden mit dem
genau ſo wie das leichte Öl gereinigten ſchweren Öl zuſammengegeben
und deſtilliert. So erhält man das eigentliche Leuchtöl oder raffinierte
Petroleum, deſſen Siedepunkt zwiſchen 150° und 300°C. liegt, und
[291]Flüſſige Beleuchtungsſtoffe; Beleuchtung mit Lampen.
welches nach erneutem Waſchen mit Schwefelſäure und Ätzlauge waſſer-
hell oder ſchwach gelblich erſcheint, blau fluoresciert und ungefährlich
iſt. Durch nochmaliges Rektifizieren erhält man reine Öle, die als
Kaiſeröl und unter anderen Namen in den Handel kommen.


Beim Abdeſtillieren des Leuchtöls bleibt Teer zurück, welcher bei
weiterer Deſtillation Schmieröle und Petroleumfett, Vaſeline liefert;
das erſtere Produkt wird als Maſchinenöl, das letztere nach guter
Reinigung mediziniſch verwendet.


Die leichte Entzündbarkeit der Dämpfe von ſchlecht raffinierten
Erdölen bedingt Vorſichtsmaßregeln. Nach einer Regierungsverordnung
darf Petroleum, welches eine Entflammungstemperatur von weniger
als 21°C. zeigt, nur als „feuergefährlich“ in den Handel gebracht
werden. Zur Prüfung iſt der von Abel konſtruierte Petroleumprober
vorgeſchrieben, welcher ſchon ſeit 1880 in England gebraucht wird.
Dieſer Apparat beſteht aus einem doppelwandigen Waſſerbade, deſſen
Temperatur durch ein von außen ſichtbares Thermometer gemeſſen
wird. In der inneren Höhlung des Bades hängt der Petroleum-
behälter, welcher bis zu einer Marke mit dem zu unterſuchenden Öl
gefüllt wird und einen dicht ſchließenden Deckel trägt. Auf dem letzteren
befindet ſich ein um ſeine horizontale Achſe kippbares Öllämpchen,
welches ſich nach vorn über neigt, wenn durch Aufziehen eines im
Deckel angebrachten horizontalen Schiebers drei rechteckige Öffnungen,
welche ſich im Deckel, gerade unter dem Lämpchen, befinden, frei gemacht
werden. Beim Zurückgehen des Schiebers in ſeine alte Lage richtet
ſich das Lämpchen wieder auf. Die Temperatur des zu unterſuchenden
Erdöls lieſt man an einem zweiten Thermometer ab. Sobald dieſes
beim allmählichen Erwärmen des Waſſerbades 19° C. erreicht hat,
öffnet und ſchließt man von 2 zu 2 Minuten den Schieber; das Öffnen
ſoll nach der Vorſchrift dreimal ſo langſam, wie das Schließen geſchehen.
Sowie eine Entflammung ſtattfindet, beobachtet man die Temperatur
an dem Thermometer. Pensky hat für den amtlichen Gebrauch in
Deutſchland den Schieber des Abelſchen Apparates mit einem Trieb
verſehen, ſo daß ſich derſelbe automatiſch öffnet und ſchließt.


Obwohl das Erdöl ſchon im Altertum bekannt war, datiert ſein
Gebrauch zu Beleuchtungszwecken erſt aus den fünfziger Jahren unſeres
Jahrhunderts, zu welcher Zeit die gewaltigen Ölmaſſen Nordamerikas
entdeckt und zuerſt ſyſtematiſch ausgebeutet wurden. Aus Amerika
ſtammen auch die erſten Lampenkonſtruktionen für Petroleum.


Zum Brennen der flüſſigen Beleuchtungsſtoffe dienen Lampen.
Jede Lampe enthält einen Ölbehälter, deſſen Inhalt der Regel nach
durch einen Docht verbrannt wird. In den letzten Jahren des vorigen
und zu Anfang dieſes Jahrhunderts ſind eine große Menge von
Lampen konſtruiert worden, welche aber alle für Rüböl berechnet waren
und daher heute gar keine Bedeutung mehr haben, ſondern nur noch
hiſtoriſches Intereſſe bieten.


19*
[292]Beleuchtung.

Eine Öllampe ohne Docht, in welcher das Öl durch ein Kapillar-
röhrchen brennt, iſt die Blackadderſche Nachtlampe, ein auf Rüböl
ſchwimmendes Schälchen, welches das Brennröhrchen an ſeiner tiefſten
Stelle hat. Bei der in künſtleriſcher Hinſicht vollendeten Antiklampe
iſt der eigentliche Zweck, der des Leuchtens, nur ſehr unvollkommen
erreicht. Der dicke Runddocht ſpeiſt die Flamme ſehr reichlich, ſo daß
der Luftzutritt dem Ölzufluß nicht die Wage hält und zu ſchwach iſt;
deshalb iſt die Flamme rötlich, leuchtet ſchlecht und blakt häufig.
Ebenſo verhält ſich die gewöhnliche (frühere) Küchenlampe und die
Grubenlampe der Bergleute. Viel vorteilhafter iſt es, ſtatt eines
maſſiven Runddochtes einen flachen und breiten Docht anzuwenden,
weil in dieſem Falle der Luftzutritt intenſiver iſt. Noch beſſer wird
die vollſtändige Verbrennung erreicht, wenn man die bei einem Flach-
docht immerhin ſtarke Abkühlung der Flamme dadurch vermeidet, daß
man den Docht zu einem Hohlcylinder zuſammenbiegt, deſſen Flamme
von außen und von innen von dem Luftſtrom getroffen wird. Re-
guliert man endlich den letzteren noch durch ein Zugglas oder einen
Cylinder, welcher die Flamme umgiebt, ſo erhält man den Argandſchen
Brenner oder Rundbrenner mit doppeltem Luftzug, welcher für die
Rüböllampen lange Zeit die vollkommenſte Konſtruktion darſtellte.


Die Geſtalt des Cylinders wechſelt nach der Art der Lampe.
Bauchige Cylinder verwendet man bei Flachbrennern (ſiehe die frühere

Figure 178. Fig. 185.

Studierlampe.


Studierlampe in Fig. 185), während man für Rundbrenner glatte Cylinder
mit ſtarker Einſchnürung dicht über der Flamme vorzieht, weil hier-
durch der Luftzug faſt horizontal gegen die Flamme gelenkt wird. Um
aber eine vollkommene Wirkung zu erzielen, muß die Einſchnürung in
ganz beſtimmter Höhe über dem Brenner ſtehen; ſchon ganz kleine
Höhenänderungen bewirken ſtarke Schwächung des Lichteffekts. Statt
der eingeſchnürten Cylinder gebraucht man zuweilen bauchige Cylinder
bei den Rundbrennern; dann zwingt man den Luftzug zur Bewegung
von außen nach innen durch eine horizontale, runde, metallene Brenn-
ſcheibe, welche in der Axe des Brenners, dicht über dieſem, liegt und
ſehr vorteilhaft wirkt.


[293]Flüſſige Beleuchtungsſtoffe; Beleuchtung mit Lampen.

Die erwähnten Konſtruktionen von Lampen, in denen Rüböl
gebrannt wird, ſetzen einen ziemlich ſtarken Zufluß zum Dochte voraus,
da der Kapillarität des Dochtes gegenüber dem ſchwerflüſſigen Öl nur
wenig zugemutet werden darf. Man teilt daher dieſe Lampen in
Saug- und in Drucklampen ein. Bei den erſteren muß der Ölbehälter
etwa auf dem Niveau der Flamme liegen; bei den letzteren befindet er
ſich tiefer als dieſe, gewöhnlich im Fuße der Lampe, ſo daß das Öl
durch beſondere Vorrichtungen bis zum höchſten Punkte des Dochtes
gehoben werden muß.


Zu den gebräuchlichſten und bekannteſten Konſtruktionen nach dem
erſten Prinzip gehört die Schiebelampe (Fig. 186), welche ſich, zur
Petroleumlampe umgearbeitet, aber in
ihrer charakteriſtiſchen Form erhalten,
wohl noch hin und wieder in alten
Haushaltungen vorfindet. Der Ölbe-
hälter iſt hier eine Sturzflaſche b, die
mit Öl gefüllt, durch ein Ventil d ver-
ſchloſſen, verkehrt in das Reſervoir a
der Lampe eingeſetzt wird, und welcher
immer nur dann Öl entſtrömt, wenn
das Niveau im Reſervoir tiefer ſinkt,
als der höchſte Punkt des Dochtes,
mit welchem das Reſervoir durch ein
kommunizierendes Rohr f verbunden iſt.


Zur Hebung des Öls in den Druck-
lampen kann man den hydroſta-
tiſchen Druck einer Flüſſigkeit benutzen,
welche ſchwerer iſt als das Öl, z. B.
Zinkvitriollöſung, Waſſer, Queckſilber.
Dieſe Lampen haben ſich nur wenig
bewährt. Viel beſſer eignen ſich mecha-
niſche Werke. Bei der Uhrlampe von
Carcel wird durch Federkraft ein kleines,
im Fuße der Lampe eingeſchloſſenes
Pumpwerk bewegt, welches das Öl
dem Dochte im Überſchuß zuführt. Das

Figure 179. Fig. 186.

Schiebelampe.


Niveau im Brennerrohre bleibt hierdurch ſtets dasſelbe, während das
überſchüſſige Öl in den Behälter zurückfließt. Hierdurch wird das Öl
an dem Brenner, der Wärme abgiebt, etwas vorgewärmt. Alle dieſe
Umſtände erzielen eine Flamme von ſehr großer Gleichmäßigkeit der Licht-
ſtärke. Noch einfacher erreicht denſelben Zweck die Moderateurlampe.
Beim Beginn des Brennens wird durch Aufziehen des Werkes eine
Spiralfeder geſpannt, welche das Öl im Steigrohre emportreibt. Die
Regulierung geſchieht durch einen langen und dünnen Moderateurſtift,
welcher in das Steigrohr hineinragt und dasſelbe deſto mehr verengert,
[294]Beleuchtung.
je ſtärker der Druck der Spiralfeder iſt. Auch die Moderateurlampe
arbeitet mit überfließendem Öl und hat eine ſehr konſtante Lichtſtärke,
ſo daß man ihre Flamme ſogar bei den weiter unten zu beſprechenden
photometriſchen Beſtimmungen als Normalflamme gebraucht hat.


Alle beſchriebenen Lampen ſind durch die dem Brennſtoff der
Jetztzeit, dem Petroleum, entſprechenden Konſtruktionen faſt ganz ver-
drängt. Die verſchiedenen Erdöle ſetzen verſchiedene Lampen voraus.
Wenn ſchon die flüchtigſten Öle, z. B. das Ligroin und die ihm ähn-
lichen Mineralöle, ganz beſondere Lampen erfordern, wenn ſie nicht
gefahrbringend ſein ſollen, ſo ſind auch die Öle mittlerer Flüchtigkeit,
vor allen anderen das gereinigte Petroleum, derart dünnflüſſig, daß
ſie bedeutend leichter durch den Docht in die Höhe geſaugt werden,
als das dickflüſſige Rüböl. Hierzu kommt noch, daß die Flamme,
wenn ſie ihre volle Intenſität entwickeln ſoll, viel ſtärkeren Luftzug
erfordert. Nur wenn dieſer durchaus richtig reguliert wird, erhält man
eine hell brennende, geruchloſe Flamme.


Alle Erdöllampen ſind aus den angeführten Gründen Sauglampen.
Es iſt dies der Sicherheit halber von der größten Wichtigkeit; denn
nur dadurch, daß es möglich iſt, den Ölbehälter ziemlich tief zu legen,
wird eine Erhitzung desſelben und damit die Möglichkeit der Bildung
exploſiver Dämpfe vermieden. Zur Kühlung trägt überdies noch die
zur Verbrennung zugeführte Luft bei, welche längs des Brenners
aufſteigt.


Der einfachſte Brenner für Erdöl iſt wieder der Flachbrenner,
welcher zur Beförderung des Luftzuges mit einer oben der Länge nach
aufgeſchlitzten halbkugelförmigen Kappe von Metall bedeckt wird und
einen bauchigen, beſſer noch einen in ſeinem bauchigen Teil etwas flach-
gedrückten Cylinder vorausſetzt.


Viel häufiger angewandt und allgemein verbreitet iſt der Argand-
Rundbrenner. Er unterſcheidet ſich von dem für Rüböllampen ge-
bräuchlichen außer durch die Länge des Rohres auch dadurch, daß
der Docht unten flach iſt und ſich erſt im oberen Teile des Brenners
zuſammenbiegt. Er wird durch ein oder zwei Zahnrädchen geſtellt
und mit einem eingeſchnürten Cylinder gebrannt.


Der Umſtand, daß die Lichtintenſität großer Rundbrenner ſich nicht
in demſelben Verhältnis ändert, wie die Größe, iſt mit Recht dem
Mangel an Luftzug zugeſchrieben worden. Es ſind daher in der
Neuzeit eine beträchtliche Anzahl von Konſtruktionen großer Lampen-
brenner aufgetaucht, die alle darauf hinauslaufen, der Flamme mehr
Luft zuzuführen.


Der Patentkosmosbrenner hat den Zweck, der inneren Flamme
einen Überfluß von Luft zuzuführen. Zu dieſem Ende iſt im unteren
Teile des Brenners ein flaches, cylindriſches, am Umfange durchlochtes
Gefäß eingeſetzt, von welchem ein oben mit einer kreisförmigen Metall-
ſcheibe abſchließendes, oben ebenfalls durchlochtes Rohr ſenkrecht bis
[295]Flüſſige Beleuchtungsſtoffe; Beleuchtung mit Lampen.
dicht über den Brenner emporſteigt. Da das obere Ende des Rohres
bedeutend ſtärker erhitzt wird, als das untere, ſo wird hierdurch ein
ſehr lebhafter Luftſtrom emporgeſaugt, welcher direkt in die Flamme
geleitet wird. Der Kosmosbrenner erzielt daher eine glänzend weiße
Flamme und leidet weniger als andere Brenner an kohlendem Docht,
da auch dieſer durch den aufſteigenden Luftſtrom gekühlt wird, alſo
nur wenig kohlt und ſeine Saugekraft beibehält.


Ein anderes Prinzip liegt der Reichslampe von Schuſter \& Bär
zu Grunde. Bei dieſer liegt die innere Luftzuführung unter dem
metallenen Baſſin der Lampe; das Zuführungsrohr geht ſenkrecht durch
das Baſſin hindurch. Da die Energie des aufſteigenden Luftſtroms
von der Differenz der Temperaturen am oberen und unteren Ende
des Rohres abhängt, welche in dieſem Falle eine ſehr beträchtliche iſt,
ſo wird die Leiſtung der Lampe in dieſer Beziehung eine beſonders
hohe ſein. Auch der äußere Zug wird durch eine die Flamme ein-
ſchnürende Metallkappe dicht unter der Brennſcheibe nicht unbedeutend
verſtärkt. Die Geſamtleiſtung der Patentreichslampe iſt die höchſte
bisher erreichte.


Statt eines ringförmigen Flachdochtes hat man auch durch kreis-
förmige Zuſammenſtellung von zahlreichen maſſiven Runddochten, die ſich
naturgemäß durch ganz beſondere Saugekraft auszeichnen, recht leiſtungs-
fähige Brenner konſtruiert, welche unter dem Namen Mitrailleuſen-
brenner bekannt geworden ſind. Dieſelben geben eine ſehr helle
Flamme, verbrauchen aber auch bedeutend mehr Öl.


Die Exploſionen, welche bei den Mineralöllampen vorkommen
und deren Gebrauch immerhin nicht ganz ungefährlich machen, können
allerdings von ſchlechter Qualität des Petroleums herrühren, ſind aber
meiſtenteils der ſchlechten Bedienung und Reinigung der Lampen zu-
zuſchreiben. Selbſt gutes Öl enthält immer noch wenige leichter flüchtige
Beſtandteile, welche beim Brennen allmählich verdampfen und ſich mit
der im Baſſin befindlichen Luft vermiſchen. Somit ſind, nach den
früher entwickelten Prinzipien (S. 283), wohl in jeder Lampe die Be-
dingungen zu einer Exploſion mehr oder weniger erfüllt. Es kommt
daher im weſentlichen darauf an, daß die Entzündungsgefahr ver-
mieden wird.


Nun iſt dieſe letztere beſonders hoch bei mangelhaft gereinigten
Brennern, bei welchen ſich die verkohlenden, glimmenden Dochtteilchen
beim Herunterſchrauben der Lampe loslöſen und herabfallend die Ent-
zündung des exploſiven Gemiſches im Baſſin bewirken können. Wenn
alſo die Lampe nicht geradezu fehlerhaft oder feuergefährlich konſtruiert
iſt, was heute nur noch ſelten vorkommt, ſo wird eine ſorgfältige
Reinhaltung — gutes Petroleum vorausgeſetzt — eine genügende
Sicherheit gegen Exploſionen bieten.


Für ſehr flüchtige Mineralöle, beſonders Ligroin, Gaſolin und
andere, ſind die gewöhnlichen Lampen ganz unbrauchbar, weil ſie bei
[296]Beleuchtung.
der großen Flüchtigkeit dieſer Brennſtoffe ſofort explodieren würden.
Man brennt daher lieber gleich das Gas, welches ſich aus dem ſchwach
erwärmten Öl in Menge entwickelt. Will man nur eine kleine Flamme
haben, ſo benutzt man die Ligroinlampe (Fig. 187), deren ganzer
Behälter mit Schwamm gefüllt iſt. Man gießt Ligroin auf, bis der
Schwamm völlig getränkt iſt, und ſchraubt dann die Dochthülſe b auf,
die einen maſſiven Runddocht aus Baumwolle enthält. Dieſe Lampe
iſt ganz ungefährlich, ebenſo wie die nach demſelben Prinzip gebauten,
viel gebrauchten Benzinleuchter.


Zur Erzielung größerer Flammen läßt man den Docht ganz weg.
So erhält man die Dampflampen, deren Prinzip ſchon lange vor der
Zeit der Einführung des Petroleums von Lüdersdorff benutzt wurde,
welcher in ſeiner Dampflampe ein Gemiſch von 1 Volumen Terpentinöl
und 4 Volumen Alkohol in Dampf verwandelte und verbrannte. Der

Figure 180. Fig. 187.

Ligroinlampe.


Figure 181. Fig. 188.

Wandlampe.


Brenner dieſer Lampe hat im oberſten Teil kreisförmig angeordnete
enge Öffnungen, durch welche die Dämpfe heraustreten, um mit
glänzender Flamme zu verbrennen.


Für Ligroin und Gaſolin haben Lilienfein \& Lutſcher eine viel
gebrauchte Wandlampe (Fig. 188) konſtruiert, unter deren Brenner g ſich
eine horizontale Metallſcheibe f befindet. Wird dieſe durch ein brennendes
Streichholz erhitzt, ſo verdampft etwas Leuchtſtoff und brennt nach
Art der gewöhnlichen Gasflamme aus den feinen, in einer Vertikal-
ebene angeordneten Löchern des Brenners heraus. Durch die Hitze
der Flamme wird die Lampe dann fortdauernd brennend erhalten.
Sie iſt aber nichts weniger als ungefährlich; der einzige Vorteil, den
ſie hat, beſteht darin, daß ſie ſehr leicht überall, z. B. auf Bauten
u. dgl., angebracht werden kann und nicht leicht durch Zug verlöſcht.


Eine Lampe, welche einem ganz beſonderen Zwecke dient, iſt die
von Davy erfundene Sicherheitslampe, welche die Arbeiter der Kohlen-
gruben gegen die verheerende Wirkung der ſogenannten ſchlagenden
[297]Flüſſige Beleuchtungsſtoffe; Beleuchtung mit Lampen.
Wetter, d. h. der explodierenden Gemiſche von Grubenkohlenwaſſerſtoffen
mit Luft, ſchützen ſoll. Die Sicherheitslampe beruht auf der oben ge-
nauer auseinandergeſetzten Thatſache, daß zum Fortbrennen einer
Flamme eine beſtimmte Temperatur nötig iſt. Entzieht man der Flamme
alſo ein beſtimmtes Wärmequantum, ſo kann ihre Temperatur derart
herabgeſetzt werden, daß ſie nicht mehr zu brennen vermag. Hierzu
ſind engmaſchige Drahtnetze aus einem möglichſt guten Wärmeleiter
das paſſendſte Mittel. Davy umgiebt daher die Flamme ſeiner Sicher-
heitslampe (Fig. 189), einer gewöhn-
lichen Rüböllampe, mit einem Cylinder
und einer Decke von Drahtgeflecht.
Gelangt der Arbeiter mit dieſer Lampe
in ein exploſives Gasgemiſch, ſo dringt
dieſes natürlich durch das Drahtgeflecht
und entzündet ſich an der Lampen-
flamme. Es brennt aber nur im Innern
des Cylinders, da das Drahtnetz dem
brennenden Gaſe ſoviel Wärme ent-
zieht, daß die Flamme nicht nach außen
durchzuſchlagen vermag. Der Arbeiter
hat daher Zeit, ſich in Sicherheit zu
bringen, wenn er die Flammener-
ſcheinung in ſeiner Lampe bemerkt.
Größte Reinlichkeit beim Gebrauch iſt,

Figure 182. Fig. 189.

Sicherheitslampe.


wie bei den Mineralöllampen, ſo auch hier die unerläßliche Bedingung
für ein ſicheres Funktionieren der Lampe. Kleine Schmutzteilchen, welche
ſich am Cylinder feſthängen, können an der Flamme des Gaſes zu
glimmen anfangen, die Entzündung nach außen fortpflanzen und namen-
loſes Unheil anrichten. Neben peinlicher Reinhaltung der Lampe iſt
aber natürlich auch gewiſſenhaftes Umgehen mit derſelben Pflicht des
Bergmanns. Die Flamme brennt nur ſchwach und ihr Schein wird
durch den Drahtkorb, der ſie umgiebt, noch mehr gedämpft. Die Ver-
trautheit mit der Gefahr verführt daher den Arbeiter nur zu leicht, den
ſtrengen Befehl der Behörde zu umgehen; um beſſer ſehen zu können,
öffnet er die Lampe, deren ganzer Zweck hierdurch illuſoriſch wird. Es iſt
daher von jeher das Streben der Aufſichtsbehörde geweſen, das
Öffnen der Lampe von ſeiten des Arbeiters unmöglich zu machen. Ein
gemeinſamer Schlüſſel, der nur in den Händen des Steigers ſich
befindet, nützt wenig, da er häufig nachgeahmt worden iſt. Man
hat daher die Lampen ſo eingerichtet, daß ſie nur durch einen ſehr
ſtarken, im Steigerhauſe befindlichen Magneten geöffnet werden können,
oder auch ſo, daß ſie beim Öffnen erlöſchen müſſen.


Leider hat ſich neuerdings ergeben, daß die Sicherheitslampe in
beſtimmten Fällen überhaupt nicht funktioniert. Ein Durchſchlagen
der Flamme kann z. B. ſtattfinden, wenn ein ſehr ſtarker Luftzug oder
[298]Beleuchtung.
der Luftdruck eines nahen Sprengſchuſſes den Drahtcylinder trifft.
Aus dieſem Grunde wendet man heute zwar den Lampen noch die
nötige Sorgfalt zu, im weſentlichen richtet man aber ſein Augenmerk
auf eine möglichſt vollkommene Ventilation der Gruben, um ſo die
Gefahr im Keim zu erſticken.


3. Gasförmige Teuchtſtoffe; Gasbeleuchtung.

Im Gegenſatz zu den bisher behandelten Beleuchtungsſtoffen,
welche beim Brennen von ſelbſt in Gasform übergehen, kennt man
eine größere Zahl von Mineralien, welche zwar brennbare und leucht-
fähige Gaſe in reicher Menge enthalten, dieſe aber nur durch ſehr
ſtarke Hitze frei geben. Um dieſe gasförmigen Leuchtſtoffe zu verwerten,
müſſen die ſie enthaltenden Körper daher vorgängig fabrikmäßig be-
handelt worden; die Produkte werden dann in Reſervoiren aufgeſammelt,
und aus dieſen den Beleuchtungsſtellen durch Röhrenleitungen zugeführt.


Die Erfindung der Gasbeleuchtung iſt verhältnismäßig neu. Zwar
war ſchon im 17. Jahrhundert bekannt geworden, daß Steinkohlen beim
Erhitzen ein mit leuchtender Flamme brennendes Gas liefern, und
einzelne Perſonen hatten Leuchtgas aus verſchiedenen Materialien gegen
Ende des vorigen Jahrhunderts zu ihren Privatzwecken gebraucht.
So Lord Dundonald, welcher das aus Koksöfen entweichende Gas zur
Beleuchtung ſeines Landhauſes benutzte und Lebon, welcher um dieſelbe
Zeit Leuchtgas aus Knochenfett herſtellte. Erſt dem Schotten Murdoch
gelang es, die Leuchtgasverwendung im weiteren Umfange einzuführen.
1792 beleuchtete er ſein Haus und ſeine Werkſtatt zu Redeuth in
Cornwallis mit Gas aus Steinkohlen, 1798 führte er dieſelbe Ein-
richtung mit Erfolg in einer der erſten und größten Maſchinenfabriken,
der von Boulton und Watt in Soho, ein. Der Amerikaner Henfrey
beleuchtete 1801 einen Saal in Baltimore mit Gas; dieſe Thatſache
erregte in Amerika derartiges Aufſehen, daß von nun an die Leucht-
gasfabrikation und die Gasbeleuchtung in Amerika viel ſchnellere Fort-
ſchritte machte, als in Europa. Murdochs Schüler, Samuel Clegg,
dem die Gasinduſtrie ſpäter ſehr viel verdankte, führte im Jahre 1814
die Straßenbeleuchtung mittels Gaſes in London ein. Deutſche Städte
folgten langſam nach. 1816 wurden die Hüttenwerke von Freiberg
beleuchtet, 1825 Hannover, 1826 Berlin, 1828 Dresden und Frankfurt,
1838 Leipzig. Clegg verdankt man die Erfindung der Kalkreinigung
und der Gasuhr, Philipps und Laming die Erfindung der Eiſenreiniger.
1868 waren bereits 530 deutſche Städte mit Gas beleuchtet; 1885 gab
es in Deutſchland 1257 Gasanſtalten. Die Konkurrenz des elektriſchen
Lichtes, von der man zuerſt eine Schädigung der Gasinduſtrie fürchtete,
hat im Gegenteil die Gastechniker zu erneuten Anſtrengungen an-
geſpornt, um den Kampf mit der elektriſchen Beleuchtung aufzunehmen,
ſo daß heute die Anwendung des Leuchtgaſes ſich noch immer weiter
[299]Gasförmige Leuchtſtoffe; Gasbeleuchtung.
ausbreitet und die Vollkommenheit der Gasbeleuchtungsapparate faſt
von Jahr zu Jahr ſteigt.


Alle Rohmaterialien, aus denen man Leuchtgas fabriziert, be-
ſtehen — mit Ausnahme der Mineralöle — aus Kohle, Waſſerſtoff
und Sauerſtoff. Beim Erhitzen unter Luftabſchluß, der ſogenannten
trockenen Deſtillation, liefern ſie alle teils gasförmige, teils zu Flüſſig-
keiten kondenſierbare Stoffe. An manchen Orten, beſonders dort, wo
Mineralöle gewonnen werden, entſtrömen der Erde brennbare Gaſe,
welche häufig unter dem Namen „Naturgas“ direkt zur techniſchen
Verwendung gelangen, ſo beſonders in den amerikaniſchen Staaten
New-York und Pennſylvanien, ſowie im Centralpunkt der ruſſiſchen
Petroleumgewinnung, in Baku. Dasjenige Mineral, welches bei weitem
am meiſten zur Leuchtgasgewinnung verwendet wird, iſt die Steinkohle.


Man benutzt vorwiegend beſonders waſſerſtoffreiche Kohlen mit
geringem Gehalt an anorganiſchen Beſtandteilen, welche beim Glühen
zuſammenbacken (Backkohle). Die beſte Kohle zur Leuchtgasbereitung
iſt die ſchottiſche Kännelkohle aus dem Diſtrikt von Newcaſtle; dann
folgt die nur wenig geringere rheiniſch-weſtfäliſche Kohle, während die
ſchleſiſche und die ſächſiſche Steinkohle den geringſten Wert beſitzen.


Das Glühen der Steinkohlen erfolgt in Röhren aus feuerfeſtem
Thon von elliptiſchem Querſchnitt, den Gasretorten; zuweilen giebt
man denſelben auch einen eingebogenen Boden. Die Retorten ſind am
hinteren Ende verſchloſſen, haben 2—3 Meter Länge gegen ½ Meter
Breite bei etwas geringerer Höhe, und faſſen gegen 100 kg Steinkohle,
welche in groben Stücken ein-
geſchaufelt wird. Die Retorten
liegen in der Regel horizontal
zu 1 bis 12 Stück in den Glühöfen
(ſ. Fig. 190 bis 192) und werden
von unten her von der Ofen-
flamme umſpielt. Als Feuerung
verwendete man früher Stein-
kohle oder Koks, während heute
die meiſten Gasanſtalten eine
Generatorfeuerung haben. Das
Prinzip dieſer von Siemens er-
fundenen Feuerung beſteht darin,
daß ein Gemiſch von Luft und
Leuchtgas, welches natürlich
nicht ſoviel Luft enthalten darf,

Figure 183. Fig. 190.

Gasretorte im Ofen.


als zur Exploſion des Gemiſches nötig iſt, wenn es vor der Entzündung
angewärmt wird, beim Verbrennen eine ſehr hohe Verbrennungs-
temperatur giebt (Fig. 193). Das Gas wird durch unvollſtändige Ver-
brennung von Braunkohlen erzeugt und, ebenſo wie die Luft, in je
eine vorher hoch erhitzte, mit Ziegelſteinen gefüllte Kammer c c' geleitet;
[300]Beleuchtung.

Figure 184. Fig. 192.

Gasofen (Grundriß).


beim Austritt aus den Kammern vermiſchen ſich Gas und Luft und
verbrennen im Herd d des Retortenofens. Aus dieſem treten die Ver-
brennungsgaſe in zwei den erſten beiden Kammern völlig gleich ein-

Figure 185. Fig. 193.

Schema einer Generatorfeuerung.


gerichtete Kammern e e', welche ſie all-
mählich bis zum Glühen erhitzen, um
endlich durch die Schornſteine f f' ab-
zuziehen. Iſt einige Zeit verſtrichen,
ſo haben ſich die beiden erſten Kammern
ſoweit abgekühlt, daß die Hitze der
Ofenflamme nicht mehr völlig ge-
nügt; dann leitet man durch einfache
Umſtellung der Regiſter b b' Luft und
Leuchtgas aus a a' in das nun ſehr
hoch erhitzte zweite Kammernpaar. Die
[301]Gasförmige Leuchtſtoffe; Gasbeleuchtung.
Ofenflamme bekommt dadurch wieder ihre frühere hohe Temperatur und
die abziehenden Ofengaſe erhitzen nun wieder das erſte Kammernpaar.
Nach einiger Zeit, d. h. wenn die Hitze der Ofenflamme wieder nachläßt,
ſtellt man die Regiſter aufs neue um u. ſ. w. Die beiden Kammern-
paare mit ihren Zuleitungen ſind unterirdiſch angebracht, nur der
Retortenherd liegt zu ebener Erde; durch kleine Öffnungen läßt ſich die
Glühtemperatur der Generatorkammern, behufs nötig werdender Um-
ſtellung der Regiſter, jederzeit leicht kontrolieren.


Die Temperatur der Gasretorten ſoll die der hellen Rotglühhitze
ſein, welche gegen Ende des Prozeſſes faſt bis zur ſchwachen Weißglut
ſteigen darf. Jede Retorte hat am vorderen, offenen, aus dem Ofen
hervorragenden Ende einen eiſernen Verſchluß, welcher ſehr verſchieden
konſtruiert ſein kann. In der neueren Zeit wendet man, z. B. in den
Berliner Gasanſtalten, ſogenannte Excenterverſchlüſſe an, welche den
am Rande mit Lehmmaſſe beſtrichenen eiſernen Deckel der Retorte feſt
und gasdicht gegen den Rand der Retorte drücken und ein ſchnelles
und leichtes Öffnen geſtatten. Der Verſchluß hat nach oben zu einen
Auslaß, welcher durch ein ſenkrecht aufſteigendes Rohr gasdicht mit
der Hydraulik oder Vorlage verbunden iſt, einem weiten und langen
Eiſenrohr, welches über alle Retortenöfen fortläuft und zur erſten
Kondenſation der dampfförmigen Deſtillationsprodukte beſtimmt iſt (ſ. B in
Fig. 194, S. 303). Die Vorlage iſt daher ſtets bis über die Hälfte mit Teer
gefüllt, in welchen jedes aufſteigende, oben kurz umgebogene Retortenrohr
etwa 30 cm tief eintaucht. Hierdurch iſt der Raum jeder Retorte für ſich
vollkommen abgeſchloſſen und kommuniziert nicht mit den übrigen Re-
torten, ſowie den weiteren Kondenſationsräumen. Es iſt dies von
hoher Wichtigkeit in Hinſicht darauf, daß beim gleichzeitigen Aufſchlagen
mehrerer Retorten jede von dieſen völlig iſoliert ſein muß, wenn einer
allgemeinen Entzündung der Deſtillationsprodukte vorgebeugt werden ſoll.


Bei der angegebenen Ladung iſt der Deſtillationsprozeß nach
4 bis 5 Stunden beendigt. Dann öffnet ein Arbeiter die Retorte und
entzündet mittels einer Lunte ſogleich das ausſtrömende Gas, um
einer etwaigen Anſammlung und Vermiſchung desſelben mit der Luft
vorzubeugen. Mit langen Zieheiſen wird der Rückſtand, Koks genannt,
aus der Retorte in untergeſtellte eiſerne Karren entleert, dieſe aus dem
Retortenhauſe herausgefahren, und die noch glühenden Koks durch
Aufgießen von Waſſer abgelöſcht. Sie geben ein vorzügliches, wenn
auch ſchwer entzündbares Feuerungsmaterial ab, welches vom Platze
weg verkauft wird. Die völlig entleerte Retorte wird durch Einwerfen
von Steinkohle neu beſchickt, eine Arbeit, welche viel handliche Geſchick-
lichkeit der Arbeiter vorausſetzt, beſonders beim Laden der höher
liegenden Retorten. Um das Laden und Entladen zu erleichtern, hat
man in neueſter Zeit beiderſeits verſchließbare Retorten angewendet,
welche man ſchräg nach vorn geneigt in den Ofen legt. Das Laden
erfolgt dann bequem durch das hintere, höher gelegene Ende; beim
[302]Beleuchtung.
Entladen braucht man nur das vordere Ende zu öffnen, worauf die
Koks von ſelbſt herausfallen.


Die gasförmigen Deſtillationsprodukte gelangen durch die ſenk-
rechten Steigröhren in die Vorlage, wo ſich die kondenſierbaren zum
größten Teil verdichten und dadurch, wie ſchon bemerkt, die Steig-
röhren abſperren. Es iſt dafür geſorgt, daß immer mindeſtens die
Hälfte der Vorlage mit Flüſſigkeit gefüllt iſt; der Überſchuß fließt ab
und ſammelt ſich in den Teerbaſſins. Das Gas paſſiert hierauf
(ſ. die Darſtellung der Geſamtgasanlage in Fig. 194) zunächſt die
Kondenſatoren C, ein Syſtem weiter eiſerner, ſenkrecht ſtehender Röhren,
welche entweder durch die umgebende Luft oder durch Waſſer gekühlt
werden; man ordnet ſie neuerdings nicht mehr hinter einander in einer
Reihe an, ſondern ſtellt ſie zu mehreren in kreisförmige Gruppen.
Jeder Kondenſatorcylinder ſteht mit dem darunter liegenden Teerbaſſin
in Verbindung. In den Kondenſatoren kühlt ſich das Gas allmählich
bis zur Lufttemperatur ab, und es kondenſieren ſich weitere dampf-
förmige Produkte, Teer und beſonders auch Gaswaſſer. Oftmals
wird in die letzten Kondenſatoren Waſſer eingeſpritzt, um die Konden-
ſation zu befördern.


Die letzten Spuren kondenſierbarer Stoffe werden entfernt durch
die Skrubber D, in welche das Gas nunmehr eintritt. Es ſind dies
weite eiſerne Cylinder, die mit Koks gefüllt ſind, über welche fort-
während Waſſer herabrinnt. Das Leuchtgas ſtrömt bei ſeinem Eintritt
dem Sprühregen des Waſſers entgegen, ſo daß hierdurch alles noch
Kondenſierbare niedergeſchlagen wird; dies ſammelt ſich im unteren
Teile des Skrubbers und läuft durch einen Siebboden ebenfalls in
die Teerbaſſins.


In dieſen ſammelt ſich neben dem glänzenden ſchwarzen Teer,
welcher größtenteils zur Fabrikation einer Unzahl von Farbſtoffen
und anderen organiſchen Produkten an die chemiſchen Fabriken ab-
gegeben wird, das leichtere Gaswaſſer, welches wegen ſeines Ammoniak-
reichtums heutzutage die Quelle für die Darſtellung aller Ammoniak-
verbindungen, vorzüglich des Salmiaks und des Salmiakgeiſtes ge-
worden iſt.


Durch die Abkühlung werden nur diejenigen Beſtandteile des
Leuchtgaſes ausgeſchieden, welche bei gewöhnlicher Temperatur flüſſig
ſind. Da dasſelbe aber eine Anzahl ſchädlicher gasförmiger Bei-
mengungen enthält, welche ſich ſpäter beim Brennen in unangenehmer
Weiſe bemerkbar machen würden, ſo muß man es nun noch einer
chemiſchen Reinigung unterwerfen.


Das zum Brennen taugliche Gas ſoll im weſentlichen aus
Waſſerſtoff, Grubengas und — als wichtigſtem leuchtenden Beſtand-
teil — aus Äthylen beſtehen. Von dem letzteren genügen 5 bis 10 %,
um der Flamme die nötige Leuchtkraft zu geben. Daneben darf es
andere brennbare Beſtandteile in kleiner Menge enthalten, voraus-
[303]Gasförmige Leuchtſtoffe; Gasbeleuchtung.

Figure 186. Fig. 194.

Geſamtgasanlage.


[304]Beleuchtung.
geſetzt, daß dieſe beim Verbrennen nicht den Ausſtrömungsmündungen
ſchaden; das letztere gilt in erſter Linie von dem ſtets in geringem
Maße vorhandenen, vom Schwefelgehalte der Steinkohle herrührenden
Schwefelwaſſerſtoff, ſowie vom Schwefelkohlenſtoff und den in geringerer
Menge vorhandenen Cyanverbindungen. Ausgeſchloſſen ſind ferner
unverbrennbare Gaſe, alſo in erſter Linie Kohlenſäure, ſodann ſchweflige
Säure. Die fünf genannten Verunreinigungen entfernt man durch den
Reinigungsprozeß.


Die Reiniger E (Fig. 194) ſind große flache eiſerne Käſten, 3 bis
4 Meter im Geviert haltend, deren Deckel beweglich iſt und durch mechaniſche
Hebevorrichtungen leicht abgehoben werden kann. Dieſe Käſten enthalten
etagenartig über einander liegende durchbrochene Hürden, auf welchen
das Reinigungsmaterial ausgebreitet wird. Iſt der Reiniger im Ge-
brauch, ſo liegt der Deckel auf; ſein nach unten vorſpringender Rand
greift in eine tiefe, mit Waſſer gefüllte Rinne des Unterteils ein, wo-
durch ein hermetiſcher Verſchluß erzielt wird. Das Leuchtgas tritt
unten von der Seite in den Reiniger ein und ſtrömt, nachdem es
ſämtliche Hürden paſſiert hat, oben ab. Die Reiniger ſtehen ſtets in
Gruppen zu je vieren zuſammen. Drei ſind im Gebrauch, derart, daß
das Gas ſie hinter einander durchſtrömt, und zwar den friſcheſten
zuletzt; der vierte wird neu beſchickt. Ob es Zeit zum Erneuern des
Reinigungsmaterials iſt, erkennt man einfach, indem man einen im
Deckel des Reinigers angebrachten kleinen Hahn öffnet und einen
Streifen Papier, welcher in Bleiwaſſer getaucht worden iſt, in den
austretenden Gasſtrom hält; erfolgt eine Bräunung (durch Schwefel-
waſſerſtoff), ſo ſchaltet man den Kaſten aus, hebt den Deckel ab und
wechſelt die Beſchickung der Hürden.


Die Reinigungsmaſſe beſtand urſprünglich aus friſch gelöſchtem
Kalk, welcher, um größere Lockerheit und Durchläſſigkeit zu beſitzen,
mit Sägeſpänen oder Lohe vermiſcht wurde (Kalkreiniger). Der Kalk
abſorbiert aber nicht ſo energiſch, wie die ſpäter angewandte Lamingſche
Maſſe, welche aus Eiſenvitriol, gelöſchtem Kalk und Sägemehl beſteht.
Durch die innige Berührung der etwas angefeuchteten Maſſe bildet ſich
Eiſenhydroxyd und Gips, während Kalk überſchüſſig bleibt. Die
Lamingſche Maſſe verwandelt ſich durch die Abſorption der Gas-
verunreinigungen in Schwefeleiſen, kohlenſaurem Kalk und ſchwefelſaures
Ammoniak, und wirkt ſehr gut. Heute wendet man aber zum Reinigen
faſt nur noch [Eiſenhydroxyd] allein an, welches man entweder als Abfall
aus chemiſchen Fabriken bezieht oder in Form von unreinen und ge-
ringen Eiſenerzen (Brauneiſenſtein, Raſeneiſenſtein) aus den Hütten
erhält und mit Sägemehl vermiſcht. Es ſcheint daher, als wenn man
dem Kohlenſäuregehalt des Leuchtgaſes, welcher allerdings nicht be-
deutend iſt, kein Gewicht legt. Das Eiſenoxyd geht durch ſeine Ab-
ſorptionsthätigkeit in Schwefeleiſen über. Dieſes wird zum wieder-
holten Gebrauche regeneriert, indem man es an der Luft ausbreitet
[305]Gasförmige Leuchtſtoffe, Gasbeleuchtung.
und öfters umſchaufelt. Hierbei geht das Schwefeleiſen in Eiſenhydroxyd
und fein zerteilten Schwefel über und kann von neuem gebraucht
werden, bis der Schwefelgehalt endlich nach öfterer Benutzung der-
artig ſteigt, daß die Maſſe nicht mehr wirkt. Dann läßt ſie ſich noch
auf verſchiedene Produkte, beſonders Schwefel, verarbeiten.


Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß das Leuchtgas beim Paſſieren der
Hydraulik, der Kondenſatoren, der Skrubber und der Reiniger einen
nicht unbedeutenden Widerſtand zu überwinden hat und es müßte in-
folgedeſſen auf dieſem Wege unter einem Drucke ſtehen, welcher
einmal ein Entweichen durch zufällige Riſſe der Leitungen, ſodann aber,
durch zu langes Verweilen des entſtandenen Gaſes in den glühenden
Retorten, eine Verminderung der Qualität desſelben nach ſich ziehen
würde. Um dieſem Übelſtande zu begegnen und das gereinigte Leucht-
gas mit einem geringen Überdruck den weiteren, noch zu paſſierenden
Apparaten zuzuführen, befinden ſich hinter den Reinigern die Exhauſtoren,
durch Dampf getriebene Luftpumpen, welche das Gas aus den bisher
beſchriebenen Apparaten aufſaugen und weiter befördern. Die Ex-
hauſtoren der größeren Gasanſtalten ſind automatiſch arbeitend, d. h. ſie
wirken nur zeitweilig, wenn der ſich erhöhende Druck im Reiniger dies
nötig macht und hören von ſelbſt auf zu arbeiten, wenn der Druck
auf das gewünſchte Maß geſunken iſt. Sehr häufig findet man die
Exhauſtoren nicht hinter den Reinigungsapparaten, ſondern ſchon vor
denſelben, d. h. gleich hinter den Skrubbern eingeſchaltet.


Das Gas wird nun zu Apparaten geführt, welche die erzeugte
Menge genau zu meſſen geſtatten. Dieſelben ſind nach dem Prinzip
der weiter unter näher zu beſchreibenden kleinen Gasuhren der Kon-
ſumenten gebaut, aber in rieſigen Dimenſionen. Eine ſolche Betriebs-
gasuhr hat einen Durchmeſſer von 3 bis 4 Metern und geſtattet auf
5 Zifferblättern eine genaue Ableſung der Gasmengen, welche in einem
längeren Zeitraum hindurchgehen.


Das gemeſſene Gas ſtrömt nun durch eiſerne unterirdiſche Röhren
den Gaſometern zu (Fig. 194, F und 195), mächtigen Behältern, welche
einmal die für eine ſtarke Konſumtion nötigen Gasmengen ſammeln, ſo-
dann aber auch dem Gaſe einen gleichförmigen Druck geben ſollen.
Man führt die Gaſometer gewöhnlich auf einer kleinen, innen ausgehöhlten
Erderhöhung aus Ziegeln auf und verſieht das weite cylindriſche Ge-
mäuer mit einem möglichſt leichten, aus Eiſen konſtruierten Dach.
Rings herum laufen im Inneren mehrere Galerien. Durch die ganze
Weite des Innenraums, bis auf einen äußeren Spielraum von etwa
1 m, wird bis zur Höhe der erſten Galerie aus Erde, Cement
und Ziegeln ein cylindriſches maſſives Gemäuer aufgeführt, welches
von unten her die Zuleitungs- und Ableitungsröhren für das Gas
aufnimmt; die Enden beider Röhren ragen nur wenig über die obere
Fläche hervor. Der innere maſſive Cylinder des Gaſometers iſt alſo
durch eine ſchmale, aber häufig bis zu 20 m tiefe Rinne von
Das Buch der Erfindungen. 20
[306]Beleuchtung.
der äußeren Wand getrennt. Dieſe Rinne wird mit Waſſer gefüllt
gehalten und ſoll zur Aufnahme der Glocke des Gaſometers dienen.
Die Glocke, ein weiter Cylinder, iſt unten offen, oben von einem
ſchwach gewölbten Dache abgeſchloſſen; ſie wird aus eiſernen Blech-

Figure 187. Fig. 195.

Gaſometer.


tafeln zuſammengenietet, und die Fugen werden ſo gut wie möglich ge-
dichtet. Die Glocke, deren Durchmeſſer um ein geringes größer iſt, als der-
jenige des Maſſivcylinders, taucht mit ihrem unteren Rande in das
Waſſer der Rinne; bei leerem Gaſometer liegt ihre obere Wölbung nur
wenig höher als die Zuleitungsröhren. Strömt nun Gas zu, ſo hebt
dasſelbe die Glocke; um ein Schwanken des gewaltigen Körpers un-
möglich zu machen, gleitet die Glocke genau ſenkrecht mittels Leit-
rollen, welche an ſenkrechten, im Umkreiſe ſtehenden, eiſernen Pfeilern
laufen. Iſt die Glocke ganz gefüllt, ſo hat ſie ihren höchſten Stand
erreicht und übt nun nach Abſchließung des Zuleitungsrohres einen
beſtimmten Druck auf das Gas aus, vermöge deſſen es bei geöffnetem
Ableitungsrohr mit mäßiger Geſchwindigkeit den Verbrauchsſtellen zu-
ſtrömt.


Bei ſehr großem Inhalte der Gaſometer — man baut ſolche bis
zu 50 000 Kubikmeter — müßte die Waſſertiefe derſelben eine ſehr be-
trächtliche ſein. Um dieſen Übelſtand zu umgehen, hat man Gaſometer
mit ſogenannten Teleſkopglocken gebaut, deren man ſich bei großen
[307]Gasförmige Leuchtſtoffe, Gasbeleuchtung.
Anlagen neuerdings ſtets bedient. Dieſe Glocken beſtehen aus zwei
oder drei Teilen; der oberſte Teil iſt wie eine gewöhnliche Glocke kon-
ſtruiert, ſein unterer Rand iſt aber nach außen um 20 — 30 cm
umgebogen. Hierdurch entſteht eine äußere kreisförmige Rinne am
unteren Rande. Der nächſtfolgende Glockenteil iſt ein beiderſeits offner
Cylinder, deſſen oberer Rand nach innen, deſſen unterer — falls noch
ein dritter Glockenteil ſich anſchließen ſoll — wieder nach außen umge-
bogen iſt. Bei leerem Gaſometer liegen die Glockenteile in einander
geſchachtelt in der Baſſinrinne. Beim Füllen hebt ſich zunächſt nur der
oberſte (innerſte) Teil. Iſt er faſt ganz aus dem Baſſin geſtiegen, ſo
greift nun die innere Randrinne des zweiten Teils in die äußere des
oberen, welche mit Waſſer gefüllt iſt. Hierdurch wird ein hermetiſcher
Waſſerverſchluß erzielt und die weiteren Teile folgen dem oberſten beim
Aufſteigen nach. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die Führungsrollen
entſprechend der nach unten zu ſteigenden Weite der Glockenteile ange-
bracht werden müſſen, um ein ſicheres Spiel des Ganzen zu garantieren.


Das aus dem Gaſometer austretende Gas hat häufig einen etwas
zu hohen Druck. Man läßt es daher gewöhnlich noch durch einen
Druckregulator gehen. Derſelbe beſteht im weſentlichen aus einer
leichten Eiſentrommel von der Form der Gaſometerglocke, welche in
einem cylindriſchen, mit Waſſer gefüllten Gefäß auf und ab ſteigt und
deſto tiefer heruntergedrückt wird, mit je ſchwereren Gewichten man ſie
belegt. Durch einen im Innern der Trommel befeſtigten Metallconus
wird die Ausſtrömungsöffnung des unter die Trommel geleiteten Gaſes
deſto mehr verkleinert, je mehr ſich die Trommel hebt. Das aufge-
legte Gewicht iſt ſorgfältig derartig reguliert, daß das ausſtrömende
Gas den vorgeſchriebenen Druck von 2,5—5 cm Waſſerſäule hat. Wird
nun der Druck vom Gaſometer her ſtärker, ſo wird die Trommel ge-
hoben, alſo die Ausſtrömungsöffnung verkleinert, ſo daß das Gas im
weſentlichen denſelben Druck behält. Ein richtig funktionierender Druck-
regulator muß daher eine fortwährende ganz geringe Schwankung ſeiner
Glocke erkennen laſſen.


Nicht nur die Steinkohle dient, wenn auch überwiegend, zur Leucht-
gasfabrikation; von anderen Subſtanzen, die in Betracht kommen, ſind
zu nennen: Holz, Harz, Petroleumrückſtände, Fett aller Art.


Holz liefert bei einer Temperatur von 800—900°C. ein Gas,
welches im weſentlichen aus Kohlenoxyd, Kohlenſäure und Grubengas
beſteht. Es giebt daher, nach Entfernung der Kohlenſäure durch den
Kalkreiniger, nur ſchwach leuchtende Flammen. Zur Erzielung hin-
reichender Leuchtkraft muß das entwickelte Gas hinreichend lange mit
den glühenden Wänden der Retorten, die aus dieſem Grunde viel
größer als die gewöhnlichen gewählt werden, in Berührung ſein. Da-
durch zerſetzen ſich die reichlich entweichenden Teerdämpfe; ihre gas-
förmigen, kohlenreichen Zerſetzungsprodukte mengen ſich dem Gaſe bei
und machen es leuchtkräftiger. Ammoniak und Schwefelwaſſerſtoff ent-
20*
[308]Beleuchtung.
hält das Holzgas gar nicht. Das Gaswaſſer enthält Methylalkohol und
Eſſigſäure, in den Retorten bleibt Holzkohle zurück. Die Darſtellung
des Holzgaſes iſt nur dann zu empfehlen, wenn man trockenes Holz
in Menge zu billigerem Preiſe als Steinkohlen haben kann. Noch
weniger praktiſch iſt die Fabrikation von Leuchtgas aus Torf, weil es
beſonders ſtark verunreinigt iſt, auch Schwefelwaſſerſtoff und Ammoniak
enthält.


In beſonders waldreichen Gegenden, z. B. in einzelnen Teilen
Amerikas, verwendet man auch Harze aller Art zur Gasfabrikation.
Dieſelben werden nicht direkt deſtilliert, vielmehr erſt bei gelinder Hitze
geſchmolzen. Das geſchmolzene Harz läßt man dann in die zum
Glühen erhitzte, mit Ziegelſtücken gefüllte Retorte fließen, wo es ſich
zerſetzt. Das Harzgas iſt etwa von der Güte des Steinkohlengaſes;
aus 100 kg Harz erhält man im Mittel 60 Kubikmeter Gas.


Die Rückſtände der Raffinierung des Petroleums bilden ein
beſonders vorzügliches Material für die Gasbereitung, denn man er-
hält aus ihnen ein Gas, welches das Steinkohlengas an Leuchtkraft
bedeutend übertrifft. Die Behandlung bei der Fabrikation iſt eine
überaus einfache, ſo daß ſelbſt kleinere Fabriken ſich mit großem Vor-
teil aus Petroleumrückſtänden, Paraffinöl und dergleichen ihr Leucht-
gas ſelbſt darſtellen können. Das Material wird durch Pumpen in
die kleine rotglühende Retorte gehoben, wo die Vergaſung ſehr ſchnell
und ohne Rückſtand erfolgt. Die Gaſe gehen durch einen einzigen
Condenſator und einen kleinen Skrubber, wobei ſie eine geringe Menge
Teer abſetzen; dann ſind ſie gebrauchsfertig.


Ähnlich wie aus Petroleumrückſtänden und mit denſelben Vorteilen
fabriziert man Leuchtgas aus Öl, Wollfett, Schieferöl, kurz aus Fetten
und Fettabfällen jeder Art. Alle dieſe Gaſe ſind zwar etwas teurer
als Steinkohlengas, aber bedeutend leuchtfähiger. Sie eignen ſich auch
wegen ihrer großen Leuchtkraft vorzüglich zur Verwendung in kompri-
miertem Zuſtande. So benutzt man z. B. das Ölgas, wie es Pintſch
in Berlin, auf 10 Atmoſphären komprimiert, in eiſernen Cylindern
liefert, zur Beleuchtung von Eiſenbahnwagen.


Im Gegenſatz zu den eben erwähnten Leuchtgasarten, welche ſich
von dem gewöhnlichen Steinkohlengas durch größere Leuchtkraft unter-
ſcheiden, ſteht eine in neuerer Zeit vielfach in Gebrauch gekommene
Art, welche unter dem Namen Waſſergas bekannt geworden iſt und
gewonnen wird, indem man Waſſerdampf über glühende Holzkohle
oder Koks leitet, welche in eiſernen oder thönernen Retorten lagern.
Hierbei wirkt die Kohle reduzierend auf den Waſſerdampf und man
erhält ein Gemiſch von Waſſerſtoff, Kohlenoxyd und Kohlenſäure,
welches durch Kalkreiniger von der Kohlenſäure befreit wird. In
dieſem Zuſtand iſt es ſehr brennbar und entwickelt beträchtliche Hitze,
leuchtet aber faſt gar nicht. Soll es trotzdem zu Leuchtzwecken ge-
braucht werden, ſo muß es entweder in beſonderen Brennern gebrannt
[309]Gasförmige Leuchtſtoffe, Gasbeleuchtung.
werden, oder man teilt ihm durch eine beſondere Behandlung einen
höheren Kohlegehalt mit. Das erſtgenannte Verfahren wird ſpäter bei
Beſprechung der Brenner erwähnt werden. Das letztere wird nicht nur
für das Waſſergas angewendet, ſondern für alle anderen Gaſe von
geringer Leuchtkraft und iſt unter dem Namen Carboniſation oder
Carburation bekannt.


Die Carburation wird in der Regel vorgenommen, indem man
das Gas durch Gefäße leitet, welche kohlereiche Mineralöle oder
erwärmte kohlereiche feſte Kohlenwaſſerſtoffe enthalten. Im erſten Falle
benutzt man gewöhnlich die flüchtigen Petroleumöle, im zweiten Naph-
thalin und andere ähnliche Verbindungen. Das Gas wird hierdurch
bedeutend leuchtkräftiger, indem es die flüchtigen Kohlenwaſſerſtoffe mit
ſich reißt. Bei ſchlechten Leuchtgasſorten kann man die Leuchtkraft bis
auf das dreifache erhöhen. Ja, man iſt ſoweit gegangen, ſchlechtweg
Luft auf die angegebene Weiſe zu karburieren; das ſo bereitete Luft-
gas iſt zur Verwendung leuchtkräftig genug.


Einer beſonderen Art der Carburation unterwirft man das nicht
leuchtende Waſſergas nach dem von White erfundenen Hydrokarbon-
prozeß. Man leitet das rohe, noch nicht von ſeiner Kohlenſäure be-
freite Waſſergas, mit wenig Waſſerdampf gemiſcht, über glühende
Kännelkohle, wodurch es ſich einmal ſchnell mit ſtark leuchtenden Kohlen-
waſſerſtoffen ſättigt; ſodann aber verwandelt ſich die in ihm enthaltene
Kohlenſäure in Berührung mit der glühenden Kohle in Kohlenoxyd,
ſo daß eine weitere Reinigung unnötig wird. Der Waſſerdampf wird
in derſelben Weiſe, wie beim Bildungsprozeß des Waſſergaſes, zerlegt
und es bildet ſich noch mehr Waſſerſtoff, der die Brennbarkeit des
Gaſes noch erhöht. Das gewonnene, ſehr leuchtkräftige Gas iſt unter
dem Namen Hydrokarbongas in der Technik bekannt geworden.


Es muß erwähnt werden, daß das Waſſergas, gleichgültig, in
welcher Art es nach ſeiner Darſtellung noch behandelt wird, durch
ſeinen Gehalt an Kohlenoxydgas ſehr giftig iſt, ſo daß das Aus-
ſtrömen desſelben noch gefährlichere Wirkungen nach ſich zieht, als das
des gewöhnlichen Leuchtgaſes, welches durch ſeinen Äthylengehalt
giftig wirkt.


Das Gas, welches von einer großen Fabrikanlage den ver-
ſchiedenſten Verbrauchſtellen zugeführt wird, muß an dieſen im einzelnen
in genau derſelben Weiſe gemeſſen werden, wie dies in der Fabrik im
großen geſchah. Zu dieſem Zwecke dient die von mehreren engliſchen
Mechanikern erfundene Gasuhr (Fig. 196 u. 197), auch wohl Gasmeſſer
oder Gaszähler genannt.


Der Apparat beſteht aus ſtarkem Weißblech und enthält als Haupt-
teil den liegenden Cylinder W, welcher etwas über die Hälfte
mit Waſſer gefüllt iſt. In ihm bewegt ſich leicht um eine horizontale
Achſe die Trommel der Gasuhr. Dieſelbe ſchließt an beiden Enden mit
ſchwach gewölbten Kopfſtücken ab (o in Fig. 197) und trägt zwiſchen
[310]Beleuchtung.
dieſen vier eigentümlich gebogene Blechwände, welche die ganze Trommel
in vier gleiche Kammern teilen, derart, daß jede von dieſen einerſeits
mit dem zwiſchen der äußeren Trommelwand und dem Gehäuſe liegen-
dem Raum, andererſeits mit dem inneren, cylindriſchen, um die Achſe
liegenden Raum kommuniziert. Die vier äußeren ſchlitzartigen Öffnungen
der Kammern, welche die erſtgenannte
Verbindung vermitteln, ſind ſo ange-
ordnet, daß ſie nie zugleich mit den den-

Figure 188. Fig. 196.

Gasuhr (Durchſchnitt)


Figure 189. Fig. 197.

Gasuhr (Seitenanſicht).


ſelben Kammern angehörigen inneren Öffnungen ſich außerhalb des
Waſſers befinden können; iſt z. B. die innere Öffnung einer beſtimmten
Kammer frei, ſo liegt die äußere derſelben Kammer unter Waſſer und
umgekehrt. Das Gas ſtrömt durch ein horizontales, die hintere Ge-
häuſewand hermetiſch durchbohrendes, in der Richtung der Achſe
liegendes Rohr, welches, unterhalb des Waſſerſpiegels durch ein zen-
trales Loch der hinteren Trommelkopfwand loſe hindurchgehend, in den
kleinen inneren Raum der Trommel eintritt und kurz und knieförmig
nach oben umgebogen iſt, ſo daß ſeine obere Öffnung über Waſſer
liegt. In der äußeren Biegung dieſes Knierohrs (i in Fig. 196), be-
findet ſich das eine Achſenlager der Trommel, während das andere in
der gegenüberliegenden, vorderen Wand des Gehäuſes liegt.


Tritt nun das Gas ein, ſo bringt es durch ſeinen Druck auf die
Flügelwände der Trommel dieſe zur Drehung in einer dem Zeiger der
Uhr entgegengeſetzten Richtung. So wie eine äußere Öffnung frei wird,
entweicht das Gas durch das Ausſtrömungsrohr y und die nächſte
Kammer füllt ſich, um ſich gleich darauf ebenfalls zu entleeren. Hat
ſich die Trommel einmal um ihre Achſe gedreht, ſo iſt offenbar ſoviel
Gas, wie die vier Kammern zuſammen faſſen, durch die Uhr paſſiert.
[311]Gasförmige Leuchtſtoffe, Gasbeleuchtung.
Um die Umdrehungen und damit die Anzahl Liter Gas, die hindurch-
gegangen ſind, zählen zu können, trägt die in den vorderen, ebenfalls
mit Waſſer gefüllten, rechteckigen Vorſprung E (Fig. 197) des Gehäuſes
hineinragende Trommelachſe eine Schraube ohne Ende, die in ein mit
einem Zählwerk verbundenes Zahnrad eingreift. Dieſes Zählwerk hat
4 Zifferblätter, welche die Einer, Zehner, Hunderter und Tauſender in
Litern der verbrauchten Gasmenge anzeigen.


Die Gasmenge, welche eine Gasuhr anzeigt, hängt, abgeſehen von
dem Drucke des Gaſes, weſentlich von der Temperatur und dem Waſſer-
ſtande in der Uhr ab. Um wenigſtens den letzteren zu regulieren, hat
man den vorderen Raum der Gasuhr mit einer ſchwimmenden Hohl-
kugel verſehen, durch deren Bewegung ſowohl bei gar zu niedrigem,
als auch bei zu hohem Waſſerſtande das Ausſtrömungsrohr ſich auto-
matiſch ſchließt.


Um das Gefrieren des Waſſers in der Gasuhr während des
Winters zu vermeiden, pflegt man ſie in einem vor Kälte geſchützten
Raum aufzuſtellen. Benutzt man aber hierzu ein geheiztes Zimmer, ſo
iſt dies für den Conſumenten ein Nachteil, weil bei je 3° Temperatur-
erhöhung etwa 1 % Gas, infolge der Ausdehnung, zu viel gemeſſen
wird. Es empfiehlt ſich daher, die Gasuhr ſtets in ungeheizten Räumen
anzubringen, dagegen zur Vermeidung des Einfrierens dem Waſſer etwas
Glycerin zuzuſetzen. —


Wenn man Leuchtgas einfach aus einer engen runden Öffnung
herausbrennen ließe, ſo würde man eine ſpitze, lange, infolge des
mangelhaften Luftzutrittes blakende und trübe Flamme erhalten. Man
hat daher von jeher die Brenner beſonders hergerichtet, um beſtimmte
Flammenformen von intenſiver Leuchtkraft zu gewinnen.


Recht gut in ſeiner Wirkung iſt der einfache und viel gebrauchte
Fledermaus- oder Schnittbrenner. Bei dieſem brennt das Gas aus
einem feinen ſenkrechten Schlitz. Man erhält ſo eine breite, fächer-
förmige, ſehr flache Flamme, welche der Luft reichlichen Zutritt ge-
ſtattet und daher gut leuchtet. Ähnlich dieſer Flamme, iſt diejenige,
welche der Hohlkopfbrenner liefert; ſie iſt faſt kreisrund und von noch
größerer Lichtſtärke.


Statt aus einem Schlitz läßt man das Gas auch aus zwei wind-
ſchief gegen einander geneigten, einen ſtumpfen Winkel bildenden
Löchern brennen. So erhält man den Fiſchſchwanz- oder Zweiloch-
brenner. Die Ebene der flachen ſtark leuchtenden Flamme ſteht ſenkrecht
auf derjenigen der Löcher.


Um das Argandſche Prinzip des doppelten Luftzuges auf Leucht-
gas anzuwenden, läßt man dieſes in einen hohlen horizontalen Metall-
ring eintreten, welcher an ſeiner oberen Seite einen Kreis von zahlreichen
Löchern trägt; die einzelnen dünnen Flammenſtrahlen vereinigen ſich
zu einer einzigen röhrenförmigen Flamme, welche, um ihre volle Leucht-
kraft zu entfalten, des Cylinders — in dieſem Falle eines geraden,
[312]Beleuchtung.
glatten — nicht entbehren kann. Bei einer anderen Konſtruktion, der
von Dumas, ſind die feinen Löcher durch einen engen kreisförmigen
Schlitz erſetzt. Die Argandgasbrenner leuchten ſehr gut, brauchen
aber ſehr viel Gas und entwickeln beim Brennen eine übermäßig hohe
Wärme.


Was den Conſum der genannten einfachen Brenner betrifft, ſo be-
trägt derſelbe bei dem Fledermausbrenner pro Stunde 0,14—0,17, bei
dem Fiſchſchwanzbrenner 0,11—0,14, bei dem Argandbrenner, je nach
der Anzahl der Brennlöcher, 0,13—0,25 Kubikmeter in der Stunde. —


Die in der Einleitung zu dieſem Kapitel erwähnte Thatſache, daß
die Leuchtkraft einer Flamme von drei Faktoren abhängt, nämlich von
dem Kohlegehalt des Leuchtſtoffes, von der Luftzuführung und endlich
von der Temperatur der Flamme, haben wir bisher nur in den beiden
erſten Richtungen ausgenutzt geſehen. In der neueſten Zeit aber iſt
man, beſonders durch die anerkanunt große Wirkſamkeit der von
Siemens erfundenen und vervollkommneten, oben ſchon beſchriebenen
Generatorfeuerung darauf aufmerkſam geworden, daß gerade eine Tem-
peraturerhöhung des verbrennenden Leuchtgaſes und der zuſtrömenden
Luft vor der Verbrennung von außerordentlich günſtigem Einfluß auf
die Leuchtkraft der Flamme iſt. Das praktiſche Reſultat dieſer Betrach-
tungen ſind die neuerdings mit großem Erfolge angewandten Brillant-
gaslampen oder Regenerativgasbrenner.


Es exiſtieren von dieſen, bei verhältnismäßig geringem Gasverbrauch
ſehr intenſiv leuchtenden Apparaten mehrere Arten, die nicht im Prinzip,
ja nicht einmal in der Anordnung, ſondern nur in Bezug auf weniger
weſentliche Äußerlichkeiten von einander abweichen. Es wird daher
genügen, eine dieſer Lampen, den Siemensſchen Automatbrenner, genauer
zu betrachten. Bei demſelben ſteigert ſich durch Vorwärmung von
Gas und Luft die Leuchtkraft — ohne Zunahme des Gasverbrauchs —
auf das Dreifache des ſonſtigen Effekts.


Die Gaskammer des Siemensſchen Brenners, welche ihre Zulei-
tung von oben her empfängt, hat die Geſtalt einer flach gewölbten
Hohlkugelzone oder eines ſehr niedrigen und breiten Hohlcylinders,
deſſen innerer Kreis etwas höher ſteht als der äußere. Der innere
Kreisumfang iſt von zahlreichen feinen Löchern durchbohrt, aus denen
das Gas herausbrennt. Die Flamme hat alſo die Richtung nach der
Mitte und nach oben. Dicht über der Gaskammer befindet ſich eine
ganz wie dieſe geſtaltete, aber größere und daher die Gaskammer an
den Seiten etwas überragende, im mittleren Ring etwas engere Por-
zellankammer, welche durch eine in ihr liegende, mit ihrer oberen und
unteren Fläche parallele Scheidewand von Kugelkalottengeſtalt in einen
oberen und unteren Teil zerfällt; dieſe Teile kommunizieren nur am
äußeren Rande der Kammer. Die Flamme und die Verbrennungsgaſe
ſchlagen alſo durch die mittlere, kegelförmig geſtaltete untere Öffnung
der Porzellankammer nach innen, durchlaufen den unteren Teil der
[313]Beleuchtung durch Erhitzen von feſten Körpern zum Glühen
Kammer von innen nach außen, dann den oberen in der entgegen-
geſetzten Richtung und ſtrömen endlich in einen ſenkrechten cylindriſchen
Schornſtein, in welchen der obere Teil der Kammer ausläuft und
welcher der ganzen Lampe den nötigen ſtarken Luftzug ſichert. Bei
dieſem Umwege, welchen die Verbrennungsgaſe nehmen, erhitzen ſie die
Porzellankammer ſehr ſtark, ſo daß dieſe beſonders nach unten eine be-
deutende Hitze ausſtrahlt. Hierdurch wird ſowohl das zugeleitete
Leuchtgas, wie auch die zwiſchen der Gaskammer und der Porzellan-
kammer zuſtrömende Luft vor der Verbrennung ſtark erwärmt. Die
Siemensſche Lampe giebt daher nicht nur ein ſehr intenſives, ſondern
auch ein außerordentlich weißes Licht; die in der Flamme ausgeſchiedene
Kohle wird eben, infolge der ſehr hohen Flammentemperatur, bis zur
ſtärkſten Weißglut erhitzt. Durch den glänzend weißen Porzellankörper
der Lampe wird ihr Licht direkt nach unten geworfen und ſo auf das
günſtigſte verwertet.


Ahnlich wie der Automatbrenner ſind die Butzkeſche Lampe und
die weitverbreitete Wenhamſche Lampe konſtruiert; während die erſtere,
wie der Automatbrenner, eine nach innen ſchlagende Flamme hat, hat
die letztere die umgekehrte Flammenrichtung, d. h. nach außen. Hierbei
ſcheint die Wärmewirkung ſich noch zu ſteigern, da notoriſch die Wenham-
lampe bei gleicher Lichtentwicklung weniger Gas verbraucht, als die
anderer Konſtruktionen.


Die Brillantgaslampen kann man ſo recht als ein Produkt ihrer
Zeit anſehen. Schwerlich würde ſich die um die Mitte unſeres Jahr-
hundert etwas in Stillſtand geratene Leuchtgastechnik zu ſo ſchönen
Leiſtungen aufgeſchwungen haben, wenn nicht der ihr aufgezwungene
Concurrenzkampf mit der elektriſchen Beleuchtung ſie zur äußerſten Kraft-
entfaltung angeſpornt hätte.


4. Beleuchtung durch Erhitzen von beſonderen feſten Körpern
zum Glühen.

Die bisher beſchriebenen Beleuchtungsmethoden benutzen ohne Aus-
nahme den in der Flamme glühend gemachten Kohlenſtoff. Wir haben
nun noch eine Reihe von Beleuchtungseinrichtungen zu berückſichtigen,
bei denen andere Körper die Rolle des glühenden Kohlenſtoffs über-
nehmen. Es können dies entweder wiederum fein zerteilte oder auch
kompakte feſte Subſtanzen ſein. Im erſteren Falle hat man wieder zu
unterſcheiden, ob der fein zerteilte Körper ſich erſt infolge der Verbren-
nung ausſcheidet und daher gewiſſermaßen — analog dem Kohlenſtoff
— nur momentan glüht oder ob er in die Flamme gebracht und durch
dieſe zum kontinuierlichen Leuchten angeregt wird. Es ergeben ſich
demnach drei Fälle. Dem erſteren entſpricht das Magneſiumlicht, dem
zweiten der ſogenannte Incandeszenzbrenner oder das Gasglühlicht,
dem dritten endlich das Drummondlicht oder Hydrooxygengaslicht; zwiſchen
[314]Beleuchtung.
den beiden letzten Fällen iſt der Unterſchied natürlich nicht ſo generell
und durchgreifend wie zwiſchen dieſen und dem erſten.


Daß das Magneſium beim Erhitzen zum Glühen mit glänzend-
weißem, außerordentlich hellem Lichte verbrennt, iſt ſeit ſeiner Darſtellung

Figure 190. Fig. 198.

Magneſiumlampe.


bekannt. Das Metall verbrennt zu
Magneſiumoxyd oder Magneſia, welche
ſich als weißer Rauch abſcheidet und
durch deren Glühen in der Flamme
offenbar das Licht entſteht. Man be-
nutzt das Magneſium zur Erzeugung
des Magneſiumlichtes entweder in Form
ſchmaler dünner Bänder oder von
Pulver. Die erſtere Form kann, zur
Erzielung längerer Brennzeit, in Lampen
geſchehen, die man zu dieſem Zwecke
konſtruiert hat (Fig. 198). Sie beſtehen
im weſentlichen aus einem Hohlſpiegel,
in deſſen Mitte ſich eine Öffnung
befindet, durch dieſe wird das Band
mittels eines Uhrwerkes oder mit der
hindurchgetrieben, ſo daß ſich das
brennende Ende immer im Brennpunkt
des Spiegels befindet.


Man hat außerdem das Magne-
ſiumlicht, welches außerordentlich viele
chemiſch wirkſame Strahlen enthält, zu Beleuchtungszwecken in der
Photographie (ſiehe dieſe) verwendet. In dieſem Falle gebraucht man
es in Pulverform, entweder für ſich allein oder mit anderen Subſtanzen
(Sauerſtoffträgern) vermiſcht. —


Die Gasglühlichter ſind aus dem Beſtreben hervorgegangen, das
billige und leicht herſtellbare, zu Beleuchtungszwecken aber an ſich
nicht taugliche Waſſergas zur Erzielung leuchtender Flammen zu ver-
wenden.


Die einfachſte Methode iſt die, ein Netzwerk von feinem Platin-
draht in die Flamme des Waſſergaſes zu bringen; dasſelbe wird
weißglühend und leuchtet ſtark (Platingas). Statt des Platins brachte
Fahnejhelm feine Kämme aus gebrannter Magneſia an, die außer-
ordentlich hart und daher ſehr dauerhaft ſind.


Mehr verbreitet als dieſe beiden Brenner iſt der von Auer er-
fundene. Dieſer bringt in die nicht leuchtende, aber heiße Flamme von
Waſſergas oder von mit Luft gemiſchtem Leuchtgas (d. h. in eine
Bunſenbrennerflamme) ein ſehr feines und engmaſchiges Netz von
Fäden, welche aus den Oxyden der Cergruppe, d. h. des Ceriums,
Lanthans und Didyms, beſtehen. Der Erfinder ſtellt ſich ſein Netz
durch Verbrennung und Ausglühen eines mit den ſalpeterſauren Salzen
[315]Beleuchtung durch Erhitzen von feſten Körpern zum Glühen.
der genannten Metalle getränkten Baumwolldochtes her; es wird in
der Flamme weißglühend und ſtrahlt ein Licht aus, deſſen Farbe der
des elektriſchen Bogenlichtes ähnelt. Der Auerſche Brenner iſt vor-
teilhaft durch den geringen Gasverbrauch; ein großer Übelſtand iſt
dagegen die Zerbrechlichkeit des Glühkörpers und deſſen Empfindlichkeit
gegen Staub. Auch muß der Gasdruck beim Gebrauch des Brenners
etwas ſtärker als der gewöhnliche ſein, wenn das Licht nicht zu trübe
und grünlich erſcheinen ſoll. — Clamond hat neuerdings den Glüh-
körper der Auerſchen Lampe durch Magneſia erſetzt, welche in ganz
analoger Weiſe im feinſt zerteilten Zuſtande erhalten wird.


Bei den Drummondſchen oder Hydrooxygengaslicht wird die Flamme
von mit Sauerſtoff angeblaſenem Leuchtgas oder (ſeltener) Waſſerſtoff
auf ein kompaktes Stück gebrannten Kalkes oder Magneſia geleitet. Durch
die gewaltige Hitze der Flamme, welche, wie oben bemerkt, an der
Grenze der auf künſtlichem Wege erzielbaren Wärme ſteht, wird der
Glühkörper weißglühend und ſtrahlt ein Licht aus, welches man zur
Erzeugung von Projektionsbildern, ſowie von Signalen auf Leuchttürmen
und im Kriege verwendete, bis es neuerdings durch das viel be-
quemer zu erzeugende elektriſche Bogenlicht zum größten Teil verdrängt
wurde. Intenſität und Farbe des Hydrooxygenlichtes ſind tadellos;
aber die Kalkſtifte ſind keineswegs ſehr haltbar und machen daher das
Licht nicht ſelten unbeſtändig. Neuerdings hat man den Kalkſtift durch
die weit konſtantere gebrannte Zirkonerde erſetzt und damit in der
Zirkonlampe einen Apparat geſchaffen, der recht gut für das Bogen-
licht dort eintreten kann, wo die Umſtände die Aufſtellung einer elek-
triſchen Anlage verhindern.


Zur Berechnung der Vorteile, reſp. Nachteile einer Beleuchtungs-
anlage bedarf man einer genauen Schätzung der Lichtſtärke der zu
verwendenden Flammen in Vergleich mit anderen. Dieſe Schätzung
iſt Sache der Photometrie.


Alle Photometer ſind natürlich nur Apparate, welche die Ver-
gleichung von Lichteffekten geſtatten, da wir ein abſolutes Maß für
Lichtſtärken nicht kennen. Wir finden daher in allen die zu unter-
ſuchende Flamme neben einer Normalflamme; beide werden in ver-
ſchiedene Entfernung von einer beobachteten Probefläche gebracht, bis
ihr Effekt dem Auge gleich erſcheint. Dann verhalten ſich die Licht-
ſtärken beider Flammen zu einander, wie die Quadrate ihrer Ent-
fernungen von der Probefläche.


Als Probefläche benutzte Rumford eine weiße ſenkrechte Tafel, vor
welcher in einiger Entfernung ein ſenkrechter Stab angebracht war.
Die zu vergleichenden Kerzen ſtanden ſo, daß jede von ihnen ein
Schattenbild des Stabes auf die Tafel entwarf; man verändert ihre
Stellung ſo lange, bis die Schatten gleich dunkel erſcheinen.


Bei dem Photometer von Ritchie werden die Kathetenflächen eines
gleichſchenklig rechtwinkligen, mit weißem Papier beklebten Prismas in
[316]Beleuchtung.
der Richtung der Hypotenuſenfläche von zwei verſchiedenen Seiten
her beleuchtet und vom rechten Winkel her betrachtet. Man ändert die
Entfernung der Lichtquellen ſo lange, bis beide Flächen gleich hell
erſcheinen.


Genauer als dieſe Photometer und daher in der Technik, beſonders
für Leuchtgas meiſtenteils im Gebrauche iſt das Photometer von Bunſen.
Es exiſtieren unter dieſem Namen mehrere Apparate, die im Prinzipe
übereinſtimmen und ſich nur durch wenige weſentliche Abänderungen
unterſcheiden. Eine der gebräuchlichſten Formen, von Deſaga kon-
ſtruiert zeigt, Fig. 199. Auf der „optiſchen Bank“ gg, einer in Milli-

Figure 191. Fig. 199.

Photometer von Bunſen.


meter geteilten Eiſenſchiene iſt eine horizontale cylindriſche, um ihre
ſenkrechte Mittelachſe drehbare Metallbüchſe ac verſchiebbar. An den
beiden Enden der Bank ſtehen einerſeits die Normalflamme e, anderer-
ſeits die zu meſſende Lichtquelle h, deren ſtündlicher Gasverbrauch durch
die Gasuhr b angegeben wird. Die eine Endfläche der Metallbüchſe
iſt verſchloſſen, die andere a trägt in einem ringförmigen Halter eine
Scheibe Seidenpapier, in deren Mitte ſich ein Fettfleck befindet. In
der Büchſe brennt eine kleine Gasflamme, welche durch den in der
Figur ſichtbaren Schlauch f geſpeiſt wird. Man dreht zunächſt die Büchſe
ſo, daß die transparente Endfläche mit dem Diaphragma der Normal-
flamme zugekehrt iſt, nähert die Büchſe der Normalflamme bis auf
20 cm und verkleinert das Gasflämmchen durch Zudrehen des Hahnes
ſo lange, bis der Fettfleck, welcher vorher, weil er von innen ſtärker
beleuchtet war, hell auf dunklerem Grunde erſchien, gerade dieſelbe
Helligkeit zeigt, wie das ungefettete Papier, d. h. bis ſein Umriß eben
zu verſchwinden beginnt. Dies wird natürlich ſtattfinden wenn das
Diaphragma von innen und von außen gleich ſtark beleuchtet iſt. Nun
dreht man zunächſt die Büchſe um 180°, ſo daß das Diaphragma
nun der zu meſſenden Lichtquelle zugekehrt iſt und verſchiebt die Büchſe
ſo lange auf der Bank, bis der Fettfleck eben wieder verſchwindet. Iſt
[317]Beleuchtung durch Erhitzen von feſten Körpern zum Glühen.
dann z. B. die Entfernung der Lichtquelle von der Büchſe 60 cm, ſo
iſt ihre Lichtſtärke, die Normalflamme gleich 1 geſetzt, 602:202=9. Als
Normalflamme, welche vor allem ſehr konſtant brennen muß, benutzt
man häufig die Flamme, welche das Amylacetat giebt. Dies Ver-
fahren iſt ſehr einfach, zuverläſſig und genau genug, wenn man die
Unterſuchung in einem verfinſterten Zimmer mit geſchwärzten Wänden
anſtellt.


Die Erfahrung, daß das Auge den Unterſchied der Beleuchtung
zweier dicht nebeneinander liegenden Flächen ſehr genau erkennt, hat
die Veranlaſſung gegeben, daß das Bunſenſche Photometer, ſtatt mit
der Deſagaſchen Metallbüchſe, mit zwei Diaphragmen verſehen wird,
zwiſchen denen zwei unter 45° geneigte, alſo mit einander einen
rechten Winkel bildende Spiegel befeſtigt ſind. Man erblickt dann
beide Diaphragmen neben einander und verſchiebt eine der Lichtquellen,
bis Gleichheit eintritt. Derartige, dem Ritchieſchen Photometer in
der Konſtruktion ähnelnde Apparate findet man z. B. in mehreren
Berliner Anſtalten.


Hat man auf photometriſchem Wege die Lichtſtärke einer leuchtenden
Flamme für eine beſtimmte Einheit beſtimmt, ſo ermittelt man den Ver-
brauch an Leuchtmaterial der Flamme für eine beſtimmte Zeit und er-
hält dann in dem Quotienten aus Lichtſtärke und Leuchtſtoffverbrauch
die Leuchtkraft. Bezieht man die Leuchtkraft verſchiedener Lichtquellen
auf gleiche Koſten, ſo erhält man den Leuchtwert. Um die erwähnten
Beziehungen an einem konkreten Beiſpiel klar zu machen, möge eine
von Marx aufgeſtellte Tabelle hier folgen, welche die Elemente der
Beleuchtung für einige wichtige und häufig gebrauchte Lichtquellen
enthält.


Der Leuchtwert iſt in dieſer Tabelle fortgelaſſen, da er nach
obigem einfach der umgekehrte Wert der Koſten des Lichtes pro
Stunde iſt.


[318]Heizung.

b) Die Heizung.


Nach den Ausführungen der theoretiſchen Einleitung dieſes Kapitels
hängt die Wärmeentwicklung der Flamme, auf welche es bei der
Heizung allein ankommt, im weſentlichen von zwei Faktoren ab: zunächſt
von der Natur des Heizmaterials und dann von der Energie der
Verbrennung, welche ihrerſeits beſonders von der Art des Luftzutrittes
beeinflußt wird. Da die letztere der Konſtruktion der Öfen entſpricht,
welche allerdings nicht nur die Verbrennung ſelbſt, ſondern auch die
Abgabe der produzierten Wärme an die Umgebung regulieren ſollen,
ſo würden wir zunächſt die Heizmaterialien nach ihrer Natur und
Anwendung und dann die Heizungsanlagen nach den Vorteilen und
Nachteilen, welche ſie bieten, zu betrachten haben.


1. Die Heizmaterialien.

Von Brennmaterialien ſind zu nennen: Holz, Torf, Braunkohle,
Steinkohle, Anthracit, Holzkohle, Torfkohle, verkohlte Braunkohle, Koks,
Petroleum, brennbare Gaſe.


Die Heizmaterialien beſtehen, abgeſehen von geringen Mengen
anorganiſcher Stoffe (Aſchengehalt) aus Kohle, Waſſerſtoff und Sauer-
ſtoff. Die Steinkohle enthält häufig außerdem etwas Schwefel und
Stickſtoff. Kohle und Waſſerſtoff ſind diejenigen Beſtandteile, welche
den Wert des Brennmaterials beſtimmen. Der Sauerſtoff dagegen
macht dadurch, daß er ſich mit einem großen Teile des Waſſerſtoffs zu
Waſſer verbindet, welches verdampft werden muß und daher viel Wärme
abſorbiert, einen Teil der Heizkraft unwirkſam. Aus einem ähnlichen
Grunde wirkt ſehr ſchädigend ein Gehalt an hygroſkopiſchem Waſſer,
welches bei der Verbrennung ebenfalls verdampft und daher einen
großen Teil der produzierten Wärme hierfür beanſprucht; zur Erzielung
möglichſt hoher Hitzegrade iſt daher die Anwendung von ganz trockenem
Brennmaterial eine Notwendigkeit, der eventuell durch vorheriges
Trocknen oder Darren des Materials entſprochen werden muß.


Für die ſpeziellen Fälle des Gebrauchs der Heizmaterialien hat
man im weſentlichen drei Faktoren zu berückſichtigen: die Brennbarkeit,
die Flammbarkeit und den Wärmeeffekt.


Unter der Brennbarkeit verſteht man die größere oder geringere
Entzündlichkeit des Materials. Sie iſt hauptſächlich abhängig von
dem Waſſerſtoffgehalt, aber auch von den phyſikaliſchen Eigenſchaften,
beſonders von der Poroſität. Aus dieſem Grunde iſt weiches und harz-
haltiges Holz brennbarer als ſchweres, Holzkohle brennbarer als Koks.


Die Flammbarkeit iſt die Eigenſchaft eines Brennmaterials, mit
bemerkenswerter Flammenentwicklung zu brennen. Sie hängt — nach
den in der Einleitung auseinandergeſetzten Verhältniſſen — von der
[319]Heizmaterialien.
Entwicklung brennbarer Gaſe und Dämpfe während der Verbrennung
ab. Daher iſt wiederum die Flammbarkeit von dem Gehalte an
freiem Waſſerſtoff abhängig, weil dieſer mit der Kohle die brennbaren
Kohlenwaſſerſtoffe liefert.


Gut brennbare Heizmaterialien braucht man vor allem bei weniger
vollkommenen, den Luftzutritt wenig befördernden Heizvorrichtungen,
weil es in dieſem Falle darauf ankommt, die Entzündungstemperatur
ſchnell zu erreichen. Dieſer Fall gilt für die eigentliche Heizung. Gut
flammbare wird man hingegen anwenden, wenn die Zugvorrichtungen
gute ſind, ſo daß man große Flächen mit Erfolg von der Flamme be-
ſtreichen laſſen kann; dies iſt bei Keſſelheizungen und vielen metallurgiſchen
Arbeiten der Fall.


Der abſolute Wärmeeffekt wird durch möglichſt vollkommene Ver-
brennung, ſowie durch möglichſte Vermeidung von Wärmeverluſten
erreicht. Zu letzteren gehört z. B. die Verdampfung von vorhandenem
hygroſkopiſchem Waſſer. Die Vollkommenheit der Verbrennung hängt
bekanntlich von der Sauerſtoff- reſp. Luftzufuhr ab. Um theoretiſch
die nötige Luftmenge zu berechnen, hat man zu berückſichtigen, daß 1 g
Kohle zur Verbrennung 2⅔ g Sauerſtoff oder, da die Luft nur etwa zum
fünften Teil aus Sauerſtoff beſteht, ca. 11½ g Luft bedarf, was für
1 kg Kohle ca. 8,7 Kubikmeter Luft ergiebt. Für das gleiche Gewicht
Waſſerſtoff ergeben ſich durch eine ähnliche Rechnung 26,1 Kubikmeter
Luft. Hiernach findet man, daß theoretiſch 1 kg trocknes Holz 6,5,
Torf 7,4, Braunkohle 7,4, Steinkohle 9,0, Anthracit 9,6, Holzkohle 9,1,
Koks 9,0 Kubikmeter Luft zur Verbrennung brauchen müßten. Es
iſt aber eine Erfahrung, daß Kohle und Kohlenwaſſerſtoffe zur voll-
kommenen Verbrennung mehr als die berechneten Mengen, nämlich
bis gegen das doppelte an Luft verbrauchen; nur in Gegenwart von
überſchüſſigem Sauerſtoff erfolgt eine vollkommene Verbrennung. Es
zeigt ſich dies beſonders auffallend im Vergleich mit reinem Waſſerſtoff.
Dieſer explodiert, mit der berechneten Menge Sauerſtoff gemiſcht,
vollkommen, während alle Kohlenwaſſerſtoffe mit derſelben entweder gar
nicht oder nur höchſt unvollkommen explodieren; erſt ein ſehr großer
Überſchuß von Sauerſtoff bewirkt vollkommene Exploſion.


Leider iſt der notwendige Luftüberſchuß keineswegs förderlich
für den Wärmeeffekt, weil er viele Wärme entführt. Daher kann
es kommen, daß zuweilen eine unvollkommene Verbrennung eine
höhere Temperatur erzielt, als eine vollkommene; eine Thatſache,
von welcher man bei manchen metallurgiſchen Operationen Gebrauch
macht.


Man unterſcheidet den abſoluten und den pyrometriſchen Wärme-
effekt oder Brennkraft und Heizkraft. Die erſtere wird gemeſſen durch
die Wärme, welche 1 kg des Heizſtoffes überhaupt produziert, die
letztere durch die Temperatur, welche dieſelbe Menge, ausgehend von
einer Anfangstemperatur von 0°, erreicht. Die Brennkraft mißt man
[320]Heizung.
in Wärmeeinheiten oder Kalorien (vergl. S. 58). Die folgende Tabelle
giebt eine Überſicht über die von den wichtigſten Brennmaterialien
produzierten Wärmen, d. h. ihren abſoluten Wärmeeffekt.


Der abſolute Wärmeeffekt eines Heizmaterials wird entweder durch
das Kalorimeter oder aus der Verdampfungskraft beſtimmt.


Im erſteren Falle läßt man die bei der (womöglich mit reinem
Sauerſtoff erfolgenden) Verbrennung entwickelte Wärme auf eine
beſtimmte Waſſermenge von beſtimmter Temperatur einwirken und
mißt die Temperaturſteigerung. Findet man daher z. B., daß 100 g
reinſte Kohle 30 Liter Waſſer von 20° C. auf 26,937° C. erwärmen,
ſo ergiebt ſich der Wärmeeffekt

Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die vollkommene Verbrennung
eines Materials, z. B. der Kohle, theoretiſch mehr Wärme produziert,
als die unvollkommene und daß die Summe der letzteren und der
durch etwaige weitere Verbrennung des unvollkommenen Verbrennungs-
produkts erzeugten Wärme der durch die vollkommene Verbrennung des
anfänglichen Materials erzeugten gleich ſein muß. So giebt z. B.
1 kg unvollkommen verbrannte Kohle nach der Tabelle 2474 Kalorien,
1 kg des entſtandenen Kohlenoxyds 2403 Kalorien. Nun entſtehen
aber bei der unvollkommenen Verbrennung der Kohle aus chemiſchen
Gründen aus 12 kg Kohle 28 kg Kohlenoxyd, ſo daß das aus 1 kg
Kohle erzeugte Kohlenoxyd
produziert. Dieſe geben in der That, zu 2474 addiert, 8081, alſo
genau die Wärme, welche, nach der Tabelle, 1 kg Kohle bei voll-
kommener Verbrennung liefert.


Dadurch, daß man die von einer größeren bekannten Menge eines
Brennmaterials produzierte Hitze auf Waſſer in gut konſtruierten
Dampfkeſſeln einwirken läßt, kann man annähernd genau beſtimmen,
wieviel Dampf von beſtimmter Temperatur, z. B. von 100°C., durch
die Verbrennung von 1 kg Brennmaterial aus Waſſer von 0° entſteht.
Dieſe Größe heißt die Verdampfungskraft des Heizſtoffes. Aus der
bekannten Thatſache, daß zur Verwandlung von 1 kg Waſſer von 0°
[321]Heizmaterialien.
in Dampf von 100° 637 Kalorien nötig ſind, folgt, daß man die durch
den Verſuch beſtimmte Verdampfungskraft nur mit 637 zu multiplizieren
hat, um den abſoluten Wärmeeffekt zu erhalten. Umgekehrt kann man
aus dem kalorimetriſch beſtimmten abſoluten Wärmeeffekt durch Diviſion
durch 637 die Verdampfungskraft berechnen.


Der pyrometriſche Wärmeeffekt oder die Heizkraft läßt ſich wegen
der Höhe der zu meſſenden Temperaturen mittels ſogenannter
Pyrometer nur ſchwierig und ſehr ungenau durch Verſuche beſtimmen;
dagegen läßt er ſich theoretiſch berechnen, indem man den abſoluten
Wärmeeffekt der betreffenden Verbrennung durch die Summe der
Produkte ſämtlicher Verbrennungsgaſe in die entſprechenden ſpezifiſchen
Wärmen dividiert. Um z. B. den pyrometriſchen Effekt der Verbrennung
von 1 kg Kohlenoxyd an der Luft zu berechnen, hat man zu berück-
ſichtigen, daß aus 28 kg Kohlenoxyd aus chemiſchen Gründen 44 kg
Kohlenſäure werden, d. h. aus 1 kg 1,57 kg. Da alſo bei der Ver-
brennung 0,57 kg Sauerſtoff verbraucht werden, ſo bleiben von der Luft,
welche aus 23 Gewichtsteilen Sauerſtoff und 77 Gewichtsteilen Stickſtoff
beſteht, 1,91 kg Stickſtoff übrig, welche frei werden. Da die ſpezifiſche
Wärme der Kohlenſäure 0,216, die des Stickſtoffs 0,244 iſt, ſo hat
man für den pyrometriſchen Wärmeeffekt

Auf dieſem Wege erhält man für die wichtigſten Brennmaterialien
folgende Werte als pyrometriſchen Wärmeeffekt:


Das Holz enthält etwa 45 % Kohle, im lufttrocknen Zuſtande
20 % hygroſkopiſches Waſſer und giebt 1 % Aſche. Seine Verdampfungs-
kraft iſt im Mittel 3,5.


Der Torf iſt ein Verweſungsprodukt gewiſſer Sumpfpflanzen in
ſtehenden Gewäſſern. Er enthält zwar gegen 55 % Kohle, dafür aber
im friſchen Zuſtande viel Waſſer und giebt ſehr viel Aſche. Die
Verdampfungskraft iſt im Mittel 4,5. Der Torf leiſtet am meiſten als
Preßtorf. Man erhält dieſen durch Zerkleinern, Schlämmen, Trocknen
und Formen zwiſchen heißen Preſſen.


Die Braunkohle iſt gleichfalls das Verweſungsprodukt von
Pflanzen, und zwar von vorweltlichen, ſehr üppig vegetierenden, welche
unter dem bedeutenden Druck über ihnen lagernder Erdſchichten ſich
nur ſehr langſam zerſetzen konnten. Der Kohlegehalt beträgt 60—70°,
die Verdampfungskraft im Mittel 5,5. Die Braunkohle entwickelt bei
Das Buch der Erfindungen. 21
[322]Heizung.
der trocknen Deſtillation ſaure Dämpfe, ähnlich wie das Holz. Sie
iſt von ſehr verſchiedenem Alter, was ſich an der häufig ſtark ab-
weichenden Struktur leicht erkennen läßt und iſt charakteriſtiſch durch
die vielen Kohlenwaſſerſtoffe, die ſie als Nebenprodukte des Verkohlungs-
prozeſſes enthält, und welche durch trockene Deſtillation aus ihr gewonnen
werden können. Die wichtigſten dieſer Erzeugniſſe ſind Photogen,
Solaröl, Paraffin, welche als wichtige Leuchtſtoffe weiter oben bereits
erwähnt worden ſind.


Die Abfälle der Braunkohlengruben enthalten noch einen beträcht-
lichen Heizwert, den man am beſten dadurch ausnutzt, daß man ſie zu
Briquettes oder Preßkohlen verarbeitet. Die Abfälle werden zerkleinert,
angefeuchtet, gleichmäßig mittels Maſchinen durchgearbeitet, die Maſſe auf
heißen Blechen oder auf andere Art getrocknet, und nun werden entweder
die einzelnen Steine unter einer ſtarken Preſſe geſchlagen oder die ganze
Maſſe wird unter bedeutendem Druck durch eine rechteckige, der Höhe und
Breite der Briquettes entſprechende Öffnung hindurchgepreßt und die
heraustretende endloſe Maſſe durch auf- und niedergehende Drähte
entſprechend der geforderten Länge zerſchnitten. Die Feuerung mit
Briquettes hat ſich, ſchon ihrer Billigkeit halber, außerordentlich bewährt.


Die Steinkohle verdankt ihre Exiſtenz genau demſelben Prozeß,
durch welchen die Braunkohle entſtanden iſt, nur iſt der Zerſetzungs-
prozeß hier noch weiter fortgeſchritten. Daher beträgt der Kohlegehalt
der Steinkohle 70—80°, während ihre Verdampfungskraft im Mittel
auf 6,5 ſteigt. Die Steinkohle iſt der wichtigſte Brennſtoff; die jährliche
Geſamtproduktion ſchätzt man auf 400 Millionen Tonnen.


Wie die Braunkohle, enthält auch die Steinkohle andere Kohlen-
waſſerſtoffe als Nebenprodukte der Zerſetzung. Wo dieſe in größerer
Menge vorhanden ſind, bläht ſich die Steinkohle beim Glühen auf
(Backkohle, Kännelkohle) und verrät hierdurch ihre Geeignetheit zur
Leuchtgasfabrikation.


Die Steinkohlenabfälle verarbeitet man auch wohl zu Briquettes,
aber in viel geringerer Menge als bei der Braunkohle. Auch genügt,
wegen der größeren Sprödigkeit der Steinkohle, nicht das Preſſen allein,
ſondern es iſt noch der Zuſatz eines Bindemittels notwendig, als
welches man gewöhnlich Teer verwendet. Der einzige Vorteil, den
dieſe Briquettes bieten, iſt ihre große Dichtigkeit, welche ſie zu ſehr
intenſiven Wärmeleiſtungen infolge ihres hohen Brennwertes befähigt.
Sie dienen daher zur Maſchinenfeuerung.


Anthracit iſt die älteſte und ſchwärzeſte Steinkohle. Sie enthält
bis zu 96 % Kohle, iſt daher weder leicht brennbar noch flammbar,
aber von großem Effekt. Man verwendet ſie bei Gebläſefeuerungen,
wie auch neuerdings in den Regulierfüllöfen.


Die Erwägung, daß die bisher genannten Brennmaterialien haupt-
ſächlich durch ihren Sauerſtoffgehalt an höheren Leiſtungen verhindert
werden, muß den Gedanken nahe legen, daß eine durch Wärme zu
[323]Heizmaterialien.
erzielende vorherige Austreibung dieſes ſchädlichen Beſtandteils den zu
erwartenden Effekt bedeutend ſteigern wird, wenn auch bei dieſer
Prozedur Waſſerſtoff mit verloren geht. Man hat daher, zum Teil
ſchon in den älteſten Zeiten, dieſen Prozeß, die Verkohlung, praktiſch
ausgeführt.


Das Verkohlen der Heizmaterialien wird für ſämtliche bisher er-
wähnten Arten ausgeführt. Es iſt weiter nichts, als eine trockene
Deſtillation in anderer, als der gewöhnlichen Form und geſchieht
entweder durch beſchränkten Brand der einfach auf einander geſchichteten
Stoffe (Verkohlung in Meilern oder Haufen), oder in gemauerten Öfen.
Im erſteren Falle gehen die Nebenprodukte verloren und man erhält
nur die Kohle, im letzteren gewinnt man außerdem Teer und andere
Deſtillationsprodukte.


Die Holzkohle gewinnt man auf beiden Wegen. Das altbekannte
Verkohlen des Holzes in Meilern (Fig. 200) beginnt mit dem Ein-
ſchlagen eines ſtarken Pfahles von der Höhe des zu errichtenden

Figure 192. Fig. 200.

Meiler.


Meilers, des Quandels. Um dieſen ſchichtet man zuerſt in ſenkrechter,
dann nach außen zu in horizontaler Lage die Scheite und bedeckt das
Ganze mit einer kugeligen Haube von Stockholz und Abfällen, dann
wird der Meiler mit Raſen und dieſer wieder mit einer dicken Schicht
von feuchten Kohlenabfällen und Erde bedeckt; die Decke wird aber
ringsherum nicht bis zur Erde heruntergeführt, ſondern ein handbreiter
freier Raum durch die ſogenannte Rüſtung abgeſteift, welcher ſpäter
zum Entweichen der Waſſerdämpfe dienen ſoll. Man hat Meiler von
4 bis 18 Meter Durchmeſſer. Das Anzünden erfolgt mittels Einbringens
glühender Kohlen durch einen auf der Sohle freigelaſſenen Kanal.
Durch die Rüſtung entweicht gelblich-weißer Rauch (das „Abbähen“);
hört dies auf, ſo deckt man auch den äußeren Umkreis mit Raſen zu.
Im weiteren Verlauf kommt es darauf an, die durch den fortſchreitenden
Brand entſtehenden Höhlungen zur rechten Zeit mit Erde auszufüllen
21*
[324]Heizung.
und das „Schwinden“ des Meilers möglichſt gleichmäßig zu geſtalten.
Das letztere geſchieht durch temporäres Einſtoßen von Löchern in die
Decke an den zurückbleibenden Stellen. Überall, wo gegen den Schluß
der Arbeit Flammen hervorbrechen, unterdrückt man dieſelben ſorgfältig.
Endlich werden die Kohlen „gezogen“, d. h. allmählich, unter Aufreißen
eines Teils der Seitendecke, herausgeholt und die gezogenen Kohlen
und die aufgebrochene Stelle nach Bedürfnis „gelöſcht“.


Statt der Kugelmeiler hat man in einzelnen Gegenden die Haufen,
lange rechteckige, an den Seiten abgeſteifte, nach dem einen Ende ſich
ſenkende Schichtungen des zu verkohlenden Holzes, deren Behandlung
im weſentlichen dieſelbe iſt.


Die zur Verkohlung des Holzes dienenden Öfen ſind meiſt kugel-
förmig gebaut, haben unten einen ſehr langen und breiten Roſt, oben
einen entfernbaren Schlußſtein und vorn eine breite Thür zum Ziehen
der fertigen Kohlen, durch eine ſehr genau ſchließende kleine Thür
unterhalb des Roſtes läßt ſich der Zug regulieren. Seitlich iſt irgendwo
ein Abzug für die Teerdämpfe angebracht, welche zur Kondenſierung
in Kühlapparate geleitet werden. Beim Verkohlen der Nadelhölzer
wird auf die Ausbeute an Teer gerade ein Hauptwert gelegt, ſo daß
man dieſe Öfen geradezu Teerſchwelereien nennt. Auch eiſerne Ver-
kohlungsöfen ſind ſtatt der gemauerten zahlreich im Gebrauch.


Durch die Verkohlung verliert das Holz den größten Teil des
Sauerſtoffs und Waſſerſtoffs und die Kohle bleibt in dichterer Form
und dennoch vollkommen porös zurück; daher zeigt die Holzkohle faſt
den doppelten Wärmeeffekt und die doppelte Verdampfungskraft gegen-
über dem Holz.


Die Torfkohle wird nicht ſo häufig verkohlt, wie das Holz.
Der Prozeß iſt, ſowohl in Meilern, als auch in Öfen, wegen der
prismatiſchen, zur Aufeinanderſchichtung bequemen Form der Torfſtücke
leichter durchzuführen. Das Produkt eignet ſich aber nicht beſonders
als Brennmaterial, weil es äußerſt mürbe iſt, und der an ſich ſchon
hohe, ſchädliche Aſchengehalt des Torfes infolge der Verkohlung natur-
gemäß noch bedeutend geſteigert wird.


Die Braunkohle eignet ſich unter allen foſſilen Brennſtoffen am
wenigſten zur Verkohlung. Es liegt dies zunächſt, wie beim Torf,
an der Steigerung des an ſich ſchon hohen Aſchengehaltes, dann aber
an der großen Schwierigkeit der Verkohlung. Selbſt die reinſte Braun-
kohle zeigt nämlich die Neigung, beim Erhitzen nach den im friſchen
Zuſtande nur angedeuteten Riſſen und Jahresringen zu zerſpringen, ſo
daß man ein kompaktes Verkohlungsprodukt nicht erhalten kann. Man
betreibt daher den Prozeß nur in einzelnen Gegenden und in geringem
Umfange. Die Meilerverkohlung iſt die gebräuchlichſte Methode.


Koks entſtehen durch die trockene Deſtillation oder Verkohlung
der Steinkohlen. Der Zweck des Prozeſſes iſt — neben der eventuellen
Gewinnung von Leucht- und Heizgas, Teer und Ammoniakwaſſer —
[325]Heizmaterialien.
nicht allein eine Verdichtung der Kohle und Vermehrung des Kohle-
gehaltes, ſondern beſonders auch die Entfernung des läſtigen und
ſchädlichen Schwefelgehaltes der Steinkohle. Von dieſem letzteren
Geſichtspunkt ausgehend, hat man die Verkokung auch oft als Ab-
ſchwefeln bezeichnet.


Man wählt die zur Verkokung nötigen Kohlen ſo aus, daß man
kompakte und nicht leicht zerdrückbare Koks erhält. Daher ſchließt man
die Backkohle und die ſchlechteſte Kohle, die Sandkohle, ganz aus; die
erſtere liefert überhaupt in den Gasanſtalten wertvollere Produkte.
Am beſten eignet ſich ein Material, welches zwiſchen der mäßigen
Backkohle und der Sinterkohle die Mitte hält. Man führt die Ver-
kokung in Meilern und in Öfen durch.


Die Meiler verlangen nicht die peinlichen Vorſichtsmaßregeln, wie
die Holzkohlenmeiler, weil die Koks ſchwer brennbar ſind. Man ſchichtet
die Steinkohlen nach ihrem natürlichen Gefüge auf einen kreisförmigen
Haufen, unter welchem ein Längskanal frei bleibt; um das Anzünden
bequem bewirken zu können, rammt man vor dem Aufbau einige Pfähle
ein, welche ſpäter herausgezogen werden, ſo daß man durch die ent-
ſtandenen ſenkrechten Kanäle brennende Kohlen einwerfen kann. Eine
Decke wird überhaupt erſt gegen Ende des Brandes allmählich dort
aufgelegt, wo ſich kein Qualm mehr zeigt, bis zuletzt der ganze Meiler
zum Verkühlen „unter Decke ſteht“. In Schottland benutzt man als
mittleres Fundament der Koksmeiler eine Art von Eſſe, einen kamin-
artigen Aufbau von Backſteinen, an welchem abwechſelnd Steine aus-
geſpart werden, um Zugöffnungen zu erhalten. Es hat dies den
Vorteil, daß der Zug größtenteils durch die Eſſe geht und ſich daher
nach Belieben durch teilweiſes Decken derſelben regulieren läßt.


Viel häufiger geſchieht heute die Verkokung in Öfen. Die Koks-
öfen ſind kuppelförmig angelegt und ganz ähnlich den Öfen zur Holz-
verkohlung, arbeiten aber mit ſtarkem Luftzutritt mittels des durch
Löcher gebildeten Roſtes. Durch die an der Vorderwand, über dem Roſt,
liegende große Thür ſetzt man zuerſt größere Kohlen ein, dann kleinere,
wobei ein Zündkanal frei bleibt; die kleinſten Stücke werden durch die
obere Öffnung des Ofens, die Gicht, eingeworfen. Dann zündet man
an, ſchließt beide Hauptöffnungen und öffnet nur die unterſte Reihe
der im Umkreis des Ofens in mehreren Reihen über einander liegenden
kleineren Zuglöcher. Bemerkt man, daß die helle Glut ſich durch dieſe
Löcher zeigt, ſo ſchließt man ſie und öffnet die nächſte Reihe. So
fährt man bis zur Beendigung der Verkokung fort; endlich bleibt der
Ofen noch 12 Stunden ganz geſchloſſen, bis man die Koks zieht. Die
teerigen Produkte werden durch einen oberen Seitenkanal fortgeleitet
und kondenſiert; die brennbaren Gaſe läßt man entweder durch die
Fugen der Gicht wegbrennen, oder man benutzt ſie zur Heizung.


Man gewinnt im Mittel einige 50 % Koks aus der Steinkohle,
etwas weniger in den Meilern; zudem ſind die Ofenkoks nicht ſo locker,
[326]Heizung.
wie die Meilerkoks. Das Gefüge der Koks iſt porös und feinblaſig,
die Farbe eiſen- bis ſchwarzgrau; ſie ziehen, wie die Holzkohle, ſtark
Waſſer aus der Luft an und werden ſchon nach einigen Wochen mürbe,
ſo daß ein raſcher Verbrauch empfehlenswert iſt. Der Kohlegehalt
beträgt 85—93 %, die Verdampfungskraft im Mittel 7,5. Man ver-
wendet die Koks trotz ihres ſchweren Brandes als Heizmaterial, be-
ſonders aber für die Hüttenheizung in Hohöfen. Da ſie überwiegend
reine Kohle ſind, ſo iſt ihr Effekt ein ſehr hoher.


Das Petroleum kann bei ſeiner bedeutenden Verdampfungskraft,
welche bis 18 beträgt, ſehr gut als Brennmaterial dienen, wenn man,
wie in Amerika und Rußland, die Rückſtände billig haben kann. Aber
auch das gewöhnliche Leuchtpetroleum iſt in der Neuzeit mit Vorliebe
und Erfolg im Kleinen in den Petroleumkochern als Heizmaterial
verwendet worden. Es eignet ſich zu dieſem Zwecke ſehr gut, weil
es, richtig angewandt, gar keinen Rauch entwickelt. In größeren
Feuerungen, ſelbſt in Hohöfen, hat man es mit hoch geſpanntem
Dampf zerſtäubt und in dieſer Form verbrannt.


Brennbare Gaſe werden unter der Bezeichnung Generatorgaſe
zur Heizung verwendet. Schon bei der Beſchreibung der Generator-
feuerung der Leuchtgasretortenöfen (ſ. S. 299 u. 300) iſt die Natur der
Generatorgaſe genauer erwähnt worden. Sie beſtehen aus Waſſerſtoff,
Kohlenwaſſerſtoffen, Kohlenoxyd und — als unwirkſamem Beſtandteil
— atmoſphäriſchem Stickſtoff, der die Hälfte des ganzen Gemenges
betragen kann. Zur Darſtellung der Generatorgaſe verbrennt man
Kohlenabfälle im Generator, einem Schachtofen mit ſogenanntem
Treppenroſt, bei ungenügendem Luftzutritt. Die auf den unterſten
Stufen des Roſtes liegenden Kohlen verbrennen völlig zu Kohlenſäure,
die auf den mittleren lagernden werden nur rotglühend, verbrennen
daher zu Kohlenoxyd und reduzieren zugleich die aufſteigende Kohlen-
ſäure zu Kohlenoxyd; die oberſten Kohlen endlich werden trocken
deſtilliert, geben daher Waſſerſtoff und Kohlenwaſſerſtoffe. Verbrennt
man die Generatorgaſe mit heißer Luft im Siemensſchen Generator-
ofen (ſ. die Skizze in Fig. 193, S. 300), ſo erreicht man ſehr hohe
Hitzegrade; daher ihre neuerliche Anwendung bei der Stahlfabrikation,
in Glas- und Porzellanöfen, ſowie zu Leichenverbrennungszwecken.


2. Die Heizungsanlagen.

Die Heizungsanlagen ſind entweder rein gewerblicher Natur oder
ſie gehören dem Bedürfnis des alltäglichen Lebens an, während der
kalten Jahreszeit die Wohnungen und ſonſtigen größeren Aufenthalts-
räume auf eine unſeren phyſiſchen Anforderungen entſprechende Tempe-
ratur zu bringen. Nur die letztere Art der Heizung iſt hier zu be-
trachten, die wir im allgemeinen als Zimmerheizung bezeichnen.


Die Fähigkeit der Luft, die von einem Heizapparat empfangene
Wärme durch ihre Teile fortzupflanzen, iſt eine ſehr geringe, und ſo
[327]Heizungsanlagen.
würde es ſehr lange dauern, ehe ſich beim Heizen in einem Raume
eine gleichmäßige Temperatur einſtellt, wenn nicht durch die Temperatur-
erhöhung zugleich Schwankungen in der Dichtigkeit der Luftteile und
damit eine Bewegung derſelben einträte; vermöge dieſer, durch das
Aufſteigen der wärmeren und das Herabſinken der kälteren Luft ver-
anlaßten Strömungen, kommen immer neue Luftteile an die Heizflächen,
ſo daß doch in verhältnismäßig kurzer Zeit eine gleichmäßige Er-
wärmung ſtattfinden würde, wenn nicht andere äußere Urſachen der-
ſelben wenigſtens einigermaßen hindernd in den Weg träten. Zu dieſen
Urſachen gehört in erſter Linie das Entweichen warmer Luft nach außen
durch die ſtets vorhandenen Spalten der Thüren und Fenſter; dann
aber nehmen auch die Wände fortwährend Wärme auf und geben ſie
nach außen ab. Dieſer Ausgleich findet naturgemäß um ſo leb-
hafter ſtatt, je größer die Differenz der außen und innen herrſchenden
Temperatur iſt.


Wir erkennen aber auch, daß die Heizung einen regen Anteil an
einer von ſelbſt erfolgenden, kontinuierlichen Ventilation, einem langſam
ſtattfindenden Luftwechſel unſerer Zimmer hat, daß ſie alſo nicht nur
Wärme ſpendet, ſondern auch, wenigſtens zum Teil, für die Verbeſſerung
der Zimmerluft ſorgt.


Außer dieſer wohlthätigen Wirkung der Heizung ſtellen ſich aber
leider in vielen Fällen Verſchlechterungen der Zimmerluft ein. Zunächſt
verbreiten viele Brennmaterialien Staub; andere, wie das Petroleum,
erzeugen üblen Geruch, während unverbrannt ausſtrömendes Gas ſo-
gar vergiftend wirkt. Aber auch ſchlechte Heizungsanlagen reißen ent-
weder zu viel Wärme mit ſich fort und veranlaſſen die Bewohner,
möglichſt gar nicht zu lüften, oder ſie verbreiten Rauch in den
Wohnungen.


Am ſchlimmſten iſt aber das Entweichen ſchädlicher Gaſe aus den
Heizanlagen ſelbſt. Hierher gehört in erſter Linie der Austritt des
höchſt giftig wirkenden, vermöge ſeines ſpezifiſchen Gewichtes ſich
ſchnell durch die Luft verbreitenden Kohlenoxydgaſes, welches ſich ſo-
fort bildet, wenn Verbrennung bei ungenügendem Luftzutritt ſtattfindet.
In dieſem Falle wird eine Verbreitung des giftigen Gaſes dann er-
folgen, wenn ihm der Weg nach außen verſchloſſen iſt; es diffundiert
durch die Ofenwände in die Zimmerluft.


Von großer Bedeutung iſt auch eine andere geſundheitswidrige
Einwirkung der Heizung, nämlich die Herabſetzung des Feuchtigkeits-
gehalts der Luft. Es handelt ſich hierbei keineswegs um den ab-
ſoluten Waſſergehalt, ſondern um den relativen, d. h. darum, wie weit
der Feuchtigkeitsgehalt von dem der herrſchenden Temperatur ent-
ſprechenden Sättigungsmaximum entfernt liegt. Haben wir z. B. in
einem Zimmer eine Temperatur von 8° C., ſo beträgt die Sättigungs-
menge, d. h. die in 1 Kubikmeter dieſer Luft im beſten Falle ent-
haltene Waſſermenge nach genauen Beſtimmungen 8,3 g. Iſt dieſe
[328]Heizung.
Zimmerluft nun wirklich ſo feucht, und erwärmt man ſie durch Heizen
auf 20° C., ſo dehnt ſich 1 Kubikmeter auf 1,043 Kubikmeter aus,
enthält nun alſo im Kubikmeter nur 7,96 g Waſſer. Da nun die
Sättigungsmenge der Luft bei 20° aber 17,3g iſt, ſo enthält die er-
wärmte Luft nur 46 % Waſſer, alſo noch nicht die Hälfte gegen früher.
Dieſe Trockenheit macht ſich um ſo unangenehmer für unſeren
Körper bemerkbar, als die geheizte Luft in Bewegung iſt. Deshalb
erſcheint uns auch der Aufenthalt in einem auf 20° geheizten Zimmer
drückender und die Hitze in demſelben größer, als unter ganz den-
ſelben Temperaturverhältniſſen zur Sommerszeit. Erreicht die Trocken-
heit der erwärmten Zimmerluft einen einigermaßen hohen Grad, ſo
entzieht ſie den Mund- und Naſenſchleimhäuten Feuchtigkeit; man
hat dann das Gefühl der Rauhigkeit an dieſen Stellen, auch ohne daß
die Luft, wie man z. B. bei der Luftheizung vorauszuſetzen pflegt, durch
Staub- oder Rauchteile verunreinigt iſt. Zur Verbeſſerung dieſes Übel-
ſtandes muß dafür geſorgt werden, daß der trockenen Luft möglichſt viel
Feuchtigkeit auf künſtlichem Wege zugeführt werde. Über die nötigen
Feuchtigkeitsgrade bei verſchiedenen Heizungsſyſtemen ſind die Anſichten
noch nicht vollkommen feſtſtehend; doch glaubt man, daß der Feuchtig-
keitsgehalt erwärmter Luft von 19° C. bei gewöhnlicher Ofenheizung
40 bis 70 %, bei Zentralheizung 50 bis 75 % betragen muß. Dieſer
Feuchtigkeitsgehalt darf aber niemals auf Koſten der Reinheit der Luft
angeſtrebt werden. Eine Beſchränkung des nötigen Luftwechſels würde
mindeſtens ebenſo geſundheitsſchädigend wirken, wie die zu große
Trockenheit. Es muß aber in Betracht gezogen werden, daß bei der
Ofenheizung die Verbrennung an ſich ſchon bedeutende Luftmengen er-
fordert, z. B. 1 kg Holz gegen 10 Kubikmeter, 1 kg Kohle gegen
17 Kubikmeter. Der Erſatz ſtrömt durch alle gerade vorhandenen
Öffnungen zu und wird meiſt von nicht beſonders reiner Luft aus den
Nebenräumen gebildet. Die neuere Technik der Zentralheizung hat in
dieſer Beziehung Heizung und Ventilation in günſtiger Weiſe zu ver-
einigen geſucht und auch zum Teil ſchon recht gute Erfolge erzielt. Natür-
lich ſtellen ſich ſolche Einrichtungen infolge des ganz unvermeidlichen
Wärmeverluſtes teurer; man kann den durch die gleichzeitige Erwärmung
und Ventilation der Räume bedingten Mehrverbrauch an Feuerungs-
material reichlich auf ein Fünftel des ganzen Bedarfs veranſchlagen.


Jede Heizungsanlage muß ſo beſchaffen ſein, daß die Verbrennung
des Materials ſo viel wie möglich ausgenützt wird. Die Verbrennung
ſoll, des Effekts wegen, eine vollkommene ſein; es muß daher genügend
Luft zugeführt werden, aber nicht zu viel, weil das Übermaß wieder
abkühlend wirkt. Jede Anlage läßt Feuerherd, Heizraum und Schorn-
ſtein unterſcheiden. Der erſtere muß entſprechend der Natur des Ma-
terials gebaut ſein; der Heizraum ſoll den Verbrennungsgaſen Wärme
entziehen und ſie der Luft des zu erwärmenden Raums mitteilen; der
Schornſtein endlich muß ſo angelegt werden, daß ihm, zur Beförderung
[329]Heizungsanlagen.
des Zuges, noch Luft von einer genügend hohen Temperatur zugeführt
wird, und daß ſich womöglich der Zug regulieren läßt.


Der wichtigſte der drei Teile iſt der Heizraum. Er muß vor allem
genügend Heizfläche enthalten; daher pflegt man ihn, wenn er Röhren-
form hat, möglichſt zu verlängern, ehe man ihn in den Schornſtein
münden läßt. Andererſeits muß die äußere Oberfläche des Heizraums
möglichſt groß ſein, was ſchon durch Rauhigkeit derſelben, noch mehr
aber durch Anbringung von Hervorragungen erzielt wird.


Man unterſcheidet Lokalheizanlagen und Centralheizung. Im
erſteren Falle hat jeder zu erheizende Raum ſeinen beſonderen
Ofen; im letzteren Falle iſt für mehrere oder alle Räume ein ge-
meinſamer Ofen, meiſt im unteren Teile des Hauſes, eingerichtet, von
welchem aus die produzierte Wärme durch Vermittlung verſchiedener
Überträger den einzelnen Räumen zugeführt wird. Hiernach unterſcheidet
man wiederum Luftheizung, Warmwaſſerheizung und Dampfheizung.


Die Lokalheizung geſchieht durch Kamine oder durch Öfen.


Der Kamin iſt eine nach der Zimmerſeite zu offne Feuerſtelle, aus
der die Verbrennungsgaſe faſt direkt in den nach unten zu erweiterten
Schornſtein gelangen. Ihre Wirkung iſt daher eine ſehr geringe, und
die Erwärmung des Zimmers erfolgt faſt nur durch Strahlung. Man
kann rechnen, daß nur etwa der fünfzehnte Teil der Feuerung aus-
genutzt wird. Außerdem bewirkt der Kamin eine ſehr intenſive Ven-
tilation, ſo daß die zuſtrömende kalte Luft unter Umſtänden ſich als
Zug ſehr unangenehm bemerkbar macht. Bei ſtürmiſchem Wetter wird
die Luftſtrömung im Schornſtein leicht geſtört, ſo daß der Kamin raucht.
Trotz dieſer Übelſtände hat man ſich, wahrſcheinlich wegen der Gemüt-
lichkeit, welche der geheizte Kamin unter den Bewohnern verbreitet, nach
allen Kräften beſtrebt, die Kaminheizung zu verbeſſern. Durch Ein-
führung eines Roſtes kann man auch mit Kohlen oder Koks heizen;
auch hat man Leuchtgas als Heizmaterial verwendet und ſeine Flamme
auf aufgehäufte Ziegelſtücke geleitet, die ſehr gut Wärme ausſtrahlen.
Als Roſt nimmt man einen verzierten eiſernen Gitterkorb, der gegen das
Herausfallen der Kohlen ſichert. Durch eine gewölbte Eiſenplatte hat
man ferner den oberen Teil der Feuerung verdeckt und damit eine neue
gut wirkende Heizfläche geſchaffen. Trotzdem iſt es bisher nicht ge-
lungen, die reine Kaminheizung in Ländern mit rauhem Klima einzu-
bürgern. Um wenigſtens die Form zu erhalten, hat man den Kamin
in einen Kaminofen umgewandelt. Die Verbrennungsgaſe gehen aus dem
Herd nicht direkt in den Schornſtein, ſondern ſie werden in Schlangen-
rohren einige Male auf und nieder geführt und geben dadurch an eine
durchbrochene eiſerne Umhüllung, welche ſich über dem eigentlichen Kamin
befindet, einen erheblichen Teil ihrer Wärme ab. Sehr vorteilhaft wird
auch neuerdings der Kamin geradezu mit einem Kachelofen verbunden.


Bei den Ofenheizungen ſoll die Wärme der Verbrennungsgaſe
möglichſt vollkommen an das Ofenmaterial übergehen, um von dieſem
[330]Heizung.
ganz allmählich an die Zimmerluft übertragen zu werden. Man unter-
ſcheidet Leitungsöfen aus Gußeiſen, Maſſenöfen aus gebrannten Thon-
kacheln und gemiſchte Öfen aus beiden Materialien. Dieſe letzteren
ſtrahlen ſehr verſchieden ſtarke Wärme aus; das Gußeiſen giebt in
derſelben Zeit etwa 16 mal ſo viel Wärme ab, wie Thonkacheln.
Eiſerne Öfen erkalten darum aber um ſo viel raſcher, als Kachelöfen.
Sie ſind ihres billigen Preiſes und ihrer leichten Aufſtellung wegen
noch immer ſehr verbreitet. Im Norden, beſonders in Schweden und
Rußland findet man die Maſſenöfen, gewaltige Steinkoloſſe aus Kacheln,
die in ihrer ſoliden Steinmaſſe die Wärme der lange durchgeführten
Feuerung aufnehmen und ſie ſehr langſam und regelmäßig ausſtrömen.
In Mitteleuropa findet man die gemiſchten Öfen; ſie ſind auch aus
Kacheln gebaut, enthalten aber eiſerne Röhrenleitungen, durch welche
die Wärme an die Ofenwände übertragen wird. Zuweilen findet man
ſie auch mit gußeiſernem Untergeſtell und Roſtfeuerung, wie z. B. in
Holſtein.


Ein weſentlicher Punkt für die richtige Ausnutzung der Öfen iſt
die Zugregulierung und der völlige Abſchluß des Zuges nach dem
Ausbrennen. Dieſer letztere kann entweder durch eine Klappe im Ab-
zugsrohr oder durch hermetiſch verſchließbare Ofenthüren bewirkt werden.
Die Gefährlichkeit der Rauchklappe iſt längſt erwieſen und ſie daher,
häufig gegen den Willen der Bewohner, abgeſchafft worden. Wird nämlich
die Klappe zu früh geſchloſſen, ſo bildet ſich das giftige Kohlenoxyd,
welches dann am gefährlichſten iſt, wenn es ohne gleichzeitige Rauch-
entwicklung unmerklich in das Zimmer entweicht. Gut angelegte her-
metiſch ſchließende Thüren bildeten einen vollkommenen Erſatz für die
Klappe; werden ſie ſchlecht beſorgt, ſo kann höchſtens ein Wärmever-
luſt, nie aber eine Gefährdung der Geſundheit die Folge ſein. Während
die Schädlichkeit der Ofenklappe allgemein anerkannt wird, hat ſich
herausgeſtellt, daß das Entweichen von Kohlenoxyd, wie man es den
kleinen eiſernen Öfen, beſonders, wenn ſie ins Glühen geraten, zuſchrieb,
ganz oder zum allergrößten Teil auf Einbildung beruht. Im ſchlimmſten
Falle können, ſelbſt durch glühende eiſerne Wände, nur ſo verſchwindend
kleine Mengen Kohlenoxyd ausſtrömen, daß ſie ohne Schaden ein-
geatmet werden können; die giftige Wirkung beginnt eben erſt bei einem
ganz beſtimmten Prozentgehalt der Luft.


Eine beſondere, in neuerer Zeit ſehr in Aufnahme gekommene Art
von rein eiſernen Öfen ſind die Regulierfüllöfen. Es möge hier nur das
Prinzip derſelben in der Konſtruktion von Meydinger erörtert werden,
Die Form des Ofens iſt cylindriſch; das Brennmaterial, Steinkohle
oder beſſer Anthracit, wird zerkleinert in einen ſenkrechten mit Roſt
verſehenen Cylinder eingefüllt. Man zündet oben an; die kalte Luft
dringt durch die Zwiſchenräume des Materials, ſo daß die Verbrennung
ganz langſam von oben nach unten fortſchreitet. Der Cylinder iſt mit
mehrfachen Mänteln von Eiſenblech umgeben, zwiſchen denen ebenfalls
[331]Heizungsanlagen.
Luft von unten her durchſtrömt und ſich erwärmt. Der Brand hält
nach einmaliger Einfüllung ſehr lange vor und giebt eine nicht zu
intenſive, angenehme Wärme.


Die Luftheizung iſt unter den Zentralheizungen die billigſte.
Sie eignet ſich aber nicht für große Gebäude, weil ſie dann mehrere
getrennte Feuerherde erfordert; auch muß ihre Einrichtung ſchon beim
Bau der Häuſer vorgeſehen werden.


Der Heizapparat befindet ſich in einem Kellerraum. Er beſteht
aus einem meiſt aus Eiſen konſtruierten Ofen, der häufig durch Röhren-
ſyſteme gebildet wird, durch welche die Heizgaſe hindurchgehen; damit
die Röhren die Wärme beſſer abgeben, ſind ſie oft noch mit Querrippen
verſehen. Dieſer Ofen ſteht entweder ganz oder doch mit ſeinem
Röhrenſyſtem in der Heizkammer, einem geſchloſſenen Raum, welchem
durch Kaltröhren von außen her reine kalte Luft zugeführt wird. Dieſe
wird in Berührung mit den Heizröhren erhitzt und ſtrömt dann durch
im Querſchnitt viereckige gemauerte Heizkanäle den zu erwärmenden
Räumen zu. Die Heizkanäle beginnen im oberen Teil der Heizkammer,
münden in den Zimmern in einer Höhe von etwa 2 m und ſind durch
Klappen verſchließbar. Außerdem iſt für jedes Zimmer ein Ventilations-
kanal vorhanden, der mit einer dem Fußboden nahen und einer dicht
unter der Decke liegenden Öffnung kommuniziert. Bei Öffnen der unteren
entweicht erkaltete, verdorbene Luft, beim Öffnen der oberen ein Überfluß
an heißer Luft. Die Ventilationskanäle ſtehen in der Regel durch Zirku-
lationskanäle mit der Sohle der Heizkammer in Verbindung. Sollen
dieſe in Thätigkeit treten, ſo ſchließt man den Zuſtrom kalter Luft ab;
dadurch gelangt nur noch die ſchon gebrauchte, alſo noch warme Luft in
die Heizkammer zurück und ſtrömt von neuem nach oben. Durch das letztere,
allerdings ſparſame Verfahren verſchlechtert ſich die Luft aber bedeutend;
kurz vor der Benutzung des Zimmers muß daher die Zirkulation unter-
brochen und wieder kalte Luft in die Heizkammer eingelaſſen werden.


Die Luftheizung, welche vor etwa 15 Jahren mit Vorliebe benutzt
und, beſonders in Berlin, überall in öffentlichen Gebäuden eingeführt
wurde, hat den auf ſie geſetzten Hoffnungen nicht im vollen Maße
entſprochen. Sie erwärmt zwar die Zimmer ſchnell, die Wärme hält
aber nicht vor. Einer der größten Übelſtände iſt aber die Schwierigkeit,
der einſtrömenden Luft, die im Winter häufig ſehr trocken iſt, ein
genügendes Quantum Feuchtigkeit mitzuteilen. Es ſind viele Methoden
angegeben worden, um dies zu bewirken, aber trotz aller noch ſo
komplizierten Vorrichtungen, wie Spritzapparate oder dergleichen, wirkt
die Heizluft austrocknend auf die Schleimhäute. Sodann haben Unter-
ſuchungen von großem Umfange gezeigt, daß die Heizluft große Mengen
von Staub mit ſich führt. Dieſe Umſtände haben viel dazu beigetragen,
die Luftheizung zu diskreditieren, und man giebt bei den heutigen
Anlagen der Waſſerheizung den Vorzug, vor allem deshalb, weil ſie
eine mildere und nachhaltigere Wärme erzeugt.


[332]Heizung.

Die Waſſerheizung beſteht aus einem vollkommen geſchloſſenen
Syſtem von Röhren, in welches am tiefſten Punkte ein Keſſel eingefügt
iſt. Dieſelbe kann ohne beſonders große Schwierigkeiten ſelbſt noch
in fertig daſtehenden Häuſern angebracht werden. Wird der Keſſel,
nachdem das ganze Syſtem mit Waſſer gefüllt iſt, geheizt, ſo ſteigt das
heiße Waſſer in den Heizröhren empor, zirkuliert durch die Heizkörper,
kühlt ſich hierbei ab und fließt in abſteigenden Röhren in den Keſſel

Figure 193. Fig. 201.

Waſſerheizungsanlage.


zurück, wo infolge der Erhitzung
die Zirkulation von neuem be-
ginnt (ſiehe Fig. 201). Man hat
mehrere Syſteme dieſer Heizung.
Am häufigſten angewandt iſt die
Warmwaſſerheizung mit Nieder-
druck, bei welcher das Waſſer
höchſtens bis zum Siedepunkt er-
hitzt wird, ſowie die mit Mittel-
druck, bei welcher die Tempe-
ratur bis 140° ſteigen kann.
In beiden Fällen iſt der Keſſel
ein Röhrenkeſſel von entſprechen-
den Dimenſionen. Alle Teile
der Röhrenleitung, die keine
Wärme abgeben ſollen, werden
eingemauert oder mit hölzernen
Hüllen umgeben. Die Heiz-
körper ſind im weſentlichen zwei:
liegende oder ſtehende Röhren-
regiſter, und liegende Rippen-
regiſter. Die erſteren beſtehen
aus zahlreichen, zwei prisma-
tiſche Sammelkäſten verbinden-
den Röhren. die letzteren ſtellen
Röhren mit aufgegoſſenen ſchräg-
liegenden, weit vorſpringenden
Rippen dar. In beiden läßt ſich
die Waſſerzirkulation leicht durch
Ventile regulieren. Die ganze
Röhrenleitung ſteht in Verbindung mit einem offenen, auf dem Boden
ſtehenden Expanſionsgefäß, welches zur Vermeidung zu hohen Druckes
vorhanden ſein muß. Unter Mitteldruck hat die Leitung beim Eintritt
in dieſes Gefäß ein entſprechend der geforderten höheren Waſſertemperatur
belaſtetes Ventil.


Diejenigen Waſſerheizungsanlagen, bei welchen ſtatt des Röhren-
keſſels ein ſchlangenförmig zuſammengerolltes Stück der geſchloſſenen
Röhrenleitung, die Feuerſchlange, erhitzt wird, nennt man Heißwaſſer-
[333]Heizungsanlagen.
heizung (Syſtem Perkins). Iſt die Temperatur in der Feuerſchlange
150°, ſo arbeitet man mit Mitteldruck, ſteigt ſie bis 200°, ſo hat man
Anlagen mit Hochdruck. Die Heizkörper ſind in dieſem Falle ſpiralig
gerollte Röhren, die umhüllt werden oder unter Gitterplatten des Fuß-
bodens liegen. Die Heißwaſſerheizung iſt billiger, als die Warmwaſſer-
heizung, das Anheizen, welches bei dieſer 3 bis 4 Stunden währt, iſt bei
jener in einer Stunde beendet. Sie bietet aber den Nachteil zu hoher
Temperatur und geringer Nachhaltigkeit. Auch iſt eine Exploſionsgefahr,
welche bei der Warmwaſſerheizung niemals vorkommt, hier wenigſtens
in der Feuerſchlange nicht völlig ausgeſchloſſen.


Bei der Dampfheizung iſt Waſſerdampf von höchſtens zwei
Atmoſphären Druck der Wärmeträger. Die Wärme, die er an die Heiz-
körper abgiebt, ſetzt ſich zuſammen aus der verhältnismäßig kleinen
Eigenwärme und der bedeutenden Verdampfungswärme, welche er bei
der in den Röhren erfolgenden Kondenſation (für 1 kg Waſſer 537 Kal.)
verliert. Der Dampf wird in einem gewöhnlichen Dampfkeſſel ent-
wickelt; die Leitungsröhren müſſen gut gegen Wärmeverluſt geſchützt
ſein. Gewöhnlich erſtreckt ſich ein weites Leitungsrohr vom Keſſel bis
zum Dachgeſchoß und verzweigt ſich dann nach den einzelnen Räumen.
Die Heizkörper ſind den bei der Waſſerheizung gebräuchlichen ſehr
ähnlich; ſie müſſen aber automatiſche Ventile haben, durch welche die
Luft beim Anheizen aus den Röhren entweichen, ſowie beim Abkühlen
wieder in ſie hineintreten kann. Da der Dampf ſich in den Röhren
ſehr raſch bewegt, ſo heizen ſich die Räume mit Dampf ſehr ſchnell
an, aber die Wärme iſt nicht nachhaltig. Anlage und Betrieb ſind,
wie auch bei den Waſſerheizungsanlagen, teuer, weil ſowohl die tech-
niſche Ausführung der Apparate eine vollkommene, wie auch die
Bedienung eine ſehr aufmerkſame und gleichmäßige ſein muß. Am
meiſten eignet ſich die Dampfheizung natürlich an Orten, wo der
Dampf, nachdem er andere Arbeiten geleiſtet hat, noch zur Heizung
verwandt wird.


Es ſei hier ſchließlich erwähnt, daß man in Amerika neuerdings
mit dem Bau von Centralheizungsanlagen für ganze Stadtteile vor-
gegangen iſt, deren Erfolg gute Ausblicke in die Zukunft der Heizungs-
anlagen eröffnet.


[[334]]

IV. Kleidung.


1. Die Textil-Induſtrie.


Geſpinſtfaſern.


Die Herſtellung von Bekleidungsgegenſtänden iſt ebenſo alt, wie
das Menſchengeſchlecht; war doch der Menſch von jeher darauf an-
gewieſen, ſich gegen die Einflüſſe der Witterung zu ſchützen. Zunächſt
erfüllten die Felle erlegter Tiere dieſen Zweck. Als jedoch der Menſch
erkannt hatte, daß die Haare derſelben, von der Haut abgelöſt, ſich zu
Fäden zuſammendrehen ließen, daß ſolches weiter auch mit den Faſern
von Pflanzen ausführbar war, wichen die bisher üblichen Bekleidungen
allmählich den Erzeugniſſen aus Fäden, die man mit einander verflocht
und ſpäterhin mit einander verwebte. Gräberfunde, Pfahlbauten, In-
ſchriften und ſonſtige Überlieferungen aus uralten Zeiten beweiſen uns,
daß die Weberei ſchon im grauen Altertum geübt wurde und bei
vielen Völkern durch ihre außerordentliche Pflege in ganz erſtaunlichem
Grade zu Verkehr, Wohlſtand und Luxus geführt hat. Nichtsdeſto-
weniger hat die Weberei erſt ſeit Anfang dieſes Jahrhunderts den
ungeheuren Aufſchwung genommen, welchen ihr die heutige Produktion,
ſowohl was Menge, als auch Verſchiedenheit, ſowie Billigkeit der Waren
anbelangt, ermöglichte. Veranlaſſung zu dieſem erſtaunlichen Aufſchwung
gab einerſeits die Entwickelung der Spinnerei durch die Erfindung
der Spinnmaſchine, wodurch es notwendig wurde, auch die Webe-
apparate ſo umzukonſtruieren, daß ſie gleichen Schritt mit den Spinn-
maſchinen in der Verfertigung der Waren zu halten vermochten;
andererſeits bildeten den Grund hierfür die Handels- und Verkehrs-
Intereſſen, welche ſich durch die Einführung von Transportmaſchinen
immer günſtiger geſtalteten, infolge deſſen der Verbrauch an Textil-Er-
zeugniſſen (textum, Gewebe, Geflecht) ſtetig zunahm, wodurch wieder
die Notwendigkeit der Produktion wuchs. Hinzu kam die Erfindung
von Maſchinen, mittels deren man Materialien zu bearbeiten imſtande
war, welche man früher nicht verwerten konnte. — Nicht nur durch
[335]Geſpinſtfaſern.
Weben vereinigt man Fäden zu Gebrauchsgegenſtänden, ſondern auch
durch andere Verfahrungsarten, von denen das Wirken dem Weben
an Wichtigkeit zunächſt ſteht. Es hat keine ſo alte Geſchichte, wie
letzteres aufzuweiſen, iſt vielmehr bedeutend jünger und hat ſeine heutige
Ausdehnung gleichfalls erſt vom Beginne dieſes Jahrhunderts ab ge-
wonnen. Andere Mittel von mehr oder weniger untergeordneter Be-
deutung zur Erzeugung von Waren aus Fäden ſind dann noch das
Stricken, Häkeln, Knüpfen, Klöppeln. Unzertrennbar von Spinnerei,
Weberei und auch den übrigen Fabrikationsmethoden ſind andere Be-
arbeitungs-Gebiete, nämlich Färberei, Druckerei, Bleicherei und Appretur,
welche, obſchon teilweiſe in den älteſten Zeiten bekannt, ebenfalls erſt
in dieſem Jahrhundert ſich zu derjenigen Blüte entfaltet haben, in
welcher ſie ſich heute durch ihre Erzeugniſſe darbieten. Alle dieſe auf-
geführten Hauptbearbeitungsgebiete, zu welchen ſich noch diejenigen ge-
ſellen, welche zur Formgebung der verfertigten Waren als Gebrauchs-
gegenſtände, wie das Nähen, oder zur Ausſchmückung der letzteren,
wie das Sticken und Poſamentieren, dienen, und zu welchen eine Menge
von beſonderen oder Nebenbearbeitungsgebieten hinzutritt, werden unter
der Bezeichnung „Textil-Induſtrie“ zuſammengefaßt. In ihr kommen
auch wohl andere Materialien als Fäden, Stoffe, welche durch ihre
Natur ſchon größere Flächen bilden, wie das Leder, zur Verwendung,
doch iſt ihre Benutzung in der Textil-Induſtrie immerhin nur als eine
beſchränktere zu bezeichnen, da ſich Fäden als vornehmlichſtes Material
zur Herſtellung von Textilwaren eignen.


Fäden werden aus Rohmaterialien gebildet und nennt man letztere
ohne Unterſchied, ob dieſelben einen wirklichen Spinnprozeß durchzumachen
haben oder auf andere Weiſe zu Fäden geſtaltet werden, Geſpinſtfaſern.
Alle drei Reiche der Natur liefern uns dieſelben, obſchon nur diejenigen aus
dem Pflanzen- und dem Tierreiche von größerer Bedeutung ſind. Zu den
vegetabiliſchen Faſern zählen zur Hauptſache die Baumwolle, der Flachs
und Hanf, ſowie die Jute, und ſchließen ſich dieſen noch andere Faſern an,
welche entweder nur beſonderen Zwecken dienen oder deren Verwendung
bislang noch eine ſehr geringe iſt, weil teils dem Anbau der Pflanzen in
größeren Maſſen Schwierigkeiten entgegenſtehen, teils die zu ihrer Vor-
bereitung für den Spinnprozeß geeigneten Maſchinen noch nicht voll-
kommen genug ſind. Als animaliſche Faſern gelten die Haare von
Tieren und die Seide, erſtere in den mannigfachſten Arten. Bis vor
wenigen Jahrzehnten kamen nur fünf Faſern in Betracht, nämlich die-
jenigen, welche auch in der Jetztzeit die Hauptrolle ſpielen: Baumwolle,
Flachs, Hanf, Schafwolle und Seide. Von ihnen gilt die Wolle als
das älteſte Geſpinſtfaſermaterial, denn in den älteſten Traditionen
ſämtlicher Völker wird der Wollweberei bereits gedacht. Mit Wolle
bezeichnet man allgemein die Haare der Schafwolle und nimmt unter
den verſchiedenen Sorten die Merinowolle den erſten Platz ein, während
Elektoralwolle, Cheviotwolle u. a. als Wollen von Schafen, welche
[336]Die Textil-Induſtrie.
durch Kreuzung veredelt wurden, aufzufaſſen ſind. Doch werden auch
Haare anderer Tiere für Textilzwecke nutzbar gemacht. Die wichtigeren
hierher gehörigen Materialien ſind: Kaſchmirwolle, auch perſiſche oder
tibetaniſche Ziegenwolle genannt, beſtehend in dem feinen, weißen oder
grauen Flaum- oder Grundhaar der Kaſchmirziege, zu echten orienta-
liſchen Shawls verwendet; Mohair, als das feine, meiſt ſchneeweiße
Haar der Angoraziege, vornehmlich zu feinen Umſchlagetüchern, zu halb-
ſeidenen Stoffen als Einſchlag und zu Plüſchen benutzt; Alpakawolle,
d. i. das weiße oder ſchwarze Haar von dem Pako, Alpako, einem
Schafkamel in Amerika, als Kette zu Tibets u. dgl. dienend; Vigogne-
wolle, von dem amerikaniſchen Vicuña, gleichfalls einer Schafkamel-
art, ein ſehr feines, weiches, ſeidenartiges Haar von rötlich brauner
Farbe, welches zu Tuchen verwandt wird (was gewöhnlich im Handel
als Vigognewolle verkauft wird, iſt ein Gemiſch von Schafwolle und
Baumwolle); Kamelwolle, als das bräunliche Flaumhaar des Kamels,
zu Taſchen, Tiſch- und Schlafdecken ꝛc. gebraucht. Auch das Kuhhaar,
das grobe Haar der Hausziege, das Haar der Pudelhunde und Pferde-
haare geben Materialien für Fäden ab, und ſogar das Menſchenhaar
wird in den letzten Jahren zu Garnen verarbeitet. Andere Haare, z. B.
der Kaninchen und Haſen verſpinnt man entweder in geringen Mengen
oder benutzt ſie als Beimiſchung zu beſſeren Materialien.


Die Seide war ſchon Jahrtauſende vor unſerer Zeitrechnung den
Chineſen als höchſt wertvolles Material bekannt. Da dieſelbe in großen
Maſſen gewonnen wurde, ſie auch bis ungefähr 100 Jahre v. Chr. ein
Monopol dieſes Volkes blieb, ſo war ſie bis dahin kein Luxusartikel,
ſondern Gegenſtand des allgemeinen Gebrauchs. Unter Juſtinian I.,
dem Beherrſcher des oſtrömiſchen Reiches, wurde die Seide durch per-
ſiſche Mönche nach Konſtantinopel verſchleppt und der Seidenbau nach
Europa verpflanzt. Seide iſt das Erzeugnis der Raupe des Seiden-
oder Maulbeerſpinners. Dieſe ſondert aus zwei kleinen Öffnungen der
Unterlippe bei ihrer Verpuppung zwei Fäden ab, welche ſie ſogleich zu
einem einzigen vereinigt und an Reiſig oder dergl. anheftet, den Faden
dichter und dichter um ſich ziehend und ſo eine eiförmige Hülle, den
Cocon, bildend. Von letzterem kann man den Faden unter Erfüllung
einfacher Bedingungen wie von einem Knäuel abziehen. Auch die
Raupen anderer Schmetterlinge liefern Cocons, und damit Seide; als
die bekannteſte darf die Tuſſahſeide gelten, welche von dem Eichenſpinner
ſtammt. Die vorerſt beregte Seide übertrifft alle anderen Arten an Feſtig-
keit, Elaſtizität und Glanz. Nur der Vollſtändigkeit halben ſei erwähnt, daß
auch ein im Golf von Neapel vorkommendes Muſcheltier lange, glän-
zende Seidenfäden abſondert, die unter dem Namen Muſchelſeide bekannt
ſind; doch ſind die Mengen ſo gering, daß dieſe Seide nie Handels-
gegenſtand geworden iſt.


In der Natur der Sache lag es, daß man ſich ſchon ſeit
einer langen Reihe von Jahren bemüht hat, das koſtbare Material
[337]Geſpinſtfaſern.
der Seide künſtlich zu erſetzen, und ſind die vielfachen Verſuche
wirklich mit Erfolg gekrönt worden. Auf der letzten Pariſer Aus-
ſtellung von 1889 hat ein Pariſer, namens Hilaire de Chardonnet, zuerſt
ein ihm patentiertes Verfahren der Herſtellung künſtlicher Seide, die dazu
erforderlichen Maſchinen mit eingeſchloſſen, dem Publikum vorgeführt.
Sein Verfahren beſteht im weſentlichen in der Bereitung einer
Löſung von Nitro-Celluloſe, welche beim Zuſammentreffen mit Waſſer
ſofort gerinnt und eine weiße Maſſe ausſcheidet, die ſich in Fäden
ziehen läßt. Er verwendet hierzu gereinigte Celluloſe, welche aus Holz-
ſtoff, Strohpapierzeug, Baumwolle, Lumpen, Filtrierpapier, Hanf,
Ramie oder dergl. hergeſtellt ſein kann und bereitet daraus eine
Kollodiumlöſung, die er durch feine Kapillarröhrchen unter ſtarkem
Drucke in Waſſer auspreßt, wodurch ſich die Fäden bilden. Es kann
nicht von der Hand gewieſen werden, daß möglicherweiſe die künſtliche
Seide für die Textilinduſtrie von ungewöhnlicher Bedeutung werden
kann, namentlich wenn die Schwierigkeit des Färbens in heißem Zu-
ſtande überwunden ſein wird, während jetzt der Maſſe der Farbſtoff
zugeſetzt, ſowie auch der Leichtentzündlichkeit durch entſprechende Zuſätze
begegnet wird. — Pflanzliche glänzende Faſern zu Fäden zu ſpinnen
und ſie als Erſatz für Seide zu verwerten, hat ſich bisher nicht be-
währt, obgleich viele dahinzielende Vorſchläge gemacht worden ſind.


Flachs und Hanf haben bereits in den älteſten Zeiten bei vielen
Völkern als Geſpinſtfaſermaterial gedient, wie aus den Gräberfunden
hervorgeht. Beide gehören zu den ſog. Baſtfaſern und liefert erſteren
die Leinpflanze, letzteren die Hanfpflanze. Die reine Baſtfaſer des
Leines oder Flachſes iſt glatt und beſitzt großen ſeidenartigen Glanz, die-
jenige des Hanfes iſt ähnlich, nur um vieles gröber und feſter. Als
weitere Baſtfaſer kam vor etwa 60 Jahren die Jute hinzu, welche
heute eine hochwichtige Rolle ſpielt. Es iſt die Faſer eines aus
Oſtindien herrührenden Lindengewächſes. Zuvörderſt nur zu ganz
groben Fäden verſponnen und demgemäß für grobe Waren, wie Säcke,
beſtimmt, ſtellt man gegenwärtig feinſte Garne aus ihr her, welche ſich
auch für beſſere Waren eignen. — In jüngerer Zeit ſind verſchiedene
Arten aus der Familie der Neſſelgewächſe in die Textilinduſtrie ein-
geführt worden. Sie geben ein langes, feſtes und glänzendes Faſer-
material. Das Chinagras und die Rhea oder der Ramie ſind die
wichtigeren unter dieſen Arten. Auch unſere deutſche Brennneſſel würde
eine ſchöne Baſtfaſer ergeben, wenn ſie an der Veräſtelung gehindert
wird. Das iſt jedoch nicht die alleinige Bedingung für die Möglichkeit
ihrer praktiſchen Verwertung, vielmehr muß auch noch die geeignete
Iſolierungsmethode, d. i. das Verfahren für die Ablöſung der reinen
Faſer vom Stengel gefunden werden. Ein Gleiches gilt für manche
andere heute noch nicht brauchbare Baſtfaſer. Nicht nur die Stengel,
ſondern auch die Blattrippen mancher Pflanzen liefern ebenfalls Faſern
für Geſpinſte, ſo der neuſeeländiſche Flachs, der Ananashanf, der
Das Buch der Erfindungen. 22
[338]Die Textil-Induſtrie.
Manilahanf, der Aloehanf. Einheimiſche Pflanzen hierfür ſind die
Nadelhölzer, welche die ſogenannte Waldwolle abgeben. Die in den
Handel kommende Waldwolle iſt weiter nichts, als mit einem Abſud
aus Fichtennadeln getränkte Schafwolle. Kokosnüſſe liefern in der die
Frucht umgebenden Hülle ein Material, welches zu Teppichen, Matratzen,
Hüten, Stricken u. dgl. gebraucht wird. Weitere Pflanzenmaterialien
ſind Reis- und Maisſtroh für Mattengewebe, ruſſiſche Eſche, Pappel,
Linde für Siebe, Hüte ꝛc., Binſen für Rouleaux, Kautſchuk für elaſtiſche
Stoffe, wie Schuhzüge, Hoſenträger, Strumpfbänder und viele andere.
Neuerdings hat ein Holländer, namens Bérand in Maſtricht, im Torf
eine ſpinnbare Faſer entdeckt, Bérandin genannt, welche, mit Wolle
gemiſcht, ein ſehr ſchönes und haltbares Geſpinſt geben ſoll.


Die Baumwolle iſt zwar nicht ſo alt, wie die Wolle und der
Flachs, doch war ſie gleichfalls ſchon im frühen Altertum manchen
Völkern bekannt. Sie gehört zu der Familie der Malven oder Pappel-
roſen, und trägt die Pflanze Blüten, aus denen ſich Fruchtkapſeln von
der Größe einer Walnuß mit drei bis acht Samenkörnern entwickeln.
Dieſe ſind mit den Baumwollfaſern dicht umhüllt. Obſchon außer der
Baumwollpflanze noch andere Gewächſe Samenhaare erzeugen, ſo ſind
doch bis heute nur ihre Faſern als zur Bildung von Fäden tauglich
geſchätzt worden.


Mineraliſche Stoffe können, da ſie ſchwer und gute Wärmeleiter
ſind, in der Textilbranche ſich keine hervorragende Stellung erringen.
Nichts deſtoweniger ſind ſie für gewiſſe Zwecke unentbehrlich. Ins-
beſondere werden in Möbelſtoffe, Tapeten, Vorhänge, überhaupt Stoffe
mit dekorativem Zweck Gold- und Silberfäden eingeſchoſſen, desgl.
in Kirchengewänder, Paramenten und Prachtſtoffe, welche auch mit
reichen Goldſtickereien ausgeſtattet werden. Beſatzartikel und Poſa-
menten erfahren ebenfalls die Benutzung von Gold- und Silberfäden.
An Stelle der echten Gold- und Silberdrähte nimmt man häufig ſchwach
galvaniſch vergoldete oder verſilberte Kupfer- und Eiſendrähte, oder
wickelt, um ſie billiger, leichter und biegſamer zu machen, die echten
oder unechten feinen Drähte um gelbe oder weiße Fäden aus Seide,
Baumwolle oder Leinen. Solche Geſpinſte führen in unechtem Zu-
ſtande den Namen Gold- reſp. Silberlahn. Schon von den älteſten
Schriftſtellern wird von golddurchwirkten Stoffen berichtet. Bis zur
Mitte des 11. Jahrhunderts wurden echte Goldfäden verwendet, deren
Seele ein Seiden- oder Leinenfaden war. Von da ab trat von Cypern
aus ein neues billigeres Goldgeſpinſt auf, bekannt unter dem Namen
„cypriſcher Goldfaden“, bei welchem der innere Faden wie früher ge-
wählt war, deſſen Umſpinnung jedoch aus einem ſtark vergoldeten
Darmhäutchen beſtand. Seit dem 15. Jahrhundert findet man in
abendländiſchen Stickereien den neuen Goldfaden der Renaiſſance, be-
ſtehend aus einem goldgelben Seidenfaden als Kern mit ſtark ver-
goldetem Silberdraht umſponnen. Aus China und Japan rührt ein
[339]Gewinnung und Zurichtung der Geſpinſtfaſern als Rohmaterial.
heute für Möbel- und Tapetenſtoffe ꝛc. gern benutzter Faden her, ein gelber
Kern mit auf einer Seite ſtark vergoldetem Papier umwickelt. Ja,
ſelbſt glattes Goldpapier ohne jegliche Seele ſchießt man dort wohl in
Gewebe ein. In der neueſten Zeit ſucht man die ſchweren Metall-
fäden durch den ſpezifiſch bedeutend leichteren Aluminiumdraht zu er-
ſetzen; denn Goldpapierfäden ſind wohl als Schußmaterial zu ge-
brauchen, dagegen nicht zu Treſſen, Troddeln, Franzen und ähnlichem.
Reine Eiſen- und Kupferdrähte verwendet man zur Anfertigung von
Drahtgeweben für die verſchiedenartigſten Zwecke. Weiter werden Glas-
fäden von großer Feinheit in Phantaſieſtoffen verarbeitet. Von höchſter
Wichtigkeit iſt wegen ſeiner Unverbrennlichkeit der Asbeſt geworden,
welchen man mit vegetabiliſchen Faſern, z. B. Flachs, zuſammenſpinnt,
worauf man dieſe durch Ausglühen beſeitigt. Verwendung finden
daraus hergeſtellte Gewebe zu Theaterdekorationen, Feuerwehrkleidungen,
Bergewerkszwecken u. ſ. w.


Gewinnung und Zurichtung der Geſpinſtfaſern als Rohmaterial.


Die aufgezählten der Textilinduſtrie zu ihren Fabrikaten dienen-
den Materialien werden je nach ihrer Natur verſchiedenartig ge-
wonnen, und beſtehen die zu ihrer Zurichtung als Rohmaterial er-
forderlichen Arbeiten vorzugsweiſe darin, die Geſpinſtfaſer von ihrem
Träger abzulöſen, zu iſolieren und ſie möglichſt von beigemengten Un-
reinigkeiten zu befreien, ſie auch für den weiteren Transport geeignet
zu machen. Denn dieſe Arbeiten gelangen faſt durchweg da zur Aus-
führung, wo das Material geerntet wurde, während die nachfolgenden
Vorarbeiten für das eigentliche Spinnen und letzteres ſelbſt häufig in
Fabriken ganz anderer Länder und Gegenden vorgenommen wird.
Verlaſſen wir die hiſtoriſche Reihenfolge und wählen von jetzt ab die
allgemein übliche, ſo haben wir zunächſt die pflanzlichen, dann die
tieriſchen und endlich die mineraliſchen Geſpinſtfaſern zu betrachten.


Die Baumwollfaſern werden nach dem Aufſpringen der Frucht-
kapſeln geſammelt, abgeriſſene Kapſeln an der Luft getrocknet und her-
nach die Faſern ſamt den Samenkörnern herausgeriſſen. Unreife
Partieen werden ausgeſchieden und endlich die gewonnenen Baum-
wollmaſſen von den Körnern befreit, egreniert. Letzteres geſchah in
den älteſten und auch noch vielfach in ſpäteren Zeiten mit
der Hand, ſpäter wurde jedoch die Handarbeit mehr und mehr durch
die Egreniermaſchinen verdrängt, welche ungleich ſchneller zu ar-
beiten vermögen. Die einfachſte und älteſte derſelben, in Indien
und in China ſeit ewigen Zeiten in Gebrauch, beſteht aus einem
hölzernen, horizontalen Walzenpaar, zwiſchen deſſen Fuge die Samen-
haare bei Drehung der Walzen eingezogen werden, während die
Samenkörner vor der Fuge, deren Winkel hierfür richtig gewählt iſt,
abreißen. Im Laufe der Zeit ſind dieſe Walzenegreniermaſchinen
22*
[340]Die Textil-Induſtrie.
vielfach verbeſſert worden, teils um die Produktionsfähigkeit zu erhöhen,
teils um das Mitnehmen und Zerquetſchen von Körnern durch die
Walzen zu vermeiden. Auch wurde der Hand- oder Fußbetrieb in
elementaren umgewandelt. Eine ganz beſondere Einrichtung hat die
Egreniermaſchine von Mac Carthy; eine neuere Konſtruktion dieſer Art
iſt die von Platt Brs. \& Comp. in Oldham. Den Walzenegrenier-
maſchinen, welche ſich für längere Baumwolle vorzüglich eignen, ſtehen
gegenüber die infolge ihrer ſtärkeren Wirkung nur für kurzfaſerige
Baumwollen verwendbaren Sägenegreniermaſchinen, welche als Haupt-
organ eine Axe mit Kreisſägeblättern in geringen Abſtänden haben.
Darüber befindet ſich ein Roſt, zwiſchen deſſen Spalten die Blätter
hindurchgreifen. Bei der Rotation erfaſſen die letzteren mit ihren
Zähnen die Haare der auf den Roſt gelegten Baumwollmaſſe und
reißen ſie ab, während die Körner von dem Roſt zurückgehalten werden.
Auch dieſe Maſchinen, welche in der beſchriebenen Einrichtung von
Eleazar Carver herrühren, haben eine Menge von Umänderungen er-
fahren. Als wichtigſte derſelben iſt der Erſatz der Sägeblätter durch
einen mit kurzen Drahthäkchen garnierten Cylinder, Krempel- oder
Kratzencylinder, welcher die gleiche Wirkung wie die Sägen hat, jedoch
die Baumwollhärchen beſſer faſſen kann, anzuſehen. Die General
Fibre Company in London hat in jüngſter Zeit derartige Maſchinen
zur Ausführung gebracht. Die egrenierte Baumwolle wird in Leinwand
oder grobem Baumwollenſtoff verpackt, wobei man ſich ſtarker hydrau-
liſcher oder anderer Preſſen bedient, um die Baumwolle auf einen
möglichſt kleinen Raum zu bringen und ſie gegen Näſſe widerſtands-
fähig zu machen. Stricke oder Eiſenbänder halten die Ballen zuſammen.


Einer vielſeitigen Behandlung unterliegen die Baſtfaſern, Flachs,
Hanf, Jute, Neſſel ꝛc. zum Zwecke ihrer Iſolierung und Reinigung.
Der Flachs wird, wenn er zur Faſergewinnung und nicht zur Samen-
gewinnung dienen ſoll, bevor er völlig reif iſt, geerntet. Man zieht
die Pflanzen aus dem Boden, was man das Raufen nennt. Es muß
ſehr vorſichtig geſchehen, da der Stengel vor jedem Bruch möglichſt zu
bewahren iſt. Partieenweiſe in Handvoll werden die ausgerupften
Pflanzen reihenförmig auf dem Boden ausgebreitet, um an der Luft
gehörig auszutrocknen, wobei ſie von Zeit zu Zeit gewendet werden.
Doch baut man die Stengel auch wohl in ſogenannten kleinen Kapellen
auf, indem man ſie partieenweiſe ſchräg gegen einander ſtellt und oben
zuſammenbindet, ſo daß eine Art offenen Daches von größerer Länge
auf dem Boden gebildet wird, durch welches der Wind ſtreichen kann.
Letztere Methode iſt vorzuziehen. Dem Trocknen folgt das Riffeln,
d. i. die Trennung der Samenkapſeln und Blätter von der Pflanze.
Man bedient ſich hierzu eines eiſernen Kammes mit langen Zähnen,
der in eine Bank geſteckt iſt, ergreift eine Partie von Leinſtengeln an
der Wurzel, ſchlägt ſie in den Kamm ein und zieht ſie durch ihn,
wobei Blätter und Kapſeln abreißen, ſo daß die reinen Stengel mit
[341]Gewinnung und Zurichtung der Geſpinſtfaſern als Rohmaterial.
den Wurzeln übrig bleiben. Nun erſt folgt das eigentliche Iſolierungs-
verfahren. Wenn man einen Flachsſtengel durchſchneidet, ſo zeigen ſich
im Querſchnitt mehrere konzentriſche Ringe, von welchen der äußerſte
die Rinde iſt. Darunter ſitzt die zweite Schicht, der Baſt, welcher
wieder das ſich neubildende Holz bedeckt; unter dieſem befinden ſich
der eigentliche Holzkörper und im Innerſten die Markröhre. Es erhellt,
daß zur Gewinnung der Baſtfaſern die Rinde entfernt werden muß.
Nun ſind aber die Faſern unter ſich durch eine Leimmaſſe zuſammen-
gehalten und auch mit dem Holz durch ſolche verbunden, reſp. mit
Holzſubſtanz durchwachſen. Daraus erklärt ſich nicht allein, daß dieſe
Leimmaſſe beſeitigt werden muß und hierzu ein chemiſches Verfahren
erforderlich iſt, ſondern auch, daß die Rinde und die beigemengte Holz-
ſubſtanz hernach auf mechaniſchem Wege zu entfernen ſind. Während
man bezüglich des erſteren Prozeſſes nicht viel weiter gekommen iſt,
vielmehr meiſt noch heute die in alten Zeiten geübten Methoden in
Anwendung bringt, hat das Reinigungsverfahren durch die Konſtruktion
geeigneter Maſchinen eine weſentliche Verbeſſerung gegen früher er-
fahren. Die Entfernung der Leimſubſtanz geſchieht durch das ſo-
genannte Röſten oder Rotten. Man kennt natürliche und künſt-
liche Rotten. Zu den erſteren gehören die Waſſerrotte, die Tau-
rotte und die gemiſchte Rotte, zu den letzteren die Warmwaſſer-
rotte, die Dampf- und Heißwaſſerrotte, die alkaliſche Rotte und
die Rotte mit verdünnter Schwefelſäure. Bei der Waſſerrotte bringt
man die nach der Länge ſortierten und gehörig geordneten Flachs-
ſtengel, die Wurzelenden nach unten, in Waſſer, am beſten einer Grube,
bedeckt ſie mit Stroh und legt Bretter darüber, welche mit Steinen be-
deckt ſind, ſo daß das Ganze ſchwimmt. So hält man die Stengel
längere Zeit unter Waſſer. Durch den ſich entwickelnden Fäulnis-
prozeß werden die Rinde und die Leimſubſtanz zerſtört. Iſt derſelbe
beendigt, ſo nimmt man den Flachs heraus und trocknet ihn in der
Sonne. Die Wirkung der Tauröſte iſt ähnlich: der Flachs wird auf
einer Wieſe ganz dünn ausgebreitet, und läßt man die Feuchtigkeit der
Atmoſphäre auf ihn einwirken, wobei er häufig umgewendet wird.
Natürlich iſt der Gährungsprozeß hierbei ein weit mehr Zeit be-
anſpruchender, als bei der Waſſerrotte, auch erfordert das Verfahren
bedeutende Bodenflächen, doch ſteht dem gegenüber der wichtige Vor-
teil, daß man den Röſtprozeß beſſer beobachten, ein Überröſten der
Baſtfaſer oder ein nicht genügendes Rotten derſelben nicht ſo leicht
eintreten kann, überdies die Flachsfaſer den Tag über durch die Ein-
wirkung des Lichtes gebleicht wird. Vereinigt werden die Vorteile
beider Rotten in der gemiſchten Röſte. Man unterbricht den Röſt-
prozeß in den Gruben in dem Augenblick, in welchem die eigentliche
Gährung anfängt und breitet dann den Flachs auf Wieſen ſo lange
aus, bis der Röſtprozeß beendigt iſt. Dieſe natürlichen und alten
Röſten geben ein beſſeres Geſpinſtmaterial, als die ſpäter erfundenen,
[342]Die Textil-Induſtrie.
wenig in Gebrauch befindlichen Rotten, welche ſämtlich die Be-
ſchleunigung des Iſolierverfahrens bezwecken. Im Jahre 1847 ſchlug
Schenk zuerſt die Warmwaſſerröſte vor. Bottiche mit Lattenböden
nehmen die Flachsſtengel ſtehend auf. Durch ein Dampfrohr kann das
zur Röſte dienende Waſſer im Bottich auf ca. 20 bis 25° R. erwärmt
werden. Nach Beendigung des Prozeſſes wird der Flachs gehörig
gewaſchen und in Trockenräumen durch Luft getrocknet. Zu der von
Watt 1852 erfundenen und von Buchanan verbeſſerten Dampf- und
Heißwaſſerröſte bedarf es eines komplizierten Apparates, welcher die
Röſte durch heißes Waſſer bewirkt, das auslaugend durch die
Flachsſtengel geſaugt wird. Es iſt die Einrichtung getroffen, daß im
gleichen Apparat nachgeſpült und getrocknet werden kann. Der Röſt-
prozeß iſt hier in ca. 4 Stunden erledigt, während der vorige 3 bis
4 Tage, die Waſſerrotte dagegen bis zu 3 Wochen und die Tauröſte
ſogar bis zu 10 Wochen erfordert. Von ganz untergeordneter Be-
deutung iſt die alkaliſche Röſte geblieben, welche durch Anwendung
chemiſcher Mittel, Holzaſchenlauge, alkaliſche Laugen die Auflöſung der
Leimſubſtanz zu erreichen ſtrebt. Das Röſten mit verdünnter Schwefel-
ſäure endlich beſteht darin, daß dem Röſtwaſſer etwas konzentrierte
Schwefelſäure zugeſetzt wird, wodurch auch der unangenehme Geruch
während des Gährungsprozeſſes bei der Waſſerrotte fern gehalten wird.
Es muß hier vor allem auf gehöriges Auswaſchen des Röſtwaſſers
Bedacht genommen werden, um einer Zerſtörung der Baſtfaſer durch
zurückbleibende Schwefelſäure zu begegnen. — Die mechaniſche Tren-
nung der Faſer von dem Holze an den geröſteten und getrockneten
Flachsſtengeln geſchieht durch die Operation des Bottens oder
Brechens. Zum Botten bedient man ſich des Botthammers, eines aus
hartem Holze beſtehenden, ca. 2 kg ſchweren, mit ſtumpfen Einkerbungen
an der Kopffläche und mit langem Stiel ausgeſtatteten Hammers, mit
welchem man den auf harter Bodenfläche ausgeſtreuten, mit den Spitzen
nach einer Seite geordneten Flachs durch Schlagen und Stoßen be-
arbeitet. Hierdurch löſt ſich die Baſtfaſer vom Holze, und letzteres fällt
zum Teil heraus. Dieſe Arbeit hat man ſpäterhin auch wohl durch
mit Waſſer oder Dampf betriebene Stampfmühlen erſetzt. Das Brechen
des Flachſes wurde früher ausſchließlich durch die Hand bewirkt. Jetzt er-
folgt es vielfach mittels der Brechmaſchinen. Im erſteren Falle bedient
man ſich eines Gerüſtes oder Bockes mit 2 oder 3 horizontalen, ſtumpfen
Meſſern von geringem Abſtande, in deren Lücken ein ähnliches, ent-
ſprechend geformtes, um einen feſten Punkt drehbares Meſſer mittelſt
Handgriffes eingeführt werden kann. Der Arbeiter ergreift eine Partie
von Stengeln und führt ſie mit den Spitzen zuerſt in das geöffnete
Maul von Ober- und Untermeſſer, bewegt erſteres ſchnell abwärts und
knickt ſo die Flachsſtengel, wobei nur die Holzteile gebrochen werden,
dagegen die elaſtiſche Baſtfaſer nachgiebt. Allmählich den Flachs vor-
ſchiebend und das Spiel mit dem Obermeſſer wiederholend, hat er bald
[343]Gewinnung und Zurichtung der Geſpinſtfaſern als Rohmaterial.
die Handvoll Flachs gebrochen, wobei die Holzteile, welche man Schäbe
nennt, zum Teil herausfallen, zum Teil darin verbleiben. Durch Aus-
ſchütteln der Partie werden dann weitere Holzteile entfernt. Was die
Brechmaſchinen anbelangt, ſo ſind dieſelben höchſt verſchieden konſtruiert,
doch beſteht ihr Hauptorgan meiſt in mehreren geriffelten Walzenpaaren,
deren Fugen das Flachsſtroh paſſiert, wodurch die Stengel in
kleine Stücke gebrochen werden, und zwar um ſo mehr, als jedes fol-
gende Walzenpaar mit einer größeren Zahl von Riffeln ausgeſtattet
iſt. Das ſpröde Holz fällt dabei zum größten Teil heraus. Doch
giebt es auch hiervon abweichende Konſtruktionen, ſo die Kaſelowskyſche
Brechmaſchine, verbeſſert von Hallerberg, eine der beſten Maſchinen,
weil ſie die Handarbeit am eheſten nachahmt; auch die von Collyer iſt
hier anzuführen. — Da nicht alle Holzteile beim Botten oder Brechen
entfernt werden, vielmehr insbeſondere die feineren Schäbeteile zurück-
bleiben, ſo bedarf es einer beſonderen Reinigungsoperation hierfür,
welche man das Ribben und Schwingen nennt. Erſteres kommt heut-
zutage ſeltener zur Anwendung und beſteht darin, daß man eine Partie
gebrochenes Flachsſtroh auf einem Stück Leder ausbreitet und mit einer
Art ſtumpfen Meſſers, dem Ribbemeſſer, über den Flachs hinſtreicht,
ſo die Holzteile abſchabend. Das Schwingen geſchieht auch heute noch
vielfach mit der Hand unter Hinzunahme eines einfachen Apparates,
des Schwingſtockes und des Schwingmeſſers, d. i. eines mit einem Ein-
ſchnitt verſehenen aufrechtſtehenden Brettes und eines Holzmeſſers mit Griff.
In den Einſchnitt wird eine Flachspartie eingelegt, ſo daß das mit
der linken Hand feſtgehaltene Bündel als Bart herunterhängt. Mit
dem Meſſer, welches die rechte Hand führt, ſchlägt man alsdann auf
die herabhängenden Faſern, wodurch die Schäbeteile abgeſtreift werden.
Iſt dieſe Hälfte gehörig bearbeitet, ſo kehrt man das Bündel in der
linken Hand um. Mit den Unreinigkeiten werden auch Faſern heraus-
geholt, und heißt der Abfall Schwinghede oder Werg. Viel ſchneller,
aber mehr Abfall gebend, wirken die Schwingmaſchinen. Die einfachſte
derſelben und am meiſten verbreitete iſt das Schwingrad, ein auf einer
Axe ſitzendes und durch Elementarkraft gedrehtes, mit 4 bis 12 Schlag-
armen ausgerüſtetes Rad, deren Enden Holzmeſſer tragen. Letztere
ſchlagen bei der Rotation auf den über ein vertikales Brett hängenden
Flachsbart und üben die gleiche Wirkung aus, wie das Schwingmeſſer
bei der Handarbeit. Infolge der großen Geſchwindigkeit werden zahl-
reiche kleine Faſerteilchen in den Arbeitsraum geworfen, und umgiebt
man in beſſer eingerichteten Vorbereitungsanſtalten die Schwingräder
mit Holzkäſten und läßt den Faſerſtaub durch einen Exhauſtor abſaugen
und in eine Eſſe oder einen beſonderen Raum führen, ſammelt ihn dort
und verwertet die ſo gewonnene Maſſe bei der Fabrikation von Hanf-
papier, Hanfcouverts u. dgl. — Endlich wird der geſchwungene Flachs
noch einer Operation unterzogen, welche zwar meiſt von den Spinne-
reien vorgenommen wird, aber noch als Zurichtungsarbeit zu betrachten
[344]Die Textil-Induſtrie.
iſt. Es iſt dies das Hecheln, welches bezweckt, die Faſern noch weiter
von einander zu trennen, verworrene Faſern gerade zu legen und noch
anhängende kleine Verunreinigungen zu beſeitigen. Wenngleich heutzu-
tage hierfür die Hechelmaſchinen benutzt werden, ſo iſt die Handarbeit
nicht zu entbehren. Man bedient ſich in letzterem Falle der Hechel,
eines runden Werkzeuges aus Holz mit nach oben ſtehenden ſpitzen Nadeln,
durch welche der Arbeiter eine Handvoll Flachsfaſern zieht. Mit den
Spitzen der letzteren beginnend, ſchlägt er die Riſte immer tiefer in die
Nadeln ein. Auch genügt nicht eine ſolche Hechel, es werden vielmehr
auf einander folgend immer feinere Nummern derſelben benutzt, um den
beregten Zweck möglichſt vollſtändig zu erreichen. Der entſtehende verun-
reinigte Faſerabfall führt den Namen Hechelwerg. Maſchinen zum Hecheln
benutzen faſt nur die Spinnereien, und ſoll dort ihrer gedacht werden.


Die übrigen Baſtfaſern, Hanf, Jute, Neſſel ꝛc. werden ähnlich
behandelt, wie der Flachs. Röſten, Brechen, Schwingen und Hecheln
machen die Hauptarbeiten aus, doch werden dieſelben der Natur der
Faſer angepaßt, ſowie auch die für die Ausführung der Arbeiten be-
nutzten Apparate und Maſchinen entſprechende Abänderungen haben.
In der neueren Zeit iſt die Neſſelfaſer, Ramie, Chinagras, näher
ſtudiert worden, und iſt man auch zu Iſolierungsmethoden gelangt,
welche, wenn vervollkommnet, es zulaſſen werden, die höchſt wertvolle
und bei richtiger Kultur ſehr billige Faſer in größeren Mengen zu
gewinnen und ſie für den Spinnprozeß geeignet zu machen. Von
großer Wichtigkeit iſt die Entdeckung, daß die Neſſelpflanzen vor dem
Röſten ganz austrocknen und die Stengel entweder in Kalkbädern
vorbereitet oder alkaliſche Röſtflüſſigkeiten genommen werden müſſen,
damit die in den Haaren der Blätter befindliche (den Schmerz beim
Anfaſſen der gewöhnlichen Brenneſſel verurſachende) Ameiſenſäure be-
ſeitigt werde. Die Chineſen und die Eingeborenen auf Sumatra und
Java üben den Röſtprozeß ſchon länger auf dieſe Weiſe aus, ohne
eine wiſſenſchaftliche Begründung geben zu können.


Schafwolle und Wollhaare anderer Tiere müſſen von dem Fett,
dem Wollſchweiß, welcher das rohe Wollhaar bedeckt, und von den
anhaftenden Unreinigkeiten befreit werden. Dieſer Schweiß iſt teils in
Waſſer löslich, teils nicht, und kann der erſtere Teil entweder vor der
Schur auf dem Schafe ſelbſt durch Waſchen entfernt werden — und
dann hat man die Pelz- oder Rückenwäſche — oder aber nach der
Schur an dem gewonnenen Vließ durch die Vließwäſche, wogegen der
in einfachem Waſſer nicht lösbare Teil durch einen beſonderen Waſch-
prozeß unter Zuhülfenahme chemiſcher Mittel herausgebracht werden
muß. Der Rückenwäſche, welche auf verſchiedene Weiſe ausgeführt
wird, folgt ein Trocknen der Wolle auf dem Tiere und dann die Schur
mittelſt der Schafſchere. Die gewaſchenen oder ungewaſchenen Vließe
werden den Wollſpinnereien zugeſandt, welche die weitere Reinigung,
die Fabrikwäſche, übernehmen.


[345]Eigenſchaften und Unterſuchungen der Geſpinſtfaſern.

Für die Seidencocons macht ſich eine Tötung der darin befind-
lichen Puppen erforderlich, damit dieſelben ſich nicht zum Schmetterling
entwickeln können. Am beſten würden die Cocons im friſchen Zuſtande,
d. h. nach dem Einſammeln, abgehaſpelt, doch iſt das wegen der
plötzlich erzielten großen Anzahl nicht thunlich. Ihre Tötung erfolgt
im Backofen oder mittelſt Waſſerdampf, während andere Methoden,
ſo durch Schwefelwaſſerſtoff- und Kohlenwaſſerſtoffgas ſich nicht bewährt
haben. Bei Benutzung des erſten Verfahrens werden die Cocons in
Körben in einen gehörig gereinigten Backofen gebracht, deſſen Wärme
auf 60 bis 75° C gefallen iſt, wo ſie 2 bis 3 Stunden verbleiben. Beſſer
iſt die Tötung mittels Dampf, weil ſie ſchneller von ſtatten geht und
Beſchädigungen durch Verſengen ausgeſchloſſen ſind. Hierbei werden
die mit Cocons gefüllten Körbchen auf den roſtartigen Deckel eines
Gefäßes geſetzt, in welchem Waſſer zum Kochen gebracht wird. Der
ſich entwickelnde Dampf, oberhalb durch eine gemauerte Kammer zu-
ſammengehalten, bewirkt in 10 Minuten die Tötung. Es werden dann
die Körbchen, mit wollenen Tüchern umwickelt, 6 Stunden lang ſtehen
gelaſſen, um dem etwaigen Wiederaufleben der Puppen zu begegnen
und endlich die Cocons durch Ausbreiten auf Brettern getrocknet. Sorg-
fältige Sortierung nach Güte, Farbe und Größe bilden den Schluß
der Arbeiten vor dem Verſand in die Filanda, d. i. denjenigen Betrieb,
in welchem das Abhaſpeln, alſo die Herſtellung des Fadens vor-
genommen wird.


Mineraliſche Stoffe, welche in der Textilinduſtrie verwendet werden,
müſſen in denjenigen Zuſtand gebracht werden, welcher ſie zur Bildung
ſo feiner Fäden, wie ſie die Gewebe oder deren Ausſchmückung ver-
langen, tauglich macht. Die Bearbeitung dieſer Materialien, wie Gold,
Silber, Eiſen, Kupfer, Glas ꝛc. kann hier keine Beſprechung finden,
fällt vielmehr in die einſchlägigen Kapitel.


Eigenſchaften und Unterſuchungen der Geſpinſtfaſern.


Die beſprochenen vegetabiliſchen und animaliſchen Spinnfaſern
haben beſondere Eigenſchaften, welche ſie von einander unterſcheidbar
machen, ſelbſt wenn ſie nicht mehr für ſich beſtehen, ſondern zu Fäden
umgewandelt oder aus dieſen Geweben hergeſtellt worden ſind, welche
die verſchiedenartigſte Zubereitung erfahren haben. Iſt es für den
Geübten auch nicht ſchwer, die einzelnen Hauptarten der Faſer aus-
einander zu halten und das Material ſowohl im Faden als im Gewebe
ohne weiteres zu erkennen, ſo können doch Fälle eintreten, in denen
ſelbſt der Kenner nicht aus freier Hand zu beſtimmen vermag, welches
Material vorliegt. Das kann z. B. dann vorkommen, wenn die Fäden
im Gewebe aus zwei Faſerarten gemiſcht ſind oder Fäden von ver-
ſchiedener Art zur Benutzung kamen, kann jedoch unter Umſtänden
ſchon beim Gewebe aus einem und demſelben Material der Fall ſein.
[346]Die Textil-Induſtrie.
Es würde hier zu weit führen, alle diejenigen Eigenſchaften aufzu-
zählen, welche die verſchiedenen Geſpinſtfaſern charakteriſieren, jedoch
darf nicht unerwähnt bleiben, daß insbeſondere das Ausſehen derſelben
unter dem Mikroſkop für ihre Erkennung maßgebend iſt. Die neben-
ſtehenden Illuſtrationen zeigen die vier Hauptfaſern in vergrößertem

Figure 194. Fig. 202.

Baumwolle.


Figure 195. Fig. 203.

Flachs.


Figure 196. Fig. 204.

Schafwolle.


Figure 197. Fig. 205.

Seide.


Maßſtabe, und zwar Fig. 202 die Baum-
wolle, Fig. 203 den Flachs, Fig. 204 die
Schafwolle und Fig. 205 die Seide. Erſt
die Anwendung dieſes Inſtrumentes hat dazu
geführt, die Faſern beſſer unterſcheiden zu
laſſen. Aber auch die Chemie hat hierzu
teils für ſich, teils in Gemeinſchaft mit dem
Mikroſkop weſentlich dazu beigetragen, jede
Faſer mit Beſtimmtheit erkennen zu können,
ſo daß Verfälſchungen wertvollen Materials durch geringwertigeres
anderer Art gegenwärtig ziemlich ſicher feſtzuſtellen ſind. Das iſt
jedoch nicht als alleiniger Vorteil zu verzeichnen, ſondern auch die
Thatſache, daß durch dieſes eingehende Studium der Eigenſchaften
manches für die zweckmäßigere Fabrikation der Waren Dienliche ent-
deckt worden iſt und dieſe heute ſyſtematiſcher und beſtimmter gehandhabt
wird, als ehedem, wo man infolge teilweiſer Unkenntnis des Weſens
der Geſpinſtfaſern im Dunkeln herumtappte und erſt durch mühſelige,
zeitraubende und koſtſpielige Verſuche zu dem gelangte, was man ſich
als Ziel geſteckt hatte.


Die Vorarbeiten für das Spinnen und das Spinnen ſelbſt.


Ehe die als Spinnmaterial zugerichteten Rohſtoffe der eigentlichen
Spinnmaſchine überliefert werden können, haben ſie eine mehr oder
minder große Zahl von weiteren Bearbeitungen durchzumachen. Die-
ſelben ſind ſelten getrennt von dem Betrieb der Spinnerei und werden
[347]Die Vorarbeiten für das Spinnen und das Spinnen ſelbſt.
als zu dieſer gehörig angeſehen. Im weſentlichen beſtehen die Vor-
arbeiten der Spinnerei in der gründlichen Reinigung des Materials,
der Ausſcheidung der kurzen, nicht für den ins Auge gefaßten Zweck
paſſenden Faſern, der Parallellegung der Faſern unter einander, der
Teilung oder der Verdichtung in ſchmale Bänder und der Zuſammen-
drehung der letzteren zu dicken Fäden. Aus dieſen erſt ſpinnt die
Spinnmaſchine Fäden von der beabſichtigten Feinheit und Drehung.
Zu dieſen Vorarbeiten geſellen ſich häufig noch anderen Gebieten der
Textilinduſtrie zufallende, ſo das Färben der Geſpinſtfaſern, um gleich
einen gefärbten Faden, oder durch Miſchung verſchiedenfarbiger Faſern
ein meliertes Garn zu erhalten. Nur ſelten wird das Faſermaterial
ohne Fadenform für ſich verwandt, wie in der Filz- und Papier-
fabrikation, wo durch Bearbeitung der Faſermaſſe in Waſſer unter
Hinzunahme von Klebemitteln flächenförmige Gebrauchsgegenſtände ge-
bildet werden. Entſprechend den Hauptmaterialien ſind die in Betracht
zu ziehenden Spinnereien Baumwollſpinnereien, Flachs-, Hanf- und
Juteſpinnereien, Wollſpinnereien und Seidenſpinnereien. Die Ramie-
ſpinnereien ſind erſt jüngſt entſtanden und nur vereinzelt vorhanden,
ebenſo andere Spinnereien, wie die Haarſpinnereien. Infolge der not-
wendigen Vorarbeiten ſind die Spinnereien neben den eigentlichen
Spinnmaſchinen mit einer Menge der verſchiedenartigſten Hülfsmaſchinen
ausgerüſtet und weiſen zumeiſt, da die Produktion ſich nur in größerem
Maßſtabe lohnt, umfangreiche Gebäudekomplexe auf.


Vor Erfindung der Spinnmaſchine geſchah die Bildung des Fadens
aus dem ſorgfältig gereinigten und durch Kratzen geordneten Material
auf einem und demſelben Gerät. Das älteſte iſt die Spindel, Kunkel,
heute noch in einzelnen Gegenden verſchiedener Länder zum Spinnen
von Leinengarn benutzt, beſtehend aus einem hölzernen Stock, dem Rocken,
zur Aufnahme des Materials und einem runden nach unten zu dicker
werdendem Holz, der Spindel, meiſt noch durch einen Ring, den Wirtel,
beſchwert. Durch Ausziehen der Faſern aus dem Rocken wurde eine
möglichſt gleichförmige Partie zu einem ſchmalen Bande reſp. groben
Faden zuſammengefügt, durch Drehen der vertikal hängenden Spindel
in den beabſichtigten Faden umgeſtaltet und letzterer, wenn für die
Bildung neuen Fadens zu lang geworden, auf die Spindel aufgewickelt.
Dieſe Art des Spinnens erhielt ſich durchweg bis zur Entdeckung des
Spinnrades, welche um das Jahr 1530 fällt und einem gewiſſen
Jürgens zu Watenmüttel im Braunſchweigiſchen zugeſchrieben wird.
Durch die Bewegung einer horizontalen Spindel mittels eines Hand-
rades wurde es möglich, ſchneller das dem Rocken mit der Hand
entnommene Material in die Fadenform zu bringen. Um beide Hände
für das Spinnen frei zu bekommen, konſtruierte man dann die Tritt-
räder, ſetzte das Spinnrad mit dem Fuß in Drehung und war durch
Hinzunahme eines Flügels zur Spindel in den Stand geſetzt, kon-
tinuierlich zu ſpinnen, d. h. ſtetig Faden zu drehen und auf eine Spule
[348]Die Textil-Induſtrie.
der Spindel aufzuwickeln, während bei dem Handrad, wie bei der
Spindel beides in Abſätzen zu geſchehen hatte. Für geſchickte Arbeiter
wurden Doppelſpinnräder gebaut, welche zwei Spindeln beſaßen und
die gleichzeitige Herſtellung zweier Fäden erlaubten, von denen jede
Hand des Spinners einen auszuziehen und zu führen hatte. Bis zum
Jahre 1760 ſind dieſe Methoden des Spinnens beibehalten worden,
denn wenn auch bereits 1733 John Wyatt als der Erfinder der erſten
Spinnmaſchine genannt wird, ſo iſt dieſelbe höchſtens von ihm für
ſeinen eigenen Bedarf benutzt worden. Richard Arkwright zu Notting-
ham brachte 1769 eine Spinnmaſchine in einer für damalige Verhältniſſe
leiſtungsfähigen Konſtruktion in die Öffentlichkeit. Sie wurde zunächſt durch
Pferde, ſpäterhin aber durch Waſſerkraft betrieben, und ihr daher der Name
Watermaſchine beigelegt; die gleichwertige Bezeichnung Droſſelmaſchine
führte ſich erſt ſpäter für die durch Dampf betriebenen und vervoll-
kommneteren Spinnmaſchinen derſelben Art ein. Auf der Watermaſchine
wird, wie beim Trittrad kontinuierlich geſponnen und aufgewickelt; auf
der um dieſelbe Zeit 1763 von James Hargreaves zu Standhill bei
Blackburn erfundenen Jenny-Maſchine dagegen wurden beide Arbeiten
in Abſätzen ausgeführt, alſo ſo wie beim Handrad. Der Name Jenny-
Maſchine rührt von der Tochter des Erfinders her, welcher zu Ehren
der Name gewählt wurde, und für deren Gebrauch zuvörderſt die Maſchine
beſtimmt war. Beide Syſteme vereinigte Samuel Crompton 1774 in ſeiner
Mulemaſchine, welche gleichſam als ein Baſtard (Mule d. h. Maul-
eſel) anzuſehen iſt. Es iſt klar, daß ſowohl die Watermaſchine als auch
die Mulemaſchine, die beiden heute beſtehenden Syſteme, im Laufe der
Jahre eine Menge von Umformungen und Verbeſſerungen erfahren
haben, welche neben der Aufnahme des Dampfes als Betriebskraft —
um das Jahr 1785 herum — dazu verholfen haben, die geſamte
Spinnerei auf ihre heutige Höhe zu bringen. Denn wenn auch zuerſt
die Erfindung der Spinnmaſchinen der Verarbeitung der Baumwolle
galt, ſo gelangte man doch bald dazu, dieſe Maſchinen auch für die
übrigen Materialien nutzbar zu machen. Die Einführung der Spinn-
maſchinen verlangte aber auch eine ſyſtematiſche, maſchinelle Vorbereitung
des Spinnmaterials in der eingangs berührten Weiſe, und ſo entſtanden
denn ſehr bald die Maſchinen für die Vorarbeiten und wurden ſtellen-
weiſe zu einem kaum mehr überſchreitbaren Grade vervollkommnet.


Die Baumwollſpinnerei.


Da der Inhalt verſchiedener Ballen von Baumwolle faſt durchweg
ungleichförmig iſt, ſo muß zwecks Ausgleichung dieſer Ungleichförmig-
keiten ein Miſchen ſtattfinden. Dasſelbe hat auch zu geſchehen, wenn
verſchiedene Sorten mit einander verarbeitet werden ſollen. Man bricht
die Baumwolle aus den geöffneten Ballen mit den Händen oberflächlich
auseinander und ſchichtet ſie in einem trocknen Raum auf, um ſie
[349]Die Baumwollſpinnerei.
trocknen zu laſſen. Gelegentlich der Verarbeitung ſtreicht man den ſenk-
rechten Wänden der Haufen entlang mit einer Harke geringe Mengen
Baumwolle ab, wodurch letztere ſich vermiſcht. — Das durch ſtarken
Druck für den Transport feſt zuſammengepreßte Material muß als-
dann aufgelockert werden. Hierfür und zur gleichzeitigen Reinigung
von anhaftenden Kapſel- und Körnerteilchen, Sand ꝛc. dient das Öffnen.
Es geſchieht höchſt ſelten noch durch Schlagen und Klopfen mit der
Hand, ſondern durch Maſchinen, welche verſchiedenartige Namen führen,
wie Wölfe, Zauſeler, Öffner, deren Hauptteil jedoch immer eine Trommel,
Axe oder Scheibe iſt, welche mit eiſernen, mehr oder weniger langen
und ſpitzen Zähnen verſehen ſind, die die Faſern auseinanderziehen.
Hierbei fallen die Unreinigkeiten heraus und ſaugt ein Exhauſtor zu
kurze Fäſerchen ab. Übrigens geſchieht das Öffnen nicht auf einer
einzigen Maſchine, ſondern auf zwei oder mehreren mit erhöhten Ge-
ſchwindigkeiten und verfeinerten Garnituren ausgerüſteten Maſchinen,
und wählt man die eine oder andere Art je nach der Länge der Baum-
wollfaſern. Unter den heute benutzten Maſchinen ſind zu nennen der
kegelförmige Wolf für ſchlechte und mittlere kurzfaſerige Baumwollſorten,
der Zauſeler oder Whipper von Maſon für langfaſerige, der Porcupine-
Öffner zur beſſeren Teilung der Faſern und der Opener von Chrigton
zu gleichem Zweck. — Durch das Öffnen iſt die Baumwolle noch nicht
ſo aufgelockert und gereinigt, wie das für die ſpäteren Operationen
erforderlich iſt. Deshalb kommt ſie noch auf die Schlag- und Wickel-
maſchine, wo beides, Auflockern und Reinigen in verſtärktem Maße
ſtattfindet. Der Unterſchied iſt aber der, daß ſtatt der Zahntrommel
rotierende 2- oder 3 armige Schläger in Anwendung kommen, welche
die durch Walzen vorgeſchobenen Baumwollfaſern abſchlagen, und daß
die letzteren nicht als loſe Flockwolle der Maſchine entweichen, ſondern
in Form einer loſen Watte, eines lockeren Vließes, welches auf eine
Stange aufgewickelt wird. Auch dieſes Schlagen und Wickeln erfolgt
mindeſtens zweimal hintereinander. Der erſten Schlagmaſchine wird die
Flockwolle des Öffners vorgelegt, die zweite dagegen, auch Doublier-
maſchine genannt, nimmt 2 bis 4 Wickel der erſten Schlagmaſchine auf
und laufen die Vließe übereinander in die Maſchine, um zuſammen von
den Schlägern bearbeitet zu werden. — Eine höchſt wichtige Operation
iſt das nun folgende Kardieren oder Krempeln. Es bezweckt, aus dem
von der zweiten Schlagmaſchine kommenden Wickel ein ſchmales Band
von möglichſter Gleichheit zu bilden und hierbei die in der Baumwolle
noch vorhandenen Unreinigkeiten und zu kurzen Fäſerchen zu beſeitigen.
Das wird erreicht durch Maſchinen, welche Karden, Krempel, Kratzen
heißen, und bei denen das weſentlichſte in der Gegeneinanderwirkung
cylindriſcher, mit hakenförmig feinen Drahtſpitzen dicht beſetzter Flächen
beſteht. Solche Kratzbelege oder Kardengarnituren ſind Streifen oder
Blätter von Leder, Kautſchukſtoff, Kunſttuch, welche die ſtumpf gegen
die Oberfläche abgebogenen Drahthäkchen enthalten, und mit denen die
[350]Die Textil-Induſtrie.
Trommeln oder Walzen beſchlagen reſp. umwickelt werden. Eine Karde
enthält immer eine große Trommel mit Kratzenbeſchlag, über dieſer feſt-
ſtehende oder bewegliche Deckel oder aber Walzen von geringerem Durch-
meſſer mit gleichem Beſchlag, wonach man Deckelkrempel und Walzen-
krempel, Igelkarden, unterſcheidet. Auch hier wird nicht nur ein Wickel
der Doubliermaſchine vorgelegt, ſondern zur Erhöhung der Gleich-
mäßigkeit in der Faſerverteilung befolgt man dasſelbe wie bei dieſer
Maſchine. Ebenſo begnügt man ſich nur bei ordinären Garnen mit
einmaligem Kratzen, kardiert jedoch meiſt zweimal, zuerſt mit der Vor-
karde, dann mit der Feinkarde, wobei der Wickel der letzteren aus
etwa 60 Bändern der erſteren gebildet wird, die auf der Lapping-
maſchine neben und übereinander auf eine Stange aufgebracht werden.
Bei feinſten Garnen wird noch häufiger gekrempelt, und benutzt man
teils Rollerkarden, teils Deckelkarden, deren Beſchläge immer feiner und
deren Geſchwindigkeiten immer größere werden. Statt des Kardierens ein
Kämmen anzuwenden, wie bei der Kammwolle, hat keine weitere Verbrei-
tung gefunden. — In den von der Feinkarde kommenden Bändern liegen
die Faſern keineswegs parallel, ſo wie das zur Bildung eines Fadens nötig
iſt; auch ſind die Faſern noch nicht in der gewünſchten Gleichmäßigkeit ver-
teilt. Um beides zu erreichen, läßt man mehrere der Bänder zuſammen
ſtrecken d. h. übereinander liegend durch die Fugen von 3 bis 5 auf ein-
ander folgenden Walzenpaaren gehen, von denen jedes folgende eine
etwas größere Geſchwindigkeit hat, als das vorhergehende, ſo daß alſo
das Material auseinander gezogen wird, wobei ſich die Faſern in
die Richtung des Zuges hinein, alſo parallel legen. Das die Streck-
maſchine verlaſſende Einzelband iſt bezüglich der Dicke und Breite
ungefähr wieder dem urſprünglichen gleich. Den Streckmaſchinen
werden die Töpfe oder Kannen der Feinkrempel vorgeſetzt und die ge-
ſtreckten Bänder wieder in Kannen aufgefangen. Man ſtreckt wieder-
holt, meiſt dreimal, und doubliert jedesmal 6 Bänder, welche man
demnach auf das 6fache zu ſtrecken hat. Sehr feine Garne werden
6 bis 8 mal hinter einander geſtreckt. Die gewonnenen Bänder müſſen
nun weiter verfeinert und zugleich gedreht werden, um in die eigent-
lichen Garnfäden umgewandelt zu werden. Das beſorgt zunächſt das
Vorſpinnen, und bedient man ſich hierbei der Vorſpinnmaſchinen.
Selten, nur bei ganz groben Garnen, reicht ein einmaliges Vorſpinnen
aus; faſt durchweg, wenigſtens für mittelfeine Garne erfolgt dasſelbe
auf zwei Maſchinen. Von der erſteren wird ein grober, lockerer Faden,
die Lunte, das Dochtgarn, grobes Vorgeſpinſt in der Dicke einer Feder-
poſe und darüber geliefert, und werden ihr die Kannen der letzten
Strecke überwieſen. Das erhaltene Produkt wird auf große, hölzerne
Spulen aufgewickelt, welche dann in der zweiten Vorſpinnmaſchine
Platz nehmen, um dort weiter zu Fäden von der Dicke einer kräftigen
Stricknadel verfeinert und zuſammengedreht zu werden. Man erhält
das feine Vorgeſpinſt, das Vorgarn. Hat man es mit feinen Garnen
[351]Die Baumwollſpinnerei.
zu thun, ſo wendet man 3 derartige Maſchinen an. Heute werden in
der Baumwollſpinnerei faſt nur noch als Vorſpinnmaſchinen die Spindel-
bänke, Flyers, bancs à broches, benutzt, alle übrigen Maſchinen, wie
die Bank von Abegg, die Röhrenmaſchine, die Eklipsmaſchine, der
Rota-Frotteur, meiſt engliſche und in Deutſchland und Frankreich ab-
geänderte Maſchinen ſind veraltet und unterſcheidet man obigem ent-
ſprechend: Grobflyer, Mittelflyer, Feinflyer oder für mittelfeine Garne
Grob- und Feinflyer. Alle drei unterſcheiden ſich nicht in der Kon-
ſtruktion, nur daß beim Grobflyer der Aufſteckrahmen für die Spulen
fehlt, da ja aus den Kannen geſponnen wird. Ein Unterſchied jedoch
liegt in den verſchiedenen Geſchwindigkeiten: der Grobflyer hat die ge-
ringſte, der Feinflyer die größte; außerdem werden die Spindeln, welche
die Drehung des Fadens bewirken, immer feiner und zahlreicher, z. B.
30 bis 50 beim Grobflyer, 60 bis 80 beim Mittelflyer und 80 bis 120
beim Feinflyer. Der Flyer gleicht in ſeiner Haupteinrichtung der ſpäter be-
ſchriebenen Waterfeinſpinnmaſchine, abgeſehen davon, daß die Dimen-
ſionierung und die Geſchwindigkeiten hier im Verhältnis zur Stärke
des zu bildenden Fadens ſtehen. Außerdem werden nicht nur die
Spindeln, welche die Fäden drehen, durch Räderwerke von der Haupt-
welle der Maſchine in Bewegung geſetzt, ſondern auch die hölzernen
Spulen, auf welche ſich das Vorgeſpinſt aufwickelt. Hierdurch ſind
manche Einrichtungen bedingt, welche die Vorſpinnmaſchine kom-
plizierter machen, als die ſonſt ähnlich wirkende Waterfeinſpinnmaſchine.
Mit ſolchen Einrichtungen ausgeſtattete Flyer führen den Namen
Differentialflyer. Sie arbeiten vollſtändig ſelbſtthätig; der Arbeiter hat
nur die gefüllten Spulen gegen leere umzutauſchen, für friſches Spinn-
material, alſo für die Kannen reſp. Spulen im Aufſteckrahmen, von
welchen abgeſponnen wird, Sorge zu tragen und endlich zerriſſene
Fäden wieder zu vereinigen, anzudrehen. — Endlich wird das er-
haltene Vorgarn der Feinſpinnmaſchine übergeben, welche aus ihm
durch weiteres Ausziehen und ſtärkeres Drehen den Faden von der
beabſichtigten Feinheit und der erforderlichen Drehung, Draht, Drall,
herſtellt. Die heute in Benutzung befindlichen Feinſpinnmaſchinen ſind
Watermaſchinen, auch Droſſel- oder Flügelſpinnmaſchinen benannt oder
Ringſpinnmaſchinen oder endlich Mulemaſchinen, Selfaktoren. Um-
ſtehende Zeichnung (Fig. 206) läßt die Hauptanordnung einer Water-
maſchine erkennen. Im oberen Teile derſelben befinden ſich die mit Vor-
garn gefüllten Spulen. Von hier laufen die Fäden den Streckwalzen
zu, wo ſie je nach der Feinheit auf das 4 bis 10fache der Länge aus-
gezogen werden, und ſind dann einzeln durch Öſen den Flügeln der ſich
ſchnell drehenden Spindeln zugeführt, auf welchem Wege ſie ihre Drehung
erhalten. Jede Spindel trägt eine hölzerne auf ihr loſe ſitzende Spule,
die durch die Reibung und Zentrifugalität mitgenommen wird, jedoch nur in
dem Maße, als Faden frei gegeben wird, und dieſer wickelt ſich auf
die Spule, die übrigens durch Bremſung mehr oder weniger zurück-
[352]Die Textil-Induſtrie.
gehalten wird, auf. Hierdurch hat man es in der Hand, den Draht
des Fadens in gewiſſen Grenzen zu ändern. Damit ſich der Faden
in neben einander liegenden Windungen auf die Spule aufwickelt,
ſtehen ſämtliche Spulen auf einer Bank, durch welche die Spindeln
frei hindurchgehen und der durch geeignete Mechanismen Auf- und
Abbewegung erteilt wird. Solcher Spindelreihen beſitzt die Maſchine
links und rechts, ſie iſt zweiſeitig, während die ähnlich gebauten Vor-

Figure 198. Fig. 206.

Watermaſchine.


ſpinnmaſchinen, Differentialflyer, nur einſeitig ausgeführt werden. Der
Spindeln ſind 100 bis 300 in einer Maſchine vorhanden und macht
jede derſelben 3600 bis 4200 Umläufe pro Minute. Zur Bedienung
von ca. 240 Spindeln iſt ein Mädchen erforderlich, welches im Andrehen
geriſſener Fäden von einem Kinde unterſtützt wird. — Die Spindeln
der Droſſelmaſchinen haben vielfache Abänderungen erfahren, teils um
die Produktionsfähigkeit zu erhöhen, teils um die Möglichkeit des
Spinnens feinerer und loſer gedrehter Garne zu ſchaffen, da es in der
[353]Die Baumwollſpinnerei.
Natur der Sache liegt, daß man mit der beſchriebenen Maſchine nur
feſtgedrehte, kräftigere Garne herzuſtellen vermag. Eine heute vielfach
gebrauchte Spindel iſt die Ringſpindel, welche der Spinnmaſchine den
Namen Ringſpinnmaſchine gegeben hat. Bei ihr geht jeder Faden
nach Paſſierung der Streckwalzen und Öſe zu einem Drahthäkchen,
welches auf einem feſten Ringe reitet, der in die Bank eingeſetzt iſt,
welche ſonſt die Spulen zum Aufwickeln des fertigen Garnes trägt.
Die hölzerne Spule ſitzt hier feſt auf der ſich drehenden Spindel, dreht
ſich alſo ſtets mit ihr und wird der Reiter dabei auf dem ſie umgebenden
Ringe in dem Verhältnis als Faden geſponnen wird, im Kreiſe ſchnell
herumgeführt, wodurch der Faden ſeinen Draht erhält und ſich auf
die Spule aufwickelt. Auch hier ſteigt die Bank mit ſämtlichen Ringen
und Reitern zum Zwecke der regelmäßigen Bewicklung auf und nieder.
Dadurch, daß nur das leichte Drahthäkchen durch den Faden herum-
geführt zu werden braucht, nicht aber, wie bei der Watermaſchine die
ſchwere, ſich mehr und mehr füllende Spule, kann man Garne von
größerer Feinheit und geringerer Drehung erzeugen. Infolge Wegfalls
der Flügel nimmt die Ringſpindel weniger Raum ein, können mehr
Spindeln in der Maſchine Platz finden. Letztere hat weniger Betriebs-
kraft nötig und kann man den Spindeln bis zu 10000 Umdrehungen
pro Minute geben. Mit Berückſichtigung aller dieſer Umſtände liefert
die heutige vervollkommnete Ringmaſchine ca. 40 % mehr Garn als
die Flügelmaſchine unter ſonſt gleichen Verhältniſſen.


Anders arbeiten die Mulemaſchinen, deren Hauptanordnung die
Fig. 207 zeigt. Wieder ſind die mit Vorgarn gefüllten Spulen
im Aufſteckrahmen der Maſchine eingeſetzt und gehen von hier die
Fäden über Führungsdrähte dem Streckwerk zu, um ausgezogen zu
werden. Die Spindeln, bis zu 800 und darüber, aber befinden
ſich in einem Wagen, der auf Geleiſen von dem Streckwerk entfernt
und demſelben wieder zugefahren werden kann. Sie tragen keine
hölzernen Spulen, vielmehr wird der Faden auf die blanke Spindel,
auf welche nur eine dünne papierne Röhre geſteckt wird, aufgebracht
und zwar in Geſtalt eines birnförmigen oder cylindriſchen, mit koniſchen
Enden verſehenen Körpers, der nach Fertigſtellung mit der Innenröhre
abgezogen wird und Cop oder Kötzer heißt. Die Spindeln drehen ſich
ſehr ſchnell und wird beim Ausfahren des Wagens dadurch, daß das
Streckwerk Faden durchzieht und dieſer an der äußerſten Spindelſpitze
unter ſtumpfem Winkel gegen die Spindelaxe gehalten wird, dem Faden
Drehung erteilt, ohne daß aufgewickelt wird. Wenn der Wagen
ſeinen Auszug vollendet hat, wird die Bewegung des Streckwerkes
unterbrochen, der Faden iſt eingeklemmt, und es legt ſich oben über
die ſämtlichen Fäden ein Draht, wodurch dieſelben rechtwinklig zur
Spindelaxe zu liegen kommen. Wird der Wagen nun eingefahren
und drehen ſich die Spindeln fortgeſetzt, ſo wickeln ſich die Fäden auf
ihnen auf, wobei der Draht mit Hinzunahme eines Gegendrahtes ab-
Das Buch der Erfindungen. 23
[354]Die Textil-Induſtrie.
wärts und dann wieder aufwärts geführt wird, ſo daß die Bewicklung
die gewünſchte Form erhält. Das Spiel beginnt von neuem, nachdem der
Wagen wieder vor den Streckwalzen angelangt iſt. Es leuchtet ein, daß
man das Streckwerk auch ſchon vor Beendigung des Wagenauszuges ab-
ſtellen und ſo die Fäden beliebig verfeinern, auch daß man dem Wagen,
wenn derſelbe am Ende der Ausfahrt angelangt iſt, noch mehr oder

Figure 199. Fig. 207.

Mulemaſchine.


weniger langen Stillſtand geben kann, bevor der Einzug bewerkſtelligt
wird, wodurch die Fäden mehr gedreht werden (Nachdraht). So hat man
es denn in der Hand, beliebig feine Garne und ſolche von größerem
oder geringerem Draht auf der Mulemaſchine zu verfertigen. Alle
Bewegungen führt die heutige Mulemaſchine ſelbſtthätig aus, weshalb
ſie auch Selfaktor genannt wird, während bei den erſten Maſchinen
das Aus- und Einfahren des Wagens, das Niederdrücken der Drähte
und ähnliches durch die Hand des Arbeiters verrichtet wurden, ſpäter
[355]Die Flachs-, Hanf- und Juteſpinnerei.
auch wohl teilweiſe die eine oder andere Manipulation durch die
Maſchine beſorgt wurde, ohne daß letztere ganz ſelbſtthätig war. Dann
hatte man den Halfſelfaktor. — Die von der Watermaſchine kommenden
feſter gedrehten und kräftigeren Garne, welche ausſchließlich zur Kette
von Geweben benutzt werden, bezeichnet man als Watergarne, die von
der Mulemaſchine als Mulegarne. Letztere werden aber nicht nur zu
Schuß verwendet, ſondern auch, wenn ſie ſtärker gedreht ſind, zur Kette.
Sie führen dann den Namen Mediogarne, Halbkettgarne.


Die Flachs-, Hanf- und Juteſpinnerei.


Wie bereits früher erwähnt, geſchieht das Hecheln meiſt in den
Spinnereien mit Zuhülfenahme der Hechelmaſchinen, wobei jedoch die
Handhechelei, ſo wie beſchrieben, nicht in Wegfall kommt. Als älteſte
Hechelmaſchine wird diejenige von Peters bezeichnet, welche der im
Jahre 1810 von Girard konſtruierten weichen mußte. Auch dieſes nach
und nach vielfach verbeſſerte Syſtem iſt bald verlaſſen und durch die
von Taylor, Wordsworth \& Co. in Leeds 1840 gebauten Maſchinen
verdrängt worden. Heute gern benutzte Hechelmaſchinen ſind die von
Combe \& Barbour in Belfaſt, Horner in Belfaſt u. a. Das Prinzip
derſelben beſteht darin, daß der geſchwungene Flachs in Partieen,
Riſten, Bärten, in Kluppen eingeſpannt wird, ſo daß etwa die Hälfte
der Bärte herunterhängt, wenn die Kluppen in eine obere Bahn der
Maſchine eingeſetzt werden. Über horizontale Walzen laufen zwei ein-
ander zugekehrte, vertikale endloſe Hecheltücher, d. h. aus Querlatten
zuſammengeſetzte Flächen, welche mit ſpitzen Nadeln garniert ſind. Die
Bärte hängen mit ihren Spitzen zwiſchen den Hecheltüchern und dieſe
bewegen ſich hier abwärts, ſo daß ſie die Flachsfaſern teilen und die
Unreinigkeiten herausarbeiten. Allmählich ſenkt ſich die Bahn mit den
Kluppen, wodurch die Nadeln die Bärte mehr und mehr nach der Mitte
zu faſſen. Sind dieſelben tief genug gekommen, ſo hebt ſich die Bahn
mit ſämtlichen Kluppen wieder in die Anfangsſtellung und es werden
nun dieſe um ein Hechelfeld verſchoben. Denn die Hecheltücher haben
nicht durchgehends dieſelbe Garnitur, ſondern ſind in Längsfelder ein-
geteilt, von denen jedes folgende einen feineren Nadelbeſatz hat. So
wird der Flachs denn mehr und mehr ausgehechelt, zuerſt die untere
Hälfte der Bärte, hernach durch Umſpannen derſelben die andere
Hälfte. Die durch die Bearbeitung herausgeholten Schäbeteile und
kurze Faſern ſetzen ſich zum Teil an den Hechelnadeln feſt und werden
von dieſen durch beſondere Vorrichtungen abgeſtreift. Der Abfall iſt
die Hechelhede, das Hechelwerg.


Der möglichſt vollkommen ausgehechelte Flachs gelangt zuvörderſt
auf die Anlegemaſchine zwecks Bildung eines Bandes. Letztere iſt
unter der Vorausſetzung von Regelmäßigkeit und Gleichförmigkeit des
Bandes bei der Glätte und Länge der Faſern bedeutend ſchwieriger,
23*
[356]Die Textil-Induſtrie.
als bei der Baumwolle. Der Flachs wird in gleichen Portionen
gerade ausgeſtreckt auf ein horizontales Zuführtuch gebracht, ſo daß
die ſpitzen Enden gehörig über einander greifen und einem Walzenpaar
zugeführt. Eine Reihe ſich nahezu horizontal fortbewegender Hechel-
ſtäbe, das ſind Stäbe mit ſpitzen Nadeln, ergreifen ihn, und zieht ihn
ein zweites Walzenpaar wieder heraus. Dabei haben die Hechelſtäbe
eine größere Geſchwindigkeit, als der vorbeiziehende Flachs; dieſer wird
demnach fortgeſetzt ausgehechelt. Infolge einer höheren Geſchwindigkeit
auch des zweiten Walzenpaares wird er auf dem Wege dorthin bedeutend
geſtreckt und gelangt, durch einen Trichter zuſammengeſchnürt, als ſchmales
Band in eine blecherne Kanne. — Die auf der Anlegemaſchine gewonnenen
Bänder werden alsdann auf den Zug- oder Streckmaſchinen weiter ge-
ſtreckt und dabei zu 3 bis 5 oder noch mehr doubliert, ſo wie es bei der
Baumwolle geſchieht. Während jedoch bei den Streckmaſchinen für
dieſes Material die Streckwalzen nahe zuſammenliegen, der Länge der
Baumwollfaſer entſprechend, haben dieſe Walzen hier einen ſehr großen
Abſtand von einander, da die Flachsfaſer ſehr viel länger iſt und jeden-
falls die Diſtanz der Walzen größer ſein muß, als die Faſerlänge, um ein
Zerreißen der Faſern zu verhüten. Auf der großen Entfernung müſſen
ſie deshalb unterſtützt werden, was durch Hechelſtäbe geſchieht, deren
Nadelſpitzen in die Flachsbänder eintauchen und durch größere Ge-
ſchwindigkeit wieder beſtändig aushecheln. Die Streckmaſchinen gleichen
daher vollſtändig der Anlegemaſchine, nur daß bei letzterer das Zu-
führtuch die Flachspartieen aufnimmt, während die erſteren die Kannen
mit den Bändern vorgeſetzt erhalten. Man benutzt 2 oder 3 ſolcher
Streckmaſchinen aufeinanderfolgend, um die Bänder immer gleichmäßiger
und ſchöner zu machen. — Nun folgt das Vorſpinnen, alſo die Ge-
ſtaltung eines groben Fadens aus dem Bande. Es erfolgt auf der
Spindelbank, Flyerbank, dem Differentialflyer, wobei nur bei feinen
Garnen die Bänder doppelt in die Maſchine laufen, um einen Faden
abzugeben. Das Streckwerk des Flyers iſt den bei den Anlege- und Zug-
maſchinen üblichen gleich, d. h. Hechelſtäbe beſorgen die Unterſtützung
zwiſchen den Streckwalzen, und hecheln dabei die Flachsbänder weiter
aus. Im übrigen ſtimmt die Spindelbank im Prinzip mit der für
Baumwolle benutzten überein. Bekannt und häufig in den Flachs-
ſpinnereien zu finden ſind die Maſchinen von Combe. — Das Fein-
ſpinnen geſchieht heutzutage hier und da noch mit Spindel und Rocken,
ſo wie in den älteſten Zeiten, z. B. in Böhmen und Schleſien, noch
häufiger aber auf dem Spinnrad, namentlich dem Trittrad, iſt aber
im allgemeinen durch die Maſchinenſpinnerei, welche bei guter Vor-
bereitung des Materials bedeutend beſſeres Garn liefert, verdrängt
worden. Dem Spinnen durch Hand geht ein Schaben und Bürſten
des geröſteten, geſchwungenen und gehechelten Flachſes voran. Beim
Spinnen ſelbſt muß der Flachs befeuchtet werden, am beſten mit
Speichel, ſonſt durch irgend eine ſchleimige Flüſſigkeit. Die Maſchinen-
[357]Die Flachs-, Hanf- und Juteſpinnerei.
ſpinnerei hat ſich verhältnismäßig ſpät entwickelt, indem bis vor ca.
75 Jahren die Flachsſpinnerei lediglich Hausinduſtrie war. Philip
de Girard nahm 1810 ein Patent auf eine Flachsſpinnmaſchine, und
1815 wurde er von Paris nach Wien berufen, um dort in der Nähe
eine Flachsſpinnerei einzurichten. John Faltis gründete 1837 in
Jungbuch bei Trautenau in Böhmen die erſte Flachsſpinnerei mit
engliſchen Maſchinen. Heute ſind dieſe Betriebe überall verbreitet
und üben die beſprochenen Vorarbeiten und das Feinſpinnen in
hoher Vollkommenheit aus. Letzteres geſchieht ausſchließlich auf
Watermaſchinen, wie ſie für die Baumwolle in Anwendung ſind. Es
wird trocken oder naß ausgeführt, d. h. die Bildung des Fadens ge-
ſchieht in trockenem Zuſtande, und empfiehlt ſich ſolches nur für gröbere
Garne, oder aber man leitet die zu ſpinnenden Fäden durch heißes
Waſſer; der Klebſtoff der Faſer löſt ſich und man erhält einen ſehr
guten und runden Faden. An Stelle des heißen Waſſers nimmt man
auch kaltes. Die naß geſponnenen Garne müſſen ſofort von den Spulen
abgehaſpelt und getrocknet werden, was in Trockenräumen zu ge-
ſchehen pflegt. — Aus den Abfällen, dem Werg, ſpinnt man ein
minderwertiges Garn, Werggarn, Towgarn. Das Werg wird, wie
die Baumwolle, auf Krempelmaſchinen gekratzt, um geordnet zu werden,
nachdem es zuvor gründlich durch Schütteln und Klopfen gereinigt
worden iſt. Die Kratzenbeſchläge der Krempel ſind hier dem gröberen
Spinnmaterial angemeſſen viel ſtärker, ſowie auch die Maſchinen be-
deutend kräftiger gebaut. Als Vließ oder weiche Watte jedoch wird
das gekratzte Werg nicht von der Maſchine abgegeben, ſondern
immer in Form von Bändern. Die weitere Bearbeitung dieſer meiſt
zweimal hinter einander gekratzten Bänder durch Strecken und Dou-
blieren, Vorſpinnen und Feinſpinnen weicht in keiner Weiſe von der
für Flachs beſchriebenen ab.


Was die Hanfſpinnerei anbelangt, ſo ſtimmt dieſelbe, ſolange es
ſich um Herſtellung von Garnen handelt, mit der des Flachſes über-
ein. Wegen der großen Faſerlänge muß er zerſtoßen oder zerſchnitten
werden, was auch in gewiſſen Fällen beim Flachs geſchieht. Sollen
jedoch grobe Hanfgarne, insbeſondere zu Seilerwaren erzeugt werden,
ſo werden in der neueren Zeit abweichende Maſchinen benutzt, welche
zuerſt von Sam. Lawſon \& Sons in Leeds eingeführt worden ſind.


Auch die Juteſpinnerei, welche in England 1832, in Deutſchland
1861 zu Vechelde bei Braunſchweig aufkam, ſtimmt im weſentlichen
unter Hinzunahme der Teilung der ſehr langen Faſern mit der des
Flachſes überein, wenn man beſſeres Garn, ſog. Jute-Leinengarn haben
will, oder aber ſie findet unter Benutzung von Karden, die das Material
in kurze Faſern zerreißen und dann zu einem Bande vereinigen, mehr
nach Art der Wergſpinnerei ſtatt und liefert das kardierte oder Jute-
Towgarn. Stets müſſen aber den Vorarbeiten noch ein Einweich- und
Quetſchprozeß vorangehen. Der erſtere beſteht darin, daß man die
[358]Die Textil-Induſtrie.
Faſern in kleineren Partieen ſchichtenweiſe lagert und die Schichten mit
Waſſer und Öl beſprengt. Zur Ausführung des zweiten Prozeſſes
dient die Jutequetſchmaſchine, welche mittelſt vieler hinter einander an-
geordneter geriffelter Walzenpaare das eingeweichte Material mürbe
macht. —


Die Wollſpinnerei.


Man unterſcheidet Streichwollſpinnerei und Kammgarnſpinnerei.
Veranlaſſung zu dieſer Trennung hat die Kräuſelung, eine der wichtig-
ſten Eigenſchaften der Wolle gegeben. Dieſelbe iſt bei den Wollhaaren
ſehr verſchieden und kann größer und geringer ſein. Stärker gekräu-
ſelte Wollhaare, welche eine weniger beträchtliche Länge haben, als
ſchlichte, werden zu Streichgarn verarbeitet, ſchlichte Haare von größerer
Länge zu Kammgarn. Aus Streichgarn verfertigte Gewebe, Tuche,
laſſen ſich einfilzen, einwalken, d. h. wenn man ſie mit Seife, Urin,
Walkerde, behandelt und auf ſie Druck und Stoß einwirken läßt, ſo
verfangen ſich die gekräuſelten Härchen in den Fäden und diejenigen
der benachbarten Fäden in der Ware und halten ſich, da die Ober-
fläche eines Wollhaares ſchuppig iſt, gegenſeitig feſt, ſchließen allmählich
die Poren zwiſchen Kette- und Schußfäden und bilden die ſog. Filz-
decke. Das Gewebe wird hierdurch dicker, läuft in der Länge und
Breite ein, und die Ware kennzeichnet ſich dadurch, daß in ihr die ein-
zelnen Fäden nicht mehr ſichtbar ſind. Dagegen läßt ſich das mit den
langen, ſchlichten Wollhaaren und daraus hergeſtellten Garnen und
Waren nicht oder doch nur in ganz geringem Grade erreichen.
Kammgarnſtoffe laſſen daher immer die Bindung der Fäden, d. i. die
Kreuzung von Kette und Schuß mehr oder weniger deutlich erkennen.
Außer den genannten beiden Arten der Wollſpinnerei exiſtiert noch eine
dritte, die Kunſtwollſpinnerei, welche die in wollenen und halbwollenen
Lumpen befindlichen Wollhaare ausſcheidet und wieder zu Garnen ver-
arbeitet, die unter dem Sammelnamen Kunſtwolle bekannt ſind.


Was die Streichwollſpinnerei anbelangt, ſo ſind die in Betracht zu
ziehenden Operationen: das Waſchen, die Fabrikwäſche; das Färben,
wenn ſolches ſchon in der Wolle ſtatthaben ſoll; das Wolfen, d. i. das
Entfernen anhängender Verunreinigungen und das Auflockern der
Wolle; das Einfetten, Fetten, Schmalzen derſelben; das Kratzen, Krem-
peln; das Vorſpinnen und das Feinſpinnen, Operationen, wie wir ſie
zum Teil auch in der Baumwollſpinnerei gefunden haben. Die Fabrik-
wäſche, welche eine gründliche Reinigung der Wolle von dem Fettſchweiß
bezweckt, zerfällt in das Entſchweißen, Spülen und Trocknen. Zum
Entſchweißen bedient man ſich in kleineren Betrieben, wie ſeit langen
Jahrhunderten des gefaulten Urins, in größeren Betrieben der Laugen
aus Soda, wo auch die Handarbeit durch maſchinelle erſetzt iſt. Große,
in mehrere Behälter zerfallende Maſchinen, unter dem Namen Leviathane
bekannt, nehmen die Lauge auf, und wird die Wolle mechaniſch aus
[359]Die Wollſpinnerei.
einem Behälter in den anderen befördert, um zuerſt eingeweicht und
dann ausgewaſchen zu werden. Als eine der neueſten Konſtruktionen
iſt die von Mc. Naught anzuführen. Iſt die Wolle gehörig rein aus-
geſpült, ſo wird ſie getrocknet, wenn ſie nicht gleich gefärbt werden ſoll;
ſonſt reiht ſich dem Spülen das Färben an, und folgt dann erſt der
Trockenprozeß. Man entwäſſert zunächſt die naſſe Wolle in Centrifugen,
d. ſ. perforierten Trommeln auf vertikaler Axe, welche die Wolle auf-
nehmen und ſchnell in Rotation verſetzt werden, wobei ein beträcht-
liches Waſſerquantum ausgeſchleudert wird. Darauf folgt das
eigentliche Trocknen in Trockenböden oder mittelſt beſonderer Trocken-
maſchinen. Seit noch nicht langer Zeit iſt der Karboniſations-
prozeß eingeſchoben worden, welcher gegenwärtig faſt überall durch-
geführt wird. Die gewaſchene und getrocknete Wolle iſt zwar von dem
Fett und Schmutz befreit, doch ſind die ſog. Kletten, d. ſ. Samenkapſel-
teilchen von Diſteln und ähnliche vegetabiliſche Anhängſel, welche beim
Lagern des Schafes oder durch andere Zufälligkeiten ſich in den Haaren
verfangen haben, nicht herausgeſchafft worden. Früher mußte dies
nach Möglichkeit beim Krempeln geſchehen. Das heutige Entklettungs-
verfahren beſteht in der Behandlung der Wolle mit einem Salzſäure-
oder Schwefelſäurebad in einer Grädigkeit, daß zwar die vegetabiliſche
Subſtanz zerſtört, verkohlt, karboniſiert, dagegen die Wollfaſer nicht ge-
ſchädigt wird. Hierauf ſchleudert man die Wolle aus, trocknet ſie ſcharf
in Heizkammern und klopft ſie auf Schlagmaſchinen, Klopfwölfen, wo-
durch die verkohlten Teilchen in Staub zerfallen, den ein Exhauſtor
fortführt. Die in der Wolle zurückgebliebene Säure neutraliſiert man
durch ein Sodabad. Man entklettet aber auch auf Klettenwölfen nur
mechaniſch, ohne zu karboniſieren, und ſucht hierdurch die Beimengungen
auszuſcheiden. — Durch den nun folgenden Prozeß des Wolfens will
man dasſelbe erreichen, wie in der Baumwollſpinnerei durch das Öffnen,
nämlich Auflockerung und weitere Reinigung. Ferner miſcht man ver-
ſchiedene Sorten Wolle, insbeſondere mehrfarbige mit einander. Endlich
muß die Wolle vor dem Kardieren eingefettet werden. Alles das ge-
ſchieht durch Maſchinen, die Wölfe heißen, und ſo kennt man denn
Reiß-, Schlag- oder Klopfwölfe für den erſten, Miſch- oder Melier-
wölfe für den zweiten und Ölwölfe für den letzten Zweck. Im weſent-
lichen gleichen die Wölfe den für Baumwolle benutzten, d. h. ihr Haupt-
teil iſt eine ſchnell rotierende mit einer hölzernen Kappe bedeckte cylin-
driſche Trommel, welche mit einigen Reihen gerader oder gekrümmter
Zähne garniert iſt, durch welche die Wollflocken zerteilt werden. Un-
reinigkeiten fallen durch einen unteren Siebboden. Das Einfetten findet
ſtatt, wenn die Wolle gehörig aufgelockert und gereinigt iſt. Früher
diente Rüböl dazu, doch wird es ſeiner harzigen Beſtandteile halber
und der böſen Folgen gelegentlich des Krempelns oder ſpäteren Walkens
nicht mehr benutzt. Das empfehlenswerteſte Mittel iſt Baumöl, doch
iſt es teuer und wird deshalb nur für feinſte Wollen gebraucht, während
[360]Die Textil-Induſtrie.
man für mittlere Sorten Ölſäure, Oleïn nimmt. Neuerdings führen
ſich Mineralöle aus Petroleumrückſtänden ſehr gut ein. Mit dem
Schmelzmittel wird die Wolle beſprengt und dann zwecks gleich-
mäßiger Verteilung durch die Hand und den Wolf durcheinander ge-
arbeitet, oder aber man bedient ſich des Ölwolfes, welcher alle zum
Schmelzen erforderlichen Arbeiten vereinigt. — Nach Beendigung des
Einfettens kann das Krempeln folgen, welches denſelben Zweck hat,
wie der gleichbenannte Prozeß in der Baumwollſpinnerei, obſchon die
für Wolle dienenden Karden manche Mechanismen hinzunehmen, welche
dem längeren, gekräuſelteren und gröberen Material, ſowie dem höheren
Preiſe desſelben Rückſicht tragen und die Arbeit mit eingehendſter Sorg-
falt ausführen. Denn das Krempeln ſpielt bei der Streichwolle eine
viel größere Rolle, als bei den bisher beſprochenen Materialien. Ur-
ſprünglich war, wie auch bei der Baumwolle, das Kratzen Handarbeit
und wurde dieſelbe mittelſt Brettern ausgeführt, welche mit Kratzen-
beſchlag verſehen waren. Die Krempel der Neuzeit ſind derartig ver-
vollkommnet, daß ſie kaum der Verbeſſerung fähig ſein dürften. Auch
hier muß mehrmals hintereinander gekratzt werden, und heißt die zuerſt
benutzte die Reißkrempel, die zweite die Fein- oder Pelzkrempel und
die dritte Vorſpinnkrempel oder Continue. Erſtere liefert die Wolle als
eine dünne, in mehreren Lagen auf eine Trommel gewickelte Watte
von beträchtlicher Breite, die Decke oder den Pelz. Durch Aufſchneiden
erhält man Stücke, welche dem Zuführtiſch der zweiten Krempel ange-
paßt ſind. Sie entläßt die Wolle gleichfalls in Form einer Decke, welche
jedoch bedeutend größere Länge hat, als die Decke der Reißkrempel.
Als letzte Krempel dient die Continue, welche die Decke, den Flor, des
Feinkrempels erhält und die Wolle in einer Menge nebeneinander
liegender ſchmaler, unten ſich getrennter Bänder abgiebt, welche durch hin
und her gehende Walzen, Würgelwalzen, ſofort in grobe Fäden zuſammen-
gerollt und auf dünne Walzen aufgewickelt werden. Die Wirkung der
Würgel- oder Nitſchelwalzen iſt gerade ſo, als ob man ein Band
zwiſchen die flachen Hände legt und dieſe hin und herreibt. Hier iſt
alſo die Krempel, die Vorſpinnmaſchine. Übrigens geſchieht ähnliches
in einzelnen Fällen auch bei der Baumwolle, man läßt dort auch die Fein-
ſpinnkrempel die Vorſpinnmaſchine ſein und ſpart ſo das Vorſpinnen
auf dem Flyer, doch läßt ſich das nur für mittlere Ware verwenden.
Bei den Wollkrempeln iſt heute faſt überall die hübſche und Arbeit
und Transport erſparende Einrichtung getroffen, daß die Decke der
Reißkrempel durch verbindende Mechanismen auf die Feinkrempel
überführt wird, oder daß ſolches zwiſchen letzterer und Continue
geſchieht. Höchſt mannigfach ſind die Konſtruktionen, welche ſich auf
die Trennung des abgeholten Flors der Continue in ſchmale Bänder
beziehen und die man als Florteiler bezeichnet. — Aus den groben
Fäden werden nun durch Bearbeitung auf der Feinſpinnmaſchine die
feinen Fäden gebildet. Als ſolche verwendet man meiſt die Selfaktoren,
[361]Die Wollſpinnerei.
wie ſie bei der Baumwollſpinnerei beſprochen worden ſind, doch fehlen
bei ihnen die Streckwalzen, und ſind dieſe durch ein einfaches Walzen-
paar erſetzt. Das Ausziehen der Fäden erfolgt demnach nicht durch
ein Streckwerk, ſondern durch Stillſetzen des Walzenpaares, während
der Spindelwagen noch weiter ausfährt. Watermaſchinen, und zwar
nach dem Prinzip der Ringſpinnmaſchinen, ſind erſt ſeit der Mitte der
60er Jahre in der Streichgarnſpinnerei durch A. Vimont in Vine
(Calvados) verſucht worden und haben ſich ſeit Anfang der 70er Jahre
durch die Konſtruktion von C. Martin in Verviers mehr und mehr
eingeführt. Teppichgarne und Deckengarne ſpinnt man auch wohl
gleich auf der Continue fertig und iſt die verbreitetſte hierher gehörige
Continue mit Spinnapparat die von O. Schimmel in Chemnitz.


Die Kunſtwolle, alſo die aus wollenen und halbwollenen Lumpen
und Garnabfällen wiedergewonnene Wolle iſt, obgleich minderwertig,
von hoher Bedeutung in der Wollinduſtrie geworden. Die Er-
zeugniſſe aus ihr ſind ungleich billiger, als aus guter Schurwolle, und
das Ausſehen der Ware wird kaum beeinträchtigt, wohl aber die
Haltbarkeit, doch ſpielt letztere bei der heutigen ſchnell wechſelnden
Mode eine untergeordnetere Rolle als in früheren Zeiten, insbeſondere,
wenn es ſich um Damenſtoffe handelt. Die Fabrikation der Kunſtwolle
hat man ſeit ca. 50 Jahren erfunden. Man unterſcheidet Schoddy,
Mungo und Extraktwolle, je nachdem zur Gewinnung Lumpen aus
Kammgarnſtoffen, geſtrickten und gewirkten Waren oder aber aus
ſtreichwollenen Tuchen oder endlich aus halbwollenen Geweben benutzt
wurden. Bei Shoddy und Mungo brauchen die Lumpen nur auf dem
Lumpenwolfe von ihnen anhaftenden Unreinigkeiten entſtäubt und zer-
kleinert, und allenfalls ausgewaſchen zu werden. Dann werden die
erhaltenen Fadenſtücke durch Kratzen in Haare aufgelöſt und weiter
verarbeitet, wie die Streichwolle. Dagegen hat bei der Extraktwolle
vor der Zerfaſerung noch der bereits früher beſchriebene Karboniſations-
prozeß zu erfolgen, durch welchen unter Anwendung von Säuren die
vegetabiliſchen Faſern, Baumwolle oder Leinen, zerſtört werden.


Während bei der Streichgarnſpinnerei die Hauptvorbereitungs-
arbeit das Kratzen oder Krempeln bildet, iſt diejenige der Kammgarn-
ſpinnerei das Kämmen. Eine ſcharfe Grenze läßt ſich zwiſchen beiden
Wollen nicht ziehen. Die auſtraliſchen und die Buenos-Ayres-Wollen
liefern das beſte Material. Cheviotkammwollen, von auſtraliſchen
Croßbred-Schafen herrührend, auch von England als Lüſtrewollen von
dort gezüchteten Schafen kommend, dienen gleichfalls als vorzügliches
Material für Kammgarne. Die Kammwolle muß gehörig ſortiert
werden und zwar hauptſächlich in Bezug auf ihre Länge und den
Grad ihrer Schlichtheit, ſelbſtredend auch auf denjenigen ihrer Feinheit,
doch iſt letzteres nicht ſo wichtig, als bei der Streichwolle, welche
möglichſt in Partieen von gleicher Feinheit zuſammenzuſtellen iſt. Zu-
nächſt iſt die ſortierte Kammwolle zu reinigen und aufzulockern, was
[362]Die Textil-Induſtrie.
mittels eines Wolfes, Schlagwolfes, ausgeführt wird. Bei ſtarker
Verunreinigung durch Kletten, Kot, Staub, tritt, wie in der Streich-
wollſpinnerei, der Klettenwolf an ſeine Stelle. Auch hier wird die
Fabrikwäſche ausgeübt, nämlich die Wolle gründlich entſchweißt, und
dient hierzu die als Leviathan benannte große Waſchmaſchine, nur daß
das kalte Waſſer zum Ausſpülen hier fortfällt und ſämtliche 3 bis 4 Be-
hälter mit verſchieden-grädigen Laugen gefüllt ſind. Mit dem Leviathan
iſt gleich ein Trockenapparat verbunden, welcher die Wolle beim Trocknen
ſtets auflockert, wobei die feuchten Dämpfe abgeſaugt werden.


Ferner beſitzt die Maſchine als Schlußorgan einen Einölapparat,
welcher auf die ihn paſſierende Kammwolle Olivenöl mit Seifenwaſſer
oder letzteres allein tröpfelt. Um die Wolle vollends zu öffnen und
die Faſern parallel zu ordnen, auch noch weiter zu reinigen, wird ſie
auf der bekannten Krempel der Streichwollſpinnerei gekratzt, doch begnügt
man ſich hier mit einem einmaligen Durchgang durch dieſe Maſchine.
Man erhält von ihr Bänder oder Wickel, welche einer Strecke übergeben
werden. Die Streckmaſchine gleicht der in der Flachsſpinnerei gebräuch-
lichen; eine Nadelwalze oder Nadelkette, Hechelkette, Gillbox, unterſtützt
das zu ſtreckende, doublierte Band, wie dort, und ordnet die Haare,
indem das Band ſchnellere Geſchwindigkeit hat, als die Nadelkette.
Dieſem Vorſtrecken folgt das Kämmen, in früheren Zeiten durch Hand
unter Benutzung der Wollkämme, heute durch Kämmmaſchinen ausgeführt.
Das Prinzip des Kämmens beſteht in der Trennung der langen, ſpinn-
baren Wollhaare von den kürzeren, wertloſeren, oder ganz unbrauch-
baren, und der Beſeitigung noch vorfindlicher Klettenteile. Als erſte
brauchbare Kämmmaſchine darf die von Heilmann gelten, nachher durch
Schlumberger verbeſſert. Neben dieſem Syſtem exiſtiert gegenwärtig
eine ganze Menge von anderen Syſtemen, ſo das von Noble, Holden,
Liſter, Little und Hübner. Im großen ganzen hat die Heilmann-Schlum-
bergerſche Kämmmaſchine folgende Einrichtung: Die auf der Krempel
gewonnenen ſchmalen Bänder laufen zu etwa 16 zu einem breiten
Vließ vereinigt in eine Zange, deren einer Teil einen Deckel mit
Nadeln hat, die in das über den unteren Teil geführte Vließ einſtechen,
ſo daß ein Stück desſelben, ein Wollbart, am Ende dieſes Teiles
herabhängt. Dieſer Bart wird durch Aufſetzen des zweiten am unteren
Ende geriffelten Teiles der Zange auf den erſten, mit Deckel verſehenen,
eingeklemmt und feſtgehalten, und durch eine ſich drehende, ſtückweiſe
mit Nadeln beſetzte Trommel, die Kämmwalze, ausgekämmt. Nach-
dem ſich währenddem der Nadeldeckel von ſeinem Zangenteil abge-
hoben, durch die erforderlichen Nebenbewegungen friſches Vließ in
denſelben zugelaſſen, ſich dann der Deckel wieder geſenkt hat, und
der Bart fertig ausgekämmt worden iſt, öffnet ſich die Zange, zwei
ſich drehende Walzen ergreifen den Anfang desſelben und ziehen
ihn ein. Hierbei ſticht da, wo das unausgekämmte Vließ beginnt,
von oben ein mit Nadeln beſetzter Kamm in dasſelbe und wird es in-
[363]Die Wollſpinnerei.
folge des Durchziehens durch ihn vorgekämmt. Die Zange ſchließt ſich
wieder, die Drehung der Walzen hört auf, dagegen entfernen ſie ſich
mit dem eingeklemmten Band. Dieſes reißt hierdurch ab und hängt
ein Bartende, nur vorgekämmt, aus der Walzenfuge herunter, während
von der Zange wieder ein wie zuerſt beſprochener Bart frei geworden
iſt. Dem Auskämmen dieſes letzteren durch die rotierende Trommel
folgt dann immer unmittelbar das Auskämmen des erſteren. Die Be-
wegungen gehen dergeſtalt vor ſich, daß ſich das abgeriſſene Ende mit
dem Anfang des neuen Bartes beim Einziehen durch die Walzen deckt
und ſo die Bärte kontinuierlich mit verſetzten Fugen auf einander gelegt
werden, wodurch die Walzen demnach wieder ein fortlaufendes ge-
kämmtes Vließ liefern, das mittelſt eines Trichters zu einem ſchmäleren
Bande zuſammengefügt wird. Eine Kanne nimmt dieſen ſog. Kamm-
zug auf. Die ausgekämmten Haare und Unreinigkeiten werden von der
Kämmwalze durch einen Reinigungsapparat abgenommen und bilden
die Kämmlinge. Nun folgt wieder Strecken der Bänder auf Streck-
maſchinen. War die Wolle mit Öl behandelt, ſo muß ſie entfettet und
geplättet werden, ſonſt fällt dieſe Operation fort. Die Plättmaſchine,
Liſſeuſe, nimmt die Wickel oder Spulen mit den geſtreckten Bändern
auf, letztere paſſieren zwei mit Seifenwaſſer angefüllte Bottiche und
werden über dampfgeheizte, kupferne Röhren gezogen, geplättet, getrocknet
und auf Spulen aufgewickelt, nachdem ſie durch ein Streckwerk noch
geordnet wurden. Weitere Streckmaſchinen legen die verwirrten Haare
mehr und mehr parallel, was man auch die Entfilzung, Defeutrage,
nennt. Wenn das zu erzeugende Kammgarn nicht rohweiß bleiben,
ſondern farbig werden ſoll, ſo können die Kammzüge nach dieſem dritten
Strecken gefärbt werden. Jedoch findet das Färben auch häufig im
fertigen Garn ſtatt. Auch Melangen werden fabriziert und zwar durch
Anlegen verſchieden farbiger Bänder auf den Streckmaſchinen und durch
Strecken von Bändern, welche in Zwiſchenräumen farbig bedruckt ſind.
Nach dem Färben oder Drucken der Kammzüge muß nochmals geſtreckt
werden; erſt jetzt kann das Vorſpinnen von ſtatten gehen. Die Vor-
ſpinnmaſchine gleicht einer Strecke, die das Ausziehen der Bänder be-
ſorgt, jedoch iſt ſie mit einem Würgelapparat, wie die Vorſpinnkrempel
der Streichwollſpinnerei, ausgeſtattet, um die Bänder zu groben Fäden
umzuwandeln. Es wird nicht eine ſolche Maſchine benutzt, ſondern
deren 9 bis 10, wobei wiederholt doubliert wird. Auf Water- oder
Mulemaſchinen, welche dieſelbe Bauart aufweiſen, wie für Baumwolle,
aber dem längeren Faſermaterial Rechnung tragen, wird feingeſponnen.
Die beſprochenen Maſchinen werden in ſehr verſchiedener Zuſammen-
ſtellung und Reihenfolge verwendet, je nach der Beſchaffenheit des
Materials und der Feinheit der zu produzierenden Garne und haben
ſich dadurch in den einzelnen Ländern beſtimmte Spinnſyſteme aus-
gebildet, von welchen das deutſche, engliſche und franzöſiſche von Be-
deutung geworden ſind.


[364]Die Textil-Induſtrie.

Die Seidenſpinnerei.


Spricht man von Seidenſpinnereien, ſo verſteht man darunter vielfach
diejenigen Anſtalten, welche ſich mit dem Abhaſpeln der Cocons und der
Verarbeitung der Fäden zu Rohſeide, Grège, befaſſen, obgleich eine
Spinnerei im eigentlichen Sinne wegen des fertig auf dem Cocon befind-
lichen Fadens nicht erforderlich iſt. Doch hat ſich das ſo eingebürgert.
Streng genommen ſollte die Bezeichnung Seidenſpinnerei nur denjenigen
fabrikativen Etabliſſements zukommen, die die Floret- oder Chappeſeide
und die Bouretteſeide bereiten, welche einem wirklichen Spinnprozeß
unterliegen; doch bezeichnet man ſolche Spinnereien als Floret- oder
Chappeſpinnereien und als Bouretteſpinnereien. Die zum Abhaſpeln
beſtimmten Cocons werden in drei Klaſſen geteilt: die ſchönſten, feſteſten,
ſeidenreichſten, welche den feinſten und glänzendſten Faden liefern,
dienen zur Anfertigung der Kettenſeide, Organzin, diejenigen von
mittlerer Güte und Stärke geben die Schußſeide, Trama, und die
ſchwächſten Cocons mit grobem Faden liefern die Pelſeide, eine zum
Stricken, Nähen und dergleichen verwendete Seide. Das Abhaſpeln
geſchah in den älteſten Zeiten in der Weiſe, daß die Cocons in ein
Gefäß mit warmem Waſſer geworfen, die Fadenanfänge derſelben durch
Klopfen oder Schlagen mit einer Rute oder einem Stäbchen auf-
gefangen und die Fäden zu 3 bis 8 und mehr durch ein Auge ge-
zogen wurden, wobei ſie zu einem einzigen Faden zuſammenleimten.
Der ſo gewonnene Faden wurde auf einem Haſpel aufgewickelt. War
einer der Cocons abgehaſpelt, ſo mußte ein neuer angeworfen werden.
Auch heute geſchieht das Abhaſpeln noch in gleicher Weiſe, doch ſind
die Apparate, welche dazu verhelfen, nicht mehr ſo primitiv, wie ehedem.
Vielfach führen die Arbeit aber Maſchinen aus, welche mechaniſche
Seidenhaſpel heißen. Der Haſpel, welcher den Faden aufzunehmen hat,
wird mechaniſch betrieben, die Arbeiterin hat nur die geleerten Cocons
durch Anwerfen friſcher zu erneuern und kann gleichzeitig 4 bis 8 Fäden
beherrſchen. Auch das Aufſuchen der Fadenanfänge wird mittelſt einer
mechaniſch bewegten Bürſte ausgeführt, obgleich die Handarbeit hierfür
vorzuziehen iſt, weil ſie weniger Abfall giebt. Die Rohſeide-, Grège-
fäden, werden dann noch, bevor ſie gezwirnt werden, auf der ſog.
Zwirnmühle mehr oder minder ſtark gedreht, mouliniert, um dem
Spalten in die einzelnen Coconfäden vorzubeugen. — Aus den Abfällen
beim Abhaſpeln der Cocons, ferner den nicht abwickelbaren, fehlerhaften
und ſchlechten Cocons gewinnt man durch Spinnen die oben berührte
Floret- oder Chappeſeide, eine minderwertige Seide, welche jedoch heute
in der Seideninduſtrie nicht mehr entbehrlich iſt, und aus den bei
dieſer Fabrikation entſtehenden Rückſtänden gleichfalls durch Spinnen
die Bouretteſeide. So wie man aus wollenen und halbwollenen
Lumpen die Kunſtwolle gewinnt, ſo verwertet man auch die ſeidenen
und halbſeidenen Lumpen in gleicher Weiſe und erhält den Seiden-
[365]Die Seidenſpinnerei.
ſhoddy. Während die Bouretteſpinnerei in ſteter Entwickelung begriffen
iſt, hat ſich die Shoddyſpinnerei bislang nicht einzuführen vermocht.
Für die Floretſpinnerei, deren Hauptſitz zur Zeit die Schweiz iſt,
machen ſich eine Menge von Vorarbeiten nötig, die je nach den ge-
wählten Abfällen verſchiedener Art ſind. Nimmt man Doppelcocons,
d. h. ſolche, in welchen ſich gleichzeitig zwei Raupen eingeſponnen haben
und die beiden Fäden verwirrt durch einander liegen oder die beim
Abhaſpeln der Cocons und die beim Moulinieren der Seide entſtehenden
Abfälle — das geſamte Material bezeichnet man als Struſen — ſo
iſt der Vorbereitungsprozeß ein anderer, als wenn man nur Cocons
nimmt, die in Folge von Fehlern, wie Flecken, Unreifheit, Unvollendung,
Durchbeißung durch den entwickelten und ausgeſchlüpften Schmetterling
für reine Seide untauglich ſind. Die Struſen werden einem Fäulnis-
prozeß, Macérage, unterworfen, um den Seidenleim zu zerſtören, dann
mit warmem Seifenwaſſer unter Anwendung von Stampfen und hierauf
mit reinem Waſſer gut ausgewaſchen und getrocknet. Ein Öffner,
Fillingmaſchine, nimmt das mit Seifenwaſſer eingeſprengte und längere
Zeit ſtehen gelaſſene Material auf, zerteilt und lockert es. Nun folgt
ein Kämmen auf der Kämmmaſchine, Dreſſingmaſchine, in ähnlicher Weiſe
wie bei der Kammwolle; es ergeben ſich Kammbärte und als Abfall
Kämmlinge. Die erſteren werden zwecks Miſchung verſchiedener Sorten
des Materials einer Anlegemaſchine übergeben, welche eine kurze Watte
von 6 bis 7½ m Länge und 20 cm Breite bildet. Abgeſehen von der
Form des Produktes erinnert dieſe Maſchine an die gleichbenannte,
für Flachs benutzte. Durch die Wattenmaſchine werden alsdann dieſe
Watten doubliert, geſtreckt und in ſchmale Bänder verwandelt, die in
Kannen aufgefangen werden. Auf Streckmaſchinen wird wiederholt
geſtreckt, auf einer Flyervorſpinnmaſchine, wie in der Flachs- und
Kammgarnſpinnerei üblich, der grobe Faden gebildet und letzterer
ſchließlich auf der Feinſpinnmaſchine verfeinert und ſtärker gedreht.
Faſt ausnahmslos wählt man hierfür die Watermaſchine. Hat man
Cocons als Rohmaterial, ſo kommt das Fäulen in Wegfall; ſie
werden nur mit warmem Seifenwaſſer gewaſchen und geſtampft, her-
nach mit reinem kalten Waſſer ausgeſpült, getrocknet und alsdann
auf einer Dreſch- oder Klopfmaſchine behandelt, nachdem die Maſſe
vorher mit Seifenwaſſer beſprengt wurde. Der dann folgende Cocon-
öffner veranlaßt eine völlige Auflöſung der Cocons und nun reihen
ſich die gleichen Operationen an, welche die Struſen durchzumachen
haben, nachdem ſie geöffnet worden ſind, nämlich Kämmen, An-
legen, Bänderbilden, Strecken, Vorſpinnen und Feinſpinnen. —
Für die Bouretteſpinnerei bilden die Kämmlinge das Geſpinſtfaſer-
material.


Die Schlußoperationen in den Spinnereien irgend welcher Art
beſtehen in dem Sortieren der Garne, dem Numerieren, d. i. die Be-
ſtimmung ihrer Feinheit, dem Abhaſpeln der Fäden von den hölzernen
[366]Die Textil-Induſtrie.
Spulen in Strahnform zum Zwecke des bequemeren Transportes,
während die Cops meiſt als ſolche verſandt werden, und dem Ver-
packen der fertigen Garne.


Weitere Behandlung der Garne.


Die in den Spinnereien hergeſtellten Garne werden in den
ſelteneren Fällen in rohem Zuſtande verwendet, d. h. in der der Ge-
ſpinſtfaſer eigenen Farbe. Waren die Geſpinſtfaſern bereits gefärbt,
ſo hatte der Faden ſchon beim Verlaſſen der Spinnmaſchine die vor-
geſchriebene Farbe. Sonſt aber übernimmt jetzt die Färberei die
Arbeit und färbt die Garne. Vielfach müſſen dieſelben auch noch ge-
zwirnt, d. h. zu zweien oder mehreren zuſammengedreht werden zu
dem Zweck, einen glatteren und feſteren, auch runderen Faden zu er-
zielen. Das kann Sache der Spinnerei ſein oder aber beſonderer
Fabriken, der Zwirnereien, doch befaſſen ſich auch Webereibetriebe für
ihren eigenen Bedarf damit. Andere Garne, wie aus Baumwolle, vor
allem aber aus Leinen, jedoch auch aus Wolle, wandern in rohem
Zuſtande in die Bleicherei, um dort eine erhöht weiße Farbe zu er-
halten. Auch die Druckereien nehmen teil an der Fertigſtellung der
Garne und bedrucken ſolche, ſtellen geflammte, melierte, chinierte Garne
her. Für Phantaſiewaren, Poſamenten ꝛc. werden Garne in beſonderer
Weiſe zuſammengezwirnt zu ſogen. Effekt- oder Phantaſiegarnen, wie
Schleifengarne, Knotengarne, wobei alle nur möglichen Fadenmaterialien
in Benutzung treten, auch ſolche mineraliſcher Natur, und führen das
Zuſammenzwirnen die Kunſtzwirnereien, auch wohl Webereien aus.
In früheren Zeiten diente das Trittrad zur Herſtellung von Zwirnen,
während für die Verfertigung ſtärkerer Schnüre, Kordeln, Seile, das
Drehrad Anwendung fand, ein noch heute ſowohl in der Seilerei, als
auch in der Poſamentiererei benutzter Apparat. Als jedoch die
Spinnmaſchinen erfunden waren, wurde das Zwirnen von Fäden
für Webe- und dergleichen Zwecke auf ihnen vorgenommen, und kann
jede der beſtehenden Konſtruktionen als Zwirnmaſchine verwendet werden,
wenn man ſtatt eines Fadens deren zwei oder mehrere gleichzeitig zu
demjenigen Organ führt, welches die Drehung erteilt. Es hat ſich
aber nur die Watermaſchine zu beregtem Zweck eingeführt und zwar
mit Flügelſpindel und mit Ringſpindel, ſo daß man heute Flügel-
zwirnmaſchinen und Ringzwirnmaſchinen unterſcheidet. Führt man
einer ſolchen Maſchine unter Beigabe der erforderlichen Einrichtungen
den einen Faden mit einer anderen Geſchwindigkeit zu, als den oder
die anderen Fäden, ſo erhält man einen Zwirn, der je nach dem Ge-
ſetz der Zufuhr verſchiedenartig ausfällt, und das iſt der Kunſtzwirn,
Effektzwirn. Glatte Zwirne, auch wohl häufig einfache Fäden, werden
zur Erzielung einer höheren Glätte der Oberfläche geſengt, d. h. durch
eine Flamme gezogen, und zwar mit einer Geſchwindigkeit, welche eine
[367]Weitere Behandlung der Garne.
Beſchädigung des Fadens nicht zuläßt. Früher nahm man Spiritus
hierzu, ſeltener Öl, weil dieſes rußte; heute wird das Leuchtgas, dem
man, um das Blaken zu verhüten, atmoſpäriſche Luft zuführt, wie es
in den bekannten Bunſenſchen Brennern geſchieht, zum Sengen des
Garnes benutzt und wird letzteres in einer Maſchine, der Gaſier-
maſchine, bearbeitet. — Geſpinſtfaſern und die daraus gebildeten
Fäden ſind ſehr hygroſkopiſch. Durch Anziehen der Feuchtigkeit
aus der Luft erhöht ſich ihr Gewicht. Iſt das nun auch bei dem
billigen Preiſe der Garne aus vegetabiliſchen Faſern nicht von großer
Wichtigkeit, ſo fällt dieſer Umſtand für die teure Seide insbeſondere,
aber auch für die nicht billigen Wollgarne ſehr in die Wagſchale. Man
unterwirft deshalb zur Vermeidung von Streitigkeiten zwiſchen Käufer
und Verkäufer die Seide ſtets, die Wolle gegenwärtig ſchon vielfach
einem beſonderen Verfahren, welches die Konditionierung heißt. Proben
der reſp. Garne werden in den unter öffentlicher Autorität ſtehenden
Konditionieranſtalten vollkommen ausgetrocknet und dann gewogen.
Zu dem Trockengewicht wird ein beſtimmter feſtſtehender Zuſchlag ge-
macht, der dem Normalzuſtand des Garnes entſpricht und das er-
haltene Geſamtgewicht auf die eingelieferten, zu konditionierenden Garn-
ballen verrechnet.


So ſind denn eine Menge von Bearbeitungsmethoden nötig, um
aus den Rohmaterialien die Garne zu bilden, welche die Textilinduſtrie
gegenwärtig für ihre Fabrikate verlangt. Waren dieſe Methoden auch
zum Teil ſchon in den älteſten Zeiten bekannt — mußte doch jedes
Material eine vorgeſchriebene Bearbeitung erfahren, um einen Faden
abzugeben — ſo hat doch erſt die Erfindung der Spinnmaſchine und
daran anſchließend der einſchlägigen Hilfsmaſchinen dazu geführt, dieſe
Bearbeitung richtig zu zergliedern und die Reihenfolge der Einzel-
operationen ſo zu ordnen, daß die produzierten Garne unvergleichlich
viel billiger und die aus ihnen verfertigten Waren auch dem weniger
Bemittelten zugänglich geworden ſind. Letzteres iſt natürlich nicht die
Errungenſchaft der Spinnerei allein, ſondern die entſprechend entwickelte
Weberei hat gleichfalls ihren Anteil daran.


Die Weberei und ihre Vorbereitungsarbeiten.


Wenn man ein gewebtes Stück Zeug betrachtet, ſo unterſcheidet
man leicht zwei Syſteme von Fäden. Eines derſelben läuft in paralleler
Richtung der Länge nach, das andere zieht ſich der Breite nach hin.
Die Fäden des erſten Syſtemes bilden die Kette, die des letzteren den
Schuß. Es leuchtet ein, daß die Kettfäden gleiche Länge haben müſſen,
auch auf ſolche im Gewebe abgeſchnitten erſcheinen, während der Schuß
ohne ſichtbare Unterbrechung in der Kette hin und her geht und an
den beiden Rändern, den Kanten, Leiſten, umkehren kann. Kette und
Schuß werden beim Weben in der Weiſe mit einander vereinigt, daß
[368]Die Textil-Induſtrie.
alle Kettfäden, parallel geordnet, aufgeſpannt und nach gewiſſen Regeln
teils gehoben, teils geſenkt werden; dann wird der Schuß in den
ſchrägen Zwiſchenraum, die Kehle, das Fach, eingeführt. Schließt ſich
nun dieſes Fach, ſchiebt man den eingetragenen Schuß an den bereits
fertigen Warenrand, und wiederholt das Spiel, indem man dabei
nach den gebotenen Regeln das Heben und Senken der Kettfäden
anders erfolgen läßt, ſo erzeugt man Webware, man webt. Die
Vorrichtung, welche die aufgeſpannte Kette aufnimmt, das Fach bildet,
den Schuß einträgt und anſchlägt, wenn hier nur die hauptſächlichſten
Punkte aufgezählt werden, heißt der Webſtuhl. Selbſtverſtändlich müſſen
die für die Kette beſtimmten Garne ſo angeordnet und zugerichtet
werden, wie es die Operation des Webens erfordert und hat auch das
Schußmaterial eine derartige Zurichtung nötig. Die hierher gehörigen
Arbeiten werden die Vorbereitungsarbeiten für die Weberei genannt.


Als das erſte und einfachſte Produkt der Textilarbeit iſt der aus
geflochtenen Zweigen hergeſtellte Zaun zu betrachten, der den Menſchen
Schutz gegen die Angriffe wilder Tiere bot, als die darauf folgende
Entwicklungsſtufe die Matte aus Rohr oder Binſen, welche ihn gegen
die Witterungseinflüſſe ſchützen ſollte. Aus dieſen Uranfängen der
textilen Leiſtung hat ſich die heutige Weberei allmählich entwickelt.
Beſaß man anfänglich keine beſondere Vorrichtung zur Anfertigung der
genannten Erzeugniſſe, ſo war man doch gezwungen, eine ſolche aus-
findig zu machen, als man die Wolle der Schafe mittels der Spindel
zu Fäden zuſammendrehen lernte, der feine Seidenfaden, dann der Flachs
und ſpäter die Baumwolle verarbeitet werden ſollten. Wenn auch die erſten
als Webſtühle zu bezeichnenden Konſtruktionen höchſt primitive waren,
ſo wie wir ſie noch jetzt bei unkultivierten Völkern in Benutzung finden,
ſo war es doch infolge dieſer Vorrichtung möglich geworden, die Kett-
fäden in anderer Weiſe zu heben und zu ſenken, als dies die einfache
Mattenbindung beanſprucht, d. h. die Bindungen und Muſterungen der
Gewebe wurden vielſeitigere. Hinzu trat, daß man die Garne und Stoffe
färben lernte, die letzteren auch dem jeweiligen Zweck angepaßt, appretiert,
oder durch Stickereien und Beſätze reicher und reicher ausgeſtattet
wurden, und ſo finden wir denn die Weberei in allen Materialien, die
in Verwendung kamen, bereits ſehr früh in einem überraſchend hohen Grade
der Vollkommenheit ausgebildet, ſo die Wollweberei bei den Ägyptern
1500 v. Chr., die Leinenweberei bei den Phöniziern bereits 2000 v. Chr., die
Seide ſogar bei den Chineſen 4000 v. Chr. und die Baumwolle 1000 v. Chr.


Während die Spinnerei der verſchiedenen Materialien getrennt be-
handelt werden mußte, um ein möglichſt gründliches Verſtändnis der von
einander abweichenden Prozeſſe zu geben, iſt das bei Beſprechung der
Webereieinrichtungen nicht allein nicht nötig, ſondern nicht einmal gut
durchführbar. Wenn es auch für die Vorbereitungsarbeiten der ver-
ſchiedenen Garne beſondere Konſtruktionen giebt, auch die Webſtühle
ſich in ihren Einzelheiten der Natur der zu verarbeitenden Garne an-
[369]Die Weberei und ihre Vorbereitungsarbeiten.
paſſen, ſo ſind die Abweichungen im großen ganzen nicht derart, daß
ſie hier nicht übergangen werden könnten. Thatſächlich werden auch
Vorbereitungsapparate und Maſchinen ſowohl, als Webſtühle bald für
dieſes, bald für jenes Material benutzt, ſo daß es für den vorliegenden
Zweck genügt, das allgemeine Weſen derſelben zu beleuchten. Die Vor-
bereitungsarbeiten für die Kette beſtehen im Spulen, Scheren, Schlichten
oder Leimen und Bäumen. Da die Garne häufig im Strahn bezogen
werden, ſo muß man ſie zuvörderſt auf hölzerne Spulen bringen, um
ſie bei der nächſten Operation, dem Scheren, bequemer und geeigneter
handhaben zu können. Von dieſen Spulen oder, wenn man Cops hat,
von dieſen, werden die einzelnen Fäden abgezogen und parallel nebenein-
ander liegend, dem Farbmuſter der gewünſchten Ware entſprechend, auf
einer Trommel geordnet und erhalten hierdurch auch eine gleiche Länge,
nämlich diejenige, welche die nachherige Warenlänge ausmacht. Das iſt
die Operation des Scherens. Vielfach müſſen die Kettfäden, welche im
Webſtuhl manche ſie ſtark angreifenden Widerſtände zu erdulden haben,
gegen dieſe haltbarer gemacht werden. Deshalb tränkt man baum-
wollene und leinene Garne mit Stärkekleiſter, wollene mit Leimwaſſer,
wodurch die Fäden an der Oberfläche glatter und ſo widerſtandsfähiger
für das Verweben werden. Hierin beſteht das Schlichten und Leimen.
Seide bedarf infolge ſeiner großen Glätte dieſer Bearbeitung nicht.
Dem Scheren, wenn Schlichten und Leimen fortfällt, oder dieſer
letzteren Operation folgt das Bäumen; es wird die geordnete Kette in
der Breite der zu erzeugenden Ware auf eine Walze, einen Baum, ge-
wickelt und iſt dieſer derjenige Teil des Webſtuhles, von welchem ſich
die Kette beim Weben gemäß der Warenherſtellung allmählich abwickelt.
Hiermit ſind zwar nicht alle Vorbereitungsarbeiten erſchöpft, doch ſind
es die Hauptarbeiten. Die genannten Operationen geſchahen in den
älteſten Zeiten lediglich durch Hand; man ſpannte Faden für Faden
zwiſchen zwei feſtgelegte Stangen aus, um die Kette ſo zu ordnen, wie
es der Webſtuhl verlangte. Später entſtand das Spulrad, mit welchem
das Abholen des Garnes vom Strahn auf die Spule erfolgte. Mittelſt
des Scherrahmens, einer aufrechtſtehenden, ſich um die vertikale Axe
drehenden Lattentrommel, wurden die Kettfäden partieenweiſe in Band-
form etwas ſchräg liegend, aufgeſchert und durch Rückwärtsdrehen der
Trommel wieder zum Ausgangspunkte zurückgebracht, nachdem ſie zur
Ermöglichung der Rückkehr um hölzerne Nägel geſchlungen und durch
die Anzahl der Umdrehungen die Kettenlänge berückſichtigt worden war.
Durch Wiederholung des Spieles ſcherte man nach und nach die Kette
in ihrer vollen Fadenzahl auf dieſe Trommel und wickelte das abge-
nommene Band vermöge einer einfachen Vorrichtung, des Bäumgeſtells,
auf den Kettbaum, welchen man dann in den Webſtuhl einlegte. Stärken
und Schlichten beſorgte man an den Garnſträhnen vor dem Spulen
oder im Webſtuhl ſtückweiſe an dem aufgeſpannten Teil der Kette.
Noch heute geſchieht die Kettenvorbereitung vielfach, wenn auch mit
Das Buch der Erfindungen. 24
[370]Die Textil-Induſtrie.
bedeutend verbeſſerten Apparaten in gleicher Weiſe. Statt des Spul-
rades verwendet man eine durch Hand-, Fuß- oder Elementarkraft be-
wegte Spulmaſchine, die durch Einlegen von mehreren Spulen ſehr
viel ſchneller letztere zu füllen vermag. Der Handſcherrahmen iſt häufig
als ſelbſtthätiger zu finden; bei ihm wird das Auf- und Abwärtsführen
der Kettfäden nicht durch die Hand des Arbeiters ausgeführt, ſondern
von dem Apparat ſelbſt, der mittelſt Kurbel von dem Scherer einmal
vorwärts, einmal rückwärts gedreht wird. Unſere Zeichnung (Fig. 208) ſtellt

Figure 200. Fig. 208.

Selbſtthätiger Handſcherrahmen.


einen ſolchen Scherrahmen dar. Das Bäumen pflegt man im Bäum-
geſtell vorzunehmen oder aber in einer Bäummaſchine, welche die Arbeit
ſchneller fördert und gleichmäßiger ausübt. Ketten, welche im Hand-
webſtuhl verarbeitet werden, werden nicht ſo lang genommen, als ſolche
im mechaniſchen Stuhl. Erſterer arbeitet ungleich langſamer, als letzterer,
und genügt deshalb zumeiſt die geſchilderte Handvorbereitung nicht, um
gleichen Schritt zu halten mit der Produktion der mechaniſchen Web-
ſtühle. In kleineren mechaniſchen Webereien oder in beſonderen Fällen
betreibt man das Scheren noch mit dem Handſcherrahmen, ſtärkt auch
[371]Die Weberei und ihre Vorbereitungsarbeiten.
wohl im Strahn oder im Stuhl, doch reicht das für mittelgroße oder
Großbetriebe nicht aus. Hier werden ſämtliche Vorbereitungsarbeiten,
die übrigens für den mechaniſchen Stuhl überaus ſorgfältig geſchehen
müſſen, weil die Fäden in demſelben viel heftigere Angriffe zu erdulden
haben, als im Handſtuhl, mittels Maſchinen ausgeführt, welche als
Spulmaſchinen, Schermaſchinen und Schlicht- oder Leimmaſchinen be-
zeichnet werden, und mit denen mit Ausſchluß der erſteren gleich Bäum-
maſchinen verbunden ſind. Die letzten Jahrzehnte haben auch dieſen
ſämtlichen Maſchinen eine Menge von Verbeſſerungen zu teil werden
laſſen, ſo daß man Garne jedweder Art und Feinheit ſchnell für den
mechaniſchen Stuhl vorzubereiten vermag. Die Hand des Arbeiters
iſt nicht im ſtande, viel Fäden beim Scheren zu faſſen und ſo zu
regieren, wie es dieſe Operation bedingt. Auch wird ſeine Aufmerkſam-
keit bezüglich des Laufes der Fäden und ihres Reißens durch die Be-
wegungen, die er machen muß, abgelenkt. Ganz anders die Scher-
maſchine. Sie nimmt 200 bis 400 und darüber, ſogar bis zu 800 Fäden
von dem Spulengeſtell und bringt ſie geordnet und auf gleiche Länge
auf die horizontale Schertrommel, braucht alſo das nur einigemale
zu wiederholen, um die ganze Fadenzahl der Kette zu erreichen. Die
mit der Maſchine verbundene Bäummaſchine wickelt alsdann die ge-
ſamte Kette von der Schertrommel auf den Kettenbaum des Webſtuhls.
Schlicht- oder Leimmaſchinen, anfangs unſeres Jahrhunderts von
Radcliff, Roſt, Johnſon und Adam in Stockport erfunden, führen,
wenn dieſe Arbeit erforderlich iſt, die Kette in der vollen Breite und
Fadenzahl durch einen mit Stärkemaſſe oder Leimwaſſer angefüllten
Trog, bürſten die naſſen Fäden glatt, trocknen ſie und bäumen die
Kette alsdann. Man findet in Mittel- und Großwebereibetrieben in
der Jetztzeit häufig ſog. kombinierte Syſteme, welche die vorberegten
Arbeiten der Reihenfolge nach mechaniſch zur Ausführung bringen.
Übrigens beſchäftigen ſich nicht nur Webereien mit der Kettenvorbereitung
für ihren Eigenbedarf, ſondern üben dieſelbe auch wohl die Baumwoll-
und Flachsſpinnereien aus, ſo daß man von dieſen gleich rohe oder
gebleichte, geſcherte und geſchlichtete Ketten in Wickelform beziehen
kann, welche man dann nur noch umzubäumen hat. So haben ſich
denn auch dieſe für die Weberei wichtigen und notwendigen Operationen
durch die Erfindung und Verbeſſerung der einſchlägigen Maſchinen
dem heutigen Standpunkt der Weberei völlig angepaßt.


Viel einfacher geſtaltet ſich die Hauptvorbereitung des Schuſſes.
Er muß in eine Form gebracht werden, die geſtattet, ihn in das ge-
öffnete Fach der Kette einzutragen. Man bedient ſich zum Durchwerfen
des Schuſſes eines Werkzeuges, des Schützens, in welchen derſelbe in
thunlichſt großer Menge eingebracht wird, und aus dem er ſich beim
Verweben nach Bedürfnis abzieht. Zu dieſem Zweck muß er auf eine
kleine hölzerne Spule, die Schußſpule, oder eine papierne Röhre
gewickelt oder endlich als Schlauchknäuel geformt werden. Während
24*
[372]Die Textil-Induſtrie.
man in der Handweberei noch häufig das Spulrad benutzt, auf welches
die Schußſpule geſteckt und durch Bewegung des Rades ſchnell Faden
aufwindend gedreht wird, verlangt der mechaniſche Webſtuhl infolge
ſchnellerer Abarbeitung der in den Schützen eingelegten Schußſpule
auch eine ſchnellere Herſtellung der letzteren, und erfolgt dieſe auf den
Schußſpulmaſchinen, welche gleichzeitig mehrere Spulen aufnehmen.
Solche Maſchinen ſind außerordentlich vollkommen eingerichtet. Bricht
ein Faden oder iſt eine Spule gefüllt, ſo ſetzt ſich die zugehörige
Spindel ohne Zuthun des Arbeiters ſtill. Überhaupt ſind nach dieſer
Richtung hin auch an den Kettenvorbereitungsmaſchinen zahlreiche

Figure 201. Fig. 209.

Trittwebſtuhl.


Erfindungen zu verzeichnen, welche bezwecken, die Thätigkeit der
Maſchinen mehr und mehr ſelbſtändig zu machen und dem Arbeiter
immer weniger zur ſelben Zeit auszuübende Beobachtungen aufzuerlegen.


Der Handwebſtuhl der Alten war von rahmenförmigem Aufbau;
die Kette war in ihm vertikal aufgeſpannt, den Schuß trug man mittels
eines Stäbchens ein und ſchlug ihn durch ein zinkenartiges Werkzeug
feſt an den Warenrand an. Das Trennen der Fäden bei der Fach-
bildung führten zwiſchen die Kette geſteckte Stäbe aus. Aus dieſer
primitiven Konſtruktion bildete ſich nach und nach der einfache und
erweiterte Trittwebſtuhl aus, mit welchem nicht nur leinwandartige
[373]Die Weberei und ihre Vorbereitungsarbeiten.
oder glatte Gewebe hergeſtellt zu werden vermochten, ſondern auch
ſolche anderer Bindung, wie wir ihn heute noch benutzen und von
deſſen mannichfachen beſtehenden Konſtruktionen die Fig. 209 eine zeigt.
Die Kette iſt nur in ſeltenen Fällen vertikal aufgeſpannt, wie z. B.
bei den Stühlen für Smyrna-Knüpfteppiche oder bei Gobelinſtühlen,
meiſt horizontal; die nötige ſtraffe Spannung der Kette wird durch
der Art des Materials und der Ware entſprechende Kettbaumbremſen
hervorgerufen; der nach dem Arbeiterſtande zu liegende Warenbaum
zum Aufwickeln der Ware iſt häufig mit ſelbſtthätig wirkenden Auf-
windevorrichtungen, Regulatoren, ausgerüſtet; das Heben und Senken
der Kettfäden geſchieht durch Treten von Tritten oder Schemeln, welche
ſich unten im Stuhl befinden und bis nach vorn reichen, mit
Zuhilfenahme teils unten, teils oben angeordneter mit den Tritten
durch Schnüre vereinigter kürzerer und längerer Hebel, Wippen, und
daran wieder mittels Schnüre angehängter Schäfte oder Flügel.
Dieſes ſind zwiſchen zwei Leiſten gebundene, mit Augen verſehene,
dicht neben einander gruppierte Bindfaden, Litzen genannt, durch
deren Augen die einzelnen Kettfäden gehen. Ein Flügel nimmt
diejenigen Kettfäden auf, welche gleichzeitig gehoben reſp. geſenkt
werden, und entſpricht das Treten eines der Schemel, manchmal bis
zu 16, dem Hochgang eines Teils der Flügel und damit ihrer Kett-
fäden, ſowie dem Niedergang des anderen Teils; es wird Fach ge-
bildet, durch welches der Schützen mit dem Schußmaterial geworfen,
geſchnellt wird. Je nach der Natur des letzteren iſt die Größe und
Geſtalt des Webſchützens verſchieden. Zur richtigen Führung des
Schützens dient die Lade mit dem Rieth, die oben aufgehängt iſt und,
wenn Fach gebildet worden, nach hinten gebracht wird, um dem Schützen
die nötige Fachhöhe für den Durchgang zu gewähren. Er läuft dabei
auf der oberen glatten Fläche der Ladenbahn, auf welcher die tief ge-
zogenen Kettfäden liegen, alſo über dieſen, während er die gehobenen
über ſich liegen läßt. Das Rieth der Lade, ein aus vielen vertikalen
metallenen Stäben beſtehender Teil, welcher die Kettfäden zu zwei oder
mehreren durch ſeine Lücken paſſieren läßt, giebt dem Schützen die
gerade Richtung beim Durchgang und es wird ſchließlich der einge-
tragene Schlußfaden durch Vorwärtsbewegen der Lade durch das Rieth
angeſchlagen, d. h. an den letzten in der Ware befindlichen Schußfaden
gebracht. Selten mehr wird der Handſchützen verwendet, wirft man
den Schützen mit der Hand durch, ſondern meiſt bedient man ſich des
1783 von John Kay erfundenen Schnellſchützens, der vermittelſt einer
Art Peitſche bald von rechts nach links, bald zurück getrieben wird,
und während des Anſchlags der Lade in einem der links und rechts
an der Lade angebrachten Schützenkäſten ruht. Um mehrere Schuß-
farben oder ſolche ungleicher Art eintragen zu können, erfand man die
Wechſelladen, Laden mit mehreren über oder neben einander liegenden
Schützenzellen, welche ſich nach Bedürfnis in die Ladenbahn ſtellen
[374]Die Textil-Induſtrie.
laſſen, um bald die eine, bald die andere Farbe oder Art einbringen
zu können. Durch Einlegen mehrerer Kettbäume mit verſchiedener Kett-
ſpannung wurde man in den Stand geſetzt, die mannigfaltigſten Gewebe,
Doppelgewebe, Samte, Plüſche, Schleifen- oder Noppengewebe ꝛc. zu
verfertigen. Sinnreiche Einrichtungen an der Lade mit mehreren kleinen
Spulen laſſen es zu, die Schußfäden nur ſo weit im Gewebe einzu-
tragen, als es die Figuren erfordern, alſo brochierte Stoffe herzuſtellen
u. dgl. m. Doch ſind dieſe letzteren Einrichtungen erſt ſpäterhin er-
funden worden.


Schon vor Anfang dieſes Jahrhunderts wurden reicher gemuſterte,
façonnierte Stoffe in den Handel gebracht, welche mit dem einfachen
Trittſtuhl nicht herſtellbar ſind; die hierfür dienlichen Apparate, der
Sempelſtuhl, der Kegelſtuhl und der Trommelſtuhl waren jedoch ſo
kompliziert und die Arbeit einerſeits ſo zeitraubend, andererſeits für den
Weber höchſt anſtrengend, daß der Preis der fabrizierten Waare ein
für gewöhnliche Verhältniſſe unerſchwinglicher war. Erſt Carl Marie
Jacquard ſtellte 1806 in Lyon einen Stuhl mit einer Vorrichtung, der
Jacquardmaſchine auf, welcher im ſtande war, façonnierte Stoffe jed-
weder Art verhältnismäßig einfach und ſchnell zu erzeugen. Die eigent-
liche Einführung der genannten Maſchine fällt einige Jahre ſpäter, etwa
1814, und verdanken wir ihr den erſtaunenswerten Aufſchwung der
Weberei und die Vielſeitigkeit der gemuſterten Waren. Wurde die
Maſchine zunächſt nur an Handwebſtühlen angewendet, ſo hat ſie ſich,
als die mechaniſchen Stühle mehr und mehr vervollkommnet wurden,
auch dieſe zu eigen gemacht, und werden heute auch auf letzteren mit
ihrer Hülfe die herrlichſten Stoffe zur Ausführung gebracht. Das Prin-
zip der Jacquardmaſchine (Fig. 210) iſt folgendes: Die Litzen, durch welche
die Kettfäden gehen, ſind unten jede durch ein Bleigewicht beſchwert,
oben ſind ſie an Schnüre gebunden und dieſe durch ein Brett mit
feinen Löchern, das Harniſch- oder Chorbrett, ſo geführt, daß ſich die
Litzen vertikal auf- und abbewegen laſſen. Von hier aus laufen die
Schnüre der Jacquardmaſchine zu und bilden auf dieſem Wege insge-
ſamt das, was man den Harniſch nennt. In einem Gewebe wieder-
holt ſich in der Breite das Muſter mehr oder weniger häufig und
heißt eine ſolche Wiederholung ein Rapport. Die gleichwertigen Kett-
fäden in den einzelnen Rapports erheiſchen offenbar dieſelbe Hebung reſp.
Senkung und ſind die zugehörigen Harniſchſchnüre mittelſt eines Ringes
oder Hakens an je eine Schnur, die Platinenſchnur gebunden. Hebt ſich
dieſe, ſo werden auch die mit ihr verbundenen Harniſchſchnüre, Litzen und
Kettfäden gehoben. Meiſt macht man es ſo, daß die Kettfäden in ihrer
Ruhelage ſo tief ſind, daß ſie bei der Fachbildung nicht noch tiefer geſenkt
zu werden brauchen, vielmehr nur durch Heben der der Bindung
gemäß nach oben zu bringenden Fäden Fach gebildet wird; doch giebt
es auch Einrichtungen, welche bei horizontal aufgeſpannter Kette durch
Heben und Senken der Fäden Fachbildung erreichen. Eine Jacquard-
[375]Die Weberei und ihre Vorbereitungsarbeiten.
maſchine beſitzt 100, 200, 400, 600, 800, 1000, 1200 ſolcher Platinen-
ſchnüre, ſo daß damit beiſpielsweiſe bei 6 Rapporten und 800er Maſchine
4800 einzelne Fäden regiert werden können. Die Platinenſchnüre
hängen an hölzernen oder eiſernen flachen Stäbchen a unſerer Figur,
Platinen genannt, welche unten auf dem hölzernen Brett A', dem
Platinenboden, aufruhen und oben mit Naſen verſehen ſind. Unter-
halb der letzteren befinden ſich eiſerne, horizontale, ſchneidige Stäbe d,

Figure 202. Fig. 210.

Jacquardmaſchine.


Meſſer, welche in einem Rahmen, dem Meſſerkaſten, vereinigt ſind und
mit dieſem gehoben werden können. Jede Platine a ſteht mit einem
horizontalen Draht, der Platinennadel, in Verbindung und dieſe Nadeln
werden bei g mittels Spiralfedern ſtets nach vorne gedrängt, ſo daß
die Platinen mit ihren Naſen über den Meſſern zu ſtehen kommen.
Drängt man dagegen einen Teil der Platinennadeln nach hinten,
wobei ſich die Federn g zuſammendrücken, ſo werden die Platinen a
[376]Die Textil-Induſtrie.
gleichfalls nach hinten gehen, nicht mehr mit ihren Naſen über die
Meſſer ragen, und wird nun beim Heben des Meſſerkaſtens nur ein
Teil der Platinen gehoben, während der andere auf dem Platinen-
boden A' ruhen bleibt. Die Harniſchſchnüre, die Litzen und die zuge-
hörigen Kettfäden werden demnach zum Teil gehoben, zum Teil bleiben
ſie geſenkt, es wird Fach gebildet. Um es in der Hand zu haben,
beſtimmte Platinen zu heben, wie es das beabſichtigte Muſter verlangt,
gehen die Platinennadeln ſämtlich durch ein Brett m, das Nadelbrett,
und treten mit ihren Spitzen in die Löcher eines 4- oder 6 eckigen Holz-
körpers, des Kartencylinders. Wenn man nun zwiſchen dieſen Cylinder
und das Nadelbrett m eine teilweiſe durchlöcherte, teilweiſe ungelochte
Pappkarte legt, ſo werden die Platinennadeln, wie oben geſchildert,
auf die Platinen einwirken und beim Ausheben des Meſſerkaſtens die
Kettfäden, wie es die Karte beſtimmt, hoch gehen reſp. liegen bleiben.
Für jede Fachbildung, d. h. für jeden neuen Schuß iſt auch eine neue
Karte erforderlich. Sämtliche das Muſter repräſentierende Karten ſind
in einem Kartenzuge als Band ohne Ende verſchnürt, und es wird
der Kartencylinder vor jedem folgenden Schuß um eine Seite gewendet,
wodurch eine neue Karte vorgelegt wird. Es muß aber hierfür der
Cylinder vom Nadelbrett entfernt werden. Das geſchieht auch und
zwar dann, wenn der Arbeiter einen unter dem Stuhl befindlichen
Tritt mit dem Fuß niederdrückt, hierdurch die Meſſer hochbringt und
Fach bildet. Läßt er dann nach geſchehener Schußeintragung dieſen
Tritt los, läßt er die Maſchine einfallen, ſo geht auch der Karten-
cylinder mit der neuen Karte gegen das Nadelbrett und ſtellt die
Platinen für den folgenden Schuß richtig ein. Beim Einfallen der
Maſchine ziehen die Bleigewichte die Litzen, Schnüre und Platinen
wieder abwärts. Die ehemalige Jacquardmaſchine wird, wenn auch
wohl Verbeſſerungen an ihr vorgenommen worden ſind, zur Haupt-
ſache heute noch ſo benutzt, wie ſie Jacquard bereits konſtruiert hat,
und iſt noch kein Erſatz für ſie geſchaffen worden, der die Arbeit ein-
facher und zweckgemäßer geſtaltete. Verſuche, das Heben der Kett-
fäden durch Apparate mit Zuhülfenahme der Elektrizität zu bewirken,
ſind bisher ohne Erfolg geblieben. — Außer den Trittſtühlen und
den Jacquardſtühlen hat man noch ſog. Schaftmaſchinenſtühle. Bei
dieſen ſind die Litzen, wie beim Trittſtuhl, in Schäften vereinigt, doch
werden letztere nicht durch Schemel gehoben und geſenkt, ſondern durch
eine Maſchine von ähnlicher Einrichtung wie die Jacquardmaſchine,
nur gröber dimenſioniert und mit höchſtens 40 Hebeplatinen ausge-
ſtattet, alſo für 40 Flügel berechnet. Im übrigen aber wirkt dieſe
Schaftmaſchine genau ſo wie die Jacquardmaſchine, wenngleich auch
ihre Bauart eine abweichende iſt. Die für die Jacquardmaſchine er-
forderlichen Karten werden auf Kartenſchlagmaſchinen ausgeſtanzt,
wobei man eine Zeichnung in klein karriertem Papier, Patronenpapier
vor ſich liegen hat, vom Deſſinateur oder Patroneur angefertigt, und
[377]Die Weberei und ihre Vorbereitungsarbeiten.
in der jeder durch Farbe markierte Punkt ein Loch in der Karte be-
deutet, alſo Hochgang des zugehörigen Kettfadens.


Bereits im 15. Jahrhundert bemühte ſich Leonardo da Vinci, einen
mechaniſchen Webſtuhl zu erfinden, doch ohne Erfolg. 1687 erfand
de Gennes eine Webemaſchine, welche er durch Waſſerkraft bewegen
wollte; ſie gelangte jedoch ebenſo, wie die 1747 von Vaucanſon erfundene
Maſchine nicht zur Ausführung. Durch die Erfindung der Spinn-
maſchine trat die Notwendigkeit ein, Stühle zu bauen, welche ſchneller
als der Handwebſtuhl das mittelſt der Spinnmaſchinen in größeren
Maſſen fabrizierte Garn aufzuarbeiten fähig waren. Ein Geiſtlicher,
Namens Dr. Cartwright ließ ſich 1784 einen Maſchinenwebſtuhl patentieren
und wurden ſeine Stühle 1786 in Doncaſter mit Dampfkraft betrieben.
Grimſhaw verbeſſerte Cartwrights Stühle 1791, kam jedoch nicht zur
Ingangſetzung der Stühle, indem die neuerrichtete Fabrik durch Arbeiter
vernichtet wurde. Zu gleicher Zeit nahm ein Arzt Dr. Sheffray die Ver-
beſſerung der Stühle auf und gründete Bell in Glasgow 1794 mit dieſen
ſog. Federſchlagſtühlen eine mechaniſche Weberei. Weſentliche Vervoll-
kommnung gab den Stühlen 1796 Rob. Miller in Glasgow durch An-
bringung einer Sicherung für den Fall des Steckenbleibens des Schützens
im geöffneten Fach. Auch wandelte er die Federſchlagſtühle in Excenter-
ſchlagſtühle um, ließ den Webſchützen nicht mehr durch Einwirkung von
Federn durch das Fach ſchnellen, ſondern durch unrunde Scheiben, Excenter.
1813 beſeitigte Harwood Horrocks in Stockport auch die Federn, welche
den Ladenanſchlag vollzogen, verband die Lade mit Kurbeln der Antriebs-
welle, welche den Stuhl in Bewegung ſetzt, und der Kurbelſtuhl war
fertig. Derartige Stühle waren in Fabriken Schottlands in Thätigkeit.
Man ſchlichtete die Kettenfäden im Stuhl, ſo wie man es heute wohl noch
als Notbehelf macht. Erſt als die Schlichtmaſchine erfunden worden
und infolge deſſen die baumwollenen Garne, für deren Verarbeitung die
mechaniſchen Stühle naturgemäßer Weiſe durch die Erfindung der Baum-
wollſpinnmaſchine zuvörderſt beſtimmt waren, mit weniger Zeitverluſt und
gleichmäßiger vorbereitet werden konnten, führte ſich der Kurbel- oder
engliſche Stuhl mehr und mehr ein, und wurden zahlreiche Verbeſſerungen
an ihm angebracht. 1821 wurde derſelbe, anfänglich nur einfache, glatte
Stoffe, Taffet, herſtellend, auch für Köperſtoffe eingerichtet, 1823 gab
man ihm Regulierungs-Vorrichtungen für die Kettſpannungen, 1824 ver-
ſah man ihn mit Breithaltern, d. h. Vorrichtungen, welche die durch
das Eintragen von Schuß mehr oder weniger einſaugende Ware der
Breite nach ſtraff halten, und 1825 erfand man die erſte Schaft-
maſchine, in ähnlicher Weiſe wirkend, wie das bei den Handſtühlen be-
ſchrieben wurde. Bis zum Jahre 1830 benutzte man mechaniſche Stühle,
in welchen die Lade wie beim Handſtuhl oben aufgehängt war. Von
da ab wandelte man den Maſchinenſtuhl ſo um, wie wir ihn heute
meiſt finden, nämlich mit der Ladenachſe unten, ſtatt oben, machte die
Breithalter ſelbſtthätig wirkend, verbeſſerte die Warenaufwindevor-
[378]Die Textil-Induſtrie.
richtungen oder Regulatoren und erfand weiterhin den ſog. Schuß-
wächter, der den Stuhl ſtill ſetzt, wenn der Schußfaden reißt oder
durch Abweben der Schußſpule fehlt, den Wechſel, der wie beim Hand-
ſtuhl die Eintragung verſchiedenartiger Schußfarben oder Sorten er-
möglicht, verband ihn mit der Jacquardmaſchine, und kam ſo verhältnis-
mäßig ſchnell dazu, Stoffe jeglicher Art und jeglichen Materials auf
mechaniſchen Stühlen zu erzeugen, wie überhaupt die Jetztzeit faſt alle
dahin gehörigen Schwierigkeiten überwunden hat. Aus dem Geſagten

Figure 203. Fig. 211.

Mechaniſcher Trittwebſtuhl


erhellt, daß in der mechaniſchen Weberei dieſelben Unterſchiede für die
Webſtühle gelten, wie in der Handweberei, daß es einfache oder Tritt-
ſtühle, dann Schaftmaſchinenſtühle und endlich Jacquardſtühle giebt.
Von erſteren zeigt uns die Fig. 211, von letzteren Fig. 212 ein
Bild. An der Vervollkommnung der Webſtühle und der weiteren
Ausbildung der Stuhlſyſteme hat Deutſchland hervorragenden Anteil.
Vornehmlich ſind es die ſächſiſchen Maſchinenfabriken, wie Schönherr,
Hartmann, Zſchille u. a. geweſen, welche ſich die Verbeſſerung, ins-
[379]Die Weberei und ihre Vorbereitungsarbeiten.
beſondere der breiten ſog. Buckskinſtühle ſehr angelegen haben ſein
laſſen. Aber auch andere Nationen haben höchſt Beachtenswertes
geleiſtet. So hat in dem letzten Jahrzehnt ein ruſſiſcher Stuhl von
Laeſerſon viel Aufſehen erregt, da er einer der exakteſt wirkenden und
feinfühlendſten mechaniſchen Stühle iſt, welche jemals konſtruiert
worden ſind, daher er ſich gerade für feine Garne und beſſere

Figure 204. Fig. 212.

Mechaniſcher Jacquardwebſtuhl.


Ware eignet. Anfänglich war derſelbe als halbmechaniſcher Stuhl
gebaut, worunter man einen ſolchen Webſtuhl verſteht, der wie ein
mechaniſcher ausgerüſtet iſt, auch ſo arbeitet, bei welchem aber der
Antrieb nicht durch einen Riemen geſchieht, ſondern von dem Weber
und zwar durch ein Trittbrett oder den Angriff an einer hin- und
herbewegbaren Stange. Solche Stühle ſollten infolge ihrer größeren
[380]Die Textil-Induſtrie.
Leiſtungsfähigkeit dem Handweber die Konkurrenz mit dem mechaniſchen
Stuhl möglich machen und ſo die mehr und mehr verſchwindende
Hausinduſtrie retten. Die angeſtellten Verſuche haben jedoch ergeben,
daß dieſes rühmliche Streben fruchtlos iſt, der mechaniſche Betrieb
nun einmal nicht aufhaltbar, und derſelbe, wenn er auch manche
Schäden nach ſich zieht, wie Überproduktion, doch auch ſeine guten
Seiten hat, die vor allem in der Möglichkeit der Beſchäftigung einer
ungeheuren Anzahl von Menſchen und der Leiſtung von jedermann
zugänglichen Ware beſtehen.


Das Wirken und Stricken.


Von den Arbeiten, welche zur Erzeugung von Gebrauchsgegen-
ſtänden aus Fäden dienen, iſt nächſt dem Weben das Wirken die
bedeutendſte geworden. Weben und Wirken unterſcheiden ſich weſent-
lich von einander. Während durch Weben hergeſtellte Stoffe ſtets die
beiden rechtwinklig zu einander liegenden Fadenſyſteme, Kette und
Schuß, aufweiſen, entſteht ein gewirkter Stoff durch die Verbindung
eines einzigen Fadens mit ſich ſelbſt durch in einander hängende
Maſchen, oder auch vieler nur ein Syſtem bildender Fäden unter
einander gleichfalls durch Maſchen. Hiernach unterſcheidet man Kulier-
ware und Kettenware, je nachdem nämlich nur ein Faden oder deren
viele benutzt wurden. Stricken und Häkeln ſind dem Wirken bezüglich
der Erzeugniſſe ähnlich und ſind die geſtrickten Sachen mit den Kulier-
waren, die gehäkelten mehr mit den Kettenwaren zu vergleichen. Man
kann annehmen, daß das Stricken mit der Hand älter als das Wirken
iſt. Schon 1254 ſoll es in Italien bekannt geweſen ſein; 1594 ſoll es
in Deutſchland Hoſen- und Strumpfſtricker gegeben haben. Andere
führen das Stricken ſogar bis in die Zeit der alten Griechen zurück.
Vom Wirken ſteht ziemlich feſt, daß es in England erfunden worden
iſt, und zwar von William Lee in Cambridge. Dieſer betrieb 1589
mit ſeinem Handkulierſtuhl in Calverton bei Nottingham Wirkerei,
ging aber zu Beginn des 17. Jahrhunderts nach Frankreich und führte
die Wirkerei dort ein, jedoch mit geringem Erfolge. Nach ſeinem Tode
wurde die Wirkerei ſowohl in Frankreich, als auch in England weiter
geübt, und nach der Flucht der Proteſtanten 1685 nach Heſſen, Thü-
ringen, Sachſen und Württemberg verpflanzt. Die Apparate, mit
welchen man Kulier- und Kettenwaren darſtellte, waren aus Holz ge-
baut, und ſaß der Arbeiter, wie beim Weben, auf einem Brett; des-
halb nannte man ſolche Apparate Wirkſtühle, und werden derartige
Handwirkſtühle, ſowohl Kulier- als Kettenſtühle heute noch verwendet,
obgleich ſie mehr und mehr durch mechaniſche Wirkſtühle verdrängt
worden ſind. Das Prinzip der Kulierſtühle iſt folgendes: In dem
Stuhle liegen dicht neben einander viele der Breite und Feinheit der
Ware entſprechende, horizontale Nadeln mit nach vorn umgebogenen
[381]Das Wirken und Stricken.
Haken. Wird ein Faden über dieſe Nadeln gelegt, und es treten
zwiſchen die Lücken derſelben dünne Metallſtäbchen, Platinen, ſo
drängen ſie den Faden nach unten und bilden eine über den Nadeln
hängende Schleifenreihe. Schon erzeugte Ware befindet ſich hinter
dieſer Reihe und hängt gleichfalls über den Nadeln. Man ſchiebt
nun die neue Schleifenreihe unter die Haken der Nadeln, drückt die
Haken herunter, ſo daß ſie die Reihe in ſich ſchließen, und ſchiebt die
alte Ware, d. h. die letzte fertige Maſchenreihe über die gepreßten
Nadeln herüber, bis ſie von denſelben abſchlägt, wobei ſie über die
neue Schleifenreihe ſtürzt und dabei hängen bleibt — eine neue
Maſchenreihe iſt gebildet. Die Ware wird wieder wie zu Anfang nach
hinten gebracht, nachdem der Druck auf die Haken der Nadeln bereits
aufgehört hatte und das Spiel beginnt von neuem. Beim Ketten-
ſtuhl, vermutlich 1775 von Crane erfunden, ſind die Kettfäden mehr
vertikal laufend durch die Öhren von Lochnadeln geführt, welche unter-
halb der feſten Hakennadeln, angebracht, in einer Schiene befeſtigt ſind
und mit dieſer nach links und rechts verſchoben, ſowie nach oben und
unten durch die Nadellücken bewegt werden können. Die Fäden
werden mittels dieſer Schiene teils über, teils unter die Nadeln ge-
legt, über 2, 3 oder mehr und wird hierdurch die Schleifenbildung
erreicht. Im übrigen wird wieder durch Unterbringung der neuen
Schleifenreihe unter die Haken der feſten Nadeln, Preſſen derſelben
und Herüberſchieben der alten Maſchenreihe eine neue hergeſtellt.
Während man zuerſt nur dieſe einfachſte Kulier- und Kettenware zu
erzeugen vermochte, erfand man ſpäter Vorrichtungen, welche die Her-
ſtellung von Wirkmuſtern ermöglichten. Solche Erfindungen waren
die Preßmaſchine 1740, die Ränder-
oder Fangmaſchine von Jedediah Strutt
1755, die Petinet- oder Stechmaſchine
von Butterworth um 1760 herum, die
Deckmaſchine von Dumont zur gleichen
Zeit, doch ſtehen dieſe Angaben nicht
ganz feſt, und werden auch andere Er-
finder für dieſelben Maſchinen geltend
gemacht. Die vorerwähnten Einrichtungen
ſind heute noch in Verwendung, wenn
auch in ſehr vervollkommneterer Kon-
ſtruktion. Aus der Handwirkerei ent-
wickelte ſich die mechaniſche Wirkerei.
1769 nahm der Engländer Sam. Wiſe
ein Patent auf einen flachen, d. h. dem
Handkulierſtuhl nachgebildeten Drehkulier-
ſtuhl, 1798 der Franzoſe Decroix ein
ſolches auf einen Rundſtuhl. Letzterer
hat die Nadeln im Kreiſe herum an-

Figure 205. Fig. 213.

Rundwirkſtuhl.


[382]Die Textil-Induſtrie.
geordnet; mittels einer Kurbel werden die Nadeln in gleicher Weiſe ge-
dreht, Platinen bilden die Schleifen aus dem fortgeſetzt über die Nadeln
gelegten Faden und es wird die neue Maſchenreihe ähnlich ſo wie beim
Handkulierſtuhl gebildet, aber ohne Unterbrechung. Solche Rundſtühle,
vielfach mit Dampf betrieben, auch Tricotſtühle genannt, haben ſich in
verbeſſerter Form in der Praxis ſehr verbreitet. Man ſtellt heute auf
ihnen nicht allein einfache Tricotware her, ſondern auch gemuſterte.
Es darf nicht auffallen, daß in der umſtehenden Fig. 213 eines ſolchen
Stuhles mehrere Spulen die Fäden abgeben. Erſtens muß das ge-
ſchehen, wenn man mehrfarbige Waren oder ſolche mit verſchiedenem
Material haben will, zweitens geſchieht es aber auch ſtets bei einfarbiger
Ware, da die Maſchenbildung gleichzeitig an mehreren Stellen des
Kreiſes vorgenommen wird. Der hierzu erforderliche Apparat heißt
Mailleuſe, und hat man Stühle mit 3, 4, 5 Mailleuſen. Rundſtühle
werden an einem Balken mit ihrer vertikalen Axe aufgehängt. Flache
mechaniſche Kulierſtühle haben ſich zunächſt keinen Eingang verſchaffen
können, ſind vielmehr erſt in Aufnahme gekommen, als ſie mit ſelbſt-
thätigen und ſicher arbeitenden Mindervorrichtungen ausgeſtattet wurden.
Im Handkulierſtuhl kann man nämlich ſehr leicht die Breite der Ware
dadurch erweitern oder verkürzen, daß man Endmaſchen von den Nadeln
abnimmt und ſie nach auswärts oder einwärts auf Nachbarnadeln
bringt. Man kann hierdurch ſog. reguläre Ware herſtellen, d. h. Teilen
von Bekleidungsgegenſtänden, wie Hoſen, Strümpfe, Handſchuhe, gleich
ihre richtige Form geben, ſo daß ſie nur zuſammengenäht zu werden
brauchen, um den Gegenſtand zu ergeben. Im Gegenſatz hierzu ſteht
die geſchnittene Ware; es werden die beregten Teile aus einem größeren
Warenſtück herausgeſchnitten und gleichfalls durch Nähen vereinigt.
Einleuchtend iſt, daß die letztere Ware im Innern wulſtige, drückende
Nähte haben muß, die bei der regulären Ware nicht vorhanden ſind.
1857 iſt nun zuerſt eine derartige Mindervorrichtung Luke Barton
patentiert worden, worauf ſehr ſchnell zahlreiche dahin zielende Er-
findungen folgten. Auch Wirkmuſter kann man heute auf ſolchen

Figure 206. Fig. 214.

Flacher mechaniſcher Strumpfſtuhl.


[383]Das Wirken und Stricken.
flachen mechaniſchen Kulierſtühlen er-
zeugen. Strümpfe werden beiſpielsweiſe
zu vielen neben einander auf ihnen ge-
wirkt, wie unſere Fig. 214 zeigt, und
zwar gleich in derjenigen Form mit
Hinzunahme der Ferſen und Spitzen,
daß ſie fertig zum Zuſammennähen ſind,
was auf einer Ankettelmaſchine ausge-
führt wird. Flache mechaniſche Ketten-
ſtühle ſind gleichfalls konſtruiert worden;
der erſte wurde 1807 dem Engländer
S. Orgill patentiert. — Die älteſte Strick-
maſchine zum Stricken von Strümpfen
rührt von A. Eiſenſtuck 1857 her; ſie
beſaß ſehr große Ähnlichkeit mit der
ſpäteren von Lamb, welche gegenwärtig
die verbreitetſte iſt. Eine Strickmaſchine,
bei der dieſes Syſtem zu Grunde gelegt
iſt, bietet die beigefügte Fig. 215.


Figure 207. Fig. 215.

Strickmaſchine.


Das Häkeln, Knüpfen, Klöppeln.


Außer den Operationen des Webens, Wirkens und Strickens, welche
die Herſtellung von Gebrauchsgegenſtänden aus Fäden bezwecken, giebt
es noch einige andere von untergeordneter Bedeutung, die aber doch
hier kurz berührt werden ſollen. Das Häkeln iſt Handarbeit geblieben,
wenn nicht der Gegenſtand nach Art der Wirkerei erzeugt wird. Man
kennt allerdings Häkelmaſchinen zu Poſamentierzwecken, doch haben die
darauf verfertigten Beſatzartikel häufig nur entfernte Ähnlichkeit mit
dem, was man für gewöhnlich unter Häkelware verſteht. — Knüpfen
oder Netzen betrifft die Herſtellung von Netzwerk durch Zuſammenknoten
von Fäden, und kann dieſes durch Handarbeit oder durch Netzmaſchinen
ausgeführt werden. Eine ſolche hatte 1804 der durch ſeine Webe-
maſchine berühmte Jacquard konſtruiert. Jouanin verbeſſerte dieſe
Konſtruktion außerordentlich und können auf ſeiner Maſchine Netze mit
kleineren oder größeren Maſchen aus Zwirn verfertigt werden. — Die
hier unter Klöppeln verſtandene Arbeit bezieht ſich auf die Fabrikation
von Spitzen, alſo durchbrochene auf Zellengrund gemuſterte Gewebe,
die meiſt zu Randbeſätzen von Stoffen dienen und als Hand- und
Maſchinenſpitzen unterſchieden werden, je nachdem ſie durch Hand oder
durch die Maſchine gearbeitet wurden. Handſpitzen können übrigens
auf höchſt mannigfaltige Weiſe gearbeitet werden, nicht allein durch
Klöppeln, ſondern auch durch Häkeln, Stricken, Wirken, Knüpfen und
Nähen, je nachdem die Zellen verſchiedenartig ausfallen dürfen, doch
ſind das Klöppeln und Nähen die wichtigſten und älteſten Verfahren
[384]Die Textil-Induſtrie.
und von beiden wieder das letztere das ältere aus der Stickerei hervor-
gegangene. Hiernach trennt man die Spitzen als Klöppelſpitzen und
als Näh- oder Nadelſpitzen. Die älteſten Nadelſpitzen wurden aus
einem dichten, leinwandartigen Stoff durch geeignetes Ausſchneiden von
Fadenſtücken und gruppenweiſe Vereinigung der übrigen durch Um-
wickeln mit Nähfäden hergeſtellt, wobei das Muſter Berückſichtigung
fand. Solche Ausziehſpitzen wurden im 15. und 16. Jahrhundert in
Italien getragen. Bei den eigentlichen ſpäteren Nadelſpitzen iſt dieſer
leinwandartige Grund nicht mehr vorhanden, ſondern halten ſich die
einzelnen Fadengebilde gegenſeitig. Zu ihrer Anfertigung bedient
man ſich einer Patrone, welche die Umriſſe des Muſters durch
Nadelſtiche angedeutet zeigt und durch ſehr feine Fäden auf zwei
über einander liegende Tuchſtücke aufgenäht wird. Ein ſtarker Doppel-
faden wird den Konturen der Zeichnung folgend gleichfalls mittels
eines feinen Fadens feſtgeheftet. Die ſo eingegrenzten Muſterflächen
werden dann, die Schattierungen derſelben berückſichtigend, mit Spitzen-
ſtichen, das ſind kunſtvoll geſchlungene Sticharten, ausgefüllt, und der
Art der Spitze entſprechende Befeſtigungen ausgeführt. Endlich wird
die fertige Spitze dadurch gelöſt, daß man die beiden Tuchſtücke aus-
einanderreißt, wodurch die Heftfäden mit zerreißen und die Muſter-
zeichnung frei wird. Geklöppelte Spitzen, die eine große Mannigfaltig-
keit des Grundes geſtatten, ſtellt man mittels des Klöppelkiſſens, der
Klöppel und der Klöppelnadeln dar. Auf dem Kiſſen iſt die Patrone,
eine Zeichnung mit die Kreuzungsſtellen der Fäden markierenden
Nadelſtichen aufgeheftet. Die Klöppelfäden ſind auf der Klöppel, einer
dünnen Holzſpindel, aufgewickelt und werden mittels der Klöppelnadeln
auf der Patrone, den Nadelſtichen gemäß, angeheftet, wobei die Nadeln
an den markierten Stellen in das Kiſſen geſteckt ſind, und nach ver-
ſchiedenen Methoden verflochten. — Maſchinenſpitzen können auf der
Klöppelmaſchine, dem Wirkſtuhl oder der Bobbinetmaſchine erzeugt
werden, unterſcheiden ſich aber hiernach auch in ihrem Ausſehen. Erſtere
liefert Spitzen von dem Ausſehen der durch Hand geklöppelten Spitzen.
Auf dem Wirkſtuhl laſſen ſich nur Spitzen in Form von Kettenware,
alſo Schleifenware, herſtellen. Der Bobbinetſtuhl findet gegenwärtig
die größte Benutzung für die Anfertigung von Maſchinenſpitzen, Tüll-
ſpitzen und auch der Gardinen. Dieſe Stühle ſind ſehr kompliziert,
arbeiten mit Grund- und Dreherkette und vielen Schußſpulen, welche
bald über mehr, bald über weniger Kettfäden hingleiten, wobei die
Dreherfäden ſich um die Grundfäden ſchlingen, und da, wo die Schüſſe
über erſtere gehen, die Befeſtigung geben. Eine Art Jacquardmaſchine
beſtimmt die Länge der Verſchiebung der Schußfäden.


Die Poſamentiererei.


Man begreift unter Poſamentierarbeiten eine Menge von Arbeiten,
die keiner beſonderen Verfahrungsarten bedürfen, vielmehr bald die eine,
[385]Die Poſamentiererei. — Das Sticken.
bald die andere der bereits behandelten Methoden zur Herſtellung der
Fabrikate benutzen. Letztere kennzeichnen ſich dadurch, daß ſie zumeiſt
zur Ausſchmückung gewebter oder gewirkter und daraus verfertigter
Gebrauchsgegenſtände dienen. Manchmal geſchehen dieſe Arbeiten am
Gegenſtand ſelbſt, wie das Franzenknüpfen an Tüchern, Schawls ꝛc.,
meiſtens jedoch werden ſie für ſich vorgenommen und die ſo verfertigten
Sachen durch An- oder Aufnähen auf die Gegenſtände zur Verzierung
verwendet. Franzen, Borden, Bänder, Quaſten, Schnüre, Roſetten,
überſponnene Knöpfe, Treſſen und vieles andere gehören hierher. Dieſe
Arbeiten ſind zumeiſt Handarbeiten, doch hat man auch für den einen
oder anderen Zweck Maſchinen erfunden. So ſtellt man geflochtene
Rund- und Flachſchnüre auf Flecht- oder Klöppelmaſchinen, Litzen-
maſchinen, dar, überſpinnt Fäden mit anderen buntfarbigen oder mit
Silber-, Goldfäden ꝛc. auf der Gimpenmaſchine. Um ſtärkere Schnüre
für Möbel- und Tapezierzwecke zu gewinnen, dreht man Fäden zu
Litzen, d. h. ſtärkeren Schnüren zuſammen und dieſe, wenn nötig, wieder
zu noch ſtärkeren Seilen. Franzen und glatte Borden werden auf dem
Bordenwebſtuhl, einem Handwebſtuhl von geringer Breite gewebt,
hernach, wenn es ſich um eine Franzenborde handelt, die an einer
Seite loſe flatternden Schußfäden mit der Hand gedreht und geknüpft,
oder man ſtellt ſolche Franzen ganz und gar auf Brettern mit der
Hand durch Knüpfen über Nadeln her, welche in dieſe Bretter nach
Muſter eingetrieben ſind. Quaſten und Roſetten werden teils durch
Hand, teils durch Apparate, teils durch Maſchinen bearbeitet, Knöpfe
oder ähnliche Holzformen auf dem Knopfſpinnrad oder der Knopfſpinn-
maſchine mit Garn überzogen. Die zu Franzen oder Tapezierzwecken
dienende einfache oder Façonchenille liefert die Chenillemaſchine. Treſſen,
Ordensbänder u. dgl. geben die Treſſenſtühle, Handwebſtühle von ge-
ringer Breite. Glatte, façonnierte Bänder, bandförmige Beſatzartikel
werden gleichfalls auf ſolchen Stühlen verfertigt, doch hat man an
Stelle ihrer auch Bandmühlen, welche gleichzeitig mehrere Bänder neben
einander liegend, aber getrennt von einander erzeugen, und die meiſt
mechaniſch betrieben werden, geſetzt, und gehören dieſe Bandſtühle viel-
fach dem Gebiete der Weberei an. Gallons, Damenkleider-Beſatzartikel,
werden häufig auf der bereits erwähnten Häkelmaſchine angefertigt.


Das Sticken.


Als eine beſondere Art, Stoffe an der freien Oberfläche durch
Muſter zu verzieren, iſt die Stickerei zu nennen. Dieſe Muſter entſtehen
durch Aufnähen von mehr oder minder dicken, farbigen Fäden. Ab-
geſehen von der verſchiedenen Art des Grundſtoffgewebes oder der
Stickfäden — Gold- und Silberſtickerei, Leinen-, Seiden- und Woll-
ſtickerei, Tüll- und Kanevasſtickerei, Lederſtickerei ꝛc. — oder der Farbe
derſelben — Weiß- und Buntſtickerei — oder des angewendeten Stiches
Das Buch der Erfindungen. 25
[386]Die Textil-Induſtrie.
— Glattſtich-, Kreuzſtich-, Kettenſtichſtickerei ꝛc. — und von dem Effekt
des Muſters — Flach-, Relief-, Applikationsſtickerei ꝛc. — unterſcheidet
man Hand- und Maſchinenſtickerei. Erſtere iſt ſchon ſehr alt, auch
gegenwärtig noch im Gebrauch, doch hat ſie durch letztere ſtarke
Einbuße erlitten. 1829 erfand Joſua Heilmann im Elſaß, derſelbe
welcher die Kämmmaſchine für Kammwolle erfand, die Plattſtichſtick-
maſchine, faſt ſo, wie ſie noch heute benutzt wird. 1864 wurde von
A. Voigt in Chemnitz der Feſtonierapparat daran angebracht. Derſelbe
gab auch einige Jahre ſpäter die Kettenſtichſtickmaſchine mit Öhrnadeln
an, welche Billweiler in St. Gallen und andere mit Verbeſſerungen
verſahen, während 1866 St. Antoine Bonnaz eine ſolche Maſchine mit
Hakennadeln konſtruierte.


Das Nähen.


Mehrfach iſt bereits dieſer höchſt wichtigen Operation gedacht
worden, welche bis zum Jahre 1845 ausſchließlich durch die Hand
ausgeführt wurde, von da ab mehr und mehr durch Nähmaſchinen.
Zwar hatten bereits früher Verſuche von Stone und Henderſon dahin
gezielt, die Handarbeit auf Maſchinen nachzuahmen, hatte Maderſperger
Ende der 30 er Jahre eine ſolche gebaut, wurden die Sticharten von
Thimonnier und von Boſtnick geändert, um zum Ziele zu gelangen,
hatte weiter W. Hunt 1834 eine von den bisherigen Konſtruktionen
unabhängige geſchaffen, doch alles ohne praktiſchen Erfolg.


Erſt Elias Howe 1845 war es vorbehalten, eine Nähmaſchine zu
erfinden, welche thatſächlich zur Zufriedenheit funktionierte; er erntete
leider, wie die meiſten berühmten Erfinder, keinen Dank. Seine Erfin-
dung beuteten andere aus, insbeſondere der Amerikaner J. M. Singer,
welcher einige Verbeſſerungen anbrachte und die Maſchine nach ſich be-
nannte und verwertete. 1852 erhielt A. B. Wilſon ein Patent auf die
Greifernähmaſchine, dann Grover auf die Doppelkettenſtichmaſchine und
etwas ſpäter A. Gibbs auf die Einfadenkettenſtichmaſchine mit Dreh-
haken. Die urſprüngliche Konſtruktion der Nähmaſchine hat ſich in-
zwiſchen durch zahlreiche Verbeſſerungen in einer Weiſe vervollkommnet,
daß die Handarbeit hinſichtlich der Gleichmäßigkeit und Schnelligkeit
in gar keinem Verhältnis zur Maſchinenarbeit ſteht und die Maſchine
heut für jeden, auch noch ſo kleinen Haushalt, geradezu unentbehrlich
geworden iſt.


Die Appretur.


Die dem Webſtuhl entnommenen Gewebe haben faſt durchgängig
nicht diejenige Beſchaffenheit, welche von ihnen für die beſtimmten,
äußerſt verſchiedenen Zwecke verlangt werden. Abgeſehen von Färberei,
Bleicherei und Druckerei, welche lediglich das Ausſehen verändern, giebt
es eine große Zahl von Bedingungen, welche zu erfüllen ſind, um die
gewebte Ware markt- und handelsfähig zu machen. Zwar betrifft das
[387]Die Appretur.
auch die gewirkten oder in anderer Weiſe verfertigten Waren, aber in
ſo geringem Grade, daß hier von dieſen Abſtand genommen werden
kann. Alle diejenigen Prozeduren nun, welchen eine Ware, insbeſondere
alſo Webware, nach der Entnahme vom Stuhl unterliegt, um derſelben
dasjenige Ausſehen, denjenigen Griff (Anfühlen) und die Beſchaffenheit
zu erteilen, welche man von ihr für den jeweiligen Zweck verlangt, faßt
man zuſammen in dem Worte Appretur (adparare, zurichten, zurüſten).
Schon im grauen Altertum war die Zurichtung von Geweben nach der
einen oder anderen Richtung hin bekannt, bewegte ſich jedoch in un-
gleich engeren Grenzen, als ſolche heutzutage beſtehen. Die vielſeitige
Verwendung anderer Geſpinſtfaſermaterialien, minderwertigere mit ein-
geſchloſſen, die Verfertigung von Stoffen, welche bezüglich der Art ihrer
Zuſammenſetzung immer mannigfaltiger geworden ſind, vor allem aber
die hohen Anforderungen der ſchnell wechſelnden Mode, ſowohl was
Ausſehen, als auch Charakter der
Stoffe anbelangt, haben die Zahl der
Appreturoperationen auf eine gerade-
zu erſtaunliche Höhe getrieben. In
demſelben Maße iſt natürlich die Menge
der dieſe Prozeduren ausführenden
Maſchinen, Appreturmaſchinen, ge-
wachſen, denn die ehemals übliche
Handarbeit iſt faſt ganz und gar
aus der Appreturbranche verdrängt
worden. Selbſt das Preſſen von
fertigem Stoff zu dem Zweck, dieſelben
zu glätten, oder gewiſſe andere Effekte,
Glanz, Moirée, hervorzubringen, ge-
ſchieht heute vielfach in hydrauliſchen
Preſſen, deren Pumpen durch Ma-
ſchinenbetrieb in Bewegung geſetzt
werden, wie die nebenſtehende Fig. 216

Figure 208. Fig. 216.

Hydrauliſche Preſſe.


durch die der Pumpe gegebenen Riemſcheiben erkennen läßt. Das
Trocknen von gewaſchenen oder feuchten Geweben und das gleich-
zeitig notwendige Breitſpannen derſelben wird heute immer ſeltener
an den Trockenrahmen, an welche die Stoffe angeſchlagen wurden,
bewirkt, es dienen vielmehr dieſem Zweck großartige Spann- und
Trockenmaſchinen, die die Gewebe in Etagen in langem Zuge paſſieren
laſſen und unter Anwendung von Wärme, Exhauſtoren zum Abführen
der feuchten Dämpfe und Vorrichtungen zum Ausſpannen des Gewebes
in der Breite ſchnell zum Ziel führen, ohne allzuviel Bodenfläche und die
Handarbeit vieler Perſonen zu beanſpruchen. Unſer Bild (Fig. 217) zeigt
eine derartige Maſchine. Nicht immer ſtattet man die Appreturmaſchinen
mit Riemſcheiben aus, um ſie mittelſt Riemen von einer Kraftwelle,
Transmiſſionswelle, aus zu treiben, ſondern verbindet man mit ihnen
25*
[388]Die Textil-Induſtrie.

Figure 209. Fig. 217.

Spann- und Trockenmaſchine.


kleine Dampfmaſchinen, Lilliput-Dampfmaſchinen, welche direkt auf die
Antriebswelle der Arbeitsmaſchine einwirken und letztere hierdurch in
Bewegung bringen. Der Vorteil dieſer Einrichtung iſt der, daß man
der Appreturmaſchine durch Zulaſſung von mehr oder weniger Dampf
in den Dampfcylinder bequem jede Geſchwindigkeit erteilen, ſie ſchneller
oder langſamer laufen laſſen kann, je nachdem ſolches das in der Maſchine

Figure 210. Fig. 218.

Kalander.


zu bearbeitende Gewebe durch
ſein Material und ſeine Art be-
dingt. Die beigefügte Fig. 218
giebt einen ſog. Kalander in Ver-
bindung mit einer Dampfmaſchine.
Zur Erklärung ſei hinzugefügt,
daß ein Kalander das Gewebe
durch die Fugen der ſchweren,
noch durch Hebel- und Gewichts-
druck ſtark belaſteten eiſernen und
Papierwalzen paſſieren läßt, um
ſie zu glätten oder andere Effekte
hervorzubringen, wie in der hy-
drauliſchen Preſſe. — Bei den
Römern und Griechen waren die
Hauptappreturprozeduren für Wollſtoffe bekannt, das Walken, Rauhen,
Waſchen, Trocknen, Bürſten und Scheren, d. h. das Einfilzen derſelben,
um ſie dicker und dichter zu machen, die Ausſtattung der gefilzten
Ware mit einer mehr oder minder langen Haardecke durch Aufkratzen
des Schuſſes, die Reinigung der Stoffe von Fettbeſtandteilen und
anderen Unreinigkeiten und das hierauf folgende Trockenmachen, das
Niederlegen der gerauhten Haare nach einer Richtung, ſowie das Ab-
nehmen hervorſtehender Härchen, um entweder ganz glatte Gewebe oder
aber die Haardecke der hochflurigen Gewebe gleichmäßig zu erhalten.
[389]Die Appretur.
Außerdem ſchwefelten ſie Wollſtoffe, um ſie zu bleichen, ihnen die nötige
Weiße zu geben. Für Leinen wurden Schlagen, Waſchen, Glänzend-
machen, vermutlich auch Bleichen benutzt. Durch Schlagen erhielt das
Leinen eine größere Weichheit, einen beſſeren Griff, gleichzeitig wurde
der Staub entfernt. Das Glänzendmachen geſchah durch Reiben und
Klopfen der Stoffe mit glatten Holzkeulen. Andere Stoffe waren ihnen
damals unbekannt. Zur Reinigung von Geweben bediente man ſich
je nach der Art der Verunreinigung verſchiedener Mittel als Zuſätze
zum Waſchwaſſer, ſo der Holzaſche, der Walkerde, des Urins ꝛc. Man
trat die Stoffe in Waſſergruben, oder ſchlug die naſſen Gewebe, wie
die Ägypter, und wie ſolches heute noch bei den Indiern üblich iſt.
Nur ſelten wird gegenwärtig noch in fabrikativen Etabliſſements die
Handwäſcherei benutzt, höchſtens in der Leineninduſtrie. Waſchmaſchinen
der verſchiedenſten Art, den jeweiligen Zwecken angepaßt, führen faſt
durchweg den Waſchprozeß aus. Das Waſchmittel iſt meiſt Seife,
während zum Reinſpülen das bloße Waſſer verwendet wird. Wann
die erſte dieſer Maſchinen erfunden worden, iſt nicht bekannt; feſt ſteht
nur, daß im engliſchen Patentregiſter von 1691 John Tyzacke als
Erfinder aufgeführt iſt, und 1767 eine Waſchmaſchine von Schaeffer in
Augsburg thätig war. Die Reinigung der Gewebe von mechaniſch bei-
gemengten Verunreinigungen, wie Staub, erfolgte durch Klopfen, jetzt
vielfach durch Klopfmaſchinen. Das mehrfach erwähnte Karboniſations-
verfahren verhilft dazu, in Stoffen aus animaliſcher Geſpinſtfaſer
Klettenteile und Beimengungen vegetabiliſchen Urſprungs zu beſeitigen,
ein heute in der Wollinduſtrie häufig angewandtes Verfahren. Hervor-
ſtehende Fadenendchen, Härchen ꝛc. entfernt man mittels Abſengens durch
Sengemaſchinen, wobei das Gewebe durch eine breite, nicht rußende,
ſchneidige Gasflamme geht und zwar mit einer Geſchwindigkeit, die
ein Anbrennen nicht befürchten läßt, und ſengt man gegenwärtig Ge-
webe jeglichen Materials. Neuerdings will man ſich die Elektrizität
für dieſen Zweck dienſtbar machen, verbindet einen Metalldraht mit
einer Elektro-Dynamomaſchine, wodurch er glühend wird, und läßt
das Gewebe über ihn laufen. Eine wichtige Rolle hat zu allen Zeiten
das Einfilzen von Streichwollſtoffen, das Walken, geſpielt. Es beſtand
bei den Alten im Waſchen, Schlagen, darauf folgenden Stampfen der
Gewebe mit den Füßen in Walkgruben oder ſteinernen Trögen und
Ausſpülen in reinem Waſſer. Nitron, Walkerde oder verfaulter Urin
waren die Walkmittel. Das mühevolle Treten iſt zweifelsohne ſehr
früh durch erleichternde Vorrichtungen erſetzt worden. Bereits im
12. Jahrhundert gedenken franzöſiſche Verordnungen der Walkmühlen;
in England arbeitete eine ſolche 1322, in Deutſchland 1430 in Augs-
burg, in Amerika 1643 zu Rowley. Die Thätigkeit des Tretens führten
dabei auf das im Walkloch liegende Gewebe fallende Hämmer aus,
Hammerwalken. Stampfwalken traten etwa 1700 zuerſt in Holland auf.
Erſt zu Anfang dieſes Jahrhunderts kamen andere Syſteme zur Geltung,
[390]Die Textil-Induſtrie.
1804 die Doppelkurbelwalke durch John Dyer, und hat letztere den Grund
für die heutigen Cylinderwalken gegeben, während neben dieſen als zweites
Syſtem die Hammerkurbelwalken beſtehen, beide Arten in einer faſt
unübertrefflichen Vollkommenheit. Außer den genannten Walkmitteln
iſt Seife als vorzüglichſtes zu erwähnen. Das Rauhen von Stoffen
war gleichfalls bereits im grauen Altertum bekannt und wurde dieſe
Operation mit der noch heute für den gleichen Zweck verwendeten
Kardendiſtel, wenn auch in einer anderen Spezies, vorgenommen. Man
befeſtigte die Karden in einem Kreuz mit Handgriff und bearbeitete das
der Länge nach herunterhängende Gewebe in Richtung der Kette, riß
alſo die Schußfäden auf, wodurch die Haardecke entſtand. Wenn auch
höchſt ſelten, ſo geſchieht das Rauhen für kleinere Gewebeſtücke in
Kleinbetrieben heute noch in gleicher oder ähnlicher Weiſe. Die
Maſchinenrauherei ſoll 1684 mit James Dabadies Patent begonnen
haben. 1797 wurde Walter Burt in Amerika eine Rauhmaſchine
patentiert. Von 1800 ab ſind eine ganze Reihe von derartigen Pa-
tenten erteilt worden, und haben ſich allmählich die vorzüglichen Kon-
ſtruktionen der Gegenwart entwickelt, deren Hauptbeſtandteil immer eine
oder zwei große mit Kardendiſteln garnierte und ſchnell rotierende

Figure 211. Fig. 219.

Rauhmaſchine.


Trommeln, an denen das der
Länge nach durch die Maſchine
gehende Gewebe vorbeiſtreicht,
bilden. Eine ſolche Rauh-
maſchine, bei denen ſich die
Karden, die man übrigens auch
durch metallene von annähernder
Form erſetzt hat, auf Spindeln
drehen, bietet die beiſtehende
Fig. 219. Ferner hat man ſtatt
der Karden Drahthäkchenbe-
ſchlag, Krempelbeſchlag, als Be-
ſatz für die angreifenden Organe
genommen und die Kratzenrauhmaſchine konſtruiert. Eine Operation, die
dem Sengen gleich kommt, aber auch, wie bereits erwähnt, dazu dient,
hochflurige Gewebe gleichmäßig hoch zu bekommen, iſt das Scheren. Seit
Jahrhunderten ſind dazu ſcherenartige Werkzeuge benutzt worden. Wie
es dagegen im Altertume ausgeführt worden iſt, wiſſen wir nicht; daß
es aber damals ſchon bekannt war, iſt ſicher. Die Tuchſcherer ſpielten
beſonders im Mittelalter eine hervorragende Rolle. Nachrichten von
ihnen haben wir aus dem 8. Jahrhundert. 1684 ſoll die Tuchſchere
zuerſt durch Elementarkraft betrieben worden ſein. James Delabadie
nahm ein Patent auf eine ſolche Schermaſchine. Die ſpäterhin und
heute vorfindlichen Schermaſchinen haben ein ganz anderes Prinzip.
Die eigentliche Schere iſt fortgefallen. Ein mit ſpiralförmigen Meſſern
ausgeſtatteter Cylinder dreht ſich ſchnell gegen ein darunter befind-
[391]Die Appretur.
liches, feſtes, horizontales Meſſer von gleicher Länge, nämlich der
Breite des Gewebes und bilden beide Teile zuſammen ein Art Schere,
die kontinuierlich geſchloſſen wird, alſo ſtetig ſchneidet. Das Gewebe
zieht dabei über eine Schiene unterhalb des feſten Meſſers und bietet
die abzuſchneidenden Härchen emporgerichtet der Schere dar. Es ſei
erwähnt, das man auch Schermaſchinen hat, bei welchen Meſſercylinder
und Meſſer über das horizontal darunter ausgeſpannte Gewebe ge-
fahren werden. — Häufig müſſen Stoffe noch mit beſonderen Mitteln
behandelt werden, um denjenigen Griff und dasjenige Ausſehen zu er-
halten, welche man von ihnen wünſcht. Dieſe Appreturmittel dienen
dazu, gewiſſe natürliche Mängel der Gewebe, Magerkeit der Fäden,
Ungleichmäßigkeit derſelben u. ſ. w. in reeller Weiſe zu verdecken. Das
betrifft vornehmlich Baumwoll- und Leinenwaren, in geringerem Grade
Wollen- und Seidenwaren, obgleich auch hier derartige Mittel Ver-
wendung finden können. Es ſind zumeiſt ſtärkehaltende, mehlige,
ſchleimgebende Subſtanzen, welche als Abkochungen benutzt und mit
denen die vegetabiliſchen Stoffe beſtrichen, getränkt und imprägniert
werden, während man für die animaliſchen Stoffe mehr die Leim-
und Gummiabkochungen oder dergl. wählt. Zuſätze mineraliſcher
Natur zu den Appreturmaſſen geſtatten eine Erſchwerung des Ge-
webes, welche ſich jedoch immer in reellen Grenzen halten ſollte. Leider
iſt und wird dagegen viel gefehlt und vermehrt man das Gewicht der
Waren häufig in unerlaubtem Grade mit Mitteln, die nicht haltbar und ſo-
gar geſundheitsſchädlich ſind. Die Chemie hat bezüglich der richtigen Wahl
der Appreturmittel für dieſen oder jenen Zweck vieles gefördert und deckt
im Zuſammenhang mit mikroſkopiſchen Unterſuchungen manche Ver-
fälſchung auf. Eine hochwichtige Entdeckung der letzten Jahrzehnte ſoll
aber hier beſonders hervorgehoben werden, d. i. die Vermeidung des
Ausſchlagens lagernder appretierter Stoffe. Mehle und Stärken, auch
Leim u. dgl. haben nämlich die böſe Eigenſchaft, ſich leicht zu zerſetzen,
wenn Feuchtigkeit und Wärme auf ſie einwirken, und verlieren dieſe
Eigenſchaft auch nicht, wenn ſie als Appreturmaſſe gebraucht und die
Gewebe getrocknet wurden. Lagern nun ſolche Stoffe, ſo treten dieſe
Pilze und Schimmel auf, überziehen das Gewebe, und bilden ſich
auch Säuren, welche die Farbe zerſtören. Erſt durch das Studium
der ſog. antiſeptiſchen Subſtanzen, Carbolſäure, Salicylſäure, Chlor-
verbindungen u. a., iſt es möglich geworden, dem vorzubeugen, indem
man derartige Mittel der Appreturmaſſe zuſetzt.


Geebnet und geglättet werden die zugerichteten Waren entweder
kalt oder heiß oder aufeinanderfolgend beides in der hydrauliſchen
Preſſe, in dem Kalander oder in der Mangel, auch ſucht man hier-
durch, wenn nötig, die Oberfläche matter oder glänzender zu machen
und gewiſſe Effekte, wie Moirée, hineinzubringen. Der Preſſe und
und des Kalanders wurde bereits kurz gedacht und mag das für hier
genügen. Was die Mangel betrifft, ſo iſt ſie eine Kaſten- oder eine
[392]Die Farben und das Färben.
Walzenmangel. Das Gewebe wird auf Holzkeulen feſt aufgewickelt,
auf eine horizontale Tiſchplatte gelegt und durch Hin- und Herbewegen
eines ungemein ſchweren, darauf gebrachten Kaſtens hin- und hergerollt,
oder aber es wird die Keule zwiſchen zwei unter Druck befindliche
Walzen gelegt und durch Hin- und Herdrehen dieſer letzteren gleich-
artig behandelt. Zum Ebenen und Glätten der Waren gehören
allerdings noch eine Reihe von Nebenoperationen, insbeſondere das
Einſprengen, zuweilen Dämpfen ꝛc., doch können dieſe hier nicht be-
handelt werden. Eine häufig erforderliche Zwiſchenoperation zwiſchen
anderen Appreturprozeduren bildet das Trocknen der Gewebe. Durch
äußerſt verſchiedenartig konſtruierte Maſchinen wird das gegenwärtig
beſorgt, und gab bereits Fig. 217 ein Bild einer ſolchen Maſchine.
Sind die Gewebe mit Waſſer oder Waſchflüſſigkeit geſättigt, ſo entnäßt
man ſie auch wohl vor der Überlieferung in den eigentlichen Trocken-
apparat oder der Trockenmaſchine mittels Centrifugen. Das ſind im
großen ganzen die Hauptappreturoperationen, welche die Gewebe je
nach ihrer Beſchaffenheit und ihrem Material durchzumachen haben.
Den Schluß der Appretur bilden meiſtens das Falten, Legen, Meſſen
der fertigen Waren, Operationen, für deren Ausübung zahlreiche
Maſchinen erfunden worden ſind.


2. Die Farben und das Färben.


Zu allen Zeiten, unter allen Himmelsſtrichen und bei allen Völkern
finden wir den Sinn für Farben, wenn auch in mehr oder minder
entwickelter Form. Die Natur giebt die Anregung, indem uns das
Sonnenlicht von allen Gegenſtänden gebrochen, d. h. farbig zurückſtrahlt.
Der erwachende Intellekt des Menſchen war aber nicht mit dem zu-
frieden, was die Natur bot, der Menſch wollte ſelbſt nach ſeinem Ge-
ſchmacke eingreifen. Sein erſtes Ziel war die Schmückung des eigenen
Leibes, das weitere der Aufputz der ihn zunächſt umgebenden Gegen-
ſtände. In Ermangelung von Kleidungsſtücken begann der auf niederer
Kulturſtufe ſtehende Menſch mit der Bemalung des eigenen Körpers,
ſei es in Form bloßer wirklicher Bemalung oder in Form der dauer-
hafteren Tättowierung. Die Reſte beider Liebhabereien finden wir ja
noch heute bei den ziviliſierteſten Völkern. Die Modedame bemalt ſich,
der Soldat, der Handwerker ꝛc. läßt ſich auf den Arm ein mehr oder
weniger kunſtvolles Bild tättowieren. Als die Bekleidung begann,
erwachte natürlich auch das Streben, dieſer einige Buntheit zu ver-
leihen. Man machte aber die Beobachtung, daß die Farben, die zum
[393]Farben zum Bemalen.
Bemalen dienten, nicht auch zum Färben zu gebrauchen waren, und
ſo ergab ſich eine naturgemäße Einteilung aller Farbmaterialien in
ſolche, die zum Bemalen, und in ſolche, die zum Färben geeignet ſind.
Die Grenzen beider Gruppen ſind natürlich keine ſcharfen, aber immer-
hin gewährt dieſe Gruppierung eine gute Einteilung, und das umſo-
mehr, als dieſe Einteilung gleichzeitig mit einer anderen zuſammen-
fällt, die ſich aus dem Urſprung der Farben ergiebt. Als Farben
zum Bemalen dienen die mineraliſchen oder anorganiſchen Farben,
während die zum Färben gebrauchten organiſchen Farbſtoffe dem
Tier- oder Pflanzenreich entſtammen.


a) Farben zum Bemalen.


Als Material für Malfarben boten ſich dem farbebedürftigen
Menſchen eine Reihe in der Natur vorkommender Mineralien. Für
Blau diente der koſtbare Laſurſtein (lapis lazuli) und die Kupferlaſur,
ein ſchönes Grün lieferte der Malachit (Berggrün). Gelbe, rote und
braune Farben finden ſich zahlreich in Form von verſchiedenen Eiſen-
mineralien, als Rot wurde auch der Zinnober benutzt. Schwarz lieferte
die Kohle, weiß vor allem die Kreide. War man früher ausſchließ-
lich auf die natürlichen Funde angewieſen, ſo blieb ſpäteren Jahr-
hunderten, insbeſondere dem unſrigen, das man nicht nur als Zeitalter
des Dampfes, ſondern auch als Zeitalter der Chemie bezeichnen muß,
vorbehalten, die Gewerbe und Künſte in ihrem Farbenbedarf von den
Launen der Natur unabhängig zu machen.


Eine der wichtigſten induſtriellen Erfindungen war die künſtliche
Darſtellung des Laſurſteins (lapis lazuli) oder Ultramarins. 1827 ent-
deckten gleichzeitig Gmelin und Köttig in Deutſchland und Guimet in
Frankreich den Weg, der zum künſtlichen Ultramarin führte, und als-
bald wurde das Verfahren auch praktiſch verwertet. Der Erfolg war
natürlich in erſter Linie ein koloſſaler Preisſturz der bis dahin äußerſt
koſtbaren Farbe. Während das Kilogramm des natürlichen Laſur-
ſteins 240 Mark gekoſtet hatte, war zwei Jahre nach der Erfin-
dung der Preis bereits auf 30 Mark geſunken, und heute koſtet
das Kilogramm des uns unentbehrlich gewordenen Blaus weniger
als eine Mark. Man gewinnt das Ultramarin, indem man Porzellan-
thon (Kaolin) mit Schwefel und Soda zuſammen erhitzt, meiſt unter
Zuſatz von Glauberſalz und Kohle. Dabei erhält man zuerſt grünes
Ultramarin, und dieſes geht bei weiterem Erhitzen mit Schwefel in
das blaue über. Indem man der Miſchung auch noch Kieſelſäure
(Infuſorienerde) zuſetzte, gelangte man zu rötlichblauen und violetten Ultra-
marinen, aus denen man dann weiter durch Behandlung mit Säuren
ſogar rotes Ultramarin gewinnen lernte. In den chemiſchen Laboratorien
hat man auch gelbe und graue Ultramarine dargeſtellt, ſo daß man
[394]Die Farben und das Färben.
jetzt über eine vollſtändige Farbenſkala Ultramarin ähnlicher Farben
verfügt.


Als Malfarben nicht mehr gebräuchlich ſind der unechte Laſur-
ſtein (die Kupferlaſur) und der Malachit, beides Verbindungen von
Kupfer und Kohlenſäure. Von den ſonſtigen kupferhaltigen Farben
(z. B. Grünſpan, Bremer Blau, Scheeleſches Grün) hat eine größere
Bedeutung nur das Schweinfurter Grün. Dieſe außerordentlich ſchöne
und feurige Farbe iſt eine Verbindung von Kupfer, Arſenik und Eſſig-
ſäure und deshalb ſehr giftig. Sie wurde 1814 von Ruß und Sattler
in Schweinfurt entdeckt und fand wegen ihrer Schönheit vielfache Ver-
wendung als Anſtrich- und Druckfarbe, beſonders für Tapeten. Man
verſuchte ſogar, ſie zum Färben von Kleidern zu benutzen, indem man
die Farbe mit Eiweiß auf dem Stoffe befeſtigte. Leider war aber
dieſe Art der Färberei von äußerſt geringer Haltbarkeit; die Farbe
ſtäubte von den ſchönen grünen Ballkleidern beim Tanzen ab oder
wurde durch den Schweiß zerſetzt, zum ſchweren Schaden für die
Trägerinnen ſowohl als für die übrigen Tänzer. Die vielfachen Ver-
giftungen, die eine Folge dieſer grünen Kleider waren, führten bald
dazu, das Schweinfurter Grün und mit ihm alle andern grünen Farben in
Verruf zu bringen. In Deutſchland und vielen anderen Ländern darf
das Schweinfurter Grün jetzt nur noch als Ölfarbe verwendet werden,
und da es ſich dazu ſchlecht eignet, ſo wird es bei uns wenig mehr
gebraucht. Immerhin werden noch bedeutende Mengen für den Ver-
ſand nach dem Orient und nach China hergeſtellt, wo man nicht ſo
ſkrupulös iſt und auf Vergiftungen weniger Gewicht legt.


Eine der früher am häufigſten gebrauchten blauen Farben iſt das
Kobaltblau, die Smalte. Als Erfinder derſelben (1540) wird der
böhmiſche Glasmacher Chriſtoph Schürer in Neudeck bezeichnet. Sein
Geheimnis wurde den Holländern bekannt, deren Betriebſamkeit bald
in Schneeberg einen lebhaften Kobalterzbergbau ins Leben rief. Die
Smalte (Schmelze) wird durch Zuſammenſchmelzen von Sand, Pott-
aſche und geröſtetem Kobalterz (Zaffer) dargeſtellt, ſie iſt alſo ein
blaugefärbtes Glas. Die Induſtrie nahm bis zum dreißigjährigen
Kriege einen bedeutenden Aufſchwung, ſowohl auf der ſächſiſchen als
auf der böhmiſchen Seite des Erzgebirges, um dann durch den Krieg
allerdings faſt gänzlich zu Grunde zu gehen. Erſt gegen Ausgang
des großen Krieges entſtanden neue Blaufarbenwerke, von denen jetzt
noch zwei beſtehen. Der Verbrauch an Smalte iſt durch die Ein-
führung des künſtlichen Ultramarins bedeutend zurückgegangen.


Von blauen Farben iſt außer den bereits genannten nur noch zu
nennen das Berliner Blau, eine Eiſenverbindung der Blauſäure (welche
letztere ihren Namen vom Berliner Blau herleitet). Man gewinnt das
Berliner Blau aus dem gelben Blutlaugenſalz (gelbes blauſaures
Kali, Ferrocyankalium); dieſes entſteht, wenn man Pottaſche mit Kohle
und tieriſchen, ſtickſtoffhaltigen Abfällen (Horn, Haut, Leder) unter
[395]Farben zum Bemalen.
Zuſatz von Eiſen ſchmilzt. Verſetzt man eine Löſung dieſes Blut-
laugenſalzes mit einer Eiſenlöſung, ſo fällt ein je nach dem ange-
wandten Eiſenſalze weißer bis dunkelblauer Niederſchlag. Auch der
weiße Niederſchlag geht langſam an der Luft, ſchnell bei Behandlung
mit Oxydationsmitteln (Salpeterſäure) in dunkelblau über, und gerade
die ſo erhaltene Farbe bildet das wertvolle Handelsprodukt. Das
Berliner Blau findet ausgedehnteſte Anwendung zum Färben von
Papier, ſowie zum Drucken. Die feinſte Sorte (Pariſer Blau) bildet
blaue Stücke, die beim Reiben Kupferglanz annehmen, eine Eigenſchaft,
die ſie mit dem Indigo gemeinſam haben. Das Berliner Blau wurde
1704 von Diesbach in Berlin entdeckt. Eine techniſch nicht verwendete
Abart desſelben, welche aus rotem Blutlaugenſalz (Ferricyankalium)
und Eiſenvitriol erhalten wird, führt zwar den Namen Turnbulls
Blau, iſt aber nicht von Turnbull erfunden worden.


Von roten Mineralfarben, die in der Natur vorkommen, ſind
nur gewiſſe Arten von Eiſenocker, ſowie der Zinnober zu erwähnen.
Letzterer wird aber in größeren Mengen künſtlich dargeſtellt, indem man
Queckſilber und Schwefel entweder trocken oder naß zuſammenreibt
und das entſtehende Schwefelqueckſilber ſublimiert. Unter Sublimieren
verſteht man eine Art Deſtillation, bei der aber die Körper nicht
ſchmelzen, ſondern direkt aus dem feſten in den gasförmigen Zuſtand
übergehen und ſich dann wieder in feſtem Zuſtande niederſchlagen. Auf
dieſem Wege erhält man den Zinnober als die bekannte ſchöne rote Farbe.


Neben dem Zinnober ſpielt eine rote Bleifarbe, die Mennige
(minium), eine große Rolle. Wie der Zinnober iſt ſie ſeit früher Zeit
bekannt. Man ſtellt ſie dar, indem man Blei an der Luft bis faſt
zum Glühen erhitzt. Dabei verbindet ſich das Blei mit dem Sauerſtoff
der Luft zuerſt zu Bleioxyd, der bekannten Bleiglätte (Maſſicot), dann
aber mit mehr Sauerſtoff zu Mennige. Auch durch Erhitzen von
Bleiweiß kann man letztere erhalten. In neuerer Zeit ſtellt man aus
Mennige beſonders eine Zinnober-Imitation her, indem man ſie mit
der Bleiverbindung eines Teerfarbſtoffes, des Eoſins, vermiſcht. Dieſe
Nachahmung hat vor echtem Zinnober den Vorteil bedeutend größerer
Billigkeit. Außer der Mennige findet noch eine andere rote Blei-
verbindung techniſche Verwendung, das Chromrot, eine Verbindung
von Blei mit Chromſäure. Man ſtellt ſie aus dem Chromgelb dar,
das aus den gleichen Beſtandteilen zuſammengeſetzt iſt und ſeiner
ſchönen Farbe und großen Deckkraft wegen ausgedehnte Verwendung
als Anſtrich- und Druckfarbe findet. Man gewinnt das Chromgelb,
indem man eine Löſung von Bleieſſig mit Löſungen von chromſauren
Salzen fällt. Je nachdem man dabei Säuren oder Ätzlaugen zuſetzt,
erhält man Töne vom reinſten Schwefelgelb bis zum leuchtendſten Rot.
Das Chromgelb dient ganz beſonders auch zur Herſtellung grüner
Farben durch Miſchen mit Berlinerblau. Mit einer ſolchen Grün-
miſchung ſind z. B. unſere 5 Pfennig-Briefmarken und Poſtkarten
[396]Die Farben und das Färben.
gedruckt. Neben dem Chromgelb ſpielen die anderen gelben Farben
nur eine untergeordnete Rolle, obgleich man für die Zwecke der Malerei
noch eine ganze Reihe ſolcher herſtellt, z. B. das Kadmiumgelb. Mit Hilfe
der chromſauren Salze ſtellt man auch direkt ein ſchönes, von Guignet
1859 angegebenes und nach ihm benanntes Grün her. Man erhitzt
zu dieſem Zwecke rotes chromſaures Kalium mit Borſäure zum ſchwachen
Glühen und wäſcht das Produkt mit Waſſer aus. Es hinterbleibt
dann Chromoxyd in Form eines ſmaragdgrünen Pulvers, das ſich
zum Erſatz des giftigen Schweinfurter Grüns eignet.


Für braune Farben benutzt man faſt nur natürlich vorkommende
Eiſen- oder Manganmineralien, die meiſt mehr oder weniger gebrannt
werden. Für Schwarz kommt ausſchließlich die Kohle in Betracht,
und zwar in der Form von Ruß. Zu dieſem Zwecke unterwirft man
in beſonderen Öfen Kienholz und andere harzreiche Hölzer, Weinreben,
Pech u. dgl. einer langſamen (rußenden) Verbrennung. Der Rauch
wird in Kammern verdichtet, wo ſich der Ruß, der aus feinen Kohlen-
ſtoffſtäubchen beſteht, abſetzt. Er wird dann noch mit Laugen aus-
gekocht, um ihn von ſetten, teerigen Beſtandteilen zu befreien. Unſere
geſamte Druckerſchwärze wird ſo gewonnen.


Von weißen Farben haben wir ſchon der Kreide gedacht. Daneben
finden von natürlich vorkommenden Rohmaterialien noch Gips und
weißer Thon Verwendung. Außerdem ſind aber noch drei künſtlich
erzeugte weiße Farben von größter Wichtigkeit, das Permanentweiß
(blanc fixe), das Bleiweiß und das Zinkweiß. Das Permanentweiß
iſt eine Verbindung von Schwefelſäure und Baryt; die gleiche Ver-
bindung kommt zwar in der Natur als Schwerſpat vor, allein dieſes
Mineral iſt ſelbſt in fein gemahlenem Zuſtande nicht als Farbe zu
gebrauchen, da es keine Deckkraft beſitzt. Man erhitzt es daher mit
Kohle, wobei es in lösliches Schwefelbaryum übergeht. Die Löſung
des letzteren, mit Schwefelſäure niedergeſchlagen, liefert das künſtliche
Barytweiß, deſſen Hauptvorzug darin beſteht, daß es abſolut unver-
änderlich iſt. Hierdurch iſt es weſentlich überlegen dem ſonſt in mancher
Hinſicht vorteilhafteren Bleiweiß (Kremſer Weiß), welches leider durch
Schwefelwaſſerſtoff, der ja oft in der Luft vorhanden iſt, gelblich bis
braun und ſogar ſchwarz wird. Das Bleiweiß iſt ſchon ſeit alter
Zeit bekannt, wenn auch ſeine fabrikmäßige Gewinnung kaum über
400 Jahre alt iſt. Zur Darſtellung des Bleiweißes benutzt man ver-
ſchiedene Methoden, welche nach den Ländern, wo ſie zuerſt ausgeübt
wurden, benannt ſind. Man hat ein holländiſches, deutſches, engliſches
und franzöſiſches Verfahren. Die beiden erſteren ſind die älteſten und
unterſcheiden ſich nur in unweſentlichen Einzelheiten. Sie beruhen
darauf, daß man Bleiplatten bei erhöhter Temperatur Eſſigdämpfen
ausſetzt, während gleichzeitig Luft und Kohlenſäure Zutritt haben.
Zu dieſem Behufe rollt man beim holländiſchen Verfahren Bleiplatten
ſpiralig auf und ſetzt ſie in Töpfe, die etwas Eſſig oder Bierhefe
[397]Farben zum Bemalen.
enthalten. Von ſolchen Töpfen ſetzt man eine größere Anzahl in eine
gemauerte Kammer, deren Boden mit Pferdedung oder gebrauchter
Lohe bedeckt iſt. Über die Töpfe kommt eine mehrfache Lage von
Bleiplatten, darauf wieder Lohe u. dgl., in die wieder die Eſſigtöpfe
eingeſetzt ſind u. ſ. f., bis die Kammer (Looge) gefüllt iſt. Nach
4—7 Wochen ſind die Bleiplatten größtenteils zerfreſſen und in Blei-
weiß umgewandelt.


Beim deutſchen (öſterreichiſchen) Verfahren hängt man die Platten
dachförmig gebogen in geheizten Kammern auf, in die man dann die
Dämpfe von kochendem Eſſig und die Verbrennungsgaſe von Holz-
kohlen oder Koks hineinſtreichen läßt. Beim engliſchen Verfahren ver-
wendet man nicht metalliſches Blei, ſondern Bleioxyd (Bleiglätte); man
feuchtet dieſelbe mit einer Löſung von Bleizucker (eſſigſaurem Blei) an
und leitet Kohlenſäure darüber. Dabei wird die Maſſe fortwährend
gut durchgemiſcht und ſo ſehr raſch in Bleiweiß übergeführt. Das
franzöſiſche Verfahren geht ganz auf naſſem Wege vor ſich. Man löſt
in Eſſig ſo viel Bleiglätte auf, als ſich eben löſen will, und leitet dann
Kohlenſäure in die Flüſſigkeit. Dabei fällt der größere Teil des ge-
löſten Bleies als Bleiweiß aus; in der übrigbleibenden Löſung wird
wieder friſche Bleiglätte gelöſt, durch Kohlenſäure gefällt u. ſ. f. Das
Bleiweiß iſt zwar vom techniſchen Standpunkt eine ſehr brauchbare
Farbe, es hat aber den Nachteil, ſehr giftig zu ſein und darf deshalb
jetzt nur noch als Ölfarbe gebraucht werden. Als Erſatz iſt dafür das
Zinkweiß in Aufnahme gekommen, das zuerſt von Leclaire in großem
Maßſtabe hergeſtellt wurde. Da es nicht giftig iſt, ſo ſchädigt es
weder die mit der Herſtellung beſchäftigten Arbeiter, noch bedingt es
Beſchränkungen in der Verwendung. Man gewinnt es, indem man
Zink in thönernen Retorten verdampft, die Zinkdämpfe mittelſt heißer
Luft verbrennt, und den dabei entſtehenden Rauch von Zinkoxyd in
große Kammern leitet, in denen es ſich abkühlt und verdichtet. Das
Zinkweiß teilt mit dem Permanentweiß die Eigenſchaft, gegen Schwefel-
waſſerſtoff unempfindlich zu ſein, dagegen wird es, wie das Bleiweiß,
von Säuren angegriffen.


b) Farben zum Färben.


Woran liegt es, daß eine ſo große Anzahl farbiger Körper nicht
zum Färben geeignet iſt? Um dieſe Frage zu beantworten, müſſen
wir uns mit dem Begriff des Färbens bekannt machen. Das Färben
beſteht darin, einen Körper oder Stoff — der ſowohl weiß als auch
bereits farbig ſein kann — ſo mit einer beſtimmten Farbe zu ver-
einigen, daß die letztere auf rein mechaniſchem Wege durch Abkratzen
oder Abwaſchen mit Waſſer nicht mehr zu entfernen iſt. Während
beim Bemalen die Farbe an der Oberfläche haftet, dringt ſie beim
[398]Die Farben und das Färben.
Färben in die Gegenſtände ein, ſie verbindet ſich mit ihnen. Über die
Vorgänge, die dabei ſtatthaben, werden wir zum Schluß in einem be-
ſonderen Abſchnitt zu ſprechen haben.


Während für die Farben zum Bemalen vorwiegend mineraliſche —
anorganiſche — Materialien in Betracht kommen, ziehen wir die Farben
zum Färben vorwiegend — man kann faſt ſagen ausſchließlich — aus
der Tier- und Pflanzen-, alſo der organiſchen Welt. Die Tierwelt iſt
freilich bei dieſer Lieferung nur ſehr ſchwach beteiligt. Wir haben nur
zwei Vertreter zu nennen, die im Altertume hochberühmte Purpurſchnecke
und die ſeit der Entdeckung Amerikas uns bekannt gewordene Cochenille-
Schildlaus mit ihrer bei uns heimiſchen Verwandten, der Kermes-
Schildlaus.


1. Die tieriſchen Farbſtoffe.

Der Purpur war die bei weitem hervorragendſte zur Färberei
gebrauchte Farbe des Altertums. Er wurde aus verſchiedenen Schnecken-
arten gewonnen, die den Gattungen Purpura, Murex und Buccinium
angehören. Dieſe Tiere ſondern in ihren Zellen ein farbloſes oder
ſchwach gelbliches Ausſcheidungsprodukt ab, welches unter der Ein-
wirkung von Licht und Luft in Fäulnis übergeht, und dabei unter
Entwickelung eines ſtarken Knoblauchgeruches nach und nach gelb, grün,
blau, violett und ſchließlich rot wird. Die wichtigſte Eigenſchaft des
ſo entſtandenen Farbſtoffes iſt, daß er ſehr echt iſt, ohne weitere Be-
feſtigungsmittel (Beizen) die Faſer färbt und durch Waſchen mit Seife
und ähnlichen alkaliſchen Reinigungsmitteln ſogar an Glanz und Schön-
heit gewinnt. Übrigens war die Farbe kein reines Rot, ſondern
ſtets mit Blau gemiſcht, und näherte ſich deshalb mehr unſerem
Violett. Der Farbenton und die ſonſtigen Eigenſchaften des Purpurs
ſchwankten je nach dem Urſprungsort, der im Orient gewonnene war
ſchöner als der in Italien hergeſtellte; unter den orientaliſchen Sorten
hatte wieder der tyriſche, aus der phönikiſchen Stadt Tyrus, den
größten Ruf. Als eine Luxusfarbe war der Purpur ſtets nur den be-
vorzugten Bevölkerungsklaſſen zugänglich und erlaubt. In erſter Linie
galt das Tragen purpurner Gewänder als Vorrecht der Könige, wie ja
noch heute der Purpur als Symbol der höchſten Gewalt angeſehen wird,
nennen wir doch den Inhaber derſelben kurzweg „Purpurträger“. Im alten
Rom war der Purpur eine Auszeichnung der Senatoren, ſpäter freilich
dehnte ſich mit dem zunehmenden Luxus auch der Gebrauch des Pur-
purs aus, ſo daß zur Kaiſerzeit das Tragen desſelben geſetzlich be-
ſchränkt und ſogar ganz verboten wurde. Jetzt iſt die Gewinnung des
Purpurs aus den Schneckenarten völlig in Vergeſſenheit geraten.


Das Cochenillerot wird aus einem Inſekte gewonnen, das zur
Klaſſe der Schildläuſe gehört und den wiſſenſchaftlichen Namen Coccus
cacti führt. Dasſelbe lebt ausſchließlich auf einer in Mexiko heimiſchen
[399]Die tieriſchen Farbſtoffe.
Kaktusart, der Opuntia, welche in ihrer Heimat den Namen Nopal
führt. Da ſich unter günſtigen Witterungsverhältniſſen innerhalb ſechs
Wochen eine neue Generation der Cochenillelaus entwickelt, die Ver-
mehrung alſo ganz außerordentlich groß iſt, ſo kann man in einem
Jahre drei- bis fünfmal ernten. Das Einſammeln der Tierchen iſt
außerordentlich einfach; man fegt die Inſekten mit einem Pinſel oder
anderen geeigneten Inſtrumenten von den Pflanzen herunter in Blech-
butten und tötet ſie durch heißes Waſſer, durch Trocknen an der Sonne
oder durch trockene Ofenhitze. Letzteres Verfahren liefert das beſte
Produkt, da dabei der ſilbergraue Hauch, der auf den Läuſen liegt und
in einer Wachsausſchwitzung beſteht, erhalten bleibt, während er bei
den anderen Tötungsmethoden verloren geht, ſo daß das Produkt dann
braunrot und unanſehnlicher wird. Die Handelsware erſcheint in
Form runzliger Körner. Man gewinnt die Farbe daraus, indem man
dieſelben pulvert, und mit Waſſer unter Zuſatz von Alkalien (Ammoniak,
Soda u. dgl.) extrahiert. Die Cochenille giebt ſchöne, lebhafte, rote
Töne und wurde vor Einführung der Azofarben (ſ. ſpäter) in großen
Mengen verbraucht. Die Hauptländer für die Cochenillegewinnung
waren Mexiko, wo die Nopalpflanze und das Inſekt heimiſch ſind —
iſt doch die Nopalſtaude ſogar im mexikaniſchen Wappen vertreten —
ferner Guatemala und Honduras. Von dort aus ſind der Nopal, und
mit ihm die Läuſe, auch nach anderen Ländern verpflanzt und ſogar
in Europa — in Südſpanien — angebaut worden. Sogar in
Deutſchland iſt es gelungen, in Treibhäuſern die Nopalſtaude mit den
Inſekten zu züchten, doch iſt dies natürlich nur ein wiſſenſchaftlich
intereſſanter Verſuch, nicht aber ein Kulturverfahren für induſtrielle
Zwecke. Die Ausfuhr allein aus Mexiko belief ſich früher auf etwa
440000 kg jährlich, was einer Zahl von etwa 62 Milliarden Schildläuſen
entſpricht. Das Färben mit Cochenille war bereits den Azteken be-
kannt; von ihnen lernten es die Spanier, welche die Farbe nach Europa
brachten, wo ſie großen Anklang fand. Jetzt hat der Verbrauch außer-
ordentlich nachgelaſſen, und nur für wenige Zwecke, insbeſondere für
Scharlachaufſchläge an Uniformen, ſowie zum Färben von Zuckerwaren
und für Schminken wird Cochenille verwendet, während ſie im übrigen
durch die billigeren Anilinfarben verdrängt iſt. Ganz ähnlich der
Cochenille war die Verwendung des Kermes, der aber weniger glänzende
Farben lieferte.


Außer dem Purpur und der Cochenille iſt nur noch eine Farbe
zu nennen, die mit dem Tierreich in Verbindung ſteht, nämlich das
Indiſchgelb (jaune indienne oder purée genannt); es wird aus den
Exkrementen von Wiederkäuern in Indien und China gewonnen. Der
färbende Beſtandteil dieſer Farbe führt den Namen Euxanthinſäure.
Die Verwendung dieſes Produktes iſt nur eine beſchränkte.


[400]Die Farben und das Färben.
2. Die pflanzlichen Farbſtoffe.

Weit ergiebiger als in der Tierwelt iſt die Farbenausbeute in der
Pflanzenwelt, aus der wir an hervorragenden Vertretern den Indigo,
den Krapp, die verſchiedenen Farbhölzer (Blau-, Rot-, Gelbholz), die
Flechtenfarbſtoffe (Orſeille) nennen wollen.


Die Nachrichten über den Indigo reichen bis ins Altertum zurück.
Er wird von Plinius und Dioskorides unter dem Namen Indicum
beſchrieben, während er bei arabiſchen Schriftſtellern den Namen „Nil“
(hindoſtaniſch = blau) führt. Man ſchätzte ihn als Farbe ſehr hoch
und ſtellte ihn gleich hinter den Purpur. Der Indigo kommt in der
Natur nicht fertig gebildet vor. Eine Anzahl von Pflanzengattungen,
obenan die Indigofera-Arten, dann aber Iſatis (Waid) und Poly-
gonum enthalten in den Blättern einen in Waſſer löslichen Körper,
der den Indigo liefert. Zu dieſem Zwecke werden die abgeſchnittenen
Pflanzen mit Waſſer übergoſſen und die Miſchung ſich ſelbſt überlaſſen,
wobei ſie in Gährung gerät. Wenn die Gährung einige Zeit gedauert
hat, läßt man die Flüſſigkeit in große offene Ciſternen ab, wo man ſie
mit Schlaghölzern gründlich durcharbeitet, um ſie möglichſt mit der
Luft in Berührung zu bringen. Dabei ſcheidet ſich allmählich der
Indigo als blauer Schaum ab, wird ſchließlich auf einem Filter ge-
ſammelt, gewaſchen und gepreßt. Die gepreßten Kuchen werden in
Stückchen geſchnitten und an der Luft getrocknet, und bilden dann
den fertigen Indigo, wie er im Handel erſcheint. Das Haupt-
produktionsland des Indigos iſt Oſtindien, das ihm ja auch den
Namen gegeben hat. Namentlich Bengalen liefert ein durch ſeine Güte
ausgezeichnetes Produkt, weshalb man die feinſten Indigoſorten als
Bengalindigo bezeichnet. Außer auf dem indiſchen Feſtland wird be-
ſonders auf Java guter Indigo gewonnen, ferner baut man ihn auch
auf den Philippinen, am Senegal, in Guatemala und Venezuela, ſo-
wie in verſchiedenen anderen Ländern. In Mexiko wurde der Indigo
ſchon vor der Entdeckung des Landes durch die Spanier von den
Azteken kultiviert und verwendet. Der in den Handel kommende In-
digo bildet dunkelblaue Stücke, welche auf den Bruchflächen, beſonders
beim Reiben, mehr oder weniger Kupferglanz zeigen. Je höheren
Glanz der Indigo entwickelt, um ſo beſſer iſt er. Er verdampft beim
Erhitzen auf 250—300°C. und ſetzt ſich an kalten Flächen in Form
kleiner blauer Kryſtällchen ab, welche aus chemiſch reinem Indigo be-
ſtehen. Die Handelsware iſt nämlich nichts weniger als ein reines
Produkt. Abgeſehen von äußerlichen Beimengungen, enthält ſie noch
verſchiedene andere Körper, die bei der Bereitung des Indigos neben
dieſem entſtehen; dazu gehört ein zweiter purpurner Farbſtoff, das
Indigorot, ferner eiweißartige (Indigleim) und humusartige (Indig-
braun) Verbindungen. Alle dieſe verkohlen beim Erhitzen, während
allein das Indigblau (Indigotin) ſich verflüchtigen läßt. Das Indig-
[401]Die pflanzlichen Farbſtoffe.
blau iſt vollſtändig unlöslich in Waſſer, Spiritus, verdünnten Säuren
und Alkalien, dagegen löslich in konzentrierter Schwefelſäure, in Anilin
und einigen anderen, dem gewöhnlichen Sterblichen nicht ohne weiteres
zugänglichen Flüſſigkeiten. Beim Auflöſen in Schwefelſäure, beſonders
wenn man ſogenannte rauchende anwendet oder bei höherer Temperatur
arbeitet, löſt ſich der Indigo nicht unverändert auf. Er verbindet ſich
vielmehr mit der Schwefelſäure zu verſchiedenen neuen Körpern, den
Indigſchwefelſäuren, welche im Gegenſatz zum Indigo ſelbſt in Waſſer
und Alkalien löslich ſind. Dieſe Indigſchwefelſäuren (Indigſulfo-
ſäuren) eignen ſich ſehr gut zum Färben von Wolle, und man benutzt
die Anziehungskraft der Wolle ſogar zur Reindarſtellung der
Farbe. Zu dieſem Zwecke löſt man unreinen, rohen Indigo in ſtarker
Schwefelſäure und gießt die Flüſſigkeit nach der Auflöſung in viel
Waſſer; alsdann hängt man Wolle in die Löſung, welche den
Farbſtoff vollkommen der Flüſſigkeit entzieht, und nachher mit Waſſer
gewaſchen werden kann, ohne die Farbe zu verlieren. Behandelt man
dagegen die gefärbte Wolle mit ganz dünner Sodalöſung, ſo wird
das Blau vollkommen „abgezogen“, indem es ſich in der Flüſſigkeit
auflöſt. Aus der letzteren („abgezogene Kompoſition“) gewinnt man
es dann durch Zuſatz von Säuren wieder, wobei ganz reine Indig-
ſchwefelſäure ausfällt, die im Handel den Namen Indigkarmin, früher
auch Sächſiſchblau genannt, führt. Man ſieht ſchon aus dieſer Dar-
ſtellungsweiſe, daß das mit Indigkarmin erzeugte „Sächſiſchblau“ trotz
ſeiner Schönheit nicht waſchecht iſt. Die Kunſt, Wolle mit in Schwefel-
ſäure gelöſtem Indigo zu färben, wurde 1740 von Barth in Großen-
hain (Sachſen) entdeckt, daher der Name „Sächſiſchblau“.


Ganz echte Färbungen liefert die zweite, ſehr viel ältere Methode
der Indigofärberei, die ſogenannten „Küpe“. Der Indigo als ſolcher
löſt ſich nicht in alkaliſchen Flüſſigkeiten auf. Reduziert man ihn aber,
ſo geht er in das Indigweiß über, welches in Alkalien löslich iſt.
Wie wir früher geſehen haben, wird auch bei der Gewinnung des
Indigos zuerſt Indigweiß erhalten, das dann an der Luft in Blau
übergeht, die Küpe iſt alſo eigentlich nichts weiter als eine Wieder-
holung dieſes erſten Prozeſſes. Weſentliche Vorbedingung zum guten
Gelingen der Küpe iſt, daß der Indigo ganz fein gemahlen ſei; dies
geſchieht in ſogenannten Naßmühlen: man giebt den Indigo in eine
durch Maſchinenkraft drehbare eiſerne Trommel nebſt etwas Waſſer
und einigen eiſernen Kugeln; beim Drehen der Trommel wird er dann
zu einem feinen Schlamm zermahlen, der ſich ſpäter in der Küpe ſehr
gut verteilt. Als Alkalien benutzt man für die Küpen entweder Kalk,
oder Soda, früher nahm man wohl auch Pottaſche. Die Reduktion des
Indigos bewirkt man entweder dadurch, daß man der Küpe gährungsfähige
Subſtunzen zuſetzt, welche in der Küpe in Gährung geraten (Krapp,
Kleie), oder durch mineraliſche Subſtanzen (Eiſenvitriol, Zinnſalz,
Operment) oder endlich mittelſt Traubenzucker (Stärkezucker). Erſtere
Das Buch der Erfindungen. 26
[402]Die Farben und das Färben.
Art von Küpen bezeichnet man als warme oder Gährungsküpen, letztere
als kalte Küpen. Die letzteren haben den großen Vorzug, daß man
mit genau bekannten Materialien arbeitet und die Küpe daher beliebig
groß wählen kann, während im erſten Falle, bei den Gährungsküpen,
Störungen mannigfacher Art eintreten können, wenn die Gährung zu
langſam oder zu ſchnell verläuft. Hängt man nun in eine ſolche Küpe,
welche alſo den Indigo in reduzierter Form, als Indigweiß, enthält,
Wolle oder Baumwolle ein, ſo übt dieſelbe auf das Indigweiß eine
Anziehung aus, und dieſes bleibt an den Faſern haften; nimmt man
die Stoffe oder Garne dann aus der Küpe und hängt ſie in der Luft
auf, ſo geht das Indigweiß wieder in Indigblau über, es wird
„oxydiert“, und die Farbe haftet nunmehr ſo feſt auf der Faſer, daß
man ſie durch Waſchen und auch durch andere Mittel nicht mehr „ab-
ziehen“ kann, ohne die Faſer oder die Farbe zu zerſtören. Auf dieſer
Unlöslichkeit des Indigos beruht die außerordentliche Echtheit der da-
mit gefärbten Stoffe, wie wir alltäglich an den Uniformen unſerer
Soldaten wahrnehmen können. Selbſt die fünfte Garnitur hält immer
noch Farbe, ſo ſchäbig ſie ſonſt auch ausſehen mag. Es hat daher
einige Berechtigung, wenn die Militärverwaltung zähe an der An-
wendung des Indigos zum Färben der Militärtuche feſthält; die vor-
geſchlagenen Erſatzmittel, die ſich bedeutend billiger ſtellen würden, er-
reichen den Indigo noch nicht ganz in allen Eigenſchaften, doch iſt
anzunehmen, daß die raſtlos fortſchreitende Farbentechnik bald in der
Lage ſein wird, Erſatzmittel zu liefern, welche dem Indigo nach jeder
Richtung gleichſtehen. Es iſt dies eine wirtſchaftlich ſehr wichtige
Frage, denn für den Indigo müſſen wir heute noch ſehr bedeutende
Summen ans Ausland zahlen, die im anderen Falle, bei Verwendung
von Teerfarbſtoffen, im Lande bleiben würden. Die Verſuche, den
Indigo ſelbſt künſtlich herzuſtellen, um uns dadurch von der Einfuhr
vom Auslande unabhängig zu machen, haben leider noch nicht zu dem
gewünſchten praktiſchen Reſultate geführt. Zwar ſind verſchiedene
Verfahren entdeckt worden, nach denen Indigo leicht genug zu ge-
winnen wäre, allein ſtets ſtellt ſich das Ausgangsmaterial zu teuer.
Die erſte künſtliche Darſtellung gelang Baeyer 1879; ſie rief großes
Aufſehen und hochgeſpannte Erwartungen hervor, die aber leider nicht
erfüllt werden konnten. Das Ausgangsmaterial für Baeyers Syntheſe
bildet das ſpäter zu erwähnende Toluol; aus dieſem ſtellt man der
Reihe nach Benzaldehyd (Bittermandelöl), Zimtſäure, Nitrozimt-
ſäure, Nitropropiolſäure dar, die letztere liefert dann mit Al-
kalien und Reduktionsmitteln behandelt, alſo in einer Art Küpe,
den Indigo. Es iſt, wie geſagt, leider nicht gelungen, die Schwierig-
keiten, die ſich der Erzeugung künſtlichen Indigos nach dieſem
Verfahren im Großen darſtellen, zu überwinden. Es ſind
daher von verſchiedenen Seiten weitere Verſuche unternommen worden,
um das verlockende Ziel zu erreichen. Man hat auch ſchon neue Wege
[403]Die pflanzlichen Farbſtoffe.
aufgefunden. doch ſind die Arbeiten noch nicht abgeſchloſſen, und bisher
ſcheint es nicht, als ob dem natürlichen Indigo ſchon jetzt eine ernſt-
liche Konkurrenz drohe, und dies um ſo weniger, als der Preis des
Indigos an ſich ſeit 10 Jahren gefallen iſt, ſo daß die an die Billig-
keit eines künſtlichen Darſtellungsprozeſſes zu ſtellenden Anforderungen
noch geſtiegen ſind.


Zu den ſeit dem Altertume bekannten und in neuerer Zeit zu
großer Bedeutung gelangten Farben gehören die Farbſtoffe des
Krapps (Färberröte). Schon Dioskorides beſchreibt die Pflanze
und ihre Anwendung zum Färben, erwähnt auch, daß ſie ſo-
wohl wild, als angebaut vorkäme. Plinius giebt ihr den latei-
niſchen Namen Rubia, der ſich als wiſſenſchaftliche Bezeichnung
(rubia tinctorum) bis heute erhalten hat. Im Mittelalter hieß der
Krapp Varantia (Garance), dann aber kam aus der Levante die Be-
nennung Lizari oder Alizari, die von den Chemikern ſpäter zur Bezeich-
nung des färbenden Prinzips des Krapps, des Alizarins verwendet
worden iſt. In Frankreich und Süddeutſchland (Elſaß) wurde der
Krappanbau erſt ſeit dem vorigen Jahrhundert betrieben. Der den Farb-
ſtoff liefernde Beſtandteil der Pflanze iſt die Wurzel, man zieht ſie
daher auch dem entſprechend ſo, daß die Blattſtiele nur ganz wenig
aus der Erde herausragen. Nach 2 bis 6 Jahren — je älter die Wurzel,
um ſo ergiebiger iſt ſie — wird geerntet, indem man mit Hacke und
Spaten die Wurzeln ausgräbt. So wenig, wie in den Blättern des
Indigo, iſt in den Wurzeln der Färberröte der Farbſtoff als ſolcher
fertig gebildet vorhanden. Die Wurzeln enthalten eine komplizierte
Verbindung, die Ruberythrinſäure, welche beim Zerfall durch Lagern
(Gährung) oder beim Erhitzen mit ſtark verdünnten Säuren ſich in Zucker
und Alizarin ſpaltet. Daneben entſteht ein zweiter Farbſtoff, das
Purpurin, das zum Alizarin in naher Beziehung ſteht und chemiſch
als Oxydationsprodukt desſelben aufzufaſſen iſt. Die eingeernteten
Wurzeln werden getrocknet, wobei ſie etwa ¾ ihres Gewichts verlieren,
und dann gemahlen und in eichene Fäſſer verpackt werden. In letzteren hält
ſich der Krapp am beſten; beim Lagern erleidet er eine Art Nachreife,
(er „wächſt“), die darin beruht, daß ſich die Ruberythrinſäure allmäh-
lich zerſetzt und dadurch das Alizarin freimacht. Die Hauptlieferanten
des Krapps waren früher Deutſchland, Frankreich, Holland, Ungarn
und die Levante (Kleinaſien). In Frankreich wurde der Krappbau von
Staatswegen ſo begünſtigt, daß man beim franzöſiſchen Militär rote
Hoſen einführte, um der Krappinduſtrie ein großes und ſicheres Abſatz-
gebiet zu verſchaffen. Seitdem freilich die künſtliche Fabrikation des
Alizarins aus dem Kohlenteer aufgekommen iſt, iſt der Krappbau mehr
und mehr zurückgegangen, und wird heute nur mehr in kleinem Maß-
ſtabe betrieben, da ſeine Kultur nicht mehr lohnt. Die Farbſtoffe des
Krapps, das Alizarin und Purpurin, ſind Beizenfarbſtoffe (ſ. Abſchnitt c).
Als Beizen kommen hauptſächlich Thonerde (das Oxyd des ſo modernen
26*
[404]Die Farben und das Färben.
Aluminiums), Eiſenoxyd und Chromoxyd in Betracht. Purpurin giebt
mit allen dreien ein mehr oder weniger braunes Purpurrot, Alizarin
dagegen giebt mit Thonerde ein leuchtendes Rot (Türkiſchrot), mit
Eiſenoxyd Violett und mit Chromoxyd ein ſchönes Rotbraun. Bevor
man die künſtliche Darſtellung der beiden Farbſtoffe kannte, war ihre
Abſonderung und Trennung aus dem Krapp mit großen Schwierigkeiten
verbunden, aber notwendig, wenn man reine Töne erzielen wollte. Jetzt
natürlich miſcht man einfach die beiden künſtlich dargeſtellten Beſtand-
teile in dem gewünſchten Mengenverhältniſſe.


Neben Indigo, Cochenille und Krapp ſpielten früher die Farb-
hölzer eine bedeutende Rolle, die ihnen größtenteils von den Teer-
farben abgenommen worden iſt. Am meiſten davon wird heute noch
das Blauholz (zum Schwarzfärben) benutzt. Das Blauholz oder
Campecheholz ſtammt von einem in Centralamerika und auf den An-
tillen heimiſchen Baume, Haematoxylon (Blutholz), ab. Das Rotholz
(Fernambuk- oder Braſilienholz) wird von Caeſalpinia-Arten, beſonders
in Braſilien gewonnen, während das Gelbholz (Cubaholz) von Morus
tinctoria
herrührt. Gleich der Indigopflanze und dem Krapp enthalten
auch dieſe Hölzer nicht den fertigen Farbſtoff, ſondern Verbindungen
desſelben mit Zucker und anderen Körpern, aus denen erſt durch den
Einfluß von Waſſer und Luft die eigentlichen Farbſtoffe frei gemacht
werden. Die Löſung des Blauholzes für ſich liefert auf dem Zeug
nur eine trübe, unbrauchbare Farbe; behandelt man aber das gefärbte
Zeug nachträglich mit Eiſen- oder Chromverbindungen, ſo erhält man
ein recht gutes und billiges Schwarz, dem nur neuerdings vom Anilin-
ſchwarz Konkurrenz gemacht wird. An dieſe Hölzer ſchließt ſich noch
das Quercitron an, die gepulverte Rinde verſchiedener nordamerikaniſcher
Eichen. Von einigem Intereſſe als früher vielfach verwandte Farbe iſt
auch noch die Orſeille (getrocknet Perſio genannt), die Seide ſchön rot
färbt. Man gewinnt ſie aus verſchiedenen Flechtenarten (Roccella,
Lecanora), die an den Küſten des mittelländiſchen Meeres und in den
Tropen geſammelt werden. Man behandelt dieſe Flechten mit alka-
liſchen Flüſſigkeiten (Ammoniak und Kalk) und unterwirft ſie einer
Gährung, bei der ſich der Farbſtoff entwickelt. Auf die gleiche Weiſe
gewinnt man den bekannten Lakmus, der durch Säuren rot, durch
Alkalien aber blau gefärbt wird.


3. Die Teerfarbſtoffe.

Die gewaltigſte Umwälzung in der Induſtrie der Farben und in
der Färberei wurde hervorgerufen durch die Entdeckung und techniſche
Verwertung der aus den Produkten des Steinkohlenteers ſich ableitenden
„organiſchen“ Farbſtoffe. Die Erſchließung dieſer ſozuſagen unerſchöpf-
lichen Quelle lehrte nicht nur ganz neue Farbentöne kennen, von einem
Glanz und einer Reinheit, wie ſie bis dahin völlig unbekannt, ja un-
[405]Die Teerfarbſtoffe.
geahnt geweſen waren, ſondern erweiterte auch den Anwendungskreis
der Farben in ganz außerordentlicher Weiſe. Nur langſam freilich
begann die Erforſchung der im ſchwarzen, ſchmutzigen Teere ſchlummern-
den Farbenpracht. Die beiden älteſten hierher gehörenden Farbſtoffe
leiten ſich vom Phenol, im Volksmunde auch Kreoſot oder Karbolſäure
genannt, ab. Der eine davon, der älteſte künſtlich hergeſtellte orga-
niſche Farbſtoff überhaupt, iſt die Pikrinſäure. Sie wurde ſchon im
vorigen Jahrhundert dargeſtellt, indem man Harze mit Salpeterſäure
behandelte. Die Pikrinſäure entſteht nämlich faſt überall, wo Salpeter-
ſäure mit organiſchen Subſtanzen in Berührung kommt. Die gelben
Flecke, welche auftreten, wenn Salpeterſäure auf die Haut, auf Wolle,
auf Seide u. dgl. gelangt, verdanken ihre Färbung der Pikrinſäure.
Dieſer Körper hat nebenbei einen äußerſt bitteren Geſchmack und iſt
wohl gelegentlich von gewiſſenloſen Brauern als Erſatz des Hopfens
gebraucht worden. Abgeſehen von ihrer Giftigkeit hat die Pikrin-
ſäure auch noch die unter Umſtänden wenig angenehme Eigenſchaft,
exploſiv zu ſein, beſonders in Form ihrer Verbindungen mit Metallen.
Andrerſeits hat aber dieſe Eigenſchaft wieder zu einer ausgedehnten
Verwendung der Säure in der Sprengſtoffinduſtrie geführt. Als Farb-
ſtoff wird ſie heutzutage kaum mehr angewandt, da ſie längſt durch
beſſere, vor allen Dingen dauerhaftere Farben erſetzt iſt, als der
Veteran unter den Teerfarbſtoffen verdient ſie aber wenigſtens, daß
man ihr eine freundliche Erinnerung bewahrt. Ihr eigentlicher Ent-
decker iſt Hausmann (1788), aber erſt 1842 wurde von Laurent ihre
Zugehörigkeit zu den Teerabkömmlingen erkannt.


Nächſt der Pikrinſäure iſt als älteſter Teerfarbſtoff die Roſolſäure
zu nennen. Schon der Name deutet darauf hin, daß wir es hier mit
einem roten Farbſtoff zu thun haben. Sie wurde im Jahre 1836 von
Runge entdeckt, hat aber niemals eine große Rolle für die Färberei
geſpielt. Wieder liegt eine längere Pauſe — 20 Jahre — zwiſchen
der Entdeckung der Roſolſäure und dem zunächſt bekannt gewordenen
Teerfarbſtoffe. Bildete bei den erſten beiden Vertretern der Gruppe
die Karbolſäure das Ausgangsmaterial, ſo kam nunmehr die Reihe an
das Anilin. Der engliſche Forſcher Perkin sen. war es, der im
Jahre 1856 bei der Einwirkung oxydierender, d. h. Sauerſtoff ab-
gebender Agentien auf das Anilin einen violetten Farbſtoff, das Mau-
veïn, entdeckte. Das Mauveïn iſt auch der erſte Teerfarbſtoff, der vom
Kohlenteer ausgehend, fabrikmäßig dargeſtellt wurde, denn die Pikrin-
ſäure erhielt man, wie ſchon erwähnt, früher aus Harzen. Freilich
war dem Mauveïn nur eine beſchränkte Verwendung beſchieden. Sein
hoher Preis — es iſt noch heute einer der teuerſten Farbſtoffe — ſtand
einer ausgedehnten Verwendung im Wege, umſomehr, als es bald ge-
lang, ſchönere und billigere Violette auf anderen Wegen zu erzeugen.
Immerhin findet das Mauveïn noch heute Anwendung zum Weißen der
Seide, deren gelblichen Naturton es vollkommen aufhebt, ſowie zum
[406]Die Farben und das Färben.
Druck von Briefmarken. So ſind z. B. die bekannten engliſchen
violetten Pennymarken mit Mauveïn gedruckt.


Zwei Jahre ſpäter wie das Mauveïn wurde von A. W. Hof-
mann ein zweiter Anilin-Farbſtoff, das Fuchſin, dargeſtellt,
bis zum heutigen Tage eine der wichtigſten Anilinfarben für die
Färberei. Es dauerte allerdings noch ein Jahr, bis es gelang, das
Fuchſin techniſch im Großen darzuſtellen. Das Fuchſin entſteht näm-
lich nicht aus dem Anilin allein, ſondern nur in Gegenwart eines dem
Anilin ſehr ähnlichen Körpers, des Toluidins. Erhitzt man ein Ge-
miſch dieſer beiden Körper z. B. mit Arſenſäure, ſo erhält man Fuchſin.
Das Fuchſin, deſſen Name ſich von der Blume Fuchſia ableitet, färbt
prachtvoll karminrot; es wird in Form von Kryſtallen gewonnen, welche
auf der Oberfläche einen intenſiv grünen Metallglanz zeigen, ſo daß
man alles andere eher dahinter vermutet, als einen roten Farbſtoff.
Die Eigentümlichkeit, in feſtem Zuſtande eine von der eigentlichen
Farbe vollkommen verſchiedene Oberflächenfarbe zu beſitzen, teilen übri-
gens ſehr viele andere Teerfarbſtoffe mit dem Fuchſin. Man glaubte
anfangs gewiſſe Beziehungen zwiſchen dem Tone des Farbſtoffs und
ſeiner Oberflächenfarbe zu finden, indem man annahm, die Ober-
flächenfarbe ſei zur Nüance des Farbſtoffs ſelbſt komplementär*); mit
den fortſchreitenden Entdeckungen neuer Farben ſtellte ſich aber dieſe
Annahme bald als irrig heraus. So hat z. B. das Malachitgrün,
ein dem Fuchſin nahe verwandter Körper, eine dieſem faſt ganz
gleiche Oberflächenfarbe, ſo daß man äußerlich beide Farbſtoffe ver-
wechſeln könnte, während der eine karminrot, der andere blaugrün färbt.
Wie erwähnt, wurde das Fuchſin urſprünglich mit Hülfe von Arſen-
ſäure dargeſtellt. Dieſe Fabrikationsmethode hatte aber den großen
Übelſtand, daß dabei aus der Arſenſäure die arſenige Säure entſtand,
welche letztere nichts anderes iſt, als weißer Arſenik, alſo eins der hef-
tigſten Gifte. Da es nicht möglich war, den Arſenik wieder vollkommen
aus der Farbe zu entfernen, da andererſeits die arſenikhaltigen Rück-
ſtände der Fabrikation große Schwierigkeiten und Beläſtigungen im
Gefolge hatten, ſo ſann man natürlich darauf, die Arſenſäure durch
ein anderes, minder gefährliches Material zu erſetzen. Dies gelang
Coupier, indem er ſtatt der Arſenſäure Nitrobenzol anwandte. Zum
beſſeren Verſtändnis dieſer chemiſchen Verbindungen, wollen wir zu-
nächſt den Urſprung derſelben betrachten. Wird der Teer, wie man
ihn bei der Leuchtgasbereitung als Nebenprodukt erhält, der Deſtilla-
tion unterworfen, ſo geht zuerſt das ſogenannte Leichtöl über. Dies
iſt eine waſſerhelle, ſtark lichtbrechende, auf Waſſer ſchwimmende und
außerordentlich leicht entzündliche Flüſſigkeit. Sie iſt aber kein einheitlicher
Körper, ſondern ein Gemiſch verſchiedener, einander ſehr ähnlicher Ver-
bindungen. Wird dieſes Gemiſch nochmals deſtilliert, unter Anwendung
[407]Die Teerfarbſtoffe.
von Apparaten, wie ſie bei der Spiritusreinigung in Gebrauch ſind
(Kolonnenapparate), ſo läßt es ſich in mehrere Beſtandteile zerlegen,
welche unter ſich hauptſächlich durch den Siedepunkt verſchieden ſind.
Der erſte Körper der Reihe, das Benzol, ſiedet ſchon bei 80°C., alſo
20° niedriger als Waſſer, der zweite, das Toluol, bei 111°, alſo
ſchon 11° höher als Waſſer, dann folgen bei 140° das Xylol, und
weiterhin noch mehrere andere ähnliche Verbindungen. Das Benzol
und das Toluol ſind es, die für die Darſtellung des Fuchſins von
Wichtigkeit ſind; die höher ſiedenden Anteile dienen teilweiſe ebenfalls
zur Gewinnung von Farbſtoffen, außerdem aber als Löſungsmittel für
Fette u. ſ. w. (Brönnerſches Fleckwaſſer). Bringt man das Benzol oder
Toluol unter geeigneten Bedingungen mit Salpeterſäure zuſammen, ſo
entſtehen zwei neue Körper von ganz verſchiedenen Eigenſchaften, das
Nitrobenzol und das Nitrotoluol. Es ſind gelbliche Öle, welche um
125° höher ſieden, als das Benzol oder Toluol, aus dem ſie erhalten
wurden; insbeſondere das Nitrobenzol hat einen ſtarken, bittermandel-
artigen Geruch, und findet deshalb unter dem Namen Mirbanöl in
der Seifenfabrikation ausgedehnte Verwendung zum Parfümieren der
gewöhnlichen Seifen. Unterwirft man die beiden Nitrokörper der Ein-
wirkung von Eiſen und Salzſäure, ſo entſtehen aus ihnen die beiden
Verbindungen, welche wir als zur Fuchſingewinnung notwendig
kennen gelernt haben, das Anilin und Toluidin. Wir ſehen alſo, wie
Nitrobenzol und Anilin mit einander in engſtem Zuſammenhange
ſtehen. Kehren wir zum Fuchſin zurück. Die Fabrikation aus Anilin
(Toluidin) und Nitrobenzol iſt heute die faſt ausſchließlich gebräuch-
liche und ſie liefert jährlich ganz bedeutende Mengen dieſes wichtigen
Farbſtoffes.


Das Fuchſin dient nicht nur als ſolches zum Färben, ſondern
es wird auch noch auf blaue Farben weiter verarbeitet. Zu dieſem
Zwecke erhitzt man es mit Anilin auf höhere Temperatur (180° C.).
Je nach der Intenſität der Einwirkung erhält man rötere oder
grünere Blaus. Die Entdecker dieſes Prozeſſes waren Girard und
de Laire 1860. Die ſo erhaltenen Farben ſind aber nicht in Waſſer,
ſondern nur in Spiritus löslich, und konnten daher nur zur Seiden-
färberei verwendet werden. 1862 entdeckte aber Nicholſon, daß ſich
das Anilinblau waſſerlöslich machen ließ, wenn man es mit ſtarker
Schwefelſäure erhitzte; erſt ſeit dieſer Zeit erhielt der ſchöne Farbſtoff
ſeine eigentliche Bedeutung, da er nunmehr in der Woll- und Baum-
wollfärberei ausgedehnte Anwendung finden konnte und auch bis heute
findet.


Im Jahre 1862 fand A. W. Hofmann, daß man vom Fuchſin aus auch
zu violetten und grünen Farbſtoffen gelangen könne. Das Hülfsmittel hier-
zu war das Jodaethyl, ein Körper, der bei der gemeinſamen Einwirkung
von Jod und Phosphor auf unſeren gewöhnlichen Spiritus erhalten wird.
Bei der Einwirkung des Jodaethyls auf Fuchſin in der Wärme ent-
[408]Die Farben und das Färben.
ſteht zuerſt ein prachtvoller violetter Farbſtoff, nach ſeinem Entdecker
Hofmanns Violett genannt. Wendet man aber einen Überſchuß von
Jodaethyl an, ſo geht das Violett in ein Grün (Jodgrün genannt)
über. Dieſes Grün hat die Eigenſchaft, ſich bei höherer Temperatur
wieder in Jodaethyl und Violett zu zerlegen, eine Eigentümlichkeit,
die es auch nach dem Färben beibehält. Taucht man daher ein mit
Jodgrün gefärbtes Gewebe in kochendes Waſſer, ſo wird es violett.
Wegen dieſer unangenehmen Eigenſchaft, blieb die Verwendung des
Jodgrüns natürlich eine beſchränkte. Schon vor Hofmann, hatte
Lauth entdeckt, daß man auch auf anderen Wege aus Anilin violette
Farben erhalten könne. Indeſſen blieb ſeine Entdeckung zunächſt ohne
Bedeutung, da es erſt ſehr viel ſpäter gelang, das Lauthſche Ver-
fahren techniſch zu verwerten. Jetzt freilich werden die Anilinvioletts
ausſchließlich nach dem Lauthſchen Prinzipe hergeſtellt, während das
Hofmannſche Verfahren längſt verlaſſen iſt.


Faſt gleichzeitig mit den Hofmannſchen Entdeckungen fand ein
Färber Cherpin einen Weg zur Darſtellung eines grünen Farbſtoffes
aus Fuchſin. Während aber Hofmann zu ſeinen Entdeckungen auf
Grund wiſſenſchaftlicher Verſuche kam, beruht Cherpins Fund auf
reinem Zufall. Cherpin hatte als Färber große Mühe, das Fuchſin
auf Baumwolle dauerhaft zu fixieren. In ſeiner Not ſprach er mit
einem Freunde, einem Photographen, über die Sache, der ihm riet,
es einmal mit „Fixierſalz“ (Antichlor, Natriumthioſulfat) zu verſuchen.
Geſagt, gethan. Cherpin nahm auch etwas Spritvorlauf dazu, der
viel Aldehyd enthält, und ſiehe da, das Fuchſin wurde „fixiert“, —
aber es war dabei grün geworden. Indeſſen hat auch dieſes Aldehyd-
grün kein langes Daſein gehabt, da es zu teuer kam. Erſt 15 Jahre
ſpäter gelang es, ſchöne dauerhafte Anilingrüne zu erzeugen.


Wie wir geſehen haben war es in den Jahren 1856—1862 be-
reits gelungen, vom Anilin ausgehend, rote, blaue, violette und grüne
Farben zu erhalten. Auch ein Gelb wurde 1859 von Grieß ent-
deckt, doch war dasſelbe nicht zum Färben zu gebrauchen. 1863 ge-
ſellte ſich zu dieſen Farben das Anilinſchwarz, welches von Lightfood
entdeckt wurde, und bald darauf ein Anilinbraun (Veſuvin, ſpäter und
noch jetzt Bismarckbraun genannt), eine Entdeckung Grieß’ und Caros.
Fügen wir noch das 1868 von Perkin sen. entdeckte, ſchön ſcharlach-
rote Safranin hinzu, ſo können wir damit die erſte Periode der Teer-
farben abſchließen. Dieſe Periode iſt die eigentliche der „Anilin“farben,
denn alle dieſe Farbſtoffe wurden aus dem Anilin durch Einwirkung
der verſchiedenſten Reagentien erhalten. Alle Entdeckungen waren
mehr oder weniger zufällige, durch Herumprobieren gemachte, alle
ſtammen aus England und Frankreich, wenn auch zum Teil von
deutſchen Chemikern.


Mit der Periode von 1869 ab trat aber ein völliger Umſchwung
der Dinge ein. Das klaſſiſche Land der Teerfarben wurde jetzt Deutſch-
[409]Die Teerfarbſtoffe.
land: deutſcher Fleiß und deutſche Gründlichkeit bauten das Gebäude
auf, welches ſowohl in wiſſenſchaftlicher, als in techniſcher Hinſicht ein
Muſterbau genannt werden kann. Zum Unterſchied gegen die mehr
oder weniger planloſen Verſuche der erſten Periode beginnt in der
zweiten die planmäßige Forſchung, welche von bekannten Grundlagen
ausgehend, allmählich auf neuen, aber ſorgfältig erkundeten Wegen
dem geſteckten Ziele zuſtrebt, und ſo eine ſichere Grundlage ſchaffte,
welche bei weiteren Arbeiten ſtets willkommene Stützpunkte bot. In
dieſe Periode fallen auch die erſten künſtlichen Darſtellungen von in
der Natur fertig vorkommenden, wichtigen Farben. Gleich die erſte
Entdeckung der zweiten Periode gehört hierzu. Nach vielen Mühen
gelang es 1869 Graebe und Liebermann, den wichtigen Farbſtoff der
Krappwurzel, das Alizarin, künſtlich aus einem Produkte des Stein-
kohlenteers, dem Anthracen, darzuſtellen. Von welch enormer Be-
deutung dieſe Entdeckung geworden iſt, geht am beſten daraus hervor,
daß der Krappbau, der früher beſonders in Frankreich große Länder-
ſtrecken in Anſpruch nahm und eine bedeutende Einnahmequelle dar-
ſtellte, jetzt zurückgegangen iſt und überhaupt kaum noch lohnt. Man
bemüht ſich zwar in Frankreich, ihn aufrecht zu erhalten, um nicht
das deutſche Alizarin kaufen zu müſſen, allein was früher ein Quelle
des Wohlſtandes war, iſt jetzt nur noch ein mit Mühe gefriſteter Er-
werbszweig. Dieſer Fall iſt zugleich das glänzendſte Beiſpiel der
Verdrängung eines Naturprodukts durch ein damit identiſches Kunſt-
produkt.


Nächſt dem Krapp hatte man beſonders die künſtliche Darſtellung
des Indigos ins Auge gefaßt. Aber obwohl es 1879 Baeyer nach
jahrelangen Verſuchen gelang, den Indigofarbſtoff künſtlich aufzubauen,
und obwohl ſeitdem noch mehrere Verfahren zur Darſtellung des
Indigos entdeckt worden ſind, ſo ſind doch alle dieſe Wege noch
zu teuer, um einen konkurrenzfähigen künſtlichen Indigo zu beſchaffen.
Wie die Verhältniſſe liegen, dürfte auch noch geraume Zeit vergehen,
bis dem natürlichen Indigo das Schickſal des Krapps zu teil wird.
Dagegen iſt ein anderer, früher ſehr geſchätzter Farbſtoff ebenfalls
völlig verdrängt worden, nämlich die Cochenille. Zwar hat man
nicht den Farbſtoff der Cochenille ſelbſt künſtlich dargeſtellt, wohl aber
andere Farben, welche an Schönheit und Echtheit dem Cochenillerot
gleichkommen oder es übertreffen, dabei aber erheblich billiger ſind.


Während ſo einerſeits der Erfindungsgeiſt und die Induſtrie
darauf ausgingen, einen künſtlichen Erſatz für Naturprodukte zu finden,
waren beide auch in der Richtung der früheren Periode thätig,
indem ſie immer neue Ausgangsmaterialien in die Bearbeitung
zogen und den Kreis der Teerfarbſtoffe nach allen Richtungen hin er-
weiterten. Man beſchränkte ſich nicht mehr auf das Anilin, man kann
vielmehr ſagen, daß jeder neue Körper, den man den Deſtillations-
produkten des Teers abgewann, auf ſeine Fähigkeit, Farbſtoffe zu
[410]Die Farben und das Färben.
liefern, unterſucht wurde. Wiſſenſchaft und Technik arbeiteten ſich in
einer Weiſe in die Hände, wie es außer bei der Teerfarbeninduſtrie
höchſtens noch in der Induſtrie der optiſchen Gläſer vorgekommen iſt.
Die erſte glänzende Entdeckung bildeten die Eoſinfarbſtoffe, deren Aus-
gangsprodukt, das Fluoresceïn 1871 von Baeyer, deren erſter Re-
präſentant, das Eoſin ſelbſt, 1874 von E. Fiſcher entdeckt wurde.
Dieſe Farbſtoffe zeichnen ſich durch eine Eigentümlichkeit aus, die in
gleich hohem Maße keine andere Farbengruppe beſitzt, nämlich durch
die Fluorescenz. Dieſe beſteht darin, daß die Löſung des Farbſtoffs
im auffallenden Lichte eine andere Farbe zeigt, als im durchſcheinenden.
Eine Löſung von Eoſin z. B. iſt beim Hindurchſehen roſa bis rot;
von außen betrachtet, alſo im auffallenden Lichte, erſcheint ſie grün.
Ein ſehr hübſcher Effekt entſteht, wenn man etwas Eoſin (oder
Fluoresceïn) auf die Oberfläche eines mit Waſſer gefüllten Glaſes
ſtreut; von jedem Körnchen rinnt eine grüne Schlange zu Boden, welche
beſonders im Sonnenſcheine metalliſch funkelt. Allmählich ſieht das
Waſſer wolkig getrübt aus, beim Hindurchſehen erkennt man aber,
daß es trotzdem vollkommen klar iſt. Die Fähigkeit des Eoſins, und
noch mehr des Fluoresceïns, dem Waſſer die grüne Fluorescenz
zu erteilen, iſt ſo groß, daß man den grünen Schimmer noch
bei faſt millionenfacher Verdünnung wahrnimmt. Man hat
daher davon Gebrauch gemacht, um den Lauf unterirdiſch ver-
ſchwindender Flüſſe zu verfolgen, indem man oberhalb der zu
unterſuchenden Stelle eine größere Menge Fluoresceïn im
Waſſer verſenkte, um dann zu beobachten, wo das fluorescierend ge-
machte Waſſer wieder zu Tage trat. Am bekannteſten iſt der erſte
Verſuch dieſer Art 1877, bei welchem es ſich um die Feſtſtellung des
Zuſammenhangs zwiſchen dem Bodenſee und der Donau handelte.
Man verſenkte zwiſchen Möhringen und Immendingen 10 kg Fluores-
ceïn in die Donau. Nach Verlauf von 60 Stunden zeigte das Waſſer
der Ach, eines Zufluſſes des Bodenſees, deutlich die grüne Fluorescenz.


Die Fluorescenz der Löſungen bewahren die Eoſinfarbſtoffe auch
beim Färben auf der Faſer, beſonders auf Seide. Man kann auf
dieſe Weiſe ganz wunderbare Effekte erzielen, da die Seide je nach
der Beleuchtung roſa, grün und goldig ſchimmert. In Verbindung
mit Metallen, namentlich Blei und Zinn, liefern die Eoſine prachtvolle
roſa Lacke, die für den Druck, für Tapeten u. dgl. ausgedehnte An-
wendung finden. Auch in der Papierfärberei ſpielen die Eoſine eine
große Rolle. Die dünnen roſa Bindfaden, welche zu eleganten Ver-
packungen ſo gern verwendet werden, ſind ebenfalls mit Eoſin gefärbt.


Der Entdeckung der Eoſingruppe folgte die einer Farbſtoffklaſſe,
welche infolge ihrer Vielſeitigkeit jetzt den Hauptplatz in der Induſtrie
der Teerfarben einnimmt, der Azofarbſtoffe. Obwohl ſich bei den
Reaktionen, nach welchen man dieſelben erhält, Verbindungen ver-
ſchiedenſter Abſtammung einführen laſſen, ſo ſind es doch vorwiegend
[411]Die Teerfarbſtoffe.
Abkömmlinge eines bis dahin faſt garnicht verwendeten Anteils der Teer-
deſtillation, welche den Hauptſtamm der wertvollen Azofarbſtoffe liefern.
Das Naphthalin war bis zur Entdeckung der Azofarbſtoffe der läſtigſte
Beſtandteil des Teerdeſtillats, um ſo mehr, als es der Menge nach
darin am ſtärkſten vertreten iſt. Selbſt als Mottenſchutzmittel war es
damals noch nicht gebräuchlich. Sobald aber das Naphthalin einmal in
die Farbſtoffinduſtrie eingeführt war, wuchs ſein Verbrauch von Tag
zu Tag. Verſchwände es heute plötzlich von der Bildfläche, ſo könnten
dreiviertel aller Teerfarbenfabriken geſchloſſen werden. Die erſten Azo-
farbſtoffe waren zwar ſchon lange vor 1875 entdeckt worden, es waren
das früher erwähnte Anilingelb und das Bismarckbraun. Aber einer-
ſeits wußte man nicht, daß es Azofarbſtoffe waren, dann aber waren
ſie auch auf ganz anderen Wegen erhalten worden, als auf dem für
die eigentlichen Azofarbſtoffe typiſchen. Der erſte als ſolcher darge-
ſtellte Azofarbſtoff war das Chryſoïdin, welches 1875 gleichzeitig von
Witt und von Caro entdeckt wurde; es färbt ebenſo, wie die zunächſt
nach ihm dargeſtellten Glieder der Gruppe, orange. Der nächſte Schritt
vorwärts wurde von Caro und Baum gethan, welche die erſten roten
Azofarben (Echtrot, Ponceau und Bordeaux) entdeckten und in die
Technik einführten.


Eine ganz neue Bedeutung erhielten die Azofarben ſeit der von
Boettiger 1883 gemachten Erfindung des Kongorots. Dieſes bildet
den erſten Körper einer beſonderen Gruppe unter den Azofarbſtoffen,
welcher die Eigentümlichkeit zukommt, Baumwolle direkt ohne jeden
Zuſatz, im Seifenbade zu färben. Alle billigen roten Baumwollſtoffe
ſind heutzutage mit den Kongofarbſtoffen, wie man ſie wohl genannt
hat, gefärbt. In neuerer Zeit iſt es auch gelungen, blaue, violette,
ſchwarze, ja ſelbſt grüne Azofarbſtoffe darzuſtellen, ſo daß man die
ganze Stufenfolge des Regenbogens mit ihnen färben kann, und noch
immer iſt kein Ende in den Entdeckungen neuer Azofarben abzuſehen,
wenn auch wirklich epochemachende Neuerungen kaum noch zu erwarten
ſind. Gegenüber der Ausdehnung, welche die Fabrikation der Azofarb-
ſtoffe angenommen hat, treten alle ſpäter entdeckten Farbſtoffklaſſen
zurück. Indeſſen befinden ſich darunter immerhin einige, welche große
techniſche Bedeutung beſitzen. In erſter Linie gehört dazu eine Gruppe
von ſchwefelhaltigen Farbſtoffen, deren wichtigſter Repräſentant das
Methylenblau iſt. Der erſte Körper aus der Reihe der Thionine, wie
man die Gruppe genannt hat (vom griechiſchen ϑειον — thion = Schwefel),
wurde von Ch. Lauth dargeſtellt und führt nach ſeinem Entdecker den
Namen Lauthſches Violett. Wegen ſeines hohen Preiſes hat es keine
techniſche Anwendung gefunden. Dagegen gelang es Caro 1878 durch
Übertragung der Lauthſchen Reaktion auf einen durch ihn, Caro,
zugänglich gemachten Körper, das Amidodimethylanilin, einen pracht-
vollen grünblauen Farbſtoff, das Methylenblau, zu gewinnen. Zwar
verurſachte deſſen Herſtellung im Großen bedeutende Schwierigkeiten,
[412]Die Farben und das Färben.
beſonders wegen der notwendigen Anwendung des Schwefelwaſſerſtoff-
gaſes, eines ſehr heftigen Giftes, dem verſchiedene Menſchenleben zum
Opfer fielen; nach Überwindung der Hinderniſſe aber nahm die Fabrikation
einen großen Aufſchwung, der ſich noch ſteigerte, als ſieben Jahre ſpäter
ein neues Fabrikationsverfahren erfunden wurde, welches nicht nur die
Verwendung des Schwefelwaſſerſtoffs umging, ſondern ſich auch be-
deutend billiger ſtellte. Bis heute, alſo ſeit faſt 15 Jahren, hat, ein
ſeltener Fall in der Teerfarbeninduſtrie, das Methylenblau ſeine Stellung
in der Färberei und Zeugdruckerei behauptet, ohne durch einen neuen
Farbſtoff verdrängt zu werden.


Ein Jahr früher als das Methylenblau wurden die grünen
Anilinfarben entdeckt, und zwar gleichzeitig auf etwas verſchiedenen
Wegen von O. Fiſcher und von Döbner. Bis zur Entdeckung des
Malachitgrüns, wie der erſte Repräſentant der Gruppe genannt wurde,
fehlte es in der Färberei vollſtändig an einheitlichen grünen Farben,
denn das früher erwähnte Aldehydgrün kam nicht in Betracht, und die
wohl auch zur Herſtellung grüner Zeuge verwendeten Mineralfarben
färbten nicht die Stoffe, ſondern klebten nur darauf. Man war alſo
genötigt, grüne Töne durch Miſchungen von Blau und Gelb zu erzeugen.
Die neuen Anilingrüne lieferten zuerſt reine grüne Farben in den ver-
ſchiedenen Schattierungen nach blau, wie nach gelb hin, und erleichterten
dadurch die Grünfärberei bedeutend. Leider haben dieſe Farben neben
ihrem Glanze den Fehler, ſchnell zu verbleichen. Sie kommen in dieſer
Hinſicht gleich nach den Eoſinfarbſtoffen, welche die glänzendſten, aber
auch die vergänglichſten Vertreter der Teerfarbſtoffe ſind.


Von den ſpäter entdeckten Teerfarbſtoffen mögen ihrer großen
Wichtigkeit wegen nur noch die Alizarinfarbſtoffe erwähnt werden, die
ſich an das ſchon beſprochene Alizarin und Purpurin in ihren chemiſchen
und färberiſchen Eigenſchaften anſchließen. Die Reihe derſelben umfaßt
gegenwärtig ſo ziemlich alle Farbentöne: Blau, Grün, Gelb, Orange,
Braun, Schwarz. Ihrer Echtheit wegen gewinnen ſie eine täglich
wachſende Bedeutung; ſie ſind zugleich die Hauptvertreter der Beizen-
farbſtoffe, über die im nächſten Abſchnitt geſprochen werden wird.


c) Färben und Drucken.


Die Farben, wie wir ſie in den vorhergehenden Abſchnitten kennen
gelernt haben, ſind in der Regel nicht ohne weiteres anwendbar, um
Faſerſtoffe (Garne oder Gewebe) zu färben. Es bedarf dazu einer Vor-
bereitung der Faſer, durch welche dieſelbe einerſeits von ſtörenden Ver-
unreinigungen befreit, andererſeits mit Stoffen getränkt wird, welche
die Vereinigung von Faſer und Farbe ermöglichen.


Ganz allgemein müſſen alle Faſern vor ihrer Verwendung ge-
waſchen werden. An das Waſchen ſchließt ſich in den meiſten Fällen
[413]Färben und Drucken.
das Bleichen, erſt dann kommt das Färben oder Bedrucken, ſowie andere
Verſchönerungsmittel (Appretieren). Das Verfahren, welches einzu-
ſchlagen iſt, richtet ſich in jedem Falle nach der ſpäteren Verwendung
der zu bearbeitenden Faſer, vor allem aber nach der Art der Faſer
ſelbſt. Darnach müſſen wir zwei große Gruppen unterſcheiden: pflanzliche
und tieriſche Faſer; bei letzteren ſind dann noch zwei Hauptgruppen
auseinanderzuhalten, Wolle und Seide.


Unter den Pflanzenfaſern, die zum menſchlichen Gebrauche dienen,
ſteht obenan die Baumwolle. Der rohen Baumwolle, auch der ver-
ſponnenen und gewebten, haften außer dem von der Arbeit herrührenden
Schmutz und Schweiß noch natürlicher (brauner) Farbſtoff, harzartige
Körper und die Schlichte an, mit der die Baumwolle beim Spinnen
und Weben getränkt wurde. Zur Entfernung dieſer Stoffe, welche ein
gleichmäßiges Färben unmöglich machen, wird die Baumwolle zuerſt
in Waſſer eingeweicht. Dabei löſt ſich beſonders die anhaftende Schlichte
auf, außerdem aber wird die Baumwolle leichter durchdringbar für die
folgenden Reinigungsmittel. Die Baumwolle wird gewöhnlich im fertig
gewebten Stück gefärbt und bedruckt und kommt daher auch als Stück
zur Reinigung. Man näht, da die Reinigung mittelſt Maſchinen vor
ſich geht, welche den Stoff über Walzen führen, die einzelnen Stücke
an einander und bildet ſo ein Band von beträchtlicher Länge (bis zu
30 km). Vor dem Waſchen wird das Gewebe häufig noch geſengt.
Man läßt die Stücke ſchnell über rotglühende Platten laufen oder führt
ſie an Gasflammen vorbei (letzteres beſonders bei feinen Geweben);
dabei werden alle vorſtehenden Fäſerchen fortgeſengt und eine ganz
glatte Fläche erhalten, was beſonders für den Druck von Wichtigkeit
iſt. Nach dem Sengen kommt die ſchon erwähnte Behandlung mit
Waſſer. An dieſe ſchließt ſich das „Kalken“ an, indem die Stücke
in großen Keſſeln mit Kalkwaſſer gekocht werden. Der Zweck des Kalkens
iſt die Aufſchließung der im Gewebe enthaltenen Fett- und Harzſubſtanzen;
dieſelben verbinden ſich nämlich mit dem Kalk zu Seifen, die ſich bei
der weiteren Behandlung auflöſen und ſo entfernt werden. Nach dem
Kalken werden die Stücke wiederum mit Waſſer gewaſchen und dann
geſäuert. Die Säure (gewöhnlich Salzſäure), die natürlich ſehr
ſtark verdünnt iſt, zerſetzt die durch den Kalk gebildeten Seifen,
indem ſie daraus die Fettſäuren abſcheidet, die ſich zwar nicht in
Waſſer löſen, aber nunmehr ſo fein zerteilt ſind, daß ſie ſich bei der
folgenden Operation des „Bäuchens“ leicht löſen. Unter „Bäuchen“
verſteht man das Kochen der Stücke mit Laugen und Seifen.
Als Lauge dient Natronlauge oder Soda. Gewöhnlich wird die
Lauge dreimal erneuert, indem man zuerſt und zuletzt reine Lauge,
dazwiſchen aber ein Gemiſch von Lauge und Seife anwendet.
Durch das Bäuchen werden alle noch in der Baumwolle vor-
handenen Fettſtoffe, ſowie der noch anhaftende natürliche Farbſtoff
gelöſt und entfernt. Die Baumwolle iſt nunmehr rein, jedoch haftet
[414]Die Farben und das Färben.
ihr noch ein gelblicher Schein an, der durch die Bleiche beſeitigt werden
muß. Natürlich iſt es nicht möglich, die gewaltigen Maſſen von Stoff,
die heutzutage verarbeitet werden, nach altväteriſcher Sitte auf dem
Raſen an der Sonne zu bleichen, man muß alſo zu ſchneller wirkenden
und bequemeren Mitteln greifen. Ein ſolches beſitzen wir ſeit faſt
hundert Jahren in dem Chlorkalk. Für die Zwecke der Bleiche ſtellt
man eine ſehr dünne, klare Löſung deſſelben her, durch welche die
Baumwollſtücke hindurchgezogen werden. Man läßt ſie dann einige
Zeit an der Luft liegen, wodurch die in den Faſern aufgeſaugte Chlor-
kalklöſung zur Entfaltung ihrer Wirkſamkeit gelangt. Um die bleichende
Wirkung zu vervollſtändigen und um zugleich den etwa überſchüſſigen
Chlorkalk zu zerſtören, läßt man auf das „Chloren“ wieder eine Säuerung
folgen und wäſcht dann die nun ſchön weißen Stücke gründlich mit
Waſſer, um jede Spur noch vorhandener Säuren und ſonſtiger Ver-
unreinigungen zu entfernen. Soll das Zeug ſpäter weiß (ungefärbt)
bleiben, ſo ſetzt man dem letzten Waſchwaſſer etwas Blau, ſowie die
zur Appretur nötige Stärke u. dgl. zu, — bei Stücken, die gefärbt oder
bedruckt werden ſollen, iſt ein ſolcher Zuſatz natürlich überflüſſig, —
worauf das Zeug getrocknet wird und nunmehr zur weiteren Verwendung
fertig iſt.


Ähnlich wie Baumwolle werden auch die anderen Pflanzenfaſern
behandelt, unter denen als wichtigſte noch das Leinen erwähnt ſei.
Die Leinenbleiche iſt ungleich ſchwieriger als die Baumwollenbleiche, da
die rohe Leinenfaſer ſehr feſt von einem braunen harzartigen Körper,
der Pektinſäure, umhüllt wird, die nur durch ſehr langes und wieder-
holtes Waſchen mit Kalk und Laugen löslich zu machen iſt. Beim
Leinen muß man auch heute noch die Raſenbleiche anwenden, um ein
gutes Zeug zu erhalten; wollte man allein mit Chlorkalk die Weiße
erzielen, ſo müßte man ſoviel von demſelben nehmen, daß dabei die
Leinenfaſer ſelbſt geſchädigt würde. Dem entſprechend dauert auch die
Leinenbleiche 5 bis 10 mal ſo lange als die Baumwollbleiche.


Weſentlich verſchieden verläuft die Wäſche und Bleiche der tieriſchen
Faſern. Der Unterſchied wird hauptſächlich dadurch bedingt, daß die
tieriſche Faſer: Wolle, Seide, Haare, Federn, von Laugen angegriffen und
von ſtarken Laugen ſogar aufgelöſt, außerdem aber durch Chloren zerſtört
werden. (Vergl. S. 344.) Aus den Waſchflüſſigkeiten der Wolle,
beſonders aus dem erſten Waſſer, das den Schweiß aufgenommen hat,
ſtellt man ſeit 1886 das für Wunden aller Art und als allgemeines Haut-
verſchönerungsmittel ſo vorzügliche Wollfett (Lanolin) dar. Neuerdings
hat man andere Methoden zum Entfetten der Wolle verſucht, indem man
die Wolle mit fettlöſenden Flüſſigkeiten [Schwefelkohlenſtoff*), Benzin,
[415]Färben und Drucken.
Fuſelöl] in geſchloſſenen Apparaten behandelte. Beſonders T. J. Mullings
hat ein ſolches Verfahren ausgearbeitet, indem er die Wolle erſt
mit Schwefelkohlenſtoff behandelt und dann den letzteren durch Waſſer
verdrängt. Die Schwierigkeit dieſes Verfahrens liegt darin, daß man
es mit leicht entzündlichen, flüchtigen Flüſſigkeiten zu thun hat,
indeſſen dürften die Hinderniſſe wohl überwunden werden. Soll die
Wolle noch gebleicht werden, ſo wird ſie in Kammern den Dämpfen
brennenden Schwefels ausgeſetzt, oder mit einer Auflöſung ſolcher
Dämpfe in Waſſer (ſchwefliger Säure) behandelt. In letzter Zeit hat
man auch mit gutem Erfolge Waſſerſtoffſuperoxyd — das bekannte
Mittel zum Blondfärben der Haare — als Bleichmittel benutzt.


Ähnlich wie Wolle, wird die Seide behandelt. Da dieſelbe aber gegen
alkaliſche Flüſſigkeiten (Laugen) noch viel empfindlicher iſt als Wolle, ſo
darf das Reinigen nur mit beſter Olivenſeife (Marſeiller Seife) ge-
ſchehen. Die rohe Seidenfaſer iſt von dem ſogenannten Seidenleim
umhüllt, der vollkommen entfernt werden muß, damit die Seide Glanz
und Griff erhält. Dieſe Operation nennt man das „Entſchälen“ oder
„Degummieren“ der Seide. Die mit Seidenleim geſättigten Seifen-
wäſſer (die Baſtſeife) werden vielfach beim ſpäteren Färben der Seide
als Zuſatz benutzt. Dem Degummieren folgt eine zweite Wäſche mit
Seife, das „Weißkochen“, wobei die letzten Reſte von Leim und natür-
lichem Farbſtoff entfernt werden. Durch das Entleimen verliert die
rohe Seide bis zu ⅓ ihres urſprünglichen Gewichts, erhält aber
dabei den Glanz und die Geſchmeidigkeit, die wir an der Seide ſo
hoch ſchätzen. Da der große Gewichtsverluſt den Preis der Seide
bedeutend verteuert, ſo hat man verſucht, der Seide die Eigenſchaft
entleimter Seide zu geben, ohne ihr Gewicht ſo ſtark herabzumindern.
Zu dieſem Zwecke wird die Seide erſt mit einem Gemiſch von Salz-
ſäure und Salpeterſäure behandelt, dann geſchwefelt, und ſchließlich
in einer ganz verdünnten Weinſteinlöſung gekocht. Derartige Seide
bezeichnet man als Souple-Seide.


Durch die vorſtehend beſchriebenen Reinigungsverfahren ſind nun
die verſchiedenen Faſern zum Färben vorbereitet. Das Färben ſelbſt
war früher eine große Kunſt, da man zum Färben nicht fertige Farb-
ſtoffe zur Verfügung hatte, ſondern mit Rohmaterialien arbeitete, die
in ihren Eigenſchaften nicht immer gleichmäßig waren. Vor allem
kannte man außer dem Purpur des Altertums keine Farbe, die ſich
ohne weiteres von ſelbſt auf der Faſer dauerhaft niederſchlug. Das
Färben der Faſern beſteht entweder in einer Verbindung der Faſern
mit dem Farbſtoffe ſelbſt (direkte Farbſtoffe), oder es beruht darauf,
daß auf der Faſer farbige Verbindungen (Lacke) niedergeſchlagen werden
(Beizenfarbſtoffe).


Hat man es mit direkten Farbſtoffen zu thun, ſo iſt das Färben
eine einfache Sache. Die Farbſtoffe werden in Waſſer (in ſeltenen
Fällen bei der Seidenfärberei auch in Spiritus) gelöſt, und der Strang
[416]Die Farben und das Färben.
oder das Gewebe in die Löſung hineingebracht, und darin bewegt (um-
gezogen). Meiſtens ſetzt man, um ein gleichmäßiges „Aufgehen“ der
Farbe zu erzielen, dem Färbebade Säuren (Schwefelſäure, Eſſigſäure)
oder Salze (Kochſalz, Glauberſalz) hinzu. Es giebt nämlich Farbſtoffe,
die von der Wolle oder Seide ſo begierig aufgenommen werden, daß
ſie ſich ſofort an den Teilen niederſchlagen, die der Flüſſigkeit zunächſt
ſind, während die im Innern des Garnes oder Gewebes liegenden
Faſern nur wenig Farbſtoff abbekommen. Derartige Färbungen ſind
natürlich unbrauchbar. Man mildert die Wirkung eben durch Zuſätze,
welche die Anziehungskraft der Faſer vermindern, ſo daß der Farbſtoff
nur langſam aufgenommen wird. Dieſes direkte Färben iſt faſt aus-
ſchließlich durch die Teerfarbſtoffe möglich geworden, vor der Ein-
führung derſelben war der Färber nur in wenigen Ausnahmefällen ſo
glücklich, auf dieſem einfachſten Wege ſein Ziel zu erreichen. Die meiſten
Farbſtoffe bedürfen zu ihrer Befeſtigung der Beizen. Wie ſchon er-
wähnt, beruht die Wirkung der Beize darauf, daß ſie mit dem Farb-
ſtoff eine unlösliche Verbindung bildet, und da die chemiſche Natur
der Farbſtoffe ſehr verſchieden iſt, ſo weichen auch die Beizen in ihrem
chemiſchen Charakter ſtark von einander ab. Für Wolle und Seide
verwendet man hauptſächlich Farbſtoffe von ſaurem Charakter. Dieſes
„ſauer“ iſt natürlich nicht ſo zu verſtehen, als ob der Farbſtoff ſauer
ſchmeckte, ſondern man verſteht darunter die Eigenſchaft, ſich mit „Baſen“
zu verbinden. Als Baſen gelten vor allem die Metalloxyde, man
kann daher ſagen, ein ſaurer Farbſtoff iſt ein ſolcher, der ſich mit
Metalloxyden zu meiſt unlöslichen Verbindungen vereinigt. Die Beizen
für ſaure Farbſtoffe beſtehen daher auch aus löslichen Verbindungen
(Salzen) der verſchiedenen Metalle (Eiſen, Aluminium, Blei, Kupfer,
Nickel, Zink u. ſ. w.) Beſonders die Wollfaſſer hat nun die Eigentüm-
lichkeit, ſolche löslichen Metallſalze zu zerlegen, indem ſich das Metall-
oxyd, die Baſe, auf der Faſer niederſchlägt, während die Säure im
Waſſer gelöſt bleibt. Bringt man die mit der Baſe beladene Wolle
in die Löſung eines ſauren Farbſtoffs, ſo tritt zwiſchen dem Farbſtoff
und der Baſe eine Verbindung ein, und da dieſelbe in der Faſer in
feinſter Verteilung vor ſich geht, ſo erſcheint nachher die Faſer gefärbt.
Als Gegenſatz zu den ſauren Farbſtoffen giebt es nun aber auch baſiſche
Farbſtoffe. Um dieſe auf die Faſer niederzuſchlagen (zu „fixieren“), be-
darf man natürlich einer ſauren Beize, und als ſolche dient allgemein
die Gerbſäure. Letzteres Verfahren wird ausſchließlich für die Baum-
wollfärberei verwendet, während das oben geſchilderte für tieriſche und
pflanzliche Faſerſtoffe in Gebrauch iſt. Mit dem Färben unter Zu-
hülfenahme einer Beize läßt ſich das öfters angewandte Erzeugen von
Mineralfarben auf dem Zeuge ſelbſt vergleichen. Man beizt z. B.
Baumwolle mit einem Eiſenſalze, und färbt ſie dann gewiſſermaßen in
Blutlaugenſalz aus; dabei bildet ſich das an ſich unlösliche Berliner
Blau auf der Faſer und haftet infolge deſſen ſo feſt wie ein Farbſtoff.
[417]Färben und Drucken.
Ahnlich kann man Chromgelb und andere Farben auf dem Stoffe be-
feſtigen, indem man ſie innerhalb des Gewebes entſtehen läßt.


Außer durch Färben ſtellt man farbige Gewebe nun auch auf
einem andern Wege, der ſich mehr dem Bemalen an die Seite ſtellt,
nämlich durch Bedrucken mit Farben, her. Das Bedrucken von Geweben
findet mittels Platten oder Walzen in derſelben Weiſe ſtatt, wie der
Buchdruck, nur wendet man natürlich andere Farbenmiſchungen an.
Während für den Papierdruck Firnisfarben dienen, wird für den Zeug-
druck die Farbmaſſe mit Eiweiß, Mehl, Stärke, Gummi und ähnlichen
Klebemitteln angerieben. Bei der einfachſten Art des Zeugdrucks be-
gnügt man ſich damit, die aufgedruckte Farbe einfach trocknen zu laſſen.
In der Regel werden die bedruckten Gewebe dem „Dämpfen“ unter-
worfen, deſſen Hauptzweck es iſt, die aufgedruckte Farbmaſſe unlöslich
und ſomit dauerhaft zu machen. Das Dämpfen beſteht darin, daß
man das Zeug in geſchloſſenen Keſſeln aufhängt, durch die man dann
geſpannten Dampf ſtreichen läßt. Man muß vor allen Dingen darauf
achten, daß ſich auf dem bedruckten Stoffe kein Waſſer verdichtet,
da ſonſt die Farbe auslaufen und ſchmieren würde, eben deshalb wendet
man Dampf von höherer Temperatur als 100°C. an.


Das Buch der Erfindungen 27
[[418]]

V. Ernährung.


1. Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des
Bodens in Bezug auf die Pflanzenernährung.


Wenn als unbeſtritten angenommen werden darf, daß es eine der
vornehmſten Aufgaben eines jeden Landes iſt, ſeine Einwohner zu er-
nähren, ſo iſt damit gleichzeitig die hohe Bedeutung der Landwirtſchaft
gekennzeichnet. Früher, als der wenig ausgenützte Boden noch eine
große Anſammlung der ſog. „alten Kraft“ beſaß, war die Löſung
dieſer Aufgabe einfacher, heute iſt ſie durch Jahrhunderte lang fort-
geſetzte Entziehung einzelner Bodenbeſtandteile — ohne, daß man
gleichzeitig für genügenden Erſatz derſelben ſorgte — ſo ſchwierig ge-
worden, daß ſie nur durch eine ganz intenſive Kultur gelöſt werden
kann. Dieſe ſetzt wiederum einen ſehr intelligenten Landwirt voraus,
der ſowohl verſteht den neueſten Forſchungen der Wiſſenſchaft zu folgen,
als auch dieſelben in der Praxis zu verwerten, bez. dieſe wiſſenſchaft-
lichen Forſchungen durch praktiſche Feld- und Vegetationsverſuche zu
unterſtützen.


In den erſten Jahrzehnten dieſes Jahrhunderts war es, wo die
ſtetig abnehmenden Erträge des Bodens ſich endlich in ſo einſchneidender
Weiſe bemerkbar machten, daß die Aufmerkſamkeit der Wiſſenſchaft
darauf hingelenkt wurde, und kein geringerer, als der berühmte Chemiker
Juſtus v. Liebig bahnbrechend vorging, um Abhilfe zu ſchaffen; heute
ſehen wir ein gewaltiges Heer von bedeutenden Forſchern und in-
telligenten Landwirten die damals betretene Bahn weiter verfolgen.
Faſt ſo alt die Landwirtſchaft iſt, ſo lange wußte man, daß der Boden
mehr Nährſtoffe für die Pflanze bedarf, als er an und für ſich hat,
um bei dem kontinuierlichen Aufbrauch durch die Ernten gleichmäßig
hohe Ernteerträge zu liefern; man begnügte ſich aber damit, dem Acker
den produzierten Dung wiederzugeben, und glaubte nun neben mehr
oder weniger genügender mechaniſcher Bearbeitung des Bodens ſeine
Pflicht gethan zu haben. Das war ein folgenſchwerer Irrtum, der,
[419]Entſtehung des Bodens.
durch Jahrhunderte fortgeſetzt, ſich ſchließlich bitter rächte! Der Enkel
glaubte vor einem unerklärlichen Wunder zu ſtehen und beſchwerte ſich
in lauten Klagen, daß ſein Acker, den er doch genau ſo behandelte wie
ſein Großvater und alle Vorfahren desſelben, ihm nicht mehr dieſelben
reichen Ernteerträge wie einſt dieſen liefern wollte. Liebig erklärte
dieſes ſcheinbare Wunder als eine ganz natürliche Folge der bisher
betriebenen Wirtſchaft, bei der man dem Acker ſtets vieles entzogen, und
nur weniges wiedergegeben hatte, denn um die Stoffe aller Produkte,
die der Landwirt nicht ſelbſt verwandte, ſondern verkaufte, wie z. B. Futter,
Korn, Handelsgewächſe, Fleiſch ꝛc. war der Boden ſtets ärmer geworden.
Er rief warnend hinaus, daß ſich der Landwirt darüber klar werden
müßte, daß er mit jedem Scheffel Roggen ein Stück ſeines Gutes ver-
kaufe, nannte die bisher betriebene Wirtſchaft ſehr bezeichnend „Raub-
bau
“ und riet dringend den Verluſt durch käufliche Düngemittel —
ſolche ſtehen zahlreich in verſchiedenen Formen zur Verfügung — zu
erſetzen. Damals wurden ſeine Anſichten nicht nur von den Land-
wirten ſelbſt, ſondern ſogar von einem Teile der Lehrer an landwirt-
ſchaftlichen Schulen bekämpft; heute iſt das anders und beweiſen höchſte
Ernteerträge — alſo großer Gewinn der intelligenten Landwirte —
ſelbſt auf minderwertigem Boden die Richtigkeit des Satzes: „Wer die
Natur erkennt, dem muß ſie dienen!“


Auch in nicht genügender mechaniſcher Bearbeitung des Bodens —
Pflügen, Eggen ꝛc. — kann viel geſündigt werden, denn dieſe ſoll den
Boden locker machen und dadurch das Eindringen der atmoſphäriſchen
Luft ermöglichen, welche durch ihren Gehalt an Kohlenſäure die
Thätigkeit des Bodens und ſomit die ſo wichtige Humusbildung ver-
anlaßt, bez. erhöht. Aber ſelbſt die beſte mechaniſche Bearbeitung des
Bodens erſetzt die Zufuhr der chemiſchen Stoffe nicht, ſondern verlangt
dieſelben im Gegenteil in höherem Maße, denn ſie erzeugt höhere
Ernteerträge und entzieht ſomit dem Boden auch die hierzu nötigen
größeren Mengen ſeiner Nährſtoffe, welche eben wiederum durch Zufuhr
erſetzt werden müſſen.


a) Entſtehung des Bodens.


Wichtig iſt es nun, den Boden erſt einmal an und für ſich zu
betrachten, ſowohl die Art, wie er entſteht, als auch ſeine Zuſammen-
ſetzung, welche letztere ſelbſtverſtändlich von der Geſteinsart abhängen
wird, aus welcher der Boden entſtanden iſt. Der geſamte, mehr oder
weniger fruchtbare Ackerboden iſt aus nackten, unfruchtbaren Felſen ent-
ſtanden und zwar haben hierbei ſowohl phyſikaliſche, als auch chemiſche
Kräfte mitgewirkt, deren gemeinſame Arbeit wir „Verwitterung“ nennen.
Es iſt eine rein mechaniſche Kraft, welche den erſten Angriff mit Hilfe
des Waſſers auf den Felſen ausübt, indem letzteres irgend einen kleinen
Riß desſelben ausfüllt, beim Sinken der Temperatur zu Eis gefriert, da-
27*
[420]Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des Bodens.
bei bekanntlich ein größeres Volumen einnimmt und ſo den Riß erweitert.
In langſamer, aber ſteter Arbeit vergrößert ſich dieſer Riß von Jahr
zu Jahr und reißt nicht nur endlich ein häufig gewaltig großes Stück
vom Felſen los, ſondern zerlegt dieſes auf dem eben beſchriebenen
Wege wiederum in kleinere Teile, bis es endlich ganz gepulvert iſt.
Während des ganzen Ganges dieſer Arbeit haben aber zwei wichtige
chemiſche Kräfte mitgewirkt und zwar eine auflöſende und eine oxydierende,
dadurch das Reſultat nicht nur beſchleunigt, ſondern ſpeziell zur Voll-
kommenheit desſelben beigetragen, indem gerade ihnen die Feinheit des
Bodens im weſentlichen zu verdanken iſt. Die im Waſſer enthaltene
Kohlenſäure hat gewiſſe Beſtandteile der Geſteinsart aufgelöſt und der
in der atmoſphäriſchen Luft enthaltene Sauerſtoff hat andere oxydiert,
wodurch der Verwitterungsprozeß ſehr gefördert wurde. Dieſen drei
vereinten Kräften kann ſelbſt der feſteſte Granitblock nicht widerſtehen
und zerbröckelt ſchließlich zu einem feinen Pulver von Thon und Sand;
die jahrtauſendlange Arbeit dieſer Kräfte haben uns die großen Flächen
Ackerboden geliefert und arbeiten täglich fort und fort an ihrer Auf-
gabe. Je nach der Geſteinsart des betreffenden Felſens entſtehen nun
die verſchiedenen Bodenarten, ſo wird z. B. aus dem Sandſtein ein
ſchwerer Sandboden, aus dem Keuper ein milder thoniger Boden, aus
dem Granit oder Baſalt ein ſandiger Thonboden gebildet ꝛc. Bleibt
dieſer Boden an ſeinem Entſtehungsorte liegen, ſo wird er „Ver-
witterungsboden“ genannt, während wir ihn „angeſchwemmten Boden“
nennen, wenn er durch die Bewegung des Waſſers von ſeinem Ent-
ſtehungsorte fortgeſpült und wo anders angeſchwemmt wurde. Letzterer
iſt gewöhnlich fruchtbarer, weil er auf dem Wege zu ſeinem Ablagerungs-
orte ſich mit anderen Bodenarten vermiſcht und ſo eine reichere Zuſammen-
ſetzung in Bezug auf die den Pflanzen notwendigen Nährſtoffe erhält.


Aber nicht nur die anorganiſchen Beſtandteile des Bodens ſind
wichtig für die Fruchtbarkeit desſelben, ſondern auch einige organiſche,
welche wir „Humus“ nennen, wenn man auch die ältere Anſicht, daß
Humus eine unbedingte Notwendigkeit für die Fruchtbarkeit iſt, längſt
und mit Recht aufgegeben hat, denn zahlreiche Verſuche und die kräftige
Entwickelung von Bäumen und Sträuchern auf nackten Felſen haben
längſt das Gegenteil bewieſen. „Humus“ nennen wir die Geſamt-
menge der organiſchen und ſomit verbrennlichen Subſtanz des Bodens,
welche aus Kohlenſtoff, Waſſerſtoff, Sauerſtoff und Stickſtoff beſteht
und als Zerſetzungsprodukt zahlreicher, verſchiedenartiger, abgeſtorbener
Organismen im Boden entſtanden iſt. Humus iſt ſomit ein Produkt
der Vegetation, und kann ſeine Bildung — dieſe erhöht die Frucht-
barkeit des Bodens weſentlich — durch den Anbau gewiſſer Pflanzen
leicht gefördert werden.


Die Fruchtbarkeit eines Bodens iſt — bei noch zu betrachtenden
phyſikaliſchen Eigenſchaften desſelben — bedingt durch die in ihm ent-
haltenen Nährſtoffe für Pflanzen und wird um ſo größer ſein, je mehr
[421]Entſtehung des Bodens.
dieſelben in genügender Menge und Löslichkeit, wie auch in einem
richtigen Verhältnis zu einander vorhanden ſind. Sehr bald werden
wir nämlich ſehen, daß die Pflanze nur im ſtande iſt lösliche Nähr-
ſtoffe aufzunehmen, und ferner, daß für die Menge der Aufnahme
derjenige entſcheidend iſt, der in geringſter Menge geboten wird. Nur
dieſem entſprechend nimmt die Pflanze die Menge der anderen Nähr-
ſtoffe auf, und ſelbſt wenn letztere in übermäßig großer Menge vor-
handen ſind, bleiben ſie dennoch unberückſichtigt. Die Pflanze kränkelt
und entwickelt ſich nur kümmerlich, wenn ihr auch nur einer der
weſentlichen Nährſtoffe fehlt oder in nicht genügender Menge ge-
geben wird.


Von den phyſikaliſchen Eigenſchaften des Bodens — im weſent-
lichen bedingt durch ſeinen Gehalt an Thon, Sand, Kalk und Humus —
kommen beſonders folgende in Betracht:


  • 1. Die Abſorptionsfähigkeit,
  • 2. die waſſerfaſſende Kraft,
  • 3. die Farbe des Bodens und endlich
  • 4. die Konſiſtenz des Bodens und des Untergrundes.

Die Abſorptionsfähigkeit des Bodens iſt abhängig von ſeinem
Gehalt an lehmigen und humusartigen Subſtanzen und iſt eine außer-
ordentlich wichtige Eigenſchaft desſelben. Filtriert man eine gelbe,
übelriechende Jauche durch eine Schicht Ackererde von gewiſſer Dicke,
ſo fließt dieſe Flüſſigkeit faſt rein und farblos ab, da die Ackererde ihr
alles entzogen hat, was für die Ernährung der Pflanzen zu verwerten
iſt. Hierdurch werden alle für die Pflanze geeigneten Nährſubſtanzen
zuſammengehalten und es wird verhindert, daß ſie durch Regen ꝛc.
ausgewaſchen werden, oder in die Tiefe verſickern, bevor die Pflanze Ge-
legenheit hatte ſie aufzunehmen. Bei zu großer Trockenheit verhindert
aber dieſelbe Eigenſchaft die Bildung von konzentrierten Nährſalzen,
welche den jungen, zarten Teilen der Pflanze außerordentlich ſchädlich
ſind, und ſehr bezeichnend hat Emil Wolff die Abſorptionsfähigkeit
„Polizei im Boden“ genannt. Aber auch Gaſe ſaugt der Boden —
wie alle feinpulveriſierten Subſtanzen — auf, was ſehr wichtig für die
Aufnahme von Kohlenſäure und Sauerſtoff aus der atmoſphäriſchen
Luft iſt, weil die Kohlenſäure nicht nur ein direkter Nährſtoff für die
Pflanzen iſt, ſondern beide auch die weitere Zerſetzung des Bodens in
außerordentlich hohem Maße befördern.


Die waſſerfaſſende Kraft des Bodens beruht auf Kapillarwirkung
und ermöglicht denſelben, Flüſſigkeiten aus dem Untergrunde, welche der
Pflanzenwurzel unerreichbar ſind und ſomit verloren gehen würden, in
die Höhe zu ſaugen. Es iſt dies eine ſehr wohlthätige Wirkung, be-
ſonders wenn bei anhaltender Trockenheit die obere Schicht des Bodens,
in welcher die Pflanze wurzelt, bereits trocken geworden iſt, während
der Untergrund noch Feuchtigkeit enthält. Allerdings kann — wenn
auch in ſeltenen Fällen — dieſe Eigenſchaft ſchädlich wirken, nämlich
[422]Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des Bodens.
dort, wo den Pflanzen ſchädliche Flüſſigkeiten in den Untergrund ver-
ſickert ſind, was zuweilen in der Umgebung mancher chemiſchen Fabriken,
welche größere Mengen gewiſſer Löſungen fortlaufen laſſen müſſen,
wohl vorkommen kann.


Die Farbe des Bodens kommt inſofern in Betracht, als ein dunkler
Boden ſich viel leichter erwärmt, als ein heller und die aufgenommene
Wärme auch viel länger behält. Ferner iſt die dunkle Farbe gewöhn-
lich ein Zeichen eines größeren Gehaltes an Humus, welcher — wie
bereits vorher geſagt — durch fortwährende Zerſetzung Kohlenſäure
entwickelt, und dieſe iſt nicht nur an und für ſich ein wichtiger Nährſtoff,
ſondern auch ein vorzügliches Löſungsmittel für andere Nährſtoffe. —


Die Konſiſtenz des Bodens und des Untergrundes ſchließlich iſt
ſowohl für die Ausbreitung der Wurzeln, als auch für die Regulierung
des Waſſergehaltes wichtig. Iſt der Boden zu locker, ſo läßt er zu
viel Waſſer durch, ein leichter Boden wird um ſo ſchneller trocken, ja
ſchließlich ſogar dürr werden; iſt er dagegen zu feſt, ſo werden die
Wurzeln bei ihrer Ausbreitung Widerſtände zu überwinden haben,
denen ſie nicht immer gewachſen ſind und ein zu dichter Untergrund
kann das Abfließen des Waſſers derartig hindern, daß ſchließlich eine
Verſumpfung eintritt. Er iſt die weſentliche Veranlaſſung zur Bildung
weiter Moorſtrecken, welche lange Zeit unfruchtbar lagen und erſt
neuerdings beſonders nach der Methode von Rimpau-Cunrau kultiviert
werden.


Die chemiſchen Mängel des Bodens können durch Zufuhr von
künſtlichen Düngemitteln, die phyſikaliſchen durch Meliorations-Methoden
verbeſſert werden. Die wichtigſten der letzteren wollen wir hier kurz
erwähnen, um uns dann eingehender mit den erſteren, wie mit der
Ernährung der Kulturpflanzen überhaupt zu beſchäftigen.


Eine der am häufigſten angewendeten Meliorations-Methoden iſt die
Bodenmiſchung. Dieſe wird überall dort angewendet, wo dem Boden
gewiſſe Beſtandteile ganz oder teilweiſe fehlen und iſt auf ſehr ver-
ſchiedenen Wegen zu erzielen. Durch Tiefpflügen mit dem eigens
hierzu konſtruierten Untergrundpflug miſcht man den Untergrund mit
den oberen Schichten und erreicht das noch vollkommener durch ſog.
Rajolen, d. h. die Erde in einen tiefen und breiten Graben auswerfen,
denſelben mit Erde des benachbarten Teiles ſo füllen, daß der unterſte
Teil derſelben obenauf zu liegen kommt, u. ſ. f., bis das ganze Feld
auf dieſe Art umgeſtochen iſt. Häufig wird auch guter Boden von
anderen Orten zum Miſchen herbeigeſchafft und ebenſo in gewiſſen Fällen
Kalk oder Mergel. Der Kalk hat dann eine ſehr wichtige Rolle, denn
er iſt ſowohl direkt Nährſtoff, als er auch auflöſend auf viele Minera-
lien wirkt und ſchließlich die ſaure Beſchaffenheit des Bodens neutra-
liſiert. Hierbei muß auch erwähnt werden, daß jede mechaniſche Be-
arbeitung des Bodens, wie alle Arten des Pflügens, Eggens ꝛc. zu
den Meliorations-Methoden zu zählen ſind, und nimmt man hierbei
[423]Entſtehung des Bodens.
häufig auch direkt Naturkräfte zu Hilfe, wie z. B. beim Pflügen im
Spätherbſt, um den ſo aufgeworfenen Acker im Winter ausfrieren zu
laſſen und dadurch die Bodenthätigkeit zu erhöhen.


Bei ſehr ſchwerem Lehmboden, welcher der Bearbeitung großen
Widerſtand entgegenſetzt und daher eine große Kraftaufwendung bean-
ſprucht, wird das Brennen, d. h. ein teilweiſes Ausglühen des Bodens
angewendet, wodurch er weſentlich gelockert und ſeine Kieſelſäurever-
bindungen zerſetzt werden.


Hervorragend wichtig unter den Meliorationsmethoden ſind die-
jenigen, welche die Waſſerregulierung veranlaſſen ſollen. Waſſer
iſt nicht nur ſelbſt, beſonders infolge ſeines Gehaltes an verſchiedenen
Mineralien, welche es aufgelöſt hat, ein wertvoller Nährſtoff für die
Pflanze, ſondern iſt gleichzeitig eine Hauptbedingung für die Aufnahme
aller übrigen Nährſtoffe, da dieſe nur in flüſſigem Zuſtande aufgenommen
werden können, wie wir ſpäter noch eingehender beobachten werden.
Zu trockene Ländereien werden daher berieſelt, d. h. durch vorhandene oder
herzuſtellende Waſſerläufe je nach Bedürfnis überſchwemmt. Aber auch
zuviel Waſſer, beſonders im Untergrunde, iſt nicht wünſchenswert und
führt ſehr bald zu Verſumpfungen bezw. Moorbildungen, welche nur
durch eine künſtliche Ableitung des Waſſers für die Kultur zurück-
gewonnen werden können. Es geſchieht dies durch Drainieren, d. h.
Einlegen von Thonröhren, Reiſigbündeln ꝛc., welche dem Waſſer des
Untergrundes einen bequemen Abfluß geſtatten und ſein Anſtauen ver-
hindern. Früher befürchtete man, daß gleichzeitig mit dem durch den
Acker geſickerten Drainwaſſer auch die wertvollen Nährſtoffe fortgewaſchen
würden, welche im Dünger dem Boden zugeführt werden. Dieſe Anſicht
konnte ſich aber nur ſo lange halten, als man die wichtige Eigenſchaft
des Bodens — ſeine Abſorptionsfähigkeit — nicht genügend kannte.
Neuere Forſchungen haben ergeben, daß ein Verluſt bei den meiſten
Nährſtoffen durch das Drainwaſſer nicht eintritt, weil dasſelbe, bis
es durch den Ackerboden filtrierend in den Untergrund gelangt iſt,
alle Nährſtoffe, die es enthält, bereits unterwegs abgegeben hat. Es
iſt allerdings nicht zu verkennen, daß das nicht für alle Nährſtoffe
zutrifft, ſondern gewiſſe derſelben, und zwar recht wichtige, neigen
dazu, bei zu langem Verweilen im Boden — aber auch nur dann — ſich
mit fortwaſchen zu laſſen. Dieſe ſind aber genügend bekannt und der
Verluſt wird vollſtändig und ſicher vermieden, wenn ſie nicht ſchon
im Herbſt, ſondern erſt im Frühjahr kurz vor der Einſaat dem Boden
zugeführt werden.


b) Beſtandteile und Nahrungsmittel der Pflanze.


Die rapide allgemeine Entwickelung unſerer Geſamtverhältniſſe iſt
an der Landwirtſchaft nichts weniger als ſpurlos vorübergegangen, ſie
hat dieſelbe im Gegenteil kräftig mit ſich fortgeriſſen und zwingt ſie zu
[424]Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des Bodens.
einer rationellen und intenſiven Kultur, wenn ſie ihre Aufgabe löſen
will, d. h. im allgemeinen das Land fähig machen, ſeine Einwohner zu
ernähren und im ſpeziellen ein Gut für den Beſitzer rentabel zu machen.
Die Frage, ob dies überhaupt möglich ſei, iſt mit „ja“ zu beantworten,
denn die Wiſſenſchaft hat in zahlreichen, mühſeligen und vorzüglichen
Forſchungen den Weg hierzu ſicher und ſcharf gekennzeichnet; ſchlimmer
ſieht es aber mit der Beantwortung der Frage aus, ob dieſe wiſſen-
ſchaftlichen Errungenſchaften auch überall in die Praxis übertragen
werden. Wenn auch heute nicht mehr verkannt werden darf, daß ein
großer Teil intelligenter Landwirte dieſe Forſchungen zum allgemeinen,
wie zu ihrem eigenen Vorteil verwertet und ihre Zahl ſtetig zunimmt,
ſo iſt doch immer noch der überwiegend große Teil derſelben im alten
Schlendrian begriffen, und große Strecken unſeres Vaterlandes, deren
intenſivere Kultur eine Einfuhr vom Auslande ganz unnötig machen
würde — wie wir am Schluſſe dieſes Abſchnittes nachweiſen werden
— bringen heute noch nicht annähernd den Ertrag, den ſie produzieren
könnten.


Die Landwirtſchaft hat die Aufgabe, aus anorganiſchen Subſtanzen
organiſche zu machen, denn erſtere im Boden enthalten bilden Pflanzen
und durch Verfütterung derſelben Fleiſch, deren Abfall und Verweſungs-
produkte dem Boden zurückgegeben den Kreislauf von neuem beginnen,
ohne daß etwas in der Natur verloren gehen kann. Aber die einem
beſtimmten Orte entnommenen Stoffe werden nur zum Teil eben-
demſelben wiedergegeben, denn alle Produkte, die der Landwirt ver-
kauft, kommen nicht leicht wieder in denſelben Acker und da ſie zum
größten Teil von den Städtern konſumiert werden, welche in erſter
Linie die ſanitäre Frage und erſt in zweiter die rationelle Verwertung
der Fäkalien berückſichtigen müſſen, ſo geht ein großer Teil derſelben
für die Landwirtſchaft ganz verloren. Welche ſind das nun aber und
in welcher Menge geſchieht das? Um dieſe Frage beantworten zu
können, müſſen wir uns einmal die Beſtandteile und Nahrungsmittel
der Pflanze etwas näher betrachten. Hierbei werden wir gleichzeitig
erkennen, welche Nährſtoffe der Pflanze überhaupt, alſo auch aus
anderen Gründen dem Boden außer den natürlichen Abfällen, wie dem
Stallmiſt ꝛc. zuzuführen ſind, z. B. aus dem am häufigſten eintretenden
Grunde, daß der Boden von dieſem oder jenem Nährſtoffe niemals
eine genügende Menge beſeſſen hat, bez. an welchem er mit der Zeit
durch die vor Liebig allgemein üblich geweſene Wirtſchaft erſchöpft wurde.


Die Pflanze beſteht aus organiſchen und anorganiſchen Subſtanzen,
die wir durch Verbrennen leicht von einander trennen können, wobei ſich
erſtere zerſetzen und verflüchtigen, während die letzteren in der Aſche zurück-
bleiben. So mannigfaltig und kompliziert zuſammengeſetzt die organiſchen
Beſtandteile auch ſind, ſo beſtehen ſie doch nur aus vier Elementen,
nämlich aus Kohlenſtoff, Waſſerſtoff, Sauerſtoff und Stickſtoff, wahrend
die Beſtandteile der Aſche, alſo die anorganiſchen viel zahlrecher ſind.
[425]Beſtandteile und Nahrungsmittel der Pflanze.
Als die wichtigſten ſind hier zu nennen Phosphorſäure, Kali und Kalk,
ferner Magneſia, Natron, Eiſenoxyd, Thonerde, Kieſelſäure, Schwefel-
ſäure, Chlor ꝛc., wobei ſelbſtverſtändlich die Säuren niemals frei vor-
kommen, ſondern ſtets an Baſen gebunden ſind, wie z. B. an Calcium,
Kalium, Natrium ꝛc. Alle dieſe Stoffe muß die Pflanze Gelegenheit
haben aufzunehmen und zwar in dem jeder Gattung eigentümlichen
richtigen Verhältniſſe, wobei das bloße Vorhandenſein dieſer Stoffe
nicht genügt, ſondern noch manches andere zu berückſichtigen iſt. So
iſt z. B. die Pflanze nur im ſtande flüſſige Nahrung aufzunehmen,
woraus ſich ergiebt, daß die vorhandenen Nahrungsſtoffe nur dann
einen Wert haben, wenn ſie löslich ſind und Feuchtigkeit genug im
Boden vorhanden iſt, um ſie zu löſen. Ferner wirken alle konzentrierten
Nährſtoffe direkt ſchädlich, alſo iſt gehörige Verdünnung geboten, und
muß die direkte Berührung mit den jungen, zarten Pflanzenteilchen
vermieden werden. Dieſer Umſtand wurde z. B. bei Einführung der
käuflichen künſtlichen Düngeſtoffe häufig nicht genügend beachtet, wobei
die naturgemäß dadurch entſtehenden Mißerfolge dieſe neuen Dünge-
mittel ſehr diskreditierten, und doch ganz mit Unrecht, denn der Land-
wirt wußte ja von jeher, daß es ſich ſelbſt mit dem Stallmiſt und
der Jauche ganz genau ſo verhält und nannte das Feld, das mit zu
konzentrierter Jauche gedüngt war, „verbrannt“.


Von der Nahrungsaufnahme der Menſchen und Tiere unterſcheidet
ſich diejenige der Pflanzen ſehr weſentlich. Während erſtere organiſche
und anorganiſche Stoffe aufnehmen, nehmen die Pflanzen nur an-
organiſche Stoffe auf, ferner dieſe — wie bereits erwähnt — nur
gelöſt oder als Gaſe, und ſchließlich ſind die Pflanzen nicht im ſtande,
ſich ihre Nahrung an beliebigen Orten zu ſuchen, ſondern können
dieſelbe nur dann aufnehmen, wenn ſie von den Wurzeln oder anderen
für dieſen Zweck beſtimmten Organen erreichbar iſt.


Eine ganz unerſchöpfliche Quelle für einen ſehr wichtigen Beſtandteil
der Pflanze, nämlich für den Kohlenſtoff, liefert die atmoſphäriſche Luft.
Dieſe iſt ein Gemenge verſchiedener Gaſe und beſteht dem Volumen
nach aus ca. 79,1 % Stickſtoff, 20,9 % Sauerſtoff und 0,04 % Kohlen-
ſäure, ferner aus wechſelnden Mengen Waſſerdampf und Spuren von
kohlenſaurem Ammoniak und Schwefelammonium, welche ſich bei der
Zerſetzung organiſcher Körper bilden, und daher hauptſächlich dort zu
finden ſind, wo ſolche Zerſetzungen vor ſich gehen, wie ſchließlich auch
Spuren von ſalpeterſaurem und ſalpetrigſaurem Ammoniak, gebildet
durch elektriſche Vorgänge in der Atmoſphäre. Dieſe Stickſtoff-Ver-
bindungen werden durch die Niederſchläge im Boden gewaſchen und
hier von der Pflanze aufgenommen. Iſt auch die Menge dieſer Stoffe
ſcheinbar gering, ſo wird ſie doch zu einer nicht unbeträchtlichen, wenn
man das gewaltige Volumen der ganzen Atmoſphäre berückſichtigt und
dabei beſonders in Betracht zieht, daß jene Stickſtoff-Verbindungen
kontinuierlich erzeugt werden.


[426]Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des Bodens.

Die drei Hauptbeſtandteile der atmoſphäriſchen Luft, Sauerſtoff,
Stickſtoff und Kohlenſäure haben für die Ernährung der Pflanze eine
ſehr verſchiedene Bedeutung, und zwar der in ſo großer Menge vor-
handene Sauerſtoff, der für die Reſpiration von Menſchen und Tieren
von ſo ungeheurer Wichtigkeit iſt, die allergeringſte. Er wird zwar
beim Keimen der Samenkörner und während der Blütezeit und des Aus-
reifens der Früchte, hauptſächlich in der Nacht, wo die Aufnahme
anderer Nährſtoffe faſt ganz aufgehört hat, eingeatmet und auch bei
dem Wachstum der Wurzeln ſpielt er eine gewiſſe Rolle, aber ein
eigentlicher Nährſtoff iſt er nicht, denn er veranlaßt keine Gewichts-
zunahme, ſondern wird im Gegenteil — wie wir bei der Kohlenſäure
ſehen werden — unter dem Einfluſſe des Lichtes von der Pflanze
erzeugt und ausgeſchieden. Auch der Stickſtoff, der dem Boden in
Geſtalt ſehr teurer Düngemittel zugeführt werden muß, hatte — wie
man bisher annahm — als freier Stickſtoff der Atmoſphäre für die
Pflanzen keine Bedeutung, und erſt allerneueſte Forſchungen, die wir
ſpäter genauer behandeln werden, haben ergeben, daß er in der That
für gewiſſe Pflanzen unter geeigneten Umſtänden von ſehr großer Be-
deutung werden kann, und hat man dieſe Pflanzen „ſtickſtoffſammelnde“
genannt, im Gegenſatz zu den übrigen, den „ſtickſtoffzehrenden“ Pflanzen.
Die Kohlenſäure hingegen iſt von überaus großer Wichtigkeit für die
Pflanzenernährung, denn ſie iſt der einzige Kohlenſtofflieferant derſelben
und dazu reicht die in der Atmoſphäre enthaltene Menge aus, ſo gering
ſie auch dem Prozentſatze nach iſt, denn jener kleine Bruchteil beträgt
vom Geſamtgewicht der Atmoſphäre 3150 Billionen Kilogramm und
das entſpricht 860 Billionen Kilogramm Kohlenſtoff. Auch wird
ihre Menge trotz der kontinuierlichen Verarbeitung durch die Pflanzen
nicht geringer, denn das abſorbierte Quantum wird ſtets wieder
durch Reſpiration, Verbrennung, Verweſungs- und Fäulnisprozeſſe
ergänzt, wobei die im Humus ſich bildende Kohlenſäure nicht nur den
Gehalt der atmoſphäriſchen Luft vermehrt, ſondern auch gleichzeitig
noch eine ſehr wichtige Aufgabe löſt, indem ſie auf andere im Boden
enthaltene Nährſtoffe löſend wirkt. Mittels der Blätter nimmt die
Pflanze die Kohlenſäure auf, verarbeitet ſie unter dem Einfluße von
Licht und Wärme durch einen eigentümlichen Stoff, das Blattgrün,
das der Chemiker „Chlorophyll“ nennt, zu Kohlenſtoff, dem wichtigen
Beſtandteil für den Aufbau der Pflanzen und giebt den freigewordenen
Sauerſtoff der Atmoſphäre zurück, als Lebensbedingung für die Atmung
der Menſchen und Tiere, welche denſelben während der Atmung mit
Hülfe des ihnen von den Pflanzen in den Nahrungsmitteln gelieferten
Kohlenſtoffes zu Kohlenſäure verbrennen, und dieſe ausatmend wiederum
den Pflanzen überliefern und ſo im ewigen Kreislauf ſich gegenſeitig
unterhalten.


[427]Das Waſſer als Nährmittel der Pflanze.
Das Waſſer als Nährmittel der Pflanze.

Von überaus großer Bedeutung für die Ernährung der Pflanzen
iſt das Waſſer, und fallen ihm beſonders vier weſentliche Auf-
gaben zu. Es dient als Vegetationswaſſer, indem es unverändert
durch die Pflanze hindurchgeht, zur direkten Ernährung infolge ſeines
Waſſerſtoff-Gehaltes, als Vermittler zur Aufnahme aller übrigen Nähr-
ſtoffe und ſchließlich zur Kühlung der Pflanzen bei großen Hitzen.
Als Vegetationswaſſer wird die Feuchtigkeit des Bodens von den
Wurzeln aufgeſaugt, durch die Pflanze hindurch nach oben geführt
und verdunſtet, aus den Blättern, wie aus allen ſaftig grünen Teilen
austretend. Nur ſo lange dies geſchieht, iſt die Pflanze lebensfähig,
und ſie welkt, ſobald dieſe Thätigkeit aufhört, ſei es aus Waſſermangel
im Boden, ſei es, daß ſie zur Zeit der Reife nachläßt. 80—96 %
der Pflanze beſtehen während ihres Wachstums aus Waſſer und un-
geheure Mengen desſelben gehen als Vegetationswaſſer durch die
Pflanze hindurch. Nach Wolff*) werden auf dieſe Weiſe bei den
Halmfrüchten 0,5—1,5 Millionen kg Waſſer pro Morgen während
der Vegetationszeit verdunſtet und bei den blattreichen, hochwachſenden
Pflanzen, wie Obſtbäumen, Hopfen ꝛc. ſogar 1,5—2 Millionen kg.
Das iſt ein größeres Quantum als durchſchnittlich während der Vege-
tationszeit, d. h. während 5 bis 7 Monaten an Niederſchlägen fällt, ſo-
mit muß das während des Winters gefallene und im Boden an-
geſammelte Waſſer zur Ernährung mitwirken, was wiederum eine
lockere Beſchaffenheit des Bodens und ſeine möglichſt tiefe Bearbeitung
vorausſetzt.


Als Vermittler für andere Nährſtoffe iſt das Waſſer ſo wichtig,
daß jene ohne dieſes überhaupt nicht zur Geltung kämen, wie ſie auch
unwirkſam bleiben, wenn ſie nicht löslich ſind, oder es mit der Zeit
werden. Nur auf dem vorher beſchriebenen Wege des Vegetations-
waſſers können ſie das Innere der Pflanze erreichen, und das geſchieht
bis zu einem gewiſſen Maximum in demſelben Maße, als das Vege-
tationswaſſer zur Verfügung ſteht. Unter gewiſſen Verhältniſſen kann
man das auch äußerlich der Pflanze anſehen, nämlich, wenn nach
großer Dürre plötzlich ſtarker und kurzer Regen eintritt, um wiederum
einer großen Hitze zu weichen. Dann werden von der Pflanze plötz-
lich ſo große Waſſermengen aufgenommen und nach dem Wege durch
die Pflanze von den ſaftig grünen Teilen derſelben verdunſtet, daß
die Menge der darin gelöſten Nährſtoffe zu groß iſt, um von der
Pflanze in der ſo kurzen Zeit aufgenommen und verarbeitet zu werden.
Ein Teil der Nährſtoffe tritt dann mit dem zu verdunſtenden Waſſer
aus, und da er nicht verdunſten kann, ſo lagert er ſich auf der Ver-
dunſtungsſtelle, d. h. alſo auf den Blättern ꝛc. als feiner weißer
Niederſchlag ab.


[428]Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des Bodens.

An und für ſich aber enthält das Waſſer, beſonders das Fluß-
Quell- und Trinkwaſſer zahlreiche den Pflanzen dienliche Stoffe in ſehr
wechſelnder Menge aufgelöſt und kann infolge des Gehaltes daran
als direktes Düngemittel betrachtet werden. Hierbei entſcheidet über
ſeinen Wert nicht die Menge der gelöſten Pflanzennährſtoffe überhaupt,
ſondern ſpeziell der Gehalt an ſolchen, welche gewöhnlich im Boden
fehlen, wie z. B. Kali, Phosphorſäure ꝛc., während andererſeits der
gewöhnlich ſehr große Gehalt an Kalk und Eiſen weniger in Betracht
kommt, trotzdem auch dieſe unerläßliche Nährſtoffe ſind und zwar,
weil der Boden an dieſen Stoffen häufig ſchon an und für ſich einen
Überſchuß hat. Für die Brauchbarkeit des Waſſer in dieſer Beziehung
geben die an den Ufern der Bäche, Flüſſe und Teiche wild wachſenden
Pflanzen häufig einen ſicheren Anhalt; wachſen dort z. B. Süßgräſer und
allerlei Blattpflanzen ſehr üppig, oder finden ſich Seeroſen und
Schwimmkraut auf der Oberfläche des Waſſers, ſo kann es als ſehr
fruchtbar betrachtet werden. Endlich iſt die Thätigkeit des Vegetations-
waſſers zur Kühlung der Pflanze zu erwähnen. Je höher die Tem-
peratur in den Sommermonaten ſteigt, deſto größer iſt auch die ver-
dunſtende Menge des Vegetationswaſſers, und die daher entſtehende
Verdunſtungskälte wirkt kühlend und erfriſchend auf die Pflanze, wo-
durch das Welken derſelben in den heißen Sommermonaten ver-
hindert wird.


Die übrigen Nährſtoffe der Pflanze.

Alle ſich in der Pflanzenaſche findenden Beſtandteile ſind nicht
zu den unentbehrlichen zu rechnen, welcher Umſtand in Bezug auf die
dem Boden zuzuführenden künſtlichen Düngemittel wohl zu berückſich-
tigen iſt. So rechnen wir die Phosphorſäure, Schwefelſäure, den Stick-
ſtoff in Form von Salpeterſäure oder Ammoniak, das Kali, den Kalk,
die Magneſia und das Eiſen zu den unentbehrlichen Nährſtoffen, während
die ſich häufig in der Aſche findenden Mengen von Chlor, Natron und
Kieſelerde in den meiſten Fällen leicht entbehrlich ſind. Die unentbehr-
lichen Stoffe aber genügen in ihrem bloßen Vorhandenſein im Boden
nicht, ſondern großer Wert iſt auf das für die zu kultivierende Pflanze
paſſende Mengenverhältnis zu legen. Ferner kann der Umſtand nicht
genug berückſichtigt werden, daß das Fehlen oder auch nur nicht
genügend Vorhandenſein eines einzigen weſentlichen Nährſtoffes den
Wert aller anderen ſtark beeinträchtigt, denn die Pflanze kann dann
nicht gedeihen, und die Ernte wird unter ſolchen Umſtänden ſtets nur
eine ſehr mangelhafte werden. Über den Wert und die Aufgabe der
genannten Mineralſtoffe iſt nach Wolff folgendes zu erwähnen. Der
Kalk iſt nicht nur ein direkter Nährſtoff, ſondern wirkt auch gleichzeitig
indirekt ſehr nützlich, indem er den Boden auflockert und die Ver-
witterung desſelben, wie auch die Verweſung der in ihm enthaltenen
organiſchen Stoffe ſehr beſchleunigt. Während der Kalk ſich haupt-
[429]Die übrigen Nährſtoffe der Pflanze.
ſächlich in den Blättern und Stengeln findet, iſt ſein faſt ſteter Begleiter,
die Bittererde (Magneſia) vornehmlich in den Samenkörnern enthalten.
Einige dolomitiſche Kalkſteine enthalten 10 bis 20 % Magneſia, aber
faſt jeder Kalk 0,5 bis 5 % davon. Trotzdem die Pflanzenaſche nur
0,5 bis 1,5 % Eiſenoxyd enthält, ſo iſt dieſe Subſtanz doch als ganz
unentbehrlich für den Aufbau der Pflanze und ſpeziell zur Erzeugung
der grünen Farbe zu betrachten. Die laugenartige Beſchaffenheit der
Aſche — die ja bei der Pottaſche allgemein bekannt iſt — verdankt
dieſelbe ihrem hohen Gehalt an Kali, der bis 50 % geht. Dieſer
Stoff iſt von außerordentlicher Wichtigkeit für die Körner und faſt
noch mehr für Blätter, Kraut und Stroh, woraus ſich ſein Dungwert,
beſonders für alle Futterarten und Wieſen von ſelbſt ergiebt. Von
ebenſo hoher Bedeutung, beſonders für die Körner iſt die Phosphor-
ſäure, denn die Aſche der Roggen- und Weizenkörner enthält bis 50 %,
während die der Stengel und Blätter 5 bis 16 % davon enthalten.
Es ergiebt ſich hieraus zur Genüge, daß für höchſte Ernteerträge bei
den Halmfrüchten die Stallmiſtdüngung allein nicht genügt, ſondern
dem Boden Phosphorſäure in Geſtalt der käuflichen Phosphate, bez.
Superphosphate zugeführt werden muß. Die Schwefelſäure wird
größtenteils als Gips, das iſt ſchwefelſaures Calcium dem Boden ge-
geben und iſt gleichfalls der Pflanze unentbehrlich.


Trotzdem die Kieſelſäure von den körnertragenden Halmfrüchten in
reichlicher Menge aufgenommen wird, iſt ſie dennoch als unentbehrlich
nicht zu betrachten und überdies in jedem Boden ſtets in weit mehr
als ausreichender Menge enthalten. Ihre Thätigkeit für die Entwicke-
lung der Pflanze iſt eine ſehr nutzbringende, denn ſie beſchleunigt die
Reife derſelben, indem ſie frühzeitig ihre Lebensthätigkeit vermindert.
Hierdurch wird die Entwickelung der Pflanze von manchen ſpäter ein-
tretenden ungünſtigen Witterungsverhältniſſen unabhängig gemacht und
die Ernten werden gleichmäßiger. Natron und Chlor ſind gleichfalls
entbehrlich, trotzdem ſie ſich faſt in jeder Aſche finden, was auch ganz
natürlich iſt, da faſt jedes Waſſer Kochſalz (Chlornatrium) enthält und
beſonders der Stallmiſt ſchon infolge des den Tieren gegebenen Viehſalzes.


Da nun alle Pflanzen ſehr dazu neigen, ſelbſt in übermäßiger
Weiſe dem Boden die vorhandenen Nährſtoffe zu entziehen, ſo wechſeln
die Mengen der Aſchenbeſtandteile häufig ſogar bei einer und derſelben
Pflanze je nach den Verhältniſſen des Bodens, der Düngung und der
Witterung. Das praktiſche Ergebnis aus dem Erkennen der Neigung
zum übermäßigen Konſum iſt, daß man eine ſehr reiche Ernte nicht
etwa als Beweis dafür annehmen darf, daß nun der Boden genügend
gedüngt iſt, ſondern im Gegenteil denſelben ſofort wieder um ſo reicher
düngen muß, weil die durch die reiche Ernte dem Boden entzogenen
größeren Mengen ſeiner wertvollen Beſtandteile wieder erſetzt werden
müſſen. Indes iſt für gewiſſe Pflanzen der Gehalt gewiſſer Stoffe ſo über-
wiegend, daß man ganze Arten danach nennt, ſo bezeichnet man z. B.
[430]Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des Bodens.
die Kartoffeln und alle rübenartigen Gewächſe als Kalipflanzen, hin-
gegen die Kleearten, Luzerne, Eſparſette und alle Hülſenfrüchte als Kalk-
pflanzen.


Einer der wichtigſten, vielleicht der allerwichtigſte Pflanzennährſtoff,
der dem Boden bei intenſiver Kultur durch käufliche Düngemittel zu-
geführt werden muß, iſt der Stickſtoff, trotzdem er in der Aſche nicht
nachgewieſen werden kann, da ſeine Verbindungen ſich beim Verbrennen
zerſetzen und er ſomit in den Verbrennungsgaſen zu finden iſt. Von
den Pflanzen wird er nur durch die Wurzeln und zwar in Form von
ſalpeterſauren Salzen aufgenommen.


c) Die Düngung.


Aus allem vorſtehenden geht hervor, von welch eminenter Be-
deutung für die Ernteerträge, alſo auch für das Nationalvermögen
eine richtige Düngung iſt, denn nur durch dieſe allein ſind aller-
höchſte Ernteerträge zu erzielen. Die älteſte Methode, die Stall-
miſtdüngung, iſt zweifellos eine ſehr wirkſame, denn durch dieſelbe wird
nicht nur dem Boden eine ganze Reihe wertvoller Stoffe zugeführt,
ſondern der Boden wird auch gleichzeitig durch das darin enthaltene
Stroh gelockert und ſchließlich werden durch die ſich kontinuierlich bildende
Kohlenſäure zahlreiche wertvolle, im Boden enthaltene Mineralſtoffe
löslich gemacht. Aber genügend iſt die Stallmiſtdüngung allein nicht,
denn ihr fehlen alle die Subſtanzen, welche als Marktware verkauft
werden, und die bloße Stallmiſtwirtſchaft iſt das, was Liebig „Raub-
bau“ nannte, wobei jedes Jahr ein Teil des Gutes verkauft wird. Der
Erlös dieſer Marktwaren, wie Getreide, Fleiſch ꝛc. liefert ja auch dem
Landwirt das Betriebskapital und die Rente für ſein Gut; wie außer-
ordentlich ſie aber den Boden erſchöpfen, das weiſt Wolff quantitativ
in überaus ſchlagender Weiſe, wie folgt, nach:


Es enthalten 1000 kg lufttrockene Subſtanz durchſchnittlich an in
Betrachk kommenden Pflanzennährſtoffen in kg:

[431]Die Düngung.

Dieſe Zahlen auf einen mittleren Ertrag und für die Fläche eines
preußiſchen Morgens berechnet geben in kg:

Bei der Viehzucht kommen als Verkaufware hauptſächlich in
Betracht: Milch, lebende Tiere, Wolle und Käſe (Butter ſoll unberück-
ſichtigt bleiben, weil ſie nur ſehr wenig Stickſtoff und Mineralſubſtanzen
enthält). Dieſe enthalten — die Tiere in gut genährtem Zuſtande ge-
dacht — durchſchnittlich pro 1000 kg in kg:

Bei der Mäſtung von volljährigen Tieren erfordern 1000 kg
Gewichtszunahme bei ausgewachſenen Tieren:

Für den Geſamtverluſt des Bodens ſoll ein Gut angenommen
werden, das 300 Morgen unter dem Pfluge hat, wovon der Reinertrag
von ⅖ alſo von 120 Morgen verkauft werden ſoll und zwar der
Ertrag von 30 Morgen Weizen, 35 Morgen Roggen, 25 Morgen Gerſte,
20 Morgen Raps und 10 Morgen Erbſen. Das Stroh dieſer Früchte,
ſowie der Ertrag der Kleefelder, der Kartoffel- und Rübenkultur ꝛc.,
ſoll der Wirtſchaft verbleiben und als Futter oder Streumaterial mit
ſeinen Beſtandteilen dem Stallmiſt und durch denſelben wiederum dem
[432]Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des Bodens.
Felde zu gute kommen, jedoch mit Ausnahme derjenigen Stoffe, welche
in die Milch von 20 Kühen (pro Stück jährlich 2000 kg) übergehen
und außerdem mit dem Verkauf von 4 Stück Großvieh (pro Kopf
600 kg ſchwer), die auf dem Hofe aufgezogen worden ſind, ausgeführt
werden. Die Rechnung ergiebt alsdann auf Grund der obigen Zahlen
in kg:

Von dieſen für einen Morgen genannten jährlichen Verluſten an
verſchiedenen Nährſubſtanzen, ſind beſonders die Verluſte an Stickſtoff,
Kali und Phosphorſäure zu betonen, und dieſe müſſen unbedingt durch
Zufuhr künſtlicher Düngemittel erſetzt werden, wenn das betreffende Gut
nicht geradezu ruiniert werden ſoll. Denn es geht klar aus der vor-
ſtehenden Zuſammenſtellung hervor, was dem Boden bei reiner Stall-
miſtwirtſchaft an zu erſetzenden Nährſtoffen jährlich entzogen wird, und
geradezu erſchreckend müſſen dieſe Zahlen wirken, wenn man bedenkt,
daß ein ſolcher „Raubbau“ Jahrhunderte hindurch fortgeſetzt wurde, und
ſo iſt es leicht verſtändlich, daß ſich die mittleren Ernteerträge von Jahr
zu Jahr verringern müſſen. Indes hat die Wiſſenſchaft eine ganz
ſichere Abhülfe hierfür geſchaffen, nämlich — nächſt Angaben über
Konſervierungsmittel für den Stallmiſt ſelbſt, dieſen vor großen Ver-
luſten, beſonders an Stickſtoff zu ſchützen — durch Verwendung der
käuflichen, ſog. konzentrierten Düngeſtoffe.


Selbſt bei der bloßen Stallmiſtwirtſchaft wird bei der Lagerung
und Behandlung des Stallmiſtes ſehr viel geſündigt und in häufigen
Fällen kommt er nach Monate langer falſcher Behandlung viel ärmer auf
den Acker, als er erzeugt wurde. Zuſätze, wie humoſe Erde, Thon-
mergel, Torfpulver, Kaliſalze, ganz beſonders aber der ſog. Superphos-
phat-Gips, ein Nebenprodukt der Superphosphat-Fabriken, beſtehend
aus 60 % Gips und 6—8 % Phosporſäure, verhüten ſowohl den Ver-
luſt des ſo wertvollen Stickſtoffs, indem ſie das Ammoniak binden und
es am Entweichen hindern, als ſie auch gewiſſe Mineralſubſtanzen
beſſer zuſammenhalten und ſchließlich die Zerſetzung des Dunges ver-
langſamen und gleichmäßiger vor ſich gehen laſſen. Wie ungeheuer
[433]Die konzentrierten Düngemittel.
groß der Verluſt an Stickſtoff ohne beſondere Behandlung des Miſtes
iſt, ſoll ſpäter in Zahlen ausgedrückt werden. Ein ſo konſervierter
Stallmiſt hat ſchon ganz ſichtbar andere Erfolge, als der gewöhnliche,
bezw. gar nicht behandelte, ganz anders aber noch ſtellen ſich die
Ernteerträge bei Verwendung der konzentrierten Düngemittel.


Die konzentrierten Düngemittel.

Durch die mehrfach geſchilderte falſche Wirtſchaft iſt der Wert des
Bodens hauptſächlich dadurch vermindert, daß eine „Entmiſchung“ des-
ſelben ſtattgefunden hat, das heißt ſeine urſprünglich gute Zuſammenſetzung
iſt inſofern verändert, als ihm ſtets von allen entzogenen Beſtandteilen
nicht immer dieſelben wiedergegeben wurden und dadurch dieſe dem
Prozentſatze nach zurückgegangen bezw. ganz verſchwunden ſind. Er-
ſatz hierfür zu liefern ſind die konzentrierten Düngemittel ganz vor-
züglich geeignet, denn in ihnen giebt man dem Boden nur einen ganz
beſtimmten Nährſtoff und kann mit Leichtigkeit ſtets denjenigen aus-
wählen, der dem Boden mit Rückſicht auf die zu kultivierende Pflanze
gerade fehlt. Auf dem von den neueſten wiſſenſchaftlichen Forſchungen
ſo ſcharf gekennzeichneten Wege können auch alle diejenigen Boden-
arten weſentlich verbeſſert werden, welche infolge ihrer natürlichen Zu-
ſammenſetzung von vornherein nicht geeignet waren, hohe Ernteerträge
zu liefern, oder ſich zur Kultur überhaupt nicht eigneten, und in dem-
ſelben Maße, als ſich die Verwendung der konzentrierten Düngemittel
immer mehr ausbreitet, haben ſich auch deutlich bemerkbar die Erträge
des Bodens und damit die Rentabilität der Landwirtſchaft erhöht;
denn der durch eine ſchlechte Wirtſchaft erſchöpfte Boden wurde wieder
geſtärkt und auch ein richtiges Miſchungsverhältnis der einzelnen
Nährſtoffe im Boden herbeigeführt. Außerdem hat man aber hier-
durch gleichzeitig ein Mittel an der Hand Saaten, deren Stand nicht
befriedigt, durch Überdüngung zu verbeſſeren, und endlich kann man
durch Verwendung ſchnell wirkender Düngemittel an Orten, deren
rauhes Klima manche Kultur überhaupt nicht zuläßt, ſolche mit Vor-
teil betreiben. Heute iſt nämlich nicht nur bei den einzelnen Dünge-
mitteln die Art ihrer Wirkung, ſondern auch die Schnelligkeit derſelben
genau bekannt.


Nun muß aber beſonders betont werden, daß bei der außer-
ordentlichen Mannigfaltigkeit der Bodenarten, wie der zu kultivierenden
Pflanzen, welche alle andere Anſprüche in Bezug auf die Düngung
ſtellen, allgemeine Rezepte zur Verwendung der künſtlichen Düngemittel
nicht gegeben werden können, ſondern die rationelle Anwendung der-
ſelben für jeden Fall durch eigene Verſuche ermittelt werden muß.
Solche Verſuche ſind nach den durch die moderne Wiſſenſchaft er-
mittelten Wegen anzuſtellen und die hierfür aufgewendete Mühe
wird reich belohnt. Für dieſe Verſuche ſei hier erwähnt, daß neben
Das Buch der Erfindungen. 28
[434]Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des Bodens.
den gedüngten Verſuchsparzellen auch ungedüngte liegen müſſen, und
die Verſuche erſt dann als richtig durchgeführt zu bezeichnen ſind,
wenn die Reſultate der erſteren und letzteren unter ſich nur wenig von
einander abweichen, bezw. dieſe Abweichungen infolge genauer Be-
obachtungen leicht zu erklären ſind. Bei manchen nicht ſofort lös-
lichen Düngemitteln, wie z. B. bei gewiſſen, ſpäter näher zu betrachtenden
Phosphaten muß auch die Nachwirkung mit in Betracht gezogen werden,
welche manchmal erſt nach 3 bis 4 Jahren eintritt; daher kann bei
ſolchen Düngemitteln auch nur das Geſamtreſultat von vierjährigen
Verſuchen entſcheidend ſein. Endlich iſt es ſelbſtverſtändlich, daß dieſe
Verſuche auf einem möglichſt gleichartigen Boden angeſtellt werden
müſſen, und das erzielt man leichter, wenn man das Verſuchsfeld in
lange, ſehr ſchmale Streifen teilt, als wie früher in Quadrate, weil
durch dieſe Einteilung etwa ungleichmäßige Stellen des Verſuchs-
ackers ſich eher auf alle Verſuchsparzellen verteilen, anſtatt auf einer
einzigen zur Geltung zu kommen. Dieſe Verſuche zeigen für jeden
Fall den Gehalt des Bodens an disponiblen Nährſtoffen und danach
hat man die Zufuhr für die Nährſtoffmenge, welche die Pflanze be-
darf, einzurichten. Hierbei muß man mit der Stickſtoff-Zufuhr mög-
lichſt vorſichtig verfahren, denn der zu viel gegebene und den Winter
über im Boden verbleibende Stickſtoff geht verloren, da er durch
Regen ꝛc. ausgewaſchen wird. Anders verhält es ſich mit der
Phosphorſäure und dem Kali; hiervon muß man ſtets einen Über-
ſchuß, geben, und alles zu viel gegebene bleibt im Boden infolge ſeiner
Abſorbtionsfähigkeit aufbewahrt und erhalten.


Als käufliche Düngemittel kommen natürlich nur diejenigen in
Betracht, welche dem Boden fehlen, und das ſind hauptſächlich der
Stickſtoff, die Phosphorſäure und das Kali, alſo kann es ſich nur um
Chemikalien oder Abfälle handeln, welche dieſe genannten Stoffe ent-
halten. Als Stickſtoffdünger haben wir Chiliſalpeter, Ammoniak-
ſalze und gewiſſe tieriſche Abfälle; als Phosphorſäure-Dünger zahl-
reiche Guano-Arten, Knochenaſche, die aus dieſen dargeſtellten Super-
phosphate, den phosphorſauren Kalk der Leim- und chemiſchen Fa-
briken, wie das ſogen. Thomasphosphat; als Kali-Düngemittel endlich
die Staßfurter Kaliſalze und gewiſſe Rückſtände chemiſcher Fabriken.
Nun giebt es aber auch ſehr wichtige Düngemittel, welche zwei der
vorhergenannten Stoffe gleichzeitig enthalten. So iſt z. B. im Peru-
Fiſch- und Fray-Bentos-Guano Knochenmehl und im Ammoniak-
Superphosphat ꝛc. Stickſtoff und Phosphorſäure enthalten; die Holz-
aſche und das Kali-Superphosphat enthalten Kali und Phosphor-
ſäure, und endlich enthält der Kaliſalpeter Kali und Stickſtoff. Im
Handel befinden ſich allerdings noch ſehr zahlreiche Düngemittel, welche
künſtlich gemengt alle drei Stoffe in ſehr wechſelndem Mengenverhältnis
enthalten, aber dieſe können hier nicht in Betracht kommen, weil ſie
keine Gewähr für eine konſtante Zuſammenſetzung bieten, und auch vom
[435]Die konzentrierten Düngemittel.
Konſumenten ſelbſt leicht für das gerade auf ſeinem Acker vorhandene
Düngebedürfnis aus den eigentlichen Düngemitteln gemiſcht werden
können. Die wichtigſten dieſer Düngemittel ſollen nun einzeln in
drei Gruppen als Phosphorſäure-, Stickſtoff- und Kali-Dünge-
mittel betrachtet werden, vorher iſt aber noch für alle gemeinſam
folgendes zu erwähnen. Es iſt kein einziger Stoff imſtande, wenn
er an und für ſich auch noch ſo wichtig für die Ernährung der
Pflanze iſt, einen anderen zu erſetzen, ſondern jeder einzelne
muß im Boden in genügender Menge vorhanden ſein. Für die Wirkung
der Geſamtdüngung iſt derjenige Stoff entſcheidend, welchen der Boden
im Verhältnis zum Verbrauch durch die Pflanze in geringſter Menge
enthält. Höchſte Ernteerträge laſſen ſich aber nur dann erzielen, wenn
ſtets die mehrfache Menge derjenigen Pflanzennährſtoffe im Boden
enthalten iſt, welche ihm durch die jedesmalige Ernte entzogen wird.
Als wirklich vorhanden kann man aber die Nährſtoffe nur dann be-
trachten, wenn ſie ſich im Boden in einer ſolchen Form befinden, daß
ſie von der Pflanze leicht aufgenommen werden können und dazu
müſſen ſie ſowohl löslich, als auch ſehr feinpulvrig und gleichmäßig
verteilt ſein. Schließlich genügt in den überwiegend meiſten Fällen
ihr bloßes Ausſtreuen nicht, ſie müſſen vielmehr gut mit der Ackererde
gemiſcht, d. h. eingeeggt und, wenn irgend möglich, untergepflügt werden.


Von welcher Bedeutung die Phosphate als Düngemittel ſind, geht
zur Genüge aus dem Umſtande hervor, daß einerſeits Phosphorſäure
in jeder Pflanze und in jedem Teile derſelben enthalten und andererſeits
der Boden gewöhnlich mehr oder weniger arm an Phosphorſäure iſt.
Hauptſächlich kommen als Düngemittel die Calciumſalze der Phosphor-
ſäure in Betracht, von denen es — wie von allen Salzen derſelben —
ihrem Waſſerſtoffgehalt entſprechend, 3 Reihen giebt, nämlich baſiſche,
halbſaure und ſaure Salze. Sämtliche Phosphate werden in Bezug
auf ihren Düngewert in baſiſche und Superphosphate eingeteilt, deren
Unterſcheidung folgende iſt. Die in der Natur vorkommenden Phosphate
ſind alle baſiſche Phosphate, d. h. die in ihr enthaltene Phosphorſäure
hat mit Calcinm, Eiſen, Magneſium oder anderen Baſen geſättigte
Salze gebildet. Dieſe phosphorſauren Salze ſind aber in Waſſer un-
löslich und haben ſomit nur geringen Düngewert, weil die Pflanze ja
nur lösliche Nährſtoffe aufnehmen kann. Liebig ſchlug vor, die von
der Natur gebotenen rohen, unlöslichen Phosphate durch Behandeln
mit Schwefelſäure — beim Knochenmehl kann die Schwefelſäure auch
durch Dämpfen erſetzt werden — in lösliche zu verwandeln. Dieſes
Verfahren nennt man „Aufſchließen“ und die aufgeſchloſſenen rohen
Phosphate: „Superphosphate“. Der chemiſche Vorgang hierbei iſt
ein ſehr einfacher und kann durch folgende Formel angedeutet werden:
Die Schwefelſäure hat alſo mit dem Calcium der rohen Phosphate
ein Calciumſalz gebildet und ihr Waſſerſtoff iſt an Stelle des Calciums
28*
[436]Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des Bodens.
getreten, ein ſaures Calciumphosphat bildend, welches löslich iſt. Dieſe
Formel giebt auch gleichzeitig einen Anhalt zur Berechnung der zu
verwendenden Menge Schwefelſäure, wobei aber auch der im Roh-
phosphat enthaltene kohlenſaure Kalk berückſichtigt werden muß, da
dieſer nach der Formel:

gleichfalls Schwefelſäure abſorbiert.


Bei längerem Lagern aber kann bei Gegenwart von Eiſenoxyd
oder Thonerde ꝛc. ein Teil dieſer künſtlich löslich gemachten Phosphor-
ſäure wieder unlöslich werden und man nennt deshalb dieſe Phos-
phorſäure „zurückgegangene“; aus dieſem Grunde eignen ſich auch alle
Rohphosphate, welche genannte Subſtanzen enthalten, wie z. B. der
Lahnphosphorit ſehr ſchlecht zur Darſtellung von Superphosphaten.
Schließlich muß noch die ſogenannte „präzipitierte“ Phosphorſäure,
das iſt auf chemiſchem Wege gefällte, erwähnt werden.


Wie außerordentlich groß der Unterſchied in der Löslichkeit der
Superphosphate und Rohphosphate iſt, hat Dietrich in Verſuchen
nachgewieſen; nach ihm löſen 100 l kohlenſäurehaltiges Waſſer von
nachſtehend genannten Phosphaten an Phosphorſäure auf:

Trotzdem alſo der rohe Baker-Guano zu den am leichteſten lös-
lichen Rohphosphaten zählt, ſo iſt doch die Löslichkeit des halbſauren
Kalkphosphats 3,5 mal ſo groß.


Es iſt zweifellos, daß die kohlenſäurehaltige Bodenfeuchtigkeit
ſchließlich auch die rohen Phosphate auflöſt, aber dazu gehören ſehr
große Waſſermengen und ſehr lange Zeit, ſodaß gerade die junge
Pflanze, bei der es am wichtigſten iſt, ſie reichlich mit Nahrung zu
verſorgen, die Phosphorſäure noch nicht gelöſt vorfindet.


Außer der löslichen und unlöslichen Phosphorſäure muß noch
die „bodenlösliche“ genannt werden, d. h. eine Phosphorſäure, die
in Waſſer nicht wie die lösliche aufgelöſt wird, wohl aber — wenn auch
in etwas längerer Zeit — von der Bodenflüſſigkeit, worauf es doch
hier im weſentlichen ankommt. Hierher iſt die bereits erwähnte „zu-
rückgegangene“ Phosphorſäure zu zählen und diejenige, die in der
Thomasſchlacke enthalten iſt. Für letztere kommen daher im erſten Jahre
[437]Die konzentrierten Düngemittel.
nach Wagner nur ca. 50 % zur Geltung und muß zur Düngung deshalb
das doppelte Quantum gegenüber den Superphosphaten verwendet
werden; ihr Preis iſt allerdings auch nur ca. halb ſo hoch.


Den Einfluß der Phosphorſäure auf die Pflanzen ſchildert Maercker,
der auf dem Gebiete der Agrikulturchemie ſo hervorragende Forſcher,
wie folgt:


„Man ſchreibt der Phosphorſäure in der Pflanze einen Einfluß
auf die Bildung und Umſetzung der ſtickſtoffhaltigen Stoffe zu, weil
man dieſelbe als niemals fehlenden Begleiter des Stickſtoffs in der
Pflanze kennen gelernt hat. Überall, wo man die ſtickſtoffhaltigen
Stoffe auftreten ſah, waren ſie meiſtens ſogar in einem beſtimmten
Verhältniſſe (1 P2 O5 : 2,5 N) begleitet von der Phosphorſäure; wo die
ſtickſtoffhaltigen Stoffe aus Pflanzenteilen auswandern, ziehen ſie regel-
mäßig die Phosphorſäure mit ſich, wie beim Welken der Blätter, kurz,
an einer Wechſelbeziehung zwiſchen der Phosphorſäure und den ſtick-
ſtoffreichen Stoffen iſt nicht zu zweifeln. Es iſt daher in gewiſſem
Sinne berechtigt, wenn man der Phosphorſäure eine ſpeziſiſche Rolle
z. B. bei der Körnerbildung zuſchreibt, denn in den Körnern findet ja
die ſtärkſte Ablagerung der ſtickſtoffhaltigen Stoffe und damit auch ihres
Begleiters, der Phosphorſäure, ſtatt. Freilich dürfen wir die körner-
bildende Rolle der Phosphorſäure nur unter der Vorausſetzung als
ſpezifiſch anerkennen, daß genügende Mengen Stickſtoff vorhanden waren;
würde z. B. ein Überfluß an löslicher Phosphorſäure und ein Mangel
an Stickſtoff vorliegen, ſo würden wir mit demſelben Recht den Stick-
ſtoff als den körnerbildenden Stoff bezeichnen können. Da wir aber
Grund haben, häufiger einen Mangel an disponibler Phosphorſäure
als an Stickſtoff im Boden anzunehmen, ſo mag die körnerbildende
Rolle in dem obigen Sinne anerkannt werden.“


Einen wie tief eingreifenden Einfluß aber die Phosphorſäure auf
die chemiſche Zuſammenſetzung der Pflanze beſitzt, hebt Maercker be-
ſonders hervor, indem er betont, daß nicht nur durch die Phosphor-
ſäure die Quantität der Ernte vermehrt, ſondern auch die Qualität
weſentlich verbeſſert wird, indem z. B. die Zuckerrübe an Zuckergehalt
und die Kartoffel an Stärkemehl reicher werden.


Unter den überaus zahlreichen Erfolgen, welche die praktiſche Land-
wirtſchaft durch die Phosphorſäuredüngung zu verzeichnen hat, wollen
wir hier nur zwei hervorheben, weil dieſelben auf Bodenarten erzielt
wurden, welche man ihrer Geringwertigkeit wegen vor noch nicht langer
Zeit überhaupt unfähig für eine lohnende Kultur hielt, nämlich ſehr
leichter Sandboden und Moorboden. Schultz-Lupitz und Rimpau-
Cunrau, beides praktiſche Landwirte von hervorragender Bedeutung
auf dem Gebiete der praktiſchen Verwendung der wiſſenſchaftlichen
Forſchungen ernteten Hafer pro Hektar in Kilo:
[438]Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des Bodens.

Beide hatten außer der Phosphorſäure noch 600 kg Kainit (= ca.
75 kg Kali) pro Hektar verwendet und Schultz-Lupitz außerdem noch
Stickſtoff durch Gründüngung mit Lupinen, was auf dem Moorboden,
der genügend Stickſtoffnahrung hat, unnötig war.


Es erübrigt nun noch, die gebräuchlichſten Rohphosphate aufzu-
zählen, welche in drei große Gruppen eingeteilt werden können:


1. Die Knochenphosphate, wie Knochenkohle, Knochenaſche,
der phosphorſaure Kalk der Leimfabriken und die foſſilen Knochen.


2. Die Guano-Phosphate, welche von der Küſte des ſtillen Ozeans
importiert werden und ſtickſtoffrei ſind im Gegenſatz zum Peru-Guano.
Sie ſind aus den Exkrementen und Leibern der Vögel entſtanden und
waren zweifellos bei ihrer Entſtehung gleichfalls ſtickſtoffhaltig, aber da ſie
durch die Brandung des Meeres ſtets feucht gehalten wurden, verwandelte
ſich ihr Stickſtoff ſehr bald in Ammoniak und ſchließlich in Salpeterſäure,
wovon erſteres verdunſtete und letztere mit den vorhandenen Baſen
Salze bildend, ausgewaſchen wurde und in den Boden verſickert iſt.


3. Die mineraliſchen Phosphate, welche mit Ausnahme des
Thomasphosphats gleichfalls tieriſchen Urſprungs ſind, aber durch die
Länge der Zeit vollſtändig in Mineralien verwandelt wurden. Hierher
gehören die Kruſten-Guanos, die Koprolithe, das ſind vollſtändig ver-
ſteinerte Exkremente längſt abgeſtorbener Tiergeſchlechter, der Lahnphos-
phorit, auch nach ſeinem Fundort „Staffelit“ genannt, und andere.


Die Thomasſchlacke iſt ein Nebenprodukt der Stahlfabrikation im
Beſſemer-Prozeß. Nach Thomas und Gilchriſt wird behufs Entphos-
phorierung des geſchmolzenen Eiſens die Beſſemer-Birne mit Steinen von
Dolomit ausgekleidet. Der Phosphor des Eiſens wird infolge der
hohen Temperatur und des zugeführten Sauerſtoffes der atmoſphäriſchen
Luft zu Phosphorſäure oxydiert, und dieſe verbindet ſich mit dem Kalk
der Dolomitſteine und außerdem mit direkt hinzugegebenem Kalk zu phos-
phorſaurem Kalk, welcher — nach Beendigung des Prozeſſes als Schlacke
gewonnen — fein gemahlen als Düngemittel in den Handel kommt.
Die Produktion iſt jetzt in Deutſchland jährlich 5 bis 6 Millionen Zentner
und deckt ungefähr ¼ des Bedarfs der Landwirtſchaft an Phosphorſäure.


Wenn auch für eine intenſive Kultur die Zufuhr von konzentrierten
Stickſtoffdüngemitteln abſolut unerläßlich iſt, ſo ſollen doch hier auch
diejenigen Mittel erwähnt werden, mit deren Hülfe man den Boden außer
durch die käuflichen Düngemittel mit Stickſtoff bereichern kann. Solche
[439]Die konzentrierten Düngemittel.
ſind die Verwendung von gekauften ſtickſtoffreichen Futtermitteln, wie
Träber ꝛc., der Anbau ſtickſtoffſammelnder Pflanzen, welche ſpäter ein-
gehender behandelt werden ſollen, und vor allen Dingen die Verhinderung
des Stickſtoffverluſtes im Stallmiſt. Wie ſchon vorher erwähnt, iſt dies
durch Zuſatz von Superphosphat-Gips oder Kali ꝛc. leicht zu erzielen,
und hier ſoll nur noch mit Zahlen belegt werden, welch ein unge-
heures Vermögen bei nachläſſiger Behandlung des Stallmiſtes jährlich
verloren geht. Holdefleiß weiſt nach, daß ganz abgeſehen von den
Verluſten, welche durch Abfließen und Verſickern der Jauche entſtehen,
allein 20 % des Stickſtoffs und mehr bei nicht rationell behandeltem
Stallmiſt verdunſtet, d. h. jährlich pro Stück Großvieh ein Verluſt von
15 bis 16 kg Stickſtoff, welche einer Menge von 2 Zentnern Chiliſalpeter
im Preiſe von ca. 20 Mark entſprechen. Preußen allein hat dadurch bei
einem Beſtand von 8,700,000 Stück Großvieh einen Verluſt von jährlich
174 Millionen Mark. Würde man danach den Verluſt von ganz
Deutſchland oder gar für alle kultivierten Länder berechnen, ſo erhält
man ſo erſchreckend große Zahlen, daß es in der That ganz unbe-
greiflich iſt, wie die überwiegend größten Kreiſe heute noch ſo einfache
und ſo ſicher wirkende Hilfsmittel in ihrer unverantwortlichen Läſſigkeit
unbenutzt laſſen.


Die Lieferanten der käuflichen Stickſtoffdüngemittel ſind der Chili-
ſalpeter, die Ammoniakſalze und zahlreiche tieriſche Abfälle, wie Blut,
Fleiſch, Lederabfälle, Horn, Haare, Wolle ꝛc.


Da die Pflanze ihren Stickſtoff-Bedarf in Geſtalt von ſalpeter-
ſauren Salzen aufnimmt, ſo iſt der Chiliſalpeter d. i. ſalpeterſaures
Natron, das wichtigſte der genannten Düngemittel. Er, wie alle anderen
ſalpeterſauren Salze entſtehen durch Oxydation des Ammoniaks oder des
Stickſtoffs in tieriſchen Abfällen durch den Sauerſtoff der atmoſphäriſchen
Luft. Seine Wirkung iſt eine ſehr ſchnelle und ihn vollſtändig auf-
brauchende, alſo eine Nachwirkung dieſes Düngemittels iſt daher nicht
nur nicht zu erwarten, ſondern es verlangt im Gegenteil reichliche Zu-
fuhr auch aller anderen Nährſtoffe, weil es gerade durch ſeine ſchnelle
Wirkung den Boden ſtark erſchöpft. Beſonders muß es gleichzeitig mit
den Phosphaten gegeben werden, denn dieſe neutraliſieren durch ihre
die Frühreife bedingende Wirkung ſeine Eigenſchaft, die Vegetationszeit
zu verlängern.


Die Ammoniakſalze — in der Landwirtſchaft ſchlechtweg ſo ge-
nannt — ſind immer ſchwefelſaures Ammonium und werden als
Nebenprodukt bei der Leuchtgasfabrikation, neuerdings auch bei den
Kokereien und dem Hochofenbetriebe aus der Steinkohle gewonnen.
Das ſich bei der trockenen Deſtillation derſelben bildende Ammoniak
wird in Schwefelſäure aufgefangen und kryſtalliſiert dann beim Ein-
dampfen heraus: die Bildung des ſchwefelſauren Ammoniak iſt alſo eine
einfache Addition, wie folgende Formel zeigt:

[440]Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des Bodens.

Da uns dieſe Stickſtoffquelle im Inlande in ausreichender Menge
zur Verfügung ſteht, während der Chiliſalpeter importiert werden muß
und für denſelben jährlich große Summen an das Ausland bezahlt
werden, ſo ſind zahlreiche Verſuche von hervorragenden Forſchern
wie Maercker, Stutzer, Wagner, Wolff u. a. darüber angeſtellt worden,
wie ſich die Wirkungen dieſer beiden Stickſtoff-Düngemittel zu einander
verhalten, bez. ob es nicht möglich ſei, den Chiliſalpeter ganz durch
das Ammoniakſalz zu erſetzen. Alle dieſe Verſuche haben aber im
weſentlichen ergeben, daß der Chiliſalpeter bedeutende Vorteile vor dem
Ammoniakſalz bietet. So wirkt er z. B. ſchneller, und das iſt ganz
erklärlich, weil er bereits ein fertiges ſalpeterſaures Salz iſt, während
das Ammoniak erſt zu Salpeterſäure oxydiert werden muß. Ferner
wirkt der Stickſtoff im Chiliſalpeter in den allermeiſten Fällen intenſiver,
als dieſelbe Stickſtoff-Menge in dem Ammoniakſalz. So hat z. B.
Stutzer bei je 100 kg Chiliſalpeter in 144 Felddüngungsverſuchen 940 kg
Zuckerrüben mehr erhalten, als bei derſelben Stickſtoff-Menge im
Ammoniak; bei der Futterrübe nach Verſuchen in England war der
Mehrertrag ca. 1700 kg, bei den Kartoffeln 164 kg u. ſ. f., endlich bei
den Halmfrüchten nimmt man ſogar einen ca. 20 % geringeren Dünge-
wert für das Ammoniakſalz an. Dieſe geringere Wirkung für den
Stickſtoff im Ammoniak erklärt ſich daraus, daß nicht überall die Ver-
hältniſſe der notwendigen Umbildung des Ammoniak zur Salpeterſäure
günſtig ſind, daß ferner während dieſer Umbildung ca. 10 % Stickſtoff
für den vorliegenden Zweck verloren gehen, und daß endlich in manchen
Fällen das im Chiliſalpeter enthaltene Natron das Kali zu erſetzen
ſcheint, wo dieſes im Boden fehlt, und ſogar eine eigene günſtige
Wirkung auch neben dem Kali äußert. Sehr überſichtlich ſtellt Wagner
die von ihm nach dieſer Richtung hin gemachten Verſuche in ſeiner
Broſchüre: „Wie wirkt das ſchwefelſaure Ammoniak im Vergleich zum
Chiliſalpeter“? zuſammen und giebt darin zahlreiche photographiſche
Abbildungen der von ihm hierbei erzielten Erntereſultate, von denen
hier nur (Fig. 220) die Verſuche mit Gerſte gezeigt werden mögen. Die
gleiche Menge ein und desſelben in Gefäße gefüllten Bodens wurde
vorher gleichmäßig mit Phosphorſäure und Kali gedüngt und erhielten
die mit O bezeichneten Gefäße gar keine Stickſtoffdüngung, die mit S
bezeichneten ½ g Stickſtoff in Form von Chiliſalpeter und die mit A
bezeichneten 1,5 g Stickſtoff in Form von ſchwefelſaurem Ammoniak.
Trotzdem letztere die dreifache Stickſtoffmenge erhalten hatten, ſieht man
an der Abbildung doch deutlich die ſchwächere Wirkung und gleich-
zeitig bei Vergleich aller Gefäße die eminente Wirkung der Stickſtoff-
düngung überhaupt.


Die tieriſchen Abfälle endlich wirken infolge ihres Stickſtoffgehaltes
wie die oben beſchriebenen Düngemittel, nur weſentlich langſamer, da
ihre Zerſetzung viel Zeit in Anſpruch nimmt. Sie ſind ſehr zahlreich,
und ſei nur im allgemeinen erwähnt, daß der Reichtum, den ſie in
[[441]]

Figure 212. 0

g Stickſtoff.
Fig. 220.
0,5 g Stickſtoff
in Form von Chiliſalpeter.
1,5 g Stickſtoff
in Form von ſchwefelſaurem Ammoniak.


[figure]

Düngungsverſuche mit Gerſte.
Die Gefäße wurden gedüngt mit Phosphorſäure, Kali und:


[442]Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des Bodens.
Bezug auf das Nationalvermögen enthalten, noch inſofern bei weitem
nicht genug berückſichtigt wird, als ihre Verwendung eine viel umfang-
reichere ſein könnte.


Bei allen dieſen Stickſtoff-Düngemitteln, welche erſt ſalpeterſaure
Salze bilden müſſen, hat außer der ſelbſtverſtändlichen Zufuhr von
Phosphorſäure und Kali, der Kalk eine überaus günſtige Wirkung,
weil er die Bildung der Salpeterſäure ſehr fördert. So erhielt Märcker
folgende Ernteerträge als Mehrerträge gegen die Parzellen ohne Kalk
und Ammoniakſalz pro Hektar im Durchſchnitt an Körnern oder Knollen
in Kilo bei Düngung mit:

Die Zahlen der dritten Rubrik, welche die Mehrerträge bei Zuſatz
von Kalk und Ammoniakſalz angeben, ſind ſo überwiegend, daß ſie
eines Kommentars nicht bedürfen, und gleichzeitig beſtätigen dieſe Verſuche,
daß Ammoniakſalze in ſaurem Boden nicht zur Geltung kommen, ſondern
dieſer erſt gut gekalkt werden muß.


Als eine der wichtigſten Errungenſchaften der neueren Zeit iſt die
Stickſtoff-Düngung zu betrachten, zu welcher bei den ſtickſtoffſammelnden
Pflanzen die atmoſphäriſche Luft den Stickſtoff liefert. Bouſſingault,
Gilbert, Hellriegel, Lawes, Märcker, Schultz-Lupitz, Wagner, Wolff u. a.
haben hierüber zahlreiche Verſuche angeſtellt und im weſentlichen folgendes
gefunden. Die Leguminoſen und Futterarten ſind „ſtickſtoffſammelnde“
Pflanzen, d. h. ſie ſind nicht nur imſtande, trotzdem ihre Subſtanz ſelbſt
ſehr ſtickſtoffreich iſt, ohne die ſo wichtige, aber auch teure künſtliche
Stickſtoffdüngung zu gedeihen, ſondern ſie bereichern den Boden noch
direkt an Stickſtoffnahrung. Der Stickſtoff der atmoſphäriſchen Luft
wird von ihren Wurzeln unter Mithülfe gewiſſer Mikroben zu
Salpeterſäure verarbeitet und als ſolche aufgenommen. Werden nun
nach der Ernte dieſe ſehr ſtickſtoffreichen Futtermittel — falls man
nicht vorzieht, ſie direkt einzuackern — verfüttert, ſo kehrt ihr Stick-
ſtoff im Stallmiſt auf den Acker zurück, während ihre noch ſtickſtoff-
reicheren Wurzeln beim Umackern von vorn herein dem Boden
verbleiben, und ſo kommt der geſamte, aus der atmoſphäriſchen
Luft entnommene Stickſtoff den nachfolgenden Kulturpflanzen zu gute.
Dieſe Methode anwendend, hat Schultz-Lupitz durch Kultur von Le-
[443]Die konzentrierten Düngemittel.
guminoſen und geeigneten Kleearten — alſo ſtickſtoffſammelnden Pflanzen
— auf ſehr armem, leichtem Sandboden bei Zufuhr von Kali und
Phosphorſäure in der darauf folgenden Kultur von Kartoffeln und
Halmfrüchten ſo reiche Ernten erzielt, wie man noch bis vor kurzem bei
dieſer Bodenart niemals für möglich gehalten hätte. Fig. 221 iſt eine
weitere Abbildung der von Wagner*) photographierten Erntereſultate und
zeigt deutlich, wie Erbſen gegenüber dem Hafer die Stickſtoffdüngung
entbehren können. Die mit O bezeichneten Gefäße erhielten keine
Düngung, die mit K P bezeichneten, eine Düngung von Kali und
Phosphorſäure, die mit K P S bezeichneten eine ſolche von Kali, Phos-
phorſäure und Stickſtoff. Hierbei entwickelte ſich der Hafer in den un-
gedüngten und den mit Kali und Phosphorſäure gedüngten Gefäßen
nur äußerſt kümmerlich, während die Zufuhr von Stickſtoff ihn zu
höchſtem Ertrage brachte. Die Erbſen zeigen hingegen ſchon ein vor-
zügliches Reſultat ohne Stickſtoffdüngung, bei bloßer Zufuhr von Kali
und Phosphorſäure, indem ſie aus dem unerſchöpflichen Vorrat der
atmoſphäriſchen Luft den Stickſtoff entnehmen und ſich daraus die auch
ihnen ſo notwendige Stickſtoffnahrung ſelbſt bereiten. Es darf aber
aus dieſen an und für ſich ſo wertvollen Forſchungen nicht etwa ge-
ſchloſſen werden, daß eine intenſive Kultur der ſtickſtoffzehrenden Pflanzen,
wie der Halmfrüchte ꝛc. ohne Stickſtoffdüngung durch Chiliſalpeter oder
Ammoniakſalz möglich ſei, denn das iſt nicht der Fall. Ja ſelbſt die
ſtickſtoffſammelnden Pflanzen entwickeln ſich bei einer, wenn auch noch
ſo geringen Stickſtoffzufuhr namentlich auf ſtickſtoffarmem Boden weſentlich
beſſer, weil ſie durch dieſe in ihrer früheſten Jugend, wo ihre Wurzeln
noch nicht genügend ausgebildet ſind, um den Stickſtoff der atmoſphä-
riſchen Luft verbreiten zu können, über manche Fährniſſe hinweg
kommen.


Als Stickſtoff und gleichzeitig Phosphorſäure enthaltende
Düngemittel ſind noch der Peru-Guano, die Knochen und endlich die
ammoniakaliſchen wie Salpeter-Superphosphate zu nennen.


Für die dem Boden nötige Kalizufuhr haben wir in den Staß-
furter Kaliſalzen eine reiche Quelle. Es iſt nicht zu verkennen, daß
die Verwendung dieſer Salze in der Landwirtſchaft zuerſt großes Miß-
trauen begegnete, und daß dieſelben ſelbſt heute noch an vielen Orten
nicht beliebt werden. Dieſes Mißtrauen entſtand nicht etwa — wie
ſo häufig — aus Voreingenommenheit, ſondern reſultierte aus direkten
Mißerfolgen, aber die Unterſuchungen aller dieſer Mißerfolge bewieſen
unwiderleglich, daß dieſelben nur durch die falſche Verwendungsart
veranlaßt wurden. Teils waren es den Pflanzen ſchädliche Ver-
unreinigungen dieſer Salze, teils im Boden fehlende andere Nährſtoffe,
wie Stickſtoff und Phosphorſäure, welchen dieſe Mißerfolge zuzuſchreiben
[444]Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des Bodens.

Kali-Phosphat-Düngungsverluche mit Erbſen und Hafer.


[figure]

Ohne Düngung.
Fig. 221.
Kali-Phosphat-Düngung
ohne Stickſtoff.
Kali-Phosphat-Düngung
mit Stickſtoff.


[445]Die konzentrierten Düngemittel.
ſind, und endlich eignet ſich nicht jede Bodenart zur Kalidüngung.
Heute ſind alle Bedingungen, unter welchen das Kali günſtig wirken
muß, genügend bekannt und unter Berückſichtigung derſelben gute Er-
folge garantiert. Für gewiſſe Bodenarten, wie z. B. Wieſen und vor
allen Dingen Moorboden, iſt die Kalidüngung geradezu unerläßlich
und die Rimpauſche Kulturmethode für Moorboden, welche gewaltige
Moore, die bisher nicht bebaut werden konnten, der Kultur aufſchließt,
iſt ohne Kalidüngung überhaupt nicht denkbar.


Von welch eminenter Bedeutung für die Geſamterträge eines
Landes die richtige Anwendung der vorher beſchriebenen agrikultur-
chemiſchen Lehren ſind, zeigen die Feld- und Vegetationsverſuche, von
welchen hier zum Schluß einige angeführt werden mögen. England
iſt uns auf dieſem Gebiete Jahrzehnte voraus, und ſchon zu einer
Zeit, in welcher in Deutſchland noch ein für die Entwicklung der
Landwirtſchaft ſo hervorragender Mann, wie Albert Thaer, die Düngung
mit Knochen bez. deren Produkten eine Kapitalverſchwendung nannte,
wanderten dieſe Knochen zu möglichſt billigen Preiſen in die chemiſchen
Fabriken Englands, wohin 1822 die Schlachtfelder der Freiheitskriege
allein 33,000 Tons lieferten. Die erſten exakt und konſequent durch-
geführten Felddüngungsverſuche wurden während 26 Jahren von
1852—1877, in Rothamſted von Lawes und Gilbert gemacht und
lieferten im Durchſchnitt pro Hektar in Kilo:

In Woburn, einem Gute des Herzogs von Bedford, wurden unter
Völkers Leitung im Durchſchnitt bei 10 aufeinanderfolgenden Verſuchen
von 1877—1886 gleichfalls pro Hektar in Kilo erzielt:

[446]Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des Bodens.

Der Mineraldünger beſtand bei dieſen Verſuchen aus Kalkſuper-
phosphat, Kali, ſchwefelſaurem Natron und Bitterſalz; einfaches
Ammoniakſalz oder Chiliſalpeter bedeutet, daß 48 kg Stickſtoff pro Hektar,
„doppeltes“, daß 96 kg Stickſtoff pro Hektar gegeben wurden.


Ferner zeigen 22 Jahre lang durchgeführte Verſuche auf Wieſen,
daß auch hier die Wirkung der künſtlichen Düngeſtoffe von ganz eminenter
Bedeutung iſt, und zwar wie bei den anderen Kulturen nicht nur für
die Quantität, ſondern auch für die Qualität des gewonnenen Futters.
Sowohl Schmackhaftigkeit wie Nährkraft wurden weſentlich verbeſſert,
was ſofort einleuchtend iſt, wenn man berückſichtigt, daß bei dieſen
Verſuchen, wenn vorherrſchend mit Phosphorſäure und Kali gedüngt
wurde, Graswieſen in Klee- und Wickenwieſen verwandelt worden ſind.
Hierdurch ſoll nicht etwa geſagt werden, daß genannte Düngemittel im-
ſtande ſeien, Klee- und urſprünglich zu erzeugen, ſondern vielmehr, daß
ſie die Bedingungen gewähren, unter welchen dieſe ſich entwickeln können,
anſtatt ſich von dem Graſe überwuchern zu laſſen.


Für das Düngebedürfnis der Pflanzen, das ja — wie wir z. B.
bei den ſtickſtoffſammelnden Pflanzen geſehen haben — häufig ein ganz
anderes iſt, als ihr Nahrungsbedürfnis, hat Wolff folgendes, ſehr
inſtruktives Schema aufgeſtellt:

Dieſe Verteilung der drei weſentlichen konzentrierten Düngemittel
bedeutet, daß die Halmfrüchte unter den durchſchnittlich vorhandenen
Verhältniſſen, wenn ſie gute Ernten liefern ſollen, vorzugsweiſe eine
reichliche Menge Stickſtoff verlangen, zunächſt kommt dann die Phosphor-
ſäure in Betracht und zuletzt erſt das Kali. Klee, Luzerne, ähnliche
Futterkräuter und Wieſen verlangen in erſter Linie Kali, in zweiter
Phosphorſäure und die geringſte Bedeutung hat hier der Stickſtoff.
Rübenartige Gewächſe geben guten Ertrag nach Phosphorſäure, wobei
Stickſtoff und Kali ebenfalls von Wert ſind, jedoch der Stickſtoff von
höherem als das Kali. Kartoffeln verlangen gleichzeitig Stickſtoff und
Phosphorſäure, weniger direkte Kalizufuhr; die körnertragenden Hülſen-
früchte hingegen Kali und Phosphorſäure, während hier Stickſtoff
weniger in Betracht kommt. Den Ölfrüchten und anderen Handels-
gewächſen, wie Tabak, Geſpinſtpflanzen ꝛc. endlich, muß man alle drei
dieſer wichtigen Düngemittel in reichlicher Menge und leicht löslicher
Form zuführen, wenn man ohne „Raubbau“ zu treiben, lohnende
Ernteerträge erzielen will.


Um den Wert der Düngung mit konzentrierten Düngemitteln noch
recht anſchaulich vor Augen zu führen und gleichzeitig zu beweiſen,
[447]Die konzentrierten Düngemittel.
daß die Verwendung dieſer Düngemittel eine unnütze Verſchwendung
iſt, wenn auch nur einer der weſentlichen Nährſtoffe fehlt, ſeien noch
zwei der bereits erwähnten Wagnerſchen Photographieen ſeiner Ver-
ſuche hier nachgebildet. Fig. 222 zeigt Verſuche mit Sommerweizen und
Gerſte ohne und mit Stickſtoffdüngung. In die Vegetationsgefäße
wurde im Frühjahr ein ſtickſtoffarmer Ackerboden gefüllt; die mit O
bezeichneten erhielten nur eine Kaliphosphat-Düngung, die mit S be-
zeichneten außerdem noch 10 g Chiliſalpeter in jedes Gefäß. Der Unter-
ſchied in der Entwickelung der Pflanzen iſt überaus auffallend, denn
Weizen und Gerſte entwickelten ſich ohne Stickſtoff, trotz der Kaliphosphat-
Düngung nur kümmerlich, während bei Zufuhr von Stickſtoff eine

Stickſtoff-Düngungsverſuche
mit Weizen. mit Gerſte.


Figure 213. Fig. 222.

Kali-Phosphat-Düngung
ohne Stickſtoff.
Kali-Phosphat-Düngung
mit Stickſtoff.
(10 g Chiliſalpeter per Gefäß.)
Kali-Phosphat-Düngung
ohne Stickſtoff.
Kali-Phosphat-Düngung
mit Stickſtoff.
(10 g Chiliſalpeter per Gefäß.)


geradezu üppige Vegetation eintrat; der Ertrag hatte ſich hierbei um
das Dreifache geſteigert!


Fig. 223 zeigt Kali-Düngungsverſuche mit Sommerroggen auf
Lehm- und Sandboden, welchen das Maximalquantum an Stickſtoff und
Phosphorſäure zugeſetzt war. Auch hier ſieht man wie überaus üppig
ſich der Roggen entwickelt, nachdem man pro Gefäß 0,75 g zugeſetzt
hatte, während er ohne Kali beſonders auf dem Sandboden nur
ſehr kümmerlich fortkam. Der Lehmboden war von Natur aus reicher
an Kali, als der Sandboden, denn er hatte 0,23 % davon, während
der Sandboden nur 0,04 % Kali enthielt. Gerade dieſe letzten Ver-
ſuche ſind aus den zahlreichen Verſuchen Wagners herausgegriffen, weil
man bis in neuerer Zeit annahm, und an vielen Orten vielleicht heute
noch annimmt, daß das Düngebedürfnis der Halmfrüchte für Kali ein
[448]Die künſtlichen Düngeſtoffe und die Chemie des Bodens.
ſehr untergeordnetes ſei: Schultz-Lupitz behauptet das Gegenteil und
die Abbildungen in Fig. 223 zeigen die Richtigkeit ſeiner Anſicht, nämlich,
daß die Kalidüngung für Halmfrüchte nichts weniger als unweſentlich iſt.


Zum Schluſſe ſoll noch die hohe volkswirtſchaftliche Bedeutung
der richtigen und eingehenden Verwendung der konzentrierten Dünge
mittel erwähnt werden. Schultz-Lupitz*) berechnet, daß die großen
Summen, welche Deutſchland jährlich für notwendige Nahrungsmittel
an das Ausland bezahlt — 1890 waren es 720 Millionen Mark —
leicht erſpart werden können durch genügende Produktion im Inlande,
womit gleichzeitig die ſo viel umſtrittene Frage der Kornzölle gelöſt
wäre. Die Produktion im Inlande würde bei einer Mehrernte von

Kali-Düngungsverſuche
mit Roggen auf Lehmboden. mit Roggen auf Sandboden.


Figure 214. Fig. 223.

Ohne Kali-Düngung. Gedüngt mit 0,75 g Kali. Ohne Kali-Düngung. Gedüngt mit 0,75 g Kali.


durchſchnittlich 100 kg pro Hektar der angebauten Körnerfrüchte an Korn
genügen, um den geſamten Bedarf zu decken, und ſomit wäre eine Ein-
fuhr vom Auslande überflüſſig. Iſt das zu erzielen wohl möglich?
Mit den Hülfsmitteln, welche der heutige Stand der Wiſſenſchaft ge-
währt, außerordentlich leicht, man muß nur wirklich ernſt wollen und
darf gewiſſe Ausgaben nicht ſcheuen, zumal man ſicher iſt, das Vielfache
dieſer Summen ſchon bei der nächſten Ernte zurückzuerhalten. Schultz-
Lupitz ſagt darüber wörtlich: „Unternehmen Sie, meine Herren, eine
Reiſe in das Land, ſehen Sie, wie ausgedehnte Bodenflächen, Flächen,
[449]Die konzentrierten Düngemittel.
welche zum Teil gar nicht ſo ſchlechten und durchweg enorm verbeſſerungs-
fähigen Boden haben, daliegen, eine ſchwache, kümmerliche verunkrautete
Ernte aufweiſend. Iſt es da nicht klar, daß dieſe Flächen mit
relativ geringem Aufwand ganz andere Ernten zu tragen vermögen?“
Alles das iſt möglich bei ausreichendem Erſatz der Pflanzennährſtoffe
im Boden, eine für die weitaus meiſten Böden Deutſchlands völlig
dringliche Bedingung. Gelingt es, dieſe Errungenſchaften der Wiſſen-
ſchaft in die Praxis überzuführen und zwar bis in die kleinſten bäuer-
lichen Wirtſchaften hinein, ſo wird der eigene Boden leicht imſtande
ſein, eine reichliche und billige Frucht hervorzubringen, welche genügt,
das ganze Volk billig zu ernähren.


Wir glauben dieſe Abhandlung nicht beſſer ſchließen zu können,
als mit den lichtvollen Worten Wolffs: „Ein heller Kopf und ein
klares Auge, ein durch Wiſſenſchaft aufgeklärter Geiſt und durch reiche
Erfahrung und eigene Beobachtung geſchärfter Blick, — das ſind Dinge,
welche der Landwirt der Jetztzeit beſitzen und fort und fort in immer
höherem Grade ſich anzueignen beſtrebt ſein muß, wenn er ſeinem Be-
rufe genügen und nicht dem Schlendrian verfallen will, nicht gedankenlos
nur nachahmen will, was ſeine Vorgänger vor ihm getrieben haben.
Nur an der Hand und im richtigen Verſtändnis der neuen Lehre von
der Erſchöpfung des Bodens und von dem Erſatz, welchen man dem-
ſelben für die mit den Ernten entzogene Pflanzennahrung zu gewähren
hat, iſt es dem Landwirt möglich, fortdauernd die höchſte Rente für
Feld und Wieſen zu erzielen!“ Dr. Max Weitz.


2. Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.


Im vorhergehenden Kapitel iſt die Wichtigkeit einer zweckmäßigen
mechaniſchen Bearbeitung des Bodens betont worden unter Erwähnung
der verſchiedenen Meliorationsmethoden und der durch dieſelben beab-
ſichtigten Veränderungen in der phyſikaliſchen Beſchaffenheit des Bodens.
Im nachſtehenden ſollen nun die heute für dieſen Zweck verwendeten
Maſchinen und Geräte beſchrieben werden. Dieſelben ſind in neuerer
Zeit zu ſehr hoher Vollkommenheit verbeſſert worden, und hat die Ein-
führung von Maſchinen für die bei dem Feldbau vorzunehmenden
Arbeiten ſich ſchon lange nicht mehr damit begnügt, nur bei der
mechaniſchen Bearbeitung des Bodens ſelbſt Hilfe zu leiſten, ſondern
wir finden heute auch ſehr genial konſtruierte und vollkommene Ma-
ſchinen, ſowohl im Dienſte der Arbeit des Säens, als auch der Ernte.
Das Buch der Erfindungen. 29
[450]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.
Nach dieſem Geſichtspunkte können alle landwirtſchaftlichen Maſchinen
in drei Gruppen geteilt werden, die ſich als Bodenbearbeitungs-, als
Saat- und Erntemaſchinen bezeichnen laſſen.


a) Die Bodenbearbeitungsmaſchinen.


Die wichtigſte der Bodenbearbeitungsmaſchinen, iſt der Pflug, und
es iſt beſonders intereſſant, die Entwickelung dieſes Gerätes zu be-
trachten. Der Pflug hat die Aufgabe, einen beſtimmten Erdſtreifen
völlig umzuwenden, und zwar je nach dem vorliegenden Zweck und der
vorhandenen Beſchaffenheit des Bodens dieſe Arbeit mehr oder weniger
tief, aber ſtets von einer ganz beſtimmten Tiefe auszuführen. Ein
ſolcher Erdſtreifen muß für den umzuwendenden Teil wagerecht und
ſenkrecht ſcharf abgegrenzt werden und die zwiſchen je zwei ſolcher
umgewendeten Erdſtreifen entſtehenden Furchen müſſen vollſtändig rein
und ausgeräumt erſcheinen. Je vollkommener nun bei möglichſt ge-
ringem Kraftaufwand der Pflug dieſe Aufgabe löſt, deſto beſſer iſt er
natürlich, und recht zahlreiche Konſtruktionen ſind für die Löſung dieſer
Aufgabe in Konkurrenz getreten.


Als der Menſch anfing, den Boden zu bearbeiten, wurde die
heute vom Pfluge verrichtete Arbeit unter Zuhilfenahme verſchiedener
Gerätſchaften bewerkſtelligt, und zwar waren es Spaten, Schaufel,
Hacke und ſchließlich Rechen, welche dem Menſchen hierzu dienten und
deren Arbeit der Pflug übernommen hat, indem gleichzeitig an Stelle
der verſchiedenen Kräfte, welche zur Handhabung jener Gerätſchaften
notwendig waren, nunmehr eine einzige, nämlich die Zugkraft, trat.


Soweit unſere Forſchungen zurückreichen, finden wir den erſten
Pflug bei den Ägyptern und zwar in Abbildungen auf altägyptiſchen
Denkmälern, gleichzeitig ein Beweis dafür, daß der Ackerbau ſchon
damals in hohen Ehren ſtand. Dieſer Pflug (Fig. 224) beſtand aus
einem ſtarken, gekrümmten und an einem Ende zugeſpitzten Baumzweige a,
deſſen anderes Ende in zwei Äſte b b auslief, die als Handhaben
dienten, und an welche die Zugſtange c mit dem für das Anſpannen
des Zugtieres notwendigem Querholz d angebracht war. Die Über-
lieferungen der römiſchen Schriftſteller, ganz beſonders die ſo vor-
züglichen des Plinius, dem wir zahlreiche, ſehr ſchätzenswerte Mit-
teilungen über den Ackerbau der Römer und Griechen verdanken,
machen uns auch mit der erſten Verbeſſerung des ägyptiſchen Pfluges
durch die Römer bekannt. Sie ſetzten, wie es Fig. 225 zeigt, an dem
unteren Teile des Baumes a die Pflugſchar b aus Eiſen an, ohne zuerſt
die Zugführung c d weſentlich zu verändern. Gerade dieſer Pflug iſt
ſehr inſtruktiv für die Entſtehung des Pfluges aus der Schaufel, denn
er zeigt faſt das Bild einer ſchräg in den Boden geſtoßenen Schaufel,
deren Herausheben, wie es vorher nach jedem Spatenſtich notwendig
war, unterbleibt, und bei welcher für die ſtoßende Kraft des Menſchen die
[451]Die Bodenbearbeitungsmaſchinen.

Figure 215. Fig. 224.

Ägyptiſcher Pflug.


Figure 216. Fig. 225.

Römiſcher Pflug.


Figure 217. Fig. 226.

Römiſcher Pflug der ſpäteren Zeit.


Figure 218. Fig. 227.

Ruchadlo-Pflug.


Figure 219. Fig. 228.

Kultur-Pflug.


Figure 220. Fig. 229.

Amerikaner Pflug.


29*
[452]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.
von einem Tiere geleiſtete Zugkraft getreten iſt. Die nächſte weſent-
liche Verbeſſerung, auch noch von den Römern ſelbſt vorgenommen,
beſtand darin, daß ſie den vorderen Teil des Pfluges auf Räder
legten und die Pflugſchar, aus zwei Eiſenſtücken beſtehend, an einem
ſchlittenartigen Klotz befeſtigten, wie es Fig. 226 zeigt. Mit dieſer
Konſtruktion ſind wir denjenigen der modernen Pflüge bereits ſo
nahe gekommen, daß wir die weitere Entwickelung des Pfluges ver-
laſſen und zur Beſchreibung der heute üblichen Konſtruktionen der-
ſelben übergehen können. Der Wert dieſer modernen Pflüge liegt
hauptſächlich darin, daß ſie bei großer Krafterſparnis jede gewünſchte
Art des Pflügens durch beſonders zu dieſem Zwecke gewählte Bauarten
ermöglichen.


Schon die Form und Größe des Pflugkörpers wird nicht mehr
beliebig gewählt, ſondern der betreffenden Bodenart entſprechend, und
unterſcheidet man danach die in den Figuren 227—229 dargeſtellten
drei Hauptarten. Der Ruchadlo-Pflug (Fig. 227) iſt ein kurzer, breiter,
gedrungener Keil, bei welchem Schar- und Streichbrett in faſt cylin-
driſcher Form ſteil und ſchaufelförmig aufwärts ſteigen. Hierdurch
iſt der von der Schar aufgenommene Boden gezwungen, am Streich-
brett emporzuſteigen, wird durch die Krümmung desſelben zerkrümelt
und fällt dann ſich überſtürzend in die offene Furche. Man ver-
wendet dieſe Form der Schar beſonders auf naturlockeren, leichten und
mittelſchweren Bodenarten, Sand- und Geröllboden, ſowie auf mildem
Lehmboden. Der Kulturpflug (Fig. 228) hat ein längeres und weniger
ſteiles Streichbrett, als der Ruchadlo-Pflug, wodurch der von der
Schar aufgenommene Boden über die Kante des Streichbrettes in die
Furche fällt, wobei er gekrümelt wird. Dieſer Pflug eignet ſich be-
ſonders für nicht zu bindigen Boden. Der Amerikaner-Pflug (Fig. 229)
endlich iſt für Thon- und Lehmboden, ſowie rohen Boden jeder Art
geeignet. Der Körper dieſes Pfluges bildet einen langen ſpitzen Keil;
Schar und Streichbrett ſteigen in flachem Bogen aufwärts, wobei ſich
letzteres in ſchraubenförmiger Windung nach rückwärts zieht. Der
Boden gleitet an dem Streichbrett entlang, wird der Windung des-
ſelben folgend, gewendet und in die Furche gedrängt, wobei er je nach
ſeiner Bindigkeit mehr oder weniger bricht.


Der Normalpflug (Fig. 230) iſt ſo konſtruiert, daß alle mit dem-
ſelben gezogenen Furchen ganz gleichlaufend werden müſſen. Zu
dieſem Zweck läuft das eine der beiden Räder, auf welchen der Pflug
ruht, in der letzten der gezogenen Furchen, während das andere auf
dem feſten Lande läuft und der gewünſchten Furchentiefe entſprechend
mittelſt eines ſinnreich konſtruierten Hebelmechanismus genau eingeſtellt
werden kann. Beim Ausrücken ſtellen ſich die beiden unteren Rad-
bahnen wieder in eine Horizontale, wie es Fig. 231 zeigt, wo auch
gleichzeitig das hinten anzubringende kleine Rad ſichtbar iſt, welches
für den Transport des Pfluges dient.


[453]Die Bodenbearbeitungsmaſchinen.
Figure 221. Fig. 230.

Normalpflug.


Figure 222. Fig. 231.

Normalpflug in Transportſtellung.


Der Rajolpflug (Fig. 232) krümelt und wendet bei einer relativ ſehr
geringen Kraftaufwendung die Ackerfurche ſehr vollſtändig um, und leiſtet
bei ſchon einmaliger Anwendung ganz erheblich mehr, als die ſo
mühſame Spatenkultur. Er ſchneidet die zu kultivierenden Furchen-
ſtreifen in zwei Hälften und zwar derartig, daß die obere Bodenſchicht
mit den Stoppeln, Gras und Dünger gelockert nach unten gelegt,
die untere Erdſchicht hingegen gehoben und loſe gekrümelt darüber ge-
deckt wird. Die Form des Schar- und des Streichbrettes wird der
betreffenden Bodenart entſprechend gewählt. Das ſich verhältnis-

Figure 223. Fig. 232.

Rajolpflug.


[454]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.
mäßig beſonders an dem unteren Teile ſchnell abnutzende Streichbrett
dieſer Pflüge iſt nach einer neueren Konſtruktion von W. Flöther in
zwei Teile geteilt und mittels Schrauben am Körper befeſtigt, ſo daß
beide Teile einzeln erſetzt werden können. Eine weſentliche Verbeſſerung
(Fig. 233) der für geringen Tiefgang beſtimmten Pflüge, wodurch die vor-
zunehmende Arbeit ſehr rationell verrichtet wird, beſteht darin, daß man
an denſelben zwei bis vier Schare anbringt. Fig. 233 zeigt einen ſolchen
zweiſcharigen, Fig. 234 einen dreiſcharigen Saatpflug, bei denen die

Figure 224. Fig. 233.

Zweiſchariger Pflug.


Figure 225. Fig. 234.

Dreiſchariger Pflug.


[455]Die Bodenbearbeitungsmaſchinen.
hinteren Stelzräder nur für den Transport des Pfluges angebracht ſind.
Dieſe Stelzräder können bei allen Pflügen auch durch Transportkarren er-
ſetzt werden, welche gleichzeitig die Pflugſchar während des Transportes
ſchützen, und zeigt Fig. 235 einen Pflug, deſſen Schar durch einen
Transportkarren gehoben und geſchützt iſt, während A den Karren vor

Figure 226. Fig. 235.

Transportkarre.


dem Gebrauche darſtellt. Im Gegenſatz zu den ſehr flach gehenden mehr-
ſcharigen Pflügen ſteht der Untergrund- oder Mineur-Pflug (Fig. 236).
Er dient zum Lockern des Untergrundes und wird in der Furche
hinter einem gewöhnlichen Pfluge angewendet. Dieſer Pflug lockert
und miſcht den Untergrund bis zu einer Tiefe von 10 bis 25 cm,
ſo daß, wenn der vorhergehende Pflug eine Furche von 20 cm Tiefe
gemacht hat, eine Lockerung des Bodens bis auf 45 cm Tiefe erreicht
werden kann. Bei dieſem Tiefpflügen ſind allerdings große Wider-
ſtände zu überwinden, welche — wie auch etwa vorhandene Steine —
die Scharſpitze ſchnell abnutzen. Aus dieſem Grunde beſteht die Schar-
ſpitze des Untergrundpfluges, wie es bei Fig. 236 erſichtlich iſt, aus
einem kräftigen, verſtellbaren Meſſer, welches leicht geſchärft, nachge-
ſtellt, oder auch ganz erſetzt werden kann. Zu den bisher beſprochenen

Figure 227. Fig. 236.

Mineur oder Untergrundpflug.


[456]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.
Pflügen iſt von den neueren Konſtruktionen noch der Wendepflug (Fig. 237)
zu erwähnen. Dieſer Wende- auch Zwillings- oder Kehrpflug genannt,
iſt für Gebirgsgegenden konſtruiert, wo das Auf- und Abwärtswenden
an den Hängen bisher eine ſehr mühſame Arbeit war. Mit dem

Figure 228. Fig. 237.

Wende- und Zwillingspflug.


Wendepflug wird das Wenden hingegen ſehr leicht, da er aus zwei am
Gründel vollſtändig drehbar angebrachten Pflugkörpern beſteht. Die
Drehſtelle iſt gegen das Einfallen von Erde geſchützt und die Räder
an dem Vorderkarren ſind bei dieſem Pfluge natürlich gleich groß, da
ſie ja abwechſelnd in der Furche gehen müſſen.


Außer zu direkten Lockerungen des Bodens, zu welchen die vor-
ſtehend beſchriebenen Pflüge dienen, wird der Pflug in der Landwirt-
ſchaft jetzt auch noch zu einigen anderen Arbeiten verwendet und ſollen
zum Schluſſe drei ſolcher Pflüge aufgeführt werden. Da iſt vor
allem der Jäte- und Häufelpflug (Fig. 238), welcher ſowohl zum
Behacken der Pflanzen bei Reihenkulturen, d. h. alſo zum Entfernen
des Unkrautes zwiſchen den Reihen, wie auch zum Behäufeln der
Pflanzen ſelbſt dient. Das Ausjäten des Unkrautes veranlaſſen die

Figure 229. Fig. 238.

Jäte- und Häufelpflug.


[457]Die Bodenbearbeitungsmaſchinen.
ſeitlichen Hackmeſſer, welche mittels eiſerner Kloben an dem Pflug-
balken befeſtigt ſind und der Entfernung der Reihen entſprechend feſt
eingeſtellt werden können. Soll der Pflug als Häufelpflug benutzt
werden, ſo werden dieſe Hackmeſſer ganz abgenommen und an Stelle
der hinteren Hackſchar wird der Häufelkörper befeſtigt. Ferner ge-
hört hierher der ſog. Waſſerfahrenpflug (Fig. 239), der beſonders für
größere Güter mit ſchwerem, undurchläſſigem Boden eine hohe Be-
deutung gewonnen hat. Bei dieſen Gütern iſt nämlich die Herſtellung

Figure 230. Fig. 239.

Waſſerfahrenpflug.


der Waſſerfahren eine ſehr zeitraubende Arbeit, für welche aber, wenn
die Witterung das Aufgehen der Saat beſonders begünſtigt, nur eine
ſehr kurze Zeit gegeben iſt. Der Waſſerfahrenpflug löſt dieſe Aufgabe
leicht und ſchnell, denn ein zweimaliges Vorgehen genügt, um eine
Furche von 18 cm Tiefe mit 20 cm breiter Sohle herzuſtellen. An den
Streichbrettern dieſes Pfluges ſind ſtellbare Streicheiſen mit Eggenarmen
angebracht, welche den ausgehobenen Boden ausbreiten und ebnen.
Schließlich gehört der Forſtkulturpflug (Fig. 240) hierher. Er hat die
Aufgabe, eine ca. 42 cm tiefe trapezförmige Furche mit ebener Sohle
herzuſtellen, wobei dieſe letztere zur Aufnahme der Saat locker bleiben

Figure 231. Fig. 240.

Forſtkulturpflug.


[458]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.
muß. Um dieſen Anſprüchen zu genügen, muß der Pflug ſehr kräftig
gebaut und eigenartig konſtruiert ſein. Zum Aufreißen des Bodens
dient ein Sech oder Rolter, welches in jeder beliebigen Lage durch
einen Keil feſtgehalten wird. Eine flachgeſtellte Schar ſchält den Boden
ab, und an dieſe ſchließen ſich zu beiden Seiten zwei ſchraubenförmig
gewundene Streichbretter aus Stahlblech an, welche den Erdſtreifen
allmählich nach beiden Seiten umlegen. Beide Streichbretter ſind durch
je einen ſtellbaren eiſernen Abſtreicher nach außen verlängert, welche
den umgelegten Erdſtreifen feſtdrücken und ein Zurückfallen desſelben
in die Furche verhindern. Der Tiefgang des Pfluges kann durch
Stellung eines Ringes auf der von der Karrenachſe aufwärtsſtehenden
Spindel beliebig beſtimmt und fixiert werden.


Mit der Vervollkommnung der Pflüge, ganz beſonders mit der
Zunahme der Pflugſchare und des Tiefganges, mußte naturgemäß auch
die Größe der zur Bewegung des Pfluges nötigen Zugkraft wachſen,
und nicht ſelten ſah man, beſonders bei Untergrundpflügen 4, ja ſelbſt
6 Pferde vor einem Pfluge ziehen. Das wiederum mußte in einem
Zeitalter, in dem der Dampf zur Kraftleiſtung eine ſo ungeheuer große
Rolle ſpielte, auf den Gedanken bringen, auch den Pflug durch Dampf
zu bewegen. So entſtand der erſte Dampfpflug, bei welchem der
Pflug direkt anſtatt von Pferden oder Rindern von einer Dampf-
maſchine über den Acker hin- und hergezogen wurde. Dieſes Syſtem
bewährte ſich indes nicht, konnte aber erſt verlaſſen werden, nachdem
David \& Thomas Fisken, zwei Schullehrer, 1855 den Balancierpflug
erfanden, aus welchem ſich ſehr bald das ſog. indirekte Dampfpflug-
ſyſtem entwickelte. Fowler und Howard bildeten, ſcharf untereinander
konkurrierend, dieſes Syſtem zu großer Vollkommenheit aus, und leiſten

Figure 232. Fig. 241.

Drei-Furchen-Dampfpflug für Tiefkultur, von John Fowler \& Co. in Magdeburg.


[459]Die Bodenbearbeitungsmaſchinen.
dieſe Dampfkultivatoren heute der Landwirtſchaft ſehr weſentliche Dienſte,
nicht nur durch rationelle Verwertung der Zugkraft, ſondern noch bei
weitem mehr dadurch, daß ſie Tiefkulturen ermöglichen, wie ſie vorher
nie erreicht wurden, und hierdurch bei richtiger Verwendung von Dünge-
ſtoffen die Ertragsfähigkeit des Bodens weſentlich erhöhen. Von den
verſchiedenen Syſtemen der Dampfkultivatoren ſei hier das Fowlerſche
kurz beſchrieben. Der Balancierpflug (Fig. 241) hat zwei mal drei
oder mehr Schare, von denen die eine Hälfte ſtets in der Luft ſchwebt,
wenn die andere den Boden berührt. Auf der einen Seite des Ackers
ſteht die den Motor bildende Lokomotive (Fig. 242) und kann auf Schienen

Figure 233. Fig. 242.

Lokomotive zum Dampfpflug.


Figure 234. Fig. 243.

Ankerwagen zum Ein-Maſchinen-Dampfpflug-Syſtem von John Fowler \& Co. in Magdeburg.


[460]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.

Figure 235. Fig. 244.

Ein-Maſchinen-Dampfpflug-Syſtem von John Fowler \& Co. in Magdeburg.


[461]Die Bodenbearbeitungsmaſchinen.

Figure 236. Fig. 245.

Zwei-Maſchinen-Dampfpflug-Syſtem von John Fowler \& Co. in Magdeburg


[462]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.
oder auf ſehr breiten Rädern montiert, auch direkt auf den Acker,
an der Grenze desſelben vorwärts gerückt werden. Auf der anderen
Seite, der Lokomotive gerade gegenüber, ruht ein ſchwerer Karren,
ſog. Ankerwagen (Fig. 243), welcher eine horizontal montierte Seilſcheibe
trägt. Zwiſchen dieſer Seilſcheibe, der anderen Ecke des Ackers und
der Lokomotive läuft ein Drahtſeil, an welches der Balancierpflug
angebracht und ſo quer über den Acker gezogen wird. Auf dem Wege
von der Lokomobile zum Karren durchfurcht die eine Hälfte der ange-
brachten Pflugſchare den Acker, während die andere in die Luft ragt,
um auf dem Rückwege zur Lokomotive, dieſe ablöſend, die Furche zu
ziehen. Bei einmaligem Hin- und Rückwege des Pfluges werden
ſomit eine der Geſamtzahl der Pflugſchare entſprechende Anzahl
Furchen gezogen und Lokomotive wie Ankerwagen hierauf um die
Breite der hergeſtellten Furchen vorgerückt. Das iſt das ſog. Ein-
maſchinenſyſtem des Dampfpfluges (Fig. 244), und unterſcheidet ſich
hiervon das Zweimaſchinenſyſtem (Fig. 245) dadurch, daß bei dieſem
auch der Ankerwagen durch eine Lokomotive erſetzt iſt und der Balancier-
pflug zwiſchen dieſen beiden Maſchinen an einem Drahtſeile angekoppelt
hin- und hergezogen wird. Der Dampfpflug findet immer größere
Verbreitung, nicht nur in den größeren, ſondern auch durch Einführung
der Lohnpflüge für die mittleren und kleineren Wirtſchaften.


Die Bearbeitung des Ackers mit dem Pfluge iſt noch keine voll-
kommene und wird erſt mit Eggen und Walzen vollendet. Die Egge
hat hierbei die Harke zu erſetzen, wie der Pflug den Spaten, und ſoll
den Boden nicht nur ebnen, ſondern auch lockern, pulvern und von
Unkraut befreien. Zu dieſem Zweck ſitzen Zinken der verſchiedenſten
Art an loſe ſtehenden Balken, wobei ein zu hohes Gewicht gern ver-
mieden wird, da die Zinken nur bis höchſtens 10 cm tief in den
Boden eingreifen ſollen. Je nach der Art des Bodens haben — wie
beim Pfluge — auch die Eggen ſehr verſchiedene Geſtalt. Da iſt die
in ihrer Anordnung den Krümmern ähnliche Grubber-Egge (Fig. 246)
welche ſich insbeſondere für eine oberflächliche Lockerung des Bodens
empfiehlt. Sie iſt infolge der Anbringung des Zuges an der einen
Ecke des loſe verſchraubten Rahmens ſehr beweglich und vermeidet
deshalb nach Möglichkeit jede Verſtopfung der Zinken durch mit-

Figure 237. Fig. 246.

Grubber-Egge.


[463]Die Bodenbearbeitungsmaſchinen.
gerafftes Unkraut ꝛc. Die Zickzackegge (Fig. 247) hat den Vorteil,
daß infolge der Stellung der Zinken jede derſelben eine beſondere
Furche zieht, wie dieſe auf der Zeichnung punktiert ſind, wodurch
ſchon mit verhältnismäßig wenig Zinken eine feine Teilung des Bodens
erreicht werden kann. Zwei oder auch drei Felder können an einen
Rahmen gehängt werden, und zeigt Fig. 247 eine ſolche Zuſammen-
ſtellung mit zwei Feldern. Die Acme-Egge (Fig. 248) hat eine von

Figure 238. Fig. 247.

Vierbalkige, zweifelderige Zickzackegge.


Figure 239. Fig. 248.

Acme-Egge.


[464]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.
den gewöhnlichen Eggen ſehr abweichende Form und wird zum Zer-
kleinern und Ebenen des Ackers, wie auch zur Saatunterbringung be-
nutzt. Sie beſteht aus einer Anzahl eigentümlich geformter Stahl-
meſſer, welche an zwei parallel hintereinander liegenden Schienen be-
feſtigt ſind. Die Meſſer beider Schienen ſind verſchieden geformt und
ergänzen ſich dadurch gegenſeitig in ihrer Wirkungsweiſe. Auch die
Tiefe, in welcher die Meſſer in den Boden greifen ſollen, kann ganz
beſtimmt fixiert werden, da die beiden Schienen beweglich mit einander
verbunden ſind und mittels eines Hebels in ihrer Neigung zum Boden
feſt eingeſtellt werden können. Die Wieſeneggen werden benutzt, um
Wieſen von Moos zu reinigen, dieſelben zu lüften, wie auch zur Ver-
teilung von Maulwurfshaufen und zur Unterbringung der künſtlichen
Düngemittel. Ihre Konſtruktionen ſind ſehr zahlreich und können in
zwei große Gruppen, nämlich in ſchwere und leichte Eggen eingeteilt
werden. Von jeder dieſer Gruppen ſoll hier eine Egge beſchrieben
werden und zwar die böhmiſche oder Athausſche Wieſenegge und die
leichte Wieſenegge. Die erſtere, in Fig. 249 dargeſtellt, beſteht aus

Figure 240. Fig. 249.

Böhmiſche oder Athausſche Wieſenegge.


gußeiſernen Platten, deren Zinken aus geſchmiedetem Stahl mit Muttern
an den Platten befeſtigt ſind. Die einzelnen Platten ſind mit ein-
ander durch Kettenglieder verbunden, wodurch es ermöglicht wird, daß
die Egge ſich allen Bodenunebenheiten anſchmiegen kann, welche Mög-
lichkeit noch dadurch erhöht wird, daß die Plattenreihen nicht feſt an
der Zugſtange ſitzen, ſondern mittels Ketten an dieſe angehängt ſind.
Die leichte Wieſenegge (Fig. 250) zeichnet ſich [durch] beſondere Leichtig-
keit aus und hat aus Stahl gefertigte Zinken, welche in der Mitte an
ſchmiedeeiſernen Gliedern ſitzen, und die ſo angeordnet ſind, daß jede
Zinke ihre eigene Bahn beſchreibt, ähnlich wie bei der Zickzack-Egge,
(Fig. 247) d. h. ſehr vollkommen wirkend. Die Zinken ſelbſt ſind an
dem einen Ende mit meißelartiger Spitze, an dem anderen hingegen
mit einer meſſerartigen Schneide verſehen, und da ſie in der Mitte an
den Gliedern befeſtigt ſind, ſo kann dieſe Egge auf beiden Seiten be-
[465]Die Bodenbearbeitungsmaſchinen.

Figure 241. Fig. 250.

Leichte Wieſenegge.


nutzt werden. Die meißelartige Form der Zinken dient zum Beſeitigen
von Moos, zum Auseinanderziehen der Maulwurfshügel, ſo wie auch
zur Vorbereitung des Ackers für die bei den Saatmaſchinen näher zu
beſchreibende Drillkultur. Die meſſerartigen Zinken hingegen eignen
ſich beſſer zum Lüften und Aufarbeiten von Wieſen, wie zur Unter-
bringung der künſtlichen Düngemittel.


Vollendet wird die Bearbeitung des Bodens erſt durch die Walze,
denn dieſe veranlaßt die Krümelung des Bodens auch an denjenigen
Stellen, wo ſie weder durch den Pflug noch durch die Egge erzielt
wurde, indem ſie ſelbſt die härteſten Schollen zertrümmert. Aber noch
zahlreiche andere Aufgaben hat die Walze zu löſen, ſo z. B. das Feſt-
drücken und Ebenen des Bodens, das Andrücken der durch den Froſt
gehobenen Saaten und die Verteilung, wie Unterbringung feiner
Sämereien. Je nach der zu löſenden Aufgabe iſt nun auch die Form
der Walze eine verſchiedene, und ſollen hier die wichtigſten derſelben

Figure 242. Fig. 251.

Schlichtwalze.


Das Buch der Erfindungen. 30
[466]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.
beſchrieben werden. Da ſind die einfachen Schlicht-Walzen, früher
eine aus Holz angefertigte einfache Walze, welche jetzt aus Eiſen dar-
geſtellt, aus drei Walzen beſteht, wie es Fig. 251 zeigt. Ferner die
Ringelwalze, welche aus einzelnen gußeiſernen Ringeln beſteht, die
in einer größeren Anzahl auf einer Achſe neben einander befeſtigt, eine
Walze bilden. Zwei ſolcher Walzen werden in einem Geſtell, wie es
Fig. 252 zeigt, ſo hintereinander gelagert, daß die eine die andere

Figure 243. Fig. 252.

Doppelte Ringelwalze.


während des Betriebes von der daran haftenden Erde reinigt, indem
die Erhöhungen der einen Walze in den Rinnen der anderen laufen.
Dieſe Walzen werden bei genau derſelben Lagerung der Ringel auch
in kürzeren Stücken als drei Paare ſo angeordnet, wie es Fig. 253
zeigt und ſind für den Transport mit Rädern verſehen, welche ent-
weder auf dem Acker abgezogen oder mittels einer Zahnſtange in die

Figure 244. Fig. 253.

Dreiteilige doppelte [...]gelwalze


Höhe gehoben werden können. Endlich ſei hier noch die Cambridge-
Walze, eine Kombination von Ringel- und Zackenwalze erwähnt, welche
ſowohl einteilig als auch dreiteilig (Fig. 254) beſonders zur Be-
arbeitung der Weizenfelder im Frühjahr verwendet wird. Dieſe
Walze beſteht aus einzelnen gußeiſernen Ringen in zwei verſchiedenen
Größen und Formen, welche loſe auf eine ſchmiedeeiſerne Achſe geſteckt
ſind. Die breiteren dieſer Ringe haben einen Durchmeſſer von 40 cm
und eine Breite von 8 cm, ſie ſind am Rande mit einer Schneide ver-
ſehen und drehen ſich gleich einem Rade auf der Achſe. Die ſchmalen
Ringe haben einen Durchmeſſer von 42 cm und eine Breite von
2 cm; ihr Rand iſt zackenförmig ausgeſchnitten, und ſie haben in der
[467]Die Bodenbearbeitungsmaſchinen.

Figure 245. Fig. 254.

Dreiteilige Cambridge-Walze.


Mitte eine große Öffnung, welche ihnen einen Spielraum auf der
Achſe geſtattet. Infolge dieſer Anordnung ſchmiegt ſich die Walze
allen Bodenunebenheiten an, zerkleinert und ebnet den Boden ſehr
vollkommen, drückt ihn feſt und giebt ihm endlich trotzdem eine lockere
Oberfläche.


Bevor wir nun nach Beſchreibung der Bodenbearbeitungsmaſchinen
zu denjenigen übergehen, welche die Handarbeit beim Säen und Ernten
erſetzen, iſt es notwendig noch eine Art der Maſchinen zu erwähnen,
welche noch vor der Saat verwendet werden, nämlich die Dünger-
ſtreumaſchinen. Es iſt in der vorſtehenden Arbeit über die künſtlichen
Düngemittel beſonders betont, daß dieſelben ſehr gleichmäßig verteilt
werden müſſen, und es lag nahe, für dieſe Arbeit, welche mit der
Hand vorgenommen ſtets ſehr mangelhaft iſt, Maſchinen zu kon-
ſtruieren. Von dieſen ſoll hier die ſogen. Bandboden-Düngerſtreu-
Maſchine (Patent Lins) beſchrieben und in Fig. 255 in der äußeren
Anſicht, wie in Fig. 256 in der inneren Einrichtung dargeſtellt werden.
An eine ſolche Düngerſtreu-Maſchine wird darum eine ſo hohe An-
forderung geſtellt, weil mit derſelben jedes Düngemittel, ſei es trocken
und ſtaubig, wie z. B. Knochenmehl und Thomasſchlacke, oder ſei es

Figure 246. Fig. 255.

Bandboden-Düngerſtreu-Maſchine.


30*
[468]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.

Figure 247. Fig. 256.

Querſchnitt der Bandboden-Düngerſtreu-Maſchine.


feucht und klebrig, wie
Guano und Superphos-
phat, nicht nur dauernd
und gleichmäßig fein ver-
teilt, geſtreut werden muß,
ſondern dieſelbe muß
auch zu jedem Quan-
tum geeignet ſein, da
die Menge des auszu-
ſtreuenden Düngemittels
ſehr variabel iſt und
zwiſchen 15 und 300 kg
pro Morgen liegt. Die
Bandboden-Dünger-
ſtreu-Maſchine löſt dieſe
Aufgabe infolge ihrer in Fig. 256 dargeſtellten inneren Konſtruktion,
welche im weſentlichen in folgendem beſteht. Unter einem Kaſten,
der, wie Fig. 255 zeigt, von Fahrrädern getragen wird, ſind der Länge
nach drei Walzen parallel nebeneinander laufend angebracht. Über
dieſe Walzen iſt ein in der Richtung der Pfeile laufendes Band ohne
Ende gezogen, welches gleichzeitig den Boden des über ihm ſtehenden
Kaſtens bildet. An der hinteren Wand des Kaſtens iſt ein verſtell-
barer Schieber angebracht, der hochgezogen einen Schlitz über dem
Bandboden bildet, deſſen Breite von der Stellung des Schiebers ab-
hängt und je nach dem auszuſtreuenden Quantum eingeſtellt wird.
Wird der Kaſten nun mit den betreffenden Düngemitteln gefüllt nach
vorwärts gefahren, ſo bewegt ſich das Band über die rotierenden
Walzen nach hinten und nimmt das Düngemittel in der Höhe des
Schlitzes kontinuierlich mit heraus, wo es am Ausgange von einer in
der Richtung des Pfeiles rotierenden Verteilungswalze erfaßt und
fein verteilt auf den Boden geſtreut wird. Das Bodenband iſt von
ſehr feſter Leinwand und hat zum Schutze gegen die in den Dünge-
mitteln häufig enthaltenen Ätzſtoffe einen Gummiüberzug erhalten.


b) Die Saatmaſchinen.


Die Saatmaſchinen ſind viel älter, als man allgemein annimmt,
denn China, Japan und Oſtindien ſollen ſchon lange vor Europa
ſolche Maſchinen im Gebrauch haben, und da wir unter den heutigen
Saatmaſchinen die Drillmaſchine als eine weſentliche Verbeſſerung der
Breitſäemaſchine betrachten müſſen, ſo iſt es in Bezug auf die Geſchichte
der Saatmaſchinen um ſo intereſſanter, daß ein im Londoner technolo-
giſchen Muſeum befindliches hindoſtaniſches Modell einer Saatmaſchine
als Vorläufer unſerer heutigen Drillmaſchinen betrachtet werden kann.
Um den Wert der Drillmaſchinen den Breitſäemaſchinen gegenüber ver-
[469]Die Saatmaſchinen.
ſtändlich zu machen, wollen wir kurz die Drillkultur erläutern. Eine
jede Pflanzenart beanſprucht für das Aufgehen eines Saatkornes und
fernere Ausbildung der Pflanze einen ganz beſtimmten Raum, und
haben genaue Verſuche ergeben, daß dieſer Raum für die verſchiedenen
Pflanzen auch ein ſehr verſchiedener iſt und z. B. für Lein 6—7, für
Klee 25—50, für Gerſte 47, für Roggen 54, für Hafer 60, für Weizen
68 und für Mais ſogar 197 □cm beträgt. Es iſt einleuchtend, daß,
wenn die einzelnen Saatkörner enger geſtreut werden, jede einzelne
Pflanze ſomit den ihr zur Entwickelung notwendigen Raum nicht er-
hält, und eine ſolche Ausſaat nicht nur eine Saatvergeudung an und
für ſich iſt, ſondern auch gleichzeitig der Entwickelung der einzelnen
Pflanze ſehr hinderlich ſein muß, da ganz abgeſehen von den Vor-
gängen im Boden ſelbſt, ſchon über demſelben den zu eng ſtehenden
Pflanzen Luft und Licht fehlen wird. Mit der Hand konnte eine
rationelle Ausſaat nur vorgenommen werden, indem man Längs- und
Querreihen vorher über das Feld zog, an den Schnittpunkten derſelben mit
dem Pflanzſtock Löcher ſtieß und in dieſe die Saatkörner legte. Die
Drillmaſchinen veranlaſſen eine ſolche Reihenſaat und die Dibbel-
maſchine iſt eine Abart derſelben.


Die Breitſäemaſchinen ſind noch ſehr viel im Gebrauch, ſie ge-
währen zwar keine Saaterſparnis, aber ſie bewirken doch das Ausſtreuen
der Saat viel gleichmäßiger, als es ſelbſt dem geſchickteſten Säemanne
möglich iſt, auch ſind ſie gewöhnlich einfacher und leichter als die Drill-

Figure 248. Fig. 257.

Breitſäemaſchine.


Figure 249. Fig. 258.

Ausſtreu-Apparat. (Querſchnitt.)


Figure 250. Fig. 259.

Ausſtreu-Apparat.
(Längsſchnitt und Anſicht.)


[470]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.
maſchinen. Fig. 257 zeigt eine Breitſäemaſchine, deren innere Einrich-
tung im Quer- und Längsſchnitt in Fig. 258 und 259 dargeſtellt iſt. Der
Ausſtreu-Apparat beſteht aus einer Säewelle mit 22 Säeſcheiben, welche
ſich dicht über einen am Boden der Maſchine befindlichen ſtellbaren
mit Löcher verſehenen Schieber drehen. Dieſe Schieber bewirken bei
Drehung der Welle durch ihre eigentümliche wellenartige Form ein
ſtetiges Hin- und Herſchieben und dadurch ein ganz gleichmäßiges Aus-
fließen der Körner. Die Saatkörner fallen auf das unter der Maſchine
hängende Streubrett und werden durch dieſes gleichmäßig auf den
Acker verteilt und zugleich durch ein waſſerdichtes Tuch vor Wind und
Regen geſchützt. Die Menge der ausgeſtreuten Körner hängt von der
Stellung des Schiebers, d. h. davon ab, wie weit ſich die in Fig. 258
und 259 ſichtbaren Löcher des Bodens und Schiebers decken. Die genaue
Stellung des Schiebers iſt aber von großer Wichtigkeit und erfolgt
mittelſt eines hinten an der Maſchine befindlichen Stellhebels, welcher
auf einer Skala gleitet, die mit einem Stellkloben verſehen iſt. Eine zur
Maſchine gehörige Saattabelle giebt die Stellung des Stellklobens auf
der Skala für jedes beſtimmte Saatquantum an, und gleichzeitig dient
der Stellhebel auch als Ausrücker, um mit demſelben den Schieber
vollkommen zu ſchließen. Für den Transport der Maſchine auf ſchma-
len Wegen iſt dieſelbe mit einer durch die Mitte des Kaſtens gehenden

Figure 251. Fig. 260.

Transportſtellung der Breitſäemaſchine.


Querachſe verſehen, auf welche
die Räder beim Transport ge-
ſteckt werden, wie es Fig. 260
zeigt, während die eine Deichſel
in die am rechten Ende der
Maſchine befindlichen Bügel
geſchoben und mittelſt eines
Vorſteckers befeſtigt wird. Eine
andere Konſtruktion der Breit-
ſäemaſchine bezweckt ein gleichmäßiges Ausſtreuen der Saat in ſtets
gleichmäßiger Menge unabhängig von dem langſamen oder ſchnellen
Gange des Zugtieres und ſchließt automatiſch beim Stillſtand der
Maſchine die Ausflußöffnungen. Der Säeapparat dieſer Maſchine be-
ſteht aus 12 gußeiſernen Gehäuſen, in welchen ſich Schaufelräder drehen.
Letztere ſitzen auf einer gemeinſchaftlichen Welle und können mittelſt
eines Hebels ſeitlich verſchoben werden, ſo daß entweder das ganze
Schaufelrad oder nur ein Teil desſelben in das Gehäuſe tritt, wodurch
das auszuſträuende Saatquantum reguliert wird. Die durch die
Schaufelräder ausgeworfene Saat fällt auf ein verdecktes Streubrett
und wird durch dieſes gleichmäßig auf den Acker verteilt. Endlich
ſei hier noch die ſehr einfache Klee-Säemaſchine erwähnt, welche auch für
Raps und Grasſamen viel verwendet wird. Hier erfolgt das Aus-
ſtreuen des Samens durch eine rotierende Bürſte, und wird dieſe
Maſchine nicht nur für den Betrieb mit Zugtieren, ſondern auch ſehr
[471]Die Saatmaſchinen.
leicht gebaut, auf einer Karre ruhend, für den Handbetrieb angefertigt,
wie es Fig. 261 zeigt.


Zur Drillkultur, d. i. alſo zur Kultur in Reihen, gehören nicht nur
die Drill- und die aus dieſen entſtandenen Dibbelmaſchinen, ſondern

Figure 252. Fig. 261.

Klee-Säemaſchine.


auch die während der Vegetationszeit zwiſchen den Reihen verwendeten
Hackmaſchinen. Es iſt nicht einer der geringſten Vorteile der Drill-
kultur, daß ſie ein bequemes Hacken ꝛc. mit Maſchinen zwiſchen den
Reihen zuläßt, was bei der mit der Breitſäemaſchine oder Hand aus-
geſtreuten Saat ganz unmöglich iſt, außerdem aber bedingt ſie neben
ſehr großer Samenerſparnis aus den vorher erwähnten Gründen auch
einen gleichmäßigen Aufgang, wie Stand der Saat und eine vorzüg-
liche Verteilung von Luft und Licht zwiſchen den Pflanzen. Schon
1710 wurden die erſten Drillmaſchinen von dem Engländer Jethro Tull
konſtruiert und bis heute ganz weſentlich vervollkommnet, nicht nur in
Bezug auf die gleichmäßige Abgabe der Saatkörner, ſondern auch darin,
daß ſie gleichzeitig den Samen mit Erde bedecken und ſomit die Säe-
arbeit ganz vollenden.


Fig. 262 zeigt den äußeren Anblick einer Drillmaſchine, und ſieht
man bei dieſer im Gegenſatz zur Breitſäemaſchine eine Anzahl Röhren
an dem Saatkaſten hängen. Die Anzahl dieſer Röhren entſpricht der
Anzahl der Reihen, welche geſät werden ſollen, während die Röhren
ſelbſt zur Saatführung nach unten dienen, in einer Scharform enden
und an Hebeln montiert, ſo leicht ſind, daß ein zu tiefes Eindringen
im leichten Boden vermieden wird, während ſie für ſchweren Boden
durch Gewichte belaſtet werden. Fig. 263 zeigt eine ſolche zum Ziehen
der Furchen beſtimmte Schar d an dem Scharhebel befeſtigt. Für das
gleichmäßige Arbeiten der Drillmaſchine iſt es unbedingt notwendig,
daß der Saatkaſten ſtets in wagerechter Stellung bleibt, und wird dies
bei einzelnen Maſchinen durch eine ſinnreich konſtruierte Schrauben-
ſtellung erzielt, welche indes neuerdings durch eine automatiſch wirkende
Vorrichtung zur wagerechten Haltung des Kaſtens verdrängt zu werden
[472]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.

Figure 253. Fig. 262.

Drillmaſchine.


ſcheint. Innerhalb dieſes Kaſtens befindet ſich ein Säeapparat, welcher
den Zweck hat, dafür zu ſorgen, daß nur eine ganz beſtimmte Anzahl
Saatkörner in ganz beſtimmten Zwiſchenräumen in die Saatleitungs-
röhren und durch dieſe zur Erde gelangen. Dieſe Säeapparate werden

Figure 254. Fig. 263.

Schare und Hebel der Drillmaſchine.


ſtets durch Verbindung
mit einem Fahrrade in
Thätigkeit geſetzt und ſind
von ſehrverſchiedener Kon-
ſtruktion, erſtreben aber
alle denſelben Zweck, näm-
lich ein ganz gleichmäßiges
Säen unter allen Um-
ſtänden, alſo auch bei Ab-
hängen, welche eine ſchiefe
Stellung des Saatkaſtens
veranlaſſen, bei wechſeln-
der Fahrgeſchwindigkeit,
bei Hacken und Stoßen
während des Fahrens ꝛc. Fig. 264 zeigt den Durchſchnitt einer Drill-
maſchine und zwar der ſog. Nutenwalzen-Drillmaſchine, ſo genannt nach
dem von Lins erfundenen Nutenwalzen-Säeapparat, welchen dieſelbe ent-
hält. Hierbei iſt a b die Umſetzung vom Fahrrade zum Säeapparat k,
und zwar ſind dieſe die Umſetzung bewirkenden Räder durch Wechſel-
räder zu erſetzen, wenn eine andere Geſchwindigkeit der Nutenwalze für
ein verändertes Saatquantum gewünſcht wird. Die furchenziehenden
Schare ſind mit d bezeichnet, und t endlich iſt die Saatführungsröhre,
durch welche die vom Säeapparat ausgeworfenen Saatkörner genau an
der gewünſchten Stelle in den Boden gelangen. Ein anderer von
[473]Die Saatmaſchinen.

Figure 255. Fig. 264.

Durchſchnitt der Drillmaſchine.


Flöther konſtruierter Säeapparat hat anſtatt der Nutenwalzen eine
Konſtruktion, bei welcher Schöpfräder der weſentlichſte Teil ſind und
iſt gleichfalls ſehr verbreitet. Dieſe Drillmaſchinen können auf jede be-
liebige Reihenweite von 90 mm ab eingeſtellt und ſehr leicht für alle
Getreidearten umgeſtellt werden. Bei den Dibbelmaſchinen, welche den
Zweck haben, eine beſtimmte Anzahl Körner in ganz beſtimmten Ab-
ſtänden von einander in die Erde zu bringen, wie z. B. bei der Rüben-
kultur, iſt die Einrichtung eine ähnliche wie bei der Drillmaſchine und
nur der Säeapparat den für das Dibbeln geſtellten Anforderungen
entſprechend geändert. Es giebt auch zahlreiche Konſtruktionen, welche
durch ſehr einfache Auswechſelung des Säeapparates und einiger ſon-
ſtigen Teile in ſehr kurzer Zeit das Umändern einer Drillmaſchine zu
einer Dibbelmaſchine geſtatten.


Wie ſchon vorerwähnt, ermöglichte die Saat in genau gehaltenen
Reihen auch die Einführung von Hackmaſchinen, welche verhältnis-
mäßig leicht zwiſchen den Pflanzenreihen geführt werden können. Von
den zahlreichen Konſtruktionen der Hackmaſchinen ſei hier die
Eckert patentierte und in Fig. 265 dargeſtellte, beſchrieben. Die Meſſer
derſelben ſind aus Stahl und an beweglichen Parallelogrammen ſo
befeſtigt, daß ſie ſich allen Unebenheiten des Bodens anſchmiegen, ohne
ihre Schnittrichtung gegen denſelben zu verändern. Die Parallelo-
gramme ſind verſchiebbar auf einem Rahmen befeſtigt und werden für
[474]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.

Figure 256. Fig. 265.

Hackmaſchine.


jede beliebige Reihenentfernung paſſend auf demſelben eingeſtellt. Der
Hackrahmen wird durch Rollen an zwei eiſernen Röhren geführt; dieſe
ſind mittelſt Ketten an Hebeln aufgehängt, welche durch Drehen an
einem Handrade beliebig geſtellt werden können, ſo daß hierdurch der
ganze Hackapparat jederzeit beliebig gehoben und geſenkt werden kann.
Durch einen Handhebel iſt außerdem die Neigung des Rahmens und
dadurch die Schnittrichtung der Meſſer gegen den Boden während des
Ganges leicht und ſchnell zu regulieren. Der Hackrahmen ſelbſt ge-
ſtattet durch ſeine ganz außerhalb der Räder befindliche Lage eine
große ſeitliche Bewegung, ſo daß der ganze Apparat geſchickt geführt,
das Behacken der Reihen in ſehr kurzer Zeit und ganz vorzüglich beſorgt.


Bei den Saatmaſchinen ſei noch ſchließlich Rings Kartoffelpflanz-
lochmaſchine (Fig. 266) erwähnt, welche in ſehr genialer Weiſe die Hand-
arbeit bei der Herſtellung der Kartoffellöcher erſetzt. Dieſe Maſchine
beſteht aus einem mit Vorderrädern verſehenen Hinterwagen von
ſchmiedeeiſernen Rädern, die ſich auf einer gemeinſchaftlichen Achſe
drehen, und auf welchen 10 bis 15 cm lange Pflanzeiſen ſitzen. Je nach
der gewünſchten Reihenweite werden dieſe Räder auf der Achſe ver-
ſchoben und tragen auf dem Radreifen die erforderlichen Löcher für 7,
8, 10 oder 12 Pflanzeiſen. Durch dieſe Anordnung können Pflanz-
löcher von 10 bis 15 cm Tiefe, in Reihen von jeder Entfernung zwiſchen
[475]Die Saatmaſchinen. — Die Erntemaſchinen.

Figure 257. Fig. 266.

Fünfreihige Kartoffel-Pflanzlochmaſchine.


55 und 70 cm und endlich in Abſtänden von 30 bis 55 cm hergeſtellt
werden, denn ſieben Pflanzeiſen auf dem Rade entſprechen einer Ent-
fernung des hergeſtellten Loches, vom nächſten derſelben von genau 55 cm
u. ſ. f. bis zu 12 Pflanzeiſen, welche einem Zwiſchenraume von 30 cm
zwiſchen je zwei Löchern entſprechen. Dieſe Maſchine kann auf jeder
Art Acker verwendet werden und wird ihre Leiſtung auch durch friſch
untergepflügten Stall- oder Gründünger nicht beeinträchtigt; für den
Transport werden zwei hohe Räder an dem Hinterwagen befeſtigt,
welcher zu dieſem Zwecke an beiden Seiten kurze Achſen trägt, von denen
die linke auf der Zeichnung ſichtbar iſt.


c) Die Erntemaſchinen.


Geht auch aus dem Vorſtehenden bereits hervor, daß die land-
wirtſchaftlichen Maſchinen im allgemeinen ſich ganz hervorragend ent-
wickelt haben, ſo iſt dies doch bei den nun noch zu betrachtenden
Erntemaſchinen ganz beſonders der Fall, und können daher von den
überaus zahlreichen Arten derſelben hier nur einige der wichtigſten be-
handelt werden.


Von den Mähemaſchinen muß, wie bei den Säemaſchinen bemerkt
werden, daß auch ſie viel älter ſind, als man im allgemeinen glaubt.
Schon die Römer kannten für dieſen Zweck, nach den Berichten von
Plinius, eine Maſchine, welche die Ähren abſchnitt und in einen Kaſten
warf. Ferner ſind faſt alle Konſtruktionen unſerer neueren Maſchinen,
trotz ihrer ganz hervorragenden Vervollkommnung entweder auf die
1755 von Derffer oder 1800 von Boyce konſtruierten Mähemaſchinen
zurückzuführen. Dieſe modernen Mähemaſchinen (Fig. 267) haben zwei
Hauptteile, nämlich die Schneidevorrichtung, welche den Schnitt der
Halme bewirkt und den Ablegeapparat, welcher die Halme geordnet neben
einander ablegt und das Binden derſelben ſehr erleichtert; beide werden
durch die Rotation der Fahrräder getrieben. Als neueſte Verbeſſerung
[476]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.

Figure 258. Fig. 267.

Woods Getreidemaher.


iſt hier noch ein dritter Teil zu nennen, nämlich der Garbenbinder,
welcher die Halme gleich während des Ablegens zu Garben bindet, und
welcher ſpäter eingehend beſchrieben werden ſoll. Die Schneidevorrich-
tung beſteht aus dem an einem flachgehenden Tiſche befeſtigten Meſſer-
[477]Die Erntemaſchinen.
balken, an welchem eine die Senſe erſetzende größere Anzahl Meſſer
ſitzen. An dem Meſſerbalken anliegend iſt ein Fingerbalken montiert,
deſſen Finger das Getreide teilen und an die, ſich hin- und her-
bewegende Meſſer drücken, welche es auf dieſe Weiſe ſcheren-
artig abſchneiden. Die Ablegevorrichtung beſteht gewöhnlich aus vier
gemeinſchaftlich von einem Punkte ſtrahlenförmig ausgehenden Hölzern,
welche ſich um den Befeſtigungspunkt drehen und an deren äußeren
Enden bewegliche Rechen angebracht ſind. Die geſchnittenen Halme
fallen auf den Tiſch, werden von dem gerade darüber hinſtreichenden
Rechen zuſammengerafft, und ſeitlich von dem Tiſch heruntergeſchoben,
geordnet nebeneinander gelegt. Da während des Mähens durch das
Drehen um den Unterſtützungspunkt der Hölzer kontinuierlich ein
Rechen dem anderen folgt, ſo wird der ganze Schnitt auf dieſe Weiſe
geordnet auf den Boden in Reihen gelegt und kann leicht zu Garben
gebunden werden. Während des Transportes werden Rechen und
Tiſch ſenkrecht hoch geklappt und das Getriebe von der Umſetzung zu

Figure 259. Fig. 268.

„Adriance“-Getreidemäher mit aufgeklapptem Tiſch.


[478]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.
den Fahrrädern losgelöſt, ſo daß der ganze Apparat, wie es Fig. 268
zeigt, leicht transportiert werden und während des Transportes eine
Bewegung des Mechanismus nicht ſtattfinden kann. Die vorſtehend
beſchriebenen Konſtruktionen ſind die von „Wood’s“ und „Adriance“ Ge-
treidemäher; es giebt noch zahlreiche andere mehr oder weniger von
dieſen abweichende, gewöhnlich nach ihren Erfindern genannt, deren
Hauptbeſtandteile aber ſtets Schneide- und Ablegevorrichtung ſind.
Bei den Grasmähmaſchinen fehlt die letztere und wird der Antrieb
hierbei nicht von den Fahrrädern, ſondern von eigens dafür konſtruierten
Kammrädern beſorgt, wie es in Fig. 269 abgebildet iſt.


Figure 260. Fig. 269

Grasmähemaſchine.


Der Garbenbinder, an der Ablegevorrichtung der Mähemaſchinen
angebracht, veranlaßt, daß dieſelbe das geſchnittene Getreide gleich zu
Garben gebunden ablegt und ſoll von den verſchiedenen hierfür
exiſtierenden Konſtruktionen gleichfalls der „Adriance“ Garbenbinder
beſchrieben werden. Das geſchnittene Getreide wird mittels eines end-
loſen Tuches (Canvas Apron), in Fig. 270 im Vertikalſchnitt dar-
geſtellt, zu einer mit Greifſternen (Revolving Sprockets) verſehenen
Walze geführt, an deren vorderem Ende ſich eine als Halmenebner
[479]Die Erntemaſchinen.

Figure 261. Fig. 270.

Garbenbinder (Vertikalſchnitt).


dienende Scheibe (Butter Disk) dreht. Hierauf wird das Getreide
von den Greifern gefaßt und durch einen Hohlweg (Feeder Throat)
auf eine Reihe ſchräg liegender Arme A gehoben, welche den Sammel-
platz für das Getreide (Grain Recepticle) bilden und gleichzeitig dazu
dienen, die Greifer beſtändig rein zu halten, ſowie ein Wickeln der
Halme zu verhüten. Die über den Sammelarmen befindliche Nadel
umſpannt jetzt ſich ſenkend, das geſammelte Getreide mit Bindfaden
und bewegt ſich gleichzeitig nach dem nahe am Fahrrade befindlichen
Binderdeck zu. In Fig. 271 ſieht man die Nadel mit der Garbe etwa
a[u]f halbem Wege zum Binderdeck, und beginnt damit die Trennung
der zu bindenden Garbe x von der nächſten ſich anſammelnden z.
Fig. 272 zeigt die Garbe B auf dem Binderdeck feſtgepreßt und zum
Binden bereit, ferner den Seitenpreſſer C, wie er den Druck von der
Nadel nimmt. Sobald die Nadel und die Ablegegabel ihre Arbeit
vollendet haben und in ihre erſte Stellung zurückkehren, wird der Knoten
geſchürzt, wobei die Nadel nicht auf dem Hinwege zurückgeht, ſondern
auf dem in Fig. 272 punktiert bezeichnetem Wege über die ſich an-
ſammelnde nächſte Garbe hinweggeführt wird. Fig. 273 endlich zeigt
die beginnende Ablage und endgültige Trennung der Garben. Hier-
bei iſt erſichtlich, wie die eine Garbe ſich dem Binderdeck nähert, und
[480]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.

Figure 262. Fig. 271.

Garbenbinder.


Figure 263. Fig. 272.

Garbenbinder.


[481]Die Erntemaſchinen.
von Nadel, oberem Preſſer und Bindfaden feſtgehalten wird, während
die andere, ſchon feſt gebunden, durch die Ablegegabel vom Binder-
deck gehoben und umgedreht mit dem Schnittende zuerſt rückwärts zur
Erde gelegt wird.


Figure 264. Fig. 273.

Garbenbinder.


Für die Ernte des Heues ſind beſonders die Heuwender und die
Pferderechen zu erwähnen, welche letztere auch zum Zuſammenbringen
von Getreide und Klee, wie zum Aufharken von Lupinen, Kartoffel-
kraut ꝛc. verwendet werden. Der Heuwender hat, wie es Fig. 274
zeigt, eine größere Anzahl Zinken an zwei röhrenförmigen Balken ſitzen.
Dieſe Zinken beſtehen aus Stahldraht, deſſen inneres Ende in einer
Spirale um die Befeſtigungsachſe gewunden iſt; hierdurch weicht die
etwa ein Hindernis antreffende Zinke für ſich allein aus, ohne daß die
Funktion der anderen an demſelben Balken angebrachten Zinken ge-
hemmt würde. Die drehbar montierten Balken werden an beiden
Enden in eine eigentümliche Kurve geführt, welche eine möglichſt
günſtige Stellung der Zinken und ein derartiges Heraustreten derſelben
aus dem Heu bewirken, daß dasſelbe beim Ablegen vollſtändig ab-
geſtreift wird. Der Betrieb der Zinkentrommel, durch deren Rotation
Das Buch der Erfindungen. 31
[482]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.

Figure 265. Fig. 274.

Heuwender.


das Heu ſehr ſachgemäß gewendet wird, erfolgt von Zahnkränzen in
den Fahrrädern aus auf kleine Getriebe, welche an den Enden der
Trommelachſe aufgeſetzt ſind. Sobald der Arbeiter ſeinen Sitz ein-
nimmt, balanciert die Maſchine vollſtändig, und die Trommel liegt dann
ſoweit nach hinten, daß die beiden äußerſten entſprechend gekröpften
Zinken in der Radſpur arbeiten, wodurch auch das von den Rädern
gepreßte Heu aufgenommen wird. Weſentlich einfacher iſt die Kon-
ſtruktion des Pferderechens (Fig. 275), da hier das Heu ꝛc. nicht ge-
wendet, ſondern nur zu einzelnen Haufen zuſammengeharkt werden
ſoll. An einem aus zähem Eichenholz beſtehenden Geſtell ſitzen aus
Stahl gefertigte lange Zinken, welche mit ihren Spitzen den Boden
berühren und leicht nach vorn gekrümmt ſind. Jede dieſer Zinken iſt
für ſich beweglich und ſchmiegt ſich allen Bodenunebenheiten an, ſodaß
alle vorkommenden Hinderniſſe, ſelbſt Baumwurzeln, den Gang dieſes
Gerätes nicht ſtören. Sobald die Zinken ſoviel Heu aufgenommen
haben, daß ſie entleert werden müſſen, werden ſie mit der Hand auf-
gehoben, oder auch, bei einer neueren Vorrichtung, durch den Zug des
Pferdes. Dieſe Vorrichtung iſt ſo eingerichtet, daß ſie durch einen
leichten Tritt des Führers auf eine Kette in Funktion geſetzt werden
kann, was der älteren Konſtruktion gegenüber den Vorteil hat, daß
der Führer beide Hände für die Führung des Pferdes frei behält.
[483]Die Erntemaſchinen

Figure 266. Fig. 275.

Pferderechen.


Für den Transport des Rechens wird das Geſtell ſo herumgeklappt,
daß die Zinken nach oben gerichtet ſind.


Das Ausgraben der reifen Rüben durch Menſchenarbeit beanſprucht
nicht nur große Kraftaufwendung und verhältnismäßig lange Zeit,
welche die Witterung nicht immer geſtattet, ſondern bringt auch einen
nicht unerheblichen Verluſt von Rüben ſelbſt mit ſich durch das ganz
unvermeidliche Überſehen einzelner Rüben, und man veranſchlagt dieſen
Verluſt auf ca. 5 %. Das hat dazu geführt, auch dieſe Arbeit durch
Maſchinen zu erſetzen, und giebt es jetzt Rübenhebemaſchinen ver-
ſchiedener Konſtruktionen. Dieſe Maſchinen heben die Rüben nicht
vollſtändig heraus, lockern ſie aber ſo, daß ſie ſehr leicht ſogar von
Kindern ausgehoben werden können. Fig. 276 zeigt die Rübenhebe-
maſchine von Siedersleben, mit nach rückwärts geklappter Deichſel,
welche im weſentlichen aus zwei ſehr ſtarken tief greifenden Eiſen be-

Figure 267. Fig. 276.

Rübenheber für Geſpann.


31*
[484]Die landwirtſchaftlichen Maſchinen und Geräte.
ſteht, die auf einem ſehr kräftig gebauten Wagen montiert ſind, welche
für den Transport mittelſt einer durch eine Kurbel aufwickelbaren Kette
gehoben werden können. Dieſe Maſchine hebt zwei Reihen Rüben
gleichzeitig aus, ohne irgend welche derſelben ſtehen zu laſſen und zwar
pro Tag zwei Hektar bei gleichzeitiger ſehr tiefer Lockerung des Ackers,
worin in Bezug auf die nächſtfolgende Kultur ein hoher Wert liegt.
Natürlich iſt während der Arbeit dieſer Maſchine auch ein ſehr großer
Widerſtand zu überwinden und gehören vier Zugtiere zum Bewegen
derſelben, was den Erfinder veranlaßt hat, dieſen Heber auch für
Dampfbetrieb zu konſtruieren, mit welchem täglich 10 Hektar Rübenfeld
bearbeitet werden können.


Daß endlich das Ausdreſchen des Getreides mit dem Dreſchflegel
längſt durch von Motoren betriebene Dreſchmaſchinen erſetzt iſt, iſt,
wie dieſe Maſchine ſelbſt, ſo allgemein bekannt, daß hier aus dem
vorher angegebenen Grunde nicht näher darauf eingegangen werden kann.


Dr. Max Weitz.


3. Nahrungs- und Genußmittel.


a) Die gegohrenen Getränke: Bier, Branntwein
und Wein.


Die Bierbrauerei.

Das Bier gehört zu den wenigen Nährſubſtanzen, welche gleichzeitig
Nahrungs- und Genußmittel ſind. Wir unterſcheiden nämlich bei den
Stoffen, welche wir behufs unſerer Ernährung zu uns nehmen, ſehr
ſcharf zwiſchen Nahrungs- und Genußmitteln, und nur ſehr wenige
Speiſen bezw. Getränke ſind beides zu gleicher Zeit. Während die
Nahrungsmittel uns direkt ernähren, d. h. die aufgebrauchten Teile
unſeres Körpers erſetzen, oder dieſen vor dem Aufgebrauchtwerden
ſchützen, indem ſie ſelbſt an ſeiner Stelle durch den eingeatmeten Sauer-
ſtoff zerſetzt werden, haben die Genußmittel dieſe Fähigkeit nicht, denn
ſie haben gar keinen oder im günſtigſten Falle nur einen ſehr geringen
Nährwert. Nichtsdeſtoweniger dürfen ſie nicht als Luxusartikel be-
trachtet werden, denn ihre Bedeutung für die Ernährung überhaupt iſt
eine ſo hohe, daß eine Ernährung ohne dieſelben ganz undenkbar wäre.


Das Bier iſt alſo gleichzeitig Nahrungs- und Genußmittel, denn
zu erſterem macht es ſein Extraktgehalt, welcher direkt ernährend wirkt,
zu letzterem ſein Alkoholgehalt. Dasſelbe iſt unter den alkoholiſchen
Getränken deswegen ſo empfehlenswert, weil es den Alkohol in ver-
[485]Die Bierbrauerei.
dünnteſter Form darbietet. Die Phyſiologen ſind nämlich darüber
einig, daß, ſo nützlich uns der Alkohol als Genußmittel — mäßig ge-
noſſen — auch ſein kann, er doch nur in ſehr verdünnter Form ge-
noſſen werden darf. Als dritter weſentlicher Beſtandteil des Bieres iſt
die Kohlenſäure zu nennen, welcher dasſelbe ſeine labende und er-
quickende Eigenſchaft verdankt. Die Bildung dieſer Subſtanzen —
Extrakt, Alkohol und Kohlenſäure — im Biere iſt die Aufgabe des
Brauers und ſoll im nachſtehenden beſchrieben werden.


Die Rohmaterialien für die Bierbereitung.

Die Rohmaterialien für die Bereitung des Bieres ſind Getreide oder
andere ſtärkemehlhaltige Subſtanzen, Hopfen, Hefe und Waſſer.


Das Getreide und unter dieſem die Gerſte haben für die Bereitung
des Bieres den Vorzug vor allen anderen ſtärkemehl- oder zuckerhaltigen
Subſtanzen, obgleich ſich auch dieſe dazu eignen. Die Cerealien und
unter dieſen wiederum die Gerſte haben deshalb den Vorzug, weil ihr
Stärkemehl-Gehalt ein ziemlich konſtanter, wenigſtens der am wenigſten
ſchwankende iſt, und ſie laſſen ſich auch am leichteſten vermälzen. Die
Beſtandteile der Gerſte ſeien hier nach W. Pillitz angegeben. 100 Teile
lufttrockener Gerſte enthalten:


  • Waſſer . . . . . . . 13,88 %
  • Stärke . . . . . . . 54,07 „
  • Unlösliche Aſche . . . . 1,07 „
  • Fett . . . . . . . . 2,66 „
  • Zellſtoffe . . . . . . . 7,76 „
  • Unlösliches Albumin . . 12,43 „
  • Dextrin . . . . . . . 1,70 „
  • Zucker . . . . . . . 2,43 „
  • Lösliches Albumin . . . 1,77 „
  • Lösliche Aſche . . . . . 1,26 „
  • Extraktivſtoffe . . . . . 1,50 „
  • 100,53 %

100 Teile Gerſtenaſche enthalten an weſentlichen Beſtandteilen:


  • Kali . . . . . . . . . 17 %
  • Phosphorſäure . . . . . 30 „
  • Kieſelſäure . . . . . . . 33 „
  • Magneſia . . . . . . . 7 „
  • Kalk . . . . . . . . . 3 „

Von den verſchiedenen Gerſtenarten iſt die große zweizeilige Gerſte
(Hordeum distichon) die ergiebigſte, und kommen nächſt der Gerſte noch
Weizen, zuweilen auch Reis als Rohmaterialien in Betracht, weniger
Kartoffelzucker, der in der Verwendung immer mehr abnimmt, wie über-
haupt die Verwendung der Surrogate für die Bierbereitung von Jahr
zu Jahr nachläßt.


Der Hopfen, der in der Bierbrauerei verwendet wird, beſteht nur
aus den weiblichen Blüten — auch Kätzchen oder Zapfen genannt —
der Hopfenpflanze (Humulus lupulus) d. i. eine perennierende Pflanze
[486]Nahrungs- und Genußmittel.
aus der Familie der Urticaceen. Dieſe Hopfenblüten enthalten unter ihren
ſchuppenartigen Blättchen goldgelbe, nierenförmige Körner, das ſog.
Hopfenbitter. Die für die Brauer in Betracht kommenden Beſtandteile
des Hopfens ſind das Hopfenöl, die Gerbſäure und einige mineraliſche
Subſtanzen. Das Hopfenöl oxydiert außerordentlich raſch und bildet
Valerianſäure, welche die Urſache der Minderwertigkeit des alten Hopfens
iſt und dieſem auch den eigentümlichen Käſegeruch verleiht. Gerbſäure
enthalten die verſchiedenen Hopfenſorten 2 bis 5 %. Den bitteren
Geſchmack, den ſie auch dem Biere mitteilen, verdanken ſie dem ſo-
genannten Hopfenharz. Die mineraliſchen Beſtandteile des Hopfens
— 100 Teile lufttrockenen Hopfens enthalten 9 bis 10 % Aſche —
ſind ca. 17 % Kali, 15 % Phosphorſäure ꝛc.


Die Qualität des Hopfens iſt von außerordentlich hoher Bedeutung
für Feinheit, Geſchmack und Haltbarkeit des Bieres, und da die Qualität
ſelbſt des beſten Hopfens mit der Zeit leidet, ſo war man ſtets
auf die neue Ernte angewieſen, was — je nach Ausfall derſelben —
zu außerordentlich ſchwankenden Preiſen führte, welche in neuerer Zeit
einigermaßen durch die Konſervierungsmethoden des Hopfens geregelt
werden. Der Hopfen wird, um ihn haltbar zu machen, geſchwefelt d. h.
man ſetzt den getrockneten Hopfen den Dämpfen brennenden Schwefels
aus und preßt ihn, nachdem er abgedarrt iſt, feſt in luftdichtverſchließ-
bare große Metallcylinder. Dieſer ſogenannte Büchſenhopfen iſt —
beſonders kühl und trocken aufbewahrt — jahrelang haltbar.


Die Hefe (Saccharomyces cerevisiae) gehört zur Gruppe der
Sproßpilze und ſoll bei der Bereitung des Bieres ſelbſt und zwar bei
der Gährung näher beſchrieben werden.


Das Waſſer iſt je nach ſeinen Beimengungen von großem Einfluß
auf die Bierbereitung. Wir unterſcheiden zwiſchen „hartem“ und
„weichem“ Waſſer. Letzteres ſetzt beim Kochen keinen Pfannenſtein ab und
iſt kalkfrei, während hartes Waſſer einen mehr oder weniger hohen
Gehalt an kohlenſaurem oder ſchwefelſaurem Calcium hat. In den
meiſten Fällen ſind daher Quellwaſſer und Brunnenwaſſer hartes
Waſſer, während Flußwaſſer und beſonders Regenwaſſer zu den weichen
Wäſſern zählen. Für die Bereitung des Malzes iſt weiches Waſſer
vorzuziehen, während zum Einmaiſchen ein gewiſſer Kalkgehalt nicht
ſchadet; auf jeden Fall aber iſt ein Waſſer, das durch organiſche Sub-
ſtanzen verunreinigt iſt, als zur Bierbereitung ganz ungeeignet zu ver-
werfen, und wo kein anderes Waſſer zur Verfügung ſteht, muß es vor
der Verwendung durch geeignete Behandlung — auf die hier nicht näher
eingegangen werden kann — gereinigt werden.


Die Bereitung des Bieres ſelbſt zerfällt in drei von einander ge-
trennte Abſchnitte, und zwar in:


  • 1. die Malzbereitung,
  • 2. die Bereitung der Bierwürze und
  • 3. die Gährung der Bierwürze.

[487]Die Rohmaterialien für die Bierbereitung. — Die Mälzerei.

Die Malzbereitung geht in der Mälzerei, die Bereitung der Bier-
würze im Sudhauſe und die Gährung in der Kellerei vor ſich. Dieſe
drei Hauptabſchnitte ſollen nun der Reihe nach unter Berückſichtigung
der neueſten Erfindungen und Verbeſſerungen beſchrieben werden.


Die Mälzerei.

Die Aufgabe der Mälzerei im chemiſchen Sinne iſt es, das
Stärkemehl des Kornes befähigt zu machen, ſich unter geeigneten Um-
ſtänden in Zucker zu verwandeln. Dieſe Verwandlung ſelbſt geht dann
während des Prozeſſes im Sudhauſe vor ſich, und der Zucker der hier
gebildeten Zuckerlöſung wird ſchließlich im Gährkeller mittelſt Gährung
in Alkohol und Kohlenſäure geſpalten.


Die Malzbereitung ſelbſt zerfällt wiederum in drei Unterabteilungen,
nämlich in das Einweichen, das Keimen und das Darren der Gerſte.


Die Gerſte wird vor dem Einweichen in Putz- und Sortier-
maſchinen gereinigt und je nach Größe der Körner in verſchiedene
Sorten getrennt, von denen mit Vorteil nur die beſte Sorte, d. h. die-
jenige, welche die größten und vollſten Körner enthält, vermälzt werden
kann. Dieſe Sortiermaſchinen trennen gleichzeitig auch alle halben
Körner, welche ſeit Einführung der Dampfdreſchmaſchinen ſich recht
häufig finden, und das iſt für die weitere Verarbeitung ſehr wichtig.
Ein ſolch’ zerſchlagenes Korn hat nämlich ſeine Keimfähigkeit einge-
büßt und ſchimmelt bei der zum Mälzen nötigen Behandlung, die
Schimmelbildung dann — beſonders wenn zahlreiche halbe Körner
vorhanden ſind — über den ganzen Malzhaufen fortpflanzend, was
die Qualität des Malzes außerordentlich verringert.


Die für das beabſichtigte Wachstum notwendige Feuchtigkeit er-
hält die Gerſte durch Einweichen. Sie wird in große eiſerne oder ge-
mauerte und auscementierte, mit Waſſer gefüllte Gefäße geſchüttet
und ſinkt darin unter. Alle nicht geſunden Körner und ſonſtige Un-
reinlichkeiten ſchwimmen hingegen auf der Oberfläche des Waſſers,
werden abgeſchöpft und finden als ſog. Abſchöpf- oder Schwimmgerſte
beſonders als Futter für Geflügel Verwendung. Bei Anwendung gut
wirkender Sortier- und Putzmaſchinen iſt übrigens die Menge der
Schwimmgerſte nur ſehr unbedeutend. Das Waſſer muß in den Quell-
ſtöcken oder Weichen — wie die oben erwähnten Gefäße genannt
werden — einige Centimeter über der Gerſte ſtehen und einige Male
gewechſelt werden, weil es gewiſſe Beſtandteile der Hülſe des Kornes
auslaugt und hierdurch ſowohl eine braune Farbe, als auch einen
eigentümlichen Geruch annimmt. Die Dauer des Einweichens iſt be-
dingt durch das Alter der Gerſte, die Stärke der Hülſen, die Temperatur
des Waſſers ꝛc. und daher ſehr variabel (48 bis 72 Stunden).


Hat die Gerſte die genügende Weiche erhalten, ſo kommt ſie auf
die Tennen, um dort zu keimen. Dieſe Tennen ſind ſehr große Säle
[488]Nahrungs- und Genußmittel.
oder Keller, deren Boden mit ganz gleichmäßigen Platten belegt oder
ſehr glatt cementiert iſt. Hier wird die Gerſte zuerſt in einen mög-
lichſt hohen Haufen, den ſog. „Naßhaufen“ geſchüttet und ſpäter zu
immer flacheren Haufen umgeſchaufelt. Infolge der dem Korne in
den Weichen gegebenen Feuchtigkeit und der während des Wachstums
ſelbſt produzierten Wärme beginnt ein wunderbares Leben in dem-
ſelben. An der Spitze des Kornes ſchießen Wurzelfäſerchen heraus, und
unterhalb der Hülſe belebt ſich der Blattkeim, derſelbe, der — wenn
dieſes Leben nicht rechtzeitig unterbrochen wird — zum Halme auswächſt
und unſerem Auge den Anblick des wogenden Ährenmeeres der mit
Getreide beſäten Felder bietet. Das Wachstum muß für alle Körner
im ganzen Haufen ſehr gleichmäßig vor ſich gehen, aus welchem
Grunde für eine gleichmäßige Temperatur in demſelben Sorge getragen
werden muß. Nun ſind ſelbſtverſtändlich die unteren Schichten des
Haufens wärmer, als die oberen, während die mittleren mit ihrer
Temperatur zwiſchen ihnen ſtehen. Auf ſehr kunſtvolle Weiſe wird
aber der Haufen in gewiſſen Zeiträumen ſo umgeſchaufelt, daß ſeine
unterſte Schicht oben auf, die oberſte nach unten, die mittlere aber
wiederum in ihre frühere Lage zurückkommt.


Seit einem Jahre hat man für dieſe Arbeit auf den Tennen
Wendeapparate eingeführt, welche — durch Maſchinenkraft betrieben —
das Wenden des Haufens ſehr exakt beſorgen. Ein ſolcher Wende-
apparat beſteht im weſentlichen aus einer über die ganze Tenne reichenden
eiſernen Stange, welche ſich auf an den Seiten der Tenne laufenden
Zahnrädern, um die eigene Axe drehend, langſam über den Haufen
fortbewegt und, ſobald ſie denſelben überſchritten hat, zurückgeführt
werden kann. Klammerartige oder anders konſtruierte Anſätze, welche
die Stange trägt, greifen das Malz und wenden es genau ſo, wie
der beabſichtigte Zweck es verlangt, d. h. alſo die oberſte Schicht nach
unten u. ſ. w. wie vorher beſchrieben. Durch dieſe Apparate wird nicht nur
die gewünſchte Arbeit vorzüglich geleiſtet, ſondern man arbeitet auch
in Bezug auf die für das Wenden des Haufens zu verausgabenden
Löhne weſentlich billiger, als es bisher geſchah, und muß man ſich
über eine ſo ſpäte Ausführung eines ſolchen Apparates um ſo mehr
wundern, als die Brauerei einen ganz ähnlichen Apparat auf den Darr-
herden zum Wenden des zu darrenden Malzes bereits ſeit mehr als
zehn Jahren verwendet. (Siehe Fig. 278.)


Der vorher erwähnte, bei dem Keimen ſich bildende Blattkeim ver-
braucht zu ſeiner Ernährung das Stärkemehl des Kornes, und gerade
dieſes muß der Brauer erhalten, denn aus ihm will er ſpäter Zucker
bilden, und der ganze Prozeß des Wachstums iſt ihm ja nur ein Mittel
zum Zweck, welches dieſe Zuckerbildung ermöglichen ſoll. Darum unter-
bricht man das Wachstum des Kornes, wenn der Blattkeim unter der
Hülſe ca. ⅔ der Länge des ganzen Kornes erreicht hat, indem man
ſo viel friſche Luft — und zwar kalte, denn man mälzt, um das Wachs-
[489]Die Mälzerei.
tum des Haufens überhaupt regulieren zu können, nur im Winter —
über den immer dünner und zuletzt recht dünn geführten Haufen
ſtreichen läßt, ſo daß die zum ferneren Wachſen unbedingt notwendige
Wärme und Feuchtigkeit fehlen.


Um dieſe Luftzufuhr, welche gleichzeitig dem Haufen ſo viel von
der Feuchtigkeit nimmt, daß er lufttrocken wird, recht intenſiv hervor-
bringen zu können, wird der Haufen von den ſtets zu ebener Erde oder
im Keller gelegenen Tennen mittels Fahrſtuhl nach dem oberſten
Boden, dem ſogenannten Schwelkboden gebracht. Dieſer Boden
liegt gewöhnlich hart unter dem Dache und ſteht durch einen Mauer-
einſchnitt mit der oberſten Darrhorde (Fig. 277, b) in Verbindung, ſo daß
das hier getrocknete Grünmalz ohne weiteren Motor gleich auf die
Darrhorde geſchüttet werden kann, ſobald es lufttrocken geworden iſt.
Die Luftzufuhr veranlaſſen zahlreiche zur ebenen Erde dieſes Schwelk-
bodens einander gegenüberliegende Fenſteröffnungen und eine intenſive
Wirkung derſelben wird durch 4 bis 6 maliges tägliches Umſchaufeln
des auf der Schwelke nur 3 bis 5 cm dicken Haufens hervorgebracht.
Die Dauer des ganzen Keimens iſt von der Außentemperatur abhängig
und dauert um ſo länger, je niedriger
dieſelbe iſt, im ganzen 7 bis 14 Tage.


Das Luftmalz wird auf den Darren
einem Röſtprozeß unterworfen und hier-
bei in Darrmalz übergeführt. Die Darre
(Fig. 277) iſt ein turmartiger Bau, welcher
ſich an die Böden des Brauereigebäudes
anlehnt und mittels einer eigenartig kon-
ſtruierten Feuerung heiße Luft herſtellt,
welche durch das zu darrende Malz
ſtreicht, ohne es mit den Feuergaſen in
Berührung zu bringen. Die Darre be-
ſteht aus der Feuerung c, bei welcher
die Feuergaſe durch eiſerne Röhren in
der Richtung der Pfeile geleitet werden,
und in auf Fig. 277 nicht ſichtbaren
Mauerkanälen zum Schornſtein g ge-
führt, aus dieſem entweichen. Ferner
aus den Lufträumen f, in welchen die Luft
erhitzt zu der ſog. „Sau“ d — einem
unter den Horden liegenden Raume —
und durch f in die untere Darrhorde a
und die obere b geführt wird, um ſchließ-
lich mit den beim Darren entwickelten

Figure 268. Fig. 277.

Malzdarre.


Waſſerdämpfen durch f im Schornſteine zu entweichen. Der Boden
der Horden a und b beſteht aus ſiebähnlichen Drahtgeflechten oder
aus durchlochten Eiſenblechen.


[490]Nahrungs- und Genußmittel.
Figure 269. Fig. 278.

Darrwender.


Das lufttrockene Malz
wird zuerſt auf die obere
Horde b gebracht, um hier in
einer weit niedrigeren Tempe-
ratur, als ſie in a herrſcht —
und zwar bei 30 bis 40°C.
— vorgetrocknet zu werden,
und um auch zu verhüten, daß
die ſich zuerſt ſehr ſtark ent-
wickelnden Waſſerdämpfe das
auf der darüber liegenden
Horde befindliche Malz treffen.
Würde man nämlich das Malz
ſofort ſtark erhitzen, dann
würde ſein Stärkemehl in
Kleiſter übergehen und eine
hornartige, für Waſſer undurch-
dringliche Subſtanz bilden.
Ein ſolches fehlerhaft dar-
geſtellte Malz iſt für den
Brauprozeß unbrauchbar und
wird Steinmalz oder auch
Glasmalz genannt. Das auf
der oberen Horde b ſo vor-
getrocknete Malz wird durch
eine Öffnung im Boden auf
die untere Horde a gebracht,
um hier langſam auf 50 bis
90°C. — je nach der Art des
Bieres, das gebraut werden
ſoll — erwärmt zu werden.
Auch auf beiden Darrhorden
iſt das Malz regelmäßig um-
zuwenden, wenn es gleichmäßig
gedarrt werden ſoll, was ſehr
wichtig iſt, und geſchieht dies
durch einen ähnlichen Wende-
apparat, wie er beim Malzwenden auf der Tenne beſchrieben worden
iſt, und wie ihn Fig. 278 zeigt.


Das ſo fertiggeſtellte Darrmalz muß nun, bevor es im Sudhauſe
weiter verarbeitet werden kann, von den Wurzelfäſerchen, welche ſich
während des Keimens gebildet haben, befreit werden. Dieſe Arbeit
geht auf den ſogen. Malzputz- und Entkernungsmaſchinen verhältnis-
mäßig leicht vor ſich, da dieſe Wurzelfäſerchen in der hohen Tempe-
ratur, bei welcher das Malz abgedarrt wurde, ſehr ſpröde geworden
[491]Die Mälzerei.
ſind. In dieſen Maſchinen wird das Malz zwiſchen gerippten Tellern
leicht gerieben und mit den auf dieſe Weiſe losgeriebenen Wurzel-
fäſerchen in einen ſchräg liegenden, ſich um die eigene Axe drehenden
Siebcylinder geführt. Die Wurzelfäſerchen fallen hierbei durch das
Sieb in einen dieſen umgebenden Kaſten, während das geputzte und
entkeimte Malz das Sieb am unteren Ende verläßt. Die gedarrten
Keime ſind ihres hohen Stickſtoffgehaltes wegen ein ſehr geſuchtes
Viehfutter.


Als eine hervorragende Neuerung auf dem Gebiet der Mälzerei,
welche geeignet iſt, den ganzen Betrieb derſelben umzugeſtalten, iſt das
pneumatiſche Malzverfahren von Galland zu nennen. Galland hebt
die handarbeit auf der Tenne vollſtändig auf, indem er das Keimen
in geſchloſſenen Trommeln unter Zuführung gleichmäßig feuchter Luft
von ſtets derſelben Temperatur vor ſich gehen läßt. Dieſe Luft ſtellt
Galland dar, indem er dieſelbe durch einen mit Koks angefüllten Turm

Figure 270. Fig. 279.

Keimtrommel. (Querſchnitt.)


Figure 271. Fig. 280.

Keimtrommel. (Längsſchnitt.)


leitet, wo ſie von einem fein zerteilten Regen getroffen wird. Mittels
Ventilators wird nun dieſe ſo gereinigte und angefeuchtete Luft, deren
Temperatur und Feuchtigkeitsgehalt man durch die Waſſerzufuhr im
Koksturme regulieren kann, in geſchloſſene Trommeln geführt, und
zwar ſo, daß ſie dieſelben und die darin befindliche keimende Gerſte
durchſtreichen muß. Fig. 279 zeigt den Querſchnitt, Fig. 280 den
Längsſchnitt einer ſolchen Trommel. Die Luft tritt bei a (Fig. 280)
in die Trommel, wird in der Richtung der Pfeile nach der äußeren
Wand des Cylinders geführt, tritt bei b b durch die, die keimende
Gerſte begrenzende durchlochte Wandung, durchſtrömt die keimende
Gerſte, um bei c c in das Innere der Trommel zu gelangen und
dieſelbe bei d in der Richtung der Pfeile wieder zu verlaſſen. Dieſer
Luftſtrom führt auch gleichzeitig die ſich während des Keimens bildende
Kohlenſäure, deren Verbleib in den Trommeln dem ferneren Wachs-
tum ſehr ſchädlich wäre, mit fort, während das Wenden des Malzes
in ſehr gleichmäßiger Weiſe durch langſames Drehen der Trommeln
[492]Nahrungs- und Genußmittel.
um die eigene Achſe beſorgt wird. Solche Trommeln werden in einer
größeren Anzahl nebeneinander aufgeſtellt, und Fig. 281 zeigt die ge-
ſchloſſenen Trommeln in einer ſolchen Anordnung.


Figure 272. Fig. 281.

Keimtrommeln.


Die Bereitung der Bierwürze.

Während des Keimens nun hat ſich ein ganz merkwürdiger Stoff
im Korne gebildet, den der Chemiker „Diaſtaſe“ nennt, und der die
Eigenſchaft hat, unter der Einwirkung von Säuren oder des tieriſchen
Speichels oder auch bei einer Temperatur von ca. 75°C das Stärke-
mehl des Malzes in Zucker zu verwandeln. Im Sudhauſe, wo die
Bildung des Zuckers aus dem Stärkemehl vorgenommen wird, brüht
der Brauer das geſchrotene Malz mit heißem Waſſer auf, und ſoll der
Sudhausbetrieb mit ſeinen modernen Einrichtungen nachfolgend be-
ſchrieben werden. Vorher darf aber nicht unerwähnt bleiben, daß
nicht alle Völker von den drei genannten Hülfsmitteln, den Zucker aus
dem Stärkemehl zu erzeugen, gerade die erhöhte Temperatur wählen.
So erzählt uns z. B. v. Tſchudi in ſeinem Werke „Reiſen in Peru“,
daß in gewiſſen Teilen der Sierra aus Maismalz ein Bier gebraut
wird, welches man dort „Chika“ nennt und deſſen beſte Sorte dar-
geſtellt wird, indem alle Mitglieder der Familie, wie auch eigens da-
für engagierte, möglichſt zahnloſe, alte Frauen das Maismalz im
Munde zerkauen und dann in ein Gefäß, „Kalabaſche“ genannt,
zurückſpeien, welchen Brei man dann nach Zuſatz von heißem Waſſer
gähren läßt. Dieſe Chika wird „Chika maskada“ d. h. gekaute Chika
genannt und ſehr hoch geſchätzt, ſo daß der Serrano, wenn er einen
Gaſt recht gut bewirten will, ihm ſtets dieſen Trank mit der beſonderen
[493]Die Bereitung der Bierwürze.
Empfehlung vorſetzt, daß er das Malz dazu mit ſeiner eigenen Familie
ſelbſt gekaut habe.


Um die inneren Teile des Malzes für das Aufbrühen im Sud-
hauſe von der ſie ſchützenden Hülle zu befreien und gleichzeitig dem
heißen Waſſer eine größere Angriffsfläche zu geben, wird das Malz
geſchroten. Hierbei iſt ein zu feines Mahlen zu vermeiden, trotzdem
der beabſichtigte Zweck bei einem möglichſt feinen Mehl beſſer erreicht
würde, weil das ſpäter notwendige klare Abziehen der Würze durch
die Teigſchicht, die ein feines Mehl bildet, unmöglich gemacht wird.
Das Malz wird alſo nur grob aufgebrochen, und das geſchieht mittels
Schrotmühlen (Fig. 282), in welchen ſich zwei Walzen von ver-
ſchiedenem Durchmeſſer hart
an einander gerückt gegen-
einander bewegen, wie es
die Richtung der Pfeile in
Fig. 282 anzeigt. Wenn das
Malz in die trichterartige
Öffnung a, welche offen oder
geſchloſſen ſein kann, hinein-
läuft, zwiſchen den Walzen
aufgebrochen wird, ſo fließt es
dann durch die auf der Zeich-
nung nicht ſichtbare, unten
angebrachte Ausflußöffnung
— um ein Verſtauben des
geſchrotenen Malzes zu ver-
meiden — in geſchloſſener
Röhre in den Vormaiſch-
apparat Fig. 283. Dieſer
Vormaiſchapparat, welcher

Figure 273. Fig. 282.

Schrotmühle.


über dem Maiſchbottich ſteht, hat den Zweck, das geſchrotene Malz aus
einem trockenen Staube in einen naſſen Teig zu verwandeln, damit
auch hier nichts verſtauben kann, wenn das Malz aus der unteren,
hier gleichfalls nicht ſichtbaren Öffnung in den Maiſchbottich fällt.
Das geſchrotene Malz fällt durch die mit der Schrotmühle verbundene
Holzrinne in den Vormaiſchapparat, und trifft hier mit dem eintretenden
Waſſer zuſammen. Bevor es nun in den Maiſchbottich fällt, wird es
durch die, auf der Welle ſitzenden meſſerartigen Schaufeln innig mit
dem Waſſer gemengt und ſo in einen ſtaubfreien Teig verwandelt.


Im Maiſchbottich ſoll nun das geſchrotene Malz während des
Aufbrühens mit dem heißen Waſſer möglichſt innig gemengt werden,
um ſowohl die Zuckerbildung zu erleichtern, als auch den gelöſten
Zucker dem Malz möglichſt vollkommen zu entziehen. Dem Maiſch-
bottich (Fig. 284), einem eiſernen runden Gefäß, iſt zu dieſem Zwecke ein
Rührwerk eingebaut, welches die durchquirlende Arbeit beſorgt. Daß
[494]Nahrungs- und Genußmittel.

Figure 274. Fig. 283.

Vormaiſch-Apparat.


es nicht leicht iſt, ein genügend inniges Durchrühren zu erzielen, wird
ſofort einleuchten, wenn man berückſichtigt, daß in großen Sudwerken
70 Zentner und mehr trockenes Malzſchrot auf einmal — alſo außer der
dazu gehörigen Waſſermenge — eingemaiſcht werden. Man hat daher
Rührwerke von verſchiedenen Konſtruktionen eingeführt, und iſt in
Fig. 284 das vollkommenſte derſelben dargeſtellt. Dieſes Rührwerk
dreht ſich vor allem um die Hauptachſe a b; außerdem drehen ſich aber
die an der ſenkrechten Achſe c d und an der wagerechten Achſe e f be-
feſtigten eiſernen Schaufeln noch um dieſe beiden Achſen, ſo daß in der
Maiſche Bewegungen nach drei gegeneinander ſtrömenden Richtungen
hin entſtehen. g iſt der auf dem Maiſchbottich montierte Vormaiſch-
apparat (vergl. Fig. 283).


Unter ſtetem Umrühren wird das mit kaltem Waſſer angemaiſchte
Malzſchrot durch Nachgießen von heißem Waſſer unter Innehaltung
verſchiedener Ruhepauſen langſam auf die für die Verzuckerung des
Stärkemehls geeignetſte Temperatur von 70 bis 75°C. gebracht.
Geſchieht dies — wie eben beſchrieben — ohne einen Teil der Maiſche
zu kochen, ſo nennt man dieſes Verfahren die „Infuſionsmethode“,
während die viel häufiger angewendete „Dekoktionsmethode“ darin be-
ſteht, daß man einen Teil der aus der Maiſchpfanne in die Bierpfanne
übergeſchöpften Maiſche kocht und die Temperatur der geſamten Maiſche
durch Zurückpumpen dieſer kochenden Maiſche bis zu den gewünſchten
[495]Die Bereitung der Bierwürze.

Figure 275. Fig. 284.

Maiſchbottich.


Graden erhöht. Der Maiſchprozeß iſt beendet, wenn alles Stärkemehl
des Malzes in Zucker verwandelt iſt, und kann man dies durch Be-
handeln der Maiſche mit Jodkali leicht erkennen. Man nimmt zu
dieſem Zwecke einige Tropfen der Maiſche in ein Reagenzgläschen und
gießt einige Tropfen einer verdünnten Jodkalilöſung hinzu. Dieſe hat
die Eigenſchaft, Stärkemehl blau zu färben, und weiſt ſomit eine
etwa eintretende Blaufärbung noch vorhandenes Stärkemehl nach.
Erſt wenn dieſe Blaufärbung ganz aufgehört hat, iſt alles Stärkemehl
des Malzes in Zucker verwandelt und der Maiſchprozeß als beendet
zu betrachten. In dieſem Falle muß die Zuckerlöſung, welche jetzt
„Würze“ genannt wird, von den Hülſen — Treber genannt — klar
abgezogen werden, und das geſchieht im Läuterbottich. Dieſer Läuter-
bottich (Fig. 285) iſt gleichfalls ein rundes Gefäß aus Eiſen oder Holz,
welches bei a b hohl auf dem Boden aufliegend, einen aus mehreren
Teilen zuſammenſetzbaren durchlöcherten Boden (Fig. 286), gewöhnlich
aus Kupfer, trägt. Überläßt man die übergepumpte Maiſche eine Zeit
lang der Ruhe, ſo ſinken alle Treberteile zu Boden und bilden auf
dem durchlöcherten Einſatz a b (Fig. 285) eine Filterſchicht, durch welche
[496]Nahrungs- und Genußmittel.

Figure 276. Fig. 285.

Läuterbottich.


die Würze hindurch filtriert, die ſich unter dem Einſatz ſammelt, um von
hier aus durch vier oder mehr Röhren c, welche im Boden des
Läuterbottichs eingeſchraubt ſind, in ein Sammelgefäß — „Grand“
genannt — und von hier aus in die Braupfanne zu fließen, wo ſie

Figure 277. Fig. 286.

Läuterbottichboden.


ſpäter gekocht werden ſoll. Da es für den ſpäteren Verlauf des Pro-
zeſſes unbedingt notwendig iſt, daß die Würze ganz klar abläuft, ſo
iſt es nicht möglich, die Treber, die zuletzt noch eine nicht unbeträcht-
liche Menge Würze ſchwammartig aufgeſaugt enthalten, auszupreſſen,
und man muß dieſe Würze, die man nicht verloren geben darf, daher
mit Waſſer auswaſchen. Dieſes Verfahren nennt man „Anſchwänzen“
und Fig. 287 zeigt einen ſolchen Anſchwänzapparat. Das Rohr a iſt
[497]Die Bereitung der Bierwürze.

Figure 278. Fig. 287.

Anſchwänz-Apparat.


mit dem Heißwaſſer-Reſervoir verbunden und läßt das heiße Waſſer
in das auf den Arm d drehbar aufgeſetzte Gefäß b fließen. Von b
aus ſtrömt das heiße Waſſer in die vier daran befeſtigten und an den
äußeren Enden geſchloſſenen Röhren c, welche alle nur an einer und
zwar an derſelben Seite mit feinen Löchern verſehen, ſich ſofort mit
dem Gefäße b zu drehen beginnen, und ſo das heiße Waſſer in ſehr
feinen Strahlen gleichmäßig über die Treber ſtrömen laſſen, welche es
durchſickernd auswäſcht, und ſo alle noch darin enthaltene Zuckerlöſung
aufnimmt und in die Braupfanne führt.


Die Treber ſind ein außerordentlich wertvolles Viehfutter, aber
auch, beſonders in den heißen Sommermonaten leicht zur Säuerung
geneigt, wobei ſie vollſtändig verderben. Dieſes Futtermittel iſt aber
gerade in den Sommermonaten des vorhandenen Grünfutters wegen
wenig begehrt und war überdies nur in der allernächſten Umgegend
abſetzbar, weil es, ganz abgeſehen von ſeiner leichten Verderbbarkeit
ſchon der enthaltenen Waſſermengen wegen nicht verſendbar war.


Der Erlös der Treber aber iſt für die Rentabilität einer Brauerei
ein ſo weſentlicher Faktor, daß die Brauereien gezwungen ſind,
die Anzahl der Sude von der Möglichkeit des Treberverkaufs abhängig
zu machen. Nachdem durch Anwendung von Kühlmaſchinen der
Brauereibetrieb längſt von der Außentemperatur unabhängig war, wurde
es um ſo ſchwerer empfunden, daß die Entwickelung des Betriebes nun
durch die Treberabſatzfrage im Sommer dennoch eingeengt blieb. Von
verſchiedenen Seiten arbeitete man daher gleichzeitig daran, eine Behand-
lungsweiſe für die Treber zu finden, welche dieſelbe haltbar und für
den Transport geeignet machte. Hierdurch ſollte ſowohl das beliebig
häufige Brauen in der heißen Jahreszeit, wie auch der Umſtand er-
möglicht werden, die Treber verſenden und auch aufbewahren zu können,
um ſie nicht im Sommer verkaufen zu müſſen, ſondern für den Winter,
wo ſie höher bezahlt werden, aufbewahren zu können. —


Man ſtellte nun durch Preſſen und Trocknen der naſſen Treber
ſog. Trockentreber dar, die ſowohl recht haltbar als auch verſendbar waren,
und damit war anſcheinend dieſe Frage gelöſt; aber ſehr bald fand man,
daß die Treber durch das Preſſen an Nährwert verloren hatten, ſodaß
der Landwirt mit Recht behauptete, dieſe getrockneten Treber ſeien viel
Das Buch der Erfindungen. 32
[498]Nahrungs- und Genußmittel.
minderwertiger als die früheren, dem Läuterbottich direkt entnommenen.
So ergab z. B. eine in der landwirtſchaftlichen Verſuchsſtation ausge-
führte Analyſe des aus den Trebern herausgepreßten Waſſers, welches
ja nun für Futterzwecke verloren war, einen Gehalt an Nährſtoffen
von 0,91 % Fett, 2,38 % Proteïn und 2,43 % ſtickſtoffhaltige Extrakt-
ſtoffe. Nach manchen weiteren Verſuchen iſt es endlich gelungen, die
Treber haltbar zu machen, ohne einen Verluſt an Nährwert herbeizu-
führen und zwar durch gelindes und langſames Trocknen der Treber
mittelſt Dampfes ohne vorheriges Preſſen derſelben.


Fig. 288 zeigt den Henckeſchen Trebertrocken-Apparat. Derſelbe
führt den in die trichterartige Mulde a geſchütteten naſſen Treber

Figure 279. Fig. 288.

Trebertrocken-Apparat.


zwiſchen zwei mit Dampf von innen geheizte und ſehr langſam gegen
einander rotierende Trockenwalzen b, welche ſich nicht berühren, einen
ſehr großen Durchmeſſer haben, und von denen in Fig. 288 nur die eine
ſichtbar iſt. Hierbei legen ſich die Treber in dünner Schicht an die
Walzen an, trocknen ſchnell und fallen nach einer einzigen Um-
drehung der Walze, von den mit Gewichten beſchwerten Abſtreichern c
abgeſtrichen, in die unter den Walzen befindliche Nachtrockenmulde d.
Dieſe iſt doppelwandig und gleichfalls mit Dampf geheizt und in
ihrer ganzen Länge mit einer Wendevorrichtung e verſehen, welche ſo-
wohl das Trocknen gleichmäßig macht und beſchleunigt, als auch in
der etwas geneigt liegenden Mulde die Treber in ihrer Achſe vorwärts
ſchiebt und an der Stirnwand derſelben gut getrocknet ſpreuartig her-
ausfallen läßt. Sollen größere Mengen Treber getrocknet werden,
ſo werden eine größere Anzahl ganz wie d konſtruierter Mulden neben
d horizontal übereinander montiert, und die aus d in einen Kaſten fallen-
den Treber werden mittelſt Becherwerkes gehoben und in die oberſte dieſer
Mulden geſchüttet. Auch dieſe Mulden ſind etwas geneigt gegen ein-
ander montiert, ſo daß die Wendevorrichtung einer jeden Mulde die
immer trockener werdenden Treber in derſelben entlang und der nächſten
Mulde zuführt, bis ſie die letzte Mulde vollſtändig trocken verlaſſen.
[499]Die Bereitung der Bierwürze.
An den Dampfzuführungsröhren f ſitzen Manometer g, um den Druck
ſowohl in den Walzen, als auch in den Muldenwandungen beobachten
und ſo eine Exploſion derſelben verhüten zu können.


Wir kehren nun zu der Bierwürze zurück, welche wir nach dem
Abläutern aus dem Läuterbottich in der Braupfanne verlaſſen haben.
Die Stärke dieſer Würze, d. h. ihr Zuckergehalt, wird mittelſt Saccharo-
meter feſtgeſtellt und natürlich nach der Art des Bieres bemeſſen, welches
gebraut werden ſoll. Der Extraktgehalt der verſchiedenen Biere variiert
von 4 bis 15 %, ihr Alkoholgehalt von 2 bis 8 %, und 1 % Zucker
in der Würze liefert bei der ſpäter zu beſchreibenden geiſtigen Gährung
derſelben ca. 0,5 % Alkohol. Beim Kochen der Würze mit Hopfen
werden — abgeſehen von einigen anderen Wirkungen des letzteren —
die in ihr enthaltenen Eiweißſtoffe durch die Gerbſäure des Hopfens
koaguliert und in großen Flocken herausgefällt. Dieſe Flocken ſetzen ſich
dann beim Abkühlen des gekochten Bieres auf dem Kühlſchiff zu Boden,
von dem ſie als ſog. Kühlgeläger abgefegt zu Viehfutter Verwendung
finden. Dieſes Ausſcheiden der Eiweißſtoffe iſt ſehr wichtig, denn ſie
ſind — wie alle ſtickſtoffhaltigen Subſtanzen — ſehr geneigt in Fäul-
nis überzugehen und würden die Haltbarkeit des Bieres nicht nur be-
einträchtigen, ſondern ſogar vollſtändig unmöglich machen. Anderſeits
iſt dieſe techniſche Notwendigkeit ſehr zu bedauern, denn könnte man
die Eiweißſtoffe im Biere laſſen, ſo würde der Nährwert desſelben ein
weſentlich höherer ſein, als er es jetzt iſt.


Die Bierpfanne iſt eine große runde oder viereckige eiſerne Pfanne,
unter welcher ſich eine Feuerungsanlage befindet, welche ſo konſtruiert
iſt, daß die Flamme nicht nur den
Boden der Pfanne, ſondern auch
einen Teil der Seitenwandung
beſtreicht, und das iſt notwendig,
weil das Kochen der Würze ein
ſehr langes und ſehr intenſives
ſein muß. Wird die Bierpfanne
— wie in ſehr häufigen Fällen —
auch gleichzeitig zum Kochen der
Maiſche benutzt, ſo befindet ſich
in derſelben ein Rührwerk, welches
durch auf dem Boden der Pfanne
ſchleifende bewegliche Hämmer
oder Ketten ein Anbrennen der
ſich auf den zu Boden ſetzenden
Treberteilchen der Maiſche ver-
hindert. Mit großem Vorteil
iſt neuerdings für die direkte
Feuerung die Dampfkochpfanne
(Fig. 289) eingeführt. Dieſe be-

Figure 280. Fig. 289.

Dampf-Kochpfanne.


32*
[500]Nahrungs- und Genußmittel.
ſteht am Boden und einem Teile der Wandungen aus doppelten Eiſen-
blechen, zwiſchen welche der Dampf, der bei a in der Richtung des
Pfeils eintritt, nach b gelangen kann. c iſt ein Ventil zur Regulierung
der Dampfzufuhr, d ein Manometer und e ein Sicherheitsventil zur
Regulierung des Dampfdruckes zwiſchen den Wandungen der Pfanne.
Mittelſt des Rädchens f kann das am Boden der Pfanne angebrachte
Ventil g geöffnet werden, um nach Beendigung des Kochens das Bier
durch das Rohr h abfließen zu laſſen. Endlich iſt i der Antrieb des
in der Pfanne befindlichen, zum Kochen der Maiſche notwendigen
Rührwerks.


Von der Pfanne wird das heiße Bier behufs Abkühlung auf das
Kühlſchiff gepumpt. Das Kühlſchiff iſt ein ſehr großes offenes und
nur 20 bis 24 cm tiefes eiſernes Gefäß, welches ſehr hoch gelegen und
möglichſt freiſtehend montiert wird, um der Luft von allen Seiten freien
Zutritt zu geſtatten. Da nun aber das Bier zwiſchen 25° und 30°C.
ſehr zur Milchſäurebildung neigt und die Abkühlung auf dem Kühl-
ſchiffe beſonders im Sommer nur ſehr langſam vor ſich geht, ſo wird
die Würze ſchon bei einer Temperatur von mehr als 30°C vom Kühl-
ſchiffe abgelaſſen, um auf ihrem Wege zum Gährkeller Kühlapparate zu
paſſieren, welche den Namen „Gegenſtrom-Apparate“ führen, weil die
zum Kühlen verwendete Flüſſigkeit dem Biere entgegenſtrömt. Fig. 290
zeigt einen ſolchen Kühlapparat im Längsſchnitt und Fig. 291 im Quer-

Figure 281. Fig. 290.

Bierkühl-Apparat (Längsſchnitt).


Figure 282. Fig. 291.

Bierkühl-Apparat (Querſchnitt).


ſchnitt. Er beſteht aus ſenkrecht aufgerichteten, wellenförmig gebogenen
und ſo aneinander gelegten Blechen, daß ſie im Innern einen Hohl-
raum bilden, deſſen oberer Teil bei a von dem unteren Teile getrennt
iſt. Dieſe Bleche ſtehen in einer größeren Mulde b und tragen eine
kleinere Mulde c. Das Bier fließt vom Kühlſchiff durch das Rohr d
in die Mulde c, tritt dann aus feinen ſeitlichen Öffnungen derſelben
[501]Die Bereitung der Bierwürze.
heraus, um außen an den Wellblechen herab in die Mulde b zu laufen
und von hier aus durch das Rohr e in den Gährkeller zu gelangen.
Während nun das Bier außerhalb der Wellbleche den Weg von c nach
b macht, geht in dem Innenraum zwiſchen den Blechen eine kalte
Flüſſigkeit von unten nach oben, und zwar Brunnenwaſſer, welches bei
f ein- und bei g austritt, den oberen Innenraum in der Richtung der
Pfeile durchſtrömend, während Eiswaſſer für den unteren Innenraum
bei h ein- und bei i austritt.


In demſelben Maße aber, wie die Kenntnis der zahlreichen, dem
Biere im allgemeinen und der Gährung im ſpeziellen ſo ſchädlichen
Bakterien zunimmt, muß auch die Abgeneigtheit gegen das Kühlſchiff
überhaupt wachſen, da das Bier in demſelben mit ſehr großer offener
Fläche ſtundenlang dem Zutritte der Luft ausgeſetzt iſt und ſo alle
Bedingungen einer möglichſt großen Infizierung vorhanden ſind. In
der That beſteht die allerneueſte Verbeſſerung der Brauerei-Apparate
darin, das Kühlſchiff ganz zu beſeitigen und dasſelbe durch einen luft-
dicht geſchloſſenen Kühl- und Steriliſierapparat zu erſetzen. Derſelbe
iſt aus Eiſenblech montiert, hat die ungefähre Form einer mit dem
koniſchen Ende nach unten gerichteten Birne und iſt ſo groß, daß er
den ganzen Sud auf einmal aufnehmen kann. Nachdem die in dem
Apparate enthaltene Luft mittelſt Dampf ſteriliſiert iſt, wird der Sud
hineingelaſſen und unter vollkommenem Luftabſchluß erſt mit Hülfe von
Brunnenwaſſer und zuletzt mittelſt Eiswaſſer abgekühlt.


Die Gährung der Bierwürze.

Vom Kühlſchiff kommt das Bier in den Gährkeller, wo nach Zuſatz
von Hefe die Gährung, d. h. im chemiſchen Sinne die Spaltung eines
Teiles des im Sudhauſe erzeugten Zuckers in Alkohol und Kohlenſäure
veranlaßt wird. Der Ausdruck „Spaltung“ iſt hier abſichtlich gewählt,
denn ſehen wir von verſchiedenen ſich bei der Gährung bildenden
Nebenprodukten — auf welche bei der Brennerei und Weinbereitung
näher eingegangen werden ſoll — ab, ſo finden wir, daß ein Molekül
Zucker ſich ſpaltet zu je 2 Moleküle Äthyl-Alkohol und 2 Moleküle
Kohlenſäure, was ſich durch folgende Formel ausdrücken läßt:

Dieſe ſog. Hauptgährung geht in großen oben offenen Gähr-
bottichen vor ſich, dauert 6 bis 8 Tage und wird nicht ganz zu Ende
geführt, damit das Bier dann noch fähig iſt, im Lagerkeller, wohin es
vom Gährkeller aus in große Lagerfäſſer geſchlaucht wird, eine Nach-
gährung durchzumachen, die — je nach der Zeit, in welcher das Bier
konſumiert werden ſoll — mitunter monatelang dauert. Bei der Haupt-
gährung tritt eine weſentliche Temperaturerhöhung ein, welche durch
künſtliche Kühlung in den Bottichen reguliert werden muß, während die
[502]Nahrungs- und Genußmittel.
Lagerkeller ſelbſt durch ein an der Decke angebrachtes und von großen
Kühlmaſchinen geſpeiſtes Röhrenſyſtem auf einer Temperatur von 1 bis
C gehalten werden.


Die Gährung iſt gleichzeitig eine Hefenkultur, denn die Hefe ver-
mehrt ſich während derſelben bedeutend, und je nachdem man bei
höherer oder niedriger Temperatur mit verſchiedenen Arten der Hefe
die Gährung mehr oder weniger ſtürmiſch verlaufen läßt, findet man
die Hefe an der Oberfläche oder auf dem Boden des Gährgefäßes.
Nach dieſer Art der Gährung unterſcheidet man „obergährige“ oder
„untergährige“ Biere, bez. „Oberhefe“ und „Unterhefe“. Fig. 292 und

Figure 283. Fig. 292.

Oberhefe.


Figure 284. Fig. 293.

Unterhefe.


293 zeigen dieſe beiden Hefenarten ſtark vergrößert; die Oberhefe bildet
runde, ſchwere Zellen, während die Zellen der Unterhefe leichter und
von länglicher Form ſind.


Der ganze Verlauf der Gährung und beſonders die Art der Hefe
ſelbſt ſind außerordentlich wichtig für die Güte der Biere und haben
gerade in allerneueſter Zeit zu ſehr intereſſanten Forſchungen geführt.
Die durch Profeſſor Koch hervorgerufene Zeit der mikroſkopiſchen
Unterſuchungen der Pilze, zu welchen auch die Hefe — Saccharomyces
cerevisiae
— gehört, iſt an den modernen wiſſenſchaftlichen Hülfs-
mitteln der Bierbereitung nicht ſpurlos vorübergegangen, und ſtand
vorher von den exakten Naturwiſſenſchaften beſonders die Chemie im
Dienſte der Bierbrauerei, ſo ſpielt heute die Pflanzenphyſiologie eine
faſt nicht minder wichtige Rolle. Prof. Hanſen in Kopenhagen gebührt
das Verdienſt, den Gedanken des berühmten franzöſiſchen Chemikers
Paſteur, Reinkulturen der Hefe zu züchten, in die richtige Bahn geleitet
und für die Brauerei praktiſch verwendbar gemacht zu haben. Paſteur
verſtand unter „Reinkulturen“ Hefe, frei von irgend welchen anderen
Spaltpilzen; Hanſen wies die zahlreichen Arten dieſer Hefe ſelbſt nach
und verſteht unter „Reinkultur“ die Hefe einer einzigen Art derſelben.
Dieſe kann man nur gewinnen, wenn man die Hefe unter abſolutem
Abſchluß aller Bakterien der Luft von einer einzigen mikroſkopiſchen
Hefezelle aus züchtet. Das bot ſchon bei Laboratoriums-Verſuchen
große Schwierigkeiten und ſchien für den Großbetrieb infolge der dort
[503]Die Gährung der Bierwürze.
notwendigen Mengen ganz undurchführbar. Dennoch hat dieſer geniale
Forſcher in überraſchend kurzer Zeit alle Schwierigkeiten überwunden,
und heute ſchon arbeiten zahlreiche Brauereien mit ſeinen ſog. Hefe-
Reinzucht-Apparaten, welche ihnen in kontinuierlichem Betriebe alle für
die Bierproduktion notwendigen Hefemengen liefern, deren Urſprung eine
einzige winzig kleine Zelle war, welche bei 100 maliger Vergrößerung
unter dem Mikroſkop ungefähr ſo groß ausſieht, als ein Stecknadelkopf!


Von den Lagerfäſſern wird das fertige Bier auf Verſandfäſſer ge-
gefüllt und in dieſen oder in Flaſchen dem Konſum übergeben. In-
folge der Nachgährung hat ſich in den Lagerfäſſern das ſog. „Faß-
geläger“ gebildet und dort
zu Boden geſetzt. Um nun
das Bier vollſtändig klar
abziehen zu können, werden
neuerdings Filtrier-Abzieh-
Apparate verwendet, wie
Fig. 294 einen ſolchen, von
Stockheim konſtruierten,
zeigt. Dieſer Apparat wird
mit dem Schlauche an das
Zapfenloch des Lagerfaſſes
angeſchraubt, und das Bier
muß, bevor es aus den
Ausflußöffnungen b b in
zwei Verſandfäſſer gleich-
zeitig gefüllt werden kann,
die Trommel c durchſtrömen.
In dieſer Trommel befinden
ſich einige ihre ganze Fläche

Figure 285. Fig. 294.

Filtrier- und Abzieh-Apparat.


bedeckende, durchlöcherte Metallplatten, zwiſchen welchen ein aus
Celluloſe beſtehendes Filtermaterial gepreßt liegt, und dieſes hält alle
Hefeteilchen und ſonſtige das Bier trübe machenden Subſtanzen zurück.
Natürlich bedarf das Bier eines gelinden Druckes, um dieſen Filtrier-
Apparat zu durchſtrömen, und zwar iſt hierzu ein Überdruck von ca.
½ Atmoſphäre nötig. Dieſer Druck wird durch eine Luftpumpe erzeugt,
welche mit dem Spundloch des Faſſes verbunden wird und kann am
Manometer e beobachtet werden; d endlich ſind Schaugläſer von ver-
ſchiedenen Durchmeſſern, an welchen die Klarheit des Bieres geprüft
werden kann.


Was die Geſchichte des Bieres anbetrifft, ſo iſt es wohl allgemein
bekannt, daß Gambrinus, König von Brabant, welcher von den Brauern
als Erfinder des Bieres verehrt wird, in das Reich der Mythe gehört;
das Bier iſt älteren Urſprungs. Schon die alten Ägypter verſtanden
es ein ſehr gutes Bier zu brauen, und Peluſium, eine Stadt an einer
der Nilmündungen, war das „München“ der damaligen Zeit. Von
[504]Nahrungs- und Genußmittel.
Ägypten aus hat ſich dieſe Induſtrie über alle Völker verbreitet und
beſonders in Deutſchland eine Stätte gefunden, an welcher die Art
und Weiſe der Bereitung ſehr vervollkommnet worden iſt. Im Mittelalter
und ſpäter noch, waren es beſonders die Klöſter, welche dieſes Hand-
werk pflegten, und ſie lieferten ſchon darum ein ſehr vorzügliches Bier,
weil es weniger für den Handel, als für den Selbſtkonſum beſtimmt
war. Die Brauerei entwickelte ſich von Jahr zu Jahr mehr, und die
kulturhiſtoriſche Bedeutung des Bieres iſt nicht zu unterſchätzen. Wir
ſehen nämlich Moral, Familienglück, Wohlſtand in den hauptſächlich
Schnaps trinkenden Gegenden in demſelben Maße zunehmen, als es
dem Biere gelingt, den Schnapskonſum einzudämmen, ſo daß die ſtetig
wachſenden Zahlen des Bierkonſums erfreulich wirken müſſen. Hiermit
ſoll allerdings durchaus nicht beſtritten werden, daß auch das Bier,
im Übermaße genoſſen, ſehr viel Unheil anrichten kann.


Das Deutſche Reich produzierte 1872 rund 33½ Millionen Hekto-
liter, 1882 bereits 39½ Millionen, 1887 45 Millionen und 1891
endlich 53 Millionen. Dieſer Zuwachs iſt nicht etwa auf die gleich-
zeitig gewachſene Einwohnerzahl zurückzuführen, denn 1872 wurden
pro Kopf und Jahr 81,7 Liter, 1882 ſchon 84,7 Liter, 1887
94,6 Liter und 1891 endlich 106 Liter konſumiert. Bei ſo be-
deutender Entwickelung einer Induſtrie, welche eine ſo große kultur-
hiſtoriſche Aufgabe hat, muß die Reinheit des Fabrikats gerade
in einer Zeit wie der unſeren, wo Surrogate ſo vieles erſetzen ſollen,
beſonders angenehm berühren. Es giebt nämlich nur wenige Nahrungs-
bezw. Genußmittel, welche fabrikmäßig, im großen hergeſtellt, ſo rein
geliefert werden als das Bier, und alle ſo häufig genannten Ver-
fälſchungen mögen wohl zum Teil früher vorgekommen ſein, gehören
aber jetzt in das Reich der Fabel, wenigſtens für die große Anzahl
der Großbrauereien, welche mit ihrer Produktion faſt den ganzen
Konſum decken.


Die Branntweinbrennerei.

Sobald eine zuckerhaltige Flüſſigkeit zufällig mit Gährungserregern,
wie ſie unzählbar in der atmoſphäriſchen Luft enthalten ſind, in Be-
rührung kommt, oder ihr ſolche, wie z. B. die Hefe, abſichtlich zugeſetzt
werden, ſo beginnt die Gährung dieſer Flüſſigkeiten. Beim Wein z. B.
wird die Gährung durch diejenigen Fermente oder Gährungserreger
hervorgerufen, welche in der atmoſphäriſchen Luft vorhanden ſind und
aus verſchiedenen Arten beſtehen, die der Botaniker unter dem Mi-
kroſkope genau von einander unterſcheidet. Die Weinhefe unterſcheidet
ſich wiederum ſcharf von der Hefe, welche die Gährung im Biere
hervorruft und dieſem — wie wir im vorigen Kapitel erläutert haben
— in möglichſt rein gezogener Raſſe zugeſetzt wird. Daß alle dieſe
kleinen Pflänzchen die Eigenſchaft haben, eine Gährung in einer Zucker-
löſung hervorzurufen, kann den Botaniker ebenſowenig veranlaſſen, ſie
[505]Die Branntweinbrennerei.
für identiſch untereinander zu halten, als ein Laie z. B. eine Roſe
und ein Veilchen nur darum mit einander verwechſeln könnte, weil
beides Blumen ſind und angenehm riechen.


Für den Chemismus der Gährung ſelbſt aber iſt die Art des
Gährungserregers bis zu einer gewiſſen Grenze gleichgiltig, denn beim
Weine, wie beim Biere und bei allen anderen Zuckerlöſungen, welche in
den Maiſchen der verſchiedenen Getreidearten, der Kartoffeln, in dem
Safte der Früchte ꝛc. enthalten ſind, gehen der Hauptſache nach die-
ſelben chemiſchen Umſetzungen vor ſich. Mit dem Fortſchreiten der
Gährung verſchwindet der Zuckergehalt dieſer Flüſſigkeiten immer mehr,
und ſie werden immer alkoholreicher, während große Mengen Kohlen-
ſäure frei werden und entweichen. Näheres über die Entſtehung des
Alkohols und der Kohlenſäure aus der Zuckerlöſung findet ſich gleich-
falls in dem vorſtehenden Aufſatz über Bierbrauerei. In Wirklichkeit
geht aber die Spaltung des Alkohols nicht ſo rein und glatt vor ſich,
denn neben dem Alkohol bilden ſich gleichzeitig — je nach der Art
der Gährung und des zu vergährenden Rohmaterials — noch ver-
ſchiedene andere Körper, wie z. B. das ſog. Fuſelöl, einige Äther-
arten ꝛc. Das hat ſein Angenehmes und Unangenehmes. So verdankt
z. B. der Wein ſein ſo beliebtes Aroma — auch die „Blume“ genannt
— jenen Ätherarten, welche als Nebenprodukt der Gährung entſtehen,
aber auch das Fuſelöl, dieſe unſerm Organismus ſo ſchädliche Ver-
unreinigung des Branntweins, bildet ſich auf dieſe Weiſe und muß
bei der Deſtillation von dieſem getrennt werden.


Alle durch die Gährung entſtehenden Flüſſigkeiten enthalten den
Alkohol nur in ſehr verdünnter Form, und Aufgabe der Brennerei
iſt es, denſelben aus den weingaren Maiſchen durch Deſtillation
mehr oder weniger konzentriert und rein zu gewinnen. Bevor wir
uns aber mit der Deſtillation ſelbſt beſchäftigen, müſſen wir die für
die Branntweinbrennerei verwendeten Rohmaterialien und die Dar-
ſtellung der weingaren Maiſchen aus denſelben, näher betrachten. Es
ſind bei der Spiritusfabrikation drei Hauptoperationen zu unterſcheiden
und zwar:


  • 1. die Darſtellung der zuckerhaltigen Flüſſigkeit,
  • 2. die Gährung derſelben und
  • 3. die Abſcheidung des Alkohols durch Deſtillation.

Als Rohmaterial für die Spiritusfabrikation ſind alle feſten oder
flüſſigen Körper zu verwenden, welche zuckerbildende Subſtanzen enthalten,
oder ſchon fertigen Zucker oder auch ſchließlich fertigen Alkohol, nach-
dem ſie bereits eine Gährung durchgemacht haben. Im Großbetriebe
kommen hauptſächlich die Wurzeln und Knollen der Kartoffeln
— für den Kartoffel-Spiritus — und von den Cerealien Roggen,
Weizen und Gerſte, ſeltener Hafer, Mais und Reis — für den
Getreide- oder Kornbranntwein — in Betracht.


[506]Nahrungs- und Genußmittel.

Bei Darſtellung des Kornbranntweins miſcht man wenigſtens 2,
am häufigſten alle 3 der genannten Getreidearten, weil dadurch die
Ausbeute an Alkohol größer wird, und zwar rechnet man gewöhnlich
auf einen Teil Grünmalz, zwei Teile ungemälztes Getreide. Dieſes
Gemenge wird geſchroten, eingeteigt und — wenigſtens in Deutſchland
— mit den Trebern vergohren, nachdem die Maiſche auf Kühlſchiffen
durch Kühlapparate ſo ſchnell als möglich abgekühlt iſt. Als Gährungs-
erreger wird entweder Bierhefe oder in heißem Waſſer aufgelöſte Preß-
hefe verwendet. Nach 3 bis 5 Stunden tritt die Gährung ein und
dauert bei einer Temperaturſteigerung bis ca. 30°C ungefähr 4 Tage,
bis nach dem Aufhören der Entwickelung der Kohlenſäure alle ſchwereren
Teile zu Boden ſinken. Die darüber ſtehende Maiſche bezeichnet man
als reif oder weingar und die Deſtillation derſelben muß dann ſofort
vorgenommen werden.


Die Kartoffeln enthalten neben 72 % Waſſer 28 % Trocken-
ſubſtanz und in dieſen 21 % Stärkemehl, aus welchem der Kartoffel-
ſpiritus gewonnen werden ſoll. Zur Umbildung des Stärkemehls in
Zucker muß — da ja Diaſtaſe nicht vorhanden iſt — gleichfalls etwas
Malz zugeſetzt werden; die Operation mit verdünnter Schwefelſäure,
welche denſelben Dienſt leiſtet, ſoll hier — als ſehr wenig angewendet
— unberückſichtigt bleiben. Die Kartoffeln werden gewaſchen, gekocht,
zerkleinert, gleichfalls mit Grünmalz eingemaiſcht und die Maiſche auf
dem Kühlſchiff abgekühlt. Auch dieſe Maiſche wird im Gährbottich mit
Bier oder Preßhefe zur Gährung angeſtellt und iſt nach ca. 60 bis
70 Stunden weingar d. h. zur Deſtillation reif.


Unter Deſtillation verſtehen wir das Verdampfen einer Flüſſigkeit
bei Siedetemperatur und Kondenſieren der ſo erhaltenen Dämpfe durch
Abkühlung zu einer Flüſſigkeit, und zeigt Fig. 295 einen Deſtillier-
apparat allereinfachſter Konſtruktion. Die zu deſtillierende Flüſſigkeit
wird in einem großen Hohlgefäß B — Blaſe genannt — erwärmt.
Dieſe Blaſe iſt durch einen ſog. Helm A, an deſſen Ausflußrohr C das
Kühlrohr D eingeſchraubt iſt, verſchloſſen, ſo daß die ſich entwickelnden
Dämpfe gezwungen ſind, durch dieſes Kühlrohr D zu gehen. Das
Kühlrohr liegt in ſchlangenartigen Windungen in einem von kontinuierlich
fließendem kalten Waſſer durchſtrömten Bottich, aus welchem es bei O
herausragt, ſo daß hier ein Gefäß, die ſog. Vorlage, angeſetzt werden
kann. In dieſer Vorlage wird die Flüſſigkeit aufgefangen, die ſich
infolge der Abkühlung des Kühlrohrs durch Kondenſation der ſein
Inneres durchſtrömenden Dämpfe gebildet hat. An dieſer, wie geſagt,
einfachſten Form eines Deſtillierapparates ſind ganz weſentliche Ver-
beſſerungen vorgenommen worden und ſollen ſpäter einige derſelben
beſchrieben werden.


Da nun der Alkohol ſchon bei 78,3°C ſiedet, das Waſſer aber
bekanntlich erſt bei 100°, ſo wird von der in der Deſtillierblaſe er-
hitzten Flüſſigkeit, welche den Alkohol verdünnt enthält, zuerſt der
[507]Die Branntweinbrennerei.

Figure 286. Fig. 295.

Deſtillierapparat.


Alkohol — allerdings mit Waſſerdämpfen — in die Vorlage über-
deſtilliert. Die Temperatur ſteigt in der Deſtillierblaſe nicht eher
auf die Siedetemperatur des Waſſers, als bis aller Alkohol über-
deſtilliert iſt, wodurch derſelbe — jetzt „Lutter“ genannt — von der
Hauptmenge des Waſſers getrennt wird. Dieſer Lutter wird nun von
neuem der Deſtillation — jetzt Rektifikation genannt — unterworfen.
Auch die bei der Gährung ſich bildenden Nebenprodukte, wie Äther-
arten und Fuſelöl, haben andere Siedetemperaturen, als der Alkohol
und werden mit Hülfe dieſer von dem Lutter mittelſt fraktionierter
Deſtillation getrennt. Der Siedepunkt der betreffenden Ätherarten liegt
niedriger, der des Fuſelöls höher, als derjenige des Alkohols, ſo daß
alſo beim wiederholten Deſtillieren zuerſt die Ätherarten, dann der immer
noch ſtark mit Waſſer verſetzte Alkohol und endlich das Fuſelöl über-
deſtillieren. Sobald nun die einzelnen Flüſſigkeiten überdeſtilliert ſind,
wird nach dem Auffangen einer jeden derſelben die Vorlage gewechſelt,
wodurch man ſie getrennt erhält, welche Unterbrechung der Deſtillation
durch das Wechſeln der Vorlage ihr auch den Namen „fraktionierte“
Deſtillation gegeben hat. Das bei der Rektifikation des Lutter zuerſt
übergehende, ſehr alkoholreiche Deſtillat heißt „Vorlauf,“ das ſpätere
„Nachlauf“. Zur vollkommenen Trennung des Alkohols vom Fuſelöl
und beſonders von den letzten Teilen Waſſer, welche der Alkohol außer-
ordentlich feſt hält, iſt bei der Rektifikation die Zuhilfenahme von
Kohle, häufig auch verſchiedener oxydierend wirkender Chemikalien er-
forderlich. Letztere zerſtören das Fuſelöl und bilden durch Oxydation
desſelben verſchiedene Ätherarten. Deutſchland hat außerordentlich hohe
Verdienſte um die Verbeſſerung der Verfahren, welche zur Reinigung
des Spiritus und zur Darſtellung eines ganz reinen Sprits dienen,
weshalb letzterer auch viel exportiert wird. So geht z. B. eine nicht
[508]Nahrungs- und Genußmittel.
unbeträchtliche Menge nach Spanien, dient dort zum Verſchneiden der
ſtarken ſpaniſchen Weine und kehrt in dieſen wiederum nach Deutſch-
land zurück, was den berühmten Chemiker A. W. v. Hofmann zu dem
ſehr bezeichnenden Ausſpruch veranlaßte: „Das Feuer der ſpaniſchen
Weine wächſt auf den märkiſchen Kartoffelfeldern!“


Die zu den landwirtſchaftlichen Betrieben gehörigen Brennereien
erzeugen indes nur den gewöhnlichen Spiritus, ſeine Reinigung durch
Rektifikation bez. die Herſtellung von Feinſprit wird hingegen in den
ſog. Spritfabriken betrieben, an welche jene Brennereien den Spiritus
liefern. Die hierzu nötigen Apparate ſind weſentlich verbeſſert worden,
und iſt es hier nicht möglich, die ganze Entwickelung dieſer Apparate
zu ſchildern, vielmehr müſſen wir uns damit begnügen, die letzten und
vollkommenſten derſelben zu beſchreiben. Da iſt vor allen Dingen der

Figure 287. Fig. 296.

2 Elemente eines Kolonnenapparates.


ſog. Kolonnenapparat, der ſchon zur
Gewinnung des Rohſpiritus dient.
Fig. 296 zeigt die innere Konſtruktion
zweier aus der Mitte herausgegriffenen
Elemente eines ſolchen Kolonnen-
apparates, von denen eine größere
Anzahl übereinander gebaut iſt. Aus
dem auf Fig. 296 nicht mehr ſichtbarem
Element A tropft die Maiſche durch
das Rohr a in das Element B, bis
ſie den Boden derſelben ſo hoch be-
deckt, daß ſie durch das Rohr b nach
dem Element 1 überfließen kann, wo-
rauf ſie, ſobald auch hier der Boden genügend bedeckt iſt, durch das
Rohr c nach dem hier nicht mehr ſichtbaren Element D überfließt und ſo
fort, bis alle Elemente des Apparates mit der von oben nach unten
fließenden Maiſche gefüllt ſind. Die dem Apparat zugeführten Dämpfe
machen den entgegengeſetzten Weg; ſie treten in das unterſte Element ein
und durchſtreichen alle Elemente der Reihe nach von unten nach oben.
Die in die Elemente führenden Eintrittsöffnungen ſind aber, wie es bei d
und e ſichtbar iſt, nach unten gebogen, und zwar ſo tief, daß die aus-
tretenden Dämpfe die den Boden eines jeden Elementes bedeckende Maiſche
durchſtrömen müſſen. Auf dieſe Weiſe werden die Dämpfe nach oben zu
immer alkoholreicher, da ſie immer mehr Maiſche durchſtrömt haben
und ihr Waſſer in den nach oben zu kälter werdenden Elementen immer
mehr kondenſiert wird, während die Maiſche nach unten zu immer
alkoholärmer und waſſerreicher wird. Dieſe Kolonnenapparate werden
auch — für kontinuierlichen Betrieb eingerichtet — zur Rektifikation
von Spiritus verwendet.


Vorher war bereits erwähnt, welche verbeſſernde Wirkung oxy-
dierende Chemikalien auf das Fuſelöl haben. Aber auch nach Entfer-
nung des Fuſelöls bleiben noch andere Nebenprodukte der Gährung
[509]Die Branntweinbrennerei.
wie Äther, Aldehyde ꝛc., die ohne Zuhilfenahme von Chemikalien —
welche aber leicht ein geſchmack- und geruchloſes Fabrikat zu erzielen
verhindern — ſchwer zu entfernen ſind. R. Eiſenmann iſt ein Verfahren
patentiert worden, nach welchem eine große Menge Ozon in ſehr ſtarkem
Luftſtrom erzeugt wird. Das Ozon verbrennt dabei alle genannten Ver-
unreinigungen des Spiritus, und die luftförmigen Verbrennungsprodukte
werden von dem ſtarken Luft-
ſtrom vollſtändig heraus-
geblaſen. Fig. 297 zeigt die
Kombination des Ozoni-
ſations-Apparates von Eiſen-
mann, mit dem Savalleſchen
Deſtillations-Apparat. A iſt
die Blaſe, B die Kolonne,
C der Dephlegmator, D der
Kühler, E der Regulator,
F der Spiritusabfluß des
Savalleſchen Deſtillations-
Apparates. G iſt das Re-
ſervoir, in welchem die Ge-
winnung des Sprits vor-
genommen wird, und mit G
in Verbindung ſind H der
Dephlegmator, I der Kühler
und K der Spiritusabfluß.

Figure 288. Fig. 297.

Ozoniſations-Apparat zur Reinigung des Spiritus
nach Eiſenmann.


Zur Erwärmung des Spiritus im Reſervoir G dient die Dampfleitung a,
welche innerhalb des Reſervoirs in einen durchlöcherten Röhrenkranz b
endet, und wird durch das Thermometer c die erzielte Temperatur
angezeigt. Eine zweite Dampfleitung d ſetzt das Dampfſtrahlgebläſe e
in Thätigkeit. Der von dieſem erzeugte kräftige Luftſtrom entweicht
aus den zahlreichen Öffnungen des innern Röhrenkranzes f, durchſtrömt
in vielen Blaſen den erwärmten Spiritus im Reſervoir G und gelangt
durch das Rohr g in den Dephlegmator H, woſelbſt die flüchtigen
Spiritusteile wieder kondenſiert werden und durch das Rohr h zum
Reſervoir zurückfließen, während ſich die herausgeblaſenen, leichtflüchtigen
Zerſetzungsprodukte erſt im Kühler I verdichten und durch den Abfluß K
nach beſonderen Sammelgefäßen abfließen.


Um den Sauerſtoff der Luft nun in den ozoniſierten Zuſtand zu
verſetzen, paſſiert dieſelbe, bevor ſie durch den Spiritus geblaſen wird,
einen Apparat i, in welchem durch langſame elektriſche Entladung einer
Batterie k in Verbindung mit dem Funkengeber l die Ozoniſation
ſtattfindet. Nach erfolgter Reinigung fließt der Spiritus aus dem
Reſervoir, alsdann durch das Rohr m in die Blaſe A, um in be-
kannter Weiſe deſtilliert zu werden. Hierbei reſultiert ein geruch- und
geſchmackloſer Sprit von 96 bis 97 %, der von allen Verunreinigungen
[510]Nahrungs- und Genußmittel.
frei iſt, da ſein Fuſelöl durch die Holzkohle abſorbiert wurde und alle
Aldehyde, Äther und ſonſtige leicht flüchtige Verunreinigungen bei der
Ozoniſation zerſtört und durch den kräftigen Luftſtrom fortgeführt
wurden.


Aber gerade bei der mit ſo vielen Vorteilen angewendeten Filtra-
tion durch Holzkohle werden durch den in den Poren der Kohle kon-
denſiert enthaltenen, die Oxydation des Alkohols veranlaſſenden Sauer-
ſtoff Aldehyde gebildet, und dieſen Fehler vermeidet ein an R. Eiſen-
mann und Joſeph Bendix erteiltes Patent, nach welchem dieſe ſo not-
wendige und nützliche Filtration des Spiritus durch Holzkohle unter
Ausſchluß der atmoſphäriſchen Luft bewirkt werden kann.


Die Verwendung des Alkohols zu techniſchen Zwecken iſt eine
außerordentlich vielſeitige, wie z. B. in der Parfümerie, zum Auflöſen
fetter und ätheriſcher Öle, bei der Lack- und Firnisfabrikation, als Brenn-
ſpiritus, zum Verſchneiden ſehr ſchwerer Weine, wo, wie wir bereits vorher
erwähnt, gerade der deutſche, ſo gut gereinigte Sprit eine hervor-
ragende Rolle ſpielt ꝛc. ꝛc. Leider wird aber auch ein großer Teil
des Spiritus — häufig nur recht mangelhaft gereinigt — als Schnaps
getrunken. Der Alkohol iſt nämlich als Genußmittel nur dann zu
empfehlen, wenn er — nächſt dem Maßhalten darin — in ganz ver-
dünnter Form genoſſen wird, wie z. B. im Biere, welches 2 bis 8 %,
oder im Weine, der, wenn er leicht iſt, ca. 8 % enthält, während der
Alkoholgehalt ſehr ſchwerer Weine bis 20 % ſteigt. Die Schnäpſe aber,
welche 30 bis 70 % Alkohol enthalten, ſind nur zuläſſig, wenn ſie ſehr ſelten
und nur nach ſehr ſchwer verdaulichen Speiſen genommen werden. In
ſolchen Fällen unterſtützen ſie unſern Verdauungsapparat dadurch weſent-
lich, daß ſie die inneren Magenwände zur möglichſt großen Abſonderung
von Verdauungsſäften reizen. Gewöhnt der Menſch ſich aber be-
ſonders bei ungenügender Ernährung an den regelmäßigen Alkohol-
genuß, ſo begiebt er ſich auf eine ſo ſtark abſchüſſige Bahn, daß er
bald keinen Halt mehr finden kann, ſondern phyſiſch und moraliſch
elend zu Grunde gehen muß. Ein dem Menſchen ganz unwürdiges
Daſein führend, verfällt er der chroniſchen Alkoholvergiftung, die mit
dem Säuferwahnſinn — delirium tremens genannt — und auf dem Kirch-
hofe endet, wohin nicht ſelten der Weg durch das Irrenhaus oder gar
durch das Zuchthaus führt. Auch eine akute Alkoholvergiftung iſt be-
kannt und tritt dann ein, wenn zu große Mengen auf einmal genommen
werden. Der Rauſch iſt das kleinſte Stadium derſelben, nicht ſelten
endet ſie aber bei größeren Mengen mit dem plötzlichem Tode des
Vergifteten, wie derſelbe leider ſchon häufig genug durch leicht-
ſinnige Wetten veranlaßt wurde und ſchon manches blühende, zu
Hoffnungen berechtigende Menſchenleben vernichtet hat.


Nun muß beſonders hervorgehoben werden, daß gerade die un-
genügende Ernährung eine beſondere Veranlaſſung iſt, der chroniſchen
Alkoholvergiftung zu verfallen. Der Kohlenſtoff und der Waſſerſtoff
[511]Die Branntweinbrennerei.
des genoſſenen Alkohols verbrennen mittels des eingeatmeten Sauerſtoffes
direkt zu Kohlenſäure und Waſſer, um als ſolche ausgeatmet zu werden.
Hierdurch ſchützt der Alkohol den durch die Nahrungsmittel dem Körper
zugeführten Kohlenſtoff und Waſſerſtoff vorläufig vor dieſer Verbrennung,
und ſomit wird eine Nahrung bei gleichzeitigem Alkoholgenuß länger
vorhalten als ohne dieſen. Auch verfügt der mangelhaft Ernährte nach
dem Schnapsgenuß augenblicklich über Kräfte, welche aber der Schnaps
nicht erzeugt, ſondern welche bereits im Körper vorhanden waren und
nur plötzlich geſammelt werden, um nachher einer um ſo größeren Er-
mattung zu weichen. Der berühmte Chemiker Juſtus v. Liebig ſagt
darüber im zweiunddreißigſten ſeiner ſo klaſſiſch geſchriebenen „Chemiſchen
Briefe“ in lichtvollen Worten: „Der Darbende, welcher Schnaps trinkt,
um die Kraft für die Arbeit zu finden, behandelt ſeinen Körper, wie
der Unbarmherzige, der ſein vor Hunger erſchöpftes Pferd mit der
Peitſche zu neuen Leiſtungen zwingt. Der Branntwein iſt ein Wechſel,
ausgeſtellt auf die Geſundheit, der immer prolongiert werden muß,
weil er aus Mangel an Mitteln nicht eingelöſt werden kann. Der
ſchnapstrinkende Arbeiter verzehrt das Kapital anſtatt der Zinſen —
kein Wunder, daß endlich der Bankerott des Körpers unvermeid-
lich iſt!“


Es iſt ſchließlich ein allgemein verbreiteter Irrtum, anzunehmen,
daß der Schnaps Wärme erzeugt, denn das iſt nicht der Fall. Der
Alkohol ruft nur durch Erweiterung gewiſſer Gefäße eine ſchnellere
Blutcirkulation hervor und führt dadurch die im Körper bereits vor-
handene Wärme ſchneller den einzelnen Gliedmaßen zu, was wir be-
ſonders an frierenden Gliedern als Wärme empfinden. Aber genau
wie bei der zu ſchnell und auf einmal verbrauchten Kraft, iſt es gerade
nach dieſem ſchnellen Wärmeverbrauch dringend notwendig, dieſelbe
zu ergänzen.


Iſt es denn aber mit dem Schnapskonſum überhaupt ſo ſchlimm?
Faſt unglaublich ſcheinen die Zahlen, welche die für dieſen Zweck ver-
geudeten Summen angeben, und ſie wirken um ſo erſchreckender, wenn
man berückſichtigt, daß dieſe Summen zum allergrößten Teil von armen
Leuten, deren Ernährung ſchon an und für ſich eine ſehr mangelhafte
iſt, gezahlt werden. Wenn auch aus dieſen Zahlen deutlich hervor-
geht, daß der Schnapskonſum infolge des Geſetzes über die Beſteuerung
des Branntweins vom 24. Januar 1887 merklich nachgelaſſen hat, ſo
iſt doch das Übel auch heute noch geradezu unerträglich groß. Den
neueſten offiziellen Angaben darüber entnehmen wir folgendes: der
Durchſchnittskonſum in den Jahren 1880 bis 1886, alſo vor dem
Inkrafttreten des obengenannten Geſetzes, betrug pro Kopf und Jahr
im ganzen deutſchen Reichsgebiete bei einer Einwohnerzahl von rund
38 Millionen 6,58 Liter und ging infolge des Geſetzes auf 4,64 Liter
pro Kopf und Jahr zurück. Wie aber ſieht es trotz dieſer Beſſerung
ſelbſt jetzt noch mit dem Geſamtkonſum und den dafür verausgabten
[512]Nahrungs- und Genußmittel.
Summen aus? Jene 4,64 Liter pro Kopf entſprechen bei 49 096 000
Einwohnern einen Geſamtkonſum von 2 279 828 Hektolitern reinen
Alkohols, welcher mit der doppelten Menge Waſſer verdünnt wird, be-
vor er als Schnaps in den Handel kommt und ſomit zu 6 839 484
Hektolitern anwächſt. Nehmen wir nun als Detailpreis, wie er beim
Verkauf des einzelnen Schnapſes in der Schänke berechnet wird, pro
Liter eine Mark an, ſo werden alſo jährlich allein im deutſchen Reichs-
gebiete 683 948 400 Mark zum größten Teil vergeudet und der not-
wendigen Ernährung armer Leute entzogen. Will man ſich nun noch
daran erinnern, welch großer Prozentſatz der Verbrechen im Rauſche
begangen werden — in England z. B. nach amtlichen Berichten ¾ bis
⅘ aller Vergehen — ſo muß man mit einſtimmen in den Ausſpruch
William Parkers: „Das gelbe Fieber iſt gegenüber der Trunkſucht ein
ſehr mildes Leiden für die Menſchheit!“


Die Weinbereitung.

Es giebt hauptſächlich drei Arten Weine, die man nach dem Roh-
material, aus welchem ſie bereitet werden, als die Traubenweine, die
Obſtweine und die Palmen- oder ähnliche Weine bezeichnet. Alle drei
Arten Weine unterſcheiden ſich vom Bier durch folgende drei weſent-
lichen Merkmale. Sie enthalten nur ſehr wenig feſten Nahrungsſtoff,
der beim Bier neben der durſtſtillenden und erregenden Eigenſchaft
desſelben gleichzeitig ernährend wirkt. Ferner werden ſie nicht künſtlich
durch Zuſatz von Gährungserregern zur Gährung gebracht, ſondern ſie
gähren von ſelbſt bez. ihre Gährung wird durch die aus der Luft auf-
genommenen Hefekeime veranlaßt, und endlich fehlt ihnen der bittere,
narkotiſche Beſtandteil, der dem Biere durch den Hopfen gegeben wird.
Hingegen hat der Wein gegenüber dem Branntwein mit dem Biere das
gemeinſam, daß er ohne Deſtillation gewonnen wird.


Als Rohmaterial der Traubenweine dient die vom Weinſtock, einer
Pflanze aus der Familie der Sarmentaceen, gelieferte Weintraube.
Der Weinſtock gedeiht weder in der kalten, noch in der tropiſchen Zone
und erzeugt in der gemäßigten Zone nur unter beſtimmten, ſich auf
Boden und Klima beziehende Bedingungen eine Traube, aus der ſich
ein trinkbarer Wein erzeugen läßt. Abgeſehen von einer gewiſſen
Fertigkeit bei der Darſtellung des Weines ſelbſt aus der Traube
reſultieren, je nachdem dieſe Bedingungen mehr oder weniger erfüllt ſind,
die ſo zahlreichen Arten der Weine, deren Güte bez. Wert ſo ſehr ver-
ſchieden iſt.


Die Traubenleſe geſchieht erſt bei ſehr reifem Zuſtande der Beeren,
denn in demſelben Maße wie ſie reifen, nimmt ihr Zuckergehalt zu und
liefert dadurch bei der ſpäteren Gährung nicht nur einen höheren
Alkoholgehalt, ſondern mit ſeinem Zunehmen geht auch gleichzeitig der
Säuregehalt der Beeren zurück. Bei der Reife der Trauben werden
[513]Die Weinbereitung.
die Beeren welk, ebenſo die Stiele, welche dann leicht abzubrechen
ſind, ferner löſen ſich die Kerne leicht vom Fleiſch und die Beeren
nehmen eine dunklere Farbe an, indem diejenige der weißen Traube
bräunlichgelb und diejenige der roten und blauen faſt ſchwarz er-
ſcheint. Der richtige Reifezuſtand der Beere iſt von ſehr weſentlichem
Einfluß auf die Qualität des Weines, da hierdurch hauptſächlich der
Zuckergehalt erhöht und der Gehalt an freier Säure vermindert wird.


Bevor durch Preſſen der Trauben ihr Saft gewonnen wird, müſſen
bei rationeller Weinbereitung die Stiele entfernt werden. Dieſe Arbeit
früher mit der Hand, ſpäter mit einer weitzinkigen Gabel vorgenommen,
wird jetzt durch die ſogen. Traubenraſpel, welche gleichzeitig die Beeren
zerquetſcht, beſorgt. Ähnliche neue Apparate beruhen, wie die Trauben-
raſpel, im weſentlichen darauf, daß die Trauben in einem Kaſten
(Fig. 298), deſſen Boden aus ſcharfkantigen Holzſtäben beſteht, ſo lange

Figure 289. Fig. 298.

Traubenmühle.


mit der Hand oder durch Motorenkraft hin und her bewegt werden,
bis alle Beeren zerquetſcht durch den gitterartigen Boden gefallen ſind,
während die Stiele — „Kämme“ genannt — in dem Kaſten zurück-
bleiben. Dieſes Zerdrücken der Beeren muß ſtets dem Preſſen voran-
Das Buch der Erfindungen. 33
[514]Nahrungs- und Genußmittel.
gehen und geſchieht, wo die Kämme nicht erſt entfernt werden, in
großen Bottichen durch Zerſtampfen mit Keulen oder dem ſehr un-
ſauberen Zertreten mit den Füßen. Das Auspreſſen der Beeren wird
in ſehr verſchieden konſtruierten Preſſen, wie Baumpreſſen, Hebelkeltern,
Schlittenpreſſen, oder Schraubenpreſſen ꝛc. vorgenommen, welche alle
mehr oder weniger primitiv ſind, und bei welchen entweder ein Hebel,
oder eine Schraube oder ein mit Steinen belaſteter Schlitten den er-
forderlichen Druck auf die Beeren ausübt. Sehr vollſtändig und ſchnell
werden Moſt und Treſter, — d. i. Saft und alle feſten Beſtandteile
der Beere — bei Anwendung von Centrifugalmaſchinen getrennt. Ob-
gleich die alten Preſſen noch vielfach in Gebrauch ſind, ſo ſind die-
ſelben doch in neuerer Zeit vielfach verbeſſert und u. a. auch die hydrau-
liſchen Preſſen eingeführt worden. Eine viel verwendete Preſſe iſt
die ſogen. Univerſal Wein-Preſſe von Wm. Platz Söhne in Wein-
heim i. B. (Fig. 299), bei welcher die Druckplatte unter einer runden,
eiſernen und mit Löchern verſehenen Scheibe ſitzt und durch dieſe
vertikal an einer in einem Bottich feſtmontierten eiſernen Spindel
bewegt wird. Die Scheibe ſelbſt hingegen wird durch einen Hebel,
der in die Löcher der Scheibe eingreift, gedreht.


Unter den Beſtandteilen des Moſtes iſt der Zucker der hervor-
ragendſte: der Gehalt daran beträgt je nach Art der Traube bei voll-
kommener Reife 12 bis 30 %. Derjenige an Säure wechſelt gleichfalls
ſowohl nach Art der Trauben, als auch nach der Reife der Jahrgänge
und verhält ſich nach Freſenius zum Zuckergehalt wie 1 : 16 bis 1 : 29.
Dieſe Säure beſteht zum größten Teile aus doppelt weinſaurem Kali
und ſcheidet ſich mit der Zeit als ſogen. Weinſtein aus dem Wein ab.
Der ausgepreßte Moſt erſcheint niemals klar, ſondern iſt ſtets durch
die darin ſuſpendierten Pflanzenteilchen getrübt. Die übrigen Be-
ſtandteile des Moſtes ſind bis 0,43 % freie Säure, bis 0,22 % Eiweiß-
körper, bis 0,47 % Mineralbeſtandteile, beſtehend aus Kali, Phosphor-
ſäure ꝛc., bis 4,11 % gebundene organiſche Säuren und Extraktiv-
ſtoffe und endlich bis 76,72 % Waſſer.


Wie bemerkt, veranlaſſen die zahlreichen in der atmoſphäriſchen
Luft enthaltenen Keime und Hefezellen, welche ſich ſchon während
des Wachstums der Traube auf den Beeren ſelbſt abgeſetzt hatten,
und welche ferner in den Moſt geraten, während dieſer der Luft aus-
geſetzt iſt, die Gährung. Der Chemismus der Gährung iſt bei
dem Biere ausführlich beſprochen und ſei hier nur geſagt, daß die
Gährung des Moſtes in Deutſchland und Frankreich eine Unter-
gährung iſt und bei 10 bis 15° C. beginnt. Man unterſcheidet bei
dieſer Gährung drei Stadien, nämlich die Hauptgährung, welche
3 bis 4 Wochen dauert, ferner die ſtille oder Jungwein-Gährung,
welche nach ca. 6 Monaten beendet iſt, und endlich die Lagergährung,
welche bis zur vollkommenen Reife des Weines währt. Die Gährung
des Moſtes geſchieht je nach der Art des Weines entweder, nach-
[515]Die Weinbereitung.

Figure 290. Fig. 299.

Univerſal-Weinpreſſe.


dem er von den Treſtern getrennt iſt, oder auch mit dieſen, und wird
in letzterem Falle in großen, offenen Bottichen aus verſchiedenem
Material oder in geſchloſſenen aufrecht ſtehenden Gefäßen, deren Ein-
richtung Fig. 300 zeigt, vorgenommen. Ein durchlöcherter, eingeſetzter
Boden c verhindert das Emporſteigen der Treſter und ebenſo ein
vor dem Hahn a von innen angebrachtes, durchlöchertes Brett b
das Mitfließen derſelben beim Ablaſſen des Moſtes nach beendeter
33*
[516]Nahrungs- und Genußmittel.

Figure 291. Fig. 300.

Geſchloſſenes Gährgefäß mit
doppeltem Boden.


Hauptgährung. Ein in Waſſer mündendes
Steigrohr e ermöglicht das Entweichen der
ſich während der Gährung bildenden Kohlen-
ſäure und verhindert gleichzeitig das Ein-
dringen der atmoſphäriſchen Luft. Bei Her-
ſtellung von Rotwein läßt man den Moſt
mit den Treſtern vergähren, um ſo den Schalen
den Farbſtoff und den Kernen die Gerbſäure
zu entziehen. Zu dieſem Zwecke bleiben die
Treſter auch noch nach der Hauptgährung
längere Zeit mit dem Weine in Berührung,
und derſelbe wird erſt abgelaſſen, wenn der
Wein durch Löſen einer genügenden Menge
Farbſtoff die gewünſchte dunkelrote Farbe
erhalten hat.


Die offenen Gährgefäße ſind nicht ſo
zweckdienlich, wie die luftdichtverſchloſſenen,
weil bei Anwendung der erſteren ſich ſtets
kleine Mengen Eſſigſäure bilden. Das in
Fig. 300 gezeichnete Steigrohr e iſt neuer-
dings ſehr vorteilhaft durch einen ſogen. Gährſpund (Fig. 301) erſetzt.
Derſelbe beſteht aus einem trichterartigen Gefäß b b, deſſen Aus-
flußrohr c nach oben verlängert iſt und ſo verhindert, daß das in

Figure 292. Fig. 301.

Gährſpund.


b gegoſſene Waſſer in den Bottich fließen kann. Ein Gefäß d, deſſen
umgebogener Rand eingekerbt iſt, wird umgekehrt über c geſtülpt und
auf dieſe Weiſe ein Waſſerverſchluß hergeſtellt, durch welchen die ſich
bei der Gährung bildende Kohlenſäure in der Richtung der Pfeile ent-
weicht, ohne daß die Luft zu dem gährenden Moſte treten kann, wenn
der Gährſpund in das Spundloch a a luftdicht eingeſetzt wird. Das
[517]Die Weinbereitung.
durch die entweichenden Kohlenſäurebläschen entſtehende Geräuſch iſt
gleichzeitig ein Anzeichen für den mehr oder weniger heftigen Verlauf
der Gährung. Die Gährung des Weißweines wird, von vornherein
von den Treſtern getrennt, größtenteils in Fäſſern vorgenommen, und
hierbei kann der eben beſchriebene Gährſpund gleichfalls verwendet
werden.


In demſelben Maße als die Spaltung des Zuckers in Alkohol
und Kohlenſäure fortgeſchritten iſt und ſchließlich nachläßt, ſinkt
auch die Temperatur des gährenden Moſtes wieder, und iſt zuletzt
nicht mehr höher als die Temperatur des Gährlokales ſelbſt. Aber
nur während der ſtürmiſchen, ſogen. Hauptgährung wird genügend
Kohlenſäure erzeugt, um den Zutritt der atmoſphäriſchen Luft und da-
mit die Eſſigſäurebildung zu verhindern. Zum Schutze gegen dieſe,
wird nun der Wein auf Fäſſer umgefüllt, wo er die Nachgährung
vollendet. Der von den Treſtern getrennte und auf Fäſſer gefüllte
Wein wird täglich aufgefüllt, ſo daß die Fäſſer ſtets voll ſind und die
ſich etwa dennoch bildenden Eſſigſäurepilze, der auf der Oberfläche des
Weines ſchwimmende ſogen. „Kahn“, beim Auffüllen mit überlaufen
und ſo aus den Fäſſern entfernt werden. Während dieſer zweiten
Gährung nun ſetzt ſich die Hefe ſchwammartig und der Weinſtein
kryſtalliſiert an den Wänden der gewöhnlich ſehr großen Fäſſer ab,
worauf der Wein, ſobald dieſe Nachgährung beendet iſt, durch Ab-
ſtechen oder Abziehen von dieſem Faßgelager getrennt und in die
Lagerfäſſer gebracht wird, wo die dritte, die ſogen. Lagergährung ſtatt-
findet. Durch dieſe wird nicht nur der Alkoholgehalt noch etwas ver-
mehrt und durch vollkommenes Abſetzen der Hefe und des Weinſteins
der Wein klar, ſondern es bilden ſich auch während dieſer Gährungs-
periode lieblich duftende Stoffe, welche dem Wein ſein Aroma, das
ſogen. „Bouquet“ oder die „Blume“ verleihen. Von hier aus werden
die weniger feinen Sorten in kleinere, vorher geſchwefelte Fäſſer gezogen,
die beſſeren hingegen auf Flaſchen gefüllt, welche horizontal liegend
aufbewahrt werden.


Der Wein enthält faſt alle Beſtandteile des Moſtes und außer
dieſen noch Alkohol, aromatiſche Beſtandteile, Glycerin und Bernſtein-
ſäure, welche ſich während der Gährung gebildet haben. Iſt aller
Zucker, der in dem Weine enthalten war, vergohren, ſo hat ſich ein
ſog. trockener oder ſaurer Wein gebildet, zu welchen Weinarten die
Franken- und Rheinweine zählen; iſt hingegen durch irgend welchen
äußeren Umſtand, wie zu niedrige Temperatur, Mangel an Hefe-
ſubſtanz oder Waſſer, die Gährung nicht ganz zu Ende geführt, ſo
daß ein Teil des Zuckers erhalten blieb, ſo reſultieren aus einer ſolchen
Gährung die ſüßen Weine. Aber auch künſtlich werden ſüße Weine
erzeugt durch teilweiſes Eindampfen des Moſtes, durch Vermiſchen
des Moſtes mit ca. 20 % Alkohol oder auch durch direkten Zuſatz
von Zucker.


[518]Nahrungs- und Genußmittel.

Nachfolgend wird die mittlere Zuſammenſetzung des Weines auf-
geführt, und je nachdem einzelne der genannten Beſtandteile vorherrſchen,
iſt der Wein ein ſüßer, ſaurer, herber, adſtringierender, mouſſierender ꝛc.


In 1000 Teilen ſind enthalten:


  • Waſſer . . . . . . . . . 891 bis 900 Teile
  • Alkohol (gewöhnlicher) + . . 70 „ 80 „
    • Propyl- und Butylalkohol + .
    • Ather . . . . . . . . .
    • Ätheriſche Öle . . . . . .
    • Traubenzucker . . . . . .
    • Glycerin + . . . . . . .
    • Gummi . . . . . . . .
    • Pektin . . . . . . . . .
    • Farbſtoff- und Fettſubſtanz . .
    • Proteïnkörper . . . . . .
    • Kohlenſäure + . . . . . .
    • Weinſäure und Traubenſäure .
    • Apfelſäure . . . . . . .
    • Gerbſäure . . . . . . .
    • Eſſigſäure + . . . . . .
    • Bernſteinſäure + . . . . .
    • Anorganiſche Salze . . . .
    30 bis 20 Teile

Diejenigen der vorſtehend genannten Stoffe, welche mit + bezeichnet
ſind, haben ſich erſt während der Gährung gebildet.


Fehler in der Behandlung und Aufbewahrung des Weines können
in demſelben Krankheiten erzeugen, welche, wie z. B. das Zähe- oder
Langwerden des Weines und auch das Bitterwerden, auf Mikro-
organismen zurückzuführen ſind, die bei der fehlerhaften Behandlung
des Weines günſtige Umſtände für ihre Entwickelung fanden. Aber
auch das Material der Lagerfäſſer ſelbſt kann ſchädlich auf den Wein
wirken, denn der Faßgeſchmack, wie Faß- und Schimmelgeruch werden
durch alte, anrüchige Dauben der Lagerfäſſer, oder auch durch das
Schimmligwerden derſelben in dumpfigen Kellern erzeugt.


Von den Konſervierungsmethoden des Weines iſt vor allen Dingen
das Paſteuriſieren zu nennen. Dieſes nach ſeinem Erfinder, dem
franzöſiſchen Chemiker Paſteur genannte Verfahren beruht darauf, daß
die im Weine enthaltenen Pilzkeime und Sporen bei einer Temperatur
von 50 bis 60° C getötet werden, und iſt beim Biere bereits beſprochen.
Da aber wegen des ſehr großen Druckes, welchen die im Biere ent-
haltene Kohlenſäure bei der Erwärmung ausüben würde, das Paſteuri-
ſieren des Bieres in Fäſſern unmöglich iſt und daher nur auf die
Flaſchenbiere beſchränkt bleibt, während der Wein hauptſächlich in
Fäſſern paſteuriſiert wird, ſo haben die Paſteuriſierapparate für Wein
eine ſehr weitgehende Benutzung gefunden und ſind in ſehr vollkommenen
Konſtruktionen faſt allgemein im Gebrauch.


Auch die antiſeptiſch wirkenden Eigenſchaften der Salicylſäure ſind
zur Konſervierung des Weines verwendet worden, und da 25 bis 30 gr
derſelben genügen, um ein Hektoliter Wein jahrelang vor dem Ver-
[519]Die Weinbereitung.
derben zu ſchützen, ſo glaubt man, daß eine ſo geringe Menge der
Salicylſäure durchaus keinen ſchädlichen Einfluß auf die Geſundheit
ausüben kann. Die Anſichten hierüber ſind indes geteilt, und in
Frankreich z. B. iſt die Verwendung der Salicylſäure für dieſen Zweck
geſetzlich verboten.


Das Klarwerden der Weine geſchieht bei den ſog. trockenen Weinen,
welche keinen Zucker mehr enthalten, von ſelbſt, indem ſich die hefigen
Teile zu Boden ſetzen; bei den ſüßen und dickflüſſigeren Weinen hin-
gegen wird durch Klären oder Schönen nachgeholfen und zwar durch
Zuſatz von leim- oder eiweißähnlichen Körpern, wie Hauſenblaſe, Leim,
Eiweiß, Blut, Milch oder Miſchungen aus dieſen Subſtanzen. Das
Gipſen des Weines hat den Zweck, die Farbe der Rotweine zu erhöhen
und die Weine klarer und haltbarer zu machen. Der gebrannte Gips
— bekanntlich ſchwefelſaurer Kalk — ſetzt ſich mit dem weinſauren
Kali in weinſauren Kalk um, welcher unlöslich iſt und ſich abſcheidet,
während ſchwefelſaures Kali gelöſt bleibt. Auch über die Nützlichkeit
oder Schädlichkeit des Gipſens iſt ein heftiger Streit entbrannt, und
in Frankreich iſt ein höherer Gehalt als 2 gr ſchwefelſaures Kali im
Liter Wein unzuläſſig.


Die wichtigſten Methoden der künſtlichen Verbeſſerung des Moſtes
und des Weines ſind folgende:


  • 1. Zuſatz von Zucker zu zuckerarmem Moſte und Entziehung der
    zu großen Säuremengen des Moſtes durch Zuſatz von Marmor-
    ſtaub, nach ſeinem Erfinder Chaptal „Chaptaliſieren“ genannt;
  • 2. Zuſatz von Zucker und Waſſer zu zuckerarmem und ſäurereichem
    Moſte, nach Gall „Galliſieren“ genannt;
  • 3. die Treſter nochmals mit Zuckerwaſſer gähren zu laſſen, nach
    Petiot „Petiotiſieren“ genannt;
  • 4. Entziehung von Waſſer durch Froſt und Gips;
  • 5. Entziehung von Säuren durch chemiſch wirkende Mittel;
  • 6. Zuſatz von Alkohol zu ſchwachen Weinen;
  • 7. Verſetzen des fertigen Weines mit Glycerin, ein Verfahren,
    das „Scheeliſieren“ (nach Scheele, dem Entdecker des Glycerins)
    genannt wird, und endlich
  • 8. das Elektriſieren des Weines, wodurch ſowohl die Haltbarkeit
    des Weines erhöht, als auch die Qualität durch Vermehrung
    des Bouquets verbeſſert werden ſoll. Zu dieſem Zweck leitet
    man einen konſtanten elektriſchen Strom durch den Wein; die
    Leitungsdrähte ſind mit einem Gummiüberzug verſehen und
    tragen an den Enden Elektroden aus Platin.

Die Rückſtände der Weinbereitung ſind die Treſter, beſtehend aus
den Kämmen, Stielen und Ranken der Trauben, wie aus den Häuten
und Kernen der Beeren, und das Weingeläger, beſtehend aus Hefe
und Weinſtein. Die mit Waſſer noch nicht ausgelaugten Treſter ent-
halten noch nicht unbedeutende Mengen Moſt und dienen zur Bereitung
[520]Nahrungs- und Genußmittel.
von petiotiſiertem Wein, von Branntwein, zur Fabrikation von Grün-
ſpan, zur Eſſigfabrikation und als Viehfutter. Die Traubenkerne
liefern ein fettes Öl und infolge ihres Gerbſäuregehaltes die ſog.
Weinkerngerbſäure. Aus dem Weingeläger werden der eigentümlich
riechende Druſenbranntwein, der Weinſtein und die Weinſäure gewonnen.


Als Rohmaterial des Obſtweines dienen hauptſächlich Äpfel, ſie
geben den in Frankreich ſo verbreiteten Cider; aber auch Birnen
werden verwendet, und von den Beerenweinen ſind beſonders der

Figure 293. Fig. 302.

Obſtmühle.


Figure 294. Fig. 303.

Saftpreſſe.


Johannisbeer- und der Stachelbeerwein
zu nennen. Der aus den genannten
Früchten erzielte Saft wird der Selbſt-
gährung überlaſſen und dann wie der
Traubenwein weiter behandelt. Der Saft
dieſer Früchte wird in den meiſten Gegenden
heute noch durch die allerprimitivſten Vor-
richtungen gewonnen, indes verbreitet ſich
neuerdings die Obſtquetſche und Mühle
von Wm. Platz Söhne in Weinheim, Baden,
immer mehr. Auf einem Geſtell aus feſten
Holzbalken iſt eine Quetſchmühle ange-
bracht, von welcher aus das gequetſchte
Obſt in einen darunter ſtehenden Preßkorb
fällt. Sobald dieſer gefüllt iſt, wird er
unter die Scheibe einer Preßſpindel ge-
ſchoben, deren Mutter in einen neben der
[521]Die Weinbereitung.
Quetſchmühle liegenden Balken eingefügt iſt. Die Preßkörbe ſtehen
auf einem mit Rand und Ablauf verſehenen, etwas geneigten Brette,
welches den herausgepreßten Saft auffängt und in einen vorgeſtellten
Kübel fließen läßt. Fig. 302 zeigt die Obſtmühle, auf eine Karre
montiert, ohne dieſe Preßvorrichtung, welche in Fig. 303 allein abge-
bildet iſt.


Auch aus dem ſehr zuckerreichen Safte der Kokospalmen (Cocos
nucifera
) wird ein Wein erzeugt, der Palmenwein oder Toddy genannt
wird, ebenſo aus dem Zuckerrohr (Saccharum officinarum), „Guarapo“
genannt, und endlich auch aus der amerikaniſchen Aloe (Agave Ameri-
cana
), der die Namen Pulque, Octli oder Agavenwein führt.


Dr. Max Weitz.


b) Die Aufgußgetränke: Kaffee, Thee und
Kakao (Schokolade).


Es genügt bei unſerer Ernährung nicht, die ſich kontinuierlich
verbrauchenden Teile unſeres Körpers durch Zufuhr der in den Nah-
rungsmitteln enthaltenen Beſtandteile desſelben wieder zu ergänzen,
ſondern die Nahrungsmittel müſſen gleichzeitig durch die Wirkung der
Genußmittel unterſtützt werden. Trotzdem die letzteren — alkoholiſche
Getränke, Aufgußgetränke, Gewürze, Tabak ꝛc. — mit Ausnahme des
Bieres auch nicht den geringſten direkten Nährwert haben, ſo ſind ſie
es doch eigentlich, welche unſeren Körper einerſeits befähigen, die ihm
zugeführten Nahrungsmittel überhaupt ohne Widerwillen aufzunehmen
und zu verdauen, andererſeits aber auch uns geiſtig anregen und
erregen. Sie ermöglichen es uns, unſere erſchlaffenden Kräfte gerade
dann zu ſammeln und zu verwenden, wenn es darauf ankommt, in
irgend einem Augenblick nicht müde zu ſein, ſondern trotz der uns
beſchleichenden Mattigkeit auszuharren. Man hat daher die Wirkung
dieſer Genußmittel ſehr bezeichnend mit der Wirkung eines Peitſchen-
hiebes verglichen, den wir einem Pferde gerade dann verſetzen, wenn
dasſelbe ſeine letzten Kräfte ſammeln ſoll, um vorliegende Hinderniſſe
momentan zu überwinden. Ohne daß dem Pferde durch den Peitſchen-
hieb irgend welche Kraft erteilt würde, wird doch durch dieſes Mittel
ſehr häufig der beabſichtigte Zweck erreicht. Natürlich tritt nach dieſem
Sammeln und Verwenden des letzten Reſtes der Kraft auch ſpäter
eine um ſo größere Erſchlaffung ein, und wer mit den Kräften ſeines
Pferdes haushälteriſch umgeht, wird demſelben durch nachfolgende
Ruhe und Pflege Gelegenheit geben, das Übermaß von verbrauchter
Kraft wiederum zu ergänzen. Ebenſo müſſen wir unſerem Körper
durch nachfolgende Ruhe Zeit zur Wiedererholung gönnen, wenn wir
ſeine körperlichen und geiſtigen Leiſtungen durch Zuhilfenahme von
Genußmitteln auf mehr als normale Höhe gebracht haben.


[522]Nahrungs- und Genußmittel.

Der Inſtinkt, der bei den Tieren ſo häufig unſer höchſtes Er-
ſtaunen hervorruft, geht auch bei den Menſchen ſtets dem bewußten
Handeln voraus und hat ganz unkultivierte Völker bereits auf die
Genußmittel hingewieſen, ohne daß dieſelben ſich die Notwendigkeit
dieſer Art der Ernährung erklären konnten oder es auch nur verſuchten.
So bereiteten z. B. verſchiedene auf den allerniedrigſten Kulturſtufen
ſtehende Völker des inneren Afrikas, bevor ſie durch die unter ſie ge-
drungenen Reiſenden zu ihrem großen Nachteile die alkoholiſchen
Getränke kennen lernten, Aufgußgetränke aus ſehr giftigen Pilzen,
welche unſerm Kaffee oder Thee vollſtändig entſprachen. Denn auch
dieſe verdanken ihre erregende Wirkung einem heftigen Gifte, welches
der Chemiker „Kaffeïn“ oder „Theïn“ nennt — es iſt nämlich ein und
derſelbe Stoff, welcher ſowohl im Kaffee als im Thee wirkt —, und
dieſes an und für ſich ſo furchtbare Gift ſchadet nur infolge ſeiner
außerordentlichen Verdünnung unſerem Organismus ebenſowenig, wie
das durch den Aufguß ſehr verdünnte, extrahierte Gift der Pilze jenen
Barbaren. Unſer Körper iſt eben nicht nur eine Maſchine, welche
bloß geheizt zu werden braucht, ſondern dieſer hochkomplizierte Or-
ganismus verlangt mehr, als die bloße Zufuhr der verbrauchten Teile,
wenn er dauernd funktionieren ſoll. Aus dieſem Grunde iſt die abſolute
Notwendigkeit der Genußmittel auch von allen modernen Phyſiologen
anerkannt und — ein gewiſſes Maßhalten vorausgeſetzt — ihr Gebrauch
ſogar auf das Wärmſte empfohlen worden. So ſagt z. B. der be-
rühmte Naturforſcher Funke in lichtvollen Worten von den Genuß-
mitteln: „Es iſt thöricht und unberechtigt auch den beſcheidenen Genuß
der genannten Reizmittel zu verwerfen. Man braucht ſie nicht damit
in Schutz zu nehmen, daß der Trieb, ſie in irgend welcher Form ſich
zu verſchaffen, wiederum der Ausfluß eines unvertilgbaren Menſchen-
inſtinktes iſt, der ſich zu allen Zeiten bei allen Völkern geltend gemacht
hat. Man braucht ſich nur zu fragen: Muß denn unſere Maſchine,
wie das Pendel der Uhr, immer in demſelben monotonen, langweiligen
Tempo arbeiten? Was ſchadet es ihr denn, wenn ſie von Zeit zu
Zeit mit etwas ſtärker geſpanntem Dampf etwas raſcher pumpt, ſobald
ſie nur in den darauf folgenden Intervallen bei langſamerer Arbeit
die kleine Luxusausgabe von Kraft aus dem genügenden Vorrat
wieder einbringen und etwaige kleine Defekte ihres Mechanismus
wieder ausbeſſern kann! Wahrlich, manche leuchtende, fruchtbringende
Idee iſt ſchon aus einem Römer duftenden Rheinweines geboren,
welche vielleicht nie den nüchternen Waſſerkrügen der Vegetarianer ent-
ſtiegen wäre; manch’ bitteres Herzweh, das bei Himbeerlimonade tiefer
und tiefer gefreſſen hätte, hat ein Schälchen Kaffee gemildert; manche
Sorge, manche Grille hat ſich mit dem Rauche einer Zigarre ver-
flüchtigt, und das iſt doch auch etwas wert in ſo mancher armſeligen
Menſchenexiſtenz!“


[523]Der Kaffee.
Der Kaffee.

Die Aufgußgetränke und beſonders der unter dieſen die erſte Stelle
einnehmende Kaffee bieten die Vorteile der Wirkung der alkoholiſchen
Getränke, ohne — bis zu einer gewiſſen Grenze — die Nachteile der-
ſelben zu haben. Wenngleich auch ſie, im Übermaße genoſſen, ſehr
ſchädlich wirken können, ſo iſt doch ein Übermaß hierin nicht ſobald
erreicht und tritt im Verhältnis zu dem Übernehmen mit alkoholiſchen
Getränken auch nur äußerſt ſelten ein. Die ſich neuerdings bemerkbar
machende Beſtrebung, Kaffeehäuſer für die arbeitende Bevölkerung
einzurichten, iſt daher ſehr anzuerkennen, und zweifellos eine ſehr wert-
volle Waffe im Kampfe gegen den Schnaps.


Die phyſiologiſche Wirkung des Kaffees beſteht darin, das Gehirn
und das geſamte Nervenſyſtem wohlthätig zu beeinfluſſen, wie auch
durch erhöhte Thätigkeit des Herzens den Kreislauf des Blutes und
dadurch den geſamten Stoffwechſel zu befördern. Im Übermaß ge-
noſſen, veranlaßt der Kaffee nicht nur Schlafloſigkeit, ſondern auch
mitunter eine Aufgeregtheit, in welcher uns die wirrſten Bilder und
Gedanken peinigen, ſchließlich eine ſo überaus verſtärkte Herzthätig-
keit, daß ein ſtürmiſcher Kreislauf des Blutes und viele damit ver-
bundene, ſehr ſtörende Erſcheinungen auftreten.


Die Kaffeebohne iſt die Frucht des hauptſächlich in den Tropen
wachſenden Kaffeeſtrauches zu der Familie der Coffeaceae gehörig,
und Fig. 304 ſtellt den Zweig der Coffea arabica dar. Die Bohne
beſteht ihrer chemiſchen Zuſammenſetzung nach
aus Pflanzenzellſtoff oder Celluloſe, welche
hier aber viel hornartiger auftritt, als bei
den meiſten übrigen Pflanzen, ferner aus
Kaffeegerbſäure, Eiweißſtoffen und einem
ätheriſchen Öl, das ſich zwar erſt während
des Brennens des Kaffees bildet, welches
aber das Aroma desſelben bedingt und ſehr
wichtig für ſeine Wertbeſtimmung iſt. Der
wichtigſte Beſtandteil des Kaffees aber iſt
das bereits vorher genannte Kaffeïn. Dieſes
an und für ſich ſo giftige Alkaloïd enthält
er zwar nur in überaus geringer Menge,
verdankt ihm aber die vorher genannten, ſo
wertvollen phyſiologiſchen Wirkungen. So-
weit unſere Forſchungen zurückreichen, ſtammt
der allgemeine Gebrauch des Kaffees aus
Perſien und kam erſt im 17 ten Jahrhundert
nach Europa, und zwar über England nach
Frankreich. Die verſchiedenen Kaffeearten
unterſcheiden ſich beſonders durch Größe und

Figure 295. Fig. 304.

Zweig des Kaffeeſtrauches.


[524]Nahrungs- und Genußmittel.
Farbe der Bohne; ſo hat z. B. der aus Arabien ſtammende Mokka-
kaffee eine ſehr kleine und dunkelgelbe Bohne, welche bei dem aus Oſt-
indien ſtammenden Javakaffee größer und heller gelb iſt, während die
Kaffeearten aus Weſtindien, Ceylon und Braſilien eine grünliche bis
bläuliche Färbung zeigen. Aber nicht allein durch eine gute Sorte
Kaffee wird der Wohlgeſchmack des bereiteten Aufguſſes bedingt, ſondern
wird auch ſehr durch die Art des Brennens und Ausziehens des geröſteten
und gemahlenen Kaffees beeinflußt.


Jeder Kaffee ſollte vor dem Brennen erſt gewaſchen und zwiſchen
Tüchern getrocknet werden, um ihn von allen ihm anhaftenden Ver-
unreinigungen zu befreien. Dieſe Verunreinigungen ſind nicht immer
zufällig an den Kaffee gekommen, ſondern werden demſelben, um ihm
eine für den Handel möglichſt vorteilhafte Färbung zu geben, nicht
ſelten abſichtlich hinzugeſetzt, wodurch ſowohl eine billigere Sorte den
teueren ähnlich gemacht, als auch dem verdorbenen Kaffee ein beſſeres
Ausſehen gegeben wird. Zu derartigen Färbungen des Kaffees werden
Gemenge von Indigo, Kohle, Chromgelb, Curcum, Berliner Blau
und Porzellanerde verwendet. Gegen alle dieſe den Geſchmack des
Kaffees ſehr nachteilig beeinfluſſenden Zuſätze iſt das Waſchen und
Trocknen des Kaffees zwiſchen Tüchern ein ebenſo einfaches als ſicher
wirkendes Mittel. Das Brennen des Kaffees hat nicht nur den Zweck,
eine phyſikaliſche Veränderung der Bohne hervorzurufen, welche ſie
ſpröde und dadurch geeignet macht, in der Kaffeemühle gepulvert zu
werden, ſondern bewirkt gleichzeitig ſo wichtige chemiſche Umſetzungen
in den Beſtandteilen der Bohne, daß dieſe Manipulation von der
höchſten Wichtigkeit iſt. Der Kaffee muß in gut geſchloſſenen Trommeln
unter kontinuierlichem Drehen derſelben über freiem Feuer gebrannt
werden, und ein eigentümliches Kniſtern wie das Hervortreten einer
hellbraunen Farbe zeigen die Beendigung der Operation an. Wird
das Brennen zu weit fortgeſetzt, ſo verliert die Güte des Kaffees ſehr,
und zwar beſonders durch Hervortreten eines brenzlichen Geruches,
welcher das ſehr angenehme Aroma des Kaffees verdeckt. Dieſes
Aroma iſt überhaupt ſehr empfindlich und geht häufig auch dadurch
verloren, daß der gebrannte Kaffee Gerüche aus ſeiner Umgebung
anzieht, weshalb er in hermetiſch ſchließenden Büchſen aufbewahrt
werden muß.


Der nach dem Brennen möglichſt fein gemahlene Kaffee darf nicht
gekocht, ſondern nur aufgebrüht werden, weil durch das Kochen ſein
ätheriſches Öl vollſtändig verflüchtigt wird. Andererſeits muß aber
auch das Aufbrühen mit großer Sorgfalt ausgeführt werden, wenn alle
extrahierbaren Beſtandteile auch wirklich ausgezogen werden ſollen.
Hierbei darf nicht unerwähnt bleiben, daß die nahrhaften Eiweißſtoffe,
von denen der Kaffee ca. 13 % enthält, in heißem Waſſer unlöslich
ſind und ſomit für uns verloren gehen. Einige Arten Waſſer, wie
z. B. die von Prag und Karlsbad, liefern unleugbar einen ſtärkeren
[525]Der Kaffee.
und wohlriechenderen Kaffee, als manches andere Waſſer, und einige
Chemiker ſchreiben dieſe Wirkung dem Gehalte des betreffenden Waſſers
an alkaliſchen Stoffen zu. Dieſe Anſicht hat dazu geführt, dem un-
geeigneteren Waſſer geringe Mengen Soda zuzuſetzen und werden
2,4 gr kalcinierte Soda oder 5 gr kryſtalliſierte Soda für die Waſſer-
menge empfohlen, welche zu einem Pfund Kaffee verwendet wird.


In neuerer Zeit ſind zahlreiche Verſuche gemacht worden, dem Kaffee
eine kompendiöſere Form zu geben, um ihn ſo für weite Seereiſen ꝛc. in
zum Gebrauche fertigem Zuſtande gegen die äußeren Einflüſſe wider-
ſtandsfähig zu machen. So wird z. B. gemahlener Kaffee unter
ſtarkem Druck auf ⅓ ſeines urſprünglichen Volumens gepreßt und
wohlverpackt in Geſtalt kleiner Tafeln für Seereiſen empfohlen. Bei
einer anderen Komprimierungsmethode wird der gebrannte Kaffee vor
dem Preſſen mit ſeinem Öl, 1 % doppeltkohlenſaurem Natron und bis-
weilen auch mit Zucker gemiſcht. Auch flüſſige Kaffeeextrakte ſind
neuerdings dargeſtellt und werden erzeugt, indem aus dem geröſteten
und gemahlenen Kaffee durch kaltes Waſſer das Kaffeïn und die
flüchtigen Öle ausgezogen werden. Dieſer Extrakt wird dann mit
einem anderen Auszug gemiſcht, der behufs Gewinnung der Bitterſtoffe
durch Auskochen des Rückſtandes erhalten wurde. Nach einer anderen
Methode wird der geröſtete und gemahlene Kaffee mit einer in heißem
Waſſer gelöſten Konſervenmaſſe aus Fruchtzucker ausgezogen und der
gewonnene Extrakt filtriert.


Die Erzeugung von Kaffeeſurrogaten hat ſich zu einer großen
Induſtrie entwickelt, leider in den allermeiſten Fällen zum Nachteile
des konſumierenden Publikums. Da iſt eine Miſchung von geröſtetem
Roggenbrot, Erbſen und Karamel, ferner geröſtetes Malz; der ſog.
Saladinkaffee beſteht aus geröſtetem Maismalz; der Kraftkaffee aus
entbitterten und ſorgfältig geröſteten Samen der gelben Lupine und
der Magdadkaffee aus den Samen der Cassia occidentalis. Die
beiden zuletzt genannten Surrogate kommen den geringeren Sorten
des indiſchen Kaffees in Geſchmack, Geruch und Wirkung auf den
Organismus ſehr nahe. Sehr zu empfehlen als ein ganz vorzügliches
Surrogat iſt der Feigenkaffee, der, aus getrockneten und geröſteten Feigen
bereitet, ſich beſonders als Zuſatz zu den Kaffeebohnen eignet, wie
auch ſchon deren hoher Preis eine reine Verwendung nicht gut
geſtattet. Er verleiht dem Kaffee nicht nur eine ſehr ſchöne Farbe,
ſondern auch einen ſehr angenehmen und vollen Geſchmack, wird aber
leider in vielen Fällen durch Zuſatz von Birnenmehl, Rübengries,
Leindotterſamen ꝛc. gefälſcht. Das verbreitetſte und zugleich am
wenigſten berechtigte Surrogat iſt die Cichorie, von der man im
günſtigſten Falle — ſoweit ſie nicht auch gefälſcht iſt — ſagen kann,
daß ſie abſolut unſchädlich iſt, womit ihr Lob aber auch erſchöpft iſt.
Da ſie auch nicht die geringſte dem Kaffee eigentümliche Wirkung aus-
üben kann, ſo hat ſie auch nicht die geringſte Berechtigung, und ihre
[526]Nahrungs- und Genußmittel.
Verwendung iſt um ſo mehr zu beklagen, als ſie ja bekanntlich haupt-
ſächlich von den ärmeren Klaſſen konſumiert wird, und dieſe von den
zu ihrer Ernährung beſtimmten Geldern nichts zum Fortwerfen haben.
Crismann nennt daher ſehr treffend den Gebrauch der Cichorie „ein
nationalökonomiſches Unglück, indem ſie den Leuten, die ſich Milch und
Mehlſuppe anſchaffen ſollten, ein gemeines Spülwaſſer liefert, das nicht
einmal den Gaumen reizt“! Der Ausdruck „nationalökonomiſches Un-
glück“ iſt durchaus kein übertriebener, denn die Statiſtik ergiebt in
Bezug auf den Konſum der Cichorie, daß nach Abzug der exportierten
Mengen in Deutſchland allein jährlich über 20000000 Mark für
Cichorie verausgabt werden, wenn man annimmt, daß der Konſument
beim Einkauf das Pfund Cichorie mit Mk. 0,20 bezahlt. Iſt nun die
freiwillige Verwendung der Cichorie als thöricht zu bezeichnen, ſo kann
es doch vorkommen, daß wir ſie auch gegen unſern Willen erhalten
und zwar, wenn ſie beim Einkauf von bereits gemahlenem Kaffee unter
dieſen gemiſcht wurde, und in dieſem Falle iſt ſie dann eine Ver-
fälſchung. Hat man Verdacht, daß gemahlener Kaffee mit Cichorie
gefälſcht ſei, ſo darf man zur Unterſuchung desſelben ihn nur in ein
Glas kaltes Waſſer ſchütten. Reiner Kaffee wird dieſes Waſſer nicht
ſärben und ſich eine Zeit lang an der Oberfläche halten, während die
Cichorie ſofort zu Boden ſinkt und das Waſſer mehr oder weniger
braun färbt. Auch bei mikroſkopiſcher Unterſuchung des Kaffeeſatzes
kann die Verfälſchung mit Cichorie, wie auch mit anderen Materialien
leicht erkannt werden. Fig. 305 zeigt den Kaffeeſatz von reinem Kaffee
unter dem Mikroſkop. Fig. 306 den Kaffeeſatz mit Cichorie und

Figure 296. Fig. 305.

Kaffeeſatz von reinem Kaffee.


Eichelpulver gefälſcht,
beide bei 140 maliger
Vergrößerung.


Zwei Arten von Ver-
fälſchungen des Kaffees
indes ſind jetzt ſo üblich
und beſonders die letztere
in allerneueſter Zeit ſo
häufig geworden, daß es
unbedingt notwendig iſt,
dieſe Verfälſchungen ein-
gehend zu behandeln.
Bei der erſteren handelt
es ſich um eine be-
trügeriſche Verbeſſerung
gewiſſer Rohkaffees, bei
der zweiten um eine
höchſt verwerfliche Ma-
nipulation beim Röſten
beliebiger Kaffeeſorten.
[527]Der Kaffee.
Bei den Rohkaffees iſt
das Färben derſelben,
um ihr Ausſehen zu ver-
beſſern, wie bereits vor-
her erwähnt wurde, leider
nicht die einzige Ver-
fälſchung und tritt hinter
der Wiederherſtellung des
ſog. havarierten Kaffees
weit zurück. Unter hava-
riertem Kaffee verſteht
man einen ſolchen, wel-
cher aus irgend welchem
Grunde längere Zeit mit
Seewaſſer in Berührung
war: dazu kann während
des Seetransportes ſo-
wohl das Leckwerden des
Schiffes, als auch der
gänzliche Untergang des-
ſelben die Veranlaſſung
ſein. Das Seewaſſer übt

Figure 297. Fig. 306.

a Satz des reinen Kaffees. b Satz der Cichorie.
c Satz des Eichelpulvers.


nun nicht nur auf die Beſtandteile der Bohne einen ſo nachteiligen
Einfluß aus, daß ein ſolcher Kaffee faſt als ganz verdorben zu betrachten
iſt, ſondern beeinflußt glücklicherweiſe auch die Farbe des Kaffees derart,
daß derſelbe leicht als durch Seewaſſer beſchädigt zu erkennen iſt, oder
— treffender geſagt — früher zu erkennen war. Man hat nämlich
Methoden erfunden, dieſen Kaffee zu „verbeſſern“, um ihn dann als
guten Kaffee in den Handel zu bringen, und in Holland wie in England
beſchäftigen ſich hoch entwickelte Induſtrieen mit der „Verbeſſerung“
von havariertem Kaffee. Die Behandlung eines ſolchen Kaffees iſt
im weſentlichen folgende: zuerſt werden die gar zu ſehr beſchädigten
Bohnen herausgeleſen, das Salz des Meerwaſſers abgewaſchen, die
Bohnen durch Kalkwaſſer entfärbt und hierauf der zurückgebliebene Kalk
durch abermaliges Auswaſchen entfernt. Nachdem der Kaffee dann
durch Erwärmen in einem Luftzuge getrocknet iſt, giebt man ihm durch
ganz gelindes Röſten oder durch direktes Färben mittelſt eines Azo-
farbſtoffes eine geeignete Farbe. Die Azofarbſtoffe ſind außerordentlich
leicht in Alkohol löslich, und daher das Färben mit denſelben ſehr
einfach dadurch nachzuweiſen, daß man den Kaffee in Alkohol ſchüttet
und beim Umrühren darauf achtet, ob dieſer ſich färbt.


Wenn es dem Chemiker auch immerhin möglich iſt, die vorſtehend
beſchriebene Behandlung des Kaffees auch dann nachzuweiſen, wenn
man ihn nicht direkt gefärbt hatte, ſo ſetzen doch die hierbei in Betracht
kommenden Methoden weitgehende chemiſche Kenntniſſe, wie die An-
[528]Nahrungs- und Genußmittel.
wendung verſchiedener Apparate voraus und ſind daher für den Laien
nicht durchführbar. So lange aber der Laie ſich nicht ſelbſt auf ſehr
einfache Weiſe von der Verfälſchung der Nahrungsmittel überzeugen
und ſomit den Wert derſelben kontrolieren kann, iſt für die Einſchränkung
des Handels damit nur wenig gethan. Sehr dankenswert ſind daher
für die Kaffeeunterſuchungen in hier intereſſierender Richtung die Arbeiten
der franzöſiſchen Chemiker Padé und Dupré. Dieſe haben gefunden,
daß das ſpezifiſche Gewicht des Kaffees für gewiſſe Unterſuchungen
große Dienſte leiſten kann. Sie haben dasſelbe von verſchiedenen
guten, rohen Kaffeeſorten beſtimmt und gefunden, daß dieſe je nach
ihrer Art ein ſpezifiſches Gewicht von 1,04 bis 1,37 hatten, ſomit alle
ſchwerer waren als Waſſer und infolgedeſſen in dieſem unterſinken mußten.
Sie fanden ferner, das das ſpezifiſche Gewicht, des, wie vorher be-
ſchrieben, behandelten havarierten Kaffees weſentlich geringer war und
nur 0,9 betrug und ſtellten infolge ihrer zahlreichen Unterſuchungen
den Satz auf, daß alle rohen Kaffeeſorten, deren ſpezifiſches Gewicht
unter 1,0 liegt, verdächtig ſind. Da nun die zuläſſige Grenze gerade
bei 1,0 liegt, ſo iſt die Prüfung ſehr einfach, denn man hat nur nötig,
den zu prüfenden Kaffee in ein Glas kalten Waſſers zu ſchütten und zu
beobachten, ob er auf demſelben ſchwimmt oder untergeht. Iſt es ein
guter, geſunder Kaffee, ſo liegt ſein ſpezifiſches Gewicht über 1,0, d. h.
er iſt ſchwerer als das Waſſer und ſinkt daher in demſelben zu Boden,
im anderen Falle aber ſchwimmt er auf dem Waſſer. Der geröſtete
Kaffee ſchwimmt ſtets auf dem Waſſer, denn ſein ſpezifiſches Gewicht
beträgt nur 0,5 bis 0,65.


Viel häufiger nun als die beſchriebene Behandlung des havarierten
Kaffees ſind die ſehr verwerflichen Manipulationen beim Röſten des
Rohkaffees, welche direkt darauf hinausgehen, den Konſumenten zu
übervorteilen. Vorher war betont, wie wichtig das richtige Röſten des
Kaffees für die Güte desſelben iſt, und daß es erforderlich ſei, dieſes
Röſten bis zu einer beſtimmten Grenze fortzuſetzen. Während des
Röſtens verliert nun der Kaffee ſehr ſtark an Gewicht und zwar je nach
Alter und Sorte 17 bis 19 %, welcher Verluſt ja auch zum größten
Teile den höheren Preis des geröſteten Kaffees dem ungeröſteten gegen-
über bedingt. Nun werden verſchiedene Methoden angewendet, um
das verringerte Gewicht des geröſteten Kaffees durch Beſchwerungs-
mittel auszugleichen und auf dieſe Weiſe 10 bis 20 % anderer Sub-
ſtanzen — natürlich viel billigere, vollſtändig wertloſe und im günſtigſten
Falle unſchädliche — zum Preiſe des Kaffees mitzuverkaufen. Zum
Beiſpiel wird als ein ſolches Beſchwerungsmittel Waſſer angewendet,
zwar nicht tropfbar flüſſiges Waſſer, denn dieſes würde den Zweck bei
der heißen Bohne, welche doch nach dem Erkalten nicht feucht ſein darf,
nicht erfüllen, ſondern die Fälſchung wird durch Verdichtung von
Waſſerdampf in den heißen Bohnen ausgeführt, und ſo eine Gewichts-
vermehrung von mehr als 20 % erzielt, ohne daß der Kaffee feucht
[529]Der Kaffee.
erſcheint. Damit das Waſſer dann beim Liegen an der Luft nicht
wieder zum Teile verdunſtet, werden die Bohnen in dünne Schichten
von Glycerin, Palmöl oder Vaſeline eingehüllt. Die Beſtimmung des
ſpezifiſchen Gewichtes läßt auch hier mitunter die Fälſchung erkennen,
iſt aber für den Laien nicht ausführbar, weil das ſpezifiſche Gewicht
nur ſehr wenig höher geworden iſt und zwiſchen 0,65 bis 0,77 liegt.
Noch weniger kann der Laie die abſolut ſichere Erkennung der Fälſchung,
nämlich die quantitative Waſſerbeſtimmung, ſelbſt ausführen, aber ein
äußeres Erkennungszeichen iſt es immerhin, daß ſolche waſſerhaltige
Bohnen weder ſo hart ſind als reell geröſtete, noch beim Zerbeißen
wie dieſe zwiſchen den Zähnen krachen; ſie haben vielmehr eine mehr
elaſtiſche und hornartige Konſiſtenz angenommen.


Die am häufigſten angewendete Manipulation aber iſt das Über-
ziehen des Kaffees während des Röſtens mit Löſungen von Zucker und
ähnlichen Flüſſigkeiten, wodurch ganz leicht eine Gewichtsvermehrung
von 8 bis 10 % erzielt werden kann. Wie ſo häufig, ſo iſt auch in
dieſem Falle die Fälſchung aus einem urſprünglich geſunden Gedanken
hervorgegangen. Urſprünglich wollte man durch derartige Überzüge
das Verflüchten der aromatiſchen Beſtandteile der geröſteten Kaffee-
bohne verhüten, was aber ganz unnötig iſt, denn das geſchieht bereits,
ſo weit es ſich überhaupt ermöglichen läßt, durch das bei dem Röſten
hervortretende und die Bohne umhüllende vegetabiliſche Fett derſelben.
Heute dient dieſe Manipulation nur noch dazu, den Konſumenten nach
verſchiedenen Richtungen hin zu benachteiligen, denn derſelbe bezahlt
nicht nur den zu wertloſem Karamel verbrannten Zucker mit dem hohen
Preiſe des Kaffees, ſondern durch das „Glaſieren“, wie dieſe Mani-
pulation einſchmeichelnd genannt wird, kann leicht eine geringere Qua-
lität des Kaffees verdeckt werden, wodurch es möglich wird, ſchlechtere
Kaffeeſorten unter die beſſeren zu miſchen. Der zum Glaſieren des
Kaffees verwendete Zucker hat in dem „Röſtſirup“ ſchon einen Kon-
kurrenten erhalten; er wird bereits fabrikmäßig im großen dargeſtellt
und ſoll dem zu röſtenden Kaffee in Mengen von 3 bis 25 % (!) zu-
geſetzt werden, je nachdem man matt bis ſchwarz glänzend gebrannten
Kaffee herſtellen will. Dieſer Röſtſirup ſoll nun noch im Waſſer und
zwar in dem doppelten bis vierfachen Quantum gelöſt werden. Wenn
auch dieſe Mengen teils vor dem Röſten, teils während desſelben zu-
geſetzt werden ſollen, und — wie beſonders das hinzugeſetzte Waſſer —
zu einem Teile wieder verdunſten bezw. zu karamelähnlichen Subſtanzen
einbrennen, ſo iſt doch die zurückbleibende Menge mehr als groß genug,
um eine bedeutende Gewichtsvermehrung zu veranlaſſen, und muß das
Verfahren ſomit eine grobe Fälſchung genannt werden. Ferner dient ein
ſolcher Überzug häufig dazu, das Ausſehen von nicht gar gebranntem Kaffee
zu verdecken und durch dieſes Nichtgarbrennen wird wiederum ein Ge-
wichtsverluſt auf unreelle Weiſe vermieden. Nun herrſcht leider noch
bei ſehr vielen Konſumenten die falſche Anſicht, daß ein Kaffee, der
Das Buch der Erfindungen. 34
[530]Nahrungs- und Genußmittel.
nach dem Aufgießen recht dunkel ausſieht auch, recht ſtark ſein muß,
weil ein ſehr hell ausſehender Kaffeeaufguß ſtets auch ſehr ſchwach iſt.
Ein ſtarker Kaffee muß allerdings dunkel ausſehen, aber jeder dunkel
ausſehende Kaffee braucht noch durchaus nicht ſtark zu ſein. Gerade
die tinktoriale Eigenſchaft hat nicht wenig dazu beigetragen, der ſo
wertloſen Cichorie ein ſo großes Abſatzgebiet zu erringen, und in dieſer
Hinſicht leiſten der gebrannte Zucker und der Röſtſirup auch das ihre.
Daß ein braun gebrannter Karamel das Waſſer — und das iſt ja
der Hauptbeſtandteil des Kaffeeaufguſſes — dunkel färbt, iſt eine längſt
bekannte Thatſache, welche in der Technik häufig genug zum Dunkel-
färben verſchiedener Flüſſigkeiten Anwendung findet, wie z. B. zum
Färben mancher Biere, und hat dieſes Fabrikat im Handel den Namen
„Zuckercouleur“ erhalten. Ein ſolches Färben des Kaffees hat aber
mit der Güte desſelben gar nichts zu thun, ja, es kann ihn ſogar
weſentlich verſchlechtern, falls die hinzugeſetzten Subſtanzen ſchädlich
ſind. Bei dem Glaſieren des Kaffees mit ſelbſt bereiteten Zucker-
löſungen hat man trotz der vorher genannten Nachteile dieſer Mani-
pulation, wenigſtens die Gewißheit, daß dieſelbe nicht direkt ſchädlich
iſt, was vom Röſtſirup bis heute nicht behauptet werden kann, weil
Analyſen desſelben leider noch fehlen. Wollte man durchaus eine
dunkle Farbe des Kaffees erzielen, ohne die hierzu erforderliche Menge
desſelben zu verwenden, dann wäre die mit Recht ſo energiſch be-
kämpfte Cichorie noch vorzuziehen, denn ſie färbt den Kaffee gleichfalls
dunkel und wird bei ihrer vollſtändigen Wertloſigkeit doch wenigſtens
nicht mit dem hohen Preiſe des Kaffees ſelbſt bezahlt.


Der Thee.

Der Genuß des Thees ſoll nach einer Uberlieferung in China
ſchon ſeit dem dritten Jahrhundert bekannt geweſen ſein, allgemein
wurde derſelbe dort aber erſt im ſiebenten Jahrhundert und von dieſem
Lande 810 nach Japan eingeführt. Erſt im ſiebzehnten Jahrhundert
kam der Thee durch eine nach China geſchickte ruſſiſche Geſandt-
ſchaft nach Europa, wo aber ſchon vorher beſonders in England
und Holland viel Salbeithee getrunken wurde. Nichtsdeſtoweniger be-
trachtete die Königin von England zwei Pfund Thee, welche ſie im
Jahre 1664 von der oſtindiſchen Kompagnie erhielt, als ein wertvolles
Geſchenk.


Die Wirkung des Thees iſt derjenigen des Kaffees außerordentlich
ähnlich, nur iſt derſelbe als Genuß- und Reizmittel weſentlich milder,
als der Kaffee, da der Thee viel weniger Röſtprodukte enthält.


Die verſchiedenen Länder benutzen ſehr verſchiedene Theearten, von
denen aber der chineſiſche Thee der weitverbreitſte iſt; nach ihm
ſpielt noch der Paraguaythee oder Maté die wichtigſte Rolle, während
verſchiedene andere Theearten weniger in Betracht kommen. Die Thee-
[531]Der Thee.
pflanze gedeiht am beſten in den weniger heißen Gegenden der tropi-
ſchen Zone, kommt aber auch in der gemäßigten Zone ſelbſt bis zum
40ſten Grad nördlicher Breite vor. Fig. 307 zeigt einen Zweig mit
Blatt und Blüte des chineſiſchen Thee-
ſtrauches (Thea chinensis) [in der Hälfte
der natürlichen Größe], deſſen Blätter vom
vierten bis zwölften Jahre zur Bereitung
des Thees dienen, und zwar werden ſie
in jedem Jahre durch Pflücken mit der
Hand einmal eingeſammelt. Von dieſen
Blättern ſind die jüngſten die begehrteſten,
da ſie den beſten Thee geben, während die
älteren holziger und bitterer ſind. Auch
der Abfall von ſchlechten und verwelkten
Blättern wird in Formen gepreßt als
Ziegelthee, oder nach Zuſatz von Blut
als Bindemittel als ſog. Backſteinthee in
den Handel gebracht. Die grünen Blätter
haben noch nichts von dem uns bekannten
angenehmen Geſchmack und lieblichen Saft
des Thees, ſondern dieſe entwickeln ſich
erſt — gerade wie beim Kaffee — während
des Röſtens derſelben.


Die Behandlung der Theeblätter iſt
bei dem grünen und ſchwarzen Thee eine

Figure 298. Fig. 307.

Zweig, Blatt und Blüte des
Theeſtrauches.


weſentlich verſchiedene und wird von dem engliſchen Reiſenden Fortune
wie folgt beſchrieben. Bei dem grünen Thee werden die Blätter
in dünnen Schichten auf flachen oder ſchräg ſtehenden Bambushorden
ausgebreitet, um die ihnen anhängende Feuchtigkeit zu trocknen; hier
bleiben ſie aber nur ſehr kurze Zeit, nämlich je nach dem Wetter, ein
bis zwei Stunden liegen. Von dieſen Horden aus kommen ſie in
Röſtpfannen, welche mit ſchnell brennendem Holzfeuer geheizt werden, und
worin ſie raſch herumbewegt und aufgelockert werden. Nach vier bis fünf
Minuten werden ſie auf einem Tiſch mit den Händen zuſammengerollt,
um hierauf von neuem in denſelben Pfannen, aber über einem gleich-
mäßigen Holzkohlenfeuer gerührt und gewendet zu werden. Nachdem
dieſe Behandlung ungefähr eine Stunde oder auch etwas länger ge-
dauert hat, iſt die Farbe des Thees fixiert, d. h. es iſt keine Gefahr
mehr vorhanden, daß ſeine dunkelgrüne Farbe, welche ſpäter noch
etwas heller wird, in eine ſchwarze übergehe. Nach dieſer Be-
handlung ſchwingt man den Thee, um ihn von Staub und anderen
Unreinlichkeiten zu befreien, und ſcheidet ihn mittels engerer und
weiterer Siebe in verſchiedene Sorten, welche unter den Namen
Twankay, Hyſon, Hyſonskin, Young Hyſon, Gunpowder ꝛc. in den
Handel kommen.


34*
[532]Nahrungs- und Genußmittel.

Bei dem ſchwarzen Thee bleiben die ausgebreiteten Theeblätter
auf den Bambushorden weſentlich länger, nämlich ca. 12 Stunden liegen,
um darauf längere Zeit mit den Händen behufs Lockerung ſo durch die
Luft geworfen zu werden, daß ſie einzeln niederfallen; dann werden ſie
leicht mit der Hand geklopft. Sind ſie auf dieſe Weiſe ganz weich und
welk geworden, ſo werden ſie in Haufen geſchichtet, eine Stunde liegen
gelaſſen, wobei eine leichte Gährung eintritt, die ſich durch Veränderung
der Farbe der Blätter und durch einen duftigen Geruch bemerkbar
macht. Vor dem Rollen werden die Blätter in Klumpen zuſammen-
geballt, und auf einem Rohrtiſch von dem in ihnen enthaltenen Saft
befreit, dann wiederholt auseinander geſchüttelt und endlich gerollt, und
kommen nach kurzem Verweilen auf flachen Horden in die Röſtpfannen,
um hier genau ſo, wie der grüne Thee behandelt zu werden. Hierauf
werden ſie auf Sieben in dünne Schichten ausgebreitet und im Freien
ca. 3 Stunden lang unter fleißigem Wenden der Luft ausgeſetzt. Bei dieſem
Lüften verlieren die Blätter den größten Teil ihrer Feuchtigkeit und
werden dann noch einmal 3 bis 4 Minuten lang geröſtet und von neuem
gerollt. Nun werden Siebe, welche ca. 3 cm hohe Schichten Thee-
blätter tragen, in den oberen Teil röhrenförmiger Körbe, welche in der
Mitte verengt ſind, geſetzt und ſo unter ſorgfältiger Beobachtung 5 bis
6 Minuten über ein Kohlenfeuer geſtellt. Hierauf werden die Blätter
von neuem gerollt und noch einmal etwas längere Zeit dem Feuer
ausgeſetzt, wobei ſie eine dunkle Farbe annehmen. Schließlich wird
der Thee in dickeren Schichten mit einem Korbe bedeckt, noch einmal

Figure 299. Fig. 308.

Zweig und Blüte des Paraguay-Theeſtrauches.


über ein teilweiſe bedecktes Kohlenfeuer
gebracht und ſo lange gleichmäßig er-
hitzt, bis er vollkommen trocken iſt,
und die ſchwarze Farbe, welche ſpäter
noch ſchöner wird, langſam hervortritt.
Damit iſt die Behandlung beendet,
worauf das Trennen der Sorten durch
Sieben geſchieht, wie es bei dem
grünen Thee beſchrieben wurde.


Den Südamerikanern, beſonders
den Braſilianern iſt der Paraguaythee,
auch Maté genannt, dasſelbe, was
der chineſiſche Thee den Völkern des
nördlichen Aſiens iſt. Er ſtammt aus
den trockenen Blättern der braſilia-
niſchen Stechpalme (Ilex Paraguayen-
sis
), welche Fig. 308 zeigt. Der Baum,
welcher die Theeblätter — Yerba ge-
nannt — liefert, wächſt in den Wäldern
Paraguays wild, und Indianer werden
dazu verwendet, ſeine Blätter einzu-
[533]Der Thee.
ſammeln. Dieſe trocknen und röſten die Yerbazweige auf einem aus
Flechtwerk beſtehenden Gewölbe — Barbaqua genannt — über freiem
Feuer, aber ohne dieſelben zu verſengen. So getrocknet und gedörrt,
werden die Blätter durch Dreſchen mit Stöcken von den Zweigen los-
geſchlagen und dabei teilweiſe gepulvert. Nun werden ſie in Säcken
aus feuchten Häuten feſt eingeſtampft, wo ſie, nachdem ſie ſo einige
Tage getrocknet ſind, faſt ſteinhart werden und ſich in dieſem Zuſtande
ſehr gut halten. Je nach den Teilen des verwendeten Laubes unter-
ſcheidet man folgende 3 Sorten des Paraguaythees. Die beſte Sorte
Caa-cuys genannt — („Caa“ bedeutet „Blatt“) wird nur aus den
halb entfalteten Knoſpen bereitet und muß in Paraguay ſelbſt konſumiert
werden, da ſie nicht haltbar iſt; die zweite Sorte — Caa-miri — iſt
aus den ſorgfältig gepflückten und vor dem Röſten abgerippten Blättern
hergeſtellt; die dritte Sorte endlich — Caa-guayza — beſteht aus dem
ganzen Laube, das, wie vorher beſchrieben, verarbeitet wird. Der
Maté heißt auch Jeſuitenthee, weil die Jeſuiten während ihrer Nieder-
laſſung in Paraguay ſich um die Bereitung desſelben, beſonders des
Caa-miri, ſehr verdient gemacht haben. Zum Export eignet ſich der
Paraguaythee wenig, da er während desſelben an Kraft, Wohlgeruch
und aromatiſcher Bitterkeit ſehr viel einbüßt und bisher noch keine
Methode gefunden iſt, welche dieſe Fehler vermeidet.


Die Beſtandteile
des Thees erinnern ſehr
an die chemiſche Zuſam-
menſetzung der Kaffee-
bohne und auch ſein
wertvollſter Beſtandteil
iſt das Theïn, bez.
Kaffeïn, von dem es
aber durchſchnittlich 2
bis 2,8 % enthält, wäh-
rend ſich im Kaffee nur
1 bis 1,5 % finden.
Außerdem enthält der
geröſtete Thee durch-
ſchnittlich 6 % Waſſer,
20 % Gummi und
Zucker, 21 % Kleber,
15 % Gerbſäure, 4 %
fettes und ätheriſches
Öl, 24 bis 26 % Holz-
faſer und 5,5 % Mi-
neralbeſtandteile.


Auch die Bereitung
des Thees iſt derjenigen

Figure 300. Fig. 309.

Blätter des Theeſtrauches.


[534]Nahrungs- und Genußmittel.

Figure 301. Fig. 310.

Blätter einiger, zur Fälſchung des Thees benutzter Pflanzen.


des Kaffees ſehr ähn-
lich, denn ſie beſteht im
weſentlichen darin, daß
die Blätter mit heißem
Waſſer ausgezogen wer-
den, und gerade wie beim
Kaffee hat man auch ver-
ſucht ihn in eine Form
zu bringen, welche ihn
zur Verwendung auf
Reiſen beſſer geeignet
macht. So giebt es z. B.
im Handel Theeſorten,
welche aus einem unter
ſtarkem Drucke zu Schei-
ben gepreßtem Gemiſch
von Theeblättern und
Zucker beſtehen.


Es wird nicht Wunder
nehmen, daß ein ſo ver-
breitetes Produkt, wie der Thee, auch zahlreichen Verfälſchungen ausgeſetzt
iſt. Am häufigſten werden die beſſeren Theeſorten mit geringerem oder
gar bereits ausgezogenem Thee vermiſcht. Letztere Manipulation nimmt
immer mehr überhand, und mehrere Fabriken in London beſchäftigen

Figure 302. Fig. 311.

Blätter einiger zur Fälſchung des Thees benutzter Pflanzen.


ſich damit, alten gebrauchten Thee wieder verkäuflich zu machen. Durch
die Beſtimmung des Theïngehaltes läßt ſich dieſe Verfälſchung ſicher
nachweiſen. Ferner werden Blätter zahlreicher anderer Pflanzen, wie
der wilden Roſe (Rosa canina), des Schlehdorns (Prunus spinosa), der Eſche
[535]Der Thee. — Der Kakao und die Schokolade.
(Fraxinus excelsior), des Weidenröschens (Epilobium angustifolium), der
Erdbeere (Fragaria vesca) geröſtet und mit den Theeblättern gemiſcht als
Thee in den Handel gebracht. Leicht ſind dieſe Fälſchungen zu erkennen,
wenn man eine kleine Menge des fraglichen Thees in heißem Waſſer
aufweicht, die Blätter aufrollt und nun ihre Form genau mit dem Ver-
größerungsglaſe betrachtet. Schon der Laie wird die Blätter anderer
Pflanzen von denjenigen des Thees unterſcheiden, und der Botaniker
dieſelben unſchwer beſtimmen können. Fig. 309 zeigt Theeblätter in
verſchiedenen Größen; man wird ſich leicht ſelbſt ein Urteil bilden können,
wenn man mit dieſen die Blätter einiger Bäume vergleicht, die außer
den obengenannten Arten, ebenfalls vielfach zur Fälſchung des Thees
benutzt werden, ſo zeigt Fig. 310 die Blätter der Weide a und der
Pappel b; Fig. 311 endlich der Platane c und der Eiche d.


Der Kakao und die Schokolade.

Von den Kakaoarten iſt die mexikaniſche Kakaobohne (Theobroma
Cacao
) für den Genuß die wichtigſte, außerdem aber ſpielt noch der
braſilianiſche Kakao, auch Guarana genannt, eine größere Rolle, während
andere Stoffe, welche den Kakao erſetzen können, bisher wenig bekannt
ſind und ſpäter erwähnt werden ſollen.


Die mexikaniſche Kakaobohne iſt der Same des Kakaobaumes, von
dem Fig. 312 einen Zweig mit Blättern und Frucht darſtellt. Dieſer
Baum wächſt in Weſtindien, Mittelamerika und in Südamerika, be-
ſonders am Orinoko und am Amazonenſtrome; in Demerara bildet er
ganze Wälder und wächſt auch jetzt noch
in Mexiko und an der Küſte von Caraccas
wild. Die Spanier fanden bei ihrer An-
ſiedelung in Mexiko bei den Eingeborenen
ein aus der Kakaobohne bereitetes Getränk
unter den Namen „Chocollatl“ im allge-
meinen Gebrauch und zwar ſchon ſeit ſo
langer Zeit, daß ſich der Anfang der Be-
reitung dieſes Getränkes nicht mehr be-
ſtimmen ließ. 1520 brachten die Spanier
die Kakaobohne nach Europa, wo ſie ſich
ſehr bald allgemein verbreitete. Ihren wiſſen-
ſchaftlichen Namen verdankt ſie der Vorliebe
des berühmten Botanikers Linné für dieſes
Getränk, denn er nannte es „Theobroma“
d. h. Götterſpeiſe.


Die Frucht (Fig. 312), von der Geſtalt
einer kleinen, länglichen Melone, enthält den
Samen in Form von 6 bis 30 reihenweiſe
in ein ſchwammiges Gewebe eingebetteten

Figure 303. Fig. 312.

Zweig des Kakaobaumes.


[536]Nahrungs- und Genußmittel.
Bohnen, und dieſe ſind es, welche weiter verarbeitet werden. Getrocknet
werden ſie entweder direkt auf den Markt gebracht oder vorher in die
Erde vergraben, einer leichten Gährung unterworfen und dann getrocknet,
wobei ſie einen Teil ihrer natürlichen Bitterkeit und Schärfe verlieren.
Die nach Europa gebrachte Kakaobohne iſt ſpröde, innen von dunkel-
brauner Farbe und hat einen leicht zuſammenziehenden und deutlich
bitteren Geſchmack.


Unter den Beſtandteilen der Kakaobohne iſt der Wirkung nach das
Alkaloid das wichtigſte, welches dem Kaffeïn entſpricht und nach dem
Gattungsnamen des Kakaobaumes „Theobromin“ genannt wird. Weſent-
lich unterſcheidet ſich der Kakao aber vom Kaffee und Thee durch ſeinen
hohen Gehalt (bis 50 %) an einen Fettſtoff — Kakaobutter genannt —
und einer bedeutenden Menge Stärke, wie eiweiß- oder klebeartiger
Stoffe, durch welche derſelbe eine direkt ernährende Wirkung hat, die
ja bekanntlich dem Kaffee und Thee fehlen. Die durchſchnittlichen
Beſtandteile der geſchälten Kakaobohne ſetzen ſich, abgeſehen von ganz
unweſentlichen Subſtanzen, aus 1 bis 1,5 % Theobromin, ca. 50 %
Kakaobutter, 14 bis 18 % Stärke, 13 bis 18 % Proteïnverbindungen ꝛc.
zuſammen. Dieſer hohe Fettgehalt macht den Kakao bezw. die aus
ihm bereitete Schokolade für ſchwache Magen ſehr ſchwer verdaulich
und hat dazu geführt, entweder das Fett aus der Kakaomaſſe zu
entfernen, oder auch dieſelbe mit Zuckerſtärke oder Mehl zu verſetzen,
um ſie auf dieſe Weiſe verdaulicher zu machen.


Die Zubereitung des Kakaos iſt eine ſehr mannigfache, je nach-
dem derſelbe mit der Schale, oder enthülſt oder ſchließlich unter Zu-
ſatz verſchiedener anderer Stoffe verarbeitet wird. Mit der Schale
wird die Kakaobohne geröſtet, in einem heißen Mörſer zu Teig zer-
ſtoßen und dann zwiſchen heißen Walzen gequetſcht. So erhält man
einen erhärteten Teig, die ſog. Kakaomaſſe, welche auch häufig noch
mit Zucker, Stärke und ähnlichen Beſtandteilen vermiſcht wird. Die
aus der Kakaobohne mit den Hülſen gewonnene Kakaomaſſe iſt aber
häufig nicht nur ſandig infolge der den Hülſen anhaftenden erdigen
Beimengungen, ſondern hat nicht ſelten einen gradezu erdigen Geſchmack.
Neuerdings hat man bei dem ſog. holländiſchen oder leicht löslichen
Kakao nicht nur dieſen Fehler aufgehoben, ſondern die Maſſe für das
ſpätere Ausziehen mit Waſſer bei Bereitung des Getränkes ſelbſt auch
viel ergiebiger gemacht durch vorheriges Einquellen der Kakaobohnen
mit Pottaſche oder Soda unter Zuſatz von etwas Magneſia. Dieſe
Stoffe beſeitigen nicht nur den erdigen Geſchmack und laſſen das eigent-
liche Aroma des Kakao viel mehr zur Geltung kommen, ſondern ſie
ermöglichen gleichzeitig ein viel feineres Zerreiben des Zellgewebes.
Im reinſten Zuſtande gewinnt man den Kakao, wenn derſelbe nach
dem Röſten und vor dem Mahlen enthülſt wird, wobei allerdings etwa
11 % an Gewicht verloren gehen. Eine andere Methode der Zube-
reitung iſt, daß man den Kakaobohnen erſt einen gewiſſen Teil ihres
[537]Der Kakao und die Schokolade.
Fettes entzieht und den Reſt dann pulvert. So erhält man den ent-
ölten oder entfetteten Kakao, der mit Milch oder Zucker gekocht ein
angenehmes, leicht verdauliches Getränk liefert, das von vielen der
eigentlichen Schokolade vorgezogen wird.


Die Schokolade ſelbſt wird bereitet, indem die geröſteten und ent-
hülſten Bohnen zwiſchen heißen Walzen gemahlen werden, worauf
man die Kakaomaſſe mit Zucker, Vanille und häufig auch noch mit
anderen Gewürzen ſehr innig vermiſcht. Dieſe innige Miſchung wird
in einem Apparat, Melangeur genannt, erzielt, wie ihn Fig. 313 zeigt,
einem runden, beckenartigen Gefäß, in dem die Kakaomaſſe mit den
genannten Zuſätzen ſtundenlang von zwei rotierenden Granitwalzen

Figure 304. Fig. 313

Apparat zum Mengen der Schokolade. (Melangeur.)


zuſammengeknetet wird. Auch die Löslichkeit aller Subſtanzen der
Schokolade wird, wie vorher beim Kakao erwähnt, durch Zuſatz von
Alkalien ſehr erhöht, ein Verfahren, das neuerdings viel verwendet
wird. Aus der Kakaomaſſe wird hierbei zuerſt durch warmes Preſſen
das Fett — es ſchmilzt bei 29 bis 30°C. — entfernt, hierauf eine
wäſſerige Löſung von Alkalien hinzugeſetzt, das Waſſer verdampft und
ſchließlich das abgepreßte Kakaofett wieder in die Maſſe gemiſcht.


Die bei Verarbeitung der beſſeren Kakaoſorten entfernten Schalen
ſind eine unter dem Namen „Miſerables“ beſonders von italieniſchen
[538]Nahrungs- und Genußmittel.
Häfen nach Irland ausgeführte Ware. Hier wird aus denſelben von
der ärmeren Bevölkerung durch Abkochen ein theeartiges Getränk be-
reitet, daß einen angenehmen Geſchmack haben und der Geſundheit ſehr
zuträglich ſein ſoll. Auch dienen die Schalen leider in gemahlenem
Zuſtande zur Verfälſchung der billigeren Schokoladenſorten.


Figure 305. Fig. 314.

Echtes Schokoladenpulver ohne Hülſen.


Figure 306. Fig. 315.

Echtes Schokoladenpulver mit Hülſen.


Verfälſchungen des
Kakao ſind bei dem
hohen Preiſe desſelben
nicht ſelten. So wird
z. B. das der Bohne ent-
zogene Fett durch Ham-
meltalg und andere ge-
ringwertige Fette erſetzt;
dieſe ſind wenig haltbar
und machen ſich bald
durch einen ranzigen Ge-
ruch, wie auch dadurch
bemerkbar, daß ſie beim
Kochen Fettaugen ab-
ſetzen. Ferner wird eine
übergroße Menge Zucker
hinzugeſetzt, welche ab-
geſehen von dem ſehr
ſüßen Geſchmack, ſich nur
auf chemiſchem Wege be-
ſtimmen läßt. Erdige Bei-
mengungen, wie Ocker,
Thon- und Ziegelmehl ꝛc.
ſind hingegen leicht an
dem Bodenſatz zu er-
kennen, der ſich beim
Kochen bildet. Die am
häufigſten vorkommende
Verfälſchung endlich be-
ſteht in einem Zuſatz von
geröſtetem Getreidemehl
ſehr verſchiedener Körner
und iſt ſowohl durch
chemiſche Reaktionen, als
auch in dem Bilde unter
dem Mikroſkop nachzu-
weiſen. Fig. 314 zeigt
das mikroſkopiſche Bild
von echtem Schokoladen-
pulver, welches ohne Zu-
[539]Der Kakao und die Schokolade.
ſatz der Hülſe allein aus der Bohne bereitet wurde; a ſind die Zellen
der Bohne, b die Teile der Membran, welche die Lappen der Bohne
bekleidet, c Zellen der Keimſtelle der Bohne und d Maſſen freien
Stärkemehls. Fig. 315 zeigt gleichfalls ein unverfälſchtes Schokoladen-
pulver, bei deſſen Bereitung aber die Hülſen der Bohnen nicht entfernt
wurden. Hier ſind a
Röhrenfaſern der Hülſen-
oberfläche, b Teile der
zweiten Hülſenmembran,
c Spiralgefäße, d Boh-
nenzellen, e Membran
von der Oberfläche der
Bohnenlappen, f Keim-
zellen und endlich g freie
Gruppen von Stärke-
mehl. Fig. 316 zeigt ein
mit Kartoffelſtärke und
Sagomehl verfälſchtes
Schokoladenpulver, wo-
bei in a die Zellen der
Kakaobohne, in b die der
Kartoffelſtärke und in c
das Sagomehlabgebildet
ſind. Fig. 317 endlich
zeigt andere zur Ver-
fälſchung benutzte Stärke-
mehle und läßt gleich-
zeitig einen Vergleich
derſelben mit den Stärke-
körperchen des Kakao
ſelbſt in ſcharfer Weiſe
zu. Die Zellen und
Stärkekörperchen des
Kakao ſind in a abge-
bildet, in b die Stärke
von Canna-Arrowroot
und in c die Tapiocca-
ſtärke. Alle vier Abbil-
dungen zeigen eine Ver-
größerung von 220 mal
im Durchmeſſer und
geben nur einen Teil
der zur Verfälſchung be-
nutzten geröſteten Mehl-
arten.


Figure 307. Fig. 316.

Verfälſchtes Schokoladenpulver.


Figure 308. Fig. 317.

Verfälſchtes Schokoladenpulver.


[540]Nahrungs- und Genußmittel.

Wie ſchon im Anfang geſagt, kennt man bisher nur ſehr wenige
Erſatzmittel für die Kakaobohne und ſelbſt über dieſe fehlen genauere
Angaben. So wird eine Erdeichel Südkarolinas (Arachis hypogaea),
deren Samen unter der Erde reift, geröſtet und wie der Kakao zu-
bereitet; in Spanien dient die geröſtete, ſehr ölige Wurzelknolle von

Figure 309. Fig. 318.

Zweig der Doboa.


Cyperus esculentus, einer Grasart,
als beſagtes Surrogat. Endlich be-
richten Afrikareiſende, daß im weſtlichen
Sudan die Frucht der Dodoa (Parkia
africana
) — in Fig. 318 mit Zweig und
Blättern abgebildet — als Erſatz für
Schokolade allgemein im Gebrauche iſt.


Vergleichen wir die drei Aufguß-
getränke, Kaffee, Thee und Schokolade
mit einander, ſo finden wir, daß ſie
alle drei durch ihren Gehalt an Kaffeïn
bezw. Theobromin anregend wirken,
wobei quantitativ der Gehalt an Theo-
bromin beim Kakao die Mitte zwiſchen
Thee und Kaffee hält. Das nahrhaf-
teſte Getränk von allen dreien iſt die
Schokolade infolge ihres hohen Gehaltes
an Fett und Eiweißkörpern, während der Thee mitunter ſtörend auf
die Verdauung wirken kann, da er die meiſte Gerbſäure enthält, und
dieſe unter gewiſſen Umſtänden die für die Verdauung notwendige
Verwandlung der Eiweißkörper in Peptone hindert.


Dr. Max Weitz.


c) Die narkotiſchen Genußmittel: Tabak, Opium,
Hanf, Koka, Hopfen.


Den vorher beſchriebenen Genußmitteln ſtehen noch diejenigen einer
anderen Klaſſe, nämlich die narkotiſchen Genußmittel ſehr nahe, denn
auch ſie haben die Eigenſchaft, in kleinen Mengen genoſſen, uns an-
zuregen, unſer Kraftgefühl zu ſteigern, wohlthätig auf unſer ganzes
Nervenſyſtem zu wirken und uns über manche Beſchwerlichkeit des
Lebens hinwegzuhelfen. Anderſeits wirken aber auch ſie im Übermaß
genoſſen ſehr ſchädlich und erzeugen ſchließlich Rauſch und Betäubung.
Aber ſtreng genommen kann man ſie nicht für unentbehrlich halten,
und werden ſie, wie z. B. das wichtigſte und verbreitetſte unter ihnen,
der Tabak, erſt durch die Angewöhnung in gewiſſem Sinne unentbehr-
lich, oder es hält doch wenigſtens dann ſehr ſchwer dieſe Gewohnheit
aufzugeben. Anderſeits kann man gewiß nicht behaupten, daß zahl-
reiche Menſchen, die ſich niemals den Tabakgenuß in irgend welcher
[541]Der Tabak.
Form angewöhnten, ihn alſo auch ganz leicht entbehren, hinſichtlich
ihrer geiſtigen und körperlichen Fähigkeiten hinter denjenigen zurück-
ſtänden, welche dieſem Genuſſe fröhnen.


Der Tabak.

Der Tabak iſt — wie bereits geſagt — das wichtigſte und ver-
breitetſte der narkotiſchen Genußmittel und von ganz hervorragender
volkswirtſchaftlicher Bedeutung. Schon aus dieſem Grunde iſt der
Rückgang des Konſums eines ſo wichtigen Handelsartikels, deſſen An-
bau, Verarbeitung und Vertrieb viele Tauſende ernährt, nicht zu wünſchen
und in der That iſt in den letzten Jahrzehnten gerade das Gegenteil
eingetreten, denn der Konſum des Tabaks hat ſich in den letzten
25 Jahren faſt verdoppelt. Es iſt nicht mehr zu beſtimmen, ſeit wann
der Genuß des Tabaks bei den Menſchen üblich iſt, wir wiſſen nur
daß Kolumbus im Jahre 1492 die Indianer Cubas Tabak rauchen
ſah, und daß dieſe den Genuß desſelben damals ſchon lange kannten.
Auch Cortez fand ſpäter den Tabakgenuß in Mexiko, und es läßt ſich
auch nicht mit Beſtimmtheit ſagen, wann derſelbe zuerſt von dort nach
Spanien kam. Den Gattungsnamen „Nicotiana“ erhielt die Tabak-
pflanze nach Jean Nicot, welcher 1560 den erſten Tabakſamen nach
Paris brachte. 1586 brachte Francis Drake den Tabak nach Eng-
land, es dauerte aber noch 50 Jahre, bis er dort näher bekannt wurde,
und erſt während des dreißigjährigen Krieges verbreitete ſich der Tabak-
genuß über Deutſchland und ungefähr zur ſelben Zeit über die Türkei
und Arabien. Seine Heimat iſt der zwiſchen den Wendekreiſen ge-
legene Teil Amerikas, aber heute kann dieſe Pflanze ſelbſt noch bis
zum 52. Grade nördlicher Breite kultiviert werden, wenn auch die beſten
Tabakſorten noch jetzt die amerikaniſchen und unter dieſen beſonders
diejenigen aus Virginien, Varinas, Havanna und Portorico ſind.


Von den Arten des Tabaks ſind drei botaniſch von einander ver-
ſchiedene zu nennen, nämlich:


1. Der virginiſche Tabak (Nicotiana tabacum), wie ihn Fig. 319
zeigt, deſſen große lanzettförmige Blätter direkt am Stengel ſtehen, ſich
in der Mitte meiſt umbiegen, und deſſen breite Rippen mit ſpitz-
ablaufenden Nebenrippen verſehen ſind.


2. Der Marylandtabak (Nicotiana macrophylla), zwar mit breiteren,
aber doch ſo zugeſpitzten Blättern, wie die des vorigen.


3. Der Bauern- oder Veilchentabak (Nicotiana rustica) mit eirunden,
blaſigen Blättern (Fig. 320), welche auf einem längeren Stiele ſitzen als
die der vorigen Arten und mit grüngelben, kürzeren Blüten.


Die Güte des Tabaks iſt abgeſehen von der Art des Samens ſehr
beeinflußt durch Klima, Beſchaffenheit des Bodens und Lage der
Felder, wie überhaupt der Einfluß der Kultur für den Tabaksbau von
ganz entſcheidender Wichtigkeit iſt.


[542]Nahrungs- und Genußmittel.
Figure 310. Fig. 319.

Virginiſcher Tabak.


Figure 311. Fig. 320.

Bauerntabak.


Vor allem ſind es drei Subſtanzen, welche als die wichtigſten
für die chemiſche Zuſammenſetzung des Tabaks zu betrachten ſind.
Das Nikotianin oder der Tabakskampfer iſt eine fettartige Subſtanz,
welche bei einem bitteren, aromatiſchen Geſchmack den angenehmen
Geruch des Tabakdampfes hat, ſeine Menge iſt ſehr maßgebend für die
Güte des Tabaks. Ein ferneres, ſchon in ganz geringer Doſis tödlich
wirkendes Gift iſt das Nikotin, eine organiſche Baſe, welche in reinem
Zuſtande ein farbloſes Öl von ätzendem Geſchmack und betäubendem
Tabakgeruch darſtellt. Die in den Blättern ſich findende Menge des
Nikotins ſcheint keinen Einfluß auf die Güte des Tabaks zu haben, denn
die verſchiedenen Tabaksarten haben einen Nikotingehalt von weniger
als 2 (wie z. B. der Havanna-Tabak) bis faſt 8 %, welche Menge ſich in
ſehr guten franzöſiſchen Tabaken findet, während der virginiſche Tabak
6,87 % Nikotin enthält. Das Nikotin iſt im Tabak nicht frei ent-
halten, ſondern in Geſtalt eines Salzes an die Tabakſäure — das
iſt der dritte weſentliche Beſtandteil — gebunden. Die Tabakſäure
hat große Ähnlichkeit mit der Äpfelſäure und iſt vielleicht mit ihr
identiſch. Außer dieſen drei weſentlichen Beſtandteilen enthalten die
Tabaksblätter noch eiweißartige Subſtanzen, Holzfaſer, Gummi, Harz
und ſchließlich 19 bis 27 % (der trockenen Blätter) Mineralbeſtandteile.


Erſt durch die Zubereitung erhalten die Tabaksblätter diejenigen
Eigenſchaften, welche man von einem guten Rauchtabak verlangt. Dieſe
beſtehen in einem angenehmen Geruch und dem Fehlen des beißenden
Geſchmackes, wie der Unbehaglichkeiten, welche ein zu großer Gehalt
[543]Der Tabak.
an Nikotin hervorruft. Die eiweißhaltigen Beſtandteile des Blattes
ſind es, welche den unangenehmen Geruch nach verbranntem Horn
erzeugen, dieſe müſſen alſo zerſtört und der Nikotingehalt muß vermindert
werden, wodurch gleichzeitig das Aroma des Tabaks mehr hervortritt.
Eine fernere Aufgabe der Zubereitung iſt es, daß man den Blättern die
für die Fabrikation von Rauch- und Schnupftabak geeignete Form giebt.
Die geernteten Blätter müſſen erſt in hellen Räumen bis auf ca. 12 %
ihres Waſſergehaltes getrocknet werden, wobei ſie gleichzeitig ihre grüne
Farbe verlieren und eine braune annehmen. Beides geſchieht aber
nur dann ganz gleichmäßig, wenn ſich die Blätter während des
Trocknens nicht berühren, ſie werden deshalb entweder auf Bindfäden
aufgezogen, nebeneinander aufgehängt, oder auch je 2 Blätter, durch
ein kleines Querhölzchen verbunden, an langen Stöcken aufgereiht. Die
ſo getrockneten Blätter werden in ca. 60 cm hohen Haufen mit Brettern
und Steinen beſchwert einige Tage lang gepreßt, darauf in Bezug auf ihre
Farbe und Dicke ſortiert, entrippt, um die hauptſächlich aus Holzfaſern
beſtehenden Blattrippen zu entfernen und endlich die vorher erwähnte
Umſetzung der Blattbeſtandteile auf chemiſchem Wege vorgenommen.


Dieſe chemiſche Behandlung beſteht im weſentlichen aus dem
Saucieren oder Beizen und Gähren der Blätter. Sie werden hierzu
mit einer Sauce getränkt, die aus Kochſalz, Salmiak, Salpeter und ſalpeter-
ſaurem Ammoniak beſteht, außerdem aber noch weingeiſtige, organiſch-
ſaure und gewürzhafte Subſtanzen enthält. Das Saucieren geſchieht
entweder durch wiederholtes Beſprengen der Blätter mit der Sauce
oder durch Eintauchen in dieſelbe, welch’ letztere Manipulation „Docken“
genannt wird. Die mit dieſer Sauce getränkten Blätter werden, in
Fäſſer verpackt, einer Gährung unterworfen, bei welcher die Temperatur
bis auf 35°C ſteigt und alle die gewünſchten chemiſchen Umſetzungen
vor ſich gehen, wie Zerſtörung der Eiweißſtoffe, Verminderung des
Nikotingehaltes, Entwickelung des Aromas ꝛc. Nach dieſer Gährung
werden die Blätter auf Herden bei mäßiger Wärme getrocknet und
nun je nach ihrer Beſtimmung mechaniſch weiter verarbeitet.


Der für die Pfeifen- oder Cigarrettenfabrikation beſtimmte Rauch-
tabak wird durch einfaches Schneiden der Blätter in die bekannte
kurze Form gebracht. Bei größerem Betriebe dienen hierzu mit
der Hand zu drehende Maſchinen, welche einer Häckſelſchneidemaſchine
ſehr ähnlich ſehen und auch, in großem Maßſtabe mit Dampf be-
trieben werden. Der ſo beliebte Kraustabak wird aus dem geſchnittenen
Tabak hergeſtellt, indem man denſelben eine Reihe von erhitzten Eiſen-
cylindern paſſieren läßt, wodurch die Blätter zuſammenſchrumpfen und
ein kriſpliges Ausſehen erhalten; aber nicht ſelten verliert der Tabak
durch dieſe Behandlung an Güte. Der jetzt immer mehr abkommende
Rollentabak wird durch Spinnen dargeſtellt, nachdem die Blätter durch
Befeuchten mit Waſſer geſchmeidig gemacht wurden. Der erſte Teil
der Rolle wird durch Drehen mit der Hand hergeſtellt, hierauf an
[544]Nahrungs- und Genußmittel.
einer horizontale Spindel befeſtigt und während des Drehens derſelben
unter Zuführung ſtets neuer Blätter durch Streichen mit einem Brettchen
auf dem Tiſche zu einem Taue weiter geſponnen.


Die in Deutſchland verbreitetſte Art des Tabakkonſums iſt das
Rauchen desſelben in Form von Cigarren, und ſoll daher auch die
Cigarren-Fabrikation kurz beſchrieben werden. Die entrippten Tabaks-
blätter werden mit der Hand ſo auf dem Tiſche gerollt, daß die Mitte
etwas dicker wird, als die beiden Enden, hierauf mit dem ſog. Umblatt
verſehen und ſchließlich mit dem aus dem vollen Tabaksblatte ſauber
geſchnittenen, ganz fehlerfreien Deckblatte umwickelt. So einfach dieſe
Arbeit ſcheint, ſo verlangt ſie doch ſehr große manuelle Geſchicklichkeit,
wenn die Cigarre gut Luft haben und gleichmäßig brennen ſoll; auch
muß ſehr auf die Lage der Rippen und die Richtung geachtet werden,
in welcher die Blätter aufzuwickeln ſind. Das Rollen des inneren
Teiles der Cigarre wird jetzt durch die ſog. Formarbeit anſtatt mit der
Hand vorgenommen, während ſich für das Umlegen des Deckblattes
bisher die Handarbeit durch Zuhilfenahme irgend welcher Maſchinen
nicht erſetzen ließ. Auch färbt man jetzt durch Beſtreichen mit einer
braunen Farbe die Deckblätter häufig braun, um ihnen ſo ein beſſeres
Ausſehen zu geben. Dieſes Verfahren iſt beſtimmt zu tadeln, da es
ſelbſt unter der Vorausſetzung einer unſchädlichen Farbe immerhin eine
Täuſchung iſt. Die fertigen Cigarren werden, nachdem ſie in gleiche
Länge geſchnitten und ſortiert wurden, in Trockenräume gebracht, welche
durch Lüften im Sommer und Heizen im Winter auf einer möglichſt
gleichmäßige Temperatur erhalten werden. Durch das Ablagern der
Cigarre gewinnt dieſelbe weſentlich an Güte, und zwar nicht nur durch
das Austrocknen des Tabaks, ſondern auch dadurch, daß derſelbe hier-
bei eine Art Nachgährung durchmacht, wodurch ſowohl Subſtanzen,
welche die Güte des Tabaks beeinträchtigen, zerſtört, als auch andere,
ihm vorteilhafte, entwickelt werden. In den letzten zwei Jahrzehnten
hat auch in Deutſchland der in Rußland und dem ganzen ſüdlichen
Europa ſo groß entwickelte Konſum der Cigarretten und damit auch
die Fabrikation derſelben ganz außerordentlich zugenommen. Infolge davon
ſind zahlreiche Maſchinen zum Wickeln und Verkleben der Papierhülſen
und Mundſtücke konſtruiert worden.


Zur Darſtellung des Schnupftabaks werden die Blätter ähnlich
wie beim Rauchtabak behandelt, nur wird die Sauce hier vorzugsweiſe
aus Ammoniakſalzen und aromatiſchen Subſtanzen hergeſtellt. Nach-
dem die Gährung der Blätter vorbei iſt, und dieſe getrocknet ſind,
werden ſie geſchnitten und dann auf Mühlen verſchiedener Konſtruktion
oder auch zwiſchen Steinen fein zermahlen. Eine der beſten Tabak-
mühlen beſteht aus einem zur Aufnahme des geſchnittenen Tabaks be-
ſtimmten Trichter, in deſſen unterem Teile — gerade wie bei der
Kaffeemühle — ein gekerbter, nußförmiger Körper ſich um die eigene
Achſe dreht. Der hier ſehr fein gemahlene Tabak gleitet auf einem
[545]Der Tabak.
ſchiefen Brette in einen unten angebrachten Behälter, von wo er durch
eine archimediſche Schraube in geſchloſſener Rinne nach dem Verpackungs-
raume transportiert wird. Durch Sieben wird der Schnupftabak dann
in gröbere und feinere Sorten geſchieden. Der Schnupftabak enthält
ca. 2 % Nikotin und zwar teils frei, teils als neutrales oder baſiſches
Salz; auch das darin enthaltene Ammoniak iſt an eine Säure gebunden,
und dieſe beiden Salze ſind es, welchen der Schnupftabak ſeine Reiz-
wirkung auf die Schleimhaut der Naſe verdankt. Schließlich darf nicht
unerwähnt bleiben, daß die Bedeutung des Schnupftabaks dem Rauch-
tabak gegenüber eine ſehr untergeordnete iſt.


Über die Wirkungen des Tabaks bezw. über deſſen Nützlichkeit
oder Schädlichkeit iſt ſehr viel hin- und hergeſtritten worden, und that-
ſächlich iſt es nicht leicht, zu einem beſtimmten Reſultat den Angreifern
des Tabakgenuſſes gegenüber zu kommen, weil ſein Gebrauch nicht
nur durch eine gewiſſe Mäßigkeit desſelben — wie bei allen Genuß-
mitteln — und ferner durch die Art des Tabaks ſelbſt bedingt iſt, ſondern
auch ganz weſentlich durch die Perſönlichkeit des Genießenden beeinflußt
wird. Zu jugendliche Organismen z. B. werden zweifellos ebenſo unter
dem Gebrauche des Tabaks — ſelbſt auch ſchon bei einem mäßigen
Genuſſe — leiden, als er dem vollſtändig ausgewachſenen Organismus
zahlreiche Vorteile bietet. Er verlängert unter gewiſſen Bedingungen
die Arbeitsfähigkeit, läßt leichter die Gedanken ſammeln, ſtillt bis zu
einer gewiſſen Grenze ſowohl den Durſt, als er auch vorübergehend
den Hunger beſchwichtigt, und erhöht ſomit die Ausdauer bei körperlichen
Anſtrengungen und Beſchwerden. Ferner ſei von manchen anderen Vor-
teilen nur noch erwähnt, daß er die Luſt zu Näſchereien beſchränkt und
ſchließlich Mäßigkeit wie Nüchternheit befördert, indem er den Genuß
geiſtiger Getränke vielfach entbehrlich macht. Selbſtverſtändlich wirkt
der Tabak, wie die allermeiſten der übrigen Genußmittel, im Übermaß
genommen, durchaus ſchädlich.


Die Verfälſchungen des Tabaks beſtehen darin, ihm eine beſſere
Farbe und ein künſtliches Aroma zu geben, wie auch durch Beſchwerungs-
mittel ſein Gewicht zu erhöhen. Das Braunfärben der Deckblätter iſt
bereits bei der Fabrikation der Cigarren erwähnt, und zur Erzielung
des künſtlichen Aromas dienen zahlreiche aromatiſche Flüſſigkeiten. Als
Beſchwerungsmittel werden verſchiedene Zuckerſtoffe, Blätter zahlreicher
anderer Pflanzenarten, aber auch anorganiſche Subſtanzen verwendet.
Mit zahlreichen Verfälſchungen anderer Art wird der Schnupftabak
gemiſcht, und iſt Nieswurz die ſchädlichſte derſelben.


Das Opium.

Von den narkotiſchen Genußmitteln iſt der Tabak das einzige
empfehlenswerte. Alle anderen ſind zu verwerfen; unter ihnen alſo
auch und ſogar ganz beſonders der Genuß des Opiums. Der Gebrauch
Das Buch der Erfindungen. 35
[546]Nahrungs- und Genußmittel.
des Opiums als Genußmittel beſchränkt ſich allerdings hauptſächlich
auf China, und wenn auch vielleicht mit Recht behauptet wird, daß der
Opiumgenuß weit verbreiteter ſei, als man im allgemeinen glaubt und
ſogar in Europa heimliche Anhänger zählt, ſo kann man wohl doch
zum Glück im eigentlichen Sinne nicht behaupten, daß der Opiumkonſum
in Europa von irgend welcher Bedeutung ſei.


Zur Gewinnung des Opiums dienen die halbreifen Köpfe des
Mohns (Papaver somniferum), der in Fig. 321 dargeſtellt iſt. In dieſe

Figure 312. Fig. 321.

Der Schlafmohn.


Köpfe werden, ſo lange die Rinde derſelben noch eine
helle Farbe hat, Einſchnitte gemacht, aus welchen ein
Pflanzenſaft quillt, der aufgefangen und eingedickt wird.
So erhält man eine braune Salbe von lange nach-
haltendem, ſtreng bitterem Geſchmack, welche von den
Arabern „afioum“ genannt wird, und aus dieſer Be-
zeichnung iſt das Wort Opium entſtanden.


Opium wird wie Tabak hauptſächlich geraucht,
während einige Völker Aſiens auch den Saft direkt
irgend welchen geiſtigen Getränken hinzuſetzen, um hier-
durch die berauſchende Wirkung derſelben zu erhöhen.
Der Opiumraucher benutzt als Pfeife ein kleines Rohr,
an deſſen unterem Ende ein durchbohrter Metallknopf
mit ſo kleiner Höhlung ſitzt, die gerade groß genug iſt,
die kleine Opiumpille, welche als einmalige Doſis dient,
aufzunehmen. Dieſe Pfeife in der Hand, ſucht er eine
Lagerſtätte auf, und raucht ſo lange, bis er von den
gewünſchten Träumen umgaukelt, bewußtlos auf die
Lagerſtätte ſinkt. Dieſe ſo angenehmen Träume werden
aber ſehr teuer bezahlt, denn die Erſchlaffung und der
Ekel, welche beim Erwachen den Opiumraucher be-
herrſchen, können nur durch neue und zwar immer größer werdende
Mengen Opium betäubt werden, bis endlich ſämtliche Organe des
Körpers, beſonders die Eingeweide, alle Kräfte eingebüßt haben und
der geſamte Organismus an Erſchlaffung zu Grunde geht. Es läßt
ſich nach dieſer ſo ſchädlichen Wirkung des Opiums auf den ganz aus-
gewachſenen Organismus leicht beurteilen, wie thöricht unwiſſende
Mütter handeln, wenn ſie ſchreiende Säuglinge mittelſt eines Getränkes
durch Abkochen aus unreifen Mohnköpfen bereitet, in den Schlaf wiegen.
So verdünnt das in dieſem Getränke enthaltene Opium auch immerhin
iſt, ſo ſteht es doch anderſeits einem um ſo zarteren Organismus gegen-
über und bereitet dieſem für die ganze ſpätere Entwickelung außerordent-
lich große Nachteile.


Trotz aller dieſer den menſchlichen Organismus zu Grunde
richtenden Wirkungen, darf aber die Vorzüglichkeit des Opiums als
Arzneimittel nicht verkannt werden. Es iſt ein vorzügliches Gegen-
mittel bei Durchfall und ſein wirkſamſter Beſtandteil, das Morphium,
[547]Das Opium.
übt bei Einſpritzungen unter die Haut eine wohlthuende, ſchmerzſtillende
Wirkung aus.


Von den chemiſchen Beſtandteilen des Opiums iſt das ſoeben ge-
nannte Morphium, von dem das Opium ca. 6 % enthält, das wichtigſte,
weil es dieſem hauptſächlich ſeine Wirkung verdankt. Aber noch andere
organiſche Baſen, wie das Narkotin (ca. 7 %), das Kodeïn (faſt 1 %)
und endlich das Narceïn (ca. 9 %), deren Wirkungen dem Morphium
ſehr nahe kommen, ſind darin enthalten, neben organiſchen Säuren,
Fetten, Harzen, gummiähnlichen Extraktivſtoffen und Waſſer.


Der Hanf, die Koka und der Hopfen.

An der Seite des Opiums müſſen auch noch Hanf, Koka und
Hopfen genannt werden. Aus dem Safte der Hanfpflanze (Cannabis
sativa
) wird eine Subſtanz gewonnen, die Haſchiſch genannt wird und
deren Bereitung und Wirkung dem Opium ſehr ähnlich iſt. Den Genuß
des Haſchiſch findet man hauptſächlich in Perſien, Indien, Arabien und
in den meiſten Teilen Afrikas. Die Blätter der Koka (Erythroxylon
Coca
) werden hauptſächlich von den Bergindianern benutzt und ſollen
— ſehr mäßig verwendet — zu außerordentlichen körperlichen Anſtren-
gungen befähigen, während größere Doſen dem Opium ähnliche
Wirkungen bervorrufen. Der Genuß der Koka geſchieht durch Kauen
der getrockneten, oder friſchen, mit etwas ungelöſchtem Kalk beſtreuten
Blätter. Schließlich gehört auch der Hopfen unter die narkotiſchen
Genußmittel, wenn er ſich auch von allen anderen ganz weſentlich da-
durch unterſcheidet, daß er niemals allein genoſſen wird, ſondern ſtets
in Gemeinſchaft mit anderen Stoffen, wie im Biere, bei dem wir ihn
kennen lernten.


Dr. Max Weitz.


d) Butter und Kunſtbutter.


Die Butter und der Erſatz derſelben, die Kunſtbutter oder „Mar-
garine“, wie die geſetzlich vorgeſchriebene Bezeichnung für letztere lautet,
gehören zweifellos zu den wichtigſten für unſere Ernährung beſtimmten
Fetten. Die Kunſtbutter wird von vielen Seiten, beſonders von wiſſen-
ſchaftlicher, ebenſo warm verteidigt, als von manchen anderen Seiten
hart angegriffen, und iſt auch der für die unteren Kreiſe ſehr unglücklich
gewählte Ausdruck „Margarine“ für Kunſtbutter ſehr wahrſcheinlich
nur dem Wunſche entſprungen, bei der Benennung dieſes Surrogates
das Wort „Butter“ überhaupt zu vermeiden.


Um den wirklichen Wert der Kunſtbutter zu erkennen, muß man
erſt unterſuchen, ob wir überhaupt einen Erſatz für die Butter nötig
haben, wobei wir als unbeſtritten annehmen wollen, daß die Butter
unter den zum Kochen verwendeten Fettarten die wohlſchmeckendſte iſt,
35*
[548]Nahrungs- und Genußmittel.
und den erſten Platz unter denſelben einnimmt. Ferner muß man die
Entſtehungsart der Butter ſelbſt kennen, und wollen wir daher eine
ganz kurze Beſchreibung derſelben voraus ſchicken.


Zur Bereitung der Butter dient bekanntlich die Milch als Rohmaterial,
und dieſe kennen wir alle als eine weiße undurchſichtige Flüſſigkeit.
Wollen wir das Ausſehen der Milch aber genauer kennen lernen, ſo
müſſen wir ein Tröpfchen derſelben unter dem Mikroſkop betrachten;
wir ſehen dann in einer waſſerähnlichen Flüſſigkeit unzählige Fett-
kügelchen herumſchwimmen, von denen jedes einzelne mit einer zarten
Haut umgeben iſt. Läßt man die Milch ſo lange ruhig ſtehen, daß
die in ihr enthaltenen Körper von verſchiedenem ſpezifiſchen Gewichte
ſich trennen können, ſo kommen dieſe Fettkügelchen, weil ſie leichter
ſind als die übrige Flüſſigkeit, an die Oberfläche und bilden den Rahm.
Dieſer Rahm wird abgeſchöpft, und aus ihm die Butter bereitet, und
zwar durch eine Manipulation, welche man das Buttern nennt, wo
durch ſchlagende und ſtoßende Bewegung jene feinen, die einzelnen
Fettkügelchen umgebenden Häutchen zerreißen. Hierdurch bildet der
bloßgelegte Inhalt dieſer Kügelchen eine kompakte Fettmaſſe — die
Butter. So wurde und wird auch heute noch im Kleinbetriebe
die Butter bereitet. Im Großbetriebe hingegen wird die friſch
gemolkene Milch durch Schleudern mittels Centrifugalmaſchinen in
wenigen Minuten entrahmt, dadurch wird nicht nur Zeit gewonnen,
ſondern auch gleichzeitig dem Sauerwerden der Milch, einer Gefahr,
welche bei längerem Stehen beſonders im Sommer häufig eintritt,
vorgebeugt. Die Entrahmungsmaſchinen beſtehen im weſentlichen
aus einem auf einer vertikalen Axe ſitzenden Gefäß, welches von
einem zweiten, weiteren Gefäß umſchloſſen iſt. Das mit Milch gefüllte
innere Gefäß wird nun mittels der Axe, auf welcher es ruht, in ſehr
ſchnelle Drehung verſetzt, und zwar bis zu 6000 Umdrehungen pro
Minute. Die Centrifugalkraft, welche die ganze Flüſſigkeit an dem
Rande des Gefäßes nach oben zu ſteigen zwingt, ſchleudert die leichteren
Teilchen, hier alſo das den Rahm bildende Fett, bei dem kontinuierlichen
Zufließen von neuer Milch über den Rand des rotierenden Gefäßes
in ein zweites, welches mit einer Abflußrinne verſehen iſt. Auch die
entrahmte Milch, welche ja nun ſchwerer iſt, als die nachfließende
Vollmilch, wird auf dieſe Weiſe von letzterer getrennt und an einem
geſonderten Abfluſſe aufgefangen. Der auf dieſe Weiſe in ſehr kurzer
Zeit gewonnene Rahm wird nicht mehr durch ſtundenlanges Bearbeiten
im Butterfaß mit der Hand, ſondern in wenigen Minuten gleichfalls
durch Maſchinen verbuttert, die durch Walzen, welche mit Anſätzen
irgend welcher Art verſehen ſind, den Rahm bearbeiten. Fig. 322
zeigt eine ſolche Buttermaſchine für den Handbetrieb. Der Rahm wird
in den halben mit einem drehbaren Deckel verſchließbaren Cylinder B
gebracht und hier durch die auf der Welle befindlichen Flügel C ge-
peitſcht. Die Welle wird mittels der Kurbel und der Zahnräder E F
[549]Butter und Kunſtbutter.
in ſchnelle Drehung verſetzt, während A endlich ein Waſſerbad iſt,
welches man je nach der Jahreszeit mit warmem oder kaltem Waſſer
füllt, um den Rahm auf der für das Buttern günſtigſten Temperatur
zu erhalten. Dieſe Ma-
ſchinen werden auch in
größerem Maßſtabe für
Motorenbetrieb gebaut
und ferner mit verän-
derten Konſtruktionen,
welche im weſentlichen
darin beſtehen, daß die
den Rahm bearbeiten-
den Körper nicht hori-
zontal, wie in Fig. 322
angegeben, ſondern ver-
tikal bewegt werden.
Dieſe Art der Hand-
habung der Butterbe-
reitung iſt ſchneller,
ſicherer und ſauberer,

Figure 313. Fig. 322.

Buttermaſchine.


als das frühere Buttern; ſie entſpricht unſerer raſchlebigen Zeit, welche
auf allen Gebieten ſo weſentliche Verbeſſerungen geſchaffen hat.


Die auf dem ſoeben beſchriebenen Wege gewonnene natürliche
Butter iſt ein vorzügliches Nahrungsmittel und hat unſeren Eltern und
Voreltern vollſtändig genügt; was kann uns alſo veranlaſſen, dafür
ein Surrogat einzuführen? Das Mißverhältnis zwiſchen Produktion
und Konſumtion iſt es, welches ſich ſchon zu Anfang dieſes Jahr-
hunderts für die weniger bemittelten Klaſſen bemerkbar machte und von
Jahr zu Jahr unangenehmer und in ſtets weiter werdenden Kreiſen
empfunden wird. Die Butterproduktion eines Landes iſt natürlich ab-
hängig von ſeinem Viehſtande, und nur ſehr wenige Länder, wie z. B.
die Niederlande, die Schweiz und Tirol, halten ſo viel Melkvieh, daß
die Butterproduktion nicht nur dem eigenen Bedarf genügt, ſondern
ſogar noch einen Export ermöglicht, in allen andern europäiſchen
Ländern aber iſt das Verhältnis gerade ein umgekehrtes. Das beſte
Beiſpiel, um den Beweis hierfür zu führen, dürfte uns das ſtark be-
völkerte England bieten; trotzdem dort Ackerbau und Viehzucht auf der
höchſten Stufe ſtehen und Irland und Schottland nur mäßig bevölkert
ſind, ſo iſt die Butterproduktion doch nicht hinreichend, um den Konſum
zu decken, ſondern nur durch ganz bedeutende Einfuhr von Butter,
beſonders aus Holland und der Schweiz, kann dieſes Mißverhältnis
ausgeglichen werden. Ähnliche Verhältniſſe, wenn auch vorläufig noch
nicht in dem hohen Maße, finden ſich im geſamten Weſteuropa, und
dieſe Verhältniſſe verſchlimmern ſich von Jahr zu Jahr aus dem ganz
natürlichen Grunde, daß nicht nur die Bevölkerung im allgemeinen
[550]Nahrungs- und Genußmittel.
ſtets wächſt, ſondern durch das Vergrößern der Städte überdies noch
der Produktionskreis der Butter eingeſchränkt wird.


Verlangen nun dieſe allerdings unbeſtreitbaren Thatſachen auch
gleich das Einführen eines Surrogats für ein ſo wertvolles Nahrungs-
mittel? Iſt es nicht viel näher liegend, dasſelbe aus denjenigen
wenig bevölkerten Ländern zu beziehen, welche hauptſächlich Ackerbau
treiben, wie z. B. aus dem Weſten und Süden Amerikas, wie es ja
auch ſchon längſt mit dem dort friſch geſchlachteten Fleiſche geſchieht?
Leider iſt uns dieſer Weg vorläufig noch verſchloſſen, denn es iſt bis
heute noch nicht gelungen, eine Konſervierungsmethode für die Butter
zu finden, welche es ermöglicht, dieſelbe für ſo lange Zeit und ſo weite
Reiſen haltbar zu machen. Wie aus allen Fetten, bilden ſich auch aus
denjenigen der Butter die ſog. Fettſäuren, eine Zerſetzung, welche
man mit dem Ausdrucke „Ranzigwerden“ bezeichnet. Im Vergleich zu
anderen Fetten wird die Butter beſonders leicht ranzig, denn es ge-
lingt bei ihrer Bereitung nicht, ſie von allen Käſeteilchen der Milch —
Kaſeïn wird dieſer ſtickſtoffhaltige Körper genannt — zu befreien, und
dieſe ſind, wie alle ſtickſtoffhaltigen Subſtanzen, beſonders geneigt,
ſich zu zerſetzen und ſomit auch das Verderben der Butter zu ver-
anlaſſen. Ebenſo enthält ſie in den eingeſchloſſenen Milchteilen den
Milchzucker und das Milchſäureferment derſelben, und der Gehalt an
dieſen Stoffen iſt es auch, welcher uns zwingt, für ihre Haltbarkeit zu
ſorgen, ſelbſt wenn die Butter auch nur in nächſter Nähe von ihrem
Produktionsorte auf den Markt gebracht werden ſoll. Das geſchieht
in Norddeutſchland durch Einſalzen, in Süddeutſchland durch Aus-
ſchmelzen der Butter, und je nach der gewählten Behandlungsart wird
die Butter dann als Salz-, bezw. Schmelzbutter bezeichnet. Schon
hierbei muß erwähnt werden, daß es ein ganz weſentlicher Vorteil einer
beſonderen Art der Kunſtbutter — der ſog. Marinebutter — vor der
natürlichen iſt, viel haltbarer als dieſe zu ſein und ſich daher beſonders
für Seereiſen und dergl. zu eignen, weil ſie nur aus Fetten beſteht
und in ihr keine ſtickſtoffhaltigen Subſtanzen enthalten ſind.


In gerechter Erwägung des vorſtehenden kommt man zweifellos
zu der Anſicht, daß wir ein Surrogat für die Butter haben müſſen,
wenn nicht alle weniger begüterten Kreiſe auf dieſes ſo wertvolle
Nahrungsmittel verzichten ſollen. Unter ſolchen Verhältniſſen iſt es
entſchieden als ein glücklicher Umſtand zu bezeichnen, daß es dem
Chemiker nach mühſeligen und vielen vergeblichen Arbeiten endlich ge-
lungen iſt, ein ſolches Surrogat zu ſchaffen und zwar unter der Vor-
ausſetzung, daß es reell dargeſtellt wird, ein recht brauchbares.


Die Erfindung der Kunſtbutter verdanken wir indirekt Napoleon III.,
da derſelbe durch die vorſtehend entwickelten Gründe veranlaßt, einen
Preis für die Auffindung eines Surrogates für Butter ausſetzte, an
welches ſehr hohe Anſprüche geſtellt wurden, denn es ſollte wohl-
ſchmeckend, nahrhaft, unſchädlich, haltbar und billig ſein. Dem fran-
[551]Butter und Kunſtbutter.
zöſiſchen Chemiker Mège-Mouriès gelang es im Jahre 1869 dieſe
Preisfrage zu löſen; es bildete ſich auch ſogleich in Frankreich eine
Geſellſchaft zur Ausnutzung dieſes Verfahrens, ſtellte aber infolge des
deutſch-franzöſiſchen Krieges den Betrieb wieder ein, um ihn erſt 1875
wieder aufzunehmen. Seit damals hat ſich die Fabrikation faſt über

Figure 314. Fig. 323.

Talgſchneidemaſchine (Seitenanſicht).


ganz Deutſchland verbreitet und nur
ganz unweſentliche Verbeſſerungen er-
fahren, denn der Hauptſache nach arbeitet

Figure 315. Fig. 324.

Talgſchneidemaſchine (Queranſicht).


man heute noch nach der Mège-
Mouriès’ſchen Methode. Das Roh-
material zur Kunſtbutterfabrikation iſt
das Nierenfett des Rindes, welches ganz
friſch, alſo ſofort nach dem Schlachten
des Rindes verarbeitet werden muß.
Durch intenſives Waſchen wird dieſes
Fett von Blut, Schleimteilen u. dergl.
gut gereinigt, woran ſich ein Zer-
ſchneiden des Talges und Zerreißen
der Gewebeteile mittelſt Maſchinen
ſchließt, um hierdurch die von den
Gewebeteilen eingeſchloſſenen Fett-
partikelchen freizulegen. Fig. 323 zeigt
die Seitenanſicht, Fig. 324 die Quer-
anſicht einer Talgſchneidemaſchine. Die
Talgſtücke werden auf den Zuführungs-
tiſch a h gebracht, und von hier aus
zwiſchen den grob gerippten Walzen A A
zu den ſchräg geſtellten Meſſern B B
der Walze C geführt. Durch das Ge-

Figure 316. Fig. 325.

Talgzerreißmaſchine.


triebe D S wird die Walze C in ſchnelle Umdrehung verſetzt, wobei
die Meſſer B B den an ſie herangedrückten Talg in kleine Stückchen
zerſchneiden; J j ſind die Zahnradumſetzungen, welche die Walzen A A
von dem Getriebe D S aus treiben. Das Zerreißen des Gewebes der
[552]Nahrungs- und Genußmittel.
ſo zerkleinerten Fettſtücke muß nun ſehr vollkommen geſchehen, damit das
von ihm eingeſchloſſene Fett für die ſpäter folgenden Prozeſſe voll-
ſtändig freigelegt wird. Fig. 325 zeigt eine ſehr vollkommen arbeitende
Zerreißmaſchine. In einem eiſernen, innen mit ſcharfen Meſſern beſetzten
Mantel A, in welchen die kleingeſchnittenen Talgſtücke von oben gebracht
werden, rotiert ein gleichfalls mit Meſſern beſetzter, oben abgeſtumpfter
Kegel C, während der ganze Apparat auf dem Geſtelle B ruht. Das
Getriebe K I L D H dient dazu, den Kegel C in drehende Bewegung
zu ſetzen, und quetſcht gleichzeitig den zwiſchen den Meſſern des Mantels
und des Kegels zerriſſenen Talg nach unten durch den ſchmalen Raum,
welcher zwiſchen Mantel und Kegel bleibt. Hier fällt der Talg auf
einen im Geſtelle B befeſtigten horizontalen Boden, welcher durch die
Vorrichtung G F nach oben geſchraubt werden kann und es ſo er-
möglicht, den Raum, in welchem ſich der herausgefallene Talg ſammeln
muß, zu verringern. Hierdurch iſt es möglich, den Talg zu einer voll-
ſtändig breiigen Maſſe zu zerreißen.


Das ſo in einen Brei verwandelte Fett wird hierauf in geſchloſſene
Gefäße auf 45°C erwärmt, wobei es ſchmilzt und ſich während des
ruhigen Stehens infolge ſeines geringen ſpezifiſchen Gewichtes von den
Gewebeteilen und dem Waſſer trennt, von welchem es dann ab-
geſchöpft wird. Dieſes Fett beſteht aus verſchiedenen Fettarten,
von denen beſonders Stearin, Palmitin, Margarin und Oleïn zu
nennen ſind. Nur die beiden letzteren eignen ſich zur Kunſtbutter-
fabrikation und müſſen von den beiden erſteren, welche das Rohmaterial
zur Kerzenfabrikation bilden, getrennt werden. Dieſe Trennung iſt
ſehr einfach, da der Schmelzpunkt des Stearins und Palmitins über
25°C, derjenige des Margarins und Oleïns aber unter dieſer Tem-
peratur liegt. Nach Abkühlung des abgeſchöpften Fettes auf 25°C
gießt man die noch flüſſigen Fettarten von den bei dieſer Temperatur
bereits erſtarrten ab und gewinnt die in dem bereits erſtarrten
Fette noch eingeſchloſſenen flüſſigen Fette durch Auspreſſen derſelben.


Das ſo gewonnene, bei 25°C noch flüſſige Fett beſteht nur noch
aus Margarin und Oleïn und wird, nachdem es nochmals durch
gegenſtrömendes Waſſer ſehr gut ausgewaſchen iſt, entweder ohne
Milchzuſatz — wie z. B. bei der vorhererwähnten Marinebutter —
größtenteils aber nach einem Zuſatz bis zu 50 % Milch durch Waſchen,
Kneten und Salzen weiter zu Butter verarbeitet. Das Buttern ge-
ſchieht bei der Fabrikation der Kunſtbutter größtenteils in Fäſſern, wie
ein ſolches in Fig. 326 dargeſtellt iſt. Das Faß ſteht, von einer Welle
getragen, auf einem feſten Bock, dieſe Welle fällt aber nicht mit der
Faßachſe zuſammen, ſondern weicht wie die Abbildung es zeigt, inſofern
von der Lage derſelben ab, als ein Teil der Welle höher, der andere
aber tiefer als die Faßachſe liegt. Hierdurch erhält die Füllung des
Faſſes beim Drehen der Welle durch die von einem Motor in Be-
wegung geſetzte Riemſcheibe eine ſchleudernde Bewegung, welche das
[553]Butter und Kunſtbutter.
Buttern veranlaßt. An-
ſtatt des Spundloches hat
das Faß einen großen vier-
eckigen Ausſchnitt, welcher
durch ein genau paſſen-
des Brett feſt verſchloſſen
werden kann. Dieſe Öff-
nung dient zum Füllen des
Faſſes und gleichzeitig
zum Reinigen desſelben;
die Reinigung wird mit
Zuhilfenahme von Che-
mikalien weſentlich erleich-
tert und kann recht gründ-
lich vorgenommen werden,

Figure 317. Fig. 326.

Buttermaſchine für Kunſtbutter.


wenn man das Faß, bevor es in Betrieb geſetzt wird, innen mit
Paraffin überzieht. Nachdem der Prozeß des Butterns bei gleich-
mäßiger Temperatur, welche 17° C nicht überſteigen ſoll, ca. 2 Stunden,
lang gedauert hat, iſt er gewöhnlich beendet, und das Faß muß nun
entleert werden. Hierzu giebt man ihm eine ſolche Lage, daß das
mit einem Hahn verſehene Zapfenloch den tiefſten Punkt einnimmt und
läßt die halbflüſſige, weiche Maſſe in möglichſt kaltes Waſſer fließen,
deſſen Temperatur höchſtens 8 bis 10° C ſein darf. Hier erſtarrt die
Kunſtbutter vollſtändig und nimmt eine Konſiſtenz an, wie ſie die ge-
wöhnliche Butter zeigt. Aber wie dieſe, ſchließt ſie noch, wenn ſie unter
Milchzuſatz verarbeitet wurde, nicht
unbeträchtliche Mengen Buttermilch
ein und da letztere durch ihren Ge-
halt an Milchzucker, Milchſäure-
ferment und wenn auch noch ſo
geringe Mengen von Kaſeïn die Ver-
anlaſſung zum Ranzigwerden der
Butter iſt, ſo muß ſie entfernt werden.
Es geſchieht dies durch ſorgfältiges
Auswaſchen und Auskneten, von
denen die erſte Manipulation in
folgendem, in Fig. 327 im Vertikal-
ſchnitt abgebildeten Apparate vorge-
nommen wird. Die zu waſchende
Kunſtbutter wird in den mit einem
genau paſſenden Deckel verſchließ-
baren Kaſten K gebracht und durch
Belaſtung des Deckels aus dem
unten im Kaſten befindlichen ſchmalen
Schlitz S als breites Band heraus-

Figure 318. Fig. 327.

Butterwaſchmaſchine.


[554]Nahrungs- und Genußmittel.
gepreßt. Dieſes Band wird von den beiden Walzen W, welche ſich mit
gleicher Geſchwindigkeit in der Richtung der Pfeile gegeneinander be-
wegen, erfaßt, noch breiter gedrückt und das Anhaften an den Walzen
durch geeignet angebrachte Abſtreicher verhindert. Von hier aus gleitet
dieſes ſehr breite und dünne Butterband auf der geneigten Fläche F
in den Kaſten G, wird aber auf dieſem Wege von zahlreichen Waſſer-
ſtrahlen, welche aus dem mit durchlöchertem Verſchluß verſehenen Waſſer-
rohre R unter ſtarkem Drucke ſtrömen, hart getroffen und gründlich aus-
gewaſchen. Nach dem Ablaſſen des Waſſers aus dem Kaſten G, wird
die Butter entweder direkt, oder nach nochmaligem Waſchen geknetet und
in die kloßartige Form gebracht, in welcher ſie im Handel bekannt iſt.


Eine ſo dargeſtellte Kunſtbutter iſt ein durchaus empfehlenswertes,
ſehr wertvolles und billiges Nahrungsmittel, und nur der Produzent
der natürlichen Butter, für deſſen Fabrikat ja nach Erfindung dieſes
Surrogats eine weitere Preisſteigerung ausgeſchloſſen erſcheint, verſucht
es zu diskreditieren. Sehr leicht kann aber der unreelle Fabrikant
die Kunſtbutter in Verruf bringen, wenn er aus Gewinnſucht oder
Nachläſſigkeit nicht die größte Sorgfalt auf die Herſtellung ſeines
Fabrikates verwendet. Dr. Max Weitz.


e) Die Brotbäckerei.


Als Rohmaterial für die Brotbereitung dient das aus den Cerealien
gewonnene Mehl, nebſt Waſſer, Gährungsmitteln und Salz, ev.
unter Zufügung gewiſſer Gewürze. Das Weißbrot wird aus Weizen-
mehl und Hefe, das Schwarzbrot aus einem Gemiſch von Roggenmehl,
Weizenmehl und Sauerteig hergeſtellt. Die Bereitung ſelbſt hat den
Zweck, das Mehl phyſikaliſch und chemiſch ſo zu verändern, daß unſere
für die Zerkleinerung und Verdauung der Speiſen beſtimmten Organe
ihre Aufgabe möglichſt vollkommen zu löſen imſtande ſind. Gleich-
zeitig ſoll aber auch der dem mit Waſſer angerührten Mehl anhaftende
fade Geſchmack beſeitigt und in einen ſolchen verwandelt werden, der
den menſchlichen Organismus zur Aufnahme dieſer Speiſe reizt, und
endlich ſoll auch eine gewiſſe Haltbarkeit des Gebäckes erzielt werden. Das
Backen löſt alſo im weſentlichen folgende Aufgaben: Durch Erhitzen
geht das Stärkemehl in den aufgeſchloſſenen Zuſtand, den wir Kleiſter
nennen, über; der Teig wird gehindert, ſich in eine ſpröde oder wäſſerige
Maſſe zu verwandeln, dahingegen durch Zuſatz von Hefe oder gewiſſer,
ſpäter näher zu beſprechender Surrogate dafür gezwungen, ſich aufzu-
blähen und eine lockere, ſchwammige Beſchaffenheit anzunehmen. Endlich
wird die Oberfläche des Brotes geröſtet und dadurch die Rinde oder
Kruſte gebildet, welche den Wohlgeſchmack des Brotes nicht nur ganz
weſentlich erhöht, ſondern auch den inneren Teil nicht ſo leicht
austrocknen läßt und ſomit ſeine Haltbarkeit für eine gewiſſe Zeit bedingt.


[555]Die Brotbäckerei.

Die Bereitung des Brotes beginnt mit dem Anmachen des
Teiges und dem Kneten desſelben. Dabei wird das Mehl mit
Waſſer zu einem Teig verarbeitet, wodurch einige Beſtandteile des
ſelben chemiſch, andere phyſikaliſch verändert werden. Das Dextrin,
die Dextroſe und einige eiweißartige Körper werden von dem Waſſer
aufgelöſt und durchdringen in aufgelöſtem Zuſtande die unlöslichen
Beſtandteile des Mehles, wie Kleber und Stärkemehl. Der Kleber
bildet das Bindemittel im Teige, und ſind daher auch nur ſolche Mehl-
arten zum Backen geeignet, welche dieſen Stoff enthalten. Dieſe beiden
in Waſſer unlöslichen Stoffe
des Mehles, der Kleber und
das Stärkemehl, laſſen ſich
ſehr leicht getrennt von ein-
ander darſtellen, wenn man,
wie es in Fig. 328 ange-
deutet iſt, den Teig unter einem
Waſſerſtrahl in einem Beutel
aus Muſſelintuch ſo lange
durchknetet, bis das ablaufende
Waſſer nicht mehr milchig er-
ſcheint. Die in dem Beutel
dann zurückbleibende zähe,
weiße Maſſe iſt der Kleber,
während das ſich im Waſſer
mit der Zeit auf dem Boden
des Gefäßes abſetzende weiße
Pulver aus der Stärke beſteht.
Mit dem Waſſer zugleich hat
man beim Anmachen des
Teiges als Gährungsmittel
entweder Hefe oder Sauerteig
hinzugeſetzt. Sauerteig iſt
ein durch Hefe in Gährung
verſetzter Teig, welchen man
von einem Backen zum anderen
auſſpart, um auf dieſe Weiſe
durch Fortpflanzung der Gäh-

Figure 319. Fig. 328.

Darſtellung des Klebers.


rung die ganze Menge des neuen Teiges in Gährung zu verſetzen.
Die Menge des zuzuſetzenden Sauerteiges hängt ſowohl von der Art
des herzuſtellenden Brotes, als auch von dem Säuregrade des Sauer-
teiges ſelbſt ab. Dieſer nimmt nämlich beim Liegen des Sauerteiges
ſtetig zu, bis dieſer ſchließlich in Fäulnis übergeht.


Nun überläßt man den mit Mehl beſtreuten Teig an einem mäßig
warmen Orte ca. 12 Stunden lang der Gährung. Dieſe ſpaltet, wie
beim Biere eingehend beſchrieben, die Dextroſe in Alkohol und Kohlen-
[556]Nahrungs- und Genußmittel.
ſäure, wobei die ſehr geringen Mengen des erſteren gar nicht in
Betracht kommen, während die Kohlenſäure eine ſehr wichtige, aber
rein mechaniſche Aufgabe zu löſen hat. Sie ſucht zu entweichen, wird
daran aber durch die Zähigkeit des Mehlteiges verhindert, wodurch
ſie dieſen aufbläht, und, indem ſie die bei der Krume bekannten zahl-
reichen größeren und kleineren Höhlungen in denſelben reißt, macht ſie
ihn ſehr porös und damit für unſere Verdauung geeigneter. Bei einem
neuen Verfahren wird die Gährung im luftverdünnten Raume vorge-
nommen, wodurch ſie vollkommener werden ſoll. Nach der Gährung,
zu welcher man nur ungefähr ein Drittel des zu verarbeitenden Teiges
nahm, wird dieſer mit den anderen zwei Dritteln durchgeknetet, noch-
mals einer etwa halb ſo lange dauernden Gährung unterworfen und
nach dem Kneten ſofort in die Form des Brotes gebracht. Während
der Gährung hat ſich das Volumen des Teiges auf das Doppelte er-
höht und durch Beſtreichen mit lauem Waſſer, eine Manipulation,
welche vor dem Einſchieben des Teiges in den Ofen wiederholt wird,
verhindert man, daß die Oberfläche desſelben bei der Volumenvergröße-
rung Riſſe erhält. Gleichzeitig wird hierdurch die Kruſtenbildung und
der Glanz der Kruſte erzielt, da das Waſſer etwas Dextrin der Rinde
unter Erweichen derſelben aufgelöſt hat und dieſes bei ſeinem Ver-
dunſten zurückläßt.


Das Abteilen der Teigſtücke zu je einem Brote wird in dem
Großbetriebe der Bäckerei jetzt durch Teilmaſchinen vorgenommen, und
muß hierbei, da die Brote ein beſtimmtes Gewicht haben ſollen, die
während des Backens verdunſtende Waſſermenge berückſichtigt werden.
Dieſelbe beträgt je nach der Größe des Brotes bis zu 25 %, und
zwar beeinflußt die Größe des Brotes den Gewichtsverluſt, weil bei
einem kleineren Brote das Verhältnis der Kruſte zu dem der Krume
ein größeres iſt, als bei einem großen Brote, und bei Bildung der
Kruſte während des Backens mehr Waſſer verloren geht, als bei der
Bildung der Krume. Auch das Kneten des Teiges wird im Groß-
betriebe jetzt durch Maſchinen beſorgt, und zwar giebt es recht zahl-
reiche Konſtruktionen derſelben, von welchen hier in Fig. 329 die-

Figure 320. Fig. 329.

Knetmaſchine.


[557]Die Brotbäckerei.
jenige von Clayton erläutert werden möge. Der zu knetende Teig wird
in den cylindriſchen Backtrog A gebracht, in welchem ſich ein mit ſchräg
ſtehenden Meſſern i verſehener Rahmen befindet. Mittels der Kurbeln P
und O können der Backtrog und der die Meſſer tragende Rahmen in ent-
gegengeſetzter Richtung um die Achſe g h gedreht werden, wobei der
Teig von den Meſſern i gut durchgeknetet wird. Die Zahnradumſetzung
m k l dient dazu, die entgegengeſetzte Bewegung der Cylinder auch durch
Drehung der Kurbel O allein zu ermöglichen, und ſchließlich iſt es
ſelbſtverſtändlich, daß die Knetmaſchine, nachdem für die Kurbel O
eine Riemſcheibe aufgezogen iſt, auch durch Motorenkraft betrieben
werden kann.


Aus dem aufgegangenen und gekneteten Teig wird durch Backen
das Brot erzeugt. Der Backofen beſteht aus einem ovalen oder auch
runden Herde, der mit einem Gewölbe überſpannt iſt, und an deſſen
vorderem Ende ſich ein mit einer eiſernen Thüre verſchließbares Mund-
loch zum Einſchieben des Brotes und gleichzeitig zur Einführung des
Brennmaterials befindet. Die für die Verbrennung des letzteren not-
wendige Luft ſtrömt durch den unteren Teil des Mundloches ein, die
Verbrennungsgaſe und der Rauch hingegen aus dem oberen Teile des
Mundloches aus und beläſtigen den Bäcker in ganz unangenehmer
Weiſe. Eine weſentliche Verbeſſerung des Backofens iſt es daher, daß
man den Bau desſelben dahin abgeändert hat, daß das Mundloch nur
noch zur Einführung des Brennmaterials und ſpäter des Brotes dient,
während der Rauch durch die im hinteren Teile des Gewölbes ange-
brachten und mit Schieber verſchließbaren Öffnungen entweicht. Fig. 330
zeigt den Längsſchnitt eines ſolchen neueren Ofens, und Fig. 331 den Quer-
ſchnitt der Backſohle desſelben. A iſt die Backſohle, B das Mundloch, e e e
ſind die Züge, durch welche die Verbrennungsgaſe von dem hinteren Teile

Figure 321. Fig. 330.

Backofen (Längsſchnitt).


Figure 322. Fig. 331.

Backjohle (Querſchnitt).


[558]Nahrungs- und Genußmittel.
der Backſohle aus in den Schornſtein D gelangen, und u iſt der Schieber
zum Verſchließen derſelben. E iſt die Backſtube, in welcher man den
Teig vor dem Backen aufgehen läßt, und welche durch die darunter
liegende Backſohle A die für dieſen Zweck günſtige Erwärmung erhält.
Die vor dem Ofen bei x angebrachte Vertiefung ermöglicht dem Bäcker
einen bequemen Stand einzunehmen und der Raum M, die vor dem
Backen ſelbſt aus der Backſohle A herausgezogenen glühenden Kohlen
unterzubringen. Das Backen des Brotes beſteht nun darin, daß in der
Backſohle A trockenes und weiches, feingeſpaltenes Holz verbrannt wird,
bis der Ofen ſo heiß iſt, daß ſich beim Reiben des Gewölbes mit einem
Holzſtabe Funken zeigen. Der Ofen hat dann die zum Backen günſtigſte
Temperatur von 200 bis 225° C. erreicht, und nun werden die glühenden
Kohlen herausgezogen, nach dem Raume M gebracht und der Ofen ſelbſt
mittels eines naſſen Wiſchers von Aſche ꝛc. gereinigt. Die mit Waſſer,
welchem etwas Mehl beigemiſcht iſt, beſtrichenen Brote, werden mittels
eines mit langem Stiele verſehenen Brettes in den Ofen geſchoben und
hier durch die in demſelben herrſchende Temperatur gebacken. Die Hitze
wirkt hierbei zuerſt auf das dem Brote aufgeſtrichene Waſſer, welches ver-
dunſtend das Aufſpringen der Kruſte verhütet, gleichzeitig aber bewirken
die den Ofen ſehr bald anfüllenden Waſſerdämpfe die chemiſchen Um-
ſetzungen des äußeren Teiles des Teiges, welchem wir die Entſtehung
der ſo ſchmackhaften Kruſte des Brotes verdanken. Die zum Backen
nötige Zeit richtet ſich nach der Form, Größe und Art des Brotes,
wobei Schwarzbrot eine längere Backzeit erfordert als Weißbrot, und
ebenſo ein kugelförmiges mehr als ein längliches, da bei erſterem die
Oberfläche im Vergleich zur Maſſe eine kleinere iſt. Im Großbetriebe der
Bäckerei ſind auch dieſe Öfen bereits verlaſſen und durch kontinuierlich
betriebene, d. h. ſolche, bei denen Back- und Feuerraum getrennt ſind,
erſetzt. Man hat bei dieſer Konſtruktion nicht nötig, das Backen
zu unterbrechen, ſobald der Ofen nicht mehr heiß genug iſt, bis
man ihn wieder genügend angeheizt hat, ſondern backt in dem vom
Feuerraume getrennt liegenden Backraume kontinuierlich fort und ſpart
hierbei viel Zeit und Brennmaterial. Um die Hitze des Backraumes
bei dieſem Ofen für jedes der Brote möglichſt gleichmäßig auszunutzen,
ordnet eine neue Konſtruktion einen Wagen an, der in den Backraum
geſchoben wird, und auf welchem endloſe Ketten um vieleckige Scheiben
gelegt ſind. Dieſe Ketten tragen an Armen die pendelnd aufgehängten
Backbleche, welche alſo durch Drehung der Kettenſcheiben in eine krei-
ſende Bewegung verſetzt und dadurch in den verſchieden heißen Teilen
des Ofens herumgeführt werden. Ein neuer Apparat zum Backen
endlich beſteht darin, daß der Teig zwiſchen zwei hohle Platten ge-
bracht wird, deren Ränder feſt aufeinander gepreßt werden. Unter
Druck läßt man nun in dem Hohlraume Dampf cirkulieren, und ſoll
bei Anwendung eines Druckes von ſechs Atmoſphären das Backen ſo
ſchnell, als bei den mit direktem Feuer geheizten Öfen vor ſich gehen.


[559]Die Brotbäckerei.

Die Gährung des Brotes, welche, wie vorher angegeben, einzig
und allein den Zweck hat, durch die entweichende Kohlenſäure die Krume
ſchwammig und porös zu machen, vermindert den Stärkegehalt des
Mehles im Teige, denn aus dieſem wird der Stärkezucker gebildet, aus
welchem wiederum die Kohlenſäure bei der Gährung entſteht. Auch
iſt der Hefezuſatz — dem Teige doch nur zur Einleitung der Gährung
gegeben — der Zuſammenſetzung des Teiges in Bezug auf die ſpätere
Verdauung desſelben nicht ſehr vorteilhaft. Das hat zu zahlreichen
Verſuchen veranlaßt, das Ferment durch Surrogate zu erſetzen, die in
der Hitze, alſo während des Backens Kohlenſäure entwickeln, ſomit
alſo durch die entweichende Kohlenſäure die Gährung des Teiges
vollſtändig erreichen, ohne die Nährkraft des Brotes zu beeinträchtigen.
Dieſe Aufgabe iſt vollſtändig gelöſt, und zahlreiche Präparate befinden
ſich heute unter dem Namen Backpulver im Handel, deren weſentlicher
Beſtandteil ſtets ein kohlenſaures Salz iſt, welches dem Teige zugeſetzt
wird und beim Erwärmen desſelben die Kohlenſäure abgiebt. Ein
nicht zu unterſchätzender Vorteil dieſer Backpulver iſt auch die Zeit-
erſparnis bei der Bereitung des Gebäckes, da die ganze auf Gährung
des Teiges verwendete Zeit bei Benutzung dieſer Backpulver fortfällt.
Mit ihrer Hilfe kann man in 2 Stunden fertiges Brot aus Mehl her-
ſtellen und erhält dabei eine 10 bis 12 % höhere Ausbeute, als bei
Anwendung der Gährung. Endlich darf nicht unerwähnt bleiben, daß
dieſe Backpulver beliebig lange aufbewahrt werden können, was bei
der Hefe oder dem Sauerteige nicht der Fall iſt und daher auf Schiffen
und in Dörfern, wo nicht regelmäßig gebacken wird, nicht ſelten
Mangel daran iſt. Auch für den Küchengebrauch ſind die Backpulver
wegen der Einfachheit ihrer Verwendung und vor allem wegen der
Schnelligkeit ihrer Wirkung ſehr zu empfehlen. Solche Backpulver
beſtehen aus Hirſchhornſalz d. i. ſaurem kohlenſaurem Ammonium,
ferner aus doppeltkohlenſaurem Natron und Salzſäure. Das Liebigſche
Backpulver beſteht aus zwei Präparaten, nämlich einem Säure-
pulver, und zwar aus ſaurem Calciumphosphat gemengt mit ſaurem
Magneſiumphosphat und einem Alkalipulver, beſtehend aus einem Ge-
miſch von doppeltkohlenſaurem Natron und Chlorkalium. Dieſes
Pulver ſcheint ſehr vorteilhaft zu wirken und werden auf 100 kg Mehl
2,6 kg Säurepulver und 1,6 kg Alkalipulver hinzugeſetzt. Es bilden
ſich beim Aufeinanderwirken dieſer beiden Pulver zuerſt aus dem
doppelkohlenſauren Natron und dem Chlorkalium das doppel[l]kohlen-
ſaure Kalium und Chlornatrium, von denen das erſtere dann unter
Freiwerden der Kohlenſäure durch das ſaure Phosphat zerſetzt wird.
Das unter dem Namen Schnellhefe bekannte Backpulver beſteht aus
33 % doppeltkohlenſaurem Natron, 19,7 % Weinſteinſäure, wie 47,3 %
Weizen- und Reisſtärke, und ſetzt hierbei die Weinſteinſäure die Kohlen-
ſäure in Freiheit, gerade ſo, wie es bei Verwendung eines gewöhn-
lichen Brauſepulvers geſchieht. Schließlich werden auch neuerdings
[560]Nahrungs- und Genußmittel.
alaunhaltige Backpulver verwendet, aber auch gleichzeitig von anderer
Seite davor gewarnt, weil der Alaungehalt derſelben auf unſeren
Organismus ſchädlich wirken ſoll. Die zahlreich angeſtellten Verſuche,
Kohlenſäuregas direkt in den Teig ſtrömen zu laſſen, ein Gedanke, der
ſehr nahe liegt, haben befriedigende Reſultate bisher nicht gegeben.


Die chemiſche Zuſammenſetzung des Brotes zeigt dem Mehle gegen-
über vor allem einen viel höheren Waſſergehalt, da z. B. 100 kg
Weizenmehl ſich mit 50 kg Waſſer verbinden und 150 kg Brot geben.
Das friſche Weizenbrot enthält 9 % Dextrin und lösliche Stärke,
40 % Stärke, 6,5 % Proteïnkörper und 40 bis 45 % Waſſer. Das
Altbackenwerden des Brotes wird nicht durch einen Waſſerverluſt des-
ſelben hervorgerufen, wie es häufig angenommen wird, ſondern durch
eine Veränderung im Molekularzuſtande, beſonders der Krume, denn
der Waſſergehalt des altbackenen Brotes iſt nach Bouſſingault nicht
geringer als derjenige des friſchen.


Beim Brote kommen, wenn auch nicht übermäßig häufig, gewiſſe
Verfälſchungen vor. So iſt z. B. im nördlichen Frankreich und Belgien
eine ſehr verwerfliche Methode üblich, und wird in Deutſchland hin
und wieder nachgeahmt, verdorbenes Mehl zum Backen geeignet zu
machen. In dieſem Mehle iſt der Kleber verändert und ſo weich ge-
worden, daß er beim Gähren des Teiges die Kohlenſäure nicht feſt
halten kann, ſondern entweichen läßt, wodurch das Brot derb wird
und weniger weiß erſcheint. Dieſen Fehler des Mehles ſucht man
durch einen, wenn auch nur ganz geringen Zuſatz von ſchwefelſaurem
Kupfer aufzuheben, und dieſer Zuſatz iſt trotz ſeiner geringen Menge,
denn er beträgt nur 1/15000 bis 1/30000 des zu verbackenden Mehles,
unſerem Organismus ſehr ſchädlich. Nachweiſen läßt ſich die Ver-
fälſchung für den Chemiker ſehr leicht durch Trocknen und Verbrennen
des zu unterſuchenden Brotes und Abſchlämmen der zurückbleibenden
Aſche. In England iſt Alaunzuſatz zu dem Mehl üblich, in Deutſch-
land aber beides geſetzlich unterſagt. Nicht ſelten ſind die Verfälſchungen
der beſſeren Mehlſorten mit minderwertigen, wie Kartoffelmehl, Kartoffel-
ſtärke ꝛc. und können unter dem Mikroſkope ſicher nachgewieſen werden,
da die Stärkekörperchen aller Mehlſorten eine für jede derſelben ganz
charakteriſtiſche Form haben. Außer den vorher genannten mineraliſchen
Zuſätzen zu verdorbenem Mehle, um es wieder zum Backen geeignet
zu machen, kommen auch noch ſolche bei geſundem Mehle, wie Kreide,
Gips, Schwerſpat ꝛc. vor, um das Gewicht desſelben zu erhöhen und
werden gleichfalls durch Einäſcherung des Brotes und Prüfung der
Aſche nachgewieſen.


Es muß noch erwähnt werden, daß die fabrikmäßige Her-
ſtellung des Brotes, von genial konſtruierten Maſchinen unterſtützt,
ſich in den letzten Jahren zu hoher Blüte entwickelt hat. Hierzu kommen
die Erleichterungen und Einrichtungen der Verſendung, welche gleich-
falls unter Berückſichtigung der einzelnen Fabrikate gehandhabt werden,
[561]Die Brotbäckerei. — Das Fleiſch.
und durch alles dieſes zuſammen iſt das Brot — wenigſtens gewiſſe
beliebte Arten desſelben — ſchon längſt nicht mehr ein Produkt, das
wie früher auf jeden Fall am Produktionsorte konſumiert wurde, ſondern
es wird heute nicht ſelten auf weite Entfernungen verſchickt. Noch viel
weiter, ja ſelbſt überſeeiſch iſt der Export von Backwaren, welche wie
Biskuits, Cakes ꝛc. an und für ſich haltbar und dem Verderben nicht
ausgeſetzt ſind, und die Fabrikation derſelben wird noch bei weitem
mehr, als diejenige des Brotes, durch einen ausgebildeten Maſchinen-
betrieb unterſtützt. Dr. Max Weitz.


f) Das Fleiſch.


Die Hauptbeſtandteile des Fleiſches ſind außer den Knochen,
welche ungefähr 10 % des Geſamtgewichtes desſelben betragen, Waſſer,
Fleiſchſaft, Fleiſchfaſer und Fett, neben verſchiedenen Salzen und leim-
gebenden Geweben. Im Fleiſchſafte und der Faſer ſind verſchiedene
Eiweißſtoffe enthalten, von denen beſonders das Fibrin und das
Myoſin, letzteres iſt der Muskeleiweißſtoff, zu nennen ſind. Dieſe Zu-
ſammenſetzung, von welcher ſowohl der Nährwert, als auch die Ver-
daulichkeit des Fleiſches abhängt, iſt ſehr wechſelnd, und zwar nicht
nur bei dem Fleiſche der verſchiedenen Tierarten, von welchen wir uns
nähren, und bei ein und demſelben Tiere, je nach Raſſe, Alter, Fütterung
und dergl., ſondern auch je nachdem das Fleiſch von den verſchiedenen
Körperteilen des betreffenden Tieres entnommen iſt. Nach letzterem
Geſichtspunkt wird daher auch der Wert des Fleiſches im Handel be-
ſtimmt und zeigt Fig. 332 die Einteilung des Rindfleiſches in vier

Figure 323. Fig. 332.

Zerlegung des Rindes.


Klaſſen mit 18 Unterabteilungen, wie ſie in London eingeführt iſt.
Dieſe vier Klaſſen A bis D ſind auf der Abbildung durch beſondere
Schraffierung gekennzeichnet und beſtehen aus der Unterabteilung für A:
1. Schwanzſtück, 2. Lendenbraten, 3. Vorderrippe, 4. Hüftenſtück und
Das Buch der Erfindungen. 36
[562]Nahrungs- und Genußmittel.
5. Hinterſchenkel; B: 6. Oberweiche, 7. hinter-s Weichſtück, 8. Waden-
ſtück, 9. Mittelrippe und 10. Oberarmſtück; C: 11. Flankenſtück,
12. Schulterblatt und 13. Bauchſtück; endlich D: 14. Wamme, 15. Hals,
16. und 17. Vorder- und Hinterbeine und 18. Kopf. In Paris ſind
drei Klaſſen mit 7 Unterabteilungen eingeführt, nach welchen das Kalb
(Fig. 333) wie folgt eingeteilt wird: A: 1. Keule, 2. Nierenbraten und
3. Vorderviertel; B: 4. Schulterblatt und endlich C: 5. Bauchſtück,

Figure 324. Fig. 333.

Zerlegung des Kalbes.


Figure 325. Fig. 334.

Zerlegung des Schafes.


6. Kopf und 7. Hals. Die drei in Paris für Zerlegung des Schafes
eingeführten Klaſſen ſind den ſoeben aufgeführten ähnlich; ſie beſtehen
(Fig. 334) in A: 1. Keule und 2. Rücken; B: 3. Vorderblatt und endlich
C: 4. Bauchſtück, 5. Hals und 6. Kopf.


Das Fleiſch der jüngeren Tiere iſt im allgemeinen waſſerreicher,
als dasjenige der älteren und daher weniger nahrhaft, ſo enthält
z. B. das Kalbfleiſch ca. 80 % Waſſer, während das Fleiſch eines
gewöhnlichen Zugochſen nur ca. 60 % und das eines gemäſteten Ochſen
ſogar nur ca. 40 % Waſſer enthält. Dieſem hohen Waſſergehalte
verdankt das Kalbfleiſch auch den Namen „Halbfleiſch“, welchen es im
Volksmunde erhalten hat, aber es darf doch nicht unterſchätzt werden,
daß bei jungen Tieren auch die Fleiſchfaſer viel zarter und leichter ver-
daulich iſt, als bei ältern Tieren, weil ſie dünner, weicher und feuchter
iſt, als jene, und gerade dieſe Beſchaffenheit der Fleiſchfaſern beeinflußt
den Nährwert ganz beträchtlich, weshalb man dieſelben auch bei älteren
Tieren während der Zubereitung künſtlich mürbe zu machen verſucht,
ſowohl durch längeres Liegenlaſſen des Fleiſches an der Luft, als
auch durch Zuſatz von Säuren, wie z. B. von ſaurer Sahne oder
Eſſig. Auch das längere Liegenlaſſen des Fleiſches an der Luft ver-
anlaßt die Einwirkung einer Säure auf dasſelbe, und zwar der ſog.
Fleiſchmilchſäure, welche ſich bei Zerſetzung des Fleiſches bildet. Dieſe
Säure bildet ſich unter gewiſſen Umſtänden auch ſchon im Fleiſche der
lebenden Tiere z. B. bei heftiger und andauernder Bewegung derſelben.
Daher kommt es auch, das das Fleiſch des Wildbrets bez. aller kurz
vor dem Tode gehetzten Tiere mürber iſt, als dasjenige der geſchlachteten,
weil die Fleiſchmilchſäure, welche ſich in dieſem Falle ſchon vor dem
Tode des Tieres gebildet hat. ſofort nach dem Tode desſelben auf
[563]Das Fleiſch.
die Fleiſchfaſer einzuwirken beginnt. Fütterung und Pflege des Tieres
wirken ganz beſonders günſtig auf die Beſchaffenheit der Fleiſchfaſer
ein, dahingegen wird dieſelbe durch fortdauernde Anſtrengung der
Muskeln, wie z. B. bei Zugtieren härter, zäher und dadurch ſchwerer
verdaulich, als bei dem Maſtvieh, welches derartigen Anſtrengungen
nicht ausgeſetzt iſt.


Der am leichteſten zu verdauende Beſtandteil des Fleiſches iſt der
zwiſchen den Fleiſchfaſern ſich befindende Fleiſchſaft, den man durch Aus-
preſſen des rohen, friſch geſchlachteten Fleiſches als eine wäſſrige, rote
Flüſſigkeit gewinnen kann, und der die Eiweißſtoffe, wie die Salze des
Fleiſches, gelöſt enthält. Als Nahrungsmittel hat der ſo dargeſtellte
Fleiſchſaft aus rein praktiſchen Gründen keine Bedeutung, wohl aber
dient er unter Zuſatz von Fett und Kohlehydraten wie Stärkemehl und
Zucker, als vorzügliches Stärkemittel für Kranke.


Auch vom Fettgehalte des Fleiſches hängen Nahrhaftigkeit und
Verdaulichkeit desſelben ab, und zwar erhöht der größere Fettgehalt die
erſtere, indem er den Waſſergehalt zurückdrängt, verringert aber gleich-
zeitig die letztere dadurch, daß er das Fleiſch, im Magen mit einer
Fettſchicht bedeckend, vor der Einwirkung der Verdauungsſäfte ſchützt.
Wie ſehr dieſer Fettgehalt des Fleiſches künſtlich durch eine geeignete
Fütterung und Pflege des betreffenden Tieres erhöht werden kann, iſt
durch das ſo zahlreich bei Maſtvieh, Stopfgänſen u. dgl. vorgenommene
Verfahren genügend bekannt. In Bezug auf jene, die Verdauung er-
ſchwerende Wirkung, ſind aber die verſchiedenen Fettarten einander nicht
gleich, ſondern die weichen Fette den härteren vorzuziehen. Die Begriffe
„weich“ und „hart“ hängen einzig und allein von dem Schmelzpunkt
der betreffenden Fette ab, und man wird in dem hierbei in Betracht
kommenden Falle alle Fette weich nennen, deren Schmelzpunkt unter
unſerer Körpertemperatur liegt, wie z. B. das Gänſefett, Hühnerfett und
die Butter, während andererſeits z. B. Ochſen- und Hammeltalg, deren
Schmelzpunkt über unſerer Körpertemperatur liegt, als harte Fette zu
bezeichnen ſind.


Wir genießen im allgemeinen das Fleiſch der Pflanzenfreſſer, be-
ſonders der wiederkäuenden Haustiere, wie dasjenige der Vögel und
Fiſche. Alle dieſe Fleiſcharten haben qualitativ faſt dieſelbe Zuſammen-
ſetzung, zeigen aber quantitativ, wie auch im Geſchmack, ſehr weſentliche
Unterſchiede. Ohne an dieſer Stelle auf die genannten Unterſchiede
näher einzugehen, darf für die Volksernährung nicht unerwähnt bleiben,
daß das Vorurteil, welches gegen das Pferdefleiſch beſteht, ein durch-
aus unberechtigtes und dieſes Fleiſch um ſo mehr zu empfehlen iſt, da
es als ein ganz vorzügliches Nahrungsmittel gleichzeitig einen ſehr
billigen Preis hat. Es wird natürlich hierbei vorausgeſetzt, daß das
betreffende Fleiſch nicht von einem kranken Pferde herſtammen darf,
das iſt ja aber auch bei allen anderem Schlachtvieh eine ganz ſelbſt-
verſtändliche Vorausſetzung. In Frankreich hat man während des letzten
36*
[564]Nahrungs- und Genußmittel.
deutſch-franzöſiſchen Krieges in den größeren, belagerten Feſtungen, ganz
beſonders in Paris, kennen gelernt, daß das Pferdefleiſch ein ſehr wert-
volles Nahrungsmittel iſt, trotzdem man damals infolge des Futter-
mangels nur ſehr heruntergekommene Tiere ſchlachten konnte, und die
damals gemachten Erfahrungen werden dort dauernd fortbenutzt, denn
ſeit den letzten zwanzig Jahren ſpielt das Pferdefleiſch in der Volks-
ernährung Frankreichs eine viel größere Rolle als vorher, oder
bei uns.


In Bezug auf die Verdaulichkeit des Fleiſches, begegnet man noch
hin und wieder der Anſicht, daß rohes Fleiſch beſonders leicht verdau-
lich ſei, eine Anſicht, welche durchaus irrig iſt. Das rohe Fleiſch
dürfte nur in einem Falle, nämlich wenn es ſehr fein geſchabt und von
allen Sehnen befreit iſt, einem gut zubereiteten Fleiſche in dieſer Be-
ziehung gleichkommen, in allen anderen Fällen aber wird es ſchwerer
verdaulich ſein als dieſes. Hieraus ergiebt ſich die außerordentliche
Wichtigkeit der guten Zubereitung des Fleiſches von ſelbſt, abgeſehen
davon, daß die bei der Zubereitung verwendete Temperatur bis zu
einer gewiſſen Grenze ein ſehr guter Schutz gegen manche Krankheits-
ſtoffe und Paraſiten iſt, welche ſich vielleicht im Fleiſche befinden, bis
zu einer gewiſſen Grenze nur, weil das Fleiſch ſelbſt ein ſehr ſchlechter
Wärmeleiter iſt, es ſomit ſehr lange dauert, bis die hohe Temperatur
das ganze Fleiſch durchdrungen hat, und das unbedingt notwendig iſt,
wenn jene Krankheitsſtoffe bezw. Paraſiten unſchädlich gemacht werden
ſollen. Dieſes vollſtändige Durchdringen der Hitze geſchieht aber nur
ſehr ſelten und mit Recht, denn — wie ſogleich auseinander geſetzt
werden ſoll — widerſpricht dasſelbe in vielen Fällen einer ratio-
nellen Zubereitung. Es iſt nämlich durchaus falſch, anzunehmen,
daß das Fleiſch, wenn es nicht beim Kochen ſchnell weich wird,
durch längeres Kochen doch ſchließlich weich werden muß; das
wird aus demſelben Grunde nie geſchehen, aus welchem es beim
Hühnerei nicht geſchieht. Wie das Eiweiß des Hühnereies durch das
Kochen gerinnt — „koaguliert“, wie der wiſſenſchaftliche Ausdruck
lautet — ſo auch das Eiweiß der Fleiſchfaſern, welche natür-
lich durch längeres Kochen hart und zäh werden müſſen. Die
rationelle Zubereitung des Fleiſches muß beim Braten und Kochen be-
ſtrebt ſein, dieſes Eiweiß gelöſt zu erhalten, aber auch von dem für
die Ernährung ſo wichtigen Fleiſchſafte nichts zu verlieren; das erreicht
man am beſten, wenn man das Fleiſch plötzlich, aber nur für ſehr
kurze Zeit, einer ſehr hohen Temperatur ausſetzt, wobei ſich die Zeit-
dauer natürlich nach der Größe der zu behandelnden Stücke richten
muß. Hierdurch gerinnt nur das Eiweiß, welches ſich auf der Ober-
fläche des Stückes befindet und bildet dadurch eine ſchützende Hülle für
den Fleiſchſaft, den es nun vollkommen einſchließt, ſo daß dieſer wert-
volle Beſtandteil des Fleiſches ohne nennenswerten Verluſt erhalten
bleibt. Ein durch ſolche Zubereitung erhaltenes Fleiſch iſt ſowohl nahr-
[565]Das Fleiſch.
haft, als es auch durch die in Löſung gebliebenen Eiweißſtoffe bezw.
durch die weich gebliebenen Fleiſchfaſern, leicht verdaulich iſt.


Hat man das Braten oder auch Kochen des Fleiſches ſo gehand-
habt, alſo den Fleiſchſaft faſt vollſtändig im Fleiſche behalten, ſo wird
natürlich die gleichzeitig beim Kochen gewonnene Fleiſchbrühe nicht be-
ſonders wertvoll ſein können, und wenn es darauf ankommt, eine gute
Brühe zu erhalten, ſo wird man alſo ganz anders verfahren müſſen.
In dieſem Falle will man möglichſt allen Fleiſchſaft mit den darin
enthaltenen Salzen und Extraktivſtoffen aus dem Fleiſche extrahieren
und daher vor allen Dingen verhüten, daß die ſich beim Braten ab-
ſichtlich erzeugte, ſchützende Hülle durch geronnene Eiweißſtoffe um das
Fleiſch herum bildet; wenigſtens dürfen dieſe Eiweißſtoſſe nicht früher
gerinnen, als bis aller Fleiſchſaft aus dem Fleiſche ausgezogen iſt.
Zu dieſem Zwecke legt man das in möglichſt kleine Stücke zerſchnittene
Fleiſch in kaltes Waſſer, deſſen Temperatur man nur ganz langſam
bis zur Siedehitze, welche man ſchließlich erreichen muß, ſteigen läßt.
Auf dieſe Weiſe entzieht man dem Fleiſche alle jene Säfte und Extraktiv-
ſtoffe, welche uns die Brühe mit Recht ſo wertvoll erſcheinen laſſen,
behält aber natürlich ein an Nahrungsſtoffen nur ziemlich wertloſes
Fleiſch zurück. Hieraus ergiebt ſich von ſelbſt, daß es unmöglich iſt,
gleichzeitig aus ein und demſelben Stücke rohen Fleiſches eine gute Brühe
und einen guten Braten oder nahrhaft gekochtes Fleiſch zu bereiten.
Auch der Wert der Brühe wird durch die Fleiſchart beſtimmt, aus der
dieſelbe gewonnen wird, und ſo kommt z. B. der höhere Wert der
Hühnerbrühe im Verhältnis zu der aus Ochſenfleiſch gewonnenen da-
her, daß das Hühnerfleiſch mehr lösliche Stoffe enthält als jenes.


Da aber ſelbſt bei dieſer rationellen Bereitung der Fleiſchbrühe
dieſelbe doch ſchließlich zum Kochen kommt, ſo gerinnen auch hierbei
endlich die auf dem vorher beſchriebenem Wege langſam extrahierten
Eiweißſtoffe. Sie bilden jenen bekannten ſchmutziggrauen Schaum,
welcher bei der Bereitung der Brühe faſt immer ſo ſorgfältig abge-
ſchöpft wird und welcher ſich ſo lange wieder erneuert, als noch Eiweiß-
ſtoffe in Löſung vorhanden ſind. Da aber die Eiweißſtoffe das einzig
direkt Nahrhafte in der Brühe waren und durch Abſchöpfen aus der-
ſelben entfernt wurden, ſo enthält die Brühe keine Nahrungsſtoffe mehr,
und kann deshalb auch nicht mehr zu den Nahrungsmitteln gerechnet
werden. Wir zählen ſie auch in der That nicht zu dieſen, ſondern zu
den Genußmitteln, weshalb aber ihr hoher Wert für die Ernährung
keineswegs als ein geringerer zu betrachten iſt. Außer den verſchiedenen
Salzen und Extraktivſtoffen, welche unſere Verdauung in ſehr hohem
Maße befördern, enthält die Fleiſchbrühe noch einen Stoff, den der
Chemiker „Kreatin“ nennt, und welcher eine ähnliche erregende Wirkung
hat, wie derjenige Stoff, der unter dem Namen „Kaffeïn“ als wirk-
ſamer Beſtandteil des Kaffees und des Thees, bei den Aufgußgetränken
beſchrieben iſt. Eine gute Fleiſchbrühe reizt daher nicht nur, wie kein
[566]Nahrungs- und Genußmittel.
zweites Genußmittel, unſere Magenwände, die nötigen Verdauungsſäfte
abzuſondern, und wird darum auch mit Recht gewöhnlich beim Beginn
der Hauptmahlzeit genommen, ſondern ſie iſt gleichzeitig das einzige Genuß-
mittel, daß, trotzdem es uns belebt und erregt, keine nachteiligen Wir-
kungen zurückläßt. Ihren hohen Wert bezeichnet der berühmte Chemiker
Juſtus von Liebig mit folgenden Worten: „Eine Taſſe Fleiſchbrühe hat
häufig eine kräftigende Wirkung, nicht darum, weil ihre Beſtandteile
Kraft erzeugen, wo keine iſt, ſondern weil ſie auf unſere Nerven ſo
wirkt, daß wir uns der vorhandenen Kraft bewußt werden und empfinden,
daß dieſe Kraft verfügbar iſt.“


Von den zur Unterſtützung der Zubereitung des Fleiſches gemachten
Erfindungen ſind vor allen Dingen die Fleiſchhackmaſchinen zu erwähnen.
Für den Großbetrieb iſt bei denſelben an der Konſtruktion wenig ge-
ändert, denn das große, ſechs oder achtklingige Wiegemeſſer und der
runde Holzklotz, auf dem es die Fleiſchmaſſen zerwiegt, ſind geblieben.
Anſtatt daß es aber von zwei langſam um den Wiegeblock herumgehenden
Männern gehandhabt wird, ſetzt es heute die Motorenkraft in
wiegende Bewegung und führt gleichzeitig den Wiegeblock, ihn um
die eigene Achſe drehend, unter dem ſtets auf derſelben Stelle arbeitenden
Wiegemeſſer durch, wobei immer eine andere Stelle des auf dem Block
ausgebreiteten Fleiſches von den Meſſern getroffen wird. Die kleineren,
für die Wirtſchaft beſtimmten Hackmaſchinen, beſtehen im weſentlichen
aus Walzen, auf welchen in ſpiralförmiger Windung Meſſerklingen ſitzen,
und welche in einem hohlen, aufklappbaren Cylinder gedreht werden,
deſſen obere Hälfte eine Offnung zur Einführung des Fleiſches hat. Die
neueſte Verbeſſerung dieſer Konſtruktion beſteht darin, daß anſtatt der
Meſſer an der Walze ſcharfkantige, viereckige Stifte befeſtigt ſind, welche
beim Drehen der Walze genau durch den Zwiſchenraum gehen, den
je zwei an dem Cylinder ſelbſt ſitzende Meſſer bilden. Dieſe Meſſer
nehmen, durch den genannten Zwiſchenraum getrennt, die ganze Länge
des Cylinders ein, und ihre Anzahl iſt daher durch die Länge desſelben
beſtimmt.


Weſentlich wichtiger ſind die Erfindungen auf chemiſchem Gebiete,
welche für die Zubereitung des Fleiſches gemacht wurden, und welche
durch Herſtellung von Fleiſchpräparaten das Fleiſch oder wenigſtens
ſeine wirkſamen Beſtandteile für weitere Entfernungen verſendbar
machen wollen. Da iſt vor allen Dingen der Fleiſchextrakt, welcher
in Buenos-Ayres, Mexiko, Auſtralien, Podolien ꝛc. von den dort ge-
ſchlachteten Rindern, an Ort und Stelle dargeſtellt und weit verſandt,
auch in Europa viel konſumiert wird. Beſonders hat dieſe Fabrikation
in Süd-Amerika durch ſpezielle Anleitung Liebigs außerordentliche
Dimenſionen angenommen. Dieſer Fleiſchextrakt iſt nicht mit jenen
Präparaten zu verwechſeln, welche die Brühe erſetzen ſollen und ge-
wöhnlich in der Form von Tafeln oder Kapſeln in den Handel gebracht
werden. Hierbei handelt es ſich darum, die Brühe in eine feſte, leicht
[567]Das Fleiſch.
transportable und bequem verwendbare Form zu bringen. Neuerdings
gewinnt die Heppſche Fleiſchgallerte immer größere Verwendung, be-
ſonders für Kranke und Rekonvalescenten. Sie wird dargeſtellt, indem
gutes, knochen- und fettfreies Ochſenfleiſch auf dem Waſſerbade ſehr
lange Zeit gekocht wird, wobei die Maſſe ſchließlich zu einer angenehm
ſchmeckenden Gallerte erſtarrt.


Wie alle organiſchen Subſtanzen, ſo unterliegt auch das Fleiſch
gewiſſen Zerſetzungen, welche ſich ſchließlich bis zur Verweſung ſteigern.
Auch was wir beim Wildbret „Hautgout“ zu nennen pflegen, iſt nicht
etwa eine Eigentümlichkeit, die dieſem allein zukommt, ſondern nichts
weiter, als der Anfang der Zerſetzung überhaupt, welche auch bei jedem
anderen Fleiſche unter den dafür günſtigen Bedingungen eintritt. Beim
Wildbret geſchieht das nur viel ſchneller, und zwar infolge der Ein-
wirkung der Fleiſchmilchſäure, welche ſich hier, wie vorher beſchrieben,
ſchon häufig bei Lebzeiten des Tieres gebildet hat. Zahlreiche Mittel
ſind beſonders in neuerer Zeit für die Konſervierung des Fleiſches
erdacht, und iſt es klar, daß ſolche Mittel, wenn ſie ihre Aufgabe löſen
ſollen, nicht nur fäulnishindernd wirken müſſen, ſondern auch dem Fleiſche
keinen Beigeſchmack geben dürfen. Alle dieſe ſchon längſt bekannten oder
auch erſt neu erfundenen Mittel laſſen ſich ihrer Wirkung nach in vier
Gruppen einteilen, denn dieſe beruht entweder auf Luftabſchluß, oder
Waſſerentziehung, oder auf Zuſatz von Chemikalien, wie Kochſalz u. a.
oder endlich auf Einwirkung einer ſehr niedrigen Temperatur. Manche
dieſer Konſervierungsmittel wirken auch auf zwei der genannten Gebiete
gleichzeitig, wie z. B. das Räuchern, welches infolge der Wärme des
Rauches ſowohl trocknend, alſo waſſerentziehend wirkt, als auch
durch das im Holzrauche vorhandene Kreoſot eine antiſeptiſche Wirkung
hat. Es ſollen nun die wichtigſten dieſer Konſervierungsmittel be-
ſchrieben werden.


Von den Methoden, bei welchen die Konſervierung des Fleiſches
durch Luftabſchluß bewirkt wird, hat die von Appert angegebene die
weiteſte Verbreitung gefunden. Nach dieſer werden fertig gekochte
Fleiſchwaren in Blechbüchſen gefüllt und zwar dergeſtalt, daß die
Fleiſchbrühe alle Räume der Büchſe vollſtändig ausfüllt, ſodaß
nach dem Verlöten derſelben weder Luft in denſelben enthalten iſt,
noch nachträglich eindringen kann. Hierdurch ſind alle Fäulniserreger
der Luft abgeſchloſſen, und die in dem Fleiſche ſelbſt durch vorherige
Berührung mit der Luft enthaltenen Keime, werden dadurch getötet, daß
dieſe wohlverſchloſſenen Blechbüchſen mehrere Stunden lang in einem Salz-
bade, alſo bei einer Temperatur, welche höher liegt, als der Siedepunkt
des Waſſers, gekocht werden. Dieſe Methode iſt von Jones dadurch
verbeſſert, daß er die im Salzbade befindlichen Blechbüchſen mittels
einer Metallröhre mit einem luftleeren Raume verbindet. Durch dieſes
mechaniſche Ausſaugen der Luft aus dem Fleiſche, wird ein Teil des
ſonſt ſehr lange dauernden Kochens erſpart, und dadurch die Schmack-
[568]Nahrungs- und Genußmittel.
haftigkeit desſelben weniger beeinflußt. F. Robert ſetzt das Fleiſch,
nachdem es in eine Löſung von Natriumhypoſulfit getaucht iſt, in
hermetiſch verſchließbaren Gefäßen einer Atmoſphäre aus, welcher der
Sauerſtoff und die die Fäulnis verurſachenden Keime entzogen ſind.
Die Gefäße werden dann in dieſer Atmoſphäre geſchloſſen, und ſoll
dieſe Methode ein ſich ſehr lange haltendes und ſchmackhaft bleibendes
Fleiſch liefern. Rooſen bringt Fleiſch aus überſeeiſchen Ländern nach
Europa, das in ſtarkwandigen Gefäßen unter Zugabe einer antiſeptiſch
wirkenden Löſung verpackt iſt, und welchem vor dem Verſchließen der-
ſelben die Luft ausgepumpt wird. Street endlich bringt das friſch ge-
ſchlachtete Fleiſch in einen Raum, der luftleer gemacht wird, und ſetzt
es hierauf der expandierenden Wirkung eines konſervierenden Gaſes,
z. B. der ſchwefligen Säure, aus, wodurch es für mehrere Monate
haltbar gemacht ſein ſoll.


Die Waſſerentziehung des Fleiſches wird entweder durch Trocknen
oder Einſalzen desſelben erzielt. Durch Trocknen ſind zahlreiche, in
den anderen Erdteilen ſehr bekannte Fleiſchpräparate dargeſtellt, ſo der
Pemmikan in Nordamerika, Taſſajo in Südamerika und Biltongue in
Südafrika. In Europa hat dieſe Methode bisher noch wenig Feld
erobert, obgleich der Fleiſchzwieback von Gail-Borden und derjenige
von E. Jacobſen auch hier bekannt ſind.


Die älteſte der Konſervierungsmethoden, das Einſalzen oder Pökeln,
iſt auch inſofern ein Trocknen des Fleiſches, als das Salz einen Teil
der Fleiſchflüſſigkeit aufnimmt, zugleich aber tritt ein Teil des Salzes
in die Fleiſchfaſer ein. Fälſchlich nahm man bisher an, daß der
Nährwert des Fleiſches durch das Pökeln weſentlich verringert werde,
bis in neuerer Zeit E. Voit das Irrige dieſer Anſicht nachwies. Er
legte Fleiſch 14 Tage lang in eine 6 % ige Kochſalzlöſung und unter-
ſuchte dann dasſelbe. Bei dieſer Unterſuchung fand er, daß 1000 gr
Fleiſch 43 gr Kochſalz aufnahmen und 10,4 % Waſſer, 2,1 % organiſche
Stoffe, 1,1 % Eiweiß, 13,5 % Extraktivſtoffe, wie 8,5 % Phosphorſäure
abgaben, wodurch der Nährwert desſelben nicht weſentlich beeinträchtigt
wird. In neuerer Zeit iſt dieſe alte Methode durch zahlreiche Er-
findungen weſentlich verändert worden, beſonders durch Hinzufügung
anderer Chemikalien, von denen manche auch ſchließlich gar keine waſſer-
entziehende Wirkung mehr haben, ſondern eine rein antiſeptiſche. Eine
neuere Methode beſteht darin, das Fleiſch erſt luftleer zu machen, um
ſo der Kochſalzlöſung das intenſivere Eindringen in die Poren zu er-
möglichen, und eine andere empfiehlt zu 80 % Kochſalz, 10 % Kali-
ſalpeter und 10 % Salicylſäure hinzuzuſetzen. Zahlreiche andere Methoden
empfehlen die Verwendung anderer Chemikalien, und von dieſen ſoll
hier nur noch die Wickersheimerſche Flüſſigkeit genannt werden, welche
aus einer Löſung von Pottaſche, Kochſalz und Alaun, wie einer zweiten
aus Salicylſäure, Methylalkohol und Glycerin beſteht. Die Ver-
wendung dieſer Flüſſigkeit geſchieht durch Einſpritzen derſelben.


[569]Das Fleiſch.

Das Räuchern, deſſen Wirkung bereits vorhin erwähnt wurde,
hat nur inſofern Verbeſſerungen erfahren, als der Bau der Raucher-
kammern verändert wurde. Dieſe Verbeſſerungen gehen alle darauf
hinaus, ſowohl das Feuermaterial rationeller auszunutzen, als auch den
Zweck des Räucherns ſelbſt durch die Art des erzeugten Rauches in
höherem Maße zu erreichen.


Das Konſervieren des Fleiſches mittels Froſtes hingegen hat in den
letzten Jahren, der Vervollkommnung der Eismaſchinen entſprechend, ganz
weſentliche Erweiterungen erfahren. Was im nördlichen Rußland von
jeher auf natürlichem Wege möglich und üblich war, das Fleiſch in
gefrorenem Zuſtande auf ungeheuer weite Entfernungen unverdorben
und ſchmackhaft zu Markte zu bringen, iſt jetzt durch künſtliche Er-
zeugung der Kälte auch für andere Länder eingeführt, und heute paſſiert
das Fleiſch im gefrorenen Zuſtande ſogar die Tropen, denn es wird
gefrorenes Fleiſch aus Auſtralien und Südamerika auf dem Londoner
Markte verkauft. Die in dieſen Ländern geſchlachteten Tiere läßt man
in Schiffen, welche mit großen Kältemaſchinen verſehen ſind, einfrieren,
und erhält das Fleiſch durch dieſe Maſchinen während der ganzen Zeit
der Reiſe im gefrorenen Zuſtande, in welchem ein Verderben desſelben
bekanntlich ganz ausgeſchloſſen iſt.


Die den anderen Nahrungsmitteln entſprechenden Verfälſchungen
giebt es bei dem unzubereiteten Fleiſche nicht, wohl aber eine Minder-
wertigkeit bezw. direkte Schädlichkeit desſelben durch Behaftung mit
Krankheitsſtoffen oder Paraſiten, wie Finnen und Trichinen, endlich
kann die Minderwertigkeit auch dadurch bedingt ſein, daß das be-
treffende Fleiſch von zu jungen Tieren ſtammt. Als Schutz hiergegen
giebt es nur ein wirklich ausreichendes Mittel, und das iſt die obli-
gatoriſche Fleiſchbeſchau, welche wiederum nur nach Aufhebung aller
Privatſchlachthäuſer und Einrichtung von öffentlichen Schlachthäuſern
für eine jede Stadt in genügender Weiſe durchführbar iſt. In den
großen Städten ſind dieſe öffentlichen Schlachthäuſer ſchon vielfach ein-
geführt, und werden bei dem großen Wert, der heute mit Recht von
den Behörden auf Beachtung aller ſanitären Vorſchriften gelegt wird,
bald allgemein verbreitet ſein. Dr. Max Weitz.


[[570]]

VI. Wehr- und Werkzeuge.


1. Die Rohgewinnung der Metalle.


Allgemeines.


Bevor wir die Rohgewinnung der einzelnen Metalle und der Erze,
aus welchen ſie gewonnen werden, betrachten, iſt es nötig, einige all-
gemeine Begriffe zu erläutern, welche ſich auf alles Nachfolgende
gleichmäßig beziehen.


Unter „Metallurgie“ verſtehen wir die Lehre von zahlreichen, teils
mechaniſchen, teils chemiſchen Prozeſſen, durch welche die Metalle in
den Hüttenwerken aus ihren Erzen dargeſtellt werden. Die nähere
Beſchreibung dieſer Prozeſſe nennen wir „Hüttenkunde“. Es giebt nur
ſehr wenige Metalle, welche ſich in der Natur „gediegen“, d. h. rein
finden; die meiſten kommen in Verbindungen mit begleitendem Geſtein
und anderen Subſtanzen, wie z. B. ſehr häufig mit Sauerſtoff und
Schwefel vor; dieſe Verbindungen der Metalle nennt man „Erze“.


Die Erze ſind nicht nur mit dem ſie begleitenden Geſtein, der ſog.
„Gangart“ oder dem „tauben Geſtein“ gemengt, ſondern auch unter ſich, ſo
daß ſie, nachdem ſie losgebrochen und zu Tage gefördert ſind, ſowohl
von einander getrennt, als auch von der Gangart gereinigt werden
müſſen. Dieſe Trennung und Reinigung geſchieht auf ganz mecha-
niſchem Wege und heißt Aufbereitung. Sie beſteht im weſentlichen in
Zerkleinern, Auswaſchen und Ausſortieren der einzelnen Stücke nach
ihrem Gehalt an taubem Geſtein in verſchiedene Haufen, von denen
der reinſte — „Stuferze“ genannt — gewöhnlich direkt ohne weitere
Vorbereitungen in der Hütte verſchmolzen werden kann, während der
unreinſte ſo arm an dem zu gewinnenden Metall iſt, daß er überhaupt
nicht weiter verarbeitet wird. Dieſe Aufbereitung, früher faſt nur mit
den Händen und ſpäter durch Pochwerke, Setzſiebe ꝛc. beſorgt, bedient
ſich jetzt im rationellen Betriebe faſt nur der Maſchine. Eine ſolche
Maſchine zum Zerbrechen der Erze zeigt Fig. 335. a iſt eine kleine Dampf-
maſchine, welche eine ſtarke eiſerne Schwinge b und dieſe wiederum die
an ihr hängende Backe c in eine pendelnde Bewegung ſetzt. Die
[571]Allgemeines.
ſchwingende Backe c ſteht
trichterförmig zur feſtſtehen-
den Backe d und zermalmt
alle in dieſe trichterförmige
Öffnung geworfenen Erz-
ſtücke, welche zerkleinert aus
der verſtellbaren unteren Öff-
nung herausfallen.


Dieſelbe Aufgabe in viel
vollkommenerer Art löſt der
Deſintegrator von Carr
(Fig. 336). Die beiden ein-

Figure 326. Fig. 335.

Steinbrecher.


ander gegenüberſtehenden und mit ſtarken Stahlſtiften beſetzten Scheiben cc1
werden durch die Riemſcheiben AA1 in ſehr ſchnelle und zwar entgegen-
geſetzte Rotierung verſetzt. Die zu zerkleinernden Erze fallen durch

Figure 327. Fig. 336.

Deſintegrator von Carr.


den Fülltrichter F zwiſchen die Stahlſtifte, werden von dieſen zerbrochen
und zur Thür D hingeſchleudert, aus welcher ſie entfernt werden.


Ein von Siemens \& Halske konſtruierter Apparat dient zur
Trennung magnetiſcher Erze von nicht magnetiſchen Subſtanzen, z. B.
des Magneteiſenſteins von ſeinen Gangarten. Die den Erzen anhaftenden
lehmigen Beſtandteile werden unter Zuhilfenahme eines ſtarken Waſſer-
ſtrahles durch Waſchapparate verſchiedener Konſtruktion von dieſen ab-
geſondert. Auch ein mittelſt Ventilators erzeugter ſtarker Luftſtrom dient
zur Trennung des leichteren tauben Geſteines von den ſchwereren Erzen.
Dieſe fallen von einer beſtimmten Höhe auf ein ſich horizontal be-
wegendes Band und werden im Fallen, wie auf dem Bande ſelbſt, von
einem ſtarken Windſtrom, welcher in einer der Bewegung des Bandes
entgegengeſetzten Richtung bläſt, ſenkrecht getroffen. Hierbei werden
während des Fallens der Staub und die kleineren Stücke des tauben
Geſteins entfernt, während auf dem Bande ſelbſt die Erze auf der
[572]Die Rohgewinnung der Metalle.
einen, das taube Geſtein aber auf der anderen Seite herabrollen, und ſo
die geſamte Maſſe in drei Haufen getrennt wird.


War die Aufbereitung der Erze rein mechaniſcher Art, ſo beſteht
die nun folgende Vorbereitung derſelben in chemiſchen Prozeſſen und
zwar im Röſten und Brennen. Hierdurch ſollen die Erze aufgelockert,
alſo poröſer gemacht werden, um ſo den Gaſen während des Schmelz-
prozeſſes zugänglicher zu ſein, oder es ſoll auch ihre chemiſche Zuſammen-
ſetzung überhaupt geändert werden. Dieſe Prozeſſe werden in ſog.
Röſtöfen vorgenommen, deren Konſtruktion je nach der Art des Erzes
verſchieden iſt und daher bei den einzelnen Erzen ſelbſt erwähnt werden
ſoll. Sie haben im weſentlichen alle den Zweck, gewiſſe Beſtandteile
des Erzes zu verflüchtigen, und zwar, indem ſie die Erze entweder
oxydieren, oder reduzieren, oder ſie endlich in Chlormetalle umwandeln.
Das Zugutemachen der Erze, d. h. die Gewinnung des Metalles oder
einer Verbindung desſelben, iſt der Hüttenprozeß. Hierfür werden ärmere
und reichere Erze derſelben Art gemiſcht, welche Arbeit man „Gattieren“
nennt, und durch welche die den Erzen noch anhaftenden Beimengungen zur
Schlackenbildung geeignet gemacht werden ſollen. Sehr ſelten iſt dies
ohne gewiſſe Zuſätze möglich, und dieſe ſind für den Röſtprozeß andere,
als für den Schmelzprozeß und werden „Zuſchläge“ genannt. Schließ-
lich giebt man — abgeſehen von den für Schachtöfen notwendigen
Mengen mit dem Brennmaterial ſelbſt — auch noch andere Zuſätze,
„Flüſſe“ genannt, welche die Aufgabe haben, das ausgeſchmolzene Erz
leichter abzuſcheiden und flüſſig zu machen. Dieſes Gemenge wird in
den Schachtofen oder in einen Flammenofen gebracht und hier durch
Schmelzen in mehr oder weniger reine Metalle und Schlacken — das
ſind die Abfälle — geſchieden. Bei den Schachtöfen wird das Erz mit
dem Brennmaterial gemiſcht in denſelben Raum gebracht, während bei
den Flammenöfen das Erz mit dem Brennmaterial ſelbſt nicht in
Berührung kommt, ſondern auf einem Herde durch die darüber ſtreichende
Flamme erhitzt wird.


Nachdem im vorſtehenden die ſich auf alle Erze gemeinſam be-
ziehenden Prozeſſe erklärt ſind, ſoll nun die Rohgewinnung der Metalle
ſelbſt für jedes einzelne der in Betracht kommenden beſchrieben werden,
und zwar unter Berückſichtigung der Erze, in welchen ſie vorkommen.


a) Unedle Metalle.


Das Eiſen.

Das Eiſen iſt ganz zweifellos das wichtigſte von allen Metallen
und unſere geſamte, ſo hoch entwickelte Technik wäre in den allermeiſten
Fällen ohne das Eiſen gar nicht denkbar. Dieſe hervorragende Wir-
kung verdankt das Eiſen ſowohl ſeinem häufigen Vorkommen, als auch
ſeinen Eigenſchaften, welche es befähigen, unter ganz verändertem
[573]Das Eiſen.
Charakter ſehr verſchiedenen Zwecken zu dienen. Dieſe verſchiedenen
Modifikationen des Eiſens reſultieren aus ſeinem Kohlenſtoffgehalte, und
nach demſelben unterſcheidet man — abgeſehen von chemiſch reinem Eiſen,
welches für die Technik keine Bedeutung hat — drei Arten, nämlich
das Roheiſen mit 5 % Kohlenſtoff, das Schmiedeeiſen mit höchſtens
0,5 % Kohlenſtoff und endlich den Stahl mit 0,5 bis 1,5 % Kohlenſtoff.


Vorkommen. Die Eiſenerze beſtehen hauptſächlich aus Ver-
bindungen des Eiſens mit Sauerſtoff — Oxyde — oder Schwefel —
Schwefelmetalle — in ſehr verſchiedenem Verhältnis, von denen für
die Verhüttung nur die Oxyde in Betracht kommen. Gediegen, d. h.
rein findet ſich das Eiſen nur ſehr ſelten in den Meteorſteinen. Da
bei Nennung der die Verhüttung lohnenden Erze ſtets die quantitative
Zuſammenſetzung ſehr wichtig iſt — denn nur durch dieſe unterſcheiden
ſich z. B. faſt alle nachſtehend erwähnten Eiſenoxyde von einander —
ſo iſt die Nennung der chemiſchen Formel hierbei nicht zu umgehen
und wird bei allen Erzen angegeben werden. Dieſe Angaben werden
aber durchaus verſtändlich ſein, da nicht unterlaſſen werden ſoll, jede
neu erwähnte Bezeichnung zu erläutern; ſo ſei hier gleich bemerkt, daß
die Formel für Eiſen Fe (von ferrum abgeleitet) und diejenige für
Sauerſtoff O (von oxygenium abgeleitet) iſt.


Die wichtigſten Eiſenerze ſind:


1. MagneteiſenſteinFe3O4 enthält 72 % Eiſen, iſt magnetiſch und
wird in Dannemora in Schweden gefunden.


2. EiſenglanzFe2O3 findet ſich in Elba (Böhmen) und in
Schweden.


3. RoteiſenſteinFe2O3 kommt in Sachſen, im Harz und in Naſſau
vor, häufig mit faſerigem Gefüge, in welchem Falle er roter Glaskopf
oder Blutſtein genannt wird.


4. SpateiſenſteinFeCO3 (d. h. kohlenſaures Eiſenoxydul) findet
ſich in Stahlberg bei Müſen, Steiermark, Kärnthen, Schottland und
Weſtfalen; auch mit Kohle und Schieferthon vermengt unter dem Namen
Blackband.


5. BrauneiſenſteinH6Fe4O9 (H bedeutet Waſſerſtoff von hydro-
genium
abgeleitet) iſt ſehr verbreitet und wird in nierenförmiger
Geſtalt mit faſeriger Struktur ebenfalls Glaskopf genannt.


6. Gelbeiſenſtein iſt eine thonige Varietät des vorigen.


7. Bohnerz beſteht aus Kieſelſäure, Eiſenoxydul und Waſſer und
bildet längliche Körner.


8. Raſeneiſenſtein endlich, auch Wieſen-, Moraſt- oder Sumpferz
genannt, findet ſich viel verbreitet in der norddeutſchen Ebene, als ſehr
jugendliches Gebilde, welches auch jetzt noch im Entſtehen begriffen iſt.


Darſtellung. Der Hochofenprozeß, durch welchen das Roheiſen
gewonnen wird, hat die Aufgabe, das Eiſenoxyd zu reduzieren, d. h.
den Sauerſtoff desſelben zu entfernen und die Beimengungen der Erze
wie Thon, Kieſelſäure ꝛc. von denſelben als Schlacken zu trennen.


[574]Die Rohgewinnung der Metalle.

Der Hochofen (Fig. 337) iſt ein Schachtofen, welcher aus zwei
konzentriſch gebauten und aus feuerfeſtem Material gemauerten Schächten
beſteht, nämlich dem Kernſchachte B und dem ihn umgebenden Rauh-
ſchachte A. Der Zwiſchenraum zwiſchen dieſen beiden Schächten iſt mit
ſchlechten Wärmeleitern ausgefüllt aus den S. 266 angeführten Gründen.
Dieſer bildet zwei Kegel, welche mit der Baſis aufeinander ruhen, und
haben die einzelnen Teile derſelben, in welchen ganz verſchiedene Tempera-
turen herrſchen, beſtimmte Namen. Der Raum von D bis E wird die
Raſt genannt, der von C bis D der Kohlenſack oder Bauch, der von

Figure 328. Fig. 337.

Hochofen.


B bis C der Schacht und die Öffnung bei A die Gicht. Die Raſt
ſteht auf dem Geſtelle F, welches bei G durch die Herdſohle abge-
ſchloſſen wird. Die Vorderſeite des Geſtelles iſt durchbrochen und wird
durch den Wallſtein M begrenzt, in welchem die während des Betriebes
mit Thon geſchloſſene Abſtichöffnung angebracht iſt, und über welchem
der Tümpelſtein liegt. Nach beendigtem Prozeſſe wird die Abſtich-
öffnung durchſtoßen, ſo daß das geſchmolzene Eiſen, welches ſich hier
angeſammelt hat, abfließen kann. Das auf der entgegengeſetzten Seite
einmündende Rohr führt die Luft des Gebläſes von unten in die
[575]Das Eiſen.
Flamme und ſo dem Ofen die zur Erzielung der hohen Temperatur
notwendige Sauerſtoffmenge zu. P iſt die Gichtbrücke, von welcher aus
der Hochofen beſchickt wird.


Für die im Innern des Ofens vorgehenden Prozeſſe können fünf
verſchiedene Zonen mit nach unten zu ſteigenden Temperaturen unter-
ſchieden werden. In der Vorwärmezone (Fig. 338) wird die Beſchickung
getrocknet und vorgewärmt; bei
400° C. gelangt ſie in die Re-
duktionszone, wo das Eiſenoxyd
durch das hier vorhandene Kohlen-
oxyd — und Waſſerſtoffgas — zu
metalliſchem Eiſen reduziert wird.
In der Kohlungszone nimmt das
Eiſen bei 1000 bis 1200° C. Kohlen-
ſtoff auf, und wird dadurch ſtahl-
haltig, um endlich in der Schmelz-
zone bei 1600 bis 1800° C. Roh-
eiſen zu werden. In der Ver-
brennungszone trifft die eingeblaſene
atmoſphäriſche Luft auf den bei 2000
bis 2650° C. glühenden Kohlenſtoff
und verbrennt ihn zu Kohlenſäure.
Dieſe ſteigt nach oben und wird beim
Paſſieren der Schmelzzone durch die
in dieſer glühende Kohle zu Kohlen-
oxyd reduziert, und dieſes reduziert
wiederum in der Kohlungs- und
Reduktionszone das Eiſenoxyd zu

Figure 329. Fig. 338.

Schema eines Hochofens.


metalliſchem Eiſen, indem es durch den Sauerſtoff desſelben wiederum
zu Kohlenſäure oxydiert wird. Die gleichfalls hier reduzierend wirkenden
Kohlenwaſſerſtoffgaſe bilden ſich aus dem Kohlenſtoff des Brennmaterials
und aus dem Waſſerſtoff der mit der Luft eingeführten Feuchtigkeit. Alle
anderen ſich bildenden Verbrennungsgaſe entweichen durch die Gicht
als ſog. Gicht- oder Hochofengaſe, welche aber nicht verloren gegeben
werden, ſondern zum Erwärmen der Gebläſeluft, zum Röſten der
Eiſenſteine ꝛc. Verwendung finden.


Während ſich nun auf der Sohle des Herdes das reduzierte, ge-
ſchmolzene Eiſen anſammelt, wird es von der ſich bildenden Schlacke
hautartig überzogen und dadurch gleichzeitig vor einer neuen Oxy-
dation durch die vom Gebläſe zugeführte Luft geſchützt. Nach been-
digtem Prozeß wird die Schlacke über dem Wallſtein abgezogen und
ſchon ihre Farbe läßt erkennen, ob der Hochofenprozeß gut verlaufen
iſt, bezw ob die Miſchungsverhältniſſe der Beſchickung richtige waren.
Das Reſultat iſt um ſo beſſer, je weniger Eiſenoxydul die Schlacke
enthält und in demſelben Maſſe iſt auch ihre Farbe heller. Das ge-
[576]Die Rohgewinnung der Metalle.
wonnene Roh- oder Gußeiſen läßt man in langen Formſandkanälen
oder in flachen eiſernen Vertiefungen erkalten. Das Roh- oder Guß-
eiſen enthält außer dem Kohlenſtoff noch geringe Mengen von Kieſel,
Schwefel und Phosphor, ſelten auch Stickſtoff.


Eigenſchaften. Die Art, wie es den Kohlenſtoff enthält, iſt ent-
ſcheidend für ſeine Eigenſchaften, und danach unterſcheidet man drei
Arten von Roheiſen. In dem weißen Roheiſen iſt der Kohlenſtoff
chemiſch gebunden, es iſt hart, ſpröde und von ſtarkem weißen Glanz,
deſſen beſte Sorte „Spiegeleiſen“ genannt wird, und hauptſächlich zur
Gewinnung von Stabeiſen und Rohſtahl dient. Das graue Roheiſen
enthält den Kohlenſtoff nur mechaniſch als Graphit beigemengt, iſt
nicht ſo hart als das vorige und hat eine hellgraue bis ſchwarzgraue
Farbe; es wird beſonders zu Gußwaren verwendet. Drittens endlich,
das halbierte Roheiſen, iſt ein Gemenge der beiden vorher genannten.
Alle drei Arten ſind ſchmelzbar, aber nicht ſchweiß- oder ſchmiedbar,
ſpröde und nicht elaſtiſch.


Aus dem weißen Roheiſen wird das Schmiedeeiſen, auch Stab-
oder Friſcheiſen genannt, gewonnen, und zwar, indem man demſelben
den Kohlenſtoff bis auf wenigſtens 0,5 % entzieht. Dieſes Austreiben
des Kohlenſtoffes geſchieht in hoher Temperatur durch den Sauerſtoff
der atmoſphäriſchen Luft, indem dieſelbe den vorhandenen Kohlenſtoff
zu Kohlenſäure oder Kohlenoxydgas oxydiert, welche entweichen. Gleich-
zeitig wird aber auch ein Teil des Eiſens zu Eiſenoxydul oxydiert, und
dieſes bildet mit dem ebenfalls zu Kieſelſäure oxydierten Kieſel kieſel-
ſaures Eiſenoxydul, welches als Schlacke entfernt wird. Dieſe Her-
ſtellung des Schmiedeeiſens kann nach zwei Methoden bewerkſtelligt
werden, und zwar entweder auf Herden im ſog. „Friſchprozeß“ oder
in Flammenöfen im ſog. „Puddlingsprozeß“.


Der Friſchherd (Fig. 339) bildet bei a einen tiefen, mit eiſernen
Platten ausgelegten Herd, in welchen die Düſe eines Gebläſes c führt.

Figure 330. Fig. 339.

Friſchherd.


Dieſer Düſe gegenüber-
liegend, befindet ſich ein
höher liegender Herd b,
in welchen das Roheiſen
gebracht wird, und von
dem es geſchmolzen, lang-
ſam nach dem tiefer liegen-
den Herd a abtropft. Beim
Fallen der einzelnen
Tropfen durch die Luft
gehen die vorher beſchriebenen Oxydationen vor ſich, und auch hier ſchützt
die Schlacke durch Bedecken des flüſſigen Eiſens im Herde a dasſelbe vor
weiterer Oxydation. Dieſe Schlacke wird nach beendetem Prozeß abge-
zogen und „Garſchlacke“ genannt, ſie enthält ziemlich viel Eiſenoxydul
und wird als Zuſatz bei der nächſten Operation benutzt. Der letzte
[577]Das Eiſen.
Reſt der Schlacke aus der entkohlten Eiſenmaſſe, jetzt „Luppe“ oder
„Wolf“ genannt, wird durch Auspreſſen unter dem Dampfhammer
entfernt.


Der Flammenofen für den Puddlingsprozeß iſt ein überdeckter
Herd, in welchem fortwährend atmoſphäriſche Luft auf das geſchmolzene
Roheiſen ſtrömt, während auf der Herdſohle das flüſſige Eiſen mit
Krücken umgerührt — „gepuddelt“ — wir. Hierbei bildet ſich zuerſt
Eiſenoxydul und giebt dann ſeinen Sauerſtoff an den Kohlenſtoff ab,
welcher zu Kohlenoxyd verbrennt. In demſelben Maße, wie die Ent-
kohlung fortſchreitet, wird die Eiſenmaſſe zäher und dickflüſſiger, bis ſie
ſchließlich mittels der Krücken zu mehreren Ballen zuſammengehäuft
werden kann. Die Schlacke
wird von Zeit zu Zeit abge-
laſſen und hier der Reſt der-
ſelben unter dem Dampf-
hammer herausgepreßt, wobei
die Luppen gleichzeitig dichter
werden.


Die Handarbeit beim
Puddeln wird beim rotieren-
den Puddelofen von Danks
durch Maſchinenkraft erſetzt;
Fig. 340 ſtellt den Vertikal-
ſchnitt, Fig. 341 die Vorder-

Figure 331. Fig. 340.

Puddelofen (Vertikalſchnitt).


anſicht dieſes Ofens dar. A iſt der Herd mit dem Roſt für die
Feuerung, in welchen die Luft eingeblaſen wird. B iſt der Drehherd,
der auf zwei Rollen läuft und mit dem Zahnrad E, welches durch
das kleine Zahnrad F in Bewegung geſetzt wird, feſt verbunden iſt.

Figure 332. Fig. 341.

Puddelofen (Vorderanſicht).


Das Buch der Erfindungen. 37
[578]Die Rohgewinnung der Metalle.
Dieſer Drehherd iſt aus gußeiſernen Platten zuſammengeſetzt und in-
wendig mit feuerfeſtem Material ausgekleidet; D iſt der Schornſtein,
durch welchen die Verbrennungsgaſe entweichen.


Eigenſchaften. Das ſo erhaltene Schmiedeeiſen enthält nur
0,1 bis 0,5 % Kohlenſtoff, ſchmilzt erſt bei 1500 bis 1600° C., hat
eine hellgraue Farbe, ein ſpezifiſches Gewicht von 7,7, iſt hämmerbar,
dehnbar und ſchweißbar, d. h. es laſſen ſich zwei oder mehrere Stücke
im weißglühenden Zuſtande unter dem Hammer zu einem vereinigen.
Es hat eine ſehnige Struktur, welche es ſehr feſt macht, aber leider
bei anhaltender Erſchütterung — wie z. B. bei den Eiſenbahn-
achſen — in eine viel leichter brechende, körnige Struktur übergeht. Ge-
wiſſe Verunreinigungen beeinträchtigen die Feſtigkeit des Eiſens ſehr,
ſo macht es z. B. Schwefel und Arſen „rotbrüchig“, d. h. es zerbröckelt,
wenn es rotglühend gehämmert wird; Kieſel macht es „faulbrüchig“,
d. h. hart und mürbe, und endlich eine kleine Menge Phosphor „kalt-
brüchig“, d. h. es bricht durch Stoß und Schlag oder beim Biegen.


Der Stahl enthält 1 bis 1,5 % Kohlenſtoff, ſteht alſo mit ſeinem
Kohlenſtoffgehalt zwiſchen dem Roh- und dem Schmiedeeiſen, und damit
iſt gleichzeitig auf die Methoden ſeiner Gewinnung hingedeutet. Man
entkohlt nämlich das Roheiſen und gewinnt den ſog. Roh- oder Schmelz-
ſtahl, oder man vermehrt den Kohlenſtoffgehalt des Schmiedeeiſens,
wie bei Gewinnung des Cement- oder Brennſtahls, und endlich kann
man Roh- und Schmiedeeiſen im richtigen Verhältnis zuſammen-
ſchmelzen und dadurch den Kohlenſtoffgehalt des Stahles erzielen.


Der Rohſtahl — durch teilweiſe Entkohlung des Roheiſens ge-
wonnen — kann wiederum nach drei verſchiedenen Methoden dar-
geſtellt werden, nämlich im Friſchverfahren, im Puddlingsverfahren
oder nach dem Beſſemerprozeß. Je nach dem angewendeten Verfahren
nennt man den gewonnenen Stahl Friſchſtahl, Puddelſtahl oder

Figure 333. Fig. 342.

Beſſemerbirne
(Vertikalſchnitt).


Beſſemerſtahl, und ſoll hier nur die letzte
Methode beſchrieben werden, da die erſten
beiden dieſelben ſind, wie bei der Gewinnung
des Schmiedeeiſens aus dem Roheiſen, nur
mit dem Unterſchiede, daß die Entkohlung des
Roheiſens nicht bis zu Ende durchgeführt, und
dieſes unter dem Winde vorgenommen wird.


Nach dem Beſſemer-Verfahren wird der
Kohlenſtoff des Roheiſens in der Weißglüh-
hitze mit dem Sauerſtoff der Luft in Ver-
bindung gebracht. Dies geſchieht in der ſog.
Beſſemerbirne oder dem Converter, welcher
uns Fig. 342 im Vertikalſchnitt zeigt, und
welcher mit feuerfeſtem Thon ausgekleidet, auf
dem Boden für den Eintritt der zugeführten
Luft ein Syſtem von Öffnungen beſitzt. Iſt
[579]Das Eiſen.
der Prozeß beendet, ſo wird der Inhalt des Converters ausgegoſſen
und iſt derſelbe zu dieſem Zweck bei d (Fig. 343) in einer Achſe dreh-
bar aufgehängt. In dieſer Zeichnung iſt auch das Rohr D ſichtbar,
welches den ſehr ſtark gepreßten Luftſtrom in den Converter leitet.
Durch den in der atmoſpäriſchen Luft zugeführten Sauerſtoff werden
in den erſten 8—10 Minuten Schlacken gebildet; dieſe geben in den
darauf folgenden 6 bis 8 Minuten ihren Sauerſtoff an den Kohlen-
ſtoff des Roheiſens ab und oxydieren denſelben zu Kohlenoxydgas.
In den darauf folgenden 20 Minuten wird der Reſt des Kohlen-
ſtoffes verbrannt und nachdem der Wind abgeſtellt iſt, die Birne

Figure 334. Fig. 343.

Beſſemerbirne.


umgeklappt, um ihr noch ca. 10 % geſchmolzenes Spiegeleiſen zu-
zuſetzen. Nun wird der Wind noch einmal angelaſſen und nach kurzer
Zeit iſt der Prozeß, deſſen Beendigung man an ſeiner Flamme mittels
Spektralapparates erkennt, vollendet. Dieſes Verfahren iſt zweifellos das
rationellſte von allen zur Stahlbereitung angewendeten, denn nach dem-
ſelben produziert man 10—12000 kg in weniger als einer Stunde,
in welcher Zeit im Puddelofen nur ca. 50 kg produziert werden. Hieran
ſchließt ſich das von Uchatius angegebene Verfahren, wonach der ſog.
Uchatiusſtahl direkt aus dem Roheiſen dargeſtellt wird, indem das aus
Magneteiſenſtein dargeſtellte Roheiſen mit Spateiſenſteinpulver be-
ſchickt im Graphittiegel geſchmolzen wird. Nach Martin wird das
Schmelzen nicht mehr in Tiegeln, ſondern auf der muldenförmigen
Sohle eines Flammenofens mit Hilfe eines Siemensſchen Regenerativ-
Gasofens ausgeführt. Der ſo gewonnene Stahl hat unter dem Namen
37*
[580]Die Rohgewinnung der Metalle.
„Martinſtahl“ oder auch „Flußſtahl“ eine große Bedeutung erlangt.
Der Tunnerſche Glühſtahl, auch hämmerbares Gußeiſen genannt, wird
ohne Schmelzung durch Glühen aus weißem Roheiſen mit Sauerſtoff-
abgebenden Subſtanzen, wie Eiſenoxyd, Braunſtein, Zinkoxyd ꝛc. dar-
geſtellt. Heaton friſcht das Roheiſen mit Natronſalpeter und entkohlt
hierdurch dasſelbe nicht nur, ſondern treibt gleichzeitig auch Phosphor
und Schwefel in die Schlacke; dieſer Stahl wird Heatonſtahl genannt.


Die Fabrikation des Cementſtahls, durch Vermehrung des Kohlen-
ſtoffgehaltes des Schmiedeeiſens dargeſtellt, beſteht darin, daß man
Schmiedeeiſen in Käſten von feuerfeſtem Thon in Kohlepulver ſog.
„Cementierpulver“ lagert und dieſe Käſten, luftdicht verſchloſſen, längere
Zeit in einem Ofen erhitzt. Bei der dritten Art der Stahlgewinnung
wird einfach gutes Schmiedeeiſen mit Spiegeleiſen zuſammengeſchmolzen.


Die ſo gewonnenen Stahlſorten ſind in ihrer Maſſe nicht homogen
und müſſen deshalb noch weiter verarbeitet werden. Sie werden in
Stücke geſchlagen, zu flachen dünnen Stäben ausgereckt und weiß-
glühend wieder zuſammengeſchweißt; ſo behandelt, geben ſie den Gerb-
ſtahl. Der Gußſtahl hingegen wird durch Umſchmelzen in feuerfeſten
Tiegeln ohne Gebläſe erzeugt.


Eigenſchaften. Der Stahl iſt der feſteſte aller Eiſenarten, von
grauweißer Farbe, ſehr feinkörnig und höchſt politurfähig. Sobald
man ihn glühend ſchnell in kaltes Waſſer taucht, wird er ſehr hart
und elaſtiſch, welche Eigenſchaften bei nochmaligem Erhitzen und lang-
ſamem Abkühlen wieder verloren gehen. Der polierte Stahl nimmt
beim Erhitzen an der Luft verſchiedene Farben an, welche Operation
man das „Anlaſſen“ des Stahles nennt; bei 200° C. wird er blau-
gelb, bei 240° ſtrohgelb, bei 260° purpurrot, bei 280° hellblau, bei
300° dunkelblau und bei 320° endlich ſchwarzblau.


Die bereits vorher erwähnten Gasgeneratoren, welche ein gas-
förmiges [Brennmaterial] liefern, indem ſie aus der Steinkohle Kohlen-
oxyd entwickeln, finden immer mehr Aufnahme und werden zu den
vorſtehend beſchriebenen Prozeſſen bei den Puddel- und Schweißöfen
jetzt viel verwendet, da man die hierbei erzeugte Flamme, je nach Re-
gulierung der Luftzufuhr beliebig zu einer oxydierenden oder redu-
zierenden machen kann. Auch ſind mit den wachſenden Dimenſionen
der Hochöfen die Konſtruktionen der Gebläſemaſchinen weſentlich ver-
beſſert worden, und heute liefern dieſelben 100 cbm Wind in der
Minute von einer Preſſung, welche einer Queckſilberſäule von 22 cm
Höhe das Gleichgewicht hält. Fig. 344 zeigt eine ſolche Balancier-
Gebläſemaſchine, in welcher der Dampfcylinder c den Balancier d in
Bewegung ſetzt, wodurch wiederum der Kolben im Luftcylinder a die
Luft durch das Windrohr b in ein Reſervoir preßt, wo dieſelbe vor
der weiteren Verwendung — wie weiter unten näher beſchrieben —
vorgewärmt wird. Ein Schwungrad e — mittels Pleuelſtange an d
befeſtigt — reguliert die Gleichmäßigkeit der Bewegung.


[581]Das Eiſen.
Figure 335. Fig. 344.

Balancier-Gebläſemaſchine.


Schon vorher war geſagt, daß die abziehenden Gichtgaſe benutzt
werden, um durch ihre hohe Temperatur die durch das Gebläſe zu-
geführte Luft vorzuwärmen, was, wie leicht einzuſehen iſt, eine große
Erſparnis an Brennmaterial bedeutet. Es geſchah dies größtenteils
durch ſog. Röhrenapparate, welche den kalten Wind durch von den
Feuergaſen von außen umſpielte Röhren ſtreichen ließen. Neuerdings
ſind dieſe Röhrenapparate durch den Whitwellſchen oder auch Regenerator-
Winderhitzungsapparat genannt, faſt vollſtändig verdrängt. Dieſer
Apparat beſteht aus zwei großen gemauerten Kammern, welche zwiſchen
der Gebläſemaſchine und dem Hochofen eingeſchaltet ſind und durch
[582]Die Rohgewinnung der Metalle.
Ventile die Richtung des Windes und der Gichtgaſe ſo regulieren
laſſen, daß ſie abwechſelnd bald die eine, bald die andere der Kammern
durchſtreichen. Man läßt nun erſt die Gichtgaſe die eine der Kammern
heizen, führt dann die Gebläſeluft durch dieſelbe, während welcher Zeit
durch Umſtellung der Ventile die Gichtgaſe die zweite Kammer heizen.
Iſt dieſe nun heiß und die erſte durch die durchſtreichenden Luftmengen
wieder abgekühlt, ſo werden die Ventile wieder umgeſtellt, ſo fort und fort
ſtets heiße Luft dem Hochofen ꝛc. zuführend. Um die Hitze des Gicht-
gaſes möglichſt rationell auszunutzen, werden möglichſt viele Wände in
die Kammern ſo eingebaut, daß die Gaſe an allen vorbeiſtreichen
müſſen, und zeigt Fig. 345 Vertikalſchnitt und Anſicht einer ſolchen
Gebläſekammer. Die Gichtgaſe treten bei b in die Kammer ein
und werden unter Luftzutritt hier verbrannt, um, nachdem ſie die
Kammer bei a in der Richtung der Pfeile durchſtrichen haben, bei e

Figure 336. Fig. 345.

Gebläſekammer.


in den Schornſtein zu gelangen. Iſt die Kammer genügend heiß ge-
worden, ſo tritt nach Umſtellung der Ventile die Gebläſeluft bei e ein,
durchſtreicht die Kammer in entgegengeſetzter Richtung, um bei d aus-
tretend ca. 700° C. heiß in die Hochöfen ꝛc. zu ſtrömen.


Die neueren Hochöfen haben anſtatt der vorher beſchriebenen Rauh-
mauern jetzt Eiſenmäntel und ſtehen auf gußeiſernen Säulen. Mehrere
ſolcher Hochöfen werden nebeneinander errichtet, und zeigt Fig. 346
acht ſolcher Hochöfen, welche in der Grafſchaft Cumberland in Eng-
land auf dem Furneßwerk ſtehen und täglich 14000 Zentner Roh-
eiſen produzieren. Die hierbei ſichtbaren, ſchiefen Ebenen dienen zum
Aufziehen der Beſchickung, denn auch dieſe Aufzüge haben mit der Zu-
nahme der Höhe der Hochöfen bis zu 25 m manche Veränderung er-
fahren. Büttgenbach läßt auch noch den eiſernen Mantel der Hoch-
öfen fort, um beſſer den Schacht an jedem Punkte des Geſtelles kon-
trollieren zu können und legt das Gichtplateau auf hohle eiſerne
Säulen, welche gleichzeitig als Ableitungsröhren für die Gichtgaſe
[583]Das Eiſen.

Figure 337. Fig. 346.

Hochöfen des Furneßwerkes.


dienen. Um die Gichtgaſe, welche immer rationeller ausgenützt werden,
abzufangen, hat man zahlreiche Apparate konſtruiert, von denen hier
der Hoffſche Apparat erwähnt werden möge.


Die ſehr ſchwierige Aufgabe, auch die letzten Reſte Phosphor,
welcher — wie vorher angegeben — das Eiſen „kaltbrüchig“ macht,
aus dem Eiſen zu entfernen, haben Thomas und Gilchriſt gelöſt.
Sie verwarfen die bisher benutzte Ausmauerung des Convertes im
Beſſemer-Prozeß, welche aus kieſelſäurehaltigen Subſtanzen beſtand und
wendeten dafür baſiſche Subſtanzen an, indem ſie ſehr richtig an-
nahmen, daß der durch die hohe Temperatur und den Sauerſtoff der
atmoſphäriſchen Luft zu Phosphorſäure oxydierte Phospor des Eiſens,
als phosporſaures Salz in die Schlacke gehen würde, wenn die
Phosphorſäure eine Baſe fände, mit der ſie ſich verbinden könnte. Zur
Ausmauerung nimmt man deshalb jetzt den Dolomit, eine Miſchung
von kohlenſaurem Kalk und kohlenſaurer Magneſia und giebt — um
dieſe Ausmauerung nicht zu ſchnell abzunutzen, denn ſie muß ergänzt
werden, wenn die Baſen aufgebraucht ſind — noch überdies Dolomit
oder Kalk zu den Zuſchlägen. Aller Phosphor geht auf dieſe Weiſe
als phosphorſaurer Kalk und phosphorſaure Magneſia in die Schlacken,
und dieſe bilden fein gemahlen ein von der Landwirtſchaft ſehr be-
gehrtes Dungmaterial. (Siehe „Die künſtlichen Düngeſtoffe.“) Zur
ferneren Schonung der Ausmauerung wird der Zuſatz von 3 % Silicium
— welches ſich ja ebenfalls, zu Kieſelſäure oxydiert, mit den Baſen
verbindet — fortgelaſſen, und der Phosphor erſetzt ihn als für den
Beſſemerprozeß ſo notwendigen Wärmeentwickler vollkommen.


[584]Die Rohgewinnung der Metalle.

Zur Reinigung von Eiſen und Stahl ſind zahlreiche Patente er-
teilt, welche im weſentlichen alle zu dem geſchmolzenen Eiſen und Stahl
gewiſſe Beimengungen geben, mit welchen ſich die Verunreinigungen
des Eiſens verbinden ſollen. So wird z. B. auf 160° erhitztes Blei-
amalgam hinzugefügt, oder auch das Eiſen und der Stahl werden in
Tiegeln oder anderen Behältern geſchmolzen, welche mit gewiſſen Kom-
poſitionen, wie z. B. aus Mennige, Zinnober und Formſand ꝛc. be-
ſtehend ꝛc., ausgefüttert ſind.


Geſchichtliches. Das Eiſen iſt ſeit den älteſten Zeiten bekannt,
denn ſchon Moſes ſpricht von eiſernen Waffen und aus einer Stelle
im Homer ſcheint hervorzugehen, daß auch das Meteoreiſen ſeinen Zeit-
genoſſen bereits bekannt war.


Legierungen. Das Eiſen wird in neuerer Zeit viel mit anderen
Metallen legiert, d. h. gemiſcht, ſo z. B. mit Nickel, Kupfer, Zink, Zinn,
Blei, Antimon, Kobalt und Aluminium. Dieſe Legierungen ſind bei
den anderen Metallen, beſonders beim Kupfer, beſchrieben.


Das Kobalt.

Vorkommen. Das Kobalt findet ſich gediegen nur im Meteor-
eiſen und iſt in den wichtigſten, zur Verhüttung gelangenden Kobalt-
erzen ſtets von Arſen — deſſen chemiſche Formel „As“ iſt — be-
gleitet. Dieſe Erze ſind Arſenkobalt Co2As3, Speiskobalt CoAs2,
Glanzkobalt CoAsS (S iſt die Formel für Schwefel) und Kobaltblüte
Co3As2O8 + 8H2O (H2O iſt die Formel für Waſſer).


Darſtellung. Dieſe Erze werden, nachdem ſie geröſtet und ge-
pulvert ſind, mit ſaurem ſchwefelſaurem Kalk erhitzt. Hierbei bildet
ſich ſchwefelſaures Kobaltoxydul, welches löslich iſt und daher mit
Waſſer leicht ausgezogen werden kann. Setzt man nun zu dieſer Löſung
ſaures oxalſaures Kali, ſo fällt oxalſaures Kobaltoxydul von ſchwach
roſenroter Farbe heraus. Dieſes oxalſaure Kobaltoxydul wird unter
Luftabſchluß geglüht und liefert hierbei das Metall. Haben die ver-
hütteten Erze auch Kupfer und Wismut enthalten, ſo finden ſich dieſe
Metalle in der wäſſrigen Löſung des ſchwefelſauren Kobaltoxyduls, aus
welcher ſie vor der weiteren Behandlung derſelben mittelſt Schwefel-
waſſerſtoff als Schwefelmetalle gefällt und dann ſo weiter behandelt
werden, wie es bei Abhandlung dieſer Metalle näher beſchrieben
werden ſoll.


Eigenſchaften. Das Kobalt hat eine rötliche, ſtahlgraue Farbe,
ein ſpezifiſches Gewicht von 8,7, ſchmilzt erſt bei ſehr hoher Temperatur,
iſt ſchmiedbar und magnetiſch. Sehr viele Kobalterze enthalten 35 %
Nickel und werden dann „Zaffer“ oder „Safflor“ genannt. In der
Technik findet das Kobalt keine Verwendung.


Geſchichtliches. Schon die Alten kannten die Kobalterze und
ihre Eigenſchaft, Glasflüſſe blau zu färben. Das Metall — jedoch
[585]Das Kobalt. — Das Nickel.
in unreinem Zuſtande — ſtellte Brand 1733 dar; die Reindarſtellung
und namentlich die Scheidung von Nickel gaben erſt Liebig und
Wöhler an.


Das Nickel.

Vorkommen. Auch das Nickel findet ſich gediegen nur im
Meteoreiſen und iſt ein ſteter Begleiter des Kobalts. Das wichtigſte
ſeiner Erze iſt das Kupfernickel, NiAs. Dieſe Formel zeigt, daß es
nur aus einem Teil Nickel und einem Teil Arſen beſteht, alſo gar kein
Kupfer enthält, und ſtammt der Name „Kupfernickel“ auch nur von
ſeiner kupferroten Farbe her, welche die Bergleute früherer Zeit täuſchte
und ſie glauben machte, daß ſie es mit einem Kupfererze zu thun
hätten. Andere Nickelerze ſind Nickelglanz NiAsS, Haarkies NiS,
Antimonnickel NiSb (Sb, abgeleitet von stibium, iſt die Formel des
Antimons), Weißnickel NiAs3 ꝛc.


Darſtellung. Das Nickel wird als Metall in derſelben Weiſe,
wie vorher beim Kobalt beſchrieben, gewonnen. Dieſer Gewinnung
geht aber meiſt erſt ein Konzentrationsſchmelzen voraus, bei welchem
man, wenn die Erze Schwefel enthalten, Schwefelarſen und, wenn ſie
Arſen enthalten, das Arſen als Konzentrationsmittel verwendet. Das
hierbei erhaltene Produkt nennt man im erſten Falle „Stein“ und im
zweiten Falle „Speiſe“.


Nach einem an Wiggin und Johnſtone erteilten Patent kann Nickel
und Kobalt auch auf elektrolytiſchem Wege dargeſtellt werden. Das
Kupfer wird danach aus den Löſungen dieſer Metalle, welche beſonders
als Chloride verwendet werden, durch Elektrolyſe entfernt. Die Eintritts-
ſtelle beſteht aus Kohle oder unreinem Nickel, die Austrittsſtelle aus
Kupfer oder Meſſing. Der Prozeß erfolgt in einer Reihe von Gefäßen,
welche die Löſung nach einander durchfließt, wobei das an der Anode frei
werdende Chlor mittels einer Haube oder ähnlichen Vorrichtung auf-
gefangen wird. Nach einem an D. Mendeleff erteilten Patent, werden
die Nickel- und Kobalterze in einem geſchloſſenen und erhitzten Raume
mit gasförmigen Kohlenwaſſerſtoffen behandelt, gepulvert und mit Waſſer
zu einem konſiſtenten Brei verrührt, aus welchem man dann die metalliſchen
Partikel mittels eines elektro-magnetiſchen Separators abſcheidet.


Nach dem Patent von W. Brondreth werden die zerkleinerten Erze
mit 25 % gepulvertem Graphit gemiſcht und ein geeignetes Flußmittel
zugegeben. Dieſes Gemenge wird in einem Ofen mit einem Herde aus
Graphit geſchmolzen und das Metall abgezogen. Das im Converter
erzeugte Nickel iſt nicht ganz rein, ſondern enthält 92 bis 98 % Nickel;
es muß daher vor ſeiner Verwendung noch raffiniert werden. Dies
geſchieht nach einem Patente von P. Mauhès, indem man das in
Platten von 10 mm Stärke gegoſſene Rohnickel in oxydierender Flamme
6 bis 10 Stunden glüht, nachdem man etwas Salpeter auf die
Platten gegeben hat. Die ſo oxydierten Platten werden dann im
[586]Die Rohgewinnung der Metalle.
Tiegel oder im Flammofen unter Zuſatz eines alkaliſchen Flußmittels,
z. B. Borax, geſchmolzen. Während des Schmelzens nun werden alle
Stoffe oxydiert, die leichter oxydierbar ſind, als das Nickel ſelbſt, z. B.
Schwefel zu ſchwefliger Säure und Eiſen zu Eiſenoxyd, welche ſich in
dem Flußmittel auflöſen.


Nickel und Kobalt in ſehr konzentrierten Löſungen vollkommen
eiſenfrei zu gewinnen, iſt nach dem Patent von W. Schoeneis möglich.
Die ſchwefel- und arſenhaltigen Erze werden gut geröſtet, die oxydiſchen
Erze hingegen zur Vertreibung des hygroſkopiſchen Waſſers nur ge-
glüht. Das Röſtgut wird hierauf gemahlen, mit Eiſenchlorür gemiſcht,
mit einer Eiſenchlorürlöſung angefeuchtet und getrocknet. Nun wird
die Maſſe gut geglüht, wobei die zu gewinnenden Metalle in Chlorüre
übergehen und in Waſſer gelöſt werden können, um dann — wie vorher
beſchrieben — weiter bearbeitet zu werden.


Eigenſchaften. Das Nickel iſt faſt ſilberweiß mit einem geringen
Stich ins Gelbliche, es hat ein ſpezifiſches Gewicht von 8,9 bis 9,2,
iſt ſehr politurfähig, walzbar und ſchmiedbar und läßt ſich zu Draht
ziehen. Seine Zähigkeit verhält ſich zu der des Eiſen wie 9 : 7, es iſt
aber gegen chemiſche Agentien und Witterungseinflüſſe viel widerſtands-
fähiger als das Eiſen. Es findet in der Technik zahlreiche Ver-
wendungen, ſo z. B. zur Darſtellung von Legierungen (das Neuſilber
oder Argentan beſteht aus 60 % Kupfer, 30 % Zink und 10 % Nickel)
zum Überziehen anderer Metalle, zur Darſtellung der Scheidemünzen
im Deutſchen Reich, in der Schweiz, in Belgien, in den Vereinigten
Staaten und in der Republik Honduras.


Geſchichtliches. Cronſtedt und Bergmann erkannten 1731 das
Nickel als eigentümliches Metall.


Legierungen. Das Nickel wird viel zu Neuſilber oder Argentan,
welches beim Kupfer näher beſchrieben werden ſoll, verwendet. Eine neue
Legierung von Eiſen und 2,5—50 % Nickel iſt J. F. Hall darzuſtellen
gelungen, während bisher höchſtens 3 % Nickel enthaltende Eiſen-
legierungen bekannt waren. Dieſe neue Legierung ſoll zur Herſtellung
von Kanonen, Gewehrläufen, Panzerplatten ꝛc. ſehr geeignet ſein. Zur
Herſtellung von Clichés wird jetzt eine neue Legierung von Nickel,
Blei und Antimon verwendet, welche auf je 100 Teile Schriftmetall
5 Teile Nickel enthält.


Das Kupfer.

Vorkommen. Das Kupfer hat ſeinen Namen von der Inſel
Cypern, von welcher es ſchon die alten Römer und Griechen bezogen
und es „Cyprium“ nannten, woraus der Name „Cuprum“ entſtand.
Gediegen findet es ſich in großer Menge unter dem Namen Kupfer-
ſand oder Kupferbarilla mit 60 bis 80 % Kupfer und 20 bis 40 %
Quarz am Oberen See und in Chile, ferner in zahlreichen Kupfer-
erzen. Solche ſind Rotkupfererz Cu2O, mit Eiſenocker gemengt
[587]Das Kupfer.
auch Ziegelerz genannt; Kupferlaſur 2CuCO3 (d. i. kohlenſaures
Kupfer) + Cu(OH)2 (d. i. Kupferhydroxyd) mit ſchöner, blauer Farbe
(Cornwallis und Südauſtralien), dem ähnlich zuſammengeſetzten Ma-
lachit CuCO3 + Cu(OH)2 von ſchöner grüner Farbe (Ural, Auſtralien
und Kanada), Kupferglanz Cu2S, Kupferkies Cu2S + Fe2S3; das Bunt-
kupfererz enthält Cu2S, CuS und FeS; der Kupferſchiefer iſt ein bi-
tuminöſer Mergelſchiefer und enthält Kupferglanz, Kupferkies und
Buntkupfererz (im Mansfeldſchen, in Stolberg am Harz und in Heſſen),
die Fahlerze endlich, welche beim Silber noch näher betrachtet werden
ſollen, enthalten außer Cu2S noch Silber, Antimon, Arſen und Eiſen
(Chile und Südauſtralien). Auch der bei dem Blei näher zu be-
trachtende Bournonit enthält 12,7 % Kupfer.


Darſtellung. Die Methoden zur Gewinnung des Kupfers ſind
je nach der Zuſammenſetzung der Kupfererze ſehr verſchiedenartig und
zerfallen in drei Hauptgruppen, nämlich in Gewinnung aus oxydierten
Erzen, aus geſchwefelten oder kieſigen Erzen und endlich auf naſſem Wege.


Die Gewinnung des Kupfers aus den oxydierten oder ockrigen
Erzen iſt die einfachſte, denn dieſe Erze werden unter Zuſatz eines
Flußmittels nur durch Kohle reduziert. Allerdings iſt ihr Vorkommen
ſo gering, daß ſie in den allermeiſten Fällen mit den geſchwefelten
Erzen verſchmolzen und dann mit dieſen zuſammen verhüttet werden.
Wo ſie aber allein verarbeitet werden ſollen, werden dieſelben, nachdem
man ſie mit den erforderlichen, eine leichtflüſſige Schlacke bildenden
Zuſchlägen verſetzt hat, mit Kohle in einem Schachtofen geſchmelzt.
Das reduzierte Kupfer — hier Schwarzkupfer genannt — wird in
ſog. Spleißöfen gargemacht und in Blöcken als Roſettenkupfer auf
den Markt gebracht.


Die Kupfergewinnung aus den geſchwefelten oder kieſigen Erzen,
wird entweder in Schachtöfen oder in Flammenöfen vorgenommen.
In beiden Fällen wird zuerſt der Kupfergehalt des Erzes im Kupfer-
ſtein konzentriert und dann das Kupferoxyd des geröſteten Kupferſteins
im Schachtofen mittelſt Kohle, im Flammenofen mittelſt Schwefel
reduziert. Der Schachtofen liefert daher ein kohlehaltiges Kupfer, der
Flammenofen ein übergares, Kupferoxydul enthaltendes Kupfer; beide
alſo liefern kein hammergares Kupfer und muß das gewonnene Kupfer
erſt auf ganz verſchiedene Art zu dieſem verarbeitet werden.


Für die Gewinnung des Kupfers in dem Schachtofen werden die
Erze zuerſt geröſtet und dann das Röſtgut nach Zuſatz von ſchlacke-
bildenden Materialien geſchmolzen. Hierbei wird das während des
Röſtens gebildete Kupferoxyd zu metalliſchem Kupfer reduziert, während
die anderen beim Röſten entſtandenen Verbindungen, wie ſchwefelſaure,
arſenſaure und antimonſaure Salze ꝛc. nachdem erſtere wieder
Schwefelmetalle gebildet haben, mit dem metalliſchen Kupfer den kupfer-
reichen ſog. Rohſtein bilden, während die arſen- und antimonſauren
Salze zu ihren Metallen reduziert, die ſog. Speiſe erzeugen. Die
[588]Die Rohgewinnung der Metalle.
übrigen Metalloxyde verbinden ſich mit den Zuſchlägen zur Schlacke.
Durch Wiederholung des Röſt- und des reduzierenden Schmelzprozeſſes
erhält man ſchließlich metalliſches Kupfer, Roh- oder Schwarzkupfer
genannt. Dieſes wird durch ein oxydierendes Schmelzen, — das Roh-
garmachen genannt — von den noch darin enthaltenen fremden Metallen
befreit, welche teils als Oxyde verflüchtigt werden, teils in die ſog.
Garſchlacke gehen. Das Garkupfer, auch Roſetten- oder Scheibenkupfer
genannt, enthält noch Kupferoxydul, von dem es durch ein ſchnelles,
reduzierendes Schmelzen befreit werden muß, weil ſeine Dehnbarkeit
durch dasſelbe vermindert wird, und erſt nach Entfernung des Kupfer-
oxyduls wird es hammergar genannt. Raffiniert man das Kupfer
aber in Flammenöfen, ſo wird ſehr rationell das Roh- und Hammer-
garmachen zu einem einzigen Prozeße vereinigt.


Fig. 347, 348 und 349 zeigen einen Schachtofen, wie er zum Roh-
ſchmelzen der geröſteten Erze zu Rohſtein dient, und zwar zeigt Fig. 347
den Vertikalſchnitt, Fig. 348 die äußere Anſicht, bei welcher die vordere
Mauer nicht mitgezeichnet
iſt, um einen Blick in das
Innere zu geſtatten und
Fig. 349 den unteren Teil
des Ofens. Die Öffnungen
für die Düſen des Ge-

  • Figure 338. Fig. 347.
    Figure 339. Fig. 348.
    Figure 340. Fig. 349.


bläſes t ermöglichen die Luftzufuhr; das geſchmolzene Metall läuft
durch o — Augen — und zwei kurze Kanäle — Spuren genannt —
in die beiden ſchalenförmigen Vertiefungen (Fig. 349), welche den
Namen Spurtiegel führen.


Das Schwarz- oder Rohkupfer wird durch oxydierendes Schmelzen
von Schwefel und anderen Verunreinigungen, welche alle früher ver-
ſchlacken als das Kupfer ſelbſt, befreit. Dieſe Operation wird auf
einem Garherde (Fig. 350) vorgenommen, bei welchem a die Herd-
grube, eine halbkugelige Vertiefung bildet und durch eine gußeiſerne
Deckplatte b begrenzt iſt; h iſt eine der beiden Düſen, welche die Luft
aus dem Gebläſe zuführen. Weſentlich vollkommener arbeitet der ſog.
Spleißofen (Fig. 351); A zeigt den Schmelzherd, B den Spleißherd,
t den Feuerungsraum mit dem Roſt für das Brennmaterial und n
iſt die Luftzuführung des Gebläſes.


[589]Das Kupfer.
Figure 341. Fig. 350.

Garherd.


Figure 342. Fig. 351.

Spleißofen.


Ein weſentlich verbeſſerter Ofen zur Röſtung der Kupfererze iſt
der Kupfererz-Doppelofen. Vom Roſt aus ſtreicht die Flamme über den
unteren Herd, geht in einem vertikalen Kanal nach einem darüber-
liegenden Herd und von hieraus zur Eſſe. Die Erze werden
durch die Decke des oberen Herdes eingeſchüttet und durch eine
Krählvorrichtung, welche ihren Antrieb unter dem Herde hat, ge-
wendet. Bei einem ähnlich konſtruierten Ofen iſt die Krählvorrichtung
hohl und dient dazu, Waſſerdampf einſtrömen zu laſſen. Dieſer Waſſer-
dampf zerſetzt ſich in Waſſerſtoff und Sauerſtoff, welche mit dem Arſen
und Antimon flüchtige Verbindungen bilden, wodurch das Kupfer von
dieſen beiden Metallen gereinigt wird. Zugleich wirkt der Dampf
mechaniſch, indem er das geſchmolzene Metall in Wallung erhält und
ſo alle Teile desſelben leichter oxydierbar macht.


H. Schliephacke empfiehlt zur Darſtellung von Kupfer aus Schwefel-
kupfer, in das ſchmelzende Schwefelkupfer überhitzten Waſſerdampf zu
leiten. Hierbei wird dasſelbe unter Bildung von ſchwefliger Säure in
metalliſches Kupfer übergeführt, welches noch einen Reſt Kupferoxydul
enthält. Durch Rühren des geſchmolzenen Kupfers mit Birkenholz
wird auch dieſer Reſt Kupferoxydul zu metalliſchem Kupfer reduziert.
Die Beendigung des Prozeſſes iſt am Verſchwinden der charakteriſtiſchen
Waſſerſtoffflamme erkennbar, da die Zerſetzung des Waſſerdampfes
aufhört, wenn alles Schwefelkupfer in metalliſches Kupfer verwandelt iſt.
Nach W. Gentles wird das Arſen aus dem Kupfer entfernt, indem
man zu dem geſchmolzenen Metall ein Gemiſch von Manganoxyd und
einem Alkali oder einem Alkaliſalz fügt. Als ein ſolches Gemiſch
werden gleiche Teile Mangandioxyd und Natriumkarbonat empfohlen.
Nach F. Garnier ſoll zum Raffinieren von Kupfer dasſelbe in einem
baſiſch gefütterten Ofen mit Kohle und einer baſiſchen Schlacke, beſtehend
aus 70 % Baſe und 30 % Kieſelſäure, ſowie Flußſpat geſchmelzt werden.


Die Gewinnung des Kupfers auf naſſem Wege wird hauptſächlich
dort angewendet, wo wegen Kupferarmut der Erze der trockene Weg
nicht lohnend erſcheint. Die Cementation, welche das ſog. Cement-
kupfer liefert, beſteht darin, daß das Kupfer aus ſeinen Löſungen durch
[590]Die Rohgewinnung der Metalle.
metalliſches Eiſen gefällt wird. Solche Löſungen kommen häufig fertig
gebildet als Grubenwäſſer oder Cementwäſſer vor, und überzieht das
darin enthaltene Kupfer das hineingelegte alte Eiſen mit einer Haut, welche
durch zeitweiliges Bewegen der Eiſenſtücke abgeſtoßen wird (vgl. S. 132).
Das Anhaften an dem Eiſen kann auch durch angebrachte Rührvor-
richtungen überhaupt vermieden werden. Die Erze müſſen für das naſſe
Verfahren erſt inſofern vorbereitet werden, als die Kupferverbindung der-
ſelben in eine lösliche übergeführt werden muß; dies geſchieht — je
nach der Art der Erze — durch Verwittern oder durch Röſten. Die ſo
behandelten Erze werden ausgelaugt, und kann dies ſowohl durch
Waſſer, als auch durch verdünnte Salzſäure, Schwefelſäure, Eiſen-
chlorid, oder Eiſenchlorür haltige Mutterlaugen ꝛc. geſchehen. Aus
dieſen Löſungen wird das Kupfer entweder durch Eiſen — wie
beim Cementkupfer — als metalliſches Kupfer gefällt oder auch mittelſt
Schwefelwaſſerſtoff als Schwefelkupfer und dann weiter verarbeitet.
P. Price empfiehlt, das Kupfer aus der dargeſtellten Löſung durch
fein verteiltes Eiſen zu fällen, wobei ein Dampf- oder Luftſtrom die
Löſung in lebhafte Bewegung verſetzt. Nach H. Doetſch wird das
Kupfer aus ſeinen Erzen durch eine Löſung von Eiſenſulfat gelöſt,
indem man dieſe zu Haufen aufgeſchichteten Erze in gewiſſen Zwiſchen-
räumen mit der genannten Löſung begießt und die abfließende Flüſſig-
keit dann nach einer der vorher angegebenen Methoden weiter auf
Kupfer verarbeitet.


Die elektrolytiſchen Methoden zur Gewinnung des Kupfers, haben
in den letzten Jahren eine hohe Vervollkommnung erreicht, und in
demſelben Maße hat auch ihre praktiſche Verwendung zugenommen.
Dieſe Methoden ſind S. 169 bis 171 näher beſchrieben.


Eigenſchaften. Von den Eigenſchaften des Kupfers iſt beſonders
zu erwähnen, daß es einen ſtarken Glanz und ein ſpezifiſches Gewicht
von 8,9 hat, ſehr ſchweißbar, geſchmeidig und dehnbar iſt; es wird
deshalb zu ſehr feinen Drähten ausgezogen und zu ſehr feinen Blättchen
ausgewalzt oder auch ausgeſchlagen. Ein Draht von nur 2 mm Dicke
zerreißt erſt bei einer Belaſtung von 140 kg. Das Kupfer ſchmilzt
bei 1100° C, und überzieht ſich leicht an der atmoſphäriſchen Luft mit
einer dünnen Schicht von Grünſpan, d. i. kohlenſaures Kupferoxyd.
Es iſt das einzige Metall von roter Farbe und überzieht ſich beim
ſchwachen Erhitzen mit einer roten Schicht von Kupferoxydul, welches
bei ſtärkerem Erhitzen in Oxyd von ſchwarzer Farbe übergeht. Ver-
dünnte Schwefelſäure und organiſche Säuren löſen das Kupfer bei
Luftzutritt langſam, Salpeterſäure und erwärmte, konzentrierte Schwefel-
ſäure ſehr ſchnell auf, Salzſäure hingegen greift es nicht an.


Geſchichtliches. Das Kupfer und auch ein Teil ſeiner Legierungen,
namentlich die Bronze waren ſchon im Altertume bekannt.


Legierungen. Das Kupfer legiert ſich mit den meiſten Metallen
und die am häufigſten verwendeten aller Legierungen ſind in der That
[591]Das Kupfer.
diejenigen des Kupfers. Seine Legierung mit Zink bildet das Meſſing,
mit Zinn das Kanonenmetall, Glockenmetall, Spiegelmetall und
Medaillenbronze. Aus Kupfer, Zinn und Zink beſtehen das
Mannheimer Gold und die Bronze zu Statuen, aus Kupfer, Zink
und Nickel das Argentan, aus Kupfer, Zinn und Antimon das Bri-
tanniametall, welches zuweilen auch noch Zink und Wismut enthält.
Das Minargent, eine neue ſilberähnliche Legierung enthält kein Silber,
ſondern beſteht aus 100 Teilen Kupfer, 70 Teilen Nickel, 5 Teilen
Wolfram und einem Teile Aluminium. Eine goldähnliche Legierung
geben 16 Teile Kupfer, 1 Teil Zink und 7 Teile Platin. O. Mouckel
ändert den Härtegrad des Kupfers nach Belieben durch Zuſatz
wechſelnder Mengen von Chrom. G. Guillemin legiert das Kobalt
mit dem Kupfer, Th. Schaw Aluminium und Phosphor mit demſelben,
um ſeine wünſchenswerten Eigenſchaften zu erhöhen. Das neu dar-
geſtellte „Ferro-Neuſilber“ beſteht aus Eiſen, Nickel und Kupfer oder
hat auch noch einen Zinkzuſatz. Das „Platinoïd“, ein neues Metall,
iſt aus Kupfer, Wolfram, Nickel und Zink zuſammengeſetzt. A. Bauer
ſtellt eine Stahlkompoſition durch Zuſammenſchmelzen von Stahl-
ſpähnen, Kupfer, Queckſilber, Zinn, Blei, Zink und Antimon dar.
H. Schliephacke erzeugt eine Legierung von goldähnlicher, unver-
änderlicher Färbung aus Kupfer, Zink und Schwefelſtrontium; A. Krupp
ein Lagermetall aus Kupfer, Zink und Zinn, dem er für gewiſſe Zwecke
auch Blei zuſetzt. Eine ſäurebeſtändige Bronze ſtellt Débré dar aus
15 Teilen Kupfer, 2,34 Teilen Zink, 1,82 Teilen Blei und einem Teil
Antimon. Nach W. Hampe beſteht der Silicium-Telephondraht (vergl.
S. 241) aus 97,12 % Kupfer, 1,14 % Zinn, 0,05 % Silicium, 1,62 %
Zink und einer Spur Eiſen; das Silicium-Meſſing aus 71,30 % Kupfer,
26,65 % Zink, 0,74 % Blei, 0,57 % Zinn, 0,38 % Eiſen und 0,14 %
Silicium; endlich das Delta-Metall aus 55,94 % Kupfer, 0,72 % Blei,
0,87 % Eiſen, 0,81 % Mangan, 41,61 % Zink, 0,013 % Phosphor
und einer Spur Eiſen. Eine ſchöne Legierung von violetter Farbe
geben gleiche Teile Kupfer und Antimon. Nach L. Dienelt erhält
man eine Legierung von ſehr homogenem Gefüge aus 50 % Kupfer,
6 % Nickel, 10 % Blei, 32 % Zink und 2 % Zinn. Die neue Legierung
„Metallin“ beſteht aus 30 % Kupfer, 35 % Kobalt, 25 % Aluminium
und 10 % Eiſen. Endlich iſt das Kupfer das geeignetſte Metall
zu allen Gold- und Silberlegierungen, da es zu den wenigen Metallen
gehört, welche die Duktilität und Dehnbarkeit der genannten Edel-
metalle nicht beeinträchtigen.


Das Blei.

Vorkommen. Auch das Blei findet ſich nur äußerſt ſelten ge-
diegen, ſondern hauptſächlich in folgenden Erzen: Bleiglanz an
Schwefel gebunden Pb S (P b iſt die Formel für Blei von „plumbum“
[592]Die Rohgewinnung der Metalle.
abgeleitet); Bournonit, auch Spießglanzbleierz genannt, beſteht aus
Blei, Kupfer, Antimon und Schwefel; dieſes Erz wird — wie ſchon
beim Kupfer erwähnt — auf Blei und Kupfer verarbeitet. Weißblei-
erz Pb C O3 d. i. kohlenſaures Blei, auch Ceruſſit genannt. Grünbleierz
iſt phosphorſaures Bleioxyd und Chlorblei 3 (P2 O5, 3 Pb O) + Pb Cl2
wird auch Pyromorphit oder Bleiphosphat genannt. Vitriolbleierz
oder Angleſit iſt ſchwefelſaures Bleioxyd Pb S O4; Mimeteſit iſt arſen-
ſaures Bleioxyd und Chlorblei 3 (As2 O5, 3 Pb O) + Pb Cl2; Gelb-
bleierz iſt molybdänſaures Bleioxyd Pb Mo O4 und endlich Rotbleierz
iſt chromſaures Bleioxyd Pb Cr O4 auch Krokoit genannt.


Darſtellung. Von allen dieſen Erzen iſt für die Gewinnung
des Bleies der Bleiglanz das wichtigſte und dient faſt ausſchließlich
zur Verhüttung, welche nach zwei verſchiedenen Methoden, Niederſchlag-
arbeit und Röſtarbeit genannt, betrieben wird.


Die Gewinnung des Bleies aus dem Bleiglanz beruht auf der
größeren Affinität, welche der Schwefel zum Eiſen, als zum Blei beſitzt.
Derſelbe verbindet ſich nämlich, wenn Schwefelblei mit Eiſen erhitzt
wird, mit dieſem zu Schwefeleiſen, wobei das Blei frei wird:

Man ſtellt zu dieſer Operation Eiſengranalien dar, indem man
geſchmolzenes Roheiſen in Waſſer gießt, mengt dieſe mit dem durch
Ausſchmelzen oder Schlemmen von dem Geſtein getrennten Bleiglanz
und ſchmilzt dies Gemenge in einem Schachtofen nieder. Anſtatt des
metalliſchen Eiſens werden auch Eiſenerze und Eiſenfriſchſchlacken ver-
wendet, deren Sauerſtoff gleichzeitig zur Verbrennung des Schwefels
dient. Das Schmelzen des Gemenges findet in einem ſogenannten
Sumpfofen ſtatt, welchen Fig. 352, 353 und 354
in ſeinen einzelnen Teilen darſtellen. Die mit
Eiſengranalien gemengten Erze werden in den
Ofen B eingetragen, die flüſſigen Produkte
ſammeln ſich ſodann auf dem Sumpfteile C—D,
von dem ein Teil außerhalb des Ofens liegt.
Die Schlacken fließen hier-
bei über eine geneigte
Ebene ab, und die Pro-
dukte werden, ſobald der
Sumpfherd angefüllt iſt,

    • Figure 343. Fig. 352.
    • Figure 344. Fig. 353.
    • Figure 345. Fig. 354.
    Sumpfofen.


[593]Das Blei.
mittels Durchſtoßens einer Öffnung in den tiefer liegenden Stichtiegel E
(Fig. 354) abgelaſſen. Bei O (Fig. 352) führt das Gebläſe in den
Ofen B, und die aus dem Schachte nach der Eſſe T entweichenden Gaſe
müſſen erſt die ſog. „Fluggeſtübbekammern“ in der Richtung der Pfeile
durchſtreichen, in welchen ſich die durch das Gebläſe mit fortgeriſſenen Erz-
teilchen abſetzen. Nachdem der zu Scheiben erſtarrte Bleiſtein abgehoben
iſt, wird das darunter befindliche Blei, — Werkblei genannt —
welches u. a. ca. 3 % Silber enthält, ſpäter weiter auf Silber ver-
arbeitet, wie es beim Silber näher beſchrieben werden ſoll. Bei der
Röſtarbeit, welche in Flammenöfen vorgenommen wird, oxydiert der
Sauerſtoff der atmoſphäriſchen Luft einen Teil des Bleiglanzes zu
Bleioxyd, ſchwefliger Säure und ſchwefelſaurem Blei. Der Sauerſtoff
des entſtandenen Bleioxyds oxydiert den Schwefel im Schwefelblei zu
ſchwefliger Säure, ſo daß ſich (neben freiem Sauerſtoff) metalliſches
Blei bildet:

Die Schwefelſäure des ſchwefelſauren Bleies hingegen bildet mit
dem Schwefel des Schwefelbleies metalliſches Blei und ſchweflige Säure:

Auch hierbei wird, wie bei der Niederſchlagsarbeit ſog. Werkblei
gewonnen, welches noch Silber, Kupfer, Antimon ꝛc. enthält und auch
weiter auf Silber verarbeitet wird.


Ch. Havemann empfiehlt bei Gewinnung des Bleies aus Schwefel-
blei durch Zuſatz von Eiſen anſtatt des bisher verwendeten ſtarren
Eiſens geſchmolzenes zu nehmen. Behufs Reinigung und Entſilberung
des Bleies ſchmilzt G. Lomer dasſelbe in einem Bade flüſſigen Eiſens.
Das geſchmolzene Blei ſinkt in demſelben infolge ſeines höheren ſpezi-
fiſchen Gewichtes unter und wird dabei auf dem Wege zum Boden
des Bades gereinigt. Das Silber ſteigt nach oben und findet ſich in der
oberſten Schicht des Eiſens; gleichzeitig ſchützt das deckende Eiſen das
Blei vor Oxydation. H. H. Schlapp empfiehlt ein ähnliches Verfahren,
indem er anſtatt des Eiſenbades ein Zinkbad anwendet. Zur direkten
und vollſtändigen Entſilberung des Werkbleies wird dasſelbe geſchmelzt,
und in das flüſſige Werkblei wiederholt eine Zinkaluminiumlegierung
eingerührt. Das Aluminium verhindert eine Oxydation des Zinks,
ſodaß die bekannte Zinkſilber-Bildung leichter und ſchneller ſtattfindet.


Auch für die Bleigewinnung iſt in neuerer Zeit die elektrolytiſche
Methode angewendet worden. Nach Keith werden Anodenbleiplatten
in konzentriſchen Kreiſen an einem Träger in weite Bottiche aus
Asphaltcement gehängt, in welchen ſich eine Löſung von ſchwefelſaurem
Blei in eſſigſaurem Natron befindet. Das hierbei ausgeſchiedene Blei
wird durch kreiſende Bürſten abgeſtreift, während die Löſung dadurch
in Bewegung gehalten wird, daß ſie in ein unterirdiſches Syſtem
Das Buch der Erfindungen. 38
[594]Die Rohgewinnung der Metalle.
von Röhren abfließt, aus welchem ſie durch eine Pumpe in die
oberirdiſche Leitung wieder zurückgepumpt wird. Auch iſt zur Entſilberung
des Bleies die Elektrolyſe von F. D. Bottome verwendet worden.
Die Anoden (Eintrittsſtelle des Stromes) werden aus dem zu ent-
ſilbernden Blei angefertigt und in eine Löſung von Ammoniakſalzen
getaucht, welche durch Einleiten von Kohlenſäure mit dieſer ſtets
geſättigt gehalten wird. Durch den elektriſchen Strom wird das Blei
abgeſchieden und fällt als kohlenſaures Blei, während ſich das Silber
auf den Kathoden (Austrittsſtelle des Stromes) abſetzt.


Eigenſchaften. Das Blei iſt ſehr weich und abfärbend, von
bläulich-grauer Farbe, hat ein ſpezifiſches Gewicht von 11,37, iſt
auf der noch nicht oxydierten Fläche ſtark glänzend, überzieht ſich aber
ſchnell, beſonders in feuchter Luft, mit einer dünnen Oxydſchicht, welche
dann das darunter liegende Metall vor weiterer Oxydation ſchützt.
Es iſt hämmerbar, läßt ſich zu dünnen Blättchen auswalzen und zu
Draht ausziehen; es ſchmilzt bei 332°C. und verdampft in der Weiß-
glühhitze. Beim Schmelzen bedeckt ſich das Blei mit einer grauen
Haut, Bleiaſche genannt, welche aus Bleiſuperoxyd beſteht und allmählich
in Bleioxyd übergeht. Hartes Waſſer greift das Blei faſt gar nicht
an, dahingegen weiches Waſſer und beſonders deſtilliertes Waſſer unter
Bildung von Bleihydroxyd, welches giftig iſt; zu Waſſerleitungsröhren
darf das Blei alſo nur für hartes Waſſer verwendet werden. Verdünnte
Salpeterſäure und Eſſigſäure löſen das Blei leicht auf, Salzſäure und
Schwefelſäure hingegen greifen es wenig an.


Geſchichtliches. Das Blei iſt ſchon ſeit den älteſten Zeiten bekannt.


Legierungen. Das Blei legiert ſich mit faſt allen Metallen. So
beſteht z. B. das Schnelllot aus gleichen Teilen Blei und Zinn; das
Metall der Orgelpfeifen aus 96 % Blei und 4 % Zinn; das Zapfen-
lagermetall aus 5½ Teilen Blei, 4 Teilen Zinn und einem Teile
Antimon; die Legierung zu den Schiffsnägeln aus 2 Teilen Blei,
3 Teilen Zinn und einem Teile Antimon; das Kalain der Chineſen,
mit welchem die Theekiſten ausgefüttert werden, beſteht aus 126 Teilen
Blei, 17,5 Teilen Zinn, 1,25 Teilen Kupfer und einer Spur Zink.
Andere Legierungen des Bleies ſind bei dem Kupfer und Antimon
erwähnt, und ſei hier noch eine ganz neue Legierung für Antifriktions-
zwecke genannt, beſtehend aus 36 Teilen Blei, 7 Teilen Antimon,
2,25 Teilen Zinn, 0,115 Teilen Wismut und 0,23 Teilen Graphit,
welchen eventuell noch 0,115 Teile Silber und 0,115 Teile Aluminium
hinzugefügt werden.


Das Zinn.

Vorkommen. Das Zinn, deſſen chemiſche Formel Sn (von
stannum abgeleitet) iſt, findet ſich in der Natur niemals gediegen und
kommt entweder an Sauerſtoff gebunden — SnO2 — als Zinnſtein
auch Stannit und Caſſiterit genannt in England, Böhmen, Sachſen,
[595]Das Zinn.
Oſtindien, Malakka und auf der Inſel Banca vor, oder als Schwefel-
zinn mit anderen Schwefelmetallen verbunden unter dem Namen Zinn-
kies. Der Zinnſtein wird je nach ſeinen Vorkommen im geologiſchen
Sinne Bergzinnerz oder Seifenzinn genannt und enthält in beiden
Fällen außer dem Zinnoxyd noch Schwefel, Arſen, Zink, Eiſen, Kupfer
und andere Metalle. Er findet ſich aber auch in England, in Neu-
Süd-Wales, in Auſtralien ꝛc. als faſt chemiſch reine Zinnſäure. Im
allgemeinen iſt das Seifenzinn ein weit reineres Erz als das Berg-
zinnerz, weil bei erſterem die Umſtände, unter welchen es ſich findet,
bereits eine mechaniſche Scheidung von den Verunreinigungen durch
die Natur bedingen. Der in Sachſen vorkommende Zinnſtein — Zinn-
zwitter genannt — iſt gewöhnlich von Wolfram, Molybdänglanz,
Schwefel- und Arſenkies begleitet.


Darſtellung. Bei der Darſtellung des Zinns, wird das Berg-
zinnerz zuerſt durch Pochen und Schlämmen von der anhängenden
Gangart und dann durch Röſten von dem Schwefel, Arſen und Antimon
befreit. Das ſo vorbereitete Berg-
zinnerz oder reinere Zinnerze direkt
werden in eigenartig konſtruierten,
ca. 3 m hohen Schachtöfen verſchmelzt,
wie Fig. 355 einen ſolchen darſtellt.
Die Erze werden mit Kohle und Zinn-
ſchlacken geſchichtet in den Schacht A
gebracht, deſſen Sohle aus einem
muldenförmig ausgehauenen Boden-
ſtein D beſteht. Das geſchmolzene
und reduzierte Zinn ſammelt ſich auf
dem Vorderherd B, von welchem es
durch eine Durchſtichöffnung nach dem
eiſernen Keſſel C fließen kann; o be-
zeichnet die Einmündung der Düſe des
Gebläſes. Das in C geſammelte re-
duzierte Zinn enthält noch Eiſen und

Figure 346. Fig. 355.

Schachtofen.


Arſen, von welchen es auf einem mit glühenden Kohlen bedeckten Herde
ausgeſaigert wird. Hierbei fließt das reine Zinn, welches zuerſt ſchmilzt,
durch die Kohle und ſammelt ſich auf dem Stichherde, während die
ſtrengflüſſigere Legierung des Zinns und ſeiner Verunreinigungen —
Dörner genannt — in Körnern zurückbleibt. Das ſo gewonnene Zinn
iſt ſehr rein, denn es enthält kaum 0,1 % fremder Metalle und kommt
unter den Namen „Körnerzinn“ in den Handel, während die zurück-
bleibende ſchwer ſchmelzbare Legierung, welche neben dem Zinn haupt-
ſächlich noch Eiſen enthält, nachdem ſie nochmals umgeſchmelzt iſt, als
„Blockzinn“ auf den Markt kommt. In Böhmen und Sachſen führt
das Zinn, je nach der Geſtalt, in welcher es geliefert wird, den Namen
„Stangenzinn“ oder „Rollzinn“; letzteres iſt in dünne Blätter gegoſſen.


38*
[596]Die Rohgewinnung der Metalle.

Das Zuſammenſchmelzen des fein verteilten Zinnes bereitet häufig
Schwierigkeiten, weil die einzelnen Metallpartikel ſich mit einer Oxydul-
ſchicht bedeckt haben, welche das Zuſammenſchmelzen derſelben ver-
hindert. L. Vignon hebt dieſen Mißſtand auf, indem er dem zu
ſchmelzenden Zinn eins der beim Verzinnen oder Löten gebräuchlichen
Mittel, wie Chlorzink, Salmiak, Harz ꝛc. hinzuſetzt. Durch Chlorzink
oder Salmiak wird das die Metallpartikel überziehende Zinnoxydul in
Chlorzinn übergeführt, während dasſelbe durch das Harz zu metalliſchem
Zinn reduziert wird. Zur Gewinnung des Zinns aus den Zinn-
ſchlacken wendet J. Shears die Elektrolyſe an. Man ſchmelzt die
Schlacken mit einem Alkali oder Alkalikarbonat und laugt die ge-
ſchmolzene Maſſe mit Waſſer aus. Beim Dekantieren der Löſung
bildet ſich ein Bodenſatz, welcher auf Nickel, Kobalt und Eiſen weiter
behandelt werden kann, während ſich aus der Löſung ſelbſt beim Elek-
trolyſieren in eiſernen Behältern das Zinn ausſcheidet. Das hierbei
verwendete Alkali wird aus der Löſung mittels Fällen durch Kalkmilch,
Kieſelerde und Thonerde wiedergewonnen und etwa vorhanden geweſenes
Wolfram kryſtalliſiert beim Verdampfen der Alkalilöſung heraus.


Eigenſchaften. Das Zinn iſt ein weiches Metall und nur etwas
härter als Blei, es ſchmilzt bei 230°C. und kryſtalliſiert beim Erſtarren.
Dieſe Kryſtalle reiben ſich beim Biegen einer Zinnſtange, wodurch ein
eigentümliches Geräuſch — das Zinngeſchrei genannt — entſteht. Erhitzt
man verzinntes Weißblech, kühlt es dann ſchnell in Waſſer ab und ätzt
es hierauf mit verdünnter Säure, ſo werden dieſe Kryſtalle den Eis-
blumen am Fenſter ähnlich ſichtbar (moiré métallique). Das Zinn
hat eine ſilberweiße Farbe von ſtarkem Glanz und verändert ſich an
der Luft und im Waſſer nicht. Längere Zeit an der Luft geſchmolzen,
überzieht es ſich mit einer grauen Haut, der Zinnaſche, und verbrennt
in der Weißglühhitze mit heller, weißer Flamme zu Zinnoxyd. Es iſt
ſehr geſchmeidig und läßt ſich zu dünnen Blättchen — Stanniol —
auswalzen, wird aber bei 200° ſpröde und zerfällt auch der Kälte aus-
geſetzt in ein grobkörniges, kryſtalliniſches Pulver. Salzſäure und
konzentrierte Schwefelſäure löſen es auf; Salpeterſäure oxydiert es zu
Zinnoxyd, welches in Salpeterſäure unlöslich iſt und als weißes Pulver
zu Boden fällt. Sein ſpezifiſches Gewicht iſt 7,28.


Geſchichtliches. Das Zinn iſt ſchon ſeit den älteſten Zeiten
bekannt.


Legierungen. Das Zinn wird viel mit Blei legiert (ſiehe dieſes)
um die Härte beider Metalle zu erhöhen. Mit Zink legiert, verarbeitet
man es zu dem unechten Blattſilber; Britanniametall beſteht aus 90 %
Zinn und 10 % Antimon, häufig hat es auch noch einen Kupferzuſatz,
und ſind die zahlreichen Legierungen des Zinns mit dem Kupfer bei
letzterem Metalle erwähnt. Das Tombak-Metall beſteht aus 87,5 %
Zinn, 5,5 % Nickel, 5 % Antimon und 22 % Wismut; dieſem ſehr ähn-
lich iſt das Warneſche Metall. Es werden auch Legierungen von Zinn,
[597]Das Zinn. — Das Wismut.
Chrom und Kupfer dargeſtellt, und als vorzügliches Metall für Lager
aller ſich ſchnell drehenden Wellen eine Legierung von Zinn und
Mangan.


Das Wismut.

Vorkommen. Das Wismut, deſſen chemiſche Formel Bi (von
Bismuthum abgeleitet) iſt, findet ſich ſehr ſelten und zwar im Erz-
gebirge, in Peru, Auſtralien, meiſt gediegen, auch kommt es mit Sauer-
ſtoff verbunden als Wismutocker BiO3 und mit Schwefel als Wismut-
glanz BiS3 und als Wismutkupfererz vor.


Darſtellung. Die Gewinnung iſt ſehr einfach, da es gediegen
nur von ſeiner Gangart durch Schmelzen — Ausſaigern genannt —
getrennt zu werden braucht, und das bietet bei ſeinem niedrigen Schmelz-
punkt (264°C.) keine Schwierigkeiten. Die Wismuterze werden mög-
lichſt gut von der Gangart befreit, zerkleinert und in die ſchräg liegende
gußeiſerne Röhre A (Fig. 356) gebracht. Durch die Flammen des

Figure 347. Fig. 356.

Wismutſaigerofen.


darunter liegenden Herdes wird das Wismut geſchmelzt und fließt
in die eiſernen Näpfe B, welche gleichfalls von unten erwärmt werden,
und in welchen ſich Kohlepulver befindet, wodurch das Wismut
vor Oxydation geſchützt wird. D iſt ein mit Waſſer gefüllter Kaſten,
in welchen die aus A mit der Krücke herausgezogenen, zurückbleibenden
Erze fallen. Auch bei der Verarbeitung der ſog. Kobaltſpeiſe, wie
aus der Glätte und Teſtaſche beim Silberfeinbrennen (hier auf naſſem
Wege) wird das Wismut als Nebenprodukt gewonnen. Wo das Wismut
mit Kupfer verunreinigt iſt, ſchmelzt man es mit Schwefelwismut
zuſammen, wobei ſich das Kupfer als Schwefelkupfer ausſcheidet. Da
hierzu eine ziemlich hohe Temperatur erforderlich iſt, ſo empfiehlt
Matthey zur Ausſcheidung des Kupfers mehrmals Schwefelnatrium hinzu-
zuſetzen und das Gemenge durchzurühren. Hierbei bildet ſich gleichfalls
Schwefelkupfer und ſcheidet ſich aus.


[598]Die Rohgewinnung der Metalle.

Eigenſchaften. Das Wismut hat eine rötlich-weiße Farbe, ſtarken
Glanz, große Härte und iſt ſo ſpröde, daß es gepulvert werden kann.
Es ſchmilzt — wie bereits geſagt — bei 264°C und erſtarrt wieder
mit bedeutender Volumvergrößerung bei 242°C. Von Salpeterſäure
und Königswaſſer wird es leicht aufgelöſt; ſein ſpezifiſches Gewicht
iſt 9,79.


Geſchichtliches. Das Wismut iſt ſeit dem fünfzehnten Jahr-
hundert bekannt, wurde aber erſt 1739 von Pott näher ſtudiert.


Legierungen. Das Wismut giebt mit anderen Metallen ſehr
leicht ſchmelzbare Legierungen; ſo ſchmilzt das Roſeſche Metall, be-
ſtehend aus zwei Teilen Wismut, einem Teile Blei und einem Teile Zinn,
ſchon bei 94°C und ein Zuſatz von Kadmium giebt Woods Metall,
das ſchon bei 70°C ſchmilzt. In neuerer Zeit ſind zahlreiche ähnliche
Legierungen zuſammengeſetzt worden, aber ihr Schmelzpunkt liegt nicht
oder doch wenigſtens nicht weſenlich unter 70°C


Das Zink.

Vorkommen. Das Zink (chemiſche Formel Zn) findet ſich in der
Natur niemals gediegen. Es kommt als kohlenſaures Zink ZnCO3
Galmei oder Zinkſpat genannt und als Kieſelzinkerz, d. i. eine Verbindung
der Kieſelſäure mit dem Zink und Waſſer Zn2SiO4, H2O in Weſt-
falen vor, ebenſo als Zinkblende ZnS, und ſchließlich findet es ſich
als Rotzinkerz d. i. ein durch Mangan rötlich gefärbtes Zinkoxyd und
als Gahnit d. i. eine Verbindung des Zinks mit dem Aluminium und
Sauerſtoff in manchen Fahlerzen.


Darſtellung. Zur Gewinnung des Zinks werden der Zinkſpat
oder die Zinkblende geröſtet, wobei ſich Zinkoxyd bildet. Dieſes wird
durch Erhitzen mit Kohle zu Metall reduziert, welches ſich verflüchtigt,
und in Vorlagen kondenſiert, aufgefangen wird. Schleſien, Belgien und
England nehmen dieſes Erhitzen bez. Deſtillieren nach drei verſchiedenen
Methoden vor.


In Oberſchleſien, Stolberg bei Aachen und in Weſtfalen geſchieht
die Reduktion und Deſtillation des Zinks in muffelähnlichen Deſtillations-
gefäßen aus feuerfeſtem Thon, wie ſie Fig. 357 in der äußeren Anſicht
und Fig. 358 im Längsſchnitt zeigen. Dieſe Muffeln haben an der
Stirnwand zwei Öffnungen a und b, von denen a — während der
Deſtillation geſchloſſen — dazu dient, nach beendetem Verfahren die
Deſtillationsrückſtände zu entfernen. Bei b mündet ein knieförmiges
Rohr, durch welches die Zinkdämpfe ſtreichen und in welchem ſie ſich
kondenſieren, ſodaß das flüſſige Zink bei d abtropft. Am Knie dieſes
Rohres iſt bei c eine Öffnung angebracht, welche zur Beſchickung der
Muffel dient, und welche während der Deſtillation gleichfalls geſchloſſen
iſt. Bis 20 ſolcher Muffeln werden in einen Muffelofen (Fig. 359) ſo
eingeſchoben, daß ſie von der Flamme ſo viel als möglich umſpielt
[599]Das Zink.
werden können und t t zeigen die Räume dieſes Ofens, in welchen das
aus den Muffeln bei d abtropfende flüſſige Zink aufgefangen wird.
So lange der Ofen im Anfang der Operation noch ſehr kühl iſt, ver-
dichten ſich die Zinkdämpfe — ohne flüſſig zu werden — ſofort zu
feſtem, fein verteiltem Zink, Zinkſtaub oder Zinkrauch genannt. Das

Figure 348. Fig. 357.

Muffel.


Figure 349. Fig. 358.

Muffel (Läugsſchnitt).


Figure 350. Fig. 359.

Muffelofen.


Tropfzink wird zuſammengeſchmelzt und in Form von Tafeln als
„Werkzink“ in den Handel gebracht. Das das Zink faſt ſtets begleitende
Kadmium befindet ſich im erſten ſich bildenden Zinkoxyd als Kadmium-
oxyd und wird weiter auf Kadmium verarbeitet.


Bei der belgiſchen, auf der Vieille montagne angewendeten Methode,
wird der Galmei in cylindriſche Thonröhren gebracht, welche ca. 1 m
lang ſind, eine lichte Weite von 18 cm haben und an einer Seite ge-
ſchloſſen ſind, wie es Fig. 360 zeigt. An dem
offenen Ende der beſchickten Röhre wird eine
koniſche, 25 cm lange Anſatzröhre von Gußeiſen
befeſtigt, und auf dieſe endlich eine engere, gleich-

Figure 351. Fig. 360.

Deſtillationsröhre.


falls koniſche 20 cm lange Röhre aus Eiſenblech, welche inwendig mit
Lehm ausgefüttert iſt, geſchoben. Dieſe Deſtillierröhren werden mit
dem geſchloſſenen Ende in 8 Reihen etwas geneigt im Innern des
Deſtillationsofen, von dem Fig. 361 einen Vertikalſchnitt zeigt, befeſtigt.
Dieſelben ruhen auf an der Mauer b d angebrachten acht Bänken und
werden hier von dem Feuer umſpielt. Das in denſelben verdampfende
Zink kondenſiert ſich in den koniſchen Anſätzen wieder und wird aus
dem vorderſten derſelben von Zeit zu Zeit abgelaſſen.


In England läßt man die Zinkdämpfe direkt nach unten deſtillieren.
Man beſchickt die aus feuerfeſtem Thon geformten 1,5 m hohen Tiegel c
(Fig. 362) und bringt ſie in einen Reduktionsofen, deſſen Herd mit einer
Wölbung verſehen iſt. Dieſe Wölbung iſt durchlöchert, ſo daß man
durch dieſe Löcher zu den Tiegeln gelangen kann. Auch die Tiegel
bleiben ſolange geöffnet, bis man die beginnende Reduktion an einer
Blaufärbung der Flamme erkennt, was ungefähr nach zwei Stunden
der Fall iſt. Die Tiegel c haben in der Mitte des Bodens eine
Öffnung, welche beim Beſchicken derſelben durch einen Holzpfropfen ver-
[600]Die Rohgewinnung der Metalle.
ſchloſſen iſt, und in welche von unten die Abtropfröhre t geſteckt wird.
Dieſe Holzpfropfen brennen während der Operation fort und das
deſtillierende Zink tropft durch die Abtropfröhren in ein darunter
ſtehendes Gefäß, welches teilweiſe mit Waſſer angefüllt iſt, um das Ver-

Figure 352. Fig. 361.

Zinkdeſtillationsofen (Vertikalſchnitt).


ſpritzen der herabfallenden Zinktropfen
zu verhüten. Hier ſammelt ſich das
deſtillierende Zink als feines Pulver
mit Zinkoxyd gemengt und wird in
eiſernen Gefäßen umgeſchmelzt, wobei
ſich das Zinkoxyd an der Oberfläche ab-
ſcheidet und abgeſchöpft werden kann.

Figure 353. Fig. 362.

Engliſcher Zinkdeſtillierofen


Das vorher beſchriebene Siemensſche Syſtem der Gasfeuerung
wird jetzt auch viel bei der Zinkfabrikation und zwar mit großem Erfolge
verwendet.


Die Zinkblende konnte nach dem Röſten — wie vorher geſagt —
wie der Galmei nach einer der drei ſoeben beſchriebenen Methoden ver-
arbeitet werden, man kann ſie aber auch — und zwar ſehr vorteilhaft
— direkt verarbeiten. Zu dieſem Zwecke werden der Zinkblende ge-
brannter Kalk und hinreichende Mengen ganz waſſer- und kohlenſäure-
freier Eiſenerze zugeſetzt. Das Eiſen entſchwefelt die Zinkblende voll-
kommen und das freiwerdende Zink kann nicht wieder oxydiert werden,
da weder Sauerſtoff noch ſauerſtoffabgebende Subſtanzen vorhanden ſind.
Auch werden anſtatt der Eiſenerze direkt Roh- und Schmiedeeiſen ver-
wendet. Nach Swindell wird die Zinkblende mit Kochſalz geröſtet und
das ſich hierbei bildende Glauberſalz und Chlorzink gelöſt. Aus dieſer
Flüſſigkeit kryſtalliſiert das Glauberſalz zuerſt heraus, und das Zink
wird durch Kalk als Zinkoxyd niedergeſchlagen und nach dem Trocknen
[601]Das Zink.
auf gewöhnliche Weiſe reduziert. Arſenfreies Zink ſtellt Fr. Stolba
dar, indem er aus einem innigen Gemenge von gebranntem Gips,
Schwefel und Waſſer, geformte und an Stöcken befeſtigte Kugeln im
ſchmelzenden Metall bis auf den Boden der Schmelztiegel verſenkt. Es
entwickeln ſich dann alsbald große Mengen von Schwefel- und Waſſer-
dämpfen, welche das flüſſige Metall in lebhafte Bewegung bringen.
Bei eventueller Wiederholung dieſer Operation geht alles Arſen und
der größte Teil des Bleies und Eiſens in die Schlacke. L’Hote ſetzt
zu demſelben Zwecke dem geſchmolzenen Metall 1 bis 1,5 % waſſer-
freies Magneſiumchlorid hinzu. Hierbei entweichen weiße Dämpfe von
Chlorzink, welche alles Arſen und auch das allerdings ſeltener vor-
kommende Antimon mitnehmen. L. v. Neuendahl gewinnt Zink und Blei
gleichzeitig, indem er die betreffenden Erze in einem mit Generatoren-
gas geheizten Schachtofen ſchmelzt. Hierbei fließt das geſchmolzene Blei
in den Thonrinnen ab, welche auf der geneigten Sohle liegen, während
die Zinkdämpfe durch die Gicht entweichen und von hier aus nach
einem der vorher beſchriebenen Kondenſations-Syſtemen geleitet werden.
Hampe trennt das Zink von anderen Metallen, indem er die Metalle
in ameiſenſaure Salze überführt und die Löſung derſelben mit Schwefel-
waſſerſtoff behandelt, wobei nur das Zink als Schwefelzink gefällt
wird, wenn die Löſung eine genügende Menge freier Ameiſenſäure
enthält.


Nach Ch. H. Murray wird zur Deſtillation des Zinks aus ſeinen
Erzen durch dieſe unter Druck erhitzter Waſſerdampf geleitet, wodurch
unter Mitwirkung einer hohen Temperatur die Erze reduziert werden,
und das Zink überdeſtilliert. Nach M. Weſtmann werden die Zinkerze
in einer Miſchung mit Kohle der Einwirkung von hoch erhitztem Kohlen-
oxyd unterworfen. Hierauf wird das reduzierte Zink von dem aus-
tretenden Kohlenoxyd durch Kondenſation getrennt. Zur Gewinnung
von reinem Zink auf naſſem Wege werden die Erze nach Ch. F. Croſelmire
gepulvert und im Ofen im Gebläſewind geröſtet. Hierauf werden ſie
mit verdünnter Säure übergoſſen und die Verunreinigungen durch
hineingepreßte Luft oxydiert; aus der darauf abgelaſſenen Zinklöſung
wird dann das Zink gefällt. Ed. Walsh führt den Zinkdämpfen, wo
ſie mit oxydierend wirkenden Gaſen gemiſcht ſind, um das Zink vor der
Oxydation zu ſchützen, kontinuierlich eine Schicht Kohle entgegen, welche
bei der Berührungsſtelle mit den Gaſen auf 815°C erhitzt iſt. Am
anderen Ende der Kohlenſchicht, wo die Gaſe und Zinkdämpfe dieſelben
verlaſſen, iſt die Temperatur ſo niedrig, daß letztere kondenſiert werden
und das Zink hier geſchmolzen abfließt. Zur mechaniſchen Trennung der
im Grünſtein vorkommenden Zinkblende von ihrem Nebengeſtein, benutzt
man neuerdings den Unterſchied zwiſchen der Kohäſion der Blende und der
Kohäſion des Grünſteins. Dieſer Unterſchied ermöglicht es beim Quetſchen
die Blende in Mehl von weit geringerer Korngröße zu zerkleinern, als
den ſie begleitenden Grünſtein. Mittels eines Siebes von 0,5 qmm
[602]Die Rohgewinnung der Metalle.
Maſchenweite wird nun die Blende vom Nebengeſtein getrennt, um un-
mittelbar geröſtet und auf Zink verarbeitet zu werden.


Wie für die allermeiſten Metalle, ſo wird in neuerer Zeit auch
zur Gewinnung des Zinks die elektrolytiſche Methode vielfach ver-
wendet. So werden nach R. P. Herrmann die Zinkerze in Mineral-
ſäuren gelöſt, die Löſung dann mit einem Alkali- oder Erdalkaliſalz
verſetzt und das ſich hierbei bildende Doppelſalz durch den elektriſchen
Strom zerlegt. M. Kiliani digeriert eine mit Ammoniakkarbonat ver-
ſetzte Ammoniaklöſung oder auch eine Ätznatron- oder Ätzkali-Löſung
mit den Zinkerzen in mit Blei ausgekleideten Holzbottichen. In dieſen
Bottichen ſättigt ſich die Löſung mit Zink und fließt von hier durch
Filter in ein Reſervoir, aus dem ſie kontinuierlich in die einzelnen
Elektrolyſierkäſten geleitet wird. Hier ſcheidet der elektriſche Strom auf
der aus Zink oder Meſſing beſtehenden Kathode metalliſches Zink ab,
während ſich an der aus Eiſenblech beſtehenden Anode Sauerſtoff
entwickelt. Die aus den Elektrolyſierkäſten abfließende Lauge wird
wieder in die mit den Zinkerzen gefüllten Sättigungskäſten zurück-
gepumpt. Lea und Hammond elektrolyſieren eine Zinkchloridlöſung,
welche ſie durch Löſen von Zinkerzen in Salzſäure oder in einer
wäſſrigen Chlorlöſung dargeſtellt haben. A. Watt verwendet als
Elektrolyt Pflanzenſäure, namentlich Eſſigſäure, mit welcher er die
Zinkerze auslaugt, bez. in welcher er rohes Zink, welches gereinigt
werden ſoll, löſt. Um rohes Zink zu reinigen, benutzt er dasſelbe als
Anode und reines Zink als Kathode. Ch. A. Burghardt trägt Zink-
oxyd oder geröſtete Zinkerze, welche mit 3 bis 4 % Kohle gemiſcht ſind,
allmählich in geſchmolzenes Ätznatron ein und erhitzt die Maſſe unter
Umrühren längere Zeit. Die ſo dargeſtellte Zinkatlöſung wird durch
den elektriſchen Strom elektrolyſiert, wobei die Anoden aus Eiſenblech
und die von dieſen durch poröſe Scheidewände getrennten Kathoden
aus Zink- bez. Zinnblechen beſtehen. Lange und Koßmann endlich
behandeln die geröſteten Zinkerze mit ſchwefliger Säure und Waſſer,
und elektrolyſieren die ſo erhaltene Zinkſulfitlöſung. Hierbei ſchlägt
ſich das metalliſche Zink nieder, während der frei werdende Sauerſtoff
die ſchweflige Säure zu Schwefelſäure oxydiert.


Eigenſchaften. Das Zink hat eine bläulich-weiße Farbe und
einen ſtarken Metallglanz, der ſich an der atmoſphäriſchen Luft verliert,
indem ſich das Zink mit einer weißen, aus kohlenſaurem Zinkoxyd
beſtehenden Schicht überzieht. Dieſe Schicht ſchützt aber das darunter
liegende Metall vor weiterer Oxydation. Das Zink ſchmilzt bei
412°C. und iſt bei gewöhnlicher Temperatur ſpröde, zwiſchen 100 und
150°C. wird es dehnbar, bei 200°C. aber wieder ſo ſpröde, daß es
im Mörſer gepulvert werden kann. In ſtarker Glühhitze verdampft
es und ſeine Dämpfe brennen mit bläulich-weißer Farbe; gegoſſen hat
es ein kryſtalliniſches, großblättriges Gefüge. Es iſt etwas härter als
das Silber, aber weniger hart als Kupfer; ſein ſpezifiſches Gewicht
[603]Das Zink. — Das Kadmium.
iſt 7,1, kann aber durch Hämmern und Walzen bis auf 7,3 erhöht
werden. In verdünnten Säuren löſt ſich das Zink auf und zwar um
ſo leichter, je mehr es durch fremde Metalle verunreinigt iſt. Das
käufliche deſtillierte Zink iſt niemals ganz eiſenfrei und dieſer Eiſen-
gehalt modifiziert ſeine Eigenſchaften bedeutend. L’Hôte ſtellt eiſen-
freies Zink dar durch Deſtillation eines Gemenges von reinem gefällten
Zinkoxyd mit gebranntem Kienruß. Das ſo erhaltene Zink entwickelt
ſelbſt bei anhaltendem Sieden mit Waſſer keinen Waſſerſtoff und wird
von verdünnter Schwefelſäure nicht angegriffen. Rührt man aber
das ſo rein dargeſtellte Zink nur mit einem Eiſenſtab um, wodurch es
0,0003 bis 0,0005 % Eiſen aufnimmt, ſo zerſetzt es bereits Waſſer in
der Siedehitze unter Entwickelung von Waſſerſtoff und wird auch von
verdünnter Schwefelſäure angegriffen. Ebenſo verhält ſich reines Zink,
ſobald es nur mit ganz geringen Mengen Arſen oder Antimon legiert
wird. Ein geringer Bleigehalt bis 0,5 % macht das Zink geſchmeidiger,
aber ſchon 0,25 % Blei machen es zur Meſſingfabrikation ſehr ungeeignet,
da die Feſtigkeit des Meſſings mit dem Bleigehalt ſehr abnimmt.


Geſchichtliches. Schon die alten Griechen verwandten den
Galmei zur Bereitung des Meſſings. Das erſte metalliſche Zink
ſcheint aus dem Orient nach Europa gekommen zu ſein und wird in
Europa erſt ſeit dem achtzehnten Jahrhundert dargeſtellt.


Legierungen. Durch Legierungen des Zinks mit Arſen, oder
auch mit Arſen und Phosphor wird der Schmelzpunkt des Zinks
weſentlich erhöht. 5 % Arſenzuſatz zum Zink ermöglichen auch eine
18 % ige Eiſenlegierung, während bisher höchſtens 10 % Eiſen mit dem
Zink legiert werden konnten; auch Phosphor hat eine ähnliche Wirkung.
Zahlreiche andere Legierungen des Zinks ſind bei dem Kupfer genannt.


Das Kadmium.

Vorkommen. Das Kadmium (chemiſche Formel Cd) iſt ein faſt
ſteter Begleiter des Zinks und findet ſich in den Zinkerzen beſonders
im Galmei und in der Zinkblende.


Darſtellung. Es iſt auch flüchtig, wie das Zink, verdampft
aber ſchon bei niedrigerer Temperatur, ſo daß es alſo mit den erſten
Zinkdämpfen, bei der Deſtillation desſelben übergeht. Der hierbei ſich
bildende bräunliche Rauch enthält neben kohlenſaurem Zink das
Kadmium und dient zur Darſtellung des letzteren. Nachdem der
Rauch wieder zu Metall kondenſiert iſt, wird dasſelbe in kleinen, guß-
eiſernen, cylindriſchen Retorten mittels Holzkohle reduziert und in
einem koniſchen, aus Eiſenblech beſtehenden Vorſtoße dieſer Retorten
aufgefangen. Das hier kondenſierte Kadmium wird in fingerdicken,
kleinen Stangen in den Handel gebracht. Auch auf naſſem Wege wird
das Kadmium aus kadmiumhaltigem Zink durch Behandlung desſelben
mit Salzſäure gewonnen. Hierbei löſt ſich das Zink auf und das
[604]Die Rohgewinnung der Metalle.
Kadmium kann, ſo lange Zink im Überſchuß vorhanden iſt, ausgefällt
werden.


Eigenſchaften. Das Cadmium iſt von weißer Farbe und
ſtarkem Glanze, den es aber an der Luft nach einiger Zeit verliert.
Es iſt dehnbar, hämmerbar, ſchmilzt bei 360°C. und ſiedet bei 860°C.
Seine Dämpfe verbrennen mit brauner Flamme zu braunem Kadmium-
oxyd. Sein ſpezifiſches Gewicht iſt 8,6.


Legierungen. Mit Blei, Zinn und Wismut bildet es eine
Legierung, Woods Legierung genannt, deren Schmelzpunkt weſentlich
niedriger liegt, als der des Kadmiums, denn eine ſolche Legierung,
beſtehend aus 3 Teilen Kadmium, 4 Teilen Zinn, 15 Teilen Wismut
und 8 Teilen Blei, ſchmilzt ſchon bei 70°C. Eine andere Legierung
des Kadmiums, beſtehend aus 50 Teilen Blei, 36 Teilen Zinn und
22,5 Teilen Kadmium, liefert das Metall zur Darſtellung der Clichés.


Geſchichtliches. 1818 wurde das Kadmium von Stromeyer
und Hermann gleichzeitig entdeckt.


Das Antimon.

Vorkommen. Das Antimon, deſſen chemiſche Formel (von
stibium abgeleitet) Sb iſt, findet ſich — wenn auch ſelten — gediegen.
Häufiger kommt es mit Schwefel verbunden als Antimonglanz oder
Grauſpießglanzerz Sb2 S3 und auch mit Sauerſtoff Sb2 O3 als Valentinit
und Senarmontit vor.


Darſtellung. Man gewinnt das Antimon hauptſächlich aus
dem Grauſpießglanzerz und trennt es von ſeiner Gangart durch den
Saigerprozeß, da es viel leichter ſchmelzbar iſt, als das begleitende
Geſtein. Zu dieſem Zwecke wird es mit dem Geſtein in Tiegeln erhitzt,
deren Boden durchlöchert iſt, und welche zwiſchen zwei mit Zuglöchern
verſehenen Mauern ſtehen. Fig. 363 zeigt dieſe Anordnung, bei welcher
unter dem Schmelztiegel b ein kleinerer Tiegel c ſteht, um das aus dem
durchlöcherten Boden des Tiegels b ausfließende Schwefelantimon auf-

Figure 354. Fig. 363.

Antimonſchmelzofen.


Figure 355. Fig. 364.

Antimonſchmelzofen (Vertikalſchnitt)


[605]Das Antimon.
zufangen. Dieſer kleinere Tiegel c iſt mit heißem Sande oder heißer Aſche
umgeben. Rationeller wird das Brennmaterial in einem, in Fig. 364
im Vertikalſchnitt dargeſtellten, vollſtändig ummauerten Ofen ausgenutzt.
Hierbei werden die größeren Tiegel, welche mit dem Erze beſchickt ſind,
auf dem Herde eines Flammenofens von der Flamme vollſtändig
beſtrichen, während die unteren
kleineren Tiegel, mit den Böden
der oberen durch Thonröhren ver-
bunden, außerhalb des Feuers in
der Außenwand des Ofens ſtehen.
Am rationellſten aber geſchieht die
Ausſaigerung direkt auf dem Herde
eines Flammenofens (Fig. 365),
von deſſen tiefſtem Punkte eine Ab-
flußröhre e nach dem außerhalb
des Ofens ſtehenden Gefäße f führt,

Figure 356. Fig. 365.

Flammenofen.


durch welche nach beendetem Schmelzen das flüſſige Schwefelantimon
abfließen kann.


Aus dem ſo gewonnenen Schwefelantimon, welches auch direkt
unter dem Namen „Antimonicum crudum“ in den Handel kommt,
wird das metalliſche Antimon gewonnen, indem man es röſtet und
mit Kohle oder Soda reduziert. Nach A. J. Shannon werden die
Erze mit Brennſtoff gemiſcht und in einem mit feuerfeſtem Thon
gefütterten Schachtofen mit ſtark wirkendem Gebläſe erhitzt. Das
hierbei gebildete Oxyd wird in Zügen oder Kondenſatoren geſammelt,
mit einem reduzierend wirkenden Agens gemiſcht und in einem Flammen-
ofen geſchmelzt. Sehr einfach iſt auch das Verfahren, den Schwefel
durch Eiſen zu entfernen, wobei ſich Schwefeleiſen bildet:

Nach H. Borchers kann das Antimon auch auf elektrolytiſchem
Wege gewonnen werden. Es wird hierbei Schwefelnatrium von ganz
beſtimmtem Gehalt als Löſungsmittel verwendet, für welches das
Grauſpießglanzerz das geeignetſte Antimonerz iſt. Die aus Eiſen
beſtehenden Zerſetzungszellen werden gleichzeitig als Kathode benutzt
und können zur Vergrößerung der Kathodenfläche noch eiſerne Platten
eingehängt werden. Als Anoden dienen iſoliert eingeſtellte Bleipatten.
Das Antimon wird hierbei je nach der Stromſtärke pulverförmig oder
ſchuppenförmig erhalten und dann zuſammengeſchmelzt.


Eigenſchaften. Das Antimon iſt ein großblätteriges Metall
von glänzend bläulich-weißer Farbe, deſſen kryſtalliniſche Struktur man
auf den im Handel vorkommenden Broten als farnkrautähnliche Figuren
ſehen kann. Es hat ein ſpezifiſches Gewicht von 6,7, iſt ſehr ſpröde
und läßt ſich leicht pulvern. Es ſchmilzt bei 450°C., oxydiert ſich
bei gewöhnlicher Temperatur nicht, bildet aber, an der Luft erhitzt, einen
[606]Die Rohgewinnung der Metalle.
ſtarken weißen Rauch von Antimonoxyd. Salzſäure und Schwefel-
ſäure greifen es nur in der Wärme an, Salpeterſäure oxydiert es zu
in Salpeterſäure unlöslichen Oxyden und Königswaſſer endlich löſt
es auf.


Legierungen. Zu Legierungen verwendet, macht das Antimon
die Metalle glänzender, härter und ſpröder. Das Metall der Buch-
druckerlettern — Schriftgießermetall genannt — beſteht aus 80 % Blei
und 20 % Antimon, und nimmt die Härte des ſog. Hartbleies über-
haupt mit ſeinem Antimongehalt zu. Das ſog. Britanniametall beſteht
aus 10 % Antimon und 90 % Zinn, das Pewtermetall aus 89,3 % Zinn,
7,1 % Antimon, 1,8 % Kupfer und 1,8 % Wismut, das Métal argentin
aus 85,5 % Zinn und 14,5 % Antimon. Eine in England viel zu
Lagermetall für Lokomotiven ꝛc. verwendete Legierung beſteht aus
77,8 % Zinn, 19,4 % Antimon und 2,8 % Zink, ferner gilt als Surrogat
für Neuſilber eine Legierung von 5,5 % Antimon, 5 % Nickel, 2 % Wis-
mut und 87,5 % Zinn. Zum Ausfüllen kleinerer Löcher und ſchlechter
Stellen im Gußeiſen, wird eine Legierung von 9 Teilen Blei, 2 Teilen
Antimon und 2 Teilen Wismut verwendet, da dieſelbe die Eigenſchaft
hat, ſich beim Erkalten auszudehnen. Als Magnolia-Lagermetall be-
findet ſich eine Legierung von 78 % Blei, 16 % Antimon und 6 % Zinn
im Handel, dieſelbe ſchmilzt bei 340°C, fließt gut und füllt die Formen
gut aus. Endlich wird als Lötzinn eine Legierung von 0,5 % Kupfer,
7 % Antimon, 24,5 % Zinn und 68 % Blei hergeſtellt.


Geſchichtliches. Schon die Alten ſcheinen einige Verbindungen
des Antimons gekannt zu haben, das Metall ſelbſt wurde aber erſt im
15. Jahrhundert von Baſilius Valentinus beſchrieben. Prouſt und
Berzelius haben die Verbindungen des Antimons näher kennen gelehrt.


Das Arſen.

Vorkommen. Das Arſen (chemiſche Formel As) findet ſich ge-
diegen als Scherbenkobalt, meiſt jedoch in Verbindung mit anderen
Elementen wie im Arſenkies Fe As S, Arſenikalkies Fe2 As3, Realgar As S,
Auripigment As2 S3, Speiskobalt Co As2, Glanzkobalt Co As S, Kupfer-
nickel Ni As, in den Fahlerzen und als Beimengung vieler anderer Erze.


Darſtellung. Das im Handel vorkommende Arſen iſt entweder
direkt Scherbenkobalt oder aus dem Arſenkies und dem Arſenikalkies
durch Sublimation dargeſtellt. Der Arſenkies wird zur Gewinnung
des Arſens in thönernen Röhren erhitzt und das übergehende Metall
in Vorlagen aufgefangen. So dargeſtellt führt es im Handel den
Namen Fliegenſtein. Reines Arſen gewinnt man durch Sublimation
eines innigen Gemenges arſeniger Säure (As2 O3) mit Kohle, wobei
dieſe unter Bildung von Kohlenoxyd zu Arſen reduziert wird.


[607]Das Arſen. — Das Mangan.

Eigenſchaften. Das Arſen iſt ſpröde, ſtahlgrau und glänzend;
ſein ſpezifiſches Gewicht iſt 5,6. Beim Erhitzen unter Luftabſchluß
verflüchtigt es ſich bei 180°C, ohne zu ſchmelzen und verdichtet ſich
beim Erkalten zu Kryſtallen; wird es an der Luft erhitzt, ſo verbrennt
es mit bläulich-weißer Flamme zu arſeniger Säure.


Geſchichtliches. Gewiſſe Verbindungen des Arſens waren ſchon
den Alten bekannt, das Metall ſelbſt wurde 1694 von Schröder und
1733 von Brand aus dem Arſenik dargeſtellt.


Das Mangan.

Vorkommen. Das Mangan (chemiſche Formel Mn) wird haupt-
ſächlich aus dem Braunſtein Mn O2 dargeſtellt, welcher häufig mit
Baryt, Kieſelerde, Waſſer, Nickel, Kobalt und Thallium verunreinigt iſt.
Ferner dienen, wenn auch ſeltener, zur Darſtellung Braunit Mn2 O3,
der Manganit Mn2 O3, H2 O und der Hausmannit Mn3 O4. Der Braun-
ſtein des Handels iſt gewöhnlich ein Gemenge von Pyroluſit Mn O2
mit Hausmannit, Braunit und anderen Manganerzen.


Darſtellung. Zur Darſtellung des Mangans werden die Mangan-
oxyde, beſonders der Braunſtein durch ſtarkes Erhitzen mit Kohle-
pulver reduziert. Zur Aufbereitung geringhaltiger Manganerze empfiehlt
Dehl das Erhitzen derſelben mit waſſerhaltigem Chlormagneſium behufs
Bildung von Manganchlorür, Schmelzen desſelben unter Einwirkung
von Luft und Waſſerdampf, wobei ſich Manganoxyduloxyd und Chlor
bildet.


Eigenſchaften. Das metalliſche Mangan iſt ſpröde, von grauer
Farbe und hat ein ſpezifiſches Gewicht von 8.


Legierungen. Eine Legierung von Mangan, Eiſen und Kupfer
vermehrt Feſtigkeit, Zähigkeit und Härte der ſpäter aus ſolchem Kupfer
gefertigten Bronze. G. A. Dick ſtellt eine Manganbronze dar, indem
er reines Kupfer in einem Tiegel mit manganreichem Ferromangan
und Silicium zuſammenſchmelzt, O. M. Thowleß, indem er Ferro-
mangan mit Silex, einem Metall und einem Flußmittel miſcht, die
Miſchung in einem geeigneten Behälter erhitzt und die entſtandene Le-
gierung im geſchmolzenen Zuſtande durch Ausgießen von den übrigen
Stoffen trennt. Cowles ſetzt den Manganlegierungen 5 % Aluminium
hinzu, wodurch ſie eine weiße Farbe und Silberglanz erhalten, feſter,
elaſtiſcher, leichter gießbar und weniger leicht angreifbar werden. Endlich
ſtellt derſelbe aus 18 Teilen Mangan, 1,2 Teilen Aluminium, 5 Teilen
Silicium, 13 Teilen Zink und 67,5 Teilen Kupfer eine Silberbronze
dar, welche ſich zu ſehr dünnen Blechen auswalzen und zu ſehr feinem
Draht ausziehen läßt.


Geſchichtliches. Schon die älteſten Chemiker kannten den Braun-
ſtein, zählten ihn aber zu den Eiſenerzen, bis 1774 Scheele nachwies,
daß er ein eigentümliches Metall enthalte, welches Gahn einige Jahre
[608]Die Rohgewinnung der Metalle.
ſpäter darſtellte. Die zweckmäßigen Methoden, durch welche das
Mangan rein gewonnen werden konnte, gaben erſt vor ca. zwei Jahr-
zehnten H. St. Claire-Déville und Brunner an.


Das Aluminium.

Vorkommen. Das Aluminium (chemiſche Formel Al) bildet in
ſeinen Verbindungen den verbreitetſten Beſtandteil aller Mineralien.
An Sauerſtoff und Kieſelſäure gebunden, bildet es den ja jedermann
bekannten Thon, und dieſer findet ſich nächſt dem Sauerſtoff und der
Kieſelſäure wohl am häufigſten auf unſerm Planeten. Gediegen kommt
es aber nicht vor, und die Darſtellung des reinen Metalles hat bis in
die neuere Zeit hinein ſehr große Schwierigkeiten gemacht. Wie ſehr
dieſelbe aber gerade in den letzten Jahren vervollkommnet iſt, geht
wohl am deutlichſten aus nachfolgenden Angaben hervor.


Geſchichtliches. Als es 1828 von Wöhler zuerſt dargeſtellt
wurde, gab es nur ſo geringe Quantitäten, daß der Preis für ein
Kilo überhaupt nicht feſtgeſetzt werden konnte. Als es Deville 1854
gelang, das Aluminium im kompakten Zuſtande darzuſtellen, galt das
Kilo 2400 Mark, und heute koſtet es infolge der außerordentlichen
Vervollkommnung der Darſtellungsmethoden nur noch fünf Mark.


Darſtellung. Die Darſtellung nach Wöhler beſtand darin, daß
er Thonerde mit Holzkohle gemengt, glühte und über dieſe glühende,
poröſe Thonerde Chlorgas leitete. Hierbei bildete ſich Chloraluminium,
welches mit metalliſchem Natrium oder Kalium ſtark geglüht, unter
Bildung von Chlornatrium, bez. Chlorkalium zu metalliſchem Aluminium
reduziert wurde. Nachdem H. Deville 1854 bei der Darſtellung ge-
funden hatte, daß es ſich weit weniger leicht oxydiere als man bisher
glaubte und dadurch von ſehr großer Wichtigkeit für die Technik ſei,
ſtellte man das Metall in Javelle für Rechnung des Kaiſers Napoleon III.
fabrikmäßig dar und zwar im weſentlichen nach der vorher angegebenen
Methode. Da nun die Aluminium-Legierungen gleichfalls von ſehr
hoher Bedeutung für die Technik ſind, ſo iſt es in vielen Fällen nicht
nötig, das Aluminium rein zu gewinnen, und daher gehen viele der
Verbeſſerungen ſeiner Darſtellung darauf hinaus, es mit irgend einem
Metalle legiert darzuſtellen. So miſcht H. Niewerth Ferroſilicium mit
Fluoraluminium und ſchmelzt das Gemenge, wobei ſich Fluorſilicium
bildet, welches ſich verflüchtigt, während eine Legierung von Eiſen und
Aluminium zurückbleibt. Schmelzt man dieſe Eiſen-Aluminium-Legierung
mit Kupfer zuſammen, ſo erhält man die wertvolle Kupfer-Aluminium-
Legierung — Aluminiumbronze genannt — während das Eiſen aus-
ſcheidet. W. Weldon ſchmelzt Kryolith — das iſt ein Mineral, welches
eine Verbindung vom Fluoraluminium mit Fluornatrium darſtellt und
ſchon von H. Roſe zur Darſtellung des Aluminiums anſtatt der Thon-
erde benutzt wurde — mit Calciumchlorid zuſammen. Hierbei bildet
[609]Das Aluminium.
ſich Aluminiumchlorid, welches dann zu metalliſchem Aluminium redu-
ziert wird. H. A. Gadsden reduziert das erhaltene Aluminiumchlorid
zu metalliſchem Aluminium, indem er Natriumdämpfe darauf einwirken
läßt, welche er durch Erhitzen einer Miſchung von Natriumkarbonat
mit Holzkohle erzeugt. Emerſon Foote erzeugt in zwei verſchiedenen
Gefäßen Natriumdampf und eine flüchtige Aluminium-Verbindung,
welche ſich in einem dritten Gefäße unter Bildung von Aluminium
miſchen. Nach J. J. Seymour wird zerkleinertes Kaolin mit einem
geröſteten und gleichfalls zerkleinertem Zinkerz, Kohle und Fluß-
mitteln gemiſcht. Dieſe Miſchung wird in feuerfeſten Retorten, deren
koniſche Verſchlußſtopfen eine kleine Öffnung beſitzen, ſtark erhitzt, wobei
ſich eine Aluminium-Zink-Legierung bildet, welche als ſolche benutzt
oder durch Deſtillation in ihre Beſtandteile zerlegt werden kann.
F. Lauterbom ſtellt Aluminium aus Aluminiumſulfat dar, indem er
letzteres, um es vom Waſſer zu befreien in Tiegeln oder auf Herden
erhitzt und die ſo erhaltene poröſe Maſſe pulvert. Hierauf wird die-
ſelbe mit Kohle, Antimon und Flußmitteln gemengt, bis zum Schmelzen
erhitzt und durch ein Gebläſe im Fluß erhalten, wobei ſich metalliſches
Aluminium bilden ſoll. R. Grätzel ſchmelzt Aluminiumnatriumfluorid
mit Magneſium oder leitet Magneſiumdampf in das geſchmolzene
Doppelfluorid, wodurch dasſelbe zu metalliſchem Aluminium reduziert
wird. Auf demſelben Wege kann auch Aluminiumbronze erzeugt werden,
wenn man von vornherein eine genügende Menge Kupfer hinzuſetzt.


R. de Montgelas bringt granuliertes Zink in eine Schmelze von
Aluminiumchlorid und Aluminiumnatriumchlorid, wobei ſich eine Zink-
Alumiumlegierung bildet, welche 50 % Aluminium enthält. Dieſe
Legierung wird wieder mit dem Doppelchlorid und einer geringen
Menge Magneſium verſchmelzt und das Verfahren ſo lange wieder-
holt, bis alles Zink aus der Legierung entfernt iſt. O. M. Towleß
miſcht Aluminiumchlorid oder Aluminiumfluorid mit Kalk, Kohle, Soda
und Kryolith, worauf dieſe Miſchung in geſchloſſenen Gefäßen auf
ſtarke Rotglut erhitzt wird. Hierbei ſchmilzt die Miſchung zuſammen,
und wird dann aus der Schmelze durch Waſchen und Löſen des Fluſſes
das reduzierte Aluminium gewonnen. Nach Reillon wird über in einer
Retorte hoch erhitzte thonerdehaltige Kohle ein Strom von gasförmigem
Schwefelkohlenſtoff geleitet. Hierbei bildet ſich Schwefelaluminium,
aus welchem mittels Kohlenwaſſerſtoffgaſes bei lebhafter Glühhitze der
Schwefel entfernt wird. Nach S. Pearſon wird ein Gemiſch von
Kryolith, Bauxit oder Kaolin oder Thonerdehydrat, Chlorcalcium,
Calciumkarbonat und Kohle auf dunkle Rotglut erhitzt, wodurch das
Aluminium reduziert wird, aber in der ganzen Maſſe verteilt bleibt.
Zur Abſcheidung desſelben werden Kupfer oder Zink hinzugeſetzt, welche
ſich bein Schmelzen mit dem Aluminium legieren. Soll das Metall
rein dargeſtellt werden, ſo wird es mit Zink verſetzt, welches aus dem
Gemenge dann durch Deſtillation ausgeſchieden wird.


Das Buch der Erfindungen. 39
[610]Die Rohgewinnung der Metalle.

Von ganz hervorragender Bedeutung für die Darſtellung des
Aluminiums aber iſt die in neuerer Zeit ſo ſehr ausgebildete elek-
triſche Methode geworden. Ohne dieſelbe wäre es nicht möglich, das
Aluminium zu einem ſo billigen Preis darzuſtellen, und ihm damit die
zahlreichen Verwendungsarten zu erſchließen, welche es in letzter Zeit
gefunden hat (vergl. darüber S. 171 bis 173).


Eigenſchaften. Das Aluminium hat eine bläulich-weiße Farbe
und einen ſtarken Glanz, der ſich an der Luft ſelbſt in der Glühhitze
unverändert erhält. Es iſt ſehr leicht und hat ein ſpezifiſches Gewicht
von nur 2,5; es iſt ſehr dehnbar und hämmerbar, ſo daß man es zu
dünnem Draht ausziehen und zu feinen Blättchen auswalzen kann.
Es iſt härter als das Zinn, aber weicher als das Zink und Kupfer,
nicht ſehr biegſam und bricht mit unebener, zackiger, feinkörniger Bruch-
fläche. Es ſchmilzt bei ca. 700°C. und löſt ſich in Salzſäure, Natron-
und Kalilauge auf.


Legierungen. Da ſich das Aluminium mit vielen Metallen gut
legiert und dieſe Legierungen manche wertvollen Eigenſchaften haben,
ſo ſind zahlreiche derſelben dargeſtellt worden, welche alle eine mehr
oder weniger hohe Bedeutung für die Technik haben. Die bereits
erwähnte Aluminiumbronze, aus 90 bis 95 % Kupfer und 5 bis 10 %
Aluminium beſtehend, hat eine goldähnliche Farbe und einen Glanz
von großer Haltbarkeit. Dieſe Aluminiumbronze wird auch ſehr häufig
zu den verſchiedenſten Zwecken weiter legiert, ſo bereitet O. Hofmann
eine Legierung zur Herſtellung von Formerwerkzeugen aus 100 Teilen
10 prozentiger Aluminiumbronze, 2 Teilen Zink, 0,5 Teilen Mangan,
1,5 Teilen Blei, 2 Teilen Zinn und 0,25 Teilen Phosphor, welche Stoffe
bei 800°C. zuſammen und mehrere Male umgeſchmelzt werden. Silber-
Aluminium-Legierungen ſind härter und politurfähiger als reines Alu-
minium und haben vor der Silber-Kupferlegierung die Vorteile, ihre
weiße Farbe zu behalten und an der Luft völlig unveränderlich zu
ſein. Die phyſikaliſchen Eigenſchaften dieſer Legierungen wechſeln mit
den Mengenverhältniſſen beider Stoffe, ſo iſt z. B. eine ſolche Legierung
aus 169 Teilen Aluminium und 5 Teilen Silber beſtehend, ſehr elaſtiſch
und daher zur Fabrikation feinerer Federn ſehr geeignet. Eine Legie-
rung aus 100 Teilen Aluminium und 10 Teilen Zinn ſoll alle Schwierig-
keiten, welche das Aluminium beim Schweißen bietet, aufheben, dabei
weißer als das Aluminium ſelbſt und bei einem ſpezifiſchen Gewicht
von 2,85 nur wenig ſchwerer als dieſes ſein. Eine nickel- und kupfer-
haltige Aluminiumlegierung wird beſonders für Patronenhülſen empfohlen.
A. Baldwin empfiehlt, zur direkten Darſtellung von Aluminiumlegierungen
Thon oder ähnliche aluminiumhaltige Stoffe mit kohlenſtoffhaltigem
Material und einem Überſchuß von Natriumchlorid zu ſchmelzen und
in dieſe geſchmolzene Maſſe das mit dem Aluminium zu verbindende
Metall gleichfalls geſchmolzen einzutragen. C. A. Burghardt ſtellt eine
Aluminiumbronze dar durch Elektrolyſe einer Löſung des Doppel-
[611]Das Aluminium. — Das Magneſium.
cyanides von Kupfer und Aluminium. John Clark ſtellt Legierungen des
Aluminiums mit Eiſen und Stahl dar. Ein Zuſatz von Aluminium
zu Neuſilber giebt ein Metall, das ſich ſeiner Härte und Schärfbarkeit
wegen gut zu Meſſerklingen eignet; ein Zuſatz des Aluminiums zu
Meſſing macht dasſelbe widerſtandsfähiger gegen ätzende Flüſſigkeiten.
L. O. Brin ſtellt Aluminiumlegierungen direkt aus Thonerde dar, indem
er dieſelbe mit Borax und dem zu legierenden Metall zuſammen ſchmelzt
unter gleichzeitiger Durchleitung von reduzierend wirkenden Gaſen durch
den Schmelztiegel. R. Falk ſtellt durch galvaniſchen Niederſchlag Legie-
rungen des Aluminiums mit zahlreichen anderen Metallen dar. L. Petit-
Devaucelle ſchmilzt eine Legierung von Kupfer mit Zinn, Zink oder
Blei und ſetzt Schwefelaluminium hinzu, wodurch er eine 5 bis 10 pro-
zentige Aluminiumkupferlegierung erhält. G. Bamberg legiert das Alu-
minium mit Eiſen, Zink, Blei oder Kupfer, indem er Aluminiumchlorid
in Dampfform oder Pulver in das betreffende hoch erhitzte, geſchmolzene
Metall einführt. J. W. Langley endlich ſtellt Legierungen aus Alu-
minium mit Titan und Chrom dar.


Das Magneſium.

Vorkommen. Das Magneſium bildet als Silikat den Haupt-
beſtandteil vieler Geſteine, und findet ſich ferner als Sulfat im Kieſerit,
Schoenit und Kainit, als Chlor- und Brom-Magneſium im Meerwaſſer
und im Karnallit und endlich als Karbonat in dem Magneſit und den
Dolomiten.


Darſtellung. Seine Darſtellung iſt ganz analog derjenigen des
Aluminiums, indem man eine geeignete Magneſiumverbindung, beſon-
ders das Chlormagneſium mittels Natriums reduziert. In neuerer Zeit
iſt noch eine andere Darſtellungsmethode mit Vorteil verſucht worden
und zwar von E. v. Püttner. Nach dieſer Methode wird das magne-
ſiumhaltige Mineral oder Produkt mit Eiſenoxyd und Kohle innig ge-
mengt und in geſchloſſenen Gefäßen zur Weißglut erhitzt. Hierbei
wird das Magneſium reduziert, verdampft, und ſeine Dämpfe werden
in Vorlagen von bekannter Form aufgefangen und wieder kondenſiert.
Auch auf elektrolytiſchem Wege wird es von Gerhard gewonnen. Der-
ſelbe benutzt Ammonium-Magneſiumſulfat in Waſſer gelöſt als leitende
Flüſſigkeit und erwärmt das Bad auf 65 bis 100°C. Für die
Abſcheidung eines weißen Metalles wird eine Nickelanode benutzt,
während man bei Verwendung einer Kupferanode Magneſiumbronze
erhält, in welch’ letzterem Falle aber der elektrolytiſchen Flüſſigkeit noch
Cyankalium und Ammoniumkarbonat hinzuzuſetzen iſt.


Eigenſchaften. Das Magneſium gehört zu den leichteſten Metallen,
ſein ſpezifiſches Gewicht beträgt nur 1,7. Es iſt von ſilberweißer Farbe,
verliert aber ſeinen Glanz ſehr bald, da es an der Luft etwas anläuft.
Über ſeinen Schmelzpunkt ſind die Anſichten ſehr verſchieden, denn
39*
[612]Die Rohgewinnung der Metalle.
während man bisher annahm, daß derſelbe nur etwas über 400°C.
läge, behauptet V. Meyer neuerdings, daß derſelbe erſt bei ca. 800°C.
zu ſuchen ſei. Über den Schmelzpunkt hinaus erhitzt, entzündet es ſich
und verbrennt mit blendend weißem Lichte zu Magneſia; ungefähr bei
1020°C. verdampft es. Es iſt ſehr duktil und läßt ſich zu Draht aus-
ziehen und zu Blech ausſchlagen.


Legierungen. Nach Fleiſchmann ſoll ein Zuſatz von Magneſium-
legierungen, beſonders von einer Nickel-Magneſiumlegierung, zu Metall-
bädern dieſe Metalle für den Guß inſofern geeigneter machen, als ſie
dadurch ſehr dehnbare, blaſenfreie Gußſtücke liefern. J. F. Holtz hin-
gegen fand, daß das Magneſium zur Darſtellung von Legierungen ſehr
ungeeignet ſei, weil die betreffenden Metalle, wie z. B. Eiſen, Stahl,
Kupfer, Meſſing und Bronze durch Zuſatz von Magneſium ſpröder,
ſtatt ſchmiedbarer und weicher würden.


Geſchichtliches. Die erſten Verſuche zur Iſolierung des Magne-
ſiums aus ſeinen Verbindungen ſtellte Davy an, dieſelben gelangen
aber erſt Liebig und Buſſy. 1852 fand Bunſen die Reindarſtellung des
Magneſiums auf elektrolytiſchem Wege.


b) Edle Metalle.


Alle vorſtehend behandelten Metalle werden „unedle“ Metalle
genannt, während die vier nun noch zu beſchreibenden, nämlich Queck-
ſilber, Platin, Silber und Gold „edle“ Metalle genannt werden. Ihr
allgemeiner Charakter wird beſtimmt durch ihr ſeltenes Vorkommen,
ihr hohes ſpezifiſches Gewicht und ihre geringe Affinität zum Sauer-
ſtoff, wodurch ſie ſich an der Luft nicht verändern und auch das Waſſer
nicht zerſetzen, weder bei gewöhnlicher noch bei höherer Temperatur
und endlich auch nicht bei Gegenwart von Säuren.


Das Queckſilber.

Vorkommen. Das Queckſilber (chemiſche Formel Hg, von hy-
drargyrum
abgeleitet) iſt nicht ſehr verbreitet. Es findet ſich nur in
geringen Quantitäten gediegen, hauptſächlich an Schwefel gebunden
im Zinnober HgS und kommt beſonders zu Idria in Illyrien, zu
Almaden in Spanien und auch in China, Peru und Kalifornien vor.
Ferner findet es ſich in der bayeriſchen Rheinpfalz, Weſtfalen, Kärnthen,
Steiermark, Böhmen, Ungarn, Siebenbürgen und am Ural. Zu er-
wähnen ſind noch das Queckſilberlebererz, ein mit thonigen und bitu-
minöſen Teilen verunreinigter Zinnober und das Queckſilberfahlerz,
welches 2 bis 15 % Queckſilber enthält.


Darſtellung. Das Queckſilber wird hauptſächlich aus dem
Zinnober dargeſtellt, und zwar in Idria durch Röſten desſelben in
[613]Das Queckſilber.
Schachtöfen und Verdichtung der ſich hierbei entwickelnden Queckſilber-
dämpfe in eiſernen oder gemauerten Kammern; in Spanien werden
die Dämpfe in röhrenartig zuſammengefügten Thongefäßen verdichtet.
In Böhmen und der Pfalz wird der Zinnober in geſchloſſenen Räumen
durch Zuſchläge, wie Eiſenhammerſchlag oder Kalk zerlegt.


Fig. 366 und 367 zeigen den in Idria angewendeten Apparat im
Vertikalſchnitt, und zwar iſt Fig. 367 nur eine Vergrößerung des Mittel-

Figure 357. Fig. 366.

Queckſilber-Röſtofen.


baues von Fig. 366. Der zu röſtende Zinnober wird auf den Wölbungen
über dem Herd A derartig angehäuft, daß der erſte Raum V voll-
ſtändig damit angefüllt iſt, auf der Wölbung p p1 die größeren Stücke
und endlich auf der Wölbung r r1 der Staub und die Rückſtände der
letzten Fabrikation gebracht
werden. Dieſe Wölbungen
ſind zahlreich durchlöchert,
und die ſich entwickelnden
Gaſe gelangen durch einen
über der oberſten Wölbung
liegenden Kanal und durch
die zahlreichen Seiten-
kammern C C zu beiden
Seiten nach den Räumen D.
Sobald der Ofen beſchickt
iſt, wird auf dem Roſt bei
A ein Feuer, gewöhnlich

Figure 358. Fig. 367.

Queckſilber-Röſtofen.


mit Buchenholz entzündet, und der in dem ganzen Bau herrſchende
Zug führt genügende atmoſphäriſche Luft in den Zinnober, um bei
der 10 bis 12 Stunden anhaltenden Dunkelrotglut durch den Sauer-
ſtoff derſelben den Schwefel des Zinnobers zu ſchwefliger Säure zu
oxydieren, wobei das Queckſilber frei wird, was ſich durch folgende
chemiſche Formel ausdrücken läßt:

Die Verbrennungsprodukte entweichen in die Seitenkammern C C,
auf deren in der Mitte vertieftem Boden das Queckſilber in einen Be-
[614]Die Rohgewinnung der Metalle.
hälter aus Porphyr abfließt, während aus einem Waſſerreſervoir kaltes
Waſſer kontinuierlich zu den äußeren Kammern ſtrömt. Die letzten
Spuren des Queckſilbers verdichten ſich in den Rauchkammern D D.


In Almaden in Spanien werden die Queckſilberdämpfe in birnen-
förmigen kurzen Röhren aus Thon — Aludeln genannt — verdichtet.
Dieſe Aludeln werden mit ihren offenen Enden ſo ineinandergeſchoben,
wie es Fig. 368 zeigt, und in dieſer Anordnung Aludelſchnüre genannt.

Figure 359. Fig. 368.

Aludelſchnur.


Der Ofen, den Fig. 369 im Vertikal-
ſchnitt und Fig. 370 im Horizontal-
ſchnitt zeigt, beſteht aus einem mittels
durchbrochenen Gewölbes in zwei
Abteilungen geteilten, cylindriſchen Schachtofen, in deſſen unterer Ab-
teilung das Feuer angemacht, und deſſen obere Abteilung mit Zinnober
beſchickt wird. Dieſer Ofen ſteht durch den ſog. Aludelplan, auf welchem

Figure 360. Fig. 369.

Queckſilber-Röſtofen (Vertikalſchnitt).


Figure 361. Fig. 370.

Queckſilber-Röſtofen (Horizontalſchnitt).


12 Aludelſchnüre liegen, mit den Kammern B in Verbindung. Jede
dieſer Aludelſchnüre enthält bei 20 bis 22 m Länge 44 Aludeln. Die
beim Röſten ſich bildenden Dämpfe treten nun durch die Kammern c c
in die Aludelſchnüre, in welchen ſich das Queckſilber verdichtet und bei
[615]Das Queckſilber.
der am tiefſten liegenden Aludel f durch die Rinnen g g in die ſteinernen
Behälter h h abfließt. Das letzte Queckſilber wird in Kammern B ver-
dichtet, während der Rauch durch den Schornſtein b entweicht.


In Böhmen wird durch Erhitzen des Zinnobers mit Eiſen aus
dem Schwefel desſelben Schwefeleiſen gebildet, wobei gleichfalls das
Queckſilber frei wird, wie es folgende chemiſche Formel zeigt:

Dieſes Verfahren wird in einem Glockenofen, wie ihn Fig. 371
zeigt, ausgeführt. Auf einer eiſernen Säule ruhen eiſerne Teller b b,
welche mit einer unten in
Waſſer tauchenden Glocke
bedeckt ſind. Die Glocken,
von denen ſechs in einem
gemauerten Ofen ſtehen,
werden durch das Geſtell g
in die Öfen verſenkt, an
ihrem oberen Teile von
der Mauer f aufwärts mit
Steinkohle bedeckt und
hier, nachdem der Zin-
nober auf die Teller b b
gebracht war, zum Glühen
erhitzt, wobei das Queck-
ſilber in das Waſſer a
tropft, welches nach been-
deter Operation und, nach-
dem die Glocke mittels g
gehoben worden iſt, mit
dem Kaſten d heraus-
gezogen werden kann.


Eigenſchaften. Das
Queckſilber iſt das einzige
Metall, welches bei ge-

Figure 362. Fig. 371.

Glockenofen.


wöhnlicher Temperatur flüſſig iſt; es erſtarrt erſt bei — 39° C.,
ſiedet bei 360° C., verdunſtet aber ſchon bei gewöhnlicher Temperatur.
Es hat eine ſilberweiße Farbe, ſtarken Glanz und fließt in runden
Tropfen über glatte Flächen. Es verändert ſich bei gewöhnlicher
Temperatur an der Luft nicht, wird von Salzſäure und Schwefelſäure
bei gewöhnlicher Temperatur nicht angegriffen, von Schwefelſäure aber
beim Erhitzen und von Salpeterſäure ſchon in der Kälte aufgelöſt.
Sein ſpezifiſches Gewicht iſt 13,5.


Geſchichtliches. Das Queckſilber iſt ſeit den älteſten Zeiten be-
kannt, und der Zinnober fand ſchon bei den Alten als Farbe Ver-
wendung.


[616]Die Rohgewinnung der Metalle.

Die Verbindungen des Queckſilbers mit anderen Metallen werden
„Amalgame“ genannt, welche feſt oder flüſſig ſind, je nach der Menge
des darin enthaltenen Queckſilbers. Es verbindet ſich leicht mit
Blei, Wismut, Zink, Zinn, Silber und Gold, ſchwer mit Kupfer, gar
nicht mit Eiſen, Nickel, Kobalt und Platin. Die Amalgame mit
Gold und Silber werden bei Gewinnung dieſer Metalle benutzt, um
dieſe von den Erzen zu ſcheiden, wie bei dieſen Metallen ſelbſt näher
auseinandergeſetzt werden ſoll.


Das Platin.

Vorkommen. Das Platin findet ſich nur gediegen, meiſtens in
Form von Körnern im angeſchwemmten Sande von Flußbetten, ge-
wöhnlich als Platinerz, d. i. Platin mit kleinen Beimengungen der
ſog. Platinmetalle, worunter Palladium, Iridium, Rhodium, Osmium
und Ruthenium verſtanden werden. Auch Eiſen und Kupfer begleiten
es häufig. Seine Fundorte ſind beſonders Südamerika, Kolumbia,
Peru und Braſilien, wie das aufgeſchwemmte Land am Ural. Aber
es findet ſich auch unter dem Waſchgold in Kalifornien, im Oregon-
gebirge, in Braſilien, auf Haïti, in Auſtralien, auf der Inſel Borneo,
in Norwegen und endlich im Sande des Ivalofluſſes im nördlichen
Lappland. v. Pettenkofer hat nachgewieſen, daß das Platin überhaupt
viel verbreiteter iſt, als man früher annahm, denn ſeine Unterſuchungen
haben ergeben, daß alles Silber, welches nicht direkt aus einer
Scheidung herrührt, von einer geringen Menge Platin begleitet iſt.
Seine chemiſche Formel iſt Pt.


Darſtellung. Die Gewinnung des Platins aus dem Platinerz
kann nach zwei Methoden, nämlich auf dem naſſen oder auf dem
trockenen Wege geſchehen.


Nach der erſten Methode behandelt man das Platinerz mit
Königswaſſer, wodurch man eine ſaure Löſung von Platinchlorid
(PtCl4) erhält. Aus dieſer Löſung fällt man mittels Salmiak (NH4Cl)
einen gelben Niederſchlag von Platinſalmiak (2NH4Cl, PtCl4), welcher,
nachdem er gut ausgewaſchen und geglüht iſt, ein graues, poröſes
Metall, den ſog. Platinſchwamm, liefert. Dieſer wird zuſammengepreßt,
zum Weißglühen erhitzt und unter wiederholtem Ausglühen zwiſchen
Holzkohlen in einem Schmiedefeuer gehämmert, wobei das Metall dicht
und geſchmeidig wird.


Weit vollkommener iſt die von Deville und Debray 1861 ein-
geführte Methode, das Platin auf trockenem Wege zu gewinnen. Das
Platinerz wird hiernach mit Bleiglanz auf einem Flammenofen zu-
ſammengeſchmelzt, wobei ſich das im Platinerz enthaltene Eiſen mit
dem Schwefel des Bleiglanzes zu Schwefeleiſen verbindet, während
das Platin und die es begleitenden Metalle ſich mit dem Blei legieren.
Auf einem Treibherde, wie er bei der Gewinnung des Silbers näher
[617]Das Platin.
beſchrieben werden ſoll, wird nun das Blei nebſt den anderen Metallen
entfernt. Das ſo dargeſtellte Platin iſt aber noch nicht ganz rein,
denn es enthält noch eine geringe Menge von Blei, Osmium, Iridium
und Rhodium und muß auch noch von dieſen Beimengungen befreit
werden. Das geſchieht, indem das Platin in einem kleinen Kalkofen
im Knallgasgebläſe ſo lange geſchmelzt wird, bis ſich keine Dämpfe
von Blei und anderen Metallen — letztere erkennt man an dem
eigentümlichen Geruch der Osmiumdämpfe — aus der geſchmolzenen
Maſſe mehr entwickeln.


Eigenſchaften. Das Platin iſt von weißer, etwas ins ſtahl-
graue gehender Farbe, von hohem Glanze, ſehr hämmerbar und läßt
ſich zu ſehr feinen Drähten ausziehen. Es iſt ſo weich wie das
Kupfer und in der Weißglühhitze ſchweißbar. Sein Schmelzpunkt aber
liegt ſehr hoch, und es konnte früher nur im Knallgebläſe geſchmelzt
werden, wodurch das Gießen von größeren Platinblöcken ſehr erſchwert,
wenn nicht unmöglich war. Jetzt ſind von Deville, Debray, Schlöſing u. a.
Öfen konſtruiert, in welchen das Platin in größeren Maſſen geſchmelzt
werden kann, und zwar durch eine Leuchtgas- oder Waſſerſtoffflamme,
welche von Sauerſtoff oder auch nur von atmoſphäriſcher Luft an-
geblaſen wird. Die Schmelztiegel in dieſen Öfen beſtehen aus Kalk
oder Magneſia. An der Luft bleibt das Platin ganz unverändert
und wird auch von Waſſer oder von Säuren — mit Ausnahme von
Königswaſſer, welches es auflöſt — nicht angegriffen; wohl aber greifen
es die Alkalien in der Glühhitze an. Sein ſpezifiſches Gewicht iſt 21,2.


In fein verteiltem Zuſtande, wie das Platin bei der Darſtellung
auf naſſem Wege gewonnen wird, nennt man es Platinſchwamm.
Dieſes hat die Eigenſchaft, Gaſe und beſonders Sauerſtoff in ſehr
großer Menge in die Poren aufzunehmen und zu verdichten. Der
Sauerſtoff der atmoſphäriſchen Luft wird im Platinſchwamm ſo ver-
dichtet, daß er von einem Waſſerſtoffſtrom getroffen, mit dieſem Waſſer
bildet und durch die dabei erzeugte hohe Temperatur den Waſſerſtoff
entzündet. Auf dieſer Eigenſchaft des Platinſchwammes beruht das
Döbereinerſche Feuerzeug. Das Platinmohr beſitzt die Eigenſchaft,
Sauerſtoff zu abſorbieren, in noch höherem Grade als der Platin-
ſchwamm und iſt wie dieſes höchſt fein verteiltes Platin, aber von
vollſtändig ſchwarzer Farbe. Es wird gewonnen, indem man ſchwefel-
ſaures Platinoxyd mit kohlenſaurem Natron und Zucker kocht, wodurch
das Platinmohr als ſchwarzes Pulver zu Boden fällt, oder indem
man Zink mit Platin zuſammen ſchmelzt und dieſe Legierung mit
verdünnter Schwefelſäure behandelt. Dieſe löſt das das Platin voll-
ſtändig durchſetzende Zink auf und läßt das Platin ſelbſt in dem oben
beſchriebenen, fein verteilten Zuſtande zurück.


Geſchichtliches. Das Platin wurde von Anton d’Ulloa, einem
Mathematiker, in dem goldführenden Sande des Fluſſes Pinto in
Südamerika entdeckt, aber von ihm für Silber gehalten, bis 1752
[618]Die Rohgewinnung der Metalle.
Scheffer und Wollaſton nachwieſen, daß es kein Silber, ſondern ein
eigentümliches Metall ſei. Dieſer Verwechslung verdankt es auch ſeinen
Namen, der von dem ſpaniſchen Worte „platiña“, das heißt „ſilber-
ähnlich“ abgeleitet iſt. Seine Eigenſchaften haben Tennant, Wollaſton,
Berzelius und Döbereiner näher kennen gelehrt.


Legierungen. Das Platin bildet mit den meiſten Metallen
Legierungen von ſehr wertvollen Eigenſchaften. So ſtellte Deville eine
Legierung von 78,7 % Platin und 21,3 % Iridium dar, welche hart und
hämmerbar iſt und ſelbſt vom Königswaſſer nicht angegriffen wird.
Legierungen von 10 bis 15 % Iridium widerſtehen den Reagentien
und dem Feuer beſſer als das reine Platin, während ſie zugleich
ſtrengflüſſiger und härter als dieſes ſind. Chapuis hat eine Legierung
von 92 % Platin, 5 % Iridium und 3 % Rhodium von ähnlichen
Eigenſchaften dargeſtellt. Aus 3 Teilen Platin und 13 Teilen Kupfer
ſtellt Bolzani eine dem Golde in Bezug auf dauernden Glanz und
Farbe ähnliche Legierung dar. 50 % Platin und 50 % Stahl geben
eine weiße Legierung, welche als Spiegelmetall unübertroffen iſt.
H. Oſtermann ſtellt eine Legierung aus Platin, Nickel, Kupfer und
Kadmium dar, denen er dann Wolfram und Kobalt hinzuſetzt, und
erhält ſo ein Metall, das die Eigenſchaften des Stahles hat, nur nicht
oxydierbar und nicht magnetiſch iſt, ſich daher beſonders zur Herſtellung
von Uhrenteilen eignet. Endlich beſteht eine für Tiegel und chemiſche
Utenſilien empfohlene neue Platinlegierung, „Platinid“ genannt, aus
60 % Platin, 35 % Nickel, 2 % Gold und 3 % Eiſen.


Das Silber.

Vorkommen. Das Silber, deſſen chemiſche Formel von argentum
abgeleitet Ag iſt, findet ſich in der Natur ſowohl gediegen, als auch
in zahlreichen Erzen an Schwefel, Arſen und Antimon gebunden, ſehr
ſelten dagegen als Oxyd und an Säuren gebunden. Gediegen kommt es in
größeren oder kleineren Stücken baumförmig, drahtförmig und kryſtalliſiert
vor; von den Erzen ſind die wichtigſten Silbererze die folgenden:
Silberglanz oder Glaserz Ag2S, auch Schwefelſilber genannt; dunkles
Rotgiltigerz oder Pyrargyrit Ag3SbS3; lichtes Rotgiltigerz oder
Prouſtit Ag3AsS3; Schwarzgiltigerz oder Sprödglaserz Ag12Sb2S9;
Miargyrit Ag2S + Sb2S3; Polybaſit (Ag2S, Cu2S)9, Sb2S3 ꝛc. Die
Fahlerze haben die Formel R4Sb2S7, wobei R für Silber, Kupfer,
Eiſen oder Zink geſetzt iſt, und endlich enthält der Bleiglanz ſehr häufig
0,01 bis 1,0 % und auch verſchiedene Kupfererze 0,02 bis 1,1 % Silber.


Darſtellung. Die Darſtellung des Silbers wird nach ſehr
zahlreichen Methoden bewerkſtelligt, welche ſich außer der neu hinzu-
gekommenen Darſtellung auf elektriſchem Wege in zwei Gruppen, nämlich
in Darſtellungen auf naſſem und auf trockenem Wege einteilen laſſen.
Dieſe beiden Gruppen haben folgende Unterabteilungen:


[619]Das Silber.

A. Darſtellungen auf naſſem Wege.


  • a) Mittels Queckſilbers:
    • 1. Europäiſche Amalgamation,
    • 2. Amerikaniſche Amalgamation.
  • b) Mittels Auflöſung und Fällung:
    • 1. Auguſtinſche Methode,
    • 2. Ziervogelſche Methode,
    • 3. Sonſtige Methoden.

B. Darſtellungen auf trockenem Wege.


  • a) Gewinnung von ſilberhaltigem Blei,
  • b) Abſcheidung des Silbers aus ſilberhaltigem Blei.
    • 1. Abtreiben auf dem Treibherde,
    • 2. Pattinſonieren,
    • 3. Entſilbern des Werkbleies durch Zink,
    • 4. Feinbrennen des Blickſilbers.

Der Amalgamationsprozeß wird beſonders bei ſilberarmen Erzen
ausgeführt, und beſteht die europäiſche Amalgamation, welche haupt-
ſächlich in Freiberg üblich war, im weſentlichen aus folgendem: die
Erze werden mit Kochſalz d. i. Chlornatrium geröſtet, wobei Arſen und
Antimon ſich verflüchtigen und ſich als Oxyde in beſondern Räumen
ſammeln, während das Chlor des Kochſalzes mit dem Silber der
Erze Chlorſilber bildet. Das Chlorſilber wird unter Zuſatz von Waſſer
und metalliſchem Eiſen in die ſog. Amalgamierfäſſer gebracht, welche
16 bis 18 Stunden lang ſchnell um die eigene Achſe rotieren. Hierbei
verbindet ſich das Eiſen mit dem Chlor zu Eiſenchlorür, während ſich
das Silber als metalliſches Silber in außerordentlich feiner Verteilung
ausſcheidet. Um dieſe feinen Partikel zu ſammeln, wird Queckſilber hinzu-
geſetzt, welches mit denſelben ein Silberamalgam bildet, und aus dieſem das
Queckſilber in einem ſog. Tellerofen geſchieden. Dieſen Tellerofen, auch
Glockenofen genannt, den Fig. 371 zeigt, haben wir bereits bei Gewinnung
des Queckſilbers kennen gelernt und dort erfahren, daß die Queckſilber-
Verbindung — in dieſem Falle das Silberamalgam — auf die Teller
b b gebracht wird, wodurch das die Glocke umgebende Feuer das
Queckſilber verdampft, und ſich kondenſiert in dem Waſſer a des Kaſtens
d ſammelt, während das zurückbleibende Silber, jetzt „Tellerſilber“ ge-
nannt, von den Tellern b b nach Abkühlung und Herausheben der
Glocke aus dem Ofen e abgenommen wird. Dieſer Apparat iſt faſt
vollſtändig durch einen neueren verdrängt, in welchem die Deſtillation
des Queckſilbers aus dem Silberamalgam in einer weiten gußeiſernen
Röhre vorgenommen wird. Dieſe Röhre liegt in einem Ofen und
hat an ihrem einen Ende eine zweite rechtwinklig nach abwärts ge-
bogene Röhre aufgeſetzt, welche aus dem Ofen heraus unter Waſſer
[620]Die Rohgewinnung der Metalle.
führt, und in welcher ſich das verdampfte Queckſilber wieder kon-
denſiert, während das andere Ende der Röhre, nachdem ſie mit
dem Silberamalgam beſchickt iſt, luftdicht verſchloſſen wird. Auch
werden geſpannte Waſſerdämpfe zur Deſtillation des Queckſilbers aus
dem Amalgam verwendet.


Das ſo erhaltene Tellerſilber enthält noch fremde Metalle und
wird von dieſen mit Ausnahme des Kupfers durch Umſchmelzen in
Graphittiegeln, nachdem es mit Kohlenpulver beſtreut iſt, befreit. Nun
wird es „Raffinatſilber“ genannt und enthält nur noch Kupfer, welches
durch Abtreiben oder Affinieren, eine Operation, die ſpäter beſchrieben
werden ſoll, entfernt wird.


Nach der in Mexiko, Peru und Chile üblichen amerikaniſchen
Amalgamation werden hauptſächlich Rotgiltigerz und Fahlerze ver-
arbeitet. Hierbei müſſen die zu verarbeitenden Erze ſehr gut zer-
kleinert ſein, weshalb ſie trocken gepocht und dann mit Waſſer auf
Erzmühlen, deren Steine aus Porphyr oder Baſalt beſtehen, ſehr fein
gemahlen werden. Das Waſſer des ſo erhaltenen feinſchlammigen
Breies läßt man auf ſchräg liegenden Steinplatten abfließen und ſetzt
nach einigen Tagen Kochſalz und geröſteten, fein gemahlenen Kupfer-
kies „Magiſtral“ genannt unter innigem Mengen und Kneten und
ſchließlich Queckſilber in einzelnen Rationen hinzu, eine Manipulation, die
die „Inkorporation“ genannt wird. Das Mengen wird hauptſächlich
mittels Durchtretens vorgenommen, was 2 bis 5 Monate lang jeden
zweiten Tag geſchehen muß, bis man glaubt, daß die Entſilberung be-
endet iſt. Aus dem ſo erhaltenen „Quickbrei“ wird das Amalgam
durch Waſchen in ausgemauerten Ciſternen geſchieden, durch Preſſen
in Zwillichſäcken vom überſchüſſigen Queckſilber befreit und ſchließlich
das im Silberamalgam befindliche Queckſilber abdeſtilliert. Der chemiſche
Vorgang aller dieſer Operationen iſt folgender. Die Wirkung des
Magiſtrals beruht auf ſeinem Gehalt an ſchwefelſaurem Kupferoxyd
(CuSO4), welches mit dem Kochſalz (NaCl) ſchwefelſaures Natron und
Kupferchlorid bildet. Dieſes wiederum giebt einen Teil ſeines Chlors
an das Silber ab, indem es Kupferchlorür und Chlorſilber bildet, von
welchem das Chlorſilber in der überſchüſſigen Kochſalzlöſung gelöſt
bleibt. Sobald das Chlorſilber mit dem Queckſilber in Berührung
kommt, wird es unter Bildung von Queckſilberchlorür und Silber-
amalgam zerſetzt. Dieſe amerikaniſche Amalgamation hat die Nach-
teile eines ſehr großen Zeitaufwandes und eines ſehr hohen Queck-
ſilberverbrauchs, welchen aber als Vorteile der geringe Brennmaterial-
verbrauch gegenüberſteht und vor allen Dingen der Umſtand, daß nach
dieſer Methode, ſo ſilberarme Erze verarbeitet werden können, wie nach
keiner anderen.


F. Gutzkow deſtilliert das Queckſilber des Silberamalgams im
Vakuum ab und hat einen Apparat konſtruiert, der das Retortieren
des Silberamalgams unter vermindertem Druck erlaubt. Hierdurch
[621]Das Silber.
wird das Queckſilber viel vollſtändiger aus den Retorten herausgebracht
und die Arbeiter werden beim Einſchmelzen des Silbers vor den ſo
ſchädlichen Einwirkungen der Queckſilberdämpfe geſchützt. H. S. Myers
befreit auf chemiſchem Wege die Silbererze (auch Golderze) von den
die Amalgamation ſo erſchwerenden, ihnen anhaftenden Stoffen. Nach
ſeiner Methode wird das zerſtampfte oder gepulverte Erz vor dem
Röſten mit einer Löſung von Salmiak und nach dem Röſten mit einem
Gemiſch von Schwefelſäure und Waſſer befeuchtet, wodurch die Metall-
partikel für vollkommene Amalgamation geeignet werden. Für die
Amalgamation reinerer Erze (Silber und Gold) empfiehlt Mühlenberg
einen Cyankaliumzuſatz bis 5 %, da dadurch alle Gold- und Silber-
ſalze beſſer gelöſt werden.


Es ſollen nun diejenigen Methoden der Silberdarſtellung auf
naſſem Wege beſprochen werden, bei welchen das Silber durch Auf-
löſen und Fällen gewonnen wird.


Nach Auguſtin werden die durch Pochen und Mahlen in ein
feines Pulver verwandelten Silbererze geröſtet, wobei ſich ſchwefel-
ſaures Silberoxyd bildet. Dieſes wird von neuem unter Zuſatz von
Kochſalz d. i. Chlornatrium geröſtet, wodurch das ſchwefelſaure Silber-
oxyd in Silberchlorid übergeführt wird. Das ſo gewonnene Chlor-
ſilber wird durch Ausziehen des Röſtgutes mit heißer, konzentrierter
Kochſalzlöſung aufgelöſt und aus der Löſung mittels metalliſchen
Kupfers als metalliſches Silber gefällt. Aus der zurückbleibenden
kupferchlorürhaltigen Lauge wird das Kupfer durch Eiſen gefällt.
Die von Ziervogel angegebene Methode iſt der Auguſtinſchen ähnlich,
nur unterläßt Ziervogel das zweite Röſten mit Kochſalz und zieht das
ſich beim erſten Röſten bildende ſchwefelſaure Silberoxyd direkt mit
heißem Waſſer aus, in welchem ſich dieſes und das ſchwefelſaure
Kupferoxyd auflöſen. Aus dieſer Löſung wird gleichfalls durch
metalliſches Kupfer das Silber niedergeſchlagen und Kupferſulfat als
Nebenprodukt erhalten. Dieſes Verfahren erfordert weniger Röſtkoſten
und Arbeitslöhne, als das vorſtehende, aber es iſt nur für reichere
Erze verwendbar, und auch die Rückſtände ſind ſilberhaltiger. Ein
Bleigehalt der Erze erſchwert wegen der leicht eintretenden Sinterung
das Röſten nach dieſem Verfahren ſehr, und Arſen wie Antimon in
den Erzen machen es überhaupt unanwendbar, weil ſich dann die be-
treffenden Arſen- und Antimonverbindungen des Silbers bilden, und
dieſe in Waſſer unlöslich ſind. Patera und v. Hauer ſchlagen vor,
das Silber aus mit Kochſalz geröſteten Erzen mittels unterſchweflig-
ſauren Natrons zu löſen und dann das Silber aus der Löſung —
wie vorher geſagt — niederzuſchlagen.


Die Schwefelkieſe oder Pyrite, welche bei der Schwefelſäure-
fabrikation zur Darſtellung der ſchwefligen Säure benutzt werden, ent-
halten häufig Kupfer und geringe Mengen Silber, weshalb die
Röſtrückſtände dieſer Fabrikation, Kiesabbrände genannt, auch auf
[622]Die Rohgewinnung der Metalle.
Kupfer verarbeitet wurden, wobei ihr Silbergehalt unberückſichtigt blieb.
F. Claudet hat ein Verfahren entdeckt, auch dieſe geringen Mengen
Silber zu gewinnen und zwar, indem er das in den Laugen in Form
von Chlorſilber-Chlornatrium befindliche Silber vor der Fällung des
Kupfers vermittelſt Jodkalium als Silberjodid abſcheidet. Der Nieder-
ſchlag enthält außer dem Silberjodid noch Kupferchlorür und Kupfer-
oxychlorid, weshalb er mit Salzſäure behandelt wird, um die Kupfer-
verbindungen zu löſen. Beim Erhitzen des nun noch reſtierenden
Niederſchlages mit Waſſer und metalliſchem Zink, wird unter Bildung
von löslichem Jodzink metalliſches Silber ausgeſchieden; das Jodzink
dient dann weiter zum Fällen neuer Silbermengen.


Um eine wie vorher beſchriebene weiter zu behandelnde Chlor-
verbindung des Silbers (auch Goldes) in den Erzen ohne Röſten zu
erhalten, empfiehlt F. Manhès, die feingemahlenen Erze mit pulveri-
ſiertem Salmiak zu miſchen. Dieſes Gemiſch wird dann bei niedriger
Temperatur ſolange erhitzt, bis keine Ammoniakdämpfe mehr auftreten,
und nun ſind die genannten Edelmetalle in ihre Chlorverbindungen
übergeführt. Nach G. Thomſon wird das feingemahlene Erz geröſtet,
mit Schwefelſäure erhitzt und dann mit einer Kochſalzlöſung ſolange
behandelt, bis alles Silberſulfat in Silberchlorid übergeführt iſt. Aus
der Silberchlorid-Löſung wird dann, wie vorher beſchrieben, das Silber
gewonnen. H. Haſſenot empfiehlt die Fällung des metalliſchen Silbers
aus ſeinen Salzen durch Einſtellen eines Kupferbleches in die ammo-
niakaliſche Löſung derſelben. Silberſalze, welche in Ammoniak nicht
löslich ſind, werden mit konzentrierter Schwefelſäure zum Sieden erhitzt,
mit überſchüſſigem Ammoniak verſetzt und hierauf der Einwirkung des
Kupfers ausgeſetzt. R. Pearce ſtellt das weiter zu verarbeitende Silber-
ſulfat aus den feingepulverten Erzen dar, indem er ſie, mit 2 bis 5 %
Natrium- oder Kaliumſulfat gemiſcht, röſtet und das Röſtgut mit heißem
Waſſer auslaugt. S. W. Cragg behandelt die Erzmaſſen mit trockenem
Chlorgas bei einer Temperatur von 100 bis 150° C., ohne daß das
Chlorgas oder die zu chlorierenden Erze mit dem Erwärmungsmittel
in Berührung kommen. Es bildet ſich hierbei Chlorſilber, welches in
hölzernen Gefäßen, die einen Asphaltüberzug haben, ausgelaugt wird.
Nach Mac Arthur endlich werden die Erze mit Kali oder Kalk bis zur
Neutralität behandelt, und dann wird das Silber (auch Gold) mittels Chlorid-
löſungen ausgezogen. Die Löſung wird filtriert und über fein ver-
teiltes Zink geleitet, durch welches das Silber (bez. Gold) gefällt wird.
Durch Deſtillation wird dann das Zink von den Metallen getrennt.


Bei der Gewinnung des Silbers auf trockenem Wege wird erſt
ſilberhaltiges Blei, ſog. Werkblei, dargeſtellt und dann aus dieſem nach
verſchiedenen Methoden das Blei entfernt. Der erſte Teil dieſes Ver-
fahrens beruht auf der Eigenſchaft des Bleies, Schwefelſilber beim
Schmelzen unter Bildung von Schwefelblei und ſilberhaltigem Blei zu
zerſetzen. Letzteres iſt ſehr leichtflüſſig und bildet ſich auch beim Zu-
[623]Das Silber.
ſammenſchmelzen von Blei und ſilberhaltigem Kupfer unter gleichzeitiger
Bildung einer ſchwerer ſchmelzbaren Blei-Kupferlegierung. Zu dieſem
Zwecke ſchmelzt man das ſilberhaltige Schwarzkupfer mit Blei zu
Scheiben, wie ſie Fig. 372 zeigen, aus welchen
dann auf dem Saigerherde (Fig. 373) das
ſilberhaltige Blei ausgeſaigert wird. Fig. 372
zeigt gleichzeitig die Art der Aufſtellung der
Scheiben oder Saigerſtücke D auf dem Herde,
auf welchem das bleihaltige Silber aus-
ſchmilzt und in die Bleigruben c c (Fig. 373)
fließt. Von hieraus wird es in die Ver-
tiefung e geſchöpft, um dann nach einer der

Figure 363. Fig. 372.

Anordnung der Saigerſtücke.


ſogleich zu beſchreiben-
den Methoden verar-
beitet zu werden. Die
viel ſchwerer ſchmelz-
bare Blei-Kupfer-
legierung bleibt auf
dem Herde zurück und
die ſie enthaltenden
Scheiben werden „Kien-
ſtöcke“ genannt.


Die nun vorzu-
nehmende Entſilberung

Figure 364. Fig. 373.

Saigerherd.


des Werkbleies kann nach einer der vorher genannten drei verſchiedenen
Methoden geſchehen, nämlich auf dem Treibherde, oder durch Pattin-
ſonieren oder endlich vermittelſt Zink.


Die Entſilberung des Werkbleies auf dem Treibherde wird ſowohl
in den Silberhüttenwerken, als auch in den Bleihüttenwerken vorge-
nommen. Fig. 374 zeigt den Vertikalſchnitt eines ſolchen Treibherdes,
der aus einem Gebläſeflammenofen mit einer Feuerung F beſteht. A
iſt der Herd, auf welchem das Werkblei geſchmelzt wird, B eine durch die
Vorrichtung D zu hebende
und zu ſenkende Haube, P
das Schürloch, auch Blech-
loch genannt, und a a ſind
die Düſen des in den Herd
mündenden Gebläſes. Die
Wirkung dieſer Treibherd-
arbeit beruht nun darauf,
daß die ſich ſtets von neuem
auf der Oberfläche des Me-
tallbades bildende Schicht
von Bleioxyd durch das in
Fig. 374 nicht ſichtbare

Figure 365. Fig. 374.

Treibherd (Vertikalſchnitt).


[624]Die Rohgewinnung der Metalle.
„Glättloch“ abfließen kann. Läßt die Menge des Werkbleies nach,
ſo wird das Glättloch durch Auskratzen vertieft, und ſchließlich iſt
die Operation beendet, wenn ſich kein neues Häutchen von Blei-
glätte mehr bildet. Das letzte ſich bildende Häutchen iſt ſchon ſo dünn,
daß die Oberfläche in allen Regenbogenfarben ſchillert und beim Zer-
reißen das weiße Silber durchblicken läßt, welchen Augenblick man den
„Silberblick“ und das ſo erhaltene Silber „Blickſilber“ nennt. Das
letztere wird, nachdem das Feuer aus dem Ofen gezogen iſt, durch Be-
ſprengen mit Waſſer abgekühlt und aus dem Ofen gehoben; während
das inzwiſchen abgefloſſene Bleioxyd zu einer blättrigen Maſſe von
gelber oder rötlichgelber Farbe (Bleiglätte) erſtarrt.


Die Arbeit auf dem Treibherde iſt bei ſilberarmem Werkblei nicht
mehr lohnend, und nimmt man im allgemeinen an, daß die Grenze
hierfür bei einem Silbergehalt von 0,12 % liegt. Das nach ſeinem
Erfinder Pattinſon genannte Verfahren, das „Pattinſonieren“, ermöglicht
auch noch weit ärmerem Werkblei das Silber zu entziehen und zwar
bis zu einem Gehalte von 0,009 %. Es beruht auf einem Kryſtalli-
ſierprozeß und wird ausgeführt, indem man das ſilberarme Werk-
blei ſchmelzt und es dann langſam abkühlen läßt. Hierbei bilden ſich
Bleikryſtalle, die faſt ganz ſilberfrei ſind und nach deren Entfernung
— Abheben mittels Schaumlöffels — ſilberreicheres Blei zurückbleibt.
Durch mehrmalige Wiederholung dieſer Operation kann man das
Silber vollſtändig vom Blei trennen. Das Pattinſonieren wird aber
auch angewendet, um ſilberarmes Werkblei ſilberreicher und damit für
die Treibherdarbeit geeignet zu machen.


Das Entſilbern des Werkbleies durch Zink endlich beruht darauf,
daß die Affinität des Zinks zum Silber größer iſt, als diejenige des
Bleies, während Blei und Zink miteinander keine Legierungen bilden.
Hierüber haben Karſten und ſpäter Parkes Verſuche angeſtellt, während
Rosway, Cordurié u. a. dieſes Verfahren für die Praxis ausgebildet
haben. Danach wird Zink in das geſchmolzene Werkblei gethan und
nach tüchtigem Umrühren die an der Oberfläche erſtarrende Zink-Silber-
legierung abgehoben. Aus dieſer Legierung wird dann das Zink durch
Deſtillation getrennt, oder nach Cordurié durch überhitzten Waſſerdampf
in der Glühhitze in Zinkoxyd übergeführt. Hierbei zerſetzt nämlich das
Zink den Waſſerdampf in Sauerſtoff, mit welchem es ſich zu Zinkoxyd
verbindet, und Waſſerſtoff, wie es folgende chemiſche Formel zeigt:

Das nach der Entſilberung des Werkbleies durch Zink zurück-
bleibende zinkhaltige Blei wird nach Herbſt und Waſſermann durch
Erhitzen mit Chlorblei unter Bildung von Chlorzink wieder vom Zink
gereinigt:

[625]Das Silber.

Nach H. H. Schlapp wird das Werkblei mittels Zinks entſilbert,
indem man das geſchmolzene Werkblei in fein verteiltem Zuſtande durch
das Zinkbad fallen läßt und dann das entſilberte Blei vom Boden
des Bades aus abzieht. In der deutſchen Gold- und Silberſcheide-
Anſtalt in Frankfurt a/M. endlich wird anſtatt des Zinks eine Zink-
aluminiumlegierung verwendet, indem dieſelbe wiederholt in das flüſſige
Werkblei eingerührt wird. Das Aluminium verhindert hierbei die
Oxydation des Zinks, wodurch die Bildung und Abſonderung des
Zinkſilbers viel leichter und ſchneller vor ſich geht.


Das ſo erhaltene Blickſilber iſt noch nicht vollſtändig rein, ſondern
enthält noch geringe Mengen anderer Metalle, welche durch „Fein-
brennen“, auch Raffinieren genannt, entfernt werden müſſen. Dieſes
Feinbrennen geſchieht je nach den Verunreinigungen des Silbers ent-
weder in Teſten, Schalen oder eiſernen Ringen, welche mit Knochenaſche
ausgefüttert ſind, unter Anwendung eines Gebläſes, oder unter der
Muffel, oder endlich am vorteilhafteſten und einfachſten im Flammen-
ofen. Das ſo gereinigte Silber heißt dann „Brandſilber“ und erhält
man bei dieſen Operationen 96,8 % des Blickſilbers. Zur Reinigung des
Blickſilbers von Blei und Wismut wendet die deutſche Gold- und Silber-
Scheideanſtalt ſchwefelſaures Silberoxyd an. Dieſes wird geſchmolzen
allmählich in das im Graphittiegel gleichfalls geſchmolzene Blickſilber
eingerührt. Hierbei entſtehen ſchwefelſaures Bleioxyd und Wismut-
oxyd, welche an der Oberfläche des Metallbades eine Schlacke bilden.


Auch der elektriſche Strom iſt im großen zur Gewinnung des
Silbers aus ſeinen Erzen durch Elektrolyſe in neuerer Zeit viel ange-
wendet worden. Nach einem Verfahren von Höpfner wird außer dem
Kupfer das Silber direkt und ſehr rationell aus ſeinen Erzen gewonnen.
Bei dem Kupfer geſtattet das Verfahren einſchließlich eines 10 prozen-
tigen Stromverluſtes die Gewinnung von faſt 33 kg chemiſch reinen
Kupfers mit 30 kg Kohle, ein Reſultat, das bisher ganz unerreicht
daſteht und noch die Verwertung der ärmſten Erze ermöglicht. Für
die Silbergewinnung fehlen die diesbezüglichen Zahlenangaben noch.
Luckow trennt auf elektrolytiſchem Wege Silber und Blei in einer
15 % freie Salpeterſäure enthaltenden, ſalpeterſauren Löſung, welche
mit einigen Tropfen konzentrierter Oxalſäurelöſung verſetzt iſt. Endlich
iſt der elektriſche Strom auch zum Raffinieren des Silbers angewendet
worden. In ein gewöhnliches elektrolytiſches Bad werden Anoden von
dem betreffenden ſilberhaltigen Metall und als Kathode eine dünne
Platte reinen Silbers gebracht. Das Bad beſteht aus einer ſehr
ſchwachen, etwa einprozentigen Salpeterſäure, und die Anoden ſind von
Mouſſelinſäckchen umgeben, in welchen das Gold, Platin, Bleiſuper-
oxyd und andere in dem zu raffinierenden Silber enthaltenen fremden
Metalle mit Ausnahme des Kupfers zurückbleiben. War auch Kupfer
im Silber enthalten, ſo wird dieſes zwar von der Salpeterſäure ge-
löſt, aber nicht auf der Kathode niedergeſchlagen.


Das Buch der Erfindungen. 40
[626]Die Rohgewinnung der Metalle.

Eigenſchaften. Das Silber hat von allen Metallen die weißeſte
Farbe, den ſtärkſten Glanz, und iſt ſehr politurfähig; es ſchmilzt bei
ca. 1000° C und verflüchtigt ſich bei ſehr hohen Temperaturen. Es
abſorbiert während des Schmelzens Sauerſtoff, und zwar ſein zwei-
undzwanzigfaches Volumen, wenn es in reinem Sauerſtoff geſchmelzt
wird; dieſen Sauerſtoff giebt es beim Erſtarren wieder ab, wodurch
das noch flüſſige Metall umhergeſchleudert wird, eine Erſcheinung, die
man das „Spratzen“ des Silbers nennt. Es iſt weicher als Kupfer,
aber härter als Gold und mit Ausnahme dieſes Metalles das ge-
ſchmeidigſte und dehnbarſte aller Metalle; es läßt ſich zu Blattſilber
von 0,01 m m Dicke auswalzen und von einem Gramm Silber kann
man einen Draht von 2200 m Länge ziehen. Die Dehnbarkeit und
Geſchmeidigkeit werden aber ſchon durch geringe Beimiſchungen anderer
Metalle mit Ausnahme des Kupfers ſehr verringert; Gold hingegen
erhöht dieſelben. Salzſäure greift das Silber auch bei höherer Tem-
peratur nur ſehr wenig an, Schwefelſäure beim Erhitzen, und Salpeter-
ſäure löſt es ſchon bei gewöhnlicher Temperatur ſchnell auf. Sehr
leicht verbindet es ſich mit Schwefel, weshalb es ſich in ſchwefelwaſſer-
ſtoffhaltiger Luft mit einer dünnen Schicht von ſchwarzem Schwefel-
ſilber überzieht. Sein ſpezifiſches Gewicht iſt 10,5, kann aber durch
Hämmern bis auf 10,62 erhöht werden.


Geſchichtliches. Das Silber iſt ſchon ſeit den älteſten Zeiten
bekannt.


Legierungen. Da das Silber zu weich iſt, um rein verarbeitet
zu werden, ſo wird es faſt ſtets mit anderen Metallen, wie Blei, Zink,
Nickel, Zinn, Wismut, Aluminium, Gold ꝛc., beſonders aber mit
Kupfer legiert. Dieſe Legierungen ſind härter und klingender als das
reine Silber, und ſind die Legierungsverhältniſſe derſelben in den meiſten
Ländern geſetzlich vorgeſchrieben. Das Silber von dem vorgeſchriebenen
Feingehalt wird „Probeſilber“ genannt. Eine neue für die Juweliere
beſtimmte Legierung heißt Roſeïn und beſteht aus 10 % Silber, 40 %
Nickel, 30 % Aluminium und 20 % Zinn. Einige Legierungen, in
denen ſich Silber in geringerer Menge findet, ſind bei den Legierungen
der anderen Metalle. beſchrieben.


Das Gold.

Vorkommen. Das Gold — deſſen chemiſche Formel von aurum
abgeleitet Au iſt — iſt ziemlich verbreitet, findet ſich aber faſt immer
nur in ſehr geringer Menge, meiſt gediegen oder mit etwas Silber in
Siebenbürgen, Sibirien, beſonders aber in Kalifornien, Mexiko und
Auſtralien. Es findet ſich entweder auf Gängen und Lagern in den
älteſten Geſteinen der Erde oder in den Zerſetzungsprodukten derſelben,
ferner im Flußſande und im angeſchwemmten Lande. Auch Eiſenkies
und die meiſten Silber-, Kupfer- und Bleierze enthalten Gold, wenn
auch nur in ſehr geringen Mengen.


[627]Das Gold.

Darſtellung. Die Gewinnung des Goldes geſchieht auf ſehr
verſchiedene Arten und richtet ſich nach dem Vorkommen desſelben.
Das in dem Goldſande und den verwitterten Felsarten vorkommende
Gold wird aus dieſen ausgewaſchen, indem man viel Waſſer durch
auf ſchiefen Tafeln ſtehende ſog. Wiegen, welche die goldführende
Geſteinsart enthalten, fließen läßt, oder auch in hölzernen Näpfen, welche
man ſo lange mit Waſſer ſchüttelt, bis die größte Menge des Sandes
fortgewaſchen iſt. Das ſo erhaltene „Waſchgold“ enthält noch Körner
von Titaneiſen und Magneteiſen.


Auch durch Queckſilber wird das Gold aus dem goldhaltigen
Sande, nachdem dieſer aufgeſchwemmt iſt, unter Bildung von Gold-
amalgam ausgezogen. Es geſchieht dies in den ſog. Quick- oder
Goldmühlen, in welchen durch Herumſchleudern die Goldkörnchen
mit dem Queckſilber in Berührung gebracht werden. In Beuteln von
Leder oder dergleichen, wird dann durch Preſſen das Goldamalgam
von dem überſchüſſigen Queckſilber getrennt und ſchließlich das Queck-
ſilber aus dem Amalgam nach denſelben Methoden entfernt, welche
bereits beim Silberamalgam beſchrieben ſind. Nach H. Wurtz wird
durch Zuſatz von Natrium zum Queckſilber unter Bildung von Natrium-
amalgam das Ausziehen des Goldes erleichtert und auch viel voll-
ſtändiger erreicht. Einen ſehr vollkommen arbeitenden Amalgamotor
hat H. Mc. Dougall konſtruiert. Bei demſelben gelangen der gold-
führende Sand oder die Erze durch einen Trichter in die innere Pfanne
eines Syſtems konzentriſcher Pfannen, welche ſich in raſcher Umdrehung
befinden und deren Seitenwände geneigt und amalgamiert ſind. Die
Centrifugalkraft ſchleudert das Erz von der innerſten Pfanne an der
Seitenwand derſelben aufſteigend in die zweite, von hier aus in die
dritte u. ſ. w., bis es alle Pfannen paſſiert hat. Der Amalgamüberzug
der Seitenwände hat dann auch alles Gold amalgamiert.


Bei weitem rationeller als die Methode des Auswaſchens und
Amalgamierens iſt diejenige des Ausſchmelzens. Nach derſelben wird
das Gold mit Flußmitteln in Hochöfen auf goldhaltiges Roheiſen ver-
ſchmelzt und aus dieſem dann mittels Schwefelſäure abgeſchieden.
G. Sweanor ſtellt bei 315° C. durch Zuſammenſchmelzen eine leicht
ſchmelzbare Legierung von vier Teilen Wismut, zwei Teilen Blei, einem
Teile Zinn und einem Teile Kadmium dar, hält ſie bei ca. 88° C. flüſſig
und trägt in dieſes Metallbad den gepulverten goldführenden Quarz ꝛc.
ein. Das Gold ſinkt in demſelben unter, während die Gangart auf
der Legierung ſchwimmt.


Die Kupfer- und Bleierze, in welchen Gold eingeſprengt vorkommt,
werden, wie bei ihrer Verarbeitung angegeben worden, geröſtet und
gewaſchen, und ſind es goldreiche Erze, ſo werden ſie durch Amalga-
mation weiter behandelt, während aus goldarmen Erzen das Gold
mittelſt der „Eintränkungsarbeit“ gewonnen wird. Dieſelbe beſteht darin,
daß man die goldhaltigen Schwefelmetalle, nach dem Röſten und
40*
[628]Die Rohgewinnung der Metalle.
Schmelzen „Rohſtein“ genannt, abermals röſtet und nun mit Blei-
glätte zuſammenſchmilzt. Dieſe verbindet ſich mit dem in dem Roh-
ſteine enthaltenen Golde und wird von dieſem dann auf dem Treib-
herde mittelſt Abtreibens geſchieden. E. T. Levis empfiehlt, die zer-
kleinerten Erze unter Lufteinblaſen zu röſten, den entweichenden Staub
zu ſammeln und dieſen mit der geröſteten Maſſe und mit baſiſchen
Flußmitteln gemiſcht in einem Schachtofen niederzuſchmelzen. D. Clark
chloriert die goldhaltigen Erze, indem er ſie vor dem Röſten mit Koch-
ſalz und Eiſen- oder Kupferchlorür miſcht, und ſie nach dem Röſten
auslaugt oder amalgamiert. Ein Verfahren von O. Brien hat ſich
beſonders für goldhaltige Pyrite bewährt. Danach werden die Kieſe,
nachdem ſie 24 bis 30 Stunden lang geröſtet wurden, mit Schweflig-
ſäureanhydrid behandelt, mit Waſſer ausgelaugt und dann in
gewöhnlicher Weiſe amalgamiert. Die hierzu erforderliche ſchweflige
Säure liefern die Kieſe während des Röſtens ſelbſt. Zur Gewinnung
des Goldes aus Arſeneiſen endlich ſchmelzt E. Probert dasſelbe und
läßt es dann in eiſerne, mit feuerfeſtem Material ausgefütterte Gefäßen
ab. In die noch flüſſige Maſſe wird dann gekörnte Glätte oder Blei
eingeführt, welches ſich mit dem Golde verbindet und von dieſem —
wie vorher geſagt — auf dem Treibherde abgetrieben wird.


Sehr armen goldhaltigen Erzen wird das Gold auf naſſem Wege
entzogen, indem dieſelben mit Chlorwaſſer oder einer angeſäuerten
Chlorkalklöſung behandelt werden. Hierbei löſt ſich das Gold als
Goldchlorid (AuCl3) auf und wird aus der Löſung durch Eiſenvitriol
oder Schwefelwaſſerſtoff niedergeſchlagen. Nach dieſer Methode kann
man aus Kieſen, welchen man — nachdem ſie geröſtet wurden —
durch Behandlung mit Schwefelſäure das Eiſen, Zink, Kupfer ꝛc. ent-
zogen hat, noch 0,0001 gr Gold extrahieren. Nach Mac Arthur wird
das Gold aus den Erzen durch Cyanid gelöſt und aus dieſer Löſung
mittelſt Zink niedergeſchlagen. J. B. Spence löſt das Gold aus den
geröſteten und fein gemahlenen Erzen in einer heißen Löſung von
Eiſenhyperchlorid, und ſchlägt es aus dieſer Löſung durch geeignete
Agentien nieder. Cl. T. J. Vautin endlich erhöht die Wirkung der
zur Auflöſung des Goldes verwendeten wäſſerigen Chlorlöſung weſentlich
dadurch, daß er die Behandlung der Erze mit derſelben unter einem
Druck bis zu vier Atmoſphären vor ſich gehen läßt.


Das nach allen den vorſtehend genannten Methoden gewonnene
Gold iſt nicht abſolut rein, ſondern enthält noch kleine Beimengungen
anderer Metalle und ſtets Silber, von welchem es gereinigt werden
kann. Dieſe Reinigung wird nach ſehr verſchiedenen Methoden vor-
genommen, von denen die wichtigſten nachfolgende ſind.


Mittelſt Schwefelantimons kann das verunreinigte Gold oder die
Legierung gereinigt werden, wenn ſie mindeſtens 60 % Gold enthält.
In das geſchmolzene Metall wird gepulvertes Schwefelantimon ein-
getragen und bewirkt beim Erkalten die Bildung von zwei Schichten
[629]Das Gold.
der Maſſe, von denen die obere, „Plachmal“ genannt, aus den
Schwefelmetallen der Verunreinigungen beſteht, während die untere,
„König“ genannt, Antimongold iſt. Das Antimon verdampft man
aus dem Antimongold durch Erhitzen der Legierung vor dem Gebläſe
oder unter der Muffel.


Eine andere Scheidung iſt diejenige durch Cementation, wobei ſog.
Cementpulver, beſtehend aus 4 Teilen Ziegelmehl, einem Teile Kochſalz
und einem Teile geglühten Eiſenvitriols mit feinen Granalien oder dünnen
Blechen des Goldes in einem Tiegel geſchichtet, mehrere Stunden lang
erhitzt wird. Hierbei wird das Chlor des Kochſalzes entwickelt und
bildet mit dem Silber Chlorſilber, welches das Ziegelmehl aufſaugt.
Nach dem Erkalten der Maſſe wird das Gold aus derſelben durch
Auskochen mit Waſſer gewonnen.


Eine durchaus falſche Bezeichnung trägt die ſog. Scheidung in
die Quart, welche durch Salpeterſäure geſchieht, weil man fälſchlich
annahm, daß ſie nur dann ausführbar ſei, wenn der Silbergehalt der
betreffenden Legierung das dreifache des Goldgehaltes betrage. Es
genügt aber ſchon die doppelte Menge von Silber in der Legierung,
um es durch Kochen mit konzentrierter Salpeterſäure aufzulöſen. Bei
Anwendung dieſer Methode wird die betreffende Legierung mit der
erforderlichen Menge Silber zuſammengeſchmelzt, granuliert und in
einem Platinkeſſel mit vollkommen chlorfreier Salpeterſäure übergoſſen.
Dieſe löſt das Silber auf, ohne das Gold anzugreifen, welches dann
mit Borax und Salpeter umgeſchmelzt wird. Das Silber wird aus
der ſalpeterſauren Löſung durch Zink oder Kupfer gefällt und ſo wieder
gewonnen.


Die wichtigſte unter allen Scheidungsmethoden iſt die ſog.
„Affinierung“, welche durch Schwefelſäure geſchieht, denn dieſelbe iſt
nicht nur die einfachſte und billigſte, ſondern ſie geſtattet auch die
Scheidung einer Legierung von ganz geringem Goldgehalte, vorausgeſetzt,
daß dieſelbe nicht über 20 % Gold und 10 % Kupfer enthält. Beim Er-
hitzen mit Schwefelſäure wird das Silber und das Kupfer vollſtändig gelöſt,
während das Gold nicht angegriffen wird. Dasſelbe wird darauf mit
Natriumkarbonat gekocht und mit Salpeterſäure behandelt, wodurch es
von dem beigemengten Eiſenoxyd, Schwefelkupfer und Bleiſulfat befreit
wird. Aus der das Silber und Kupfer enthaltenden Löſung wird das
Silber mittelſt Kupferblechſtreifen herausgefällt und das Kupfer auf
Kupferſulfat verarbeitet. Auch die ſich bei der zuerſt ſtattfindenden
Behandlung der Legierung mit Schwefelſäure entwickelnden Dämpfe
von Schwefelſäure und ſchwefliger Säure werden nicht verloren ge-
geben, ſondern aufgefangen und auf Schwefelſäure oder deren Präparate
weiter verarbeitet. Durch die Affinierung kann das Gold aus den
betreffenden Legierungen noch gewonnen werden, wenn dieſelben auch
nur 1/12 % davon enthalten. Das ſo gewonnene Gold enthält nach
M. v. Pettenkofer allerdings noch 2,8 % Silber und 0,2 % Platin,
[630]Die Rohgewinnung der Metalle.
kann aber von dieſen Metallen leicht durch Umſchmelzen mit Salpeter
und Natriumbiſulfat befreit werden.


Wie zur Gewinnung des Silbers und der meiſten anderen Metalle
iſt in neuerer Zeit auch zur Gewinnung des Goldes im großen die
Elektrolyſe verwendet worden. A. E. Scott wendet amalgamierte Zink-
elektroden an, welche in eine mit einer dünnen Schicht Benzin bedeckten
Salzlöſung oder in Seewaſſer tauchen. Die Erze werden in dieſe
Flüſſigkeit hineingegeben, und das während der Elektrolyſe aus der-
ſelben entwickelte Chlor löſt das Gold auf. Die geſättigte Löſung
wird dann abgedampft, der Rückſtand kalciniert, mit Waſſer ausgezogen
und ſchließlich auf Gold verarbeitet, oder das Gold wird aus der
Löſung direkt gefällt. A. Schanſchieff wendet als erregende Flüſſig-
keit einer galvaniſchen Batterie die Löſung von Queckſilberſulfat an,
in welcher die Erze gethan ſind. Das frei werdende Queckſilber amal-
gamiert ſich mit dem Gold und Silber der Erze, während die anderen
in ihnen enthaltenen Metalle in Löſung gehen. Die Batterie wird
hauptſächlich aus einem Eiſenbehälter gebildet, in welchen das Erz
gebracht wird, und aus einer Kohlenplatte, welche die Löſung von
oben gerade berührt. H. F. Julian endlich behandelt die Erze mit
Chlor, amalgamiert ſie, und behandelt ſie dann elektrolytiſch auf folgende
Weiſe. Das zerkleinerte Erz kommt in ein rotierendes Faß, durch
deſſen Hohlachſe Luft oder Dampf tritt, um hier mit Chlor oder einer
chlorerzeugenden Subſtanz behandelt zu werden. Sodann führt man
Queckſilber oder Natriumamalgam in das Faß ein, und läßt es von
neuem rotieren, worauf das Erz durch elektrolytiſche Zellen und über
amalgamierte Platten geleitet wird. Die Kathoden dieſer Zellen be-
ſtehen aus Queckſilber oder Amalgam und das Erz wird in den Zellen
durch die aus einer perforierten Röhre tretenden Waſſerſtrahlen be-
wegt. Durch eine Löſung eines Kalium- oder Natriumſalzes wird die
Wirkſamkeit des Queckſilbers ſehr erhöht.


Eigenſchaften. Das Gold hat eine gelbe, als Pulver eine
braune Farbe, welche erſtere ſchon durch die Beimengung geringer Mengen
anderer Metalle modifiziert wird, und iſt bei großer abſoluter Feſtig-
keit noch weicher, dehnbarer und ſtreckbarer als das Silber wie auch
ſehr politurfähig. Es läßt ſich zu Blattgold von 0,0001 mm Dicke
auswalzen und iſt in dieſem Zuſtande mit grüner Farbe durchſcheinend.
Aus einem Gramm Gold kann ein Draht von 2500 m Länge gezogen
werden. Es ſchmilzt bei 1100° C., nimmt dabei eine meergrüne Farbe
an und dehnt ſich ſchmelzend ſtark aus; in ſehr hoher Temperatur kann
es verflüchtigt werden. Von Säuren wird es nicht angegriffen, ſondern
nur von Chlor liefernden Flüſſigkeiten, und unter dieſen beſonders von
dem ſog. Königswaſſer, d. i. eine Miſchung von einem Teil konzen-
trierter Salpeterſäure und 2 bis 4 Teilen konzentrierter Salzſäure.
Sein ſpezifiſches Gewicht iſt 19,25, kann aber durch Bearbeitung bis auf
19,6 erhöht werden.


[631]Das Gold.

Geſchichtliches. Das Gold iſt ſeit den älteſten Zeiten be-
kannt, und ſeine vergeblich angeſtrebte künſtliche Darſtellung war das
Hauptziel der Alchimiſten, welche eine ganz beſondere Epoche in der
Geſchichte der Chemie hervorriefen.


Legierungen. Da die aus reinem Gold dargeſtellten Gegen-
ſtände ſich infolge ſeiner geringen Härte ſehr bald abnutzen würden,
ſo muß es ſtets legiert werden. Es legiert ſich auch mit zahlreichen
anderen Metallen, aber mit Ausnahme von Silber und Kupfer be-
einträchtigen ſchon kleine Mengen faſt aller anderen Metalle ſeine Dehn-
barkeit beträchtlich, und beſonders wirken Blei, Antimon, Wismut und
Arſen ſchädlich nach dieſer Richtung. Bei der Berechnung des Goldes
in den Legierungen nach „Karat“, wird die Kupferlegierung des Goldes
„rote Karatierung“, die Silberlegierung „weiße Karatierung“ und ein
Gemiſch beider „gemiſchte Karatierung“ genannt. Auch für das Gold
wird — wie bei dem Silber erwähnt — der Gehalt der Legierungen
in den meiſten Ländern durch das Geſetz beſtimmt. Eine Legierung
von rotbrauner Farbe und Eiſenhärte beſteht aus 18 Teilen Gold,
13 Teilen Kupfer, 11 Teilen Silber und 6 Teilen Palladium. Grünes
Gold in allen Nuancen wird durch geeignete Proportionierung von
Gold, Silber und Kadmium erhalten. H. Oſtermann ſetzt eine Legierung
zuſammen aus 30 bis 45 Teilen Gold, 20 bis 30 Teilen Palladium,
0,1 bis 5 Teilen Rhodium, 10 bis 20 Teilen Kupfer, 1 bis 10 Teilen
Nickel, 0,1 bis 5 Teilen Mangan, 0,1 bis 5 Teilen Silber und 0,1 bis
2,5 Teilen Platin.


Dieſe vorſtehend erwähnten Legierungen ſind aber nur als die aller-
neuſten derſelben erwähnt worden, während in der That außerordentlich
zahlreiche Legierungen des Goldes, beſonders im wechſelnden Ver-
hältnis mit Silber und Kupfer exiſtieren, denn die Herſtellung der-
ſelben zur Erhöhung des Härtegrades und zur Veränderung der Farbe
iſt uralt. Schon die antiken Schmuckſachen beſtehen größtenteils aus
Legierungen von Gold mit Silber und Kupfer, ja ſelbſt mit Blei.


Dr. Max Weitz.


2. Die Metallverarbeitung.


a) Die rohere Formgebung der Metalle.


Das Metall hat ſich die Welt erobert. Überall, in den Hütten
der Armut, wie in den Paläſten der Reichen tritt es uns entgegen,
bald in beſcheidenſter Geſtalt als Blechlöffel, bald als koſtbare Bronze-
ſtatue, deren Erwerb dem glücklichen Beſitzer viele Tauſende von Mark
koſtete. Schier unendlich mannigfaltig ſind die Formen, die es anzu-
[632]Die Metallverarbeitung.
nehmen vermag; was immer des Künſtlers Auge ſchaut, vermag ſeine
Hand in Erz nachzubilden, iſt es doch ein Stoff von einer Bildſamkeit
wie faſt kein anderer und doch wieder von einer Feſtigkeit, die ihn
Jahrtauſende überdauern läßt. Wir haben ihn nun im vorigen Ab-
ſchnitt auf ſeinem Leidenswege verfolgt, den ihn der Menſch wandeln
läßt, erſt losgeriſſen von ſeiner Mutter Erde, dann zerpocht, geröſtet ꝛc.,
bis endlich ein Metallblock entſtand, ſo rein, daß er zu weiterer Ver-
arbeitung ſich eignet; denn noch iſt der Pfad nicht zu Ende und ehe
aus dem Blocke ein Kunſtwerk entſteht, das dem Menſchen Bewunderung
abzwingt, koſtet es noch manchen Schweiß. Da wird gegoſſen, ge-
hämmert, geſchmiedet, die verſchiedenen Metalle werden gemiſcht ꝛc.,
unerſchöpflich erſcheint faſt jetzt ſchon die Fülle der Methoden, nach
denen Metalle verarbeitet werden, und noch jedes Jahr bringt neue
Erfindungen hervor.


Das Gießen.

Unter Metallgießen verſteht man die Kunſt, dem Metall im ge-
ſchmolzenen Zuſtande eine Form zu geben, die es nach dem Erſtarren
behält. Man füllt zu dieſem Zwecke eine Höhlung, der man eine be-
ſtimmte Geſtalt gegeben hat, mit dem flüſſigen Metalle aus und erhält
dann ein Gußſtück, das dieſer Höhlung, der Gußform, vollkommen
gleicht. Auf die Herſtellung der Form muß daher die größte Sorgfalt
verwendet werden, und ſo haben ſich denn im Laufe der Zeit die ver-
ſchiedenſten Methoden herausgebildet, die Formen ſo zweckentſprechend
wie möglich zu geſtalten und dabei doch den geringſten Aufwand an
Zeit und Arbeitskraft zu machen. Die Form iſt eine Art Kunſtwerk
für ſich, und entſpricht ſie nicht allen Anforderungen, ſo mißlingt der
Guß, und Mühe und Fleiß ſind vergeblich geopfert. Bildſam ſoll das
Material der Form ſein, damit es ſich mit Leichtigkeit in beſtimmte
Formen drücken läßt; und doch feſt dabei, damit es durch den Druck
des Metalls nicht auseinander gepreßt werde; porös, damit die Gaſe,
welche oft in großen Mengen vom Metall abſorbiert ſind, leicht ent-
weichen können, und unſchmelzbar in der Temperatur, bei welcher das
Metall hineingegoſſen wird. Wenige ſolche Materialien giebt die Natur
dem Menſchen direkt an die Hand. In älteren Zeiten benutzte man
hauptſächlich Lehm, wie ja auch Schiller in der Glocke erwähnt, aber
da Lehm undurchläſſig iſt, ſo miſcht man ihn mit Pferdedünger, der
ſich in der Hitze zerſetzt und dann Hohlräume übrig läßt. Lehmformen
werden vor dem Gebrauche getrocknet, nicht ſo die Formen aus Sand,
die ſeit der Mitte des 18. Jahrhunderts vielfach in Aufnahme ge-
kommen ſind. Der Sand bekommt erſt durch einen richtigen Feuchtig-
keitsgrad die genügende Bildſamkeit, man nimmt ihn recht fein, aber
ſcharfkantig und ſplittrig, damit Hohlräume bleiben, durch welche der
Waſſerdampf und die Gaſe entweichen können. Enthält der Sand viel
Thonerde, ſo wird er fett genannt und heißt auch Maſſe. Die Maſſe
[633]Das Gießen.
iſt bildſamer, aber weniger durchläſſig. Eiſerne Formen, welche mit
Luftkanälen verſehen ſind, kommen ſeit Anfang dieſes Jahrhunderts
vor und werden zum ſogenannten Hartguß benutzt.


Zum Herſtellen der Formen bedient man ſich meiſt hölzerner
Modelle, mit jeder größeren Gießerei iſt daher auch eine Modelltiſchlerei
verbunden. Nach dem einfachſten Verfahren wird Formſand unmittel-
bar vor dem Ofen in einer gehörig dicken Schicht auf dem Fußboden
der Hütte, dem Herde ausgebreitet, durchnäßt und dann das Modell
hineingedrückt. Durch Kanäle läuft das Metall in die Form und er-
ſtarrt an der Luft, feines Kohlenpulver, mit dem die Form beſtäubt
wird, verhindert das Anbacken von Sandkörnchen an das Gußſtück.
Von der Seite her ſind durch den Sand mit einer feinen langen Nadel,
dem Luftſpieß, in die Form feine Öffnungen geſtochen, die Wind-
pfeifen, um den Abzug des Waſſerdampfes zu erleichtern. Mit dieſer
offenen Art der Herdformerei laſſen ſich natürlich nur einfache Gußſtücke,
namentlich Platten herſtellen. Bei allen komplizierten Gußſtücken bedient
man ſich des Kaſten- oder Flaſchenguſſes. Man legt das Modell auf
ein Brett, das Formbrett, mit derjenigen Fläche nach oben, welcher
die Form des Werkſtückes gegeben iſt. Dann ſtülpt man den Kaſten
darüber, und füllt ihn mit Formſand, der gehörig feſtgeſtampft wird.
Bei großen Gußſtücken iſt der Kaſten mit eiſernen Querrippen verſehen,
um dem Sande größere Haltbarkeit zu verleihen. Kehrt man darauf
den Kaſten um, ſo hat man in der Sandoberfläche einen vertieften
Abdruck des Modells. Einen zweiten Kaſten von gleicher Größe ſtampft
man ebenfalls mit Sand voll und ſetzt ihn als Oberkaſten darauf.
Durch den Sand des Oberkaſtens geht ein Kanal, durch welchen das
Metall eingegoſſen wird. Hat das Gußſtück kompliziertere Profile,
iſt es namentlich geſchweift und ſo geſtaltet, daß man nach dem Guß
die Form nicht ohne weiteres abnehmen kann, ſo ſchneidet man es der
Dicke nach quer durch, formt jeden Teil einzeln und ſetzt dann die
Formkäſten aufeinander, nachdem
ihre Oberflächen mit Ziegelmehl
beſtreut ſind, damit der Sand
nicht zuſammenbacke. So werden
z. B. Kugeln, Walzen und ähn-
liche Gegenſtände geformt. Fig. 375
zeigt die zweiteilige Form einer
Riemenſcheibe mit einem Kerne a b.
Dieſe hölzernen oder eiſernen
Käſten ſollen verhindern, daß die

Figure 366. Fig. 375.

Zweiteilige Gußform einer Riemenſcheibe.


Form durch den ſtarken Metall- oder Dampfdruck zerſprengt wird.
Auch hier wird die Form vor dem Gebrauch mit Kohlenſtaub bepudert.
Der Kaſtenguß wird außerordentlich häufig angewandt. Bei hohlen
Gegenſtänden, Mörſern, Röhren u. dgl. wird in die den äußeren
Umfang des Gußſtückes begrenzende Form noch eine zweite innere
[634]Die Metallverarbeitung.
hineingeſetzt, der Kern. Der Kern muß beſonders ſtark gearbeitet
werden, — er beſteht meiſt aus gebranntem Lehm — weil das Metall
beim Erkalten ſich mehr oder minder ſtark zuſammenzieht und dann
einen ungeheuren Druck auf den Kern ausübt.


Der Maſſeguß wird, weil das benutzte Material feinkörniger iſt,
hauptſächlich für feinere Gießwaren, Ringe, Leuchter, Münzen ver-
wertet. Da die Formen wegen ihres feſteren Gefüges weniger durch-
läſſig ſind, ſo werden ſie vor dem Gebrauch in eigenen Trockenkammern
ſtark getrocknet, bis aller Waſſerdampf entwichen iſt.


Bei den bisher beſchriebenen Verfahren kann die Form nur ein-
mal gebraucht werden, dasſelbe findet auch beim Lehmguß ſtatt. Die
Lehmform beſteht aus drei Teilen. Der Kern hat Größe und Geſtalt
des Innern, des Hohlraumes des Gußſtückes. Über den Kern wird
mit Lehm ein Modell ausgeformt, das dem zu fertigenden Gußſtücke
vollkommen der äußeren Geſtalt nach gleicht und deſſen Schicht ſo dick
iſt, wie die Metallſtärke des Gegenſtandes werden ſoll. Dies iſt das
Hemde, die Dicke, auch Stärke genannt. Über das Hemde endlich
wird eine ſtärkere Lehmſchicht aufgetragen, der Mantel. Der Mantel
wird dann vorſichtig mit einem dünnen Meſſer zerſchnitten, abgenommen
und das Hemde vom Kern entfernt. Endlich ſtülpt man den Mantel
wieder über den Kern und hat nun einen Hohlraum, der in jeder
Beziehung dem Gußſtücke ähnlich iſt. Große Formen werden in eine
Grube, die Dammgrube geſetzt und dann mit feſtgeſtampfter Erde um-
geben; auch mauert man wohl den Kern gleich in der Grube aus Lehm-
ziegeln auf. Lehmformen werden vor dem Gebrauch ſtark getrocknet
und mit einer Miſchung von Waſſer und Kohlenpulver bepinſelt,
geſchwärzt.


Formen aus Metall, wie ſie beim ſogenannten Schalenguß gebraucht
werden, haben den Vorzug, daß ſie eine mehrmalige Benutzung ge-
ſtatten, ſie werden trotzdem wenig angewendet, weil die Gußwaren
durch das ſchnelle Abkühlen — das Abſchrecken — in den gut leitenden
Formen unanſehnlich und rauh ausfallen und bis in eine gewiſſe Tiefe
eine große Härte und Sprödigkeit erlangen, wenigſtens beim Eiſen.
Damit iſt das Formmaterial noch nicht erſchöpft, bei Metallen mit
niedrigen Schmelztemperaturen benutzt man Papier, Gips, Holz, Schiefer
oder leicht ſchmelzbare Metalle, für ſchwer ſchmelzbare Metalle ver-
wendet man Meſſing, Schmiedeeiſen, Gußeiſen, Sand, Lehm, gebrannten
Thon, für Edelmetalle auch Sepia; bei den einzelnen Metallen ſoll
darauf zurückgekommen werden.


Um Zeit und Arbeitslohn zu ſparen, hat man geſucht, beim Her-
ſtellen der Formen die menſchliche Hand durch Maſchinen zu erſetzen.
So erfand 1827 Frankenfeld in Rothehütte im Harz zuſammen mit
Heyder und Flantje die Modellplattenformerei, 1854 erfand Brown in
Nordamerika die erſte Röhrenformmaſchine, dieſe iſt ſpäter von Waltjen
verbeſſert und unter deſſen Namen weithin bekannt geworden. Die
[635]Das Gießen.
größte Verbreitung haben aber die Räderformmaſchinen für Zahnräder
gefunden, für welche eine große Anzahl von Patenten genommen ſind.


Das Gießen ſelbſt iſt eine verhältnismäßig einfache Sache. Die
Formen erhalten ein Gießloch, und bei kleinen Gegenſtänden wird mit
Schöpfkelle oder Eimer das flüſſige Metall durch dasſelbe hinein-
gegoſſen. Größere Gußſtücke werden durch viele Öffnungen gleichzeitig
gefüllt, meiſt direkt aus Hochöfen, und das Metall durch in den Hütten-
boden gegrabene Kanäle zugeführt. Da das Metall beim Erkalten
ſich zuſammenzieht, — ſchwindet, — ſo wird die Form etwas größer
gebaut, wie das Gußſtück; vielfach wird ſie auch noch mit einem
Aufſatz verſehen, dem verlorenen Kopf, der nach dem Guß beſeitigt
wird, und aus welchem das Metall nachfließen kann. Immer iſt darauf
zu achten, daß die ſich entwickelnden Dämpfe und die aus dem Metall
hervorbrechenden Gaſe, ſo ſchnell wie möglich abziehen können; die
Zahl der Windpfeifen muß alſo genügend groß ſein.


Die Eiſengießerei war im Altertum unbekannt, denn man war
damals nicht imſtande, ſo hohe Hitzegrade zu erzielen, daß man ver-
mocht hätte, Eiſen zu ſchmelzen. Erſt aus dem Jahre 1490 kommt
die Nachricht, daß im Elſaß eiſerne Öfen gegoſſen wurden. 1547 fertigte
man in England eiſerne Kanonen, 1780 goß man auf der Hütte Lauch-
hammer die erſten eiſernen Statuen. Den Feinguß betrieb zuerſt die
Anfang des 19. Jahrhunderts angelegte königliche Eiſengießerei zu
Berlin. Die erſte Eiſenbrücke wurde in England 1773—1777 über
den Severnfluß geſchlagen. Früher goß man Eiſen ausſchließlich in
Lehmformen, jetzt kommen alle oben genannten Methoden in Anwendung.
Heutigen Tages kann man ſich kaum eine Vorſtellung davon machen,
wie unſere Vorfahren ohne Eiſen haben durchkommen können, denn
ſeit der Erfindung des Guſſes hat dieſes Metall ſich im Fluge die
Welt erobert. Zum Segen der Menſchheit hat es namentlich das
Holz erfolgreich aus dem Felde geſchlagen; denn was ſollte aus den
Wäldern werden, würden nicht Streben und Träger, ja ſelbſt ganze
Gebäude und Schiffe, landwirtſchaftliche und andere Maſchinen, Brunnen-
röhren u. ſ. w. aus Eiſen verfertigt, lauter Gegenſtände, zu deren Her-
ſtellung früher ausſchließlich Holz benutzt wurde. Auch mit anderen
Metallen, namentlich mit der Bronze, iſt das Gußeiſen erfolgreich in
Konkurrenz getreten und die zierlichſten Kunſtwerke von außerordent-
licher Feinheit der Ausführung werden in den Eiſengießereien an-
gefertigt. In allerjüngſter Zeit hat eine Abart des Eiſens, der Stahl,
einen erfolgreichen Wettbewerb mit demſelben angefangen.


Der Stahlguß geht in gleicher Weiſe vor ſich, wie der Eiſenguß,
nur daß man ſich hier ausſchließlich der Formen aus fettem Sande
oder aus Lehm bedient, die ganz beſonders feuerbeſtändig ſein müſſen.
Stahl iſt bedcutend widerſtandsfähiger wie Eiſen, bei gleichen An-
forderungen an die Leiſtungsfähigkeit können daher Gußſtahlſtücke von
ſehr viel geringeren Dimenſionen gewählt werden. Man benutzt alſo
[636]Die Metallverarbeitung.
Stahl überall, wo bei Verwendung von Gußeiſen die Werkſtücke ſelbſt
ſchon zu ſchwer werden würden, oder wo letzteres Metall ſich zu ſchnell
abnutzen würde. 1824 beſchäftigte ſich Needham in London zuerſt mit
dem Gießen von Stahl, aber erſt ſeit der Erfindung des Beſſemer
Verfahrens finden wir Stahlſchienen, Stahlkanonen, Turmglocken, Rad-
kränze, Scheibenräder, Walzen und andere große Gegenſtände. Sicherlich
ſteht man hier erſt am Anfang und der Fortgang iſt noch nicht ab-
zuſehen, namentlich beim Brückenbau blüht dem Stahl noch eine große
Zukunft.


Von geringerer Bedeutung iſt das Gießen von Meſſing und Neu-
ſilber, das gleichfalls in Sand oder in Lehmformen vor ſich geht; der
Gebrauch dieſer Metalle iſt allerdings auch ein ziemlich großer, aber
doch auf einen verhältnismäßig geringen Kreis beſchränkt.


Von höchſtem Intereſſe iſt der Bronzeguß. Bronze wird haupt-
ſächlich für Kanonen, Glocken und Bildſäulen verwertet. Gegoſſen
wird Bronze wie die anderen Metalle, und nur beim Glocken- und
Statuenguß findet ein beſonderes Verfahren Platz, das hier näher
erläutert werden ſoll. Glocken werden in der Dammgrube geformt und
gegoſſen, mit der Mündung nach unten. Auf dem für den Mittelpunkt
der Form beſtimmten Platz ſchlägt man einen Pfahl ein, um den ein
ringförmiges Mauerwerk aufgeführt wird, über welches der hohle,
ebenfalls gemauerte Kern ſich aufbaut, den man außen mit Lehm
beſtreicht. Auf ein quer über den Pfahl gelegtes und in den Kern
eingemauertes Eiſen ſtützt man eine ſenkrechte eiſerne Spindel, deren
oberes Ende in einem wagerecht über der Grube liegenden Balken läuft.
An der Spindel wird ein Brett befeſtigt, das genau die Form des
inneren Querſchnitts der Glocke hat; führt man alſo mit der Spindel dieſe
Lehre um den Kern, ſo wird ſie allen überſchüſſigen Lehm fortnehmen,
ſo daß der Kern jetzt dem Glockeninnern vollkommen gleicht. Dann macht
man Feuer in dem Kern an, damit derſelbe trockne, und beſtreicht ihn
mit in Waſſer gelöſter Aſche, damit das Hemde nicht am Kern feſthafte.
Das Hemde wird aus Lehm gemacht und ebenfalls mit einer Lehre,
die natürlich die äußere Glockenform nachahmt, abgeſtrichen. Endlich
bekommt dieſes Hemde oder Modell einen Überzug aus Talg oder Wachs,
der flüſſig aufgetragen und mit der Lehre geglättet wird. Bilder,
Schrift, Verzierungen werden in naſſen hölzernen, gipſenen oder
meſſingenen Formen aus Wachs gedrückt, mit Terpentin auf das
Modell aufgeklebt, das dadurch der äußeren Glocke vollkommen gleicht.
Endlich wird über das Hemd Lehm ſchichtenweiſe aufgetragen und der
Mantel gebildet und mit einer dritten Lehre abgedreht. Durch ge-
lindes Heizen des Kernes trocknet der Mantel, indem gleichzeitig die
wächſernen Verzierungen ausſchmelzen und ihnen gleiche Vertiefungen
im Mantel zurücklaſſen. Auf die Öffnung, welche die Form oben,
entſprechend der Höhlung des Kerns, immer noch hat, wird die Form
zu den Henkeln aus Lehm über hölzernen oder wächſernen Modellen
[637]Das Gießen.
gebildet, die in ihrem Innern die vollkommene Geſtalt der Glocken-
krone haben. Dieſe enthält den Einguß und mehrere Windpfeifen. Zur
Verſtärkung werden Mantel und Henkelform mit eiſernen Schienen und
Reifen verſteift, an welchen ſich Haken befinden, mittels deren man dieſe
Rüſtung mit Mantel und Henkelform mit einem Flaſchenzug in die
Höhe ziehen kann. Sodann ſchneidet man das Hemde in Stücken los,
beſſert, wenn nötig, Kern und Mantel noch aus, füllt den Kern mit
Erde und verſchmiert ihn oben mit Lehm. Endlich läßt man den
Mantel wieder herab und macht durch Verſtreichen aller Fugen mit
Lehm und Vollſtampfen der Dammgrube mit Erde und Sand die
Form zum Guß fertig.


Der Statuenguß iſt noch komplizierter. Mannigfaltig ſind die
Methoden, nach denen die Gußformen hergeſtellt werden. Nach einer
kleinen Skizze wurde über einem Gerüſt aus Eiſenſtäben ein Gips-
modell mit aller Sorgfalt hergeſtellt, in der wirklichen Größe, die die
gegoſſene Statue haben ſollte. Über dieſem Modell wurde eine aus
vielen Teilen beſtehende Gipsform gemacht, deren Hohlraum alſo jetzt
dem Gußſtück gleicht. Vor dem Zuſammenſetzen kleidete man jedes
Stück mit Wachs von der Dicke aus, die die Statue bekommen ſollte.
Dieſes Wachsmodell gleicht nun in jeder Beziehung — äußerer, innerer
Form, Dicke — der Statue. Iſt man ſo weit, ſo ſetzt man die ganze
Form um ein Gerüſt von Eiſenſtäben in die Dammgrube und füllt ſie
innen mit der Kernſchlichte, einer Miſchung von Gips, Ziegelmehl und
Waſſer. Da Gips allein dem Feuer nicht widerſtehen kann, ſo wird
der Gipsmantel abgenommen, das Wachsmodell bleibt auf dem Kern,
da es innen mit einer großen Anzahl kleiner Öſen und Häkchen ver-
ſehen iſt, die im Kern feſtſitzen. Das Wachsmodell wird erſt noch
nachgearbeitet und dann etwa 20 mm dick mit Formkitt, einer Miſchung
aus Lehm, Ziegelmehl und Leimwaſſer, überzogen. Jetzt umgiebt man
das Ganze mit Lehm und umbaut es mit Lehmſteinen. Ein gelindes,
außen angemachtes Feuer läßt das Wachs innen ſchmelzen und eine
Höhlung zurückbleiben, die dem anzufertigenden Gußſtück gleicht. Dieſer
ſogenannte italieniſche Guß wird heute noch angewendet, er hat den
Vorzug, daß alle Feinheiten des Bildwerkes aufs beſte, ohne Nach-
arbeit hervortreten und das Ganze in einem Stücke gegoſſen werden
kann, andererſeits iſt aber auch bei einem ja niemals ausgeſchloſſenen
Mißlingen des Guſſes die ganze mühevolle Arbeit verloren, das Modell
allerdings bleibt erhalten. Man gießt daher jetzt die Kernſchlichte direkt
in die Gipsform und arbeitet nach dem Erkalten vom Kern ſoviel
herunter, als die Metalldicke betragen ſoll und gießt dann den Raum
zwiſchen Kern und Mantel mit Wachs aus oder, und das iſt das in
der Neuzeit meiſt angewendete Verfahren, man führt den Guß ſtück-
weiſe aus. Der Hauptkörper wird in einfachere Teile zerlegt und
ebenſo werden kleinere Nebenteile, die ſtark hervortreten, wie Pferde-
ſchwänze, vorgeſtreckte Arme u. ſ. w. getrennt gegoſſen. Man wendet
[638]Die Metallverarbeitung.
auch Thon ſtatt des koſtſpieligen Wachſes an. Bei kleinen Statuen, bei
Büſten, Vaſen und allen Gegenſtänden, die fabrikmäßig in großer Zahl
hergeſtellt werden ſollen, greift man zum Sandguß. Dieſe Stücke
werden aus Wachs in einer mehrteiligen Gipsform hohl gegoſſen, indem
man die Form ſtürzt, d. h. nach teilweiſem Erſtarren des Wachſes
umkehrt und das noch Flüſſige auslaufen läßt. Die Form wird dann
mit einem warmen Meſſer zerſchnitten, über einem Kern von Lehm
oder feſtem Sande wieder zuſammengeſetzt und nun mit einem Lehm-
mantel umgeben oder in einem zweiteiligen Formkaſten in feſtem Sande
eingeformt. Endlich wird das Wachs ausgeſchmolzen. Wunderlich
ſieht eine Form bei ſehr gegliederten und verwickelten Güſſen aus,
indem ſie aus einer Unzahl von Keilſtücken zuſammengeſetzt wird, die
hinten von Lehm umgeben ſind. Bei einer Adlerſchwinge z. B. muß
für jede Feder ein beſonderer Keil eingeſetzt werden. Das Gußſtück
erhält dadurch eine große Zahl von Gußnähten, die nachher erſt wieder
wegciſeliert werden müſſen.


Der Geſchützguß hat ebenfalls eine Reihe von Wandlungen durch-
machen müſſen. Die erſten deutſchen Bronzegeſchütze ſollen 1372 von
Aarau in Augsburg hergeſtellt ſein. Man goß ſie bis Mitte des
17. Jahrhunderts hohl über einen Kern, ſeit 1740 und 1748 aber
werden ſie nach dem Vorgehen des franzöſiſchen Marine-Inſpektors
Maritz maſſiv ausgeführt und nachher ausgebohrt. Der Modellkörper
wird aus Lehm über einem viereckigen Eiſengerüſt hergeſtellt und Inſchrift
und Verzierungen aus Wachs aufgeklebt. Um dies Hemde wird, wie
beim Glockenguß der Mantel geformt. Seit Anfang dieſes Jahr-
hunderts wendet man Bronzemodelle an, die in Stücke geteilt und
einzeln in Formkäſten in der oben beſchriebenen Weiſe mit Maſſe um-
ſtampft werden. Die Käſten werden dann zuſammengeſetzt. Beim
Gießen iſt das dicke Ende unten, und oben noch ein verlorener Kopf
aufgeſetzt.


Der Zinkguß wurde in früheren Zeiten ſehr wenig betrieben,
kommt aber immer mehr in Aufnahme, namentlich als Erſatz für
die teure Bronze. Statuen, Kronleuchter, Kunſtgegenſtände aller
Art werden aus Zink gearbeitet und dann bronziert. Dieſe ſogenannte
unechte Bronze ſieht gut aus und iſt gegenüber der echten ſehr billig.
Zink gießt ſich mit ſehr glatter Oberfläche und giebt alle feinen Züge
des Modells wieder, es bedarf daher nur geringer Nacharbeit. Sehr
beliebt ſind in neuerer Zeit für Maſſenartikel die Stürzformen. Über
ein Gipsmodell wird ein Bronzemantel gegoſſen, der dann inwendig
von einem Ciſeleur ſehr ſorgfältig nachgearbeitet wird, eine beſonders
ſchwierige Arbeit, da alle Erhöhungen des Guſſes als Vertiefungen
in der Form und umgekehrt erſcheinen. Beim Guß wird die Form
gedreht, ſo daß nur eine dünne Metallſchicht an der Wandung der
Form ſitzen bleibt. Das überſchüſſige Metall wird durch Umkehren
der Form entfernt. Sehr beliebt ſind die elaſtiſchen Leimmodelle,
[639]Das Gießen.
die auch beim Bleiguß vielfache Verwendung finden. Über einem
Gipsmodell wird aus mehreren Stücken eine Form aus gebranntem
Gips und Waſſer hergeſtellt, innen gefirnißt und mit heißer Leimauf-
löſung, der man auch wohl etwas Sirup zuſetzt, vollgegoſſen. Nach
dem Erkalten nimmt der Leim die Konſiſtenz einer zähflüſſigen Gallerte
an und läßt ſich dann das Leimmodell leicht herausziehen. Über dieſes
Modell werden Formen aus einer Zuſammenſetzung von Ziegelmehl,
feinem Formſand, Gips und Waſſer gegoſſen, die aber — und hierin liegt
der Hauptvorteil — wegen des elaſtiſchen Modelles nur aus ſehr wenigen
Teilen zu beſtehen brauchen.


Eine ganz hervorragende Bedeutung hat der Bleiguß, der einzige,
bei dem auch ohne Form Güſſe zuſtande kommen. Teils rein, teils
mit anderen Metallen gemiſcht, hat Blei eine ungeheure Verbreitung
gefunden. Bleiröhren, Bleipapier, Gewehrkugeln in allen Größen bis
zum feinſten Schrot, Orgelpfeifen, Schriftlettern mögen als Beweis für
dieſe Behauptung gelten. Bleiplatten werden ſeit 1827 nach dem
Vorgehen von Voiſin auf einer Sandſteinplatte gegoſſen, Platten aus
Orgelmetall, einer Legierung von Blei mit Zinn auf einem mit Leine-
wand überzogenen aus mehreren Bohlen zuſammengeſetzten Holzbrett.
Kugeln werden ſeit 1840 meiſt nach Rapier durch Maſchinen aus
kaltem Blei durch Preſſen hergeſtellt. Eine ganz eigne Methode wird
beim Schrotguß angewendet. Wenn man aus einem Blechlöffel Blei
in Waſſer gießt, und wer hätte dies nicht ſchon einmal am Sylveſter-
abend gethan, ſo wird man bemerken, daß kleinere Bleitropfen zu
Gebilden erſtarren, die einem Getreidekorn ähnlich ſehen. Läßt man
aber den Bleitropfen aus größerer Höhe herabfallen, ſo rundet er ſich
und gewinnt mehr die Kugelform. Beim Herſtellen des Schrotes
verfährt man ähnlich. Man gießt flüſſiges Blei in ein rundes oder
viereckiges Sieb von Eiſenblech, mit runden ſcharfrandigen Löchern,
die um das dreifache ihres übrigens bei allen gleichen Durchmeſſers
von einander abſtehen. Nach der Größe der Löcher richtet ſich die
Feinkörnigkeit des Schrotes. Vor dem Gießen wird die Form mit
Lehmwaſſer geſtrichen und wieder getrocknet, damit das Blei nicht
anbacke. Dann bedeckt man erſt den Boden derſelben mit Bleikrätze,
wie ſie als Schaum beim Schmelzen auf der Oberfläche des Bleies
entſteht. Würde man das Blei ohne weiteres in die Form gießen, ſo
würde es in einem kontinuierlichen Strome herauslaufen, durch dieſes
lockere Material aber kann es nur in Tropfen durchſickern. Die Form
ſteht auf der Höhe eines Turmes, des Schrotturmes, ſo daß die Tropfen
eine Höhe von 30 bis 40 Metern durchfallen müſſen, ehe ſie in ein
untenſtehendes Waſſergefäß hineinfallen. Dadurch iſt ihnen Zeit ge-
laſſen, ſich in der Luft zu einer Kugel zu runden und abzukühlen.
Dieſes Patentſchrot iſt eine engliſche Erfindung von William Wetts in
Briſtol 1782 und giebt ſehr regelmäßige Körner. Noch beſſer und
faſt ausſchußfrei ſoll das Schrot werden, wenn das Waſſer mit einer
[640]Die Metallverarbeitung.
15 cm hohen Ölſchicht oder einer 30 cm hohen beſtändig flüſſig er-
haltenen Talgſchicht bedeckt wird. David Smith in Newyork, geb. 1849,
gab ein Verfahren an, dem fallenden Blei einen ſtarken Luftſtrom
entgegen zu treiben, wodurch der Fall verlangſamt wird, ſo daß man
die Fallhöhe um die Hälfte geringer wählen kann. Nachher wird das
Schrot getrocknet, vom Ausſchuß befreit, nach der Größe geſichtet und
endlich poliert.


Eine noch viel größere Bedeutung wie der Schrotguß hat
der Schriftguß in ſeinen verſchiedenen Formen erlangt. Die einzelnen
Teile, aus welchen die Formen zum Bücherdruck zuſammengeſetzt werden,
bezeichnet man mit dem Namen Typen, oder wenn beſonders von
Buchſtabentypen die Rede iſt, ſo ſpricht man von Lettern; ſie beſtehen
aus einer Miſchung von Blei und Antimon, enthalten aber manchmal
noch andere Zuſätze. Die Anfertigung dieſer Typen iſt ziemlich
verwickelt. Zunächſt wird jeder Buchſtabe und jedes Zeichen erhaben
in Stahl geſchnitten; von dieſer Patrize, auch Stempel genannt, ſchlägt
man in ein Kupferſtück einen vertieften Abdruck, den Abſchlag. Alsdann
wird dieſes Kupferſtück, die Matrize, genau rechtwinklig befeilt und in
eine aus meſſingenen, eiſernen und hölzernen Beſtandteilen zuſammen-
geſetzte Gießform hineingelegt. Die Gießform, Gießinſtrument, iſt ſo
eingerichtet, daß ſie durch bloßes Auswechſeln einzelner Teile für
Matrizen und Buchſtaben jeder Größe paſſend gemacht werden kann.
Alle Metallbeſtandteile ſind in zwei hölzerne Schalen eingeſchloſſen,
gamit die Hände des Gießers vor der Hitze geſchützt ſeien; die Schalen
dienen auch dazu, das Ganze augenblicklich in zwei Teile zu zerlegen,
oder zuſammenzuſetzen. Das flüſſige Schriftmetall wird durch einen
hohen trichterartigen Kanal eingegoſſen, welcher auf dem beim Guſſe
nach oben gekehrten Fußende der Letter ſein Ende findet. Bei der
ungeheuren Wichtigkeit, welche der Schriftguß für das geſamte öffentliche
Leben hat, kann es nicht Wunder nehmen, daß eine große Reihe von
Erfindungen und Verbeſſerungen gerade auf dieſem Gebiete gemacht
wurden und noch gemacht werden. In ſeiner einfachſten Form geht
der Schriftguß in der Weiſe vor ſich, daß der Arbeiter das Gieß-
inſtrument in ſeiner linken Hand hält, während er mit einem Löffel
in ſeiner Rechten etwas Metall aus einem Keſſel ſchöpft und in den
Einguß ſo gießt, daß dieſer ſich ganz füllt. Durch eine eigentümlich
ſchwingende Bewegung befördert er das Metall bis in die feinſten
Linien der Matrize, öffnet dann die Form und läßt die friſch gegoſſene
Type herausfallen. Durch einfaches Schließen iſt die Form ſofort
zum weiteren Gebrauch wieder fertig. Dieſe ganze Reihe von Hand-
griffen geht mit ſolcher Geſchwindigkeit vor ſich, daß ein geübter
Arbeiter bei zehnſtündiger Arbeitszeit gegen 4000 Lettern zu gießen
vermag. Berte in England 1806 und Tarbé in Paris 1835 verſuchten
das Metall aus einem Rohr durch Öffnung eines Hahnes oder Ventils
durch ſeine eigene Schwere in die Form hineinzutreiben, um das Löffel-
[641]Das Gießen.
gießen und das Inſtrumentſchwingen zu umgehen, und da der Druck
der Metallſäule nicht ausreichte, um die feinſten Vertiefungen genügend
auszufüllen, ſo ließ man einen ſchweren Gegenſtand auf das Metall
fallen, das dadurch mit großer Vehemenz in die Form getrieben ward.
Von dieſem Prinzip machten Lehmann und Mohr in Berlin bei der
Erfindung ihrer ſogenannten Kliſchiermaſchine Gebrauch. Bei letzterer
iſt die Gießform, in welche die Matrize mit dem Abſchlag nach unten
von oben hineingeſetzt iſt, auf einer gußeiſernen Grundplatte befeſtigt.
Neben der Form befindet ſich eine große Einflußöffnung, die mittels
eines engen Kanals durch die Seitenwand der Form hindurch mit
dieſer in Verbindung ſteht. Über der großen Eingußöffnung iſt eine
vollkommene Ramme eingerichtet. In ſenkrechten Leitungen bewegt ſich
eine Eiſenſtange auf und ab, die oben mit einer Eiſenkugel beſchwert
iſt, unten aber einen würfelförmigen, eiſernen, genau in die Einguß-
öffnung paſſenden Klotz, den Rammbär, trägt. Läßt man jetzt
ſo viel Metall in die Einflußöffnung wie nötig iſt, um die Form ganz
zu füllen, ſo wird beim Herabfallen des Bären das Metall durch den
Seitenkanal mit großer Gewalt in die Form gedrückt. Feine Luft-
kanälchen in der Form, ſorgen für ſchnelles Entweichen der einge-
ſchloſſenen Luft. Namentlich für große Buchſtaben hat die Kliſchier-
maſchine vielfache Anwendung gefunden.


Im Jahre 1844 kam eine Vorrichtung auf, bei welcher das
Schriftmetall durch eine kleine eiſerne Druckpumpe mit Handbetrieb in
die Formen geſpritzt wurde, aber bei dem raſchen Eindringen des
Metalls in das Inſtrument vermag die Luft nicht ſchnell genug zu
entweichen, ſo daß in den Lettern Höhlungen und Blaſen entſtehen.
Die Gießpumpe für den Handbetrieb wenigſtens hat daher nicht recht
Eingang gefunden.


Als das Zeitungsweſen eine immer größere Verbreitung gewann,
da reichte die Leiſtung eines Handarbeiters nicht mehr aus, um dem
Letternverbrauch Genüge zu leiſten; und man ſann darauf, Lettern-
gießmaſchinen zu erfinden. Dieſelben verwerten alle die Gießpumpe;
und alle Bewegungen, das Pumpen, das Öffnen und Schließen der
Form, das Heranbringen derſelben an das Mundſtück der Pumpe,
das Zurückziehen und Herauswerfen der gegoſſenen Typen, alles
wird durch beſondere Mechanismen bewirkt, die durch Umdrehung
der Kurbel an einem Schwungrade in Bewegung geſetzt werden. Die
Maſchine liefert etwa fünfmal ſo viel wie ein geübter Arbeiter, alſo
bis zu 20000 Typen bei zehnſtündiger Arbeitszeit. Der erſte, der
Gießmaſchinen einführte, war 1815 Didot in Paris. Die erſte wirklich
allen Anforderungen entſprechende konſtruierte 1835 der Amerikaner
White zu Boſton. Bis zum heutigen Tage ſind inzwiſchen eine große
Anzahl teils neuer Maſchinen erfunden, teils älterer verbeſſert.


Nachdem die Typen gegoſſen ſind, werden ſie durch Abbrechen
des pyramidenförmigen Gußzapfens, Abſchleifen des Grates und end-
Das Buch der Erfindungen. 41
[642]Die Metallverarbeitung.
liches Beſtoßen zum Gebrauch fertig gemacht, Arbeiten, welche meiſt
durch Knaben, bald durch Handbetrieb ausgeführt werden, bald unter
Zuhilfenahme eigens konſtruierter Maſchinen.


Ohne die koſtſpieligen Stahlpatrizen ſtellt man ſich Matrizen auch
über Typen auf galvanoplaſtiſchem Wege in Geſtalt dünner Plättchen
her, die nachher mit Schriftmetall umgoſſen werden. Auf gleichem
Wege vervielfältigt man in Holz oder Metall geſchnittene Zeichnungen,
z. B. Titelvignetten und dergl. Bei Stahl- und Kupferſtichen prägt
oder preßt man das Original auch in Blei und ſtellt ſich ſo eine
Matrize her. Dieſe Operationen bilden das eigentliche Abklatſchen
oder Kliſchieren. Aus der Matrize wird die Type meiſt nicht durch
Guß hergeſtellt, ſondern ebenfalls durch Preſſen. Man läßt ſie mittels
eines Fall- oder Schlagwerkes auf ein leichtflüſſiges Metall nieder-
fallen in dem Augenblicke, wo dasſelbe eben zu erſtarren beginnt;
ſo hergeſtellte Abdrücke erhalten eine außerordentliche Schärfe und geben
das Original höchſt getreu wieder. Beim Druck werden die Kliſchees
auf Holz genagelt oder auf Unterlagen von Schriftmetall gelötet.
Ähnlich verfährt man beim Stereotypieren. Stereotypen ſind metallene
Formen zum Buchdruck, welche aus einer größeren Anzahl von Typen
zu einem Ganzen vereint ſind, alſo nicht einzelne Typen, ſondern
Typenplatten. Der aus Einzeltypen zuſammengeſtellte Satz wird in
eine weiche Maſſe, Gips oder neuerdings meiſt feuchte Pappe ein-
gedrückt und dieſer vertiefte Abdruck mit Schriftmetall gefüllt. Die ſo
gewonnene Stereotypplatte gleicht dann dem Schriftſatze vollkommen.
Der größeren Haltbarkeit wegen pflegt man dieſelben zu vernickeln.
Näheres darüber leſe man unter Buchdruck.


Über den Kunſtguß aus Blei, zu dem die ſogenannte Weichbronze
eine Miſchung von Blei mit Antimon oder mit Antimon und Zinn
gehört, iſt ſchon beim Zinkguß alles Erforderliche angedeutet, ins-
beſondere auch über die Anwendung elaſtiſcher Leimformen.


Die Zinngießerei hat nicht die Bedeutung erlangt, wie ſie der
Wichtigkeit des Metalls entſpricht. Zinn beſitzt eine ſchöne, faſt ſilber-
weiße Farbe und bleibt unter den Einflüſſen der Luft beinahe unver-
ändert, aber es iſt ſelten und daher ziemlich teuer. Man vermiſcht
es meiſt mit Blei; doch iſt überall der Bleigehalt desſelben wegen
der giftigen Eigenſchaften des Bleis ſtrengen geſetzlichen Vorſchriften
unterworfen, ſobald es ſich um Verwendung zu Gegenſtänden handelt,
in denen Nahrungsmittel bereitet oder aufbewahrt werden, wie Koch-
geſchirre, Teller, Bierkrugdeckel u. ſ. w. Große Verbreitung hat
auch eine Miſchung aus Zinn, Antimon und Kupfer, die unter dem
Namen Britannia-Metall bekannt iſt, gefunden. Zum Gießen des
Zinnes bedient man ſich der Sandformen überall da, wo ein
Modell vorhanden iſt und nur wenige Abgüſſe gemacht werden
ſollen; handelt es ſich, wie wohl meiſt beim Zinn, um Maſſenartikel,
ſo benutzt man bleibende Formen. Früher gebrauchte man vielfach einen
[643]Das Gießen. — Das Schmelzen.
feinkörnigen Sandſtein oder gebrannten Thon; auch Gips, Serpentin
und Schiefer ſind vielfach in Anwendung gekommen, haben aber den
Meſſing- und namentlich den billigen und dauerhaften Gußeiſenformen
weichen müſſen. Größere hohle Stücke gießt man in Teilen, die nach-
her zuſammengelötet werden. Die weiteſte Verbreitung hat das Zinn
wohl in der Form von Zinnfolie (Stanniol) gewonnen. Maſſon in
Paris hat 1860 für die Herſtellung derſelben einen mechaniſchen Apparat
konſtruiert, der eine große Arbeitsbeſchleunigung geſtattet. Dieſes Papier
wird ebenſo wie Bleipapier gegoſſen. Man beſpannt einen Rahmen
ſtraff mit Leinewand, die mit einer Miſchung von Kreide und Eiweiß
überſtrichen iſt, und ſtellt ihn unter einem Winkel von 15°, bei der Zinn-
folie ſehr ſteil unter einem Winkel von 75° gegen die Wagerechte
geneigt auf und fährt dann mit einem Käſtchen ohne Boden und Hinter-
wand, in welches das Blei bez. Zinn eingegoſſen iſt, raſch darüber fort.
Je ſteiler der Rahmen, je flüſſiger das Metall, je ſchneller die Be-
wegung des Käſtchens, um ſo dünner fällt das an der Leinewand hängen
bleibende Plättchen aus. Maſſon läßt an einem Riemen ohne Ende
zwei Zinkkäſtchen ſich bewegen, von welchen das eine oben auf die
Gießtafel tritt und mit Zinn gefüllt wird, ſobald das andere unten
angekommen iſt und ſeinen Überſchuß an Zinn ausgeleert hat. Mit
Hilfe dieſer Vorrichtung ſollen zwei Männer, von einem Kinde unter-
ſtützt, täglich 300 Blätter von 2,4 m Länge und 1 mm Dicke gießen.


Die Edelmetalle werden ſelten gegoſſen, höchſtens in Form von
Stäbchen oder Platten, die man zur weiteren Verarbeitung braucht;
hierbei kommen ſchmiedeeiſerne Formen zur Verwendung. Maſſive
Ringe gießt man auch wohl in mit Kohlenſtaub eingepulverten Formen
aus Oſſa Sepia, in welche das Modell, in zwei Platten je zur Hälfte
eingedrückt iſt. Ebenſo ſelten werden Aluminium, Kupfer und Neuſilber
gegoſſen. Schmiedeeiſen iſt, wie ja auch ſein Name ſchon beſagt, der
Formgebung durch Gießen überhaupt ganz unzugänglich.


Das Schmelzen.

Im vorangegangenen war überall vorausgeſetzt, daß man flüſſiges
Metall zur Verfügung habe, es ſollen nachträglich auch die Apparate
Erwähnung finden, welche dazu dienen, das Metall flüſſig zu machen.
Einen finden wir ſchon erwähnt, den gigantiſchen Hochofen, in welchem
aus den Erzen die Metalle ausgeſchmolzen werden; auch dieſer findet
beim Gießen Anwendung, aber nur da, wo es ſich um gewaltige Guß-
ſtücke handelt. Überall da, wo kleinere und kleinſte Erzeugniſſe her-
geſtellt werden, wird man auch kleinere Öfen anwenden, und wo man
leichtflüſſige Metalle vor ſich hat, wird man ſich nicht der die höchſten
Temperaturen hervorbringenden Hochöfen bedienen.


Zwei Gruppen von Schmelzapparaten haben wir zu unterſcheiden,
diejenigen, bei denen die Metalle in Gefäßen geſchmolzen werden und
41*
[644]Die Metallverarbeitung.
diejenigen, bei denen dies im Ofen ſelbſt geſchieht. Leichtflüſſige Metalle
kann man ja ſchon in einem Blechlöffel über einer Spiritusflamme zum
Schmelzen bringen, aber doch nur in geringen Mengen; braucht man
größere Mengen flüſſigen Metalls, ſo wendet man Keſſel oder Tiegel
an. Die Schmelzkeſſel werden meiſt aus Gußeiſen hergeſtellt, weil dieſes
Metall eine bedeutende Wärmeleitungsfähigkeit beſitzt und deshalb
wenig Feuerungsmaterial verbraucht. Natürlich kann man in dieſen
Keſſeln nur ſolche Metalle flüſſig machen, deren Schmelztemperatur
unter der des Gußeiſens liegt, alſo Zinn, Blei, Zink und die Legierungen
dieſer drei mit Antimon und Wismut. Die Keſſel werden von unten
geheizt und ſind entweder mit Handhaben verſehen, damit man ſie zum
Gebrauche herausnehmen und entleeren kann, oder ſie ſind feſt ein-
gemauert und haben dann unten eine Entleerungsvorrichtung.


Für ſchwer ſchmelzbare Metalle benutzt man Tiegel aus Graphit
(Paſſauer Tiegel) oder aus feuerfeſtem Thon (heſſiſche Tiegel). Die
Keſſel ſind meiſt halbkugelförmig und nur mit einem dünnen Deckel
verſehen zum Schutze der Metalle gegen die oxydierenden Wirkungen
der atmoſphäriſchen Luft. Die Tiegel ſind längliche, etwas ausge-
bauchte Cylinder und mit einem feſtaufſitzenden Deckel aus gleichem
Materiale verſehen, ſo daß dieſelben von allen Seiten der gleichen
Hitze ausgeſetzt werden können. In Tiegeln ſchmelzt man Gußſtahl,

Figure 367. Fig. 376.

Tiegelſchachtofen.


Kupfer, Meſſing, Nickel, Silber,
Gold u. ſ. w. Bei Tiegeln wendet
man keine Unterfeuerung an, ſondern
umgiebt ſie ganz mit dem Feuerungs-
material. Fig. 376 ſtellt einen Tiegel-
ſchachtofen dar. C iſt eine Roſte, auf
welche der Tiegel geſetzt wird. Durch
die Öffnung G wird das Feuerungs-
material eingeſchüttet, durch F werden
kleine Tiegel hereingebracht, große
werden ebenfalls durch G eingeſetzt.
E iſt die Eſſe, durch welche die Gaſe
entweichen und I der Aſchenfall. Bei
Betrieben im größeren Umfange be-
nutzt man Tiegelherdöfen (Tiegel-
flammöfen), in welchen vier bis acht
Tiegel in einem gemeinſchaftlichen
Ofen vereinigt werden. Bei dieſen
ſtehen die Tiegel auf einem horizontalen, von einem Gewölbe über-
ſpannten Tiſche, das Brennmaterial befindet ſich daneben auf einem
Roſte, ſo daß die Tiegel nur von den brennenden Gaſen desſelben
umſpült werden, die auf der anderen Seite wieder abziehen. Die
Tiegel müſſen zum Guſſe ſtets herausgenommen und von Arbeitern
an den Ort ihrer Beſtimmung hingetragen werden. Ein ſolcher
[645]Das Schmelzen.
Tiegel hält meiſt nur 3 Schmelzen aus und der Ofen wird durch
die koloſſale Hitze bereits nach viermaligem Gebrauch reparatur-
bedürftig. Aus den Tiegeln kommt das Metall in ein vorgewärmtes
Sammelgefäß, und aus dieſem erſt läuft es in die Gußformen. Der
Tiegelguß iſt überall da in Anwendung, wo das Metall rein und un-
verändert bleiben muß oder wo gleichzeitig wegen der Koſtbarkeit des
Materials ein Entweichen von Metalldämpfen möglichſt verhindert
werden ſoll, wie z. B. in den Münzwerkſtätten.


Wegen der Umſtändlichkeit des Tiegelguſſes hat man Öfen kon-
ſtruiert, in denen das Metall frei geſchmelzt wird, direkt den Einwir-
kungen einer offenen Flamme ausgeſetzt, und man iſt ſo zu den tiegel-
loſen Herdflammöfen und den Schacht- oder Kupolöfen gekommen.
Bei erſteren liegt das Metall frei auf einem geneigten Tiſche, neben
demſelben, (in der Fig. 377 links) vom Metall durch eine nicht allzu

Figure 368. Fig. 377.

Herdflammofen.


hohe Wand, die Feuerbrücke, getrennt, befindet ſich auf einer Roſte das
Brennmaterial. Der Zug des Ofens geht ſo, daß die Flammen über
die Brücke ſchlagen und das Metall überſpielen. An der tiefſten Stelle
ſammelt ſich das Metall vor einer mit Lehm verſchmierten Öffnung,
dem Einſtich, Stichloch, Abſtichloch. Über dem Stichloch befindet ſich
ein Schauloch. Bei Steinkohlen und ähnlichen Feuerungen wird dieſelbe
vorn durch eine Thür eingeworfen, bei Holzfeuerung von oben her
durch einen Schacht. Dieſe Flammöfen werden beſonders beim Eiſen-
und Bronzeguß verwendet. Soll das Metall ausfließen, ſo wird der
Lehmpfropf mit einer Eiſenſtange durchgeſtoßen, wie Schiller in der
Glocke ſagt: Stoßt den Zapfen aus. Das Metall rinnt dann durch
Kanäle in die, in die Dammgrube eingebaute Form in mehreren Ver-
zweigungen hinein.


Mehr den Hochöfen nähert ſich die letzte Gattung der Schmelz-
öfen, die Schacht- oder Kupolöfen. Der Schmelzraum des Ofens be-
ſteht aus einem ſenkrecht ſtehenden Schachte, der oben eine Offnung,
die Gicht, hat. Wie beim Hochofen füllt man Brennmaterial und
Schmelzmaterial in abwechſelnden Schichten in den Ofen. Unten brennt
der Ofen und ſchmilzt das Metall; die Gaſe, die ſich beim Verbrennen
[646]Die Metallverarbeitung.
entwickeln, ziehen nach oben und entweichen durch die Gicht, während
gleichzeitig Brennmaterialien und Metall nach unten ſinken. Die
Schmelzmaterialien werden alſo durch die glühenden Gichtgaſe ſchon
ſehr ſtark vorgewärmt, ehe ſie zur Flamme kommen. So lange das
Schmelzen dauern ſoll, wird oben fortgeſetzt Material nachgefüllt. Das
geſchmolzene Metall ſammelt ſich entweder auf der Sohle des Ofens,
dem Herde, oder in einem mit dem Ofen durch einen beſonderen Kanal
verbundenen Sammelraum, dem Vorherde, und wird durch ein am
tiefſten Punkte des Herdes bez. Vorherdes angebrachtes Stichloch ab-
gelaſſen. Im Kupolofen wird faſt ausſchließlich Gußeiſen geſchmolzen.
Zum Einführen der Brennluft dienen eigene Gebläſe.


Flammöfen ſind in England ſchon ſeit 1612 bekannt, Kupol-
öfen, die mit erhitztem Wind bedient werden, kennt man in England
ſeit 1834.


Das Schmieden.

Die Kunſt des Schmiedens iſt uralt, wohl ſo alt wie die Kennt-
nis der Erze überhaupt. Eine wie große Wichtigkeit dieſer Kunſt bei-
gelegt wurde, erſieht man daraus, daß eines von den drei Kindern, die
Juno ihrem Gemahle, dem Götterkönige Jupiter, ſchenkte, als Gott der
Schmiedekunſt verehrt wurde; ſo hatten die Griechen ihren Hephäſtos,
die Römer ihren Vulkan. Auch bei den Deutſchen war der Schmiede-
hammer das Symbol der Kraft, das der gewaltige Gott Thor als Attribut
führte. Im Altertum freilich kannte man nur eine Art des Schmiedens,
nämlich das Bearbeiten der Metalle mit dem Hammer. Neuerdings
vermag man die Erze aber auch durch langſam wirkenden Druck um-
zugeſtalten und bezeichnet dieſe Formveränderung ebenfalls als Schmieden,
mit alleiniger Ausnahme des Walzens. Beim Schmieden bedarf man
nur weniger Werkzeuge von größter Einfachheit, und lediglich dadurch,
daß man die Möglichkeit hat, die Schläge des Hammers nach ſeinem
Willen ungleich auf verſchiedene Teile des Metalles einwirken zu laſſen,
iſt man imſtande die mannigfaltigſten Formen herzuſtellen, während
umgekehrt beim Walzen wie beim Gießen für jedes Werkſtück beſonderer
Geſtalt auch eine Walze beſonderer Geſtalt nötig iſt. Walzwerke be-
dingen größere maſchinelle Einrichtungen, das Schmieden kann mit der
Hand geſchehen. Was beim Gießen mit der Form, wird beim
Schmieden mit dem Hammer, beim Walzen mit der Walze hervor-
gebracht. Wie man beim Gießen zur Hervorbringung verſchiedener
Geſtalten verſchiedener Formen bedurfte, ſo ſind auch beim Schmieden
je nach dem Zwecke, den man mit den Hammerſchlägen erreichen
will, verſchiedene Hämmer nötig. Neben dem Hammer iſt der Am-
boß ein unerläßliches Werkzeug. Hammer und Amboß müſſen im
allgemeinen beide in ihren wirkſamen Teilen härter als das zu ver-
arbeitende Metall ſein, damit ſie nicht von dem Werkſtücke Eindrücke
empfangen.


[647]Das Schmieden.

Der Amboß beſteht, wenn er nur für kleine Hämmer benutzt wird
aus einem ſchweren in die Erde eingerammten Holzklotze, dem Hammer-
ſtock; bei ſchweren Hämmern nimmt man einen Gußeiſenkörper, die
Chabotte, welcher gewöhnlich auf ein elaſtiſches Fundament aus
hölzernen Balken aufgeſetzt iſt. Die Oberfläche des Amboſſes bezeichnet
man als ſeine Bahn, dieſelbe wird gehärtet und ganz eben geſchliffen,
damit nicht zurückbleibende Unebenheiten ſich im Werkſtücke abdrücken.
Der gewöhnliche Amboß, Amboß ohne Horn, hat eine rechtwinklige
Bahn von 400 bis 450 mm Länge und 100 bis 120 mm Breite. An
einem Ende befindet ſich ein ebenfalls rechtwinklig ausgearbeitetes Loch,
in welches beſondere Schmiedeeiſenunterlagen, wie ſie für einige Werk-
ſtückformen erforderlich ſind, mittels eines an denſelben befindlichen
Zapfens eingeſteckt werden können. Damit ſich der Amboß auf ſeinem
Stocke nicht verſchieben kann, trägt letzterer einen Zapfen, welcher in
eine Öffnung in die Unterſeite des Amboßes hineinpaßt.


Läuft die eine Seite des Amboſſes in eine koniſche Verlängerung
aus, ſo hat man den Amboß mit einem Horn (Fig. 378), beim Amboß
mit zwei Hörnern iſt gegenüber dem erſten Horn ein zweites ange-
bracht, das aber vierſeitigen Querſchnitt und keilförmige Geſtalt beſitzt.
Machen endlich die Hörner den
Hauptteil des Amboſſes aus, ſo
ſpricht man von einem Sperrhorn.
Beim Herſtellen feiner Bleche aus
Edelmetallen benutzt man auch
Amboſſe aus Granit und Marmor
mit abgeſchliffener Bahn.


Bei den Hämmern unter-
ſcheidet man zwei Hauptgruppen,
Stielhämmer und Rahmen oder
Parallelhämmer. Der Stielhammer

Figure 369. Fig. 378.

Amboß mit Horn.


beſteht aus zwei Hauptteilen, dem Stiele oder Helm, der aus zähem
Holze gefertigt wird, und dem Hammerkopf, der aus Schmiedeeiſen
mit verſtählter Arbeitsfläche hergeſtellt iſt. Die Öffnung des Kopfes,
in welche der Stiel geſteckt wird, iſt das Hammerauge. Iſt die
arbeitende Fläche in der Länge und Breite nicht zu ſtark abweichend,
ſo heißt ſie Hammerbahn, hat ſie aber Keilform, und iſt ſie ſehr ſchmal
im Verhältnis zur Breite, ſo nennt man ſie Finne. Je nach der Form
der Bahnen und nach der Lage der Finne zur Bahn unterſcheidet man
eine große Anzahl für beſondere Zwecke beſtimmter Hämmer, welche aber
weniger zum Schmieden als zum ſpäteren Vollenden der Form benutzt
werden.


Wenn man einen jener rußigen Geſellen ſieht, ſeine nervigen Arme,
ſeine Muskeln wie Stahl, ſo ſollte man meinen, ſie könnten ſpielend
mit Centnern umgehen, wie ein Kind mit Gummibällen, und doch be-
trägt das Gewicht eines Hammers, welchen ein Schmied mit beiden
[648]Die Metallverarbeitung.
Händen zu ſchwingen vermag, höchſtens 20 Kilogramm. Dieſe Zuſchlag-
hämmer führt ein Gehilfe des Schmiedes, während beim eigentlichen
Schmieden nur Hämmer von 1 bis 2 Kilogramm Gewicht zur Ver-
wendung kommen. Eine ſolche Handſchmiede bietet einen recht
maleriſchen Anblick, namentlich am Abend; die lodernde Eſſe, deren
Flamme die wunderlichſten Schatten an die Wände malt, das glühende
Metall, die rußigen Geſtalten, und endlich der taktgemäße Hammer-
ſchlag. — Ja, wozu eigentlich der Takt?


Obgleich derſelbe mit der Verarbeitung ſelbſt nichts zu ſchaffen hat,
iſt er, namentlich überall da dringend nötig, wo mehrere Zuſchläger
helfend thätig ſind, weil ſonſt leicht mehrere gleichzeitig zuſchlagen und
dann wohl ihre Hämmer nicht aber das Werkſtück treffen. So müſſen
die Schmiede taktvolle Leute ſein.


Solange man nur Handhämmer zur Verfügung hatte, waren der
Größe der zu verarbeitenden Werkſtücke ſehr ſchnell Grenzen geſteckt,
aber der erfinderiſche Menſchengeiſt bleibt vor keiner Schwierigkeit ſtehen,
und nicht allzu lange mag es gedauert haben, bis man das Waſſer
zwang, der Menſchen Muskeln zu erſetzen und Hammerwerke zu treiben.
Nach und nach hat man an dieſen Hammerwerken eine Reihe von
Verbeſſerungen eingeführt. Das Gewicht der Hämmer wurde vergrößert,
der Hammerſtiel wurde mit dem Kopf zuſammen aus einem Ganzen
von Eiſen gegoſſen, die Holzgeſtelle wurden durch eiſerne Gerüſte erſetzt.
Bei den Handhämmern erhebt man den Stiel ſamt dem Kopfe, bei
allen Maſchinenhämmern iſt der Stiel in einem Punkte, dem Dreh-
punkte unterſtützt, und kann ſich in dieſem um eine horizontale Achſe
drehen; der Hammerkopf bewegt ſich alſo beim Auf- und Niederfallen
in einer Kreislinie. Das Anheben geſchieht durch eine Trommel, auf
welcher Daumen befeſtigt ſind, die den Hammerſtiel ergreifen. Je nach-
dem der Angriff am Kopfe des Hammers, zwiſchen Kopf und Dreh-
punkt oder hinter dem Drehpunkt ſtattfindet, unterſcheidet man Stirn-
hämmer, Aufwerfhämmer und Schwanzhämmer. Alle dieſe Hämmer
ſind Stielhämmer, und ihre Wirkung iſt keine geringe. Es muß ſchon
ein ganz beträchtliches Stückchen Eiſen ſein, das ihren gewaltigen
Streichen Widerſtand entgegen zu ſetzen wagt, aber was wollen ſie
ſagen gegen die Cyklopen der Neuzeit, jene gewaltigen Rieſen, denen
faſt nichts zu widerſtehen vermag, die ungeheuren Dampfhämmer.
Hier iſt der Stiel verſchwunden und der Hammerkopf iſt direkt mit der
Kolbenſtange eines über ihm befindlichen Dampfcylinders verbunden,
und mit dem Kolben hebt und ſenkt er ſich. Faſt ins Unermeßliche
vermag bei dieſen Hämmern das Gewicht des Hammers geſteigert zu
werden, ſeine Wirkung kann vergrößert werden durch eine beträchtliche
Höhe, aus der man ihn fallen läßt, ja noch mehr: während bei
den Stielhämmern der Kopf allein durch ſeine eigene Schwere nieder-
ſauſte, vermag man bei den Dampfhämmern, indem im richtigen Augen-
blicke der Dampf über den Kolben tritt, dem Hammer noch außer
[649]Das Schmieden.
ſeiner Schwere von oben her einen mächtigen Antrieb zu verleihen.
Endlich aber vermag man den Schwung des Hammers beliebig zu
regulieren. Als Kaiſer Wilhelm II die Kruppſchen Eiſenwerke beſich-
tigte, ließ er ſich auch den Rieſenhammer vorführen, und ſiehe da,
nachdem dieſer ſoeben eine große Eiſenmenge faſt zu Brei zermalmt, be-
rührte er im Momente darauf des Kaiſers goldene Uhr ſo leiſe und
zart, daß ſie unverſehrt unter dem Hammer hervorgeholt wurde. Alle
dieſe Vorzüge haben den Dampfhämmern unter allen Konkurrenten
den Vorrang geſichert.


James Watt, der Erfinder der Dampfmaſchine, war es, der 1784
das Projekt zu einem Dampfhammer aufſtellte, das aber nicht zur
Ausführung kam. Erſt 1842 wurde zu Creuſot in Frankreich von dem
Mechaniker Bourdon ein Dampfhammer ausgeführt und dem Beſitzer
der dortigen Eiſenwerke, Schneider, patentiert. Die Idee rührte
allerdings nicht von Bourdon her, ſondern von James Nasmyth
zu Patricroft bei Mancheſter, der ſchon 1832 die Zeichnungen dazu
hergeſtellt hatte. Bei dieſem Hammer bewirkte der Dampf nur das
Heben, das Fallen geſchah durch die eigene Schwere. Im ſelben Jahre
1842 trat Nasmyth ſchon mit einer neuen Idee hervor, indem er auch
beim Fallen noch den Dampf fördernd mitwirken ließ. Später haben
dann beſonders W. Nagler zu Storwich 1854, Condie in Glasgow
1846 und neuerdings eine große Reihe anderer Männer neue und ver-
beſſerte Methoden teils vorgeſchlagen, teils auch in Ausführung gebracht.


Die Dampfhämmer ſind Rahmen- oder Parallelhämmer. Der
Hammer geht nicht in einer Kreislinie, ſondern bewegt ſich zwiſchen
zwei ſenkrecht ſtehenden Gleitſchienen auf und nieder. Der Amboß iſt
entweder mit dem Gerüſt, das die Schienen, und oben auf einem
Quergerüſt den Dampfcylinder trägt, feſt verbunden, oder aber, wenn
man vermeiden will, daß Hammer, Gerüſt und Dampfmaſchine durch
die Schläge mit erſchüttert werden, ſo iſt der Amboß auf einem beſonderen
Fundament aufgebaut, das in einer Grube liegt, die mit Sand voll-
geſtampft iſt, der jede Übertragung der Erſchütterungen verhindert. Die
größten Dampfhämmer hat wohl die Kruppſche Werkſtatt in Eſſen, das
bedeutendſte induſtrielle Etabliſſement im Deutſchen Reiche. Hier findet
man Giganten bis zu einer Schwere von 1000 Centnern. Iſt es nicht
ein erhebendes Bewußtſein, wenn ſolche Koloſſe dem leiſeſten Winke
des Menſchen Folge leiſten?


Nicht überall ſind übrigens dieſe großen Hämmer anwendbar.
Die Metalle laſſen ſich ausſchmieden, ſo lange ſie glühen, wie es ja
auch im Sprichwort heißt: man muß das Eiſen ſchmieden, ſo lange
es noch warm iſt, — alſo werden überall da, wo es ſich nicht um
große Maſſen handelt, die lange ihre Hitze behalten, große Hämmer,
die natürlich nur verhältnismäßig langſam ſich auf und nieder bewegen
können, vorteilhaft durch kleine Hämmer erſetzt, die dafür aber um ſo
ſchneller arbeiten. Dieſe Schnellhämmer bieten einen Erſatz für Hand-
[650]Die Metallverarbeitung.
hämmer, ſie werden auch durch Dampf oder Federkraft emporgeſchnellt
und meiſt durch Dampf von oben wieder heruntergetrieben. Ein
Schnellhammer macht 300 bis 400 Schläge in einer Minute.


Beim Schmieden verfolgt man einen doppelten Zweck, einerſeits
greift es direkt in die Arbeiten über, welche zur Gewinnung des Eiſens
dienen, andererſeits beabſichtigt man eine weitere Formgebung. Im
erſteren Falle dient es dazu, die Schlacken auszuquetſchen und beim
Schweißeiſen die Schweißung der einzelnen Teile herbeizuführen, oder
aber die durch Blaſenbildung beim Gießen entſtandenen Poren zuzu-
quetſchen, wie beim Flußeiſen. Neben den Hämmern werden hierbei
noch zwei andere Inſtrumente benutzt, die ſich für dieſen Zweck als
äußerſt praktiſch bewährt haben. Man hat dieſe Maſchinen nach ver-
ſchiedenen Prinzipien eingerichtet. Bei der einen Hauptform geſchieht
die Bearbeitung durch Drücken mit einem gewaltigen Hebel, gerade
wie in einer Rieſenzange. John Hartop in England hat dieſe Quetſch-
werke 1805 zuerſt angewendet, Allarton ſie 1841 verändert, in Frank-
reich wurden ſie durch Flahat, Cavé und Guillemin gebaut. Der
wiegenartig geſtaltete Hebel der Luppenquetſche hat an der Unter-
ſeite ſeines rechten Armes eine breite Fläche, unter welcher eine
ſolide Amboßplatte feſtliegt. Der linke, längere Arm wird durch Ver-
mittelung einer Kurbel von einer Dampfmaſchine auf und nieder be-
wegt, während der rechte kürzere Arm die in glühendem Zuſtande hin-
untergeſchobenen weichen Eiſenluppen mit unwiderſtehlicher Gewalt
zuſammenpreßt, ſo daß die Schlacken auf beiden Seiten herausfließen.
Je weiter nach hinten man die Luppen bringt, um ſo größer iſt der
Druck. Nach jedem Druck, deren in der Minute bis zu 90 ausgeübt
werden können, kann der Arbeiter das Werkſtück ſo drehen und wenden,
wie es ihm für den neuen Druck am vorteilhafteſten erſcheint. Das
iſt ein Vorzug, den die Hebelluppenpreſſen vor den Luppen- oder Zäng-
mühlen voraus haben. Bei dieſen, wie ſie von den Engländern
Ralſton 1840, Thorneycroft 1843, Dorrel 1855 und Abbot 1857 kon-
ſtruiert ſind, dreht ſich in einer feſtliegenden gerieften Trommel eine
außerachſig gelagerte Walze mit längslaufenden kantigen Rippen. An
der Seite, wo der größere Abſtand zwiſchen Walze und Trommel iſt,
ſchiebt man die Luppe ein, und nun zieht die Walze die Luppen vor-
wärts, ſie immer mehr und mehr quetſchend, bis ſie dieſelben, wenn ſie
an der engſten Stelle des Zwiſchenraumes angekommen ſind, wieder
auswirft. 20 Umgänge macht die Luppenmühle in einer Minute,
gerade genug, um die Eiſenmaſſen mit größter Energie zu zängen.
An Stelle von Trommel und Walze benutzte zuerſt der Nordamerikaner
Burden zwei Walzen zu dem gleichen Zwecke. Auch dieſe Maſchinen
ſind inzwiſchen vielfach verändert und haben manche Verbeſſerungen
erfahren.


Zum Formengeben können, wie ſchon erwähnt, dieſe Maſchinen
nicht benutzt werden, dazu dienen die Hämmer, aber neben dieſen auch
[651]Das Schmieden.
noch einige Ergänzungsſtücke, die hier nicht unerwähnt bleiben dürfen.
Da ſind zunächſt die Setzhämmer, welche auf das zu bearbeitende
Werkſtück geſetzt werden und den Schlag des Hammers auf dieſes fort-
pflanzen. Man braucht ſie, wenn es darauf ankommt, daß die Schläge
immer genau auf dieſelbe Stelle treffen, oder auch, wenn durch eine
beſondere Form der Bahn des Setzhammers Eindrücke erzielt werden
ſollen, wie ſie mit dem einfachen Hammer nicht hervorgebracht werden
können. Als Unterlage dient hierbei das Stöckchen, ein viereckiges
Stück Gußeiſen oder Stahl mit flacher oder geformter Bahn, das mit
einem Zapfen in der Öffnung des Amboſſes befeſtigt wird.


Neben den Setzhämmern finden die Geſenke vielfach Anwendung,
ſie entſprechen vollkommen den Formen beim Gießen. Wie man offene
und geſchloſſene Formen hat, ſo hat man einfache und doppelte Ge-
ſenke. Die Innenflächen der Geſenke entſprechen genau den Außen-
flächen der Werkſtücke; wird die offene
Fläche durch die Bahn des Hammers
geſchloſſen, ſo hat man einfache Geſenke.
Das untere Geſenke wird mit einem
Zapfen in das Loch des Amboſſes geſteckt,
während das obere Geſenke, wie es beim
doppelten Geſenke benutzt wird, genau
wie ein Setzhammer angewendet wird,
und wie dieſer mit einem Stiel verſehen
iſt, wie Fig. 379. zeigt.


Der Schrotmeißel, ein Setzhammer
mit verſtählter, ſchneidenförmig zuge-
ſpitzter unterer Kante, dient zum Los-
trennen einzelner Stücke, als Unterlage
entſpricht ihm ein ähnlich geformtes Stück,
der Abſchrot. Der Durchſchlag dient zum
Schlagen eines Loches, er beſteht aus

Figure 370. Fig. 379.

Ober- und Untergeſenk zum Schmieden
cylindriſcher Stäbe.


einem Stahlſtempel, deſſen untere polierte Fläche ſo groß iſt, wie das
Loch werden ſoll, als Unterlage dient ein Ring, in welchen der Stempel
hineinpaßt, der Lochring, das herausgeſchlagene Stück nennt man
Putzen.


Auch beim Schmieden hat man bereits die Handarbeit durch
Maſchinenarbeit erſetzt. Wenn man eine Anzahl Geſenke, die bei ihrer
nacheinander folgenden Benutzung eine beſtimmte Geſtalt hervorbringen,
mit einer ebenſo großen Anzahl von Hämmern verbindet, die in einem
gemeinſchaftlichen Gerüſte lagern und gemeinſam durch Elementar-
kraft getrieben werden, ſo erhält man eine Schmiedemaſchine.


An Stelle der Hämmer werden meiſtens Stempel benutzt, die an
einer gemeinſchaftlichen Welle ſitzen und durch Excenter eine auf- und
niedergehende Bewegung erhalten. Die Maſchinen üben bei langſamem
Gange eine preſſende Wirkung, gewöhnlich aber machen ſie in einer
[652]Die Metallverarbeitung.
Minute 200 bis 400 Auf- und Niedergänge, ſo daß die Stempel wie
Hämmer auf die Werkſtücke ſchlagen. Die Oberſtempel können mit
einem formgebenden Werkzeuge (Geſenk, Meißel, Abſchrot) verſehen
werden, das in eine Öffnung des Stempels eingeſetzt und mit einer
Schraube befeſtigt wird. Es kann daher leicht ausgewechſelt und die

Figure 371. Fig. 380.

Schmiedemaſchine.


Maſchine für eine neue Form
zurecht gemacht werden. Die
Unterſtempel haben ebenſo wie
die Oberſtempel in dem Gerüſt
Führung, ſie ſitzen auf dem oberen
glatten Ende einer ſchmiedeeiſernen
Schraubenſpindel mit einer Hülſe
auf, in welcher ſich die Spindel
frei drehen kann. Im Gerüſt
lagert eine zugehörige Schrauben-
mutter feſt, ſo daß bei einer
Drehung der Schraube, dieſe und
der Stempel auf und ab bewegt
werden können. Vor den Stempeln
iſt ein eiſerner Tiſch am Gerüſt
befeſtigt, als Unterlage und
Führung für die zu ſchmiedenden
Werkſtücke. Schmiedemaſchinen
wendet man überall da an, wo
es ſich um die Herſtellung von
Maſſenartikeln handelt, wo Markt-
ware von einfacher Form in großer
Anzahl durch Schmieden verfertigt
werden ſoll. Die leichte Um-
wechslung der formgebenden Teile,
der ſchnelle Gang der Maſchine,
die durch Anwendung von Ge-
ſenken bewirkte Verringerung
menſchlicher Arbeitsleiſtung ver-
bürgen ihnen die weiteſte Ver-
breitung. Es kommt noch hinzu, daß man auf den verſchiedenen
Stempeln der Maſchine mehrere Werkſtücke gleichzeitig bearbeiten kann,
ſo daß man in kurzer Zeit eine große Stückzahl herſtellen kann. Ryder
zu Bolton in Lancaſhire hat 1841 dieſe Maſchinen erfunden (Fig. 380).


Nicht alle Metalle können geſchmiedet werden, ſondern nur die
dehnbareren unter denſelben, alſo Schmiedeeiſen, Stahl, Kupfer,
Meſſing und ſeine Legierungen, Zink, Zinn, Blei, Aluminium, Gold,
Silber, Platin. Am häufigſten werden Schmiedeeiſen und Stahl ge-
ſchmiedet, weil bei dieſen außer der Geſtaltung auch eine Vereinigung
ſtattfinden kann. Man kann zwei Stücke ſo zuſammenſchmieden, daß
[653]Das Schmieden.
ſie nachher ein einziges untrennbares Ganze bilden, man kann ſie
ſchweißen. Bei dieſen Metallen alſo erſetzt das Schmieden das Gießen
vollkommen. Nicht ſchmiedbar ſind Gußeiſen und Gußſtahl.


Die einfachſten Formen, wie Stäbe, werden jetzt nicht mehr durch
Schmieden hergeſtellt, das Blattgold allein, wie es zum Vergolden von
Bücher-Einbänden, Holzwerk ꝛc. angewendet wird, wird mit dem Hammer
verfertigt. Bei der Gold- (Silber-, Platin-, Aluminium-) Schlägerei
legt man eine größere Anzahl von Plättchen übereinander, nur getrennt
durch dazwiſchen gelegte Blätter, weil ſonſt die dünnen Bleche an-
einanderhaften und ſich nicht ohne Beſchädigung trennen laſſen
würden. Solange die Bleche noch ſtärker ſind, benutzt man hierzu
Pergament, ſpäter aber Goldſchlägerhaut, d. h. das feine Oberhäutchen
vom Blinddarme des Ochſen, welches gereinigt, aufgeſpannt, getrocknet,
mit Alaunwaſſer gewaſchen, endlich mit Wein, worin man Hauſenblaſe
und einige Gewürze aufgelöſt hat, beſtrichen und mit Eiweiß überzogen iſt.
Man benutzt zum Ausſchlagen Handhämmer mit kreisrunder etwas ge-
wölbter Bahn. Dieſes Arbeitsverfahren, bei welchem durch Hammerſchläge
eine Verdünnung des Querſchnitts und ſomit eine Ausdehung in der
Länge ſtattfindet, nennt man das Ausſtrecken oder Zainen. Das Zainen
geſchieht mit der Finne des Hammers, indem man Schlag neben Schlag
ſetzt; es entſtehen dadurch eine große Anzahl ſchmaler Kerbe neben-
einander, das Metall wird gerieft, man gleicht daher dieſe Unebenheiten
durch Schlichten wieder aus, d. h. man ſchmiedet noch einmal mit der
Bahn des Hammers nach.


Führt man gegen irgend eine Stelle einer Metallplatte einen
Hammerſchlag, ſo wird an dieſer Stelle eine Verdünnung, gleichzeitig
aber auch ein Strecken ſtattfinden, und da die umgebenden vom Hammer
nicht getroffenen Teile nicht ausweichen können, ſo entſteht eine Ver-
tiefung, eine Beule. Führt man aber gegen die Mitte der Platte mit
einer kugligen Hammerbahn eine große Reihe von Schlägen, ohne den
Rand zu berühren, ſo wird der ganze mittlere Teil ausgebaucht, und
die Platte erhält die Form einer Schale oder eines Keſſels. Man
nennt das Treiben oder Auftiefen. Je nachdem man auf verſchiedene
Stellen mehr oder weniger ſtarke oder häufige Hammerſchläge fallen
läßt, kann man verſchiedenartig geformte Hohlkörper erzeugen.


Stellt man ein Metallſtück ſenkrecht auf den Amboß und ſchlägt
mit dem Hammer darauf, ſo wird ſich das Stück verkürzen und gleich-
zeitig verdicken. Soll nur ein Teil geſtaucht werden, ſo wird dieſer
vorher erwärmt und zieht ſich daher kräftiger zuſammen wie die anderen.
Nach dem Stauchen wird ſtets noch überſchmiedet. Das Stauchen iſt
die entgegengeſetzte Behandlung wie das Strecken. Ebenſo hat man
eine dem Treiben entgegengeſetzte Bearbeitungsmethode. Wenn man
eine flache Scheibe rings ſo hämmert, daß eine Aufbiegung des Randes
entſteht, ſo bekommt man einen Hohlkörper, deſſen Durchmeſſer kleiner
iſt, als der der urſprünglichen Platte, denn es findet hier eine Ver-
[654]Die Metallverarbeitung.
größerung der Querſchnittsſtärke infolge der Zuſammendrückung ſtatt.
Dieſe Methode nennt man das Aufziehen.


Soll an ein Metallſtück ein Anſatz z. B. ein Zapfen angebracht
werden, ſo benutzt man einen Setzhammer. Glatte Anſätze werden auf
der Kante des Amboſſes geſchmiedet, bei profilierten Anſätzen werden be-
ſonders geformte Setzhämmer ſowie Stöckchen als Unterlage gebraucht.
Dieſes Schmieden bezeichnet man als Anſetzen.


Zum Biegen gebraucht man bei runden Biegungen das Horn oder
Sperrhorn, indem man das Werkſtück quer darüberlegt und auf die
nicht unterſtützte Stelle hämmert. Man benutzt auch wohl einen runden
Stahlſtab, den Dorn, um welchen man das Metall herumhämmert.
Scharfe Biegungen bringt man durch Umklopfen über die Kante des
Amboſſes oder eines Stöckchens hervor.


Beim Lochen benutzt man den Durchſchlag, der koniſch geſtaltet
iſt. Bei ſtarken Stücken locht man von einer Seite zur Hälfte, und
treibt dann von der anderen Seite den Putzen heraus. Um das nun
in der Mitte am ſchwächſten erſcheinende Loch cylindriſch zu machen,
treibt man einen Dorn hindurch, man muß es ausdornen. Natürlich
wendet man auch viereckige oder ſonſtwie geſtaltete Durchſchläge an.
Man führt das Lochen auch mit dem Schrotmeißel aus, und nennt es
dann Aufhauen.


Beim Schweißen ſollen zwei Metallſtücke derartig zuſammen-
gefügt werden, daß ſie nachher ein untrennbares Ganze bilden. Es
leuchtet ohne weiteres ein, daß dies am beſten gelingt, je größer die
Schweißflächen ſind. Man ſchrägt daher die Endflächen ab, oder man
ſpaltet die eine und ſchiebt die andere hinein, nachdem man ſie zu-
geſpitzt. Am intereſſanteſten iſt aber, wie man aus allerlei Abfällen,
alten Schienen u. ſ. w. wieder neues Material herſtellt. Man bringt
hierbei das ganze Gerümpel zu einem viereckigen Paket zuſammen, das
man mit Draht umwickelt, damit es nicht auseinander falle. Dann
wird das Paket ſchweißwarm gemacht, unter den Dampfhammer gebracht
und erſt mit vorſichtigen ſchwachen Schlägen zuſammengeſchweißt, endlich
mit kräftigen Schlägen weiter verdichtet und gereckt. Über das elektriſche
Schweißen vgl. Seite 176 ff.


Das Preſſen.

Wenn das Schmieden nicht durch einzelne mehr oder minder ſchnell
aufeinander folgende Schläge, ſondern durch fortdauernd wirkenden
Druck vor ſich geht, ſo bezeichnet man es als Preſſen; die Größe des
Druckes muß daher, da derſelbe nur einmal wirkt, ein ſehr bedeutender
ſein. Um denſelben hervorzubringen, benutzt man Hebel oder Preſſen,
und zwar beſonders hydrauliſche Preſſen, weil man mit dieſen den
ſtärkſten Druck hervorzubringen imſtande iſt. Schon im Jahre 1856
verfertigte Pollenz in Aachen Eiſenbahnwagenräder mittelſt einer Knie-
hebelpreſſe und entſprechender Preßklötze aus Gußeiſen. Den erſten ſo-
[655]Das Preſſen. — Das Walzen.
genannten Preßhammer oder die Schmiedepreſſe ſcheint Haswell in
Wien angewendet zu haben. Er arbeitete ſchon 1861 damit, während
die Engländer Fairbairne 1861, Wilſon 1862 und Yates 1863 Patente
darauf nahmen. Schon 1854 benutzte Smith in Smethwick bei Birming-
ham die hydrauliſche Preſſe, um Naben und Speichen zu Eiſenbahn-
rädern aus weißglühendem Eiſen in gußeiſernen Formen oder Matrizen
herzuſtellen. Da man beim Preſſen das Werkſtück während der Arbeit
nicht drehen und wenden kann, ſo muß für jede Form desſelben, die
hervorgebracht werden ſoll, ein beſonderes Geſenke, eine Matrize benutzt
werden, gerade wie beim Gießen die Form, welche die äußere Geſtalt
des Arbeitsſtückes innen hat. Überall da, wo es ſich um komplizirtere
Formen handelt, die man mit dem Hammer gar nicht, oder doch nur
ſchwer und unter beſonders großem Zeitaufwande herſtellen könnte,
tritt die Preſſe mit vollem Erfolge ein. Treibt man noch obenein die
hydrauliſche Preſſe mit Dampf, ſo iſt die Wirkung derſelben faſt eine
ungemeſſene.


Das Walzen.

Für beſondere Formen der zu erzeugenden Werkſtücke, namentlich
auch für ſolche, welche in großer Anzahl in möglichſt genau gleicher
Geſtalt hergeſtellt werden ſollen, hat ſich das Walzen der Metalle in
neuerer Zeit außerordentlich eingebürgert. Das Walzen beſteht der
Hauptſache nach in einem Strecken des Stückes, indem man dasſelbe
zwiſchen zwei ſich in entgegengeſetzter Richtung drehenden Walzen hin-
durchführt, deren gegenſeitiger Abſtand geringer iſt, als die Dicke
des Metalles. Die Walzen wirken hier wie die Hammerfinne beim
Zainen, die Streckung erfolgt daher in erſter Linie in der Richtung
quer gegen die Achſen der Walzen, ſie iſt nur gering in der
Achſenrichtung derſelben. Hierbei findet eine Querſchnittsverdünnung
ſtatt, eine Zuſammendrückung, in der Richtung, in welcher der Druck
thätig iſt, eine Ausdehnung nach allen Richtungen. Dieſe Ausdehnung
iſt beim Walzen kalter Metalle am größten, entſprechend iſt aber auch
die Streckung in die Länge geringer, das Metall wird dabei hart und
ſpröde. Ausglühen ſtellt die Dehnbarkeit und Weichheit wieder her.
Beim Walzen glühender Metalle treten dieſe Übelſtände nicht auf.


Die Walzwerke werden in erſter Linie zur Verarbeitung des Eiſens
benutzt, aber nur wenig zur definitiven Formgebung, ſie geben dem
Techniker das Material in die Hand, wie er es weiter verwerten kann,
und je nach der Form, in welcher dies geſchieht, unterſcheidet man die
Eiſenſorten, die verſchiedenen Arten des Formeiſens. Man kauft drei-
eckige, runde, halbrunde, dreiviertelrunde, ovale Eiſen, keilförmiges,
Winkel- oder Eckeiſen

[figure]

, T-Eiſen

[figure]

, Doppel-T-Eiſen

[figure]

, auch H-Eiſen
genannt, J-Eiſen

[figure]

, Kreuzeiſen

[figure]

und wie die vielen Arten ſonſt
noch heißen mögen. Auch die Eiſenbahnſchienen gehören zu dieſen
Formeiſen, ebenſo wie die runden und quadratiſchen Röhren.


[656]Die Metallverarbeitung.

Das Walzwerk (Fig. 381) in ſeiner einfachſten Form beſteht aus
einem feſten Gerüſt, auf welchem mit Zapfen Walzen in Lagern ruhen,
die durch irgend eine elementare Kraft in Bewegung geſetzt werden, ſo daß
ſie ſich in entgegengeſetztem Sinne drehen. Als treibende Kraft wird meiſt
der Dampf angewendet. Die Walzen lagern entweder in unveränder-
licher Entfernung von einander, oder ſie laſſen ſich nähern und entfernen;
zu letzterem Zwecke pflegt die obere Walze beweglich zu ſein. Je nach

Figure 372. Fig. 381.

Walzwerk.


der Form des Fabrikats, das man her-
zuſtellen gedenkt, unterſcheidet man ver-
ſchiedene Walzenformen. Einfache glatte
Walzen werden zur Blecherzeugung ver-
wendet, hier kommt es nur darauf an,
daß das fertige Stück eine gewiſſe vor-
geſchriebene Dicke habe, nicht aber, welche
Ausmeſſungen es nach den anderen
Richtungen beſitze. Wird aber eine ganz
beſtimmte Geſtalt des Werkſtückes verlangt,
ſo müſſen auch die Walzen entſprechend
geſtaltet ſein, ganz wie man beim Schmieden
und Preſſen Geſenke von beſtimmter Form
benutzt. Die Walzen ſind weiter nichts
wie Geſenke, allerdings Geſenke ohne Ende;
die untere Walze giebt das Untergeſenke,
die obere Walze das Obergeſenke. Ent-
hält eine Walze mehrere Kaliber — ſo
nennt man die Öffnung, welche infolge der
Furchung der Walzen zwiſchen beiden frei
bleibt, alſo die Form, die das Werkſtück
erhalten ſoll — ſo ſind die einzelnen durch
10 bis 25 mm breite Ringe von einander
getrennt. (Siehe Fig. 381.) Enthält jede
Walze die Hälfte des Kalibers, ſo laufen
die Ringe auf einander und das Kaliber
iſt ein offenes; enthält dagegen die Unter-
walze die Hauptform, die nur durch die
Oberwalze geſchloſſen wird, ſo laufen die
Ringe der Unterwalze in Furchen der
Oberwalze, das Kaliber iſt ein geſchloſſenes.
Nun ſieht ſich das Walzen von weitem
ganz wundervoll an. Man ſollte meinen,
es ginge ſo, daß man auf der einen Seite
das Gußſtück hineinleitet, dann läuft es
zwiſchen den Walzen durch und auf der
anderen Seite kommt das fertige Kunſtwerk
heraus, juſt wie man beim 10 Pfennig-
[657]Das Walzen.
Automaten oben den Nickel einwirft, und unten kommt die Schokolade
an. Aber das Walzen hat ſo ſeine Schikanen. Iſt das Gußſtück von
vornherein, oder wird es durch den Walzendruck breiter als das
Kaliber, ſo dringt das Metall zwiſchen den Ringen an den Seiten
durch, es entſtehen Bärte, Nähte, Grate. Zur Sicherheit ſchließen
daher auch die Ringe niemals ganz dicht auf einander, denn wenn
man auch durch die Praxis gewitzigt, die Seitenausdehnung ziemlich
kennt, läßt ſie ſich doch nicht ganz genau berechnen und hat das Metall
keinen Ausweg, ſo drückt es eben die Walzen auseinander. Ferner
aber kann man das Metall nicht zwingen, ſofort die verlangte Geſtalt
anzunehmen, man müßte denn einen ungeheuren Druck anwenden: ein
Gußſtück von 25 cm Dicke läßt ſich nicht mit einem Male zu einem
Bleche von 1 mm Dicke auswalzen, oder zu einer Schiene umformen,
ſondern erſt nach und nach kann man es durch verſchiedene andere
Formen hindurch bis zu dem verlangten Querſchnitte bringen. Man
benutzt daher zunächſt Vorwalzen und bringt dann erſt das vor-
gearbeitete Stück zu den Fertigwalzen. Beim Fertigwalzen tritt
übrigens dieſelbe Erſcheinung ein, wie beim Gießen, das heiße Metall
ſchrumpft noch nachträglich beim Erkalten zuſammen, alſo müſſen auch
hier die Kaliber um das Schwindmaß größer ſein, als das Werkſtück
werden ſoll.


Walzen wendet man in den verſchiedenſten Abmeſſungen an. Bet
den kleinſten Walzwerken haben ſie einen Durchmeſſer von 40 bis
50 mm bei einer Länge von 75 mm; ſolche gebrauchen die Goldarbeiter
zum Herſtellen ihrer feinen Bleche; bei der Herſtellung der gewaltigen
Panzerplatten ſind die Walzen natürlich etwas größer, ſie haben einen
Durchmeſſer von faſt 1 m bei einer Länge von 3 m; das ſind aber
die größten.


Der erſte, der Kaliberwalzen zum Schweißen und Strecken von
Stäben in Anwendung brachte, war Henry Cort in Lancaſter im
Jahre 1783, derſelbe, der auch auf dem Gebiete des Eiſenbereitens durch
die Einführung des Puddelns ſich einen Namen erworben hat. In
Frankreich gewannen die Walzwerke zu Ende des 18ten Jahrhunderts,
in Deutſchland und Öſterreichs erſt am Anfange dieſes Jahrhunderts
Verbreitung.


Das Vorwärmen des Metalls.

Wie fürs Gießen, ſo muß auch fürs Schmieden und Walzen in
vielen Fällen das Metall vorgewärmt werden. Es kommt aber nicht
darauf an, eine ſo hohe Temperatur zu erzielen, daß das Metall in
den flüſſigen Zuſtand übergeht, es ſoll nur weich und dehnbar werden,
ohne jedoch den Zuſammenhang zu verlieren, ferner ſoll es die durch
Hämmern, Preſſen oder Walzen erhaltene Härte und Sprödigkeit durch
Glühen verlieren, damit es zu weiterer Verarbeitung tauglich werde.
Das Buch der Erfindungen. 42
[658]Die Metallverarbeitung.
Auch hier unterſcheidet man Feuerungsanlagen, bei denen das Metall
direkt mit den Brennmaterialien in Berührung kommt, und ſolche bei
denen es vor der Berührung mit denſelben geſchützt iſt.


Die einfache Schmiedeeſſe (Fig. 382) mit gemauertem Herde iſt
wohl allgemein bekannt. Die Feuergrube F iſt aus feuerfeſten Steinen

Figure 373. Fig. 382.

Schmiedeeſſe.


gebaut, B iſt die Brandmauer, d die
Windform, durch welche der Gebläſewind
in das Feuer eintritt, g der Rauchfang
und e die Eſſe. L iſt ein Löſchtrog, der
mit Waſſer gefüllt iſt, die Öffnung A wird
zum Aufbewahren von Brennmaterialien
benutzt. Vielfach liegen auch mehrere
Feuer auf einem Herde und unter einem
Rauchfang. Der Bequemlichkeit wegen
hat man auch eiſerne Eſſen konſtruiert, die
mit Rädern verſehen ſind und daher überall
hin mit Leichtigkeit transportiert werden
können.


Den Wind beſorgt meiſt ein Blaſe-
balg, doch ſind auch Ventilatorgebläſe ein-
geführt. Die Windſtärke läßt ſich regulieren, der Wind ſofort ab-
ſtellen, wenn das Metall aus dem Feuer genommen iſt.


Mannigfaltig ſind die Erzeugniſſe, welche durch Schmieden im
weiteren Sinne hergeſtellt werden, es mögen daher hier nur einige
der einfachſten und im allgemeinen Verkehrsleben wichtigſten Platz
finden.


Die Blecherzeugung.

Blech iſt ein bedeutender Handelsartikel, und die Art ſeiner An-
wendung und Benutzung eine mehr wie reichhaltige. Nicht nur wird
es benutzt, ſo wie es iſt, zum Schutze minder widerſtandsfähiger Stoffe,
ſondern faſt noch mehr als Übergangsform für andere kunſtvollere
Induſtrieerzeugniſſe. Blech nagelt man vor den Ofen, um den Fuß-
boden vor der Entzündung gegen Feuer zu ſchützen, den gleichen Zweck
haben eiſerne Vorhänge und Thüren, die ganz aus Wellblechplatten
beſtehen. Wie gegen Feuer, ſo ſoll es gegen Waſſer ein Schirm ſein.
Mit Blecheinſätzen verſehen wir Waſchtoiletten und Blumentiſche.
Gegen Diebesgefahr benagelt man die Thüren mit Blech, nimmt Well-
blechjalouſieen vor Schaufenſter und Eingänge und verwahrt ſein Geld
in Schränken, die aus Stahlblech hergeſtellt ſind. Zur Sicherung vor
feindlichen Kugeln umkleidet man die Kriegsſchiffe mit eiſernen Panzern,
ja man ſetzt ganze Schiffe nur aus Blechplatten zuſammen, kurz wohin
das Auge blickt, begegnet man dem Blech in ſeiner wahren Geſtalt.
Noch viel häufiger ſieht man es verarbeitet, durch Biegen, Drücken,
Preſſen, Prägen, Stanzen, Hämmern ꝛc., bald in einfacher Form als
[659]Die Blecherzeugung.
Blechlöffel, Regenrinne, Teller, bald zu den feinſten und kunſtvollſten
Ornamenten umgewandelt.


Die Erzeugung des Bleches ſelbſt geſchieht durch Hämmern oder
Walzen. Geſchlagenes Blech kommt mehr und mehr in Abnahme, da
es niemals ganz gleichmäßig werden kann. Schlägt der Hammer einmal
ſtärker zu, ſo wird das Blech an dieſer Stelle dünner und die Platte wird
beulig. Vielfach aber wird das Blech erſt mit dem Hammer vorgearbeitet
und verdichtet, ehe es ſeine eigentliche Verarbeitung durch die Walzen
erfährt, umgekehrt erfahren die feinſten Bleche, wie Zinnfolie, Blattgold
und ähnliche ihre letzte Bearbeitung mit dem Hammer. Die Blechwalzwerke
unterſcheiden ſich von anderen durch das Fehlen der Walzringe, ſie
haben keine ſeitliche Begrenzung. Die Walzen ſind möglichſt genau
und glatt gearbeitet. Die untere Walze ruht feſt in ihren Lagern,
während ihr die obere nach jedem Durchgange des Bleches genähert
wird, bis die verlangte Dicke erreicht iſt. Hierzu dienen Stellſchrauben,
welche von oben auf die Lager der Walzen drücken und ſie dadurch
verhindern, weiter als bis zu einem beſtimmten Punkte nach oben nach
zu geben. Die kleinen Walzwerke mit Walzen von 30 bis 40 mm
Länge, wie ſie in den Münzanſtalten, Schmuckfabriken, Goldarbeiter-
werkſtätten ꝛc. vorhanden ſind, werden auch Plättwerke genannt. Je geringer
der Walzendurchmeſſer, um ſo größer die Längenſtreckung, gerade wie
mit der ſchmalſten Finne ebenfalls die größte Streckung erreicht wird.
Bei einfachen Walzwerken wird das Metallſtück vor die Walzen gebracht,
und nachdem es zwiſchen denſelben durchgelaufen iſt, ſchleunigſt über
die obere Walze hinweg hinübergereicht, geſchwind die Entfernung der
Walzen verringert und nun von neuem das Blech durchgeſchickt. Hier
iſt größte Fixigkeit am Platze, ſonſt wird das Metall kalt und zur
Weiterverarbeitung zunächſt ungeeignet. Nun iſt das Hinüberheben
großer und ſchwerer Bleche auch nicht zu den Annehmlichkeiten zu
rechnen, man hat daher verſucht, mechaniſche Überhebvorrichtungen
in Anwendung zu bringen, zuerſt Vigor in Montataire 1854, ſpäter
Borſig in Berlin u. a. Dann hat man auch Walzwerke mit 3 Walzen
übereinander konſtruiert, die allerdings mehr bei den Stabwalzwerken
Anwendung finden. Bei dieſen liegt entweder die mittlere Walze feſt
und die obere und untere ſind verſtellbar — Syſtem Fritz — oder
die obere und untere Walze ſind feſt, und nur die mittlere läßt ſich
verſtellen — Syſtem Holleg. Das Überheben vermeiden neben dieſen
Triowalzwerken auch die Kehrwalzwerke, bei denen ſofort nach dem
Durchgange des Bleches die Umdrehungsrichtung der Walzen geändert
werden kann, ſo daß nun das Blech von derſelben Seite wieder zwiſchen
die Walzen hineingeführt werden kann, auf welcher es herauskam. Letzteres
Verfahren wurde 1792 zuerſt von dem Engländer John Wilkinſon an-
gewendet. Endlich ſtellte Samuel Lees 1848 zwei Walzwerke mit ent-
gegengeſetzter Drehrichtung nebeneinander mit einer Vorrichtung, um die
Bleche wechſelweiſe dem einen oder anderen Walzwerke zuzuführen.


42*
[660]Die Metallverarbeitung.

Eiſen wird immer glühend gewalzt, auch Kupfer vielfach, Zink
bei der Temperatur ſeiner größten Dehnbarkeit zwiſchen 125° und 150°,
alle übrigen Metalle werden kalt den Walzen übergeben.


Zur Herſtellung des Eiſenbleches nimmt man Stürze, d. h. breite,
nicht zu dicke Stäbe, die mit einer durch Waſſer oder Dampf bewegten
Schere zurechtgeſchnitten ſind. Man ſteckt ſie ſo hinein, daß die
Richtung der Bewegung der urſprünglichen Breite entſpricht, die alſo
nachher die Länge der Tafeln wird. Sind ſie mehrmals durch
die immer enger werdenden Walzen durchgegangen, ſo biegt man ſie
mit dem Hammer in der Mitte zuſammen, taucht ſie in Lehmwaſſer,
ſteckt zwei oder mehrere in einander und walzt ſie weiter aus, indem
man das Glühen erneuert, ſobald es wieder nötig wird. Nach jedem
Glühen wird der Glühſpan mit einem Handhammer abgeklopft, damit
er nicht mit in das Eiſen eingewalzt werde und die Bleche beim nach-
herigen Losplaſtern unanſehnlich und rauh mache. Die gewaltigen
Platten, wie ſie zur Panzerung von Schiffen dienen, werden durch
eiſerne auf Schienen laufende Wagen an die Walzen gebracht. Die
Krümmung wird den Blechen dadurch genommen, daß man ſie auf
gußeiſerne Platten legt und mit Gewichten beſchwert. Die Platten
der Geldſchränke werden auf einer Seite gehärtet, damit ſie den In-
ſtrumenten Widerſtand leiſten, an der inneren Seite müſſen ſie aber
geſchmeidig bleiben, damit ſie auch bei Schlägen und Stößen nicht
zerſplittern.


Stahlblech wird genau wie Eiſenblech behandelt und gewalzt.
Beim Kupferblech werden die gegoſſenen Platten zunächſt unter dem
Hammer bis zu einer Dicke von 15 mm vorgeſchlagen, dann erſt rot-
glühend oder noch beſſer kalt gewalzt und wiederum bei ausreichender
Dünne zuſammengebogen.


Wie Kupfer behandelt man Meſſing, nur werden hier die Walzen
mit Öl abgerieben, um ein Anbacken des Bleches zu verhüten. Das
ganz dünne Meſſingblech, das zur Weihnachtszeit viel benutzte Rauſch-
oder Knittergold, wird unter den Walzen papierdünn ausgezogen,
blank abgebeizt und dann in Lagen bis zu 20 und mehr Tafeln über-
einander gelegt und unter dem Schnellhammer gebracht, wodurch es nicht
nur breiter und dünner wird, ſondern auch ſeine Steifigkeit und ſeinen
Glanz erhält.


Blei kann ſeiner Weichheit wegen nur gewalzt, nicht gehämmert
werden, doch müſſen auch hier Walze und Platte mit Öl beſtrichen
werden. Eine Methode zur Herſtellung des Tabakbleies fand beim
Gießen bereits Erwähnung; gewalztes Blei wird noch dünner, indem
man 20 und mehr übereinander gelegte Platten durch die Walzen
gleichzeitig laufen läßt.


Die Herſtellung der Zinnplatten geſchieht wie die des Bleibleches,
die ganz dünne Zinnfolie, Stanniol, wurde auch ſchon beim Gießen
erwähnt, hier war ihre Behandlungsweiſe wie die der Bleifolie.
[661]Die Blecherzeugung. — Die Staberzeugung.
Beim Schmiedeprozeß werden ſie ganz wie Rauſchgold behandelt.
Entweder wird in Stäbe gegoſſenes Zinn von Anfang bis zum Ende mit
dem Hammer behandelt, oder gegoſſene Platten werden vorgewalzt
und erhalten ihre letzte Bearbeitung mit dem Hammer. Bei großen
Spiegeln benutzt man zum Belegen Platten von 0,5 mm Dicke; die
zum Einwickeln von Schokolade benutzte Zinnfolie hat aber oft nur
eine Dicke von 0,008 mm.


Sehr viel benutzt zu allerlei Gefäßen, zu Eimern, Gießkannen,
Dachrinnen ꝛc. wird Zinkblech. Deſſen Herſtellung macht die meiſte
Mühe, weil ſeine größte Dehnbarkeit innerhalb ziemlich enger Tempe-
raturgrenzen liegt. Dasſelbe muß immer vorgewärmt und Sorge
getragen werden, daß ſeine Temperatur durch den Walzdruck nicht über
den günſtigen Wärmegrad hinaus geſteigert werde. Auch hier werden
die Walzen geölt.


Edelmetalle werden in Blechform vielfach zu Schmuckſachen ver-
arbeitet, die über einem Harzkern plattiert werden. Auch hier findet
eine vorherige und nachherige Bearbeitung der gewalzten Bleche ſtatt.
Über die Herſtellung des Blattgoldes wurde bereits ausführlicher ge-
ſprochen.


Die Staberzeugung.

Stabeiſen, Façoneiſen werden nur noch ſelten mit dem Hammer
hergeſtellt, ja viele Formen, ſo z. B. die Eiſenbahnſchienen, würden ſich
überhaupt nicht durch Hämmern in die vorgeſchriebene Form bringen
laſſen, hier iſt man ausſchließlich auf Kaliberwalzen angewieſen. Von
anderen Metallen, wie Eiſen, kommen Stäbe nicht unter die Walzen;
wo ſie einen Handelsartikel ausmachen, ſind ſie unmittelbar durch Guß
hergeſtellt. Was bei der Blecherzeugung geſagt wurde, gilt auch hier, man
benutzt Duowalzwerke, Triowalzwerke und Kehrwalzwerke. Diejenigen
Teile des Eiſenſtückes, welche von der Walze unmittelbar getroffen
werden, erleiden eine Verdichtung des Gefüges, während diejenigen
Teile, welche ſeitwärts ausweichen müſſen, eine Lockerung erfahren.
Man dreht daher den Stab nach jedem Durchgange um einen be-
ſtimmten Winkel, der meiſt 90° beträgt, damit alle Teile gleichmäßig
beeinflußt werden. Vor dem Walzwerk bringt man Eiſenplatten an,
welche dem Werkſtück nur geſtatten, in einer beſtimmten Lage hindurch
zu gehen, die alſo als Führung dienen. Für jeden einzelnen Quer-
ſchnitt des Eiſens iſt auch ein beſonderes Kaliber nötig, ſo daß in
einer größeren Werkſtatt, die die verſchiedenſten Sorten von Eiſen auf
den Markt bringt, eine bedeutende Anzahl von Walzwerken Aufſtellung
finden, oder wenigſtens von Walzen vorhanden ſein muß. Für Stab-
eiſen mit rechteckigem Querſchnitt beſeitigt dieſe unangenehme Not-
wendigkeit das Univerſalwalzwerk von R. Däelen zu Hörde in Weſt-
falen (1848). Bei dieſem wird das Flacheiſen durch zwei Paar glatte
Walzen erzeugt, von denen die eine wagerecht, die zweite ſenkrecht
[662]Die Metallverarbeitung.
gelagert iſt, ſo daß alſo das Eiſen bei jedem Durchlaufen ſowohl in
ſenkrechter, als auch in wagerechter Richtung Druck erfährt. Die
Lagerungen der Walzen ſind verſtellbar eingerichtet, ſo daß mit einem
Univerſalwalzwerk Flacheiſen von jeder Dicke und Breite angefertigt
werden kann.


Wenngleich die Herſtellung von Blechen und Stäben die Haupt-
thätigkeit der Walzwerke ausmacht, ſo iſt ihre Anwendung damit noch
lange nicht erſchöpft, Schraubenmuttern, façonnierte Geländer und Gitter-
ſtäbe, Radreifen, ja ganze Scheibenräder werden aus roh vor-
geſchmiedeten Eiſenſtücken nur durch Walzen fertig hergeſtellt, ja neuer-
dings iſt ein Verfahren erfunden, welches nicht nur geſtattet, Röhren
zu walzen, ſondern auch dieſelben nach Belieben abwechſelnd als Hohl-
und Vollcylinder zu geſtalten. Bei der Röhrenfabrikation wird dieſes
Mannesmannverfahren noch eingehendere Beſprechung finden.


Das Ziehen.

Das dritte und letzte Verfahren, bei Metallen eine rohere Form-
gebung zu erzielen, iſt das Ziehen. Das Ziehen nähert ſich dem
Preſſen und Walzen, denn auch hier findet eine Querſchnittsverringerung
und Veränderung eines Metalles durch Zuſammendrücken ſtatt. Das
Ziehen geſchieht in der Weiſe, daß man ein ſtabförmiges Metallſtück
an einem Ende zuſpitzt, ſo daß es in eine engere Öffnung, als ſein
eigener Querſchnitt iſt, ſich hineinſtecken läßt, und dann den ganzen
Stab durch dieſe Öffnung hindurchzieht, indem man ihn an dem zu-
geſpitzten Ende ergreift. Hierbei wird der Stab dünner, gleich-
zeitig aber auch länger werden. Dieſe Löcher ſind meiſt in eine Guß-
ſtahlplatte hineingearbeitet und je nach dem Querſchnitt, den der
gezogene Stab erhalten ſoll, verſchieden weit. Sie müſſen ſehr genau
gearbeitet und vor allen Dingen innen glatt ſein, daß ſie keine Spähne
abreißen. Zunächſt ſind ſie trichterförmig geſtaltet, dann folgt
eine cylindriſche Strecke, die ſich wieder erweitert, um dem Stabe
den Austritt zu erleichtern. Das gezogene Stück iſt ſtets dicker
wie das Loch, denn vermöge ſeiner Elaſtizität dehnt ſich das Metall
wieder etwas aus. Die vordere Öffnung iſt das Auge des Zieh-
eiſens, wie die Platte heißt; ein Zieheiſen enthält bis zu 100 Löchern
von 4 bis 25 mm Durchmeſſer. Bei feinen Drähten aus Edelmetallen
wird ſtatt des Zieheiſens eine Meſſingplatte benutzt, in welche ein
durchlochter Saphir oder Rubin eingelaſſen iſt; natürlich ſind dieſe
Steinlöcher dauerhafter wie die Zieheiſen. Beim Ziehen pflegt man
die Metalle kalt zu laſſen, weil in kaltem Zuſtande der Widerſtand,
den ſie der Zerreißung entgegenſetzen, ein größerer iſt. Die Werkzeuge,
die zum Ziehen benutzt werden, ſind außer dem Zieheiſen noch Zieh-
bänke, und je nach der Art, wie auf dieſen der Zug ausgeübt wird.
unterſcheidet man Schleppzangen- und Scheiben- oder Leierziehbänke.


[663]Das Ziehen. — Die Drahterzeugung.

Die Schleppzangenziehbank beſteht aus einer Bank, an deren einem
Ende ein Zieheiſen angebracht iſt; vor demſelben befindet ſich ein kleiner
Wagen mit einer Zange, deren Maul ſich ſchließt, ſobald der Wagen
vom Zieheiſen fortbewegt wird. Unter der Bank befinden ſich zwei
Räder, ein gezahntes und ein ungezahntes, über welche eine endloſe
Kette läuft. Sobald das Zahnrad durch ein Getriebe in Bewegung
geſetzt wird, bewegt ſich auch die Kette und mit ihr der Wagen, der
mit einem aushebbaren Finger in dieſelbe eingreift. Iſt der Wagen
am Ende der Bank angekommen, ſo ſchaltet er ſich ſelbſtthätig aus.
Dieſe Bänke waren in England ſchon 1563 eingeführt. 1834 ver-
beſſerte Michel in Paris die Zangen und 1830 Hohnbaum in Hannover
die Bankkonſtruktion. Die Schleppzangenziehbank wird hauptſächlich für
Röhren angewendet, ihr Wirkungskreis iſt dadurch beſchränkt, daß ſie
eben nicht länger ziehen kann, als es die Länge der Bank geſtattet.
Iſt der Wagen am Ende angekommen, ſo muß er wieder zum Zieh-
eiſen zurückgeführt werden, und die Zange muß von neuem einbeißen,
wodurch die Zugſtücke unſchön werden.


Praktiſcher ſind die Scheiben- oder Leierziehbänke (Figur 383),
die aber nur für Drähte Verwendung finden können. Hier befindet

Figure 374. Fig. 883.

Leier- oder Scheibenziehbank.


ſich auf einer Seite einer hölzernen Bank ein Haſpel, in der Mitte ein
Zieheiſen, auf der anderen Seite die Leier, eine Trommel aus Guß-
eiſen. Der Draht wird erſt auf die drehbare Trommel aufgewickelt,
dann zugeſpitzt, durch das Zieheiſen geſteckt und auf die Haſpel auf-
wunden.


Die Drahterzeugung.

Der Draht, wie er in den Handel gebracht wird, hat meiſt einen
kreisrunden Querſchnitt, allerdings kommen auch anders geſtaltete Drähte
vor, doch werden dieſe meiſt in den Werkſtätten nur zur ſofortigen
[664]Die Metallverarbeitung.
Weiterverarbeitung hergeſtellt. Drähte werden faſt ausſchließlich ge-
zogen, nur dünnere Drähte werden gewalzt. Bevor ſie dem Zieheiſen
überliefert werden, ſucht man ſie möglichſt ſchon in diejenige Form zu
bringen, welche ſie nachher annehmen ſollen. Deshalb werden runde
Stäbe gegoſſen und dann nachgeſchmiedet, wie es beim Kupfer, Silber
und Gold geſchieht, oder gewalzt, wie es beim Stahl und Eiſen üblich
iſt. Man ſchneidet auch Streifen aus Blechen, und rundet ſie mit der
Feile ab. Da ſich die Drähte beim Ziehen ſtark verdichten und da-
durch ſpröde werden, ſo müſſen ſie von Zeit zu Zeit ausgeglüht werden,
um ihre vorige Weichheit wieder zu erlangen, namentlich bei Eiſen,
Stahl und Meſſing iſt dies öfters nötig. Nach dem Glühen muß dann
der Glühſpan durch Abſcheuern, Abbröckeln oder Abbeizen mit ver-
dünnter Schwefelſäure losgetrennt werden.


Eine ganze Reihe von Verwandlungen muß das rohe Eiſenſtück
durchmachen, ehe es als Glühdraht beim Spengler weitere Verwendung
finden kann. Nachdem es der Hochofenhitze glücklich entronnen,
dachte es ſich als ſchmucker Eiſenblock ſchon wunder etwas Schönes
zu ſein, um ſo mehr, als man es unter der Luppenquetſche von allen
Unreinigkeiten und Schlacken gründlich befreit hatte. Aber nun geht
es erſt los. Jetzt wird es in den Schweißofen geworfen, und nachdem es
die richtige Schweißtemperatur erlangt hat, mit großen Zangen ergriffen
und vor ein Drahtwalzwerk gebracht. Da drehen ſich drei über-
einander gelagerte Walzen mit großer Geſchwindigkeit herum, und in die
Walzen ſind tiefe Furchen (Kaliber) um den ganzen Umkreis einge-
ſchnitten, deren Öffnungen ſtufenweiſe immer kleiner und kleiner werden.
Nun ſollte man meinen, was ein Draht werden will, das rundet ſich
bei Zeiten, aber nein. Erſt muß ſich das Eiſen durch quadratiſche Kaliber
durchwinden, dann wird es oval gepreßt, und erſt die letzte Form-
gebung bewirken kreisrunde Furchen. Hierbei muß es lernen, ſich
tüchtig zu biegen, denn während ſein Ende noch im vorigen Kaliber
ſteckt, wird der Anfang ſchon umgewendet und in das folgende Kaliber
geführt, und all’ dieſe Drehungen und Quetſchungen gehen mit einer
ſolchen Geſchwindigkeit vor ſich, daß ein vorgewalzter Quadratſtab von
25 mm Dicke und etwa 70 cm Länge ſchon nach einer einzigen Minute
als ein Draht von 15 m Länge noch rotglühend aus dem letzten
Kaliber heraustritt. Flugs wickelt man ihn auf eine Art Haſpel, be-
ſtehend aus vier auf einem Kreuz ſtehenden Eiſenſtäben, wo man ihn
erkalten läßt, um ihn alsdann durch Scheuern und Beizen vom Zunder
und Glühſpan zu befreien und blank zu machen, ſo daß er nun ſchon
ein ſtattliches Ausſehen erhält. Will man nur dicken Walzdraht haben,
ſo iſt er jetzt fertig, denn bis zu einem Durchmeſſer von drei Milli-
meter vermag er es ſchon auf guten Walzen zu bringen, aber
meiſt muß er noch weiter, zur Ziehbank. Hier wird er um den
meiſt koniſch geformten Cylinder gewickelt, und muß, ſo gut es geht,
ſich durch das Zieheiſen durchpreſſen und zwar durch 9 bis 12 Löcher,
[665]Die Drahterzeugung.
die oft gleich ſo hintereinander angeordnet ſind, daß der Draht erſt
nach Verlaſſen des letzten Loches um die Haſpel gewunden wird, oft
ſitzt aber auch zwiſchen je zwei Ziehlöchern eine Haſpel. Zuweilen
ſträubt ſich der Draht gegen dieſes Verfahren und reißt entzwei. Das
iſt in doppelter Weiſe unangenehm, es bringt Zeitverluſt mit ſich, da
der Draht neu angeſpitzt und durch das Zieheiſen geſteckt werden
muß, und der Käufer will keine kurzen Enden haben, wenn er einen
Ring Draht kauft, ſondern verlangt nur ein Stück, oder jedenfalls
doch nur wenige Adern. Aus geeignetem Eiſen hat man ſchon Ringe
in einer Ader bis zu einer Fadenlänge von faſt einer geographiſchen
Meile ausgezogen. So ſchnell wie das Walzen geht das Ziehen
nicht, denn ehe alle 12 Löcher paſſiert ſind, muß der Draht in-
zwiſchen mehrmals, bis viermal friſch geglüht und entſprechend ge-
reinigt werden.


Eiſen- und Stahldrähte haben eine Stärke von 1 mm, als Seil-
drähte bis zu 0,1 mm, die Klavierdrähte ſind 0,1 bis 0,7 mm dick,
meſſingene Klavierſeiten 0,25 mm. Sehr viel feiner ſind die Drähte
aus echten und halbechten Metallen, wie ſie zu Geſpinſten, Treſſen
u. dergl. dienen. Neuerdings hat man für wiſſenſchaftliche Zwecke
Platindraht hergeſtellt, der faſt ſchwer mit bloßem Auge zu er-
kennen iſt. Nachdem nämlich der Platindraht aus einem gegoſſenen
Stäbchen oder aus mit der Schere aus einem Blech herausgeſchnittenen
Streifen in der gewöhnlichen Weiſe ſchon zu beträchtlicher Feinheit aus-
gezogen iſt, umzieht man denſelben mit Silber, oder hüllt ihn in mehr-
fach herumgelegtes Silberblech ein, und zieht ihn nun nochmals ſo
fein als nur irgend möglich aus. Dann legt man ihn in ein Bad
von Salpeterſäure, welche das Silber auflöſt, das Platin dagegen
nicht angreift. So gelingt es Draht von faſt unglaublicher Feinheit
zu erzeugen. Ebenſo wird Platiniridiumdraht hergeſtellt.


Benutzt man ſtatt des Zieheiſens den Seckenzug, ſo können auch
Stäbe und Streifen in gleicher Weiſe verfertigt werden. Der Secken-
zug beſteht aus zwei ſtählernen Backen, die mit Einſchnitten verſehen
ſind. Sie werden in einen eiſernen Rahmen geſchoben und dann
mittels einer oder zweier Schrauben ſoweit genähert, wie es der vor-
liegende Zweck gerade erfordert. Der obere und untere Einſchnitt
bilden dann zuſammen eine Öffnung, durch welche das Metall mit der
Schleppzange gezogen wird. Auch hier erfolgt die Formgebung nur
nach und nach, indem bei jedem neuen Durchgange auch die Backen
einander wieder mehr genähert werden. Dünnes Blech biegt ſich hierbei
einfach und bildet Hohlkörper, bei denen den Vertiefungen außen genau
gleiche Erhöhungen im Innern entſprechen [und] umgekehrt; dicke Blöcke
werden eingedrückt oder durch Abnehmen von Spähnen geformt, wobei
die innere Fläche eben bleibt.


[666]Die Metallverarbeitung.
Die Röhrenerzeugung.

Röhren ſpielen im Haushalte der Menſchen eine höchſt wichtige
Rolle. Tauſende von Kilometern ſind in einer Großſtadt allein in die
Erde gegraben. Da liegen Waſſerleitungsrohre, Kanaliſationsrohre und
Gasrohre; Telegraphenkabel und Kabel für elektriſche Beleuchtung ſind
in Röhren eingeſchloſſen, durch Röhren fliegt die Rohrpoſt; ebenſoviele
Kilometer ſind in den Wänden der Häuſer eingemauert, oder laufen
außen an den Häuſern entlang; da giebt es neben den genannten noch
Röhren für Centralheizungen, für Ventilation, Röhren, welche Druck-
luft als Betriebskraft von einer Centralſtelle in die Werkſtätten führen,
auf dem Hofe findet man Brunnenröhren; und welche Unmengen von
Röhren ſind erſt an den Maſchinen aller Art, kurz Röhren hier und
Röhren da, Röhren überall, wohin das Auge blickt. Kein Wunder alſo,
wenn der Röhrenfabrikation die größte Aufmerkſamkeit zugewendet wird,
und faſt jede Woche neue Verfahren erſonnen und zum Patent an-
gemeldet werden.


Gußeiſerne Röhren konnte man ſchon in früher Zeit herſtellen.
Dieſelben ſollen vollkommen blaſenfrei ſein, damit ſie dicht halten und
weder Gas noch Waſſer durchſickern laſſen, ſie ſollen aber auch bei Er-
ſchütterungen, wie ſie bei der Waſſerleitung durch das Waſſer ausgeübt
werden, wie ſie aber auch beim Dichten der Verbindungsſtellen nicht zu
vermeiden ſind, nicht zerbrechen. Man gießt daher die Röhren meiſt
ſtehend, die Muffe — der erweiterte Anſatz, in welchen die folgende
Röhre hineingeſchoben wird — nach unten. Dann ſteigen die Blaſen
nach oben, alle Unreinigkeiten und Fremdkörper ſchwimmen oben und
bleiben nicht in der Röhre, namentlich wird die Muffe, die gerade
beim Dichten die Schläge auszuhalten hat, frei von Verunreinigungen
ſein. Ferner hat der ſtehende Guß den Vorteil, daß man den Kern
hineinhängen kann, ohne ihn weiter zu verſteifen und zu ſtützen. Die
Formen, meiſt aus Sand hergeſtellt, werden zuvor getrocknet, um die
Dampfentwicklung zu vermindern. Man wendet durchweg Kaſtenguß
an, der Kaſten iſt cylindriſch, zweiteilig und ſein Durchmeſſer ſo ge-
wählt, daß die Sandſchicht nur ſchmal, 20 bis 30 mm breit iſt — ſo
wird Material an Sand geſpart und das Trocknen geht ſchneller vor
ſich. So werden in Deutſchland allein über eine Million Centner
Röhren jährlich hergeſtellt.


Gegoſſene Röhren haben natürlich immer eine ziemliche Wand-
ſtärke, man hat deshalb ſchon ſeit Anfang dieſes Jahrhunderts Röhren
gezogen, gerade wie man Draht zieht. Ein kurzer kräftiger Hohl-
cylinder wird gegoſſen und auf die Schleppzangenziehbank gebracht.
Das Zieheiſen, welches das Rohr paſſieren muß, heißt hier Zieh-
ring. Um ein Verbiegen und Krümmen des Rohres zu ver-
hindern, und um ihm gleichzeitig genau die verlangte Wandſtärke zu
erteilen, wird das Rohr nicht bloß durch den Ring, ſondern gleichzeitig
[667]Die Röhrenerzeugung.
noch über einen Volleylinder, den ſogenannten Dorn, der der inneren
Weite desſelben entſpricht, gezogen. Sollen die Röhren größere Weite
haben, ſo wird der Dorn ſehr ſchwer, die untere Wandung der Röhre
infolgedeſſen dünner als die obere. Man verwendet daher ſtatt der
Horizontalziehbänke auch ſenkrecht ſtehende. Dann läuft eine Kette über
eine Trommel, welche oben an einem ſtarken. Gerüſt angebracht iſt.
Entweder benutzt man einen langen Dorn, der mit dem Rohr durch
den Ziehring gezogen wird, oder der Dorn iſt nur kurz, bleibt feſt in
der Öffnung des Ringes, und nur das Rohr wird durch die Aufwick-
lung des Seiles über beide geſtreckt, endlich läßt man auch Dorn und
Rohr feſt und läßt einen, auch zwei Ringe über das Rohr gleiten.


Die beiden vorgenannten Arten von Röhren ſind nahtlos, aus
einem Stück hergeſtellt und für viele Zwecke, namentlich da, wo ein
ſtarker Druck auszuhalten iſt, ſind nur nahtloſe Röhren im Gebrauch.
Man kann Röhren aber auch aus Blechen herſtellen und zwar auf die
allerverſchiedenſte Weiſe.


Bei langen Röhren ſchneidet man einen Blechſtreifen zurecht, be-
feilt ihn an den Rändern, klopft ihn über einem Dorn, bei ſehr engen
Röhren auch über einem Drahte rund und läßt endlich das Ganze
durch ein Zieheiſen laufen, damit die Ränder ſich glatt übereinander
preſſen. Man ſpart ſich wohl auch die Vorbereitung und läßt das
Blech gleich durch fünf bis ſechs immer enger werdende Ziehlöcher
laufen, was außerordentlich ſchnell geht, aber leicht Veranlaſſung giebt,
daß die Fuge ſpiralig verläuft.


Dickere und größere Röhren werden ebenfalls erſt zuſammen-
gebogen, dann mit Schlaglot gelötet und jetzt auf der Röhrenziehbank
über den Dorn in der oben erwähnten Weiſe gezogen. Das
Ende der Röhre wird hierbei umgeſchlagen, damit die Röhre ſich nicht
abſtreifen kann, wenn Dorn und Röhre durch den Ziehring geſtreckt
werden. Bei ſchmiedeeiſernen Röhren iſt natürlich ein Löten nicht
nötig. Die roh mit dem Handhammer oder auf andere Weiſe in rot-
warmem Zuſtande in Röhrenform gebrachten Schienen werden weiß-
glühend auf die Ziehbank gebracht, ſodaß beim Ziehen auch gleichzeitig
ein Zuſammenſchweißen der Ränder ſtattfindet.


Die älteſten Röhren, wenn man von den gegoſſenen abſieht,
waren die aus Blech gebogenen und dann zuſammengelötet, endlich
über einen Dorn durch das Zieheiſen gezogen, alſo diejenigen Röhren,
welchen beim Ziehen nur noch eine geringe Streckung gegeben wird,
wo vielmehr das Ziehen hauptſächlich nur den Zweck erfüllt, die
Röhren gerade zu biegen. Früher fand das Biegen ſtets mit dem
Handhammer ſtatt, bequemer und ſchneller gelingt es mittels eines aus
drei dünnen Eiſencylindern beſtehenden Walzwerkes. Auch die weitere
Verfertigung und Vollendung der Röhren läßt ſich mit einem Walz-
werk erreichen. Doch findet dieſes Verfahren der Hauptſache nach nur
für geſchweißte ſchmiedeeiſerne Röhren Anwendung.


[668]Die Metallverarbeitung.

Das Röhrenwalzwerk iſt im allgemeinen ebenſo konſtruiert, wie
das Stabwalzwerk. In einem feſten Geſtell ruhen zwei, auch wohl
drei Walzen mit ringsherumlaufenden Furchen, deren Geſtalt dem
halben Querſchnitt der Röhre entſpricht, ſo daß kreisrunde, quadratiſche,
ovale u. ſ. w. Kaliber entſtehen. Da die Röhren gleichzeitig geſtreckt
werden ſollen, ſo ſind die Kaliber der Größe nach abgeſtuft. Man
nimmt einen gewalzten oder von einem Bleche abgeſchnittenen Streifen
und richtet ihn für das Schweißen zu, d. h. man ſchrägt die beiden
Seiten ab, ganz wie man will, z. B. indem man den Streifen auf
einer Art Ziehbank an zwei Sticheln entlang zieht, welche Spähne los-
reißen. Jetzt geht’s ans Biegen, dazu macht man die beiden Enden
des Streifens warm und krümmt ihn mit Hülfe eines Geſenkes ſo
ſtark, daß der entſtehende Rundkörper einen kleineren Durchmeſſer be-
kommt, als die nachherige Röhre haben ſoll. Immer mehr heizt man
alsdann dem Werkſtück ein, denn es folgt eine Erhitzung bis zur Rot-
glut; bei welcher es durch einen Trichter gezogen wird, der einen vor-
ſpringenden Rand hat, und die Streifen abſchrägt und über einander
biegt. Wieder geht es in den Ofen zurück, aber zum Schweißen,
das jetzt an die Reihe kommt, iſt Weißglut erforderlich, und weiß-
glühend wird der vorbereitete Streifen in die Walzen gebracht.
Ohne weitere Hülfsmittel ſind dieſe allerdings nicht zu benutzen,
da ſie das Rohr unregelmäßig zuſammendrücken könnten, ſondern
auch hier kommt ein Dorn in Anwendung, wie ihn Fig. 384 zeigt.

Figure 375. Fig. 384.

Wirkungsweiſe des Röhrenwalzwerks.


Der Dorn ſitzt feſt an einer Stange und ragt in das Kaliber hinein,
das Rohr geht in der Richtung der Pfeile in die Walzenfurchen,
welche es feſt an den Dorn preſſen, der ſeinerſeits dieſen Druck durch
Gegendruck gegen die Walzen vergilt. So werden die abgeſchrägten
Seiten zuſammengeſchweißt. Einmal iſt natürlich auch hier keinmal,
denn man ſetzt dieſes Verfahren fort, indem man erſt die entſtandene
Röhre um 60 Grad dreht, damit die Wände gleichmäßig werden, dann
[669]Die Röhrenerzeugung.
aber ein engeres Kaliber und einen dickeren Dorn auswählt. Soll
die Röhre jetzt wieder durch, ſo muß ſie ſich ſtrecken und während die
Wandungen dünner werden, wird ſie bei jedem Durchgange länger.
Dreimal bis viermal eilt ſie mit großer Geſchwindigkeit durch die
Walzen und wird zuletzt, damit ſie ſich beim Erkalten nicht verziehe,
mehrere Male auf der Kratzbank durch Hartgußringe mit ſcharfen ge-
ſchliffenen Rändern gezogen, wobei auch der Glühſpan abgeſchabt wird.
Die Schweißnaht iſt hierbei ganz unbedenklich, die Röhren haben ſich
für Gasleitungen in den Gebäuden, für Siederöhren bei Dampf-
keſſeln u. ſ. w. vorzüglich bewährt, aber wie es überall geht, ſo iſt
auch hier das Beſſere der Feind des Guten und das Beſſere iſt das
Mannesmannſche Verfahren, Röhren ohne weitere Vorbereitung aus
einem vollen Blocke durch bloßes Walzen herzuſtellen. Die ganzen
vorbereitenden Arbeiten, das Blechwalzen, das Biegen, mehrmalige
Erhitzen, und was ſonſt noch alles nötig war, fällt einfach fort. Das
Mannesmannſche Verfahren bedeutet eine vollſtändige Umwälzung auf
dieſem Gebiete, es iſt in jeder Richtung neu und originell, es ver-
einfacht das ganze Verfahren, indem es geſtattet, in einem Durchgange
eine faſt unbegrenzte Streckung zu erzielen, und noch obendrein die
Röhre völlig ohne Naht herſtellt.


Bei den bisher angeführten Walzwerken liegen die Walzen ſo,
daß ihre Achſen einander vollkommen parallel ſind. Laufen dieſelben
in entgegengeſetzter Richtung, ſo wird ein rechtwinklig zur Walzen-
achſe eingeführtes Werkſtück je nach der Schnelligkeit der Umdrehung
mit mehr oder minder großer Geſchwindigkeit hindurchgezogen; laufen
dagegen Ober- und Unterwalze in derſelben Umdrehungsrichtung, ſo
wird ein in der Walzenrichtung eingebrachtes Werkſtück ſich zwar eben-
falls in eine drehende Bewegung verſetzen, aber auf ſeiner Stelle liegen
bleiben. Beide Methoden werden zur Formgebung benutzt, bei
beiden aber hütet man ſich davor, das Werkſtück in Schrauben-
bewegung geraten zu laſſen, mit welcher eine Faſerdrehung, und ein
leichtes Zerbröckeln des Materials verbunden wäre, namentlich dann,
wenn die Querſchnittsverringerung und Streckung eine erhebliche iſt.
Bei Mannesmann wird das Umgekehrte erſtrebt, nämlich größte Faſer-
drehung mit größter Streckung und Querſchnittsverringerung. Beides
wird erreicht durch eine beſondere Walzenanordnung. Die Walzen-
achſen ſind nicht mehr einander parallel, ſondern bilden einen Winkel
mit einander, ja ſie liegen nicht einmal in derſelben Ebene, ſondern
ſie kreuzen ſich. Man kann ſich eine Vorſtellung von dieſer An-
ordnung in folgender Weiſe machen. Beim gewöhnlichen Walzwerk
hebt man die Oberwalze an einem Ende, während man die Unter-
walze an demſelben Ende ſenkt, dann bilden die Achſen in der-
ſelben Ebene einen Winkel. Darauf zieht man an demſelben Ende
die Oberwalze nach rechts, die Unterwalze nach links, dann liegen
die anderen Enden nicht mehr bei einander, ſondern die Walzen
[670]Die Metallverarbeitung.
kreuzen ſich. Führt man jetzt in den Walzenwinkel ein Werkſtück ein,
ſo gerät es in eine drehende Bewegung und bei der Streckung
ſetzt ſich die drehende und vorwärtsſchreitende Bewegung desſelben zu
einer ſchraubenförmigen Faſerdrehung zuſammen, es würde alſo aus
einem runden Block ein runder Stab entſtehen, deſſen Faſern nicht
längs lagern, ſondern gewunden ſind. Eine Röhre entſteht hierbei
noch nicht. Nun ſind die Mannesmannſchen Walzen noch obendrein
koniſch. Es iſt ohne weiteres klar, daß ein Punkt auf dem Umfange
eines kleinen Kreiſes eine kleinere Geſchwindigkeit hat, wie ein ſolcher
auf dem Umfange eines großen Kreiſes, wenn beide in derſelben Zeit
denſelben Winkel machen ſollen, denn der letztere Punkt muß in der-
ſelben Zeit eine ſehr viel größere Wegſtrecke durcheilen. Verhalten ſich
die Durchmeſſer wie 1 zu 10, ſo verhalten ſich die Geſchwindigkeiten
wie 1 zu 100. Führt man daher zwiſchen die koniſchen Walzen einen
Rundblock, ſo wird das Werkſtück, wenn es von dem dünneren Walzen-
ende hereingebracht wird, vorn ſehr viel ſchneller ſich drehen müſſen, wie
am hinteren Ende, es kann hinten gar nicht ſo viel Material zugeführt
werden, wie vorn verbraucht wird. Und die Folge davon? Der
äußere Teil des Materiales muß, ob er will oder nicht, entſprechend
ſeiner Drehung vorwärts, aber der innere Kern kann nicht folgen, er
bleibt zurück, während der Mantel ſich vorſchiebt. So entſteht eine
Röhre, deren hinteres Ende geſchloſſen iſt. Weiter kann auf dieſes
intereſſante Verfahren, über welches, obwohl es erſt ſeit 5 Jahren be-
ſteht, ſchon eine kleine Bibliothek geſchrieben und noch mehr geredet
iſt, hier nicht eingegangen werden, es genüge zu wiſſen, daß es mit
demſelben möglich iſt, einen Block ganz in eine Röhre auszuwalzen,
aber auch die Röhre an einem, an beiden Enden, ja an jeder be-
liebigen Stelle vollzulaſſen, was z. B. für Träger, die in der Mitte
voll bleiben können, von höchſter Bedeutung iſt. Die Anwendung des-
ſelben iſt alſo faſt unbeſchränkt.


Nicht unerwähnt mag es bleiben, daß Röhren auch geſtanzt und,
was namentlich bei Bleiröhren der Fall iſt, kalt oder warm in die
verlangte Form gepreßt werden.


b) Die letzte Formgebung der Metalle.


Aus tiefem Bergesſchachte hat der Bergmann das Metall hervor-
geholt, mühſam mußte er es von der Erde Rippen losreißen, dann
ſtieg es ans Tageslicht, um in des Hochofens Gluten von Schlacken
befreit zu werden, und bald lag ein Metallblock vor uns, ſeiner weiteren
Beſtimmung harrend. Nun wurde dieſer durch Gießen und Hämmern,
durch Walzen und Preſſen in eine Form gebracht, die ihn befähigte,
auf dem Weltmarkte zu erſcheinen. Vielfach iſt dieſe oft ſchon recht
vollendete Form bereits die endgültige, — die Schrotkugel, die Schrift-
[671]Die Trennungsarbeiten.
type wird ſo in Benutzung genommen, wie ſie aus dem Guſſe hervor-
geht; die Glocke, die Statue erfährt weiter keine Formveränderung;
aber meiſt bedeuten alle die bisher dargeſtellten Arbeitsverfahren doch
nur einen Übergang, und noch harren die Metalle ihrer letzten Be-
arbeitung, bis ſie als vollendetes Ganze ihrer Beſtimmung entgegen
gehen. Nicht ſelten, namentlich da, wo es ſich um weitere Form-
veränderungen handelt, wird man ſchon bekannten Inſtrumenten be-
gegnen: Hammer und Walze, Preſſe ꝛc. ſpielen auch hier eine große
Rolle, und nur die Art ihrer Anwendung iſt mannigfach verſchieden.
Man gelangt hier auf das große Gebiet der Werkzeugmaſchinen, das
ſo recht einen Beweis für die ſchöpferiſche Erfindungskraft des Menſchen
liefert. Welch ein Weg von dem einfachen Feldſtein, mit dem unſere
Vorväter klopften, bis zum Kruppſchen Rieſendampfhammer. Ein
gemeinſamer Zug aber geht durch alle die Erfindungen hindurch,
nämlich der Wunſch, die langſame und trotzdem unſichere Handarbeit
durch die ſehr viel ſchneller vor ſich gehende und in ihren Ergebniſſen
ſehr viel ſicherere maſchinelle Thätigkeit zu erſetzen.


Die Trennungsarbeiten.

Zwei Formen ſind es hauptſächlich von den bisher kennen gelernten,
in denen die Metalle zur weiteren Verarbeitung gelangen, beide, das
Blech und der Stab ſollen nun auf ihrem Gange weiter verfolgt werden.


Haben ſie das Walzwerk oder den Hammer verlaſſen, ſo wird
ihnen zunächſt diejenige Größe gegeben, deren ſie zur weiteren Ver-
arbeitung benötigen. Dies geſchieht durch Scheren. Zum Schneiden
dünner Bleche hat man auch nur Handſcheren nötig, die nicht viel
anders konſtruiert ſind, wie die Scheren, die der Schneider zum Zu-
ſchneiden ſchweren Stoffe benutzt. Für dickere Bleche benutzt man
Scheren, die in einem niedrigen hölzernen Klotze feſtgemacht ſind, die
Stock- oder Bockſcheren. Bei dieſen liegt der Drehpunkt meiſt am
Ende, das untere Blatt iſt feſt, das obere ein ſehr langer, einarmiger
Hebel. Wo man auch mit den Stockſcheren noch nicht auskommt,
treten die mit Elementarkraft betriebenen Maſchinenſcheren in Thätigkeit,
und zwar zumeiſt die Parallel- oder Guillotinenſcheren, die, wie ſchon
ihr Name beſagt, wahrſcheinlich franzöſiſchen Urſprungs ſind, oder die
aus England herübergekommenen Kreisſcheren. Bei der Parallelſchere
liegt die untere Schneide feſt und horizontal, die obere bewegt ſich
zwiſchen zwei ſenkrechten Führungen auf und nieder. Wollte man aber
die Schneide ebenfalls horizontal legen, ſo würde ſie in ihrer ganzen
Länge gleichzeitig angreifen und müßte einen ungeheuren Druck über-
winden; man läßt ſie alſo mit der unteren Schneide einen Winkel
bilden, ſo daß das Metall nach und nach durchſchnitten wird, ſo weit
die Schneide reicht. Durch die Länge der Schneiden wird auch die
Länge des Schnittes begrenzt, ein Übelſtand, den die Kreisſcheren
[672]Die Metallverarbeitung.
vermeiden, bei denen zwei um ihren Mittelpunkt bewegliche Scheiben,
die übereinandergreifen, ſich in entgegengeſetzter Richtung drehen, ſo
daß jeder Teil des Umfangs zum Schneiden kommt. Das Werkſtück
wird den Scheren entgegengeſchoben und kann natürlich unbegrenzt

Figure 376. Fig. 385.

Kreisſchere.


lang ſein. Fig. 385 wird die Wirkungs-
weiſe noch weiter verdeutlichen.


Wenn geſchloſſene Figuren aus-
geſchnitten werden ſollen, ſo wird die
Benutzung der erwähnten Scheren be-
ſchwerlich, man wendet dann eine in
ſich ſelbſt zurückkehrende Schneide an,
den Durchſchlag oder den Schneide-
ſtempel, der mit einem Schlage die
Form aus dem Blech austrennt. Das
Metall liegt auf einer Scheibe, die
mit einem Loch verſehen iſt, das wie
der Stempel genau die Umriſſe der
gewünſchten Figur hat, der Loch-
ſcheibe. Die Verwendung der im
17ten Jahrhundert erfundenen Loch-
maſchinen iſt eine faſt unbegrenzte.
Runde Plättchen ſchneidet man in
Münzen und Metallknopffabriken aus,
man benutzt ſie ferner zur Herſtellung
von Sägeblättern, Blechſieben, Scheren-
klingen, Stahlfedern, Schnallenringen,
Uhrzeigern, Nietlöchern in Keſſelwandungen, durchbrochenen Gold-
arbeiten ꝛc. ꝛc., kurz unendlich vielſeitig ſind die Formen, die die Loch-
maſchine hervorzubringen imſtande iſt. Alle dieſe Modifikationen des
Durchſchlags ſind freilich faſt ohne Ausnahme Kinder des 19ten Jahr-
hunderts.


Schwerere und im Querſchnitt größere Metallſtäbe, laſſen ſich mit
keiner der genannten Methoden durchteilen, hier tritt die Metallſäge in
Thätigkeit. Bei den Metallſägen berühren ſich die Gegenſätze. Ganz
feine Laubſägen, deren Blatt aus einer Uhrfeder hergeſtellt iſt, ſchneiden
aus dünnen Blechen die zierlichſten Figuren aus; geradezu großartig,
ſowohl in ihren Abmeſſungen, wie in ihren Wirkungen, ſind die Säge-
maſchinen, welche dazu dienen, die friſchgewalzten und noch glühenden
Schienen auf die richtige Länge zu bringen. Eine gewaltige Kreisſäge
von ¾ bis 1 ½ m Durchmeſſer macht, durch Elementarkraft getrieben,
800 bis 2000 Umdrehungen in einer Minute und in 10 bis 15 Sekunden
ſind die ſtärkſten Schienen und Stabeiſen durchgeſchnitten; nur beſter
Stahl vermag ſolche Arbeit zu verrichten.


Wie die Säge bei ſtarken Metallen die Schere erſetzt, ſo tritt in
gleichem Falle der Bohrer an die Stelle des Durchſtoßes. Zum
[673]Die Trennungsarbeiten.
Bohren von Löchern benutzt man den bekannten Drillbohrer oder die
Bohrknarre, ſchneller kommt man mit der Bohrmaſchine vorwärts.
Fig. 386 zeigt eine einfache Vertikal-Handbohrmaſchine, wie ſie vielfach
in mechaniſchen Werkſtätten Benutzung findet. Bei größeren Arbeits-
ſtücken, genügen dieſelben natürlich
nicht, und ſo fing man ſeit Anfang
dieſes Jahrhunderts, namentlich in
England, von wo ja faſt alle neueren
Werkzeugmaſchinen herſtammen an,
Lochbohrmaſchinen für Elementar-
kraft-Betrieb herzuſtellen. Bewegt
man das Werkſtück während des
Bohrens, ſo entſteht kein Loch, ſondern
ein beliebig langer Einſchnitt, und
die Maſchinen heißen Langloch- oder
Schlitzbohrmaſchinen.


Beſondere Schwierigkeiten treten
auf, wo ein ſehr langes und dabei
doch breites Loch herzuſtellen iſt,
wie z. B. bei den Kanonen. Früher
wurden dieſelben hohl gegoſſen; da
indeſſen beim Gießen immer Blaſen
und Hohlräume bleiben, die erſt
dann entdeckt wurden, wenn die
Kanone zerſprang, ſo goß zuerſt
der franzöſiſche Marine-Inſpektor

Figure 377. Fig. 386.

Handbohrmaſchine.


Maritz 1740 die Geſchütze maſſiv und bildete die Höhlung gänzlich
durch Bohren. Die Schwierigkeiten liegen darin, daß aus dem Vollen
angefangen werden muß, und daß das eine Ende geſchloſſen bleibt,
der Bohrer muß alſo freiſtehend ſo lang ſein wie die Höhlung. Wie
leicht kann ein ſolcher Bohrer ins Zittern oder Schwanken geraten
und die Arbeit, bei der es ja gerade hierbei auf äußerſte Gleichförmig-
keit ankommt, zu einer verfehlten machen. Verſchiedene Kanonen-
bohrmaſchinen ſind daher in Anwendung gekommen. Bei den wage-
rechten, die wohl den Vorzug verdienen, iſt der Bohrer feſt und das
wagerecht liegende Kanonenrohr dreht ſich ganz langſam, nur zwölf-
mal in einer Minute, um ſeine Achſe; durch Schrauben, Gewinde
oder Zahnſtangen wird der Bohrer allmählich vorwärts gerückt, ab
und zu zieht man ihn heraus, um die Bohrſpähne zu beſeitigen. Man
ſtellt den Bohrer aber auch ſenkrecht auf und läßt die Kanone, während
ſie oder der Bohrer ſich dreht, durch ihre eigene Schwere über den
letzteren herunterrutſchen. Bei den ſenkrechten Maſchinen fallen die
Spähne von ſelbſt heraus. Für kleinere Geſchütze genügen 3 Bohrer-
größen um den Lauf fertig zu machen, bei größeren aber iſt oft eine
bedeutende Anzahl von Bohrern nacheinander in Anwendung zu bringen.


Das Buch der Erfindungen. 43
[674]Die Metallverarbeitung.

Wie Kanonen, werden auch Gewehrläufe gebohrt, aber bei dieſen
iſt nur eine ſchon vorhandene Höhlung nachzuarbeiten. Bei den Flinten-
laufbohrmaſchinen dreht ſich der wagerechte Bohrer mit großer Ge-
ſchwindigkeit, während man den Lauf vorwärtsſchiebt. So entſteht ſchnell
ein genau kreisrundes Loch, das allerdings nicht immer ganz gerade ver-
läuft; nachheriges Hämmern richtet dann erſt die fertigen Läufe gerade.


Den Sägemaſchinen ſchließen ſich die Fräsmaſchinen an, hier wie
dort iſt ein gekerbtes Rädchen das arbeitende Werkzeug. Schon ſeit
ſehr langer Zeit benutzt man zum Herſtellen der Zähne an kleineren
Zahnrädern, namentlich auch ſolchen, wie ſie in Uhrwerken laufen, das
ſogenannte Räderſchneidezeug, eine gekerbte Stahlſcheibe, die mit großer
Geſchwindigkeit um ihre Achſe rotiert. Dieſe bedeuten den Anfang der
Fräsmaſchinen, die ſeitdem eine immer noch ſich vergrößernde Be-
deutung erlangt haben. Man kann ſie in ihrer Vielſeitigkeit allein
mit den Lochmaſchinen vergleichen. Wo die Sägemaſchine roh vor-
gearbeitet hat, arbeitet die Fräſe nach, ſo z. B. beim genaueren Ab-
meſſen der Eiſenbahnſchienen, ferner erſetzt ſie die Feile beim Glätten
von Metallflächen, aber auch alle möglichen Formen, die ſich früher
nur durch Handarbeit herſtellen ließen, werden mit Hilfe der Fräſe
fertig geſtellt. Freilich wird für jede beſondere Form auch eine be-
ſondere Fräſe benötigt, und ſo iſt denn die Fräsmaſchine überall da
die nützlichſte und wichtigſte Werkzeugmaſchine, wo eine größere Anzahl

Figure 378. Fig. 387.

Fräſe.


gleicher Körper hergeſtellt werden ſollen, alſo für Markt-
und Maſſenartikel. Die Fräſen haben Scheiben-, Cylinder-,
Kegel- oder Kugelgeſtalt. Fig. 387 zeigt eine cylindriſche
Fräſe mit Schneiden auf der Stirn- und Mantelfläche,
mit welcher zwei rechtwinklig gegeneinander gerichtete
Flächen gleichzeitig bearbeitet werden können, und die
daher zur Herſtellung rechtwinkliger Anſätze gebraucht wird.
Im Konſtruieren von Fräſen für beſondere Zwecke haben
ſich beſonders die Nordamerikaner hervorgethan.


Alle bisher genannten Maſchinen dienten in erſter Linie
dazu, Werkſtücke in ihren Längen- und Breitenausdehnungen
zu verändern, und nur die Fräſe kann auch eine Dicken-
veränderung hervorrufen, ſonſt aber ſind für dieſen Zweck
die Hobelmaſchinen beſtimmt. Hier iſt das arbeitende
Werkſtück der Meißel oder der Stichel. Verſieht man den
Meißel mit einer Vorrichtung, durch welche ſeine Bewegung
geſichert iſt, und die das mit jedem Hammerſchlage ſtoßartig erfolgende
Vorwärtsgehen und Spanabheben des Meißels in ein ſtetiges Vorrücken
und ununterbrochenes Schneiden längs der ganzen Bahn in geradliniger
Richtung verwandelt, ſo hat man den Hobel. Der Hobel des Tiſchlers
iſt ja ein bekanntes Werkzeug. In der Metallbearbeitung kommen
Handhobel nicht vor, ſondern der Hobel wird ſtets durch Maſchinen
geführt. Hebt der Hobel ſehr dicke Spähne ab, und iſt die einzelne
[675]Die Trennungsarbeiten.
Arbeitsbewegung erheblich lang, ſo ſpricht man von eigentlichen Hobel-
oder Planhobelmaſchinen, hebt der Stichel dünnere Spähne auf einer
kurzen Bahn ab, bei ſenkrechter Bewegung desſelben, ſo heißen die
Maſchinen Stoßmaſchinen, Feilmaſchinen endlich, wenn die Verſchiebung
des Stichels in derſelben Weiſe wagerecht vor ſich geht. Die Hobel-
maſchinen ſind aus England herübergekommen, Murray zu Leeds hatte
ſchon 1814 eine ſolche in Gebrauch, ebenſo Fox in Derby, eine dritte kon-
ſtruierte 1817 Roberts in Mancheſter. Die Stoßmaſchinen ſcheinen 1830
in England aufgekommen zu ſein, die erſten Feilmaſchinen führte Reichen-
bach um 1810 ein, doch werden erſt ſeit 1840 größere Maſchinen gebaut.


Einen Gegenſatz zu allen Werkzeugmaſchinen, bei denen die Be-
wegung des Werkſtückes oder Werkzeuges eine geradlinige war, bildet
die Drehbank. Schon das Wort drehen deutet an, daß hier eine um-
laufende Bewegung ſtattfindet, und zwar macht dieſe ſtets das Werk-
ſtück. Die Drehbank iſt wohl die älteſte, aber auch heute noch wichtigſte
Maſchine, die in keiner Metallfabrik fehlen darf. In ihrer einfachſten
Form, wie ſie beiſpielsweiſe in Uhrmacherwerk-
ſtätten gebraucht wird, zeigt ſie Fig. 388. Auf
einem prismatiſchen Eiſenſtäbchen C ſitzen zwei
„Docken“ A und B, A verſchiebbar auf C,
B mit C feſt verbunden und einen Anſatz h
tragend, vermittels deſſen dieſer „Drehſtuhl“ in
den Schraubſtock geklemmt werden kann. Jede
Docke trägt ein bewegliches und feſtſtellbares

Figure 379. Fig. 388.

Drehſtuhl.


Stäbchen. Die Stäbchen haben koniſche, einander zugekehrte Spitzen a b,
die in genau gleicher Höhe liegen. Zwiſchen die Spitzen wird das
Arbeitsſtück, das man vorher an den entſprechenden Stellen mit zwei
feinen Grübchen verſehen hat, feſtgeklemmt. Verſieht man das Werk-
ſtück mit einem Schnurröllchen und wickelt um letzteres eine Schnur,
deren beide Enden an einem Bogen befeſtigt ſind, ſo muß beim
Hin- und Herziehen des Bogens das Werkſtück um die Spitzen
als Drehpunkte ſich vorwärts und rückwärts abwechſelnd drehen.
Drückt man mit der anderen Hand einen Stichel — Schneideſtahl —
gegen das Werkſtück, ſo muß dieſer Spähne ablöſen. Zur ſicheren
Führung und Unterſtützung des Schneideſtahls iſt zwiſchen den beiden
Docken die Auflage D verſchiebbar angebracht, auf deren in ver-
tikaler Richtung beweglicher Krücke d der Stahl ruhen kann. Bei
den durch Elementarkraft bewegten, überhaupt bei allen größeren Dreh-
bänken iſt die eine Spitze direkt mit dem Schwungrad in Verbindung
und dreht ſich mit dieſem, ſeine Bewegung dem Werkſtück mitteilend;
es findet hier alſo kein Vor- und Rückwärtsdrehen ſtatt, ſondern eine
ſtändige drehende Bewegung. Großartig in ihren Dimenſionen ſind
die Maſchinendrehbänke, man hat deren bis zu 10 Meter Länge, um
ſehr lange Walzen abzudrehen, oder Gewinde in lange Schrauben-
ſpindeln zu ſchneiden.


43*
[676]Die Metallverarbeitung.
Die Biegungs- und Drehungsarbeiten.

Dieſe Bearbeitungen bedürfen, ſoweit ſie von Menſchenhänden
ausgeführt werden, nur weniger ſchon angeführter Werkzeuge. Recht-
winklige Ecken und Kanten biegt man mit dem Hammer über die
Amboßkante, runde Formen in derſelben Weiſe über das Amboßhorn,
zur Herſtellung komplizierterer Figuren hat man Geſenke oder vertiefte
ſtählerne Formen, die Stanzen, in welche das Blech mit dem Hammer
hineingetrieben wird. Auch hier zwang die Langſamkeit und Unſicher-
heit der Handarbeit und der Maſſenverbrauch gleichartiger Artikel zur
Erfindung von Maſchinen, doch gehören dieſelben faſt durchweg dem
19. Jahrhundert an. Die älteſte war wohl das Fallwerk, der
Vater der ſchon geſchilderten Maſchinenhämmer, in ſeiner einfachen
Form, wie man ſie noch heute beim Einrammen von Pfählen findet.
Der Hammer trägt hierbei meiſt die erhabene Form, das Blech liegt
auf der vertieften Stanze; namentlich zur Herſtellung der meſſingenen
Möbelbeſchläge fanden die Fallwerke ausgebreitetſte Verwendung.


Der Prägeſtock oder das Stoßwerk wurde zuerſt in Münzen an-
gewendet, ging aber ſchon Anfang des 18. Jahrhunderts in die Knopf-
fabriken, Gürtler- und Goldarbeiterwerkſtätten über, wird aber auch zum
Prägen metallener Theebretter, ſilberner Löffel und Gabeln, Schmuck-
ſachen, Doſen u. ſ. w. verwendet. Beim Prägen drückt die Maſchine
einen erhaben oder vertieft gearbeiteten Stempel mit einem kräftigen
Schlage auf das Blech; hat auch die Unterlage eine Zeichnung, ſo
ſind beide Seiten gleichzeitig geprägt.


Handelt es ſich um die Herſtellung tieferer Gefäße aus einem
Blechſtück, ſo würde ein einziger ſtarker Stoß dasſelbe leicht zerreißen,
man treibt daher das Blech durch eine Reihe von Einzelſtößen und benutzt
an Stelle der Fallwerke und Prägeſtöcke die Druckpreſſen. Die ein-
fachen Preſſen, wie man ſie bei jedem Kaufmann als Kopierpreſſen
findet, wirken mit Schrauben, ſoll ein ſehr ſtarker Druck hervorgerufen
werden, ſo benutzt man hydrauliſche Preſſen. Hierbei haben die guß-
eiſernen Stanzen keinen Boden, ſondern ſind ringförmig unten offen,
die auf ſie gelegte Blechſcheibe wird am Rande ringsum eingeklemmt
und durch den Stempel in die Stanzenhöhlung hineingetrieben. Beim
Herſtellen von eiſernen und kupfernen Kaſſerollen und Waſchbecken, von
Röhren, zinnernen Weinflaſchenkapſeln, Pommadetiegeln, kupfernen
Zündhütchen u. ſ. w. nimmt man erſt einen weiten Ring und ent-
ſprechend weiten Stempel und macht das Biegen ſchrittweiſe, indem
man die Werkzeuge immer enger wählt; eine Verdünnung des Bleches
findet dann nicht ſtatt.


Sogar zum Herſtellen ganz einfacher Formen, wie des bekannten
Wellblechs, der Regenrinnen auf den Dächern, der Wagenfedern u. a.
ſind Biegemaſchinen erfunden, welche die Handarbeit ganz in den
Hintergrund gedrängt haben.


[677]Die Biegungs-, Drehungs- und Zuſammenfügungsarbeiten.

Für bauchige Formen, Thee-, Kaffee-, Waſſerkannen, kann man
Stanzen und Stempel natürlich nicht verwenden, hier findet das
Metalldrücken paſſende Verwendung. Die Erfindung desſelben — wo
und von wem dieſelbe ausging, iſt unbekannt — rief eine förmliche
Revolution in der Metallverarbeitung hervor. An die rotierende Dreh-
bankſpindel bringt man ein meiſt hölzernes Modell — das Futter — an,
an welchem man vorn eine Scheibe des zu verarbeitenden Bleches be-
feſtigt hat. Während man nun das Futter mit großer Geſchwindigkeit
in Umlauf erhält, zwingt man das Blech durch Anhalten ſtumpfer
ſtählerner Werkzeuge, der Drückſtähle, ſich demſelben nach und nach feſt
anzuſchmiegen. Die Arbeit geht mit bedeutender Schnelligkeit und
Exaktheit vor ſich. Iſt das Werkſtück fertig, ſo wird es vom Futter
abgezogen. Bei bauchigen Gegenſtänden
nimmt man nach dem Vorgange von
Duval in Paris ein aus mehreren Teilen
zuſammengeſetztes Futter.


Auch die Univerſalhelfer im Gebiete
der Metallverarbeitung, die Walzwerke,
hat man in den Dienſt des Metallbiegens
geſtellt. So zeigt Fig. 389 eine Walzen-
anordnung zum Biegen von Cylindern
oder von Kegeln, wenn man die Biege-
walze c ſchräg ſtellt. Namentlich werden
Walzwerke überall da angewendet, wo
man auf Gegenſtände von Blech hohle
Reliefverzierungen preſſen will, was ſonſt
mittels Stanzen im Fallwerk geſchehen
müßte, und wo gleichzeitig eine gebogene
oder geſchloſſene Form hergeſtellt werden

Figure 380. Fig. 389.

Biegewalzwerk.


ſoll, wie bei Armbändern, Siegelringen u. a. Die Walzen ſind ſehr
kurz, mehr ſcheibenförmig und tragen die entſprechenden Zeichnungen
eingraviert, man nennt dieſe letzteren kleinen Walzwerke auch Rändel-
maſchinen.


Die Zuſammenfügungsarbeiten.

Im vorangehenden ſind alle diejenigen Arbeiten der Beſprechung
unterzogen, durch welche ein Metallſtück eine Formveränderung erleidet,
häufig wird es auch nötig, mehrere Metallſtücke, wohl auch verſchiedene
Teile desſelben Metallſtückes zu einem Ganzen zu vereinen. Schon bei
der Herſtellung von Röhren war dieſer Gegenſtand geſtreift. Beim
Walzen ſchmiedeeiſerner Röhren werden die Ränder aufeinandergeſchweißt.
Beim Schweißen, das ſtets im ſchweißwarmen Zuſtande vor ſich geht,
werden die beiden Metalle durch Hammerſchläge oder Walzen ſo feſt
aufeinandergepreßt, daß ſie untrennbar verbunden bleiben. Nicht alle
Metalle laſſen ſich ſchweißen, der Hauptſache nach nur Eiſen, Stahl,
[678]Die Metallverarbeitung.
Platin, Gold, Kupfer, Nickel. Vor einigen Jahren machte ein neues,
das elektriſche Schweißverfahren viel von ſich reden, bei welchem die
zu verbindenden Metallſtücke mittels des elektriſchen Lichtbogens ge-
ſchweißt werden. Es findet hierbei ein faſt momentanes Zuſammen-
ſickern des Metalles ſtatt, beinahe ohne Hinterlaſſung irgend einer Fuge.
Beſonders für Dampfkeſſel, zum Zuſammenſchweißen der einzelnen
Platten ſollte es geeignet ſein, man hört aber jetzt nur wenig davon und
nietet die Dampfkeſſel nach wie vor.


Das Nieten kann man mit dem Nageln des Holzes vergleichen.
Die einfachſte Nietung entſteht, wenn man einen zapfenförmigen Anſatz
des einen Stückes durch ein entſprechend großes Loch des zweiten
Stückes hindurchſteckt und dann das hervorragende Ende des Zapfens
mit dem Hammer zu einem übergreifenden Kopfe ſchlägt. Meiſt haben
beide Teile Öffnungen, durch welche ein beſonderer Niet oder Niet-
bolzen hindurchgeſteckt wird. Die Niete werden mit eigenen Maſchinen
ſeit 1840 aus ſtarkem Eiſendraht oder gewalztem Rundeiſen angefertigt,
und zwar gleich mit einem Kopf. Aber auch für das Nieten ſelbſt er-
fand Fairbairn in Mancheſter 1838 eine Maſchine, jetzt hat man nicht
nur feſtſtehende, ſondern auch transportable Nietmaſchinen für Röhren,
Keſſel, Eiſenkonſtruktionen der Brücken ꝛc. in Benutzung, und während
früher vier Arbeiter ſtündlich 20 bis 40 Niete einzuziehen imſtande
waren, ſchaffen drei mit der Maſchine 400 bis 500 Stück.


Genietet werden ſtarke Bleche, ſchwächere kann man falzen, d. h.
man biegt die Ränder um und legt ſie dann übereinander, ſei es ein-

Figure 381. Fig. 390.

Einfacher Falz.


Figure 382. Fig. 391.

Falz mit Klammer.


Figure 383. Fig. 392.

Doppelfalze.


fach wie in Fig. 390, unter Benutzung eines klammerartigen Hülfs-
ſtückes, des Falzſtreifens, den man überſchiebt, wie in Fig. 391, ſei es
endlich mit doppelter Biegung des Bleches, wie in Fig. 392.


Endlich ſei auch des Lötens noch gedacht, durch welches zwei
Metalle derſelben oder verſchiedener Art durch ein anderes, im ge-
ſchmolzenen Zuſtande zwiſchen dieſelben gebrachtes und nachher wieder
erſtarrtes Metall vereinigt werden.


[679]Die Verſchönerungs- und Erhaltungsarbeiten.
Die Verſchönerungs- und Erhaltungsarbeiten.

Wenn durch eine Reihe der vorgedachten Verfahren ein Gegenſtand
ſeiner Form nach vollendet iſt, ſo zeigt er meiſt noch ein recht un-
ſcheinbares Gewand; iſt er gegoſſen, ſo zeigt er Gußnähte und die
Gußhaut, bei geſchmiedeten und gewalzten Gegenſtänden mißfällt der
Glühſpan; Stichel und Meißel haben auch ihre Spur hinterlaſſen, und
ſo bedarf denn der Gegenſtand noch einer letzten, der verſchönernden
Bearbeitung, damit er auch dem Auge gefällig wirke. Andrerſeits ſind
die Gegenſtände häufig Einwirkungen ausgeſetzt, denen das reine Metall
nicht zu widerſtehen vermag, Eiſen roſtet, Meſſing ſetzt Grünſpan
an ꝛc., da wird denn ein Überzug nötig, um das Metall vor ſeinen
Feinden zu ſchützen.


Handelt es ſich darum, einen unſchönen Oxydüberzug — Glüh-
ſpan, Zunder — fortzubringen, um die reine Metalloberfläche zum
Vorſchein zu bringen, ſo greift man zum Abbeizen oder Abbrennen,
d. h. man überläßt den Gegenſtand der Einwirkung einer verdünnten
Säure ſo lange, bis das Oxyd aufgelöſt iſt. Beim Meſſing nennt
man dieſes Verfahren Gelbbrennen, beim Silber Weißſieden. Silber iſt
meiſt mit Kupfer legiert, und daher mit einer dunklen Haut von Kupfer-
oxyd überzogen; löſt man dieſes in verdünnter Schwefelſäure auf, ſo
kommt das weiße Silber zum Vorſchein. Dieſes Verfahren wird zwei-
mal in der Siedehitze angewendet. Soll die Oberfläche matt werden, ſo
glüht man den Gegenſtand nach dem erſten Sieden, nachdem man ihn
in einen Brei von Pottaſche und Waſſer eingepackt hat, löſcht in
Waſſer ab und ſiedet zum zweitenmale. Auch Gold wird ähnlich
behandelt.


Überläßt man nur einen Teil des Gegenſtandes dem Einfluſſe der
Säure, ſo wird nur dieſer angegriffen, und das Metall wird geätzt.
Beim Ätzen handelt es ſich meiſt um das Hervorbringen ornamentaler
Verzierungen, man überzieht die ganze Oberfläche mit einer ſchützenden
Schicht, gewöhnlich einer harzigen Subſtanz, dem Ätzgrund und ſchabt
die zu bildenden Figuren aus dieſem ſo heraus, daß das Metall frei-
liegt. Gießt man Ätzwaſſer darauf, ſo werden nur die unbedeckten
Stellen angefreſſen und erſcheinen nach Abſpülung und Entfernung des
Ätzgrundes als vertiefte Ornamente. Man kann auch umgekehrt die
Figuren aus Ätzgrund ſtehen laſſen und ringsherum das Metall frei
ſchaben, dann erſcheinen die Figuren erhaben. Erſteres Verfahren
heißt Tiefätzen, letzteres Hochätzen.


Gegenſtände mit rauher Oberfläche werden unter Benutzung
des Schleifſteines abgeſchliffen, wobei alle Unebenheiten fortgeriſſen
werden; haben ſie unregelmäßige Begrenzungsflächen, ſo iſt namentlich
bei kleineren Körpern dieſe Methode nicht anwendbar, man führt dann
ein Stäbchen von hartem Material mit glatter, glänzender Arbeits-
fläche, den Polierſtahl, unter Druck über die Oberfläche, ſo daß alle
[680]Die Metallverarbeitung.
vorſtehenden Teilchen niedergedrückt werden und ein Glätten ent-
ſteht, das dem Gegenſtande Glanz verleiht, man poliert ihn.


Eine ſehr beliebte und viel in Anwendung gebrachte Art der
Metallverſchönerung und Schützung beſteht in dem Überziehen eines
minderwertigen Metalles mit einem wertvolleren, ſei es des beſſeren
Ausſehens wegen oder um dem geringeren eine größere Widerſtands-
fähigkeit zu verleihen. Was ſtellt man nicht alles aus Eiſen her, und
doch wird Eiſen von Feuchtigkeit nicht minder wie von allen atmo-
ſphäriſchen Einflüſſen, von Säuren u. ſ. w. aufs leichteſte angegriffen.
Trotzdem iſt Eiſen eins der wichtigſten und häufigſt benutzten Materialien,
nur muß man es eben mit einer Schutzhülle verſehen. Eiſen überzieht
man meiſt nach der direkten oder mechaniſchen Methode, d. h. man
reinigt es ſehr ſauber und taucht es dann in ein Bad des geſchmolzenen
Metalles, das als Überzug dienen ſoll. So werden Eimer, Blech-
löffel, Nägel, Schnallen, Draht, Koch- und Zinkgeſchirre, Hohlmaße
verzinnt. Auch Kupfer und Meſſing werden auf gleiche Weiſe durch
Verzinnung geſchützt. Bei dieſer Methode bildet ſich eine zwar dünne,
aber äußerſt dauerhafte Lage des flüſſigen Metalles auf dem feſten.
Das Verzinnen kupferner Gefäße war ſchon im Altertum bekannt und
wird bereits von Plinius erwähnt, das jetzt zu ſo großer Bedeutung
gelangte Verzinnen von Eiſen ſcheint aber erſt im 16. Jahrhundert
aufgekommen zu ſein, angeblich in Böhmen. 1670 wurde ein Eng-
länder Yarrenton nach Sachſen geſchickt, um dieſe Kunſt zu erlernen,
wie dem Engländer dies gelungen, beweiſt die Thatſache, daß das
engliſche Weißblech bis in die neueſte Zeit den Weltmarkt beherrſcht
hat. Im allgemeinen hängt man das zu verzinnende Stück einfach
in die geſchmolzene Maſſe, aber auch das von Morewood und Rogers in
England 1843 angegebene Verfahren, im Zinnkeſſel noch Walzen an-
zubringen, zwiſchen welchen die Bleche bei ihrem Austritt durchgeführt
werden, hat ſich für die Abgleichung des Zinnüberzuges und die Ver-
meidung von Tropfen gut bewährt.


Das Überziehen auf naſſem Wege lieferte in ſeiner früheren An-
wendungsform zu ſchwache und vor allen Dingen zu wenig haftende
Überzüge, als daß es ſich hätte dauernd halten können. Hierbei hängt
man das Metall in die Löſung eines Salzes des zweiten Metalles,
z. B. erhält Eiſen in einer Kupfervitriollöſung einen roten Überzug,
(vergl. S. 132), Zink wird in einer Platinchloridlöſung tiefſchwarz von
ausgeſchiedenem Platin. Dieſe Methode des Überziehens auf naſſem
Wege gewann erſt wirkliche Bedeutung, als man den galvaniſchen
Strom benutzte, um die Metallſalze zu zerlegen und ein Metall auf
dem anderen niederzuſchlagen. Galvaniſche Uberzüge werden äußerſt
gleichmäßig, laſſen ſich in beliebiger Dicke herſtellen und ſind dauerhaft,
worüber S. 131 ff nachgeleſen werden kann.


Die dauerhafteſten Überzüge erreicht man aber durch das Amal-
gamationsverfahren, das indeſſen nur beim Verſilbern und Vergolden
[681]Die Verſchönerungs- und Erhaltungsarbeiten.
benutzt wird. Die Feuervergoldung, wie man es auch nennt, iſt zu-
gleich die älteſte unter allen Metallüberziehungen und wird ſchon von
Plinius erwähnt. Man benutzt dazu möglichſt reines Gold, wenn eine
gelbe Vergoldung hervorgebracht werden ſoll; eine Legierung von
Gold und Silber giebt eine grüne, eine Kupferlegierung eine mehr
rötliche Färbung. Zum Gebrauche wird das Gold in kleine Stäbchen
geſchnitten, in einem Tiegel bis zur Rotglut erhitzt, dann das acht-
fache Gewicht reinen Queckſilbers hinzugethan und unter Umrühren
noch einige Minuten erwärmt. Das ſo entſtandene Amalgam gießt
man in kaltes Waſſer, damit eine ſchnelle Abkühlung und keine Kryſtalli-
ſation erfolge. Das überſchüſſige Queckſilber wird entfernt durch
Drücken und Kneten, das ſo lange fortgeſetzt wird, bis das kalte
Amalgam eine teigartige Konſiſtenz erlangt hat. Da das Amalgam
auf einer matten Oberfläche beſſer haftet als auf einer glatten, ſo wird
der zu vergoldende Gegenſtand erſt erhitzt, dann gebeizt und abgetrocknet
und dann erſt das Amalgam mit einer Meſſingbürſte aufgetragen, die
vorher in Quickwaſſer getaucht wurde, d. h. in eine verdünnte Auf-
löſung von ſalpeterſaurem Queckſilber. Dann wird die Säure ab-
geſpült, der Gegenſtand getrocknet und über Holzkohlenfeuer ſoweit
erhitzt, daß das Queckſilber ſich verflüchtigt, er wird abgeraucht. Dieſes
Verfahren wird mehrfach wiederholt, wenn die Vergoldung ſtärker
ausfallen ſoll. Soll der Gegenſtand glänzend werden, ſo wird er
mit Blutſtein poliert, oder aber er wird mattiert, mit einem Gemiſch
von Salpeter, Kochſalz, Alaun und etwas Waſſer in Breiform über-
zogen und abermals erhitzt.


Diejenigen Stellen, welche blank bleiben ſollen, werden mit einem
Überzuge von einem Brei aus Kreide, Zucker, Gummi und Waſſer be-
deckt, die Stücke wieder getrocknet und bis zum Braunwerden des
Überzuges erhitzt, man nennt dies das Ausſparen. Iſt beim Erhitzen die
ſalzige Kruſte völlig geſchmolzen, ſo taucht man denſelben ſchnell in
die mit kaltem Waſſer gefüllte Mattiertonne, worin ſowohl die Salz-
löſung als auch die Ausſparung ſich ablöſen. Beim Feuervergolden
geht eine ganze Menge des edlen Metalles verloren; in der Aſche des
Abrauchofens und des Mattierofens, im Kehricht von den Arbeits-
tiſchen und auf dem Fußboden der Werkſtätte, in der Flüſſigkeit und dem
Bodenſatze der Mattiertonne, in den Kratzbürſten und im Schornſtein-
ruß, überall ſind Goldſpuren vorhanden, ſo daß nur 74 Teile von dem
in das Amalgam hineingelegten Golde auch auf dem Werkſtück ſich
wieder vorfinden. Aber man gewinnt das Gold aus den Abfällen
wieder und nur 4 Prozent gehen wirklich und unwiederbringlich ver-
loren


Ähnlich wie das Vergolden wird auch das Verſilbern und Ver-
platinieren gemacht.


Es iſt faſt ſelbſtverſtändlich, daß auch auf dem Gebiete des Über-
ziehens der Metalle mit anderen Metallen das Mädchen für alles in
[682]Die Metallverarbeitung.
der Metallverarbeitung, das Walzwerk, eine große Rolle ſpielt: das
Walzwerk macht in der That eben alles. Man nennt dieſes Arbeits-
verfahren das Plattieren. Plattieren laſſen ſich allerdings nur Bleche,
am häufigſten Kupferbleche mit Gold oder Silber. Man walzt eine
Kupferplatte bis auf eine Stärke von 12 bis 20 mm, und nachdem man
ſie durch Schaben vollkommen gereinigt hat, belegt man ſie mit einer eben-
falls vollſtändig reinen Gold- oder Silberplatte aus reinſtem Metall
und klopft die Ränder derſelben um die Ränder der Kupferplatte. Die
Vereinigung findet nur dann ſtatt, wenn die Metallflächen abſolut rein
ſind, man vergoldet auch wohl vorher die Kupferplatte durch Über-
ſtreichen mit einer konzentrierten Löſung von Goldchlorid oder verſilbert
ſie mit Silbernitrat. Die beiden Platten werden dann vorſichtig bis
zur Rotglut erwärmt und die Oberfläche wird mit einer eiſernen Krücke
gerieben, damit ein vollkommenes Aneinanderſchmiegen erreicht wird.
Erſt wenn man ſich durch Klopfen mit einem Hämmerchen überzeugt
hat, daß keine Hohlräume geblieben ſind, läßt man die Platten raſch
mehrmals durch ein Walzwerk laufen unter jedesmaliger Annäherung
der Walzen, wodurch eine vollkommene Verbindung ſtattfindet. Nach-
her wird dann die zuſammengeſetzte Platte kalt zu der verlangten
Stärke ausgewalzt.


Wie Kupfer, ſo überzieht man auch Aluminiumblech mit Gold-
und Silberplatten, ſonſt kommen in der Hauptſache noch Zinn- und
Nickelplattierungen vor.


Nächſt den metalliſchen Überzügen findet man auf Metallen auch
Überzüge von zuſammengeſetzten Körpern, die ihnen Schutz verleihen
ſollen. Es iſt eine ganz merkwürdige Thatſache, daß eine ganze Reihe
von Metallen gegen Witterungseinflüſſe und Säuren äußerſt empfindlich
ſind, während ihr Roſt — ihre Oxyde — im höchſten Grade widerſtands-
fähig ſich erweiſen. So z. B. iſt beim Eiſen das ſogenannte Eiſenoxydul-
oxyd, das eine blauſchwarze, mattglänzende Farbe beſitzt (Magneteiſen-
ſtein) höchſt unempfindlich, allerdings iſt es höchſt ſchwierig, dasſelbe als
Überzug auf Eiſenwaren herzuſtellen (vergl. S. 146). Weit bekannter und
auch geſchätzter iſt ein Kupferprodukt. Wem wäre nicht ſchon auf Dächern
von Kirchen und Türmen die wundervolle grüne Farbe aufgefallen,
welche die Kupferplatten zeigen; aber dieſe iſt nicht nur dem Auge wohl-
gefällig, ſondern ſie ſchützt vor allen Dingen das Kupfer vor weiterer
Zerſtörung (vergl. S. 141). Dieſe Patina iſt nun freilich erſt durch
den Einfluß der Jahrhunderte entſtanden, aber man hat auch den
Verſuch gemacht, dieſelbe künſtlich herzuſtellen, mit mehr oder minder
gutem Erfolge. Sie genau auf chemiſchem Wege zu erzeugen, wird
vielleicht niemals vollkommen gelingen. Ähnlich liegen die Verhältniſſe
bei Bronzeſtatuen.


Daß man Metalle durch Anſtreichen, Firniſſen, Lackieren, Asphal-
tieren ebenfalls zu ſchützen oder zu verſchönern ſucht, ſei nur nebenbei
erwähnt, genauer ſei nur noch eingegangen auf ein Verfahren, das
[683]Die Stahlſchreibfedern.
für die Hausfrauen von ganz beſonderem Intereſſe ſein muß, das
Emaillieren oder Glaſieren. Es wurde zuerſt im Jahre 1783 von
dem ſchwediſchen Bergwerksbeamten Rinman verſucht, doch ſoll man
noch 1828 in England und Frankreich zu keinen Reſultaten gekommen
ſein; wogegen in Deutſchland zu Lauchhammer ſchon 1815 bis 1820
emaillierte, gußeiſerne Geſchirre hergeſtellt wurden. Emaille oder Glas-
ſchmelz dient ebenſo zum Schutz — wie bei allen Kochgeſchirren — wie zur
Verzierung, wie bei den mannigfaltigen Schmuckſachen, Zifferblättern und
ähnlichen Gegenſtänden. Das Arbeitsverfahren beim Emaillieren iſt höchſt
einfach, man pulveriſiert die Emaille ganz, rührt ſie mit Waſſer zu
einem dünnen Brei an, den man mit einem Pinſel in gehöriger Stärke
auf das Metall aufträgt, dann trocknet man die Emaillemaſſe und
erhitzt ſie mit dem Metall ſo ſtark, bis ſie eine geſchmolzene Decke
bildet, worauf alles wieder langſam abgekühlt wird. Was iſt nun
aber Emaille? Der Hauptſache nach ein durchſichtiges leicht flüſſiges
Glas, am beſten hergeſtellt durch Zuſammenſchmelzen von Quarzpulver
mit kohlenſauren Alkalien und Bleioxyd, oder mit Thonerde, Kalk-
erde u. ſ. w., überall da, wo Blei wegen ſeiner Giftigkeit keine An-
wendung finden darf, wie z. B. bei Kochgefäßen. Soll die Emaille
weiß werden, ſo fügt man Zinnoxyd hinzu, Kobaltoxyd macht ſie blau,
Kupfer- oder Chromoxyd grün, antimonſaures Kali gelb, Eiſenoxyd,
Kupferoxydul oder Goldpurpur rot, Braunſtein violett, Hammerſchlag
mit Braunſtein ſchwarz. Das Gemiſch wird im Tiegel geſchmolzen,
und nach dem Erkalten gemahlen. Auch beim Emaillieren muß das
Metall abſolut rein ſein.


So hätten wir denn das Metall auf ſeiner ganzen Laufbahn von
ſeinem Herauskommen aus der Erde bis zum Kunſtwerk verfolgt, das
vollendet in der Form und wohlgeſchmückt und verziert vor uns ſteht, —
einige der gebräuchlichſten Metallwaren mögen noch als Beiſpiele für
die dargelegten Bearbeitungsweiſen und die vorgeführten Methoden
dienen.


Die Stahlſchreibfedern.

Von wem zuerſt der Gedanke gefaßt wurde, den Gänſekiel durch ein
metallenes Inſtrumentchen in der Form nachzuahmen und dasſelbe zum
gleichen Zwecke zu verwenden, das iſt leider, wie bei ſo vielen welt-
erſchütternden Erfindungen nicht mehr ausfindig zu machen, trotzdem
iſt es ſicher nachweisbar, daß im Anfang des 19. Jahrhunderts meſſin-
gene und auch ſilberne Federn in Gebrauch waren, die ihren Zweck
jedoch noch ſo ſchlecht erfüllten, daß ſie die Gänſekiele nicht zu ver-
drängen vermochten. Für Zeichner und Kalligraphen verfertigte man
aber bald auch ſtählerne Federn, mit denen man auch auf Steine zum
Steindruck ſchrieb. Alles dies waren nur Verſuche, erſt James Perry
in London vervollkommnete 1830 die Stahlfedern ſo, daß ſie bald
ihre früheren Konkurrenten verdrängten. Perry iſt der eigentliche
[684]Die Metallverarbeitung.
Begründer der jetzt ſo gewaltigen Stahlfederinduſtrie geworden. Bis
zum Jahre 1846 war England, beſonders Birmingham der alleinige
Sitz derſelben, in dieſem Jahre begann ſie auch in Frankreich, und 1856
errichteten Heintze \& Blankertz die erſte deutſche Stahlfederfabrik in
Berlin.


Die Stahlfedern werden aus Cementſtahl hergeſtellt, der im Walz-
werke zu Blechſtreifen ausgearbeitet wird von etwas geringerer Breite
als die doppelte Federlänge und von der Stärke, welche die Feder erhalten
ſoll. Die Platten werden dann geglüht und alsbald in den Schneide-
ſaal gebracht, wo eine Anzahl Mädchen mit kleinen Lochmaſchinen aus
ihnen Plättchen ausſtoßen, die in ihren Umriſſen genau die Geſtalt der
fertigen Federn haben. Jeder Stahlſtreifen giebt zwei Reihen Plättchen,
von denen die Arbeiterin erſt eine Reihe ausſtößt, indem ſie das Blech
ruckweiſe in gerader Linie unter dem Stempel entlang führt. Am
Ende angekommen, wird der Streifen umgekehrt und rückwärts die
zweite Plättchenreihe ausgeſtoßen. 4000 bis 4500 Stück ſolcher
Plättchen vermag eine geübte Arbeiterin in einer Stunde fertig zu
ſtellen.


Nun kommen die Platten in den zweiten Saal, wo ihnen der
Stempel eines einfachen Fallwerks die Firma und Bezeichnung mit
einem Stoße aufprägt. Wieder kommen ſie unter eine zweite Loch-
maſchine, wo das Durchſtoßen des Loches in der Mitte der Federn
oder des Spaltes, d. h. nicht des Schreibſpaltes, vor ſich geht, auch
die Seitenſchlitzchen, welche die Federn häufig zur Erhöhung der
Elaſtizität haben, werden hier eingeſtoßen. Nach dieſen Handhabungen
bedarf der Stahl abermals des Ausglühens, denn durch die vielen
Stöße iſt er inzwiſchen hart geworden. Die geglühten Platten kommen
unter eine Schraubenpreſſe, wo ſie ein konvexer Stempel in eine kon-
kave Matrize eindrückt und ihnen ſo die erforderliche Wölbung erteilt.
Durch das Glühen ſind ſie weich geworden, alſo unbenutzbar, und
müſſen daher von neuem gehärtet werden, zu welchem Zwecke ſie aber-
mals erhitzt und dann in mit Thran gefüllte Tonnen geworfen werden.
In einer mit Sägeſpähnen gefüllten rotierenden Trommel werden ſie
vom Thran wieder befreit und in einer eiſernen Trommel über Kohlen-
feuer angelaſſen, gelb oder blau, je nach der Härte, die ſie bekommen
ſollen. Abermals müſſen ſie in eine Trommel, die mit zerſtoßenen
Schmelztiegelſcherben gefüllt iſt, um einer energiſchen Reinigung unter-
zogen zu werden. Dann geht es in den Schleifſaal. Zum Schleifen
dienen durch Maſchinenkraft in Bewegung geſetzte Schmirgelſcheiben
mit großer Umlaufsgeſchwindigkeit. Erſt werden die Federn von der
Spitze bis zum Loche in der Mitte auf einem konkaven Steine, dann
von einer Seite nach der anderen hinüber auf einer flachrandigen
Scheibe abgeſchliffen, um durch dieſe Verdünnung der Spitze eine noch
weitere Elaſtizität derſelben hervorzurufen; ein einmaliges Anhalten an
den Stein wirkt ſchon vollkommen ausreichend. Die Schreibſpalte
[685]Die Stahlſchreibfedern. — Die Münzen.
erhalten die Federn zuletzt und zwar durch eine kleine mit der Hand
bewegte Parallelſchere. Nun ſind ſie fertig, aber ehe ſie in den
Handel gelangen, werden erſt noch die Böcke von den Schafen ge-
ſondert, was im Sortierſaale vor ſich geht. Jedes einzelne Exemplar
wird mit der Spitze auf ein Stück Elfenbein gedrückt, die guten werden
in Käſtchen verpackt, die ſchlechten bei Seite geworfen. Goldfedern und
ähnliche werden zuvor noch galvaniſch überzogen.


Die Münzen.

So alt wohl beinahe, wie das Menſchengeſchlecht, ſind auch die
Münzen. Die Zeiten, in denen der Menſch allein von dem leben konnte,
was die Natur ihm darbot, gingen ſchnell vorüber, und gar bald machte
mit ſteigender Kultur ſich das Bedürfnis geltend, Waren, Lebens-
mittel, Kleider, Waffen u. ſ. w., Sachen, die man nicht ſelbſt beſaß oder
ſich anfertigen konnte, von anderen auf dem Wege des Handels zu
erwerben. Anfangs war der Handel wohl Tauſchhandel, aber nicht
immer waren geeignete Tauſchobjekte vorhanden, man mußte alſo zu
einer anderen Wertbeſtimmung greifen, und wenn auch zunächſt Muſcheln
als Geld eine große Verbreitung fanden, bald ging man dazu über,
wirkliche Münzen aus Metall herzuſtellen. Die Chineſen ſollen ſchon
2000 Jahre v. Chr. Münzen in Gebrauch gehabt haben, ſonſt finden
wir ſie zuerſt bei den Phöniziern. Als Metalle für Münzen wurden
und werden auch heute noch der Hauptſache nach Gold, Silber und
Kupfer verwertet. Bei den Spartanern waren einmal zu Lykurgs
Zeiten eiſerne Geldſtücke im Gebrauch, 1828 bis 1845 hatte Rußland
Platinmünzen, auch Bronzemünzen kommen in mehreren Ländern vor;
neben den oben genannten Metallen hat aber nur in allerneueſter Zeit
eine ſtark kupferhaltige Nickellegierung Eingang gefunden. Auch die
anderen Metalle kommen nicht rein zur Verwendung, weil ſie zu weich
ſind und daher eine zu ſchnelle Abnutzung der Prägung befürchten
laſſen. Auf die Herſtellung der Münzen wird die größte Sorgfalt
verwandt, denn durch den aufgedrückten Stempel garantiert der Staat
für den Wert derſelben. Der Gehalt an Edelmetall — Feingehalt — und
das Gewicht ſind daher in allen Kulturſtaaten geſetzlich feſtgeſtellt, ferner
aber iſt der Stempel ſo angebracht, daß jede Wegnahme von Spähnchen
von der Oberfläche ſich ſofort bemerkbar machen muß, auch dem Be-
feilen der Ränder, dem Beſchneiden iſt dadurch vorgebeugt, daß der
Rand eine herumgehende Schrift oder Verzierung — Rändelung —
trägt, endlich ſind die Ränder erhaben, damit beim Aufliegen auf einer
Platte ſich nur die Ränder abnutzen und nicht der Stempel.


Bei der Anfertigung der Münzen ſtellt man erſt die Legierungen
her. Man ſchmilzt dieſelben in einem Tiegel, meiſt in einem mit Coaks
oder Holzkohlen geheizten Tiegelſchachtofen. In Benutzung kommen
Graphittiegel, für Silber auch wohl ſchmiedeeiſerne oder gußeiſerne
[686]Die Metallverarbeitung.
Tiegel, deren Inhalt 200 bis 1000 kg beträgt. Erſt erhitzt man die
Tiegel bis zur Rotglut, bringt das Metall hinein und bedeckt ſie mit
Holzkohlenlöſche. Iſt alles flüſſig genug, ſo nimmt man mit einem
Schöpflöffel eine kleine Probe heraus und prüft ſie auf den Fein-
gehalt. Fällt die Prüfung zufriedenſtellend aus, ſo wird das Metall
in aufrechtſtehende gußeiſerne zweiteilige Formen gegoſſen zu Stäben
— Zainen — von 400 bis 600 mm Länge, 4 bis 8 mm Dicke und
einer Breite, die ſich nach dem Durchmeſſer der Münzen richtet. Die
erkalteten Zaine kommen dann in ein Walzwerk, wo ſie ſo lange geſtreckt
und gleichzeitig verdichtet werden, bis ein ausgeſtoßenes Plättchen das
genaue Normalgewicht einer Münze gleicher Größe hat. Iſt dies er-
reicht, ſo folgt das Ausſtückeln, das natürlich mittels einer Loch-
maſchine vor ſich geht. Die dabei verbleibenden Reſte wandern in den
Schmelztiegel zurück. Obgleich nun die Walzwerke, deren Walzen etwa
150 bis 250 mm Durchmeſſer und 200 bis 400 mm Länge haben,
aufs genaueſte gearbeitet ſind, ſo fallen die Platten doch nicht unbe-
dingt gleichmäßig aus, ſie gelangen daher vor ihrer Weiterverarbeitung
in den Juſtierſaal. Hier ſitzt ein Arbeiter an einem Tiſche, vor ſich
eine Wage, auf deren einer Schale das Normalgewicht liegt. Auf
die andere legt er das Plättchen, iſt dasſelbe zu leicht, ſo muß es ſeine
Laufbahn von neuem im Schmelztiegel beginnen; iſt es zu ſchwer, ſo
wird es vorſichtig ſo lange befeilt, bis es das richtige Gewicht zeigt.
Dieſe Bearbeitungen werden aber auch ſelbſtthätig von Maſchinen aus-
geführt, die Plättchen auf Plättchen auf die Wage legen und wieder weg-
ſchnellen, die leichten in ein beſtimmtes, die zu ſchweren in ein anderes ge-
ſondertes Behältnis. Derſelben Wage bedient man ſich auch, um bei den
ſchon im Umlauf geweſenen Münzen, die noch vollwichtigen von den
zu leichten zu ſondern. Auch das Juſtieren beſorgt ein Automat. Bei
Nickel- und Kupfermünzen giebt man ſich übrigens nicht ſo große Mühe;
ob das einzelne Stück ganz genau iſt, wird nicht unterſucht, man trägt
nur Sorge, daß auf 1 kg die richtige Anzahl Münzen kommen, ohne
ſie einzeln nachzuſehen. Alsdann werden zuerſt die Ränder, welche
natürlich rauh und uneben aus dem Durchſtoß hervorgehen, einer
weiteren Bearbeitung ausgeſetzt, ſie werden gerändelt auf der Rändel-
maſchine. Dieſe enthält als Arbeitszeug zwei gehärtete, gradlinige oder
kreisbogenförmige Stahlſchienen, die Rändeleiſen, deren eine feſtliegt,
während die andere derſelben parallel ſich ſoweit vorſchieben läßt, daß
die Münze um eine halbe Umdrehung fortgerollt wird. Der Abſtand
der Schienen iſt nach dem Durchmeſſer der zu rändelnden Münzen ver-
ſtellbar. Das Rändelwerk iſt übrigens eine Erfindung des franzöſiſchen
Ingenieurs Caſſaing aus dem Jahre 1685. Beim Rändeln wird der
Rand gleichzeitig durch die polierten Schienen geglättet und etwas
nach beiden Seiten aufgeworfen. Nach dem Rändeln, manchmal auch
ſchon vorher, werden die Platten ausgeglüht, wobei ſie mit Kohlen-
ſtaub bedeckt in kupfernen oder eiſernen Kaſten liegen, und in einer
[687]Die Münzen. — Die Nähnadeln.
geneigten hölzernen Tonne, die man um ihre Achſe dreht, mit ver-
dünnter Schwefelſäure gebeizt, wo bei den Silbermünzen zugleich
ein Weißſieden ſtattfindet. Goldmünzen reinigt man auch wohl nach
dem Glühen nur in Seifenwaſſer, ſie bleiben dann rötlich, während die
gebeizten eine ſchöne gelbe Farbe zeigen. Nach dem Beizen werden
die Münzen auf ein leinenes Tuch geſchüttet und mit Bürſten trocken
gerieben, wobei ſie zugleich Glanz erhalten. Der bei dieſem Verfahren
entſtehende Gewichtsverluſt iſt natürlich erfahrungsmäßig feſtgeſtellt und
beim Juſtieren bereits berückſichtigt. Jetzt geht es ans Prägen; erſt der
Rand, wieder auf einem anderen Rändeleiſen, das auf jeder Schiene
die Hälfte der Schrift oder Verzierung in umgekehrter Anordnung zeigt,
— dann die Flächen auf einem Prägwerk. Dieſes hat zwei einander
zugekehrte Stempel, jeden mit der entſprechenden Schrift oder Zahl in
umgekehrter Anordnung. Die Platte liegt auf dem unteren feſten
Stempel und wird von dem oberen mit ſtarkem Drucke gepreßt, ſo daß
gleichzeitig beide Seiten die Prägung erhalten. Hierbei wird die Münze
dünner und indem ſie gezwungen wird, ſeitwärts auszuweichen, ver-
ändert ſie auch ihre Form, ſo daß die Münzen nicht gleich groß er-
ſcheinen. Man ſucht dieſen Übelſtand durch die Ringprägung zu ver-
meiden, indem man die Platte während des Prägens in einen Stahl-
ring einſchließt, deſſen innerer Durchmeſſer genau gleich dem Durchmeſſer
der Münze und des Stempels iſt. Erhabene Schrift würde allerdings
hierbei verloren gehen, faſt alle im Ringe geprägte Münzen haben
daher vertiefte Randſchrift. Bei den kleineren Münzen benutzt man
den Kerbring. Die Prägeſtempel nutzen ſich beim Gebrauch beträcht-
lich ab, und da die Prägung immer ſcharf ſein ſoll, ſo ſind ſie nur für
eine beſchränkte Anzahl Münzen, höchſtens bis zu 500 000 Stück zu
benutzen und müſſen dann durch neue erſetzt werden. Da ein ſolcher
aber ſehr ſchwer herzuſtellen iſt, er iſt ja ein Kunſtwerk im wahren
Sinne des Wortes, und ſeine Anfertigung lange Zeit in Anſpruch
nimmt, ſo wird mit dem Originalſtempel überhaupt nicht gearbeitet,
ſondern dieſer nur dazu benutzt, um einen Modellſtempel herzuſtellen. Beide
ſind aus beſtem Gußſtahl. Der Originalſtempel wird in ein kräftiges
Prägewerk eingeſetzt, und ſo langſam durch eine große Anzahl einzelner
Stöße der Modellſtempel geprägt, der genau wie die Münze aus-
ſieht. In derſelben Weiſe werden nun mit dem Modellſtempel die
eigentlichen Prägeſtempel hergeſtellt.


Die Nähnadeln.

Zur Herſtellung derſelben wird Stahldraht benutzt, wie ihn die
Drahtziehereien in Form von Ringen liefern. Ein ſolcher Ring wird
über eine große Trommel von etwa 1,5 m Durchmeſſer gerollt, ſo
daß abermals ein Ring entſteht, der aber ſehr groß iſt und gewöhn-
lich ſo etwa 100 Windungen enthält, die man auf zwei Seiten mit
[688]Die Metallverarbeitung.
einer geeigneten Schere durchſchneidet, ſo daß zwei Drahtbündel von
je etwa 2,5 m Länge entſtehen. Dieſe kommen in das Schaft- oder
Schachtmodell, d. h. eine halbcylindriſche Büchſe oder Rinne, deren Boden
ſo weit vom oberen Rande entfernt iſt, als die doppelte Länge der Näh-
nadeln beträgt. Ein einziger Schnitt mit der Bock- oder Maſchinen-
ſchere am Rande teilt das ganze Drahtbüſchel in Schafte. Sind die
Schafte geſchnitten, ſo werden ſie gerichtet, d. h. es werden 10 000
Stück in zwei eiſerne Ringe feſt hineingeſteckt und im Holzkohlenfeuer
erſt geglüht und dann, wenn der Stahl weich geworden iſt, auf eine
gußeiſerne, gut gehobelte Platte gelegt, die Einſchnitte für die Ringe
hat. Eine zweite ebenſolche Platte mit Handhaben an der Seite legt
man darauf, und ſchiebt ſie mehrere Male hin und her, wodurch das
Drahtbündel in rollende Bewegung verſetzt wird. Dadurch erreicht
man den doppelten Vorteil, daß die Drahtbündel gradlinig werden
und die größte Menge Glühſpan verlieren. Nach dem Glühen kommt
das Schleifen, welches trocken geſchehen muß, weil ſonſt die Nadeln ſo-
fort roſten würden. Man benutzt 125 mm breite Schleifſteine aus
hartem Sandſtein, die man nach dem Vorgange von Elliot ſeit 1823 gänz-
lich in einen eiſernen Kaſten einſchließt, ſo daß nur eine kleine Öffnung
zum Heranhalten der Schafte freibleibt. An der Rückſeite des Steines
iſt ein Kanal, der zu einem für mehrere Steine gemeinſchaftlichen
Schornſtein führt, durch welchen durch den ſtarken beim Drehen hervor-
gerufenen Luftzug der Schleifſtaub ins Freie gebracht wird. So wird
die Luft des Arbeitsſaales von den ſchädlichen Stahl- und Stein-
ſplitterchen freigehalten. Der Arbeiter nimmt immer eine größere An-
zahl Schafte auf einmal und indem er fortwährend dreht, ſpitzt er ſie
alle gleichzeitig an und erreicht ſo eine Arbeitsleiſtung von 100 000
Stück täglich. Man hat aber auch Schleifmaſchinen, die dieſe Arbeit
ſelbſtthätig ausführen und in einer Stunde 30 000 Nadeln bewältigen.
Sind die Schafte geſpitzt, ſo werden ſie auf der Mitte ihrer Länge
mit der Hand oder der Mittenſchleifmaſchine etwas blank geſchliffen
und dann dieſelbe Stelle unter einem kleinen Fallwerk breit geſchlagen
und zugleich mit einem Stempel mit den Umriſſen der beiden Nadel-
öhre und mit Furchen verſehen, wobei durch das Preſſen ein geringes
ſeitliches Aufwerfen entſteht, ein Bart oder Grat ſich bildet. Nun fehlt
nur noch das Durchſtoßen der Öhre, das auf einer kleinen Loch-
maſchine durch zwei parallele Stiftchen am Stempel und entſprechende
Löcher in der Matrize oder dem Unterſtempel geſchieht. Sind die Schafte
ſo geöhrt, ſo zieht man ihrer 100 auf zwei Stahldrähte, legt ſie auf
ein feſtgeſtopftes Kiſſen oder Brett und klammert ſie durch zwei darüber-
geſpannte Eiſenſchienen, die den mittleren Teil freilaſſen, feſt. Dadurch
wird die Stelle, wo der Bart ſitzt, etwas nach oben gebogen, und es
iſt ein Leichtes, die ſämtlichen Bärte auf einmal mit einer flachen Feile
oder einem Schleifſtein abzuſchleifen und gleichzeitig in der Mitte
zwiſchen beiden Öhren einen Einſchnitt zu machen. Iſt dies geſchehen,
[689]Die Nähnadeln.
ſo wendet man das Bündel und macht dieſelbe Arbeit von der anderen
Seite noch einmal, wodurch der Zuſammenhang der Schafte ſo weit
gelockert wird, daß man ſie bequem auseinanderbrechen kann, und nun
die einzelnen Nadeln zu je 100 auf einem Drahte aufgereiht vor ſich hat.
Dieſelben werden dann nur noch oben abgefeilt oder abgeſchliffen, und
ſind ſo in ihrer Form vollendet. Durch Hin- und Herwirbeln zwiſchen
den Fingern prüft man, ob ſie nicht krumm geworden ſind, in welchem
Falle ſie durch Schläge mit einem kleinen Hammer wieder gerade ge-
richtet werden. Noch ſind die Nadeln vom Glühen weich, ſie müſſen
alſo erſt wieder gehärtet werden, zu welchem Zwecke ſie erſt in einer
eiſernen Mulde bis zur Rotglut erwärmt und dann in ein Gefäß mit
Rüböl geſchüttet werden. Nachdem ſie dort wieder herausgefiſcht ſind,
werden ſie gelb oder blau angelaſſen, in Waſſer abgekühlt und mit
Sägeſpähnen getrocknet, der entſtandene Glühſpahn wird durch Scheuern
entfernt. Man packt eine große Anzahl Nadeln mit ſcharfem Sande
oder auch mit Schmirgel und Öl in Ballen von etwa 10 mm Durch-
meſſer und von länglicher Form, und läßt eine Anzahl ſolcher Ballen
12 bis 18 Stunden lang auf einer Art Drehrolle oder Wäſchemangel
hin- und herrollen. Dann nimmt man ſie heraus, packt ſie mit
neuem Schleifmaterial ein und überliefert ſie abermals der Schauer-
mühle, und wiederholt dieſes Verfahren 8 bis 10 Mal, ſo lange mit
immer feineren Schleifmitteln bis die Nadeln aufs feinſte poliert ſind,
worauf man ſie in Seifenwaſſer wäſcht und mit Sägeſpähnen trocknet.
Bevor ſie in den Handel kommen, werden ſie noch ſortiert, und die-
jenigen, deren Spitzen etwa abgebrochen ſind, entfernt, und wenn dies
geſchehen iſt, werden nun noch mindeſtens fünferlei Arbeiten mit ihnen
vorgenommen. Erſt läßt man die Köpfe, damit die Nadeln wegen
ihrer Sprödigkeit nicht gleich an der dünnen Stelle am Öhre ab-
brechen, nochmals blau an, um ſie geſchmeidiger zu machen, wozu man
ſie in eine rotierende Scheibe ſteckt und von einer Gasflamme erhitzen
läßt (Blaumachmaſchine). Dann werden die Nadeln verſenkt, d. h. die
Öhre, welche beim Durchſtoßen ſo ſcharfkantig geworden ſind, daß ſie
den Faden leicht zerſchneiden würden, werden mittels einer kleinen
ſpitzen Reibahle, welche an der Spindel einer ſchnell umlaufenden kleinen
Drehbank befeſtigt iſt, von beiden Seiten her nachgebohrt. Man be-
nutzt auch Schmirgelſtäbchen zu dem nämlichen Zwecke. Abermals
geht es zum Schleifſtein, wo die Spitzen nachgeſchliffen und die Köpfe
von der blauen Farbe befreit werden. Schließlich werden ſie auf einer
Lederſcheibe mit feinſtem Schmirgel poliert. Endlich ſind ſie, nachdem
ſie faſt hundertmal in die Hand genommen ſind, vollkommen gebrauchs-
fertig und können abgezählt und verpackt werden. Beim Abzählen
benutzt man ein eiſernes Lineal mit 25 und 100 Furchen auf einer
Seite, in welchen genau eine Nadel Platz findet. Man nimmt eine
Anzahl Nadeln zwiſchen Daumen und Zeigefinger, ſtreicht über das
Das Buch der Erfindungen. 44
[690]Die Sprengſtoffe und ihre Verwendung.
Lineal hin, und es bleibt in jeder Furche eine Nadel liegen. Auch
hierzu giebt es Maſchinchen, welche die ganze Arbeit ſoweit allein
beſorgen, daß ſie die Nadeln ſogar noch in Papier ſtecken, ſo daß
der Arbeiter nur die Kurbel dreht und das Papier hinlegt und
fortnimmt.


3. Die Sprengſtoffe und ihre Verwendung in der
Technik und im Kriege.


Wenn es wahr iſt, daß die ſiegende Intelligenz, welche den
Menſchen über alle anderen Geſchöpfe erhebt, ihr höchſtes Ziel
in der Beherrſchung der Naturkräfte findet, ſo muß die Erfindung der
Sprengſtoffe als einer der größten Triumphe der menſchlichen Geiſtes-
kraft angeſehen werden. Denn auf keinem anderen Gebiete iſt das
Material, mit welchem der ſpekulative Verſtand zu arbeiten hat, ein
derartig ſprödes, in ſeiner feſſelfreien Entfaltung furchtbares und ver-
nichtendes, bei keiner anderen Erfindung der Einfluß auf die Schickſale
der Menſchheit ein ſo gewaltiger und in wunderbarer Weiſe zwiſchen
Fluch und Segen geteilter, wie gerade hier. Derſelbe Stoff, der in
der Hand des fleißigen Arbeiters eine ſegenſpendende Kraft von gigan-
tiſcher Leiſtungsfähigkeit darſtellt, wird in der Waffe des Kriegers zum
zerſtörenden, die Weltgeſchichte beherrſchenden Dämon, und in der
Fauſt des politiſchen Schwärmers zum Werkzeug fluchwürdiger Ver-
brechen.


Die Sprengſtoffe ſind im weſentlichen eine Erfindung des gegen-
wärtigen Jahrhunderts; beſonders iſt es erſt ſeit verhältnismäßig kurzer
Zeit gelungen, einen genaueren Einblick in die Wirkungsweiſe dieſer
Körper zu gewinnen und, geſtützt auf die Fortſchritte der Chemie, ihre
Eigenſchaften mit derſelben Sicherheit zu beherrſchen, mit der wir
andere natürliche Kraftquellen für unſere Zwecke ausnutzen. Nur die
Erfindung des bekannteſten aller Sprengſtoffe, des Schießpulvers,
gehört früheren Zeiten an, und ihre Spur verliert ſich im ſagenhaften
Altertum. Wie wir aber einerſeits das Pulver in hiſtoriſcher Be-
ziehung als das Urbild der Sprengſtoffe anſehen müſſen, ſo iſt anderer-
ſeits ſeine verhältnismäßig langſame Wirkungsart beſſer, als diejenige
anderer neuerer Sprengſtoffe geeignet, einen Begriff von den Prozeſſen
zu geben, welche ſich bei der Zerſetzung explodierender Körper abſpielen.
Wir beginnen daher mit der Betrachtung des Pulvers, um dann die
wichtigſten anderen Sprengſtoffe folgen zu laſſen.


[691]Das Schießpulver.

Das Schießpulver.


Die frühere Annahme, daß das Pulver von den der Alchimie
ergebenen Mönchen des Mittelalters, als deren Perſonifikation Berthold
Schwarz gilt, erfunden ſei, iſt ſicher als falſch erwieſen, obgleich dem
genannten Erfinder, von dem man weder Geburtsort noch Lebenszeit
kennt, in Freiburg ein Denkmal geſetzt worden iſt. Die Entſtehungs-
geſchichte des Pulvers gehört überhaupt nicht einer beſtimmten Zeit
an, ſondern dürfte ſich über lange Jahrhunderte erſtrecken. Von den
zur Pulverfabrikation notwendigen Ingredienzien, der Kohle, dem
Schwefel und dem Salpeter, ſind die beiden erſteren den abendländiſchen
Kulturvölkern ſeit Urzeiten bekannt, während der Salpeter, welcher
fertig gebildet, als Auswitterung des Bodens, ſich nur in Indien und
China findet, auch nur der Bevölkerung dieſer Länder ſo nahe ſtand,
daß ſie auf ſeine eigentümlichen Eigenſchaften aufmerkſam werden
mußte. Jedenfalls hat man den Salpeter im Abendlande erſt durch
die Vermittelung arabiſcher Alchimiſten, alſo nicht vor dem achten
Jahrhundert, kennen gelernt.


Hieraus ergiebt ſich mit größter Wahrſcheinlichkeit, daß die Chineſen
die erſten geweſen ſind, welche von der wichtigſten Eigenſchaft des
Salpeters, mit brennbaren Körpern aller Art bei der Entzündung
ſehr raſch abzubrennen oder zu verpuffen, Kenntnis hatten und, ihrer
noch heute beobachteten großen Vorliebe für Feuerwerkskünſte folgend,
die gemachte Entdeckung in dieſer Richtung verwendeten. Marco Polo,
der berühmte Reiſende des Mittelalters, welcher auch Oſtaſien beſuchte,
erzählt allerhand wunderbare Dinge, welche auf die erwähnte An-
wendung von Salpetermiſchungen in der chineſiſchen Feuerwerkerei
hindeuten. Während nun die Chineſen den Salpeter, welcher übrigens
in arabiſchen Handſchriften geradezu „Chinaſalz“ oder „Chinaſchnee“
genannt wird, nur zu friedlichen Zwecken verwendeten, ſcheinen andere
kriegeriſchere Völker, denen die Erfindung allmählich bekannt wurde,
dieſe im weſentlichen zu Angriffs- und Verteidigungszwecken benutzt
zu haben. Es iſt kaum zu bezweifeln, daß das berüchtigte und über-
aus gefürchtete „griechiſche Feuer“ der Byzantiner, welches ſchon in den
Kriegen des frühen Mittelalters, ganz beſonders aber in den Kämpfen
der Kreuzzüge eine beſonders wichtige Rolle ſpielte, auch nichts weiter
geweſen iſt, als eine Miſchung von Salpeter mit Kohle, Schwefel und
vielleicht noch anderen brennbaren Körpern. Es gelang den Byzan-
tinern, ihr koſtbares Geheimnis Jahrhunderte hindurch zu bewahren,
und in den Kriegen, die ſie führten, das griechiſche Feuer als un-
widerſtehliches Schreckmittel zu benutzen. Sie ſchleuderten es in Töpfen
aus Wurfmaſchinen auf die Feinde, befeſtigten es an Pfeilen oder
ſteckten es an lange Stangen, um auf dieſe Weiſe die Schiffe der
Gegner direkt in Brand zu ſetzen; eine Verwendungsweiſe, die im
letzten Falle lebhaft an die noch im türkiſch-ruſſiſchen Kriege von 1877
44*
[692]Die Sprengſtoffe und ihre Verwendung.
angewendeten Spierentorpedos erinnert. Erſt im 13 ten Jahrhundert
wandten auch andere Völker das griechiſche Feuer an, ſo daß erſt zu
dieſer Zeit das Geheimnis desſelben ſich weiter verbreitet zu haben
ſcheint. Außerdem haben wir aber aus derſelben Epoche Handſchriften,
welche über die Zuſammenſetzung der Feuermiſchungen genauere An-
gaben machen; es iſt gewiß ſehr merkwürdig, daß ſich in dieſen Rezepte
finden, welche ſich denen unſeres Pulvers in ganz überraſchender Weiſe
nähern.


Wahrſcheinlich aber wird bei dem Gebrauche des griechiſchen Feuers
eine Beobachtung gemacht worden ſein, welche vielleicht dem erſten
Entdecker gar nicht ſehr imponierte, welche aber in der Folge viel
ſtärker ausgenutzt worden iſt, als die anderen Eigenſchaften des merk-
würdigen Körpers. Wir meinen die treibende Kraft der Feuerwerks-
ſätze, welche ſich am einfachſten in dem heftigen Sprühen der Flamme
und in der unabhängigen Richtung derſelben, dann aber auch in der
Erſcheinung zeigte, daß die Brandpfeile durch das Brennen des Satzes
eine erheblich größere Geſchwindigkeit erlangten, als ſie von der
ſchleudernden Wurfmaſchine empfangen hatten. Nachdem dieſe Er-
ſcheinungen bekannt geworden waren, war zu der Erfindung der
Rakete, dem aus eigner Kraft vorwärts eilenden feurigen Geſchoß, nur
noch ein kurzer Schritt. Bei der fortſchreitenden Vervollkommnung
der Raketen aber konnte es nicht unbemerkt bleiben, daß, wenn die
Rakete an der Bewegung gehindert wurde, alle Körper, welche von
dem brennenden Satz getroffen wurden, mit Heftigkeit fortgeſchleudert
wurden, und daß dieſe Wirkung bedeutend ſtärker auftrat, wenn der
Satz gekörnt war. So kam man in der zweiten Hälfte des 13 ten Jahr-
hunderts auf den Gedanken, den in der noch heute üblichen Weiſe
bereiteten Pulverſatz in eine Röhre zu laden und ein darauf geſetztes
Geſchoß vermittelſt ſeiner Kraft fortzutreiben. Wir finden die neue
Erfindung im Laufe des nächſten Jahrhunderts bereits in den meiſten
europäiſchen Staaten; es iſt bekannt, daß die engliſchen Geſchütze den
Sieg von Crecy, 1346, hauptſächlich entſchieden. In der zweiten
Hälfte des 14 ten Jahrhunderts wurde ſchon an vielen Orten Deutſch-
lands Pulver fabriziert und allgemein im Kriege verwendet. Auch von
den Gefahren, die mit der Herſtellung und Aufbewahrung des neuen
Kriegsmittels verknüpft ſind, haben wir ſchon aus dieſer frühen Zeit
Kunde; 1360 wurde das Lübecker Rathaus das Opfer einer Pulver-
exploſion.


Ehe wir auf die hochintereſſante Entwickelung der Verwendung
des Pulvers für die Schußwaffen näher eingehen, iſt es nötig, ſeine
Herſtellung und Wirkungsweiſe genau zu erörtern.


Von den notwendigen Rohmaterialien muß die Kohle vor allem
ſo leicht entzündlich, wie nur möglich ſein; daher eignet ſich am beſten
die poröſe, welche weichen Holzarten entſtammt. Man erzeugt die
Pulverkohle gewöhnlich nicht durch Brennen der Hölzer (beſonders
[693]Das Schteßpulver.
von Pappeln, Haſelſträuchern, Faulbäumen) in Meilern (ſ. S. 323),
ſondern durch „Deſtillieren“ in eiſernen Cylindern, durch welches Ver-
fahren ein ſicherer Brand verbürgt iſt. Das Produkt, die ſogenannte
Notkohle, iſt bräunlich-ſchwarz und leitet die Wärme gut; es iſt rein
von Sandkörnern und anderen harten Verunreinigungen, welche bei der
ſpäteren Verarbeitung des Pulverſatzes die Gefahr einer Exploſion
hervorrufen würden.


Der Schwefel, welcher meiſt Sicilien entſtammt, erfährt an Ort
und Stelle eine Reinigung von den anhängenden erdigen Verunreini-
gungen. Zu dieſem Zwecke deſtilliert man ihn aus irdenen Gefäßen
und kondenſiert die Dämpfe in Vorlagen. Das Produkt, der Roh-
ſchwefel, welcher noch einige Prozente erdiger Teile enthält, kommt in
den Handel und muß einer nachträglichen Reinigung unterzogen werden.
Dieſelbe erfolgt durch eine zweite, vorſichtigere Deſtillation, bei welcher
die Dämpfe in große gemauerte Kammern geleitet werden. So lange
deren Wände kälter ſind, als 110°, die Temperatur des Schmelzpunktes
des Schwefels, kondenſieren ſich die Dämpfe zu feſtem Schwefelpulver,
den Schwefelblumen; nachher ſammelt ſich geſchmolzener Schwefel,
welchen man in cylindriſche Formen gießt und unter dem Namen
Stangenſchwefel in den Handel bringt. Man ſondert die beiden
Formen des gereinigten Schwefels rechtzeitig von einander, da man
zur Pulverfabrikation die Schwefelblumen, wegen eines geringen
Gehaltes an Schwefelſäure, nicht verwendet. Der erhaltene Stangen-
ſchwefel wird häufig einer nochmaligen Deſtillation unterworfen.


Der Salpeter, von welchem ſchon erwähnt wurde, daß er ſich
als Mineral in geringer Menge in einigen Gegenden Aſiens findet,
wird ſtets künſtlich erzeugt. Früher geſchah dies in den „Salpeter-
plantagen“, deren Wirkſamkeit auf der chemiſchen Umwandlung
ammoniakhaltiger, organiſcher Körper in Salpeterſäure beruht; dieſe
Umwandlung iſt jedoch nur in Gegenwart alkaliſcher Subſtanzen mög-
lich. Man ſammelte mit faulenden, ſtickſtoffhaltigen Subſtanzen durch-
ſetztes Erdreich oder ſchichtete Erde mit allerlei tieriſchen und pflanz-
lichen Abfällen in Haufen; in beiden Fällen ſorgte man durch Aufgießen
von Jauche und anderen faulenden Flüſſigkeiten für ſtete Feuchthaltung
der Erde. Endlich mengte man Schutt, Mergel, Kalkreſte darunter,
und überließ das Ganze unter ſtetem Begießen längere Zeit der Ein-
wirkung der Luft. Die Wirkung zeigte ſich durch einen weißlichen
Überzug von auswitternden ſalpeterſauren Salzen. Dann hörte man
auf zu begießen und laugte die „reife“ Erde mit Waſſer aus. Die
gewonnene Lauge, welche alle möglichen ſalpeterſauren Salze enthielt,
wurde durch das „Brechen“ in Kaliſalpeter verwandelt; man ſetzte
einfach Pottaſche oder Chlorkalium hinzu, worauf die Umſetzung leicht
vor ſich ging. Endlich erhielt man durch „Verſieden“ und „Raffinieren“
den Salpeter als Kryſtallmehl. Die beſchriebene Methode iſt faſt ganz
verdrängt durch ein anderes Verfahren, welches von dem in Chile in
[694]Die Sprengſtoffe und ihre Verwendung.
gewaltigen Lagern vorkommenden Chileſalpeter oder Natronſalpeter
ausgeht. Leider iſt dieſer für die Pulverfabrikation wegen ſeiner
hygroſkopiſchen Eigenſchaften nicht ſelbſt verwendbar. Schon vor 1850
ſtellte man aber aus ihm kleine Mengen Kaliſalpeter dar, indem man
ſeine Löſung mit Pottaſchenlauge vermiſchte; aus Natronſalpeter und
kohlenſaurem Kalium bildete ſich hierbei durch einen Austauſch der
Beſtandteile Kaliſalpeter und kohlenſaures Natrium (Soda). Gegen-
wärtig benutzt man nicht mehr Pottaſche zu dieſem „Converſions-
prozeß“, ſondern das aus den Staßfurter und anderen Salzlagern in
Menge gewonnene Chlorkalium. Miſcht man nämlich heiße geſättigte
Löſungen von Natronſalpeter und Chlorkalium, ſo entſteht Kaliſalpeter
und Chlornatrium, welche ſich beide durch ihre ſehr verſchiedene Lös-
lichkeit in Waſſer ſehr leicht trennen laſſen. Aus der heißen Löſung
ſondert ſich nämlich eine große Menge Chlornatrium, als das in
heißem Waſſer minder lösliche Salz, ab; beim Erkalten der ab-
gegoſſenen Lauge ſcheidet ſich dann aber der in kaltem Waſſer ſchwer
lösliche Salpeter in Kryſtallen aus, während das in kaltem, wie in
warmem Waſſer etwa gleich leicht lösliche Chlornatrium in Löſung
bleibt. Durch wiederholtes Auflöſen und Umkryſtalliſieren reinigt man
den ſo gewonnenen „Converſionsſalpeter“; derſelbe findet heute faſt
ausſchließliche Anwendung bei der Darſtellung des Pulvers und wird

Figure 384. Fig. 393.

Pulverſtampfwerk.


den Pulvermühlen im Zuſtande ge-
nügender Reinheit geliefert. Man
fordert von gutem Salpeter, daß er
ganz frei von Natronſalpeter und
Chlornatrium ſei.


Die drei genannten Ingredien-
zien des Schießpulvers müſſen zu-
nächſt fein gepulvert werden. Es
geſchah dies früher durch Bearbeiten
der Materialien unter Stampfwerken
(Fig. 393), welche durch Waſſer be-
wegt wurden, oder zwiſchen Mühl-
ſteinen. Beide Methoden werden
zwar noch hier und dort ange-
wendet, ſie ſind aber faſt vollkommen
verdrängt von der Zerkleinerung nach dem Revolutionsverfahren,
welches ſeit der franzöſiſchen Revolution ſich immer mehr Bahn ge-
brochen hat. Hiernach verbindet man das Zerkleinern häufig gleich
mit dem Miſchen des Satzes.


Das Verhältnis der Miſchung iſt in den verſchiedenen Staaten
und für verſchiedene Pulverſorten ein wechſelndes. Auf 100 Gewichts-
teile Salpeter nimmt man 12—25 Teile Kohle und 15— 22 Teile
Schwefel; als mittleres Verhältnis dürfte ſich für 100 Teile fertiges
Pulver 75 : 12 : 13 herausſtellen. Man bringt die abgewogenen
[695]Das Schießpulver.
Gemengteile in die Pulveriſiertrommeln (Fig. 394), faßartige, horizontal
liegende Cylinder von Holz, welche an ihrer inneren Wand mit hervor-
tretenden abgerundeten Längsleiſten verſehen und mit Leder aus-

Figure 385. Fig. 394.

Pulveriſiertrommel.


geſchlagen ſind. Man fügt eine beſtimmte Menge kleiner Bronzekugeln
hinzu, welche beim ſchnellen Drehen der Trommel die Maſſe des Satzes
zerkleinern. Häufig zerkleinert man zuerſt die Kohle, fügt dann den
Schwefel hinzu und mengt endlich das ſchon vorher beſonders zer-
kleinerte Salpetermehl bei. Indeſſen iſt die Praxis der Pulvermühlen
in dieſer Beziehung eine überaus mannigfaltige und es läßt ſich kaum
eine Methode anführen, welche überwiegend angewendet würde. Auch
die Menge der Bronzekugeln, deren Gewicht nach den meiſten Angaben
etwa zwei Drittel von dem Gewicht des ganzen zu zerkleinernden
Satzes betragen ſoll, wird ſehr verſchieden gewählt. Die Wirkung der
Trommeln iſt ſehr einfach. Jede Kugel wird von einer Leiſte der
Trommel ein kurzes Stück in die Höhe geführt und fällt dann herab,
die Maſſe zerkleinernd. Hieraus folgt auch, daß die Umdrehungs-
geſchwindigkeit nicht ſo groß werden darf, daß die Kugeln durch die
Schwungkraft an die Wände gedrückt werden und demnach keine
Wirkung äußern. Die Zeit der Arbeit iſt ziemlich lang. Einige
Fabriken wenden zum vollſtändigen Miſchen der Satzteile beſondere
Trommeln an, welche zinnerne anſtatt der bronzenen Kugeln enthalten;
in vielen Fällen zerkleinert man auch die einzelnen Satzteile, beſonders
den Salpeter, für ſich allein zwiſchen Steinen, um dann in den
Trommeln nur das Miſchen vorzunehmen.


Der fertig gemiſchte und ſtaubfein zerkleinerte Satz, das ſogenannte
Mehlpulver, wird nun, zur Erhöhung ſeiner Wirkung, dem Dichtungs-
prozeß unterworfen. Das Mehlpulver wird mit ſo vielem Waſſer ver-
miſcht, daß ein Teig entſteht, welcher mittels eines Leinentuches ohne
Ende zwiſchen zwei horizontale Walzen geführt wird. Die obere be-
ſteht aus Bronze, die untere aus Holz; zwiſchen beiden wird der
Pulverteig kräftig zuſammengepreßt. Er hat dann Anſehen und Härte
[696]Die Sprengſtoffe und ihre Verwendung.
des Thonſchiefers und läßt ſich nur mit ziemlichem Kraftaufwand
zwiſchen den Händen zerbrechen. Die Operation des Dichtens hat
erſtens den ſehr wichtigen Zweck, einer Entmiſchung der ſpezifiſch ver-
ſchieden ſchweren Gemengteile des Pulvers bei deſſen Transport vor-
zubeugen; ſodann wird bei dieſer Arbeit der Pulverſatz auf einen
kleineren Raum zuſammengedrängt, alſo die Entzündlichkeit und die
Wirkung weſentlich erhöht.


Der zerbrochene Pulverkuchen wird nun gekörnt, um dem Pulver
die für ſeine verſchiedene Verwendung paſſende Korngröße zu geben
und hierdurch dafür zu ſorgen, daß ein ſpäteres Zerbröckeln zu Mehl-
pulver unmöglich gemacht wird. Es iſt nämlich leicht einzuſehen, daß
die Schnelligkeit, mit welcher das Pulver abbrennt, zum großen Teil davon
abhängt, ob zwiſchen den einzelnen Körnern Spielraum für die durch-
ſchlagende Flamme vorhanden iſt, oder nicht. In der That hat man
gefunden, daß das häufig zu Feuerwerksſätzen verwendete Mehlpulver
viel langſamer abbrennt, als hinreichend gekörntes Pulver, und daß
bei feſt eingepreßtem Mehlpulver die Exploſionswirkung ſogar eine viel
geringere ſein kann. Das Körnen erfolgt zunächſt durch Zerkleinern
des Pulverkuchens auf dem Schrotſiebe. Es iſt dies ein ziemlich
grobes Sieb, in welchem der Kuchen durch den Läufer, eine linſen-
förmige Scheibe von hartem Holz, die man oft noch mit Blei be-
ſchwert, zerſchrotet wird. Die Stücke fallen durch die Löcher des fort-
während in rüttelnder Bewegung befindlichen Schrotſiebes auf ein
Kornſieb von Meſſingdraht, in welchem das Pulverkorn die richtige
Größe erhält, um auch durch die Löcher dieſes Siebes zu gleiten und
endlich auf dem Staubſiebe von den Staubteilen getrennt zu werden.
Für beſſere Pulverſorten, beſonders Jagdpulver, welches durch ſeinen
höheren Preis koſtſpieligere Einrichtungen geſtattet, hat man vollſtändige
Körnmaſchinen, die aus acht ſelbſtändig arbeitenden Apparaten be-
ſtehen. Die erſten Kornſiebe liefern noch grobe Stücke, damit nicht
zuviel Staub entſteht; erſt die mittleren geben dem Korn die richtige
Größe und laſſen es durchpaſſieren, während das auf ihnen liegen-
bleibende Grobkorn den Schrotſieben noch einmal zugeführt wird.
Das gute Korn wird durch Laufſchläuche aus der Maſchine weg-
geführt. Das Schütteln der Siebe wird durch Excenter oder Krumm-
zapfen einer gemeinſamen Welle bewirkt (ſ. Fig. 395). Auch die
Einrichtung der Körnvorrichtungen der einzelnen Pulverfabriken iſt,
wenn ſie ſich auch im weſentlichen den geſchilderten anſchließen, faſt
bei einer jeden verſchieden. Beſonders zu erwähnen iſt höchſtens die
von der allgemein üblichen abweichende Congreveſche Körnmethode,
bei welcher der Pulverkuchen zwiſchen zwei mit vierkantigen Spitzen
beſetzten Meſſingwalzen zerrieben wird.


Beſondere Behandlung und Vorrichtungen ſind für das Körnen
derjenigen Pulverſorten notwendig, deren Verwendung ein möglichſt
langſames Abbrennen erfordert, alſo beſonders der Geſchützpulver. Es
[697]Das Schießpulver.

Figure 386. Fig. 395.

Pulverkörnmaſchine.


iſt nämlich leicht einzuſehen, daß ein Pulver von beſtimmter Kornform
deſto ſchneller abbrennen wird, je kleiner die Körner ſind, vorausge-
ſetzt, daß eine gewiſſe Kleinheit nicht überſchritten wird, weil in dieſem
Falle wieder ähnliche Umſtände, wie beim Mehlpulver, das Brennen
verlangſamen und — was am ſchlimmſten — die Leiſtung vermindern
würden. Vergrößert man daher das Korn, ſo kann man beliebig lang-
ſame Abbrennzeiten erreichen. Das Reſultat dieſer Überlegung iſt das
von dem Amerikaner Rodman erfundene prismatiſche Pulver, welches
man durch Preſſen des Pulverkuchens in eine ſechseckige prismatiſche
Form von 1,5 bis 2,5 cm Durchmeſſer und etwa 2,5 cm Höhe er-
hält. Um einen gleichmäßigeren Brand zu bewirken, enthält das Korn
noch ſieben Längskanäle. Bei den neueſten Monſtregeſchützen iſt man
mit den Dimenſionen des Pulverkorns noch über die angegebenen ge-
gangen, während man bei den leichten Feldgeſchützen geringere Größen
gebraucht. Beſonders günſtige Reſultate hat man durch das braune
prismatiſche Pulver erhalten, welches einen geringeren Gehalt an
Schwefel und einen höheren an Kohle hat, als der gewöhnliche Pulver-
ſatz. Die Kohle zu dieſem Pulver gewinnt man durch ſehr unvoll-
kommene Verkohlung von Stroh; hieraus erklärt ſich auch die bräun-
lich ſchwarze Farbe des Pulvers und ſein langſames Abbrennen.


Das gekörnte Pulver färbt ab und bedarf noch einer beſonderen
Behandlung, um ihm dieſe unangenehme Eigenſchaft zu nehmen. Die
ganz grobkörnigen Sorten werden zwar ſo vorſichtig behandelt und
verpackt, daß ſie weniger leiden, die feinkörnigen aber bedürfen des
Glättens oder Polierens. Das gekörnte Pulver, welches womöglich
[698]Die Sprengſtoffe und ihre Verwendung.
einen ganz geringen Feuchtigkeitsgehalt beſitzen muß, kommt in die
Rollfäſſer, welche ſich mit mäßiger, erſt ſpäter geſteigerter Geſchwindig-
keit um vertikale Achſen drehen. Hierdurch erhalten die Körner, indem
ſie gegen einander gerieben werden, eine dichtere und glänzende Ober-
fläche, welche für Feuchtigkeit weniger empfänglich iſt, als diejenige
der unpolierten Körner; dieſem wichtigen Vorteil ſteht nur der Nach-
teil etwas geringerer Entzündbarkeit gegenüber, welcher aber durch
einen Gewinn an Dichtigkeit, welchen das Polieren mit ſich bringt,
ausgeglichen wird. Da ſich das Pulver durch die Reibung nicht un-
beträchtlich erhitzt, ſo läßt man häufig die Fäſſer zuletzt eine Zeit lang
langſamer laufen.


Das friſch gekörnte und polierte Pulver enthält mehr Waſſer, als
für ſeinen Gebrauch nützlich iſt. Daher wird es zunächſt an der Luft
getrocknet und hierauf einem künſtlichen Trockenverfahren unterworfen,
welches den Waſſergehalt auf höchſtens 2 % reduzieren muß. Man
benutzt große Käſten, in welchen das Pulver auf ausgeſpannten Trocken-
tüchern liegt, und welche von einem mäßig warmen Luftſtrom durch-
zogen werden. Es kommt weſentlich darauf an, daß die Temperatur
nur ſehr allmählich geſteigert wird; im entgegengeſetzten Falle leidet
die Güte des Pulvers erheblich. Erſt gegen Ende des Trocknens,
welches 4 bis 6 Stunden währt, erhöht man die Wärme bis auf 50°C.
Das fertige Pulver wird dann in Fäſſer, Säcke oder Blechbüchſen
verpackt.


Wenn auch die Güte des Pulvers von einer Menge Faktoren
abhängt, welche ſich größtenteils der oberflächlichen Beobachtung ent-
ziehen, ſo kann doch ſchon aus ſeinem Anſehen und ſeiner äußerlichen
Beſchaffenheit auf ſeine Qualität ein ungefähr zutreffender Schluß
gezogen werden. Die Farbe ſoll dunkelgrau bis dunkelbraun,
vollkommen gleichförmig ſein; die Körner dürfen nicht durch weiße
Flecke ein Ausblühen des Salpeters verraten, dürfen nicht abfärben,
ſollen ſich ſchwierig und unter Knirſchen zerdrücken laſſen und leicht
abbrennen.


Die Anlage der Pulverfabriken muß ſtets ſo erfolgen, daß die
einzelnen, durchweg aus leichten Materialien aufzuführenden Gebäude
durch hohe Erdwälle von einander getrennt ſind, damit bei einer zu-
fällig in einer Abteilung eintretenden Exploſion eine Fortwirkung auf
Nebenräume möglichſt ausgeſchloſſen ſei. Von hervorragender Be-
deutung iſt ferner, daß alle Umſtände, durch die das Pulver bei ſeiner
Herſtellung unverſehens entzündet werden könnte, ſorgfältig vermieden
werden. Hierher gehört beſonders die Auswahl des Materials der
Stampfen, bei welcher gewiſſe Metalle, z. B. Eiſen, Meſſing, Blei
gänzlich ausgeſchloſſen ſind, weil ſie Selbſtentzündung bewirken können,
während Kupfer oder Bronze, ſowohl gegen einander, als auch auf
Holz, noch nie Exploſionen hervorgerufen haben. Daß die Annähe-
rung von glimmenden oder gar brennenden Körpern, wie Laternen
[699]Das Schießpulver.
und dergleichen, an eine Pulverfabrik auf das ſorgfältigſte vermieden
werden muß, iſt ſelbſtverſtändlich.


Um die Wirkungsweiſe des Schießpulvers kurz erklären zu können,
müſſen wir an dieſer Stelle auf diejenigen Ausführungen verweiſen,
welche über die Entzündung exploſiver Gasgemiſche in dem Kapitel
„Beleuchtung und Heizung“ (S. 283) gegeben ſind. Wir haben näm-
lich bei dem Pulver einen ganz ähnlichen Fall, wie beiſpielsweiſe dort
bei der Verbrennung eines Gemenges von Waſſerſtoff und Sauerſtoff.
Auch hier ſind zwei leicht entzündbare Subſtanzen, Kohle und Schwefel,
mit einem außerordentlich viel Sauerſtoff enthaltenden Körper, dem
Salpeter, innig gemengt, ſo daß bei einem geringen äußeren Anſtoß,
z. B. bei der Entzündung, plötzlich das Gemenge ſich chemiſch zerſetzt
und eine derartige Wärme frei macht, daß die Produkte der Zerſetzung,
welche im weſentlichen aus Gaſen beſtehen, auf das heftigſte ausge-
dehnt und gewaltſam auseinander getrieben werden. Es entſteht alſo
ganz unvermittelt ein überaus hoher Gasdruck auf die Umgebung der
Ladung, welcher ſich als Exploſion oder Detonation äußert. Iſt die
Ladung von allen Seiten von Wänden eingeſchloſſen, ſo werden dieſe
verſchoben oder zertrümmert werden, und zwar offenbar dort am
meiſten, wo ſie den geringſten Widerſtand leiſten. So wirkt das Pulver
in der That; nur feſt eingeſchloſſen äußert es ſeine volle Energie.
Dagegen finden wir, daß es frei daliegend bei der Entzündung nur
ſchwach verpufft und keine mechaniſche Wirkung zeigt. Es erklärt ſich
dies einfach dadurch, daß die Luft, als ein überaus elaſtiſcher Körper,
dem Gasdruck nach oben zu mit der größten Leichtigkeit ausweicht, ſo
daß auf die Unterlage ſo gut wie gar keine Wirkung ausgeübt wird;
vorausgeſetzt muß hierbei natürlich werden, daß das Abbrennen des
Pulvers ſo langſam erfolgt, daß die Luft Zeit hat auszuweichen.
Wäre dies nicht der Fall, ſo würde die Wirkung nach unten um ſo
ſtärker ſein, je weniger die Luft dem Exploſionsſtoß auswiche. In
der That haben eingehende Unterſuchungen gezeigt, daß die Ver-
brennungsgeſchwindigkeit des Pulvers, verglichen mit derjenigen der
neueren Sprengſtoffe eine verhältnismäßig ſehr geringe iſt; ſie beträgt
z. B. nur den 500. Teil derjenigen, welche die Schießbaumwolle ent-
wickelt.


Was den chemiſchen Prozeß beim Abbrennen des Pulvers betrifft,
ſo iſt derſelbe höchſt kompliziert, und man hat ihn bisher trotz ein-
gehender Verſuche noch nicht völlig erforſchen können. Es iſt nur das
unzweifelhaft feſtgeſtellt, daß die gasförmigen Zerſetzungsprodukte im
weſentlichen aus Stickſtoff und Kohlenſäure beſtehen. Das Volumen der
Gasmenge von 1 gr Schießpulver, reduziert auf 0°C. und 760 mm
Luftdruck beträgt nach der allgemeinen Annahme 331 ccm; aber ſowohl
Bunſen als auch Nobel und Abel, von welchen ſich beſonders die
beiden letzteren ſehr große Verdienſte um die Unterſuchung der Spreng-
ſtoffe erworben haben, haben kleinere Zahlen gefunden (193 reſp.
[700]Die Sprengſtoffe und ihre Verwendung.
280 ccm). Die durch die Exploſion entwickelte Wärme, ein für die
Kraftleiſtung ſehr wichtiger Faktor, wurde von Bunſen auf 3340°,
von Nobel und Abel nur auf 2200°C. geſchätzt. Durch beſondere
Apparate, ſogenannte Gasdruckmeſſer, hat Nobel verſucht, die bei der
Verbrennung von Schießpulver ſtattfindende Gasſpannung zu be-
ſtimmen. Dieſe Maſchinen beſtehen im weſentlichen aus Metallcylindern,
welche durch die Exploſionswirkung deformiert oder geſtaucht werden,
ſo daß man aus der Größe der Stauchung auf den Gasdruck unge-
fähre Schlüſſe ziehen kann. Nobel fand den Druck auf dieſem aller-
dings anfechtbarem Wege zu 6400 Atmoſphären, während derſelbe nach
Bunſen 4373 Atmoſphären betragen ſoll. Wie aus dieſen Beträgen
erſichtlich, ſind die Kraftmeſſungen für Pulver noch außerordentlich
unzuverläſſig, und es fehlt bisher an einer wirklich brauchbaren Methode
für dieſelben.


Gehen wir nun zu den Anwendungen des Pulvers über, ſo
müſſen wir vorweg bemerken, daß unſer „altes“ Schießpulver gerade
heutezutage, nachdem es Jahrhunderte hindurch die Sprengtechnik
im Frieden und im Kriege unumſchränkt beherrſcht hat, an dem Ende
ſeiner Regierung angekommen zu ſein ſcheint. Nachdem ihm durch
Dynamit und Schießwolle ſchon ſeit Jahrzehnten eine ſiegreiche und
immer ſtärker anwachſende Konkurrenz auf dem Gebiete der friedlichen
Sprengarbeit bereitet worden war, beginnt es jetzt auch als Kriegspulver
vor einem kräftigeren Gegner den Platz zu räumen. Während die
erſtere Thatſache uns eigentlich nicht in Erſtaunen ſetzen kann, da beim
Sprengen die größte Kraftentwicklung das einzige Ziel des Technikers
iſt und das Pulver gerade in dieſer Hinſicht längſt durch andere
Sprengſtoffe überholt worden iſt, ſo läßt ſich die letztere nur begreifen,
wenn wir die innige und ſubtile Beziehung, welche zwiſchen der Leiſtung
der Schußwaffe und den verſchiedenen Eigentümlichkeiten des zum
Forttreiben des Geſchoſſes angewendeten Sprengſtoffes beſteht, genauer
kennen lernen.


Es iſt bekannt, daß die Wirkung eines Geſchoſſes, ſeine „lebendige
Kraft“, einmal von ſeinem Gewicht, dann aber, und zwar hauptſächlich,
von der Geſchwindigkeit abhängt, mit welcher es das Rohr verläßt,
der „Anfangsgeſchwindigkeit“. Die Phyſik lehrt, daß die Leiſtung
mit dem Geſchoßgewicht in einfachem, mit der Anfangsgeſchwindigkeit
im quadratiſchen Verhältnis ſteigt, daß alſo ein doppelt ſo ſchweres
Geſchoß auch doppelt ſo ſtark, ein doppelt ſo ſchnelles aber viermal ſo
ſtark wirkt. Dieſe Verhältniſſe berückſichtigte man früher nicht; daher
finden wir die mittelalterlichen Schußwaffen, wenn auch häufig künſt-
leriſch ſehr vollendet gebaut, in phyſikaliſcher Hinſicht höchſt unvollkommen
konſtruiert. Es iſt hier nicht der Ort, der Entwickelung der Schuß-
waffen im einzelnen zu folgen, nur die wichtigſten Fortſchritte können
erwähnt werden, und zwar immer nur hinſichtlich ihrer Beziehung zu
der Fortentwickelung der Sprengſtoffe.


[701]Das Schießpulver.

Die Geſchütze, offenbar die erſten und einfachſten Schußwaffen,
ſollten im Anfange weiter nichts leiſten, wie die antiken Wurfmaſchinen,
d. h. Steine oder ſchwere Körper gegen Mauern ſchleudern. Erſt ſpäter
erkannte man, daß nicht nur die Vergrößerung der Ladung die Wirkung
verſtärkt, ſondern beſonders die innere Beſchaffenheit und die Länge
des Laufes. So finden wir zur Zeit des dreißigjährigen Krieges
ſchon Geſchütze von relativ großer Treffſicherheit; man gab ſich alle
Mühe, einen guten Anſchluß des Geſchoſſes an die Rohrwände zu be-
wirken und hierdurch an Ladung zu ſparen. Aber erſt unſerem Jahr-
hundert iſt es vorbehalten geweſen, eine überaus wichtige Änderung
herbeizuführen, welche die Anfangsgeſchwindigkeit und die Treffſicher-
heit der Geſchütze ganz außerordentlich vermehrte; wir meinen die Ein-
führung der Laufzüge, welche in den fünfziger Jahren durch Napoleon III
geſchah. Dadurch, daß man das Geſchoß zwang, beim Abfeuern
den Zügen zu folgen, erreichte man einerſeits einen überaus feſten
und ſehr gasdichten Anſchluß, andererſeits wurde die Bewegung
außerhalb des Laufes durch die mitgeteilte Drehung eine konſtantere
und von Hinderniſſen unabhängigere. Angeſichts dieſer Sachlage war
der Gedanke, daß man die errungenen Vorzüge durch Einführung
der Hinterladung noch bedeutend verſtärken könne, recht nahe gelegt,
umſomehr, als dieſe bei den Handfeuerwaffen ſchon überaus wichtige
Erfolge aufzuweiſen hatte. Der Krieg von 1870, welcher Hinter-
ladungs- und Vorderladungsgeſchütze gegen einander ins Feld führte,
hat die gewaltige Überlegenheit der erſteren gezeigt und nicht wenig
zum Erringen der deutſchen Siege beigetragen. Was die Geſchoſſe
betrifft, ſo iſt man bekanntlich von der anfänglichen Kugelgeſtalt zu
anderen Formen übergegangen, um dem Widerſtand der Luft weniger
Angriffsfläche zu bieten. Die ſchon frühzeitig gebrauchten Hohlgeſchoſſe,
deren Größe, nach einer internationalen Übereinkunft, unter ein be-
ſtimmtes Maß nicht heruntergehen darf, ſind gerade in der neueren
Zeit bedeutend vervollkommnet worden. Nachdem man die früher für
die Granaten angewandte Zündungsart mittels eines beim Ab-
feuern entzündeten und in beſtimmter Zeit abbrennenden Zündſatzes,
die ſogenannten Tempierzünder, durch die viel ſicherer wirkenden an
der Spitze des Geſchoſſes befeſtigten und beim geringſten Anprall
zündenden Perkuſſionszünder erſetzt hatte, iſt man dazu übergegangen,
die Sprengladung der Granaten, die bisher auch aus Kornpulver be-
ſtand, durch erheblich kräftiger wirkende Sprengſtoffe, beſonders durch
die ſpäter zu erwähnenden Pikrinſäureverbindungen, zu erſetzen. Die
Tempierzünder, die man eine Zeit lang ganz verlaſſen hatte, oder
höchſtens für ganz ſchwere Feſtungsgeſchütze anwandte, ſind neuer-
dings bei einer beſonderen Art von Geſchoſſen, den Schrapnells,
wieder zu Ehren gekommen, und man hat es verſtanden, auch dieſe
früher unzuverläſſige Zündungsart bis zu hoher Vollkommenheit aus-
zubilden.


[702]Die Sprengſtoffe und ihre Verwendung.

Während man im Feldkrieg die Treffſicherheit, Sprengwirkung
und Beweglichkeit der Geſchütze auf die höchſte Potenz zu bringen be-
ſtrebt ſein muß, ſteht bei dem Feſtungskrieg und Seekrieg die Durch-
ſchlagskraft der Geſchoſſe im Vordergrunde. Hier entſcheidet einzig
Tragweite, Ladung und Geſchoßgewicht. So konnte denn jener Wett-
kampf zwiſchen Geſchütz und Eiſenpanzer beginnen, der Jahrzehnte
hindurch an die Fabrikanten immer größere und größere Anforderungen
ſtellte. Jede Verſtärkung auf der einen Seite mußte notwendig eine
ſolche auf der anderen hervorrufen; je größer Kaliber und Ladung
gewählt wurden, deſto dicker und widerſtandsfähiger wurden die Panzer-
wände gebaut, deſto ſchwerfälliger die Schlachtſchiffe, deſto maſſiger
die Armierung der Feſtungen. Es iſt natürlich, daß man in dieſem
Kampfe auch das Pulver das ſeinige zur Verbeſſerung der Geſchütz-
leiſtungen beitragen ließ, und gerade die oben erwähnten geformten
Pulver haben ihr Daſein dieſem Beſtreben zu verdanken. Die koloſſalen
Geſchütze, die den Namen Krupp weltberühmt gemacht haben, bedürfen
nämlich ganz beſonders eines langſam brennenden und erſt in dem
Momente, in welchem das Geſchoß das Rohr verläßt, ſeine höchſte
Kraft entfaltenden Pulvers, wenn nicht der Laderaum und die Spreng-
ladung gefährdet werden ſollen. Es iſt intereſſant, daß eine Art
rieſiger Geſchoſſe, die Hartgußgranaten, gar keine Zünder gebrauchen;
durch das Eindringen der Granate in die Panzerwand wird genügend
Wärme entwickelt, um die Sprengladung auch ohne direkte Zündung
zur Exploſion zu bringen. Das Gegenſtück zu dieſen Rieſenkanonen
ſind die kleinen ſchnell feuernden Revolverkanonen, deren winzige
Sprenggeſchoſſe nur die dünne Eiſenhaut der Torpedoboote zu durch-
ſchlagen vermögen und daher zur Abwehr dieſer unheimlichen An-
greifer gebraucht werden. Es ſei endlich der Maximkanone gedacht,
eines Schnellfeuergeſchützes, welches den eigenen Rückſtoß beim Ab-
ſchießen dazu benutzt, ſich wieder ſchußfertig zu machen und von neuem
abzufeuern. Daß derartige Mechanismen, nicht nur bei der genannten
Kanone, ſondern auch bei anderen Maſchinengeſchützen, beſonders den
Mitrailleuſen, ſehr leicht Störungen unterworfen ſind, welche ihren
Gebrauch im offenen Gefecht mitunter gänzlich in Frage ſtellen, iſt
leicht begreiflich und wird bei aller ihrer ſonſtigen Vollkommenheit ein
ſtetes Hindernis für ihre allgemeine Verwendung ſein.


Die Handfeuerwaffen, in den früheſten Zeiten ihres Daſeins
noch ungefügiger als die Geſchütze, haben ſich viel ſpäter Bahn ge-
brochen als dieſe, ſo daß eine Zeit lang die Armbrüſte ſich noch recht
gut neben ihnen behaupten konnten. Erſt im Anfang des vorigen
Jahrhunderts war die Konſtruktion der Gewehre ſo weit vorgeſchritten,
daß dieſe als allgemeine Waffe des Fußvolks eingeführt und
vermöge der Anbringung des Bajonetts zum Nah- und Fernkampfe
gebraucht werden konnten. Das Laden war eine zeitraubende Arbeit,
welche die Krieg Führenden die Aufſtellung viele Glieder tief zu
[703]Das Schießpulver.
nehmen zwang; erſt nachdem man ſich an die Waffe gewöhnt hatte,
wagte man bis auf drei Glieder herunter zu gehen, aber wohl erſt
Friedrich II war es, der das Infanteriefeuer im weſentlichen zur
Entſcheidung der Schlachten zu benutzen verſuchte. Noch war das
Steinſchloß mit der offenen, durch Feuchtigkeit leicht unbrauchbar wer-
denden Zündpfanne ein großes Hindernis für den Gebrauch der Waffe,
und erſt die unſerem Jahrhundert angehörende Erfindung des Per-
kuſſionsſchloſſes mit der durch den Schlag des Hahns explodierenden und die
Ladung entzündenden Zündmaſſe machte die Handgewehre zu allgemein
brauchbaren Waffen. Das war im Anfange des Jahrhunderts. Und
nun begann jene rapide Entwicklung der Gewehre, welche heute die-
ſelben auf eine Höhe der Vollkommenheit gebracht hat, die man vor
50 Jahren nicht ahnen konnte. Dadurch, daß man den Lauf mit
Zügen verſah und die bis dahin gebrauchte Kugel durch das Lang-
bleigeſchoß erſetzte, erhöhte man die Trefffähigkeit bedentend. In den
fünfziger Jahren erfolgte ſodann in Preußen die Einführung des
Dreyſeſchen Zündnadelgewehres, des erſten Hinterladers ſeit 1360, wo
man dieſe Waffen ſchon kannte. Das ungeheure Übergewicht der
Hinterladungsgewehre, welches ſich in den Kriegen von 1864 und 1866
in ſo in die Augen ſpringender Weiſe bemerkbar machte, bewirkte die
von allen Staaten mit fieberhafter Eile betriebene Einführung der ver-
ſchiedenſten Konſtruktionen von Hinterladern, unter denen ſich beſonders
das franzöſiſche Chaſſepotgewehr im Kriege von 1870 dem Zündnadel-
gewehr zwar nicht in der Trefffähigkeit, um ſo mehr aber in der Trag-
weite und Feuergeſchwindigkeit weit überlegen zeigte. Die politiſche
Lage ſeit 1870 hat natürlich nicht dazu beigetragen, einen Ruhepunkt
für die Gewehrtechnik herbeizuführen; was der eine Staat eben ein-
führte, wurde von dem anderen nachgeahmt, ja womöglich übertroffen.
So hat denn erſt die neueſte Zeit wieder einen Fortſchritt auf dieſem
Gebiete zu verzeichnen, ſo einſchneidend und epochemachend, wie ſeit der
Erfindung des Pulvers kein anderer erlebt wurde; wir meinen die Ein-
führung der Magazingewehre und des rauchloſen Pulvers.


Um zu begreifen, wie es geſchehen konnte, daß man das durch
die Praxis von Jahrhunderten eingeführte Triebmittel für den Gewehr-
ſchuß ſo leicht und plötzlich fallen ließ, muß man die beiden Ziele
kennen, auf welche, abgeſehen von der Feuergeſchwindigkeit, die Kriegs-
technik ſeit der Mitte unſeres Jahrhunderts hindrängte; wir meinen die
Vergrößerung der Tragweite und der „Raſanz“, d. h. der Streckung der
Geſchoßbahn. Beſonders der letztgenannte Punkt war wichtig, weil jedes
Gewehr erfahrungsmäßig um ſo präziſer ſchießt, je weniger gekrümmt,
je raſanter die Flugbahn iſt. Beide Ziele ſind nur erreichbar, indem
man zwiſchen Geſchoßmaſſe und Anfangsgeſchwindigkeit das richtige
Verhältnis zu treffen ſucht. Verkleinert man nun das Geſchoß, ſo
wird die Luft dieſem weniger Widerſtand bieten und die Forderung
[704]Die Sprengſtoffe und ihre Verwendung.
größerer Raſanz iſt erfüllt; leider aber verliert das Geſchoß dabei auch
an Durchſchlagskraft, weil ſeine Wirkung bekanntlich von ſeiner Maſſe
abhängt. Da aber doch zur Erreichung möglichſt großer Raſanz
kein anderes Mittel bekannt iſt, ſo bleibt nichts weiter übrig, als die
aus der durchaus notwendigen Verkleinerung des Geſchoſſes reſul-
tierende Minderleiſtung durch Vergrößerung der Anfangsgeſchwin-
digkeit zu heben. Dies letztere kann natürlich zunächſt durch
Vergrößerung der Pulverladung geſchehen; aber man begreift,
daß auch das eine Grenze hat. In der That ſehen wir, wie
das Kaliber der Gewehre, welches z. B. nach 1846 in Frankreich
17,5 mm betrug, im Laufe der nächſten Jahre immer mehr herabgeſetzt
wurde; die Schweiz ging ſchon 1853 auf 10,5 mm herab. Die anderen
Staaten blieben bis 1866 auf 14 mm ſtehen; erſt dann verkleinerte
ſich der Laufdurchmeſſer rapide. Seit 1870 iſt derſelbe auf 11 mm
geſunken, ſeit der Mitte der achtziger Jahre hat man allgemein Geſchoſſe
von 8 bis 7,5 mm eingeführt. Es war ſelbſtverſtändlich, daß die
äußerſten Anſtrengungen gemacht wurden, um die durch die Verkleine-
rung des Geſchoſſes verlorene „lebendige Kraft“ durch Vergrößerung
der Anfangsgeſchwindigkeit zu erſetzen. Als ſchließlich das alte Pulver
ſich dieſem Beſtreben nicht mehr zugänglich erwies, mußte man ſich
notgedrungen nach einem neuen umſehen und man benutzte die Ge-
legenheit, um von dieſem Pulver der Zukunft noch eine andere Eigen-
ſchaft zu fordern, welche man an dem alten ſchmerzlich vermißt hatte,
nämlich die Rauchloſigkeit. Schneller, als man geglaubt hatte, ſollte
die geſtellte Forderung erfüllt werden. Die enormen Fortſchritte der
organiſchen Chemie boten Exploſivſtoffe in Fülle dar, Stoffe von einer
ſo gewaltigen Kraftleiſtung, daß es merkwürdiger Weiſe darauf ankam,
deren Wirkung zu mäßigen, um ſie überhaupt als Pulver benutzen zu
können. Einen dieſer Stoffe müſſen wir erſt näher kennen lernen, ehe
wir das rauchloſe Pulver und ſeine Anwendung betrachten: die Schieß-
baumwolle.


Im Jahre 1845 entdeckte Schönbein in Baſel und kurze Zeit nach
ihm Böttger in Frankfurt a. M., daß Baumwolle beim Eintauchen in
ein Gemiſch aus Schwefelſäure und Salpeterſäure exploſive Eigen-
ſchaften bekommt, nachdem ſchon 1832 Braconnot, nach ihm Pelouze
und Dumas ähnliches bei Stärke, Holzfaſer und Papier beobachtet
hatten. Nach dem ſorgfältigen Auswaſchen der geſäuerten Baumwolle
mit Waſſer zeigte ſich ihre äußere Beſchaffenheit nicht verändert; dagegen
verbrannte ſie nach dem vorſichtigen Trocknen beim Entzünden ſehr
ſchnell ohne Hinterlaſſung eines Rückſtandes, ſowie ohne Rauchentwick-
lung, und explodierte äußerſt heftig durch Schlag oder Stoß. Die
letztere Eigenſchaft lenkte die Blicke der ganzen Welt auf den neu ent-
deckten Sprengſtoff, und nachdem durch Sprengungen, welche bei
Gelegenheit von Eiſenbahnbauten in der Schweiz mittels Schießwolle
[705]Das Schießpulver.
vorgenommen wurden, erwieſen war, daß ihre Sprengkraft die des
Pulvers um das Vierfache überſteigt, machte man die energiſchſten
Verſuche, ſie zu Kriegszwecken zu verwerten. Als aber mehrere fürchter-
liche Exploſionen trocknender oder ſchon fertiger Schießwolle, z. B. in
Le Bouchet bei Paris und in Faverſham zeigten, wie gefährlich der
neue Stoff ſei, wurde die bis dahin ſehr rege Fabrikation weſentlich
eingeſchränkt. Obgleich Otto in Braunſchweig und, wie ſich erſt neuer-
dings herausgeſtellt hat, W. von Siemens die Darſtellungsmethode
gleichzeitig mit Böttger verbeſſerten, gelang es damals doch noch nicht,
ein reines Produkt zu erzielen und Folgen davon ſind, wie man
ſpäter mit größter Wahrſcheinlichkeit nachwies, jene Exploſionen ge-
weſen. Der öſterreichiſche General von Lenk war der erſte, dem es
gelang, die Bedingungen feſtzuſtellen, welche zur Herſtellung einer kon-
ſtanten Schießwolle erfüllt ſein müſſen; aber eine neue Exploſion in der
Nähe von Wien, durch welche mehr als 5000 Centner Schießwolle auf
einmal vernichtet wurden, ſetzte auch ſeinen Verſuchen eine Grenze. Von
da an benutzte man die Schießwolle, welche nur in kleinen Mengen
fabriziert wurde, nur zu Sprengungen. Erſt der Engländer Abel war
es, welcher dem bis dahin unbrauchbaren Sprengſtoff im Anfange der
ſiebziger Jahre wieder Eingang zu Kriegszwecken verſchaffte. Dadurch,
daß er die Baumwolle außerordentlich rein herſtellte und das fertige
Produkt im Holländer in einen Brei verwandelte, welcher nachträglich
unter ſtarken hydrauliſchen Preſſen faſt ganz entwäſſert wurde, hat er
in ſeiner „komprimierten Schießwolle“ einen Sprengſtoff geliefert,
welcher ebenſo ungefährlich bei der Behandlung, Verſendung und Auf-
bewahrung, wie furchtbar bei der Verwendung zu Sprengungen iſt.
Die erſte deutſche Schießwollfabrik, welche nach Abels Verfahren arbeitete,
war die zu Kruppamühle in Oberſchleſien.


Die Schießwolle unterſcheidet ſich in ihrer Wirkung von dem
Pulver weſentlich dadurch, daß ſie „briſanter“ iſt. Die Exploſion eines
frei auf einer ſteinernen Unterlage ruhenden Prismas komprimierter
Schießwolle zermalmt die Unterlage völlig. Man muß alſo annehmen,
daß die Verbrennungsgeſchwindigkeit ſo gewaltig iſt, daß die Luft trotz
ihrer Elaſtizität nicht imſtande iſt, dem Exploſionsſtoß auszuweichen;
derſelbe wirkt daher nach allen Seiten und trifft alſo auch die Unter-
lage oder jeden anderen Körper, der den Sprengſtoff unmittelbar
berührt, mit voller Gewalt. Man nennt exploſive Körper von der be-
ſchriebenen Art, die offenbar einen Gegenſatz zu dem Pulver bilden,
„briſante“. Ihre ſtärkere, auf die ins Ungeheure geſteigerte Schnellig-
keit der Verbrennung zurückzuführende Wirkung erklärt ſich daraus,
daß alle briſanten Sprengſtoffe einfache chemiſche Verbindungen ſind,
während Sprengkörper von der Art des Pulvers ſtets, trotz ihrer feinen
Zerteilung, nur Gemenge ſind. Im erſteren Fall iſt das ganze zur
Exploſion nötige Material in jedem einzelnen Molekül vereinigt,
während im letzteren ſtets getrennte Moleküle auf einander wirken.
Das Buch der Erfindungen. 45
[706]Die Sprengſtoffe und ihre Verwendung.
Für dieſe Auffaſſung ſpricht auch die Thatſache, daß Pulver ſchon durch
einfache Entzündung explodiert, während dieſe nicht ausreicht, die
briſanten Sprengſtoffe zur Exploſion zu bringen; ſie bewirkt eben nur
eine Verbrennung. Um dieſe Körper zu „detonieren“, iſt eine ſtärkere
Erſchütterung, der „Initialſtoß“ nötig, welcher am beſten mittels eines
anderen briſanten Sprengkörpers, am beſten des Knallqueckſilbers, geführt
wird. Nur auf dieſe Weiſe iſt der Zerfall der ruhenden Moleküle zu
bewirken.


Die Schießwolle — wie überhaupt alle anderen briſanten Spreng-
körper, mit alleiniger Ausnahme des Knallqueckſilbers — iſt ein
Nitrierungsprodukt, d. h. das ſalpeterſaure Salz einer organiſchen Ver-
bindung, in dieſem Falle der Celluloſe, aus der ſich die Baumwolle
zuſammenſetzt. Nun iſt dem Chemiker bekannt, daß bei der Ein-
wirkung einer Säure auf eine Baſe — welche letztere in dieſem Falle die
Celluloſe vorſtellt — neben dem Salz auch Waſſer gebildet wird. Es
iſt dies von Wichtigkeit für die Herſtellung der Schießwolle. Beim
Zuſammentreffen von Salpeterſäure mit Celluloſe bilden ſich nämlich
nicht weniger als ſechs verſchiedene, durch ihren Gehalt an Salpeter-
ſäure von einander abweichende Verbindungen beider Subſtanzen, von
denen nur die ſäurereichſte, das Hexanitrat der Celluloſe, ausgiebig
exploſiv iſt. Da dieſes aber erfahrungsmäßig nur bei höchſter Kon-
zentration der angewendeten Salpeterſäure entſteht, ſo kommt es vor
allem darauf an, das ſich bei dem Prozeß bildende Waſſer zu beſeitigen.
Dies gelingt durch Zufügung von Schwefelſäure, welche das Waſſer
bindet. Trotzdem iſt es unmöglich, ganz reines Hexanitrat zu erhalten;
die beſte Schießwolle iſt immer nur ein Gemenge aller ſechs Nitrate und
deſto wirkſamer, je mehr Hexanitrat ſie enthält. Zur Beſtimmung der
Leiſtungsfähigkeit hat man zu unterſuchen, wie viel Stickſtoff die Schieß-
wolle enthält. Gute Schießbaumwolle enthält davon 12—13 %; die
theoretiſch richtige Menge von 14,14 %, welche dem reinen Celluloſe-
hexanitrat entſpricht, wird nie erreicht. Die Nitration muß bei
niedriger Temperatur erfolgen und ſchnell vor ſich gehen; im ent-
gegengeſetzten Falle bilden ſich ausſchließlich ſäureärmere Nitrate
der Celluloſe, die ſich durch ihre Löslichkeit in Ätheralkohol von dem
exploſiven Nitrat unterſcheiden; dieſe Löſung iſt unter dem Namen
Kollodium bekannt und findet umfaſſende Anwendung in der Heil-
kunde und Photographie. Sie hinterläßt beim Trocknen ein dünnes,
zähes Häutchen.


Die Fabrikation der Schießwolle beginnt mit der eingehenden
Reinigung der Baumwolle, welche völlig entfettet und durch Maſchinen
aufs feinſte zerkleinert wird. Sie wird dann in ein gut gekühltes Gemiſch
ſtärkſter Salpeterſäure und Schwefelſäure eingetaucht, nach wenigen
Minuten herausgezogen, gut ausgedrückt und in Töpfen 24 Stunden
ſich ſelbſt überlaſſen. Dann wird ſie in Centrifugen ausgeſchleudert,
ſchnell in einen großen Bottich mit kaltem Waſſer geworfen und ſorg-
[707]Das Schießpulver.
fältig, zuletzt unter Zuſatz einer geringen Menge Kreide, ausgewaſchen.
Nun bringt man ſie in Holländer (ſ. Papierfabrikation), in welchen
ſie zu einem feinen Brei zermahlen wird. Dieſer wird durch Centri-
fugen entwäſſert und unter großen hydrauliſchen Preſſen, welche einen
Druck bis zu 1000 Atmoſphären ausüben, zu prismatiſchen, papier-
machéartigen Körpern zuſammengepreßt. In dieſem Zuſtande ent-
halten die Prismen 15—16 % Waſſer, welches für gewöhnlich abſichtlich
nicht entfernt wird. Abel hat nämlich gefunden, daß die Schießwolle
gerade in dieſem Zuſtande ſehr ſtark wirkt; wenn man auf eine Ladung
aus feuchten Prismen ein lufttrocknes befeſtigt und dieſes letztere durch
eine Knallqueckſilberkapſel von 1 gr Ladung detoniert, ſo explodiert die
ganze Ladung mit der größten Gewalt. Ganz reine, feuchte Schieß-
wolle lagert unzerſetzt und brennt nur bei ſehr ſtarker Erhitzung ab;
die lufttrockene iſt allerdings feuergefährlich, aber beim Anzünden nicht
exploſiv. Die Exploſionsgaſe beſtehen im weſentlichen aus Kohlen-
oxyd, Kohlenſäure und Waſſerdampf. Daneben treten Grubengas, Stick-
ſtoff und Stickoxyd auf.


Die Schießwolle iſt in dem Zuſtande, wie ihn Abel kennen lehrte,
für den Verteidigungskrieg, beſonders zur See, unentbehrlich; man
kennt kein anderes ebenſo ungefährlich zu behandelndes und doch ſo
wirkſames Sprengmittel. Man benutzt ſie zur Füllung von unter-
ſeeiſchen Verteidigungs- und Angriffskörpern, auf deren Einrichtung
und Entwicklung deshalb an dieſer Stelle ein kurzer Blick geworfen
werden muß.


Unter dem Namen „Torpedo“ wurde — abgeſehen von wenig
belangreichen früheren vereinzelten Verſuchen — zuerſt in dem ameri-
kaniſchen Bürgerkriege der ſechziger Jahre eine Art ſubmariner Spreng-
körper angewendet. Man füllte größere Gefäße mit Pulver, verankerte
ſie an geeigneten Stellen und ſorgte dafür, daß ſie beim Antreffen an
ein Schiff explodieren mußten. Derartige Körper wurden auch noch
im Kriege von 1870 benutzt, bis Abels bahnbrechende Arbeiten über
die Schießwolle eine totale Umgeſtaltung bewirkten. Schon gegen die
Mitte der ſiebziger Jahre tauchte die Idee auf, die gewaltige Kraft
der mit Schießwolle geladenen Torpedos nicht nur zu Verteidungs-,
ſondern auch zu Angriffszwecken zu verwenden. Der Engländer
Whitehead war der erſte, welcher dieſen Gedanken verwirklichte. Seit-
dem bezieht man den Namen Torpedo nicht mehr auf ſämtliche
ſubmarine Sprengkörper; vielmehr unterſcheidet man ſcharf zwiſchen den
zur Verteidigung von Sperren dienenden Minen und den für Offenſiv-
zwecke berechneten Torpedos.


Die jetzt im Gebrauch befindlichen Minen ſind ziemlich dünne
eiſerne Gefäße von der Geſtalt eines umgekehrten Kegels mit gewölbter
Grundfläche. Die Sprengladung, aus naſſer Schießwolle beſtehend,
füllt die Höhlung der Mine aus und ſteht in naher Berührung mit
der Sprengbüchſe, welche die zur Detonierung der Ladung nötigen
45*
[708]Die Sprengſtoffe und ihre Verwendung.
trocknen Prismen und die Sprengkapſel enthält. Die letztere wird
elektriſch gezündet; zwei Leitungsdrähte ſind an ein winziges Stückchen
ſehr dünnen Platindraht gelötet, welches ſich im Satze der Spreng-
kapſel befindet und zu glühen beginnt, ſowie ein Strom durch die
Drähte cirkuliert. Den Strom liefert die Mine ſelbſt. Auf ihrer
oberen, ſchwach gewölbten Fläche trägt ſie fünf cylindriſche Bleikapſeln,
deren jede ein mit Chromſäure gefülltes zugeſchmolzenes Glas um-
ſchließt; dicht unter jedem Glaſe liegt ein kleines Zinkkohleelement ohne
Flüſſigkeit, deſſen Pole mit den Drähten der Sprengkapſel verbunden
ſind. Stößt nun irgend ein Körper gegen die Bleikapſel, ſo zerbricht
das darin liegende Glas, die Chromſäure läuft in das Element und
der entſtehende Strom bewirkt das Glühen des Platindrahts und damit
die Sprengung der Mine. Um beim Auslegen einer Mine gegen das
immerhin mögliche Auffliegen geſichert zu ſein, ſchaltet man in
die Leitung ein Sicherheitskabel von einiger Länge ein; der Strom
muß dann noch die innere und äußere Belegung des Kabels durch-
laufen, um zu wirken. Man hält daher beide Belegungen am Ende
des Kabels ſorgfältig getrennt und vereinigt ſie erſt, nachdem man
ſich in genügender Entfernung von der Mine befindet. Die Minen-
ſperren ſind ſehr wirkſame Hafenverteidigungen, die der Feind nur
durch Auswerfen von Contreminen beſeitigen kann. Sprengt er eine
ſolche nämlich in der Nähe der Minen, ſo können durch die Erſchütterung
die letzteren mit auffliegen und dadurch unſchädlich werden. Man hat
die Sperren auch mit willkürlich von einem Punkte aus zu dirigierender
Zündung verſehen, welche man in dem Momente in Thätigkeit treten
läßt, wo ſich ein feindliches Schiff über der Mine befindet.


Der Whiteheadſche Torpedo, ſchon von Anfang an ein Muſter-
beiſpiel maſchineller Konſtruktion, hat in den letzten 15 Jahren noch
erhebliche Verbeſſerungen erhalten und kann jetzt als ein höchſt voll-
kommenes Inſtrument der modernen Kriegführung angeſehen werden.
Der runde, geſtreckte, etwa 4½ m lange, an der dickſten Stelle etwa
m im Durchmeſſer haltende hohle Körper beſteht aus Bronze und
ſpitzt ſich nach vorne und hinten zu. Die vordere Spitze trägt die
Perkuſſionszündung, welche der einer Granate ähnelt; darauf folgt die
Sprengladung, welche urſprünglich aus 20 bis 30 kg Schießwolle beſtand,
neuerdings aber vermehrt worden iſt. Der nächſte hohle cylindriſche
Teil birgt den geheimnisvollſten Apparat des Ganzen, eine Pendel-
vorrichtung, welche geſtattet, den Torpedo vor dem Ablaufen auf eine
beſtimmte, zwiſchen 1 und 3 m ſchwankende Tiefenlage einzuſtellen,
welche zugleich ſeinen Lauf im Waſſer ſtets horizontal erhält oder,
wenn er die horizontale Richtung aus irgend einem Grunde verläßt,
ihn zwingt, in dieſe zurückzukehren. Das Mittel hierzu ſind zwei beweg-
liche, im Schwanzſtück liegende Floſſen, welche herausſpringen oder
wagerecht liegen, je nachdem der Tiefenapparat eingreift oder nicht.
Auf den letzteren folgt nach hinten der ziemlich 1½ m lange Keſſel,
[709]Das Schießpulver.
welcher die mittelſt einer beſonderen Luftpumpe bis auf 90 Atmoſphären
komprimierte, zur Bewegung der Maſchine notwendige Preßluft enthält.
Die Maſchine liegt hinter dem Keſſel; ſie bewegt eine horizontale, bis
in das Schwanzſtück reichende Welle, deren Drehung ſich auf ein Paar
dicht hintereinander liegender, in entgegengeſetzter Richtung rotierender,
aber auch entgegengeſetzt gewundener und daher in demſelben Sinne
wirkender Schraubenpropeller überträgt. Der Torpedo wird in der
Regel aus Metallkanonen vermittelſt komprimierter Luft in ſchräger
Richtung in das Waſſer geſtoßen; erſt beim Austritt ſpringt die Maſchine
an, deren Bewegung den Torpedo mit einer Geſchwindigkeit von etwa
15 m in der Sekunde bis auf 500 m zu treiben vermag. Stößt er
nun gegen eine Schiffswand, ſo erfolgt die Exploſion; verfehlt er ſein
Ziel, was bei der großen Sicherheit, mit der man ihn abzuſchießen
verſteht, nur ſelten vorkommen dürfte, ſo öffnet ſich, nachdem er ſeinen
Lauf beendet hat, ein Bodenventil; er füllt ſich mit Waſſer und verſinkt,
damit er nicht den eignen Fahrzeugen ſchaden kann. Man ſchießt die
Torpedos direkt von den großen Schlachtſchiffen, viel häufiger aber
von ſogenannten Torpedobooten, welche ſich, durch geringes Hervor-
ragen über Waſſer und dunkle Farbe gedeckt, an die Geſchwader
heranzuſchleichen vermögen. Die letzteren verſuchen ſich ihrerſeits durch
Ausſtellen von metallenen Schutznetzen zu ſichern, durch welche der
Torpedo im gegebenen Falle ſchon in einer ſo großen Entfernung von
der Schiffswand explodiert, daß ſeine Wirkung nicht zum Schlagen
eines Lecks genügt. Es iſt gewiß bemerkenswert, daß man den Torpedo
15 Jahre hindurch kannte, ohne eine Probe von ſeiner Wirkung im
Ernſtfalle zu haben; erſt der neueſte chileniſche Krieg von 1891 hat
eine ſolche geliefert, indem ein Schiff der Kongreßpartei durch einen
wohlgezielten Torpedo getroffen und vernichtet wurde. (Vergl. elektriſcher
Torpedo S. 226.)


Die furchtbare Kraftleiſtung der komprimierten Schießwolle läßt
dieſe von vornherein für Schießzwecke untauglich erſcheinen; trotzdem
hat es ſeit ihrer Entdeckung nicht an Verſuchen gefehlt, um ſie als
Pulver zu verwenden. Man vermiſchte ſie bei der Fabrikation mit
indifferenten Subſtanzen und mäßigte hierdurch ihre Wirkung; in-
deſſen gelang es auf dieſem Wege nicht, ein gleichmäßig wirkendes
Pulver, wie es für Kriegszwecke nötig geweſen wäre, zu erhalten. Als
aber im Jahre 1886 die franzöſiſche Regierung mit der Einführung
des Lebelgewehres plötzlich von dem früheren Kaliber von 11 mm auf
8 mm herabging, war es nötig, den Mangel, welcher ſich aus der
Verminderung des Geſchoßgewichts von 25 g auf 14 g ergab, durch
erhebliche Erhöhung der Anfangsgeſchwindigkeit auszugleichen. Man
führte ein neues Pulver, das „Poudre B.“ ein, welches aller Wahr-
ſcheinlichkeit nach, d. h. ſo weit man dem Geheimnis auf die Spur
kommen konnte, aus einer Miſchung von Pikrinſäure und Schießbaum-
wolle beſtand. Auch die Pikrinſäure iſt eine Nitroverbindung, nämlich
[710]Die Sprengſtoffe und ihre Verwendung.
dreifach nitriertes Phenol, und wirkt höchſt exploſiv. Das Poudre B.
erregte die Sprengtechniker aller Länder auf das Lebhafteſte; und der
Umſtand, daß es ſich beim Lagern nicht unzerſetzt halten ſollte, be-
wirkte, daß man alle nur möglichen Anſtrengungen machte, um die
Schießwolle allein zu Pulver zu verarbeiten. Dieſe Aufgabe kann
heute als vollkommen gelöſt gelten. Nachdem ſchon 1870 die Ameri-
kaner Gebrüder Hyatt durch Auflöſen ſchwach nitrierter Baumwolle in
geſchmolzenem Kampher eine gelatinöſe, nach dem Trocknen elaſtiſche
Subſtanz dargeſtellt hatten und hierdurch die Erfinder des zur Her-
ſtellung aller möglichen Imitationen dienenden Celluloids geworden
waren, gelang es nun, auch die Schießwolle mittels verſchiedener
Löſungsmittel, wie Aceton, Eſſigäther und anderer, zu „gelatinieren“.
Sie quillt in dieſen Mitteln, ohne ſich eigentlich zu löſen, auf und geht
in eine gallertartige Maſſe über, welche nach Entfernung des Löſungs-
mittels plaſtiſch genug iſt, um ſie in Tafeln auswalzen und dann in
kleine viereckige, nach dem völligen Trocknen hornartig erſcheinende
Blättchen zerſchneiden zu können. Es iſt leicht begreiflich, daß man
es völlig in der Hand hat, durch Zuſatz von indifferenten Körpern,
beſonders von Kampher, die Wirkung dieſes neuen rauchloſen Pulvers
ganz nach Belieben zu verkleinern und den Waffen, für welche es beſtimmt
iſt, anzupaſſen.


Es war natürlich, daß dieſe Waffen, nachdem die Anfangsgeſchwin-
digkeit des Geſchoſſes um das Doppelte erhöht war, gegen die früheren
Änderungen erleiden mußten. Während das deutſche Magazingewehr
84 gegen das Mauſergewehr 71 — abgeſehen von der Magazin-
einrichtung — eigentlich nichts Neues bot, muß das neue deutſche
Gewehr 88 als eine vollſtändig neue Waffe angeſehen werden, deren
Schilderung in wenigen Zügen hier folgen möge, weil wir ſie als die
vollkommenſte Leiſtung auf dem Gebiete der Handfeuerwaffen betrachten
können.


Die Waffe (Fig. 396 u. 397) hat ein Kaliber von 7,9 mm und vier
Züge, die ſchon auf je 240 mm Lauflänge eine Umdrehung vollenden.
Der Lauf iſt, um ihm Freiheit zur Ausdehnung durch die unvermeid-
liche Erwärmung zu geſtatten, von dem ſtählernen Laufmantel loſe
umgeben und nur am vorderſten Ende eng umſchloſſen. Die zwiſchen-
liegende Luftſchicht vermindert auch die Verbreitung der Wärme des
Laufes nach außen zu. Der Verſchluß am hinteren offenen Laufende e
wird, ähnlich wie ſchon bei dem alten Zündnadelgewehr, durch die
Kammer k gebildet, welche ſich zurückziehen läßt (Fig. 396). Der
Patronenrahmen p, welcher das frühere Magazin vertritt, faßt fünf
Patronen; er beſteht aus dünnem Stahlblech und wird durch den
federnden, an der unterſten Patrone angreifenden Zubringer z ſtetig
nach oben gedrückt, zugleich aber durch den Rahmenhalter g, deſſen
Kralle in einen Haft des Rahmens greift, an der Bewegung nach oben
gehindert. Nachdem die Kammer zurückgezogen iſt, befindet ſich das
[711]Das Schießpulver.
Schloß in der in Fig. 396 dargeſtellten Lage. Stößt man nun die Kammer
mit dem geſpannten Schloß nach vorn, ſo faßt der Verſchlußkopf v den
Kopf der oberſten Patrone und ſchiebt ſie nach vorn in das Patronen-
lager c, worauf durch Herunterdrücken des Kammerknopfes nach rechts der
völlige Schluß der Kammer bewirkt wird. Zugleich ſind die vier

Figure 387. Fig. 396.

Deutſches Gewehr 88, vor dem Schließen der Kammer.


Figure 388. Fig. 397.

Deutſches Gewehr 88, abgeſchoſſen.


übrigen Patronen durch den Zubringer um eine Patronendicke in die
Höhe geſchoben worden. Nun folgt das Abfeuern, indem durch Zurück-
ziehen des Abzuges der Schlagbolzen mit ſeiner Spitze auf das, am
hinteren Ende der Patrone liegende Zündhütchen geſchleudert wird.
Die Lage der Schloßteile in dieſem Augenblick zeigt Fig. 397. Wird nun
[712]Die Sprengſtoffe und ihre Verwendung
der Kammerknopf wieder nach oben gerichtet und die Kammer zurückgezogen,
ſo faßt die Kralle des in dem Lager i (Fig. 398) liegenden, hier nicht
abgebildeten Ausziehers den Vorſprung der leeren Patronenhülſe und
zieht ſie aus dem Patronenlager zurück, bis beim völligen Zurückziehen
der Kammer der Knopf l des Auswerfers nach vorn geſtoßen wird

Figure 389. Fig. 398.

Verſchlußkopf.


und die Hülſe nach rechts herausſchleudert.
Nun iſt das Gewehr zum nächſten Laden
fertig. Nachdem die unterſte der fünf Pa-
tronen verſchoſſen iſt, fällt der leere Rahmen,
der nun keinen Halt mehr nach unten hat,
aus dem Kaſten des Gewehrs heraus und
wird durch einen vollen erſetzt. Dieſen
ſetzt man bei geöffneter Kammer von oben ein, während man den
Rahmenhalter g durch einen Druck auf deſſen Druckſtück f zurückbiegt.
Die Patrone enthält vorn das 32 mm lange Geſchoß aus Hartblei,
welches von einem nickelplattierten Stahlmantel umgeben iſt, dahinter,
durch ein Pappblättchen geſondert, die Ladung von 2,75 g neuem
Blättchenpulver und ſchließt mit dem Zündhütchen. Das Geſchoß wiegt
14,5 g, die ganze Patrone, bei einer Länge von 82,5 mm, 27,3 g, ein
gefüllter Rahmen 154 g, die Kriegsausrüſtung von 150 Patronen etwa
5 kg. Das Gewicht des Gewehres beträgt nur 3,8 kg.


Das Knallqueckſilber.


Dieſer Sprengſtoff hat nur inſofern eine Bedeutung, als er als
Detonierungsmittel für die briſanten Sprengſtoffe und als Zündmaſſe
für viele Kriegszwecke unentbehrlich iſt. Er muß als die Queckſilber-
verbindung eines komplizierten organiſchen Körpers, des Nitroaceto-
nitrils, betrachtet werden. Im feuchten Zuſtande ſogar durch ſtarken
Druck nicht zerſetzbar, explodiert er, getrocknet, ſchon durch gelinden
Stoß mit furchtbarer Gewalt. Es wurde 1799 von Howard entdeckt.
Kekulé wies ſeine chemiſche Konſtitution nach.


Man ſtellt Knallqueckſilber dar, indem man zu einer Auflöſung
von Queckſilber in Salpeterſäure Alkohol hinzufügt. Es erfolgt eine
ſehr heftige Reaktion, durch welche viele Dämpfe entwickelt werden.
Nach dem Erkalten ſcheidet ſich ein ſeidenglänzender, kryſtalliniſcher
Niederſchlag von Knallqueckſilber ab, welcher durch Abgießen getrennt
und ausgewaſchen wird. Im feuchten Zuſtande wird er mit chlor-
ſaurem Kalium oder Salpeter gemiſcht und direkt in die kupfernen
Zündkapſeln eingepreßt, welche man dann ſehr vorſichtig trocknet.
Während die fertigen Zündhütchen für Gewehre bekanntlich nur ſehr
geringe Dimenſion und Ladung haben, ſtellt man für Sprengzwecke
ſolche bis zu 10 cm Länge und 2 g Ladung her.


[713]Das Knallqueckſilber. — Das Nitroglycerin.

Das Nitroglycerin.


Dieſer kräftigſte aller bisher bekannt gewordenen Sprengkörper
wurde von Sobrero in Pelouzes Laboratorium in Paris im Jahre 1847
entdeckt. Die neue Subſtanz fand lange Zeit gar keine Beachtung,
vielleicht, weil ihre gefährlichen Eigenſchaften vor einer fabrikmäßigen
Herſtellung zurückſchreckten. Erſt 1863 wurde der Verſuch von dem
Schweden Alfred Nobel gewagt und glücklich zu Ende geführt. Das
Nitroglycerin wurde unter dem Namen „Nobels Sprengöl“ ſchnell
bekannt und fand beſonders im Bergbau umfaſſende Anwendung. Da
explodierte 1864 Nobels eigene Fabrik in Stockholm; eine ganze An-
zahl furchtbarer Unglücksfälle gleicher Art in den verſchiedenſten Welt-
gegenden folgte nach, ſo daß ſchnell die günſtige Aufnahme, die man
dem Sprengöl bisher bereitet hatte, in das Gegenteil umſchlug. Nobels
großes Verdienſt beſtand nun darin, daß er trotz der ungünſtigen Ver-
hältniſſe ſein Ziel mutig weiter verfolgte. Er wies zunächſt durch
unwiderlegbare Verſuche nach, daß die ſtattgefundenen Exploſionen
allein grenzenloſem Leichtſinn zuzuſchreiben ſeien; dann aber gelang
es ihm, in der Infuſorienerde, dem Kieſelgur, einen Körper zu ent-
decken, welcher das Sprengöl mit Leichtigkeit aufſaugt und hierbei eine
leicht und verhältnismäßig gefahrlos zu behandelnde und doch ſehr
ſprengkräftige Maſſe, das Dynamit, ergiebt. Zugleich zeigte er, daß
man mittels eines Zündhütchens das Dynamit leicht und gefahrlos
zur Detonation bringen kann. 1866 wurde Dynamit zum erſtenmale
zum Sprengen verwendet; ſeitdem iſt es in der Technik das beliebteſte
Sprengmittel geworden, welches in vielerlei Formen und Miſchungen
gebraucht wird und das Pulver gänzlich verdrängt hat.


Das Nitroglycerin, oder wie man es richtiger nennen ſollte, das
ſalpeterſaure Glycerin, iſt eine der Schießwolle durchaus analoge Ver-
bindung, welche in ähnlicher Weiſe, wie dieſe, gewonnen wird. Zur
Fabrikation nach dem heute als das beſte anerkannte Verfahren des
Amerikaners Mowbray benutzt man Glycerin, welches durch Zerlegung
der Fette mittels überhitzter Waſſerdämpfe gewonnen und nachträglich
raffiniert wird. Es muß abſolut farb- und geruchlos ſein und völlig
reinen, ſüßen Geſchmack beſitzen; ebenſo muß es ganz frei von Waſſer
ſein. Man läßt das Glycerin ſehr langſam in Steinkrüge einfließen,
welche ein kaltes Gemiſch von zwei Volumen Schwefelſäure und einem
Volum Salpeterſäure enthalten und in mit einer Kältemiſchung aus
Eis und Kochſalz gefüllten hölzernen Bottichen ſtehen. Durch be-
ſondere Röhren wird in jeden Krug ein kalter Luftſtrom geleitet und
hierdurch eine innige Mengung bewirkt; vor allem wird hierdurch
jede Spur von ſalpetriger Säure entfernt, welche nachgewieſenermaßen
gerade zu Exploſionen Anlaß giebt. Die Arbeiter müſſen die Tem-
peratur während der Zerſetzung genau überwachen und hindern den
Glycerinzufluß, ſowie ſich Erwärmung bemerkbar macht. Nach andert-
[714]Die Sprengſtoffe und ihre Verwendung.
halb Stunden etwa werden alle Krüge in eine große Kufe mit Waſſer
entleert; das Öl ſinkt zu Boden, wird abgezogen und in ſchwingenden
Bottichen zuerſt mit Waſſer, endlich mit Sodalöſung ſorgfältig ge-
waſchen. Dann ſchafft man es in Krüge, in denen es drei Tage ver-
bleibt; während dieſer Zeit ſteigen alle Verunreinigungen an die Ober-
fläche und werden abgeſchöpft. Das ſo gewonnene reine Sprengöl iſt
farblos, giftig, durch Entzündung brennbar; bei raſcher Erhitzung,
ſowie durch Schlag und Stoß [explodiert] es mit furchtbarer Gewalt.
Es gefriert ſchon bei 8° C. und iſt in dieſem Zuſtande vollkommen un-
gefährlich, ſo daß man es gefroren verſenden kann, vorausgeſetzt
natürlich, daß man ein ganz reines Produkt hat. Zum Auftauen
verwendet man Waſſer von etwa 30° C., mit welchem man die Verſand-
gefäße, in der Regel Blechkannen, umgiebt; jede andere Art bringt die
größten Gefahren mit ſich und iſt in der Regel die Veranlaſſung zu den
vielen ſchon vorgekommenen Unglücksfällen geweſen. Kurtz in Köln hat
ein Verfahren angegeben, welches ebenſo gutes Sprengöl erzielt, wie das
Mowbrayſche, ſo daß heute die deutſche Fabrikation auch in dieſer Be-
ziehung auf der Höhe der Situation ſteht. Unreines Sprengöl iſt ein
höchſt gefährlicher Körper, weil es leicht Zerſetzungen unterliegt, in deren
Gefolge Exploſionen auftreten können. Die Exploſionsgaſe beſtehen aus
Kohlenſäure, Waſſerdampf, Stickſtoff und Sauerſtoff; die Kraft der Ex-
ploſion iſt 13mal ſo ſtark, wie die eines gleichen Volums Pulver und
mehr als doppelt ſo ſtark wie die eines gleichen Gewichts Schießwolle.


Man benutzt das Nitroglycerin, deſſen Transport in Deutſchland
ganz verboten iſt, gar nicht mehr zu Sprengzwecken, ſeitdem man es
durch das weit ungefährlichere Dynamit erſetzt hat. Die letztere Be-
zeichnung erſtreckt ſich aber im allgemeinen nicht auf einen beſtimmten
Sprengſtoff, ſondern auf eine ganze Gruppe ſolcher, welche durch Auf-
ſaugung von Nitroglycerin vermittelſt aller möglichen anderen Stoffe
erhalten werden. Der Aufſaugeſtoff iſt entweder indifferent, wie beim
gewöhnlichen Kieſelgurdynamit, oder er beſteht ſelbſt aus einem
Sprengſtoff. Hieraus ergeben ſich eine große Menge neuer Spreng-
ſtoffe, von denen hier nur die wichtigſten erwähnt werden können.
Das gewöhnliche Kieſelgurdynamit wird durch Mengen mit der Hand
hergeſtellt, obgleich die Geſundheit der Arbeiter dabei leidet. Die
weißen Quarzſandlager der Lüneburger Heide werden ſeit einigen
Jahren für die Dynamitfabrikation ausgebeutet. Die gewöhnlichen
Dynamitpatronen haben 3—10 cm Länge bei 2 cm Dicke; die Zündung
geſchieht mittelſt einer Sprengkapſel und Zündſchnur, der Gehalt an
Nitroglycerin beträgt 75 %. Durch Feuer explodiert Dynamit nicht,
wohl aber durch ſehr harte Stöße. Unter 8° C. wird es hart und
muß unter denſelben Vorſichtsmaßregeln wie Nitroglycerin aufgetaut
werden. Man kennt kein Sprengmittel, welches in der Technik in ſolchem
Umfange angewendet wird; ja auch bei dem Minenkriege zu Lande
braucht man es häufiger, als Schießwolle.


[715]Das Nitroglycerin. — Die Pikrinſäurepräparate.

Die Nitroglycerinpräparate mit chemiſch wirkſamem Aufſaugeſtoff ſind
ſehr zahlreich. Die unter den Namen Lithofrakteur, Dualin, Lignoſe,
Celluloſedynamit, Gelatinedynamit, Sprenggelatine bekannten Subſtanzen
gehören hierher. Das wichtigſte und kräftigſte Mittel unter ihnen iſt
die Sprenggelatine, dadurch erhalten, daß man Schießwolle mit Nitro-
glycerin gelatiniert. Es iſt eine gummiartige Maſſe, welche das Nitro-
glycerin auch unter dem ſtärkſten Druck nicht frei giebt. Nobel hat
dieſen Sprengſtoff in regelmäßig geformte Stücke zerſchnitten und als
Kanonenpulver verwendet. Genau ſo, wie bei dem neuen Gewehr-
pulver, iſt man durch Beimiſchung indifferenter Subſtanzen imſtande,
die Kraftleiſtung dieſes Pulvers nach Belieben zu regulieren. Es wird
hierdurch auch fähig, zur Füllung von Granaten zu dienen und hält
den Stoß beim Abfeuern aus, ohne zu explodieren.


Die Pikrinſäurepräparate.


Gerade ſo, wie man durch Nitrierung der Celluloſe die Schieß-
wolle, des Glycerins das Nitroglycerin erhält, entſteht durch Behandeln
von Phenol (Karbolſäure) mit ſtarker Salpeterſäure ein Sprengſtoff,
welcher als Trinitrophenol oder Pikrinſäure bezeichnet wird. Bereits
im Jahre 1771 durch Behandeln von Indigo mit Salpeterſäure ge-
wonnen, wurde ſie zuerſt von Laurent nach dem oben angegebenen
Verfahren aus Phenol dargeſtellt. Die Pikrinſäure kriſtalliſiert in gold-
gelben Blättchen, welche Stoffe ſchön gelb färben, bei 117° ſchmelzen
und bei raſcher Erhitzung ſehr heftig explodieren. Noch viel exploſiver
ſind ihre Verbindungen mit Metallen, die pikrinſauren Salze. Im
Jahre 1869 flog durch Exploſion von Kaliumpikrat ein ganzes Häuſer-
viertel in Paris in die Luft, und dieſes Unglück ſchreckte die Techniker
eine Zeitlang vor weiteren Verſuchen zurück. Trotzdem verſuchte man
wiederholt die Pikrinſäureverbindungen zu Kriegszwecken, beſonders zu
Granatfüllungen zu verwenden. Das ſchon oben erwähnte Poudre B.
des Lebelgewehrs iſt ein neueres Produkt ſolcher Beſtrebungen; hierher
gehört auch das Melinit, welches durch die vielen Reklamen, welche
für dieſen Sprengſtoff gemacht wurden, ſowie in neueſter Zeit durch
den Turpinprozeß viel von ſich reden machte. Da die reine Pikrin-
ſäure weniger leicht explodiert, als ihre Salze, und, wie wiederum Nobel
nachwies, ſelbſt bei einem Waſſergehalt von 15 % durch einen kräftigen
Initialſtoß noch detoniert werden kann, ſo lenkte ſich die Aufmerkſamkeit
am meiſten auf ſie. Trotzdem die Rolle des Melinits, als eines Spreng-
ſtoffes von ſehr zweifelhafter Haltbarkeit, ausgeſpielt ſein dürfte, ſo iſt es
doch zweifellos, daß die meiſten europäiſchen Staaten die Verſuche, ihre
Hohlgeſchoſſe mit Pikratpulvern zu füllen, nicht nur nicht aufgegeben,
ſondern zum Teil zu einem erfolgreichen Ende geführt haben. Indeſſen
dürften, gerade ſo wie bei den neuen Waffen, welche wir oben ſchilderten,
erſt künftige Kriege und länger andauernde Einführung über die Brauch-
barkeit dieſer neuen Sprengmittel entſcheiden.


[[716]]

VII. Das Verkehrsweſen.


Allgemeines.


Das Bedürfnis der Menſchheit nach Verkehr unter einander iſt
ſo alt, wie die Geſchichte des menſchlichen Geſchlechtes. Mit der Zunahme
des Verkehres und der Bildung wuchs auch das Streben, jenen ſo
leicht und ſo bequem als nur irgend möglich zu geſtalten. Das
Produkt dieſes durch die lange Reihe der Jahrhunderte erfolgreich
fortgeſetzten Strebens iſt das Verkehrsweſen von heute, der Stolz der
jetzigen Generation, das charakteriſtiſche Kennzeichen des neunzehnten
Jahrhunderts.


Je nach der Art des gewählten Verkehrsweges haben wir zu
unterſcheiden:



Was den Verkehr zu Lande betrifft, ſo vollzog ſich derſelbe
zunächſt zu Fuße auf mehr oder weniger geebnetem Pfade. Alsbald
wurde die Kraft der Tiere dem Verkehrsbedürfniſſe nutzbar gemacht,
und zum Tragen und Ziehen von Perſonen und Laſten herangezogen.
Dieſe Art des Verkehrs entwickelte ſich im Laufe der Zeit zu immer
größerer Vollkommenheit, bis die Kraft der Zugtiere in weitgehendem
Maße durch die Kraft des geſpannten Waſſerdampfes erſetzt wurde.
Hiermit vollzog ſich ein das Verkehrsweſen von Grund aus umwälzender
Umſchwung. Es währte nicht lange, ſo war der geſamte über größere
Entfernungen ſich erſtreckende Verkehr auf die Eiſenbahnen übergegangen.
Wir haben demnach zunächſt uns mit den Straßen und Wegen,
ſowie deren Fahrzeugen und hierauf mit den Eiſenbahnen und deren
Betriebsmitteln zu befaſſen.


Jedoch auch der auf den gewöhnlichen Straßen und Wegen ſich
vollziehende Verkehr geſchieht nicht allein durch Zugtiere. Wir haben
hier vielmehr als beſondere Art der Verkehrsmittel zunächſt die
[717]Allgemeines. — Der Bau von Straßen und Wegen.
Motorenwagen zu betrachten, d. h. Wagen, welche ihren Antrieb
durch irgend eine motoriſche Kraft, Dampf oder Gas, erhalten. Als
letzte und neueſte Gattung der Straßenfuhrwerke folgen ſodann die
Draiſinen oder Velocipeden.


Bei den Eiſenbahnen haben wir zu unterſcheiden, ob der Betrieb
auf gewöhnlichen glatten Schienen oder unter Zuhilfenahme der
Zahnſtange erfolgt. Als beſondere Art des Betriebes iſt ſodann
noch der pneumatiſche des näheren zu betrachten und zwar beſonders
um deswillen, weil aus demſelben ſich die für unſer modernes Verkehrs-
weſen ſo ſehr wichtige Rohrpoſt entwickelt hat.


Was den Verkehr zu Waſſer betrifft, ſo erfolgt derſelbe entweder
auf den natürlichen Waſſerflächen, den Meeren, Seeen und Flüſſen,
oder auf den künſtlichen Waſſerſtraßen der Kanäle. Auch hier voll-
zog ſich durch die Einführung der Dampfkraft derſelbe Umſchwung des
Verkehrsweſens wie zu Lande; an Stelle der urſprünglichen Ruder-
und Segelſchiffe trat alsbald in weitgehendſtem Maße das Dampf-
ſchiff
.


Was ſchließlich die jüngſte Art des Verkehrs, die Luftſchiffahrt
betrifft, ſo nimmt dieſe gegenwärtig noch die bei weitem niedrigſte Stellung
ein und hat mit dem Mißtrauen der überwiegenden Mehrzahl der
Bevölkerung zu kämpfen. Bei der Behandlung des ihr gewidmeten
Abſchnittes werden wir von den zahlreichen problematiſchen Vorſchlägen
völlig Abſtand nehmen und uns nur mit erfolgreichen, bewährten
Einrichtungen befaſſen.


1. Der Verkehr zu Lande.


a) Straßen, Wege und ihre Fahrzeuge.


1. Der Bau von Straßen und Wegen.

Läßt man den Blick rückwärts ſchweifen in die älteſten Zeiten des
beginnenden Verkehrs der Menſchen und Völker untereinander, ſo iſt
hier ein beſtimmter Abſchnitt, welchen man als den Anfang des
Straßen- und Wegebaues bezeichnen könnte, nicht zu erkennen und
feſtzulegen. Weder der erſte Erbauer der Straßen und Wege, noch
der Erfinder des Wagens iſt uns durch die geſchichtliche Tradition
überliefert worden. Zwar wird von der Königin Semiramis berichtet,
daß das Innere ihres weiten Reiches durch ein Syſtem von plan-
mäßig angeordneten Straßen durchzogen geweſen ſei, wohl rühmt man
dem Könige Salomo nach, daß er ſein Land durch den Bau von
[718]Der Verkehr zu Lande.
Straßennetzen erſchloſſen habe, auch von den Chineſen, den Perſern
und den Phöniziern wird ähnliches berichtet, eine genaue Angabe über
die Technik dieſer älteſten Straßenbauten fehlt jedoch; eine ſolche finden
wir zuerſt bei den Griechen, und bei dieſen beginnt daher unſere Kenntnis
von der Wegebaukunſt der Alten.


In Hellas waren es die die Tempel und heiligen Ortſchaften
untereinander und mit der Küſte in Verbindung ſetzenden heiligen
Straßen
, welche uns zuerſt das Bild einer Kunſtſtraße darbieten.
Was dieſe heiligen Straßen uns ſo außerordentlich intereſſant erſcheinen
läßt, das iſt der Umſtand, daß in ihnen uns das Urbild unſerer
modernen Spurbahnen, der Straßen- und der Eiſenbahnen, aus dem
Dunkel der Anfänge der Geſchichtsſchreibung entgegen tritt. Um
nämlich den Widerſtand des auf der Erdoberfläche dahin bewegten
Fahrzeuges auf das Äußerſte zu beſchränken, legten ſchon die Griechen
für jedes Wagenrad ein beſonderes Gleis, eine beſondere Fahrbahn
an, welche entweder in den Fels eingearbeitet oder in dem lockeren
Erdreiche durch Pflaſterung wohl befeſtigt wurde; die hierbei zur An-
wendung kommende Spurweite betrug durchgängig etwa 1,625 Meter.
Im Laufe der folgenden Jahrhunderte faſt völlig in Vergeſſenheit ge-
raten, ſollte dieſe alte Bauart der Hellenen erſt wieder gegen Ende
des vorigen und im Laufe des jetzigen Jahrhunderts in unſeren
Eiſen- und Pferdebahnen von neuem zu Ehren und zu weitgehendſter
Anwendung kommen.


Wie Curtius in ſeiner klaſſiſchen Abhandlung „Geſchichte des Wege-
baues bei den Griechen“ mitteilt, unterſchied man beſtimmt zwiſchen
der im loſen Erdreiche ſich bildenden Fahrſpur, der ἁρματροχία und
dem künſtlich angelegten, durch Pflaſterung befeſtigten Gleiſe, dem ἴχνος.
So wurden die Wagen in feſt vorgeſchriebener Bahn dahingezogen.
Begegneten ſich zwei Fuhrwerke, ſo machte dieſes erheblich mehr
Schwierigkeiten, als bei den jetzigen glatten Fahrſtraßen, da die Räder
die tiefen Gleiſe verlaſſen und eine gewiſſe Wegeslänge auf weichem,
unbefeſtigtem Boden zurücklegen mußten. Auch dieſem Umſtande hat
man bereits bei den heiligen Straßen Griechenlands Rechnung getragen,
indem in gewiſſen Abſtänden ſogenannte ἓκτροπαι, d. h. Ausweichungen
angeordnet waren, welche im Bogen nach rechts und links abzweigten
und ſo die ſich begegnenden Fuhrwerke aneinander vorüberführten.
Wem fällt hier nicht das Geſchick des Ödipus ein, der in einem wegen
des Ausweichens auf offener Heerſtraße entbrannten Streite zum Mörder
des Vaters wurde? — Auch dieſe altgriechiſchen ἓκτροπαι treten uns
in den Weichen unſerer Eiſenbahnen in moderner Umgeſtaltung wiederum
entgegen.


Das Verdienſt, den Wegebau der weiteren und durchgreifenden
Vervollkommnung entgegengeführt zu haben, gebührt den Römern.
In richtiger Erkenntnis der hohen Wichtigkeit guter Straßen für die
Beherrſchung der von ihnen eroberten gewaltigen Ländermaſſen, ließen
[719]Der Bau von Straßen und Wegen.
ſich die Römer es ſchon von den erſten Zeiten ihrer Herrſchaft ab
angelegen ſein, überall da, wo ſie feſten Fuß gefaßt hatten, ein plan-
mäßig projektirtes und durchgearbeitetes Netz wohl befeſtigter Straßen
zu erbauen. In erſter Linie hatten ſie hierbei den Zweck im Auge,
daß ihre Legionen in möglichſter Schnelle von ihren Standorten in
die entfernteſten Gegenden des Reiches gelangen konnten.


Es entſtand ſo im Laufe der Jahre die einen eigenartigen Typus
bildende Römerſtraße; noch heute gilt dieſelbe als das Vorbild
einer muſtergiltigen Ausführung von Wegebauten. Eine ſolche Römer-
ſtraße erforderte ein erhebliches Maß von Arbeit und Sorgfalt; ihre
Ausführung beſchäftigte lange Zeit hindurch die Kräfte der die Beſatzung
der eroberten Länder bildenden Legionen. Noch heute erregen die zahl-
reichen Überbleibſel dieſer alten Kunſtſtraßen die Bewunderung der
Fachleute wegen der Dauerhaftigkeit und Sorgfalt ihrer Ausführung.
Das bei dem Bau der Römerſtraße befolgte Verfahren war folgendes:
Nachdem das Erdreich in der Breite der zu erbauenden Straße ſo
tief ausgehoben war, bis man einen hinreichend feſten und widerſtands-
fähigen Untergrund gefunden hatte, wurden auf dem Boden des ſo
gebildeten flachen Grabens zunächſt ein bis drei Schichten kleiner
Steine verlegt und dieſe dann mit feuchtem Sande überſchüttet.
Erforderlichen Falles wurde die Zahl der auf dem Boden verlegten
Steinſchichten noch vermehrt. Die eben erwähnte Sandſchicht wurde
auf das ſorgfältigſte feſtgeſtampft und in dieſe nun das eigentliche
Pflaſter eingelegt. Letzteres beſtand aus rohen oder aus bearbeiteten
Steinen, welche in gehörigem Verbande neben einander verlegt wurden,
oft ſogar noch unter Hinzufügung eines beſonderen Bindemittels. Die
Römerſtraße unterſchied ſich alſo von der heiligen Straße der Griechen
weſentlich dadurch, daß ſie keine Gleiſe oder Rinnen für die Wagen-
räder beſaß, ſondern nur eine einzige, ſtark gepflaſterte Oberfläche hatte,
auf welcher die Wagen frei und ohne Umſtände einander aus-
weichen konnten. Zu den beiden Seiten dieſes Fahrweges zogen ſich
dann erhöhte Wege für die Fußgänger hin; in gewiſſen Abſtänden
waren aufrecht ſtehende prismatiſche Steine angebracht, welche den
Reitern das Aufſteigen auf das Pferd bei dem damaligen Mangel
der Steigbügel erleichtern ſollten. Im weiteren Verlaufe der Jahr-
hunderte, als der Glanz Roms ſich immer mehr ſteigerte, da bildeten
dieſe Straßen in der Nähe der großen Städte eine hohe Zierde für
die Landſchaft, denn es hatte ſich die ſchöne Sitte herausgebildet, an
den wichtigeren Wegen den Göttern Heiligtümer zu erbauen und
Denkmäler zu Ehren hervorragender Bürger zu errichten. Als das
glänzendſte Beiſpiel einer ſolchen Römerſtraße bringen wir in Fig. 399
eine Abbildung der „Königin der Straßen“, der von Rom nach Brun-
duſium führenden via Appia. Noch heute bilden die Trümmer dieſer
hochwichtigen Heerſtraße des Altertums einen der größten Reize der
Umgebung der ewigen Stadt.


[720]Der Verkehr zu Lande.

Als fernere Beiſpiele berühmter Straßen der Römer führen wir noch
an: die vom aureliſchen Thore zum tyrrheniſchen Meere, ſpäter über
die Alpen nach Gallien führende via Aurelia, ferner die via Flaminia,

Figure 390. Fig. 399.

Die via Appia.


welche Rom mit Rimini
verband und die von
Rom nach Aquileja
führende via Aemilia.


Den Mittelpunkt des
römiſchen Straßennetzes
bildete ein neben dem
Saturntempel auf dem
Forum Romanum er-
richteter Meilenzeiger,
das milliarium aureum.
Hier waren auf zahl-
reichen Bronzetafeln die
Entfernungen der wich-
tigſten Städte der Welt
angegeben. Aus den
Angaben dieſes älteſten
Meilenzeigers entwickel-
ten ſich dann ſpäter, be-
ſonders unter Auguſtus,
die ſogenannten Itinera-
rien; es waren dieſes Zu-
ſammenſtellungen wich-
tiger Reiſerouten mit An-
gabe der Entfernungen,
ſowie mit Einfügung my-
thologiſcher oder hiſto-
riſcher Reminiscenzen.
Aus dieſen Itinerarien
läßt ſich entnehmen, daß
während der Glanz-
periode des römiſchen
Kaiſerreiches dieſes über
ein Syſtem feſtgefügter
und ſolider Reiſeſtraßen
von etwa 76000 Kilo-
meter Länge verfügte.


In den Stürmen der
Völkerwanderung und
des Mittelalters iſt im
großen und ganzen von
einer Straßenbaukunſt,
[721]Der Bau von Straßen und Wegen.
geſchweige denn von einem Fortſchritte des Verkehrsweſens nichts zu
ſpüren. Man begnügte ſich meiſt mit dem von den Vorfahren Ererbten
und beſchränkte ſich im übrigen auf das Allernotwendigſte, ja es
galt zu Zeiten das Reiten als die einzig zuläſſige und würdige
Art des Reiſens, ſo daß ein Bedürfnis nach guten und ſyſtematiſch
angelegten Wegen für weite Kreiſe der Bevölkerung überhaupt nicht
vorlag. Hervorzuheben ſind nur die Leiſtungen Karls des Großen
im Abendlande und der Kalifen im Orient. Die von Karl dem Großen
erbauten Straßen zeichneten ſich dadurch aus, daß ihre Fahrbahn in
der Weiſe hergeſtellt wurde, daß Steine nebeneinander in Kalk ein-
geſetzt wurden, die nach dem Erhärten dieſes Bindemittels im Verein
mit letzterem ein feſtes Ganze bildeten. Dieſe Straßen erhielten nach
der eigenartigen und weitgehenden Verwendung des Kalkes den Namen:
„calciata“, franzöſiſch „caucié“, woraus ſich dann allmählich die Be-
zeichnung „Chauſſee“ entwickelte.


Sieht man von Nebenſtraßen lediglich lokaler Bedeutung ab, ſo
bildete nach den Kreuzzügen Nürnberg den Mittelpunkt des geſamten
deutſchen Straßennetzes. Die einzelnen Straßenzüge konnten ſich jedoch
hinſichtlich der Güte der Bauausführung nicht mit den alten feſten
Römerſtraßen meſſen, und laute Klagen über die ſchlechte Beſchaffenheit
der Wege bildeten das ſtändige Thema der Tagebücher der wenigen
Reiſenden. Eine durchgreifende Verbeſſerung der Verkehrswege bahnte
ſich in Deutſchland erſt im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts an.
Man rühmte zunächſt die gute Beſchaffenheit der Fahrſtraßen Württem-
bergs. Die erſte nach allen Regeln der Kunſt erbaute Straße wurde
im Jahre 1753 zwiſchen den ſchwäbiſchen Städten Öttingen und Nörd-
lingen dem Verkehr übergeben.


In Frankreich hatte ſich ein Wandel zum Beſſern bereits im
ſiebzehnten Jahrhundert vollzogen; dort verwendete man unter Hein-
rich IV im Jahre 1603 ſchon 3 Millionen Francs, d. i. mehr als den
zwölften Teil der geſamten Staatseinnahmen, auf den Bau von Straßen.
Colbert ging ſpäter, da ihm das Wegebau-Budget auf 400000 Francs
vermindert wurde, dazu über, die Gemeinden zu den Koſten des
Wegebaues heranzuziehen.


Weniger gut ſtanden die Verhältniſſe in England; auch hier voll-
zog ſich ein endgültiger Umſchwung erſt gegen Ende des achtzehnten
Jahrhunderts. Bemerkenswert iſt jedoch, daß dort zuerſt die für die
Regelung eines intenſiven Verkehres ſo ſehr wichtige Regel des Rechts-
fahrens und des Ausweichens nach der rechten Seite hin eingeführt
wurde; auch legte man zuerſt in England mit Recht einen beſonderen
Wert auf eine angemeſſene Feſtſetzung des auf den Wagen zu trans-
portierenden Gewichtes.


In der Gegenwart geht man bei dem Bau eines Landweges,
das iſt derjenigen Art von Kunſtſtraßen, welche man allgemein als
Chauſſee bezeichnet, in folgender Weiſe vor. Zunächſt wird die von
Das Buch der Erfindungen. 46
[722]Der Verkehr zu Lande.
der Straße einzuhaltende Richtung ganz genau feſtgelegt, worauf man
mit der Vornahme der erforderlichen Felsſprengungen, der Ausführung
der nötigen Aufſchüttungen und Einſchnitte vorgeht, wobei zu beachten
iſt, daß die Steigung den Höchſtbetrag von 1 : 20 wenn irgend möglich
nicht überſchreiten ſoll. Iſt dieſes geſchehen, ſo empfiehlt es ſich, dem
Erdreich Zeit zu laſſen, ſich zu ſetzen und zu feſtigen; zu dieſem Zwecke
läßt man den Bau während des Winters ruhen und beginnt nunmehr
erſt mit der Herſtellung der eigentlichen Fahrbahn, des Oberbaues.
Dieſer wird im großen und ganzen in derſelben Weiſe gebildet, wie
wir dies bei den Römerſtraßen gezeigt haben. Es wird zunächſt das
ſogenannte Planum des Weges, welches durch den Froſt des Winters
und den Regen ſich gehörig geſetzt hat, an den Seiten mit Steinen,
den ſogenannten Bordſteinen, eingefaßt. Hierauf werden zwiſchen dieſen
mehrere Schichten von Steinen, deren Größe von der tiefſten zur
höchſten Schicht abnimmt, eingebracht, wobei die tiefſte Steinlage ſorg-
fältig nebeneinander verlegt wird, ähnlich wie es bei dem Pflaſtern
der Straßen geſchieht. Auf die oberſte Lage wird ſchließlich eine
etwa 8 cm ſtarke Schicht von Kies gebracht, und dieſe mit großen
Walzen, die entweder durch Menſchen und Pferde oder durch Dampf-
kraft bewegt werden, geglättet.


Bei der Herſtellung der gepflaſterten Straßen hat man zu unter-
ſcheiden, wenn wir von dem hin und wieder angewendeten eiſernen
Pflaſter abſehen, das Steinpflaſter, das Holzpflaſter und das Asphalt-
pflaſter. Hinſichtlich des Steinpflaſters iſt das weſentliche bereits bei
der Herſtellung der Römerſtraßen und der Chauſſeeen geſagt. Auch
hier werden zunächſt mehrere Steinlagen über einander gepackt, auf
dieſe eine Kiesſchicht gebracht, und in dieſe werden alsdann die Steine
verlegt. Die zwiſchen denſelben verbleibenden Fugen werden bei beſſeren
Ausführungen mit Kies angefüllt und ſchließlich noch mit einem ge-
eigneten Materiale, z. B. flüſſigem Pech, ausgegoſſen. In der neueren
Zeit iſt an Stelle des Steinpflaſters vielfach das Holzpflaſter getreten.
Bei dieſer Art von Pflaſterung werden Holzblöcke, welche zuvor mittels
Teer oder Chlorzink gegen Fäulnis geſchützt ſind, in derſelben Weiſe
unter Benutzung von Hartpech als Bindemittel neben einander in
regelmäßigem Verbande verlegt, wie dies bei dem Steinpflaſter ge-
ſchieht.


Eine beſondere Art der in den Städten zur Anwendung kommenden
Pflaſter bildet das ſogenannte Asphaltpflaſter. Der hierzu benutzte
Rohſtoff iſt der u. A. bei Limmer in der Provinz Hannover, bei See-
feld in Tirol, bei Lobſann im Elſaß gewonnene Asphaltſtein, ein
mit Erdharz oder Bergteer ſtark verſetztes Kalkgeſtein. Der Asphalt-
ſtein wird zu Pulver zerkleinert und nun ſo weit erwärmt, bis er zu
erweichen beginnt. In dieſem Zuſtande wird er auf die durch Stein-
lager und Sandſchüttungen ſorgfältig hergeſtellte und geebnete Unter-
lage gebracht, worauf alsdann eine Glättung der Asphaltſchicht durch
[723]Der Bau von Straßen und Wegen.
ſchwere geheizte Walzen, Stampfen und nach Art der Bügeleiſen ein-
gerichtete Werkzeuge erfolgt.


Wenngleich die raſtlos an der Zerſtörung des Hergebrachten
arbeitenden Eiſenbahnen von Jahr zu Jahr die Bedeutung der gewöhn-
lichen Heerſtraßen zurückdrängen, ſo wird dadurch die Bewunderung,
welche wir den Erbauern der alten, die gewaltigen Hinderniſſe der Ge-
birge mit den einfachſten Mitteln überwindenden Straßen ſchuldig ſind,
in keiner Weiſe beeinträchtigt. Im Gegenteil: was jene mit den
primitivſten Hilfsmitteln ausführten, ſtellt ſich hinſichtlich der Schwierig-
keit der Ausführung den modernen Eiſenbahnbauten, welche die die
Völker trennenden Gebirge durchqueren, würdig zur Seite. Wir er-
wähnen nur die großartigen Straßen, welche von unſeren Vorfahren
über den St. Gotthard, den Simplon, den Bernhardiner und den
Splügen geführt wurden.


2. Die von Zugtieren bewegten Jahrzeuge.

Das älteſte Mittel, um einen Gegenſtand von einem zum andern
Orte, ſei es auf einem geebneten Wege, ſei es ohne Benutzung von Weg
und Steg zu befördern, iſt der Schlitten oder die Schleife. Die hierbei
in ſehr ſtarkem Maße auftretende Reibung und die infolge deſſen
erforderliche Anwendung einer großen Zugkraft ließen ſchon früh auf
Mittel und Wege ſinnen, den Transport zu erleichtern. So kam man
zunächſt auf den Gedanken, zwiſchen die Schlittenkufen und die Fahr-
bahn Rollen einzulegen und auf dieſen den Schlitten vorwärts zu
ziehen; hierdurch war die gleitende Reibung in die erheblich weniger
hinderliche rollende Reibung verwandelt, mithin ein außerordentlicher
Fortſchritt erzielt. Dieſe erſte Einfügung der Rolle in das Verkehrs-
weſen dürfte, ſo geringfügig dieſelbe dem Laien erſcheinen mag, zu
den größten Erfindungen zu zählen ſein, die jemals dem Haupte eines
Sterblichen entſprangen. Derartiger Erfindungen, welche man heut
zu Tage geneigt iſt, als ſelbſtverſtändlich anzuſehen, giebt es noch eine
große Zahl. Lazarus Geiger bringt dieſes an einem anderen Gegen-
ſtande, dem Hammer, in ſeinen „Vorträgen zur Entwicklungsgeſchichte
der Menſchheit“ ſehr treffend mit folgenden Worten zum Ausdruck:
„So groß der Gegenſatz einer Dampfmaſchine unſerer Tage mit dem
älteſten Steinhammer immer ſein mag, dasjenige Geſchöpf, welches
zuerſt ſeine Hand mit einem ſolchen Hammer bewaffnete, welches vielleicht
einen Fruchtkern zum erſtenmal auf dieſe Weiſe einer harten Schale
entnommen, es mußte, ſo ſcheint es, einen Hauch jenes Geiſtes in
ſich verſpüren, welcher einen Entdecker unſerer Zeit unter dem Aufblitzen
eines neuen Gedankens beſeelt.“ Leider iſt der Erfinder des auf Rollen
bewegten Schlittens ebenſo wenig bekannt, wie der Erfinder des Hammers,
des Waſſerrades, der Windmühle und ſo vieler anderer grundlegender
Konſtruktionen.


46*
[724]Der Verkehr zu Lande.

In Fig. 400 iſt die Hälfte einer Abbildung wiedergegeben, welche
den Transport einer altägyptiſchen Koloſſalſtatue mittels Schlittens
darſtellt. Um die Reibung zwiſchen den Schlittenkufen und der aus
Brettern gebildeten Bahn thunlichſt zu vermindern, gießt hier ein zu
Füßen der Bildſäule ſtehender Arbeiter ein geeignetes Schmiermittel,

Figure 391. Fig. 400.

Transport einer altägyptiſchen Koloſſalſtatue.


Waſſer oder Öl, auf die
Bahn, während ein auf
den Knieen der Statue
ſtehender Aufſeher die an
vier Zugſeilen angreifen-
den 172 Arbeiter (die-
ſelben ſind in der Figur
nur zum Teil dargeſtellt)
durch Zuruf und Zeichen
leitet.


So unvollkommen
dieſes Transportmittel
uns erſcheint, ſo erſtaun-
lich ſind die Leiſtungen,
welche die alten Ägypter
mit demſelben, allerdings
unter Aufwendung un-
geheurer Arbeitermaſſen,
erzielten. So wurde auf
dieſe Weiſe einer der
großen Obelisken des
Tempels zu Karnak im
Gewichte von 29700 Kilo-
gramm 28 deutſche Meilen weit befördert. Als ferneres Beiſpiel führen
wir an, daß König Amaſis von Elefantine nach Sais ein aus einem
einzigen Stein beſtehendes Haus ſchaffen ließ; hierzu gebrauchten
2000 Mann einen Zeitraum von drei Jahren.


Aus der unter die Schlittenkufen gelegten Rolle entwickelte ſich
alsbald das an dem Schlitten befeſtigte drehbare Rad, denn die der
Rolle naturgemäß anhaftenden Mängel waren ſehr ſchwer wiegender
Natur. Man wird daher ſchon im hohen Altertum mit der Rolle die
gleichen böſen Erfahrungen gemacht haben, wie dies dem bekannten
Architekten Fontana im Jahre 1586 bei der Aufſtellung des 10000 Centner
ſchweren vatikaniſchen Obelisken widerfuhr. Zunächſt erfordern die
Rollen ſtets eine feſte Unterlage, da ſie anderen Falles zu tief in
das Erdreich ſich einpreſſen; dann aber haben ſie beim Vorwärts-
ſchieben ſtets die Neigung, ſich zu verſchieben und ſich ſchräg ein-
zuſtellen, und ſchließlich ermöglichen ſie nur unter großen Schwierig-
keiten die Ausführung von Schwenkungen beim Paſſieren von Wege-
krümmungen.


[725]Die von Zugtieren bewegten Fahrzeuge.

Die älteſten Räder waren Scheibenräder; bei dieſen beſtand der
ganze Radkörper aus einem einzigen Stück. Dieſe primitivſte Art der
Räder finden wir noch heute in Gegenden geringer Kultur. Merk-
würdiger Weiſe aber haben dieſe alten Scheibenräder bei den Eiſen-
bahnwagenrädern in zahlreichen Exemplaren wiederum Anwendung
gefunden, da die Herſtellung derſelben eine ſehr bequeme und leichte
iſt. Alsbald trat an die Stelle des unſchönen Scheibenrades das
graziöſere Speichenrad. Weder der Erfinder des einen noch des andern
iſt uns bekannt.


Die älteſten auf Rädern ruhenden Wagen hatten nur eine Achſe
und zwei Räder. Die Figuren 401 und 402 ſtellen einen römiſchen Renn-
wagen dar; das Original desſelben befindet ſich im vatikaniſchen Muſeum.

Figure 392. Fig. 401.

Römiſcher Rennwagen.


Figure 393. Fig. 402.

Römiſcher Rennwagen.


Der eigentliche Wagenkaſten iſt aus Holz angefertigt und mit Bronze
bekleidet; die Deichſel iſt mit der Achſe feſt verbunden. Vor dieſe
zweiachſigen Wagen ſpannte man zwei, drei, auch vier Pferde, und
zwar ſämtlich nebeneinander in einer Reihe; man unterſchied demnach
Zweiſpänner (bigae), Dreiſpänner (trigae), und Vierſpänner (quadrigae).
Im allgemeinen galt in der älteren Zeit der Griechen und Römer
die Benutzung von Wagen als ein Zeichen beſonderer Ehrung oder
aber der Verweichlichung. So durften in Rom innerhalb der Haupt-
ſtadt nur Triumphatoren, Veſtalinnen, Prieſter und Senatoren Perſonen-
wagen benutzen; auch war, wohl mit Rückſicht auf den ſtarken Verkehr
innerhalb der engen Straßen, der Transport von Laſten auf ganz
beſtimmte Stunden beſchränkt. Mit dem wachſenden Luxus nahm auch
die Benutzung der Wagen für den Perſonentransport zu. Hierzu diente
die oft auf das prunkvollſte ausgeſtattete vierrädrige carruca (Karoſſe).
Von Nero wird erzählt, daß er auf ſeinen Reiſen fünfhundert ſolcher
Wagen mit ſich geführt habe. Der erſte mit Schlafvorrichtung ver-
ſehene Wagen, alſo der älteſte Vorläufer unſerer modernen waggons
lits
, wird dem Verres zugeſchrieben.


[726]Der Verkehr zu Lande.

Von erheblichem Einfluß auf das Verkehrsweſen und die techniſchen
Einrichtungen zur Beförderung von Perſonen und Sachen war die im
weſentlichen durch Auguſtus bewirkte Ausgeſtaltung des römiſchen
Poſtweſens. Man unterſchied zweierlei Formen der römiſchen Staats-
poſt, nämlich den cursus celer (die Schnellpoſt) und den cursus clavularis
(die Frachtpoſt); dem entſprechend diente die leichte zweirädrige rheda dem
Schnelldienſte und für den gewöhnlichen Perſonendienſt das carpentum.
Zur Bewältigung der Frachtverkehrs verwendete man die clavularia
Leiterwagen.


Das zur Perſonenbeförderung dienende carpentum war bereits
mit einem die Inſaſſen gegen die Unbilden der Witterung ſchützenden
Dache verſehen. Nach dieſer Richtung iſt die ſpäter in Deutſchland
benutzte Art von Reiſewagen als ein erheblicher Rückſchritt zu betrachten.
So bediente ſich Karl der Große, wenn er einmal ausnahmsweiſe eine
Reiſe nicht zu Pferde zurücklegte, eines einfachen, offenen Karrens.
Primitiv wie die Wege, ſo waren auch die Wagen des Mittelalters.
Nur Frauen und Geiſtliche, welche übrigens ebenfalls meiſt das Pferd
oder den Eſel beſtiegen, bedienten ſich des Wagens. Es währte bis
in das fünfzehnte Jahrhundert hinein, ehe man wieder dazu überging,
die Wagen etwas komfortabler einzurichten. Stets aber war bei der
mangelhaften Beſchaffenheit der Wege eine ſolche Reiſe nichts weniger
als ein Genuß. Einer der bekannteſten Reiſeunfälle, welche aus jener
Zeit überliefert wurden, iſt derjenige, welcher den Papſt Johannes
auf ſeiner Reiſe zum Konſtanzer Konzil am Arlberg betraf. Hier fiel
auf dem durch Schnee unpaſſierbar gewordenen Wege plötzlich der
päpſtliche Wagen um, ſo daß Johannes in die unwilligen Worte aus-
brach: „Jaceo hic in nomine diaboli.“ Nebenſtehende Fig. 403
ſtellt dieſe Scene nach einem im Jahre 1536 zu Augsburg erſchienenen
Werke Ulrich Reichenthals: „Das Koncilium, ſo zu Konſtanz gehalten
iſt worden“ dar. Was uns dieſes ziemlich draſtiſch gehaltene Bildchen
beſonders intereſſant macht, das iſt der Umſtand, daß der Künſtler
auf demſelben das Untergeſtell des Wagens mit größter Gewiſſen-
haftigkeit abgebildet hat. Wir ſehen hieraus zunächſt, daß die Achſe
vierkantig geſtaltet war, und daß die Räder auf derſelben ſich drehten
und durch Vorſteckſtifte gehalten wurden. Des weiteren erſehen wir,
daß die Deichſel an der Vorderachſe befeſtigt war und ſich mit dieſer
um einen an dem Wagen angebrachten Stift drehen konnte. Was
wir aber bei einem weiteren Vergleiche mit den modernen Perſonen-
fahrzeugen an dieſem päpſtlichen Wagen ganz beſonders vermiſſen,
das iſt die jetzt ſchon ſeit langem allgemein eingeführte elaſtiſche Auf-
hängung des Wagenkaſtens. Fürwahr es gehörte das eiſerne Nerven-
ſyſtem unſerer Vorfahren dazu, um in einem ſolchen ſchwerfälligen
Fahrzeuge ſämtliche Stöße und Schwankungen, die der entſetzliche
Zuſtand der grundloſen Wege verurſachte, ungemildert mit dem eigenen
Körper aufzufangen. Es war als ein ganz gewaltiger Fortſchritt zu
[727]Die von Zugtieren bewegten Fahrzeuge.
begrüßen, als man das Obergeſtell des Wagens von den Achſen
emporhob und oberhalb derſelben in Ketten aufhängte. Alsbald
erſetzte man in Ungarn dieſe Trageketten, welche den ſeitlichen
Schwankungen nachgaben, durch ſtarke Riemen; hierdurch erzielte man
eine elaſtiſche Aufhängung des Wagenkaſtens und milderte ſo die aus
den Unebenheiten des Weges entſpringenden zahlreichen Stöße, die in

Figure 394. Fig. 403.

Der Reiſeunfall des Papſtes Johann auf dem Arlberge.


früheren Zeiten nicht ſelten zu Knochenbrüchen Veranlaſſung gegeben
hatten. Dieſe komfortablere Art der Fuhrwerke ſoll zuerſt in der Ort-
ſchaft Kotſe gebaut ſein und erhielt daher die Bezeichnung „Kutſche“.
Gegenwärtig legt man das Obergeſtell des Wagens allgemein auf
ſtählerne Federn; ja man ſchreibt die Anbringung derartiger elaſtiſcher
Tragfedern ſogar bei Laſtfuhrwerken vor, da hierdurch auch die von
den Rädern auf das Straßenpflaſter ausgeübten Stöße erheblich
[728]Der Verkehr zu Lande.
gemildert werden, was naturgemäß eine längere Haltbarkeit der
Pflaſterung zur Folge hat. Außerdem wird bei ſtarkem Verkehr die
Umgebung der Straßen durch das Vorüberfahren bei weitem weniger
beläſtigt, als wenn keine Tragfedern vorhanden ſind.


Veredarius führt in ſeinem intereſſanten Werke „Das Buch von
der Weltpoſt“ die aus dem Jahre 1673 ſtammende Erfindung des
Fürſtlich ſächſiſchen Architektur-Direktors u. ſ. w. Erhard Weigel zu
Jena an, welche darauf abzielte, durch künſtliche Polſterung eine
Milderung der Püffe und Stöße der ſchlechten Wege herbeizuführen.
Auch ſollte der nach den Prinzipien des Erfinders konſtruierte Wagen
nicht umfallen können, weil die in demſelben Sitzenden durch ent-
ſprechende Verlegung ihres Sitzes und durch Hinüberneigen auf die
Gegenſeite jederzeit das Gleichgewicht herzuſtellen vermöchten. Vor
allem anderen iſt nachſtehender Satz der Weigelſchen Schrift hoch er-
götzlich: „Ja wenn auch durch Verwahrloſung des Knechtes der Wagen
auſſer dem Geleiſt oder über einen hohen Stein und Hügel geführet,
nothwendig ümbfallen müſte, zumahl an einer Seite des Berges: ſo
können dennoch die drinnen ſitzenden ohne Schaden des mit ümbfallens
ſeyn. Denn die zur andren Seiten können den Schlag geſchwind auf-
machen, zugleich alle mit einander heraus ſpringen (welches in den
gemeinen Kutſchen nicht möglich), die bei der fallenden Seiten aber
können ſich bald umbwenden, zugleich nach jenen herausſpringen oder
in dem ümbfallenden Wagen nur contra weltzen, ſo werden ſie von
dem Wagen frey.“ Man ſieht, daß dieſer als ſo ſehr vollkommen
gerühmte Reiſewagen, der, wie der Erfinder an andrer Stelle ſich
ausdrückt „das Schuttern in ein lieblich Hetzſchen verwandelte“, doch
ſeine Schattenſeiten beſaß.


Übrigens bildeten die aus der ſchlechten Beſchaffenheit der Verkehrs-
mittel entſpringenden Beſchädigungen von Menſchen, Tieren und Sachen
eine keineswegs zu mißachtende Einnahmequelle der Straßenanwohner.
Als man in England mit der Verbeſſerung der Straßen und Fuhr-
werke im achtzehnten Jahrhundert vorzugehen begann, erfolgten daher
zahlreiche Vorſtellungen an die Regierung, in welchen dieſe darauf
hingewieſen wurde, daß ein großer Teil der Bevölkerung der an den
Haupt-Landſtraßen liegenden Städte und Ortſchaften durch eine Ver-
beſſerung der Wege dem Hungertode ausgeliefert werden würde, da
ihnen die bisherige Einnahme, welche ihnen aus ihrer Beſchäftigung
als Feldſchere, Hufſchmiede und Wagenbauer entſprungen ſei, entzogen
werden würde. Nicht minder beklagten ſich die Pferdezüchter und
Pferdehändler, da der bisherige ſtarke Verbrauch an Pferden bei
beſſerer Beſchaffenheit der Wege ſich ſtark vermindern würde.


Für Deutſchland wird der Eintritt einer entſcheidenden Wendung
zum Beſſern durch die einheitliche Ausbildung des Poſtweſens bezeichnet,
welche dieſes durch die Familie Thurn und Taxis erfuhr. Bis zu
den Zeiten Maximilian I. erfolgte die Beförderung von Briefſchaften
[729]Die von Zugtieren bewegten Fahrzeuge.
durch das Nachrichtenweſen eines jeden der zahlreichen Ländchen, aus
welchen das damalige heilige römiſche Reich deutſcher Nation zuſammen-
geſetzt war. Ein jedes derſelben hatte ſeine eigenen Botenpoſten, einen
durchgehenden Verkehr durch mehrere ſolcher Ländchen, alſo z. B. von
Wien nach Stuttgart gab es nicht. Von einer ordnungsmäßigen
Beförderung von Perſonen verlautbarte überhaupt nichts.


Es war im Jahre 1516, als Maximilian I. dem an ſeinem Hofe
lebenden Francesco de Taſſis, genannt Torriani, die koſtenfreie Be-
förderung von Briefen von Wien nach den Niederlanden übertrug,
mit der Maßgabe, daß jenem, ſowie deſſen Nachkommen der aus-
ſchließliche Beſitz und die geſamten Einkünfte der neuen Verkehrs-
anſtalt zufallen ſollten. Dieſes Privilegium hatte der Kaiſer kurzer
Hand erteilt, ohne zuvor die Genehmigung der einzelnen Fürſten
und Reichsſtände, durch deren Gebiete die reitenden Boten Torrianis
paſſieren mußten, einzuholen. Infolgedeſſen hatte dieſer erſte Beginn
eines durchgehenden Poſtverkehrs viel Anfechtung von ſeiten der einzelnen
Fürſtentümer und Ländchen zu erleiden. Allmählich aber erweiterte
die Familie Taxis ihre Poſtkurſe und nachdem ſie bereits früher unter
dem Namen der Herren von Thurn und Taxis naturaliſiert war,
erhielt im Jahre 1595 Leonhard von Taxis die Würde eines General-
Poſtmeiſters, ſowie den Beſitz der Poſtgerechtſamen in ſämtlichen
Ländern des habsburgiſchen Kaiſerhauſes. Im Laufe der Zeit haben
verſchiedene Länder, unter denen in erſter Linie Kur-Brandenburg zu
nennen iſt, ihre Poſten in eigene Verwaltung genommen; immerhin
aber gebührt der Familie Thurn und Taxis das große Verdienſt, in
Deutſchland einen geordneten Poſtdienſt eingeführt und bis in unſere
Tage durchgeführt zu haben.


Ein beſonderes Verdienſt der Taxisſchen Poſtverwaltung beſteht
darin, daß ſie an Stelle der früher benutzten ſogenannten Hauderer-
wagen, der öffentlichen Landkutſchen, welche bunt durcheinander lebendige
und tote Fracht in höchſt mangelhaften Fuhrwerken beförderten, die
Poſtkutſchen einführte. Die erſte derſelben kurſierte im Jahre 1690
zwiſchen Frankfurt a. M. und Nürnberg. Jedoch auch in Branden-
burg ging man mit der Schaffung einer regelrechten, vom Staate
betriebenen Perſonenbeförderung energiſch vor. Zu erwähnen iſt hier
die vom Jahre 1754 ab zwiſchen Berlin und Potsdam täglich, zunächſt
einmal, ſpäter zweimal, verkehrende Journalière, welche die 26 Kilometer
betragende Entfernung in vier Stunden zurücklegte. Ganz beſondere
Verdienſte um die Hebung der Perſonenbeförderung hat ſich der Miniſter
Ludwigs XVI, Turgot, erworben. Er ſchuf im Jahre 1791 die nach
ihm benannten Turgotinen; vergl. Fig. 404. Dieſelben wieſen inſofern
gegen früher einen weſentlichen Fortſchritt auf, als ſie auch bei Nacht
fuhren; ſie legten im Durchſchnitt 4 Kilometer in jeder Stunde zurück.


Dieſe Turgotine iſt das Vorbild der guten, alten, gelben Poſt-
kutſche geweſen, die noch jetzt in den entlegenen Gegenden den geregelten
[730]Der Verkehr zu Lande.

Figure 395. Fig. 404.

Franzöſiſche Turgotine aus dem Jahre 1791.


[731]Die Motorwagen.
Perſonenverkehr beſorgt und die Verbindung mit der Außenwelt her-
ſtellt. Früher der Gegenſtand der Lieder von poetiſch und nicht poetiſch
veranlagten Geiſtern, nähert ſie ſich mit unaufhaltſamem Schritte ihrem
völligen Verſchwinden. Angeſichts der ſtetig zunehmenden Verbreitung
der modernen Verkehrsmittel, der Eiſenbahnen, der Pferdebahnen, der
elektriſchen Bahnen, exiſtiert ſie nur noch in wenigen Exemplaren als
ein Zeichen der mit Unrecht ſo oft gerühmten guten alten Zeit.


3. Die Motorwagen.

Als die Erkenntnis der dem Waſſerdampfe innewohnenden Kraft
ſich immer mehr Bahn brach, da kam zuerſt Savery, deſſen Vor-
richtung zum Heben von Waſſer wir bei der Geſchichte der Erfindung
der Dampfmaſchine des näheren erläutert haben, auf die Idee,
die Dampfkraft zur Fortbewegung von Straßenfuhrwerken anzuwenden.
Er kam jedoch über die Verſuche nicht hinaus. Der erſte, welcher
einen mit Dampfkraft betriebenen Straßenwagen thatſächlich ausführte
und in Betrieb ſetzte, war der Franzoſe Cugnot, und zwar geſchah
dieſes auf Koſten der franzöſiſchen Regierung im Jahre 1769. Dieſe
Maſchine mußte jedoch alsbald wieder bei Seite gelaſſen werden, da
ſie nur vier Perſonen mit einer Geſchwindigkeit von 4 Kilometer in der
Stunde auf dem Pariſer Straßenpflaſter zu befördern vermochte. Das
Modell dieſes Cugnotſchen Dampfwagens befindet ſich noch heut im
Pariſer Conservatoire des Arts et Métiers.


Von beſſeren Erfolgen waren die Beſtrebungen des Amerikaners
Olivier Evans und des Engländers Trevithick begleitet, leider aber
ohne nachhaltige Wirkung. Von erſterem wird berichtet, daß er
während der Jahre 1803/1804 in Philadelphia in Gegenwart Tauſender
Probefahrten angeſtellt habe; von einer weiteren Verwendung ſeiner
Erfindung verlautet jedoch nichts.


Der von Trevithick konſtruierte Dampfwagen iſt in Fig. 405 dar-
geſtellt. Man hat Trevithick, der entſchieden ein geborenes mechaniſches
Genie war, nicht mit Unrecht, als den eigentlichen Vater der Lokomotive
bezeichnet, denn in der That wies ſein Dampfwagen, den er 1801
erbaute und im Jahre 1803 weſentlich verbeſſerte, bereits alle diejenigen
Merkmale auf, welche ſpäter die Stephenſonſche Lokomotive zum Siege
über ihre Rivalinnen führten. Trevithick wurde durch einen Zufall der
Gehilfe Murdocs, des Werkführers von James Watt, und hatte hier
die Reparatur eines von Murdoc in müßigen Stunden angefertigten,
wenig brauchbaren Dampfwagens auszuführen. Es war dieſes ein
vierrädriges Geſtell, auf welchem ein Dampfkeſſel mit ſtehendem Dampf-
cylinder angeordnet war, von deſſen Kolben aus die Räder durch
eine Triebſtange bewegt wurden. Im Jahre 1801 hatte Trevithick
eine Dampfkutſche konſtruiert, welche 6 Perſonen zu befördern vermochte.
Dieſelbe war inſofern das Vorbild der ſpäteren Lokomotive Stephen-
[732]Der Verkehr zu Lande.

Figure 396. Fig. 405.

Trevithicks Dampfwagen.


ſons, als ſie einen liegenden Cylinder beſaß, ferner einen Dampfkeſſel
für höheren Dampfdruck, eine Speiſepumpe und eine Einrichtung, durch
welche der Dampf aus dem Cylinder nach vollbrachter Arbeit durch
den Schornſtein entwich und auf dieſe Weiſe das Feuer ſtetig anfachte.
Wie wir ſpäter noch ſehen werden, war dieſe letzterwähnte Einrichtung
dasjenige, was den Sieg Stephenſons entſchied. Trevithick hatte zur
Entfachung des Feuers zuerſt beſondere Blaſebälge angewendet und
war höchlichſt erſtaunt über die günſtige Wirkung des durch den
Schornſtein abziehenden Dampfes. Seinen verbeſſerten Dampfwagen
ließ Trevithick im Jahre 1803 auf einer Schienenbahn in London
laufen und zeigte ihn dem erſtaunten Publikum für Geld; merkwürdiger
Weiſe war die Stelle dieſer eigenartigen Schauſtellung derſelbe Ort,
wo ſich jetzt einer der größten Bahnhöfe der South-West-Railway in
London ausdehnt.


Trevithick endete gleich Dionyſius Papin in tiefem Elend. Beide
hochbegabten Männer, denen die Nachwelt zu größtem Danke verpflichtet
bleibt, litten an einer Unſtetigkeit, welche einen anhaltenden Erfolg
nicht zu erzielen vermochte. Mit Hinterlaſſung einer Schuldenlaſt von
60 Pfd. Sterling ſtarb Trevithick im Jahre 1833. Die Idee, die ge-
wöhnlichen Straßenfuhrwerke mit Dampfkraft zu betreiben, iſt dann in
neuerer Zeit wiederum in der Bolléeſchen Dampfdroſchke, jedoch ohne
durchſchlagenden Erfolg zur Ausführung gebracht worden.


Eine beſondere Anwendung findet die Dampfkraft in der von
Savery, Cugnot und Trevithick angegebenen Weiſe, bei den Straßen-
walzen und den Straßenlokomotiven. Die Einrichtung iſt teils die
gleiche, wie diejenige der ſpäter zu beſchreibenden Eiſenbahn-Locomotive,
[733]Die Motorwagen.
teils lehnt ſie ſich direkt an die in Fig. 405 dargeſtellte Dampfdroſchke
Trevithicks an. Stets wird durch die Kolbenſtange des Dampfcylinders
unter Vermittelung von Zahnrädern u. dergl. eine Achſe angetrieben.


In der neueſten Zeit hat ein eigenartiger Motorwagen das
Intereſſe weiteſter Kreiſe mit Recht für ſich in Anſpruch genommen;
derſelbe iſt in Fig. 406 dargeſtellt und wird von der rheiniſchen Gas-
motoren-Fabrik Benz \& Co. in Mannheim fabriziert. Dieſer durch einen
Motor angetriebene Wagen ruht auf drei Rädern, von denen das vordere
als Lenkrad dient. Zwiſchen den Hinterrädern iſt der den Antrieb des
Wagens bewirkende Motor angeordnet. Derſelbe iſt im Gegenſatz zu
vorſtehend beſchriebenen Dampfkutſchen ein Gasmotor, zu deſſen Betriebe

Figure 397. Fig. 406.

Motorwagen (Syſtem Benz \& Co.).


alle Petroleumöle, wie Benzin, Naphta u. ſ. w. im ſpezifiſchen Gewicht
von 0,70 dienen können. Durch die Verwendung des Gaſes als
Motorkraft iſt in einfacher Weiſe die Beläſtigung der Paſſagiere durch
Hitze und Rauch vermieden worden; man iſt in dieſer Richtung inſofern
noch einen Schritt weiter gegangen, als die Entzündung des Gaſes
in einem geſchloſſenen Cylinder durch den elektriſchen Funken erfolgt.
Die Übertragung der Bewegung der Triebwelle des Motors auf die
hinteren Räder des Wagens erfolgt durch eine Gliederkette.


Die Handhabung des Fuhrwerks geſchieht in folgender Weiſe:
Zunächſt wird der Motor durch Drehung einer Handkurbel in Thätigkeit
geſetzt; nachdem die Paſſagiere Platz genommen, wird derſelbe durch
einen bequem zu handhabenden Hebel eingerückt, und das Fahrzeug
[734]Der Verkehr zu Lande.
ſetzt ſich in Bewegung, wobei die Geſchwindigkeit durch Verſtellen des
oben [erwähnten] Hebels den Umſtänden nach reguliert werden kann.
Die erreichbare Leiſtung beträgt 16 Kilometer und mehr in der Stunde.
Während der Fahrt erzeugt der Motor ſelbſtſtändig das erforderliche
Gas. Die Handhabung iſt eine ſehr leichte und ſichere; beſonders
ins Gewicht fällt die ſofortige Betriebsbereitſchaft.


Zur Überwindung von Steigungen iſt ein beſonderer Bergſteige-
Apparat vorgeſehen worden, welcher während der Fahrt beliebig ein-
und ausgeſchaltet werden kann.


4. Die Draiſinen oder Velocipede.

Im Jahre 1817 erfand der Forſtmeiſter Freiherr von Drais,
geboren 1785 zu Sauerbronn, geſtorben 1851 zu Mannheim, ein zwei-
rädriges Fahrzeug zum Selbſtfahren. Dasſelbe beſaß zwei hinter-
einander liegende Räder, die durch ein als Reitſitz dienendes Geſtell
miteinander verbunden waren. Der dieſes Fahrzeug Benutzende
nahm auf demſelben rittlings Platz und bewegte ſich durch wechſel-
ſeitiges Abſtoßen der Füße vom Erdboden vorwärts. Bei einer
weiteren Vervollkommnung ſeiner Fahrvorrichtung ordnete Herr v. Drais
das Vorderrad um ſeine vertikale Achſe drehbar an, um das Fahren
von Kurven zu geſtatten. In England wurde die Erfindung Drais’
durch einen gewiſſen Johnſon zum Patent angemeldet und erhielt hier
die volkstümliche Bezeichnung „Dandy-horse“, ohne jedoch eine irgend-
wie erhebliche Bedeutung und Verbreitung zu gewinnen.


Erſt im Jahre 1862 tauchte die nach ihrem erſten Erfinder als
Draiſine bezeichnete Jahrvorrichtung in einer zweckmäßig abgeänderten
Geſtalt von neuem auf; zu dieſer Zeit war der Franzoſe Michaux
auf den glücklichen Gedanken gekommen, an dem einen Rade eine
Kurbel anzubringen und dieſe durch die Füße des Fahrenden betreiben
zu laſſen. Im Jahre 1867 erregten die von Michaux konſtruierten,
neuartigen Fahrräder auf der Pariſer Weltausſtellung ein ganz
beſonderes Intereſſe, infolgedeſſen ſich alsbald die Compagnie
Pariſienne, ancienne maison Michaux \& Comp., zur Ausnutzung der
neuen Erfindung bildete. Die erſten Michauxſchen Fahrräder, die
nunmehr die Bezeichnung Velocipede erhielten, waren ganz aus Holz
angefertigt; es hat ſich jedoch alsbald ein völliger Umſchwung zur
ausſchließlichen Anwendung des Stahles vollzogen, und zwar in ſo
durchgreifendem Maße, daß das Velociped häufig bildlich als Stahl-
roß bezeichnet wird.


In Fig. 407 bringen wir eine Abbildung eines zweirädrigen Velo-
cipeds (Bicycle) der Fahrräder-Fabrik von Dürkopp \& Co. in Bielefeld.
Fig. 408 und 409 ſtellen dreirädrige Velocipede derſelben Fabrik dar.


Die Velocipede ſind ein ſprechendes Beiſpiel dafür, wie leicht
bei thatſächlich vorliegendem Bedürfnis und bei wirklich vorhandener
[735]Die Draiſinen oder Velocipede.

Figure 398. Fig 407.

Renn-Zweirad.


Figure 399. Fig. 408.

Einſitziges Dreirad.


[736]Der Verkehr zu Lande.

Figure 400. Fig. 409.

Zweiſitziges Dreirad.


Zweckmäßigkeit eine Neuerung Verbreitung und Anerkennung zu [ge-
winnen]
vermag. Als ſie vor einigen zwanzig Jahren zuerſt bekannt
wurden und an die Öffentlichkeit traten, da begegneten ſie dem Miß-
trauen weiteſter Kreiſe, ja diejenigen, welche ſich zuerſt ohne Vorurteil
dieſes neuen Verkehrsmittels bedienten, luden den Fluch der Lächerlich-
keit auf ſich. Heutzutage haben das Zwei- und das Dreirad ſich
bereits eine geſicherte Stellung unter den Fahrzeugen errungen, ja ſie
ſind bereits in zahlreichen Staaten gleichſam offiziell anerkannt als
Mittel zur Überbringung von Stafetten. Selbſt nicht das Dampfroß
hat ſich ſo ſchnell einzubürgern verſtanden und ſeinen Wirkungskreis
zu erobern vermocht, als das Stahlroß.


b) Die Eiſenbahnen und ihre Betriebsmittel.


Allgemeines.

Als die älteſten Vorläufer unſerer Eiſenbahnen müſſen die im
vorigen Abſchnitte beſchriebenen heiligen Straßen der alten Griechen
gelten, welche zuerſt für die Räder der Fahrzeuge beſonders befeſtigte
Rinnen oder Gleiſe anordneten, um den Widerſtand, welcher aus der
unebenen Beſchaffenheit der Straßen ſich ergab, thunlichſt zu beſchränken.
Dieſe Bauart der alten Hellenen iſt zugleich mit ihrer Kultur ver-
ſchwunden, ja es ſcheint ſich kaum eine Überlieferung dieſer alten
Kunſtſtraßen während des Mittelalters erhalten zu haben, denn die
erſte Mitteilung von dem Vorhandenſein von Spurbahnen ſtammt
erſt wieder aus den Zeiten, wo in Deutſchland der Bergbau ſich zu
[737]Allgemeines.
hoher Blüte emporgeſchwungen hatte. Steiner giebt in ſeinen „Bildern
aus der Geſchichte des Verkehrs“ aus dem alten „Bergwerksbuch“
von Georg Agricola und Philipp Bechius (in deutſcher Überſetzung
erſchienen anno 1557) folgende Beſchreibung der in den Bergwerken zum
Erztransport dienenden Karren, der ſogenannten „Hunde“ und Gleiſe:


„Zumletſten ſo die Erdt- oder Steinſchollen mit dem Karren
„heraußgeführt werden / ſo legt man Brett zuſammen gemacht / auf
„die Stegen / ſo den Hunden zwey Geſtengen einer ſpannen dick und
„breit / welche an dieſem Theile da ſie zuſammen gethon außgehauen
„werden / das in dem Gleiß / wie in einen gewiſſen weg / die Leitnägel
„der Hunden mögendt fürlauffen / mit welchen Leitnegel / das verhüt
„wird / das nicht die Hundt / von dem gebandten Weg das iſt auß der
„gleiß zu rechten oder zur lincken abweichen / ja auch eben vnter den
„Stegen / werden Waſſerſeige gleit / durch welche das Waſſer herauß-
„lauffe.“


So hoch entwickelt der Bergbau der Römer war, ſo kannten dieſe
doch nicht die Benutzung des auf Gleiſen laufenden Transportwagens;
bei ihnen geſchah die Förderung des Erzes aus der Grube an das
Tageslicht lediglich auf den Schultern der Sklaven. Erſt dem deutſchen
Bergmann war es vorbehalten, die Schienenbahn wieder in die Zahl
der Verkehrswege einzuführen.


Als infolge ſeines großen Kohlenreichtums England das Land
des Bergbaues par excellence wurde, da erhielten die Schienenwege
eine weitere Ausbildung. So verfügte man bereits gegen das Jahr 1650
zu Newcastle upon Tyne über eine große Anzahl von „railways“,
welche mit hölzernen Schienen ausgeſtattet waren, auf denen die
Kohlen von der Grube zu den auf dem Fluſſe liegenden Schiffen
geſchafft wurden. Als Erbauer dieſer erſten oberirdiſchen Schienen-
bahn wird ein gewiſſer Beaumont genannt. Dieſe hölzernen Gleiſe
mußten bei dem ſtarken Verkehr ſich notwendigerweiſe bald abnutzen,
und ſo ging man denn alsbald dazu über, die Balken mit Eiſen zu
beſchlagen. Im Jahre 1738 traten die erſten gußeiſernen Schienen
auf und zwar in zweierlei Form, einmal als Flachſchienen mit er-
höhtem Seitenrande und zweitens als Flachſchienen mit einer erhöhten
Mittelrippe. Gleichzeitig führte man eine weitere hochbedeutſame
Neuerung ein, indem man auch die Wagenräder mit einem erhöhten
Rande verſah, mittelſt deſſen ſie ſich in den Schienen ſicher führten.


Als die Dampfmaſchine durch James Watt ihrer Vervollkommnung
mit ſicherer Hand entgegengeführt wurde, da tauchte auch der Plan,
den Dampf dem Verkehrsweſen dienſtbar zu machen, in verſchiedenen
erfinderiſchen Köpfen auf; wir verweiſen auf die in dem vorhergehenden
Abſchnitte beſprochenen Dampf-Straßenfahrzeuge von Cugnot, Evans
und Trevithick.


Hat letzterer das große Verdienſt, zuerſt ein für den Verkehr auf
gewöhnlichen Wegen wirklich brauchbares Dampf-Fuhrwerk erfunden
Das Buch der Erfindungen. 47
[738]Der Verkehr zu Lande.
und gebaut zu haben, ſo hat derſelbe auch für die Schienenwege den
erſten Dampfwagen erbaut. Wir haben bereits in Fig. 405 ein Bild
und auf S. 731 eine kurze Beſchreibung des von Trevithick im Jahre 1803
in London vorgeführten Dampfwagens gebracht. Fig. 410 bringt die
von Trevithick im Jahre 1809, nach andrer Quelle im Jahre 1808, des

Figure 401. Fig. 410.

Trevithicks Dampfwagen für Schienenbahnen.


weiteren vervollkommnete Konſtruktion
ſeines Dampfwagens, und zwar ſpeziell
für den Betrieb auf Schienenwegen. Wir
ſehen auf dem hinteren Teile des cylin-
driſchen Keſſels einen aufrechtſtehenden
Dampfcylinder, deſſen Kolben bei dem
Auf- und Niedergange durch eine lange
Kurbelſtange das Hinterrad antreibt und
auf dieſe Weiſe den Wagen in Bewegung
ſetzt. Man ſagt, daß Trevithick durch
den Bau dieſer erſten Lokomotive eine
Wette von 500 Guineen gewonnen habe.
Die Maſchine ſoll ein Gewicht gehabt
haben von etwa 100 Centnern, und
70 Menſchen und 200 Centner Eiſen fort-
bewegt haben mit einer Geſchwindigkeit
von 5 engliſchen Meilen in der Stunde.
Es war dieſes bereits eine höchſt an-
ſehnliche Leiſtung, und jedenfalls würde es ſchon damals Trevithick
geglückt ſein, das Problem der Einführung der Dampfkraft in das
Verkehrsweſen endgültig zu löſen, hätte es dieſem nicht an einer
gewiſſen Beharrlichkeit gemangelt. Es traten nämlich unter dem be-
deutenden Gewichte der Maſchine ſehr häufig Brüche der gußeiſernen
Schienen ein. Statt nun ſtärkere Schienen zu beſchaffen, verließ
Trevithick kurzer Hand ſein Lokomotivprojekt und ſtellte die Fahrten ein.


Es iſt eine merkwürdige Thatſache, daß, obgleich Trevithick durch
die That bewieſen hatte, daß die zwiſchen der glatten Schiene und
dem Triebrade ſeines Dampfwagens beſtehende Reibung völlig genügte,
um dieſen ſamt einer Zahl von Laſtwagen vorwärts zu bewegen, die
ſpäteren Konſtrukteure zunächſt von der ſonderbaren Vorſtellung befangen
waren, daß dieſe Reibung oder Adhäſion künſtlich erhöht werden müſſe.
So baute Blenkinſop im Jahre 1812 eine Eiſenbahn in der Nähe
von Leeds, bei welcher zwiſchen den Schienen eine Zahnſtange lag,
in welche ein an der Maſchine angebrachtes, durch Dampf angetriebenes
Räderwerk eingriff. Bei dieſer Anordnung zog ſich die Maſchine ſamt
ihrer Laſt an der Zahnſtange entlang und kletterte gleichſam ihres
Weges dahin. Blenkinſop hatte die Einrichtung um deswillen ge-
wählt, weil er fürchtete, daß das Triebrad auf der glatten Schiene
gleiten, alſo eine Vorwärtsbewegung der Maſchine nicht bewirken
würde. Um dieſes Gleiten des Triebrades zu vermeiden, brachte er
[739]Allgemeines.
die gezahnte Stange an und ließ in dieſe das als Zahnrad aus-
gebildete Treibrad eingreifen. In der neueſten Zeit hat dieſe alte
Blenkinſopſche Eiſenbahn in Geſtalt der die Gebirge überſteigenden
Zahnradbahnen gleichſam von neuem das Licht der Welt erblickt.


Eine noch eigenartigere Konſtruktion wies die Lokomotive von
Brunton auf. Wenn man mit einer poetiſchen Wendung die
Lokomotive häufig als Dampfroß bezeichnet, ſo ahnen wohl wenige,
daß in der That zahlreiche Konſtrukteure ſich bemüht haben, that-
ſächlich den Bau des Pferdes für die Konſtruktion einer Lokomotive
nachzuahmen. Der erſte, welcher auf dieſe Idee verfiel, war Brunton;
derſelbe ordnete an dem hinteren Ende des Dampfkeſſels einen Dampf-
cylinder an, an deſſen Kolbenſtange eine Anzahl durch Gelenke mit
einander verbundener Stangen angriff. Die Wirkung dieſer Stangen
ging bei dem Vor- und Rückwärtsgange des Kolbens in der Weiſe
vor ſich, daß dieſelben ſich gegen den Erdboden ſtemmten, ſich hoben
und wiederum gegen den Boden ſtemmten, gleichſam die Bewegung der
Beine des Pferdes nachahmend und hierbei den Dampfwagen vorwärts-
ſchiebend. Bis über die Mitte des zweiten Jahrzehntes dieſes Jahr-
hunderts hat die Idee des metallenen Zugpferdes die Köpfe zahl-
reicher Konſtrukteure erfolglos beſchäftigt. Bruntons im Jahre 1813
erbautes Dampfpferd wurde inſofern noch von einem beſonderen
tragiſchen Geſchick ereilt, als während einer Probefahrt der Keſſel in
Folge Überlaſtung des Sicherheitsventiles explodierte, wobei mehrere
Perſonen den Tod fanden.


Eine andere Idee der Transportbeförderung mittels Dampfkraft
ging von den Gebrüdern Chapman aus; dieſelben ordneten unterhalb
der Maſchine eine Trommel an, auf welche eine längs des Schienen-
weges angebrachte Kette ſich aufwickeln konnte. Wurde alſo die Trommel
in Drehung verſetzt, ſo zog ſich die Maſchine mit ihrer Laſt an der
Kette nach vorwärts. Der erſte, welcher nach dem Vorgange Trevithicks
wieder dazu überging, die Triebräder der Lokomotive auf den glatten
Schienen laufen zu laſſen, ohne Vermittlung von Zahnrädern, Zahn-
ſtangen, Ketten und dergl., war der Engländer Blackett, allerdings ohne
durchgreifenden Erfolg.


So weit war die Einführung des Dampfes in das Verkehrsweſen
vorbereitet, als George Stephenſon begann, ſein Genie dieſem
Gegenſtande zuzuwenden. Langſamkeit, hohe Koſten und Unbequem-
lichkeit kennzeichneten in hohem Maße den damaligen Dampfverkehr.
Mit ſicherem Blicke erkannte Stephenſon die mannigfachen Gründe
dieſer Mängel, und mit der Kraft des Genius überwand er dieſelben.
Kaum eine zweite Erfindung iſt ſo formvollendet von einem Erfinder
der Nachwelt überliefert, als die Lokomotive George Stephenſons. Die
an dieſer von den Nachfolgern des großen Northumberlandman nach-
träglich angebrachten Änderungen ſind ſo geringfügig, daß das Weſen
der Erfindung jenes nur um ſo bedeutender erſcheint.


47*
[740]Der Verkehr zu Lande.

George Stephenſon wurde am 9. Juni 1781 zu Wylam in
Northumberland geboren, wo ſein Vater auf einer Kohlengrube als
Heizer beſchäftigt war. Schon früh machte ſich in dem Knaben das
angeborene mechaniſche Talent geltend, und es entſprach ſeiner innerſten
Neigung, als er ſpäter ebenfalls neben ſeinem Vater in dem Maſchinen-
betriebe zu Dewley Beſchäftigung fand. Hier wurde ihm alsbald
wegen ſeiner Zuverläſſigkeit und Kaltblütigkeit die Wartung und Be-
dienung der Fördermaſchine übertragen. Im Jahre 1803, am 16. De-
zember, wurde ihm ſein Sohn Robert, der ſpätere Teilhaber ſeiner großen
Triumphe, geboren. Trotz ſeiner Tüchtigkeit wäre George Stephenſon
dennoch vielleicht im Elende verſunken, hätte ihn nicht in der Zeit
höchſter Not ein glücklicher Zufall im Jahre 1810 zu den Gruben von
Killingworth geführt. Hier war eine neue Pumpmaſchine aufgeſtellt
worden, hatte jedoch die auf ſie geſetzten Erwartungen derartig getäuſcht,
daß ein neu abgeteufter Schacht überhaupt nicht in Betrieb genommen
werden konnte. Was zahlreiche hervorragende Maſchineningenieure
nicht vermocht hatten, das brachte Stephenſon in 4 Tage zu ſtande;
in dieſer kurzen Zeit gab er der Maſchine die gewünſchte Leiſtungs-
fähigkeit, infolge deſſen er ſofort das Amt eines Maſchinenmeiſters der
Killingworther Gruben erhielt. Hier fand er Muße, ſich im Zeichnen
und in der Theorie weiter auszubilden, ſo daß er bereits im Jahre 1812
zum Grubeningenieur aufrückte. Dieſe Stellung ließ ihn alsbald auf
Mittel und Wege ſinnen, den Transport der Kohlen nach Möglichkeit
zu erleichtern. Die Frucht dieſes Strebens war die von ihm innerhalb
10 Monaten erbaute, als „Travelling Machine“ („Reiſemaſchine“) be-
zeichnete Lokomotive „Blutcher“. Dieſelbe zog bei einer am 25. Juli 1814
angeſtellten Probefahrt bei einer Steigung von 1:450 acht Wagen von
30 Tonnen Gewicht mit einer Geſchwindigkeit von 4 engliſchen Meilen
in der Stunde.


Wenngleich dieſe Maſchine regelmäßigen Dienſt auf der Killing-
worther Grubenbahn verrichtete, ſo wies dieſelbe dennoch ſehr ſchwer-
wiegende Mängel auf, an deren Beſeitigung Stephenſon während der
folgenden Jahre eifrigſt arbeitete. Was dieſen vor ſeinem Vorläufer
Trevithick ganz beſonders auszeichnet, und was auch in erſter Linie
die Urſache ſeiner ſpäteren Erfolge war, das iſt der Umſtand, daß
Stephenſon ſich nicht einſeitig auf die Vervollkommnung der Lokomotive
warf, ſondern daß er auch den Oberbau der Schienenbahn, alſo die
Konſtruktion der Geleiſe, in den Kreis ſeiner Thätigkeit zog. Er war
daher eine mehr univerſelle und dabei zugleich ſehr nachhaltige Natur
und vermochte die Verhältniſſe von einer höheren Warte zu überblicken
als ſeine Vorgänger. Es möge hier kurz erwähnt werden, daß
Stephenſon in jener Zeit gleichzeitig mit Davy die Erfindung der die
Gefahr der Exploſion ſchlagender Wetter weſentlich vermindernden
Sicherheitslampe (ſ. Fig. 189, S. 297) machte. Inzwiſchen brachte John
Berkinshaw durch die Erfindung der erheblich widerſtandsfähigeren,
[741]Allgemeines.
aus Schmiedeeiſen gewalzten Schienen im Jahre 1820 einen weiteren
weſentlichen Fortſchritt.


Als im Jahre 1821 einem Konſortium der Bau einer zunächſt mit
Pferden zu betreibenden Eiſenbahn von Stockton nach Darlington
konzeſſioniert worden war, da gelang es Stephenſon, die maßgebenden
Perſönlichkeiten dazu zu bewegen, daß ein weſentlicher Teil des Betriebes
mit Lokomotiven ausgeführt wurde. Stephenſon ſelbſt trat im Jahre 1823
mit einem jährlichen Gehalte von 300 Pfund Sterling als Ingenieur
in die Dienſte dieſer Stockton — Darlington-Eiſenbahngeſellſchaft, projek-
tierte und baute die Linie und richtete auch ſchließlich den Lokomotiv-
betrieb ein. Da hier die Verhältniſſe bei weitem größer ſich ge-
ſtalteten, als bei den Killingworther Gruben, ſo war hier eine gute
Gelegenheit geboten, die Verwendbarkeit der Dampfkraft im größeren
Maße zu prüfen. Am 27. September 1825 wurde die neue Bahn
eröffnet. Die auf das Unternehmen geſetzten Hoffnungen bewährten
ſich vollkommen; die Maſchine erreichte bei einem Zuggewichte von
90 Tonnen und einer Paſſagieranzahl von 450 Perſonen die anſehnliche
Geſchwindigkeit von 12 engliſchen Meilen in der Stunde. Das Miß-
trauen, welches ſich faſt allgemein gegen dieſes neue Beförderungsmittel
geltend machte, und die Furcht, welche auch die Unternehmer der Eiſen-
bahn für ihr Leben wie für ihr gutes Geld befangen hielt, fand einen
ſehr bezeichnenden Ausdruck durch die Deviſe, welche dieſe ihrem Unter-
nehmen gaben. Dieſelbe lautete, in einem gerade nicht ſehr klaſſiſchen
Latein: „Periculum privatum utilitas publica“ und prangte auf einem
während der Einweihungsfeier mit der Muſik beſetzten Wagen. Man
kann den Sinn dieſes Wahlſpruches in doppelter Weiſe auslegen,
einmal derart, daß das finanzielle Riſiko, welches der Privatmann
übernahm, ſich in einen öffentlichen Nutzen umſetzen werde; dann aber
auch in dem Sinn, daß die perſönliche Gefahr, welcher die den erſten
Probefahrten ſich anvertrauenden Staatsbürger ſich ausſetzten, eine
Erhöhung des Gemeinwohles durch Schwinden des gegen die Eiſen-
bahnen beſtehenden Mißtrauens herbeiführen werde.


In der That war der Widerſtand, welcher ſeitens der Gegner der
Eiſenbahnen, der Landleute, der Gaſtwirte, der Pferdezüchter, der
Jagdintereſſenten u. ſ. w., ins Werk geſetzt wurde, ein ſehr energiſcher.
Mußte doch die zuerſt projektierte Linie der Stockton-Darlington-Bahn
verlegt werden, weil der Herzog von Cleveland dort einen Fuchsbau beſaß!


Wenngleich die eben genannte Bahn gegen die früheren Kohlen-
bahnen einen erheblichen Fortſchritt aufwies, ſo war ſie doch noch
ſehr weit davon entfernt, eine Eiſenbahn im heutigen Sinne zu ſein.
Der Betrieb erfolgte nur zum Teil durch Lokomotiven; an gewiſſen
Stellen, wo ſtarke Steigungen vorhanden waren, wurden die Wagen
an Seilen durch große feſtſtehende Dampfmaſchinen emporgezogen.
Zwiſchen den Endſtationen verkehrte täglich nur zweimal ein Perſonen-
wagen, der nach den Schilderungen der Zeitgenoſſen große Ähnlichkeit
[742]Der Verkehr zu Lande.
mit einem Menageriewagen zeigte. Eine Beförderung eigentlicher Güter-
züge erfolgte überhaupt nicht; die Bahn ſtellte vielmehr nur die Loko-
motive und jeder hatte das Recht, ſeine eignen Wagen gegen ein
gewiſſes Fahrgeld auf der Bahn zu befördern.


Immerhin aber waren die hier gemachten Erfahrungen derartiger
Natur, daß ſie alsbald zu dem Bau der erſten wirklichen Perſonen-
eiſenbahn, derjenigen von Liverpool nach Mancheſter führten. Auch
hier war alles in die Hände George Stephenſons gelegt.


Der Bau dieſer Eiſenbahn von Liverpool nach Mancheſter machte
erhebliche Schwierigkeiten; unter anderem mußte ein großes Moor durch-
ſchnitten werden, während an anderen Stellen große Felsſprengungen
auszuführen waren. Alle dieſe Schwierigkeiten aber wurden durch
Stephenſons Energie und Genie ſiegreich überwunden.


Man war ſich alsbald bewußt, daß die bei der Stockton-Darlington-
Bahn verwendete Lokomotive für dieſe neue Bahn nicht zu benutzen
ſein würde, und ſetzte daher einen Preis von 500 Pfund Sterling für
die beſte Lokomotive aus. Die Bedingungen dieſes Konkurrenz-
ausſchreibens lauteten:


  • 1) Die Maſchine muß ihren Rauch ſelbſt verbrennen.
  • 2) Dieſelbe muß bei einem Eigengewichte von 6000 Kilogrammen
    täglich zwanzigtauſend Kilogramm Laſt, einſchließlich Tender
    und Waſſerkaſten, mit 10 Meilen Geſchwindigkeit in der Stunde,
    mit einer Dampfſpannung, welche höchſtens 50 Pfund auf den
    Quadratzoll betragen darf, ziehen können.
  • 3) Der Keſſel muß zwei Sicherheitsventile beſitzen, von denen
    keines befeſtigt ſein darf, und von denen eines der Kontrole
    des Maſchiniſten entzogen werden kann.
  • 4) Maſchine und Keſſel ſollen auf Federn und 6 Rädern ruhen.
    Das obere Ende des Schornſteins darf nicht höher als 15 Fuß
    über der Bahn liegen.
  • 5) Das Gewicht der Maſchine darf bei gefülltem Keſſel 6000 Kilo-
    gramm nicht überſchreiten. Einer leichteren Maſchine wird,
    falls ſie eine verhältnismäßige Laſt zu ziehen vermag, der
    Vorzug gegeben.
  • 6) An der Maſchine iſt ein Queckſilber-Manometer anzubringen,
    an welchem Dampfſpannungen von mehr als 45 Pfund auf
    den Quadratzoll abgeleſen werden können.
  • 7) Die Maſchine iſt probebereit bis zum 1. Oktober 1829 an das
    Liverpooler Ende der Bahn zu ſchaffen.
  • 8) Der Preis der Maſchine darf 550 Pfund Sterling nicht über-
    ſchreiten.

Auf Grund dieſes Preisausſchreibens fanden ſich 4 Lokomotiven
zu feſtgeſetzter Zeit ein, und es fand zwiſchen denſelben der in der
Geſchichte der Eiſenbahnen hochbedeutſame Lokomotivſtreit von
Rainhill am 6. Oktober 1829
ſtatt.


[743]Allgemeines.

Die vier um die Palme des Sieges ringenden Lokomotiven
waren:


  • The Rocket, die Rakete, von Stephenſon in ſeiner Fabrik
    zu Newcaſtle erbaut;
  • The Novelty, die Neuigkeit, von Braithwaite und Ericſon;
  • The Sanspareil, die Unvergleichliche, von Hackworth;
  • The Perseverance, die Beharrlichkeit, von Burſtall.

Der Wettbewerb dieſer vier Maſchinen fand in Gegenwart einer
großen Menge von Gelehrten, Fachmännern und Laien ſtatt und endete
mit einem vollſtändigen Siege der Stephenſonſchen Lokomotive „The
Rocket“
. Dieſelbe hatte bei einem Eigenwicht von 4¼ Tonnen einen
12¾ Tonnen ſchweren Zug mit einer Geſchwindigkeit von 13,8 engliſchen
Meilen in der Stunde befördert. Ja, als die eigentlichen Verſuchs-
fahrten bereits beendet waren, führte Stephenſon ſeine Maſchine noch
einmal vor und legte nun 25 Meilen in der Stunde zurück. Von
dieſem Tage an war der Sieg der Eiſenbahnen endgiltig entſchieden;
die Aktien der Liverpool-Mancheſter-Bahn ſtiegen ſofort um 10 %.


Einen erheblichen Teil ſeines Erfolges hatte Stephenſon der
eigenartigen Konſtruktion des Keſſels der Rocket zu verdanken; dieſelbe
rührte merkwürdiger Weiſe von einem Nichttechniker, dem kaufmänniſchen
Sekretär der Liverpool-Mancheſter-Bahn Henry Booth her, und es
erhielt daher letzterer einen beſonderen Anteil von dem ausgeſetzten
Preiſe. Dieſer neuartige Keſſel gelangt noch jetzt bei den Lokomotiven
allgemein zur Anwendung; ſein weſentlichſtes Merkmal beſteht darin,
daß der Waſſerraum desſelben von zahlreichen Röhren durchzogen wird,
in welchen die Feuergaſe zum Schornſtein entlang ſtreichen. Des
weiteren wurde Stephenſons Sieg noch dadurch entſchieden, daß jener
den entweichenden Dampf zum Anfachen des Feuers ausnutzte.


So war die Welt in den Beſitz eines neuen gewaltigen Verkehrs-
mittels gelangt. Stephenſon war der Held des Tages, und von nun
ab begann das Dampfroß unaufhaltſam ſeinen Siegeslauf um die
Erde. Man betrachtete dasſelbe als einen lebenden Dämon, die Stahl
und Eiſen gewordene Nachahmung des Pferdes, des bisherigen voll-
kommenſten Repräſentanten des Verkehrsweſens zu Lande. „Was an
der Dampfmaſchine“, ſo ſagt Ernſt Kapp in ſeinem vortrefflichen Werke
„Grundlinien einer Philoſophie der Technik“, „die hohe Bewunderung
einflößt, das ſind ja nicht jene techniſchen Einzelheiten, wie etwa die
Nachbildung einer organiſchen Gelenkverbindung durch metallene Dreh-
flächen mit Ölglätte, nicht die Schrauben, Arme, Hebel, Kolben,
ſondern es iſt die Speiſung der Maſchine, die Umſetzung der Brenn-
ſtoffe in Wärme und Bewegung, kurz der eigentümlich dämoniſche
Schein ſelbſteigener Arbeitsleiſtung. Hier ſpricht die Erinnerung an
höhere Herkünfte, die den Menſchen, deſſen Hand das eiſerne Ungetüm
gebaut und freigegeben hat zum Wettlauf mit Sturm und Wind und
Wogen, in ſich ſelbſt erkennen macht.“


[744]Der Verkehr zu Lande.

Am 16. September 1830 fand dann die feierliche Eröffnung der
Liverpool-Mancheſter-Bahn, der erſten Eiſenbahn im heutigen Sinne
ſtatt. Leider wurde die Feſtſtimmung erheblich getrübt, denn ſchon
hier zeigte ſich die in den Dienſt der Menſchheit gebannte, gewaltige
Kraft des Dampfes in ihrer dämoniſchen Eigenſchaft: einerſeits Segen
ſpendend, andrerſeits Tod und Verderben ſpeiend. Auf einer Zwiſchen-
ſtation wurde das Parlamentsmitglied Huskiſſon durch die Zuglokomotive
getötet. Stephenſon ſelbſt fuhr den Sterbenden nach Liverpool zurück
und zwar mit der erſtaunlichen Geſchwindigkeit von 30 engliſchen Meilen
in der Stunde!


Es möge uns geſtattet ſein, hier die Aufzeichnungen eines Teil-
nehmers dieſer erſten Eiſenbahnfahrt zum Teil folgen zu laſſen:


„Obgleich die ganze Tour zwiſchen Liverpool und Mancheſter eine Reihe
von Bezauberungen iſt, weit wunderbarer als die in „Tauſend und eine Nacht“,
da ſie Wahrheit, nicht Dichtung ſind, ſo ſind doch gewiſſe Momente von beſonders
anregendem Reiz.


Es ſind dies die Abfahrt, die Steigungen, die Gefälle, die Tunnels, das
Chat-Moor, die Begegnungen.


Im Augenblicke der Abfahrt bläſt das Automatroß eine Exploſion von
Dampf empor — dann ſcheint es für eine oder zwei Sekunden zu ruhen. Bald
wiederholen ſich aber die Exploſionen in immer kürzeren Intervallen, bis ſie zu
ſchnell werden, um gezählt werden zu können, obgleich ihr Schlag noch deutlich
unterſcheidbar bleibt. Dieſe Ausſtöße oder Exploſionen gleichen weit mehr kurz
ausgeſtoßenem Löwen- oder Tigergebrüll, als einem anderen Tone, deſſen ich mich
entſinne. Bei der Steigung werden ſie langſamer und langſamer, bis der rieſige
Automat bei der gewaltigen Anſtrengung, die Höhe zu erreichen, arbeitet wie ein
atemloſes Pferd. Die Schnelligkeit mindert ſich dem angemeſſen, und kurz vor
dem Überſchreiten des Höhepunktes bewegt ſich die Maſchine nicht ſchneller, als daß
man im Schritt nebenher reiten könnte. Mit der langſameren Bewegung der
Maſchine wird auch ihre Atmung beſchwerlicher, dem Stöhneu ähnlicher, bis zuletzt
das Tier erſchöpft wird und röchelt wie der Tiger, der vom Büffel erdrückt wird.


Im Augenblicke aber, wo die Höhe erreicht iſt und der Herabſtieg beginnt,
werden die Schläge raſcher, die Maſchine mit ihrem Zuge beginnt zu eilen, und
in wenig Sekunden fliegt ſie das Gefäll hinab wie ein Blitz und wie mit
einem ununterbrochenen Knallen von einem fernen Geſchützfeuer. Zu dieſer Zeit
ſtürmt der Zug mit 35 bis 40 Miles Geſchwindigkeit in der Stunde dahin. Ich
ſaß außen auf dem erſten Wagen ſozuſagen über der Maſchine. Die Scene war
jetzt gewaltig, ich hätte faſt geſagt ſchrecklich. Obgleich tote Windſtille herrſchte,
blies uns doch ein Orkan entgegen, mit ſolcher Schnelligkeit ſchoſſen wir durch die
Luft. Aber alles war gleichförmig ſtreng gemeſſen, und es war etwas in der
Präciſion der Maſchine, das die Empfindung einen Punkt weit vor der Furcht
ſtillhalten, die Sicherheit ein wenig größer als die Gefahr erſcheinen ließ.


Man mag vom Pole zum Äquator, von der Straße von Malacca bis zum
Iſthmus von Darien reiſen und wird nicht ſo Bewunderungswürdiges ſehen, als
dieſe Eiſenbahn.“


Alsbald vollzog ſich in ſchneller Folge der Bau weiterer Eiſenbahn-
linien. In Deutſchland wurde die erſte Eiſenbahn zwiſchen Nürnberg
und Fürth am 7. Dezember 1835 eröffnet; auch dieſe Feier, von der
wir in Fig. 411 eine charakteriſtiſche Zeichnung eines Augenzeugen
bringen, bildete einen Triumph für die Erbauer der Bahn, Johannes
Scharrer
und Paul Denis. Wohl ſelten iſt die Prophezeiung eines
[745]Allgemeines.

Figure 402. Fig. 411.

Eröffnung der Eiſenbahn Nürnberg-Fürth am 7. Dezember 1835.


[746]Der Verkehr zu Lande.
Poeten ſo vollſtändig in Erfüllung gegangen, als die des Nürnberger
Buchbindermeiſters und Magiſtratsrates, Jakob Schnerr. Dieſer hatte
ein Feſtgedicht für das an die Einweihung ſich anſchließende Bankett
nach der Melodie: „Am Rhein, am Rhein, da wachſen unſre Reben“
geliefert, aus welchem hier folgende zwei Strophen Platz finden mögen:


Ja! alle Ketten, Feſſeln, Wehr und Waffen

Aus roher, harter Zeit,

Sie werden einſt in Schienen umgeſchaffen,

Zum Preis der Menſchlichkeit.

Mit Schienen, Freunde, webet ohne Bangen

Ein Netz von Pol zu Pol!

Sieht ſich Europa einſt darin gefangen,

Dann wird es ihr erſt wohl.

Nur wenige Zahlen mögen hier folgen, um den Siegeszug zu
kennzeichnen, welchen alsbald das Dampfroß um die Erde begann.
Nachdem im Jahre 1825 die 41 Kilometer lange Strecke Stockton-
Darlington als die erſte, wenn auch noch unvollkommene, Eiſenbahn
eröffnet worden, waren im Jahre 1840 auf der geſamten Erde bereits
8641 Kilometer Eiſenbahnen im Betriebe. Zwei Jahrzehnte ſpäter,
am Schluſſe des Jahres 1860, war dieſe Länge auf 107,935 Kilometer
und nach weiteren zwei Jahrzehnten, am Schluſſe des Jahres 1880,
auf 367,105 Kilometer geſtiegen. Die Ausdehnung der Schienengleiſe
war alſo in den 20 Jahren, von 1840—1860, um 99,264 Kilometer und
in den 20 Jahren, von 1860—1880, um 259,080 Kilometer gewachſen.


Am Schluſſe des Jahres 1887 waren auf der Erde im ganzen
547,832 Kilometer Eiſenbahnen im Betriebe. Von Intereſſe iſt die
Zunahme, welche die Eiſenbahnnetze der verſchiedenen Länder noch jetzt
erfahren. So betrug dieſe Zunahme in den Jahren 1883—1887:


  • In Deutſchland . . . . . . . . 3792 km = 10,6 %
  • „ Öſterreich-Ungarn einſchl. Bosnien 3834 „ = 18,6 „
  • „ Großbritannien und Irland . . 1445 „ = 4,8 „
  • „ Frankreich . . . . . . . . . 4520 „ = 15,2 „
  • „ Rußland . . . . . . . . . 3396 „ = 13,5 „
  • „ Italien . . . . . . . . . . 2309 „ = 24,4 „
  • „ Belgien . . . . . . . . . 440 „ = 10,2 „
  • „ Riederlande und Luxemburg . . 437 „ = 17,3 „
  • „ Schweiz . . . . . . . . . 74 „ = 2,6 „
  • „ Spanien . . . . . . . . . 1058 „ = 12,8 „
  • „ Amerika . . . . . . . . . 64917 „ = 28,8 „
  • „ Auſtralien . . . . . . . . . 4937 „ = 47,7 „
  • „ Europa . . . . . . . . . 24794 „ = 13,6 „
  • „ Aſien . . . . . . . . . . 7893 „ = 41,5 „
  • „ Afrika . . . . . . . . . . 2079 „ = 36,9 „

Die Anlagekoſten der am Schluſſe des Jahres 1887 im Betriebe
befindlichen Eiſenbahnen betrugen:


  • Für Europa . . . . . . . 61,747,899,452 Mark,
  • „ die übrigen Länder der Erde 52,304,531,262 „
  • insgeſamt rund 114 Milliarden Mark

[747]Allgemeines.

Die Dichtigkeit der Eiſenbahnnetze der verſchiedenen Länder läßt
ſich aus folgender kleiner Zuſammenſtellung entnehmen:

Bevor wir uns der Beſprechung der verſchiedenen Einrichtungen
der Eiſenbahnen zuwenden, mögen noch einige kurze Bemerkungen
folgen, aus denen der Einfluß zu erſehen iſt, welchen die Eiſenbahnen
nach verſchiedenen Richtungen hin ausübten.


Nach PicardsTraité de chemin de fer betrug die Fahr-
geſchwindigkeit der Perſonenbeförderung in Frankreich pro Stunde:


  • im 17. Jahrhundert . . . . . 2 km
  • am Ende des 18. Jahrhunderts 3 „
  • im Jahre 1814 . . . . . . . 4 „
  • „ „ 1830 . . . . . . . 6 „
  • „ „ 1848 . . . . . . . 9 „

Beim Gütertransport betrug dieſe Geſchwindigkeit vor Einführung
der Eiſenbahnen nicht mehr als 3 bis 4 km pro Stunde. In England
legte man bereits in alten Zeiten auf die Herſtellung guter Perſonen-
beförderung ganz beſonderes Gewicht, und es betrug hier die Geſchwindig-
keit der alten Diligencepoſten 15 bis 16 km die Stunde.


In dieſe Verhältniſſe brachte nun die Eiſenbahn einen plötzlichen
Wandel. Die Geſchwindigkeit der Perſonenbeförderung ſtieg nunmehr
ſofort auf 30 km, diejenige des Güterverkehrs auf 20 bis 30 km.
Heutzutage fahren unſere Kurierzüge mit 90 km und mehr in der
Stunde. Dieſe außerordentliche Vermehrung der Geſchwindigkeit brachte
auf der einen Seite allerdings einen außerordentlichen Gewinn, auf der
anderen Seite aber zwang ſie die Eiſenbahntechniker, auf Mittel und
Wege zu ſinnen, um die gewaltigen entfeſſelten Kräfte leicht und bequem
regeln und bändigen zu können.


Picard berechnet die Erſparnis der Reiſenden an Zeit infolge
der Abkürzung der Reiſedauer im Jahre 1883 für Frankreich auf
17 Millionen Tage zu 24 Stunden oder auf 10 bis 11 Stunden pro
[748]Der Verkehr zu Lande.
Einwohner. Engel ſchätzt die aus der Beſchleunigung des Perſonen-
verkehrs ſich ergebende Erſparnis für die Zeit bis 1878 für Deutſch-
land auf 955 Millionen Mark. Beiläufig möge hier noch bemerkt
werden, daß der thatſächliche, d. h. direkte und indirekte Vorteil einer
Eiſenbahn von dem bekannten franzöſiſchen Miniſter Freycinet (welcher
gleich dem Präſidenten Carnot aus dem Ingenieurfache hervorgegangen
iſt) als das Vierfache der geſamten Bruttoeinnahme der Bahn be-
rechnet wurde.


Man iſt in den Kreiſen der Laien ſehr geneigt, die Eiſenbahnen
als ein höchſt gefährliches Transportmittel zu betrachten. Mit Unrecht!
denn die Statiſtik lehrt das Gegenteil. So ſtellte man für Frankreich
feſt, daß durch die Eiſenbahnen eine Steigerung der körperlichen
Sicherung um das 13—16fache gegenüber dem Reiſen in der Poſt-
kutſche bewirkt worden iſt. Für England iſt nachgewieſen worden, daß
es bei weitem nicht ſo gefährlich iſt, einen Tag mit der Eiſenbahn zu
reiſen, als während derſelben Zeit in den belebteren Teilen Londons
zu gehen, woſelbſt durch Pferdewagen jährlich 7—8mal ſo viel Menſchen
umkommen, als auf den ſämtlichen Eiſenbahnen Großbritanniens.
Durch die Eiſenbahnen iſt der Komfort und die Gelegenheit zum Reiſen
ſo gewaltig gewachſen, daß z. B. in Frankreich vom Jahre 1841 bis
bis zum Jahre 1890 die Zahl der Reiſenden ſich um das 381 fache
vermehrte.


1. Der Bau der Eiſenbahnen.

Handelt es ſich darum, zwei Städte unter einander durch eine
Eiſenbahn zu verbinden, ſo ſind zunächſt diejenigen zwiſchenliegenden
Punkte zu beſtimmen, welche wegen ihrer wirtſchaftlichen Bedeutung
durch die Eiſenbahn berührt und in den Verkehr einbezogen werden
ſollen. Die auf dieſe Weiſe feſtgelegte Linie nennt man die kommerzielle
Trace. Nunmehr iſt es Sache des Bauingenieurs dieſe kommerzielle
Trace ſo zu legen, daß dieſelbe mit den zur Verfügung ſtehenden
techniſchen Mitteln gebaut und betrieben werden kann, und zwar ſo,
daß ein angemeſſener Nutzen erzielt werden kann. Aus dem Kom-
promiſſe zwiſchen der kommerziellen und der thatſächlich ausführbaren
Trace entſpringt dann ſchließlich das endgültige Projekt. Als Grund-
ſätze für den Bau der Eiſenbahnen gelten im allgemeinen folgende:


1. Die Krümmungsradien der Kurven müſſen möglichſt groß ſein,
damit die Fahrzeuge möglichſt leicht hindurch paſſieren können; man
nimmt für dieſe Radien im flachen Lande eine Größe von 1100 Metern,
im Hügellande von 600, im Gebirge von 300 Metern; in Deutſchland
ſind Kurvenradien von weniger als 180 Metern überhaupt nicht zuläſſig.


2. Die Steigungen ſollen im Flachlande in der Regel den Betrag
von 1 : 200 nicht überſchreiten, d. h. die Eiſenbahn ſoll auf einer Länge
von 200 Metern höchſtens 1 Meter anſteigen. Im Hügellande geht
man bis 1 : 100, im Gebirge bis auf 1 : 40, ja in der neueren Zeit bis
[749]Der Bau der Eiſenbahnen.
auf 1 : 20. Iſt mit Hülfe dieſer Steigungen die Bahn nicht zu er-
bauen, ſo muß man das gewöhnliche Eiſenbahnſyſtem mit glatten
Schienen verlaſſen und zum Bau einer Zahnradbahn oder Seilbahn,
oder einer Kombinierung dieſer Syſteme ſchreiten.


Der den Bau einer Eiſenbahn projektierende Ingenieur iſt durch
dieſe Rückſichten außerordentlich gebunden im Vergleich zu ſeinen den
Wegebau betreibenden Kollegen. Es iſt dieſes aber eine Folge des
Weſens der Schienenbahn, und man muß daher bei dem Bau derſelben
gewaltige Bauwerke, Einſchnitte, Aufſchüttungen, Tunnels, Brücken u. ſ. w.
ausführen, um die oben angegebenen Krümmungsradien und Steigungen
nicht zu überſchreiten.


Die größten Hinderniſſe bilden die hohen Gebirge, ſowie die großen
Flüſſe und Meeresarme: erſtere müſſen durchtunnelt werden, letztere
bezwingt man dadurch, daß entweder gewaltige, früher für unmöglich
gehaltene Brückenbauten ausgeführt werden, oder daß man den Eiſen-
bahnzug auf großen Dampfſchiffen, ſogenannten Trajektdampfern, über
das Waſſer transportiert.


Von den Tunnels ſind die großartigſten der Mont Cenis-Tunnel
von 12,2 Kilometer Länge, eröffnet am 17. September 1871, der
St. Gotthard-Tunnel von 15 Kilometer Länge, eröffnet im Juni 1882,
und der Arlberg-Tunnel von 10,25 Kilometer Länge, eröffnet im
Jahre 1884.


Auf dem Gebiete des Brückenbaues hat die Einführung der Eiſen-
bahnen eine vollſtändig neue Ära herbeigeführt. Hatte in früheren
Jahrhunderten bei der Verwendung von Holz und Stein ſchon die
Uberbrückung kleiner Ströme ein erhebliches Maß von Zeit und Arbeit
erfordert, ſo brachte das Zeitalter des Dampfes auch hier alsbald
einen derartigen Aufſchwung, daß bereits ein ernſtgemeintes Projekt einer
Überbrückung des Kanals zwiſchen England und Frankreich auftauchen
konnte. Es iſt dieſes in erſter Linie eine Folge der Einführung des
Schmiedeeiſens und des Stahles in die Brückenbautechnik.


Als den gewaltigſten Repräſentanten dieſes Teiles des Eiſenbahn-
weſens laſſen wir nachſtehend die über den Firth of Forth bei Edin-
burg vor wenigen Jahren erbaute Brücke folgen. Der Umſtand, daß
dieſes gewaltige Werk überhaupt unternommen und ausgeführt wurde,
iſt eine lebendige Illuſtration für den Wert, welchen gegenwärtig die
Zeit in unſerem Leben beſitzt, da der durch die Brücke beſeitigte Umweg
nur 40 Kilometer, das Anlagekapital dagegen 2325000 Pfund Sterling
betrug.


Die Forth-Brücke iſt erbaut von den Ingenieuren Sir John
Fowler und Benjamin Baker; die Überſpannung des einen zahlreichen
Schiffsverkehr aufweiſenden Meeresarmes geſchieht in 2 koloſſalen
Öffnungen von je 521,2 m lichter Weite. Als erſchwerend für die
Ausführung der Brücke kam in Betracht, daß dieſelbe wegen der Schiffahrt
ſowie wegen der Tiefe des Waſſers (60 m) ohne irgend welche Rüſtung
[750]Der Verkehr zu Lande.
von den Ufern aus allmählich vorgebaut werden mußte; als günſtiger
Umſtand kam dem Bau die zwiſchen beiden Ufern gelegene kleine
Felſeninſel Garvie zu gute; dieſelbe iſt denn auch zur Aufnahme des

Figure 403. Fig 412.

Die Forth-Brücke


einzigen Zwiſchenpfeilers benutzt worden. Wie
aus der in Fig. 412 gegebenen Skizze zu er-
ſehen iſt, beſteht die Brücke aus drei großartigen
Pfeilerkonſtruktionen, von denen je eine auf dem
ſüdlichen bezw. nördlichen Ufern und eine auf
der eben erwähnten Inſel Garvie errichtet iſt.
Das Charakteriſtiſche der Konſtruktion beſteht
darin, daß von jedem Pfeiler aus Konſolen
nach beiden Seiten hin vorgebaut ſind, und der
zwiſchen den Endpunkten der Konſolen noch zu
überbrückende Teil der Spannweite durch einen
mit Hilfe von Gelenken eingeſchalteten Fachwerks-
träger überſpannt wird. Die Gelenkigkeit dieſer
Verbindung iſt erforderlich, um den Ver-
änderungen der Höhenlage der Stützpunkte und
den durch die Temperaturſchwankungen hervor-
gerufenen Ausdehnungen der Eiſenkonſtruktionen
entgegentreten zu können. Dieſes Syſtem des
Brückenbaues, bekannt als Cantilever-Brücke
oder Konſolbrücke mit frei ſchwebenden Stütz-
punkten, iſt berufen, eine hervorragende Rolle
bei der Überbrückung ſolcher Verkehrshinderniſſe
zu bieten, bei denen aus irgend welchen Gründen
die Errichtung eines Baugerüſtes zwiſchen den
Stützpunkten ausgeſchloſſen iſt. In der That
hat dasſelbe bereits mehrfach Anwendung ge-
funden, wie z. B. bei der Überbrückung des
Niagara und des St. Johnfluſſes in Neu-Braun-
ſchweig. Die Grundidee iſt ſehr alt und ſoll
bereits vor Hunderten von Jahren von den
Chineſen benutzt worden ſein. Als Baker, der
eine Erbauer der Forth-Brücke, den durch ſeine
außereuropäiſchen Feldzüge bekannten engliſchen
General Lord Napier of Magdala auf die Bau-
ſtelle führte und ihm das Prinzip der Kon-
ſtruktion darlegte, äußerte derſelbe, daß die
gleiche Bauweiſe ihm mehrfach bei wilden
Völkern zum Zwecke der Überbrückung reißender,
unwegſamer Flüſſe bekannt geworden ſei.


Fig. 413 giebt die Art und Weiſe wieder,
wie Baker gelegentlich eines in London ge-
haltenen Vortrages die Wirkungsweiſe der
[751]Der Bau der Eiſenbahnen.
Cantilever-Brücke erklärte. Man erkennt unſchwer, daß die beiden auf
Stühlen ſitzenden Perſonen den beiden Hauptpfeilern entſprechen, während
der mittlere, gelenkige Teil der Brücke durch den Sitz der mittleren
Perſon repräſentiert wird. Die Arme der beiden erſtgenannten Per-
ſonen ſind als Konſolen ausgebildet und zwar derartig, daß die über

Figure 404. Fig. 413.

Bakers lebendes Modell der Forth-Brücke.


dem Waſſerſpiegel liegenden das gelenkige Zwiſchenglied tragen, während
die den Ufern zugewandten durch am Lande errichtete Fundamente ge-
ſichert ſind. Es möge hier bemerkt werden, daß die Übertragung dieſes in
Aſien für Holzbrücken und kleine Spannweiten angeblich bereits ſeit Jahr-
hunderten bekannten Konſtruktionsprinzipes auf eiſerne Brücken mit
großen Spannweiten zuerſt von einem deutſchen Ingenieur Gerber, dem
Erbauer der bereits erwähnten Niagara-Brücke, herrührt. Nachdem
ſich dieſe Bauweiſe für immer größere Spannweiten erfolgreich bewährt
hat, läßt dieſelbe die Möglichkeit der Überbrückung noch größerer
Meeresarme unzweifelhaft erſcheinen.


Was die Fundierung der Pfeiler anbetrifft, ſo iſt jeder derſelben
in der Weiſe unterſtützt, daß unter jeder Ecke ein cylindriſcher Mauer-
werkspfeiler von durchſchnittlich 15 m Durchmeſſer angebracht iſt. Die
Verbindung dieſer Mauerkörper mit den eiſernen Pfeilern erfolgt durch
48 Stahlbolzen von 65 mm Stärke.


Die 3 Fundamente des ſüdlichen Pfeilers ſind ſämtlich auf eiſernen
Caiſſons aufgebaut, welche bis auf den feſten Baugrund, durch die
darüber gelagerte Schlammſchicht hinabgeſenkt wurden. Der Durch-
meſſer dieſer Caiſſons beträgt 21,3 m. Die nähere Einrichtung eines
ſolchen Caiſſons iſt aus Fig. 414 erſichtlich. Dasſelbe beſteht aus
einem der unteren Fläche des Brückenpfeilers entſprechend bemeſſenen
ſtarken eiſernen Kaſten, welcher mit ſcharfen Schneiden verſehen iſt, ſo
[752]Der Verkehr zu Lande.
daß er ſich in das Erdreich des Meeresgrundes eindrückt. Iſt dieſes
Caiſſon an derjenigen Stelle verſenkt, wo der Brückenpfeiler errichtet
werden ſoll, ſo wird das Waſſer aus demſelben herausgepumpt. Nun-
mehr wird das Caiſſon ſorgfältig verſchloſſen, und hierauf Luft in das-

Figure 405. Fig. 414.

Fundierung eines Brückenpfeilers auf einem Caiſſon.


ſelbe hineingepreßt, welche durch ihren Überdruck verhindert, daß durch
das Erdreich Waſſer unterhalb der Schneiden des Caiſſons in dieſes
eindringe. Nun wird von Arbeitern das Erdreich unterhalb des Caiſſons
gelockert und nach oben befördert, infolgedeſſen das Caiſſon immer
tiefer in das Erdreich einſinkt, bis guter Baugrund erreicht iſt. Der
Aufenthalt in einem ſolchen Caiſſon iſt infolge des in demſelben
herrſchenden Überdruckes ein der Geſundheit ſchädlicher, ſo daß die
Arbeiter oft abgelöſt werden müſſen.


Das Verſenken ging bei dem Bau der Forth-Brücke bei 3 Caiſſons
ohne Unfall von ſtatten; bei dem vierten trat jedoch ein eine lange
Verzögerung mit ſich bringender Zwiſchenfall ein. Am Neujahrstage
1885, als man das Caiſſon an Ort und Stelle gebracht hatte, ſetzte
ſich derſelbe bei Eintritt der Flut derartig tief in dem Schlamm feſt,
daß die darauf folgende Ebbe nicht imſtande war, ihn zu heben; er
füllte ſich daher mit Waſſer, neigte ſich zur Seite und wurde außer-
dem noch um 4,5 m von der für ihn beſtimmten Stelle fortgeführt.
Der Verſuch, das Caiſſon durch Auspumpen wieder flott zu machen,
mißlang und koſtete zwei Arbeitern das Leben. Endlich im Oktober
gelang es, dasſelbe an ſeinen Ort zu bringen und dort zu feſſeln.


Die Fundierungsarbeiten waren im März 1886 beendet und hatten
gerade 2 Jahre in Anſpruch genommen.


Von nun ab begann man mit der Anbringung der großartigen
eigentlichen Brückenkonſtruktionen, indem man zunächſt die Pfeiler, deren
mittlerer in Fig. 415 dargeſtellt iſt, errichtete und von dieſen aus die
[753]Der Bau der Eiſenbahnen.
Überbrückung nach der Mitte der Öffnungen zu vorwärts trieb. Die
Ausführung der beiden Anſchluß Landbrücken bietet kein beſonderes
Intereſſe und kann daher übergangen werden.


Die Pfeiler ſowie die Konſolen ſind aus röhrenförmigen Säulen
und Streben zuſammengeſetzt. Wenn man bedenkt, daß der Durch-
meſſer dieſer Röhren bis zu 3,66 m beträgt, ſo kann man ſich eine

Figure 406. Fig. 415.

Der mittlere Pfeiler der Forth-Brücke.


Vorſtellung davon machen, wie außerordentlich kompliziert die Knoten-
punkte der Pfeiler und der Konſolſtreben ausfallen mußten. Es giebt
an der Brücke Punkte, wo 10 verſchiedene Konſtruktionsteile von un-
gewöhnlicher Größe zuſammenſtoßen und durch Nietung miteinander
in feſte Verbindung gebracht wurden; zur Erzielung einer leichteren
Vernietung gehen die Rohre in der Nähe der Knotenpunkte in eine
viereckige Form über. Das Vorbauen der Konſolen erfolgte in der
Weiſe, daß die einzelnen Rohrſtücke und Bleche durch hydrauliſche
Nietmaſchinen allmählich vor einander gebracht wurden, wobei allemal,
ehe ein feſter Dreiecksverband erzielt werden konnte, dieſer durch ſpäter
Das Buch der Erfindungen. 48
[754]Der Verkehr zu Lande.
wieder zu entfernende Hilfskonſtruktionen vorläufig hergeſtellt wurde.
Die Nietmaſchine ſowie ein die Bleche während des Nietens tragender
Krahn wurden mit dem Fortſchreiten der Arbeit hydrauliſch vorwärts
bewegt. Aus der in Fig. 416 wiedergegebenen Anſicht, welche einen
Krahn nebſt Nietmaſchine darſtellt, erſieht man eine der wie Schwalben-

Figure 407. Fig. 416.

Krahn und Nietmaſchine für Brückenbauten.


neſter an den Pfeilern und Streben haftenden Arbeitsſtellen. Eine
Hauptſchwierigkeit bei dieſer Art des Brückenbaus, bei welcher man
ſich von zwei Seiten auf halbem Wege entgegenkommt, beſteht darin,
daß die Richtung genau innegehalten wird und die beiden vorgebauten
Konſolen nicht an einander vorbeigehen.


Bei den gewaltigen Größenverhältniſſen der Brücke — die Höhe
der Pfeiler über dem Hochwaſſerſpiegel beträgt 110 Meter, während
diejenige des Berliner Rathausturms z. B. nur 88 Meter beträgt —
iſt die Ausdehnung, welche die Brücke bei Erhöhung der Temperatur
erfährt, ſehr beträchtlich; man ſchätzt dieſelbe im Sommer auf
800 Millimeter.


Hinſichtlich der Eiſenbahntrajekte können wir uns kurz faſſen. Bei
dieſen wird der Transport von Eiſenbahnwagen in der Weiſe aus-
geführt, daß dieſe auf das mit Schienengleiſen verſehene Verdeck des
Trajektſchiffes geſchoben und nunmehr wie jede andere Laſt an das
gegenüberliegende Ufer befördert werden. Hier wird der Zug von den
Schiffsgleiſen auf die am Lande befindlichen Gleiſe hinübergeſchafft
und ſetzt dann ſeinen Weg fort.


[755]Der Bau der Eiſenbahnen.

Iſt die Bahnlinie ſoweit hergeſtellt, daß die Tunnel, die Ein-
ſchnitte, die Aufſchüttungen, die Brücken fertig ſind, ſo beginnt die Ver-
legung des Oberbaues, d. h. der Gleiſe. Dieſes geſchieht in der Weiſe,
daß die Schienen auf hölzernen oder eiſernen Schwellen, welche in
einer ſtarken Kieslage eingebettet ſind, befeſtigt werden. Die Konſtruktionen
des Oberbaues ſind außerordentlich zahlreich; man unterſcheidet gegen-
wärtig nach dem zur Verwendung gelangenden Materiale den hölzernen
und den eiſernen Oberbau; bei erſterem liegen die Schwellen quer zur
Richtung des Gleiſes, während bei dem eiſernen Oberbau ſowohl
querliegende als auch unterhalb der Schienen mit dieſen in gleicher
Richtung verlaufende eiſerne Schwellen (Langſchwellen) zur Anwendung
kommen. Die Spurweite zwiſchen den Schienen beträgt bei der über-
wiegenden Mehrzahl der Eiſenbahnen 1,435 Meter; man nennt dieſe
die Normalſpur im Gegenſatz zu der Schmalſpur, welche zwiſchen 0,6
bis 1,25 Metern ſchwankt und bei den Eiſenbahnen untergeordneter
Bedeutung, den ſogenannten Sekundär- und Tertiärbahnen, Anwendung
findet. Die ſo verlegten Gleiſe ſind, um einen gehörigen Verkehr zu
ermöglichen, noch mit Vorrichtungen zu verſehen, welche einem Fahr-
zeuge geſtatten, von dem einen Gleiſe auf ein anderes überzugehen.
Dieſe Vorrichtungen ſind die Drehſcheiben, die Schiebebühnen und die
Weichen. Die beiden erſteren ſind beweglich angeordnete Gleisteile,
welche durch Menſchenkraft oder durch Elementarkraft ſamt dem auf ihr
befindlichen Fahrzeuge von einem zum anderen Gleiſe gedreht, oder
auf Rädern gefahren werden. Die dritte Gattung, die Weichen, iſt die
wichtigſte, denn mit Hülfe dieſer können ganze Züge von einem zum
anderen Gleiſe übergehen. In der Fig. 417 iſt eine Weichenanlage
dargeſtellt. Um von dem Gleiſe A B auf das Gleis C D ganze Wagen-
züge überführen zu können, iſt ein mit H H bezeichnetes Zwiſchengleis
angeordnet; dasſelbe hat an ſeinen beiden Enden bewegliche Zungen z z1,
welche mittels der Zugſtangen s ſo verlegt werden können, daß die Wagen
entweder auf den Gleiſen A B bezw. C D verbleiben oder über H von
dem einen zum anderen Gleiſe übergehen. Fig. 417 giebt ferner die
eigentliche Weiche in größerem Maßſtabe wieder. Der Teil H heißt das
Herzſtück, während die Teile Z den Namen Zwangsſchienen führen, weil
ſie die Räder bei dem Paſſieren der Weichen in die richtige Bahn
zwängen und am Entgleiſen verhindern. Je nachdem die Ablenkung
des Zuges, wenn man gegen die Spitze der Weiche ſieht, nach rechts
oder nach links erfolgt, unterſcheidet man Rechts- bezw. Linksweichen.
Laufen, wie in dem unteren Teile von Fig. 417 dargeſtellt iſt, beide Gleiſe
hinter der Weiche aus einander, ſo heißt die Weiche eine ſymmetriſche.


Eine große Anzahl der leider unvermeidlichen Eiſenbahnunfälle
iſt auf unrichtige Bedienung der Weichen zurückzuführen. Um dieſe
Gefahr thunlichſt zu beſchränken, iſt man in neuerer Zeit dazu über-
gegangen, die Weichen der größeren Bahnhöfe durch lange Draht-
leitungen und Geſtänge zu vereinigen und thunlichſt in die Hand eines
48*
[756]Der Verkehr zu Lande.
einzigen Mannes zu legen, ſo daß alſo die durch das Mißverſtändnis
mehrerer leicht herbeigeführten Unfälle nunmehr fortfallen; man nennt
eine ſolche Einrichtung eine centrale Weichenſtellvorrichtung. Auch mit
den die Ankunft und Abfahrt der Züge anzeigenden Signalen hat man
jetzt die Weichen derartig verbunden, daß das Signal nicht eher ge-
geben werden kann, als bis die zugehörige Weiche in die richtige

Figure 408. Fig. 417.

Weichen.


[757]Der Bau der Eiſenbahnen.
Stellung gebracht iſt. Durch dieſe höchſt ſinnreiche Vorrichtung iſt der
Eiſenbahnbetrieb während der letzten Jahrzehnte ein erheblich ſicherer
geworden. (Vergl. auch S. 255 und 256.)


Zum Schluß dieſes dem Eiſenbahnbau gewidmeten Abſchnittes
müſſen wir noch einer beſonderen Art von maſchinellen Vorrichtungen
kurz gedenken, welche auf jedem Bahnhofe vorhanden ſein müſſen und
welche für eine prompte Beſorgung des Verkehrs, ſpeziell des Güter-

Figure 409. Fig. 418.

Fahrbarer Drehkrahn.


verkehrs von der allergrößten Wichtigkeit ſind. Wir meinen die zum
Be- und Entladen der Eiſenbahnwagen dienenden Krahne und Ent-
ladevorrichtungen. Fig. 418 ſtellt einen vom Gruſonwerk in Magdeburg-
Buckau gebauten fahrbaren Drehkrahn mit hydrauliſchem Betrieb dar.
Wie aus der Abbildung zu erſehen, beſitzt das aus Schmiedeeiſen her-
geſtellte Krahngerüſt die Geſtalt eines Portales, deſſen lichte Weite ſo
bemeſſen iſt, daß auf dem darunter liegenden Eiſenbahngleiſe beladene
Wagen verkehren können. Die Verſchiebung des Krahnes auf ſeinen
Gleiſen geſchieht durch Menſchenhand. Das Heben der Laſten dagegen
[758]Der Verkehr zu Lande.
erfolgt durch einen vertikalen Cylinder, deſſen mittels Waſſerdruckes be-
wegte Kolbenſtange auf einen Flaſchenzug wirkt; die Drehbewegung
des Krahnes wird durch zwei horizontale hydrauliſche Cylinder erreicht.
Sollen nur kleine Laſten gehoben werden, ſo kann durch eine beſondere
Vorrichtung der Verbrauch von Druckwaſſer entſprechend vermindert
werden. An dem Krahngleiſe iſt eine Rohrleitung angebracht, welche
das erforderliche Druckwaſſer hinzuführt.


Fig. 419 zeigt eine ebenfalls vom Gruſonwerk gebaute Entlade-
vorrichtung. Mit Hülfe derſelben können die mit 10000 kg befrachteten

Figure 410. Fig. 419.

Entladevorrichtung.


[759]Die Lokomotiven und Eiſenbahn-Wagen.
Güterwagen, nachdem ſie auf die Schienen einer ſchmiedeeiſernen, in
das Eiſenbahngleis eingebauten Plattform aufgefahren ſind, in einer
Neigung gekippt werden, daß der Inhalt ſich binnen 5 Minuten durch
eine Schüttrinne entleert. Auch dieſe Vorrichtung wird mit Hülfe von
gepreßtem Waſſer betrieben. (Vergl. auch S. 214.)


2. Die Lokomotiven und Eiſenbahn-Wagen.

Bereits bei der Beſprechung des Wettſtreites von Rainhill hatten
wir kurz erwähnt, daß der Sieg Stephenſons weſentlich durch den von
Booth und jenem konſtruierten Röhrenkeſſel entſchieden wurde. In
Fig. 420 iſt die innere Einrichtung eines ſolchen für eine amerikaniſche

Figure 411. Fig. 420.

Lokomotivkeſſel.


Lokomotive beſtimmten Röhrenkeſſels gegeben. Wir ſehen hier am
hinteren Ende des Keſſels die zur Aufnahme des Feuers dienende
Feuerkiſte A, von welcher aus die Heizgaſe durch zahlreiche, den Waſſer-
raum C des Keſſels durchziehende Röhren zu der Rauchkammer ab-
ziehen. Aus dieſer ſtrömt ſodann der Rauch durch den Schornſtein D
ins Freie. Der in dem Keſſel ſich bildende Dampf ſammelt ſich in
dem ſogenannten Dome U und wird von hier aus den rechts und links
am Geſtell der Lokomotive angeordneten Dampfcylindern zugeführt.
In dieſen wirkt dann der Dampf genau wie in einer Zwillingsdampf-
maſchine; die Kolbenſtangen der Cylinder greifen an die Treibſtangen an,
welche die Räder der Lokomotive in Drehung verſetzen und ſo die
Bewegung derſelben nebſt den angehängten Wagen bewirken. Der
Dampf tritt, nachdem er in den Cylindern ſeine Arbeit verrichtet hat,
durch die Rauchkammer zum Schornſtein hinaus. Auch dieſe Einrich-
tung hatte bereits die „Rocket“ Stephenſons und verdankte derſelben
einen großen Teil ihres Erfolges, da durch den mit großer Geſchwin-
digkeit aus dem Schornſtein hinausgetriebenen Dampf das Feuer in
[760]Der Verkehr zu Lande.
der Feuerkiſte mächtig angefacht wurde und infolge deſſen ſehr vielen
Dampf produzierte.


Was den Bau der Lokomotive zu einem ſehr ſchwierigen macht,
das iſt der Umſtand, daß die Bedienung ſämtlicher Teile während der
Fahrt von einer einzigen Stelle, von dem Führerſtande aus leicht und
bequem gehandhabt werden muß; der Lokomotivführer kann nicht wie
der Wärter einer ſtationären Maſchine nach Belieben zu jeder Zeit um
ſeine Lokomotive herumgehen und hier die einzelnen Ventile, Hähne,
Klappen ꝛc. bedienen. So bietet denn das in Fig. 421 dargeſtellte
Innere eines Lokomotivführerhauſes ein ſehr buntes Bild dar.


Figure 412. Fig. 421.

Das Innere eines Lokomotivführerhauſes.
1 bis 3. Leinen für die Signalglocken. 4. Dampfpfeifenhebel. 5. Manometer für den Keſſel. 6. Mano-
meterlaterne. 7. Manometer für die Luftdruckbremſe. 8. Ventil für die Brems-Dampfpumpe. 9. Schmier-
vorrichtung. 10. Dampfhahn für die Schmiervorrichtung. 11. Sandſtreuer, um bei Glatteis Sand auf
die Schienen zu ſtreuen. 12. Hebel zum Öffnen der Cylinder-Waſſerhähne. 13. Ventil zum Anfachen
des Feuers. 14. Hebel zum Einlaſſen des Dampfes in die Dampfcylinder. 15. Feſtſtellvorrichtung für
Hebel 14. 16. Injektorventil. 17. Steuerhebel. 18. Feſtſtellvorrichtung für den Steuerhebel. 19. Waſſer-
ſtandshähne. 20. Cylinderſchmierhähne. 21 bis 23. Injektorhebel. 24. Ölkannenbehälter. 25 bis 31. Hebel
für die Luftdruckbremſe. 32. Vorrichtung zur Regulierung des Schornſteinzuges. 33. Vorrichtung zum
Heben und Senken der Schneeräumer. 34. Hebel zum Kontrolieren der Injekteure. 35. Waſſerſtands-
laterne. 36. Lufteinlaß für die Feuerkiſte. 37, 38. Ölkannen. 39. Wärmvorrichtung für die Ölkannen.
40. Feuerthür. 41. Kette zum Öffnen und Schließen der Feuerthür. 42. Hebel zum Öffnen und Schließen
der Aſchenfallklappen. 43. Schmiervorrichtung für die Luftpumpe der Bremſe. 44. Ventil, um behufs
Anfachen des Feuers Dampf in den Schornſtein einzulaſſen. 45 bis 49. Heizventil für die Wagen des
Zuges. 50, 51. Waſſerſtandszeiger. 52. Hahn zum Ausblaſen von Schmutz aus dem Keſſel.


[761]Die Lokomotiven und Eiſenbahn-Wagen.

Die in den Figuren 422 und 423 dargeſtellten modernen Lokomotiven
haben einen ſogenannten Schlepptender (bei Fig. 422 nicht dargeſtellt),
welcher das erforderliche Waſſer und Brennmaterial aufnimmt. Das
Gegenſtück zu dieſen Lokomotiven mit beſonderen Tendern bilden die

Figure 413. Fig. 422.

Preußiſche Perſonenzug-Lokomotive.


Figure 414. Fig. 423.

Amerikaniſche Perſonenzug-Lokomotive.


ſogenannten Tendermaſchinen, bei
denen die Behälter für das Waſſer
und das Brennmaterial um den
Keſſel und am Führerhauſe ange-
ordnet ſind. Je nach der Anzahl der
mit den Kolbenſtangen der Dampf-
cylinder gekuppelten Räderpaare
unterſcheidet man einfach, zweifach,
dreifach ꝛc. gekuppelte Maſchinen.
Je mehr Laſt eine Lokomotive ziehen
ſoll, deſto mehr gekuppelte Räder-
paare muß dieſelbe haben. Man
trifft daher unter den Güterzug-
maſchinen meiſt nur dreifach ge-
kuppelte Maſchinen. Das Kenn-
zeichen der Schnellzugmaſchinen be-
ſteht darin, daß ſie meiſt nur
ein- oder zweifach gekuppelt ſind
[762]Der Verkehr zu Lande.
und große Räder beſitzen, welche während eines jeden Kolbenhubes eine
große Weglänge zurücklegen. Die in Fig. 423 dargeſtellte amerika-
niſche Lokomotive iſt noch dadurch bemerkenswert, daß dieſelbe vorn
ein ſogenanntes Drehgeſtell, Truck, aufweiſt. Es hat dieſes den Zweck,
die Lokomotive zu befähigen, die Krümmungen der Bahn thunlichſt
leicht zu paſſieren; auch der Tender iſt mit zwei derartigen Dreh-
ſchemeln ausgeſtattet. Das große gitterartige, über den Schienen an-
geordnete Geſtell dient dazu, Hinderniſſe, insbeſondere auf das Geleiſe
geratenes Vieh — daher auch cow-catcher genannt — zur Seite zu
ſchleudern. Die mächtige Glocke dient dazu, Paſſanten auf das Heran-
nahen des Zuges aufmerkſam zu machen, eine Maßnahme, welche in
Amerika, wo Bahnwärter nur vereinzelt vorhanden ſind, dringend er-
forderlich iſt.


Bei der deutſchen Lokomotive iſt noch zu bemerken, daß bei der-
ſelben unmittelbar am Führerhauſe eine Luftpumpe zu ſehen iſt; dieſe
dient dazu, die erforderliche Menge an Preßluft für die ſpäter noch zu
beſchreibende Luftdruckbremſe zu beſchaffen.


In der neueſten Zeit hat man das bei den Dampfmaſchinen des
näheren beſprochene Compound- oder Verbundſyſtem auch auf Lokomo-
tiven übertragen. Ein weſentliches Verdienſt hierfür gebührt dem
Königlichen Eiſenbahn-Bauinſpektor von Borries in Hannover, ſowie
dem Engländer Webb und dem Franzoſen Mallet. Die gebräuch-
lichſte Art dieſer Verbundlokomotiven arbeitet mit zwei ungleich großen
Dampfcylindern; hat der Dampf in dem kleinen Cylinder, dem Hoch-
druckcylinder ſeine Arbeit verrichtet, ſo tritt er in den größeren, den Nieder-
druckcylinder über, um hier des weiteren noch ausgenutzt zu werden. Die
hierdurch erzielte Kohlenerſparnis ſtellt ſich auf 10 bis 20 %.


Was die Wagen der Eiſenbahnen betrifft, ſo ſind ſie im weſentlichen
den auf den Landwegen gebräuchlichen Fahrzeugen nachgebildet, unter
ſcheiden ſich jedoch, abgeſehen von der Größe und der feſten Bauart,
beſonders dadurch von jenen, daß die Räder ſich nicht auf ihren Achſen
drehen, ſondern mit dieſen feſt verbunden ſind. Es iſt dieſes um deswillen
geſchehen, damit eine ſichere Führung der Räder in den Gleiſen mög-
lich iſt. Außerdem ſind die Räder an ihrem Umfange nicht glatt,
ſondern beſitzen einen umlaufenden Anſatz, den ſogenannten Radflanſch,
welcher ſich gegen die Schienen legt und das Rad in den Gleiſen
ſicher leitet. In der neuen Zeit geht man nach amerikaniſchem Muſter
dazu über, auch bei den Wagen ſogenannte Drehgeſtelle oder Trucks zu
verwenden, da hierdurch ein ſehr ruhiger Gang der Wagen erzielt wird.


Je nach der Anordnung der Plätze werden unterſchieden: Coupé-
wagen, Durchgangswagen und Wagen mit innerer Verbindung. Jede
Art bietet Vorteile in der einen und Nachteile in der anderen Be-
ziehung, ſo daß man nicht behaupten kann, daß die eine unbedingt
den Vorzug vor der anderen verdient. Es ſind hier beſonders fol-
gende Punkte hervorzuheben:


[763]Die Lokomotiven und Eiſenbahn-Wagen.

Vorteile der Coupéwagen: Vollſtändige Trennung der Abteilungen
für Raucher, Nichtraucher, Frauen; Herſtellung bequemer Liegeplätze.


Nachteile der Coupéwagen: Möglichkeit der Beraubung ꝛc. einzelner
Reiſenden; Nötigung fortwährenden Sitzens während der Fahrt.


Vorteile der Durchgangswagen: Herſtellung großer Räume; Mög-
lich des Bewegens der Reiſenden während der Fahrt; größere
Sicherheit gegen Beraubung.


Nachteile der Durchgangswagen: Ungünſtige Anordnung der Ab-
orte; kurze Sitze, welche das Liegen nicht geſtatten; Beläſtigung durch
die Mitreiſenden und das Zugperſonal; Zugluft.


Vorteile der Wagen mit innerer Verbindung: Günſtige Anord-
nung der Aborte; Herſtellung bequemer Liegeplätze; doppelte Thüren
nach außen, daher keine Zugluft und Abkühlung beim Öffnen der Thüren.


Nachteile der Wagen mit innerer Verbindung: Beläſtigung durch
die Mitreiſenden, wenn auch in geringerem Maße als bei den Durch-
gangswagen; ſchmälere Sitze als in den Coupéwagen.


Gewöhnlich werden Coupéwagen für Fernzüge, Durchgangswagen
für den Nahverkehr und Wagen mit innerer Verbindung für Nachtzüge
vorgezogen.


Gegenwärtig iſt man in der Anbringung von Bequemlichkeiten
für die Reiſenden ſehr weit vorgeſchritten; Toilettenräume, beſondere

Figure 415. Fig. 424.

Innere eines Salonwagens.


Schlafwagen, Reſtaurationswagen ſorgen dafür, das Unbequeme des
Reiſens thunlichſt zurückzudrängen. Als Beiſpiel bringen wir in Fig. 424
das Innere eines modernen Salonwagens.


[764]Der Verkehr zu Lande.

Was die für die Beförderung von Gütern dienenden Eiſenbahn-
wagen betrifft, ſo iſt die Konſtruktion derſelben je nach dem Zweck,
dem ſie dienen, eine ſehr verſchiedene; ſo unterſcheidet man bedeckte
und offene Güterwagen, Coaks- und Kohlenwagen, Schienenwagen,
Langholzwagen u. ſ. w.


Einen für die Sicherheit des Eiſenbahnbetriebes hoch wichtigen
Gegenſtand bilden die zur Vernichtung oder Verminderung der Ge-
ſchwindigkeit des dahinbrauſenden Zuges dienenden Bremſen.


Die älteſten Eiſenbahnwagenbremſen waren denjenigen der ge-
wöhnlichen Straßenfuhrwerke nachgebildet und alſo Handbremſen,
welche durch eine Schraubenſpindel angezogen bezw. gelöſt wurden.
Dieſe Art der Bremſen iſt noch heutzutage vielfach in Gebrauch und
hat im Laufe der Jahre zahlreiche weſentliche Verbeſſerungen erfahren.


Gerade die Bremſen der Eiſenbahnen haben die Thätigkeit der
Erfinder ſehr ſtark gereizt. Zum Beweiſe führen wir an, daß wir
gegenwärtig folgende Klaſſen von Bremſen, nach den auf das Brems-
geſtänge einwirkenden, d. h. nach den für die Bremſung benutzten
Kräften, unterſcheiden können:


1. Handbremſen; 2. Gewichtsbremſen; 3. Federbremſen; 4. Frik-
tionsbremſen; 5. Schaltwerksbremſen; 6. Bufferbremſen; 7. Luftdruck-
bremſen; 8. Luftſaugebremſen; 9. Dampfbremſen; 10. Lokomotiv-
bremſen.


Jedoch auch nach anderen Geſichtspunkten, als nach der zum Be-
trieb benutzten Kraft, können wir die Bremſen unterſcheiden in:


1. Einzelbremſen. Hierher gehören diejenigen, welche an jedem
einzelnen Wagen angebracht ſind, und welche jede für ſich einzeln be-
dient werden müſſen (z. B. die Spindelbremſe).


2. Durchgehende oder kontinuierliche Bremſen. Es ſind
dieſes diejenigen, welche in neueſter Zeit zu immer allgemeiner ſich ge-
ſtaltenden Einführung gelangen. Das Charakteriſtiſche dieſer durch-
gehenden oder kontinuierlichen Bremſen beſteht darin, daß dieſelben für
den ganzen Zug von einem einzigen Punkte, z. B. von der Lokomotive,
vom Packwagen oder von einem beliebigen Coupé aus, in Thätigkeit
geſetzt werden können. Man unterſcheidet dieſe kontinuierlichen Bremſen
nochmals in:


  • 1. nicht automatiſche und
  • 2. automatiſche.

Bei erſteren wird das Eintreten der Bremswirkung bedingt durch
eine von dem Perſonale bezw. den Paſſagieren zu verrichtende Mani-
pulation, z. B. das Umlegen eines Hebels, Ziehen an einer Schnur. Die
automatiſchen Bremſen dagegen treten ſelbſtthätig in Kraft bei Eintritt
eines äußeren Zufalles, z. B. bei dem Reißen der Kuppelung, bei
Störungen im Bremsapparate.


Aus der großen Zahl der Bremskonſtruktionen können wir hier
nur zwei der verbreitetſten herausgreifen.


[765]Die Lokomotiven und Eiſenbahn-Wagen.

In Fig. 425 bringen wir in verſchiedenen Anſichten die zu den
Friktions- oder Reibungsbremſen zählende Bremſe von Heberlein,
welche bei den preußiſchen Sekundärbahnen eingeführt iſt.


Dieſe Bremſe beruht auf dem dem Laien von Haus aus etwas
paradox erſcheinenden Prinzip, die lebendige Kraft des dahineilenden

Figure 416. Fig. 425.

Friktionsbremſe von Heberlein.


[766]Der Verkehr zu Lande.
Zuges zum Bremſen, d. h. zu ihrer Selbſtvernichtung zu benutzen. Zur
Erreichung dieſes Zieles wird auf einer Radachſe eine Friktionsſcheibe
feſt aufgekeilt; ſoll nun gebremſt werden, ſo bringt man mit dieſer
feſten Friktionsſcheibe eine bewegliche Scheibe in Berührung, letztere
wird durch die Reibung in Drehung verſetzt und wickelt hierbei eine
Kette auf, an welcher die ſämtlichen Bremſen angehängt ſind und bringt
ſo die letzteren zum Anliegen gegen die Radreifen.


Die in den Figuren 426, 427 und 428 dargeſtellte Weſtinghouſe-
Bremſe erfreut ſich gegenwärtig der größten Verbreitung.


Die für den Betrieb der Bremſe angewendete Kraft iſt gepreßte
Luft. Sämtliche Bremſen eines Zuges können ſowohl von der Loko-
motive, als auch vom Zuge aus gleichzeitig in Thätigkeit geſetzt werden,
und bei Zugtrennungen, ſowie bei Brüchen von weſentlichen Teilen
der Luftleitung und der Bremsapparate kommen alle Bremſen des
Zuges ſelbſtthätig zur Wirkung.


Die erforderliche Luft wird durch eine an der Lokomotive ange-
brachte Luftpumpe A, B in den Hauptluftbehälter C gepreßt. Von hier
aus gelangt dieſelbe durch das Führer-Bremsventil D in die Haupt-
leitung E, welche ſich über den ganzen Zug erſtreckt, und füllt an jedem
gebremſten Fahrzeuge einen Hilfsluftbehälter G mittels eines damit ver-
bundenen ſogenannten Funktionsventils F (Fig. 428). Jedes Funktions-
ventil ſteht ferner mit einem Bremscylinder H in Verbindung, deſſen
Kolbenſtange bei R an das Bremsgeſtänge angreift.


Im Innern des Bremscylinders H befindet ſich ein Kolben, welcher
durch eine Spiralfeder in der gezeichneten Lage gehalten wird. Tritt

Figure 417. Fig. 426.

Luftdruckbremſe von Weſtinghouſe.


[767]Die Lokomotiven und Eiſenbahn-Wagen.

Figure 418. Fig. 427.

Luftdruckbremſe von Weſtinghouſe.


gepreßte Luft in den Cylinder ein, ſo wird der Bremskolben vorwärts
getrieben, und dadurch werden die Bremsklötze gegen die Räder ge-
preßt. Entweicht die Preßluft aus dem Cylinder, ſo ſchiebt die ſich
wieder ausdehnende Spiralfeder den Kolben zurück, wodurch die Bremſe
gelöſt wird.


Die im Hilfsluftbehälter G aufgeſpeicherte Preßluft bildet den Kraft-
vorrat für die betreffende Bremſe. Das Funktionsventil F regelt beim
Bremſen das Einſtrömen der Preßluft in den Bremscylinder und beim
Löſen das Entweichen der Luft aus dem Bremscylinder ins Freie.
Das Anziehen der Bremſen erfolgt, ſobald durch das Führer-Brems-
ventil Luft aus der Hauptleitung ausgelaſſen, oder in der letzteren
anderweitig eine Druckverminderung verurſacht wird.


Das Löſen der Bremſen erfolgt durch Steigerung des Luftdruckes
in der Hauptleitung, indem Preßluft aus dem Luftbehälter C der Loko-
motive durch das Bremsventil D in die Rohrleitung E eingelaſſen und
dadurch in der letzteren der urſprüngliche Druck wieder hergeſtellt
wird. Infolgedeſſen laſſen die Funktionsventile die in den Brems-
cylindern wirkſame Preßluft ins Freie entweichen, wodurch der Druck
auf die Bremskolben aufgehoben wird, während gleichzeitig die Hilfs-
luftbehälter G wieder mit Luft gefüllt werden.


Mit dieſer Weſtinghouſe-Bremſe iſt man nach angeſtellten Ver-
ſuchen imſtande, einen aus 50 Wagen und 1 Lokomotive beſtehenden
Zug bei einer ſtündlichen Geſchwindigkeit von 58 Kilometer auf
141 Meter und zwar innerhalb 15½ Sekunden zum Stillſtande zu
bringen.


[768]Der Verkehr zu Lande.
Figure 419. Fig. 428.

Funktionsventil der Luftdruckbremſe von Weſtinghouſe.


Die bisher beſprochenen Einrichtungen ſind im großen und ganzen
die der gewöhnlichen Eiſenbahnen. Es bleibt uns nunmehr noch übrig,
die außergewöhnlichen Eiſenbahnſyſteme kurz zu muſtern.


3. Außergewöhnliche Eiſenbahnſyſteme.

Die Verwendung der gewöhnlichen Eiſenbahnen mit glatten
Schienen — der ſogenannten Adhäſionsbahnen — iſt inſofern eine
beſchränkte, als dieſelbe nur für gewiſſe Steigungsverhältniſſe an-
gängig iſt. Die Grenze für die Möglichkeit des gewöhnlichen Adhäſions-
betriebes tritt dann ein, wenn diejenige Kraft, welche erforderlich iſt,
[769]Außergewöhnliche Eiſenbahnſyſteme.
um den Zug nebſt der Lokomotive vorwärts zu bewegen, die ſogenannte
Zugkraft, größer iſt als die Reibung der Triebräder der Maſchine
auf den Schienen. Um alſo größere Steigungen mittels Eiſenbahnen
zu überwinden, muß die Reibung der Maſchinenräder auf den Schienen,
die Adhäſion, vermehrt werden, und bedient man ſich hierzu des
Zahnſtangenbetriebes, bei welchem ein Zahnrad in eine zwiſchen den
Schienen angeordnete Zahnſtange eingreift und auf dieſe Weiſe die
Steigung ſozuſagen erklimmt.


Wenngleich erſt die neueſte Zeit eine durchſchlagende Entwickelung
des Zahnradbetriebes gebracht hat, ſo iſt letzterer doch bereits im
Jahre 1812 auf einer Kohlenbahn in der Nähe von Leeds, durch
Blenkinſop zur Anwendung gelangt. Auch in Amerika wurde vom
Jahre 1848 ab während einiger Zeit durch die Madiſon Indiano-
polis Railway eine kurze Strecke von 1 : 17 Steigung mit Zahnrad-
lokomotiven betrieben. Am bekannteſten wurde das Zahnradbahn-
ſyſtem zuerſt durch die im Jahre 1871 eröffnete Rigibahn mit
einer Maximalſteigung von 1:4 und einer Durchſchnittsſteigung von
1:5. In der Folge hat ſich das Syſtem immer mehr verbreitet und
z. B. im Harz, am Niederwald, am Drachenfels Anwendung ge-
funden. Bei den erſten dieſer Bahnen iſt das Syſtem Riggenbach
benutzt, bei welchem das Triebrad ſich um eine horizontale Achſe dreht
und in eine leiterförmige Zahnſtange eingreift. In neuerer Zeit hat
das Syſtem Abt die Aufmerkſamkeit der Fachleute erregt; bei dieſem
iſt die Zahnſtange aus drei einzelnen Stangen zuſammengeſetzt, welche
um ⅓ der Zahnteilung gegeneinander verſetzt ſind; hierdurch wird in-
ſofern die Sicherheit bedeutend gehoben, als ein längerer Eingriff er-
zielt wird. Beide Syſteme, Riggenbach wie Abt, erfahren jedoch da-
durch eine Beſchränkung ihrer Anwendbarkeit, daß bei außerordentlichen
Steigungen alsbald das Zahntriebrad durch den aufwärts wirkenden
Zahndruck außer Eingriff gebracht, letzterer alſo aufgehoben wird.


Von ganz beſonderem Intereſſe iſt die Bahn des Oberſt Locher,
welche vom Ufer des Vierwaldſtädter Sees mit einer Maximalſteigung
von faſt 1:2 und einer mittleren Steigung von 1:2½ bis auf 53 m
unterhalb der Spitze des 2123 m hohen Pilatusberges emporſteigt.


Die Hälfte der Bahn, welche insgeſamt 7 Tunnel von 10 bis
97 m Länge aufweiſt, liegt in Krümmungen von 80 bis 100 m Radius.
Die Spurweite beträgt 80 cm. Um das tote Gewicht der Fahrzeuge
auf das Geringſtmaß zu beſchränken, iſt die Lokomotive, wie Fig. 429
zeigt, mit dem 32 Perſonen faſſenden Wagen vereinigt; das ſo ge-
bildete Fahrzeug hat im belaſteten Zuſtande ein Gewicht von 10,5 t.
Die aus Martinflußeiſen in Stücken von 3 m hergeſtellte Zahnſtange
iſt, wie aus Fig. 429 zu erſehen iſt, nicht mit einer nach oben ge-
richteten Verzahnung, ſondern nach beiden Seiten hin mit Zähnen von
85,7 mm Teilung und 40 mm Breite verſehen. Es greift alſo nicht
wie bei den Syſtemen von Riggenbach und Abt ein einziges Zahnrad
Das Buch der Erfindungen. 49
[770]Der Verkehr zu Lande.
in die Zahnſtange von oben ein, ſondern von jeder Seite der Zahn-
ſtange iſt je ein beſonderes Triebrad RR angebracht.


Neben den Zahnradbahnen ſind von beſonderer Wichtigkeit die
Seilbahnen; beide werden des öfteren bei dem Bau von Gebirgs-
bahnen von beſonders ſtarken Steigungen mit einander vereinigt. Bei
den Seilbahnen beſteht die Laufbahn aus einem Drahtſeile oder einer
Schiene, welche auf beſonderen Gerüſten in einer gewiſſen Höhe über
dem Terrain gelagert iſt. Es giebt zweierlei Arten von Seilbahnen,
nämlich ſolche mit endloſem Seile und ſolche mit feſtem Seile. Bei

Figure 420. Fig. 429.

Die Pilatusbahn.


[771]Außergewöhnliche Eiſenbahnſyſteme.
den erſteren wird das Seil gleichzeitig mit der Laſt bewegt. Bei den
letzteren liegt das die Wagen führende Seil feſt und werden die Wagen
auf dieſem durch ein zweites Seil dahingezogen.


Wir übergehen eine Anzahl hier und da aufgetauchter Vorſchläge,
ſo z. B. die Einſchienenbahn Lartigues und das nach Art der bekannten
Rutſchbahnen geplante Gravity-Syſtem von Thompſon, um uns zu-
nächſt noch kurz mit der Girardſchen gleitenden Eiſenbahn zu be-
ſchäftigen, ehe wir dann zu der letzten Gattung der Bahnen, der
pneumatiſchen Eiſenbahn, übergehen. Die gleitende Eiſenbahn Girards
erregte auf der letzten Pariſer Weltausſtellung mit Recht allgemeines
Erſtaunen, ob ſie aber berufen ſein wird, einmal thatſächlich Aufnahme
unter den Verkehrsmitteln zu finden, bleibt höchſt zweifelhaft.


Es handelt ſich bei dieſer Eiſenbahn um nichts Geringeres, als
um die Beſeitigung der Räder und der Lokomotiven. Dieſelbe erfolgt
in der Weiſe, daß die einzelnen Wagen auf Schlitten geſetzt werden,
welche hohl ſind und von einem Reſervoir mittels Luftdrucks mit
Waſſer von hoher Spannung gefüllt werden. Unter dem Einfluß des
im Innern der Schlitten herrſchenden hohen Waſſerdruckes heben ſich
die Fahrzeuge um ½ Millimeter, und es ſtrömt ein freier Waſſerſtrahl
auf die Fahrbahn aus. Hierdurch wird erreicht, daß die der Be-
wegung der Fahrzeuge ſich entgegenſtellende Reibung auf ein Minimum
ſich verringert, ſo daß naturgemäß nur eine außerordentlich geringe
motoriſche Kraft zur Fortbewegung des aus derartigen Wagen zu-
ſammengeſetzten Zuges erforderlich iſt. Bei Thalfahrten kann einfach
durch Benutzung des Gefälles eine ſehr hohe Geſchwindigkeit erzielt
werden. Soll der Zug zum Stillſtand kommen, ſo wird der Zufluß
des Druckwaſſers zu den Gleitſchuhen abgeſperrt.


Der Antrieb des Zuges erfolgt ebenfalls durch Waſſerkraft. Zu
dieſem Zwecke befindet ſich in den Schienen der Eiſenbahn gleichfalls
Druckwaſſer, welches durch Ventile, welche in gewiſſen Entfernungen
angeordnet ſind, zum Ausſtrömen gebracht werden kann. Der aus-
tretende, hoch geſpannte Waſſerſtrahl ſchlägt gegen Schaufeln, welche
ähnlich einer Zahnſtange an der Unterſeite der Wagen angebracht ſind,
und ſchiebt die Wagen vorwärts. Die Ventile werden beim Heran-
nahen des Zuges durch dieſen ſelbſtthätig geöffnet und nach deſſen
Paſſieren in gleicher Weiſe wieder geſchloſſen.


Die Erwartungen, welche man an dieſe höchſt eigenartige neue
Eiſenbahn knüpft, ſind zum Teil außerordentlich weitgehende; ſo wurde
in franzöſiſchen Blättern behauptet, daß man bei derſelben eine Zug-
geſchwindigkeit von 200 km in der Stunde, das wäre mehr als das
Doppelte derjenigen unſerer ſchnellſten Expreßzüge, erreichen könne.


Girard ſelbſt iſt während des deutſch-franzöſiſchen Krieges gefallen;
die vorliegende Fortſetzung ſeiner Idee rührt von einem Ingenieur,
Namens Barre her. Es iſt nicht das erſte Mal, daß die gleitende
Eiſenbahn Girards die Runde durch die techniſchen Blätter macht. So
49*
[772]Der Verkehr zu Lande.
fanden wir z. B. im Génie industriel vom Jahre 1862 bereits eine
kurze Erwähnung dieſes neuen Eiſenbahnſyſtems; eine Überſetzung des
betreffenden Artikels brachte bald darauf Dinglers Polytechniſches
Journal.


Auch damals erregte die Erfindung Girards großes Aufſehen.
Napoleon III unterſtützte das junge Unternehmen durch einen namhaften
Zuſchuß, ſo daß ſchon damals eine Verſuchsſtrecke gebaut werden
konnte. Der Erfolg entſprach jedoch nicht den Erwartungen und es blieb
Barre vorbehalten, nach Einführung mehrerer praktiſcher Neuerungen
Girards gleitende Eiſenbahn wieder an die Öffentlichkeit zu bringen.
Mit welchem praktiſchen Erfolge, bleibt abzuwarten.


Das letzte der außergewöhnlichen Eiſenbahnſyſteme, mit welchem
wir uns noch kurz beſchäftigen wollen, iſt das pneumatiſche.


Im Jahr 1810 machte der Engländer Medhurſt den Vorſchlag,
die in einem geſchloſſenen Kanal enthaltene Luft zu verdünnen, und
die hierdurch erzeugte Differenz zwiſchen dem Druck der äußeren Luft
und der in dem Kanal enthaltenen Luft — alſo den Überdruck der
atmoſphäriſchen Luft — zum Transport von Gegenſtänden zu benutzen.


Später tauchte ſeitens des Amerikaners Pinkus im Jahre 1834
ein ähnlicher Vorſchlag auf; jedoch befanden ſich die zu transportierenden
Gegenſtände, nicht innerhalb ſondern außerhalb des Kanales. Dieſer
hatte die Geſtalt einer Röhre, welche oberhalb einen Schlitz hatte.
Durch dieſen ragte ein Arm hindurch, welcher einen im Innern der
Röhre bewegten Kolben mit dem zu transportierenden, außerhalb der
Röhre befindlichen Gegenſtande, z. B. einem Wagen, verband.


Eine erhöhte praktiſche Bedeutung gewann das pneumatiſche
Syſtem erſt vom Jahre 1838 ab durch die Engländer Samuda und
Clegg, welche thatſächlich mehrere Linien zur Ausführung brachten
und in Betrieb ſetzten. Es ſtellte ſich jedoch bald heraus, daß für
Perſonenbeförderung die pneumatiſche Eiſenbahn hinſichtlich der Zu-
verläſſigkeit und Ökonomie weit hinter dem Lokomotivenbetrieb zurück-
ſtand, ein Ergebnis, welches Georg und Robert Stephenſon bereits
ſeit langem vorhergeſagt hatten. Dahingegen hat das pneumatiſche
Syſtem in Geſtalt der modernen Rohrpoſt eine ausgedehnte Anwendung
zur Beförderung von Briefſchaften gefunden. Das Prinzip dieſer Be-
förderungsweiſe beruht darauf, daß die Briefe in kleine metallene
Büchſen gelegt, und dieſe durch die in einem geſchloſſenen, unterirdiſch
verlegten Rohre mittels einer Luftpumpe erzeugte Luftdruckdifferenz
von einer Station zur andern befördert werden.


In Fig. 430 iſt eine derartige Rohrpoſtanlage dargeſtellt. K iſt
die ſogenannte Empfangskammer, in welcher die die Schriftſtücke ent-
haltenden Metallhülſen angelangen. M iſt das unter dem Straßen-
pflaſter liegende Verbindungsrohr. Mit Z iſt eine Abzweigekammer
bezeichnet, welche, zur Aus- oder Einſtrömung der Luft in den Rohr-
ſtrang dienend, mittels des Rohres N mit dem Hauptbeförderungs-
[773]Außergewöhnliche Eiſenbahnſyſteme.

Figure 421. Fig. 430.

Rohrpoſtanlage.


[774]Der Verkehr zu Lande.
hahne B verbunden iſt. Durch das Rohr R wird die unterirdiſche
Rohrleitung M mit der Empfangskammer K verbunden. Bei H werden
die zu befördernden Sendungen in das Rohr R eingelegt. Das
Rohr S dient zur Vermittelung noch anderweitiger Luftwege; zu dieſem
Zwecke iſt an demſelben zunächſt der Hauptbeförderungshahn B an-
gebracht, welcher durch das Rohr N1 mit der atmoſphäriſchen Luft in
Verbindung ſteht; des weiteren iſt noch ein zweiter Hahn A angebracht,
der Luftwechſelhahn, welcher durch die Rohre T und T1 mit den Be-
hältern für verdichtete und verdünnte Luft in Verbindung ſteht. Schließ-
lich führt von dem Rohre S noch ein Röhrchen u zu der Einlege-
klappe H. Ein in dieſes Röhrchen eingeſchalteter Hahn D ſtellt ent-
weder die Verbindung der Einlegeklappe H mit der im Rohre S be-
findlichen verdichteten Luft oder durch das Rohr r mit der atmoſphä-
riſchen Luft her. Wird eine Sendung durch verdichtete Luft befördert,
ſo wird der Hahn A, der den Luftbehälter von der Rohrleitung ab-
ſchließt, geöffnet, ſo daß die Preßluft direkt auf die die Sendung ent-
haltende Metallhülſe drücken kann. Wird dagegen die Beförderung
mit Hülfe der Luftverdünnung vorgenommen, ſo wird der luftleere
Behälter mit der Rohrleitung in Verbindung gebracht. Der Betrieb
bei dem Empfange und bei der Abſendung von Rohrpoſtſendungen
geht in folgender [Weiſe] vor ſich:


Trifft eine durch komprimierte Luft bewegte Sendung bei M ein,
ſo tritt die vor den Transporthülſen befindliche Luft durch die Rohr-
leitungen ZN1 BN aus; auch die die Sendung treibende komprimierte
Luft tritt, ſobald Z erreicht iſt, auf demſelben Wege aus, während die
Sendung ſelbſt infolge der ihr innewohnenden lebendigen Kraft in die
Empfangskammer K geſchleudert wird. Hier werden die für das be-
treffende Rohrpoſtamt beſtimmten Sendungen entnommen, während
die übrigen, nach telegraphiſcher Verſtändigung, weiter befördert werden.


Wird mit Hülfe von Luftverdünnung eine Sendung befördert, ſo
wird auf der Empfangsſtation der Hauptbeförderungshahn B geſchloſſen,
die atmoſphäriſche Luft tritt hinter die Transporthülſen und treibt dieſe
über Z und B R in die Empfangskammer K.


2. Der Verkehr zu Waſſer.


a) Die Waſſerwege.


Die dem Verkehr zu Gebote ſtehenden Waſſerwege ſind: die Flüſſe
und Seen, die Meere, die Kanäle; die erſten drei ſind die von der
Natur gebotenen, die letztgenannten die von Menſchenhand künſtlich
geſchaffenen.


[775]Die Waſſerwege.

Jedenfalls gehörte ein beſonderer Mut dazu, zuerſt ſich dem un-
zuverläſſigen Element auf ſchwankendem Fahrzeuge anzuvertrauen:


Illi robur et aes triplex
Circum pectus erat, qui fragilem truci
Commisit pelago ratem
Primus
.
*)
()

Die zunächſt zu Waſſer ſich darbietenden Verkehrsſtraßen waren
jedenfalls die ſchiffbaren Flüſſe, auf deren Rücken ſchon im früheſten
Altertum der Handelsverkehr ſich entſpann. Es war dann ein großer
Fortſchritt, als man auch begann das Meer zu durchkreuzen und die
entlegenen Küſten der Anwohner aufzuſuchen.


Erforderte der Verkehr auf den Flüſſen nur in untergeordnetem
Maße den Bau beſonderer Verkehrseinrichtungen, ſo war dieſes bei
dem Meere in bedeutend höherem Maße der Fall. Hier galt es, Häfen
zu bauen für die ſichere Unterkunft zu Zeiten von Stürmen. Die
Landungseinrichtungen mußten ſich dem verſchiedenen Stande von Ebbe
und Flut anpaſſen.


Ganz beſonders aber zeitigte der Verkehr auf dem Meere bereits
in den früheſten Zeiten eine genaue Kenntnis des Himmels und ſeiner
Geſtirne und eine Ausbildung des Signalweſens. Nach dieſer Rich-
tung giebt uns folgende Stelle aus dem neunzehnten Geſange von
Homers Ilias den erſten Anhalt:


„Wie wenn draußen im Meere der Glanz herleuchtet den Schiffern
Von aufloderndem Feuer, das hoch am Berge entflammet,
Brennt in einſamer Hürd’, indes mit Gewalt ſie der Sturmwind
Durch fiſchwimmelnde Fluten entfernt von dem Freunde hinwegträgt.“
()

Die letzte Art der Waſſerwege, die künſtlich hergeſtellten Kanäle,
beginnt gerade in der Neuzeit eine erhöhte Bedeutung zu gewinnen,
und man ſieht in allen Kulturländern der Erde mächtige Kanalanlagen
entſtehen.


Will man die Aufgabe, welche den Kanälen in der Gegenwart
zufällt, kurz bezeichnen, ſo kann man dieſelbe — abgeſehen von den
außergewöhnlichen Verhältniſſen des Suezkanals, des Nord-Oſtſeekanals,
desjenigen durch den Iſthmus von Korinth — dahin präciſieren, daß
im allgemeinen den Kanälen der Transport der Rohſtoffe, den Eiſen-
bahnen dagegen der Transport der fertigen Produkte zufällt.


Die Zahl der im Betriebe befindlichen Schiffahrtskanäle wäre un-
ſtreitig eine bedeutend größere, wenn denſelben nicht verſchiedene, be-
ſonders ſchwerwiegende Mängel anhafteten. Neben der Beſchaffung
der nötigen Waſſermenge und neben der langſamen Beförderung der
zu transportierenden Güter iſt es beſonders die Schwierigkeit, die
Höhenzüge der Gebirge mit Kanälen zu überſchreiten, welche natur-
gemäß in vielen Fällen hindernd in den Weg treten und nicht um-
[776]Der Verkehr zu Waſſer.
gangen werden können. Für die Überwindung der Terrainhinderniſſe
in Geſtalt von Gebirgszügen können bei dem Bau von Kanälen ver-
ſchiedene Einrichtungen Anwendung finden:


1. Schiefe Ebenen.


Bei dieſer Anordnung wird zwiſchen die Enden der beiden mit-
einander zu verbindenden Kanalſtrecken — der ſogenannten „Haltungen“
— eine geneigte, mit Schienengleiſen verſehene ſchiefe Ebene eingelegt.
Auf dieſer Bahn laufen große, ſtark gebaute Wagen, welche entweder
eine Waſſerkammer tragen, in welcher das Schiff ſchwimmt, oder welche
die Schiffe direkt, alſo ohne Vermittelung eines Waſſerbeckens auf-
nehmen. Die Schiffe werden unmittelbar aus dem Waſſer der unteren
Kanalſtrecke herausgezogen, können jedoch naturgemäß nicht ohne wei-
teres in das Waſſer der oberen Haltung eingeführt werden, ſondern
werden zunächſt in eine mit dieſer verbundene Kammer einge-
fahren, von wo ſie dann erſt in den eigentlichen Oberkanal übergehen.
Dieſe Kammer muß demnach abwechſelnd gefüllt und geleert werden.
Die ſchiefen Ebenen ſind vielfach praktiſch angewendet, ſo z. B. bei
zahlreichen engliſchen Kanälen, ſowie auch bei dem 175 km langen
oberländiſchen Kanal in Preußen. Eine der großartigſten Anwendungen
der ſchiefen Ebenen war ſeitens des Kapitäns Eads für den Panama-
kanal projektiert worden; hiernach ſollten die transatlantiſchen Schiffe
in fahrbaren Baſſins durch Drahtſeilbetrieb über die Gebirgskette der
Kordilleren gezogen werden.


2. Schleuſen.


Dieſe Art der Überwindung der den Kanalverkehr hemmenden
Terrainerhöhungen iſt die bei weitem verbreitetſte.


Eine Schleuſe beſteht aus einer meiſt in Mauerwerk ausgeführten
Kammer, welche in die tiefer liegende Kanalſtrecke zwiſchen beiden
Haltungen eingebaut iſt und genügend Platz für ein oder mehrere
Schiffe bietet. Die beiden Stirnſeiten der Schleuſe ſind mit waſſer-
dichten Thoren verſehen, welche einen Abſchluß gegen das Unter- bez.
gegen das Oberwaſſer ermöglichen. Soll nun beiſpielsweiſe ein Schiff
von der einen Kanalſtrecke auf den Waſſerſpiegel einer höher gelegenen
gehoben werden, ſo geſchieht dieſes in der Weiſe, daß dasſelbe, nach-
dem das untere, d. h. das nach der tiefer gelegenen Strecke gelegene
Thor geöffnet wurde, in die Schleuſe hineinfährt. Nun wird das obere
Thor geöffnet; die Folge hiervon iſt, daß das Oberwaſſer ſich in die
Schleuſe ergießt und das Schiff allmählich auf die Höhe des in der
oberen Kanalhaltung befindlichen Waſſerſpiegels hebt. Bei der Thal-
fahrt der Schiffe, d. h. bei dem Hinabſteigen von der oberen zu der
unteren Strecke, wird in umgekehrter Weiſe vorgegangen.


Die Schleuſen haben in dem Laufe der Zeit eine ſehr ausgedehnte
Verwendung gefunden. So beſitzt z. B. der unter Ludwig Philipp er-
baute 315 km lange Rhein-Rhonekanal 172, der Canal du midi eben-
falls mehr als 100, der Rhein-Marnekanal 180 Schleuſen. Belgien
[777]Die Waſſerwege.
und die Niederlande hatten im Jahre 1878 2240 km Kanäle mit
220 Kammerſchleuſen; in Deutſchland ſind zu nennen der 45 km lange
Finowkanal zwiſchen Oder und Havel mit 15 Schleuſen, der 141 km
lange Main-Donaukanal (Ludwigskanal) mit 87 Schleuſen. Von hervor-
ragendem Intereſſe ſind die großartigen Schleuſenanlagen des Trolhätta-
und des Götakanals in Schweden.


Durch die Schleuſen ſind die Schiffahrtskanäle überhaupt erſt
lebensfähig geworden; über die Perſon des Erfinders liegen die ver-
ſchiedenſten Angaben vor. Meiſt wird als ſolcher der holländiſche
Ingenieur Simon Stevin und als Zeitpunkt ihrer erſten Ausführung
das Jahr 1618 genannt.


Jedoch mit der Zunahme des Verkehrs traten die großen Mängel,
welche dem Schleuſenbetriebe anhaften, immer klarer zu Tage. Neben
den großen Anlagekoſten iſt es vor allen Dingen der erhebliche Auf-
wand an Zeit, ſowie die geringe erreichbare Hubhöhe.


Man verwendet daher in der neueſten Zeit mehrfach:


3. Mechaniſche Schiffshebewerke.


Dieſe der neueſten Zeit angehörigen Vorrichtungen kennzeichnen
ſich beſonders dadurch, daß bei ihnen das Schiff in ein Baſſin ein-
gefahren wird, das auf einem Kolben gelagert iſt, welcher durch
Waſſerdruck auf die gewünſchte Höhe emporgehoben wird. Zu beſſerer
Ausnutzung des Betriebswaſſers werden zwei ſolcher Schiffshebewerke
nebeneinander angeordnet, ſo zwar, daß das eine ſich ſenkt, während
das andere ſich aufwärts bewegt. Bekanntlich ermöglicht die An-
wendung des Prinzips der hydrauliſchen Preſſe die Hervorbringung
eines außerordentlich hohen Druckes, ſo daß man imſtande iſt, mit
Hilfe dieſer Vorrichtung auch bei großen Laſten eine bedeutende Hub-
höhe mit einem Male zu überwinden, was eine bedeutende Verminderung
des Zeitaufwandes und der Anzahl der einzelnen zur Überwindung einer
Steigung erforderlichen Kanalſtrecken zur Folge hat.


Es war zuerſt Edwin Clark, ein bekannter engliſcher Konſtrukteur,
welcher im Jahre 1872 eine ſolche Schiffshebevorrichtung zu Cheſhire
bei Anderton ausführte, mit deren Hilfe Schiffe von 100 Tonnen aus
dem Weaverfluſſe in Baſſins von 23,4 m Länge und 4,6 m Breite und
1,5 m Tiefe auf das Niveau eines um 15,3 m höher liegenden Kanals
gehoben werden; die Zeit, welche für jede Hebung erforderlich iſt, beträgt
nur 3 Minuten; die Geſamtdauer einer Schleuſung beträgt 8 Minuten.


Inzwiſchen haben die mechaniſchen Schiffshebewerke immer weiter-
gehende Verbeſſerungen erfahren und gelangen mehr und mehr in
Aufnahme. Zunächſt iſt das ebenfalls von Clark erbaute, in Fig. 431
ſchematiſch dargeſtellte Hebewerk von Les Fontinettes bei St. Omer zu
nennen; dasſelbe dient dazu, im Kanal von Neufoſſé einen Niveau-
unterſchied von 13,13 m in einer einzigen Hebung zu überwinden.


In der Fig. 431 iſt das Hebewerk gerade in einer ſolchen Stellung
abgebildet, daß das eine Baſſin F ſich in ſeiner tiefſten Lage befindet,
[778]Der Verkehr zu Waſſer.
während das andere bis zur Höhe der oberen Kanalhaltung gehoben
iſt. Der Betrieb geſchieht nun in folgender Weiſe: Das zu hebende
Schiff fährt nach Öffnung des Schiebers H in das an ſeiner ent-
gegengeſetzten Stirnſeite durch einen anderen Schieber geſchloſſene
Baſſin F hinein; nun wird der Schieber H heruntergelaſſen, ſo daß

Figure 422. Fig. 431.

Schiffshebewerk bei Les Fontinettes.


der Behälter F von allen Seiten feſt geſchloſſen iſt. Hierauf wird das
Baſſin F ſamt dem Schiffe mittels des Treibcylinders D in Führungen,
welche an den gemauerten Türmen F angebracht ſind, bis zur Höhe
der oberen Kanalhaltung AB gehoben, während gleichzeitig das andere
Baſſin hinabſinkt. Iſt das Baſſin F oben angelangt, ſo wird der
dasſelbe gegen B abſchließende Schieber H geöffnet, und das Schiff
kann nun ohne weiteres ſeinen Kurs in der höher gelegenen Kanal-
ſtrecke AB fortſetzen.


Eine durchweg in Eiſenkonſtruktion ausgeführte Schiffshebevor-
richtung ſtellt Fig. 432 dar; dieſelbe liegt bei Houdeng-Goegnies in
Belgien und dient dazu, in dem Kanal du Centre einen Niveau-
unterſchied von 15,397 m zu überwinden. Außer dem dargeſtellten
gelangen noch drei derartige Aſcenſeure, wie man dieſelben auch wohl
nennt, von je 16,993 m Hubhöhe zur Anwendung. Der Antrieb erfolgt
dadurch, daß der Waſſerſpiegel des obenſtehenden beweglichen Behälters
um 0,30 m erhöht wird, was eine Gewichtsvermehrung um 74 Tonnen
zur Folge hat. Der Durchmeſſer der Treibcylinder beträgt 2,06 m; der
Druck in [demſelben] beträgt gegen 14 Atmoſphären; die Abmeſſungen der
Cylinder ꝛc. ſind für 80 Atmoſphären berechnet. Die Hebung eines
Schiffes erfolgt in 2½ Minuten bei einem Waſſerverbrauche von
74 Tonnen. Die Ausführung dieſes Hebewerkes erfolgte durch die
bekannte Société Cockerill in Seraing nach den Patenten und Angaben
der Herren Standfield und Clark.


Unter den gegenwärtig in der Ausführung begriffenen Kanal-
bauten nimmt der Nord-Oſtſee-Kanal ein beſonderes Intereſſe für ſich
in Anſpruch, deſſen Verlauf aus Fig 433 zu entnehmen iſt.


[779]Die Waſſerwege.

Es iſt von beſonderem Intereſſe, daß der älteſte Plan einer aller-
dings nur für flachgehende Schiffe benutzbaren Verbindung der Nord-
und Oſtſee thatſächlich zur Ausführung gelangt und noch gegenwärtig
im Betriebe iſt. Es iſt dieſes der gegen Ende des 14. Jahrhunderts

Figure 423. Fig. 432.

Schiffshebewerk bei Houdeng-Goegnies.


[780]Der Verkehr zu Waſſer.

Figure 424. Fig. 433.

Der Nord-Oſtſee-Kanal.


[781]Die Waſſerwege.

Figure 425. Fig. 434.

Baggermaſchine beim Bau des Nord-Oſtſee-Kanals.


[782]Der Verkehr zu Waſſer.
erbaute Stecknitz-Kanal, welcher die Trave unter Benutzung der Delvenau
mit der Elbe verbindet. Derſelbe genügt allerdings nicht für die
heutigen Schiffsverhältniſſe, iſt jedoch, wie eben ſchon geſagt, für flache
Fahrzeuge noch heute in Gebrauch.


Im Anfange des 16. Jahrhunderts ſoll dann noch eine zweite
Verbindung der beiden Meere, und zwar zwiſchen Trave und Beſte
kurze Zeit beſtanden haben. Neben den Dänen waren es die Engländer,
welche in den ſpäteren Jahrhunderten den Bau eines für große See-
ſchiffe befahrbaren Nord-Oſtſee-Kanals zu wiederholten Malen beab-
ſichtigten. Auch Wallenſtein ſoll einen ſolchen Plan gehegt und bereits
begonnen haben. Der von den Dänen erbaute Eider-Kanal iſt nur
für kleinere Seeſchiffe benutzbar. Der Bau des jetzigen Kanals wurde
durch Reichsgeſetz vom 10. März 1886 beſtimmt. Fig. 434 ſtellt einen
der gewaltigen bei der Aushebung des Kanals in Betrieb befindlichen
Dampfbagger dar.


b) Der Schiffsbau.


Nachdem als erſtes Fahrzeug zu Waſſer jedenfalls der ſchwimmende
Baumſtamm und in weiterer Folge das aus mehreren zuſammen-
gebundenen Baumſtämmen beſtehende Floß gedient hatte, ging man
alsbald dazu über, den Baumſtamm mit Hilfe von Schneidewerkzeugen
und des Feuers auszuhöhlen. Das ſo geſchaffene Fahrzeug iſt noch
jetzt unter dem Namen Einbaum vielfach im Gebrauch.


Die Fortbewegung der älteſten Schiffe erfolgte durch Ruder.
Jedoch gebrauchten bereits die Phönizier auf ihren großen Seereiſen
ſowohl Ruder als auch Segel. Sie waren auch die erſten, welche die
Fahrt bei Nacht nicht unterbrachen, ſondern an dem Stande der Ge-
ſtirne ſich auf dem Meere orientierten.


Wohl das gewaltigſte Schiff, von welchem geſchichtliche Über-
lieferungen uns vorliegen, iſt das Prachtſchiff des Ptolomäers Philo-
pater. Dasſelbe, in Fig. 435 im Schnitt dargeſtellt, hatte eine
Länge von 128 m, eine Breite von 18 m und einen inneren Hohlraum
von 22 m Tiefe. Zur Fortbewegung dieſes gewaltigen Koloſſes dienten
400 Ruder, welche von 2400 Ruderknechten bedient wurden. Wie
aus Fig. 435 zu erſehen iſt, waren dieſe Ruderer in fünf Etagen über
einander verteilt; da dieſelben von Zeit zu Zeit abgelöſt werden mußten,
ſo zählte die geſamte Schiffsmannſchaft allein gegen 4000 Ruder-
knechte.


Bei den Römern, welche bekanntlich der Schiffahrt geringere Auf-
merkſamkeit ſchenkten, ſind die kleinen ſchnellſegelnden Schiffe zu er-
wähnen, welche im Anſchluß an die Landpoſt, den cursus publicus,
Briefſchaften und Nachrichten über die Meere brachten.


Die kühnen Meerfahrten der Phönizier [finden] ein Gegenbild in
den zu Anfang des neunten Jahrhunderts beginnenden kriegeriſchen
[783]Schiffsbau.

Figure 426. Fig. 435.

Galeere des Philopater.


Wickingerfahrten. Von Nordgermanien aus unternahm das kühne
Volk der Wickinger Streifzüge über das Meer nach den Küſten Englands,
Frankreichs und Spaniens; ja auch die Küſte des Mittelländiſchen
Meeres wurde wiederholt von ihnen heimgeſucht.


Über die Konſtruktion eines Wickingerſchiffes ſind wir durch einen
intereſſanten Fund, welcher bei Öffnung eines altnorwegiſchen Grabes
in der Nähe des Seebades Sandefjord gemacht wurde, ziemlich genau
unterrichtet. Dieſes alte Wickingerſchiff hatte ein Länge von 22 m und
eine Breite von 5 m. Es hatte einen Maſt und entbehrte des Ver-
decks, ſo daß die Beſatzung den Unbilden der Witterung ſchutzlos
gegenüber ſtand. Meiſt bewegte man ſich durch Rudern vorwärts.


Jedenfalls haben dieſe kriegeriſchen Wickingerfahrten einen erheb-
lichen Einfluß auf die ſpätere Entwickelung der dem Werke des Friedens
dienenden Schiffahrt ausgeübt. Auch die Kreuzzüge mit ihren wieder-
holten weiten Meeresfahrten — wir weiſen nur auf die von den eng-
liſchen Kreuzfahrern zurückzulegende Wegeslänge hin — brachten der
Schiffahrt weiteren Impuls.


Die Größe der Schiffe wuchs immer mehr; gleichzeitig wurde
das plumpe Ruderſchiff erſetzt durch das graziös vor dem Winde
dahin ſchwebende Segelſchiff. Die Erfindung des Kompaſſes trug im
übrigen dazu bei, daß die Küſtenfahrzeuge ſich allmählich in den weiten
unbekannten Ocean hinauswagten.


Als ein Beiſpiel aus der Epoche der erſten großen Seefahrten
bringen wir in Fig. 436 die Abbildung des Admiralſchiffes des
Kolumbus.


Über die Fahrzeuge, mit denen der kühne Entdecker Amerikas ſeine
denkwürdige Fahrt ausführte, iſt erſt in neueſter Zeit etwas Gewiſſes
feſtgeſtellt und zwar durch R. Monleón, welcher die Schriften von
[784]Der Verkehr zu Waſſer.
Navarrette u. a. in der „Revista general de Marina“ zuſammengeſtellt
hat und deſſen Abhandlung in den „Mitteilungen aus dem Gebiete
des Seeweſens“ wiedergegeben wurde. Hiernach hat eine direkte

Figure 427. Fig. 436.

Admiralſchiff des Kolumbus.


Überlieferung einer Be-
ſchreibung der Schiffe des
Kolumbus nicht ſtattge-
funden.


Allerdings ſind uns
mancherlei Kenntniſſe über
die Formen und die Eigen-
ſchaften der zu jener Zeit
gebräuchlichen Schiffsgat-
tungen erhalten geblieben;
es fehlten jedoch die An-
haltspunkte, um die Fahr-
zeuge des Kolumbus in eine
der damals vorhandenen
Gattungen einzureihen. Es
iſt nun hiſtoriſch feſtgeſtellt,
daß die drei Schiffe, mit
welchen Kolumbus am
3. Auguſt 1492 den Anker-
platz bei Huelva verließ,
die „Santa Maria“, die
„Nina“ und die „Pinta“ ſo-
genannte Caravellen waren,
eine Bezeichnung, welche
uns über deren Eigen-
ſchaften keinerlei Anhalt
bietet.


Die erſte auf uns ge-
kommene Erwähnung der
Caravelle ſtammt aus dem
Jahre 1444, als Heinrich
der Seefahrer ein derartig benanntes Fahrzeug unter dem Befehle
des Vincente de Lago, der einen venetianiſchen Edelmann Namens
Luigi de Cadamoſto in ſeiner Begleitung hatte, auf Länderentdeckung
in See gehen ließ.


Auf dieſer Reiſe, wo man die Kanarien, Madeira, Porto Santo
beſuchte und in den Gambiafluß einlief, ſoll das Fahrzeug nach den
Chroniken einmal eine Strecke von 600 italieniſchen Meilen in einem
Zeitraum von 36 Stunden durchlaufen haben, was einer mittleren
Geſchwindigkeit von 12,5 Knoten*) gleichkommt. Aber auch die Cara-
[785]Der Schiffsbau.
vellen des Kolumbus hatten, wie aus dem Tagebuche des Admirals
zu entnehmen iſt, ähnliche Leiſtungen aufzuweiſen und zählten ſomit
zu den Schnellſeglern der damaligen Zeit; zudem waren ſie nach da-
maligen Begriffen nicht die ſchlechten, nicht einmal mit einem Deck ver-
ſehenen Fahrzeuge, als welche ſie oft noch heutzutage hingeſtellt werden,
ſondern in ihrer Art ganz tüchtige Schiffe.


Auch über die Beſegelung derſelben giebt das Tagebuch uns Auf-
ſchluß; ſo erfahren wir daraus, daß die „Santa Maria“ und die
„Nina“ eine aus fünf Segeln beſtehende Beſegelung hatten, welche an
den drei Maſten und an dem Bugſpriet geführt wurden.


Die Frage hinſichtlich der Größenverhältniſſe des Admiral-
ſchiffes des Kolumbus hat Fernandez Duro unter Entwickelung vieler
Geiſtesſchärfe einer in Spanien allgemein acceptierten Löſung entgegen-
geführt.


Als einziger Anhaltspunkt bot ſich ihm eine in den Schriften des
Admirals befindliche Bemerkung, nach welcher das große Boot der
„Santa Maria“ eine Länge von fünf Faden hatte. Nun ſind aber
in dem uns erhalten gebliebenen, im Jahre 1587 erſchienenen Werke
des Diego Garcia del Palacio über Schiffbau die gegenſeitigen Ver-
hältniſſe der Dimenſionen der Schiffskörper und der großen Boote,
wie ſie damals innegehalten wurden, ausführlich behandelt, wonach
Herr Fernandez Duro zu dem Schluſſe kommt, daß die „Santa Maria“
folgende Dimenſionen beſeſſen habe: Kiellänge 19 m, Länge zwiſchen
den Perpendikeln 23 m, größte Breite 6,7 m, Raumtiefe 4,5 m, ferner
eine Zuladungsfähigkeit von 120—130 Tonnen bei einer Bemannung
von 70—90 Mann; außerdem konnte dieſelbe große Vorräte an Lebens-
mitteln und Trinkwaſſer an Bord nehmen. Die „Santa Maria“ war
demnach ohne Zweifel eine große Caravelle, da die ſonſtigen aus jener
Zeit uns bekannt gewordenen Fahrzeuge dieſer Art zumeiſt nur 30 bis
60 Tonnen Zuladungsfähigkeit hatten, und ſelbſt die berühmte „Viktoria“
welche die erſte Weltumſegelung ausführte, nur eine ſolche von 85 Tonnen
beſaß.


Wie ſchon bemerkt wurde, waren die Caravellen des Kolumbus
gute Segler; in dem Tagebuche des Admirals findet man oft eine
Fahrgeſchwindigkeit von 15 italieniſchen Meilen (etwas mehr als
11 Knoten) angegeben, was bei dem Umſtand, daß die drei Schiffe
im Geſchwaderverbande ſegelten, ſicherlich eine bedeutende Geſchwindig-
keit iſt.


Über die Form der Schiffskörper exiſtiert keine beſondere Über-
lieferung, und es konnte dieſelbe erſt nach mühevoller Sammlung und
aufmerkſamer Sichtung der zerſtreut anzutreffenden Daten und Behelfe
einigermaßen feſtgeſtellt werden.


Wenn Kolumbus in ſeinen Schriften die „Santa Maria“ oft als
nao oder navio, die beiden anderen Fahrzeuge aber als carabelas be-
zeichnet, ſo mag dieſes nicht ſeinen Grund in einer Verſchiedenheit
Das Buch der Erfindungen. 50
[786]Der Verkehr zu Waſſer.
der Schiffstypen gehabt haben, ſondern er wollte hiermit wahrſcheinlich
nur der hierarchiſchen Stellung der Geleitſchiffe zum Admiralſchiff
Ausdruck geben.


Daß die drei Schiffe in der Mitte niedrigen Freibord, vorn und
hinten aber hohe Aufbaue hatten, erhellt nicht nur aus Zeichnungen
(Fig. 436) Juan de la Coſa’s, des Piloten des Kolumbus, ſondern
auch aus dem mehrfach ſchon citierten Tagebuche.


Dort findet ſich nämlich am 11. Oktober die Notiz: „Als ſich der
Admiral um 10 Uhr nachts am Hüttendecke befand, nahm er ein Licht
wahr“ und ſpäterhin: „Der Admiral ſchärfte ihnen ein, guten Auslug
am Vorkaſtelle zu halten“. Die Hütte befand ſich damals, wie noch
heutzutage auf den meiſten Fahrzeugen, hart am Heck; ſie war auf
einem Deck aufgebaut, daß ſich von Achter bis zum Großmaſte er-
ſtreckte, diente Schiffsoffizieren und diſtinguierten Perſonen zur Unter-
kunft und wurde in Spanien Alcazar genannt. Das Vorkaſtell ſtand
auf einem zum Schutze des Mannſchaftsraums aufgebauten Wetterdeck.


Wir erwähnen noch, daß man zu jener Zeit auf die Segel ge-
wiſſe Bilder zu malen pflegte, eine von den Phöniziern und Ägyptern
übernommene Sitte, die bei den Fiſcherbooten der Adria bis auf den
heutigen Tag ſich erhalten hat und den Zweck hat, die Schiffe zu
ſchmücken und auf weite Entfernungen hin kenntlich zu machen. Bei
den Spaniern und Portugieſen wählte man hierzu mit Vorliebe das
Zeichen des Kreuzes, um ſich dadurch von den Ungläubigen zu unter-
ſcheiden.


Leider ſind die Aufzeichnungen über die Beſtückung der Schiffe
des Kolumbus ſehr mangelhafte; dieſelbe beſtand aus mittelſchweren
und leichten Geſchützen, ſogenannten Spingarden und Lombarden.


So hatte das Schiff ſich zu einer Vollkommenheit entwickelt, welche
dasſelbe befähigte, die größten Entfernungen zurückzulegen. Noch heute
wird ein erheblicher Teil des Verkehrs auf dem Meere wie auf den
Binnengewäſſern von Segelſchiffen beſorgt.


Je nach der Anzahl der Maſten unterſcheidet man die Dreimaſter (Voll-
ſchiffe); nur ausnahmsweiſe kommen auch wohl mehr als drei Maſten zur
Anwendung. Eine beſondere Art des Dreimaſters bildet die Bark; bei
dieſer iſt der eine der drei Maſten nicht mit Volltakelage ausgeſtattet.
Schiffe mit zwei mit Volltakelage ausgeſtatteten Maſten nennt man
Briggs; eine beſondere Art derſelben bilden die Schoner, welche durch eine
geringere Beſegelung gekennzeichnet ſind. Unter Kuff verſteht man ein
zweimaſtiges Küſtenfahrzeug, und mit Kutter und Jacht bezeichnet man
die einmaſtigen Segler.


Die Größe eines Schiffes kennzeichnet ſich durch ſeine Tragfähig-
keit. Man drückt dieſe in Tonnen aus. Nach den Lehren der Phyſik
iſt das Gewicht der von einem auf dem Waſſer ſchwimmenden Körper
verdrängten Waſſermenge gleich dem Gewichte dieſes Körpers. Das
von einem Schiffe verdrängte Waſſerquantum nennt man das Depla-
[787]Der Schiffsbau.
cement oder die Verdrängung desſelben. Die Summe des Eigen-
gewichtes des Schiffes und der Tragfähigkeit oder Ladungsfähigkeit ꝛc.
iſt gleich dem Deplacement.


Nach dieſen wenigen allgemeinen Zwiſchenbemerkungen wenden
wir uns nunmehr dem Schiffe der Gegenwart, dem Dampfſchiffe zu.


Bereits bei der Geſchichte der Dampfmaſchine hatten wir erwähnt,
daß Papin der erſte war, welcher die Dampfkraft zur Fortbewegung
eines Schiffes ausnutzte. Leider wurde dieſer erſte Verſuch ſchon im
Keime erſtickt.


Der erſte von durchſchlagendem Erfolge gekrönte Verſuch der
Dampfſchiffahrt rührt von dem Amerikaner Fulton her, welcher im
Jahre 1807 einen Schaufelraddampfer „Clermont“ auf dem Hudſon
zwiſchen New-York und Albany in regelmäßigen Betrieb ſetzte. Noch

Figure 428. Fig. 437.

Schaufelrad für Dampfſchiffe.


heute werden derartige Raddampfer, bei denen ein Schaufel- oder
Ruderrad durch die Dampfmaſchine in ſchnelle Drehung verſetzt wird
und das Schiff vorwärts treibt, auf den Binnengewäſſern in zahl-
reichen Exemplaren benutzt.


Fulton ſoll ſchon damals Napoleon dem Erſten den Vorſchlag
gemacht haben, die franzöſiſche Kriegsflotte mit Dampfmaſchinen aus-
zurüſten, ohne jedoch Gehör zu finden.


Die erſte Oceanfahrt eines ſolchen Raddampfers erfolgte im Jahre
1819. Es waren die Gebrüder Searborough, welche als die Erſten
die Fahrt von Savannah in Georgien in Nordamerika nach Liverpool
unter teilweiſer Zuhilfenahme der Segel in 26 Tagen zurücklegten.


Dieſe wahrhaft außerordentliche Leiſtung blieb bis zum Jahre 1829
ohne Nachahmung. In den dreißiger Jahren häufte ſich die Zahl der
von der Neuen zur Alten Welt ausgeführten Dampferfahrten und im
Jahre 1840 ſchloß die engliſche Regierung mit dem Rheder Samuel
Cunard
in Halifax den Vertrag der erſten ſubventionierten, einmal
regelmäßig im Monat ſtattfindenden Poſtverbindung zwiſchen Liverpool
und Halifax ab. Im Jahre 1847 wurde die Hamburg-Amerika-
niſche Paketfahrt-Aktiengeſellſchaft
gegründet; dieſelbe richtete im
Jahre 1856 ebenfalls eine regelmäßige Dampferverbindung zwiſchen Ham-
burg und New-York ein. Im Jahre 1857 bildete ſich alsdann in Bremen
ein mächtiger Konkurrent unter dem Namen Norddeutſcher Lloyd.


50*
[788]Der Verkehr zu Waſſer.

Eine große Umwälzung auf dem Gebiete des Schiffsbaues brachte
die Einführung der Schiffsſchraube oder Propellerſchraube als
Erſatz des Schaufelrades. Als Erfinder derſelben werden genannt der
Öſterreicher Joſeph Reſſel, der bereits im Jahre 1812 dieſelbe zuerſt
praktiſch angewendet haben ſoll. Auch der Amerikaner Ericſon wird
häufig als Erfinder oder doch als glücklicher Verbeſſerer des Schrauben-
propellers genannt. Das erſte Schraubenſchiff gebaut und ſeetüchtig
fertiggeſtellt zu haben, dieſes Verdienſt gebührt dem Engländer Smith,
welcher im Jahre 1838 mit dem Dampfer „Archimedes“ die Küſte
Englands befuhr. Die erſte bahnbrechende Anwendung der Schiffs-
ſchraube erfolgte im Jahre 1847.


In Fig. 438 geben wir die Anſicht eines Schraubendampfers; das
den Dampfer ausnehmende Dock iſt von der bekannten Hoppeſchen
Maſchinenfabrik in Berlin erbaut. Die Wirkung einer Schiffsſchraube
iſt die gleiche, wie diejenige einer gewöhnlichen in ihrer Mutter gedrehten
Schraube, nur daß an die Stelle der Mutter das Waſſer tritt. Hält man
die Mutter einer Schraube feſt und dreht man gleichzeitig die Schraube,
ſo ſchraubt ſich die Schraube je nach der ihr erteilten Drehrichtung aus
der Mutter hinaus oder in dieſelbe hinein. Das gleiche geſchieht bei der
Schiffsſchraube; je nach der ihr von der Schiffsmaſchine erteilten
Drehung treibt ſie das Schiff im Waſſer, welches, wie oben erwähnt,
die Stelle der Mutter einnimmt, nach vorwärts oder nach rückwärts.


Die Vorzüge, welche die Schraube vor dem Ruderrade auszeichnen,
ſind ſehr weſentliche und ſchwerwiegende; dieſelben haben es bewirkt, daß
die Raddampfer aus dem transatlantiſchen Verkehr gänzlich verſchwunden
ſind. In der neueren Zeit verwendet man häufig zwei Schrauben, deren
eine rechts, deren andere links von der Längsachſe des Schiffes an-
geordnet iſt. Derartige Doppelſchraubenſchiffe ſind beſonders bei den
Kriegsflotten anzufinden, da ſie eine ſehr hohe Manövrierfähigkeit beſitzen.


Was die oben erwähnten Vorzüge der Schiffsſchraube betrifft, ſo
beſtehen dieſelben im weſentlichen in folgendem: Die Breite des Schiffes
iſt eine bei weitem geringere als bei Verwendung von Schaufelrädern.
Die Schraube liegt ſtets geſchützt im Waſſer, ein Umſtand, der nament-
lich bei Kriegsſchiffen von der größten Bedeutung iſt. Der Gang des
Schiffes iſt ein ſehr ruhiger. Bei hoher See tritt bei ſtarken
Schwankungen des Schiffes häufig das eine der beiden Schaufelräder
aus dem Waſſer heraus, wodurch eine ſehr ungünſtige einſeitige In-
anſpruchnahme der Dampfmaſchine eintritt; dieſer Übelſtand fällt bei
der Schraube fort. Endlich liegt der Schwerpunkt der Schrauben-
dampfer tiefer als der der Raddampfer, ſo daß jene nicht ſo leicht
von hoher See zum Kentern gebracht werden können.


Als Beiſpiel eines modernen transatlantiſchen Doppelſchrauben-
ſchnelldampfers bringen wir in Fig. 439 die auf der Werft der
„Vulkan“ in Bredow bei Stettin erbaute „Auguſta Viktoria“ des
Hamburg-Amerikaniſchen Paketfahrt-Aktiengeſellſchaft.


[789]Der Schiffsbau.
Figure 429. Fig. 438.

Schraubendampfer im Dock.


[790]Der Verkehr zu Waſſer.
Figure 430. Fig. 439.

Schnelldampfer „Auguſta Viktoria“.


[791]Der Schiffsbau.

Dieſem gewaltigen ſchwimmenden Koloß iſt alsbald der „Fürſt
Bismarck“ derſelben Werft und derſelben Aktien-Geſellſchaft als der größte
in Deutſchland erbaute Dampfer gefolgt. Derſelbe hat eine Länge in der
Waſſerlinie von 153,1 Meter, eine Breite von 17,52 Meter und eine Tiefe
bis zum Oberdeck von 11,58 Meter. Die Maſchinen von insgeſammt
14000 Pferdeſtärken verleihen dem Schiffe eine Geſchwindigkeit von
19 Knoten in der Stunde. Das Deplacement beträgt 12900 Tonnen.
Das zur Verwendung gelangte Material iſt Stahl. Um ein Sinken des
Schiffes bei Verletzung desſelben zu verhindern, iſt dasſelbe in 17 gegen
einander waſſerdicht abgedichtete Abteilungen geteilt.


Das Schiff hat im ganzen 5 Decks. In den beiden Speiſeſälen
der 1. Klaſſe können zuſammen 240 Perſonen ſpeiſen; in dem Speiſe-
ſaal 2. Klaſſe 88 Perſonen. Die Zahl der zu befördernden Paſſagiere
beträgt 1214 und zwar 400 in der 1. Klaſſe, 114 in der 2. Klaſſe und
700 in der 3. Klaſſe. Die Bemannung zählt 250 Köpfe. Alle Räume
werden elektriſch und zwar durch 800 Glühlampen erleuchtet. An
Trinkwaſſer werden 200000 Liter mitgenommen; ein Deſtillierapparat
vermag außerdem täglich 18000 Liter Waſſer zu deſtillieren.


Die beiden Maſchinen leiſten je 7000 Pferdeſtärken; ſie ſind drei-
fache Compoundmaſchinen; der Hochdruckcylinder hat 1100, der Mittel-
druckcylinder 1700 und der Niederdruckcylinder 2700 Millimeter Durch-
meſſer. Der Kolbenhub beträgt 1600 Millimeter und die Zahl der
Umdrehungen 85 in der Minute. Das mitgeführte Kohlenquantum
beträgt 2700 Tonnen. Das Heizerperſonal iſt 100 Köpfe ſtark. Die
Koſten des Schiffes ſtellen ſich auf 6 Millionen Mark; hiervon entfallen
500000 Mark auf die innere Ausſtattung.


Um das Bild des gegenwärtigen Standpunktes des Dampfſchiff-
baus noch zu vervollſtändigen, bringen wir in Fig. 440 nach einem
auf der 1891 in der Royal Naval Exhibition ausgeſtellten Modell die
Anſicht des engliſchen Kriegsſchiffes „Viktoria“. Dasſelbe hat eine Länge
von 360 Fuß (109 m) und eine Breite von 70 Fuß (21 m); der mittlere
Tiefgang beträgt 27 Fuß (7 m) und das Deplacement 10700 Tonnen. Bei
den angeſtellten Verſuchen entwickelte die Maſchine während vier Stunden
14244 indizierte Pferdekräfte bei einer Geſchwindigkeit von 17 Knoten.
Das Schiff kann 1000 Tonnen Kohlen einnehmen, ein Quantum, welches
genügt, um 8000 bis 9000 Knoten unter Dampf zurückzulegen.


In einem aus der Abbildung erſichtlichen Drehturme ſind zwei
Geſchütze angebracht; jedes 110 Tonnen wiegend; hinter dieſem Dreh-
turme iſt auf zwei Drittel der Schiffslänge noch ein Batteriebau
angeordnet mit zahlreichen kleineren Geſchützen: einem zehnzölligen,
12 ſechszölligen Geſchützen, 12 Sechspfünder-Schnellfeuer-Kanonen und
9 Dreipfünder-Schnellfeuer-Kanonen, neben einer größeren Anzahl
von Nordenfeltſchen Revolverkanonen.


Ferner beſitzt das Schiff vier Geſchütze zum Abfeuern von Tor-
pedos über Waſſer und ebenſo viele zum Abfeuern unter Waſſer.


[792]Der Verkehr zu Waſſer.

Die Räume, welche zur Aufnahme der vorſtehend aufgeführten
kleineren Geſchütze dienen, ſind mit einem 3 Zoll ſtarken Panzer ver-
ſehen; der Panzer des eigentlichen Schiffskörpers iſt 18 Zoll, derjenige
des Drehturmes 17 Zoll ſtark; letzterer ruht zur Erzielung eines thun-
lichſt elaſtiſchen Widerlagers auf einer Unterlage von Teakholz.


Figure 431. Fig. 440.

Engliſches Panzerſchiff „Viktoria“.


[793]Der Schiffsbau.

Ein ſtark in die Augen ſpringendes Merkmal der modernen Schiffs-
baukunſt beruht auf der möglichſt weitgehenden Ausnutzung der
Maſchinenkraft als Erſatzmittel der Menſchenkraft. Wo nur irgend
möglich, übernimmt die Maſchine die Verrichtung aller derjenigen
Arbeiten, welche auf den Schiffen früherer Jahrhunderte der Muskel-
kraft der Bemannung anheimfiel.


Die gewaltigen Geſchütze werden in allen Bewegungen durch
hydrauliſchen Druck bethätigt, ſowohl für die Ausführung des Ladens
wie für die Erfaſſung des Zieles. Dieſelbe Art des Antriebs wird
auch für die Drehung des bedeutenden Gewichtes des Turmes benutzt,
und zwar iſt das dieſem Zweck dienende Handrad derartig angebracht,
daß der am Auslug ſtehende Offizier durch einen leichten Händedruck
den Turm in jede gewünſchte Lage bringen kann. Dieſe Bewegungs-
vorrichtung iſt derartig angeordnet, daß ſowohl jedes Geſchütz allein
für ſich, als auch beide gemeinſam gerichtet werden können. Das Ab-
feuern der Turmgeſchütze geſchieht mit Hülfe der Elektrizität, und zwar
entweder gleichzeitig oder getrennt. Der hydrauliſche Druck dient des
weiteren auch zu den verſchiedenſten anderen Zwecken, ſo z. B. zum
Transportieren der Geſchoſſe aus dem Magazinraum zu den Geſchützen,
zum Entfernen der Aſche aus dem Keſſelraum, zum Heben und Nieder-
laſſen der Bote u. ſ. w.


An Stelle der ehemals gebräuchlichen Bemaſtung und reichen Be-
ſegelung iſt die Dampfkraft getreten; der eine hinter dem Drehturm
ſichtbare Maſt dient lediglich als Auslug, ſowie zum Erteilen von
Signalen.


Das Bild eines modernen Kriegsſchiffes wird erſt ein vollſtändiges
durch die rings um dasſelbe angebrachten Stahldrahtnetze, welche dazu
dienen, die mörderiſchen Torpedos von dem Rumpf abzuhalten. Es
iſt nicht ohne Intereſſe, hier zu erwähnen, daß die erſte praktiſche Probe
dieſes zu den neueſten Errungenſchaften der Waffentechnik gehörenden
Zerſtörungsmittels während des letzten chileniſchen Bürgerkrieges
erfolgt iſt.


Als ferneres Mittel zur Fortbewegung der Schiffe iſt neben dem
Winde und dem Dampf in neueſter Zeit noch die Reaktionswirkung
des austretenden Waſſers in Vorſchlag gebracht und in beſchränktem
Maße auch zur praktiſchen Anwendung gelangt. Der Erfinder dieſes
neuen Syſtems iſt E. Fleiſcher in Dresden. Das Charakteriſtiſche
desſelben beſteht darin, daß in der Richtung der Mittellinie des Schiffes
Röhren angeordnet ſind, aus welchen Waſſer mit einer erheblichen
Geſchwindigkeit, etwa 20 m in der Sekunde, ausgetrieben wird. In-
folge der Reaktion des austretenden Waſſers, wird das Schiff nach
vorwärts getrieben.


[794]Der Verkehr zu Waſſer.

c) Die Sicherung der Schiffahrt.


Der beſtändige Kampf mit den launiſchen und tückiſchen Elementen,
deren gewaltige tragende und treibende Kraft nutzbar zu verwenden
zu den bedeutendſten Aufgaben des Weltverkehrs gehört, war ganz dazu
angethan, dem Lenker eines Schiffes die Notwendigkeit vor Augen zu
führen, den an ſich gefahrvollen Beruf des Seefahrers möglichſt ſicher
und ſorglos zu geſtalten. Hier wie überall machte die Not erfinderiſch.
Mit dem Moment, wo ein Schiff die Nähe der Küſte zu verlaſſen
wagte, mußte der Menſch auf Mittel ſinnen, welche ihn befähigten,
den einmal eingeſchlagenen Kurs ſeines Schiffes in der Richtung auf
das Ziel unverändert feſtzuhalten und den zurückgelegten Weg genau
zu kontrollieren. Heute nun kann man mit Fug und Recht ſagen, ge-
hört der Beruf des Seefahrers kaum noch zu den gefahrdrohendſten.
Auf hoher See wenigſtens trotzt ein gutes Schiff, ohne beſonderen Schaden
zu nehmen, ſelbſt dem wütendſten Anprall von Sturm und Wogen; in der
Nähe des Zieles leitet der mit allen Eigentümlichkeiten ſeines heimat-
lichen Fahrwaſſers innig vertraute Lotſe das ſeinem Befehl unter-
ſtellte Fahrzeug ſicher und ungefährdet an ſeinen Ankerplatz. Eigentlich
gefahrbringend iſt nur die Nähe der Küſte mit ihren verſteckten und
wechſelnden Untiefen und Klippen, ihren Strömungen und ihrem Nebel,
ihrer beſtändigen Änderungen unterworfenen Fahrſtraße und den
brandenden Wogen, welchen das Schiff machtlos im Angeſichte des
rettenden Feſtlandes preisgegeben iſt.


Die Sicherung der Seeſchiffahrt macht die eingehendſte Kenntnis
aller dieſer Verhältniſſe bei denjenigen zur Vorausſetzung, deren Obhut
und Leitung ein Fahrzeug anvertraut iſt. Gleichwohl iſt man dieſem
Ziele nur ſehr langſam näher gekommen, und erſt die neuere Zeit
hat uns in den glücklichen Beſitz der ausgedehnten kartographiſchen
Hülfsmittel geſetzt, die eines der unerläßlichſten und unentbehrlichſten
Erforderniſſe bei allen Operationen des Seefahrers ſind. Die
Herſtellung der Seekarten, d. h. der in geeignetem Maßſtabe an-
gefertigten Darſtellungen der Erdoberfläche, ſoweit dieſelben den inter-
nationalen Schiffsverkehr angehen, liegt im allgemeinen zwar den
Regierungen der einzelnen ſeefahrenden Nationen, wenigſtens innerhalb
ihres Hoheitsgebietes ob, iſt aber zu einem nicht geringen Teile auch
eine Frucht der gemeinſamen Arbeit und des uneigennützigſten Zu-
ſammenwirkens aller Nationen, die ein gleiches Intereſſe zum gemein-
ſchaftlichen Werke vereinigt hat.


Je nach dem Maßſtabe, welcher für die Seekarten gewählt iſt,
[und] dem beſonderen Zwecke, welchem ſie dienen ſollen, unterſcheidet
man General- oder Überſegelkarten, denen die Spezial-, Hafen- und
Küſtenkarten, auch Pläne genannt, gegenüberſtehen. Sie enthalten neben
[795]Die Sicherung der Schiffahrt.
den genauen Umriſſen der Küſte und ihren Höhenverhältniſſen, vor-
nehmlich die beſonders auffallenden und den Hülfsmitteln des Schiffers
bequem zugänglichen Landobjekte, wie Leuchttürme, Kirchtürme, hervor-
ragende Gebäude, in gleicher Weiſe die im Intereſſe der Sicherheit des Ver-
kehrs ausgelegten oder errichteten See- und Warnungszeichen, die in
der verſchiedenſten Form, als Bojen, Baken, Feuer- und Leuchtſchiffe u. ſ. w.,
auftreten, — kurzum alle die ausgezeichneten Objekte, die für eine
ſchnelle und ſichere Orientierung in Bezug auf den jeweiligen Schiffs-
ort von Wichtigkeit und Bedeutung ſein können.


Die Projektionsweiſe, d. h. die Art der Darſtellung, welche für
die Seekarten faſt allgemein zur Anwendung kommt, wurde bereits
1569 von dem deutſchen Geographen Gerhard Mercator (Cremer) an-
gegeben und iſt auch nach ihrem Erfinder genannt worden. Die durch
gerade Linien dargeſtellten Breitenkreiſe und Meridiane ſchneiden ſich
bei dieſer Art der Abbildung der Erdoberfläche unter rechten Winkeln.
Während aber die Meridiane überall den nämlichen Abſtand von ein-
ander haben, wächſt derjenige der Parallel- oder Breitenkreiſe nach den
Polen zu immer mehr und würde ſchließlich unendlich groß werden;
dementſprechend nimmt nach den Polen auch die Verzerrung außer-
ordentlich ſtark zu. Dafür gewähren ſie aber den nicht hoch genug
anzuſchlagenden Vorteil, daß die Kurslinie, die ſogenannte Loxodrome,
alle aufeinanderfolgenden Meridiane ſtets unter demſelben Winkel
ſchneidet, ſodaß die geradlinige Verbindung zwiſchem dem Ausgangs-
und dem gewählten Endpunkt der Seereiſe auf der Karte direkt den
vom Schiffe einzuſchlagenden Kurs angiebt und beſtimmt.


Nicht minder wichtig und bedeutſam erſcheinen diejenigen Hülfs-
mittel, welche den Seefahrer über die klimatiſchen und allgemein
meteorologiſchen Verhältniſſe, vor allem über die mehr oder weniger
große Regelmäßigkeit gewiſſer Windrichtungen, über die Dauer derſelben
und ihre Stärke, über die Strömungs- und Tiefenverhältniſſe des
Meeres, die Regenverteilung, kurz über alles nur irgend Wiſſenswerte,
was zur Beſchleunigung und Sicherung der Reiſe von Bedeutung ſein
kann, zu orientieren beſtimmt ſind. Hier war es namentlich der ameri-
kaniſche Aſtronom Maury, der eine in der Folgezeit außerordentlich
fruchtbar gewordene Organiſation mit unermüdlichem Eifer ins Leben
zu rufen verſtanden hatte. Mit Hülfe der Aufzeichnungen von zahl-
reichen Log- oder Schiffstagebüchern ermittelte er dank der Unterſtützung
der Regierung der Vereinigten Staaten von Nordamerika alle für eine
beſtimmte Gegend typiſchen Witterungs-Erſcheinungen, die magnetiſchen
Vorkommiſſe, die Verhältniſſe der Meerestiefen und Meeresſtrömungen,
die Geſtaltung des Meeresbodens und ſeine Beſchaffenheit, — mit einem
Worte alles, was in irgend einer Beziehung zur Phyſik des Meeres
und der Luft ſteht. Auf dieſe Weiſe entſtanden die Stromkarten und
die Segel-Anweiſungen für eine Reihe der wichtigſten Verkehrs-
wege, die ſich im Gebrauche außerordentlich gut bewährt haben. Um
[796]Der Verkehr zu Waſſer.
aber die ziemlich regellos oder doch nicht nach einem beſtimmten Plane
durchgeführten Beobachtungen für die Folge wenigſtens möglichſt plan-
mäßig geſtalten und nutzbringender verwerten zu können, wählte man
den einfachen Weg, die von Maury geſchaffenen Hülfsmittel auf Staats-
koſten drucken zu laſſen und an Reflektanten nur gegen Abgabe eines
nach beſtimmtem Muſter und in aller Vollſtändigkeit geführten Log-
buches an das nautiſche Inſtitut in Waſhington auszuhändigen. Auf
dieſe Weiſe gelang es, alle ſeefahrenden Nationen zur Mitarbeit heran-
zuziehen, die an ſich bedeutungsloſen Erfahrungen und Beobachtungen
des einzelnen in kritiſcher Zuſammenfaſſung der Geſamtheit zu gute
kommen zu laſſen.


Übrigens hat man dem Meere ſelbſt einen Teil der zu ſeiner Er-
forſchung notwendigen Arbeit geſichert, wenigſtens, ſoweit es ſich um
die Feſtſtellung ſeiner Strömungsverhältniſſe handelt. Hier leiſten die
ſogenannten Flaſchenpoſten vortreffliche Dienſte, die ehedem ein Schiff
angeſichts ſeines Unterganges auszuſetzen pflegte, um eine letzte Nach-
richt zu hinterlaſſen. Heute geſchieht auf hoher See die Ausſetzung
der feſt verkorkten Flaſchen oder Käſtchen, welche in ihrem Inneren einen
Zettel mit dem Namen des ausſetzenden ſchiffes und der vollſtändigen
Angabe von Zeit und Ort der Entſendung enthalten, in durchaus
planmäßiger, ſyſtematiſcher Weiſe in der ausgeſprochenen Abſicht, zur
beſſeren und vollſtändigeren Erkennung und Erforſchung der Meeres-
ſtrömungen ein möglichſt umfaſſendes Material bereit zu ſtellen.


Die Rückſicht auf die Sicherheit und Schnelligkeit einer Seereiſe
verlangt im weſentlichen Einhaltung des einmal eingeſchlagenen Weges
oder Kurſes, mit anderen Worten genaue Ermittelung des jeweiligen
Schiffsortes und der damit zuſammenhängenden Kontrolle, nötigenfalls
auch die Veränderung des Kurſes. Hand in Hand damit geht die Feſt-
ſtellung der für das Schiff beſonders geeigneten Fahrſtraße, was auf Grund
der Stromkarten und der Segel-Anweiſungen vor Antritt der Reiſe vor-
genommen wird; die genaue Einhaltung derſelben kann ſelbſtverſtänd-
lich infolge widriger meteorologiſcher oder anderer Umſtände gelegentlich
vollkommen illuſoriſch werden, muß aber gleichwohl mit allen Mitteln
angeſtrebt werden.


Die wichtigſten und unbedingt notwendigen Hülfsmittel, welche
zur Löſung dieſer recht vielſeitigen und bedeutungsvollen Aufgabe er-
fordert werden, ſind zunächſt Kompaß, Log und Lot, weiterhin die zur
Anſtellung aſtronomiſcher Ortsbeſtimmungen benötigten Winkel- und
Zeitmeßinſtrumente. Alle dienen dem ausgeſprochenen, gemeinſamen
Zweck, die Ermittelung des Schiffsbeſtecks — in der Seemannsſprache
die durch geographiſche Länge und Breite bezeichnete Poſition des
Schiffes — in einer für die praktiſchen Zwecke der Schiffahrt hinreichen-
den Genauig keit zu aewährleiſten.


[797]Der Kompaß.
1. Der Kompaß.

Der Kompaß iſt jedenfalls eine chineſiſche Erfindung, wenngleich
ein direkter Nachweis hierfür nicht beigebracht werden kann. Ganz
verſtreut finden ſich in der chineſiſchen Litteratur Andeutungen, daß die
magnetiſchen Eigenſchaften von eiſernen Nadeln ſchon 21 Jahrhunderte
vor unſerer Zeitrechnung in China bekannt geweſen ſein müſſen; aber
erſt etwa 1700 Jahre ſpäter geſchieht einer Nadel Erwähnung, die nach
Süden weiſt, von der als von etwas ganz Bekanntem geſprochen
wird, ohne daß indeſſen von einer beſtimmten Anwendung die
Rede iſt. Als wirklicher Kompaß erſcheint die Magnetnadel nicht vor
dem 8. Jahrhundert. Ein ſolcher Kompaß beſtand aus einer in einem
Gefäß mit Waſſer ſchwimmenden Nadel; auf dem Rande des Gefäßes
war eine Einteilung in die zwölf Doppelſtunden des Tages angebracht.


Solange indeſſen die von Ort zu Ort variierende, mit dem Namen
der „magnetiſchen Deklination“ bezeichnete Abweichung der Magnet-
nadel von der genauen Nord-Süd-Richtung, deren Entdeckung einem
chineſiſchen Aſtronomen zugeſchrieben wird, unbekannt war, konnte ſie
in ihrer eigentlichen Verwendung als Kompaß, d. h. als Wegweiſer,
kaum großen Eingang finden. Als ſolcher erſcheint ſie deshalb
auch nicht vor dem 12. Jahrhundert; wenigſtens ſtammt der früheſte
vorhandene Bericht darüber erſt aus dem Jahre 1122, wo ein nach
Korea gereiſter chineſiſcher Geſandter auf einem Schiff ein als Kompaß
zu bezeichnendes Inſtrument als Wegweiſer in Gebrauch ſah. Erſt
geraume Zeit nachher mögen arabiſche Kaufleute den Waſſer-Kompaß
nach Europa gebracht haben, von wo aus dann das Inſtrument in
weſentlich verbeſſerter Form nach China zurückwanderte.


Allmählich trat nämlich an die Stelle des Waſſer-Kompaſſes die
zweifellos erheblich vorteilhaftere Form des trockenen Kompaſſes, eine
Form, die bekanntlich durch eine auf einer Spitze innerhalb einer Grad-
oder Strichteilung freiſchwebend aufgeſetzte Magnetnadel repräſentiert
wird. Heute iſt man an viel kompendiöſere Inſtrumente gewöhnt, die
allerdings auch erheblich höheren Anſprüchen zu genügen haben. In der
Regel werden bei denſelben mehrere einander möglichſt parallele Magnete
an der Scheibe der Windroſe, die ganz neuerdings eine Aluminium-
Peripherie erhält und die Grad-Teilung ſowie die Einteilung in
32 Striche, (ſ. Fig. 441) entſprechend den Haupthimmelsrichtungen, auf
Seidenpapier trägt, mit Seidenfäden befeſtigt, um das Gewicht möglichſt
klein zu machen; das ganze ruht mit einem genau zentrierten Edelſtein-
hütchen auf einer feinen, ſorgfältig geſchliffenen Spitze, der Pinne, welche
in der Mitte des bei allen Schwankungen des Schiffes alſo ſtets
horizontal bleibenden Kompaßhäuschens oder Keſſels ſteht. Dieſe Form
des Kompaſſes (Patent Hechelmann) erfüllt die Bedingung, möglichſt träge,
d. h. gegen die Schwankungen des Schiffes unempfindlich zu ſein und
dabei gleichwohl eine hinreichend große Richtungsfähigkeit zu beſitzen,
auf ſehr zufriedenſtellende Weiſe.


[798]Der Verkehr zu Waſſer.
Figure 432. Fig. 441.

Kompaßroſe.


Am unempfindlichſten ſelbſt gegen die heftigſten Erſchütterungen
des Schiffes haben ſich die ſog. Fluid- oder Schwimmkompaſſe von
Bamberg in Friedenau bei Berlin erwieſen, weshalb ſie auch in der
Kaiſerlich Deutſchen Marine zur Einführung gebracht wurden. Die

Figure 433. Fig. 442.

Fluidkompaß von Bamberg.


[799]Der Kompaß.
gleichfalls mit den Magnetnadeln feſtverbundene Kompaßroſe, welche
ſich ſehr leicht in die Richtung des magnetiſchen Meridians ſtellt, iſt mit
Schwimmdoſen verſehen, welche ihr, da ſie in einer das Kompaßgehäuſe
vollſtändig erfüllenden Miſchung von Alkohol und Waſſer ruhen, einen
erheblichen Auftrieb verleihen, der ſie mit faſt verſchwindendem
Gewicht auf der Pinne ſchweben läßt. Wegen der unvermeidlichen
Reibung der Roſe an der Flüſſigkeit iſt das Trägheitsmoment ſehr
groß, und gerade das wollte man erreichen. Einen ſolchen Fluid-
Kompaß, der überdies mit Viſiervorrichtung zum Anviſieren oder, wie
es in der Seemannsſprache heißt, zum „Peilen“ ſowohl irdiſcher als
himmliſcher Objekte eingerichtet iſt, ſtellt die Fig. 442 dar.


Noch jetzt bildet der Kompaß das wichtigſte und unentbehrlichſte
nautiſche Inſtrument, mitunter ſogar das einzige, welches als Weg-
weiſer dienen kann. Bei der gewaltigen Verkehrsentwicklung, der
wirklich ſtaunenswerten, nur noch mit Tagen und Stunden rechnenden
Schnelligkeit, welche die jüngſten Dampfſchiffahrten beſonders im trans-
atlantiſchen Perſonenverkehr erreicht haben, iſt es oftmals wegen un-
günſtiger meteorologiſcher Verhältniſſe geradezu unmöglich, den Ort des
Schiffes durch aſtronomiſche Beobachtungen zu kontrollieren. Hier bleibt
der Schiffsführer einzig und allein auf die Angaben von Kompaß, Log
und Lot angewieſen; hier kann und muß alſo der Kompaß ſeinen
eigentlichen, urſprünglichen Beruf als Wegweiſer aufs beſte erfüllen,
und deshalb iſt von ihm zu verlangen, daß ſeine Angaben abſolut
ſicher und zuverläſſig ſind.


Da die bereits erwähnte magnetiſche Deklination oder „Miß-
weiſung“ an jedem Orte der Erde einen beſtimmten Wert hat, ſo
müßte eigentlich an allen Punkten dieſe Größe ihrem wirklichen Betrage
nach ermittelt werden. Wegen der Unausführbarkeit dieſer Forderung
begnügt man ſich mit einer begrenzten Anzahl von Punkten, für
welche man die geſuchte Größe möglichſt ſcharf zu beſtimmen hat, und
verbindet alsdann diejenigen Orte auf der Karte, für welche ſie den-
ſelben Wert erreicht, durch krumme Linien, welche den Namen Iſogonen
erhalten haben. Daraus ergiebt ſich ein Bild von der Änderung der
Mißweiſung mit den jeweiligen Ortsveränderungen des Schiffes, und
man iſt in den Stand geſetzt, ihren Wert an einem Orte, für welchen
keine direkte Beſtimmung vorliegt, wenigſtens angenähert aus der Karte
zu ermitteln. Wegen der hohen Wichtigkeit, welche den Iſogonen in
der Schiffahrt zukommt, haben ſie ebenfalls in den Seekarten Aufnahme
gefunden.


Mit der größeren Verwendung von Eiſenmaſſen beim Schiffsbau
ſtellte ſich eine ſehr ſtörende Unbequemlichkeit im Gebrauch des
Kompaſſes auf dem Schiffe ein, die ſich in einer zunächſt ganz
unkontrollierbaren Ablenkung der Magnetnadel von der Richtung des
magnetiſchen Meridians je nach dem Orte der Aufſtellung an Bord
bemerkbar machte und meiſtensteils auch während einer Reiſe noch be-
[800]Der Verkehr zu Waſſer.
trächtliche Veränderungen zeigte. Die durch die Eiſenmaſſen hervor-
gerufene Ablenkung der Magnetnadel aus ihrer regulären Richtung,
welche erſt zu Anfang dieſes Jahrhunderts durch Matthew Flinders
entdeckt worden iſt und allgemein nach Roß als „Deviation“ bezeichnet
wird, iſt auf das eingehendſte theoretiſch und praktiſch unterſucht
worden; in Deutſchland hat dieſer Erſcheinung die Deutſche Seewarte
beſondere Aufmerkſamkeit zu teil werden laſſen. Um die Einwirkung der
Eiſenmaſſen unſchädlich zu machen, hat man durch Kompenſations-
magnete die infolge der Deviation geſchwächte Richtkraft des Kompaſſes
zu verſtärken, womöglich vollſtändig wiederherzuſtellen verſucht. Dieſe
Bemühungen, welche andauernd fortgeſetzt werden, ſcheinen aber bisher
von wenig günſtigem Erfolge begleitet geweſen zu ſein. Praktiſch er-
mittelt man an Bord die Größe der Deviation, die mit der Kurs-
richtung veränderlich iſt, indem man den Kurs des ruhenden Schiffes
auf jeden einzelnen der 32 Striche der Windroſe, deren jedem ſomit
ein Winkel von 11¼ % zukommt, einſtellt und dann bekannte Küſten-
objekte peilt. — Man wird verſtehen, daß eine Zeitlang, ehe man
nämlich die Deviationswirkungen in ihrer Bedeutung vollſtändig er-
kannt hatte, der Kompaß in Gefahr war, ſeinen Ruf als unentbehr-
licher Wegweiſer einzubüßen oder doch ſehr in Mißachtung kam; heute
iſt dieſe Kriſis als überwunden zu bezeichnen.


2. Das Log und das Lot.

Während der Kompaß die Feſthaltung oder Beſtimmung des
Schiffskurſes ermöglicht, dient das Log lediglich dem Zwecke der wieder-
holten Ermittelung der Geſchwindigkeit des Schiffes und damit der
Länge des zurückgelegten Weges. In ſeiner urſprünglichſten, auch heute
noch faſt allgemein gebräuchlichen Form, welche trotz ihrer Einfachheit
ſich gleichwohl erſt gegen Ende des 16. Jahrhunderts Eingang in
die Schiffahrt verſchafft hat, beſteht dasſelbe aus einem am bogen-
förmigen Rande mit Blei beſchwerten Holzbrettchen in Form eines
Kreisausſchnittes, dem ſogenannten Logſcheit, und einer von einer Rolle
leicht abwickelbaren Leine, der Logleine, die in beſtimmten Abſtänden
durch Umwicklung, meiſt aber durch Anbringung farbiger Lappen oder
kurzer mit Knoten verſehenen Schnüre eingeteilt iſt. Durch ein Schnurdreieck,
deſſen Schnüre an den Ecken des Logbrettes befeſtigt ſind und ſich
in dem Ende der Logleine vereinigen, iſt dafür geſorgt, daß das Brett
ſeine breite Seite ſtets dem Schiffe zukehrt, wodurch der Widerſtand
gegen das Waſſer vergrößert wird. Soll die Meſſung vorgenommen
werden, ſo wird das Logſcheit vom Hinterteil des Schiffes aus ins
Waſſer geworfen, und die im Anfang, dem ſogenannten Vorlauf, un-
geteilte Leine bis zu einer beſtimmten Marke abgewickelt. Um die
Meſſung von dem Einfluſſe der Bewegung des mitgenommenen Waſſers
zu befreien, iſt dieſer Vorlauf ſo lang gewählt, daß das Logſcheit
[801]Das Log und das Lot.
außerhalb des Bereiches des Kielwaſſers zu liegen kommt. In dem
Moment, wo das Brett ſtill zu ſtehen ſcheint oder wirklich ruht, wird
auf ein beſtimmtes Zeichen hin das Logglas, eine gewöhnliche kleine
Sanduhr, welche 14 oder 28 Sekunden zum Ablaufen (vergl. S. 35)
braucht, umgedreht, alſo in Thätigkeit geſetzt: die Meſſung beginnt. Iſt
das Glas abgelaufen, ſo wird ſchnell die Leine feſtgehalten und mitſamt
dem Logſcheit eingezogen. Um dies leicht und ohne Gefahr des Reißens
der Leine zu bewerkſtelligen, iſt dafür geſorgt, daß bei kräftigem
Anziehen die eine Seite des Schnurdreiecks ſich löſt, alſo das Brett
flach durch das Waſſer gezogen werden kann. Die Anzahl der ab-
gewickelten und gezählten Knoten giebt direkt die Zahl der Seemeilen
zu 1852 m, welche das Schiff bei gleichbleibender Geſchwindigkeit in
einer Stunde zurücklegen würde. Da übrigens das Logbrett niemals
vollſtändig zur Ruhe kommt, ſondern ſtets von dem Schiffe ein wenig
mitgeſchleppt wird, ſo muß man eine praktiſch zu ermittelnde Ver-
beſſerung an der Knotenzahl anbringen, indem man einfach die Knoten-
abſtände etwas kleiner macht, als ſie eigentlich ſein müßten.


Nach dem neueſten und beſten Muſter, welches eine hohe Genauig-
keit, namentlich bei ſchnellfahrenden Schiffen geſtattet, beſteht das Log
aus einer Meſſingkapſel, die an einer ſeitlich ausgelegten Stange im
Waſſer nachgeſchleppt wird und unten einen in einem Gelenk nach allen
Seiten drehbaren Haken trägt. An demſelben wird eine Leine befeſtigt,
die an ihrem Ende eine richtige Schiffsſchraube, nur in erheblich ver-
kleinertem Maßſtabe, nachſchleift. Sobald das Schiff in Bewegung
iſt, fängt die Schraube an ſich zu drehen, und zwar um ſo ſchneller,
je größer die Geſchwindigkeit des Schiffes iſt. Die Drehung teilt ſich
der Leine und weiter dem Haken mit, von dem ſie auf ein in der Kapſel
befindliches Zählwerk übertragen wird. Der größeren Bequemlichkeit
halber wird die Einrichtung ſo getroffen, daß nicht die Anzahl der
Umdrehungen, ſondern direkt diejenige der in einer Stunde zurück-
gelegten Seemeilen an letzterem abgeleſen werden kann. Die geſchilderte
Form des Patent- oder immerwährenden Logs rührt von einem in
San Franzisko lebenden Deutſchen, dem Kapitän Oskar Kuſtel, her,
der das Zählwerk indeſſen an Bord ſelbſt anbringt; die erſte Anregung
zu dieſer hochverfeinerten Form ging von Maſſey aus.


Auf einem weſentlich anderen Prinzip beruht der von dem deutſchen
Marine-Ingenieur Strangmeyer konſtruierte Geſchwindigkeitsmeſſer, der
in ſeiner Form auch nicht die geringſte Ähnlichkeit mit dem gewöhn-
lichen Log hat. Bei dieſem neuen Apparat wird davon Gebrauch
gemacht, daß der Druck des Waſſers gegen das in Bewegung befind-
liche Schiff mit wachſender Geſchwindigkeit ſich vergrößert. Ein vorn
am Schiff unter der Waſſerlinie befeſtigtes offenes Röhrchen vermittelt
den Druck des Waſſers auf ein mit einem Windkeſſel in Verbindung
ſtehendes Manometer, wie ſolche in bekannter Form bei jeder Dampf-
maſchine Verwendung finden; aus dem Stande des Queckſilbers oder
Das Buch der Erfindungen. 51
[802]Der Verkehr zu Waſſer.
des Waſſers in dem Rohre des Manometers kann man dann auf die
jeweilige Schiffsgeſchwindigkeit ſchließen.


In Verbindung mit Kompaß und Log wird ſtets das Lot (in ſeiner
gewöhnlich üblichen Form auch Senkblei genannt) angeführt, das zum
Meſſen der Fahrwaſſertiefen unſchätzbare Dienſte leiſtet, gleichzeitig aber
meiſt noch eine Einrichtung zur Ermittelung der Beſchaffenheit des
Meeresgrundes beſitzt. Ein ſchwerer geſtreckter Bleikörper wird an
einer ſtarken Leine oder einem Draht thunlichſt ſenkrecht in die Tiefe
hinabgelaſſen, zu welchem Zweck bei größeren Tiefen die Fahrt ver-
langſamt oder gar das Schiff beigedreht, alſo angehalten werden
muß. Eine an der Grundfläche befindliche kleine Höhlung wird mit
Talg ausgefüllt, an welchem beim Aufſtoßen des Lotes auf den Grund
Bodenbeſtandteile haften bleiben und mit herausgezogen werden, um
auf ihre Beſchaffenheit unterſucht und mit den Angaben der Karte
verglichen zu werden. Die Tiefe läßt ſich an der Leine, welche eine
nach Metern oder nach Faden (gleich ſechs Fuß oder nahe zwei Meter)
fortſchreitende Einteilung trägt, direkt ableſen. Bei niedrigem Fahr-
waſſer, namentlich aber da, wo jeden Augenblick ein Feſtſitzen oder
Auflaufen des Schiffes auf Sandbänke oder ſonſtige Untiefen zu be-
fürchten iſt, muß mit Hülfe eines kleineren oder Handlotes fort und
fort gelotet werden. Meiſt wird die ſenkrechte Lage des Lotes erreicht,
indem die kegelförmige Bleiſpindel in der Fahrtrichtung vorausgeworfen
wird, wobei die Leine ſtets ſtraff geſpannt bleiben muß; die Ableſung
geſchieht dann im geeigneten Moment.


Bei Anwendung des größeren und ſchwereren Tief-Lotes, deſſen
Leine oft bis zu 400 m Länge hat, muß das Schiff ausnahmslos
beigedreht werden, damit die Genauigkeit der Meſſung nicht durch die
von der Vertikalen abweichende Richtung der Leine beeinträchtigt werde.
Für die allergrößten Meerestiefen, deren Erforſchung allerdings mehr
ein weſentlich wiſſenſchaftliches, kein eigentlich nautiſches Intereſſe hat,
ſind dieſe primitiven Einrichtungen durchaus unangebracht, einmal weil
das Aufſtoßen auf den Grund kaum noch bemerkt wird, vor allem
aber, weil unterſeeiſche Strömungen die Leine außerordentlich weit
entführen können. Der bereits erwähnte Maury umging dieſen Übel-
ſtand dadurch, daß er auf Grund genauer Experimente feſtſtellte, welche
Zeit ein Gewicht braucht, um in verſchiedenen Meerestiefen um je
100 Faden oder um eine beſtimmte andere Größe zu fallen. Die
hierauf gegründete Methode würde auch vollſtändig ausreichen, wenn
man nicht gleichzeitig mit den immerhin recht ſchwierigen Tiefſeelotungen
noch den Zweck der Unterſuchung des Meeresgrundes verbinden würde.
Der Amerikaner Brooke verſenkte deshalb durchbohrte Kanonenkugeln,
die ſich auf einem kurzen, cylindriſchen Stabe verſchieben ließen und
an einem eigentümlichen, gabelförmigen Scharnier hingen. Sobald das
Aufſtoßen des Stabes auf den Grund erfolgte, klappte das Scharnier
nach unten und die Kugel fiel ab, mußte alſo bei jedem neuen Verſuch
[803]Das Log und Die Ortsbeſtimmung zur See.
durch eine andere bereitgehaltene Kugel erſetzt werden. Der Cylinder
mit den Grundproben ließ ſich leicht und ohne Mühe heraufholen.


Da der Druck der auf einem beſtimmten Querſchnitt ruhenden
Waſſerſäule mit größerer Tiefe ſchnell zunimmt, ſo hat man mit Er-
folg dieſe Druckzunahme bei der Konſtruktion neuer Tiefſee-Lote zu
Grunde gelegt. Dieſelben bieten gleichzeitig den Vorteil, daß ſie ein
Beidrehen des Schiffes entbehrlich machen, da ihre Angaben von
der ſenkrechten Stellung der Leine unabhängig ſind. Am gebräuch-
lichſten waren bisher die Apparate von William Thomſon und
diejenigen von Bamberg, bei denen mit Luft gefüllte Glasröhren ver-
ſenkt wurden, welche an einem Ende eine enge Öffnung hatten oder
mit einem Ventil verſehen waren. Indem ſie dem Waſſer den Eintritt
geſtatteten, wurde mit zunehmender Tiefe die Luftſäule immer kleiner;
beſondere Vorrichtungen, bei denen teilweiſe chemiſche Eigenſchaften des
Seewaſſers eine Rolle ſpielen, erlauben, die Tiefe an den Röhren ab-
zuleſen oder aus den erhaltenen Angaben abzuleiten. — Die Ergeb-
niſſe der Lotung gewähren dem Schiffsführer die Möglichkeit, die Tiefe
und Beſchaffenheit des Meeresgrundes mit den Angaben der Seekarten
zu vergleichen, gegebenenfalls die Reſultate der Beſtecks-Rechnung da-
nach zu verbeſſern.


3. Die Ortsbeſtimmung zur See.

Die Aufmachung eines Schiffsbeſtecks, d. h. die Ermittelung des
momentanen Schiffsortes, iſt in Sicht des Landes eine einfache Auf-
gabe, die mittels Konſtruktion oder durch einfache Rechnung gelöſt
werden kann und auch hinreichende Genauigkeit gewährt. Zwei
leicht erkennbare Landobjekte werden mit den Viſiervorrichtungen des
Kompaſſes gepeilt und die erhaltenen Richtungen in die Karten ein-
getragen; der Schnittpunkt der beiden Linien ergiebt die Poſition des
Schiffes. Im Notfalle genügt auch die Peilung eines einzigen Objektes,
deſſen Höhe dann aber mit einem Winkelinſtrument zur Beſtimmung
des Abſtandes gemeſſen werden muß. Mehrfache Wiederholungen dieſer
Beſtimmung unter Berückſichtigung der in der Zwiſchenzeit eingetretenen
Ortsveränderung des Schiffes, die für dieſen Zweck mit der erforder-
lichen Genauigkeit aus den Angaben von Kompaß und Log abzuleiten
iſt, wird die Schiffspoſition innerhalb derjenigen Genauigkeit finden
laſſen, welche überhaupt vom Seemann erreicht werden kann. — Auf
hoher See können nur die in die Karten einzutragenden und aus den
Angaben von Kompaß und Log zu entnehmenden Werte für die Kurs-
richtung und den zurückgelegten Weg Verwendung finden; ſelbſtverſtänd-
lich muß der Ausgangspunkt des Schiffes auf das genaueſte bekannt
ſein, wenn man auf dieſe Weiſe den Schiffsort beiſpielsweiſe für einen
beſtimmten Zeitpunkt ermitteln will. Bei der Berechnung hat man
ſtets nur mit rechtwinkligen Dreiecken zu thun, deren Katheten die
51*
[804]Der Verkehr zu Waſſer.
Änderung der Poſition des Schiffes in geographiſcher Länge und Breite
vorſtellen, während die Hypotenuſe die Länge der innerhalb des be-
trachteten Zeitraumes zurückgelegten Entfernung repräſentiert und ihrem
Werte nach durch das Loggen bekannt iſt. Iſt innerhalb kürzerer Zeit-
räume der Kurs mehrmals gewechſelt worden, ſo wird nicht für jeden
einzelnen die Rechnung getrennt durchgeführt, ſondern man „koppelt“
die Kursrichtungen zu einem ſog. „Generalkurs“ und arbeitet mit
dieſem; natürlich bedarf in ſolchem Fall auch der zurückgelegte Weg
einer Reduktion, ehe er in die Karte eingetragen werden kann. Es
verbietet ſich hier von ſelbſt, eingehender die beſonderen Kunſtgriffe und
Eigenheiten bei Ausführung der Beſteck-Rechnung zu beſprechen; die
gegebenen allgemeinen Darlegungen mögen genügen, um den Gang
des Verfahrens zu charakteriſieren.


Die geſchilderte einfache Art der Ortsbeſtimmung würde aber
namentlich bei längeren Seereiſen und bei häufigen Kursänderungen
ſchließlich zu recht wenig zuverläſſigen Reſultaten führen, wenn man
nicht in der Lage wäre, ihre Ergebniſſe fortlaufend durch aſtronomiſche
Beobachtungen einer genauen Kontrolle zu unterziehen. Die aſtrono-
miſchen Ortsbeſtimmungen beſtehen in der Beſtimmung der geographiſchen
Breite des Schiffsortes und der Ermittelung des Standes des Schiffs-
chronometers gegen die Ortszeit. Der Sextant als Winkelmeßinſtrument
und der Zeitmeſſer oder das Chronometer ſind überhaupt neben Log
und Kompaß die wichtigſten nautiſchen Hilfsmittel auf offenem Meere,
ohne deren verſtändige Handhabung die ſchnelle und geſicherte Be-
endigung einer Seereiſe vornehmlich bei längerer Dauer ganz und gar
dem Zufall überlaſſen ſein würde.


Verhältnismäßig am einfachſten geſtaltet ſich an Bord die Be-
ſtimmung der geographiſchen Breite, wenngleich die Erreichung einer
Genauigkeit, wie ſie auf dem feſten Lande verlangt werden muß, wegen
der andauernden Schwankungen des Schiffes vollſtändig ausgeſchloſſen iſt.
Die Breite ergiebt ſich aus der Beobachtung der Höhe eines bekannten,
hinreichend hellen Geſtirns, beſonders der Sonne, in der Nähe des
Ortsmeridians, d. h. möglichſt genau zur Zeit des höchſten Standes
mit Hülfe des Sextanten und durch Vergleichung der beobachteten
Geſtirnshöhe mit den in aſtronomiſchen Tafeln enthaltenen Angaben.
Die Methode ſetzt eine wenigſtens annähernde Kenntnis der Ortszeit der
Beobachtung voraus; aber ein kleiner Fehler iſt nahezu bedeutungs-
los, umſomehr, da fortlaufend bei günſtigem Wetter auch der Stand
des Chronometers durch direkte Beobachtungen kontrolliert wird.


Der Spiegel-Sextant, der bei dieſen Winkelmeſſungen faſt aus-
ſchließlich an Bord zur Anwendung kommt, iſt im weſentlichen eine Er-
findung von Iſaac Newton. Derſelbe ſandte eine Beſchreibung und
Zeichnung des von ihm erdachten Inſtrumentes an Halley zur Be-
gutachtung und Äußerung über den Wert desſelben; doch ſcheint dieſer
die Wichtigkeit der Erfindung nicht erkannt und der Angelegenheit weiter
[805]Die Ortsbeſtimmung zur See.
keine Bedeutung beigelegt zu haben, denn erſt nach Halleys Tode
fand man unter ſeinen Papieren die von Newton angegebene Kon-
ſtruktion. Inzwiſchen erfand ein Glaſer, namens Thomas Godfrey,
der 1749 in Philadelphia ſtarb, ein ähnliches Inſtrument, nämlich einen
Spiegel-Quadranten, von dem die erſte Mitteilung i. J. 1730 in die
Öffentlichkeit gelangte. Auch die königliche Geſellſchaft in London er-
hielt von der Erfindung Kenntnis und ſetzte ihrerſeits dem Erfinder
eine Belohnung von 200 Pfund aus. Durch Godfreys Bruder ſoll
der Schiffskapitän Hadley die Konſtruktion des neuen Inſtrumentes
kennen gelernt und ſeinem Bruder John, einem Mechaniker, Mitteilung
davon gemacht haben. Sicher iſt nur, daß letzterer 1731 der Royal
Society in London ein von ihm konſtruiertes, auf ähnlichen Erwägungen
beruhendes „Inſtrument zur Winkelmeſſung bei ſchwankender Bewegung
der Gegenſtände“ vorlegte, das ſich unter dem Namen „Hadleys Spiegel-
Sextant“ ſehr bald Eingang zu verſchaffen wußte. Es iſt wohl denk-
bar, daß infolge des erwieſenermaßen ſehr intimen Verkehrs des
Erfinders mit Halley der erſtere von der Newtonſchen Konſtruktion
Kenntnis erhalten und ſpäterhin zu ſeinem eigenen Vorteil davon
Gebrauch gemacht hat; indeſſen laſſen ſich hierüber ſtets nur mehr
oder minder zutreffende Vermutungen anſtellen.


Wenngleich in der Folge wiederholt der Verſuch gemacht wurde,
die Spiegelſextanten wegen der mannigfachen ihnen anhaftenden Mängel
durch Spiegelkreiſe zu erſetzen, alſo ſtatt der Kreisbogen volle Kreiſe
zu verwenden, ſo haben ſich dieſe Inſtrumente doch niemals recht ein-
bürgern wollen. Ein erſter Verſuch wurde von Tobias Mayer 1754
der engliſchen Admiralität vorgelegt und von Borda zur Anwendung
empfohlen; die Herſtellung wurde beſonders von Piſtor in Berlin in
größerem Maßſtabe betrieben. In beſcheidener Ausdehnung haben
wenigſtens die 1822 von Amici vorgeſchlagenen Prismenkreiſe Eingang
in die Nautik gefunden; aber erſt die 1845 von der Firma Piſtor
und Martins in den Handel gebrachten Prismenkreiſe, deren Konſtruk-
tion geradezu vollkommen genannt zu werden verdient, haben wenigſtens
teilweiſe mit dem Sextanten zu konkurrieren vermocht, obſchon ſie den-
ſelben keineswegs zu verdrängen imſtande geweſen ſind.


Der Spiegelſextant beſteht, wie aus Fig. 443 zu erſehen iſt, und
wie auch aus dem Namen hervorgeht, aus einem Kreisſektor A A,
deſſen Bogen ungefähr ein Sechſtel des Kreiſes umfaßt und auf ein-
gelegtem Silberſtreifen eine feine Einteilung trägt. Um den Mittelpunkt B
dieſes Kreisbogens dreht ſich ein Lineal mit einem durch den Mittel-
punkt gehenden, zur Sektor-Ebene ſenkrecht geſtellten Spiegel, von
welchem die von links auffallenden Strahlen zurückgeworfen werden.
Der gabelförmige Nonienträger iſt überdies noch mit einer Klemme und
einer Feinbewegungs-Einrichtung zum Feſtſtellen des Lineals reſp. zu
genaueren Einſtellungen verſehen. Das feſt mit dem Sektor verbundene
Fernrohr D E, deſſen Augenglas oder Okular ſich bei E befindet, iſt auf
[806]Der Verkehr zu Waſſer.

Figure 434. Fig. 443.

Spiegelſextant.


einen zweiten, kleineren
Spiegel b gerichtet, der
wie der erſt erwähnte
ebenfalls ſenkrecht zur Sex-
tantenebene ſteht. H ſtellt
den meiſt hölzernen Hand-
griff dar; K und L ſind
dunkle, ſatt gefärbte Gläſer,
die zur Abblendung der
Sonnenſtrahlen nach Be-
lieben in den Gang der
Lichtſtrahlen gebracht wer-
den können.


Durch die obere, nicht
mit Spiegelmetall belegte
Hälfte des kleineren Spie-
gels erblickt das Auge
mit Hülfe des Fernrohrs
ein beſtimmtes Objekt direkt, während die von einem anderen Objekte
kommenden Strahlen erſt durch zweimalige Spiegelung, an B und der
ſpiegelnden unteren Hälfte von b, nach E gelangen. Bei den Meſſungen
iſt es Regel, das weniger helle Objekt direkt zu beobachten; bei Höhen-
meſſungen auf See läßt man das zweimal geſpiegelte Bild des Objektes,
deſſen Höhe gefunden werden ſoll, mit der direkt anviſierten Kimme, d. h.,
dem ſcheinbaren Horizont zuſammenfallen. Bei mangelhaft ſichtbarem
Horizont erſetzt man den an Land üblichen künſtlichen Queckſilberhorizont,
der wegen der ſchwankenden Bewegungen des Schiffes an Bord keine
Verwendung finden kann, neuerdings verſuchsweiſe durch eine ſcharfe Licht-
linie, die durch einen mit dem Sextanten verbundenen, ſchnell rotierenden
Kreiſel hergeſtellt wird. Den in dieſer Beziehung zu ſtellenden An-
forderungen genügte bisher am meiſten der von dem franzöſiſchen
Linienſchiffskapitän Fleuriais erfundene Kreiſel-Sextant oder Gyroſcop-
collimator.


Die Chronometer ſind als Erzeugniſſe der Uhrmacherkunſt bereits
eingehend beſprochen worden. Die Schiffschronometer, deren ein Schiff oft
mehrere mit ſich führt, werden in allen möglichen Lagen und Temperaturen
zunächſt an Land auf ihren Gang unterſucht und demnächſt an Bord
an einem möglichſt ſicheren Ort untergebracht, ſo daß ſie durch die Stöße
und Schwankungen des Schiffes möglichſt wenig geſtört werden, wie
ſie denn auch vor ſchnellen Feuchtigkeits- und Temperatur-Veränderungen
ſorgfältig gehütet werden müſſen.


Die Chronometer, welche meiſt Greenwicher mittlere Zeit anzeigen,
werden vor der Ausreiſe ſcharf mit den im Hafen befindlichen und
durch aſtronomiſche Beobachtungen kontrollierten Zeitſignalen oder Pendel-
uhren verglichen. Mit Hülfe der bekannten Länge eines anderen Ortes
[807]Die Ortsbeſtimmung zur See.
gegen Greenwich, die allerdings an Bord nur genähert durch die
Beſtecksrechnung ermittelt werden kann, erhält man aus der Angabe
der Uhr unter Berückſichtigung der jeweiligen Korrektion, welche dieſelbe
wegen der Gangänderung erfordert, die mittlere Beobachtungszeit an
dem betreffenden Orte. Direkte Höhenbeobachtungen eines Geſtirnes
nahe im Weſten oder Oſten ergeben ihrerſeits die Korrektion oder den
Stand der Uhrangabe gegen die mittlere Ortszeit mit aller wünſchens-
werten Genauigkeit und geſtatten einen Schluß auf die mehr oder
minder große Regelmäßigkeit des Ganges des Chronometers, welcher
übrigens meiſt an Bord eine Beſchleunigung gegen den am Lande beob-
achteten Wert erfährt. Die bei dieſem Verfahren vorauszuſetzende
Kenntnis der geographiſchen Breite wird innerhalb der erforderlichen
Genauigkeits-Grenzen von der Beſtecksrechnung geliefert.


Die Beſtimmung der Länge auf See würde das denkbar ein-
fachſte Problem darbieten, wie S. 48 nachzuleſen iſt. Nun wird zwar
durch fortgeſetzte Zeitbeſtimmung die Erlangung einer abſolut genauen
Kenntnis des Uhrganges angeſtrebt; gleichwohl aber bedürfen die
Reſultate der einfachen Chronometerübertragung, einerſeits wegen der
Schwierigkeit und der begrenzten Genauigkeit der Beobachtung, anderer-
ſeits wegen der manchmal recht beträchtlichen Unzuverläſſigkeit der
Chronometer in Bezug auf den Gang, infolge mangelhafter Kompen-
ſation oder heftiger Stöße, von Zeit zu Zeit einer ſorgfältigen Kontrolle.
Dieſe ergiebt ſich aus der Beobachtung gewiſſer Phänomene, für welche
in den aſtronomiſchen Jahrbüchern oder Ephemeridenſammlungen genaue
Vorausberechnungen gegeben ſind. Übrigens wird ſich der Seefahrer
der meiſt ſehr kompendiöſen und recht teuren Hilfsmittel der Aſtronomie,
auch weil dieſelben vieles für ihn Überflüſſige enthalten, nur ſelten
bedienen, vielmehr den erheblich billigeren, vollkommen ausreichenden
und eigens für die Zwecke der Seeſchiffahrt bearbeiteten Sammlungen,
welche überdies die zu nautiſchen Berechnungen erforderlichen Hilfstafeln
und vieles andere für ihn Wiſſenswerte bieten, unzweifelhaft den
Vorzug geben.


Eine verhältnismäßig zuverläſſige Kontrolle gewähren in erſter
Linie die Monddiſtancen, alſo Meſſungen der Abſtände des Mondes
von der Sonne oder von hellen Fixſternen reſp. Planeten, die wegen
der ſchnellen Ortsveränderung des Mondes am Himmel für beſtimmte
Greenwicher Zeiten vorausberechnet ſind, und deren Vergleichung mit
den direkt beobachteten Werten den Längenunterſchied annähernd ergiebt.
Daß die für verſchiedene Orte zu verſchiedenen Zeiten eintretenden
Sonnenfinſterniſſe und Sternbedeckungen durch den Mond ebenfalls Ver-
gleichungen ermöglichen, bedarf kaum der Erwähnung. Leider ſind aber
die letzteren Phänomene, deren Beobachtung den Beſitz eines leidlich guten
Fernrohrs vorausſetzt, für einen Ort verhältnismäßig ſelten und ſtehen
namentlich auch bei den meiſt geringen optiſchen Hilfsmitteln des Seefahrers
an Genauigkeit der Methode der Längenbeſtimmung durch Chronometer-
[808]Der Verkehr zu Waſſer.
übertragung weit nach; zudem machen ſie ziemlich zeitraubende und
mühſame Berechnungen nötig, die ſich der Schiffsleiter gern zu er-
ſparen ſucht.


Die Möglichkeit einer zuverläſſigen und ſorgfältigen Prüfung der
aſtronomiſchen, nicht minder der magnetiſchen und meteorologiſchen In-
ſtrumente an den ſtaatlicherſeits organiſierten Marineinſtituten hat ſpeziell
für die Kriegsmarine eine außerordentlich hohe Bedeutung erlangt und
erfreut ſich der weitgehendſten Fürſorge ſeitens der Regierungen. Vorzüg-
liche Reſultate ſind vor allem mit den Konkurrenzprüfungen von Chrono-
metern erzielt worden, welche die verſchiedenſten wegen ihrer Fabrikate
beſonders geſchätzten Künſtler zu einem anregenden und bedeutſamen
Wettbewerbe herausgefordert haben, indem die beſten Erzeugniſſe der
Uhrmacherkunſt mit Prämien bedacht und zum Ankauf vorgeſchlagen
werden. Um aber andererſeits auch bei den in Gebrauch befindlichen
Chronometern eine möglichſt vielſeitige Kontrolle ausüben zu können,
ſind wichtigere Stationen oder Hafenorte mit einer Einrichtung ver-
ſehen, welche dem Schiffer geſtattet, den Stand ſeines Zeitmeſſers
auf die einfachſte und bequemſte Weiſe feſtzuſtellen und auf die
Genauigkeit ſeiner direkten Beſtimmungen durch aſtronomiſche Beob-
achtung zu ſchließen. Dieſem Zweck dienen die Zeitſignale und Zeit-
bälle, wie ſolche vielfach, z. B. in Swinemünde und Bremerhaven,
zum Nutzen aller Seefahrer in Funktion ſind. Entweder wird
die Zeit des Ortsmittags durch Löſung eines Kanonenſchuſſes bekannt
gegeben, oder es ſind leicht erkennbare hohe Stangen reſp. Türme er-
richtet, von deren Spitze man zu einem beſtimmten, in den nautiſchen
Jahrbüchern ein für allemal feſtgeſetzten Zeitpunkte einen großen Ball
oder dergleichen niederfallen läßt. Durch langſames, geringes Senken
des Zeitballes werden die Beobachter auf die bevorſtehende Auslöſung
des Zeitſignals aufmerkſam gemacht, welche neuerdings vielfach auf
elektriſchem Wege erfolgt.


4. Das Signalweſen.

Die Sicherheit des internationalen Schiffsverkehrs bedingt auf
hoher See, namentlich bei nebligem Wetter oder in ſtürmiſchen Nächten,
beſondere Vorkehrungen, welche hier im Zuſammenhang mit den ge-
legentlich außerordentlich wichtig werdenden Mitteln zur Verſtändigung
zwiſchen mehreren ſich begegnenden Schiffen zu behandeln ſind. Oftmals
würde durch die Unmöglichkeit einer ſolchen Verſtändigung die Exiſtenz
und Sicherheit von Schiff und Ladung in Frage geſtellt ſein, wie
es andererſeis notwendig werden kann, daß ein Schiff dem anderen
Nachrichten von vielleicht unberechenbarer Wichtigkeit übermittele, ohne
doch genötigt zu ſein, ſeinen Kurs erheblich zu ändern oder gar ſich
dem anzurufenden Schiff auf Rufweite zu nähern. Bei hinreichend
kleiner Entfernung bedient man ſich zum Anrufen oder „Preien“ wohl
[809]Das Signalweſen.
eines großen Sprachrohrs und erreicht dadurch die Möglichkeit einer
direkten Verſtändigung. Doch gehört dieſe Art der Mitteilung zu den
Seltenheiten und wird faſt allgemein durch ein international ver-
abredetes Syſtem von Flaggenſignalen erſetzt. Verſchiedene dieſem
Zwecke dienende Syſteme haben dem jetzt allgemein giltigen, auf die
Initiative von Frankreich und England zurückzuführenden Signalſyſtem
weichen müſſen, bei dem die ſämtlichen Konſonanten von B bis W ein-
ſchließlich durch 18 Flaggen oder Wimpel von verſchiedener Form
dargeſtellt werden, die in geeigneter Kombination die Farben Weiß,
Gelb, Rot und Blau führen. Mehr als 4 Flaggen kommen niemals
gleichzeitig zur Anwendung, meiſt nur eine oder zwei, und doch ſtehen
auf dieſe Weiſe mehr als 78600 verſchiedene Flaggenſignale zur Ver-
fügung, welche für die Verſtändigung ausreichen, und deren Bedeutung
der Sicherheit halber in einem Signalcodex zuſammengeſtellt iſt.


Bei Nacht werden die Signalwimpel durch Signallaternen erſetzt,
die in Verbindung mit akuſtiſchen Signalen, wie ſolche durch Läuten von
Glocken oder mit den Dampfnebelhörnern reſp. Dampfpfeifen gegeben
werden, der Gefahr eines Zuſammenſtoßes zweier ſich begegnenden
Schiffe vorbeugen ſollen.


Um aber auch bei Nacht oder bei nebligem Wetter, wo die Flaggen-
ſignale nicht erkannt werden können, eine Verſtändigung zu ermöglichen,
hat man, ganz nach Art des Morſealphabets (vergl. S. 247), durch Zu-
ſammenſtellung verſchiedenfarbiger Lampen, für welche meiſt nur Weiß,
Rot und Grün in Betracht kommen, ein geeignetes Signalſyſtem feſtzu-
ſtellen geſucht. Die vielen Hunderte von Verſuchen in dieſer Richtung haben
ſich aber noch keiner internationalen Einführung zu erfreuen gehabt, trotz-
dem manche von ihnen unter Umſtänden recht gute Leiſtungen verſprechen.


Bei einem der neueſten Nacht-Signaliſierungs-Apparate können
drei in Abſtänden von 1,5 m durch Drahtſeil mit einander verbundene
elektriſche Glühlampen, die zur Hälfte weißes, zur Hälfte rotes Licht
geben, durch eine kleine Dynamo-Maſchine in Thätigkeit geſetzt werden.
Je nachdem man den Strom in die eine oder andere Hälfte leitet
und ſo rotes oder weißes Licht erzeugt, und je nach der Kombination,
in welcher man die drei Lampen verwendet, können die für die Ver-
ſtändigung am Tage wichtigſten Flaggenſignale vollſtändig wieder-
gegeben werden. Um den Betrieb dieſes Apparates nach Möglichkeit
zu ſichern und jedes Vergreifen zu verhüten, ſitzt der denſelben be-
dienende Mann auf Deck vor einer von unten durch eine kleine Glüh-
lampe erleuchteten Glasplatte, auf welcher die verſchiedenen Kombi-
nationen aufgetragen ſind, ſodaß nur ein als Umſchalter dienender Hebel
auf das momentan gewünſchte Signal gedreht zu werden braucht, um
dieſes erſcheinen zu laſſen.


Die bisher erwähnten Vorkehrungen — der jüngſt von ver-
ſchiedenen Seiten angebahnten internationalen Kursvereinbarung, der
Vorſchriften über das Ausweichen einander begegnender Schiffe, die es
[810]Der Verkehr zu Waſſer.
namentlich dem Dampfſchiff zur Pflicht machen, dem Segler die
Paſſage frei zu geben, gar nicht zu gedenken — werden zur Genüge
dargethan haben, welche Wichtigkeit man der Sicherung des Seever-
kehrs auch auf offenem Meere beimißt. Daß damit auch die Fürſorge
für das Leben nnd die Erhaltung der Mannſchaft Hand in Hand
geht, beweiſen die zahlreichen Vorſchläge, überall Schwimmgürtel und
Korkjacken bereit zu halten, womöglich Matratzen und andere geeignete
Gegenſtände aus Kork oder mit Korkeinlagen herzuſtellen, vor allem
aber ein Schiff aufs vollſtändigſte mit den nötigen Rettungsbooten
und Rettungsapparaten auszuſtatten, welche im Falle der Not von
Nutzen ſein können. Stets wird aber ein geſchultes, erfahrenes Per-
ſonal, dem die Leitung und Führung eines Schiffes unbedenklich
übertragen werden kann, die größte Gewähr für die Sicherheit der
Seereiſe bieten, die trotz aller Vorbeugungs-Maßregeln und Siche-
rungen mehr oder minder in ihrem Erfolge dem Spiel der
Elemente überlaſſen bleibt. Von der Erkenntnis der hohen Bedeutung
eines theoretiſch und praktiſch wohlerfahrenen Schiffsperſonals durch-
drungen, haben deshalb auch die Regierungen derjenigen Nationen,
deren Handel und Wohlſtand auf das innigſte mit der Entwicklung
des Schiffsverkehrs verknüpft iſt, es ſich angelegen ſein laſſen, ihrerſeits
dafür Sorge zu tragen, daß den Seefahrern die Aneignung einer
gründlichen, theoretiſchen und praktiſchen, wiſſenſchaftlichen und tech-
niſchen Bildung erleichtert wird. Zu dieſem Zwecke ſind beſondere
Inſtitute, Seefahrts- oder Navigationsſchulen genannt, errichtet worden,
an denen Lotſen, Steuerleute und Maſchiniſten eine ihrem beſonderen
Amte angepaßte Unterweiſung empfangen, nachdem ſie ſich vorher auf
einem Schiffe die unerläßlichſten praktiſchen Kenntniſſe erworben haben.
In beſonders hoher Blüte ſtehen natürlich die dem Zwecke der Kriegs-
marine dienenden Anſtalten.


Der umfaſſendſten Fürſorge nicht allein ſeitens der ſtaatlichen
Inſtitutionen, ſondern auch von ſeiten kommunaler und privater Ver-
bände erfreut ſich die Sicherung der Seeſchiffahrt an gefährlichen
Küſtenpunkten und ſchwierigen Hafeneinfahrten; hier werden aber auch
beſonders hohe Anforderungen an die Opferwilligkeit und Thatkraft
des einzelnen und der Geſamtheit geſtellt, um die Küſte thunlichſt der
Gefahren und Schreckniſſe zu entkleiden, welche ſie infolge des beſtändig
an ihr ſelbſt oder in ihrer Nähe ſich vollziehenden Geſtaltwechſels für
ein Schiff haben kann. Namentlich die Dampfſchiffe ſind ja bei der
heutzutage erreichten Schnelligkeit des Verkehrs und der vielſeitigen
Konkurrenz gezwungen, auch dann, wenn Nacht und Nebel die Küſte
verhüllen, ihre Reiſe mit unverminderter Geſchwindigkeit dem Landungs-
hafen entgegen fortzuſetzen; ſicherlich aber könnten ſie dies ohne die
treffliche Organiſation des Sicherungs- und Wachtdienſtes an den
vornehmlich gefahrdrohenden Küſtenorten nicht wagen. Um ſo größer iſt
naturgemäß auch das Intereſſe und die Bedeutung, welche die Sicherungs-
[811]Das Signalweſen.
einrichtungen, die teilweiſe nicht einmal in den Segelkarten Aufnahme
finden können, für ſich in Anſpruch nehmen; ſind dieſelben doch nicht ſelten
nur mit großen pekuniären Opfern und unter faſt unüberwindlichen
techniſchen Schwierigkeiten herzuſtellen, und verlangt doch die unerläßliche,
andauernde Überwachung und Kontrolle der Schiffahrts- und Warnungs-
zeichen oftmals die unerſchrockenſte Opferfreudigkeit im gefahrvollen
Beruf, ein todesmutiges Ausharren auf dem verantwortlichen Poſten.


Meiſt bedient ſich ein Schiff, namentlich bei ſchwierigen Hafen-
und Einfahrtsverhältniſſen, wie es das Seerecht eigentlich allgemein
als Regel vorſchreibt, eines kundigen Lotſen, deren mehrere gewöhnlich
in unmittelbarſter Nähe der gefährlichſten Punkte auf einem Lotſen-
ſchiffe Wacht halten. Kommt ein Schiff in Sicht, ſo wird auf Ver-
langen ein Lotſe als Führer entſendet, der mit dem Augenblick, wo er
das Schiff betritt, volle Verantwortung für die ungefährdete Leitung
desſelben übernimmt. Die Wachtſchiffe ſelbſt bleiben möglichſt dauernd
an einem beſtimmten Punkte ſtationiert und werden nur in Fällen
eigener Gefahr auf kurze Zeit eingezogen; die von ihnen abgegebenen
Lotſen werden übrigens je nach der Verpflichtung, welche ſie übernehmen,
und der von ihnen auszuübenden Thätigkeit als Seelotſen- und Hafen-
oder Revierlotſen unterſchieden.


Die zur Kennzeichnung vereinzelter Sandbänke oder anderer ge-
fährlicher Stellen errichteten Baken ſind hohe, leicht ſichtbare, in Holz
oder Eiſen konſtruierte Gerüſte, die zur beſſeren Unterſcheidung von
einander in der verſchiedenſten Form hergeſtellt und auch ſonſt noch
mit beſonders charakteriſtiſchen Merkmalen ausgeſtattet werden. In
einigen Fällen hat ſogar die Privatwohlthäigkeit dafür Sorge getragen,
daß Schiffbrüchige, welchen es gelingt, ſich auf gewöhnlich überflutete,
durch ſolche Baken kenntlich gemachte Sandbänke zu flüchten, Waſſer
und Schiffszwieback zu einer erſten Stärkung und Kräftigung vorfinden,
bis ſie glücklich an Land gerettet werden.


Dieſe humanen Beſtrebungen der Privatrettungsgeſellſchaften leiten
darauf, der verhältnismäßig neuen Organiſation des Küſtenrettungs-
weſens wenigſtens mit einigen Worten zu gedenken. Hier iſt England
allen anderen Nationen mit gutem Beiſpiel [vorangegangen] und hat
dieſe leitende und führende Stellung bisher unbeſtritten bewahrt.
Deutſchland hat erſt ziemlich ſpät entſprechende Einrichtungen angebahnt;
umſo erfreulicher iſt aber die ſegensreiche Thätigkeit, welche die am
29. Mai 1865 gegründete „Deutſche Geſellſchaft zur Rettung Schiff-
brüchiger“ in der kurzen Zeit ihres Beſtehens zu entfalten Gelegenheit
gehabt hat. Zur praktiſchen Ausübung der gemeinſamen Ziele aller
Rettungsgeſellſchaften ſind an beſonders wichtigen Küſtenpunkten
Rettungsſtationen eingerichtet, welche außer mit Rettungsbooten mit
allen Erforderniſſen einer erfolgreichen Thätigkeit mehr oder minder
vollſtändig ausgerüſtet ſind. Die in erſter Linie zu erſtrebende Ver-
bindung mit einem geſtrandeten Schiff, einem hilfloſen Wrack wird in
[812]Der Verkehr zu Waſſer.
der Regel zunächſt durch Hinüberwerfen von Leinen mittels geeigneter
Mörſer- oder Raketenapparate hergeſtellt; ſtarke Taue können von den
auf dem Wrack etwa noch befindlichen Perſonen nachgezogen und in
geeigneter Weiſe feſt verkoppelt werden. Da aber, wo die Entfernung
zu groß iſt, oder wo dieſe Art der Verbindung eine Möglichkeit der
Rettung auszuſchließen ſcheint, tritt die Rettungsmannſchaft ein, welche
in ihrem ſchwanken Boote, oft unter Einſetzung des Lebens und im
aufreibendſten ſtundenlangen Kampfe mit der toſenden Brandung an das
Schiff heranzukommen ſucht. — Wie überaus ſegensreich das Küſten-
rettungsweſen wirkt, geht am beſten aus den Jahresberichten der ver-
ſchiedenen Geſellſchaften hervor: viele Tauſende von Schiffbrüchigen
verdanken demſelben die Erhaltung ihres Lebens, und alljährlich mehrt
ſich der Prozentſatz derer, die auf ſolche Weiſe dem drohenden Unter-
gange entriſſen wurden, deren Exiſtenz den aufgeregten wütenden Ele-
menten im wahren Sinne des Wortes abgerungen iſt.


Mit dem meiſt privater Initiative entſprungenen Rettungsweſen
ſteht in engſtem Zuſammenhang das in erfreulichſter Entwicklung be-
griffene, in den Händen des Staates ruhende Sturmwarnungsweſen.
Dasſelbe iſt im eigentlichſten Sinne eine Errungenſchaft der neueſten
Zeit und in ſeiner Entſtehung kaum weiter als bis zum Jahre 1854
zurückzuführen; ein am 14. November genannten Jahres im Schwarzen
Meere orkanartig aufgetretener Sturm, welcher der franzöſiſchen Kriegs-
flotte bedeutenden Schaden zufügte, gab die direkte Veranlaſſung zu
ſeiner Inaugurierung. Dem ermutigenden Beiſpiele Frankreichs folgten
mit verſchieden großem Eifer bald die übrigen Staaten nach. Zwar
beruhte das Sturmwarnungsweſen in ſeinen erſten Anfängen auf wenig
wiſſenſchaftlichen Grundlagen und war eine Zeit lang ſogar nahe
daran, in Vergeſſenheit oder Mißachtung zu geraten; dennoch ſprachen
ſich auf dem Wiener Kongreß im Jahre 1873 faſt alle Stimmen zu
Gunſten der Beibehaltung desſelben aus.


Zur praktiſchen Ausübung des Sturmwarnungsweſens ſind an be-
ſonders wichtigen Punkten, namentlich in Hafenorten, mehr oder minder
vollſtändig ausgerüſtete Signalſtationen eingerichtet, die ſämtlich mit den
notwendigſten meteorologiſchen Inſtrumenten, wie Barometer, Thermo-
meter und Regenmeſſer, verſehen werden. Die Signalſtellen erſter Klaſſe
haben einen Signalmaſt mit einem vollſtändigen Apparat zum Signaliſieren
der Stürme in die Ferne, nämlich zwei Kegel, eine Kugel und zwei rote
Flaggen, während bei Nacht durch eine oder mehrere rote Lampen gleich-
mäßig alle Tagesſignale erſetzt werden. Die telegraphiſch von der Central-
ſtation, in Deutſchland z. B. von der Seewarte in Hamburg, übermittelten
Warnungen beſagen allgemein, daß etwa im Umkreiſe von 100 km eine
atmoſphäriſche Störung aller Vorausſicht nach zu erwarten iſt. Die
Signalſtellen zweiter Klaſſe ziehen einfach an einer Signalſtange einen
Ball als Nachricht auf, daß ein Warnungstelegramm eingegangen iſt,
deſſen Wortlaut im übrigen auf der Station ſelbſt eingeſehen werden kann.


[813]Das Signalweſen.

Eines tritt ergänzend zum anderen; und ſo würde denn auch die
Bedeutung des Sturmwarnungsweſens völlig illuſoriſch ſein, wenn
man nicht gebührend dafür Sorge tragen wollte, daß einem Schiff,
welches trotz der Warnung einen Not- oder Zufluchtshafen nicht recht-
zeitig mehr erreichen kann, auch im wildeſten Aufruhr der Elemente, in
gefahrdrohendſter Nähe der Küſte ſicher und unverlierbar der Weg ge-
wieſen wird. Dieſem Zweck dienen die Leuchtfeuer, in der verſchiedenſten
Form und Ausführung, als Leuchttürme, Feuerſchiffe, Leuchtbojen u. ſ. w.
bekannt.


Der erſte hiſtoriſch beglaubigte Leuchtturm iſt der zu den ſieben
Wunderwerken des Altertums gezählte, auf der Inſel Pharos bei
Alexandrien, der ungefähr 300 v. Chr. erbaut wurde, und deſſen Höhe
von dem Araber Edriſi, der ihn noch im 12. Jahrhundert n. Chr. be-
ſuchte, auf 500 Fuß angegeben wird, was ſicher übertrieben iſt. Nach
dem Muſter dieſes älteſten Turmes ſind dann von den Römern ſpäter
zahlreiche Leuchttürme an den Meeren ihres weiten Reiches erbaut worden.


Die Bojen oder Schwimmkörper, ehedem als wirkliche Tonnen
aus Holz, jetzt meiſt in der Form von abgeſtumpften Doppelkegeln
oder als Kugeln in Eiſen konſtruiert, werden zur Bezeichnung des
Fahrwaſſers ausgelegt, an ſtarken Ketten am Grunde verankert und
zur beſſeren Unterſcheidung mit verſchiedenfarbigem Anſtrich oder anderen
bequemen Merkmalen verſehen. Verborgene Klippen, die ja gegebenen-
falls durch unterſeeiſche Sprengung beſeitigt werden können, aber auch
jedes andere Hindernis mitten im Fahrwaſſer — ein geſunkenes Schiff
oder beiſpielsweiſe ein verlorener Anker — werden durch ausgeſetzte
Bojen kenntlich gemacht. Erſt ſeit verhältnismäßig kurzer Zeit verſieht
man mit Vorliebe die Bojen mit Glocken oder mit verſchiedenfarbigen
Lichtern, welche dieſelben auch bei Nacht auf mäßige Entfernungen un-
zweifelhaft erkennen laſſen. Zu Beleuchtungszwecken füllt man ſie mit kom-
primiertem Fettgas, wodurch ſich auch die Schwimmfähigkeit weſentlich
erhöht; die Gaszufuhr reguliert ſich automatiſch durch den (bekanntlich
auch auf den Königlich Preußiſchen Eiſenbahnen allgemein eingeführten)
Patentgasbrenner von Julius Pintſch in Berlin oder eine ähnliche
Vorrichtung, ſodaß das Gas ſtets unter dem nämlichen Druck aus-
ſtrömt; ſelbverſtändlich muß die Füllung in geeigneten Zeiträumen er-
ſetzt werden.


Die wichtigſten Schützer in der Nacht und bei ſtürmiſchem, nebligem
Wetter, die vielſeitigſten Helfer in der Not ſind unzweifelhaft die Leucht-
feuer; ſie orientieren den Schiffer darüber, an welcher Stelle der Küſte
er ſich gerade befindet, — die Richtung, in welcher das Feuer auf-
flammt, belehrt ihn, welchen Kurs er einzuſchlagen hat, um ſicher
ſeinem Ziele zuſteuern zu können.


Die Aufgaben, welche ein Feuer zu erfüllen hat, ſind recht vielſeitige,
und neben der Forderung der möglichſt weiten Sichtbarkeit hat die-
jenige der unbedingten Betriebsſicherheit die größte Bedeutung.
[814]Der Verkehr zu Waſſer.
Wegen der Krümmung der Erdoberfläche darf man unter eine ge-
wiſſe Höhe der zu errichtenden Bauwerke nicht heruntergehen; der
Platz ſelbſt, auf den man ſie zu ſtellen gedenkt, muß nach ſorgfältigſten
Erwägungen ausgewählt und

Figure 435. Fig. 444.

Schwimmender eiſerner Leuchtturm im Hafen von Liverpool.


auf ſeine den Beſtand des Ge-
bäudes gewährleiſtende Be-
ſchaffenheit eingehend unter-
ſucht werden. Da, wo der
natürliche Untergrund nicht den
an ihn zu ſtellenden Beding-
ungen genügt, muß mit künſt-
lichen Anlagen dem Mangel
abgeholfen werden. Ein be-
redtes Zeugnis für die gewal-
tigen Fortſchritte, welche auch
auf dieſem Gebiete die Technik
zu verzeichnen hat, iſt der be-
kannte Leuchtturm auf Rother-
Sand in der Weſermündung,
welcher ſich nicht auf Felſenriffe
ſtützt, ſondern auf den ſandigen
Meeresboden aufgeſetzt iſt und
ſich dort ſozuſagen erſt ſelbſt
feſtgewurzelt hat; einen weſent-
lich anderen Typus ſtellt
Fig. 444 dar.


Die durchdringende Wir-
kung der Lichtſtrahlen eines
Leuchtfeuers iſt ſchon infolge
der je nach dem Luftzuſtande
mehr oder minder beträcht-
lichen Abſorption eines Teils
des Lichtes begrenzt; dazu
kommt, daß nur auf künſtlichem
Wege parallele Strahlenbündel
hergeſtellt werden können,
welche allein ein hinreichend intenſives Licht geben, um ſo inten-
ſiver natürlich, je kleiner die Entfernung des zu beleuchtenden ſchmalen
Streifens des Horizontes iſt. Man erreicht dies durch Anbringung von
Hohlſpiegeln, in deren Brennpunkt die Flamme zu ſtehen kommt, oder
durch geeignete Linſenſyſteme vor derſelben, womit aber notwendiger-
weiſe ſtets ein beträchtlicher Lichtverluſt verbunden iſt. Auch würden der-
artig große Linſen, wie ſie für wichtige Leuchtfeuer erforderlich ſind,
kaum in entſprechender Güte und Größe, jedenfalls nur unter Auf-
wendung ganz enormer Geldkoſten herzuſtellen ſein; dazu kommt, daß bei
[815]Das Signalweſen.
der unvermeidlich ſtarken Erhitzung des dicken Glaskörpers Um-
lagerungen innerhalb des Glaſes, welche Trübungen oder gar ein
Springen hervorrufen, kaum vermieden werden könnten. Aus dieſem
Grunde wendet man nach Fresnels Vorgange nur noch eine verhältnis-
mäßig kleine und dünne Linſe an, um welche konzentriſch Prismen
in geeigneter Stellung angeordnet ſind, welche gleichſam die einzelnen
Zonen einer großen Linſe erſetzen ſollen. Ähnliche Einrichtungen trifft
man auch bei Schiffslaternen und den weiterhin noch zu beſprechenden
Scheinwerfern an. — Die gewaltigſten Lichtmengen für die Zwecke der
Leuchtfeuer bietet natürlich eine elektriſche Lichtquelle; doch ſind auch
ſehr bedeutende Feuer mit Petroleumlicht in Betrieb, während Gas
ſeltener zur Anwendung kommt.


Als Lichtquelle benutzte man bis in das Mittelalter hinein aus-
ſchließlich Holzfeuer. Später ging man zum Steinkohlenfeuer und
zu Talgkerzen über. So wurde der berühmte Eddyſtone-Leuchtturm bei
Plymouth im Kanal la Manche bei ſeinem in Jahre 1756 erfolgten
Neubau durch 24 Talgkerzen erhellt. Erſt in der letzten Hälfte des
18. Jahrhunderts geſchah eine weſentliche Verbeſſerung der Lichtquelle
und zwar durch Verwendung der paraboliſchen Reflektoren. Ein er-
heblicher Fortſchritt vollzog ſich weiter durch die Erfindung der Argand-
Lampen mit doppeltem Luftzug. Beſonders hervorzuheben ſind die
Fresnelſchen Glasapparate. Bei dieſen iſt eine einzige große mit
ſieben konzentriſchen Dochten verſehene Lichtquelle vorhanden, dieſe wird
von geſchliffenen, den Brenngläſern ähnlichen Gläſern umgeben, die das
Licht zuſammenfaſſen und in die Ferne werfen. In neuerer Zeit iſt
auch für die Beleuchtung der Leuchttürme das elektriſche Licht zur An-
wendung gebracht, doch leidet dasſelbe an dem großen Mangel, daß
es den Nebel ſchwerer durchdringt als das Öllicht. Es hat dieſes
ſeinen Grund in folgendem: Das elektriſche Licht enthält viel weniger
rote Strahlen als das Öllicht, es liegt vielmehr dem Blau näher.
Nun läßt aber der Nebel, wovon man ſich leicht überzeugen kann,
nur die roten Strahlen hindurch, hält dagegen die blauen Strahlen
zurück, ſo daß die Mehrzahl der dem elektriſchen Lichte innewohnenden
Strahlen durch den Nebel nicht hindurchdringt. Trotzdem iſt die all-
gemeine Einführung des elektriſchen Lichtes bei den Leuchttürmen nur
noch eine Frage der Zeit.


Um die einzelnen Leuchtfeuer, namentlich da, wo ſie zahlreich ſind,
von einander unterſcheiden zu können, hat man die verſchiedenſten
Hilfsmittel erſonnen. Die Anwendung roter Gläer iſt nur ausnahms-
weiſe üblich, weil dieſelben zu viel Licht verſchlucken; wo es nötig
ſchien, ſich rotgefärbten Lichtes zu bedienen, hat man mit Erfolg ganz
dünne Flüſſigkeitszellen mit roter Füllung vor der Lichtquelle ange-
bracht. Gebräuchlicher iſt indeſſen die zeitweilige Verdunkelung oder
das Verfahren, bei dem man in beſtimmten Intervallen das Licht an
Intenſität ab- und zunehmen oder auch ganz momentan auf wenige
[816]Der Verkehr zu Waſſer.
Sekunden aufblitzen und dann wieder verſchwinden läßt Während
die feſten Feuer ein annähernd gleichmäßiges Licht beſtändig aus-
ſtrahlen oder nur auf Momente verlöſchen, läßt man bei den Wechſel-
feuern Licht und Dunkelheit abwechſelnd in regelmäßiger Folge hinter-
einander erſcheinen. Beim Blickfeuer nimmt die Lichtintenſität allmäh-
lich ab und zu, um dann längere Zeit der Dunkelheit zu weichen;
auch die weitere Kombination von weißen und roten Blicken iſt in
Gebrauch. Unter Umſtänden kann es ſogar wünſchenswert erſcheinen,
neben dem Hauptlicht zeitweilig kleinere Lichter in Thätigkeit zu ſetzen;
doch kann auf die Vielſeitigkeit der in Anwendung befindlichen Charakte-
riſtiken hier nicht weiter eingegangen werden.


Überall da, wo die Errichtung von Leuchttürmen mit zu großen
Koſten verknüpft ſein würde oder andere Verhältniſſe maßgebend ſind,
werden an den betreffenden Punkten mit Vorliebe Feuer- oder Leucht-
ſchiffe ſtationiert, plumpe, feſtgebaute, am Tage durch ihren roten An-
ſtrich kenntliche, außerordentlich feſt verankerte Fahrzeuge, deren Mann-
ſchaft von Zeit zu Zeit abgelöſt wird. Der Dienſt auf einem ſolchen
Schiffe iſt recht beſchwerlich und die Verantwortung ſehr groß; unter
den Unbilden der Witterung haben die Feuerſchiffe oft ſchwer zu leiden.
Auch auf ihnen ſind die verſchiedenſten Formen der Feuer üblich,
natürlich vornehmlich als Unterſcheidungsmerkmale.


Anſtatt der Leuchtſchiffe kommen auch, namentlich bei vereinzelten
Sandbänken oder Riffen mitten im Fahrwaſſer, neuerdings vielfach ſo-
genannte Scheinwerfer in Anwendung, einfache Spiegelvorrichtungen,
welche von einem am Lande befindlichen Feuer (ſog. Holophoten) parallele
Lichtſtrahlen empfangen und dieſelben in beſtimmter Richtung weiter-
ſenden, ſo den Anſchein erweckend, als ob ſich an ihrer Stelle ein wirk-
liches Feuer befände. Eine weſentlich andere Einrichtung beſitzen die-
jenigen Scheinwerfer, welche ſeit kurzem zur Vervollſtändigung der
Ausrüſtung großer Schiffe, namentlich der Kriegsmarine, beſtimmt ſind
und dem Zweck dienen, das Fahrwaſſer in der Fahrtrichtung zu beleuchten,
die Poſition eines feindlichen Schiffes zu erſpähen oder bei nebligem Wetter
den Zuſammenſtoß mit einem entgegenkommenden Schiff zu vermeiden.
Derartige Apparate, von welchen Fig. 445 eine Anſicht giebt, und die für
Terrainbeleuchtungen allmählich eine große Bedeutung gewonnen haben,
beſtehen gewöhnlich aus einer künſtlichen Lichtquelle, die ſich im Brenn-
punkt eines paraboliſchen Hohlſpiegels befindet; da das Licht des elek-
triſchen Flammenbogens auch noch in die Breite gezogen werden muß,
ſo kommt ein eigentümlicher Glaskörper, der gleichſam aus einzelnen
cylindriſch geſchliffenen Stäben beſteht, die ſogenannte Zerſtreuungsſcheibe,
zur Anwendung. Andere Scheinwerfer ſind wieder mit dem Fresnelſchen
Linſenſyſtem ausgeſtattet. Die aus der Abbildung erſichtlichen Beigaben
dienen vornehmlich zur Regulierung der elektriſchen Beleuchtung; das
ganze wird von einem geeigneten Behälter eingeſchloſſen, deſſen Richtung
und Neigung gegen den Horizont beliebig verändert werden kann.


[817]Das Signalweſen.
Figure 436. Fig. 445.

Scheinwerfer von Schuckert.


In aller Kürze ſeien ſchließlich noch einige Worte den, eigentlich
nicht direkt der Sicherung der Schiffahrt dienenden Einrichtungen ge-
widmet, die zum Wohle der Seefahrer und zum Schutze gegen unvorher-
geſehene Unglücksfälle begründet worden ſind. Die Schiffsverſicherungs-
oder Aſſekuranzgeſellſchaften, die zwar in erſter Linie als Erwerbsgenoſſen-
ſchaften zu bezeichnen ſind, und die gegen eine angemeſſene Prämie
den Erſatz eines geſtrandeten Schiffes oder einer verlorenen Ladung
übernehmen, haben in vielen Fällen eine recht ſegensreiche Thätigkeit
entfaltet, und die Bergungsgeſellſchaften mit ihren mit allen Hilfsmitteln
Das Buch der Erfindungen. 52
[818]Der Verkehr zu Waſſer.
der Technik aufs beſte ausgerüſteten Bergungsdampfern haben ſchon
ſo manches aufgefahrene oder geſunkene Schiff wieder flott gemacht
oder gehoben und in das Dock zur Wiederherſtellung geſchleppt. Daß
hierbei die Thätigkeit der Taucher, ſowohl für die Erkundung der Lage
des Schiffes, als für die Verſtopfung eines etwa vorhandeneu Lecks oder
gar die Bergung der wertvollſten Teile der Ladung, unter Umſtänden
ganz unentbehrlich und von höchſtem Nutzen ſein kann, liegt in der
Natur der Sache.


Das Taucherweſen ſelbſt iſt ſehr alt, und ſchon aus der erſten
Hälfte des 16. Jahrhunderts wird über Verſuche mit einer Taucher-
glocke berichtet. Wenn man ein Trinkglas mit der Öffnung nach unten
in ein Gefäß mit Waſſer ſtülpt, ſo wird die abgeſchloſſene Luft um
ſo mehr zuſammengedrängt, je ſtärker der aufgewendete Druck iſt,
je weiter man alſo das Glas hinabzudrücken verſucht. Wird dieſer
Verſuch in hinreichend großem Maßſtabe angeſtellt, ſo kann ein Menſch
innerhalb der abgeſchloſſenen Luftmenge ſo lange exiſtieren, als der für
die Lebensthätigkeit notwendige Sauerſtoff noch nicht verzehrt iſt. Um
demnach ein längeres Verweilen in der Taucherglocke, die für die praktiſche
Anwendung mit mehreren Sitzbänken im Innern verſehen wurde, zu
ermöglichen, muß alſo von außen ſtets friſche Luft zugeführt und für
ein regelmäßiges Entweichen der ausgeatmeten verdorbenen Luft Sorge
getragen werden. Wegen des mit der Tiefe zunehmenden Luftverbrauchs
iſt die Anwendung der Taucherglocke, welche jetzt meiſt die Form einer
abgeſtumpften Pyramide erhält, auf mäßige Tiefen, höchſtens bis zu
50 m beſchränkt; die Luft wird durch eine geeignet konſtruierte Kom-
preſſionspumpe erneuert und die Luftzufuhr ſelbſt dem in der Arbeits-
tiefe herrſchenden Waſſerdruck entſprechend geregelt. Die außerordentlich
komplizierten Apparate, welche ein Hinabſteigen in noch größere Tiefen,
bis zu 250 m und darüber erlauben, können hier, wo lediglich die
nautiſchen Zwecken dienenden Vorrichtungen beſprochen werden ſollen,
keine Berückſichtigung finden; zu erwähnen ſind nur noch die übrigens
ziemlich allgemein bekannten Taucherapparate, die im weſentlichen aus
einem waſſerdichten Anzuge und einem feſt mit demſelben verbundenen
Metallhelm beſtehen und bei geregelter Luftzufuhr in nicht zu beträcht-
lichen Tiefen ein mehrſtündiges Arbeiten geſtatten. Allerdings iſt hier
eine außerordentlich intenſive Thätigkeit der Lungen und eine kräftige
Körperbeſchaffenheit Bedingung, um den koloſſalen Waſſerdruck einiger-
maßen erträglich und für den menſchlichen Organismus unſchädlich zu
machen. Der in Fig. 446 abgebildete Taucheranzug (oberer Teil) wird
ohne beſondere Erläuterung verſtändlich ſein; ſchwere Bleigewichte auf
Bruſt, Rücken und unter der Fußbekleidung ſollen den Taucher am
Boden feſthalten und innerhalb des beträchtlichen Waſſerdruckes ſeine
Bewegungsfähigkeit herſtellen helfen. Um übrigens den Taucher, der
nach oben hin durch Signalleine, Sprachrohr oder Telephon ſich ver-
ſtändlich machen und Anordnungen erteilen kann, von dem regelrechten
[819]Das Taucherweſen.
Funktionieren und der Intaktheit ſowohl der Pumpe als des Luft-
zuleitungsſchlauches möglichſt unabhängig und vor allem auch in ſeinen
Bewegungen ſelbſtändiger zu machen, hat man bei neueren Taucher-
apparaten Käſten mit komprimierter Luft eingeführt und dafür Sorge
getragen, daß die dem unter Waſſer Arbeitenden zuſtrömende Luft ſtets

Figure 437. Fig. 446.

Taucher-Apparat.


unter einem, durch die Lungenthätigkeit direkt regulierten Druck aus
dem Behälter austritt. Zur Beleuchtung des Arbeitsfeldes in großen
Tiefen oder bei Nachtarbeiten erhält der Taucher eine Lampe, die jetzt
wohl faſt ausſchließlich mit Elektrizität geſpeiſt wird, obgleich auch die
eigens zu dieſem Zweck konſtruierten unterſeeiſchen Petroleumlampen,
namentlich diejenigen von der für die Fortbildung des Taucherweſens
hochbedeutenden Firma L. von Bremer \& Co. in Kiel, ganz vorzüg-
liche Dienſte leiſten. —


Die Fülle derjenigen Einrichtungen, die im Intereſſe der Sicherung
des Seeverkehrs, zum Wohl vieler Tauſende, deren Exiſtenz ſonſt auf
das höchſte gefährdet ſein würde, notwendig und unerläßlich geworden
ſind, hat zwar in dem vorliegenden kurzen Abſchnitt nicht entfernt
erſchöpft werden können; dennoch wird der Leſer ſich ein Bild davon
machen können, welcher gewaltigen Anſtrengungen es bedurfte, wieviel
Erfindungen ideeenreichen Köpfen entſpringen mußten, um auch nur
annähernd das erſtrebte Ziel, die unbedingteſte und vollſtändigſte Ver-
kehrsſicherung auf der Hauptweltverkehrsſtraße, dem Meere, zu erreichen.


52*
[820]

3. Die Luftſchiffahrt.


Der Erfindungsſinn des Menſchen iſt nicht bei den auf der Erd-
oberfläche zu Gebote ſtehenden Verkehrswegen ſtehen geblieben. An-
geregt durch das leichte Spiel der Segler der Lüfte, hat derſelbe es
unternommen, auch die unſeren Planeten umgebende Luftſchicht zum
Tummelplatz eigenartiger Verkehrseinrichtungen zu machen.


Gegenwärtig nimmt bei normalen Verhältniſſen die Luftſchiffahrt
einen ſehr untergeordneten Stand ein. Dieſes Verhältnis ändert ſich
aber ſofort in dem Falle, wo durch Belagerung oder eine ſonſtige
Abſperrung ein Verkehr mit der Außenwelt zu Waſſer oder zu Lande
unmöglich gemacht iſt. In dieſem Fall tritt als letztes Verkehrsmittel
das Luftſchiff hilfeſpendend ein. Am überzeugendſten läßt ſich dieſes
an dem Beiſpiele der Belagerung von Paris während des deutſch-fran-
zöſiſchen Krieges nachweiſen. Hier haben in der Zeit vom 23. Sep-
tember 1870 bis zum 28. Januar 1871 64 Ballons mit 155 Perſonen,
363 Brieftauben und 9000 kg Poſtſachen die Stadt verlaſſen. Von
den Brieftauben kehrten 57 zurück mit 100000 Depeſchen.


Leider krankt das geſamte Luftſchiffahrtsweſen gegenwärtig noch
an einer großen Unzuverläſſigkeit; dieſelbe wird erſt gehoben ſein,
wenn das Problem der Lenkbarkeit des Luftſchiffes gelöſt ſein wird.
Trotzdem aber beginnt das letztere immer mehr Aufnahme unter die
Verkehrsmittel zu finden, ſo daß dasſelbe füglich hier nicht übergangen
werden darf.


Schon im grauen Altertum tritt uns die Sehnſucht und das
Streben des Menſchen den Äther durchfliegen zu können in der Sage
vom Bellerophontes und in der Erzählung von der fliegenden künſt-
lichen Taube des Archytas von Tarent entgegen. Wie ſo manche
Erfindung, ſo wird auch diejenige des Luftballons von manchen
Schriftſtellern den Chineſen zugeſchrieben; ſo ſoll bereits im Jahre 1306
nach den Berichten des Franzoſen Vaſſon zu Peking ein Luftballon
aufgeſtiegen ſein.


Sieht man ab von den nur ein theoretiſches Intereſſe in Anſpruch
nehmenden Veröffentlichungen des Jeſuitenpaters Franzisko Lana vom
Jahre 1670 und des Dominikaners Joſeph Galien vom Jahre 1755,
ſo müſſen als die eigentlichen Erfinder der Luftſchiffahrt die Gebrüder
Mongolfier zu Annonay gelten, welche am 5. Juni 1783 den erſten
mit warmer Luft angefüllten Ballon zum Steigen brachten. Die
gleiche Idee hatte im Jahre 1769 Bartolomeo Lourenço de Guzman
auszuführen unternommen, jedoch mit unglücklichem Erfolge, ſodaß
der Luftballon als eine Erfindung der Gebrüder Montgolfier gilt
[821]Die Luftſchiffahrt.
infolge deſſen auch früher allgemein mit dem Namen „Montgolfière“ be-
zeichnet wurde.


Stephan und Joſeph Mongolfier gingen bei ihrem erſten Ballon
von der irrtümlichen Annahme aus, daß der Auftrieb desſelben durch
den Rauch des Feuers bewirkt werde, und verwendeten daher als
Brennſtoff eine ſtark qualmende Miſchung von Stroh und Wolle.
Hiervon kam man jedoch alsbald ab, und als kurze Zeit darauf die
Gebrüder Roberts und Profeſſor Charles mit öffentlichen Mitteln einen
zweiten Ballon konſtruierten, da bedienten ſie ſich hierbei des von
Cavendiſh im Jahre 1776 entdeckten Waſſerſtoffgaſes, welches ſich
bekanntlich durch ſein ſehr geringes ſpezifiſches Gewicht auszeichnet und
bis auf den heutigen Tag zur Füllung des Luftballons Verwendung
findet. Nebenbei vervollkommneten aber auch die Gebrüder Mongolfier
ihr Syſtem der Ballonfüllung mittels warmer Luft.


Nachdem man ſich zuvor an lebendigen Tieren verſichert hatte,
daß der Aufſtieg mit dem Ballon keine unmittelbaren nachteiligen Folgen
äußerte, ſtiegen am 21. November 1783 Pilâtre de Roziers und der
Marquis d’Arlandes als die erſten Luftſchiffer auf. De Roziers war
ſpäter der erſte derjenigen, welche nachher in ſo großer Anzahl im
Dienſte der Luftſchiffahrt ihren Tod fanden.


Die erſten ſchweren Unglücksfälle führten auf die Erfindung des
Fallſchirms, eines nach Art eines Regenſchirms konſtruierten Apparates,
welcher beim Niederfallen ſich ſelbſtthätig durch den Widerſtand der
Luft aufſperrt und ſo die Schnelligkeit des Abſturzes mildert.


Nachdem man den Luftballon bereits in der Schlacht bei Fleurus
ſowie bei der Belagerung von Valenciennes mit Erfolg zum Zwecke
der militäriſchen Rekognoszierung verwendet hatte, kam Napoleon I.
infolge der außerordentlichen Schwerfälligkeit des erforderlichen Apparates
von dieſer Art der Benutzung des Luftballons völlig wieder ab; er
löſte die der Armee beigegebene Luftſchifferabteilung auf, weil ſie den
Bewegungen nicht zu folgen vermochte. Gerade aber die militäriſche
Verwendbarkeit des Luftballons iſt diejenige Eigenſchaft desſelben,
welche denſelben gegenwärtig der weiteren Vervollkommnung würdig
macht, und aus welcher heraus in erſter Linie die neueſten Fortſchritte
entſprungen ſind. Wir laſſen daher die verſchiedenen bislang frucht-
los verlaufenen Verſuche der Konſtruktion eines lenkbaren Luftſchiffes
bei Seite und wenden uns der Beſprechung eines militäriſchen Luft-
ſchiffahrtsdetachements zu. Ein derartiger moderner Luftſchifferpark
beſteht im weſentlichen aus drei Spezialwagen: deren einer den Luft-
ballon, deren zweiter den zur Erzeugung des Waſſerſtoffgaſes dienenden
Apparat, deren dritter die Dampfwinde trägt, welche den Ballon
an einem Seile feſthält und nach Beendigung der Beobachtung wieder
zur Erde hinabzieht.


Zur Darſtellung des Waſſerſtoffgaſes bedient man ſich meiſt der
Zerſetzung von Waſſer durch Eiſen und verdünnte Schwefelſäure.
[822]Die Luftſchiffahrt.
Da dieſe Materialien in erheblichem Maße zur Stelle ſein müſſen, ſo
ſind aber neben jenen eben genannten drei Spezialwagen noch 6 Transport-
wagen und ein Packwagen mit 42 Pferden erforderlich. Da auch dieſer
Park noch zu umfangreich ſich geſtaltet, ſo iſt man neuerdings dazu über-
gegangen, die Abmeſſungen des Ballons ſo zu vermindern, daß der-
ſelbe nur eine einzige Perſon zu tragen imſtande iſt. Hierdurch iſt
erreicht, daß ein ſolcher Train nur aus 5 Fahrzeugen beſteht. Das
vollkommenſte der im Gebrauch befindlichen Syſteme dürfte dasjenige von
Richter und Majert ſein. Soweit dasſelbe nicht als Geheimnis be-

Figure 438. Fig. 447.

Luftſchifferpark.


handelt wird, beſteht das weſentliche dieſes Verfahrens darin, daß das
zur Füllung des Ballons dienende Gas auf trockenem Wege durch
Erhitzung eines Gemiſches von Zinkſtaub und trockenem Kalkhydrat
hergeſtellt wird. Dieſes Gemiſch wird in Blechcylinder (Patronen)
[823]Die Luftſchiffahrt.
gepackt, worauf dann die Erhitzung in einem eigenartig konſtruierten
Ofen vorgenommen wird. Das Nähere iſt aus der Fig. 447 zu er-
ſehen; im Vordergrunde liegen die eben erwähnten Patronen, während
im Hintergrunde der Feſſelballon ſich an dem auf der fahrbaren
Winde aufwickelbaren Seile in die Lüfte erhebt. Früher vermochte
man mit 120 ſolchen Patronen in zwei Stunden 250 cbm Gas zu ent-
wickeln, wobei noch bemerkt wird, daß für eine beobachtende Perſon
ein Ballon von 300 cbm Inhalt erforderlich iſt. In der letzten
Zeit ſoll dieſes von dem Deutſchen Reiche angekaufte Verfahren noch
außerordentliche Verbeſſerungen erfahren haben, welche jedoch ſtrengſtens
geheim gehalten werden.


[[824]]

VIII. Aus der chemiſchen Induſtrie.


1. Die chemiſche Induſtrie der Säuren und Alkalien.


Die chemiſche Induſtrie der heutigen Zeit umfaßt bekanntlich ein
koloſſales Gebiet, deſſen Grenzen ſich jeden Tag erweitern. Ihre Ge-
ſamtdarſtellung kann daher unmöglich einen Teil dieſes Buches bilden,
weil eine ſolche die Grenzen desſelben ſchon für ſich allein — ſelbſt
bei knapper Darſtellung — weit überſchritte. Indeſſen giebt es, ab-
geſehen von denjenigen, beſtimmten Gewerben dienenden Zweigen,
welche an anderen Stellen dieſes Werkes abgehandelt werden, doch
gewiſſe Teile der chemiſchen Induſtrie, welche wegen der allgemeinen
Wichtigkeit der aus ihnen hervorgehenden Produkte, ſowie wegen der
manchmal ganz eigentümlichen Art ihrer hiſtoriſchen Entwicklung unſer
Intereſſe in hervorragender Weiſe in Anſpruch nehmen. Es handelt
ſich hierbei um ſolche Stoffe, deren außerordentlich kräftige chemiſche
Wirkung ſelbſt ſchon im Kindheitsalter der Chemie deutlich zu Tage
trat und ſie daher ſchon frühzeitig hervorragend tauglich erſcheinen ließ,
anderen Zweigen der Technik zu dienen.


Die Chemie kennt aber keine Subſtanzen von ſtärkerer Wir-
kung, als einerſeits die unter dem Namen „Säuren“, wie andererſeits
die als „Alkalien“ bekannten Körper. Mit der fabrikmäßigen Dar-
ſtellung der wichtigſten unter dieſen Stoffen, ſowie zum Teil mit
ihrer chemiſch-techniſchen Verwendung hat es dieſer Abſchnitt unſeres
Buches zu thun. Von wichtigen Säuren ſind es die Schwefel-
ſäure, die Salpeterſäure und die Salzſäure, deren Darſtellung beſonders
intereſſiert. Die Alkalien, eigentlich Verbindungen des Kaliums und
Natriums mit den Elementen des Waſſers, ſpielen in ihren kohlen-
ſauren Verbindungen eine Hauptrolle in der Technik, weil dieſe ganz
beſonders reaktionsfähig, d. h. chemiſch wirkſam ſind. Nach den Säuren
werden wir daher dieſe Körper, nämlich die Soda und die Pottaſche zu
betrachten und deren wichtigſten Anwendungen kennen zu lernen haben.
[825]Die Fabrikation der Schwefelſäure.
Da die letzteren aber zum Teil an anderen Stellen dieſes Buches be-
ſprochen werden, ſo wird nur ein ſpezieller Zweig der Alkaliinduſtrie,
die Seifenſiederei, für die genauere Betrachtung in dieſem Abſchnitt
übrig bleiben.


a) Die Fabrikation der Schwefelſäure.


Dieſe ſtärkſte der Mineralſäuren, welche ſchon den Chemikern
des 17. Jahrhunderts bekannt war, wurde urſprünglich durch
Röſtung und ſtarkes Glühen des bekannten Eiſenvitriols, ſowie durch
Auffangen der frei werdenden weißen Dämpfe in Waſſer erhalten.
Das Produkt hieß rauchendes Vitriolöl (Oleum Vitrioli). Erſt im
vorigen Jahrhundert gelang es dann, beſonders in England, Schwefel-
ſäure auf einem anderen Wege, nämlich durch Oxydation und Wäſſe-
rung von ſchwefligſaurem Gas, dem Verbrennungsprodukt des bekannten
gewöhnlichen Schwefels, zu erhalten; daher der Name engliſche Schwefel-
ſäure für das Produkt dieſes letzteren Verfahrens. Das Verhältnis
des chemiſchen Beſtandes der beiden Säurenarten ergiebt ſich ſehr ein-
fach in folgender Weiſe:


Verbrennt man Schwefel, ſo bildet ſich ein farbloſes, erſtickend
riechendes Gas, eine Verbindung des Schwefels mit dem Sauerſtoff
der Luft, Schwefeldioxyd (SO2). Bringt man dasſelbe unter geeigneten
Verhältniſſen mit noch mehr Sauerſtoff zuſammen, ſo geht es in die
höchſte Schwefelſauerſtoffverbindung, Schwefeltrioxyd (SO3) über, einen
weißen Dampf, welcher ſich mit Waſſer unter heftiger Erhitzung zu
Schwefelſäure (SO3 + H2O = H2SO4) verbindet. Leitet man aber
mehr Schwefeltrioxyd in Waſſer, als zur Bildung von gewöhnlicher
Schwefelſäure nötig iſt, ſo löſt ſich noch einmal ſo viel davon in der
entſtandenen Schwefelſäure auf; man erhält dann alſo eine Auflöſung
von Schwefeltrioxyd in Schwefelſäure (H2SO4 + SO3), welche unter
dem Namen „rauchende Schwefelſäure“ bekannt iſt. Wir beginnen mit
der Darſtellung der letzteren, als der länger bekannten.


A.Rauchende Schwefelſäure. Man erhält den für den Prozeß
nötigen Eiſenvitriol, ſchwefelſaures Eiſenoxydul (FeSO4, 7 H2O), eine
in mattgrünen Kryſtallen vorkommende Subſtanz, zum Teil als Abfall
verſchiedener chemiſcher Prozeſſe, zum Teil auch als aus Grubenwäſſern
der Pyritgruben anſchießende Kryſtallmaſſen. Der Eiſenvitriol iſt
Schwefelſäure, deren Waſſerſtoff (H2) durch Eiſen (Fe) erſetzt iſt und
enthält noch eine erhebliche Menge Kryſtallwaſſer. Das Salz würde
beim ſofortigen Glühen zunächſt ſein Waſſer frei geben und dann in
ein entweichendes Gemenge von Schwefeldioxyd und Schwefeltrioxyd,
ſowie in zurückbleibendes feſtes Eiſenoxyd (Fe2O3), ein rotes Pulver,
zerfallen. Hierbei würde man alſo nur etwa die halbe Ausbeute von
Schwefeltrioxyd haben. Statt deſſen beginnt man daher damit, daß
man den Eiſenvitriol längere Zeit an der Luft lagern läßt und ihn
dann bei gelinder Hitze röſtet, d. h. bei Luftzug erhitzt. Hierdurch
[826]Die chemiſche Induſtrie der Säuren und Alkalien.
nimmt er Sauerſtoff aus der Luft auf und geht in ein Gemenge von
ſchwefelſaurem Eiſenoxyd (Fe23SO4) und Eiſenoxyd über. Beim nun-
mehrigen heftigen Glühen des ſchon waſſerfreien Gemenges entweicht
nur Schwefeltrioxyd und Eiſenoxyd bleibt zurück.


Das Röſten des Vitriols geſchieht in der Regel nicht in Öfen,
ſondern in Haufen (Stadeln). Der Glühprozeß erfolgt meiſt in thöneruen
Retorten von ½ m Länge, welche zu vielen neben einander in ſoge-
nannten Galeerenöfen erhitzt werden; ihre Mündung wird luftdicht in
entſprechende thönerne, mit Waſſer oder engliſcher Schwefelſäure gefüllte
Vorlagen eingeführt. Jede Retorte erhält 1—2 kg waſſerfreien Vitriol;
erſt wenn die dicken Dämpfe des Schwefeltrioxyds erſcheinen, ſchlägt
man die Vorlagen vor und erhitzt bis zum ſtarken Weißglühen. Der
Rückſtand iſt rotbraunes Eiſenoxyd und kommt als Kolkothar oder
Polierrot in den Handel; man verwendet ihn als Farbe und Polier-
maſſe.


Die rauchende Schwefelſäure iſt ölig (daher Oleum Vitrioli ge-
nannt) und bräunlich; das in ihr enthaltene Schwefeltrioxyd entweicht
in Dämpfen ſchon an der Luft, ſtärker beim ſchwachen Erwärmen.


B.Engliſche Schwefelſäure. Während man im ganzen nur
kleine Mengen rauchender Schwefelſäure fabrikmäßig darſtellt, hat ſich
die Fabrikation der engliſchen Schwefelſäure infolge der innigen Ver-
bindung, in welcher ſie mit verſchiedenen anderen wichtigen Zweigen
der chemiſchen Produktionstechnik ſteht, zu einem der wichtigſten Teile
dieſer Induſtrie herangebildet.


Die Rohprodukte, mit denen man arbeitet, ſind Schwefeldioxyd,
Salpeterſäure, Waſſerdampf und Luft. Der chemiſche Vorgang iſt ein
ziemlich komplizierter und erſt neuerdings klargeſtellt worden. Kommt
nämlich Schwefeldioxyd mit Salpeterſäure (HNO3) zuſammen, ſo ver-
wandelt das erſtere ſich in Schwefelſäure, indem es aus der letzteren
Sauerſtoff aufnimmt. Der Salpeterſäurereſt iſt im weſentlichen Stick-
ſtofftrioxyd (N2O3), ein brauner Dampf, welcher in weiterer Berührung
mit Schwefeldioxyd, wenig Waſſerdampf und atmoſphäriſchem Sauer-
ſtoff einen feſten Körper von kryſtalliniſcher Struktur, die Nitroſyl-
ſchwefelſäure bildet. Dieſer merkwürdige Körper zerfällt aber beim
Zuſammentreffen mit reichlichem Waſſerdampf ſofort wieder in Schwefel-
ſäure und Stickſtofftrioxyd. Man erſieht hieraus leicht, daß, wenn
man für den richtigen Zufluß von Waſſerdampf ſorgt, die ſich fort-
während bildende Nitroſylſchwefelſäure immer wieder in Schwefelſäure
und Stickſtofftrioxyd zerfällt, daß alſo durch eine kleine Menge des
letzteren bei fortwährendem Zufluſſe von Schwefeldioxyd, Waſſerdampf
und Luft, kontinuierlich Schwefelſäure entſtehen wird. Man gebrauchte
alſo die Salpeterſäure eigentlich nur einmal, um nämlich das nötige
Quantum Stickſtofftrioxyd zu erhalten, welches dann fortlaufend, wie
ein Ferment, das Schwefeldioxyd in Schwefelſäure verwandelt; die
Unregelmäßigkeiten, die unvermeidlich auch mit dem beſten Betriebe
[827]Die Fabrikation der Schwefelſäure.
verbunden ſind, erfordern aber doch, daß die eintretenden Verluſte
an Stickſtofftrioxyd hin und wieder durch neue Salpeterſäure erſetzt
werden.


Auf Grund der geſchilderten chemiſchen Vorgänge hat man eine
moderne Schwefelſäurefabrik ſich aus folgenden weſentlichen Teilen be-
ſtehend zu denken:


  • 1) aus einem Apparate zur Darſtellung des Schwefeldioxyds
    (Schwefelherd);
  • 2) aus einer Kammer, welche Salpeterſäure enthält (Nitrierungs-
    kammer);
  • 3) aus einer Reihe anderer Kammern, in welcher der Haupt-
    prozeß, d. h. das fortwährende Entſtehen und Zerfallen der
    Nitroſylſchwefelſäure vor ſich geht;
  • 4) aus Apparaten zum Zwecke der Wiedergewinnung des ſonſt
    verloren gehenden Stickſtofftrioxyds (Gay-Luſſac-Turm, Glover-
    turm);
  • 5) aus Apparaten zur Erzeugung des Waſſerdampfes und des
    nötigen Luftzuges.

Hiernach gliedert ſich die Anlage in eine Anzahl von Teilen, deren
Lage aus den Figuren 448 und 449 hervorgeht.


Das Schwefeldioxyd erhält man durch Verbrennen von Schwefel
auf beſonderen Herden A, welche ihren Luftzug durch den am Ende der
ganzen Anlage befindlichen hohen Schornſtein mit regulierbarem Zuge
erhalten. Der hohe Preis des ſizilianiſchen Schwefels hat aber be-
wirkt, daß man vielfach ſtatt desſelben den ſehr billigen Schwefelkies
oder Pyrit (Doppeltſchwefeleiſen) benutzt, welchen man in permanent
wirkenden Herdöfen bei ſtarkem Luftzutritt röſtet; die Hälfte des
Schwefelgehalts verbrennt zu Schwefeldioxyd, welches weiter geführt
wird.


Dasſelbe ſtrömt nun zunächſt durch einen 10 m hohen Turm, den
Gloverturm, deſſen Bedeutung erſt ſpäter erläutert werden kann, und zur
Abſetzung des ſtets vorhandenen Staubes durch eine Flugſtaubkammer E1
von etwa 5 m im Geviert und tritt dann in die Nitrierungskammer E3,
in welcher es ſich mit dem Zerſetzungsprodukt der Salpeterſäure, dem
Stickſtofftrioxyd, belädt. In dieſer Kammer rieſelt entweder die Sal-
peterſäure, welche in mäßiger Quantität durch enge Röhren von außen
zuſtrömt, in dünnen Kaskaden g herab, oder es finden ſich weite, flache
Schalen, welche mit der Säure oder auch einem Gemenge von Chile-
ſalpeter und Schwefelſäure gefüllt ſind. Die Wände der prismatiſch
geſtalteten Kammer — wie die aller übrigen Kammern — beſtehen
aus an einander gelöteten oder irgendwie luftdicht verbundenen Blei-
platten, welche durch ein Holzgerüſt gehalten werden. Ihr Inhalt
beträgt bei 8 m Länge gegen 210 cbm und iſt dem der Flugſtaub-
kammer ziemlich gleich. Auf die Nitrierungskammer folgen noch drei
Kammern, in welchen die Schwefelſäureproduktion hauptſächlich erfolgt.
[828]Die chemiſche Induſtrie der Säuren und Alkalien.

Figure 439. Fig. 448.

Bleikammeranlage einer chemiſchen Fabrik (vordere Hälfte).


Die erſte derſelben F iſt die größte; ſie hat bei etwa 30 m Länge einen
Inhalt von 4500 cbm. Die beiden letzten haben jede etwa den
doppelten Inhalt der Nitrierungskammer. Die größte Kammer liegt
[829]Die Fabrikation der Schwefelſäure.

Figure 440. Fig. 449.

Bleikammeranlage einer chemiſchen Fabrik (hintere Hälfte).


am tiefſten, ſo daß ſich in ihr die flüſſige Schwefelſäure ſammeln kann.
Jede der Kammern hat eine Waſſerdampfzuleitung, welche von einem
gemeinſamen, ſtarken, unter den Kammern hinziehenden Dampfrohre
ſich abzweigt.


[830]Die chemiſche Induſtrie der Säuren und Alkalien.

In den eigentlichen Bleikammern, den drei letzten, erfolgt der oben
beſchriebene Hauptprozeß, welcher nur beim Fehlen des Waſſerdampfes
eine Unterbrechung erleidet; dann ſchlägt ſich die Nitroſylſchwefelſäure,
der zur weiteren Zerlegung Waſſer fehlt, in Form von eisblumenartigen
Kryſtallen, welche man Bleikammerkryſtalle nennt, an den Wänden der
Kammern nieder. Verſtärkter Zufluß von Waſſerdampf zerſtört ſofort
die Kryſtalle und ſtellt das Gleichgewicht wieder her.


Obgleich man ſtets auch für mäßigen Zufluß von Salpeterſäure
in die Nitrierungskammer ſorgt, muß man doch der Erſparnis wegen
darauf bedacht ſein, das durch zu ſtarken Luftzug entweichende Stick-
ſtofftrioxyd noch zu verwerten. Zu dieſem Zwecke läßt man die ab-
ziehenden Gaſe aus der letzten Kammer, bevor ſie den Schornſtein
durchziehen, in den Gay-Luſſac-Turm J1 treten, der dieſelben Dimen-
ſionen wie der oben genannte Gloverturm hat. In ihm fließt über
Coaksſtücke oder Bimsſtein langſam Schwefelſäure herab, welche das
Stickſtofftrioxyd der abziehenden Gaſe abſorbiert und ſich hierdurch in
ſogenannte nitroſe Schwefelſäure, eine Auflöſung von Nitroſylſchwefel-
ſäure in Schwefelſäure, verwandelt. Die nitroſe Säure ſammelt ſich
unten im Gay-Luſſac-Turm und wird durch ein Pumpwerk über den
Gloverturm gehoben, um in dieſem über ſäurefeſte Steine herabzu-
rieſeln. Dabei fließt ſie dem eintretenden heißen Schwefeldioxyd ent-
gegen und wird durch dieſes denitriert, d. h. des Stickſtofftrioxyds
beraubt, welches wieder in die Kammern geführt wird; zu gleicher Zeit
wird der heiße Gasſtrom im Gloverturm bis auf die zur Schwefel-
ſäurebildung günſtige Temperatur abgekühlt. Unten im Gloverturm
ſammelt ſich reine, ziemlich konzentrierte Schwefelſäure.


Das Hauptprodukt des Verfahrens, die in der Hauptkammer ſich
ſammelnde Kammerſäure, hat ein ſpezifiſches Gewicht von 1,5 und iſt
etwa 54 prozentig. Sie muß, ehe man ſie in den Handel bringt, mög-
lichſt vollkommen entwäſſert werden. Zu dieſem Zwecke wird ſie zu-
nächſt in Bleipfannen eingedampft, bis ſie gegen 65 % reine Säure
enthält; hierbei wird ſie zugleich von den anhaftenden gasförmigen
Verunreinigungen befreit. Die weitere Entwäſſerung erfolgt dann, da
Blei angegriffen und Glas durch das „Stoßen“ der ſiedenden Säure
leicht zertrümmert würde, in Platinkeſſeln von 200 bis 500 kg Gehalt.
Aus ihnen wird die heiße konzentrierte Säure durch ſtark gekühlte
Heber in die Ballons geſchafft, in denen man ſie verſendet. Sie hat
ein ſpezifiſches Gewicht von 1,81 bis 1,84 und enthält noch 2 bis
6 % Waſſer.


Die beſchriebene Art der Schwefelſäuredarſtellung, deren Prinzip
allerdings ſchon gegen Ende des 17. Jahrhunderts bekannt war,
datiert im fabrikmäßigen, d. h. kontinuierlichem Betriebe erſt ſeit der
Erfindung der Bleikammern durch Roebuck, welcher die erſte Anlage
1774 in Birmingham aufſtellte. Gay-Luſſac erfand 1846 den nach
ihm benannten Turmapparat und Glover lehrte 1871 die hierdurch
[831]Die Fabrikation der Salpeterſäure.
gewonnene nitroſe Säure in demſelben Fabrikbetriebe vermittelſt ſeines
Denitratorturms unmittelbar ausnutzen. Durch dieſe Vervollkomm-
nungen ſind die Fabrikationsverluſte minimale geworden, indem man
z. B. nur gegen 5 % des verwendeten Schwefels und kaum 3 % der
Salpeterſäure verliert. Eine Schwefelſäureanlage von den beſchriebenen
Dimenſionen liefert in 24 Stunden 8000 bis 10000 kg Säure.


b) Die Fabrikation der Salpeterſäure.


Wie die Schwefelſäure, iſt auch die Salpeterſäure ſchon den
Chemikern des Mittelalters bekannt geweſen, beſonders in dem mit
dem Namen „Scheidewaſſer“ bezeichneten verdünnten Zuſtande, in
welchem die Säure aus einer Legierung von Gold und Silber nur
das letztere Metall auflöſt.


Alle Salpeterſäure (HNO3) wird durch Erhitzen von Schwefelſäure
mit einer ihrer Alkaliverbindungen, entweder dem Kaliſalpeter (KNO3)
oder dem Natron- oder Chileſalpeter (NaNO3) dargeſtellt. (Vgl. S. 693 ff.)
Das erſtgenannte Salz giebt eine reinere Säure; es ſtellt ſich aber weſentlich
teurer, weil es faſt durchgängig ein Fabrikationserzeugnis iſt und giebt
auch eine etwas geringere Ausbeute, als der Natronſalpeter. Aus
dieſen Gründen wendet man faſt ausſchließlich den letzteren, welcher in
gewaltigen Maſſen an der Weſtküſte des mittleren Südamerika ſich
mineraliſch findet, zur Fabrikation an, obgleich die erhaltene Säure
unreiner iſt.


Der chemiſche Prozeß der Salpeterſäurefabrikation iſt ſehr einfach.
Man kann ſich am beſten vorſtellen, daß das Metallatom des Salpe-
ters mit einem Waſſerſtoffatom der Schwefelſäure (H2SO4) den Platz
tauſcht; es bildet ſich alſo aus dem Salpeter Salpeterſäure (HNO3),
aus der Schwefelſäure doppelt ſchwefelſaures Natrium (NaHSO4). Wie
leicht erſichtlich, könnte man, da ja das zweite Waſſerſtoffatom der
Schwefelſäure auch durch ein Metallatom erſetzbar ſein muß, die doppelte
Menge Salpeter gegenüber derſelben Quantität Schwefelſäure anwenden
und ſo die doppelte Ausbeute erhalten. Beim Kaliſalpeter iſt dies
nicht gut möglich, da die zweite Menge desſelben ihre Säure erſt bei
einer Temperatur freigiebt, welche eine Zerſetzung der Säure in braunes
gasförmiges Stickſtoffdioxyd (NO2), Sauerſtoff und Waſſer bewirkt;
dann erhält man eine Löſung des erſtgenannten Zerſetzungsproduktes
in reiner Salpeterſäure, welche unter dem Namen rauchende Salpeter-
ſäure eine rote braune Flüſſigkeit bildet. Beim Chileſalpeter hingegen
wird nur eine geringe Quantität Säure zerſetzt, ſo daß man in dieſem
Falle auch bei Anwendung der doppelten Menge Salpeter mit nur
wenig Stickſtoffdioxyd verunreinigte Salpeterſäure erhält. Als Rückſtand
bleibt dann ſchwefelſaures Natrium (Na2SO4).


Zum Erhitzen des Gemenges von Chileſalpeter, Schwefelſäure und
wenig Waſſer benutzt man jetzt meiſtenteils liegende gußeiſerne Cylinder,
[832]Die chemiſche Induſtrie der Säuren und Alkalien.
die, ähnlich wie die Gasretorten, verſchließbar ſind und ebenſo zu
mehreren in einem Ofen liegen (ſ. Fig. 450). Der vordere Deckel des
Cylinders iſt mit einem gläſernen eingekitteten Abzugsrohr verſehen,
durch welches die Dämpfe der freiwerdenden Salpeterſäure in ſoge-
nannte Wulfſche Flaſchen geleitet werden. Dies ſind große dreihalſige

Figure 441. Fig. 450.

Apparat zur Darſtellung der Salpeterſäure.


Gefäße von Steingut; der erſte Hals nimmt das Zuleitungsrohr, der
mittelſte häufig noch ein gerades, das Zurückſteigen der kondenſierten
Säure verhinderndes Sicherheitsrohr, der dritte das die erſte Flaſche
mit der nächſtfolgenden verbindende Ableitungsrohr auf. Dieſe Kon-
denſationsgefäße werden mit Waſſer gut gekühlt.


Die Leitung der möglichſt gleichmäßig zu haltenden Feuerung er-
folgt unter ſteter Beobachtung des gläſernen Ausſtrömungsrohres;
treten ſehr dunkle Dämpfe auf, ſo iſt die Hitze zu ſtark geworden.
Zuerſt entweichen, infolge der Reduktion der Salpeterſäure durch Staub
und andere organiſche Verunreinigungen, rote Dämpfe, die man in
beſonderen Vorlagen auffängt; erſt wenn die Farbe der Dämpfe bräun-
lich geworden iſt, legt man die eigentlichen Vorlagen, meiſt mit ein
wenig Waſſer beſchickt, an die Retorten. Stockt endlich die Entwicklung
und erſcheinen beim ſtärkeren Erhitzen wieder rote Dämpfe, ſo unter-
bricht man die Operation.


Die gewonnene Salpeterſäure iſt verunreinigt. Die ſchon erwähnte
Braunfärbung durch Stickſtoffdioxyd beſeitigt man durch ſtarkes Ein-
blaſen von Luft. Das Chlor, welches ſich infolge des ſteten geringen
[833]Die Fabrikation der Salpeterſäure, der Salzſäure und der Soda.
Kochſalzgehaltes des Chileſalpeters vorfindet, läßt ſich zum allergrößten
Teil durch Deſtillation kleiner Portionen der unreinen Säure entfernen;
es geht mit den erſten Säureteilen über. Mineraliſche Verunreinigungen,
die durch Überſpritzen aus den Cylindern entſtehen, kann man gleich-
falls durch Deſtillieren beſeitigen.


Die Darſtellung der Salpeterſäure, welche früher hauptſächlich nur
bei der Schwefelſäurefabrikation und in der Metallinduſtrie benutzt
wurde, hat in neuerer Zeit, infolge der umfaſſenden Anwendung der
Säure bei der Herſtellung vieler Sprengſtoffe, einen ſehr bedeutenden
Aufſchwung genommen. (Vergl. S. 704 ff.)


c) Die Fabrikation der Salzſäure.


Die Darſtellung dieſer Säure wird nicht beſonders betrieben, weil
ſie als Nebenprodukt bei der Sodafabrikation gewonnen wird. Bei
dieſer Gelegenheit wird daher von ihr die Rede ſein. Hier intereſſiert
nur ihr chemiſcher Beſtand und der Prozeß ihrer Bildung.


Die Salzſäure, die wichtigſte der des Sauerſtoffs ganz entbehren-
den, ſogenannten Waſſerſtoffſäuren, iſt die wäſſerige Löſung einer Ver-
bindung von Chlor und Waſſerſtoff, des Chlorwaſſerſtoffgaſes (HCl).
Dasſelbe löſt ſich bei der Lufttemperatur zu nicht weniger als
450 Volumen in 1 Volum Waſſer zu der käuflichen Salzſäure. Ob-
gleich die letztere von den übrigen Säuren durch ihren Sauerſtoffmangel
weſentlich abweicht, ſo gehorcht ſie doch denſelben Geſetzen wie jene.
Durch Erſetzung ihres Waſſerſtoffatoms durch Metalle entſtehen z. B.
ſalzartige Körper (Haloide), aus denen die Salzſäure wiederum durch
Schwefelſäure abgeſchieden wird. Man gewinnt daher die Säure, in-
dem man das mineraliſch in gewaltigen Maſſen vorkommende Steinſalz
oder Chlornatrium (NaCl), mit Schwefelſäure behandelt. Chlorwaſſer-
ſtoffgas wird frei, und es bleibt derſelbe Rückſtand, wie bei der
Salpeterſäurefabrikation, nämlich Natriumſulfat (Na2SO4).


d) Die Sodafabrikation.


Außerordentlich viele Gewerbe zählen zu ihren wichtigſten Be-
dürfniſſen das Natron, ein Alkali, welches ſowohl im feſten Zuſtande,
als auch in Löſung ſeine kauſtiſchen Eigenſchaften in ſo kräftiger Weiſe
äußert, daß ſeine Wirkung häufig gemäßigt werden muß, um es brauchbar
zu machen. Aber ſelbſt im entgegengeſetzten Falle iſt das Natron nicht
haltbar, ſondern geht an der Luft bald in kohlenſaures Natrium über.
Da dieſes letztere nur ſehr mäßige ätzende Kraft beſitzt und aus ihm
andererſeits reine Natronlauge jederzeit herſtellbar iſt, ſo liefert der
Handel alles in der Technik nötige Natron heute in Form von kohlen-
ſaurem Natrium oder Soda (Na2CO3).


Nur an ſehr wenigen Orten der Erde kommen ſpärlich Subſtanzen
mineraliſch vor, deren Zuſammenſetzung der der Soda gleich oder
Das Buch der Erfindungen. 53
[834]Die chemiſche Induſtrie der Säuren und Alkalien.
ähnlich iſt. Daher iſt man ſchon frühzeitig beſtrebt geweſen, Soda
in möglichſt großer Menge künſtlich zu gewinnen.


Da eine Menge von Pflanzen, und zwar beſonders Strandpflanzen,
das in der Erde ihres Standortes enthaltene Kochſalz aſſimilieren, ſo
findet man in dieſen Gewächſen reichliche Mengen organiſcher Natrium-
ſalze, welche beim Einäſchern der Pflanzen in Soda übergehen. Letztere
verbleibt daher in der Aſche und kann durch Waſſer ausgezogen werden.
Auf dieſem Wege gewann man früher und gewinnt man in einzelnen
Ländern ſogar noch heute Soda aus der Aſche des Seetangs und
anderer Pflanzenarten. Sie iſt unter verſchiedenen Namen (Barilla,
Blanquette, Salicor) im Handel. Alle dieſe Sodaarten ſind ſehr unrein
und ſtellen ſich trotz ihrer einfachen Darſtellung doch noch zu teuer.


Heute gewinnt man faſt alle Soda aus Kochſalz, Chlornatrium
(NaCl), und zwar hauptſächlich nach zwei verſchiedenen Verfahren, von
denen das erſte im Anfang, das zweite gegen die Mitte unſeres Jahr-
hunderts erfunden wurde. Es ſind dies der Leblancſche Sodaprozeß
und das Solvayſche Ammoniakverfahren.


1. Darſtellung der Soda nach Leblancs Verfahren.

Dieſes Verfahren, welches fünfzig Jahre die Technik unumſchränkt
beherrſcht hat, heute aber von dem neueren Verfahren zum Teil ſchon
verdrängt iſt, verdankt ſeine Erfindung, wie ſo viele andere wichtige
Zweige der Technik, der Not. Als nämlich der jungen Republik
Frankreich im Jahre 1793 durch ihre mit faſt allen anderen Ländern
Europas geführten Kriege die Zufuhr der bis dahin allein benutzten
Pflanzenſoda abgeſchnitten war und alle im Inlande erzeugte Pottaſche,
welche allenfalls als Erſatz hätte dienen können, durch die Salpeter-
fabriken zur Herſtellung von Kriegspulver abſorbiert wurde, forderte
der Wohlfahrtsausſchuß, angeregt durch einen Vorſchlag von Carny,
durch einen beſonderen Erlaß alle Bürger auf, alle ihnen etwa be-
kannten Mittel und Wege der Sodadarſtellung zum Beſten des Gemein-
wohls und mit Übergehung aller eigenen Pläne und Abſichten einer
Kommiſſion mitzuteilen. Der Bericht dieſer Behörde erkannte unter
den Vorſchlägen einer großen Anzahl uneigennütziger Techniker dem-
jenigen von Nicolas Leblanc, als dem einfachſten und für den Groß-
betrieb am meiſten geeigneten, den Preis zu.


Der Leblancſche Sodaprozeß zerfällt im weſentlichen in zwei
Hauptteile:


  • 1. die Erzeugung des Natriumſulfats aus Kochſalz;
  • 2. die Gewinnung der Rohſoda aus Natriumſulfat.

Hieran reihen ſich dann das Auslaugen, das Eindampfen und
das Kalcinieren.


Zur Fabrikation des Natriumſulfats erhitzt man Kochſalz im
zerkleinerten Zuſtande mit Schwefelſäure. Wie ſchon oben erläutert,
entweicht ſalzſaures Gas, während Natriumſulfat zurückbleibt.


[835]Die Sodafabrikation.

Zur Erhitzung dienen Ofen von der in Fig. 451 abgebildeten Form.
Sie gehören zur Kategorie der Flammöfen, bei welchen die Feuerung
— mit gewöhnlichem Roſt — durch eine Feuerbrücke von dem ſeitlich
davon liegenden Erhitzungsraum getrennt iſt. Die Erwärmung erfolgt

Figure 442. Fig. 451.

Sulfatofen einer Sodafabrik.


daher nur durch die über die Feuerbrücke fortſchlagende, den Erhitzungs-
raum von oben her treffende Flamme; dies bedingt, daß die Flamm-
öfen einen ſehr ſtarken Zug haben müſſen.


Bei dem Sulfatofen zerfällt der Erhitzungsraum in einen kleinen
vorderen und einen größeren hinteren, mit Blei ausgefütterten Raum,
welcher ſeinerſeits durch die Zuglöcher mit dem gleich zu beſchreibenden
Kondenſationsapparat für die Salzſäure und durch dieſen mit dem
hohen Schornſtein in Verbindung ſteht. Das Steinſalz kommt in
Ladungen von 150 bis 400 kg in den hinteren Raum und wird durch
eine obere Öffnung dieſes Raumes mit der nötigen Menge Schwefel-
ſäure übergoſſen. Sofort beginnt eine heftige Gasentwicklung, welche
ſich durch verſtärktes Heizen ſteigert, um nach einigen Stunden nach-
zulaſſen. Dann läßt man durch eine unten liegende Öffnung die
Maſſe herausfallen, erkalten, und bringt ſie nun in den vorderen
Ofenraum, während der hintere von neuem beſchickt wird. In dieſem
vorderen Raum wird alle überſchüſſige Säure, ſowie alles Waſſer aus
dem Sulfat vertrieben und dieſes ſelbſt endlich bis zum Schmelzen
erhitzt. In der geſchilderten Weiſe arbeitet der Ofen kontinuierlich fort.


Da die Schwefelſäure am beſten nicht konzentriert gebraucht wird,
ſo iſt jede größere Sodafabrik gleichzeitig mit Bleikammern ausgerüſtet;
ſie gewinnt auf dieſe Weiſe ihre Schwefelſäure zu viel billigerem Preiſe,
da ſie die Kammerſäure direkt verwenden, alſo die beträchtlichen Abdampf-
koſten ſparen kann.


Die mit Chlorwaſſerſtoffgas reichlich beladenen Feuergaſe ſtrömen
gewöhnlich aus dem Feuerraume zunächſt in mit Waſſer gefüllte aus
Sandſtein aufgemauerte Kammern, in welchen ſich der größte Teil des
Chlorwaſſerſtoffs auflöſt. Man gewinnt ſo Salzſäure, die zu vielen
noch zu erwähnenden Zweigen der chemiſchen Technik benutzt wird.
Um die letzten Spuren des ſalzſauren Gaſes, welche den Umgebungen
der Fabrik ſehr läſtig und ſchädlich ſein würden, zu vertilgen, führt
53*
[836]Die chemiſche Induſtrie der Säuren und Alkalien.
man die Gaſe weiter durch ein paar Abſorptionstürme von der Art der
bei der Schwefelſäurefabrikation beſchriebenen, durch welche Waſſer
herabrieſelt, und dann in den Schornſtein.


Das gewonnene Sulfat wird grob zermahlen und mit etwa der
gleichen Menge kohlenſauren Kalks und der Hälfte ſeines Gewichts
Kohle innig gemengt. Man kann Kreide, gepulverten Kalkſtein oder
Kalktuff verwenden; bei dem hohen Preiſe der Holzkohle nimmt man
ſtatt dieſer auch gutes Grubenklein von Braun- oder Steinkohle.


Das Gemenge kommt in einen Flammofen, den Sodaofen, welcher
dem Sulfatofen ähnelt. Indeſſen ſind die zwei Feuerräume nicht ſo
ſcharf getrennt, ſondern der vordere liegt in der Regel nur eine Stein-
ſtärke tiefer, als der hintere, ſo daß man die Schmelze direkt gegen
die Feuerbrücke hinziehen kann. Der ganze Feuerraum iſt durch ſeitliche
Öffnungen zugänglich, damit das Gemenge gründlich mit Rührhaken
durchgearbeitet werden kann; eine Operation, welche für das Gelingen
des Prozeſſes unerläßlich iſt. Zur Regulierung des Zuges iſt in dem
Schornſtein eine verſtellbare Klappe, das Regiſter, vorhanden.


Sowie die Oberfläche des eingetragenen Gemenges, 100—200 kg,
zu erweichen anfängt, wird behutſam umgerührt, bis eine lebhafte Ent-
wicklung von Kohlenoxydgas, an blauen Flämmchen erkennbar, beginnt.
Dann muß durchgearbeitet werden, bis die ganze Maſſe ruhig fließt
und ſo die Beendigung der Operation ankündigt. Nun wird die
Schmelze in untergeſtellte Blechkäſten gezogen, in welchen ſie erſtarrt.


Man kann ſich den bei dieſem Verfahren ſtattfindenden chemiſchen
Prozeß, der durchaus noch nicht vollkommen erforſcht iſt, am einfachſten
folgendermaßen vorſtellen: Die Kohle reduziert das Natriumſulfat
(Na2SO4), indem ſie ſich mit dem Sauerſtoff desſelben zu entweichendem
Kohlenoxyd (CO) verbindet, zu Schwefelnatrium (Na2S). Dieſes ſetzt
ſich dann mit dem kohlenſauren Kalk (CaCO3) zu Schwefelcalcium (CaS)
und kohlenſaurem Natrium oder Soda (Na2CO3) um. Gleichzeitig wird
der überſchüſſige, nicht an dieſer Zerſetzung teilnehmende kohlenſaure
Kalk gebrannt, d. h. unter Entweichen von Kohlenſäure (CO2) in ge-
brannten Kalk (CaO) verwandelt. Demnach beſteht die gewonnene
Rohſoda aus Soda, Schwefelcalcium und Kalk.


Das Auslaugeverfahren, dem die Rohſoda nunmehr unterworfen
werden muß, hat den Zweck, die lösliche Soda von dem Schwefel-
calcium und Kalk zu trennen. Die beiden letztgenannten Beſtandteile
ſind zwar auch an ſich löslich; ſie haben aber die Eigentümlichkeit,
in Berührung mit Waſſer eine ganz unlösliche Doppelverbindung,
das Calciumoxyſulfid, zu bilden. Dieſer günſtige Umſtand, deſſen Ein-
treten von dem Vorhandenſein einer genügenden Menge Kalk in der
Rohſoda abhängt, ermöglicht die gewünſchte Trennung. Das Auslaugen
ſelbſt erfolgt in einer Reihe terraſſenartig über- und hintereinander
angeordneter Bottiche (ſ. Fig. 452), welche ſiebartig durchlöcherte und
herausnehmbare Einſätze haben, mittels Waſſers von etwa 40° C. Das
[837]Die Sodafabrikation.
Waſſer läuft zuerſt durch den höchſt ſtehenden Bottich, ſättigt ſich hier
zum Teil mit Soda aus der in dem Einſatz befindlichen zerkleinerten
Rohſoda und läuft dann durch einen Heber in den nächſten ein wenig
tiefer liegenden Bottich, wo die Sättigung weiter erfolgt. Iſt nach
einiger Zeit die Rohſoda im oberſten

Figure 443. Fig. 452.

Auslaugeanlage einer Sodafabrik.


Bottich erſchöpft, ſo nimmt man den
Einſatz heraus, beſchickt ihn mit neuer
Maſſe, läßt alle übrigen Einſätze um
je eine Stufe in die Höhe rücken und
ſetzt den neu beſchickten in den auf
dieſe Weiſe frei gewordenen [unterſten] Bottich.
Durch dieſes einfache Verfahren erreicht man,
daß die Rohſoda vollſtändig ausgenutzt wird;
denn durch das beſchriebene Arrangement wird
immer die bereits am meiſten erſchöpfte Roh-
ſoda mit dem kräftigſten Löſungsmittel, nämlich
reinem Waſſer, in Berührung gebracht, während
die weiterhin folgenden, noch gehaltreicheren
Teile mit zum Teil ſchon geſättigter Löſung
überſtrömt werden. Das oben eintretende
Waſſer wird alſo beim Abwärtsrieſeln all-
mählich zu einer Lauge von ſteigender Stärke,
während der Gehalt der in den Einſätzen be-
findlichen Rohſoda nach oben zu ſtufenweiſe ab-
nimmt. Ein gemeinſames Dampfrohr, welches
Zweigleitungen in die einzelnen Bottiche ent-
ſendet, ſorgt dafür, daß die Temperatur auf
der urſprünglichen Höhe bleibt.


Die gewonnene Lauge iſt mehr oder
weniger mit etwas Schwefelnatrium verun-
reinigt, welches die beim Abdampfen erhaltene
Soda durch Bildung von Schwefeleiſen (aus
einem geringen Eiſengehalt der Lauge) bräunt,
ſo daß ſie heute die Konkurrenz mit der ſchönen
weißen, durch das Ammoniakverfahren produ-
zierten Soda nicht aushalten könnte. Daher
verfährt man beim Abdampfen ſo, daß man
eine beſtimmte Konzentration der Lauge ab-
wartet, bei welcher kleine Kryſtalle von einfach
gewäſſerter Soda (Na2CO3 + H2O) nieder zu
fallen beginnen. Dieſe Kryſtalle werden
herausgeſchöpſt (das „Soggen“), getrocknet, nochmals gelöſt und die
ſo erhaltene Löſung entweder zur Kryſtalliſation oder zur Trockenheit
eingedampft. Im erſteren Falle erhält man kryſtalliſierte Soda
(Na2CO3 + 10H2O), im letzteren kalcinierte, d. h. waſſerfreie. Die
[838]Die chemiſche Induſtrie der Säuren und Alkalien.
beim Abdampfen der Rohſodalauge ſich ausſcheidenden Verunreinigungen,
wie Kieſelſäure und Thonerde, entfernt man ſchon vor dem Soggen
durch Dekantieren. Die endlich zurückbleibende Mutterlauge wird auf
Ätznatron verarbeitet.


Da in einem rationellen chemiſchen Fabrikbetrieb womöglich alle
Rückſtände verwertet werden müſſen, ſo geſchieht dies auch mit den in
der Fabrik ſich zu Bergen anhäufenden, durch Schwefelwaſſerſtoff-
entwicklung die Luft verpeſtenden Auslaugerückſtänden der Rohſoda,
welche in der That den wertvollen, aus der Schwefelſäure herſtammenden
Schwefel enthalten. Um ihn, wenigſtens zum großen Teil, wieder-
zugewinnen, werden die Rückſtände in Käſten durchlüftet und von
neuem ausgelaugt. Die Lauge enthält nun verſchiedene Verbindungen
des Schwefels mit Calcium, welche durch Zuſatz von Salzſäure zerſetzt
werden. Der Schwefel ſcheidet ſich als Bodenſatz aus, wird unter
Kalkwaſſer geſchmolzen und zu Stangen geformt.


Das Leblancſche Verfahren iſt weſentlich gefördert worden durch
die zuerſt in England erfolgte Einführung eines Sodaofens mit
rotierendem Herd. Zwiſchen der Feuerung und dem Abzug iſt ein mit
feuerfeſten Steinen ausgefütterter Cylinderherd eingeſetzt, der durch ein
Maſchinenwerk mit beliebiger Geſchwindigkeit gedreht werden kann.
Man umgeht hierdurch das Rühren des Gemenges bei bedeutend
beſchleunigter Arbeit. Der Cylinderofen hat dazu beigetragen, das
Leblancverfahren dem konkurrierenden Ammoniakverfahren gegenüber
zu ſtützen.


2. Darſtellung der Soda nach dem Ammoniakverfahren.

Eine größere Anzahl von Chemikern hat verſucht, den Umſtand,
daß Kochſalz durch doppelt kohlenſaures Ammonium, unter gleichzeitiger
Abſcheidung von Salmiak, in doppelt kohlenſaures Natrium umgewandelt
wird, für die Sodafabrikation auszubeuten. Unter den zahlreichen
Arten, dieſes Prinzip praktiſch zu verwerten, hat aber nur eine wirk-
lichen und großen Erfolg gehabt, nämlich das dem Belgier Solvay
im Jahre 1863 patentierte Verfahren, welches heute in ſo großem
Umfange ausgeübt wird, daß z. B. in Deutſchland heute vier Fünftel
aller erzeugten Soda nach dem Solvayſchen Verfahren dargeſtellt werden;
nur in England hat ſich die Leblancſche Methode noch in größerem
Maße behauptet.


Das Ammoniakverfahren beginnt mit der Herſtellung einer Koch-
ſalzlöſung durch Auflöſen von rohem Steinſalz im Waſſer; in Gegenden,
wo Salzwerke vorhanden ſind, iſt es ſehr lohnend, gleich die rohe
Salzſole anzuwenden. Die geklärte Salzlöſung leitet man in Gefäße
mit durchlöchertem Boden, durch welchen Ammoniakgas von unten her
zugeleitet wird. Die Löſung abſorbiert das Gas unter nicht unbeträcht-
licher Erwärmung und wird deshalb vor der weiteren Verarbeitung ab-
[839]Die Sodafabrikation.
gekühlt. Dann leitet man ſie in die Solvayſchen Cylinderapparate, 12 bis
18 m hohe, ziemlich weite Cylinder von Eiſen, welche eine große Anzahl
übereinander liegender, ſiebartig durchlöcherter, nach unten zu konkav
geſtalteter, metallener Querwände enthalten. Die ammoniakaliſche Salz-
ſole wird durch das Zuſtrömungsrohr etwa der Mitte des Cylinders
zugeführt. Hierauf läßt man durch ein Rohr von unten her Kohlen-
ſäure in den unterſten Teil des Cylinders einſtrömen. Das Gas,
welches einen Druck von 1,5—2 Atmoſphären hat, dringt in ſehr feinen
Bläschen durch die Siebböden in die Höhe und wird lebhaft von der
Flüſſigkeit abſorbiert. Es bildet ſich aus Ammoniak und einem Über-
ſchuß von Kohlenſäure doppelt kohlenſaures Ammonium, welches ſofort
mit dem Kochſalz (Chlornatrium) ſich in doppelt kohlenſaures Natrium
und Salmiak (Chlorammonium) umſetzt. Das letztere Salz iſt leicht
löslich und bleibt daher unverändert in Löſung; das viel ſchwerer
lösliche doppelt kohlenſaure Natrium dagegen ſcheidet ſich als weißes
Pulver aus. Zieht man nach Beendigung der Einwirkung den Inhalt
des Cylinders ab und leitet ihn auf Vakuumfilter, d. h. Filter, deren
Wirkung durch einen luftverdünnten Raum unter ihnen erheblich be-
ſchleunigt wird, ſo bleibt das doppelt kohlenſaure Natrium zurück,
während die Salmiaklöſung durchläuft. Das weiße Pulver wird ein-
mal gewaſchen, dann entweder auf Darren oder in beſonders kon-
ſtruierten Keſſeln getrocknet [und] endlich in eiſernen Behältern ſtärker
erhitzt. Bei dieſer letzteren Operation verliert das Salz Waſſer und
Kohlenſäure, und es bleibt einfach kohlenſaures Natrium, d. h. Soda,
zurück.


Der außerordentlich große Vorteil des Ammoniakverfahrens liegt
einesteils in der Reinheit des erhaltenen Produktes, andererſeits in
dem Umſtande, daß ſämtliche Nebenprodukte direkt wieder ausgenutzt
werden können. Die für den erſten Teil des Verfahrens nötige Kohlen-
ſäure wird zum größten Teil durch das Glühen des erhaltenen doppelt
kohlenſauren Natriums geliefert; ebenſo erhält man das erforderliche
Ammoniak aus der ablaufenden Salmiaklöſung, indem dieſe eingedampft
und mit Kalk erhitzt wird. Wird man erſt imſtande ſein, das bei
dieſem letzten Prozeß ſich bildende Chlorcalcium in genügend gewinn-
bringender Weiſe, beſonders zur Darſtellung von Chlor, zu verwerten,
ſo wird damit der vollſtändige Sieg des Verfahrens über das Leblancſche
entſchieden ſein.


Außer den beiden genannten Methoden, Soda darzuſtellen, exiſtieren
eine Menge anderer Vorſchläge für den gleichen Zweck. Einzig er-
wähnenswert von dieſen iſt eine Methode, deren Rohprodukt der in ge-
waltigen Lagern verbreitete Kryolith, eine Doppelverbindung von Fluor-
natrium und Fluoraluminium, iſt. Durch Glühen dieſes Minerals mit
Kreide im Flammofen und Auslaugen der Schmelze mit Waſſer erhält
man eine Löſung, aus welcher durch Einleiten von Kohlenſäure Thonerde-
hydrat gefällt wird, während Soda gelöſt bleibt. In ähnlicher Weiſe
[840]Die chemiſche Induſtrie der Säuren und Alkalien.
hat man in der Neuzeit ein anderes thonerdehaltiges Mineral, den
Bauxit von Südfrankreich, zu Soda und — als Nebenprodukt — Thonerde
verarbeitet.


e) Die Pottaſchefabrikation.


Die Pottaſche, das der Soda analoge Kaliumſalz, erhält man
zum größeren Teil aus Mineralkörpern, zum kleineren aber auch aus
organiſchen Stoffen. Die erſte Art der Darſtellung, welche von dem
in den ſogenannten „Abraumſalzen“ des Staßfurter Salzlagers vor-
kommenden Carnallit, einem Doppelſalz von Chlorkalium und Chlor-
magneſium, ſowie von dem an mehreren Orten ſtark verbreiteten Sylvin,
reinem Chlorkalium, ausgeht, iſt der Sodadarſtellung aus Kochſalz nach
dem Leblancſchen Verfahren völlig analog und braucht daher hier nicht
mehr erörtert zu werden. Es ſei nur erwähnt, daß man im Carnallit
die beiden Chloride durch Löſen und Kryſtalliſieren trennt, ſowie daß
eine nicht unbedeutende Menge Kaliumſulfat, ſtatt durch den Sulfat-
prozeß aus Sylvin, direkt aus anderen Staßfurter Abraumſalzen, z. B.
dem Kainit, erhalten wird.


Zu den organiſchen Stoffen, aus denen man Pottaſche fabriziert,
gehört in erſter Linie die Holzaſche. Dieſelbe wird mit Waſſer aus-
gelaugt, die gewonnene Löſung eingedampft und im Flammofen kalci-
niert. Durch wiederholtes Auflöſen und Eindampfen des erhaltenen
Produktes wird dieſe „rohe Pottaſche“ raffiniert. Die Fabrikation iſt
gegen früher ſehr zurückgegangen, da man infolge der verbeſſerten
Kommunikationsmittel heute für die Waldhölzer günſtigere Verwendung
hat. Nur einzelne Länder, wie Rußland und Amerika, liefern noch
erhebliche Quantitäten Holzpottaſche.


Die unter dem Namen Melaſſe bekannte Mutterlauge von dem
Kryſtalliſationsprozeß des Rübenzuckers enthält Kaliumkarbonat (Pott-
aſche). Hierauf gründet ſich die Fabrikation der Pottaſche aus Melaſſe.
Letztere wird mit Salzſäure verſetzt und durch Hefenzuſatz in Gährung
gebracht. Der hierdurch gebildete Sprit wird abdeſtilliert, das Zurück-
bleibende eingedampft und verkohlt und die erhaltene Kohle heftig ge-
glüht. Der Rückſtand, das „Salin“, wird gelöſt und die Löſung ein-
gedampft; ſie liefert durch auf einander folgende Partialkryſtalliſationen:
Kaliumſulfat, Soda, Chlorkalium, wiederum Soda, endlich Pottaſche.


Außer aus Holzaſche und Melaſſe hat man auch aus dem Schweiß
der Rohwolle Pottaſche gewonnen. Durch Waſchen der Wolle mit
alkaliſcher Lauge erhält man eine Löſung, deren Eindampfrückſtand
ähnlich wie das Salin weiter verarbeitet wird. —


Wie ſchon in der Einleitung dieſes Abſchnittes erwähnt wurde,
ſind mit den bisher erwähnten chemiſchen Produkten die der Alkali-
induſtrie angehörigen Stoffe von allgemeiner Bedeutung erſchöpft. Die
ſonſtigen Alkaliverbindungen, wie z. B. der Salpeter, das Kochſalz
und die Phosphate dienen ganz beſonderen Zweigen der Technik und
[841]Die Pottaſchefabrikation. — Die Seifenfabrikation.
ihre Bereitung iſt Sache der betreffenden ſpeziellen Kapitel und wird
bei dieſen abgehandelt.


Von den Anwendungen der beſprochenen chemiſchen Produkte ſind
einige ſo umfangreich, daß ſie gleichfalls, wie z. B. die Glasfabrikation
und die Pulverfabrikation, beſondere Abſchnitte beanſpruchen. Nur
eine läßt ſich bequem als direkter Anhang des vorliegenden Kapitels
behandeln; es iſt dies


f) die Seifenfabrikation.


Unter Seifen verſteht man zunächſt die Alkaliſalze der Fettſäuren,
welche durch Einwirkung der ätzenden Alkalien auf die natürlich vor-
kommenden Fette gewonnen werden. Im allgemeinen bezeichnet aber
die Wiſſenſchaft die fettſauren Verbindungen aller Metalloxyde, auch
diejenigen der Schwermetalle, als Seifen. Obgleich die letzteren in
einzelnen Gewerben, ſowie in der Heilkunde Anwendung finden, ſo
intereſſieren uns an dieſer Stelle doch beſonders die erſteren.


Die Fabrikation der Alkaliſeifen iſt ſehr alt. Plinius bezeichnet
ſie als eine galliſche Erfindung und erwähnt bereits harte und weiche
Seife, kennt auch ihre Herſtellung aus Aſche und Talg. Dagegen iſt
es mehr als zweifelhaft, ob noch früher die Seife bekannt war;
höchſt wahrſcheinlich ſind derartige Berichte durch Verwechſelung der
Seife mit anderen, im Altertum zu Reinlichkeitszwecken dienenden Sub-
ſtanzen, wie Pottaſche und Soda, entſtanden.


Die Grundlagen der Seifenfabrikation ſind einerſeits die Fette,
andererſeits die Alkalilaugen. Beide können nicht immer ſo angewandt
werden, wie ſie dem Seifenſieder geliefert werden; beſonders muß er
ſich die Lauge aus Soda und Pottaſche ſelbſt herſtellen. Aber auch
die Fette unterliegen häufig noch beſonderer Vorbereitung.


Von den Fetten iſt eine ganze Anzahl ſchon bei den Leucht-
materialien (auf S. 285 ff.) genauer betrachtet worden, ſo daß ſie hier
übergangen werden können; hierher gehören Talg, Leinöl, Olivenöl
und Harz. Außer ihnen dient zur Seifenfabrikation eine ſehr große
Zahl anderer Fette, deren wichtigſten Palmöl, Kokosnußöl und Knochen-
fett ſind.


Palmöl wird aus den Früchten gewiſſer Palmenarten aus-
geſchmelzt. Früher nur als Seltenheit bekannt, bildet es wegen ſeiner
Anwendung in der Seifenſiederei heute einen ſehr wichtigen Handels-
artikel der weſtafrikaniſchen Küſte. Das den Kern umgebende Fleiſch
der Frucht wird mit Waſſer ausgekocht, worauf ſich das Palmöl als
ein rotgelbes, bei etwa 30° erſtarrendes Fett von Butterkonſiſtenz
obenauf ſammelt und abgeſchöpft wird. Der Farbſtoff des Palmöls
wird von dem Seifenſieder als ein Hindernis betrachtet und daher
durch Bleichen entfernt. Man bleicht entweder mit Chlorkalk oder,
beſſer, durch längeres Schmelzen bei 110 bis 120° C., welches
durch Hochdruckdampf unterhalten wird. Auch wird die Bleichung
[842]Die chemiſche Induſtrie der Säuren und Alkalien.
mittels einer Chromſäurelöſung, ähnlich der zu gewiſſen galvaniſchen
Elementen gebrauchten, als ſchnellſte Art der Entfärbung benutzt. —
Von ähnlicher Abſtammung wie das Palmöl iſt das Illipeöl und die
Galambutter.


Das Kokosnußöl, ein weißes Fett von blättriger Beſchaffenheit
wird aus den Kernen der Kokospalme, alſo beſonders in Oſtindien,
gewonnen. Man preßt es entweder in der Heimat der Pflanze, oder
auch aus den im Handel nach Europa gebrachten Kernen (Copperah)
erſt hier aus.


Die tropiſchen Pflanzenfette ſind ſtets ranzig, d. h. ſie beſtehen
nicht durchweg aus Verbindungen der drei (S. 285) erwähnten Fett-
ſäuren mit Glycerin, ſondern enthalten auch freie Fettſäure.


Die Alkalilaugen ſtellt ſich der Seifenſieder heute ausſchließlich
aus der im Handel befindlichen Soda und Pottaſche dar, während
er früher auf die eigene Darſtellung aus Holzaſche angewieſen war.
In eiſernen Gefäßen wird die auf eine beſtimmte Verdünnung gebrachte
Sodalöſung mit Ätzkalk vermiſcht, tüchtig umgerührt und ſo lange
ſich ſelbſt überlaſſen, bis eine Probe der überſtehenden klaren Flüſſigkeit
mit einer Säure kein Aufbrauſen, alſo keine Spur von Kohlenſäure,
mehr zeigt. Die Kohlenſäure der Soda, reſp. Pottaſche hat ſich mit
dem Kalk als unlöslicher kohlenſaurer Kalk niedergeſchlagen, während
Ätznatron, reſp. Ätzkali in Löſung bleibt. Für das Gelingen der
Operation iſt eine beſtimmte Konzentration der Flüſſigkeit nötig, ſo
daß heute ſchon viele Fabrikanten, um dieſe Schwierigkeit zu umgehen,
ſich ihr Ätznatron in feſter Form direkt aus den Sodafabriken kommen
laſſen und einfach auflöſen.


Ehe wir zur Beſchreibung des nun beginnenden Siedens über-
gehen, iſt eine kurze Betrachtung des chemiſchen Prozeſſes der Seifen-
bildung nötig. Die letztere beruht einfach darauf, daß ſich die Glycerin-
verbindungen der Fettſäuren in Berührung mit Alkali zerſetzen; es
entſtehen die Alkaliverbindungen der Fettſäure, während Glycerin ab-
geſchieden wird. Die erſteren ſetzen die Seife zuſammen [und] zwar
ſind die Kaliſeifen ſtark hygroſkopiſch (weiche Seifen oder Schmierſeifen),
während die Natronſeifen ſchnell feſt und kernig werden (harte Seifen
oder Kernſeifen). Man benutzt daher heute Ätzkalilauge, reſp. Pottaſche
nur noch zur Herſtellung der in viel geringerer Menge gebrauchten
Schmierſeifen, ſo daß der Bedarf an Soda der bei weitem größere iſt.
Früher dagegen machte man alle Seife aus Pottaſche und verwandelte
die erhaltene Kaliſeife erſt durch Zuſatz von Kochſalz (Chlornatrium)
in die kernige Natronſeife; es bildete ſich nebenbei Chlorkalium. Nach
ihrer chemiſchen Zuſammenſetzung erfordern die verſchiedenen Fette ſehr
verſchiedene Mengen Lauge; auch die Konzentration der letzteren iſt
von weſentlichem Einfluß. Die Verſeifung erfolgt nicht ſofort beim
Zuſammenkommen des Fettes mit der Lauge; es bilden ſich zuerſt
Verbindungen des Alkalis mit überſchüſſiger Fettſäure, welche erſt
[843]Die Seifenfabrikation.
allmählich in die normalen fettſauren Alkalien übergehen. Eine eigen-
tümliche Wirkung hat auf die erhaltene gleichartige Miſchung von Seife
mit überſchüſſiger Lauge und Glycerin, den ſogenannten Seifenleim,
das Kochſalz. Schon bei geringem Zuſatz desſelben wird die Seife
als weißliche flockige Maſſe abgeſchieden; ſie wird alſo durch das
Kochſalz unlöslich gemacht. Man kennt kein beſſeres Mittel, um die
Kernſeife aus dem Seifenleim abzuſcheiden, als das „Ausſalzen“ derſelben,
welches daher als ein beſonders wichtiger Akt der Seifenfabrikation
betrachtet werden muß. Es ergiebt ſich hieraus, daß die ſogenannten
Leimſeifen auch nach dem Erſtarren neben der Seife große Mengen
von Waſſer, Alkali und Glycerin enthalten, während Kernſeifen, eben
infolge des Ausſalzens, überwiegend aus reiner Seife beſtehen.


Nach dieſen Erörterungen wollen wir an einem Beiſpiel, der
Herſtellung der Talgkernſeife, die praktiſchen Handgriffe des Seifen-
ſieders näher betrachten.


Das Kochen der Seife, wozu Natronlauge und Talg gebraucht
werden, erfolgt in einem nach unten verjüngten eingemauerten Metall-
keſſel (ſ. Fig. 453), welcher am oberen Ende einen aus hölzernen

Figure 444. Fig. 453.

Seifenkeſſel.


Dauben beſtehenden Aufſatz, den „Sturz“, trägt, um das Überſteigen
der ſchäumenden Maſſe zu verhüten. Zur Heizung verwendet man
freies Feuer oder auch hoch geſpannten Dampf von 150 bis 160° C.
Man kocht das Fett unter allmählichem Zuſatz von ſtarker Lauge, bis
eine herausgeholte Probe des Seifenleims auf Glas klar erſtarrt.
Dann fügt man zum Ausſalzen etwa 12 % Kochſalz hinzu und be-
fördert durch das „Klarſieden“ bei bedecktem Keſſel die vollſtändige Aus-
ſcheidung der Seife. Iſt endlich der Schaum verſchwunden, und ſteigen
nur noch hin und wieder große Blaſen auf (das „Aufpoltern“), ſo hat
[844]Die chemiſche Induſtrie der Säuren und Alkalien.
die Seife körnige Beſchaffenheit und ſondert ſich von der klaren Flüſſig-
keit ab, welche nach kurzer Ruhe durch den unteren Hahn des Keſſels
abgelaſſen wird. Hierauf ſchöpft man die oben befindliche Seifenmaſſe
in Formen von der in Fig. 454 abgebildeten Art. Dieſe beſtehen aus

Figure 445. Fig. 454.

Seifenform.


prismatiſchen auseinander-
nehmbaren Käſten, welche
durch Schrauben zuſammen-
gehalten werden, und in
welchen man die Seife völlig
erſtarren läßt. Nachdem dies
geſchehen iſt, öffnet man die
Form und zerſchneidet den
ganzen, oft ein Kubikmeter
und mehr haltenden ſtarren
Seifenblock mittels geſpannter
dünner Eiſendrähte in Stücke
von der gewünſchten Größe.


Bei den Leimſeifen oder, wie man ſie wegen ihres Gehaltes an
Waſſer, Lauge, Glycerin und beſonderen Zuſätzen nennt, den „gefüllten“
Seifen, fällt das Ausſalzen entweder ganz fort oder die fertige Seife
wird vor dem Erſtarren mit Lauge verdünnt. Man ſiedet ſie gewöhn-
lich mit Kokosöl und ſtarken Laugen, worauf die Verſeifung äußerſt
raſch eintritt; ja man kann dieſe Seifen, zu welchen z. B. die Toilette-
ſeifen gehören, ſogar auf kaltem Wege erhalten, indem man das ge-
ſchmolzene Fett direkt in die Form gießt, unter gutem Umrühren die
Lauge hinzufügt und, wenn die Maſſe dicklich wird, Farbſtoffe und
Parfüms zuſetzt. Beſonders ſtark verbreitet ſind unter den gefüllten
Seifen die aus Gemiſchen der Palmöle mit anderen Fetten gewonnenen,
weil ſie trotz hohen Waſſergehalts recht feſt und trocken ſind. Sie
werden beim Sieden mit allen möglichen Dingen, beſonders mit Stärke,
Kreide, Thon und Waſſerglas verſetzt oder „gefüllt“. Eine der be-
kannteſten dieſer „künſtlichen Kernſeifen“ iſt die nach ihrem erſten Her-
ſtellungsorte benannte Eſchweger Seife, welche beim Sieden ausgeſalzen
und, um ihr den hohen Waſſergehalt mitzuteilen, mit verdünnter Lauge
und Salzwaſſer „gefüllt“ wird.


Alle gefüllten oder, wie man die etwas weniger waſſerreichen
unter ihnen nennt, geſchliffenen Seifen erſtarren in der Form nicht,
wie die Kernſeife, zu einer gleichmäßigen, weißlich gelben Maſſe, ſondern
es ſcheidet ſich bei ihnen die Seife der feſten Fette (Palmitin- und
Stearinſäure) von der der flüſſigen (Oleinſäure). Die erſtere ſondert
ſich in zarten Kryſtallen aus, während die Oleinſeife die vorhandenen
färbenden Verunreinigungen einſchließt. Auf dieſe Weiſe, welche der
Fabrikant Kern- und Flußbildung nennt, entſteht eine eigentümliche
Marmorierung der Seife, welche durch Zuſatz färbender Stoffe, wie
Eiſenvitriol, Bolus und anderer, bedeutend verſtärkt werden kann. Dies
[845]Die Seifenfabrikation.
geſchieht in der That, ja auch die Kernſeife wird häufig durch Zuſätze
nnd regelmäßiges Aufrühren der in der Form befindlichen erſtarrenden
Maſſe „gemandelt“; ſie zeigt dann dunkle Flecke auf hellem Grunde.


Die Schmierſeifen werden allgemein aus Leinöl, Brennöl, Thran
mit Kalilauge hergeſtellt. Indeſſen fügt man ſtets ein wenig Natron-
lauge zu, weil die erhaltene Seife dadurch, bei gleich hohem Waſſer-
gehalt, weniger flüſſig wird, als ohne Natronzuſatz. Man kocht zuerſt
mit ſchwacher, dann mit ſtärkerer Lauge; auch hierbei wird mit ver-
ſchiedenen Füllungen gearbeitet. Häufig ſetzt man auch beim Sieden
Harz (Kolophonium) zu, oder man vermiſcht die fertige Seife mit be-
ſonders gekochter Harzſeife. Die Schmierſeifen ſind ſtark und un-
angenehm riechende weiche Maſſen von dunkler, grüner bis ſchwarz-
brauner Farbe, welche gegen 50 % Waſſer enthalten.


Außer den ſchon oben erwähnten Toiletteſeifen, gefüllten oder nur
geſchliffenen Seifen mit Parfümzuſatz, fabriziert man einige beſondere
Arten. Hierzu gehören die transparenten Seifen, z. B. die Glycerinſeife,
die man durch Löſen der Kernſeife in Glycerin und Erſtarrenlaſſen erhält;
die Bimsſteinſeife, welche Bimsſteinpulver enthält; die Mandelſeife, aus
Palmöl und Talg unter Zuſatz von Nitrobenzol (Eau de Mirban) ge-
wonnen; endlich die durch ihre Reinheit berühmte Marſeiller Seife,
welche aus minderwertigen Sorten Olivenöl mit Natronlauge fabriziert
und durch ſehr geringen Zuſatz von Eiſenvitriol marmoriert wird. Die
letztere Wirkung erklärt ſich daraus, daß ſich durch den geringen Ge-
halt der Soda an Schwefelnatrium ſchwarzes Schwefeleiſen bildet,
welches die gewünſchte dunkle Äderung hervorruft.


2. Die Fabrikation und Verarbeitung des Glaſes.


Allgemeines.


Die Erzählung, daß phöniziſche auf der Reiſe begriffene Kauf-
leute, indem ſie ihre Kochgeſchirre auf Sodaſtücken, mit denen ſie
handelten, erhitzten, ein Zuſammenfließen der Soda mit dem Sande
des Bodens beobachteten und ſo die Erfinder des Glaſes wurden,
beruht auf einem Irrtum, da freies Feuer ganz unmöglich das Flüſſig-
werden des Glaſes bewirken kann. Dennoch iſt die Erfindung der Glas-
macherkunſt zweifellos in die älteſten Zeiten zu verſetzen. Wir haben
beſtimmte Nachrichten, daß in Sidon und Alexandria Glashütten
exiſtierten, in welchen man das Produkt nicht nur einfach herſtellte,
ſondern auch zu ſchleifen, zu färben und zu vergolden verſtand. Trotz alle-
dem war das Glas im Altertum ein verhältnismäßig koſtbarer Gegen-
ſtand, der vom alltäglichen Gebrauche ausgeſchloſſen war. Im Mittelalter
ſcheint die Glasfabrikation zunächſt nach Venedig verpflanzt worden zu
[846]Die Fabrikation und Verarbeitung des Glaſes.
ſein, wo die Hütten auf der Inſel Murano, noch heute wegen ihrer Fabri-
kate hoch geſchätzt, bald weit berühmt wurden. Böhmen, Frankreich
und England folgten zunächſt nach, bis gegen Ende des Mittelalters
das Glas allgemein verbreitet war. Scheiben von Glas, ſchon in
Pompeji gefunden, haben erſt viele Jahrhunderte ſpäter allgemeine
Verwendung erlangt; ſie erſcheinen z. B. erſt gegen 1200 in England,
um 1450 in Wien. Die erſten großen Hütten, wie wir ſie noch heute
haben, ſind erſt im 16. Jahrhundert errichtet worden.


Glas im allgemeinſten Sinne wird durch Zuſammenſchmelzen von
Kieſelerde mit Metalloxyden, wie Kali, Natron, Kalk, Magneſia, Baryt,
Bleioxyd, Zinnoxyd, Eiſenoxydul, Manganoxydul, Thonerde, erhalten.
Beim Abkühlen erſtarrt die Schmelze zu einer durchſichtigen Maſſe
von verſchiedener Färbung, welche große Härte beſitzt und dem zer-
ſtörenden Einfluße der Luft, des Waſſers, ſowie vieler chemiſchen Rea-
gentien in hohem Grade widerſteht. Infolge dieſer Eigenſchaften, denen
nur Sprödigkeit und Zerbrechlichkeit als unangenehme Beigaben gegen-
überſtehen, iſt das Glas ſowohl für das praktiſche Leben, wie für
die Wiſſenſchaft gewiſſermaßen unerſetzbar. Ja, man muß bei einiger
Überlegung erkennen, daß einzelne Wiſſenſchaften, wie z. B. die Phyſik,
die Chemie und ganz beſonders die Aſtronomie ohne das Glas ſich
nicht bis zu ihrem heutigen Standpunkte hätten entwickeln können.


Das Glas ſtellt eine Verbindung von Salznatur dar. Die Kieſel-
erde, eine Verbindung des Elementes Silicium mit Sauerſtoff, kann
auf Umwegen zur chemiſchen Aufnahme von Waſſer gezwungen werden;
es entſteht dadurch eine Säure, die Kieſelſäure, deren Waſſerſtoff, wie
der anderer Säuren, durch Metalle erſetzbar iſt und hierdurch Salze,
die Silikate, liefert. Die letzteren entſtehen einfacher durch Zuſammen-
ſchmelzen der Oxyde mit Kieſelerde. Da die Kieſelſäure, welche ſonſt
bei gewöhnlicher Temperatur chemiſch ſehr unwirkſam und ſchwach iſt,
in der Glühhitze, wegen ihrer Feuerbeſtändigkeit, eine ſehr ſtarke Säure
darſtellt, ſo treibt ſie bei hoher Temperatur andere ſonſt ſtärkere Säuren,
wegen deren flüchtiger Natur, leicht aus ihren Verbindungen aus und
vereinigt ſich mit den freigewordenen Metalloxyden. Weſentlich für
das Glas, ein künſtlich erhaltenes Silikat, iſt die nicht kryſtalliniſche
Beſchaffenheit, der amorphe Zuſtand; durch ihn unterſcheidet ſich eben
das Glas von den äußerſt zahlreich als Mineralien vorkommenden
natürlichen Silikaten.


Um dem Glaſe die charakteriſtiſchen ſchätzenswerten Eigenſchaften mit-
zuteilen, muß es kieſelſaure Verbindungen ganz beſtimmter Metalloxyde
enthalten. Die Silikate der Alkalien ſind zwar leicht flüſſig, aber in
heißem Waſſer löslich (Waſſerglas) und daher als Glas unbrauchbar.
Auch die Erdſilikate, beſonders das Kalkſilikat, ſind leicht angreifbar;
am beſtändigſten, aber ſehr ſchwer ſchmelzbar, iſt die kieſelſaure Thon-
erde. Die letztere hat zudem eine Eigenſchaft, welche ſie von den
anderen Silikaten weſentlich unterſcheidet; ſie nimmt nämlich leicht
[847]Allgemeines.
kryſtalliniſche Beſchaffenheit an, iſt daher auch zur Glasfabrikation an
ſich nicht brauchbar. Nun hat aber die Erfahrung gezeigt, daß man
durch Miſchen der bisher genannten Silikate eine Maſſe erhält, welche
die ſchädlichen Eigenſchaften der einzelnen Verbindungen, nämlich einer-
ſeits leichte Angreifbarkeit, andererſeits Neigung zum Kryſtalliſieren,
ſo gut wie gar nicht mehr zeigt, während wiederum ſich in ihr die
charakteriſtiſchen Eigenſchaften der Einzelſilikate treu abſpiegeln. Während
alſo in den unter dem Namen Glas bekannten mehrfachen Silikaten
die Kieſelſäure konſtanter Beſtandteil iſt, beſtimmen die angewendeten
Metalloxyde die Eigenſchaften des Glaſes. So giebt z. B. Natron
hohen Glanz, ſchwach grünliche Färbung, Kali ſchwachen Glanz und
Farbloſigkeit; beide Gläſer ſind leichtflüſſig. Kalk erzielt härteres und
glänzenderes Glas von geringerer Leichtflüſſigkeit, als die Alkalien,
Thonerde ſehr ſtrengflüſſiges Glas. Bleioxyd und — in geringerem
Grade — Baryt geben ſehr weiche, d. h. gut ſchleifbare, leichtflüſſige,
farbloſe, glänzende Glasſorten, die ſich durch beſonders ſtarkes Licht-
brechungsvermögen auszeichnen und daher für optiſche Inſtrumente
verwendet werden. Die anderen Metalloxyde, welche man ſtets nur
in kleinſter Menge gebraucht, wirken hauptſächlich auf die Farbe des
Glaſes; ſo gebraucht man z. B. das Manganoxyd, weil es die geringe
Farbe der gemeinen Glasſorten abſchwächt oder auch ganz aufhebt.
Je nach der Beſtimmung des zu fabrizierenden Glaſes wird man die
einzelnen Materialien abwägen und nach Qualität und Quantität ver-
wenden. So erhält man die verſchiedenen Glasſätze, deren Zuſammen-
ſetzung nicht im entfernteſten theoretiſch-chemiſchen Grundſätzen ent-
ſpricht, ſondern lediglich auf der Erfahrung beruht. Nur das hat ſich,
hinſichtlich der Flüſſigkeit des Glaſes, als allgemein richtig heraus-
geſtellt, daß ein ſteigender Überſchuß von Kieſelerde das Glas ſchwer
flüſſig bis zur Zähigkeit macht, während Zuſatz von Metalloxyden
dieſe Eigenſchaft ſtufenweiſe verringert. Daher nennen die Glasmacher
auch die in Form von Salzen zugeſetzten Metalloxyde ſchlechtweg
Flußmittel; dieſe Materialien erleichtern ihnen die Arbeit und helfen
Brennſtoff erſparen. Sie wiſſen aber auch ſehr genau, daß ein zu
großer Zuſatz der Flußmittel die Angreifbarkeit des Fabrikates weſentlich
vermehrt; die Notwendigkeit, auf der einen Seite zu ſparen, auf der
anderen für die Güte des Glaſes beſorgt zu ſein, lehrt den Glas-
macher, bei der Zuſammenſetzung des Satzes die richtige Mitte zu halten.


Setzt man Glas von einer Durchſchnittszuſammenſetzung dem
ſtärkſten Ofenfeuer aus, ſo wird es ziemlich dünnflüſſig, ſo daß ſich
Verunreinigungen gut abſetzen und man es leicht gießen kann. Bei
geringerer Hitze, etwa ſtarker Rotglut, bildet das Glas dagegen eine
zähflüſſige Maſſe, die ſich beſonders gut ziehen, formen und aufblaſen
läßt; auch laſſen ſich verſchiedene Stücke durch Aneinanderdrücken gut
zu einem einzigen vereinigen. Jedes Glas hat im geſchmolzenen Zu-
ſtande die — wenn auch nur geringe — Neigung zum Kryſtalliſieren.
[848]Die Fabrikation und Verarbeitung des Glaſes.
Beim Erkalten kann dieſem Beſtreben, bei dem ſchnellen Übergang
in den erwähnten zähflüſſigen Zuſtand, nicht genügt werden und die
Moleküle ſind alſo gezwungen, entgegen ihrem natürlichen Drange, in
derjenigen Lage zu verbleiben, in welche ſie beim Verarbeiten gerieten,
in einem Zuſtand, den wir eben den amorphen nennen. Es iſt klar,
daß dieſe Zwangslage bei jedem Glaſe vorhanden iſt, daß ſie aber
einen beſonders hohen Grad bei raſcher Abkühlung erreichen wird.
Daher kommt es, daß der Spannungszuſtand, welcher allen Glasſorten
eigen iſt, bei genügend ſchneller Kühlung ein ſo hoher werden kann, daß
ſchon die geringſte äußere Urſache genügt, um den Molekularverband
der erkalteten Maſſe völlig zu zerſprengen (Glasthränen). Selbſtver-
ſtändlich wird die Sprödigkeit auch von der Dicke der ſich abkühlenden
Glasmaſſe abhängen und mit dieſer ſteigen. Durch dieſe Verhältniſſe
iſt man gezwungen, die eben fertig gewordenen Glaswaren in einen
beſonderen, nicht bis zur Schmelztemperatur geheizten Ofen, den Kühl-
ofen, zu bringen und ſie in und mit dieſem ſo langſam wie irgend
möglich erkalten zu laſſen. Wenn hierdurch die molekulare Spannung
des Glaſes auch nicht vollſtändig aufgehoben wird, ſo wird ſie doch
erheblich genug vermindert, um bei einiger Vorſicht beim Gebrauch ſich
nicht mehr fühlbar zu machen. Schläge, Stöße und jäher Temperatur-
wechſel wirken dann nur noch mäßig.


Da durch ſehr langſames Abkühlen des erhitzten Glaſes das
Kryſtalliſieren desſelben bis zu einem gewiſſen Grade begünſtigt wird,
ſo kann durch Übertreibung dieſer Maßregel in der That der amorphe
Zuſtand zum großen Teil verſchwinden, um dem kryſtalliniſchen Platz
zu machen. Das Anſehen ſolcher „entglaſten“ Stücke iſt ſehr eigen-
tümlich; ſie erſcheinen rauh oder doch glanzlos, ihr Bruch faſerig.
Vielleicht wirkt indeſſen entglaſend nicht allein das Kryſtalliſations-
beſtreben, ſondern auch ein Verluſt an Alkali oder eine Trennung der ein-
zelnen Silikate des Glaſes von einander. Das Entglaſen zeigt ſich nicht
ſelten beim wiederholten Erhitzen der verarbeiteten Stücke; ſie erſcheinen
dann matt, werden aber gegen Temperaturwechſel ſehr unempfindlich.


Hinſichtlich ihrer Verwendung teilt man die Gläſer in mehrere
Gruppen ein, welche in ihrer chemiſchen Zuſammenſetzung erheblich von
einander abweichen. Die wichtigſten ſind:


1. Das Hohlglas, welches zu Gläſern, Flaſchen und ähnlichen
Waren verarbeitet wird. Es iſt, je nach ſeiner Verwendung, verſchieden
durchſichtig und zerfällt in grünes, halbweißes und weißes Hohlglas.
Der Satz beſteht aus Kieſelerde, Kali, Natron, Kalk und bei den
ſchlechteren Sorten noch aus Thonerde und Eiſenoxydul.


2. Das Hartglas. Sein Satz iſt der des halbweißen Hohlglaſes;
es iſt aber durch große Widerſtandsfähigkeit ausgezeichnet und wird
beſonders zu Lampencylindern und Kochgefäßen verarbeitet.


3. Das Fenſterglas, deſſen Satz in ſeiner Zuſammenſetzung dem
des halbweißen Hohlglaſes ſehr nahe kommt.


[849]Allgemeines.

4. Das Spiegelglas, von ähnlichem Satz wie das Fenſterglas.
Man ſieht aber auf große Reinheit der Materialien und völlige, durch
entfärbende Zuſätze bedingte Farbloſigkeit und Klarheit.


5. Das Kryſtallglas, deſſen Satz Kieſelerde, Kali und Bleioxyd
enthält. Man verwendet es zu gepreßten und geſchliffenen Gefäßen,
Tellern und dergleichen.


6. Das Flintglas, deſſen Satz von dem des Kryſtallglaſes durch
viel höheren Bleigehalt, oft auch durch geringen Gehalt an Borſäure
abweicht.


7. Der Straß, ein Kalibleiſilikat, deſſen Bleigehalt 50 % über-
ſteigt und welches zum Nachahmen der Edelſteine benutzt wird. Man
färbt es verſchiedenartig durch Zuſatz von Metalloxyden und gebraucht
ähnliche Silikate von beſonders großer Leichtflüſſigkeit in der Glas-
und Porzellanmalerei.


8. Der Schmelz (Email) von ähnlicher Zuſammenſetzung, aber
durch Zuſatz von Zinnoxyd oder Antimonoxyd undurchſichtig gemacht. —


Die Rohmaterialien der Glasfabrikation können nur in wenigen
Fällen, bei denen es auf die Höhe der Koſten nicht ankommt, rein er-
halten und angewendet worden. Im übrigen gebraucht man dieſelben
in dem gewöhnlichen unreinen Zuſtande und überläßt es dem Schmelz-
prozeß, die Verunreinigungen zu beſeitigen.


Die Kieſelerde wird bei guten Gläſern in Form von Bergkryſtall,
reinem Quarzſand, Feuerſtein und anderen eiſenfreien Quarzſorten an-
gewendet. Größere Stücke werden glühend in Waſſer abgelöſcht und
dadurch ſo mürbe, daß man ſie leicht pulvern kann. Häufig wird auch
die Kieſelerde einem Vorglühprozeß unterworfen, um alle organiſchen
Verunreinigungen zu beſeitigen. Eiſengehalt ſchadet der Farbe des
Glaſes und iſt vorſichtig zu vermeiden. Nicht ganz ſo ſchlimm iſt ein
nicht zu bedeutender Thongehalt, welcher höchſtens die Flüſſigkeit ver-
mindert. Für gemeine Gläſer gebraucht man zerkleinerten Feldſpat,
Baſalt, Granit und Lehm.


Das Kali benutzt man als Pottaſche von verſchiedener Reinheit,
in ſehr holzreichen Gegenden nimmt man auch wohl Holzaſche, natürlich
nur bei gewöhnlichen Gläſern.


Das Natron kann als gereinigte Soda oder auch in Form von
Natriumſulfat (Glauberſalz) in den Glasſatz gebracht werden. Im
letzteren Falle iſt aber, weil die Schwefelſäure des Glauberſalzes nicht
ganz leicht durch die Kieſelſäure ausgetrieben wird, ein Zuſatz von Kohle
nötig, durch welche das Glauberſalz zu leicht zerſetzbarem ſchwefligſaurem
Natrium reduziert wird. Da die Kohle aber ſtark dunkelfärbend auf das
Glas wirkt, ſo darf der Zuſatz unter keinen Umſtänden die zur Reduktion
nötige Menge, etwa 9 % des Glauberſalzes, überſchreiten.


Der Kalk kann zwar als ungebrannter Kalkſtein oder Kreide an-
gewendet werden; man zieht aber gebrannten, an der Luft zerfallenen
Kalkſtein vor, weil er feiner iſt und weniger Kohlenſäure entwickelt. Ein
Das Buch der Erfindungen. 54
[850]Die Fabrikation und Verarbeitung des Glaſes.
größerer Überſchuß des Kalks greift die Schmelzgefäße erheblich an
und iſt daher zu vermeiden.


Das Blei der bleihaltigen Gläſer wird dem Glasſatz als Bleiglätte
(Bleioxyd) oder als Mennige zugefügt. Die letztere zieht man vor,
da ſie einmal feiner iſt und dann während des Schmelzens in Blei-
oxyd und Sauerſtoff zerfällt, welcher als Reinigungsmittel ſehr will-
kommen iſt. Da die Oxyde des Bleis ſehr häufig mit anderen Metallen
verunreinigt ſind, welche ſchädlich auf den Glasſatz wirken, ſo ſtellt man
ſie für die Fabrikation feiner Glasſorten durch Glühen von reinem Blei
in Flammöfen beſonders dar. Die bleihaltigen Gläſer dürfen kein
Natron enthalten, weil dieſes eine bläuliche Farbe hervorruft.


Die Entfärbungsmittel ſind nötig, um bei den feineren Gläſern
die unvermeidliche, beſonders durch Gehalt an Kohle und Eiſenoxydul-
verbindungen bedingte Färbung des Fluſſes zu beſeitigen. Sie wirken
ausnahmslos durch ihre oxydierenden Eigenſchaften, indem ſie die Kohle in
Kohlenoxyd, das grüne Eiſenoxydulſilikat in farbloſes Eiſenoxydſilikat
verwandeln. Man benutzt beſonders Arſenikmehl, Braunſtein und Sal-
peter. Ein Überſchuß von Braunſtein iſt aber zu vermeiden, weil der-
ſelbe violettes Glas erzeugt. Vortrefflich ſind ſolche Entfärbungsmittel,
welche die ſchädliche Farbe durch ihre eigene verdecken.


Als letzter Beſtandteil der Glasſätze ſind endlich Glasbrocken zu
nennen, welche man zu etwa einem Drittel anwendet. Sie befördern
den Fluß erheblich und müſſen ſehr ſorgfältig ſortiert werden, da ſelbſt
kleine Zuſätze minderwertiger Brocken einen guten Glasſatz ſtark ſchädigen
können. Die Glasbrocken beſtehen zum Teil aus dem eignen Abfall
der Hütte, zum Teil werden ſie außerhalb derſelben aufgekauft und
dann ſortiert.


Man ſchmelzt den Glasſatz meiſt in ſogenannten Glashäfen, erſt
in der neueren Zeit iſt in einzelnen größeren Hütten an Stelle der
einzelnen, in einem Ofen ſtehenden Häfen eine gemeinſame Glaswanne
getreten, welche aber eine beſondere, ſpäter näher zu beſchreibende
Feuerungsanlage erfordert. Die Glashäfen zeigen gewöhnlich die Form
eines abgekürzten Kegels; bei einer Höhe von 70 cm müſſen ſie eine
durchgängige Dicke von 8 cm haben. Noch größere Dimenſionen wendet
man für Flaſchenglas und Spiegelglas an. Das Material der Häfen
iſt der beſte feuerfeſte Thon; derſelbe wird bis zu einem Drittel mit
gebranntem und nachträglich wieder gepulvertem Thon (Chamotte) ver-
miſcht und aus der erhaltenen Maſſe die Häfen in hölzernen Formen
hergeſtellt. Beim Einkneten wird die Thonmaſſe durch Schlagen möglichſt
dicht gemacht und nach dem Auseinandernehmen der Form der feuchte
Hafen mehrere Monate hindurch an der Luft getrocknet. Vor dem
Einſetzen in den Glasofen wird er nun erſt bei ſehr langſam ſteigender
Wärme in einem Nebenofen der Hütte, dem „Temperofen“ allmählich
bis zum Glühen erhitzt und dann in den eigentlichen Ofen eingefahren
Die ſo behandelten neuen Häfen würden, ſofort mit Glasſatz beſchickt,
[851]Allgemeines.
durch die freien Alkalien des letzteren mit Heftigkeit angegriffen und
ſchnell zerfreſſen werden. Um dies zu verhindern, werden die Häfen
zuvörderſt mit Glasbrocken beſchickt; die geſchmolzene Maſſe dringt einige
Millimeter tief in den Thon ein und bildet mit ihm eine dünne Schicht
ſehr ſchwer ſchmelzbaren Glaſes, welches nun weiterhin die Hafenmaſſe
wie eine Glaſur vor den freien Alkalien ſchützt. Dieſe Operation nennen
die Glasmacher das Einglaſieren der Häfen. Bei der bedeutenden
Größe der Glashäfen iſt es aber außerdem nötig, den ſtarken Temperatur-
wechſel, welchem dieſelben beim Eintragen von mehreren Centnern kalten
Glasſatzes unterliegen würden, zu umgehen, um ein Reißen der Thon-
maſſe zu verhindern. Man erhitzt daher den Satz vorgängig in einem
anderen ſeitlichen Ofen und trägt ihn erſt rotglühend in die Häfen
ein. — Gute Glashäfen können längere Zeit gebraucht werden; die
Dauer hängt von der Beſchaffenheit des Thons und der Güte der
Arbeit ab. Die deutſchen Häfen halten in der Regel bis zu ſechs
Wochen; einige engliſche Sorten ſollen ein Alter von gegen ſechs
Monaten erreichen.


Die Glasöfen haben nicht nur den Zweck, die Teile des Glas-
ſatzes durch ſtarke Erhitzung chemiſch zu verbinden, ſondern ſie ſollen
auch genügende Hitze liefern, um das fertige Glas bei ſeiner weiteren
Verarbeitung auf der nötigen hohen Temperatur zu erhalten. Schon
der letztere Zweck allein würde notwendig einen Flammofen erheiſchen;
aber auch der Umſtand, daß eine unmittelbare Berührung der Glas-
häfen mit dem Brennmaterial Verunreinigungen der Glasmaſſe hervor-
rufen würde, bedingt eine ſolche Konſtruktion. Der Feuerungsraum
und der Arbeitsraum der Gasöfen ſind deshalb von einander getrennt.
Um Verluſte an Hitze möglichſt zu vermeiden, ſind die Öfen gewöhn-
lich mit niedriger, kuppelförmiger Decke konſtruiert und die Häfen ſtehen
in ſymmetriſch geordneten Gruppen auf Bänken, unterhalb deren die
Flamme der Feuerung Zutritt hat. Bei der hohen Temperatur, welche
die Öfen auszuhalten haben, iſt ihre Herſtellung mit Schwierigkeiten
verknüpft. Der Hauptgrund des Zerfalls der Öfen liegt aber in dem
Umſtande, daß ſich erhebliche Mengen von Alkalien während des
Schmelzprozeſſes verflüchtigen und die
Wände des Ofens raſch zerfreſſen; das
gebildete Thonſilikat trieft fortwährend
herunter, ſo daß man bei feineren Glas-
ſorten auf die fallenden zähen Tropfen
durch beſondere Konſtruktion der Ofen-
wand und geeignete Stellung der Häfen
Rückſicht nehmen muß (ſ. Fig. 455, in
welcher die Tropfen des Thonglaſes nur
den Rand, nicht aber das Innere des
Hafens treffen können). Der ſchnelle Zer-
fall der Wände bewirkt, daß die Glasöfen

Figure 446. Fig. 455.

Stellung eines Glashafens im Ofen.


54*
[852]Die Fabrikation und Verarbeitung des Glaſes.
nur eine verhältnismäßig kurze Dauer haben können. Die engliſchen
Öfen für leichtflüſſiges Glas werden bei vorzüglichem Baumaterial bis
zu vier Jahren alt, während die deutſchen für gewöhnliches (ſchwerer
ſchmelzbares) Glas höchſtens 18 Monate aushalten.


Bei den Glasöfen liegen der Feuerungsraum und der Schmelz-
raum übereinander. Die Roſte, deren mindeſtens zwei gegenüber-
liegende vorhanden ſind, empfangen den Brennſtoff; die entwickelten
Flammen ſchlagen durch eine gemeinſame, in der Mitte des Ofens
liegende, längliche Öffnung, die Pipe, hinauf in die Mitte des
Feuerungsraums. An jeder Längsſeite der Pipe ſtehen auf einem
Geſims, der Bank, die Glashäfen in einer Reihe von 2 bis 4 Stück
(Fig. 456). Die Flamme trifft die Häfen zunächſt von der Seite, dann

Figure 447. Fig. 456.

Grundriß eines Glasofens für Holzfeuerung.


aber auch, indem ſie ſich an dem niedrigen Kuppelgewölbe des Ofens
bricht, von oben her, um endlich durch ſeitwärts angebrachte Öffnungen
in nebenliegende Öfen zu entweichen, welche zum Vorwärmen, Kühlen
der fertigen Glaswaren, Trocknen ꝛc. dienen, ohne beſondere Heizung
zu erfordern. Beim Errichten der Öfen iſt beſonders darauf zu ſehen,
daß das Fundament möglichſt trocken liegt und Kanäle zum Abzug
der Feuchtigkeit erhält. Darüber baut man den Ofen aus eiſen- und
kalkfreiem Thon, den man — ganz wie bei dem Bau der Häfen —
mit gepulverter Schamotte (vgl. S. 275), außerdem aber mit reinem Sand
mengt. Am haltbarſten ſind die Öfen, die man mit noch feuchten, aus dem
erwähnten Baumaterial bereiteten Steinen konſtruiert. Die letzteren
werden einfach auf einander gelegt und kräftig angedrückt, wo dann
ein Bindematerial ganz unnötig wird und der ganze Ofen wie aus
einem Stück geknetet erſcheint. Der Bau erfordert aber eine ſehr lange
[853]Allgemeines.
Trockenzeit, wenn nicht Riſſe infolge ungleicher Zuſammenziehung der
Thonmaſſe entſtehen ſollen. Erſt nach einem halben Jahre darf man
das Trocknen durch ſehr ſchwaches Feuer unterſtützen, bis man nach
weiteren zwei Monaten die Hitze allmählich bis auf die Schmelz-
temperatur des Glaſes ſteigert. Bedeutend ſchneller wird der Bau ge-
fördert, wenn man aus dem Thonmaterial lufttrockene oder gebrannte
Steine fertigt und dieſe verwendet. In dieſem Falle iſt jedoch als
Bindematerial ein Mörtel von Thonbrei nötig, ſo daß, ſelbſt bei lang-
ſamem Trocknen, das Schwinden nicht ganz gleichmäßig erfolgt und
die entſtehenden Fugen und Riſſe ſorgfältig nachgebeſſert werden müſſen.
Ein neuer Ofen erzielt trotz beſter Feuerung in den erſten Wochen
noch nicht die volle Schmelztemperatur, ſo daß man die Häfen zuerſt nur
mit Glasbrocken, ſpäter mit leichtflüſſigem Satze und erſt nach einiger
Zeit mit Sätzen von beliebiger Zuſammenſetzung beſchicken darf. Eine
ähnliche Abſchwächung der Wirkung zeigt ſich gegen Ende der „Cam-
pagne“, wie der Glasmacher die Geſamtarbeitsdauer des Ofens nennt.


Das Feuerungsmaterial der gewöhnlichen Glasöfen iſt entweder
gut getrocknetes, lang geſpaltenes Holz, welches früher ausſchließlich
gebraucht wurde, oder Torf oder endlich Steinkohle. Man trocknet
(darrt) das Holz im Vorwärmofen bis zum Bräunlichwerden; nur
dann iſt man ſicher, eine intenſive Schmelzhitze zu erzielen. Der Torf
muß wenig Aſche geben und durchaus trocken ſein. Die beſonders in
England und Frankreich angewendete Steinkohle darf nicht backend
ſein, um Verſtopfungen der Roſte zu vermeiden.


Sowie in anderen Zweigen der Technik, wo es auf Entwicklung
bedeutender Hitzegrade ankommt, hat man auch im Glashüttenbetriebe
die Generatorfeuerung eingeführt und mit derſelben große Erfolge er-
zielt. Hinſichtlich der ſpeziellen Konſtruktion dieſer Gasfeuerungs-
anlagen muß hier auf die in dem Abſchnitt „Beleuchtung und Heizung“
(S. 299) gegebene Beſchreibung verwieſen werden. Bei der Generator-
feuerung kann man aber wegen ihrer bedeutenden Wärmeentwicklung
die Glashäfen durch eine einzige Wanne erſetzen. Bei dem Siemens-
ſchen Wannenofen zerfällt die Wanne in drei Abteilungen; in der erſten
wird der eingetragene Satz geſchmolzen, in der zweiten geläutert, in
der dritten zur Verarbeitung geſchöpft. Der größte Vorteil der Gas-
öfen liegt aber einmal in der Möglichkeit, allerhand ſchlechte Feuerungs-
abfälle zur Gasproduktion zu verwenden, und dann in dem Umſtande,
daß Materialien, wie Feldſpat, Granit und andere, die im gewöhn-
lichen Ofenfeuer kaum flüſſig werden, auf ordinäres Glas verſchmelzt
werden können.


a) Das Hohlglas.


Unter dieſer Bezeichnung vereinigt man Glasſorten von den ver-
ſchiedenſten Graden der Feinheit, deren Bearbeitungsart aber, inſofern
aus ihnen hohle Geräte aller Art, wie Gläſer, Flaſchen, Cylinder,
[854]Die Fabrikation und Verarbeitung des Glaſes.
Glasröhren und chemiſche Geräte gefertigt werden, im weſentlichen über-
einſtimmend iſt.


Der Hohlglasofen iſt an ſeinen vier Ecken mit je einem Neben-
ofen verbunden; von dieſen vier Öfen dienen zwei als Temperöfen,
d. h. zum Vorwärmen der neuen Häfen und des Satzes, die beiden
anderen als Kühlöfen für die gefertigten Glaswaren. In dem Kuppel-
gewölbe des Ofens befindet ſich dicht über dem Rande eines jeden
Hafens ein verſchließbares Arbeitsloch, durch welches der Arbeiter zu
dem geſchmolzenen Glaſe im Hafen gelangen kann. Unter jedem
Arbeitsloch, in gleicher Höhe mit der Sohle der Häfen, liegt ein Auf-
brechloch, durch welches man die auszufahrenden, ſchadhaft gewordenen
Häfen, wenn ſie auf den Bänken feſtbacken, losbrechen kann. Für das
Ein- und Ausfahren der Häfen ſelbſt ſind zwei ſogenannte Hafenthore
frei gelaſſen, welche für gewöhnlich vermauert ſind und nur bei der
Benutzung aufgebrochen werden. Die Kuppel des Ofens iſt mit
Sand bedeckt und dieſer mit einem Gewölbe aus gewöhnlichen Ziegeln
übermauert.


Sobald die im Temperofen vorgewärmten neuen Häfen glühend
geworden ſind, werden ſie in den Ofen eingefahren, die Hafenthore
vermauert und die Hitze geſteigert, bis die Schmelztemperatur erreicht
iſt. Sodann trägt man mittels Schaufeln durch die Arbeitslöcher den
kaleinierten Satz zuerſt zu einem Drittel ein und fügt das übrige
hinzu, ſobald das eingetragene niedergeſchmolzen iſt. Nun ſetzt man
die Arbeitslöcher zu und ſchürt ſtärker. Endlich zieht man mittels
eines unten abgeplatteten Eiſenſtabes, des Randkolbens, eine Probe
aus den Häfen und unterſucht, ob die Maſſe nach dem Erkalten klar
erſcheint oder noch unangegriffene Sandkörner enthält. Da die Hitze
im oberen Teile der Häfen ſtärker iſt, ſo muß man die Glasmaſſe hin
und wieder mit der Schöpfkelle umrühren. Iſt die Maſſe endlich
gleichmäßig, ſo enthält ſie doch noch viele kleine Luftblaſen und iſt zur
Verarbeitung unbrauchbar. Obenauf ſchwimmt die „Glasgalle“, welche
hauptſächlich aus den von der Kieſelſäure nicht gebundenen Alkali-
verbindungen beſteht; tritt ſie ſtark auf, ſo deutet dies auf ſchlechte
Beſchaffenheit des Satzes hin. Die Galle wird abgeſchöpft und die
Glasmaſſe nun dem „Läutern“ unterzogen. Bei dieſem Prozeſſe ver-
ſtärkt man einfach durch das „Heißſchüren“ die Temperatur bis zum
höchſten erreichbaren Maß; alle Luftblaſen ſteigen in dem ſehr dünn-
flüſſigen Glaſe auf, und die Maſſe wird nun ganz klar und gleich-
förmig. Nach mehrſtündigem Heißſchüren bleibt nichts weiter übrig,
als die Glasmaſſe bis zu demjenigen Grade der Zähflüſſigkeit erkalten
zu laſſen, welcher für die Verarbeitung notwendig iſt. Dies geſchieht
durch das „Kaltſchüren“, während deſſen man kurze Zeit ganz mit
Feuern aufhört und dann ſehr langſam fortſchürt.


Wir wenden uns nun zu den Operationen, durch welche man die
wichtigſten Formen der Hohlglaswaren gewinnt.


[855]Das Hohlglas.

Das Flaſchenglas erhält man, da es hierbei nur auf Wohl-
feilheit ankommt, durch Zuſammenſchmelzen von ziemlich unreinen
Materialien. Das Produkt iſt gewöhnlich durch Eiſenoxydul grün
gefärbt. Die Verfertigung einer gewöhnlichen Flaſche bietet in ihren
Einzelnheiten eine günſtige Gelegenheit, um die wichtigſten, auch bei
anderen Fällen ſich wiederholenden Handgriffe des Hohlglasmachens
kennen zu lernen.


Das wichtigſte Werkzeug des Glasmachens iſt die Pfeife, ein
m langes, 2 cm dickes Eiſenrohr mit knopfförmigen Enden, auf
deren eines ein langer
Holzgriff c aufgeſchoben iſt
(Fig. 457). Der Arbeiter
befeſtigt durch wiederholtes

Figure 448. Fig. 457.

Glasbläſerpfeife.


Eintauchen des unteren Endes der Pfeife in den Hafen ſoviel Glas-
maſſe, wie etwa zum Blaſen einer Flaſche gehört. Um die Maſſe
gleichmäßig zu runden, wird ſie in der aus dem Arbeitsloch heraus-
ſchlagenden Flamme erweicht und dann in den halbkugeligen Ver-
tiefungen des Marbels (Fig. 458 b), eines angefeuchteten, dicken Brettes
gleichmäßig gedreht, während der Arbeiter ſie durch ſehr gelindes
Einblaſen von Luft in die Pfeife vor dem Zuſammenſinken bewahrt.
So erhält er eine ſehr dickwandige Hohlkugel a, deren Wand nach der
Pfeife zu ſchwächer wird.
Er wärmt nun von neuem
an und zwar ſo, daß die
Wölbung der Kugel am
ſtärkſten erhitzt wird; hier-
auf verlängert er ſie zur
Flaſchenform c durch drei
gleichzeitig ausgeführte Ope-
rationen, nämlich durch
ſtärkeres Blaſen, Schwenken
und Drehen der Pfeife.
Der letztgenannte Hand-
griff, welcher beim Glas-
blaſen ganz allgemein an-
gewendet wird, bezweckt die
Wirkung des Blaſens zu

Figure 449. Fig. 458.

Anfertigung einer Flaſche.


einer gleichmäßigen zu machen; ohne das Drehen würde der von
dem Arbeitsſtück aufſteigende heiße Luftſtrom bewirken, daß die oberen
Teile ſich ſtärker ausdehnten, als die unteren, was beſonders bei
mehr wagerechter Lage der Pfeife ſchädlich wäre. Iſt die Flaſche
ſo weit wie beſchrieben gediehen, ſo ſenkt der Arbeiter ihren unteren
Teil in eine glatte cylindriſche Holzform d, an deren Wände er durch
ſtarkes Blaſen das Glas angepreßt, während er durch einen Ruck nach
oben den Hals verlängert. Die mittlerweile erſtarrte Flaſche wird aus
[856]Die Fabrikation und Verarbeitung des Glaſes.
der Form gezogen, ein Eiſenſtab, das Nabeleiſen, mittels etwas Glas
in der Mitte ihres Bodens befeſtigt, dieſer etwas hineingedrückt und
die Pfeife ſamt dem oberſten Teil des Halſes durch Anlegen eines kalten,
halbringförmig gebogenen Eiſens abgeſprengt (Fig. 458 f). Der ſcharf-
kantige Hals der nun auf dem Nabeleiſen feſtſitzenden Flaſche wird nun
unter drehender Bewegung des Eiſens in der Flamme des Arbeitsloches
für ſich allein erweicht, mittels einer Schere erweitert und endlich ein
aus dem Hafen geholter Glastropfen als Wulſt herumgewickelt. Die
fertige Flaſche g wird am Nabeleiſen in den Kühlofen getragen und dort
durch einen kurzen Schlag von dem Eiſen getrennt; durch die letztere
Operation behält jede Flaſche den ſcharfkantigen „Nabel“ im Boden.
(Fig. 458 g.)


Das Formen kugeliger Flaſchen iſt ganz der freien Kunſt des
Bläſers überlaſſen und geſchieht ohne Form. Sehr große Flaſchen,
wie z. B. Säureballons, werden geblaſen, indem der Arbeiter ein
wenig Waſſer in die Pfeife ſpritzt, dieſe zuhält und es dem Dampf
überläßt, die Flaſche aufzublaſen.


Das halbweiße und weiße Hohlglas wird mittelſt reinerer
Materialien hergeſtellt und der Satz erhält Entfärbungsmittel, gewöhn-
lich Braunſtein, als Zuſatz. Das halbweiße Glas iſt meiſt ein
Natriumcalciumſilikat, während das rein weiße, welches man zu Medizin-
gläſern, zu Schleifwaren und chemiſchen Geräten verwendet, an Stelle
des Natriums Kalium enthält. Möglichſte Freiheit des Satzes von
Eiſen und Thonerde iſt Hauptbedingung. Das Blaſen der chemiſchen
Geräte geſchieht aus freier Hand. So fertigt man z. B. Kolben durch
einfaches, unter den oben angegebenen Vorſichtsmaßregeln vorgenommenes
Aufblaſen und Verlängern des Halſes. Wenn man dann, während
der Kolben noch weich iſt, unter fortwährendem Einblaſen die Pfeife
umkehrt, ſo ſenkt ſich der Bauch des Kolbens einſeitig und man erhält
eine Retorte. Beſonders wichtig iſt auch das Ziehen der Glasröhren.
Wird ein hohles weiches Glasſtück raſch auseinander gezogen, ſo er-
hält man eine Röhre, ſelbſt bei haarfeinen Fäden. Hierauf beruht
die Fabrikation der gewöhnlichen Glasröhren. Ein Arbeiter ſammelt
an der Pfeife die nötige Menge Glas und bläſt dieſe zu einer engen
Hohlkugel von ſehr bedeutender Wanddicke auf (Fig. 459). Während
er dann die erſtarrte Kugel wieder anwärmt, hat ein zweiter Arbeiter an
einem Nabeleiſen B einen Glastropfen geſchöpft; beide ziehen ihre Geräte
gleichzeitig aus dem Feuer und ſtoßen dieſelben horizontal gegen einander,
ſo daß das Nabeleiſen an dem Bauch der Kugel feſthaftet (Fig. 460).
Dann laufen beide Arbeiter ſo ſchnell wie möglich auseinander,
während ſie ihre Werkzeuge fortgeſetzt drehen (Fig. 461). Das Reſultat
iſt eine Röhre, die ſich in der Mitte etwas ſenkt und an den Enden
dicker iſt, als in der Mitte. Durch ſchnelles Niederlegen der noch nicht
erſtarrten Röhre auf den Boden begegnet man dem erſteren Übelſtande.
Die fertige Röhre wird in 1½ bis 2 m lange Stücke zerſchnitten.


[857]Das Hohlglas. — Das Hartglas.

Das reinſte weiße Glas iſt das beſonders zu Schleifwaren be-
ſtimmte Crownglas, welches in Böhmen in vorzüglicher Güte ge-
fertigt wird und daher auch böhmiſches Glas heißt. Man gebraucht
es aber auch, als das feinſte bleifreie Glas, zu optiſchen Zwecken;

Figure 450. Fig. 459.


Figure 451. Fig. 460.


Figure 452. Fig. 461.

Glasröhrenziehen.


man ſchleift aus ihm die für die achromatiſchen Fernrohrobjektive
nötigen Crownglaslinſen. Die Materialien des Satzes müſſen für
dieſes Glas auf das Sorgfältigſte ausgewählt werden; auch iſt auf
Güte der Häfen und große Vollkommenheit des Läuterungsprozeſſes
zu ſehen. Man fertigt die Crownglaswaren meiſt durch Einblaſen in
Formen und nachfolgendes Feinſchleifen genau ſo, wie bei dem ſpäter
zu erwähnenden Kryſtallglas, bei welchem auch dieſe Operationen
beſchrieben werden.


b) Das Hartglas.


Wie oben erwähnt, iſt es ſelbſt durch das vollkommenſte Kühlen
nicht möglich, die unangenehmſte Eigenſchaft des Glaſes, ſeine Sprödig-
keit und Zerbrechlichkeit, ganz zu beſeitigen. Trotzdem hat es nicht an
Verſuchen gefehlt, durch beſondere Verfahren das Glas zu härten, d. h.
ihm eine bedeutende Elaſtizität, Härte und Widerſtandsfähigkeit gegen
Temperaturwechſel mitzuteilen.


Das Härten erfolgt gewöhnlich durch Eintauchen des aus ge-
wöhnlichem Glas gefertigten noch glühenden Stückes in ein „Temper-
bad“ von hoher Temperatur. Zu dem letzteren gebraucht man ver-
ſchiedene Stoffe von hohem Siedepunkt, z. B. Margarine. In dem
Bade läßt man das Glas dann ſehr langſam erkalten. Die ſo ge-
härteten Waren erfahren alſo zuerſt eine verhältnismäßig raſche, dann
erſt eine langſamer fortſchreitende Kühlung. Sie zeigen dies auch in
ihren Eigenſchaften deutlich. Obgleich ſie nämlich in der That härter
ſind wie gewöhnliches Glas, ſo werden ſie doch bei gewaltſamer Ver-
letzung vollſtändig, faſt exploſionsartig, zertrümmert — ein Anzeichen,
daß das anfängliche Kühlen einen bedeutenden Spannungszuſtand
zurückgelaſſen hat.


Eine andere Art gehärteten Glaſes, das Preßhartglas, wird beim
Formen durch Preſſen zwiſchen heißen Metallplatten gedichtet und
dann langſam gekühlt. Trotz mancher Vorzüge des Hartglaſes hat
[858]Die Fabrikation und Verarbeitung des Glaſes.
dasſelbe die anfänglich ſehr hohen Erwartungen, welche man auf das-
ſelbe ſetzte, nicht erfüllt. Jedenfalls iſt bisher nicht daran zu denken,
es allgemein als Material für Kochgefäße — ſicherlich die wichtigſte
Anwendung — benutzt zu ſehen. Am meiſten findet man Lampen-
cylinder aus Hartglas verbreitet.


c) Das Fenſterglas.


Dasjenige Glas, welches zur Fabrikation von Fenſterſcheiben
dienen ſoll, iſt in ſeiner Zuſammenſetzung dem farbloſen oder ſchwach
gefärbten Hohlglaſe ſehr ähnlich. Es unterſcheidet ſich im weſentlichen
nur durch verſtärkten Kalkgehalt, welcher erfahrungsmäßig verhindert,
daß die Scheiben durch die Witterung zu ſchnell blind werden. Von
den Alkalien bevorzugt man das Kali, ſo daß man Soda gewöhnlich
von den Sätzen ganz ausſchließt. Nur für die feineren Sorten fügt
man auch ein Entfärbungsmittel hinzu. Am meiſten wird aber grünes
oder halbweißes Glas zu Scheiben verarbeitet, deren Dünne die Färbung
ja nur ſehr ſchwach zur Geltung kommen läßt. Von Arbeitsmethoden
kennt man zwei, von denen die erſte das Mondglas, die zweite das
Walzenglas liefert; dieſe letztere hat das Mondglasmachen faſt ganz
verdrängt.


Die Fabrikation des Mondglaſes beginnt ähnlich, wie die Her-
ſtellung einer großen Flaſche. Die erhaltene dickwandige Kugel wird
dann bei horizontal liegender und ſich ſchnell drehender Pfeife in das
Arbeitsloch gehalten, ſo daß nur der Boden erweicht und ſich flach in
die Breite dehnt. Nach dem Zurückziehen, welches unter ſtetiger raſcher
Drehung vor ſich geht, heftet ein Gehilfe ein Nabeleiſen in die Mitte
des erhaltenen flachen Gefäßes, worauf der erſte Arbeiter die Pfeife
abſprengt und die Halsöffnung mittels eines Holzes ſo viel wie mög-
lich erweitert. Nun wird die erhaltene flache Glocke mit der Hals-
öffnung dem aus dem Arbeitsloch dringenden Feuer entgegen gehalten
und ſehr ſchnell um das Nabeleiſen gedreht. Zuerſt erweicht der Hals,
welcher ſich dann, der gewaltigen Schwungkraft folgend, flach umlegt,
bis endlich die ganze, nun frei von der Flamme getroffene Fläche ſich
zu einer vollkommen ebenen 1½ bis 2 m im Durchmeſſer haltenden
Scheibe erweitert. Dieſelbe muß unter fortwährender raſcher Drehung
ſeitwärts vom Ofen fortbewegt und in den Kühlofen befördert werden,
wo man ſie auf ein flaches Bett von heißer Aſche legt. Dann wird das
Nabeleiſen abgeſprengt und die Scheibe zum völligen Verkühlen auf
die hohe Kante geſtellt. Das Mondglas iſt glänzend und gleichmäßig
dünn und kann ſchwächer gearbeitet werden, als das Walzenglas.
Seine Herſtellung erfordert aber ſehr geübte Arbeiter; auch iſt es ein
ſehr großer Nachteil, daß es beim Zerſchneiden in rechteckige Scheiben
ſehr viel ganz unbrauchbaren Abfall giebt, während Walzenglas ganz
in Scheiben aufgeht. Aus dieſem Grunde wird es jetzt nur noch wenig
[859]Das Fenſterglas.
fabriziert; in England, wo das Glas nach dem Gewicht verſteuert
wird, hat es ſich am längſten gehalten.


Die Herſtellung des Walzenglaſes, aus welchem heute faſt alle
Scheiben — mit Ausnahme der Spiegelſcheiben — gefertigt werden,
beginnt gleichfalls mit dem Blaſen einer Kugel, deren Boden aber be-
ſonders dick gehalten wird. Durch das „Schränken“ wird die Glas-
maſſe etwas von der Pfeife weggezogen, ſo daß ſie durch eine Hohl-
kehle mit der letzteren zuſammenhängt. Nachdem die Kugel noch am
Marbel gerundet iſt, wird ſie im Arbeitsloch erweicht und aufgeblaſen.
Dies geſchieht aber ſo, daß der Arbeiter die Pfeife mit dem Glasballen
ſenkrecht über ſeinen Kopf erhebt. Daher wird ſich der ſchwerere Boden
weniger ausdehnen und es entſteht eine abgeplattete, breite und ſehr
niedrige Flaſche (Fig. 462). Die Pfeife wird nun raſch wieder ſenkrecht

Figure 453. Fig. 462.


Figure 454. Fig. 463.


Figure 455. Fig. 464.


Figure 456. Fig. 465.


Figure 457. Fig. 466.

Anfertigung des Walzenglaſes.


Figure 458. Fig. 467.


nach unten gekehrt und unter ſtetigem Einblaſen umgeſchwenkt. Hierdurch
ſenkt ſich der Boden allein, ſo daß ein Gefäß von der in Figur 463
abgebildeten Form entſteht. Durch weiteres Anwärmen, Schwenken
und Blaſen erhält man ſchließlich einen faſt walzenartigen Körper, der
ſich nur gegen das Ende wenig verjüngt. Dadurch, daß der Arbeiter
nun nur das Ende ſtark anwärmt und einbläſt, ſprengt er dasſelbe
heraus (Fig. 464), ſo daß nun ein unten offener Cylinder entſteht,
der durch wiederholtes Anwärmen und Schwenken überall den-
ſelben Durchmeſſer erhält (Fig. 465). Nunmehr, nachdem noch etwaige
unregelmäßige Hervorragungen der Öffnung mit einer Schere wegge-
ſchnitten ſind, ſteckt ein Gehilfe einen hölzernen Stab in die fertige
Walze, welche nun noch an dem geſchloſſenen Ende geöffnet werden
muß. Zu dieſem Zweck dreht man ſie einige Male in einem weiten
ringförmig gebogenen glühenden Eiſen und läßt auf die erhitzte Kreis-
linie einen Waſſertropfen fallen (Fig. 466), welcher die Kappe ablöſt.
In genau derſelben Weiſe erzeugt man in dem erhaltenen beiderſeits
offenen Glascylinder einen Längsſprung. Nun iſt die Walze zum
„Strecken“ fertig (Fig. 467).


[860]Die Fabrikation und Verarbeitung des Glaſes.

Dieſe wichtige Operation wird in einem beſonderen Ofen, dem
Streckofen, vorgenommen. Die Feuerung des viereckig gebauten Ofens
liegt im unteren Teile. Darüber liegt unmittelbar der Streckherd; er
empfängt die ſtärkſte Hitze, welche dann in den Kühlofen tritt und aus
dieſem durch einen langen Kanal, die Aufwärmröhre, abzieht. Der
Kühlofen empfängt auch noch direktes Feuer von unten her. Die ganze
Anlage iſt überwölbt und die einzelnen Teile durch Arbeitsöffnungen
zugänglich. Auf dem Streckherd liegt der wichtigſte Teil des Ofens,
der Streckſtein, eine Platte aus feuerfeſtem Thon, welche gebrannt und
nachträglich vollkommen eben geſchliffen wird. Sie muß etwas größer
ſein, als die zu erzielenden Glastafeln. Um jeder Verletzung beim
Hinſchieben der Tafeln über den Streckſtein vorzubeugen, läßt man die
erſte „geſtreckte“ Glastafel, die man gewöhnlich etwas dicker macht, als
„Lager“ auf dem Streckſtein liegen, um als Unterlage für die folgenden
zu dienen. Das Lager entglaſt allmählich, wird rauh und muß dann
ausgewechſelt werden. Es wird hin und wieder, um ein Anhaften

Figure 459. Fig. 468.

Fig. 469.
Strecken des Walzenglaſes.


der Scheiben zu verhindern, durch Einwerfen einer Hand voll Kalk in
das Feuer mit einer feinen Schicht Kalkſtaub überdeckt. Die Tempe-
ratur im Streckherd darf nur bis zum gelinden Erweichen des Glaſes
gehen; im Kühlofen darf ſie dieſe Höhe nicht erreichen.


Man führt die aufgeſchnittenen Walzen durch die Aufwärmröhre
nach einander ein. Sie werden um ſo heißer, je weiter ſie vorrücken.
Hat die erſte den Herd erreicht, ſo hebt ſie der „Strecker“ mit einem
Eiſen C auf das Lager (Fig. 468). Sie öffnet ſich von ſelbſt und wird
mittels des angefeuchteten glatten Polierholzes D vollſtändig geebnet
(Fig. 469). Dann ſchiebt der Strecker die fertige Tafel in den Kühl-
ofen, in welchem ſie ſofort erſtarrt, aufgerichtet und auf die Kante ge-
ſtellt wird. So fährt man fort, bis der Kühlofen voll iſt.


d) Das Spiegelglas.


Obgleich man ſchon im Altertum Verſuche machte, Spiegel aus
Glas herzuſtellen, ſo hatten dieſe Beſtrebungen doch ſo geringen Erfolg,
daß die Metallſpiegel allgemein herrſchend blieben. Erſt im Mittelalter
[861]Das Fenſterglas. — Das Spiegelglas.
kamen mit Blei belegte Glasſpiegel auf. Italieniſche Phyſiker des
ſechzehnten Jahrhunderts erwähnten mit Blei ausgegoſſene ſpiegelnde
Glaskugeln als einen Nürnberger Handelsartikel. Das Belegen von
Glastafeln mit Zinnfolie wurde zuerſt in Venedig ausgeübt, ging gegen
Ende des 17. Jahrhunderts nach Frankreich über, bis im Jahre 1688
Thévart durch die Erfindung des Spiegelguſſes den Grund zu der
heute ſo vollkommen daſtehenden Spiegelinduſtrie legte.


Man kennt jetzt geblaſene und gegoſſene Spiegel. Die Herſtellung
der erſteren iſt, abgeſehen natürlich von dem Belegen, dieſelbe wie beim
Fenſterglaſe. Man iſt bei dieſen Spiegeln an gewiſſe Dimenſionen
gebunden, die nicht überſchritten werden dürfen. Größere Spiegel
können daher nur mittels des Gießverfahrens hergeſtellt werden. Die
Spiegeltafeln müſſen, bei ihrer bedeutenden Größe, eine nicht un-
beträchtliche Stärke beſitzen; ſie müſſen ferner abſolut durchſichtig und
ſo farblos wie nur möglich ſein. Dieſe Eigenſchaften erfordern eines-
teils einen Satz aus den reinſten Materialien und ſchließen alle Stoffe
aus, die das Blindwerden befördern; andererſeits ſetzen ſie einen ſehr
vollkommenen Läuterungsprozeß voraus. Der Spiegelglasſatz dürfte
wegen der ſchwach färbenden Eigenſchaft des Natrons eigentlich keine
Soda enthalten. Dieſe läßt ſich aber nicht gut entbehren, da ſie dem
Glaſe einen Grad der Leichtflüſſigkeit mitteilt, welcher das Läutern und
beſonders das Gießen weſentlich erleichtert. Die Hauptbeſtandteile ſind
daher reinſter Sand, reine Soda, ſehr wenig Kalk, viele Spiegelglas-
brocken und eine geringe Menge Entfärbungsmittel.


Der Spiegelglasofen enthält zweierlei Schmelzgefäße: runde Häfen
von der gewöhnlichen Form und viereckige Wannen. Die Häfen
dienen zum Schmelzen des Satzes, welcher kalt in drei Portionen
eingetragen wird. Brennt man Steinkohlen, ſo muß der Fluß
durch Bedecken der Häfen vor Verunreinigung geſchützt werden.
Während des Einſchmelzens ſtehen die Wannen leer im Ofen. Iſt der
Fluß vollkommen, ſo werden die Wannen mit Zangen ausgefahren,
ſorgfältig geſäubert und wieder eingefahren. Die Arbeiter reinigen nun
das Glas von den an der Oberfläche befindlichen Verunreinigungen
und ſchöpfen es dann mit kupfernen Löffeln in die Wannen; alle
Körner und Verunreinigungen, die ſich am Grunde der Häfen befinden,
bleiben zurück und dürfen nicht aufgerührt werden. Das Einſchmelzen
dauert 12—15 Stunden, die Läuterung, welche gleich nach dem Über-
ſchöpfen mit dem Heißſchüren beginnt, 20—40 Stunden, bis die Proben
ganz tadellos erſcheinen. Dann folgt ein Kaltſchüren von 3—4 Stunden.


Den Spiegelguß nimmt man vor dem mit beſonderer Feuerung ver-
ſehenen Kühlofen (Fig. 470) vor. Die Sohle des letzteren muß die genügende
Breite haben, um alle einzuſchiebenden Tafeln nebeneinander liegend
zu beherbergen und muß mit der vor dem Ofen befindlichen Gießtafel
in derſelben Ebene liegen. Die Gießtafel T, der teuerſte Apparat der
Spiegelfabrik, beſteht aus Bronze, Gußeiſen oder Stahl, iſt vollkommen
[862]Die Fabrikation und Verarbeitung des Glaſes.
eben gemacht und muß in ihren Dimenſionen die größten zu gießenden
Spiegelplatten überragen. Sie bildet die untere Seite der Gießform,
deren ſeitliche Grenze durch zwei ſtarke, an den Längskanten der Gieß-
tafel hinlaufende, der Dicke des zu fertigenden Spiegels entſprechende

Figure 460. Fig. 470.

Spiegelglasfabrikation.


Metallleiſten N N gebildet wird. Oben iſt die Form offen; für die Ebnung
der oberen Fläche der Spiegelplatte ſorgt eine hohle, mehrere Centner
ſchwere glatte Metallwalze F, welche auf den Längsleiſten geführt werden
kann. Das ganze ſteht auf einem Gerüſt mit Rollen und kann leicht
vor einen beliebigen Kühlofen gefahren werden.


Kurz vor Beginn des Guſſes wird die Gießtafel durch Aufſchütten
glühender Kohlen vorgewärmt; während derſelben Zeit holen einige
Arbeiter die Wanne A mit dem Fluß vermittels eines Kettenkrahnes D E
aus dem Ofen. Neben der Tafel ſchwebend wird die Wanne ſehr wenig
geneigt und der Fluß ſo lange mit einer metallenen Klinge abgeſtrichen,
bis das klare Glas, das „Metall“, zum Vorſchein kommt. Nun fährt
man die Wanne über die Gießtafel und beginnt, während die Walze
an dem dem Ofen zugekehrten Ende liegt, mit dem Guß. Das flüſſige
Glas breitet ſich langſam aus, während die Walze gegen das andere
[863]Das Spiegelglas.
Ende der Tafel hingeführt wird und den überſchüſſigen Fluß vor ſich
her ſchiebt. Ein mit Lappen umwickelter Wiſcher H wird vor dem Glaſe
hergeführt, um alles Unreine auf der Tafel zu beſeitigen. Der Über-
ſchuß gleitet über das Ende der Tafel und fällt in Waſſer; es bildet
ſich infolge deſſen an dieſem Ende eine Wulſt, welche kurz vor dem
Erſtarren aufgebogen wird. Mehrere Arbeiter ſtemmen einen Rechen
dagegen und ſchieben die erſtarrte Platte über die Gießtafel fort in
den Kühlofen, in welchem ſie 1 bis 2 Wochen verbleibt. Ihre untere
Fläche iſt ganz glatt, die obere ſtets etwas rauh und höckerig.


Die aus dem Kühlofen herausgezogenen Platten werden genau
unterſucht, um fehlerhafte Stellen herauszufinden und mit deren Be-
rückſichtigung die Platten auf das vorteilhafteſte zu teilen, ſo nämlich,
daß dieſe Stellen an den Rand kommen. Dann beginnt das Schleifen,
zu welcher Operation immer zwei Tafeln gehören, eine größere und
eine bedeutend kleinere. Die große wird mit Gips in die Schleifbank,
einen großen feſten Tiſch, eingekittet; die kleine befeſtigt man in der-
ſelben Weiſe in dem Boden des Oberſteins, eines mit Gewichten ſtark
beſchwerten Kaſtens, ſo daß die beiden Tafeln ſich ihre entgegengeſetzt
beſchaffenen Flächen, d. h. eine glatte und eine rauhe zukehren. Nun
wirft man groben Sand auf die untere Tafel, fügt Waſſer hinzu und
bewegt den Oberſtein hin und her ziehend und zugleich um ſeine ſenk-
rechte Achſe drehend über die ganze Fläche der Schleifbank; die Be-
wegung kann mit der Hand oder auch durch beſondere Maſchinen aus-
geführt werden. Iſt allmählich der Sand fein geworden, ſo nimmt
man weniger groben Sand — man hat bis zu ſieben Nummern —
bis damit das „Rauhſchleifen“ beendet iſt. Dies iſt der Fall, wenn die
Fläche der unteren Tafel ſich beim Prüfen mit einer Setzwage als
vollkommen eben zeigt. Nun folgt in ganz derſelben Weiſe das „Klar-
ſchleifen“ mit immer feiner werdenden Nummern von Smirgel; hierdurch
wird die Platte glatt, erſcheint aber noch blind und halbdurchſichtig.
Dieſe Eigenſchaft wird endlich durch das Polieren beſeitigt. Man be-
nutzt dazu reines geſchlämmtes Eiſenoxyd, ſogenanntes Polierrot, welches
mit einem hölzernen, mit Wolle bewickelten und mit Gewichten be-
ſchwerten Brette aufgerieben wird. Jede der beſchriebenen Operationen
wird nach einander zuerſt an der einen, dann an der anderen Seite
der Spiegelplatte vorgenommen; es kommt daher weſentlich darauf an,
daß die Platte beim jedesmaligen Umkehren wieder genau horizontal
in die Schleifbank eingekittet wird, da ſonſt die beiden Flächen nicht
parallel ausfallen können. Bei dem Schleifen verliert eine Platte, in-
folge der Rauhigkeit ihrer Flächen, beſonders der gewalzten, oberen,
faſt die Hälfte ihrer ganzen Maſſe. Die polierten Tafeln zeigen nun
erſt alle Fehler, ſo daß in einer zweiten Prüfung eine neue Auswahl
ſtattfinden muß. Die ſo gewonnenen Platten werden dann belegt.


Auf einem ganz glatten Tiſch breitet man Stanniol (Zinnfolie)
von der Größe der zu belegenden Tafel aus, ſtreicht es vollkommen
[864]Die Fabrikation und Verarbeitung des Glaſes.
glatt und verteilt mittels einer Bürſte Queckſilber über die ganze Fläche.
Iſt ganz gleichförmige Benetzung eingetreten, ſo gießt man noch Queck-
ſilber nach und ſtreicht mit dem Lineal über die Fläche, welche nun
ſpiegelblank erſcheinen muß. Dann ſchiebt man die ſorgfältig gereinigte
Platte von der Seite her, mit der Längskante voran, auf die Belegung.
Der Spiegel wird nun, um den erheblichen Überſchuß an Queckſilber
zu beſeitigen, vorſichtig mit Gewichten beſchwert und der Belegetiſch
ſchwach geneigt. So fließt das meiſte Queckſilber ab. Zuletzt wird
der Spiegel auf die hohe Kante geſtellt, um die letzten Metallreſte zu
entfernen. Das Belegen eines großen Spiegels iſt eine ſehr ſchwierige
und zeitraubende Arbeit, die Wochen in Anſpruch nehmen kann.


Statt die Spiegeltafeln zu walzen, hat man auch die Walze durch
eine zweite Metallplatte erſetzt, welche den halbflüſſigen Guß niederpreßt;
der Vorteil, den dieſe Methode mit ſich bringt, liegt darin, daß auch
die obere Fläche glätter ausfällt, was einen geringeren Maſſenverluſt
und eine kürzere Arbeitszeit beim Schleifen bedingt. Indeſſen iſt dies
Verfahren bei größeren Spiegeln nicht leicht ausführbar und wird daher
nur bei kleineren angewendet.


e) Das Kryſtallglas.


Da die engliſchen Glasmacher von alters her auf die Steinkohle
als Brennmaterial für ihre Öfen angewieſen waren, ſo mußten ſie, um
ihre Glasflüſſe gegen die blakende Flamme zu ſchützen, ihre Häfen
bedecken; da aber hierdurch ein erheblicher Wärmeverluſt hervorgerufen
wurde, ſo verſuchten ſie das Glas durch alle nur möglichen Zuſätze
leichtflüſſiger zu machen. Bei dieſer Gelegenheit, alſo zufällig, wurden
die hervorragenden optiſchen Eigenſchaften der bleihaltigen Gläſer ent-
deckt. Seitdem fabriziert man überall bleihaltige Gläſer gerade ihres
ſtarken Lichtbrechungsvermögens halber. Beträgt der Gehalt an Blei-
oxyd etwa ein Drittel des ganzen Satzes, ſo erhält man das zu den
feinen Schleifwaren benutzte, heute aber auch häufig durch das gute
böhmiſche Glas erſetzte Kryſtallglas.


Der Satz des Kryſtallglaſes beſteht, neben Kieſelerde und Mennige
(oder Bleioxyd), nur noch aus gereinigter Pottaſche. Die Kieſelerde
muß völlig frei von Eiſen ſein; als Entfärbungsmittel dient nicht
Braunſtein, ſondern Salpeter. In gleicher Weiſe zieht man die Mennige,
wegen ihres durch den Sauerſtoffgehalt bedingten Entfärbungsvermögens,
dem Bleioxyd vor. Die Schmelzung und die Läuterung erfolgen ent-
weder in demſelben Hafen, oder, falls die Koſten nicht ins Gewicht
fallen, in Hafen und Wanne, wie bei der Fabrikation des Spiegel-
glaſes. Der Fluß muß vor dem Rauch der Feuerung ſorgfältig be-
wahrt werden; ebenſo muß man ihn vor der Berührung mit eiſen-
haltigen Stoffen hüten, da dieſe eine Braunfärbung veranlaſſen. Die
Verarbeitung des Kryſtallglaſes geſchieht ſelten durch Blaſen allein;
[865]Das Kryſtallglas.
meiſt wendet man das Blaſen oder auch den Guß in Formen an.
Die Formen, von denen Fig. 471 ein Beiſpiel darſtellt, ſind ſehr ſorg-
fältig aus Metall gearbeitet. Sie beſtehen aus einzelnen Teilen, welche
ſich auf- und zuklappen laſſen. In die geöffnete Form führt der
Bläſer den an der Pfeife hängenden hohlen Glasballen ein; ein Ge-
hülfe ſchließt die Form, worauf
der Bläſer durch kräftiges Einblaſen
das Glas in alle inneren Teile
der Form hineinpreßt. Das über-
flüſſige tritt als Wulſt oben aus
der Form. Nachdem das ge-
blaſene Glasſtück erſtarrt iſt, wird
die Form geöffnet und das Stück

Figure 461. Fig. 471.

Klappform.


von der Pfeife abgeſprengt. Ganz maſſive Geräte, z. B. Teller, Salz-
fäſſer und dergleichen, werden durch Eingießen des flüſſigen Glaſes in
eine aus zwei Hälften beſtehende Form hergeſtellt; dann werden die
beiden Hälften ſcharf auf einander gepreßt, ſo daß das überſchüſſige aus
den Fugen hervordringt.


Geblaſene und gepreßte Kryſtallglaswaren zeigen nur eine unvoll-
kommene Gravierung und keinen beſonders hohen Glanz. Der Grund
hierfür iſt der Umſtand, daß das Glas erſtarrt, ehe es ſich völlig an
alle Feinheiten der Form anlegen kann; die Flächen werden nicht völlig
eben und die Kanten ſind unregelmäßig gekrümmt. Bei dem Kryſtall-
glas iſt dieſer Umſtand wegen ſeiner Leichtflüſſigkeit noch nicht einmal
von ſo ſtarkem Einfluß; viel mehr zeigt er ſich bei dem früher erwähnten
viel ſtrengflüſſigeren Crownglas und dem böhmiſchen Glaſe, welche
beide gerade ebenſo verarbeitet werden, wie das Kryſtallglas. Aus
dieſem Grunde müſſen die feinen Glasſtücke, welche aus den Formen
kommen, nach dem Kühlen geſchliffen werden, um ihnen höheren Wert
zu verleihen.


Das Schleifen erfolgt heute mittels Scheiben von Metall oder
von Sandſtein, welche in einer maſſiv gebauten Drehbank, der Schleif-
bank, ſehr raſch umlaufen. Am Rande werden ſie mit einem Brei
aus Waſſer und Sand für das Rauhſchleifen, von Öl und Smirgel
für das Feinſchleifen betupft. Zum Polieren wendet man ähnlich ge-
formte Scheiben von weichem Metall oder Kork an, welche mit Bims-
ſtein oder Polierrot arbeiten. Es iſt natürlich, daß dem Schleifer eine
ſehr große Auswahl der verſchiedenſt geformten großen und kleinen,
dünnen und ſtarken, glatten und gerippten Schleifſcheiben zur Verfügung
ſtehen muß, damit er alle Feinheiten des Schleifſtückes genügend heraus-
arbeiten kann. Auch das Bohren von Löchern und das Zerſägen wird
auf der Schleifbank ausgeführt. —


Ein höchſt eigenartiges, von Tilghman erfundenes und der neueſten
Zeit angehörendes Schleifverfahren, welches beſonders für Scheiben
angewendet wird, iſt das Sandblasverfahren. Bei demſelben ſchleudert
Das Buch der Erfindungen. 55
[866]Die Fabrikation und Verarbeitung des Glaſes.
eine Maſchine mittels hochgeſpannter Luft oder eines ſehr ſchnell ro-
tierenden Wurfrades fortgeſetzt ſcharfen Sand gegen das zu ſchleifende
Stück, an welchem die Stellen, welche klar bleiben ſollen, mit einer
Schablone aus Blech oder Kautſchuk bedeckt werden. Die getroffenen
Stellen werden rauh geſchliffen, ſo daß ſich dieſe Methode vorzüglich
zur Anbringung mattgehaltener Inſchriften und Zeichnungen auf aller-
hand Glaswaren eignet und ſich als Hülfsmittel des älteren Schleif-
verfahrens bereits ſehr eingebürgert hat. Jedenfalls iſt das Tilghmanſche
Verfahren auch ein ſehr praktiſcher Erſatz für das Glasätzen mittels
Flußſäure, deren man ſich früher (ſchon ſeit 1670) zur Herſtellung
feiner rauher Zeichnungen auf Luxusglaswaren bediente. Dieſes Ver-
fahren, auf der auflöſenden Eigenſchaft der Flußſäure gegenüber dem
Glas beruhend, wird wegen der geſundheitsſchädlichen Eigenſchaften
der Säure heute nur noch beim Teilen von Glasinſtrumenten ange-
wandt, indem man die Stücke mit einem Ätzgrund von Wachs oder
Asphalt überzieht, die Zeichnung eingraviert und nun die Flußſäure,
die man durch Erhitzen von Flußſpat und Schwefelſäure in Bleiſchalen
erhält, einwirken läßt. An den freigelegten Stellen wird das Glas
rauh, indem die Flußſäure mit dem Silicium des Glaſes Fluorkieſel-
gas bildet.


f) Das Flintglas.


Die Notwendigkeit, achromatiſche Linſen für die optiſchen Inſtru-
mente herzuſtellen, hat ſchon in ziemlich früher Zeit die Glastechniker
veranlaßt, nach zwei Glasſorten zu ſuchen, welche in Bezug auf das
Verhältnis ihres Lichtbrechungsvermögens zu ihrer farbenzerſtreuenden
Kraft möglichſt ſtark von einander abweichen. Zwei ſolche Glasarten
hat man einerſeits in dem oben genannten bleifreien und aus den
reinſten Satzteilen hergeſtellten Crownglas, andererſeits in einem ſehr
bleireichen Glaſe gefunden, welches, weil man zu ſeiner Darſtellung
früher gemahlenen Flintſtein benutzte, mit dem Namen Flintglas belegt
worden iſt. Während die Fabrikation des Crownglaſes keine Schwierig-
keiten bietet, häufen ſich dieſe in ſehr ſtarker Weiſe bei der Herſtellung
des für die optiſchen Inſtrumente hochwichtigen Flintglaſes. Es hat
dies ſeinen Grund in dem Beſtreben, ein möglichſt bleireiches Glas
(mit 50 und mehr Prozent Bleioxyd) darzuſtellen. Leider zeigt ſich
aber beim Einſchmelzen des betreffenden Satzes die ſtörende Erſchei-
nung, daß ſich am Boden des Hafens ein bleireicheres, ſchwereres,
ſtärker brechendes Glas abſcheidet, während ein bleiärmeres, leichteres,
ſchwächer brechendes weiter oben liegt. Selbſt durch Umrühren iſt es,
bei den ſo verſchiedenen Temperaturen in den einzelnen Regionen des
Hafens, nicht möglich, den Übelſtand ganz zu beſeitigen, beſonders,
da die eiſernen Rührer das Glas färben. Die Folge davon iſt, daß
das Glas beim Erſtarren Schlieren und Streifen zeigt, welche ſeine
Anwendung zu optiſchen Zwecken vollſtändig in Frage ſtellen. Faraday,
[867]Das Flintglas.
welcher 1824 als erſtes Mitglied einer Kommiſſion der Royal Society
of arts
in London die Frage genau unterſuchte, ſchlug vor, ein Flint-
glas aus Borſäure, Kieſelſäure und Bleioxyd in Platingefäßen zu
ſchmelzen. Seine Methode hat wegen der Koſten und des zu hohen
Bleigehaltes des Glaſes keine praktiſche Verwendung gefunden. Bereits
einige Zeit vorher hatte Fraunhofer in München ſchlierenfreie Flintlinſen
hergeſtellt, aber ſein Geheimnis bewahrt. Sein Mitarbeiter Guinand
gründete bei Paris eine Werkſtatt, welche ſpäter an deſſen Sohn über-
ging und von dieſem an Bontemps verkauft wurde. Dem letzteren,
welcher ſchon 1828 tadelloſe, wenn auch noch kleine Blaſen zeigende
Linſen bis zu 13 Zoll Durchmeſſer herſtellte, verdanken wir die wichtigſte
Neuerung in der Flintglasfabrikation, die Einführung eines Rührers
aus Hafenmaſſe, deſſen Erfindung übrigens wahrſcheinlich von dem
älteren Guinand herrührt. Das Guinandſche Verfahren, welches ſich
im weſentlichen bis heute erhalten hat, wendet als Glasſatz eine
Miſchung von reinſtem Sand, ebenſo viel Mennige und etwa dem
dritten Teil kalcinierter Soda an. An Stelle der letzteren haben ſpätere
Fabrikanten häufig Pottaſche geſetzt.


Das Schmelzen erfolgt in einem Ofen mit Steinkohlenfeuerung
(Fig. 472), in welchem nur ein einziger, mittels einer Haube ver-
ſchloſſener Hafen ſteht. Die
ſeitliche Öffnung der Haube
paßt in das Arbeitsloch, ſo
daß das Glas durch den
Rauch gar nicht berührt
werden kann, von außen
aber leicht zugänglich iſt.
Der Satz wird allmählich
eingetragen. Nach etwa 12
bis 16 Stunden iſt völliger
Fluß eingetreten. Dann
wartet man, bis die Feuerung
keinen Rauch mehr giebt,
nimmt die Haube ab, ſetzt
den vorher bis zur Weiß-
glut erhitzten Rührer ein und
verſchließt den Hafen wieder.
Mittels eines in den hohlen
Rührer eingeſetzten eiſernen
Hakens rührt man nun um,
wobei eine vor der Arbeits-
öffnung aufgeſtellte Rolle die
Arbeit weſentlich erleichtert.
Der Rührer bleibt nun
ſchwimmend in dem Fluß,

Figure 462. Fig. 472.

Flintglasofen.


55*
[868]Die Fabrikation und Verarbeitung des Glaſes.
der Haken wird weggenommen und das Feuer zum Zwecke der Läuterung
mehrere Stunden geſchürt. Jetzt erſt beginnt das eigentliche Rühren,
welches man nur unterbricht, um die weißglühend gewordenen Eiſen-
haken durch neue zu erſetzen. Nach 6 Stunden unterbricht man das
Feuern durch „Kaltſchüren“, um nach weiteren 2 Stunden wieder heiß
zu ſchüren. Endlich beginnt der Fluß dick zu werden; man hört
auf zu rühren, ſchließt den Ofen gänzlich und läßt ihn verkühlen.
Hierzu gehört eine Zeit von 6 bis 8 Tagen. Nunmehr bildet das Glas
im Hafen meiſt eine zuſammenhängende Maſſe, an welche man, nach
dem Zerſchlagen des Hafens, zwei parallele, an entgegengeſetzten Enden
liegende Flächen ſchleift und poliert. So kann man genau unterſuchen,
wo das Innere, welches wohl nie ganz homogen ausgefallen ſein
wird, Streifen und Schlieren zeigt, um hiernach reine Stücke heraus-
zuſägen. Dieſe werden in einem beſonderen Ofen bis zum gelinden
Erweichen aufgewärmt, in einer zweiklappigen Form in Geſtalt einer
Linſe gepreßt, recht gut gekühlt und endlich, dem ſpeziellen Zweck ent-
ſprechend, geſchliffen und poliert.


Durch das Verfahren von Bontemps iſt der Preis der rohen
Flintglaslinſen, welcher früher ein ganz außerordentlich hoher war,
auf den 70. Teil geſunken. Eine ganze Reihe von verdienſtvollen
Männern, beſonders Döbereiner und Steinheil, haben es ſich angelegen
ſein laſſen, nach zum Teil noch verbeſſerten Methoden, die aber nur
in unweſentlichen Punkten von der beſchriebenen abweichen, Linſen von
großer Reinheit und bedeutender Ausdehnung herzuſtellen. Über die
neueſten Einführungen auf dieſem Gebiete ſehe man das nähere in
dem die optiſchen Inſtrumente behandelnden Abſchnitt dieſes Buches.


g) Der Straß.


Derſelbe iſt ein Kalibleiſilikat von großem Bleireichtum und leichter
Schmelzbarkeit, Er dient, mit verſchiedenen Metalloxyden gefärbt, zur
Herſtellung künſtlicher Edelſteine (Pierre de Strass). Um gute und
klare Farben zu erhalten, iſt die Auswahl der reinſten Ingredienzien
dringend geboten; ſo benutzt man z. B. an Stelle der Kieſelerde Berg-
kryſtall. Das Schmelzen erfolgt in Öfen, die nur einen oder doch
wenige Häfen enthalten und bedarf eines ſehr ſorgfältigen Läuterungs-
prozeſſes; die Herſtellung iſt im weſentlichen dieſelbe, wie beim Flintglas.


Setzt man dem Straß Zinnoxyd zu, ſo verliert er ſeine Durch-
ſichtigkeit, behält aber ſeinen hohen Glanz und heißt in dieſem Zuſtande
Schmelz (Email).


Wenn auch in der bisherigen Schilderung der Glasinduſtrie die
ſämtlichen wichtigen Gebiete derſelben in Betracht gezogen wurden, ſo
bleiben doch noch einige Einzelheiten von Intereſſe übrig, welche in
[869]Der Straß. — Das Färben der Gläſer.
dem folgenden ganz kurz zuſammengefaßt werden ſollen. Es iſt dies
die Herſtellung der überwiegend Luxuszwecken dienenden Glaswaren,
unter welchen manche wichtige Artikel des Welthandels bilden.


Gefärbte Gläſer können entweder durch Färben in der ganzen
Maſſe gewonnen werden oder durch ſogenanntes „Überfangen“ des farblos
bleibenden Glaſes mit einer dünnen Schicht gefärbten Fluſſes. Das
erſtere geſchieht, indem man dem Glaſe den färbenden Beſtandteil,
gewöhnlich ein Metalloxyd, ſogleich bei der Fabrikation einverleibt.
Gelbes Glas erhält man durch Zuſatz von antimoniger Säure oder
von Chlorſilber; rotes am ſchönſten durch Überfangen der fertigen
farbloſen Waren mit einem durch Kupferoxydul rot gefärbten Glaſe,
welches übrigens nach dem Erkalten noch farblos bleibt und erſt durch
neues ſchwaches Anwärmen ſeine prächtige Rubinfarbe erhält. Aus
ſo behandelten Waren kann man durch teilweiſes Wegſchleifen der
Überfangſchicht ſehr ſchön gemuſterte und geſchätzte Stücke herſtellen.
Andere rote Nuancen giebt Eiſenoxyd und Goldpurpur. Das erſtere
färbt bräunlich, der letztere, durch Fällen einer Goldlöſung mit Zinn-
chlorürchlorid erhalten, roſa- bis karminrot. Violett färbt man in der
Maſſe mit Braunſtein; grün mittelſt Eiſenoxydul, ſchöner mittelſt Kupfer-
oxyd oder Chromoxyd. Ein ſchönes und reines Blau wird nur durch
Kobaltoxydul erhalten. Die prächtige Farbe desſelben hat bewirkt,
daß man beſondere Fabriken zum Zwecke der Darſtellung feingemahlenen
blauen Glaſes angelegt hat und dieſes letztere unter dem Namen
Smalte als Farbmaterial in der Glas- und Porzellanmalerei ver-
wendet. Dieſe Induſtrie iſt bereits ſeit dem 16. Jahrhundert bekannt
und wird beſonders in Sachſen betrieben, wo man die häufig anſtehenden
Kobalterze direkt auf dieſem Wege ausbeutet. Man röſtet die Erze,
um ſie zu oxydieren und verglaſt ſie dann durch Schmelzen mit Alkali
und Kieſelerde. Es folgt endlich das Mahlen und Schlemmen der
fertigen Smalte. Außer zu Malereizwecken wird die Smalte auch
als dauerhafte Anſtrichfarbe, ſowie zum Bläuen des Papiers, der
Wäſche u. ſ. w. gebraucht. — Das ſogenannte Milchglas, welches zu
Lampenglocken und dergleichen verarbeitet wird, iſt dem Email ähnlich,
wird aber erhalten, indem man dem gewöhnlichen Glasſatz bis zu
20 % weiß gebrannte Knochen zuſetzt (Beinglas); auch hier iſt der
Fluß klar und die Undurchſichtigkeit entſteht erſt beim Blaſen und
Anwärmen der Stücke.


Hämatinon- und Aventuringlas ſind halbdurchſichtige Gläſer mit
glänzenden Flittern in der Maſſe. Es ſind Kupferoxydulgläſer, in
welchen die Kieſelſäure bedeutend überwiegt und das Kupferoxydul
zum Teil durch Zuſatz einer reduzierenden Subſtanz als metalliſches
Kupfer ausgeſchieden iſt. Das ähnliche, aber farbloſe Perlmutterglas
enthält eingeſtreut glänzende Glimmerblättchen, während das Filigran-
glas in farbloſem oder ſchwach gefärbtem Fluß anders gefärbte
Fäden zeigt.


[870]Die Fabrikation und Verarbeitung des Glaſes.

Frisglas erhält man, wenn man die geformten, noch glühenden
Stücke Dämpfen von Zinnſalz ausſetzt. Die letzteren greifen die Ober-
fläche an und erzeugen ein ſehr feines Häutchen, welches Interferenz-
farben zeigt.


Eisglas erhält man aus gewöhnlichem Glasfluß, indem man das
Stück beim Blaſen noch glühend in kaltes Waſſer taucht, es dann von
neuem erwärmt, bis die zerſprungenen Stücke ſich wieder verbunden
haben und es fertig bläſt. Sehr gutes Kühlen iſt bei den ſehr ge-
ſchätzten Eisglaswaren Hauptbedingung, beſonders dann, wenn man,
um ihm recht viele Sprünge zu verleihen, das Eintauchverfahren wieder-
holt angewendet hat.


Glasperlen bilden einen wichtigen Artikel des Handels. Die
Perleninduſtrie ſtammt von den venetianiſchen Hütten auf Murano,
wo man Perlen aus Glasröhren zuerſt herſtellte. Die Arbeiter ziehen
in der oben geſchilderten Art Röhren aus allen möglichen gefärbten
Gläſern; dieſe werden mittels eines Meſſers in Stücke von gleicher
Länge und Breite zerteilt. Um die gewonnenen Perlen abzuſtumpfen,
mengt man ſie mit gepulvertem Thon und Kohle und erhitzt das
ganze in einem eiſernen rotierenden Cylinder bis zum Glühen. Nach
dem Erkalten erfolgt das Sieben, Sortieren und Aufreihen auf Fäden.
Anders als dieſe maſſiven oder venetianiſchen Perlen werden die als
Imitation der echten Perlen dienenden franzöſiſchen Perlen hergeſtellt.
Nach einem von Jaquin 1656 erfundenen Verfahren bläſt man hohle
Glasperlen und füllt ſie mit einer aus den Schuppen der Weißfiſche
(Üklei) bereiteten Tinktur, welche der Wand der Kugel den matten
Glanz der echten Perlen mitteilt. Früher gewann man die Tinktur
durch Ausziehen und Schütteln der Schuppen mit Waſſer, heute wendet
man ſtatt deſſen beſſer Salmiakgeiſt mit etwas Fiſchleim an. Übrigens
werden die künſtlichen hohlen Perlen auch mit Wachs ausgegoſſen oder
erhalten als Füllung irgend eine ſehr leichtflüſſige Metalllegierung.


Daß man Glas zu außerordentlich feinen Fäden ausziehen kann,
iſt bekannt. Dieſe Fäden, deren Durchmeſſer oft nur 0,01 mm beträgt,
ſind höchſt elaſtiſch. Da ſie zudem allen chemiſchen Einflüſſen trotzen,
ſo hat man den Verſuch gemacht, ſie zu verſpinnen. Das erhaltene
Gewebe zeigt einen außerordentlich ſchönen Glanz, iſt aber für die
Verwendung im allgemeinen ungeeignet, weil die Fäden nie ganz gleich
ausfallen und doch hier und da brechen. Nur einzelne Schmuckgegen-
ſtände ſtellt man daher aus Glasfäden her. Die ſogenannte Glaswolle
dient in der Chemie zu verſchiedenen Zwecken.


Die Glasmalerei, der am meiſten an die bildende Kunſt ſich
anlehnende Zweig der Glastechnik, iſt ſchon in alten Zeiten betrieben
und in gewiſſer Hinſicht zu hoher Vollendung gebracht worden. Die
Erzeugniſſe dieſer Kunſt, die Glasmoſaiken, findet man beſonders in
den älteſten Kirchenbauten des Mittelalters. Die einzelnen Partieen
des Bildes wurden aus Scheiben von der entſprechenden Farbe aus-
[871]Glasperlen. — Glasmalerei.
geſchnitten, die Zeichnung und Schattierung mit Schmelzfarbe auf-
getragen, dieſe eingebrannt und die einzelnen Scheiben durch Bleizüge,
welche möglichſt mit den Konturen des Bildes zuſammenfielen, ver-
bunden. Erſt ſpäter brannte man nicht nur Schwarz ein, ſondern
auch andere Farben. Berühmte Kunſtheroen, wie z. B. Dürer und
van Dyk, haben dazu beigetragen, die Glasmalerei auf eine hohe
Stufe der Vollendung zu bringen; im 15. und 16. Jahrhundert er-
reichte dieſe Kunſt ihre höchſte Blüte, um dann gründlich vernachläſſigt
zu werden und endlich faſt ganz in Vergeſſenheit zu geraten. Erſt in
unſerem Jahrhundert iſt es durch die energiſchen Anſtrengungen ein-
zelner Männer gelungen, den Kunſtzweig der Glasmalerei, welchem
heute die Chemie mit ihren umfaſſenden Entdeckungen zur Seite ſteht,
wieder aufleben zu laſſen. Man kennt jetzt eine ſo große Menge von
bunten Glasflüſſen, daß es mit deren Hülfe gelungen iſt, die früheren
Glasmalereien in Bezug auf Mannigfaltigkeit der Farben und techniſche
Vollendung womöglich noch zu übertreffen.


Bei der Glasmalerei kommt weſentlich ein Punkt in Betracht:
daß nämlich die einzubrennende Farbe mittels eines ſo leichtflüſſigen
Glaſes aufgetragen wird, daß bei dem ſpäteren Brennen zwar dieſes
leichtflüſſige Glas ſchmilzt, nicht aber die Glastafel oder der Gegen-
ſtand, welcher die Malerei erhalten ſoll. Die Unterlage der Darſtellung
wird daher nie aus bleihaltigem Glas, ſondern ſtets aus dem blei-
freien, ſehr ſchwer ſchmelzbaren böhmiſchen Glaſe hergeſtellt. Dagegen
enthält der Fluß, d. h. die gefärbte Schicht, zur Beförderung der
Leichtflüſſigkeit ſtets viel Blei, Wismutoxyd und Borax. Der Maler
legt unter die Glastafel, auf der das Bild ausgeführt werden ſoll,
den Karton der Zeichnung und trägt die nach Art der Smalte zube-
bereiteten, d. h. verglaſten und fein geriebenen Farben mittels Ter-
pentinöls auf. Nach dem Trocknen kommt die Tafel in einen kleinen
Muffelofen von Thon, in welchem ſie in einer auf dem Roſte des
Ofens ſtehenden prismatiſchen, kaſtenförmigen Muffel bis zum Schmelz-
punkt des farbigen Fluſſes erhitzt wird. Die in braun oder ſchwarz
gehaltenen Umriſſe des Gemäldes werden auf die eine, die klaren
Farben auf die andere Seite der Tafel aufgetragen. Auf dieſe Weiſe
erhält man ſtets eine ſcharfe Zeichnung. Es muß noch bemerkt werden,
daß man in der Neuzeit Glasgemälde aus Bildern von der beſchrie-
benen Herſtellungsart mit Glasmoſaiken nach Art der mittelalterlichen
Ausführung kombiniert und damit ſehr ſchöne Wirkungen erzielt hat.
Der preußiſche General Vogel v. Falkenſtein, einer der Führer des
deutſch-öſterreichiſchen Krieges, ſei hier als derjenige Mann genannt,
welcher ſich um das Wiederaufleben der Glasmalerei in Preußen die
größten Verdienſte erworben hat.


[872]Die Thonwaren.

3. Die Thonwaren.


a) Die Thonwarenfabrikation im allgemeinen.


Wie frühe in dem Menſchen der Wunſch erwachte, ſich Behälter
für ihm dienende Stoffe anzuſchaffen, das wiſſen wir nicht. Vorerſt
mußte er wohl für die flüſſigen, durch ihre Beweglichkeit ſich uns ſo
leicht entziehenden Körper nach einer Berge ſuchen, und den Schädel
wie das Horn der erlegten Jagdbeute fand er für dieſen Zweck paſſend.
Jenes Bedürfnis rief alſo die Anfänge der heute ſo entwickelten Horn-
induſtrie ins Daſein. Daß im Erdboden Stoffe ſeien, die in Formen
gebracht werden konnten und, getrocknet und gebrannt, ihre Geſtalt
behielten, das war, wie die Geſchichte der Backſteine uns lehrt, eine
Erfindung, die in den erſten hiſtoriſchen Bauten bereits verwertet ward.
Daß die Kunſt, jene Stoffe zu Geſchirren zu verarbeiten, ſogar vor-
hiſtoriſche Exiſtenz beſaß, das lehren die nicht unbedeutenden Reſte von
Thongeräten, welche wir in den Pfahlbauten finden. In dieſen An-
fängen der keramiſchen Kunſt ſind auch die erſten Elemente der Orna-
mentik verwertet. Das Geſchirr ward hier noch mit bloßer Hand
geformt, es zeigt ſich zuerſt als durchaus unregelmäßig in der Dicke
der Böden und Wände; aber gebrannt iſt es in einer ſelbſt ſtrengere
Forderungen befriedigenden Weiſe. Die nächſte Erfindung auf dieſem
Gebiete, die Töpferſcheibe, war bereits um 1900 v. Chr. in Ägypten
bekannt, denn auf dortigen Wandgemälden erblicken wir ihre An-
wendung. Von dort iſt ſie in Griechenland eingeführt worden, wo
der göttliche Sänger Homer ihre Drehung mit dem Rundtanze verglich.
Sie hat ihr Ausſehen — ſo weit nicht Maſchinenkraft die menſchliche
erſetzte — inzwiſchen nicht weſentlich geändert. Die vertikale Welle
eines wagerechten Schwungrades trägt an ihrem oberen Ende eine
Platte. Der Arbeiter, welcher vor dem Apparate ſitzt, kann durch eine
Stange, den Fuß oder mit Hülfe einer Übertragung das Rad in
Schwung verſetzen. Zugleich ſetzt er die Maſſe, welche geformt werden
ſoll, auf die Platte. Derſelben muß durch Bearbeiten mittels der
Hände während der Drehung die gewünſchte Geſtalt gegeben werden.
Sie wird vermöge der Schwungkraft zuerſt zu einem ſtumpfen Kegel
und durch den Druck der beiden Daumen auf den Oberteil und
der übrigen Finger auf die Seiten zu einem ausgehöhlten Gegenſtande
von beliebiger Form ausgearbeitet. Die Geſchwindigkeit der Drehung
wird der Former natürlich ſo regulieren, daß keine Teile der Maſſe
davonfliegen, und daß ſie genügt, um der Schwungkraft Einfluß auf
die Formgebung zu verſchaffen. Auch die durch Maſchinenkraft be-
wegten Drehſcheiben ſind in Bezug auf ihre Geſchwindigkeit leicht zu
regulieren. Wenn es auf genaue Arbeit ankommt, ſo wird freilich die
Hand nicht alles thun können, man macht dann von Schablonen aus
[873]Die Thonwarenfabrikation im allgemeinen.
Blech Gebrauch, welche den Umriß des zu formenden Gegenſtandes
angeben und gegen die ſich drehende Thonmaſſe gehalten werden.
Iſt die Formgebung vollbracht, ſo kann man den Körper durch einen
dünnen Draht von der Unterlage abſchneiden und zum Trocknen
bringen.


Sahen wir, daß die Bildſamkeit des Thons der Grund iſt, warum
man ihn zu den mannigfachſten Dingen verarbeiten kann, ſo muß noch
eins hinzukommen, um die Brauchbarkeit der geformten Gegenſtände
zu garantieren. Das iſt die Feſtigkeit. Wir wiſſen zwar, daß keines
unſerer irdenen Geſchirre unzerbrechlich iſt, aber ſie beſitzen doch den
hinreichenden Grad von Widerſtandskraft, der ihnen lange Lebensdauer
ſichert. Woher ſchreibt ſich dieſe Eigenſchaft? Der rote Thon iſt ſeiner
chemiſchen Beſchaffenheit nach aus der kieſelſauren Thonerde zuſammen-
geſetzt ſamt größeren oder geringeren Mengen von anderen Salzen
der Kieſelſäure, von Sand und anderen Geſteinsreſten. Wie der
Hauptbeſtandteil ſich der Formung gefügig zeigt, ſo iſt er es, der durch
ſein Bindevermögen die anderen Körperchen in ſich aufnimmt und
ſchließlich bei hoher Temperatur, das ihm beigemengte Waſſer auf-
gebend, zuſammenſintert. Mit dieſem Ausdruck bezeichnet man die
folgende Erſcheinung. Ein Teil der den Thon zuſammenſetzenden
Materialien ſchmilzt beim Brennen, ein anderer, weit überwiegender
Teil bleibt in feſtem Zuſtande, die erſteren aber verkitten dieſe zu einer
beim Erſtarren große Feſtigkeit gewinnenden Maſſe. Jene Bei-
mengungen aber dienen als Flußmittel, d. h. ſie bewirken, daß der
Thon beim Brande an ſeiner Oberfläche ganz ſchmelzen, alſo ſich mit
einer harten Schutzhülle, der Glaſur, umgeben kann, die ihm zugleich
Schönheit verleiht. So unterſcheidet ſich der Thon vom Glaſe dadurch,
daß dieſes ſich aus einer gleichmäßigen Schmelze bildet, während im
ſinternden Thon die ungeſchmolzenen Körperchen überwiegen. Daher
ſchreiben ſich die Vorzüge der Thonwaren gegenüber dem ſpröden
Glaſe. Es vermag eine ungleichmäßige Erwärmung leicht zu ertragen,
die das Glas zum Springen bringen würde. Die Sprödigkeit der
Thonprodukte richtet ſich ſogar ganz genau nach der Menge der Teilchen,
welche beim Brande ungeſchmolzen geblieben ſind. Iſt dieſe ſehr groß,
ſo ſind dieſelben nicht hinreichend mit einander verkittet, und die Maſſe
wird beim Anſtoßen leicht zerbrechen, wie auch beim unvorſichtigen
Erhitzen zerſpringen, ebenſowenig aber vertragen die Thonwaren, welche
beim Brande faſt völlig durchgeſchmolzen ſind und die darum faſt
durchſichtig erſcheinen, die ungleichmäßige Erwärmung. Am beſten
ſind in dieſer Beziehung die Produkte daran, bei welchen das Ver-
hältnis in der Mitte ſteht.


Hieraus ergiebt ſich eine große Verſchiedenheit der Thonwaren ſo-
wohl nach dieſer Eigenſchaft — der Beſchaffenheit des „Scherbens“ —,
dann nach der Natur des verwendeten Thons, der natürlich, je un-
reiner er gebraucht wird, eine deſto geringere Sorgſamkeit beim Brennen
[874]Die Thonwaren.
erfordert; ſchließlich auch nach dem Vorhandenſein oder Fehlen einer
Glaſur. Enthält der Scherben viele geſchmolzene Teilchen, ſo wird er
dem Glaſe auch darin nahe kommen, daß er ein geſchloſſenes, für
Flüſſigkeiten durchaus unpaſſierbares Ganze bildet, das alſo an die Zunge
gelegt, dort nicht feſtkleben wird. Wenn ſolche Waren angeſtoßen
werden, ſo klingen ſie. Von dieſer Art ſind das echte und das weiche
Porzellan, ſowie das Steinzeug. Die andern, welche nur wenig ge-
ſchmolzene Teile enthalten, werden dagegen porös erſcheinen und, ſoweit
ſie nicht glaſiert ſind, Flüſſigkeiten in ſich eintreten laſſen, alſo auch an
der Zunge feſthaften; ſie haben auch nicht den Klang jener. So ſind
die Fayence, das Steingut, das gewöhnliche Töpfergeſchirr und die
Backſteine beſchaffen, welche letzteren wir bereits als Baumaterialien
behandelt haben. Wir werden dieſelben der Reihe nach durchgehen.
Zuvor aber wollen wir in Kürze den Gang angeben, den man bei der
Fabrikation der einzelnen einzuſchlagen haben wird.


Zuerſt wird man den Thon, je feinere Waren man erzeugen will,
deſto ſorgfältiger von den ihm anhaftenden Verunreinigungen befreien
müſſen. Man wird ihn dazu zerkleinern und ſchlämmen, wie das auch
ſchon bei dem minderwertigen Thon für die Backſteine nötig war. Man
bedient ſich dazu großer über einander angelegter Bottiche. In dem
oberſten wird das zerkleinerte Material mit Waſſer gemengt, die Milch, in
welcher die feineren Teile ſchwebend bleiben, läßt man in den folgenden
Bottich eintreten u. ſ. f., bis man nach dem Setzen in den verſchiedenen
Baſſins Material von immer größerer Feinheit hat, welches nun je nach
Bedürfnis in verſchiedenem Verhältnis unter einander gemiſcht weiter
verwendet wird. Die Bildſamkeit zu erhöhen, läßt man den Thon
im allgemeinen erſt faulen, d. h. man durchtränkt ihn mit einer ſich
leicht zerſetzenden Flüſſigkeit, etwa mit Jauche, und läßt ihn an einem
kühlen, feuchten Orte liegen. Dabei färbt er ſich unter Gasentwicke-
lung erſt dunkel und dann wieder hell und erlangt größere Bildſamkeit
und Gleichförmigkeit. Soll das Endprodukt einen geſchloſſenen Scherben
beſitzen, ſo wird man dafür ſorgen müſſen, daß es leicht ſchmelze, und
wird als Flußmittel der Thonmaſſe Feldſpat, Kalk, Gips, auch Knochen-
aſche zuſetzen. Dieſes Durchkneten geſchieht jetzt faſt überall in be-
ſonderen Maſchinen. Sonſt genügt es, den Thon allein mit Waſſer
zu verkneten und weiter zu verarbeiten. Er kommt jetzt auf die Dreh-
ſcheibe, ſoweit er nicht durch Eindrücken in beſondere Gipsformen oder
durch Preſſen in Meſſing- und Eiſenformen oder ſchließlich durch Aus-
gießen der zähflüſſigen Maſſe in Gipsformen, die ihm durch ihre
Poroſität das Waſſer entziehen, ſeine Geſtalt erhält. Nur die feinſten
Verzierungen, wie die Blumen aus Porzellan, werden aus freier Hand
mit Zuhilfenahme des Griffels geformt. Sodann wird der geformte
Körper an der Luft getrocknet und ſchließlich im Ofen gebrannt, um
den für jede Thonware eigentümlichen Scherben zu bilden. In den
meiſten Fällen wird er dabei auch mit der Glaſur verſehen, die man,
[875]Die dichten Thonwaren.
da ſie ja leichter als die übrige Maſſe ſchmelzen ſoll, beſonders auf-
tragen muß. Man rührt die Glaſur, die beim echten Porzellan ein
Gemenge von Thon und Kaliumwaſſerglas iſt und für weniger feine
Waren kieſelſaures Blei enthält, mit Waſſer zu einem dünnen Brei an,
und taucht den durch das ſog. Verglühen erſt vorläufig, aber noch
nicht gar gebrannten Scherben in denſelben, oder man begießt ihn
damit, ſtäubt ihn in die Glaſurmaſſe ein, oder ſchließlich man ver-
dampft Kochſalz im Ofen, das dann mit Thonmaſſe eine Glaſur gibt.


b) Die dichten Thonwaren.


Wir beginnen mit demjenigen Produkt, welches von jeher als das
feinſte gegolten hat, mit dem echten Porzellan. Es iſt zuerſt in China
heimiſch geweſen, und wenn es auch nicht ſo lange bekannt iſt,
wie man früher allgemein glaubte, ſo iſt es doch möglich, daß es
bereits im zweiten Jahrhundert v. Chr. dort fabriziert wurde, und
fällt ſeine Erfindung keinesfalls ſpäter als 89 n. Chr. Von hier aus
wird ſie natürlich auch in das gewerbreiche Nachbarland Japan über-
gegangen ſein, aber fabriziert wurde jenes dort erſt ſeit Beginn des
16. Jahrhunderts. Marco Polo, der bekannte venetianiſche Seefahrer,
welcher um 1380 lange Jahre in chineſiſchen Dienſten ſtand, beſchreibt
die Herſtellung des Porzellans. Unter der Ming-Dynaſtie, da alle
Künſte in China blühten, nahm auch die Porzellan-Fabrikation den
höchſten Aufſchwung: 1431 ward das vielbewunderte Bauwerk, der
100 m hohe Porzellanturm von Nanking gebaut, der jetzt zerſtört iſt.
In Europa ſah man dieſe Waren zuerſt im 16. Jahrhundert und ver-
ſuchte ſofort, ſie ſelbſtſtändig herzuſtellen.


Die kunſtſinnigen Medizäer in Florenz vor allem ſcheuten keine
Koſten, um Porzellan hervorzubringen. Im 17. Jahrhundert war in
Japan die ſogenannte Holländerzeit, und in dem lebhaften Verkehr
mit dem Abendlande bildete das Porzellan ein Hauptzahlungsmittel.
Die Fabrikation im Morgenlande aber paßte ſich zugleich dem Geſchmacke
der Beſteller immer mehr an.


Erſt im Jahre 1706 gelang es dem Alchimiſten Joh. Friedrich
Böttger zu Dresden, den lang geſuchten Stoff aufzufinden. Er ſuchte
den Stein der Weiſen und fand das ſogenannte rote Porzellan, und
diesmal wenigſtens „mangelte der Weiſe nicht dem Stein“. Erlaubte
dieſe Erfindung bereits die Entwickelung eines beſondern Zweiges der
Keramik, ſo ward durch die im Jahre 1709 erfolgte Entdeckung Böttgers,
daß ein Hauptbeſtandteil des Haarpuders Porzellanerde ſei, und die nun-
mehr dadurch erleichterte Auffindung eines großen Lagers derſelben, die
Porzellaninduſtrie im Abendlande vollends eingebürgert. In Meißen ge-
langte dieſelbe ſchnell zu hoher Blüte unter Böttger, dem in der Albrechts-
burg die erſte Fabrik eingerichtet wurde. Streng wurde daſelbſt das
Geheimnis der koſtbaren Induſtrie bewahrt, bis es einzelnen Arbeitern
[876]Die Thonwaren.
zu entkommen gelang und durch ſie die Sache offenkundig ward. Bald
darauf hatte jedes Land ſeine eigene Porzellanfabrik. Die erſte in
Preußen ward 1750 von Wegely zu Berlin eingerichtet, ging aber nach
ſieben Jahren wieder ein; erſt die 1761 von Gotzkowsky gegründete
Fabrik in der Leipziger Straße, welche zwei Jahre ſpäter der Staat
übernahm, hielt ſich, es iſt die heute noch blühende Königliche Por-
zellan-Manufaktur. Am Ende des 17. Jahrhunderts war bereits das
weiche Porzellan in Frankreich erfunden worden, und es wurde bis 1740
in St. Cloud, bis 1753 in Vincennes und von da an in der berühmten
Fabrik zu Sèvres fabriziert.


Was die Erfindung des Porzellans im Auslande hintanhielt, das
war der Mangel des geeigneten Materials. Dieſes iſt der reinſte
Thon, die Porzellanerde oder das Kaolin, welches unvermiſcht in
Europa nicht eben häufig vorkommt, und bei dem Stande der chemi-
ſchen Kenntniſſe im Anfange des vorigen Jahrhunderts nur ſchwer zu
entdecken war. Das Lager bei Meißen verſah die ſächſiſche, dasjenige
bei Halle die preußiſche Manufaktur. Um dieſen für ſich unſchmelz-
baren Stoff beim Brande zur Sinterung zu bringen, mußte man ihm
die geeigneten Flußmittel zuſetzen, als welche die Chineſen längſt Gips
und Feuerſtein erkannt hatten, während z. B. in Berlin Feldſpat und
Quarz verwendet werden. Das gute Berliner und Meißener Porzellan
enthält nur verhältnismäßig wenig Flußmittel, braucht daher eine ſehr
hohe Temperatur, um gar zu brennen. Es zeichnet ſich dafür durch eine
große Widerſtandsfähigkeit gegen raſche Temperaturveränderungen aus,
es iſt gewaltig hart, und da in dünnen Schichten die ungeſchmolzenen
Teilchen nicht auffallen, durchſcheinend. Bevor es mit der Glaſur ver-
ſehen wird, muß es zunächſt bei einer Wärme von 1000° C geglüht
werden. Die Glaſur hat eine ganz ähnliche Zuſammenſetzung, wie der
Scherben, nur daß ſie ein wenig mehr Flußmittel enthält, alſo daß ſie
zwar etwas leichter ſchmilzt, aber auch bei ungleichmäßiger Erwärmung
dem Scherben ſich anſchmiegt und nicht riſſig wird. Nur beim Por-
zellan findet das Glaſieren und Garbrennen zugleich ſtatt, und das
bedingt mit die großen Vorzüge dieſes Produkts. Nur wenig Por-
zellan wird ohne Glaſur gar gebrannt; man nennt dasſelbe Biskuit;
es iſt eine dem Marmor äußerlich ähnliche Maſſe, aus der man Büſten
herſtellt. Das Garbrennen geſchieht bei einer gewaltigen Glut, welche
die Glaſur ganz und den Scherben wenigſtens teilweiſe zum Schmelzen
bringt und wohl höher als bei 1600° C liegt, eine Hitze, welche das
Schmiedeeiſen längſt verflüſſigen würde.


Das Brennen, bei dem es ſich ſowohl um die Erzielung einer
ſehr hohen als auch einer möglichſt gleichmäßigen Hitze handelt, ge-
ſchieht in beſonders für dieſen Zweck konſtruierten Öfen. Wir bilden
in Fig. 473 u. 474 denjenigen ab, der in der Fabrik zu Sèvres ange-
wendet und für Holzkohlenfeuerung beſtimmt war. Der Durchſchnitt
läßt uns drei Stockwerke erkennen, welche durch Gewölbe von einander
[877]Die dichten Thonwaren.
getrennt ſind: in dem oberſten L″ wird das Porzellan verglüht, in
den beiden unteren dagegen gar gebrannt. Es ſind Öffnungen c c in
dem Gewölbe gelaſſen, durch welche die Luft von der einen zur andern
Etage hindurchwandern kann. P P ſind Thüren an den Seiten, durch
die man in die drei Kammern gelangen kann, um die zu brennenden
Gegenſtände darin aufzuſtapeln. Während des Brandes ſind dieſelben
jedoch zugemauert. Die Feuerkäſten f, welche mit Holzkohlen beſchickt

Figure 463. Fig. 473.

Porzellanofen von außen.


Figure 464. Fig. 474.

Porzellanofen (Durchſchnitt).


werden, ſind durch eiſerne Schieber verſchließbar. Das Brennmaterial
wird nur beim Beginn des Vorgangs durch die ſeitlichen Öffnungen
eingebracht; ſobald das Feuer in Gang gekommen iſt, wird dasſelbe
von oben nachgefüllt und der Kaſten gegen ſeitliche Kommunikation
mit der Atmoſphäre geſichert, die oben zuſtrömende Luft iſt es, die
jetzt den Brand im Gange erhält. Durch Kanäle wird den Feuer-
gaſen der Weg in den Ofen gewieſen und ihre richtige Verteilung
garantiert. Die einzelnen Stücke, welche zu brennen ſind, dürfen,
[878]Die Thonwaren.
wenn die Glaſur rein erhalten werden ſoll, nicht mit dem Feuer in
direkte Berührung kommen, ſie werden daher in beſonderen Kapſeln
oder in ähnlichen Muffeln, wie der Galmei bei der Zinkbereitung
(vergl. S. 599) eingeſchloſſen und dann erſt in den Ofen einge-
ſetzt, und zwar ſind die Kapſeln ſo über einander geſchichtet, daß ſie
möglichſt wenig Raum zwiſchen ſich laſſen, nur ſo viel, daß das
Feuer zwiſchen die einzelnen Stöße tretend, alle Kapſeln umzüngeln
kann. Die Fig. 475 zeigt die Anordnung dieſer Kapſeln. Nach
vollbrachtem Dienſt ziehen die Feuergaſe durch die Eſſe ab, deren Deckel
beweglich iſt und je nach dem nötigen Zuge mehr oder weniger geöffnet
wird. Es iſt nicht zu verwundern, daß das Beſtreben, auch andere
Brennſtoffe als die wenig Brennwert beſitzende Holzkohle, in die Thon-

Figure 465. Fig. 475.

Anordnung der Kapſeln in einem Porzellanofen.


Induſtrie einzuführen und dieſelben gehörig auszunutzen, in unſeren Tagen
andere Öfen hervorgebracht hat, wie z. B. den Gasringofen von Mend-
heim, der ſich in der Konſtruktion an Hoffmanns, S. 272 beſchriebenen
Ziegelofen anlehnt. Ganz neuerdings ſind Öfen mit abſteigender oder
überſchlagender Flamme verwendet worden. Bei dieſen ſteigt die
Flamme von dem unteren Raum L L nicht direkt zum Verglühraum L″
empor, ſondern erſt auf einem Umwege durch Kanäle in der Ofenſohle,
die dann in der Mauer ſenkrecht emporſteigen, nach L″ hinauf, ſo daß
gleichzeitig unten das Porzellan gar gebrannt werden kann, und oben bei
einer Temperatur von 1000º die Ware nur verglüht wird. Der Ofen iſt
derart eingerichtet, daß die ſich aus dem Brennmaterial (Holz und
Kohlen) entwickelnden Gaſe erſt, nachdem ſie eine Strecke geſtiegen ſind,
zur Verbrennung gelangen — ähnlich wie bei den auf S. 299 be-
ſchriebenen Regeneratoröfen. Das Brennen in dieſem Ofen dauert für
[879]Die dichten Thonwaren.
das Verglühen 12 Stunden, während der Garbrand noch 14 Stunden
erfordert.


Nur recht wenige von den gebrannten Stücken befriedigen übrigens
durchaus alle an ſie geſtellten Anforderungen. Wenn man Malereien
aufträgt, ſo läßt ſich freilich ein guter Teil der Fehler noch verdecken.
Wie aber geſchieht dies? Man hat zwei Arten von Farben für das
Porzellan: Die Scharffeuerfarben, deren es verhältnismäßig wenige
giebt, vertragen die volle Glut des Garbrandes, die meiſten aber, die
ſogenannten Muffelfarben müſſen nach demſelben auf die Glaſur auf-
getragen und in einem nachfolgendem Brande bei geringerer Hitze in
Muffeln eingebrannt werden. Meiſtens verwendet man Metalloxyde
zum Brennen. Das lange Zeit ein Geheimnis des Reiches der Mitte
geweſene Chineſiſchrot iſt vor wenigen Jahren durch Prof. Seger in
Berlin als vornehmlich in Kupferoxydul beſtehend erkannt worden.
Die Porzellanmalerei, urſprünglich im fernen Oſten heimiſch, hat die
Kunſtinduſtrie des Abendlandes in den letzten Jahrzehnten beſonders
beſchäftigt. Bis vor kurzem wurde es als ein großer Übelſtand
empfunden, daß die meiſten Farben in der vollen Hitze des Ofens
ſich nicht aufbrennen ließen, weil die Metalloxyde durch dieſelbe in
ihre Beſtandteile, das Metall und den Sauerſtoff getrennt wurden.
Deshalb hat nun Seger eine neue Porzellanmaſſe angegeben, welche
eine weit geringere Hitze zum Garbrennen verlangt (1450°), bei der
die meiſten Farben noch beſtehen können. Er miſcht dazu den Thon
in einem anderen Verhältnis mit den Flußmitteln; auch die Glaſur
iſt dabei eine leichter ſchmelzbare. Damit iſt der keramiſchen Kunſt
ein neues Feld eröffnet worden. In Frankreich und England
hat man auch lange Zeit bis auf den heutigen Tag ein leichter flüſſiges
Porzellan, das Frittenporzellan erzeugt, welches dieſelben Vorzüge hat.
Das franzöſiſche, bereits am Ende des 17. Jahrhunderts erfunden
und in Sèvres beſonders gepflegt, iſt freilich kein Thonprodukt, ſondern
ähnelt vielmehr dem Glaſe in ſeiner Hervorbringung. Das engliſche,
dem gewöhnlich Knochenaſche als Flußmittel beigegeben wird, iſt da-
gegen eine echte Thonware. Die Kunſtinduſtrie iſt durch die Erfindung
dieſer beiden Thonwaren beſonders gefördert worden. Das neueſte
Erzeugnis der franzöſiſchen Manufaktur, die ſogenannten „pâte sur pâte,“
erhält man durch Auftragung und Modellierung einer weißen Thon-
ſchicht als Relief auf einen farbigen Thongrund und nachheriges
Brennen. Die Erzeugniſſe ſind den antiken Kameen täuſchend ähnlich.
In England iſt die Porzellaninduſtrie und beſonders dieſer Zweig
derſelben im Pottery-Bezirk am Trent ſo entwickelt, daß der Künſtler
das Pfund Thon zum Werte eines Pfundes Gold erhebt. In Berlin
ſind durch Seger noch die geriſſenen, ſogenannten Kraqueléglaſuren mit
mehreren übereinanderliegenden Farbentönen zur Blüte gebracht worden.


Wer kennt nicht die thönernen Bierkrüge, die ſchöngeformten und
unter der Glaſur bunt bemalten Urnen? Sie ſind aus einer Maſſe
[880]Die Thonwaren.
verfertigt, die dem Porzellan in der Zuſammenſetzung am nächſten
kommt, dem ſogen. Steinzeug. Der Scherben iſt freilich nicht durch-
ſcheinend, wie der des Porzellans, ſondern undurchſichtig und gelb bis
braun gefärbt. Die Glaſur geſchieht hier weit einfacher als bei jenem.
Das Geſchirr kommt nämlich unglaſiert in den Ofen, in welchen Koch-
ſalz geſchüttet wird. Indem dieſes verdampft, bildet es mit der Maſſe
des Scherbens ein Glas, welches an der Oberfläche des Geſchirrs
feſthaftet, und die Salzſäure, welche entweicht. So ſind die Waren
in einem einzigen Brande und zwar bei der Glut der Stahlſchmelze
herzuſtellen. Das Steinzeug hat eine geringere Widerſtandskraft gegen
raſchen Temperaturwechſel als das echte Porzellan, aber da es wegen
der geringen Koſten des Rohſtoffs und des Brandes viel billiger iſt,
ſo findet es eine große Verwendung zu chemiſchen Apparaten, als z. B.
zu Abdampfſchalen und Kühlſchlangen. In dieſem Falle muß man
freilich eine andere Glaſur anwenden, da ſalzglaſierte Geſchirre von
Säuren und Alkalien angegriffen werden. Man glaſiert dann mit
einem ſehr leichtflüſſigen Ziegelthon, der beim Brennen eine rotbraune,
wenig durchſichtige Farbe annimmt. Dies geſchieht in beſonderen, aber
ähnlich wie die Porzellanöfen gebauten Öfen, welche gewöhnlich mit
Kohlen, für ſolche Geſchirre, bei denen es auf Reinhaltung der Ober-
fläche weſentlich ankommt, wie den bemalten und den weißen Stein-
zeugen, aber mit Holz geſchehen muß, da beſonders die aus Stein-
kohlen freiwerdende Schwefelſäure ſchädlich wirkt.


c) Die poröſen Thonwaren.


Von den Steinzeugen iſt das Steingut weſentlich zu unterſcheiden.
Obgleich es bei ziemlich hoher Temperatur gebrannt iſt, etwa derſelben
wie das Steinzeug, ſind doch ſeine Teilchen ſo wenig geſintert, daß
der Scherben des Steinguts porös erſcheint und an der Zunge haftet.
Das iſt die Folge der weſentlich anderen Zuſammenſetzung desſelben:
es iſt entweder aus vielem Thon mit geringen Sandbeimengungen
oder umgekehrt aus viel Sand und wenig Thon gebildet. Da es von
ſchlechterer Qualität als die vorher behandelten Waren iſt, ſo erfordert
es keine ſo ſorgfältigen Vorarbeiten. Die Glaſur wird hier erſt bei einem
zweiten Brande aufgetragen, der im Gegenſatz zur Porzellanfabrikation
bei einer niedrigeren Temperatur ſtattfindet, als der erſte Brand, näm-
lich bei der Silberſchmelze. Die Glaſur war hier bisher ein blei-
haltiges Glas und, da das Blei mit ſeinen Verbindungen giftige
Eigenſchaften beſitzt, ſo war die Anwendung ſolcher Geſchirre immerhin
mit Gefahren für die Geſundheit verknüpft. Wir dürfen es daher als
einen vom hygieniſchen Standpunkte aus freudig zu begrüßenden
Fortſchritt anſehen, daß neuerdings auf Anregung von Prof. Seger
bleifreie Glaſuren gebrannt werden, deren weſentliche Beſtandteile bor-
ſaure Alkalien und Erden ſind. Da dieſe Glaſuren auch an Härte
[881]Die poröſen Thonwaren.
hervorragen, ſo wird damit der Gebrauch des Steingutes weſentlich
zunehmen. Es war in Deutſchland bisher weniger gebraucht, in Eng-
land waren Tafelgeſchirre aus feinem Steingute — Wedgwood ge-
nannt — dagegen längſt verbreitet. Man vermag dasſelbe in der
mannigfachſten Weiſe zu färben und zu ornamentieren. Wenn es rein
weiß iſt, ſo mag es manchmal ſchwer halten, es von dem echten Por-
zellan zu unterſcheiden, dann braucht man aber nur auf die Kanten zu
achten, die wegen der ſchwachen Verſinterung hier niemals durch-
ſcheinend ſind. In der Kunſtinduſtrie ſpielt es eine ſehr unbedeutende
Rolle. Hier erfreuen ſich andere Thonwaren mit poröſen, klebenden
Scherben einer wohlverdienten Berühmtheit. Es ſind die Fayencen
und Majoliken.


Fayence nannten die Franzoſen ein Produkt, das ſie zuerſt am
Ausgange des Mittelalters aus der Stadt Faënza in Italien kennen
lernten. Der Name Majolika kommt von der Baleareninſel Majorka,
wo in eben jener Periode ein reicher Markt an dieſen Thonwaren ge-
halten worden zu ſein ſcheint. Der Anteil dieſer Waren an der Kunſt-
induſtrie war und iſt bis heute noch ſo bedeutend, wie ſelbſt der
des Porzellans, wiewohl beide Stoffe von einander total verſchieden
ſind, der letzgenannte durchſcheinend, dicht und klingend iſt und eine
harte, nie Riſſe bekommende Glaſur beſitzt, die Fayence dagegen von
allen dieſen Eigenſchaften das Gegenteil beſitzt, und, ſchon weil die
Glaſur zum Riſſigwerden neigt, zu Geſchirren viel weniger brauchbar
ſich erweiſt. Man unterſcheidet eine feinere Ware, welche einen weißen
Scherben und eine weiße, durchſichtige Glaſur beſitzt, und eine ge-
meinere Sorte mit gelbem oder rotem Scherben, deren Glaſur undurch-
ſichtig — eine Emaille — iſt.


Die Herſtellung dieſer Waren geſchieht aus geringeren Thonſorten,
als die des Porzellans, welche für feinere Produkte mit Sand und
Feldſpat, für minderwertige mit gewöhnlichem Töpferthon verknetet
werden. Dem Formen fügt ſich die Maſſe leichter als die Porzellan-
maſſe. Der Brand iſt auch hier ein doppelter, aber, wie beim Stein-
gut, iſt der erſte der ſtärkere, während der folgende zum Auftragen der
Glaſur dient, die einen viel niedrigeren Schmelzpunkt hat, alſo ohne
bedeutende Erhitzung ſich bilden läßt, dafür aber auch beim Gebrauche
leicht von dem Scherben abſpringt. Will man die Glaſur aufbrennen,
ſo kann man hier mehrere Geſchirre zuſammenbringen, während
die Porzellanſtücke in den Kapſeln einzeln zu brennen ſind, weil
ihr zweiter Brand zu hohes Feuer verlangt, und man das Zu-
ſammenſchmelzen der Gegenſtände befürchten müßte. Die einzelnen
Fayenceſtücke brauchen dagegen nur durch feinſpitzige Pinnen von
Thon getrennt zu ſein. Man kann daher einen Porzellan- von einem
Fayenceteller leicht unterſcheiden, da der untere Rand des erſteren
unglaſiert, der des letzteren bis auf drei Stellen, wo die Pinnen ſaßen,
glaſiert erſcheint. Oft wird die Fayence rot in den Ofen gebracht und
Das Buch der Erfindungen. 56
[882]Die Thonwaren.
kommt meiſt mit undurchſichtiger weißer Glaſur verſehen zurück. Man
malt die Fayence vor und nach der Glaſur. Man verwendet ſie zu allen
möglichen Geſchirren. Doch iſt die ordinäre Ware, der z. B. die Ofen-
kacheln angehören, wegen ihrer geringen Widerſtandskraft für Koch-
geſchirre nicht zu benutzen. Unter Majolika verſteht man heutzutage
die verſchiedenſten Gattungen der minderwertigen Fayenceſorten.


Ihre Verwertung zu künſtleriſchen Erzeugniſſen läßt ſich bis zu
der Zeit der arabiſchen Herrſchaft in Iberien zurückführen. Die Wände
des gewaltigſten Reſtes mauriſcher Baukunſt, der Alhambra, ſind mit
bunten Flieſen bedeckt, ebenſo wie die morgenländiſchen Moſcheen. Das
ſind Fayencen, welche mit Zinnglaſur bedeckt und mit eingebrannten
Farben bemalt ſind. Die Kunſt der Fayencemalerei wurde um den
Ausgang des Mittelalters immer mehr verbreitet und ausgebildet. In
Deutſchland waren es vor allem Veit Hirſchvogel und ſeine Söhne in
Nürnberg, deren Hirſchvogelkrüge und kunſtvolle Ofenkacheln um die
Wende des 16. Jahrhunderts berühmt waren. Man malte glatte Stücke
oder Reliefs und gab dieſen beim Brande der Emailleglaſur die warmen
Töne, die wir noch heute bei ihnen bewundern. Ihnen ahmte der
Franzoſe Paliſſy nach und übertraf ſie ſogar in der Technik der
Farbengebung. Die franzöſiſchen Fayencen waren während der
folgenden Jahrhunderte, immer unter der Anregung der orientaliſchen
Völker ſtehend, die ſchönſten. Als in der Holländerzeit die chineſiſchen
Produkte in Europa bekannter wurden, das Porzellan aber noch nicht
erfunden war, gaben jene immer neue Muſter für die Entwicklung der
verſchiedenſten Arten der Fayence und ihrer künſtleriſchen Behandlung.
Im vorigen Jahrhundert wurden in Deutſchland Blumenmuſter und
Landſchaftsbilder am meiſten gepflegt. Heutzutage pflegt die Kunſt-
induſtrie die Majoliken, wiewohl gerade in den letzten Jahren in der
Porzellanmalerei die größten Fortſchritte gemacht ſind, nur noch mehr,
denn es läßt ſich mit dieſer nie die Wärme der Tongebung erreichen,
welche den Majoliken eigen iſt. Dieſe ſind unſerm Geſchmack etwa in
demſelben Maße mehr angepaßt, wie uns der Kupferſtich mehr als
der Stahlſtich gefällt. Fayenceteller von Deck in Paris werden mit
2000 bis 4000 Francs bezahlt.


Von der ſtolzen Höhe der Kunſt ſteigen wir zur Fabrikation der
ordinärſten aller Thonwaren, des Töpfergeſchirrs, herab. Wenn wir
von den Blumentöpfen abſehen, an denen wir ſo recht die poröſe
Struktur des Scherbens erkennen können, ſo ſind alle dieſe Waren mit
einer leider bleihaltigen Glaſur überzogen. Man kann alle möglichen,
noch ſo unreinen Thone zu dieſem Geſchirr brennen, erhält aber eine
feuerbeſtändige Ware — das Bunzlauer Geſchirr — nur, wenn die-
ſelben nicht zu viele Beimengungen enthalten. Man nennt dieſen
Zweig der Thoninduſtrie die Brauntöpferei und bezeichnet mit Weiß-
töpferei denjenigen, welcher die ſchlechteſten Küchengeſchirre liefert.
Die Farbe erhalten die auf der Töpferſcheibe geformten Gegenſtände,
[883]Die poröſen Thonwaren.
indem man ſie mit einem Schlamm aus weißem oder farbigem Thon
begießt. Gewöhnlich brennt man nur einmal, und zwar ohne Kapſeln,
und muß dabei natürlich dafür ſorgen, daß die Geſchirre nicht an die
Unterlage oder an einander anſchmelzen. Für den Brand haben ſich
in neuerer Zeit auch hier die Ringöfen mit fortwährendem Betriebe,
die wir bei der Ziegelfabrikation kennen lernten, als die geeignetſten
erwieſen.


Bis zuletzt haben wir uns die ſogenannten Terrakotten aufbehalten,
unter welchem Namen man die verſchiedenartigſten Thonwaren,
Porzellan ſo gut wie Ziegel verſteht, welche bei Bauten und als Zier-
ſtücke eine mannigfache Verwendung haben. Man giebt ihnen für den
erſteren Zweck, als Kapitäle, Konſolen u. ſ. w. eine Färbung, die vom
hellſten Gelb bis zum Schwarz variieren kann und brennt ſie, weil ſie
den Unbilden der Witterung ausgeſetzt ſind, bis zur Sinterung. Die
Zierterrakotten ſind die kleineren Figuren und Vaſen von gelber bis
roter Farbe, welche natürlich feiner gearbeitet ſein müſſen, ſich aber
ſonſt wenig von den erſteren unterſcheiden. Beide Arten haben in der
Geſchichte der Kunſt eine hervorragende Bedeutung von der Zeit der
alten Babylonier und Ägypter bis auf den heutigen Tag.


56*
[[884]]

IX. Die optiſchen Inſtrumente.


1. Die Spiegelung des Lichtes.


Welche Empfindung mag jenes Urmenſchen Herz durchzogen haben,
der am Rande des friſch ſprudelnden Quells ruhend zum erſtenmale
verwundert ſein Ebenbild im Waſſer erblickte — und welch’ eine Fülle
von geiſtiger Arbeit in jahrhundertelangem Sinnen mußte aufgewendet
werden, ehe die erſte ſpiegelnde Fläche geſchaffen war, welche dem
eitlen Drang des Menſchenherzens Genüge that?! Es war zweifellos
ein gewaltiger Schritt in der kulturellen Entwicklung des Menſchen-
geſchlechtes, der durch die Erfindung des Spiegels bezeichnet wird, —
und doch blieben die Vorſtellungen von dem geheimnisvollen Etwas,
das zum Sehen unbedingt notwendig iſt, weit entfernt von geiſtiger
Klarheit. Erſt verhältnismäßig ſpät mag die Vorſtellung, daß vom
Auge gewiſſermaßen unſichtbare Fühler ausgingen, welche die gleichſam
taſtend empfangenen Eindrücke unſerem Vorſtellungsvermögen über-
mitteln, in den Köpfen der alten Philoſophen aufgetaucht ſein, um
ſchließlich derjenigen Anſchauung Platz zu machen, welche den Vorgang
des Sehens auf die Bewegung eines unſichtbaren Mediums zurück-
führte. So richtig an ſich die letztere Deutung war — die An-
ſchauung, welche man damit verband, war falſch; ſollten doch von
dem leuchtenden Körper nach allen Richtungen Stoffteilchen ausgeſendet
werden, die wie Pfeile auf unſer Auge prallen und dort die Empfindung
des Lichtes hervorrufen. Noch Newton verharrte trotz aller Angriffe
auf dem Standpunkte dieſer Emanationstheorie. Aber Kepler bereits
äußerte ſeine Zweifel, und ſo trat allmählich an die Stelle dieſer
Anſicht die von Huyghens 1690 begründete, von Euler energiſch
verteidigte Undulations- oder Wellentheorie, die allerdings erſt 1854
durch Foucault die rechte Sanktion erhielt und ſeitdem unbeſtrittene
Geltung hat.


Nach der Undulationstheorie des Lichtes beſteht dieſes in Schwin-
gungen des den Weltenraum ſtetig erfüllenden Äthers, von deſſen
[885]Die Spiegelung des Lichtes.
Beſchaffenheit wir im übrigen keine Vorſtellung haben, die ſich ähnlich
wie die Schallwellen der Luft verbreiten. Dieſe Fortpflanzung geſchieht
mit einer zwar außerordentlich großen, aber immerhin noch meßbaren
Geſchwindigkeit, und zwar in gerader Richtung; damit iſt alſo geſagt,
daß ein leuchtender Punkt von einem Beobachter nur dann wahr-
genommen werden kann, wenn ſich in der Verbindungslinie zwiſchen
demſelben und dem Auge kein undurchſichtiger Körper befindet. Alle in
der Folge zu beſprechenden optiſchen Inſtrumente ohne Ausnahme,
gleichviel welchem Zweck ſie dienen, haben nun die Aufgabe, einen Licht-
ſtrahl von dem ihm eigenen geraden Wege abzulenken. Das geſchieht
vornehmlich durch die Spiegelung und die Brechung des Lichtes.


Die meiſten Körper werden uns nur dadurch ſichtbar, daß ſie
das von anderen, ſelbſtleuchtenden Körpern auf ſie fallende Licht zurück-
ſtrahlen, reflektieren; diejenigen Körper dagegen, welche alles Licht
verſchlucken oder abſorbieren, ſind dunkel. Eine Reihe von Körpern
laſſen den größten Teil des auf ſie fallenden Lichtes ungehindert durch-
gehen, und dieſe nennen wir durchſichtig, während andere dem Licht
den Durchgang verwehren und als undurchſichtig bezeichnet werden.
Daß dieſer Unterſchied indeſſen nur ein relativer iſt, geht unter anderem
ſchon daraus hervor, daß ſelbſt die undurchſichtigſten Körper, die
Metalle, durchſichtig erſcheinen, ſobald ſie zu hinreichend dünnen
Blättchen verarbeitet werden, und daß andrerſeits das durchſichtigſte
und klarſte Quellwaſſer in großen Tiefen nichts mehr zu unterſcheiden
geſtattet.


Wenngleich die Reflexion des Lichtes an jeder noch ſo unregel-
mäßigen Fläche ſtattfindet und dieſe dann ſichtbar werden läßt, ſo
geſchieht dies doch um ſo vollkommener, je regelmäßiger die reflek-
tierende Fläche geſtaltet iſt. Überall aber herrſcht dasſelbe einfache
Geſetz: „Der einfallende und der reflektierte Strahl liegen in einer
Ebene, welche auf der ſpiegelnden Fläche ſenkrecht ſteht; der Winkel
welchen der reflektierte Strahl mit dem im Einfallspunkte auf der Fläche
errichteten ſogenannten Einfallslote bildet, iſt gleich dem Einfalls-
winkel“. Wird der Einfachheit halber zunächſt eine reflektierende Ebene
betrachtet, ſo beſagt das Geſetz demnach, daß (Fig. 476) die drei
Geraden CD, CE und CF, alſo einfallender Strahl, Einfallslot und
reflektierter Strahl, in einer gemeinſamen Ebene liegen, und daß der
Reflexionswinkel F C E gleich dem Einfallswinkel D C E iſt.


Figure 466. Fig. 476.

Der ebene Spiegel.


Figure 467. Fig. 477.

Das Zuſtandekommen des Bildes beim ebenen Spiegel.


[886]Die optiſchen Inſtrumente.

Glatte Flächen nun, welche infolge möglichſt vollkommener Reflexion
imſtande ſind, von Gegenſtänden Bilder zu erzeugen, nennt man Spiegel;
dieſelben können ſowohl eben als gekrümmt ſein. Stellt M N in Fig. 477
den Durchſchnitt eines vollkommen ebenen Spiegels dar, ſo werden
unter den unendlich vielen Strahlen, welche von dem leuchtenden
Punkte A ausgehen, nur einige infolge der Spiegelung in das Auge
eines Beobachters gelangen; die in Betracht kommenden Grenzſtrahlen
D c und FE des Bündels ſind in der Figur bezeichnet. Denken wir
uns dieſe über den Spiegel hinaus verlängert, ſo ſchneiden ſie ſich in
einem Punkte a, der, wie leicht zu ſehen iſt, eben ſo weit hinter der
Spiegelfläche liegen wird, wie der leuchtende Punkt A vor derſelben.
Da nun das Auge die Lichtquelle oder den leuchtenden Punkt ſtets in
der Verlängerung der in dasſelbe gelangenden Strahlen ſucht, ſo folgt
hieraus, daß ein Beobachter in dem Punkte a ein Bild des leuchtenden
Punktes A erblicken wird. — Was hier für einen leuchtenden Punkt
nachgewieſen wurde, läßt ſich ebenſo leicht für eine beſtändige Folge
von leuchtenden Punkten, alſo eine leuchtende Linie, und ſchließlich
ganz allgemein zeigen, da man nur für jeden einzelnen Punkt eines
Gegenſtandes die vorſtehend durchgeführte Betrachtung zu wieder-
holen hat.


Die Geſchichte des Spiegels, der als wichtiges Kulturmittel bei
civiliſierten und bei unkultivierten Völkern von jeher eine bedeutende
Rolle geſpielt hat, iſt zweifellos uralt, und die auf uns überkommenen
vielgeſtaltigen Muſter und Formen aus der Zeit der alten Griechen
und Römer beweiſen, welche hohe Fertigkeit man ſchon frühzeitig in
ihrer Herſtellung erlangt, und welchen Luxus man mit ihnen zu treiben
verſtanden hatte.


Selbſt die allerbeſten ſpiegelnden Flächen können niemals ſo voll-
kommen hergeſtellt werden, auch wenn ſie auf das ſorgfältigſte poliert
ſind, daß der Anblick des Bildes im Spiegel denjenigen des Gegen-
ſtandes zu erſetzen vermöchte, da ſtets ein Teil des auffallenden Lichtes
abſorbiert, ein anderer zerſtreut reflektiert wird. Die bekannten Glas-
ſpiegel, deren Fabrikation auf S. 860 ff. eingehend behandelt worden
iſt, ſtehen in dieſer Beziehung den vollkommeneren Metallſpiegeln
namentlich auch deswegen erheblich nach, weil nicht bloß ihre mit
Zinnamalgam bedeckte Rückſeite ſpiegelnd wirkt, ſondern auch die vordere
Fläche, wiewohl in geringerem Maße, dieſe Eigenſchaft beſitzt. Des-
halb giebt man für wiſſenſchaftliche und techniſche Zwecke, wo man
zur Verwendung möglichſt vollkommener Spiegel genötigt iſt, faſt aus-
nahmslos den polierten Metallflächen oder den auf der Vorderſeite
mit einem Metallüberzuge verſehenen ebenen Gläſern, deren Herſtellung
ſpäter zu beſprechen ſein wird, den Vorzug.


Noch einer anderen aus den obigen Darlegungen leicht zu
folgernden Eigenſchaft ebener Spiegel, die beſonders häufig in der
Praxis Anwendung findet, muß an dieſer Stelle gedacht werden. Wird
[887]Die Spiegelung des Lichtes.
nämlich ein Spiegel, auf welchen ein Lichtſtrahl fällt, um einen ge-
wiſſen Winkel gedreht, während der einfallende Strahl ſeine Richtung
unverändert beibehält, ſo dreht ſich der reflektierte Strahl um den
doppelten Betrag. Dies wird vornehmlich zur Meſſung ſehr kleiner
Schwankungen oder Winkelbewegungen in der ſubmarinen Telegraphie
benutzt, wo man mit außerordentlich ſchwachen elektriſchen Strömen
zu arbeiten gezwungen iſt. Die große Zahl der ähnlichen Anwendungen
des Spiegels, die alle auf dieſem einfachen Prinzip beruhen, kann hier
unmöglich eingehender behandelt werden; es ſei nur darauf hingewieſen,
daß die Genauigkeit dieſer Methode beliebig weit getrieben werden kann,
da man es in der Hand hat, den Lichtzeiger dem gewünſchten Zwecke
entſprechend hinreichend groß zu machen.


Eine beſonders intereſſante Anwendung hat die erwähnte Eigen-
ſchaft der Spiegel zur Beſtimmung des Winkels zwiſchen zwei Objekten
gefunden. Das dieſem Zwecke dienende Inſtrument, der Spiegelſextant,
welches ſowohl für die praktiſchen Zwecke der Aſtronomie, als für die
Nautik von höchſter Wichtigkeit geworden iſt, bedarf hier nur der Er-
wähnung, da es auf S. 805 ff. bereits eingehende Berückſichtigung ge-
funden hat.


Zwei unter einem beſtimmten Winkel gegeneinander geneigte
Spiegel geben von einem zwiſchen ihnen befindlichen Objekte mehrfache
Bilder, deren Anzahl gleich dem Bruchteil iſt, welchen der gegenſeitige
Neigungswinkel von 360° oder dem ganzen Kreisumfang ausmacht.
Auf dieſer Eigenſchaft der Winkelſpiegel beruht ein ſinnreiches wohl-
bekanntes Spielzeug, das Kaleidoſkop, das im weſentlichen aus drei
unter einem Winkel von 60° zuſammenſtoßenden Spiegeln beſteht, die
in eine Pappröhre eingeſchloſſen werden und ihre ſpiegelnden Flächen
einander zukehren. In die durch Glas abgeſchloſſene Röhre bringt
man, natürlich zwiſchen die Spiegel, bunte Glasſtückchen u. dergl. und
betrachtet von der anderen, ebenfalls durch Glas verſchloſſenen Seite
der Röhre aus die entſtehenden Spiegelbilder, die ſich zu den mannig-
fachſten Formen und Geſtaltungen in faſt unerſchöpflicher Fülle und
wunderbarer Regelmäßigkeit zuſammenfügen, welche die Phantaſie ſelbſt
des geſchickteſten Muſterzeichners zu übertreffen imſtande ſind. Nach
mehrfach vorangegangenen ähnlichen Verſuchen, deren u. a. Porta ſchon
um die Mitte des 17. Jahrhunderts gedenkt, wurde das Inſtrument
im Jahre 1817 durch Brewſter von Paris aus in den Handel ge-
bracht und hat ſich als beliebtes Spielzeug bis in die neuſte Zeit be-
haupten können. Auf demſelben Prinzip beruht das Debuſkop, deſſen
Konſtruktion 1860 von Debus angegeben wurde, das aber eigentlich
weiter nichts als ein gewöhnlicher Winkelſpiegel, aus zwei Spiegeln
beſtehend, iſt und deshalb auf eine eigene Bezeichnung keinen Anſpruch
erheben darf.


Das Reflexionsgoniometer, ein von Wollaſton zur Beſtimmung
der Winkel zwiſchen Kryſtallflächen erfundenes Inſtrument, benutzt die
[888]Die optiſchen Inſtrumente.
ſpiegelnde Eigenſchaft der regelmäßigen Kryſtallflächen, deren gegenſeitige
Neigung beſtimmt werden ſoll. Der Kryſtall wird auf einem geteilten
Kreiſe ſo aufgeſtellt, daß die Schnittkante der zu unterſuchenden
Kryſtallflächen ſenkrecht auf der Ebene des Kreiſes ſteht. Auf dieſe
Schnittkante läßt man dann von einer Lichtquelle ein Strahlen-
bündel ſymmetriſch auffallen, ſodaß es nach beiden Seiten hin teilweiſe
reflektiert wird. Ein mit dem Kreiſe drehbar verbundenes Fernrohr
dient dazu, nacheinander die beiden ſchmalen reflektierten Lichtbündel
einzuſtellen; an dem geteilten Kreiſe ſelbſt wird der Drehungswinkel
des Fernrohres und damit der doppelte Winkel abgeleſen, welchen die
Kryſtallflächen einſchließen.


Der Helioſtat iſt in ſeiner einfachſten Form ein ebener Spiegel,
welcher mit einem Uhrwerk in Verbindung gebracht und in geeigneter
Weiſe ſo aufgeſtellt wird, daß die von der Sonne auf die Spiegelfläche
fallenden Strahlen nach der Reflexion unverändert dieſelbe Richtung
behalten. Bei Beobachtungen oder Experimentalverſuchen bewirkt das
Inſtrument alſo gleichſam, wie das auch ſchon der Name andeutet, ein
Stillſtehen der Sonne. Die Konſtruktion der Helioſtaten iſt verhältnis-
mäßig neu und in ihren weſentlichen Zügen von van Graveſande erſt
im Jahre 1717 angegeben.


Einem weſentlich anderen Zweck dient der Heliotrop, deſſen Er-
findung wir unſerm großen Mathematiker Gauß (1821) verdanken. Dieſes
Inſtrument ſoll optiſche Signale, Lichtblitze, namentlich für die Zwecke
der Feldmeßkunſt, auf große Entfernungen, bis zu 100 km, vermitteln.
Am meiſten eignet ſich dazu wegen der beträchtlichen Intenſität und
wohl beſtimmten Form ein von einem Spiegel reflektiertes Sonnen-
bild, das einem entfernten Beobachter zugeworfen und von demſelben
in einem geeigneten Fernrohr betrachtet wird. Um ſicher ſein zu können,
daß die Strahlen auch thatſächlich das Auge des Beobachters erreichen,
iſt an der Ausgangsſtation ein ähnliches Fernrohr aufgeſtellt und mit
dem Spiegel überdies ein genau ſenkrecht dazu ſtehender zweiter Spiegel
feſt verbunden. Werden die beiden Fernrohre direkt auf einander ge-
richtet, ſo hat der das Signal entſendende Beobachter nur dafür Sorge
zu tragen, daß durch geeignete Drehung des Doppelſpiegels ein Sonnen-
bild von dem einen Spiegel in ſeinem Fernrohr ſichtbar wird; die von
dem anderen Spiegel ausgehenden Strahlen müſſen dann notwendiger-
weiſe ihr Ziel erreichen.


Statt der gewöhnlichen ebenen Spiegel kommen auch oft durch-
ſichtige Glasplatten zur Verwendung, die zwar weniger vollkommen
ſpiegelnd wirken, in manchen Fällen aber einer wichtigen Anwendung
fähig ſind. Namentlich zur Hervorzauberung von Geiſtererſcheinungen
im Theater ſind ſie unerläßlich. Um einen ganz einfachen Fall zu be-
ſchreiben, denke man ſich einen auf einem Tiſch liegenden Gegenſtand,
hinter welchem man einen Spiegel geneigt aufſtellt; bei einer beſtimmten
Neigung wird man ein ſenkrechtes Spiegelbild erblicken. Auf dieſe Weiſe
[889]Die Spiegelung des Lichtes.
erklärt ſich auch das häufig gezeigte Künſtſtück einer frei im Raum ſchwe-
benden Perſon, welche die verwickeltſten Bewegungen ſcheinbar mühelos
ausführt, bald aufrecht ſchwebt, bald wieder mit dem Kopfe nach unten
gleichſam in das Meer hinabzutauchen im Begriffe ſteht. Auf der voll-
kommen verdunkelten Bühne iſt eine große Glastafel geneigt aufgeſtellt,
welche dem Zuſchauer ſcheinbar einen ungehinderten Blick auf die that-
ſächlich durch Spiegelung ſichtbar werdenden Dekorationen geſtattet, im
übrigen aber durch geeignete Draperieen abgegrenzt iſt. Von einer mehr
oder weniger wagerecht liegenden Perſon, welche die genau vorgeſchriebenen
Bewegungen ausführt, vielleicht gar auf einer drehbaren, im übrigen
unſichtbaren Scheibe ruht und nun durch eine intenſive Lichtquelle be-
leuchtet wird, erblickt der Zuſchauer ein ſenkrechtes Spiegelbild, ohne
von der Täuſchung ſelbſt eine Ahnung zu haben, da er die ſpiegelnde
Scheibe nicht zu erkennen vermag. Für die Geiſtererſcheinungen hat
man meiſt etwas kompliziertere Einrichtungen erſonnen, um das Zu-
ſammenwirken der Geiſtererſcheinung mit den auf der Bühne beſchäf-
tigten Schauſpielern, die von jener ſelbſt nichts wahrnehmen, zu er-
möglichen.


Wie durch ebene Spiegel, ſo können auch durch regelmäßig
gekrümmte Flächen Bilder von leuchtenden Gegenſtänden erzeugt
werden; natürlich bleiben die früher bereits ermittelten Geſetze für die
Spiegelung in Geltung und finden ohne weiteres und ohne irgend-
welche Einſchränkung auch hier Anwendung. Gleichwohl werden wir
uns auf die Betrachtung ſolcher ſpiegelnden Flächen beſchränken, welche
einen Teil einer Kugelfläche ausmachen, weil dieſe die einfachſten
Verhältniſſe darbieten und für die Praxis faſt ausſchließlich von
Wichtigkeit ſind. Denken wir uns die Innenſeite eines Teils einer
Kugel poliert und ſpiegelnd gemacht, ſo haben wir einen Hohl- oder
Konkavſpiegel; iſt die erhabene Seite ſpiegelnd, ſo nennen wir den
Spiegel konvex. Da die letztere Art für optiſche Anwendungen aber
nicht in Betracht kommt, ſo werden wir nur die Hohlſpiegel in der
erforderlichen Ausführlichkeit zu behandeln haben.


Stellt A B in der Fig. 478 den Durchſchnitt eines Hohlſpiegels,
C den Kugel- oder Krümmungsmittelpunkt und D den Mittelpunkt
der Spiegelfläche dar, ſo nennt man C D die Axe des Spiegels und den
Halbierungspunkt F dieſer Strecke den
Brennpunkt. Ein zur Axe paralleler
Strahl E G wird im Punkte G vom
Spiegel reflektiert. Um die Richtung
des reflektierten Strahles zu erhalten,
denke man ſich die Linie C G, welche
in dieſem Falle das Einfallslot
darſtellt, gezogen und trage den Ein-
fallswinkel E G C nach der anderen
Seite an C G an. Es läßt ſich nun

Figure 468. Fig. 478.

Der Hohlſpiegel als Brennſpiegel.


[890]Die optiſchen Inſtrumente.
einfach zeigen, daß alsdann ſtets die Richtung des reflektierten Strahles
durch F hindurchgehen wird, ganz ohne Rückſicht darauf, in welchem
Abſtande wir den Strahl E G von der Axe annehmen. Daraus folgt
der ſehr wichtige Satz, daß alle Strahlen, welche parallel auf einen
Hohlſpiegel auffallen oder mit anderen Worten aus dem Unendlichen
kommen, ſich nach der Reflexion in einem gemeinſamen Punkte ver-
einigen; da man in dieſem durch reflektierte Sonnenſtrahlen wegen der
beträchtlich vermehrten Wärmeentwickelung Körper zum Entzünden bringen
kann, ſo hat man eben für ihn die Bezeichnung „Brennpunkt“ gewählt.
Umgekehrt werden natürlich Strahlen, welche vom Brennpunkte aus-
gehen, nach der Reflexion parallel zur Axe des Hohlſpiegels verlaufen.


Betrachten wir weiter einen leuchtenden Punkt in der Axe ſelbſt,
zwar nicht mehr in unendlicher, aber immer noch in beträchtlicher
Entfernung vom Spiegel, und greifen wir den Strahl heraus, welcher
in G auf den Spiegel fällt, ſo wird der Einfallswinkel dieſes Strahles
notwendig kleiner ſein, als bei dem parallel zur Axe einfallenden
Strahl; demgemäß muß auch der reflektierte Strahl zwiſchen G C und
G F fallen. Es läßt ſich auch hier wieder nachweiſen, daß ſämtliche
von einem leuchtenden Punkte der Spiegelaxe ausgehenden Strahlen
ebenfalls einen gemeinſamen Vereinigungspunkt haben, der zwiſchen
F und C fällt, wenn der leuchtende Punkt jenſeits von C liegt. Im
letzteren Punkte ſelbſt würden leuchtender Punkt und Bild zuſammen-
fallen; rückt aber jener näher an F heran, ſo entfernt ſich der Ver-
einigungspunkt der reflektierten Strahlen beſtändig von C, bis ſchließlich
das Bild von F ins Unendliche ſelbſt fällt, die Strahlen alſo parallel
zur Axe verlaufen.


Immer indeſſen erhalten wir noch, abgeſehen von dem letzten
Grenzfall, wie wir ſehen, für die Strahlen einen reellen Vereinigungs-
punkt, für den leuchtenden Punkt alſo ein reelles Bild. Nehmen wir
nun aber den leuchtenden Punkt zwiſchen F und D an, ſo finden wir,
daß die reflektierten Strahlen auseinandergehen; einem vor dem Spiegel
befindlichen Auge ſcheinen mithin die Strahlen von einem jenſeits des
Spiegels liegenden Punkt auszugehen, und in dieſem Falle haben wir
nur einen ſogenannten virtuellen Bildpunkt.


Was von einem leuchtenden Punkte geſagt wurde, gilt, wie an
einem einzigen Beiſpiel gezeigt werden möge, nun auch allgemein für
leuchtende Körper. So lange der Gegenſtand nicht in den Raum F D
rückt, erhält man von demſelben ein reelles, aber umgekehrtes Bild,
das um ſo größer ſein wird, je näher dem Brennpunkte ſich der
Gegenſtand befindet, während ein zwiſchen D und F befindlicher Körper
ſtets nur ein aufrechtes virtuelles Bild erzeugen kann.


Es ſei in Figur 479 a b der leuchtende Gegenſtand; der Punkt a
möge in der Axe des Spiegels angenommen werden. · Der von a
durch den Mittelpunkt C gehende ſogenannte Hauptſtrahl a D wird in
ſich ſelbſt zurückgeworfen; er giebt aber, wie aus der Konſtruktion des
[891]Die Spiegelung des Lichtes.
zu a G gehörigen reflektierten Strahles folgt, ein Bild in a'. Durch
ganz analoge Betrachtungen findet man, daß der Hauptſtrahl b C H
ein Bild des Punktes b in b' erzeugt. Verbindet man a' und b' mit
einander, ſo hat man
offenbar ein reeles, aber
umgekehrtes, in dieſem
beſonderen Fall übrigens
verkleinertes Bild von
a b; dasſelbe wird mit
der Verringerung des
Abſtandes F a immer
größer, wie bereits oben
angedeutet wurde.


Figure 469. Fig. 479.

Das Zuſtandekommen des Bildes beim Hohlſpiegel.


Ähnlich erhellt aus
der einfachen Konſtruktion, daß von einem zwiſchen D und F befind-
lichen leuchtenden Gegenſtande ein aufrechtes, vergrößertes, aber virtuelles
Bild hinter dem Spiegel entſteht.


In Wirklichkeit werden übrigens auch die parallel auffallenden
Strahlen nicht alle genau in dem Brennpunkte zur Vereinigung
gebracht; es entſpricht demnach einem leuchtenden Punkte nicht wieder
ein Punkt im Bilde, ſondern ein mehr oder minder großer leuchtender
Kreis. Dieſe Eigenſchaft der ſphäriſchen oder Kugelſpiegel nennt
man die ſphäriſche Aberration oder Abweichung; ſie wird um ſo
auffälliger, je ſtärker die Krümmung des Spiegels iſt, und je größer
man die Öffnung oder den Durchmeſſer der Kugelkappe macht. Ver-
mieden wird die ſphäriſche Aberration, die uns weiterhin auch noch
bei den optiſchen Linſen beſchäftigen wird, indem man ſtatt der ſphäriſchen
Spiegel paraboliſch gekrümmte ſpiegelnde Flächen anwendet oder die
Öffnung und die Krümmung des Spiegels möglichſt klein macht. Bei
paraboliſchen Spiegeln findet nämlich, was für praktiſche Anwendungen
mitunter von Wichtigkeit iſt, die Vereinigung der von einem unendlich
fernen Punkte ausgehenden Strahlen theoretiſch in aller Strenge nach
der Reflexion wieder im Brennpunkte ſtatt; um ſo größer ſind dafür
wieder die praktiſchen Schwierigkeiten, welche ſich der Herſtellung der-
artiger Spiegelflächen entgegenſtellen.


Eine große Rolle ſpielen die Hohlſpiegel namentlich zu Beleuch-
tungszwecken, unter anderem bei den zur Sicherung der Seeſchiffahrt
getroffenen Einrichtungen. Die bedeutendſte Anwendung aber finden
die Konkavſpiegel wohl in den ſpäterhin im Zuſammenhange mit den
dioptriſchen Fernrohren zu behandelnden Spiegelteleſkopen.


2. Die Brechung des Lichtes.


Bisher haben wir ausſchließlich die Bewegung des Lichtes inner-
halb eines und desſelben Mittels, in der Luft, betrachtet. Wie geſtalten
[892]Die optiſchen Inſtrumente.
ſich nun aber die Verhältiſſe, wenn ein Strahl aus einem durchſichtigen
Körper in einen anderen überzutreten gezwungen iſt? Was dabei geſchieht,
erkennen wir ſehr einfach, wenn wir einen Stab in Waſſer tauchen:
wir bemerken nämlich, daß der Stab an der [Trennungsfläche] zwiſchen
Luft und Waſſer eingeknickt erſcheint. Was hier für den Stab aber nur
zu ſein ſcheint, iſt für den Lichtſtrahl wirklich der Fall. So beob-
achten wir allgemein, daß ein Lichtſtrahl, der aus einem Medium in
ein anderes von verſchiedener Dichtigkeit übergeht, an der Trennungs-
fläche ſeine Richtung verändert, und zwar um ſo ſtärker, je größer der
Winkel iſt, welchen der einfallende Strahl mit dem Einfallslote bildet.
Das einfache Geſetz, nach welchem dieſe Brechung vor ſich geht, wurde
im Jahre 1620 von Snellius entdeckt, aber erſt 1637 von Descartes

Figure 470. Fig. 480.

Brechung eines einfallenden
Strahles in Waſſer.


veröffentlicht. Betrachten wir z. B. die ein-
fachen Verhältniſſe bei Luft und Waſſer, ſo
ergiebt ſich nach Fig. 480 für jeden einfallenden
Strahl der zugehörige gebrochene Strahl durch
folgende höchſt einfache Konſtruktion, die wir
im folgenden ſtets als bekannt vorausſetzen
werden. Wir beſchreiben um den Punkt c, in
welchem der einfallende Strahl die Trennungs-
fläche m n trifft, einen Kreis mit beliebig großem
Radius und ziehen durch den Schnittpunkt a
des einfallenden Strahles mit der Peripherie
parallel zur Trennungsfläche die Sehne a d;
alsdann tragen wir auf der andern Seite ¾ von derſelben an und fällen
endlich von dem Endpunkt g dieſer Strecke ein Lot auf die Trennungs-
fläche, deſſen Verlängerung die Kreisperipherie in b trifft. Dann ſtellt c b
die Richtung des gebrochenen Strahles vor, die demnach näher
am Einfallslote liegt, als der einfallende Strahl. Ganz analog
ſind natürlich die Verhältniſſe, wenn man den Übergang eines
Strahles aus Waſſer rückwärts in Luft verfolgt, nur kann dabei
gelegentlich der Fall eintreten, daß der Strahl, wenn er zu ſchräg auf
die Trennungsfläche fällt, überhaupt nicht mehr in die Luft übertritt,
ſondern reflektiert wird. Aus dem Brechungsgeſetz ſelbſt ergiebt ſich
die Größe des Winkels für den äußerſten Strahl, welcher noch eben
ſtreifend austreten kann; alle andern Strahlen erfahren, wie man ſagt,
eine totale Reflexion. Dieſelbe iſt es z. B., welche uns die Luftbläschen
im Waſſer als glänzende Perlen ſichtbar werden läßt, während die
Erſcheinungen der Fata morgana auf der einfachen Brechung der Licht-
ſtrahlen in verſchieden dichten Schichten der Atmoſphäre und die pracht-
volle Erſcheinung des Regenbogens gleichzeitig auf der Brechung und
totalen Reflexion des Sonnenlichtes an den Waſſerkügelchen der Wolken
beruht.


Von der Eigenſchaft der totalen Reflexion macht man beſonders
häufig bei ovtiſchen Inſtrumenten Gebrauch. Man bedient ſich dazu
[893]Die Brechung des Lichtes.
in der Regel der Prismen, d. h. durchſichtiger Körper, an denen zwei
unter einem beſtimmten Winkel gegeneinander geneigte Flächen an-
geſchliffen ſind. Ihre Form iſt hinläglich aus den bekannten Glas-
oder Bergkryſtallprismen bekannt, die wir an unſern Kronleuchtern
häufig als Zierrat angebracht finden.


Für die praktiſche Anwendung kommen faſt ausſchließlich Prismen
aus Glas in Betracht, bei denen für jene Konſtruktion das Einfallslot
auf ⅔ verkürzt werden mußte. Läßt man durch ein ſolches Prisma
weißes Sonnenlicht fallen, und konſtruiert man zu jedem Strahl nach
dem früher geſchilderten Verfahren den zugehörigen gebrochenen Strahl,
ſowohl beim Eintritt in das Glas als beim Austritt aus dem Glaſe
wieder in Luft, ſo ſieht man, daß der Richtungsunterſchied der beiden
in der Luft verlaufenden Strahlenbündel um ſo beträchtlicher wird, je
größer der Einfallswinkel war. Der Richtungsunterſchied des ein-
fallenden und des gebrochenen Strahles, wenn man von dem innerhalb
des Prismas verlaufenden Strahl als nebenſächlich abſieht, iſt abhängig
von der Größe des brechenden Winkels, d. h. desjenigen Winkels,
welchen die Prismenflächen einſchließen.


Am intereſſanteſten iſt aber die Erſcheinung, daß man von der
Sonne nicht etwa ein weißes Bild erhält, ſondern ein in die Länge
gezogenes farbiges Band, das allgemein unter dem Namen Spektrum
bekannt iſt. Dieſe Zerlegung des weißen Sonnenlichtes in ſeine, aus
der Erſcheinung des Regenbogens bekannten vielfarbigen Beſtandteile
hat uns Newton gelehrt. Ein in den Gang der farbigen Strahlen
eingeſchaltetes zweites, dem erſten genau gleichgeformtes Prisma von
entgegengeſetzter Lage vereinigt die einzelnen Teile des Spektrums wieder
zu einem weißen Bilde. Die allgemeine Eigenſchaft der brechenden
Körper, Sonnenlicht oder allgemein weißes Licht in verſchiedene Farben
aufzulöſen, nennt man Disperſion oder Farbenzerſtreuung; ſie beruht
darauf, daß die das Sonnenlicht zuſammenſetzenden Strahlen von ver-
ſchiedener Farbe verſchieden ſtark abgelenkt werden. In dem durch
die Farbenzerſtreuung des Prismas entſtehenden glänzenden Farbenbande
erkennt man bei aufmerkſamer Betrachtung eine Unzahl dunkler Linien,
die quer durch dasſelbe hindurchgehen, und die nach ihrem Entdecker (1814)
den Namen Fraunhoferſche Linien bekommen haben. Es kann hier
nur angedeutet werden, daß dieſe Linien je nach ihrer Lage im Spektrum
für dieſen oder jenen Grundſtoff charakteriſtiſche Merkmale ſind, ſo daß
aus ihrer Anweſenheit auf das Vorhandenſein jener Grundſtoffe inner-
halb derjenigen Lichtquelle geſchloſſen werden kann, in deren Spektrum
ſolche Linien beobachtet werden. So kann man, wie S. 579 geſagt
iſt, beim Beſſemer-Verfahren den Kohlegehalt des Stahls am Spektrum
der ſich dabei bildenden Flammen beobachten. Um übrigens ein möglichſt
ſtark in die Länge gezogenes Spektrum zu erhalten, und um andererſeits
Meſſungen der Lage der einzelnen Frauenhoferſchen Linien anſtellen
zu können, bedient man ſich eines ſogenannten Spektralapparates, wie
[894]Die optiſchen Inſtrumente.
derſelbe in etwas kompendiöſerer Form in Fig. 481 dargeſtellt iſt. Ein
mit einer ſchmalen Spaltöffnung verſehenes Fernrohr A dient dazu, von
irgend einer Lichtquelle kommende Strahlen parallel auf die geeignet
aufgeſtellten vier oder mehr Prismen zu werfen. Das durch ſtarke

Figure 471. Fig. 481.

Spektralapparat.


Ablenkung und Farbenzerſtreuung entſtandene Spektrum wird mit dem
Fernrohre B betrachtet, mit welchem überdies eine geeignete Meß-
vorrichtung in Verbindung gebracht werden kann.


Für die Anwendung optiſcher Prismen wird oft die Farben-
zerſtreuung ſehr unbequem. Nun beobachtete man, daß, entgegen der von
Newton vertretenen Anſchauung, zwiſchen dem Brechungs- und dem
Farbenzerſtreuungsvermögen verſchiedener Körper ein einfaches Verhältnis
nicht ſtattfindet; daher mußte es möglich ſein, durch Prismen von ver-
ſchieden ſtark brechenden Glasſorten, die entgegengeſetzt aneinander gefügt
werden, bei geeigneter Wahl ihrer brechenden Winkel die Ablenkung
des Strahles aufzuheben, ohne daß das Spektrum beſeitigt wird.
Derartige Prismenkombinationen werden mehrfach ſeit einiger Zeit
angewendet, namentlich für die Herſtellung der bekannten Spektroſkope
à vision directe, die zwar weniger vollkommen, aber wegen der geraden
Durchſicht erheblich bequemer ſind. Solche geradſichtigen Spektroſkope
wurden zuerſt von Hoffmann im Jahre 1863 konſtruiert und erfreuen
ſich noch heute einer großen Beliebtheit. Ein ſehr wirkſames Inſtru-
ment dieſer Art mit 7 Prismen iſt in Fig. 482 abgebildet. Anderer-
ſeits kann natürlich durch ähnliche Überlegungen gefolgert werden, daß
ein doppeltes Prisma unter Umſtänden imſtande ſein wird, immer noch
[895]Die Brechung des Lichtes.
eine Ablenkung eines Strahles herbeizuführen und dabei doch, wenig-
ſtens angenähert, das Spektrum zu zerſtören, alſo ein nahe farbloſes
Bild von einem Gegenſtand zu erzeugen. Eine ſolche achromatiſche
Prismenkombination, welche zwar das Licht bricht, aber keine Farben-

Figure 472. Fig. 482.

Taſchenſpektroſkop.


zerſtreuung beſitzt, iſt zuerſt von dem Optiker Dollond im Jahre 1757
konſtruiert worden, nachdem von Euler die Möglichkeit dazu nach-
gewieſen worden war; für die ganze Entwickelung der optiſchen In-
ſtrumente iſt dieſe Erfindung, wie ſpäterhin noch zu zeigen ſein wird
von beſonderer Wichtigkeit geworden, obgleich ſelbſt
Newton die Möglichkeit einer Vermeidung der Farben-
zerſtreuung durchaus verneint hatte. Für die Her-
ſtellung einer achromatiſchen Prismenkombination, wie
eine ſolche in Fig. 483 dargeſtellt iſt, kommen vor-
nehmlich böhmiſches oder Kronglas und das erheblich
ſtärker zerſtreuende, ſtark bleihaltige Flintglas, deſſen
Disperſionsvermögen bedeutend größer iſt, in An-
wendung. Daß eine ſolche Kombination den ge-
dachten Zweck wenigſtens annähernd erfüllen kann,

Figure 473. Fig. 483.

Achromatiſche Prismen-
kombination.


erhellt aus der Betrachtung der Spektren der beiden Prismen in
Fig. 484. Aus dem faſt vollſtändigen Zuſammenfallen der den
Linien A, C, F und G entſprechenden Farben: rot, blau und violett

Figure 474. Fig. 484.

Spektren des Kron- und des Flintglaſes.


folgt allerdings, daß zum größten Teile das Flintglasprisma im-
ſtande ſein wird, das durch das Kronglasprisma entſtehende Spektrum
zu vernichten.


Wichtiger als die Prismen für die Zwecke der praktiſchen Optik
ſind die optiſchen Linſen, regelmäßig geſtaltete Glaskörper, die meiſt
von ſphäriſchen oder Kugelflächen begrenzt werden, und deren
Formen zur Genüge aus den bekannten Brillengläſern erhellen.
Die verſchiedenen vorkommenden Linſenformen ſind in Fig. 485 zur
[896]Die optiſchen Inſtrumente.
Darſtellung gebracht: a, a' und a″ werden als Sammellinſen bezeichnet
und, je nach den Begrenzungsflächen, als bikonvexe (a), plankonvexe (a')

Figure 475. Fig. 485.

Formen der Linſen.


und konkavkonvexe (a″) Linſen unterſchieden;
die übrigen 3 Formen ſind ſogenannte Zer-
ſtreuungslinſen und werden ähnlich als bikon-
kave (b), plankonkave (b') und konvexkonkave (b″)
bezeichnet. Die Mittelpunkte der Kugeln, zu
denen die Begrenzungsflächen gehören, ſind
die ſogenannten Krümmungsmittelpunkte; die
zugehörigen Radien geben ein Maß für die
mehr oder minder ſtarke Krümmung der
brechenden Flächen. Die Verbindungslinie
der beiden Krümmungsmittelpunkte heißt die
Axe der Linſe; der zu einer ebenen Be-
grenzungsfläche gehörige Krümmungsmittel-
punkt liegt im Unendlichen.


Für die Erörterung der Brechungserſcheinungen werden wir uns
auf die Betrachtung der bikonvexen oder Sammellinſen im eigentlichen
Sinne beſchränken können, da für die übrigen Formen die Betrach-
tungen analog zu führen ſind. Es ſeien in Fig. 486 M und M'
die Krümmungsmittelpunkte und C die Mitte einer Sammellinſe.
Wählen wir zunächſt einen Strahl a b, der parallel zur Axe einfällt,

Figure 476. Fig. 486.

Die bikonvexe Linſe als Brennglas.


ſo wird derſelbe zum Einfallslote
M b gebrochen, alſo die Richtung b d
annehmen. Beim Austritt aus der
Linſe geſchieht das Umgekehrte; der
Strahl wird von dem Einfalls-
lote M' d weggebrochen und ſchneidet
in F die Axe. Dieſer Punkt F
führt, weil ſich in ihm alle parallel
zur Axe einfallenden Strahlen
ſchneiden, den Namen Brennpunkt.
Umgekehrt folgt natürlich, daß alle von F ausgehenden Strahlen nach
der Brechung durch die Linſe parallel zur Axe verlaufen werden.
Von einem ſehr weit entfernten Punkte werden ebenfalls ſämtliche
Strahlen, aber jenſeits des Brennpunktes, vereinigt, erzeugen alſo ein
reelles Bild des leuchtenden Punktes, das weiter von der Linſe
entfernt iſt als der Punkt F. In dem Maße, wie der leuchtende
Punkt an die Linſe heranrückt, entfernt ſich der Bildpunkt nach der
entgegengeſetzten Seite. Es iſt klar, daß die Linſe gleichmäßig wirken
wird, von welcher Seite man auch die Strahlen auf ſie fallen läßt,
daß ſie demnach auch zwei gleichweit vom Mittelpunkt entfernte Brenn-
punkte F haben muß.


In Fig. 487 werde nun noch der Fall betrachtet, wo von einem
leuchtenden Gegenſtande a c b Strahlen auf eine Sammellinſe fallen.
[897]Die Brechung des Lichtes.
Von dem leuchtenden Punkte c wird ein Bild in c' erzeugt, ähnlich
von b in b' und von a in a', wovon man ſich nach den vorigen
Darlegungen überzeugen kann. Es entſteht alſo von einem außerhalb

Figure 477. Fig. 487.

Das Zuſtandekommen des Bildes bei der bikonvexen Linſe.


des Brennpunktes liegenden Gegenſtande ein umgekehrtes, reelles Bild,
das um ſo kleiner wird, je weiter der Gegenſtand von der Linſe ent-
fernt iſt.


Von einem innerhalb der Brennweite liegenden leuchtenden Punkte
entſteht überhaupt kein reelles Bild mehr, da die nach der Brechung
auseinander gehenden Strahlen nur noch einen virtuellen Vereinigungs-
punkt beſitzen.


Zerſtreuungslinſen können niemals reelle, ſondern ſtets nur virtuelle
oder geometriſche Bilder erzeugen, die ſämtlich innerhalb der Brenn-
weite liegen und aufrecht ſein werden. Durch eine Zerſtreuungslinſe
betrachtet, erſcheinen folglich alle Gegenſtände aufrecht, verkleinert und
näher gerückt.


Es ſei hier wenigſtens mit einigen Worten der außerordentlich
intereſſanten Induſtrie gedacht, welche ſich mit der Spiegel- und Linſen-
ſchleiferei beſchäftigt. Die rohen Glasblöcke, welche namentlich zu
großen Linſen verarbeitet werden ſollen, müſſen abſolut klar, durch-
ſichtig und blaſenfrei ſein; genügen ſie den zu ſtellenden Anforderungen,
ſo werden ſie nochmals bis zur Zähflüſſigkeit erwärmt und in die ge-
wünſchte Form gebracht, um nach dem Erkalten auf einer Schleif- oder
Poliermaſchine der letzten, aber ſchwierigſten Behandlung unterzogen
zu werden. Hier wird das Glasſtück in gleichmäßig drehende Bewe-
gung geſetzt und dem Druck einer ſehr genau gearbeiteten Form unter
Anwendung von feinem und immer feinerem Schmirgel ausgeſetzt, bis
die verlangten Krümmungen erreicht ſind. Kleine Mängel werden
ſchließlich durch Polieren aus freier Hand beſeitigt. Die zu Spiegeln
beſtimmten Glaskörper werden dann noch in eine geeignete Ver-
ſilberungsflüſſigkeit getaucht und der feine Überzug durch Polieren
möglichſt vollſtändig ſpiegelnd gemacht.


Von der Eigenſchaft der Sammellinſen macht man einige ſehr
wichtige Anwendungen, die im folgenden beſchrieben werden
ſollen. Wenn man in ein verdunkeltes Zimmer durch eine kleine
Das Buch der Erfindungen. 57
[898]Die optiſchen Inſtrumente.
Öffnung Strahlen von einem Gegenſtande fallen läßt und dieſelben
auf einem weißen Schirm auffängt, ſo erhält man, wie man ſich leicht
überzeugen kann, ein umgekehrtes Bild der betreffenden Objekte, das
um ſo ſchärfer begrenzt, aber auch um ſo lichtſchwächer ſein wird, je kleiner
die Öffnung iſt. Dieſes Bild kann bedeutend ſchärfer und lichtſtärker
gemacht werden, wenn man an die Stelle der Öffnung eine Sammel-
linſe bringt und den auffangenden Schirm in geeigneter Entfernung
aufſtellt. So entſtand die Camera obscura, in welcher eine
Sammellinſe die von dem eingeſtellten Objekt kommenden Strahlen auf
einen geneigten Spiegel wirft und nach oben auf eine matte Glas-
ſcheibe reflektiert, auf welcher ein Bild des Gegenſtandes er-
ſcheint. Zur Abhaltung fremden Lichtes wird über dieſer Glasplatte
ein Schirm geneigt aufgeſtellt. Die Camera obscura, die vordem
eigentlich mehr als Spielzeug dem Zeitvertreib diente, heute aber in
den photographiſchen Apparaten eine ungeahnte Vervollkommnung und
Verwertung gefunden hat, wurde um das Jahr 1650 von dem Neapo-
litaner Porta erfunden, und iſt zu einem der nützlichſten und unentbehr-
lichſten Hilfsmittel für alle Zweige menſchlichen Schaffens geworden.


In Verbindung hiermit behandeln wir einen eigentümlichen
Apparat, deſſen Wirkungsweiſe auf ganz anderem, mehr phyſiolo-
giſchem Wege zu erklären iſt, und in dem die Verwendung von Linſen
nur untergeordnete Bedeutung hat. Wenn wir einen Körper mit
beiden Augen gleichmäßig betrachten, ſo müſſen die auf den Netzhäuten
entſtehenden Bilder notwendig von einander verſchieden ſein, da
ſie von verſchiedenen Standpunkten aus erhalten ſind. Ohne daß wir
den Vorgang genauer beſchreiben könnten, vereinigt unſer Vorſtellungs-
vermögen dieſe beiden Bilder zu einer einzigen körperlichen Auffaſſung,
worin es durch die verſchiedenartige Beleuchtung der einzelnen Teile,
durch die Verteilung von Licht und Schatten unterſtützt wird. Zwar
können wir auch mit einem Auge einen Gegenſtand körperlich, d. h.
nach allen drei Dimenſionen wahrnehmen, aber nur infolge der langen
Gewöhnung und mit Hilfe der unſerem Denkvermögen eingeprägten
Vorſtellungen. Aus dem Geſagten geht hervor, daß wir den Eindruck
eines körperlichen Gebildes haben werden, wenn wir den beiden Augen
zwei Bilder desſelben Gegenſtandes ſo darbieten, wie ſich dieſelben mit
dem einen und dem anderen Auge allein geſehen darſtellen würden.
Hiervon wird eine intereſſante Anwendung in dem von Wheatſtone 1838
erfundenen Stereoſkop gemacht, in welchem durch zwei unter einem Winkel
von 90° zuſammenſtoßende Spiegel von an den Seitenwänden eines
Kaſtens befeſtigten Bildern Strahlen in beide Augen geworfen werden
und den Eindruck des Körperlichen erzeugen. Jetzt iſt allgemein wohl
nur die von Brewſter angegebene Form üblich, der wir in jeder optiſchen
Handlung begegnen. In zwei Öffnungen, die ſich im Augenabſtande
von einander, an der Vorderſeite eines Kaſtens befinden, ſind die
Hälften einer Sammellinſe eingelaſſen, wodurch bewirkt wird, daß die
[899]Die Brechung des Lichtes. — Das Mikroſkop.
an der Hinterwand aufgeſtellten Stereoſkopbilder infolge der Brechung
ſcheinbar zur Deckung gebracht werden. Dieſer Apparat kann, abge-
ſehen von ſeiner Bedeutung als nützlicher Zeitvertreib, unter anderem
auch dazu dienen, falſches von echtem Papiergeld zu unterſcheiden
oder die Frage zu löſen, ob zwei Drucke desſelben Werkes einer oder
verſchiedenen Auflagen angehören; auch für wiſſenſchaftliche Zwecke
dürfte das Stereoſkop unter Umſtänden erſprießliche Dienſte leiſten.


3. Das Mikroſkop.


Abgeſehen von ihrer Bedeutung für die hochentwickelte photogra-
phiſche Technik finden die Eigenſchaften der Sammellinſen ausgedehnte
Verwendung für den wichtigen Zweck, von ſehr kleinen oder ſehr weit
entfernten Gegenſtänden Bilder in beträchtlicher Vergrößerung oder in
unmittelbarer Nähe zu erzeugen.


Das Auge erkennt deutlich nur ſolche Gegenſtände, die ſich in
einer beſtimmten Entfernung befinden, weil nur von dieſen deutliche
Bilder auf der Netzhaut entſtehen; für ein normales Auge geſchieht
dies in der deutlichen Sehweite von etwa 25 cm, während dieſelbe für
ein kurzſichtiges Auge geringer iſt. An ſich würde es nun genügen,
einen ſehr kleinen Gegenſtand ganz dicht an das Auge zu bringen,
um ihn deutlich zu erkennen; denn dadurch würde der Winkel, unter
welchem das Objekt erſcheint, beliebig vergrößert werden können, und
darauf allein kommt es an. Thatſächlich aber beſitzt das Auge nur
in mäßigem Grade die Fähigkeit, ſich zu accommodieren; denn von ſolchen
Gegenſtänden, die nicht genau in der deutlichen Sehweite liegen, kann
es die Strahlen zu einem ſcharfen Bilde auf der Netzhaut nicht ver-
einigen. Sobald deshalb dieſe bei verſchiedenen Augen verſchieden
große Accommodationsfähigkeit nicht mehr ausreicht, pflegt man
zwiſchen Auge und Gegenſtand eine Sammellinſe von kurzer Brenn-
weite einzuſchalten, deren Wirkſamkeit aus der Figur ſich mit Leichtig-
keit ergiebt; eine ſolchermaßen verwendete Konvexlinſe hat die Bezeich-
nung „Lupe“ oder „einfaches Mikroſkop“ erhalten. Von dem Gegen-
ſtande a b, der innerhalb der Brennweite der Linſe liegen muß, entſteht
nach früheren Betrachtungen ein ver-
größertes, aufrechtes, aber virtuelles Bild
(Fig. 488), das vom Auge in der deutlichen
Sehweite vermutet wird. Daraus folgt
denn auch, daß dieſelbe Lupe für ein kurz-
ſichtiges Auge eine geringere Vergrößerung
ergeben wird als für ein normales; es
hängt danach alſo die Vergrößerung des
einfachen Mikroſkopes außer von der Brenn-
weite der Sammellinſe auch noch von der
deutlichen Sehweite des Auges ab.


Figure 478. Fig. 488.

Die Lupe


57*
[900]Die optiſchen Inſtrumente.

Das Sonnenmikroſkop, deſſen Erfindung in das Jahr 1738 ver-
legt und dem Amſterdamer Lieberkühn zugeſchrieben wird, ſteht in der
Mitte zwiſchen der Lupe und dem weiterhin zu betrachtenden zuſammen-
geſetzten Mikroſkop und dient vornehmlich dem Zweck, von ſehr kleinen
Objekten reelle vergrößerte Bilder zu entwerfen. Da mit zunehmender
Vergrößerung die Lichtſtärke des Bildes ſehr ſchnell abnimmt, ſo muß
bei einigermaßen beträchtlichen Vergrößerungen dem Objekt künſtlich
Licht von hoher Intenſität zugeführt werden, ſei es nun, indem man
durch eine Öffnung im Fenſterladen des verdunkelten Zimmers mittels
eines Helioſtaten Sonnenlicht auf den Gegenſtand leitet, das zuvor
durch eine Sammellinſe konzentriert worden iſt, ſei es, daß man dem
ſehr intenſiven Drummondſchen Kalklicht oder dem elektriſchen Bogen-
licht den Vorzug giebt. Das zu unterſuchende Objekt befindet ſich
beim Sonnenmikroſkop nur wenig außerhalb der Brennweite einer
ſtark gekrümmten Sammellinſe, die von demſelben ein umgekehrtes,
ſtark vergrößertes, reelles Luftbild erzeugt, welches auf einem weißen
Schirm aufgefangen werden kann. Mit derartigen höchſt einfachen
Apparaten hat man bei Anwendung ganz vorzüglicher Linſen von ſehr
kurzer Brennweite unter Umſtänden eine 3000 fache Vergrößerung
erreicht.


Zur Vermeidung ſtörenden fremden Lichtes ſchließt man die künſt-
liche Lichtquelle gewöhnlich in einem viereckigen Kaſten ein und bringt
ſie in den Brennpunkt eines Hohlſpiegels, der die Strahlen parallel
nach vorn reflektiert. Natürlich ſtehen Apparat und auffangender
Schirm im vollſtändig verdunkelten Zimmer. Vorn trägt der Kaſten
einen verſchiebbaren Auszug, in welchem das mehr oder weniger kom-
plizierte Linſenſyſtem von kurzer Brennweite ſich befindet. Die Röhre
ſelbſt beſitzt zwiſchen dem Linſenſyſtem, das die Stelle der einfachen
Sammellinſe vertritt, und dem Beleuchtungskörper einen ſeitlichen Ein-
ſchnitt, der zur Aufnahme des durchſichtigen Objektes dient. In dieſer
Form iſt der Apparat, der allgemein unter dem Namen Laterna magica
oder Zauberlaterne bekannt iſt, wahrſcheinlich von Athanaſius Kircher
um das Jahr 1640 erfunden worden. Beſonders häufig fand die
Zauberlaterne früher zur Darſtellung von Geiſtererſcheinungen auf der
Bühne, beiſpielsweiſe in der beſonderen Form des Robertſonſchen
Phantaſkops, Verwendung, bei welchem von einem durchſichtigen Glas-
gemälde, von einem möglichſt dunkelen Raume aus, ein Bild auf einer
die Apparatenkammer und den verdunkelten Zuſchauerraum oder die
Bühne trennenden Fläche von durchſcheinender Leinewand entworfen
wurde; ſelbſtverſtändlich mußte dafür Sorge getragen werden, daß die
Projektionsfläche unter allen Umſtänden unſichtbar blieb. Heutzutage iſt
wohl faſt ausſchließlich, wenigſtens auf größeren Bühnen, das früher
bereits geſchilderte Verfahren üblich. Natürlich hat man darauf zu achten,
daß ſtets die Glasbilder, die jetzt in beſonderer Feinheit und Vollendung
auf dem Wege der Photographie erhalten werden und wohl auch
[901]Das Mikroſkop.
mit durchſcheinenden Farben ausgemalt ſind, verkehrt in den Rahmen
eingeſetzt werden, weil auf dem Schirm ganz wie beim Sonnen-
mikroſkop umgekehrte Bilder erſcheinen.


Im deutſch-franzöſiſchen Kriege hat die Laterna magica weſentliche
Dienſte geleiſtet zur Vergrößerung und Entzifferung von Depeſchen,
welche, von den belagerten Pariſern in mikroſkopiſcher Feinheit her-
geſtellt, durch Brieftauben aus der belagerten Hauptſtadt befördert
wurden. Gegenwärtig baut man viel kompendiöſere Apparate, die als
Sciopticon oder noch allgemeiner unter der Bezeichnung „Projektions-
apparate“ bekannt ſind. In einer beſonderen Form aber findet man
die Zauberlaterne auch heute noch, namentlich bei Schauſtellungen
für Kinder, mehrfach in Gebrauch, nämlich als Nebelbilderapparat.
Die Wirkungsweiſe erklärt ſich ganz nach Art des Phantaſkops, nur
daß zwei genau gleich gebaute Apparate gleichzeitig auf dieſelbe Stelle
der auffangenden Bildfläche gerichtet werden. Wird der eine Apparat
verdeckt, ſo entſteht von der einen Glaszeichnung eine ſcharfes Bild;
ſetzt man aber beide Apparate mit verſchiedenen Objekten gleichzeitig
in Thätigkeit, ſo wird ein ganz verwaſchenes und undeutliches Bild
entſtehen müſſen. Auf dieſe Weiſe wird es möglich, faſt unmerklich
durch allmähliches Verdecken der einen Lampe die Darſtellungen zu
wechſeln und intereſſante Verwandlungen vorzunehmen. Andererſeits
kann die geſchilderte Einrichtung dazu Verwendung finden, gewiſſe Teile
des Bildes Bewegungen ausführen zu laſſen oder drehbar eingeſetzte,
in verſchiedenen Farben bemalte Scheiben mit regelmäßig geſtalteten
Muſtern abzubilden, die infolge der ihnen erteilten entgegengeſetzten
Drehung eigentümlich auf- und abwogende Bewegungen auszuführen
ſcheinen.


Wichtiger erſcheint vor allem das Beſtreben, ähnliche Apparate zu
konſtruieren, welche auch undurchſichtige und horizontale Gegenſtände
objektiv abzubilden geſtatten. Die ſehr komplizierten, vielfach von ein-
ander abweichenden Konſtruktionen haben im weſentlichen das gemein-
ſam, daß von einer künſtlichen intenſiven Lichtquelle Licht ſchräg auf
das Objekt geworfen und durch Spiegel weitergeleitet wird, ſo daß
ein reelles vergrößertes Bild, analog dem Vorgange bei der Zauber-
laterne oder dem Sonnenmikroſkop, umgekehrt auf dem auffangenden
Schirm entſtehen kann. In dieſer einfachſten Form, welche von ihrem
Verfertiger, dem Optiker Krüß in Hamburg, die Bezeichnung Wunder-
camera erhielt, hat ſich der Apparat viele Freunde erworben.


Den Gang der Strahlen in dem nunmehr zu beſprechenden zuſammen-
geſetzten Mikroſkop zu erläutern, diene Fig. 489. Die dem Gegenſtand zu-
gekehrte Sammellinſe e von ſehr kurzer Brennweite, das ſog. Objektiv,
erzeugt von einem nur wenig außerhalb der Brennweite befindlichen
Gegenſtand a b ein ſtark vergrößertes, aber umgekehrtes reelles Bild A B,
das mit einer Lupe O, dem ſog. Okular oder Augenglas, betrachtet
wird und ein, zum zweitenmale vergrößertes virtuelles Bild in der
[902]Die optiſchen Inſtrumente.
deutlichen Sehweite ergiebt. Da das Bild A B an ſich ſchon durch das
Objektiv beträchtlich vergrößert iſt, ſo erhält das Okular nur eine
ſchwache Krümmung, alſo geringe Vergrößerung, vornehmlich ſchon, um
nicht die aus der mehr oder minder beträchtlichen Unvollkommenheit des
Objektivs hervorgehenden Bildfehler zu erheblich hervortreten zu laſſen.


Figure 479. Fig. 489.

Zuſtandekommen des Bildes im zuſammengeſetzten
Mikroſkop.


Für die praktiſche Anwendung
iſt das Mikroſkop mit einer Reihe
von Vorrichtungen verſehen, die hier
nur kurz angedeutet werden mögen.
Zunächſt iſt das Okular mit ſeiner
Faſſung in einer Röhre verſchiebbar,
welche am andern Ende das Objektiv
trägt, um nach Belieben den Ab-
ſtand zwiſchen Augenglas und Ob-
jektiv verändern zu können; durch
eine Schraube läßt ſich überdies das

Figure 480. Fig. 490.

Mikroſkop.


Rohr mit dem Objektiv gemeinſam höher oder tiefer ſtellen, ſo daß der
Abſtand des Objektes von letzterem innerhalb beſtimmter Grenzen korri-
giert werden kann. Der Objektträger oder Objekttiſch, auf dem das
Objekt befeſtigt wird, iſt mit einer Öffnung verſehen, durch welche von
einem drehbaren Spiegel reflektiertes Licht einer Lampe auf das Objekt
geworfen wird. In einer beſonders häufigen Anordnung ſind die an-
gedeuteten notwendigſten Einrichtungen, für die im übrigen die einzelnen
Fabrikanten ihre beſonderen Formen haben, aus der Fig. 490 erſichtlich.


[903]Das Mikroſkop.

Die Erfindung des Mikroſkops, für welche mehrere Nationen die
Priorität in Anſpruch nehmen, dürfte vermutlich nur wenige Jahre
nach der Erfindung des Fernrohrs anzuſetzen ſein; zweifellos aber iſt
ſie durch die Erfindung der Brillen angebahnt worden, welche
Armati aus Florenz das Daſein verdanken ſollen, und von denen die
erſte authentiſche Mitteilung aus dem Jahre 1299 ſtammt. Bisher iſt
es nicht möglich geweſen, den zeitweilig mit großer Erbitterung ge-
führten Prioritätsſtreit zu Gunſten des einen oder anderen Volkes einer
glücklichen Löſung entgegenzuführen; nur ſoviel ſteht feſt, gleichviel ob
dieſelbe nun von Janſen oder Drebbel oder Lippershey gemacht ſein
mag, daß Galilei um 1620 weſentlich dazu beigetragen hat, die
wichtige Erfindung in weiteren Kreiſen bekannt zu geben. Zu der un-
geahnten Bedeutung, welche das Mikroſkop heutzutage erlangt hat,
konnte es trotz aller Bemühungen des Optikers erſt gelangen, ſeitdem
man entgegen der von Newton vertretenen Anſicht von der Anſchauung
ausging, daß es möglich ſein müſſe, die früher ſo ſtörend auftretenden
Fehler der ſphäriſchen und chromatiſchen Aberration wenigſtens an-
nähernd zu beſeitigen. Um ſo unentbehrlicher iſt das einfache Inſtru-
ment heute nicht bloß für viele Zweige der Technik, ſondern auch für
die Wiſſenſchaft, und es iſt gar nicht abzuſehen, welche ungeahnten
Aufſchlüſſe über viele Dinge dem Mikroſkop noch vorbehalten ſein
mögen.


Wie bereits bei den ſphäriſchen Spiegeln andeutungsweiſe bemerkt
wurde, entſpricht auch bei den Linſen einem leuchtenden Punkte nicht
in aller Strenge ein Bildpunkt, und zwar um ſo weniger, je größer
Krümmung und Öffnung der Linſe ſind. Die einzelnen Bildkreiſe,
welche infolge der ſphäriſchen Abweichung entſtehen, lagern ſich
demnach teilweiſe übereinander und laſſen das Bild unſcharf erſcheinen.
Daß man durch geeignete Wahl der Krümmungsradien der brechenden
Flächen dieſem Übelſtande begegnen kann, iſt im vorſtehenden ſchon
angedeutet; man nennt Linſenſyſteme, welche vom Kugelgeſtaltfehler frei
ſind, aplanatiſche.


Andererſeits erzeugt aber auch jede Linſe notwendigerweiſe ein
farbiges Bild; denn wenn man ſich eine Linſe etwa in ſehr viele kleine
Prismen zerlegt denkt, ſo erzeugt jedes derſelben ein Spektrum. So-
weit dieſe ſich aber übereinanderlagern, ergänzen ſie ſich wieder zu weiß,
und nur der äußerſte Saum des Bildes kann farbig bleiben. Dieſe
Verhältniſſe werden beſonders deutlich, wenn wir in dem Vereinigungs-
punkt f (Fig. 491) der roten Strahlen einen Schirm aufſtellen würden;
es iſt klar, daß das Bild nach einander die Spektralfarben zeigen und
außen mit violett abſchließen wird; das Umgekehrte würde in f ein-
treten. Ganz analog dem beim Prisma üblichen Verfahren kann man
auch hier die chromatiſche Aberration, von welcher die Spiegel frei
ſind, dadurch beſeitigen, daß man 2 Linſen von verſchiedenem Zer-
ſtreuungsvermögen, alſo wieder etwa Kron- und Flintglas, zu einem
[904]Die optiſchen Inſtrumente.
Syſtem vereinigt, oder indem man eine bikonkave Flintglaslinſe in
zwei Sammellinſen von Flintglas einſchließt, wie dies aus Fig. 492
erſichtlich wird. Bei Mikroſkopen, wo man zur Anwendung von ver-
hältnismäßig ſtark gekrümmten Objektiven genötigt iſt, vereinigt man

Figure 481. Fig. 491.

Die chromatiſche Aberration.


Figure 482. Fig. 492.

Achromatiſche Linſen.


mehrere achromatiſche Linſen, wodurch man gleichzeitig auch der ſphä-
riſchen Aberration beſſer abhelfen kann. Dieſer ſehr vorteilhafte und
gegenwärtig durchaus übliche Weg iſt zuerſt von Selligue im Jahre
1824 eingeſchlagen worden.


Auch bei den Okularen kombiniert man mindeſtens 2 Linſen mit
einander, um die Linſenfehler unſchädlich zu machen. Hier können
nur die beiden wichtigſten Formen in Betracht kommen, welche faſt
ausſchließlich Anwendung finden. Demnach iſt die Zahl der Gläſer
im zuſammengeſetzten Mikroſkop beträchtlich größer, als bei der Er-
klärung der Wirkungsweiſe desſelben vorausgeſetzt war.


Das Huyghensſche, Campaniſche oder negative Okular beſteht aus
zwei plankonvexen Linſen von verſchiedener Krümmung, welche ihre
ebenen Begrenzungsflächen dem Auge zukehren. Die beiden Linſen
ſind ſo mit einander verbunden, daß ihre ähnlich gelegenen Brenn-
punkte zuſammenfallen; die Brennweite der größeren, ſchwächer ge-
krümmten Linſe iſt das Dreifache von derjenigen der kleineren, die als
eigentliche Lupe wirkt. Die erſtere gehört, da ſie die vom Objektiv
kommenden Strahlen auffängt, ehe ſie ſich zu einem Bilde vereinigen,
eigentlich noch zum Objektiv und hat die Bezeichnung Kollektiv er-
halten. Das Bild des Gegenſtandes entſteht hier zwiſchen Kollektiv
und eigentlicher Okularlupe, erſcheint alſo umgekehrt.


Von dieſer Okularkombination unterſcheidet ſich das Ramsdenſche
Okular zunächſt nur inſofern, als die beiden Linſen ihre gekrümmten
Flächen einander zukehren, ſodaß ſich das Auge alſo zunächſt der ebenen
Fläche der vorderen Linſe befindet. Die Brennweiten der feſt ver-
bundenen Gläſer, die hier aber wie eine einfache Lupe wirken, ver-
halten ſich wie 9:5; das Bild entſteht zwiſchen Objektiv und Okular,
bleibt alſo auch umgekehrt. Es hat aber dieſes Okular den nicht zu
[905]Das Mikroſkop.
unterſchätzenden Vorzug vor dem erſterwähnten, daß ſich mit ihm auf
bequemſte Weiſe Meßvorrichtungen verbinden laſſen.


Es iſt unmöglich, auf kleinem Raume von der immenſen Bedeu-
tung des Mikroſkops, das lange Zeit neben dem hochgeachteten
Schweſterinſtrument, dem Fernrohr, nur eine untergeordnete Stellung
einnehmen konnte, durch eine zuſammengedrängte Schilderung der
Forſchungen und bahnbrechenden Entdeckungen auf den verſchiedenſten
Gebieten der Wiſſenſchaft auch nur annähernd ein vollſtändiges Bild zu
entwerfen. An einigen wenigen Beiſpielen müſſen wir uns genügen
laſſen, um zu zeigen, daß jetzt ſchon kaum ein Wiſſenszweig, eine In-
duſtrie das Mikroſkop entbehren kann, das nicht bloß Erkenntnis
wichtigſter Art, ſondern auch Entdeckungen vermittelte, welche für die
ganze Welt nutzbar gemacht werden konnten und die geſamte Ent-
wicklung mächtig gefördert haben. So iſt aus der unſcheinbaren Er-
findung das populärſte wiſſenſchaftliche Inſtrument geworden, das
ſowohl in der Hand des Gelehrten als im Haushalte, ſowie im wirt-
ſchaftlichen Leben noch zu ungeahnten Erfolgen führen wird.


Bringen wir einen einzigen Tropfen Flußwaſſers unter das Mikroſkop!
— und wir bewundern die ſchier unerſchöpfliche Fülle von einfachen
Formen, von winzigen Weſen niedrigſter Art pflanzlichen und tieriſchen
Charakters, die im engſten Raume ihr kurzes Daſein friſten. Derſelbe
Kampf ums Daſein hier im kleinen, der das Leben im großen be-
herrſcht! Dasſelbe Schaffen und Treiben, dieſelbe Entwicklung; ein
ſtetiges Werden und Vergehen! Beſonderen Reichtum an derartigen
kleinſten Organismen birgt das Meer, und deshalb hat auch eine vor
einigen Jahren mit Unterſtützung der preußiſchen Regierung ins Werk
geſetzte Expedition ſich gerade die Erforſchung der zahlloſen Organismen
niedrigſter Art, die willenlos im Meere umhergetrieben werden, und
die man allgemein unter dem Namen Plankton zuſammenfaßt, zur
Aufgabe gemacht. Es ſind vornehmlich zwei große Gruppen, deren
Auffindung wir dem Mikroſkop verdanken: die Nahrungskonſumenten
und die Urnahrung, von denen die zur letzteren Klaſſe gehörigen Lebe-
weſen die zu ihrem Aufbau nötigen Stoffe ſelbſt zu erzeugen ver-
mögen. In der Tiefe des Meeres herrſcht eine ſtille Thätigkeit, deren
Spuren oft erſt nach umfaſſenden Zeiträumen, dann aber meiſt in ge-
waltiger Form, zum Vorſchein kommen. Ein bekanntes Beiſpiel dieſes
mikroſkopiſchen Schaffens bieten die Korallen, die in jahrtauſendelanger
Arbeit Riff auf Riff fügen und unermüdlich neue Stockwerke den alten
Bauten aufſetzen. Und noch an einem anderen naheliegenden Beiſpiel
erkennen wir die Daſeinsſpuren winziger Lebeweſen, deren Produkte heute
einen relativ hohen Wert im Haushalte des Menſchen repräſentieren.
Im Staub der Schreibkreide, in den Bruchſtücken der Kreidefelſen, aus
denen jene gewonnen und als Kunſtprodukt hergeſtellt wird, finden wir
unter dem Mikroſkrop die Reſte von Millionen und aber Millionen
Kreidetierchen, die mit ihren Kalkſchalen und -Panzern, mit ihren
[906]Die optiſchen Inſtrumente.
Skeletten nach dem Abſterben für nachfolgende Generationen den Bau-
grund abgegeben und ſo zum Aufwachſen der gewaltigen Kreidefelſen
aus dem Meeresgrunde beigetragen haben, bis einſt der raſtloſen
Thätigkeit durch das Emporheben der Rieſengräber über das Meeres-
niveau infolge eines gewaltigen Naturereigniſſes, in einer der vielen
Entwicklungsperioden der Erde, ein plötzliches Ziel geſetzt wurde.


Das Mikroſkop iſt dem Mineralogen und Geologen zur Er-
forſchung der Geſteinsarten, namentlich zur Erkenntnis des kryſtal-
liniſchen Gefüges der das Geſteinsgemenge bildenden Einzelbeſtandteile
unentbehrlich geworden; aus den von ihm geſammelten Felsproben
ſtellt er ſich ſog. Dünnſchliffe her, Blättchen von einer Feinheit, daß
ſie gleich den dünn ausgewalzten Metallen durchſichtig erſcheinen. Die
Palaeontologie ſpürt den vorweltlichen Lebeweſen nach, die als foſſile
Bildungen, als Verſteinerungen uns in den Geſteinsſchichtungen urwelt-
licher Schöpfungs- und Entwicklungsperioden erhalten ſind. So
wandelbar die Formen und Arten auch ſein mögen, — in einem
Punkte iſt der Zuſammenhang der wunderbar prächtigen Pflanzenformen
früherer Epochen der Erdgeſchichte mit den pflanzlichen Daſeinsformen
der Gegenwart unverkennbar: hier wie dort ſtets dasſelbe Grund- und
Elementargebilde, die Zelle, aus denen ſich hoch und niedrig organiſierte
Lebeweſen gleichmäßig aufbauen. Täglich und immer von neuem
haben wir Gelegenheit, mit Bewunderung die rapide Entwicklungs-
fähigkeit der Zellen zu verfolgen, ſei es am Gärbottich, wo die Hefe-
zellen durch ihre Lebensthätigkeit, ihr Wachstum, den Gährungsprozeß
einleiten und bedingen, oder in der zerſtörenden Wirkung, welche
andere Zellengebilde auf den menſchlichen, tieriſchen oder pflanzlichen
Organismus durch Erregung von Eiter- und Fäulnisbildung auszu-
üben vermögen.


Welche weſentliche Förderung hat namentlich die Heilwiſſenſchaft ſeit
der Benutzung des Mikroſkops zur grundlegenden Erforſchung der
Zuſammenſetzung und der Wirkungsweiſe der einzelnen Organe des
menſchlichen und tieriſchen Körpers erfahren! Man kann getroſt ſagen,
daß erſt ſeit Begründung der Hiſtologie oder Gewebelehre, deren Auf-
gabe in der Ermittelung des Baus vom Pflanzen- und Tierkörper
beſteht, eine vernünftige wiſſenſchaftliche Behandlung der Gewebe-
krankheiten datiert; aus dem eingehenden Studium der Lebens- und
Daſeinsbedingungen der Bakterien und Bacillen, namentlich in Bezug
auf ihre zerſtörende Wirkung bei geeignetem Nährboden, hat die Medizin
eine tiefere Kenntnis der Infektionskrankheiten und der Mittel zu ihrer
Heilung und Verhütung gewonnen. Es darf nur an die epoche-
machenden Arbeiten eines Koch und ſeiner Schüler auf dieſem Gebiete
aus den letzten Jahren, an die Entdeckung der in das Leben von
Menſch und Tier ſo verheerend eingreifenden niedrigſten Daſeins-
formen erinnert zu werden, welche Milzbrand, Typhus, Tuber-
kuloſe, Cholera und die übrigen mörderiſchen Seuchen erzeugen, um
[907]Das Mikroſkop. — Das Fernrohr.
auch hier die ſchätzbaren Dienſte des Mikroſkops erkennen zu laſſen.
Die Diagnoſen auf beſtimmte Krankheitsformen haben dadurch erſt
diejenige Zuverläſſigkeit erlangt, welche allein eine vernunftgemäße
Behandlung möglich macht.


Technikern, Fabrikanten und Gewerbetreibenden wird das Mikroſkop
je länger je mehr unentbehrlich; es ſetzt ſie in den Stand, ſich vor
Fälſchungen und Betrug zu ſchützen, holzfreies Papier von minder-
wertigen, dem Vergilben ausgeſetzten Papierſorten zu unterſcheiden und
die billigſten und zweckmäßigſten Materialien für den Betrieb kennen
zu lernen und auszuwählen. Namentlich aber auf dem Gebiete der
Lebensmittelverfälſchung hat das Mikroſkop eine ganz eminente Be-
deutung gewonnen, nicht allein wegen der Bequemlichkeit, ſondern auch
wegen der den meiſten anderen Methoden weit überlegenen Sicherheit,
die Verfälſchungsprodukte nachzuweiſen und vom Gebrauche auszu-
ſchließen. Dieſes ſanitären Rückſichten entſprungene Beſtreben macht
ſich ebenfalls in der faſt überall obligatoriſch eingeführten Fleiſchſchau
geltend, deren Aufgabe in der Erkennung und Vernichtung trichinen-
haltigen oder auf andere Weiſe infizierten und zum Genuß unbrauch-
baren Fleiſches beſteht.


Es würde uns zuweit führen, wenn wir hier auch nur mit wenigen
Worten der Bedeutung des Mikroſkopes für den Phyſiker und Chemiker,
namentlich in der Hand des letzteren auch im Dienſte der Rechtspflege,
Erwähnung thun wollten; die Zahl der Anwendungen iſt eben enorm
und noch in beſtändigem Zunehmen begriffen. So greift das
Mikroſkop in ſeiner Vielſeitigkeit in faſt alle Gebiete menſchlichen
Wiſſens und menſchlicher Thätigkeit als ein wichtiger Faktor von nicht
genug zu ſchätzender Bedeutung ein. Schon hat es das Fernrohr in
manchen Dingen weit überholt, und noch befinden wir uns eigentlich
erſt in einem Anfangsſtadium, — noch iſt gar nicht abzuſehen, wozu
dieſes unſcheinbare Inſtrument berufen ſein kann, welche gewaltigen
Aufſchlüſſe wir von demſelben über den Entwicklungsgang aller
Organismen dereinſt noch zu erwarten haben.


4. Das Fernrohr.


Die Erde mit allem, was in und auf ihr iſt, hat der Menſch ſich
dienſtbar gemacht und die Entwicklung des Irdiſchen mehr beeinflußt
als irgend eine andere Kraft. Und unzufrieden mit der Herrſchaft
über ſeinen Planeten, trug er die Grenzen derſelben bis an die fernſten
Geſtade des Weltalls. Seine Herrſchaft? Hat er ſich wirklich alle
anderen Weltkörper in derſelben Weiſe unterthänig gemacht wie die
Erde? — Seine Herrſchaft iſt eine geiſtige: beſcheiden damit, auf die
irdiſchen Ereigniſſe zu wirken, weil er die Unmöglichkeit, von ſeinem
Standpunkte aus vorläufig das Weltall zu beeinfluſſen, einſieht, hat
er doch die Dinge um ſich zu erkennen geſtrebt. Und iſt Erkennen
[908]Die optiſchen Juſtrumente.
nicht Beherrſchen? iſt die Erfahrung nicht Macht? ſetzt nicht das Können
das Wiſſen voraus? Geſchichte der Wiſſenſchaft iſt Kulturgeſchichte, und
nicht die Großthaten kühner Eroberer haben den gewaltigſten Einfluß
auf die Entwicklung unſeres Geſchlechtes geübt, ſondern die Großthaten
des Geiſtes. Entdeckungen und Erfindungen ſind es, welche die Grenzen
großer Kulturepochen markieren.


Und ſomit war die Erfindung des Fernrohrs eine geſchichtliche
Großthat. Wohl gab es auch vorher eine in ihrer Bedeutung nicht
zu unterſchätzende aſtronomiſche Wiſſenſchaft, wohl hatte der menſchliche
Geiſt aus der Betrachtung der Himmelskörper den Stoff zu kühnen
Problemen entlehnt und, dieſelben löſend, ſeine Kraft erprobt, aber die
gewaltigſten Aufgaben ſtellten ſich dem wohl Erprobten erſt, ſeitdem
er viel ſehen und genau ſehen lernte. Galileis Beſuch in Venedig im
Jahre 1609 bezeichnet die Scheide zwiſchen alter und moderner Be-
obachtungskunſt: denn dort erfuhr er, daß im vorhergehenden Jahre
in Holland ein Werkzeug erfunden ſei, mit deſſen Hilfe der Beobachter
einen fernen Gegenſtand ſich näher rücken könne. Noch im Auguſt des-
ſelben Jahres hatte der berühmte Phyſiker von Padua ein vollkomme-
neres Inſtrument gefertigt, als jene holländiſchen Fernröhre waren.
Die Entdeckung der vier Jupitertrabanten, der Mondberge, der
wechſelnden Geſtalt des Planeten Venus, der Sonnenflecke und die
Auflöſung der Milchſtraße in Myriaden einzelner Sterne, das waren
Entdeckungen, die jetzt einander auf dem Fuße folgten. Der Jahr-
hunderte hindurch fortgeführte Prioritätsſtreit um die Erfindung des
Fernrohrs iſt erſt neuerdings zu Gunſten des Brillenmachers Franz
Lippershey zu Middelburg entſchieden worden, doch geſchah Galileis
Erfindung von der holländiſchen durchaus unabhängig. Den Gang
der Strahlen in dieſem Galileiſchen oder dem holländiſchen Fernrohr er-
ſehen wir aus der Fig. 493. Eine konkave Objektivlinſe ſammelt die
Strahlen, die von dem Objekte herkommen; ein konkaves Okularglas

Figure 483. Fig. 493.

Gang der Strahlen im Galileiſchen Fernrohr.


ſorgt dafür, daß dieſe Strahlen ſich vor ihm bereits vereinigen und
ſo ein aufrechtes Bild innerhalb der deutlichen Sehweite des Auges
geben, das uns deshalb vergrößert erſcheint. Heutzutage wird dieſe
Anordnung zu Operngläſern und als Feldglas noch viel gebraucht;
wiſſenſchaftliche Bedeutung hat ſie dagegen nicht mehr. Kaum zwei
Jahre ſpäter gab der berühmte Aſtronom Kepler in Prag diejenige
Form des aſtronomiſchen Fernrohrs an, die heute die gebräuchlichſte
iſt. Wir entnehmen den Gang der Strahlen bei dieſem Fernrohr aus
Fig. 494. Das von dem konvexen Objektiv gelieferte Bild, welches
[909]Das Fernrohr.
umgekehrt iſt und mit einem Schirme aufgefangen werden kann, wird
durch ein konvexes Okular, das ähnlich wie beim Mikroſkop in ver-
ſchiedenen Konſtruktionen zur Anwendung kommt, betrachtet und ver-

Figure 484. Fig. 494.

Gang der Strahlen im Keplerſchen Fernrohr.


größert. Wahrſcheinlich iſt das erſte derartige Inſtrument von dem
Jeſuitenpater Scheiner 1613 gebaut worden, während der Kapuziner-
mönch Schyrläus de Rheyta ein Mittel angab, um das Bild dieſes
Fernrohrs zu einem aufrechten zu machen. Er wandte nämlich als
Okular zwei Linſen ſtatt einer an, und der Gang der Strahlen iſt jetzt

Figure 485. Fig. 495.

Gang der Strahlen im terreſtriſchen Fernrohr.


aus Fig. 495 erſichtlich. Dieſes Fernrohr iſt wegen der aufrechten
Bilder für die Beobachtung in weite Fernen auf der Erde vorzüglich ge-
eignet und führt den Namen des terreſtriſchen, d. h. Erdfernrohrs. Während
eines Zeitraums von anderthalb Jahrhunderten wetteiferten die Künſtler
dieſer Zeit, einer den andern durch die Größe der von ihnen gefertigten
Werke zu übertreffen. Diejenigen von Campani in Rom, mit welchen
Caſſini, der Pariſer Aſtronom, 1648 fünf Saturntrabanten ſah, waren
11 bis 41 Meter lang, und Auzout konſtruierte gar ein ſolches von
180 Meter Länge, obgleich man gar kein Mittel hatte, eine ſo ge-
waltige Maſchine auf den Himmel zu richten.


Uberlegen wir, von welchen Geſichtspunkten aus die Erbauer zur
Herſtellung ſolcher Fernrohrrieſen gelangten. Natürlich liefert die
Objektivlinſe eines Keplerſchen Fernrohrs, um das es ſich handelt,
viel mehr Licht, wenn ſie recht groß iſt; aber damit iſt ein anderer
Übelſtand verbunden, den die Inſtrumentenbauer wohl bemerkten, ohne
ſeinen inneren Grund klar einzuſehen. Die älteren Optiker fanden
nämlich, daß, wenn ſie zu gleicher Zeit die Länge des Fernrohrs ver-
größerten, der Fehler der ſphäriſchen Abweichung weniger ſtörend
wurde, weil dabei die Linſe weniger ſtark gekrümmt zu ſein brauchte.
Dieſe Abweichung iſt freilich nicht der einzige Fehler, den die älteren
Inſtrumente hatten, und daß dem ſo iſt, ergiebt ſich leicht aus der
Vergleichung eines älteren Fernrohrs mit einem kleineren neuen. Das
[910]Die optiſchen Inſtrumente.
Fernrohr, welches der berühmte Phyſiker Huyghens für die engliſche
Geſellſchaft der Wiſſenſchaften fertigte, und welches im Jahre 1718
wohl das vorzüglichſte ſeiner Zeit war, hatte eine Linſe von 15 cm
Durchmeſſer bei einer Länge von faſt 38 m, und es giebt keine beſſeren
Bilder als eines unſerer heutigen Liebhaberfernröhre von 10 cm Durch-
meſſer und 1⅓ m Länge. Der Hauptfehler der damaligen Inſtrumente
war anderswo zu ſuchen, und der große Newton, der Begründer der
mathematiſchen Phyſik und der himmliſchen Mechanik, war es, der ihn
anzugeben vermochte. Die chromatiſche Abweichung, welche hier
ganz dieſelbe Bedeutung hat wie beim Mikroſkop, war der Haupt-
fehler der Refraktoren, und Newton, der in ihm ein unüberwindliches
Hindernis erblickte, ſah die einzige Abhilfe in der Ausbildung ſeines
Spiegelteleſkops, das er wenige Jahre vorher erfunden hatte. Hier iſt

Figure 486. Fig. 496.

Gang der Strahlen im Newtonſchen Spiegelteleſkop.


das Objektiv durch einen Hohlſpiegel erſetzt, und die chromatiſche Ab-
weichung iſt vermieden. Die Fig. 496 zeigt in welcher Weiſe hier das
Bild zuſtande kommt. Die von einem Hohlſpiegel zurückgeworfenen
Lichtſtrahlen prallen auf ihrem Wege auf einen ebenen Spiegel auf
und bringen ein ſeitliches Bild hervor, welches durch die konvexe
Okularlinſe betrachtet, vergrößert erſcheint. In der That hat der An-
ſtoß, den der bedeutende Phyſiker der Entwicklung der Fernrohrtechnik
damit gab, während des ganzen vorigen Jahrhunderts nachgewirkt.
Unbeſtritten war damals die Überlegenheit des Spiegelteleſkops; aber
die wiſſenſchaftliche Ernte war gleich Null, wahrſcheinlich weil der
hohe Preis dieſer Teleſkope ihren Gebrauch nur wenigen Begüterten
geſtattete. Erſt als Wilhelm Herſchel, der frühere Muſiker und ſpätere
Glasſchleifer und Inſtrumentenbauer, auf dem Höhepunkte ſeiner Lauf-
bahn angelangt war, änderte ſich die Sachlage. Schon einer von den
kleinſten Spiegeln — deren Herſchel nicht weniger als vierhundert in
[911]Das Fernrohr.
allen Größen von 15 bis 102 cm angefertigt hat — half ihm im
Jahre 1781 den Planeten Uranus entdecken, eine neue Welt den ſeit
den älteſten Zeiten bekannten hinzufügen. Der gewaltige Spiegel von
102 cm Durchmeſſer, zu dem ein Rohr von 12 m Länge gehörte, und
deſſen Vollendung in das Jahr 1789 fällt, hat zwei Saturntrabanten
finden helfen, bei der Suche nach Nebelflecken hervorragende Dienſte
geleiſtet und manchen Doppelſtern zum wiſſenſchaftlichen Daſein ge-
bracht. Nur zehn Jahre hat er indeſſen ſeinem Zwecke gedient, denn
die Metallſpiegel zeigten nie eine ſolche Konſtanz, um lange brauchbar
zu bleiben. Mit Herſchels Rieſenſpiegel war der Höhepunkt in der
Entwickelung dieſer Art Fernröhre erreicht. Zwar hat man neuerdings
in den verſilberten Glasſpiegeln einen vorzüglichen verhältnismäßig
billigen Erſatz gefunden, und damit ſind die Koſten eines Spiegel-
teleſkops weit geringer geworden als die eines ebenbürtigen Refraktors;
aber ihre Konſtanz iſt nicht weſentlich gewachſen, und für die Aus-
breitung unſerer Herrſchaft am Himmel haben ſie deshalb wenig mehr
vermocht. Nur in der Himmelsphotographie ſcheinen ſie zur Zeit noch
den Refraktoren überlegen zu ſein, und die ſchönen Lichtbilder von
Nebeln, welche Roberts in Liverpool mit einem Spiegel von
50 cm und Common in Ealing bei London mit einem ſolchen
von faſt 1 m Durchmeſſer erlangt haben, ſind die beſten, die bisher
bekannt geworden ſind. Es erübrigt nur, die größten derartigen In-
ſtrumente zu erwähnen, um von den Fortſchritten, die auch hier die
Technik gemacht hat, eine Ahnung zu geben. Lord Roſſe zu Par-
ſonstown in Irland fertigte drei Spiegel, deren zwei 90 cm meſſen,
während der dritte im Jahre 1845 vollendete gar die doppelte Aus-
dehnung erreicht — das größte im Gebrauch befindliche aſtronomiſche
Werkzeug. Seit 1870 beſitzt die Sternwarte zu Melbourne ein Spiegel-
teleſkop von 120 cm Öffnung, welches dem Geſchick des engliſchen
Mechanikers Grubb ſeine Entſtehung verdankt. Alle bisher erwähnten
Spiegel wurden aus einer beſonderen Metallmiſchung, dem Spiegel-
metall, hergeſtellt. Die erſten größeren Glasſpiegel entſtanden in
Amerika, wo Draper 1858 einen von 38 cm und bald nachher einen
ſolchen von 70 cm fertigte. Die größten Glasſpiegel befinden ſich jetzt
in Frankreich, darunter einer von 120 cm auf der Pariſer Sternwarte,
welchen wir in Fig. 497 abbilden, während in England Spiegel bis
zu 150 cm Durchmeſſer mit dem nötigen Zubehör für die gehörige
genaue Bewegung im Gebrauche ſind. Für die feineren Unterſuchungen,
bei denen die Struktur der Geſtirne näher ergründet werden ſoll, iſt
und bleibt aber der Refraktor ohne Nebenbuhler. Zwei Nachteile des
Spiegelteleſkops liegen ja auf der Hand. Einmal wirft nämlich jeder
Spiegel nur einen Teil der auffallenden Strahlen zurück, während er
die übrigen verſchluckt — man muß daher die Ausdehnung der Spiegel
fortdauernd ſteigern, um eine genügende Wirkung zu erzielen, und dann
werden die Inſtrumente ihrer Größe wegen ſehr unhandlich; Ver-
[912]Die optiſchen Inſtrumente.

Figure 487. Fig. 497.

Spiegelteleſkop der Pariſer Sternwarte.


biegungen ſind bei großen Spiegeln im Laufe der Zeit faſt unver-
meidlich, und daher gerade kommt es, daß die Feinheiten des Details
im Spiegelbilde verloren gehen.


Aber der Refraktor hatte ja auch Fehler, die gerade in den Augen
Newtons ihn als unverbeſſerlich erſcheinen ließen. Iſt es möglich, das
[913]Das Fernrohr.
Bild, welches eine Linſe liefert, von ſeinem farbigen Rande zu befreien,
ſo iſt damit ſchon ſehr viel gethan, um die Deutlichkeit des Bildes zu
heben. Newton hatte ſeine Verſuche überhaupt nicht dahin gerichtet,
weil er ja annahm, daß allen Subſtanzen dieſelbe farbenzerſtreuende
und brechende Kraft zukomme. Der berühmte Mathematiker Euler
fand theoretiſch, daß aus zwei Linſen von verſchiedenem Brechungs-
vermögen ſich eine achromatiſche müſſe zuſammenſetzen laſſen, d. h. eine
ſolche, die ein weißes Bild von einem weißen Gegenſtande liefert.
Die Verſuche, die Hall und Dollond in dieſer Richtung anſtellten,
hatten zwar einen gewiſſen Erfolg, konnten aber nicht genügend nutz-
bar gemacht werden, weil man die Größe reiner Glaslinſen eben erſt
bis zu 10 cm treiben konnte. Dieſelbe zu vermehren, erſchien aber
durchaus notwendig, wenn die Deutlichkeit der Refraktorbilder mit
derjenigen, welche die großen Reflektoren erzeugten, konkurrieren ſollte.
Hier ſetzte Fraunhofer die Hebel ſeiner Kraft an. Dieſer war der
Sohn armer Eltern, die ihn zu einem Spiegelmacher in die Lehre
gaben. Als das Haus des Meiſters zuſammenſtürzte und Fraunhofer
unter den Trümmern hervorgeholt wurde, machte der Kammerrat Utz-
ſchneider den Mechaniker Reichenbach auf den ſtrebſamen Knaben auf-
merkſam, welcher aus ihm den bedeutendſten Mechaniker ſeiner Zeit
machte. Fraunhofer erfuhr, daß der Schweizer Uhrmacher Guinand
1805 größere und ſchönere Glasſcheiben geſchmelzt habe, als je zuvor
gefertigt waren. Letzteren zog der Münchener Gelehrte nach Bayern, und
der gemeinſamen Arbeit beider entſtammen jene vielbewunderten Gläſer,
die lange Zeit als die beſten galten. Auch in den Linſen der
modernſten Fernröhre ſteckt noch Geiſt von Fraunhofers Geiſte. Bis
vor wenigen Jahren iſt nämlich die Erzeugung optiſchen Glaſes noch
das Myſterium weniger Eingeweihten geweſen. Der bedeutendſte
deutſche Fabrikant desſelben, Herr Merz in München, deſſen Vater der
langjährige Gehülfe und Nachfolger Fraunhofers in der Leitung der
optiſchen Werkſtätten war, erzeugte in ſeinen Öfen immer nur ſo viel
Glas, als in ſeiner Werkſtatt verarbeitet wurde. Neben ihm waren
bisher nur Feil in Paris und Chance in Birmingham als die In-
haber bedeutender Schmelzöfen zu nennen, und auch dieſe beiden ſind
in ähnlicher Weiſe als von deutſchem Geiſte inſpiriert anzuſehen. Feil
iſt der jetzige Inhaber jenes Inſtituts, welches der Schweizer Guinand
zu Paris begründete, und iſt mit einer Enkelin Guinands verheiratet.
Erſt ganz neuerdings beginnt die Kenntnis in der Anfertigung optiſchen
Glaſes Gemeingut zu werden, und das haben wir beſonders der
Munificenz der preußiſchen Regierung zu verdanken, die das optiſche
Inſtitut der Herren Abbe und Schott in Jena lebensfähig machte.
Die Nachrichten, die über die dortigen Leiſtungen bisher in die Öffent-
lichkeit gelangt ſind — und es wird alles mit einer bemerkenswerten
Offenheit mitgeteilt — laſſen erhoffen, daß die ferneren Fortſchritte der
praktiſchen Optik wieder von Deutſchland ausgehen werden, wo ſie vor
Das Buch der Erfindungen. 58
[914]Die optiſchen Inſtrumente.
zwei Menſchenaltern durch Fraunhofer zu ſo ungeahnter Blüte ge-
langten. Das Streben wird vor allem immer weiter dahin gerichtet
ſein müſſen, die Reſte von farbigen Rändern, welche weder Theorie
noch Praxis völlig zu entfernen fähig ſind, ſoweit einzuſchränken, daß
ſie der Deutlichkeit der Bilder möglichſt wenig Eintrag thun.


Seit jener Zeit iſt die Refraktorentechnik rapid vorangeſchritten.
Bereits 1823 verließ Fraunhofers Werkſtatt das Dorpater Glas von
24 cm, welches ſeinen allerbeſten ſpiegelnden Vorgängern zur Seite
geſtellt werden muß: kaum einer oder zwei der Herſchelſchen Spiegel
haben jemals größere Kraft gehabt, während der neue Refraktor ihnen an
Bequemlichkeit des Gebrauchs weit überlegen war. Aus der Münchener
Werkſtatt gingen ferner die in ihrer Zeit mächtigſten Fernröhre hervor:
1837 das Münchener Glas von 30 cm, 1839 das von 38 cm Durch-
meſſer für die Harvard-Sternwarte zu Cambridge in Amerika, 1847 ein
ebenſolches für die Sternwarte zu Pulkowa, die bedeutendſte Europas.
Aber in die Fußſtapfen der Münchener Meiſter trat bald eine ganze
Reihe geſchickter Optiker, deren Fernröhre ſeit Mitte des Jahrhunderts
den Weg durch die Welt gemacht haben. Wir erwähnen die Deutſchen
Steinheil und Schröder, die Franzoſen Cauchoix, Martin und die Ge-
brüder Henry von der Pariſer Sternwarte. Letztere ſtellten zuerſt eines
jener Fernröhre von 32 cm Öffnung zum Zwecke photographiſcher
Aufnahmen am Himmel her, von denen heute faſt zwanzig von ver-
ſchiedenen Erbauern der Aufnahme der photographiſchen Himmels-
karte dienen ſollen, die durch internationales Zuſammenwirken vieler
Sternwarten zu Stande kommen wird. Ihre übrigen Werke ſind viele
ſchöne Spiegel und Linſen und vorzüglich die vollkommen ebenen
Spiegel von beliebiger Größe, denen Loewys neues Fernrohr, das
gebrochene Äquatoreal, ſeine ſchönen Erfolge verdankt. Der Engländer
Cook vollendete 1863 das Inſtrument von 63 cm Durchmeſſer,
das jetzt die Cambridger Univerſität beſitzt. Sein Landsmann
Grubb in Dublin hat gleichfalls viele Refraktoren gebaut, u. a. jenen
von 70 cm Durchmeſſer in Wien. In Amerika endlich ſind es
Alvan Clarke \& Sons in Boſton, die heute als die bedeutendſten Glas-
ſchleifer der Welt anzuſehen ſind. Der bedeutende Ruf dieſes Hauſes
datiert von jenem Momente, da es dem älteſten Sohne ſeines Begründers,
dem noch heute in der Werkſtatt thätigen Alvan Clarke gelang, den Be-
gleiter des Sirius zu entdecken, mit Hülfe des großen Refraktors, den er
im Jahre 1862 für die Sternwarte der Miſſiſippi-Univerſität zu
Chicago in Arbeit genommen hatte, noch bevor derſelbe vollendet war.
Das Objektivglas dieſes Fernrohrs hatte einen Durchmeſſer von 46 cm,
übertraf alſo die größten Merzſchen Gläſer noch um 8 cm. Seit jener
Zeit hat ſich der Weltruf der Werkſtatt ſtetig gehoben. Im Jahre 1873
verließ die Werkſtatt eine Rieſenlinſe, welche bereits einen Durchmeſſer
von 66 cm hatte, für die Marineſternwarte zu Waſhington, und mit
ihrer Hülfe fand Aſaph Hall vor 13 Jahren die treuen Gefährten des
[915]Das Fernrohr.
Mars, der eben der Erde ganz beſonders nahe kam. Vor wenigen
Jahren erſt ging aus der Werkſtatt von Repſold \& Söhne in Hamburg
eine Linſe von 76 cm an die Sternwarte zu Pulkowa, und dann hat
Clarke die Rieſenaufgabe vollendet, ein Objektiv von 91 ½ cm Durch-
meſſer anzufertigen, welches ſeit drei Jahren in der Lick-Sternwarte
auf dem Berge Hamilton in Kalifornien in der ſtattlichen Höhe von
1300 m im Dienſte der Himmelsforſchung ſteht.


Die Schwierigkeiten, welche die Herſtellung großer Fernröhre noch
bietet, läßt ſich am beſten durch Anführung einiger Einzelheiten aus
der Geſchichte des neuen Fernrohrs illuſtrieren. Clarke vollendete die
Kron- und die Flintglaslinſe, welche das achromatiſche Objektiv zu-
ſammenſetzen, etwa ein Jahr nachdem ihm von Feil das Material zu-
gegangen war. Noch eine dritte Linſe aus Kronglas wollte er dann
dem Inſtrumente beigeben, die im Verein mit den beiden anderen
gerade die violetten und ultravioletten Strahlen des Spektrums ver-
einigen ſollte. Dieſe Strahlen ſind nämlich ganz vorzüglich zu chemiſchen
Wirkungen befähigt, ſie greifen die üblichen photographiſchen Platten
beſonders ſtark an, und durch ihre Konzentrierung kann man daher in
kürzerer Zeit ein Photogramm erhalten, das an Schärfe nichts zu
wünſchen übrig läßt. Die Lick-Sternwarte ſoll ſich in der That nach
dem Wunſche ihres Stifters viel mit photographiſchen Aufnahmen be-
ſchäftigen, und welche Effekte darf man nicht zu erzielen hoffen, wenn
man ein ſo gewaltiges Inſtrument als Camera benutzt? Aber es
zeigte ſich, daß die Herſtellung optiſchen Glaſes trotz ihrer bedeutenden
Fortſchritte noch immer den ſchädlichen Einflüſſen unberechenbarer Zu-
fälligkeiten unterworfen iſt. Als Clarke die Kronglasmaſſe zu bearbeiten
anfing, ſprang ſie in zwei Stücke. Wahrſcheinlich iſt ſie ſchlecht ge-
kühlt geweſen, daher waren einzelne Teile im Verhältnis zu anderen
ſtärker geſpannt und mußten dieſe auseinander treiben, als das Schleifen
begann. Übrigens iſt es für die Ausdauer des großen Optikers be-
zeichnend, daß er die Korrektionslinſe für photographiſche Zwecke noch
nachgeliefert hat. Das photographiſche Sonnenbild im Brennpunkte hat
nicht weniger als 13 cm Durchmeſſer. Ein ſo zarter Gegenſtand, wie
die Rieſenlinſe, mußte natürlich für die Fahrt nach ſeinem Beſtimmungs-
orte in Kalifornien, die Fahrt von Ozean zu Ozean, in jeder Weiſe
gegen Stöße geſchützt werden. Mehrere Lagen Leinwand und Papier
umſchloſſen die Linſe, die in eine Holzkiſte gebettet ward. Außerdem
aber war ſie noch in zwei Stahlkiſten eingeſchachtelt, deren Wände mit
Stahlfedern verſehen waren, um jede heftige Erſchütterung wirkungslos
zu machen. Zudem wurde die äußere Stahlkiſte während der Fahrt
durch ein beigegebenes Uhrwerk im Laufe einer beſtimmten Zeit um
eine feſte Achſe herumgedreht. Während der acht Tage dauernden
Fahrt mußte nämlich das Glas ſo und ſo viele Male in der Richtung
des Zuges hin- und hergeſchüttelt werden. Folgen die Stöße in be-
ſtimmten regelmäßigen Zeiträumen aufeinander, ſo ſummieren ſich ihre
58*
[916]Die optiſchen Inſtrumente.
Wirkungen. Wenn auch nicht gerade ein Springen der Linſe durch
jene Stöße zu befürchten war, ſo hätte doch ihre gleichmäßige Be-
ſchaffenheit leiden können; denn wie ſtarr auch immer ein Material
erſcheinen mag, es finden trotzdem Umlagerungen ſeiner kleinſten Teilchen
ſtatt, wenn ſie fortwährend in demſelben Sinne hin- und hergeſtoßen
werden — Änderungen, welche wieder elaſtiſche Nachwirkungen hervor-
rufen, und damit die Bilder, auf deren Deutlichkeit doch alles ankommt,
entſtellen müſſen. Gab man aber jenes Uhrwerk bei, ſo war man
ſicher, daß die Stöße fortwährend ihre Richtung wechſelten, und ſomit
konnte von einem Summieren derſelben keine Rede ſein.


Neuerdings haben — um dies gleich zu erwähnen — die Clarkes
eine Linſe von 1 m Durchmeſſer in Arbeit genommen; es iſt dies eine
von einem Paar, das für das große Fernrohr auf dem Wilſon-Peak
in der Sierra Madre beſtimmt iſt. Dort, in einer Seehöhe von 1900 m,
in einer Entfernung von zwölf bis fünfzehn Meilen von Los Angeles,
der ſüdkaliforniſchen Univerſität, ſoll eine neue Sternwarte für dieſe
errichtet werden. Das Glas iſt in der Mitte 6 cm und am Rande
4 cm ſtark; der Glaswert der beiden nötigen rohen Scheiben ſtellt ſich
auf 10000 Dollar, und er iſt bei zwei Hauptgeſellſchaften Boſtons
verſichert worden. Wenn erſt beide Linſen des Objektivs vollendet
und gefaßt ſein werden, ſo wird dieſer Teil des großen Fernrohrs
gegen 65000 Dollar koſten. Die Clarkes waren noch unſchlüſſig, ob
ſie die Scheiben in ihrer Werkſtatt in Boſton ſchleifen oder eine neue
Werkſtatt am Wilſonberge direkt für dieſen Zweck errichten ſollten. Sie
würden ſo die beträchtlichen Koſten und Gefahren des Transports
erſparen. Auch dieſes Teleſkop wird dann noch eine photographiſche
Linſe erhalten. Wenn dieſes Fernrohr vollendet ſein wird, ſo ſoll es
eine Länge von 18 m haben, etwa dieſelbe, wie das Lick-Teleſkop.
Das fertige Rohr ſoll 100000 Dollar koſten, während der Bau und
die innere Einrichtung der Sternwarte für den drei- bis vierfachen
Preis wird geſchaffen werden können. Der Wilſonberg verſpricht durch
ſeine Lage dem neuen Inſtrumente noch größere Vorzüge als der Berg
Hamilton dem ſeinigen. Hoffen wir, daß in der That die Luft dort
oben an Beſtändigkeit ſo wenig zu wünſchen übrig laſſe, daß das neue
Rohr zur Erweiterung der Himmelsherrſchaft weſentlich beitrage.


Sollen jene großen Teleſkope in den Händen des Himmelsforſchers
ihre Dienſte leiſten, ſo muß auch die Aufſtellung ihre Handlichkeit ſo-
wohl wie ihre Feſtigkeit voll garantieren. Die Geſchichte dieſer Fern-
rohraufſtellungen enthält viele intereſſante Einzelheiten, ſie führt uns
bei den geſchickteſten Mechanikern und Maſchinenbauern der letzten
Jahrhunderte vorbei: hier begegnen wir Huyghens als dem Erfinder
des Luftteleſkops, und ſeinem Rivalen Robert Hook, wir finden
Herſchel mit der Aufgabe beſchäftigt, ſein 13 m langes Rieſenfernrohr
zu lenken, — Laſſels, Roſſes und Commons gleichgerichtete Anſtrengungen
werden uns nicht entgehen, und wir ſehen Sir Howard Grubb bei
[917]Das Fernrohr.
der Arbeit, das optiſche Ungetüm von Melbourne, das Spiegelteleſkop
von 120 cm Öffnung aufzuſtellen. Wo die Newtonſche Form des
Fernrohrs verwendet wird, da iſt die Gegenwart des Beobachters
am hohen Ende des Fernrohrs erforderlich, und das Problem, ihn
dort mit Sicherheit in unmittelbarer Nähe des Augenglaſes zu erhalten,
iſt noch nicht genügend gelöſt.


Die Geſchichte der Aufſtellung von großen Refraktoren erreicht
ihren Glanzpunkt wieder bei Fraunhofer, der den heute noch allgemein
gebräuchlichen Typus für die Aufſtellung des Dorpater Äquatoreals
erfand. In dem Maße, wie die Größe dieſer Fernröhre wuchs, ver-
mehrte ſich auch die Fülle und Verwicklung der mechaniſchen Probleme
ſo erſtaunlich, daß die beſten Kräfte der geſchickteſten Mechaniker ihnen
gerade gerecht werden konnten. Von ihnen ſeien die Repſolds in
Hamburg und Sir Howard Grubb genannt. Daß man das Fern-
rohr in vollkommen gleichmäßiger Bewegung erhält, ſo daß das
Sternbild im Geſichtsfelde bleibt, das erfordert zunächſt eine äqua-
toreale Aufſtellung, d. h. die Umdrehungsachſe des Fernrohrs muß
mit der Erdachſe parallel liegen. Vermag man das Fernrohr außerdem
in einer mit der Erdachſe parallelen Ebene einzuſtellen, ſo läßt ſich
dasſelbe nach allen Teilen des Himmels richten; dann kann das Rohr
jedem Himmelskörper folgen, wenn man nur die Polarachſe des Rohres
mit derſelben Geſchwindigkeit, wie ſie die Erdachſe beſitzt, aber in
entgegengeſetzter Richtung in fortwährender Bewegung erhält; wir
haben ſo die vollendete äquatoreale Bewegung. Es giebt verſchiedene
Wege, dieſen Zweck zu erreichen. Das große Nizzaer Teleſkop der
Gebrüder Henry und das Lick-Fernrohr haben kurze, ſtarke Achſen,
die durch Gegengewichte ausbalanciert ſind, wie Fig. 498 lehrt.
Werfen wir einen Blick auf die letztere. Die gußeiſerne Säule, welche
das Lick-Fernrohr trägt, iſt an der Baſis 5,3 m lang und 3,1 m breit,
das obere Ende hat 2,5 m und 1,3 m als entſprechende Ausdehnungen;
die Säule wiegt 400 Centner. Der Kopf dieſer rechtwinkligen Säule,
auf welchem die Polarachſe aufliegt, wiegt 80 Centner. Um dieſen
Kopf geht eine Gallerie für den Aſſiſtenten des Beobachters. Durch
ein verwickeltes Syſtem von Rädern vermag er mit dem leiſeſten Druck
das Inſtrument auf jeden Himmelskörper hin zu ſtellen und die Lage
desſelben an den elektriſch erleuchteten Mikroſkopen abzuleſen. Die
Polarachſe von Stahl hat 36 cm Durchmeſſer, 3 m Länge und wiegt
27 Centner; die andere, ebenfalls ſtählerne Achſe iſt ebenſo lang und
wiegt 23 Centner. Das Rohr iſt von Stahl und 18 m lang; ſein Durch-
meſſer beträgt in der Mitte 120 cm und an den Enden 95 cm. Das
vollſtändige Rohr mit allem, was daran zu ſehen iſt, wiegt nicht
weniger als 100 Centner, und die Uhr, welche ſeine Bewegung kontrolliert,
20 Centner. Sie ſteht innerhalb der Säule, nahe ihrem oberen Ende,
und iſt von der Plattform aus leicht zu erreichen. Der Bewegungs-
mittelpunkt des Rohres liegt 11 m über dem Boden, und wenn es
[918]Die optiſchen Inſtrumente.

Figure 488. Fig. 498.

Refraktor der Lickſternwarte auf dem Hamiltonberge in Kalifornien.


nach dem Zenith gerichtet wird, ſo liegt das Objektiv 19,5 m über
dem Boden der Säule. Zur Seite des großen Rohres befinden ſich
drei kleinere Fernröhre mit Öffnungen von 15, 10 und 7,5 cm, die
als „Sucher“ dienen. Das Geſamtgewicht des Rieſenfernrohrs mit
der tragenden Säule iſt 800 Centner. Die Aufſtellung wurde nicht
[919]Das Fernrohr.
von den Clarkes beſorgt, ſondern von der rühmlichſt bekannten Firma
Warner \& Swaſey in Cleveland.


Natürlich muß auch dafür Sorge getragen ſein, daß der Beobachter
während der beträchtlichen Bewegungen des Rohres denſelben leicht
zu folgen imſtande iſt und auch Objekte in der Nähe des Horizontes
erreichen kann. Da er für dieſen Zweck nicht ſtets die 11 m wird
emporklettern können, ſo iſt hier eine geniale Idee Sir Howard Grubbs
ausgeführt worden. Der Boden der ganzen Sternwarte läßt ſich
nämlich durch hydrauliſche Maſchinen vom Beobachter leicht auf- und
abbewegen — eine angenehme, aber nicht billige Art, die Schwierig-
keiten zu löſen, ſoweit die Sicherheit ins Spiel kommt, die aber noch
nicht auf den fortwährenden Wechſel in horizontaler Richtung genügend
Rückſicht nimmt, den die Stellung des Augenendes des Rohres bei
ſeiner rotierenden Bewegung erfahren muß. Der Durchmeſſer der
Kuppel, welche den Fernrohrrieſen überdeckt, mißt nicht weniger als
35 m, und ſie wiegt die Kleinigkeit von 1800 Centnern. Dabei muß
ſie jedoch noch drehbar eingerichtet ſein, damit ihre Öffnung nach einer
beſtimmten Himmelsrichtung eingeſtellt werden könne. Die Rieſenkuppel
auf dem Hamiltonberge ſoll trotz ihres großen Gewichtes bereits durch
einen Druck von 67 kg ſich bewegen laſſen. Die Koſten dieſes Baues
allein belaufen ſich auf 56800 Dollar.


In neueſter Zeit hat man die Aufſtellung der Äquatoreale weſent-
lich zu vereinfachen getrachtet, indem man nur einen geringeren Teil
derſelben beweglich herſtellt, den größeren Teil aber feſt läßt. Man
kann dies, indem man zwiſchen Augenende und Objektiv ſchief gegen
das Rohr eine bewegliche, ſpiegelnde Glasplatte einſetzt und nun nur
das Objektivende beweglich macht. Dieſes Inſtrument, das gebrochene
Äquatoreal des Herrn Loewy von der Pariſer Sternwarte, iſt jetzt
mit einer Öffnung von 57 cm ausgeführt worden. Freilich wird durch
den Planſpiegel immer ein Verluſt an Lichtkraft und Deutlichkeit herbei-
geführt werden, aber die Gebrüder Henry machen dieſelben bereits in
ſolcher Vollkommenheit, daß jener Verluſt gering erſcheint gegen die
offenbaren Vorteile der Leichtigkeit der zu bewegenden Teile. Wir ſind
daher berechtigt, in dieſem Werkzeuge das Fernrohr der Zukunft zu
erblicken, das mit der Zeit nicht nur bei den allgemein aſtronomiſchen,
ſondern auch bei photographiſchen und ſpektroſkopiſchen Aufgaben der
Himmelsforſchung vorzügliche Dienſte leiſten wird.


Verſuchen wir, uns ein Urteil über die Wirkungen eines großen
Inſtrumentes zu bilden. Wir werden dabei zunächſt an die Mittel
denken, durch welche die Sehſchärfe des unbewaffneten Auges ſich feſt-
ſtellen läßt. In einer alten arabiſchen Himmelsbeſchreibung wird ein
Stern im großen Bären erwähnt, „nach dem die Menſchen ihr Geſicht
prüfen“. Es iſt dies ein Stern fünfter Größe, der für gute Augen
und bei günſtiger Witterung bei uns immer ſichtbar iſt. Da für ein
ſcharfes Auge ſogar noch einige Sterne von der ſiebenten Größe ſichtbar
[920]Die optiſchen Inſtrumente.
ſind, ſo würde das Auffinden jenes Sternes durchaus nicht ſchwer
fallen, kämen nicht zwei erſchwerende Umſtände hinzu. Einmal ſteht
er überhaupt einem andern Stern ziemlich nahe — ihr Abſtand beträgt
ein drittel Mondesbreite — und andererſeits iſt der benachbarte Stern
von der zweiten Größe, überſtrahlt alſo durch ſeinen Glanz den kleineren
dermaßen, daß dieſer ſchwer noch einen Eindruck macht. Ganz ähnlich
wächſt nun die Schwierigkeit, mit dem Fernrohr zwei nahe Sterne als
getrennt wahrzunehmen, nicht bloß in dem Maße, als ſie einander
näher kommen, ſondern auch als der eine vom andern an Helligkeit
übertroffen wird. Daß der Siriusbegleiter, die Marsmonde und der
fünfte Jupitertrabant ſo lange auf ihre Entdecker warten mußten, das
lag keineswegs an ihrer Lichtſchwäche, auch nicht daran, daß ſie zu
dicht an dem Hauptkörper ſtanden, um ſich von ihm unterſcheiden zu
laſſen, ſondern hauptſächlich an der beträchtlichen Lichtſtärke dieſer
gegenüber ihren Begleitern.


Als man das Lick-Inſtrument noch in der Werkſtatt prüfte, ward
es zunächſt auf einen Doppelſtern im Bilde der nördlichen Krone ein-
geſtellt, deſſen beide Sternchen eine Entfernung von nur ¼ Sekunde
beſitzen, aber von ziemlich gleicher Helligkeit ſind. Ohne Schwierig-
keit wurden ſie getrennt geſehen. Was das heißen will, mag ein Bei-
ſpiel klar machen. Stellen wir uns dazu zwei Leuchtkäfer vor, die
um eine Spanne von einander getrennt dahinfliegen. Wenn ihre
Leuchtkraft ſonſt genügend iſt, ſo müßte man ſie durch das Fernrohr
noch in einer Entfernung von 15 Meilen von einander unterſcheiden
können. Nähere Doppelſterne kannte man aber damals noch nicht,
zu ihrer Entdeckung wird das Inſtrument erſt beitragen. Wenn ein
Stern von einem andern bedeutend überſtrahlt wird, ſo hat man ſich
bisher meiſt in der Weiſe geholfen, daß man die Strahlen des Haupt-
ſterns vom Auge fernhielt, daß man alſo ſein Bild im Fernrohr ver-
deckte. Auf dieſe Weiſe hatte z. B. Winnecke den Begleiter der Vega,
eines Sternes erſter Größe, gefunden, und nur ſo hatte man ihn bis-
her zur Sichtbarkeit bringen können. Bei der Prüfung des Lick-Fern-
rohrs gelang es auch ohne Verdeckung, den lichtſchwachen Stern zu
erblicken. Die Vergrößerung, welche das Inſtrument erlaubt, geht
vom 180- bis zum 3000 fachen. Der Direktor der Lick-Sternwarte
Holden ſchreibt darüber: „Während die Vergrößerung, die man mit
Erfolg bei einem Inſtrumente von 12 cm Öffnung anwenden kann,
nicht mehr als 400 beträgt, erlaubt das Lick-Fernrohr eine ſolche
von 2000 bei paſſenden Objekten, z. B. bei Fixſternen. Beim
Monde und den Planeten kann man aus vielen Gründen eine ſolche
Vergrößerung nicht mit Vorteil verwenden, ſondern wahrſcheinlich
höchſtens eine ſolche von 1000 bis 1500. Der Mond erſcheint
uns bei dieſer Vergrößerung ſo, als ob er mit freiem Auge aus
einer Entfernung von etwa 40 Meilen geſehen würde, oder mit anderen
Worten: man kann Objekte von 90 m im Quadrat darauf erkennen.
[921]Das Fernrohr.
Kein Dorf, kein großer Kanal, ja nicht einmal ein großes Gebäude
würde ohne unſere Kenntnis auf dem Monde angelegt werden können.
Hoch organiſiertes Leben wird ſich, wenn es auf dem Monde vor-
handen iſt, auf dieſem indirekten Wege bekannt geben.“


Wie geſagt, iſt die direkte Beobachtung nicht die einzige Arbeit,
die den großen Fernröhren obliegt. Dazu gehört auch die photo-
graphiſche Aufnahme himmliſcher Objekte, bei welcher das Lick-Teleſkop
auch bereits ſeine Überlegenheit gezeigt hat. Ferner gehört die ſpektro-
ſkopiſche Forſchung dazu, welcher das Spektrometer dient. Mag es
weiter zur Erkenntnis der phyſikaliſchen Beſchaffenheit und der Ge-
ſchwindigkeit der Welten beitragen, gleich ſeinen Genoſſen! Möge die
Arbeit der Rieſenfernröhre unſere Herrſchaft über die Welten weiter
tragen, und mag der ſpekulative Geiſt Schritt halten mit den objektiven
Erfahrungen, die wir ſolchen Hülfsmitteln verdanken!


[[922]]

X. Das Papier und die vervielfältigenden
Künſte.


1. Die Erfindung des Papiers.


Wenn in einem Geſpräch gelegentlich das Wort „Papier“ ge-
braucht wird, ſo iſt im allgemeinen von derjenigen Verwendung des
Papiers die Rede, die die urſprünglichſte und älteſte iſt, von der Ver-
wendung zu Schreib- oder Druckzwecken. In der That iſt die unge-
heure Bedeutung der Erfindung des Papiers gerade für die Entwicklung
der graphiſchen Künſte am erſichtlichſten und in die Augen ſpringendſten,
ohne daß aber darum die heutige Verwendung des Papiers zu hundert
anderen Zwecken minder bedeutungsvoll wäre. Man ſtellt ſich im ge-
wöhnlichen Leben gar nicht vor, was alles aus Papier gemacht wird,
welche wunderbaren Eigenſchaften dieſes Produkt menſchlichen Erfin-
dungsgeiſtes in ſich trägt. Dem Hutmacher, dem Schuhmacher, dem
Porzellanfabrikanten, dem Bandagiſten, dem Schneider, dem Moſaik-
bildner und unzähligen andern gewöhnlichen oder Kunſthandwerkern
iſt das Papier zu mannigfaltigen Zwecken ein oft unentbehrlicher
Gebrauchsgegenſtand geworden. Tafeln, Figuren, Töpfe, Wäſche, Fäſſer
von enormer Widerſtandskraft, Eiſenbahnſchienen, Wagenräder, kurz
und gut die verſchiedenartigſten Sachen, an deren Feſtigkeit außer-
ordentliche Anſprüche geſtellt werden, werden heutigen Tages aus dieſem
Stoffe gemacht, den in früheren Zeiten jemand als zu ſolchen Dingen
geeignet nicht hätte bezeichnen dürfen, ohne verlacht zu werden.


Wenden wir uns der Geſchichte der Papierinduſtrie zu, ſo ſehen
wir, daß es zunächſt das Bedürfnis nach beſſerem Schreibmaterial war,
das zur Erfindung des Papiers führte. In den älteſten Zeiten mußten
Steine, Metallplatten, Thonſtücke, Holztafeln, Baumrinden den Skri-
benten für ihre Schriftſtücke und Schreibkünſte genügen. Auch das
Palmblatt, das in Indien und auch in Weſtaſien und Ägypten ſchon
in alten Zeiten als vorzüglicher Schreibſtoff bekannt und beliebt war
und ſelbſt heutzutage namentlich in Ceylon noch ſehr viel in Gebrauch
[923]Die Erfindung des Papiers.
iſt, dürfte auf den Namen Papier kaum Anſpruch machen, da ihm
weſentliche Eigenſchaften eines ſolchen, die leichte Biegſamkeit, die
Brechbarkeit, ſowie die Brauchbarkeit für ſchnellſtes Schreiben abgehen.
Ebenſo befriedigte das Pergament, das ja vielfach ſogar Pergament-
papier genannt wird, ſolche Erforderniſſe nur zum Teil, wenn es auch,
zwar zumeiſt aus Billigkeitsrückſichten, neben den älteſten Papierſorten,
beſonders derjenigen, welche in Ägypten aus der Papyrusſtaude her-
geſtellt wurde, ſeinen Rang feſt behauptete.


Die Bereitung von Papier aus dem Zellengewebe der binſen-
artigen, durchſchnittlich 5 m hohen Papyrusſtaude (Cyperus Papyrus)
datiert wahrſcheinlich bis in das vierte Jahrtauſend vor Chr. zurück.
Man ſchnitt aus dem Zellengewebe ſchmale Streifen, die ziemlich dicht
neben einander gelegt wurden. Nachdem man über eine ſolche Schicht
eine andere in kreuzweiſer Anordnung darübergelegt hatte, durchtränkte
man das ganze mit Waſſer, in dem Gummi aufgelöſt war. Darauf wurde
die Maſſe gepreßt und getrocknet, mit einer dünnen Miſchung von
Stärkekleiſter überſtrichen, nochmals gepreßt und getrocknet und ſchließlich
mit Elfenbein oder ähnlichem Material geglättet, was aber nur bis
zu einem gewiſſen Grade gelang. Auch hatte der Papyrus außer der
Streifigkeit noch den Übelſtand, nicht weiß, ſondern graubraun zu ſein.
Erwähnt ſei noch, daß die Papyrusſtaude auch zur Herſtellung von
Kleidern, Stricken und Geflechten diente. Leinwand und Seide dienten
übrigens in Ägypten, wie in China ſchon in alten Zeiten zum Schreiben.
In China wurde dann vor etwa 2000 Jahren, wenn nicht früher,
ſelbſtändig ein Papier erfunden, das mit dem heutigen Fabrikat ſchon
mehr Ähnlichkeit hat, als der Papyrus. Es wurde aus dem Baſt
des Papiermaulbeerbaums (Broussonetia papyrifera) mit Beimengung
von Seidenlumpen, vielleicht auch Baumwolle hergeſtellt. Dieſe Fabrikation
verpflanzte ſich in den erſten Jahrhunderten unſerer Zeitrechnung über
Samarkand und Damaskus zu den Arabern und Ägyptern fort und wurde
wohl zu Anfang des Mittelalters von den Arabern nach Spanien gebracht.
Die Anwendung von Lumpen oder, wie der techniſche Ausdruck lautet,
Hadern ſtatt roher Baumwolle mag ſchon vorher erfolgt ſein; z. B.
bot ſich den Ägyptern in dem alten Leinenzeug, das in ungeheuren
Maſſen in den Felſengräbern aufgeſpeichert war, ein vorzügliches
Papiermaterial; doch kann man nicht ſagen, wann zuerſt Lumpen-
und Leinenpapier in Gebrauch gekommen iſt. Im 14., beſonders aber
im 15. Jahrhundert nach Erfindung der Buchdruckerkunſt nahm die
Papierinduſtrie, die Anlage und Verbeſſerung von Papiermühlen be-
ſonders in Frankreich, Deutſchland und Holland einen großen Auf-
ſchwung. Nach letzterem Lande wird der weſentlichſte Apparat der
heutigen Papierfabrikation, der „Holländer“, benannt, der, vorher in
Deutſchland erfunden, erſt von Holland aus in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts auch bei uns Eingang fand und an die Stelle der alten
Stampfwerke trat. Der größte Fortſchritt auf dieſem Gebiete trat
[924]Das Papier und die vervielfältigenden Künſte.
natürlich mit der Einführung der Maſchinenfabrikation ein. Als Er-
finder der noch heute gebräuchlichen, wenn auch mehrfach umgeänderten
Papiermaſchine iſt der Franzoſe Louis Roberts in Eſſonne zu nennen,
der im Jahre 1799 durch ſeine Maſchine eine vorher von Leiſten-
ſchneider in Poncey erfundene Cylindermaſchine völlig verdrängte, die
eigentlich nur zur Pappenfabrikation geeignet und auch dazu in
Gebrauch geblieben iſt. Die weſentlichſten Verbeſſerungen an der
Papiermaſchine machten Léger-Didot im Jahre 1819, Fourdrinier im
Jahre 1830 und Donkin im Jahre 1835. Als bedeutſame Erfindung
iſt auch diejenige der Büttenleimung von den Gebrüdern Illig
in Erbach im Jahre 1806 zu bezeichnen, indem ſie an Stelle der zeit-
raubenden Leimung der einzelnen Papierbogen ein Verfahren ſetzten,
bei dem ein geeigneter Leimzuſatz zu der noch unfertigen Papiermaſſe
gefügt wurde. Im übrigen ſind im 19. Jahrhundert verſchiedene
Stoffe gefunden worden, die einen Erſatz für die kaum mehr den
Papierbedarf deckenden Baumwollen- und Leinenlumpen bieten ſollen
Wir wollen den geſchliffenen Holzſtoff von Keller (1847), die chemiſch
gewonnenen Celluloſeſtoffe und die Verwendung von Stroh zu dem
gleichen Zwecke erwähnen. — Gehen wir zur Papierfabrikation
ſelbſt über und folgen der Umwandlung der Hadern zum feinſten
Schreibpapier von Schritt zu Schritt. Zunächſt handelt es ſich
darum, die Hadern, die in den mannigfaltigſten Beziehungen, wie
Farbe, Stoff, Feinheit u. ſ. w. Verſchiedenheiten zeigen, zu ſortieren.
Es giebt Fabriken, die mehr als 30 Sorten unterſcheiden, wobei natür-
lich die Abſicht der Herſtellung ſo viel verſchiedener Papierſorten maß-
gebend iſt. So werden z. B. zur Anfertigung von Seiden-, Cigaretten-
und Banknotenpapier nur die kräftigſten Leinen- oder Hanfhadern, die
nicht durch Bleichen angegriffen ſind, verwendet, dagegen für Grob-
papier und Pappe Holzzeug, zerkleinertes Stroh, Kartoffelkraut, Moos,
Föhrennadeln, Weinreben und ähnliches. Nächſt oder gleichzeitig mit
dem Sortieren wird das Schneiden der Lumpen vorgenommen, wobei
es einerſeits darauf ankommt, alles Unbrauchbare, wie Knopflöcher,
Nähte, Knöpfe u. dergl. wegzuſchneiden, andererſeits darauf, das ganze
Material in Stücke von ziemlich gleicher Größe, 3 bis 5 Centimeter
lang, zu zerkleinern. Das erſtere geſchieht meiſtens mit der Hand,
das letztere gewöhnlich mit einem mechaniſchen Meſſerapparat,
dem „Lumpenſchneider“. Sehr notwendig iſt außerdem das Aus-
ſtauben, das manchmal ſchon teilweiſe ganz am Anfang der Be-
arbeitung, meiſt aber und vollſtändig nach dem Schneiden erfolgt. Es
geſchieht dies erſtens im „Lumpenwolf“, in dem die Lumpen von einer
mit eiſernen Pflöcken verſehenen Rolle gegen eiſerne Roſte geſchleudert
und dadurch aufgelockert werden, und dann in der „Siebmaſchine“,
in der der vorher aufgelockerte Staub ganz entfernt wird. Die Sieb-
maſchine beſteht aus einer großen ſechs- oder achtſeitigen Trommel,
deren Wände Drahtgitter bilden. Im Innern befindet ſich eine mit
[925]Die Erfindung des Papiers.
vielen, faſt bis an die Drahtgitter heranreichenden Stäben verſehene
Axe. Der ganze Apparat wird mit den Lumpen gefüllt und darauf
in ziemlich ſchnelle Rotation verſetzt. Die Geſchwindigkeit, mit der die
Umdrehungen der Axe erfolgen, muß aber eine größere, wie die der
Trommel ſein. Dadurch erfolgt eine außerordentlich gründliche Durch-
ſchüttelung und Reinigung der Lumpen.


Es iſt nunmehr aber ein Waſchen der Lumpen nicht zu umgehen,
und zwar genügt nur in den ſeltenſten Fällen, wenn nämlich die
Hadern beſonders ſauber ſind, ein mehrſtündiges Auswaſchen mit
kaltem Waſſer. Im allgemeinen iſt aus mehreren Gründen ein
vollkommenes Kochen der Lumpen in einer alkaliſchen Flüſſigkeit, z. B.
Soda oder Ätzkalk erforderlich. Erſtens läßt ſich nämlich nicht
aller Schmutz mechaniſch entfernen, beſonders werden aber die fettigen
Beſtandteile erſt durch heiße Alkalien aufgelöſt, ſodaß ſie dann
durch weiteres Waſchen aus den Hadern herausgebracht werden können.
Ferner wird die ſogenannte Intercellularſubſtanz, durch welche die
Pflanzenfaſern der Hadern zuſammengehalten werden, durch die alka-
liſche Flüſſigkeit ſtark angegriffen, reſp. zerſtört, wodurch eine für den
weiteren Papierfabrikationsprozeß ſehr erwünſchte Auflockerung und
Erweichung der Lumpen eintritt. Schließlich werden die zum
Färben angewandten mineraliſchen oder vegetabiliſchen Farbſtoffe
durch ein ſolches Kochen beſeitigt. Dies iſt ſehr vorteilhaft,
da das Papier meiſt eine gleichmäßige weiße oder gelbe Färbung
erhalten ſoll, zu welchem Zwecke allerdings ſpäter noch ein
beſonderes Bleichverfahren angewendet wird. Der Apparat zum
Kochen, der „Hadernkocher“, beſteht gewöhnlich aus einem in ſich ge-
ſchloſſenen cylinder- oder trommelartigen Keſſel, in den ſoviel Lumpen
mit einem nach den Umſtänden verſchieden bemeſſenen Zuſatz von
Alkalien eingefüllt werden, daß nur etwa ein Viertel des verfügbaren
Raumes frei bleibt. Der Keſſel wird dann in langſame Rotation
verſetzt, während gleichzeitig heißer Dampf unter einem Druck von
3 bis 6 Atmoſphären in ihn hineingeleitet wird. Es entſteht dadurch
im Innern des Keſſels eine Temperatur, die über die gewöhnliche
Siedehitze der alkaliſchen Flüſſigkeit hinausgeht, ſodaß die Hadern völlig
durchgekocht werden.


Jetzt ſind die vorbereitenden Arbeiten ſoweit beendet, daß man
an die Hauptaufgabe der Fabrikation, die Zerkleinerung der Lumpen-
maſſe herangehen kann. In früheren Zeiten geſchah dies mittels des
„Hammergeſchirrs“, eines Stampfwerkes, das die mit Waſſer vermiſchten
Hadern durch eiſenbeſchlagene Hämmer unaufhörlich bearbeitete, wo-
bei ſich die Lumpen allmählich in ihre Faſern auflöſten. Wie oben
erwähnt trat an die Stelle der Stampfwerke etwa ſeit Mitte vorigen
Jahrhunderts der weit leiſtungsfähigere „Holländer“, der auf dem
Prinzip des Zerſchneidens der Lumpen beruht. Es läßt ſich allerdings
nicht leugnen, daß die ältere Methode langfaſerigeres und daher halt-
[926]Das Papier und die vervielfältigenden Künſte.
bareres Papier lieferte; indeſſen ſind die Vorteile des Holländers ſo
große, daß er bald allgemein eingeführt wurde. Die meiſten Papier-
ſorten durchlaufen nun eine ganze Reihe von Holländern, in denen ſie
zu Halb- und Ganzzeug verarbeitet, gebleicht, gefärbt und geleimt werden.
Man unterſcheidet vor allem den Halbzeug- und Ganzzeugholländer,
die aber nur in dem Grade der Zerkleinerung der Hadern von ein-
ander abweichen. Will man z. B. Packpapier verfertigen, ſo genügt
es, nach den bisherigen Operationen die Hadern ſofort der Einwirkung
des Ganzzeugholländers auszuſetzen, in dem die Zerkleinerung der
Lumpen gleich, ſoweit als es überhaupt nötig iſt, erfolgt. Für Her-
ſtellung feineren Papiers paſſiert aber das Material vorher den Halb-
zeugholländer, in dem es zum Halbzeug umgewandelt wird, d. h. zu
einer Maſſe, in der ſich keine Gewebereſte, ſondern nur noch Faſern und
Fäden von etwa 3 Centimeter Länge befinden. Im weſentlichen beſteht der
Holländer aus einer mit radial ſtehenden Meſſern verſehenen raſch
rotierenden Walze, welche andern feſtſtehenden Meſſern, dem Grundwerk,
mehr oder weniger genähert werden kann, wodurch der größere oder
geringere Grad der Zerkleinerung der Lumpen bewirkt wird. Fig. 499

Figure 489. Fig. 499.

Holländer.


ſtellt den Längendurchſchnitt eines Holländers vor. T iſt die Walze
oder Meſſertrommel, G das erwähnte Grundwerk, K der ſogenannte
Kropf, eine eigentümlich geformte Ausbuchtung des Bodens, die
einerſeits die Stellung des Grundwerks erhöhen und andererſeits
eine beſſere Cirkulation der Lumpenmaſſe veranlaſſen ſoll. In dem
ſanft anſteigenden Teil des Kropfes iſt der durch ein Sieb gedeckte
Sandfang oder Sandkaſten S angebracht, in dem ſich Sand und
ähnliche Unreinlichkeiten abſondern ſollen. Es erfolgt nämlich gleich-
zeitig mit dem Zerkleinern im Holländer auch ein Waſchen. Darum
iſt auch ein Holzkaſten H über die Walze geſetzt, der das Umherſpritzen
des mit Waſſer vermiſchten Hadernzeuges verhindert. In dieſen Kaſten
iſt die Waſchſcheibe w eingeſetzt, gegen welche bei der Umdrehung der
Trommel Waſſer und Zeug geſpritzt werden. Das Zeug wird durch die
Waſch- oder Siebſcheibe zurückgehalten, während das Waſſer durch
dieſelbe hindurchfließt. Will man mit dem Waſchen aufhören, ſo ſetzt
[927]Die Erfindung des Papiers.
man die Blindſcheibe b vor die Waſchſcheibe w. Die Walze T kann
durch einen Hebel, der mit einem Kurbelrädchen in Thätigkeit geſetzt
wird, gehoben oder geſenkt werden. Beim Ganzzeugholländer findet
letzteres ſtatt, ſodaß die Meſſer einander mehr genähert werden; außerdem
wird dann die Trommel T in ſchnellere Rotation verſetzt. Während
man dieſelbe im Halbzeugholländer nur höchſtens 180 Umdrehungen
in der Minute machen läßt, ſteigert man dieſe Zahl im Ganzzeug-
holländer bis auf 220. Die Meſſer an der Trommel ſind übrigens
mit ihrer Schärfe derjenigen der feſten Meſſer entgegengeſetzt, ſodaß
nicht wie bei einer Schere ein Zerſchneiden, ſondern vielmehr ein Zer-
reißen der Hadern ſtattfindet.


Was geſchieht nun mit der ſo gewonnenen wäſſerigen Faſermaſſe,
dem Halbzeug? Dasſelbe muß zunächſt entwäſſert und gebleicht
werden. Die Entwäſſerung findet entweder durch gewaltſames kreiſendes
Schleudern ſtatt oder beſſer durch Preſſen in der Halbzeugpreſſe, die
eine Art Pappe liefert, welche ſich ſehr gut bleichen läßt. Das Bleichen
erfolgte in früherer Zeit unmittelbar nach dem Kochen, jetzt aber erſt
nach der Halbzeugbereitung im Bleichholländer. Man unterſcheidet die
Gasbleiche und die Naßbleiche. Der Gasbleiche muß eine gute Ent-
wäſſerung vorangehen, während dieſe, im Falle man die weit praktiſchere
Naßbleiche anwendet, erſt nachher vor ſich geht. Zur Gasbleiche wird
Chlor in gasförmigem Zuſtand verwandt, während bei der Naßbleiche
Chlorkalk zur Benutzung gelangt. Man ſetzt gewöhnlich, um eine
ſtärkere Bleichung zu erzielen, dem Chlorkalk Schwefelſäure zu. Dieſe
bindet nämlich einen großen Teil des Kalkes, ſo daß die in Chlorkalk
thatſächlich bleichend wirkende Subſtanz, das Chlor in größerer Menge
frei wird. Iſt die Bleiche beendet, ſo iſt es erforderlich, das Chlor
und die Säure wieder völlig aus dem Halbzeug zu entfernen. Dies
findet durch mehrfaches Waſchen teils mitreinem Waſſer, teils mit
ſchweflig- oder unterſchwefligſaurem Natron ſtatt.


Jetzt iſt das Halbzeug ſoweit präpariert, um in den Ganzzeug-
holländer zu kommen, in dem außer der oben ſchon erwähnten weiteren
Zerkleinerung des Halbzeugs zu Ganzzeug meiſt noch gleichzeitig andere
Operationen vorgenommen werden. Erſtens erfolgt gewöhnlich das
Miſchen der verſchiedenen Papierſorten, ſoweit dieſelben zu einem und
demſelben Papier Verwendung finden ſollen, im Ganzzeugholländer
und zwar in der Weiſe, daß die Sorten, die noch am meiſten mechaniſcher
Verarbeitung bedürfen, zuerſt, die feineren aber erſt ſpäter in den
Apparat gethan werden. Manche Fabrikanten miſchen erſt das fertige
Ganzzeug, wobei ſie ſich eines beſonderen Holländers, des Miſch-
holländers, bedienen. Ferner muß das Papier geleimt werden, da ſonſt
zu leicht Flüſſigkeiten in ſeine Poren eindringen würden, wie es bei dem
ungeleimten Löſch- und Fließpapier der Fall iſt. Wir haben bereits
oben erwähnt, daß in früheren Zeiten die fertigen Bogen einzeln
geleimt wurden, was natürlich ſehr zeitraubend war. Die jetzt an-
[928]Das Papier und die vervielfältigenden Künſte.
gewandte Stoff- oder Büttenleimung geſchieht im Ganzholländer,
indem man zunächſt Harzſeife zu der Halbzeugmaſſe zuſetzt und nach
erfolgter Miſchung noch eine Löſung von Alaun oder ſchwefelſaurer
Thonerde. Schließlich findet im Ganzzeugholländer im allgemeinen noch
das Bläuen, ein ſchwaches Blaufärben, ſtatt, um dem Papier einen
etwas bläulichen Stich zu geben, während ein wirkliches Färben durch
Zuſatz von kräftigen Farbſtoffen nur dann erfolgt, wenn man buntes
Papier haben will.


Wir haben jetzt einen völlig homogenen Papierbrei, der im großen
und ganzen nur noch ausgebreitet, gepreßt und getrocknet zu werden
braucht, um als fertiges Papier zu erſcheinen. Hier müſſen wir aber
zwei Methoden der Fabrikation unterſcheiden: die Hand- oder Bütten-
Fabrikation und die Maſchinenpapierfabrikation, die im Jahre 1799
von Louis Roberts erfunden wurde. Beide Verfahren haben ihre
Vorteile und ihre Nachteile, das Büttenpapier iſt meiſt feiner und feſter,
aber rauher als das Maſchinenpapier und wird daher z. B. für Wert-
papiere und beſonders gut ausgeſtattete Werke immer noch dem letzteren
vorgezogen. Dieſes, das Maſchinenpapier, iſt zwar durchſcheinender,
aber zum Schreiben wegen ſeiner größeren Glätte weit geeigneter.


Das Büttenpapier wird in folgender Weiſe hergeſtellt. Das fertige
Ganzzeug, ein wäſſeriger Papierbrei wird in die ſogenannten „Schöpf-
bütten“ übergeleitet, große Behälter, in denen durch geeignete Rühr- und
Drehvorrichtungen die Maſſe in beſtändiger Bewegung erhalten wird,
damit ſich nicht die dickeren Beſtandteile unten abſetzen. Aus dieſer
Bütte ſchöpft man den Brei auf eine ſiebartige Fläche, deren Rand
der gewünſchten Papierdicke entſprechend hoch gewählt wird. Ein Teil
des Waſſers wird alſo ſchon durch das Sieb, die „Form“, abfiltrieren,
ſodaß eine feuchte Platte von Papierſtoff zurückbleibt. Wenn man
Velinpapier, d. h. möglichſt glattes Papier ohne irgend welche Ein-
drücke herſtellen will, dann beſteht die Form aus einem ſehr feinen
Drahtnetz, das auf dem Webſtuhl gemacht wird, während die Form
für Bereitung von geripptem Papier aus einer Anzahl eng aneinander
liegender Meſſingdrähte beſteht, die mit einer Reihe quer zu ihnen ge-
lagerter, weiter auseinander liegender Drähte durchflochten ſind. Im
fertigen Papier erſcheinen dann die Eindrücke dieſer Drähte, beſonders
die der höher liegenden Querdrähte als hellere Linien. Auch die
ſonſtigen Waſſerzeichen werden oft in ähnlicher Weiſe hervorgebracht,
indem man dieſelben in Drahtform auf das Sieb legt. Häufiger
allerdings geſchieht dies wohl erſt beim Preſſen, indem man die betreffen-
den Formen auf Zinkplatten legt, zwiſchen denen das Papier gepreßt
wird, an den Stellen, wo die Form des Waſſerzeichens liegt, natürlich
ſtärker, wie auf ſeiner übrigen Fläche.


Von der Schöpfform gelangt nun die Papiermaſſe zum Preſſen
auf einen „Filz“ aus Wollengewebe, wobei dieſer über die gefüllte
Form gelegt, deren Rand abgenommen und das ganze umgeſtülpt
[929]Die Erfindung des Papiers.
wird. Eine Reihe ſolcher Lagen von Filz und Papiermaſſe werden
zu einem Haufen oder, wie der techniſche Ausdruck lautet, zu einem
Pauſcht übereinander geſchichtet und dann unter eine Preſſe gebracht.
Es wird durch das Preſſen erſtens das Waſſer aus den Faſern ge-
trieben, dann aber auch erſt Glätte, Dichte und Zuſammenhang des
Papiers hervorgerufen.


Wenn das Preſſen genügend oft wiederholt iſt, werden die Bogen,
zu 4 bis 5 übereinander gelegt, über Schnüre von Pferdehaar oder
Kokosbaſt gehängt, um zu trocknen, indem man die Feuchtigkeit an
der Luft, bei naſſer Witterung in geheizten Räumen verdunſten läßt.


Es erübrigt nun nur noch die Appretur, die der Erhöhung der
Brauchbarkeit und Schönheit des Papiers dient. Erſt muß das
Papier jetzt noch einmal geleimt, mit lauwarmem Leim überſtrichen,
dann geputzt werden. Letzteres iſt eine ſehr mühſame Arbeit, da bei
jedem einzelnen Bogen die Knötchen, Filzfaſern und ähnliche ſchlechte
Reſte ausgeſucht und fortgeſchabt werden müſſen. Hierauf wird das
Papier zur Erhöhung ſeiner Glätte noch einmal kräftig trocken gepreßt
oder auch ſatiniert, indem es, zwiſchen Glanzpappen oder Bleche gelegt,
durch kräftige, glatte Eiſenwalzen hindurchgezogen wird.


Das Büttenpapier iſt nun fertig und kann abgezählt und verpackt
werden. Schreibpapiere legt man zu einem Ries, enthaltend 20 Buch,
zu je 24 Bogen, zuſammen, Druckpapier zu einem Ballen von 10 Ries,
enthaltend je 20 Buch zu je 25 Bogen. Ein Neubuch bedeutet
100 Bogen für beide Papierſorten.


Wie das Maſchinenpapier hergeſtellt wird, ſoll durch Fig. 500
illuſtriert werden. A bezeichnet das Faß oder die Bütte, in die
der Papierbrei, das Ganzzeug, überführt wird. Damit ſich nicht

Figure 490. Fig. 500.

Papiermaſchine.


Schichtungen von verſchiedener Dichte bilden, findet ſich in der
Bütte eine kreuzähnliche Vorrichtung, der Agitator, durch die der Brei
dauernd gerührt wird. Eine gleiche Vorrichtung iſt auch im Faſſe B,
in dem der Brei mit Waſſer verdünnt wird. Aus dieſem wird die
Das Buch der Erfindungen. 59
[930]Das Papier und die vervielfältigenden Künſte.
Maſſe durch eine Pumpe in dem Rohre C in die Höhe getrieben und
in den viereckigen Kaſten a übergeleitet. An der vorderen Seite dieſes
Kaſtens iſt ein querlaufender Spalt angebracht, durch den der Brei in
die eigentliche Maſchine abfließen kann, zunächſt in den Sandfang b.
Durch einen mechaniſchen Regulator kann es leicht erreicht werden,
daß in gleicher Zeit ſtets die gleiche Menge Brei durch den Spalt in
den Sandfang läuft, damit das Papier gleich dick werde. Je nach der
gewünſchten Dicke des Papiers reguliert man die Menge der in be-
ſtimmter Zeit durchfließenden Maſſe. Im Sandfang b verteilt ſich der
Brei langſam und fließt ruhig dahin, ſodaß ſich Unreinlichkeiten, wie
Sand und ähnliches, gut auf dem Boden abſetzen können. Aus dem
Sandfang gelangt die Maſſe in den Knotenfang c durch eine Reihe
von Meſſingſtäbchen hindurch, die einen gleichmäßigen Abfluß be-
wirken ſollen. Auf dem Boden des Knotenfangs befinden ſich lange,
feine, ſpaltartige Öffnungen, durch die der Brei auf das Metalltuch d
abfließen kann, während mechaniſche Beimiſchungen, beſonders Knoten,
auf dem Knotenfang zurückbleiben. Damit ſich die Spalten nicht ver-
ſtopfen, wird der Knotenfang dauernd in auf- und abſteigender und
in hin- und herrüttelnder Bewegung erhalten. Das Metalltuch beſteht
aus einem dichten, in ſich ſelbſt zurücklaufenden, alſo endloſen Maſchen-
werk von Meſſingdrähten, das ſich über eine große Anzahl eng an-
einander befindlicher dünner Walzen fortbewegt. Die Breite des
Metalltuchs richtet ſich nach der erforderlichen Breite des Papiers.
Die Ränder des Metalltuchs ſind ebenfalls ohne Ende und laufen
über die Rollen e, die an der Seite angebracht ſind. Zur Beförderung
des Waſſerabfluſſes, der in dieſem Teile der Maſchine in beſonders
ſtarkem Maße ſtattfinden muß, ſowie zur Beförderung einer gleich-
mäßigen Verteilung des Papierbreies tritt ein Schüttelwerk f in
Thätigkeit. Die bisher beſchriebenen Maſchinenteile dienten nur der
Reinigung des Ganzzeuges und der teilweiſen, groben Entwäſſerung.
Nunmehr beginnt das Preſſen und Trocknen. Neuerdings wird zu
dieſem Zweck auch der Luftdruck in Dienſt geſtellt.


Das Papier läuft nun mit dem Metalltuch erſt durch die
Walze g, dann unter ſtärkerem Druck durch die mit Filz über-
zogene Walze h. Dann geht das Metalltuch nach dem vorderen
Teil der Maſchine zurück, während der nunmehr ſchon etwas
konſiſtente Papierbrei auf das endloſe Filztuch i, das mit g und h
zuſammen die ſogenannte Naßpreſſe bildet, gelangt. Das Filztuch be-
wegt ſich mit dem Papier über ein Syſtem von Walzen, das eine ſehr
ſtarke Preſſung und Glättung des Papiers hervorruft. Etwaige Un-
reinlichkeiten, z. B. Papierfaſern, die ſich an das Filztuch anſetzen können,
werden durch eine beſondere Vorrichtung, den Doktor, welcher aus
einem geſchärften Lineal beſteht, vom Filztuch abgeſchabt und mit
Waſſer abgeſpült, ehe dasſelbe wieder neue Papiermaſſe aufnimmt.
Nunmehr erfolgt die Trockenpreſſe auf dem ſogenannten Trockenſtuhl,
[931]Die Erfindung des Papiers.
wonach das Papier über drei hohle Cylinder m, n und o geleitet
wird, die durch Dampf erhitzt werden. Es wird dadurch das völlige
Verdunſten des noch in der Papiermaſſe befindlichen Waſſers veran-
laßt. Das ſich in den Cylindern niederſchlagende Waſſer wird durch
Rohrleitungen aus ihnen fortgeſchafft.


Schließlich kommt das jetzt fertige Papier auf die Walze p, den
Haſpel, auf dem es ſich aufrollt, um für maſchinelle Verwertung, als
Druckpapier direkt verwendbar zu ſein. Soll es aber zum Schreiben
dienen, ſo muß es noch in
der Papierſchneidemaſchine in
das gewünſchte Bogenformat
zerſchnitten, und dann noch
eventuell, wie das Bütten-
papier, ſatiniert werden.
Statt der oben erwähnten
Zinkplatten, die viel Arbeits-
kräfte verlangen und ſich leicht
abnutzen, wendet man in
neueſter Zeit ein Syſtem von
8 bis 10 übereinander liegen-
den Walzen, den Rollkalander
(ſ. Fig. 501) an. Die Hälfte
der Walzen beſteht aus glatt-
poliertem Hartguß, während
die andere Hälfte durch hy-
drauliſchen Druck feſtgepreßte
und auf der Drehbank ab-
gedrehte, elaſtiſche Papier-
rollen ſind. Läßt man das
Papier durch dieſen ab-

Figure 491. Fig. 501.

Rollkalander.


wechſelnd aus beiden Sorten Walzen zuſammengeſetzten Apparat hin-
durch gehen, ſo erhält man Papier von außerordentlicher Glätte.


Die Papierfabrikation, wie ſie in China geübt wird, weicht von
der in den anderen, neuen Kulturländern angewandten ziemlich erheb-
lich ab. Hat das chineſiſche Papier auch manche Vorteile, z. B. für
zeichneriſche Zwecke, ſo iſt doch der induſtrielle Betrieb ein bei weitem
nicht ſo entwickelter, wie bei uns. Sind doch die Leiſtungen einer
Papiermaſchine ganz außerordentliche, da von einer ſolchen in einer
Stunde ein anderthalb Meter breiter Streifen feinen Schreibpapiers
von 2000 Meter Länge geliefert wird. Im Jahre würde das bei
ununterbrochener Thätigkeit der Maſchine 5475 Doppelcentner Papier
in 52½ Million Bogen ergeben.


Bezüglich der zur Papierfabrikation dienenden Rohſtoffe iſt in der
geſchichtlichen Darſtellung ſchon genug geſagt. Nur über die Ver-
wendung des Holzes als Surrogat möchten wir noch einiges nach-
59*
[932]Das Papier und die vervielfältigenden Künſte.
holen. Die aufmerkſame Betrachtung der Natur war es, die den
Webermeiſter Gottfried Keller in Sachſen dazu führte, das geſchliffene
Holz zu erfinden. Weſpen waren ſeine Lehrmeiſter, die ihn auf den
Gedanken brachten, ähnlich wie dieſe zernagte Holzfaſern zum Bau ihres
Neſtes verwandten, durch Schleifen von Holz gutes Papiermaterial
zu erhalten. Sein Mitarbeiter Heinrich Völter in Heidenheim erfand
dann im Jahre 1846 einen Holzſchleifapparat, der ſich bald Eingang
in die Induſtrie verſchaffte. Am beſten eignet ſich zur Darſtellung des
Holzſtoffes Fichtenholz. Der Zuſatz an Holzſtoff, den man je nach
der erforderlichen Güte des Papiers zu dem Lumpenmaterial macht,
beträgt 25 bis 75 %, manchmal noch mehr, wodurch die Dauerhaftig-
keit des Papiers allerdings ſehr leidet. In neuerer Zeit hat man
dann auch Holzſtoff auf chemiſchem Wege hergeſtellt, d. h. man hat
das Holz durch chemiſche Mittel in ſeine Faſern aufzulöſen und von
ſeinen harzigen Beſtandteilen zu befreien verſucht. Am vorteilhafteſten
iſt zur Herſtellung eines ſolchen chemiſchen Holzſtoffs oder der Cellu-
loſe das neueſte Verfahren von Mitſcherlich.


Wir haben nun noch einiges über die Pappfabrikation, über
Herſtellung von Papiermaché und überhaupt über die Verwendung
von Papier zu den verſchiedenſten Gebrauchsgegenſtänden zu erzählen.


Man unterſcheidet 3 Bereitungsarten der Pappe. Entweder wird
ſie direkt, wie Papier, aus einem Brei mittels Schöpf- oder Maſchinen-
verfahrens — es wird neuerdings eine von Strobel in Chemnitz im
Jahre 1860 erfundene Cylindermaſchine dazu angewandt — hergeſtellt.
Eine ſolche Pappe nennt man geſchöpfte Pappe im Gegenſatz zur ge-
gautſchten Pappe, die durch Übereinanderlegen mehrerer Schichten Papier-
maſſe zwiſchen die Filze in der Preſſe gewonnen wird. Eigentlich
muß man mit dieſem Namen auch ſchon ſtarkes Zeichen- und Muſik-
notenpapier und ähnliche Sorten, die aus zwei- bis dreifachen Lagen
Ganzzeug beſtehen, bezeichnen. Die gegautſchte Pappe iſt bedeutend
feiner, wie die geſchöpfte, ſteht aber der dritten Art, der geleimten
Pappe oder Kartenpappe, an Feinheit noch nach. Dieſe wird direkt
durch Aufeinanderleimen oder Kleiſtern fertiger Papierlagen und darauf
folgendes Preſſen erzeugt. Beſonders Spielkarten werden aus ſolcher
Pappe verfertigt.


Ganz ähnlich wird Papiermaché hergeſtellt, das nur durch Zu-
ſatz von mineraliſchen Beſtandteilen, wie Thon, Kreide, feinem Sand und
ähnlichem, ſowie von leimigen Beſtandteilen und durch beſonders ſtarkes
Preſſen zu einer außerordentlichen Feſtigkeit gebracht wird. Das mit den
erwähnten Zuſätzen vermiſchte Ganzzeug wird in Formen von Gips,
hartem Holz oder Metall, die innen mit Leinöl ausgeſchmiert ſind,
eingefüllt, gepreßt, dann herausgenommen, an der Luft getrocknet, mit
Leinölfirnis überſtrichen und ſo auf ein Drahtgeſtell geſetzt, in einer
Art Backofen einer ziemlich ſtarken Hitze ausgeſetzt. Das Fabrikat hat
dann die Feſtigkeit von hartem Holz und iſt von brauner Farbe. Nach
[933]Die Erfindung des Papiers.
Belieben kann es lackiert, bemalt oder vergoldet werden. Noch härteres
Papiermaché ſtellt man durch Übereinanderlegen von Papierblättern oder
Papierſtreifen über Formen her, indem man die einzelnen Lagen mit
Kleiſter zuſammenklebt, bei mäßiger Wärme trocknet, mit ſchwarzem
Teerfirnis überſtreicht und dann in größerer Hitze trocknet. Es werden
beſonders Gas- und Waſſerröhren aus ſolchen übereinandergeklebten
Papierſtreifen, die durch geſchmolzenen Asphalt gezogen werden, ver-
fertigt. Sie halten einen Druck von 15 Atmoſphären aus. Sehr
viel Verwendung findet die Erfindung von Allen in Chicago (1860),
Papiermaché für Eiſenbahnräder zu verwenden. Es wird die Nabe
aus Gußeiſen gemacht, auf ihr werden zwei Scheiben aus Eiſen oder
Stahl befeſtigt, zwiſchen die die Papiermaſſe gebracht wird, die aus
100 bis 200 Bogen feſt zuſammengepreßten ſtarken Papiers beſteht.
Das ganze wird mit einem eiſernen Reifen umgeben und liefert dann
ein Rad, das ſeiner größeren Elaſticität halber beſonders für Schlaf-
wagen den Vorzug vor eiſernen Rädern verdient, an Dauerhaftigkeit
die letzteren aber bedeutend, nach neueren Verſuchen etwa um das ſechs-
fache übertrifft. In China und Japan hat man übrigens ſchon ſeit
vielen Jahrhunderten Papier als Material zur Herſtellung aller mög-
lichen Haushaltungsgegenſtände benutzt.


Ganz neu, ungefähr erſt 20 Jahre alt iſt die Verwendung von
Papier zu Papierwäſche, wozu nur ſtarke, ganz weiße Papierbogen
gebraucht werden können. Jeder Bogen wird mit einer dünnen Email-
ſchicht mittelſt einer Bürſte überſtrichen und dann zum Trocknen in
einem durch Dampfröhren geheizten Raum über Geſtelle gehängt. Auf
dieſe Bogen wird alsdann ein webſtoffartiges Muſter aufgepreßt, indem
eine Anzahl Bogen zwiſchen ebenſoviele mit Mouſſelingewebe beklebte
Zinkplatten gelegt und zwiſchen Stahlwalzen kräftig gepreßt werden.
Nachdem nun noch das Material durch feine, ſchnell rotierende Bürſten
poliert iſt, iſt es ſo weit fertig, um wie Leinewand weiter bearbeitet,
geſchnitten, umgelegt und mit Knopflöchern verſehen zu werden. In
ähnlicher Weiſe werden neuerdings auch feine Spitzen aus Papier her-
geſtellt, beſonders für theatraliſche Zwecke; z. B. gelingt die Nach-
ahmung der alten Venezianer Reliefſpitzen ganz ausgezeichnet.


2. Die vervielfältigenden Künſte.


Schon frühzeitig entwickelte ſich bei den verſchiedenen Kulturnationen
des Menſchengeſchlechts der Trieb zu einer der Vervielfältigung fähigen
Darſtellung von Ereigniſſen, Gefühlen und Gedanken. Es waren
zunächſt rein praktiſche Zwecke, die eine Befriedigung erheiſchten. Als
die Sprache erfunden war, und mit ihrer Hilfe ein Gedankenverkehr
[934]Das Papier und die vervielfältigenden Künſte.
von Menſch zu Menſch, von Hütte zu Hütte, von Dorf zu Dorf er-
möglicht war, ſtellte ſich bald das Bedürfnis heraus, auch jemandem,
den man nicht ſprechen oder ſehen konnte, ohne Vermittlung eines
dritten, Nachrichten zukommen zu laſſen. Vielleicht iſt es die Sehn-
ſucht zweier Liebenden, die durch beſondere Umſtände am mündlichen
Verkehr verhindert waren, geweſen, die ſie zuerſt zu dem großen Schritt
führte, Zeichen mit einander zu verabreden, die, in Baumrinde ein-
geritzt oder in weiches Geſtein eingehauen, dem einen Kunde vom
andern geben ſollten. War ſo in irgend einer Art die erſte Idee ge-
geben, ſo mußte notwendig im Anſchluß daran allmählich der Über-
gang zur vollkommenen Schrift erfolgen, die wir ſich in der That bei den
verſchiedenſten Völkern in den mannigfachſten Formen, aber immer im
Übergange von der Zeichenſchrift zur Buchſtabenſchrift entwickeln ſehen.


Neben der zunächſt rein praktiſchen Erfindung der Schrift entſtand
aber bald eine künſtleriſche, die der Skulptur und Malerei. Bei manchen
Völkern hat der dieſen Künſten zu Grunde liegende Trieb der Nach-
ahmung der in der Natur vorhandenen Gegenſtände ſogar gewiß die
Grundlage zur Erfindung der Schrift abgegeben. Mehr und mehr
erſtarkt nun das Schönheitsgefühl im Menſchen, ſodaß Skulptur und
Malerei mit der Zeit unentbehrliche Errungenſchaften der Menſchheit
werden, die ſich bei manchen Völkern in ihren erhabenſten Erzeugniſſen
zu wunderbarer Vollkommenheit ausbildeten, andererſeits aber in un-
geahnter Weiſe bei jedem, auch dem kleinſten Gebrauchsgegenſtand
Verwendung fanden.


War man nun durch die Kunſt der Schrift, Bildhauerei und
Malerei in den Stand geſetzt, ſeine Gedanken, Gefühle, Empfindungen
und Auffaſſungen ſeinen Mitmenſchen mitzuteilen, ſo war doch der
Kreis dieſer Mitmenſchen ein recht beſchränkter, ſolange die Verviel-
fältigung eines ſolchen Werkes immer noch in der gleichen Weiſe er-
folgen mußte, wie das Werk zuerſt entſtanden war. Die notwendige
Folge immer weiteren Kulturfortſchritts war das Streben, Methoden
zu erfinden, die eine ſchnelle und häufige mechaniſche Vervielfältigung
von Kunſt-, und Schriftwerken geſtatteten. Der Anfang dazu wurde
in der Kunſt durch die Erfindung des Holzſchnitts gemacht, aber
auch nur der Anfang, während auf dem Gebiete der Schrift nicht viel
ſpäter der große Schritt geſchah, aber auch gleich in außerordentlich
vollkommener Form. Die Buchdruckerkunſt erblickte das Licht der Welt
in einem methodiſch ſo abgerundeten und vorzüglichen Zuſtande, wie
ſelten eine Erfindung. Im Laufe der letzten Jahrhunderte mehrte ſich
die Zahl der vervielfältigenden Künſte außerordentlich. Kupferſtich,
Stahlſtich, Lithographie, Öldruck, Farbendruck, Heliogravüre, Zinko-
graphie ꝛc. wurden Eigentum der ringenden Menſchheit.


Gekrönt wurden aber alle ſolche Beſtrebungen durch die Erfindung
der Photographie, die es ermöglichte, ein naturgetreues Abbild eines
Gegenſtandes ohne das Zwiſchenglied eines von Menſchenhänden an-
[935]Die Schreibkunſt.
gefertigten Bildwerkes in beliebig großer Zahl mechaniſch zu verviel-
fältigen. Natürlich fand dieſe Erfindung auch bei den neueſten der
oben genannten Methoden, die die Vervielfältigung eines Kunſtwerkes
bezwecken, vielfach Anwendung.


Die ganze neuere Entwickelung drängt dahin, alle Körper der
Natur nicht körperlich, ſondern nur ſcheinbar dadurch unzählige Male
zu vervielfältigen, daß man einen Apparat, einen Fernſeher, erfindet,
mit dem man ſich das Bild eines mit rein optiſchen Mitteln nicht
ſichtbaren Gegenſtandes vor das Auge zaubern kann. Die Erfindung
dieſes Gegenſtückes zum Telephon, das es beiſpielsweiſe ermöglichen
würde, einen in Amerika weilenden Verwandten in Berlin wirklich zu
ſehen, wie er dort ſteht und geht, wird hoffentlich in nicht zu ferner
Zukunft wieder ein glänzendes Zeugnis menſchlichen Erfindungsgeiſtes
liefern.


a) Die Schreibkunſt.


1. Die Schreibſchrift.

Welch’ ungeheurer Fortſchritt von der Erfindung der Sprache, die
in ihren erſten Anfängen wohl aus inſtinktiven, faſt tieriſchen Natur-
lauten beſtand, bis zur Erfindung der Schrift, bei der von der Aus-
übung inſtinktiver Fähigkeiten gar keine Rede mehr ſein kann, vielmehr
der von Bewußtſein getragene Verſtand des Menſchen in deutlichem
Gegenſatz zu den dumpfen Inſtinkten der Tiere tritt. Von wem und
wo dieſe große Erfindung zuerſt gemacht iſt, durch die es dem Menſchen
möglich wurde, ſeine Gedanken und Gefühle anderen Menſchen mitzu-
teilen, darüber herrſcht völliges Dunkel. Aller Wahrſcheinlichkeit nach
iſt ſie bei verſchiedenen Volksſtämmen zu verſchiedenen Zeiten unab-
hängig ans Licht der Welt getreten, erſt als ſchüchternes Knöſplein,
um ſpäter allmählich auf meiſt gleichartigem Wege zu dem gewaltigen
Kulturmittel zu erſtarken, das ſie in den letzten beiden Jahrtauſenden ge-
worden iſt. Daß wir es aber mit einer wirklichen Erfindung zu thun
haben, nicht mit einer jedem Menſchen angeborenen Fähigkeit, die nur einer
gewiſſen Zeit der Entwicklung bedurfte, das ſehen wir daraus, daß man
noch in der jüngſten Zeit manche wilde Völkerſchaften gefunden hat,
die ſich noch immer nicht zu dieſer Erfindung emporgeſchwungen haben
und ſich daher noch heute in einem Zuſtande des geſellſchaftlichen
Lebens befinden, in den ſich nur in Gedanken zurückzuverſetzen für
uns Civiliſierte faſt zur Unmöglichkeit geworden iſt.


Die erſten Anfänge der Schrift ſcheinen auf dem Gedanken zu be-
ruhen, die vergangenen Ereigniſſe im Gedächtnis lebendig zu erhalten,
indem körperliche Gegenſtände, in beſtimmter Weiſe angeordnet, eine
geſchichtliche Begebenheit darzuſtellen beſtimmt wurden, oder indem rohe
bildliche Darſtellungen demſelben Zwecke dienten. Ein weiter Sprung
von außerordentlicher Wichtigkeit beſtand darin, daß man ſich nicht
[936]Das Papier und die vervielfältigenden Künſte.
mehr darauf beſchränkte, Vergangenes figürlich darzuſtellen, ſondern
anfing, auch für Gegenwart und Zukunft ſeine Gedanken und Gefühle
zu fixieren und ſeinen Mitmenſchen ſichtbar zu machen. Kaum einer
weiteren Entwicklung fähig war die primitivſte derartige Schrift, die Knoten-
ſchrift (ſiehe Fig. 502), die wir bei den verſchiedenſten Völkern: Chineſen,
Mexikanern, Peruanern u. a. in alten Zeiten, bei manchen Indianer-
ſtämmen und Südſeeinſulanern bis in die neueſte Zeit hinein finden.

Figure 492. Fig. 502.

Knotenſchrift.


Sie beſteht im allge-
meinen darin, daß man
Schnüre zu einem be-
ſtimmten Syſtem von
Knoten zuſammenſchürzt,
deren Zahl, Anordnung
und gegenſeitige Entfernung beſtimmte
Vorſtellungen erwecken, beſtimmte Be-
gebenheiten in unſer Gedächtnis zurück-
rufen ſollen. Beſteht doch noch heut-
zutage bei vielen Völkern die Sitte,
durch Schürzen eines Knotens die Er-
innerung an eine Sache wach zu er-
halten. Die urſprüngliche Bedeutung
dieſes Verfahrens war aber wohl
eine rein zahlenmäßige, wie auch noch
jetzt die peruaniſchen Hirten mit der-
artigen Knoten über den Zu- und
Abgang ihrer Herden gewiſſermaßen
Buch führen. Zu einem wirklichen
Schriftſyſtem konnte ſich aber die
Knotenſchrift nicht entwickeln, das
war erſt der Bilderſchrift vorbehalten,
aus der faſt überall die erſten Schrift-
ſyſteme hervorgegangen ſind. Die
Bilderſchrift iſt zunächſt keineswegs
kunſtvolle Malerei geweſen, vielmehr
ſollte ſie nur durch ein möglichſt be-
quem zu zeichnendes oder zu malendes
Zeichen, das auf einen beſtimmten
Gegenſtand unzweideutig hinwies, bei
anderen Menſchen die Vorſtellung dieſes Gegenſtandes zwecks Ver-
ſtändigung oder Belehrung erwecken. Wenn bei manchen Völkern
gewiſſen künſtleriſchen Rückſichten bei der Bilderſchrift mehr oder
weniger Genüge geleiſtet wurde, ſo entſprang das wohl erſt nachträg-
lich dem Schönheitsgefühl einzelner Individuen, die auch viel Zeit
darauf verwenden konnten. Andererſeits iſt die große Verſchieden-
heit der Schriftentwicklung bei den verſchiedenen Völkern teilweiſe auf
[937]Die Schreibſchrift.
ihre verſchiedene künſtleriſche Begabung und Neigung zurückzuführen,
die zu ſehr abweichender Auffaſſung und Darſtellung in der Natur vor-
handener Gegenſtände führte, während allerdings einen beſonderen Ein-
fluß nach dieſer Richtung die Art des Schreibmaterials übte.


Notwendigerweiſe mußte ſich mit der Verallgemeinerung dieſes
Kulturmittels, mit ſeiner zunehmenden Wichtigkeit, mit der Verbeſſerung
des Schreibmaterials, das, wie an anderer Stelle (ſiehe S. 923) be-
richtet werden wird, namentlich in Ägypten im Pergamentpapier und
im Papyrus ſicherlich ſchon mehrere Jahrtauſende vor Chr. Geb. zu
hoher Vollkommenheit gelangte, das Streben nach Vereinfachung der
unbequemen und ſchwierigen Bilderſchrift gebieteriſch geltend machen.
Am deutlichſten tritt die Entwickelung einer bequemen ſyſtematiſchen

Figure 493. Fig. 503.

Hieroglyphen.


Schrift aus der Bilderſchrift bei den Ägyptern,
Aſſyrern und Chineſen hervor. Aus den
urſprünglichen Hieroglyphen (ſiehe Fig. 503)
der alten Ägypter entſtand durch Abſchleifung
der Bilderformen zu kaum mehr als Sym-
bole erkennbaren Zeichen die hieratiſche Schrift, deren älteſte nachweis-
bare Anwendung bis ins dritte Jahrtauſend v. Chr. zurückgeht, während
die durch weitere Vereinfachung der vorhandenen Zeichen entſtandene
demotiſche Schrift, die Volksſchrift, erſt im 9. Jahrhundert v. Chr. in
den uns bekannten Schriftdenkmälern auftaucht. Eine große Schwierigkeit
bot nun aber bei dieſer Symbolſchrift die Wiedergabe von abſtrakten
Begriffen, Gefühlen und Gedanken. Sie wurde teilweiſe dadurch über-
wunden, daß man die Urſache ſtatt der Wirkung, oder irgend ein ſinn-
liches Objekt hinzeichnete, das den betreffenden Begriff zu charakteriſieren
beſonders geeignet erſchien.


Ein ganz erheblicher Fortſchritt erfolgte durch die Erfindung der
Silbenſchrift, die einen rebusartigen Charakter hat, indem man begann,
die Wörter in Silben zu zerlegen und gleichlautende Silben in ver-
ſchiedenen Wörtern unabhängig von ihrer jeweiligen Bedeutung durch
ein und dasſelbe Zeichen darzuſtellen, das dann erſt durch Zuſammen-
ſetzung mit anderen Zeichen einen beſtimmten Sinn erhielt. Anderer-
ſeits wurde vielfach wegen der Wortarmut der Schriften und Sprachen
erſt durch Hinzuſetzung eines den betreffenden Gegenſtand charak-
teriſierenden Zeichens, eines Determinativs, die ſpezielle Bedeutung eines
Wortes verdeutlicht. Aber die Ägypter gelangten im Gegenſatz zu den
Babyloniern und Chineſen — letztere ſind noch heute nicht über die
Rebus- oder Silbenſchrift hinausgekommen — über dieſe hinaus
zur Lautſchrift, zur Fixierung von Konſonanten und Vokalen, wenn
ſie auch noch kein vollkommenes alphabetiſches Syſtem aufſtellten.


Der bedeutendſte Schritt nach der Richtung der Vervollkommnung
des Schriftgedankens war damit gethan. Zur vollſtändigen Durchführung,
zur Aufſtellung eines Alphabets kam das phonetiſche Syſtem der
Schreibung, alſo die Lautſchrift erſt bei den Phöniziern, die bei ihrem
[938]Das Papier und die vervielfältigenden Künſte.
großen Verkehr mit den Ägyptern entweder von dieſen das Lautſyſtem
übernahmen und dann ihrer Sprache anpaßten oder mindeſtens durch
die Kenntnisnahme dieſer ägyptiſchen Erfindung bei der Durchführung
des Lautſyſtems in ihrer Sprache ſtark beinflußt wurden. Die älteſten
hiſtoriſchen Denkmäler eines vollkommenen Alphabets, des phöniziſchen,
moabitiſchen und althebräiſchen reichen nur bis ins 9. Jahrhundert vor
Chr. Geb. zurück; doch iſt anzunehmen, daß der thatſächliche Urſprung
derſelben in viel ältere Zeiten zu verlegen iſt. Die Benennung der
Buchſtaben des Alphabets iſt offenbar auf die alte Bilderſchrift zurück-
zuführen. So erinnerte z. B. das Zeichen

[figure]

an einen Stierkopf,
den es in der urſprünglichen Bilderſchrift direkt darſtellte, während es
ſpäter in der Lautſchrift zum erſten Buchſtaben des Alphabets aleph,
anfangs ein Hauchlaut, wurde, weil der Stier aleph hieß, und dieſes
Wort mit demſelben Hauchlaute anfing.


Daß die Lautſchrift, einmal erfunden, ſchnell ihren Siegeslauf von
Volk zu Volk nahm, war natürlich und wurde beſonders begünſtigt
durch die außerordentlich lebhaften Handelsverbindungen, die gerade
das Volk, welches dieſe Schriftart zur vollkommenen Ausbildung
brachte, — die die Phönizier mit einem großen Teile der gebildeten Welt
im Altertume unterhielten. Von den Phöniziern erhielten die Griechen
das Alphabet, das ſie freilich mit manchen Schwierigkeiten für ihre
eigene Sprache umwandeln mußten, da in den ſemitiſchen Sprachen
faſt gar keine Vokale vorhanden waren, an deren Stelle Hauchlaute
ſtanden. Von den Griechen erhielten die Römer durch Vermittelung
der griechiſchen Kolonieen in Unteritalien das Alphabet und über-
mittelten es ihrerſeits wieder vor allem den keltiſchen und germaniſchen
Völkerſchaften, mit denen ſie ſchon im letzten Jahrhundert vor Chr. Geb.
in vielfache, wenn auch meiſt unliebſame Berührung kamen. So ent-
ſtand bei unſeren Vorfahren die Runenſchrift, die als Geheimnis von
Herrſchern und Prieſtern gewahrt und gehütet wurde. Aus der Runen-
ſchrift entſtand das gotiſche Alphabet, das der Biſchof Ulfilas in der
zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts aufſtellte, wobei er von dem Be-
ſtreben geleitet wurde, die Runenſchrift, die bis dahin mit ſpitzen Werk-
zeugen eingeritzt oder eingegraben wurde, ſo umzuformen, daß man
die neue Schrift bequem mit Rohrfeder und Tinte auf Papier
malen oder zeichnen konnte. Die Entwickelung der mannigfachen
Schriftarten in den verſchiedenen Ländern beſteht nur in allmählichen
Vervollkommnungen und Veränderungen, denen das Merkmal einer
Erfindung, der wirklich originelle, neue Gedanke, abgeht. Die Erfindung
der gewöhnlichen Schreibkunſt hat in dem phöniziſchen Lautalphabet
und deſſen Übertragung auf andere Sprachen ihren Abſchluß gefunden.


Von Intereſſe für uns ſind nun noch einige beſondere Schrift-
gattungen, die ſpeziellen Bedürfniſſen ihre Erfindung verdanken. Es
[939]Die Schreibſchrift.
iſt zuerſt zu nennen die Chiffernſchrift, die den Zweck hat, nur ganz
beſtimmten Perſonen die Entzifferung einer Botſchaft zu ermöglichen.
Schon bei den alten Griechen ſehen wir die Anfänge einer ſolchen
Geheimſchrift. Es wurde nämlich ein ſchmaler Pergamentſtreifen auf
einen Stock ſo aufgerollt, daß ſich die Ränder der verſchiedenen Spiral-
windungen des Streifens gerade berührten. Darauf beſchrieb man
das Pergament der Länge des Stockes nach, ſo daß alſo Teile desſelben
Wortes an ganz verſchiedenen Stellen des Streifens ſtanden, wickelte
den Streifen wieder ab und rollte ihn in ſich zuſammen. Es konnte dann
nur derjenige die Schrift leſen, der ſich im Beſitz eines gleich dicken
Stabes befand, auf den er den Streifen wieder aufrollte. Die neueren
Chiffernſchriften beruhen meiſt auf der Erſetzung aller oder einzelner
Buchſtaben durch eine beſtimmte Zahlenfolge, die natürlich vorher
zwiſchen den Beteiligten verabredet iſt. Es laſſen ſich dadurch ſo kom-
plizierte Geheimſchriften herſtellen, daß es nur dem ſchärfſten Nach-
denken und langen Bemühungen manchmal gelingt, eine ſolche Schrift
zu entziffern, wenn man ſich nicht im Beſitz des dazu nötigen „Schlüſſels“,
d. h. der Erklärung der angewandten Chiffern befindet. Recht ingeniös
erdacht iſt eine Art Geheimſchrift, die noch in der Mitte dieſes Jahr-
hunderts viel in Gebrauch war. Sie beruht darauf, daß ſich in den
Händen zweier Korreſpondenten zwei gleiche Gitter mit einer in un-
regelmäßigen Zwiſchenräumen angebrachten größeren Anzahl Öffnungen
befinden. Man legt die Gitter auf das Papier und ſchreibt in jede
Öffnung einen oder mehrere Buchſtaben hinein, ſo daß eine Folge
von Öffnungen gerade durch ein Wort ausgefüllt wird. Hat man
alles, was man mitteilen wollte, in die Öffnungen hineingeſchrieben, ſo
nimmt man das Gitter fort und füllt die Zwiſchenräume zwiſchen den
ſchon daſtehenden Buchſtaben mit anderen ganz beliebigen Buchſtaben aus,
ſo daß die Schrift nur für den lesbar iſt, der, im Beſitze eines gleichen
Gitters, wieder die ungiltigen Buchſtaben mit demſelben verdecken kann.


Eine ſehr wichtige humanitäre Erfindung, die viel Kopfzerbrechen
verurſacht hat, iſt die Blindenſchrift. Nachdem der Franzoſe Valentin
Hauy, dem der große Ruhm gebührt, zuerſt das ſtaatliche Intereſſe
zur Errichtung von Blindenanſtalten erregt zu haben, im Jahre 1785
die Erfindung gemacht hatte, durch Anwendung erhabener Buchſtaben
den Blinden das Leſen zu ermöglichen, wurden von ihm und ſpäteren
Denkern vielfache Verſuche unternommen, den Blinden auch das
Schreiben und gleichzeitig das Leſen des Geſchriebenen angängig zu
machen. Aber erſt im Jahre 1830 gelang es dem Franzoſen Charles
Barbier die Grundlage zur heutigen Blindenſchrift zu legen. Seine
Methode beſteht darin, daß die Buchſtaben durch Punkt-Anordnungen
erſetzt werden, deren Fixierung auf Papier durch ein durchlöchertes
Lineal hindurch mittels eines ſpitzen Inſtrumentes geſchieht. Zwiſchen
den Buchſtaben wird ein kleiner, zwiſchen den Wörtern ein größerer
Zwiſchenraum gelaſſen.


[940]Das Papier und die vervielfältigenden Künſte.

Schließlich ſei noch die Notenſchrift erwähnt, die in alter Zeit
allerdings nur eine Umbildung der gewöhnlichen Schrift war. Die
alten Griechen brauchten, da ſie die oktavenmäßige Wiederkehr derſelben
Töne noch nicht kannten, außerdem für Vokal- und Inſtrumentalmuſik
andere Zeichen hatten, nicht weniger als 990 verſchiedene Noten, die
ſie durch zuſammengeſetzte Anwendung des Alphabets und der Accente
und durch Höher- oder Tieferſtellung einzelner Buchſtaben herſtellten.
Erſt im 6. Jahrhundert nach Chr. Geb. führte Papſt Gregor I das
heutige Oktavenſyſtem ein und bezeichnete die ſieben Töne einer ganzen
Oktave mit den 7 erſten Buchſtaben des Alphabets, deren verſchiedene
Schreibweiſe, ſpäter auch auf verſchiedenen Parallellinien die ver-
ſchiedenen Oktaven er angab. Das heutige Syſtem der Notenſchrift mit
Punkten, deren Stellung auf einem fünffachen Linienſyſtem die Höhe
oder Tiefe des Tones angiebt, iſt nachweislich zuerſt von Guido
v. Arezzo, einem italieniſchen Mönch, im Anfang des 11. Jahr-
hunderts angewandt, vielleicht auch von ihm erfunden worden. Erſt
im 13. Jahrhundert aber wahrſcheinlich wurde auch die Erfindung
gemacht, durch die verſchiedene Geſtaltung der Punkte als Vollpunkte
oder offene Ringe mit oder ohne gerade oder krumme Striche die ver-
ſchiedene Dauer des betreffenden Tones zu bezeichnen. Damit war im
großen und ganzen unſere heutige Methode der Notenſchrift gegeben.


Die Stenographie.

Kehren wir nun zum allgemeinen Schriftweſen zurück, ſo müſſen
wir jetzt noch von einem großartigen Fortſchritt, deſſen dasſelbe fähig
war, berichten, von der Kurzſchrift oder Stenographie. Was der-
ſelben zu Grunde liegt, iſt der Wunſch, einerſeits die Reden anderer ſo
leſerlich nachſchreiben zu können, daß man ſelbſt oder andere, des be-
treffenden Syſtems Kundige, das Stenogramm unzweideutig wieder
entziffern können, und andererſeits auch jedem, der viel zu ſchreiben
hat, dieſe Mühe durch ein abgekürztes Schriftſyſtem zu erleichtern. Es
iſt z. B. für einen Gelehrten von unſchätzbarem Vorteil, bei der Kom-
poſition eines Buches in ſeiner Gedankenfolge nicht immerwährend
durch das langdauernde Niederſchreiben in gewöhnlicher Schrift geſtört
zu werden.


Als Erfinder der älteſten bekannten Geſchwindſchrift dürfen wir
wohl den begabten Freigelaſſenen des berühmten römiſchen Redners
Cicero, den Marcus Tullius Tiro anſehen, der im Jahre 63 v. Chr.
Geb. mit mehreren Schülern eine Rede des jüngeren Cato in Rom
aufnahm und dadurch dem Gedächtnis der Nachwelt überlieferte. Es
iſt das die erſte bekannte ſtenographiſche Leiſtung. Die Grundlage
des tironiſchen Syſtems beruht auf einer Verkürzung, Verſtümmelung
und teilweiſen Umformung der damals üblichen großen lateiniſchen Buch-
ſtaben. Das Zeichen

[figure]

gleich QPN z. B. bedeutet bei ihm: Quousque
[941]Die Stenographie.
Patientia Nostra (Anfang der berühmten Ciceroniſchen Rede gegen
Katilina: Wie lange wirſt Du noch unſere Geduld mißbrauchen,
Katilina?). Die Wörter tandem, abuteris und Catilina ſind überhaupt
nicht angedeutet, mußten vielmehr bei der Übertragung mit Hülfe des Ge-
dächtniſſes hinzugefügt werden. Die Tironiſchen Noten fanden mannig-
faltige Anwendung im öffentlichen und privaten Leben und hielten ſich
wahrſcheinlich auch bis in die Verfallzeit des Mittelalters hinein.
Die letzten Urkunden über ihre Anwendung reichen nur in das
10. Jahrhundert unſerer Zeitrechnung zurück. Von einer ſpäter er-
fundenen griechiſchen Kurzſchrift wiſſen wir nur, daß ſie im 3. Jahr-
hundert nach Chr. Geb. in Gebrauch war. Viele Fingerzeige deuten
darauf hin, daß auch im ſpäteren Mittelalter eine Stenographie be-
kannt und angewandt war, ohne daß wir aber über ihr Weſen näheres
wiſſen. Das durch die religiöſen Kämpfe und durch die Anfänge eines
parlamentariſchen Syſtems in England geſteigerte öffentliche geiſtige
Leben rief im Jahre 1602 ein neues ſtenographiſches Syſtem von
Willis hervor, das im weſentlichen in einer vereinfachten Schreibweiſe
der Konſonanten und in der Bezeichnung der Vokale durch verſchiedene
Stellung der Konſonanten beſtand. Von den folgenden Verſuchen in
England iſt erſt wieder der Taylors im Jahre 1786 zu erwähnen, der
den inlautenden, d. h. von 2 Konſonanten eingeſchloſſenen Vokal, über-
haupt unbezeichnet ließ. Trotzdem dieſes Syſtem dem Leſen große
Schwierigkeiten entgegenſetzte, wurde es in viele andere Sprachen über-
tragen. Einen Abſchluß fanden dieſe engliſchen Beſtrebungen in der
„Phonographie“ von Iſaac Pitman, ſo genannt, weil er die ſtreng
lautliche Schreibweiſe einführte, was ja gerade für die engliſche Sprache
von ſehr großer Bedeutung iſt. Seine Konſonanten waren im allge-
meinen verſchieden lange Linien oder verſchieden große Stücke des Kreiſes,
während er die Vokale durch Punkte und Striche in verſchiedenen
Stellungen bezeichnete. Die franzöſiſchen älteren Syſteme baſieren
meiſtenteils auf den engliſchen. Erwähnt ſei nur Coſſards „Methode,
ſo ſchnell zu ſchreiben, als man ſpricht“ aus dem Jahre 1641, Ram-
ſays „Tachygraphie“ aus dem Ende des 17. Jahrhunderts und Prevoſts
Umarbeitung des Taylorſchen Syſtems aus dem Jahre 1827. Weit
origineller iſt das Syſtem von Duployé aus dem Jahre 1868, das
den großen Vorteil beſſerer Verbindungsfähigkeit der Konſonanten und
Vokale hat.


Doch da haben wir eigentlich ſchon der Entwicklung vorgegriffen,
zwar nur zeitlich. Denn zu einer vollen, originellen, wiſſenſchaftlich be-
gründeten und praktiſch verwertbaren Entwicklung baute ſich der ſteno-
graphiſche Gedanke ſchon vorher in Deutſchland in den Köpfen Gabels-
bergers und Stolzes aus. Es iſt hier nicht der Ort, die Vorzüge und
Nachteile des einen und anderen Syſtems gegen einander abzuwägen.
Beide erfüllen die Aufgaben einer guten Stenographie, ſowohl für den
gewöhnlichen privaten Gebrauch eine leicht erlernbare, flüſſig ſchreib-
[942]Das Papier und die vervielfältigenden Künſte.
bare, unſchwer lesbare Kurzſchrift zu liefern, als auch als Schnellſchrift
zum wörtlichen Aufzeichnen ſelbſt ſchnell geſprochener Reden ohne zu
große Schwierigkeiten brauchbar zu ſein.


Im Jahre 1817 begann der Lehrer Franz Xaver Gabelsberger
(geb. 9. Februar 1789, geſt. 4. Januar 1849), damals Kanzliſt im
Generalkommiſſariat des Iſarkreiſes in Bayern, ſein Syſtem aus-
zuarbeiten, das praktiſch zu erproben und demgemäß weiter zu ver-
beſſern ihm ſchon vom Jahre 1819 an im bayriſchen Landtage
geſtattet war, ſodaß ſeine im Jahre 1834 herausgegebene „An-
leitung zur deutſchen Redezeichenkunſt oder Stenographie“ ihre praktiſche
Feuerprobe ſchon lange hinter ſich hatte. Der große Vorzug der
Gabelsbergerſchen Stenographie liegt in der großen Flüchtigkeit, d. h.
bequemen Schreibbarkeit der Zeichen, die meiſt nach beiden Richtungen
eine leichte Verbindung mit andern Zeichen zulaſſen. Die Formen
der Buchſtaben hat er ſo gewählt, daß ſie möglichſt den Charakter
derſelben wiedergeben, daß z. B. Zeichen mit ſanfter Rundung weiche
Laute vertreten. Die Vokale werden im allgemeinen ſymboliſch be-
zeichnet, überflüſſige, nicht geſprochene Buchſtaben, wie das „e“ in Tier,
das „h“ in Hohn werden gar nicht geſchrieben. Außerdem ſtellte er
auf grammatikaliſchen Regeln beruhende Wortkürzungen auf, die bei
den am häufigſten gebrauchten Wörtern ziemlich weit gehen, ſodaß ein
direktes Auswendiglernen derſelben, der ſogenannten „Sigel“ erforderlich
iſt. Um die notwendige Geſchwindigkeit für die Kammerſchrift zu er-
reichen, mußte Gabelsberger ſogar noch zur Satzkürzung greifen,
wobei es alſo natürlich ſehr auf die perſönliche Geſchicklichkeit des be-
treffenden Stenographen ankommt.


Heinrich Auguſt Wilhelm Stolze (geb. 20. Mai 1798, geſt.
8. Januar 1867) beſchäftigte ſich ſeit dem Jahre 1820 mit ähnlichen
Verſuchen, wie Gabelsberger, war aber weniger von dem Beſtreben geleitet,
eine vollkommene Parlamentsſchrift zu erfinden, als an die Stelle der
zeitraubenden gewöhnlichen Schrift eine für das ganze Volk leicht er-
lernbare, unzweideutige Kurzſchrift zu ſetzen. Seine Bemühungen waren
auch von Erfolg gekrönt und ließen ihn ein auf wiſſenſchaftlichen Prin-
zipien beruhendes Syſtem finden, das die erforderlichen Anſprüche
außerordentlich gut erfüllte. Die von ihm gewählten Zeichen für die
Buchſtaben lehnen ſich möglichſt nahe an die gewöhnlichen Zeichen der
Kurrentſchrift an, ſo iſt

[figure]

= m,

[figure]

= l. Eine gewiſſe Schwierigkeit
liegt für den Anfänger in der Anwendung eines dreifachen Linien-
ſyſtems, die aber bald bei praktiſcher Ausübung der Stenographie
überwunden wird. Stolze bezeichnet nämlich den Vokal der Haupt-
ſilbe eines Wortes ſymboliſch 1) durch die Stellung des Wortes auf,
über oder unter der Linie, 2) durch eventuelle ſtarke Schreibweiſe des
vorhergehenden Konſonanten, während an und für ſich die Konſonanten-
zeichen ohne Druck geſchrieben werden und 3) durch enge oder weite
Verbindung der den Vokal oder Diphtong umſchließenden Konſonanten.
[943]Die Stenographie. — Das Schreibmaterial.
Wir haben oben die Zeichen für m und l kennen gelernt; die enge
Verbindung derſelben auf der Linie z. B. ohne Druck, alſo

[figure]

giebt
das Wort Mehl, mit Druck, alſo

[figure]

das Wort Mal, die weite Ver-
bindung auf der Linie, alſo

[figure]

Meile, eng, unter der Linie, ohne
Druck

[figure]

Mole, weit, unter der Linie, mit Druck

[figure]

Mühle, u. ſ. w
Vor- und Nachſilben werden gekürzt, ebenſo häufig vorkommende
Wörter, wie: ſein, haben, können, mein, ich, du, aber und ähnliche.
1872 trat eine Vereinfachung des Syſtems nach mehreren Richtungen
ein, die beſonders der leichteren Erlernbarkeit des Syſtems zugute
kommen ſollte, aber zunächſt allerdings eine Trennung in Alt- und
Neu-Stolzeaner zur Folge hatte. Eine weitere Umformung des Syſtems
für die gewöhnlichen Zwecke des Lebens fand im Jahre 1888 ſtatt,
während die weitere Ausbildung des Syſtems nach der Seite der
Parlamentsſchrift hin in dem Buche von Dr. Simmerlein: „Das
Kürzungsweſen in der ſtenographiſchen Praxis nach dem Stolzeſchen
Syſtem“ (1880) erfolgte, in dem den angehenden Parlamentsſteno-
graphen Anleitungen, Ratſchläge, nebſt Regeln zu weiteren, über die
Schulſchrift hinausgehenden Kürzungen gegeben wurden.


Von den neueren Syſtemen, von denen keines das Gabelbergers
oder Stolzes, die beide auch vielfach in fremde Sprachen übertragen
wurden, zu verdrängen vermochte, ſei nur noch als bedeutendſtes das
von Leopold Arends aus dem Jahre 1850 erwähnt, das auch durch-
aus originell und in ſeiner Art vortrefflich iſt, an Leichtigkeit der Er-
lernbarkeit aber den beiden älteren wohl nachſtehen dürfte.


Das Schreibmaterial.

Schon früher haben wir geſehen, daß für die Entwickelung der
Schrift das vorhandene Schreibmaterial von ungeheurem Einfluß ge-
weſen iſt. Es liegt daher nahe, auch auf dieſe Seite der Schrift-
entwicklung einzugehen. Über den weſentlichſten Stoff, der dabei in
Betracht kommt, das Papier, iſt vorher ausführlich berichtet worden.
Während den alten Ägyptern die Natur ſchönes Schreibmaterial
in den Sandſtein- und Kalkfelſen darbot, das für künſtleriſche Bear-
beitung außerordentlich geeignet war, mußten ſich die Babylonier mit
gebrannten Ziegeln begnügen, deren geringe Härte beim Gebrauch zur

Figure 494. Fig. 504.

Unglück für Aſſyrien (in Keilſchrift).


Anwendung von Buchſtaben aus lauter
ſpitzen, keilförmigen Strichen führte,
zur Keilſchrift (ſiehe Fig. 504). Bei den
alten Chineſen waren Bambustafeln,
die mit Firnis überzogen waren, in Gebrauch. Man ritzte mit
einem ſpitzen Griffel in dieſelben die Buchſtaben ein. Ähnlich ver-
fuhren die Römer mit ihren Wachstafeln. Alle dieſe und ähnliche
Materialien konnten aber keinen Vergleich aushalten mit dem ſchon
in alten Zeiten, meiſt aber nur in Aſien, beſonders in Indien be-
[944]Das Papier und die vervielfältigenden Künſte.
kannten Palmblatt, das ſchon gegen die erwähnten Schreibmaterialien
einen bedeutenden Fortſchritt bezeichnete. Auch iſt ſeine Herſtellung
mit außerordentlicher Einfachheit zu bewerkſtelligen. Man ſchneidet
aus den großen, lederartigen Palmblättern, namentlich zweier Palm-
arten, der Borassus flabelliformis und der Corypha umbraculifera,
paſſende Stücke aus, die man darauf im Schatten trocknen läßt und
dann mit Öl einreibt. Das Papier, um unſer heutiges Wort zu ge-
brauchen, iſt dann fertig. Man ritzt mit einem ſpitzen Griffel in das
Palmblatt die Schrift ein, die ſich in demſelben, ſogar ohne mit irgend
einem Safte geſchwärzt zu werden, ſehr deutlich abhebt. Man kann
natürlich auch, ähnlich wie die Chineſen vor 2000 Jahren mit Tuſche
auf Seide ſchrieben, mit einem feſthaftenden Farbſtoffe auf den Palm-
blättern ſchreiben. Ein gewaltiger Fortſchritt beſtand aber in der Er-
findung des Pergaments, die übrigens ſehr weit in das Altertum
zurückreicht, vielleicht weiter als die der Bereitung von Papier aus
der Papyrusſtaude. Es wurde hergeſtellt, indem ungegerbte Tierhäute,
beſonders Schaf-, Ziegen-, Hammel- oder Kalbfelle durch Schaben ent-
haart, dann gereinigt und ſpäter mit Kalk gebeizt und gut geglättet
wurden. Die Möglichkeit zur vollen Entfaltung der Schriftentwickelung
wurde aber erſt durch die allerdings wahrſcheinlich uralte, bis ins
4. Jahrtauſend v. Chr. Geburt zurückdatierende Erfindung des Papiers
gegeben, das zunächſt aus dem Zellengewebe der in Ägypten beſonders
häufigen, binſenartigen Papyrusſtaude verfertigt wurde. Über die
weitere Verbeſſerung dieſes Materials durch Anwendung anderer, aber
immer pflanzenartiger Rohſtoffe iſt an anderer Stelle (ſiehe S. 923)
berichtet.


Wenden wir uns nun zu den Inſtrumenten, mit denen geſchrieben
wurde und wird, ſo hängen dieſe natürlich weſentlich von dem Schreib-
material ab. Es war ein harter, ſpitzer Griffel für Stein- oder Metall-
ſchrift, ein dünner Stift für Wachstafeln, ein vorn erweichtes Stäbchen
für Leinewand und Seide, das frühere Schreibmaterial der Chineſen,
und ſo fort. Für Pergament und Papyrus fand aber neben dem
Pinſel, mit dem getuſcht wurde, bald die zugeſpitzte Rohr- oder
Kielfeder Anwendung, die in eine gefärbte Flüſſigkeit, die Tinte,
getaucht die Schriftzüge leicht auf das Papier zu übertragen erlaubte.
An Stelle dieſer Federn, zu denen in neueren Zeiten beſonders Gänſe-
kiele genommen wurden, traten erſt Ende der zwanziger Jahre dieſes
Jahrhunderts die Stahlfedern, die zuerſt in England fabrikmäßig aus
dünnem Stahlblech angefertigt wurden (ſiehe S. 683 bis 685), wenn auch
bereits im 16. Jahrhundert Verſuche auftauchten, Schreibfedern aus
Metall herzuſtellen. Als beſtes Erzeugnis der Federinduſtrie iſt die
Goldfeder mit harter Iridiumſpitze zu erwähnen, die den zerſtörenden
Einflüſſen der Tinte einen außerordentlichen Widerſtand entgegenſetzt.
Eine ausnehmend glückliche Erfindung, ſtreng genommen nur Ent-
deckung, die für unſere heutige ſo geſteigerte Schreibthätigkeit und für
[945]Das Schreibmaterial.
beſonders ſchnelles Schreiben, wie Stenographieren, von ungeheurer
Bedeutung iſt, war die Herſtellung von Bleiſtiften, mit denen man
ja allerdings meiſt nur auf kürzere Zeit lesbare, leicht vergängliche
Schrift hervorrufen kann. Anfänge dieſer Induſtrie finden wir ſchon
im 14. Jahrhundert, aber der wirkliche Bleiſtift wurde zuerſt im
16. Jahrhundert fabriziert, als man in Cumberland in England den
Graphit entdeckt hatte. Man verfährt in dreifacher Weiſe bei der Her-
ſtellung von Bleiſtiften. Entweder ſchneidet man die in unſeren Bleien
enthaltenen Stäbchen direkt aus der Graphitmaſſe heraus oder man
formt die Abfallſtoffe dieſes Geſteins zu ſolchen Stäbchen um oder
man ſetzt zu dem Graphitpulver einen Teil Thon hinzu, wodurch die
Güte des Bleies erheblich gewinnt. Letztere Erfindung iſt von dem
Franzoſen Conté im Jahre 1795 gemacht. Keinen großen Eingang
haben die ziemlich neuen Kopier-Bleiſtifte gefunden, die durch einen
Zuſatz von Anilin die beſondere Eigenſchaft gewinnen, auf trockenem
Papier unausradierbar zu ſein, bei Befeuchtung dagegen die Abnahme
von Kopien zu ermöglichen.


Intereſſant dürften wohl einige ſtatiſtiſche Angaben über die Blei-
ſtiftfabrikation ſein, die, beſonders in Bayern von der Regierung
kräftigſt unterſtützt, einen großen Aufſchwung genommen hat. In
Nürnberg, wo auch der Bleiſtiftkönig A. W. Faber anſäſſig iſt, zählte
man im Jahre 1888 ſchon 25 größere und kleinere Fabriken, die zu-
ſammen 5500 Arbeiter beſchäftigten und jährlich 250 Millionen Blei-
ſtifte lieferten. Dieſe Menge repräſentiert einen Wert von 8 Millionen
Mark.


b) Die Buchdruckerkunſt.


1. Die Erfindung der Buchdruckerkunſt.

Eine der größten Erfindungen, die überhaupt menſchlicher Geiſt
erdacht hat, muß man die Erfindung der Buchdruckerkunſt nennen.
Der Sprung von der handſchriftlichen Vervielfältigung von Schrift-
zeichen zu ihrer mechaniſchen Vervielfältigung iſt faſt ein ebenſo
großer, wie der vom rein mündlichen Gebrauch der Sprache zur Er-
findung der Schrift. Wunderbar iſt es vor allem, in welcher relativen
Vollkommenheit dieſe Erfindung im 15. Jahrhundert das Licht der
Welt erblickte, wie armſelige und das Weſen der Sache kaum ſtreifende
Vorläufer mechaniſcher Vervielfältigung von Schriftſtücken oder Kunſt-
werken ſie hatte. Iſt es nicht kaum begreiflich, daß ſo manche der
erſt in dieſem Jahrhundert erfundenen Methoden zur beſchränkten
Vervielfältigung von Schriftſtücken, z. B. die Hektographie und ähn-
liche Künſte nicht früher erfunden, nicht der großen, welterlöſenden
That der Erfindung der Buchdruckerkunſt vorausgegangen ſind? Doch
die Weltgeſchichte geht ihre eigenen Wege, und der menſchliche Genius
überſpringt oft in einzelnen Geiſtern und in einzelnen Geſchehniſſen
Das Buch der Erfindungen. 60
[946]Die vervielfältigenden Künſte.
Jahrhunderte, während wieder auf der anderen Seite oft die kulturelle
Entwicklung ganzer Völker durch den plötzlichen Ausbruch jener im
Menſchen noch ſchlummernden tieriſchen Rohheit, die ſich nach Erprobung
der in ihm ſteckenden körperlichen Kraft ſehnt, auf Jahrhunderte oder
wenigſtens Jahrzehnte hinaus in Frage geſtellt wird.


Die Notwendigkeit einer Vervielfältigung mancher Schrift-, Dicht-
und Kunſtwerke hatte man ſchon frühzeitig erkannt. Das Gefühl der
Verpflichtung der Menſchheit, ihrer Nachkommenſchaft den Fonds der
Erfahrungen, Annehmlichkeiten, kurz der Lebensweisheit, in unantaſt-
barer Weiſe zu hinterlaſſen, den ihre Vorfahren ihnen mündlich überliefert,
und den ſie ſelbſt ſchließlich gewonnen hatten, dieſes Gefühl durchdrang
ſchon in den älteſten Zeiten die Menſchen. Es wurden beſondere
Perſonen angeſtellt, die für die gute Erhaltung von wichtigen Staats-
dokumenten, Denkmälern und Annalen zu ſorgen und im Falle ihrer
Beſchädigung die Erneuerung zu bewirken hatten. Man erkannte bald,
daß zur Sicherung ſolcher Dokumente ihre Vervielfältigung notwendig
war. Beſonders aber die mehr und mehr anwachſende und die All-
gemeinheit intereſſierende Litteratur verlangte dringend eine Ver-
vielfältigung, fand dieſelbe im Altertum, wie bis ſpät ins Mittelalter
hinein, aber nur durch vielmaliges Abſchreiben. Im alten Rom ſehen
wir, wie Sklaven zu dieſer Arbeit verwendet werden, während im
Mittelalter faſt allein die Mönche in den Klöſtern mühſelig durch Ab-
ſchreiben in meiſt künſtleriſcher Form für die Verbreitung der alten
Handſchriften ſorgten.


Einige ſchüchterne Verſuche zur mechaniſchen Vervielfältigung ſehen
wir allerdings ſchon in alten Zeiten; ſo bedienten ſich die alten Ägypter
einer Art Schablone, um die Inſchriften mehrfach gleichmäßig herzu-
ſtellen. Schablonen, die ausgetuſcht wurden, finden wir auch früh bei
den Chineſen. Dem Typendruck ähnlicher iſt ſchon die wiederholte
Herſtellung eines Zeichens mittels eines Stempels, die wir bereits bei
den alten Babyloniern, dann bei den Ägyptern, Griechen, Römern und
auch im Mittelalter finden. Oft wurden Initialen mit ſolchen Stempeln
gedruckt, aber es war dies doch immer noch eine Art der Ver-
vielfältigung, die das Schreiben nicht erſetzte, und etwa nur unſerm
heute üblichen Siegeln vergleichbar war. Der direkte Vorläufer der
Buchdruckerkunſt war aber die Holzſchneidekunſt, die in China ſchon
ſehr früh, im 6. oder 10. Jahrhundert nach Chr. Geb. zu ziemlicher
Vollkommenheit gelangt zu ſein ſcheint. Bei der unendlichen Zahl der
chineſiſchen Schriftzeichen iſt dieſe Methode der Vervielfältigung bei
dieſem Volke bis auf den heutigen Tag die gebräuchliche geblieben,
trotzdem, wie man annehmen darf, die Herſtellung beweglicher Typen
aus gebrannten Ziegeln in China ſchon im 11. Jahrhundert von
Piſching erfunden iſt. Es fehlte aber die Erfindung der Druckerpreſſe,
der Druckerſchwärze und vor allem auch eine Methode, die Typen, die
Buchſtaben, mechaniſch zu vervielfältigen. Dieſe Punkte bedingen auch
[947]Die Buchdruckerkunſt.
den großen Unterſchied und den gewaltigen Fortſchritt der Erfindung
der Buchdruckerkunſt gegenüber der der Holzſchneidekunſt, die im Abend-
lande ſelbſtändig etwa im 14. Jahrhundert erfunden zu ſein ſcheint.
Dieſe, wie die wahrſcheinlich noch ältere Kunſt des Metallſchnitts
wurde zunächſt zum Bilderdruck verwandt. Spielkarten einerſeits, Heiligen-
bilder andererſeits waren es, deren Anfertigung im 14. und 15. Jahr-
hundert durch Holz- oder Metallſchnitt von den ſogenannten Briefmalern
oder Briefdruckern geübt wurde. Hin und wieder ſetzte man unter ein
Andachtsbild auch wohl den Namen des Heiligen oder ein frommes
Sprüchlein; allmählich ging man auch weiter und druckte auf dieſe
Weiſe ganze Büchelchen, Leſe- oder Spruchbücher und Auszüge aus
einer Sammlung grammatikaliſcher Schriften des berühmten römiſchen
Gelehrten Älius Donatus, der im 4. Jahrhundert n. Chr. gelebt
hatte, die ſogenannten Donaten. Das berühmteſte derartige Werk, das
von großen Holzſchnitttafeln abgedruckt iſt, iſt die „Armenbibel“, die
bildliche Darſtellungen aus dem alten und neuen Teſtament enthält.


Die wahre Buchdruckerkunſt, die Typographie, wurde aber erſt von
dem Mainzer Bürger Henne Gensfleiſch zum Gudenberg, genannt
Johann Gutenberg, erfunden und von ihm und ſeinen Mitarbeitern
Johann Fuſt und Peter Schöffer gleich zu einer Vollendung gebracht,
an der die nächſten drei Jahrhunderte kaum etwas zu verbeſſern hatten.
Über Gutenbergs Jugend iſt nur wenig bekannt. Als ſein wahr-
ſcheinlichſtes Geburtsjahr läßt ſich das Jahr 1397 bezeichnen. Im
Jahre 1421 zwang ihn ein Aufſtand gegen den Adel, Mainz zu ver-
laſſen. Erſt 1435 finden wir ihn in Straßburg wieder, vielbeſchäftigt
mit mancherlei mechaniſchen Künſten, Edelſteinſchleifen, Spiegelbelegen
und manchen geheimen Künſten, wozu wohl vor allem die Verſuche ge-
hörten, die Buchdruckerkunſt zu erfinden. Wenigſtens ergiebt ſich aus
Prozeßakten des Jahres 1438, daß ihm die Brüder eines Mitarbeiters
oder Schülers, namens Dritzehn, den Beſitz einer Preſſe und einer Anzahl
Bleiformen ſtreitig machten, die bei dem Tode Dritzehns in deſſen
Hauſe ſich befanden, aber von Gutenberg reklamiert wurden. Guten-
berg bekam Recht, ließ aber Preſſe und Formen auseinandernehmen,
damit nicht ein anderer in das Geheimnis dringen ſollte.


Im Jahre 1445 kehrte er ohne alle Mittel nach Mainz zurück, behielt
aber ſeine Erfindung ſtets im Auge und verband ſich 5 Jahre ſpäter mit
dem wohlhabenden und unternehmenden Johannes Fuſt, deſſen Bruder
Jakob als Goldſchmied ihm wohl oft mit Rat zur Seite ſtand, und
mit dem talentvollen, künſtleriſch und techniſch hochbegabten Peter Schöffer
zur Ausführung ſeiner Ideen. Zuerſt hatte wohl Gutenberg mit Holz-
typen gearbeitet, alſo die alten Holzſchnitte nur in ihre Beſtandteile
zerſchnitten, bald erkannte er aber die Notwendigkeit, die Typen auf
mechaniſchem Wege aus Metall herzuſtellen. Er wandte zunächſt
weiches Metall zum Schneiden der Buchſtaben an, umgoß dieſen
Stempel mit flüſſigem Blei oder drückte ihn in ſolches ein und bekam
60*
[948]Die vervielfältigenden Künſte.
ſo eine Form, um beliebig viele Typen der betreffenden Art gießen zu
können. Hier, auf dem Gebiete der Schriftgießerei, war es Peter
Schöffer, der das noch heute übliche Verfahren (ſiehe weiter unten) erſann,
mittels Stahlſtempel die Form in Kupfer zu treiben. Auch hinſichtlich
der Druckerſchwärze vervollkommnete Schöffer das Gutenbergſche Ver-
fahren ſo ſehr, daß die von ihm angewandte Druckerfarbe noch heute
in Gebrauch iſt. Der vierte große und notwendige Schritt, den
Gutenberg that, war die Erfindung der Druckpreſſe zur mechaniſchen
Herſtellung der Druckabzüge. Hat dieſelbe auch im Lauf der Zeiten
manche Veränderung erfahren, das Prinzip iſt immer dasſelbe geblieben,
auch in den mächtigen Rotationspreſſen der Neuzeit, die allerdings in
ihrer Leiſtungsfähigkeit den alten Handpreſſen gegenüber ganz ungeheuer
überlegen ſind.


Im Jahre 1452 hatte Gutenberg bereits einige kleinere Werke,
Donaten und ähnliches, fertiggeſtellt und begann nun das große Werk
des erſten Bibeldrucks, das auch raſch fortſchritt, deſſen Vollendung ihm
aber nicht vergönnt ſein ſollte, da ihn im Jahre 1455 ſein Mitarbeiter
Fuſt, der ihn jetzt nicht mehr brauchte, auf Zahlung einer größeren
Summe Geldes verklagte, die Gutenberg nicht leiſten konnte. Gutenberg
mußte infolgedeſſen Fuſt die Druckerei überlaſſen, während er ſelbſt mit
Unterſtützung des Mainzer Stadtſyndikus Dr. Humery eine neue
Druckerei einrichtete. Fuſt und ſein Schwiegerſohn Schöffer übergaben
zwiſchen dem Jahre 1455 und 1460 der Welt die beiden erſten Bibeldrucke,
die ſogenannte 36zeilige und die 42zeilige Bibel und im Jahre 1457
das erſte, mit dem Namen des Druckers, mit dem Druckort und dem
Datum des Erſcheinens verſehene prächtig ausgeſtattete Pſalterium.
Gutenberg gab auch ſchon wieder 1460 nach einigen kleineren ein
größeres Werk heraus, das Catholicon, eine lateiniſche Grammatik
mit etymologiſchem Wörterbuch. Im Jahre 1462 aber ging bei
der Einnahme von Mainz durch den Kurfürſten Adolf von Naſſau
die große Fuſtſche Buchdruckerei in Flammen auf. Sie wurde
zwar wieder neu eingerichtet, indeſſen hatten ſich die Gehülfen über
ganz Deutſchland zerſtreut, ſo daß wir nun bald an vielen Orten
Deutſchlands und ſpäter Italiens Buchdruckereien entſtehen ſehen. Guten-
berg ſelbſt blieb nur noch kurze Zeit in Mainz, da ihn der Kurfürſt
Adolf von Naſſau 1465 als Kavalier an ſein Hoflager zu Eltville
im Rheingau nahm. Dort ſtarb er Ende des Jahres 1467 oder
Anfang 1468 nach einem mühevollen Leben, in dem er bis auf die letzten
Jahre nicht im geringſten die Anerkennung und Unterſtützung gefunden
hatte, die ihm bei ſeinen unſterblichen Verdienſten um die geſamte
Menſchheit gebührte.


Die mächtige Entwicklung der Buchdruckerkunſt, die nach der Ein-
nahme und teilweiſen Zerſtörung von Mainz begann, verdankte nicht
zum geringſten äußeren Ereigniſſen ihren Aufſchwung. Nach der 1453
erfolgten Eroberung Konſtantinopels durch die Türken hatten ſich die
[949]Die Buchdruckerkunſt.
dortigen Gelehrten, mit den litterariſchen Schätzen des klaſſiſchen Alter-
tums beladen, meiſt nach Italien geflüchtet und lieferten ſo der jungen
Kunſt ſofort ein ungeheures, der Vervielfältigung wertes Material.
Bald begannen auch die großen Geiſteskämpfe der Reformation, die
in der Buchdruckerkunſt ein mächtiges Hilfsmittel fand, ohne das ſie
vielleicht nie, ſicherlich nicht ſo ſchnell zum Siege gelangt wäre.


Wir können hier nicht die Namen aller derer nennen, die ſich um
die weitere Entwickelung der Buchdruckerkunſt Verdienſte erworben
haben. Ihre Thätigkeit beſtand vornehmlich in einer Vervollkommnung
der Stempelſchneidekunſt, die allerdings allmählich ganz herrliche Re-
ſultate gezeitigt hat. Von einſchneidender Bedeutung ſind nur drei
große Fortſchritte auf dem Gebiete der Buchdruckerkunſt: die Erfindung
des Stereotypierens, die Erfindung von Maſchinen zum Gießen der
Typen und von ſolchen zum Drucken, während die zum Setzen er-
fundenen aus ſpäter zu beſprechenden Gründen noch nicht als voll-
kommen bezeichnet werden können. Die Erfindung des Stereotypierens
wurde hervorgerufen durch die Notwendigkeit, bei Büchern, die mehr-
fach zur Auflage kamen, der Koſtenerſparnis halber den Satz ſtehen
zu laſſen. Dies hatte aber zwei Übelſtände. Erſtens war es immer
noch ſehr koſtſpielig, das ganze Typenmaterial ſo lange ungenutzt
ſtehen zu laſſen, und zweitens konnte der Satz im Laufe der Zeit leicht
auseinanderfallen. Im vorigen Jahrhundert machte man viele Ver-
ſuche, dem abzuhelfen, aber ohne Erfolg, bis im Jahre 1804 Lord
Stanhope die Gipsſtereotypie und vollends im Jahre 1829 Genoux
in Lyon die Papierſtereotypie erfand, die er zu einem unentbehrlichen
Hülfsmittel der heutigen Buchdruckerkunſt geſtaltete. Eine Gießmaſchine
für die Typenherſtellung erfand 1805 Wing und White; dieſelbe wurde
1828 von Bruce praktiſch umgeſtaltet und ſpäter von Kiſch in Berlin
noch weſentlich verbeſſert. Auf dem Gebiete der Druckerpreſſe war der
erſte weſentliche Fortſchritt die Einführung einer eiſernen Preſſe an
Stelle der bis dahin gebrauchten hölzernen durch Stanhope im Jahre
1800, der zweite größere die Erfindung der erſten Dampfdruckpreſſe
von König im Jahre 1810, aus der ſich dann allmählich die gewaltigen
Rotationspreſſen der neueſten Zeit entwickelten.


Wir wollen nun im folgenden das geſamte Verfahren des Buch-
drucks vom Gießen der Typen bis zum Falzen der fertigen Druckbogen
beſchreiben und machen naturgemäß den Anfang mit der Schriftgießerei.


2. Die Schriftgießerei.

(Vergl. auch S. 640 bis 642).


Die Typen ſelbſt, vierſeitige rechtwinklige Stäbchen von beſtimmter
Höhe, müſſen, um mit ihnen drucken zu können, die Buchſtaben oder
Zeichen, welche ſie darſtellen ſollen, in erhabener Form und umgekehrter
Schreibweiſe, bei unſerer Schrift alſo von rechts nach links wieder-
geben. Das Metall, aus dem ſie gegoſſen werden, muß leichte Schmelz-
barkeit mit einer gewiſſen Härte verbinden, um einerſeits einen guten
[950]Die vervielfältigenden Künſte.
Guß zu ermöglichen und um andererſeits genügend dauerhaft zu ſein,
um ſcharfe, vollkommene Abdrücke zu liefern. Ferner muß es die
Druckerſchwärze leicht annehmen und abgeben und darf nicht leicht
oxydieren, damit die Typen lange aufbewahrt werden können. Alle
dieſe Eigenſchaften vereinigt in mehr oder minder hohem Maße das
ſogenannte „Schriftgießermetall“ oder „Schriftzeug“, eine Legierung
von Blei und Antimon. Man nimmt meiſt 4 bis 5 Teile Blei und
1 Teil Antimon, zuweilen auch noch, um die Oxydierbarkeit noch mehr
zu vermindern, einen Zuſatz von Zinn. Die Herſtellung ſolcher Typen
geſchieht nun in der Weiſe, daß man zunächſt den betreffenden Buch-
ſtaben oder das betreffende Zeichen in einem harten Metall erhaben
und umgekehrt ſchneidet, die ſogenannte Patrize anfertigt, dieſe in ein
weicheres Metall, meiſt Kupfer einſchlägt, ſodaß in dieſem die Type
in richtiger Stellung, wie im Druck, aber vertieft als „Matrize“ er-
ſcheint, und ſchließlich mit Hilfe der Matrize im Gießinſtrument die
Typen vervielfältigt.


In erſter Linie kommt es auf die Anfertigung guter Patrizen an,
wenn man einen guten Druck erzielen will, da die Typen ſich ganz
nach jenen bilden. Als Material für die Patrizen wählt man den
beſten Gußſtahl aus, den man in vierkantige Stäbchen von beſtimmter
Breite, Höhe und Dicke zerſchneidet. Man legt dieſe Stäbchen in
einen eiſernen, mit Holzkohlenſtaub gefüllten Kaſten, der luftdicht ver-
ſchloſſen iſt, und läßt ſie bei langſamem Feuer 5 bis 6 Stunden lang
glühen. Nun wird nach allmählicher Abkühlung die Füllung heraus-
genommen und vom Schriftſchneider in der Weiſe bearbeitet, daß er
auf der ebenen, glatt abgeſchliffenen Endfläche den Buchſtaben umge-
kehrt mit Feder und Tuſche aufzeichnet oder, wenn er ſehr klein iſt,
mit einer ſcharfen Nadel einritzt und dann mit dem Grabſtichel die zu
vertiefenden Stellen, z. B. beim o das innere Oval ausſticht. Die
größeren Zwiſchenräume werden meiſt mit einem ſehr harten Stempel,
der Gegenpunze eingeſchlagen und dann erſt nachgefeilt. Es iſt ſehr
ſchwierig, den Vertiefungen die richtige Höhe und ihren Rändern die
notwendige Steilheit zu geben. Nunmehr kommt die Patrize wieder

Figure 495. Fig. 505.

Patrize.


in einen mit Kohlenſtaub gefüllten Blechkaſten,
wird in demſelben bis zur Rotglut erhitzt, dann
in nicht ganz kaltem Waſſer abgekühlt, abge-
trocknet und an der Bildfläche ſorgfältig ge-
reinigt, dann mit einem rotglühenden Eiſen
ſtark gelblich angelaſſen, wieder in Waſſer abge-
kühlt, getrocknet und ſchließlich noch einer ge-
nauen Reviſion auf kleine Unregelmäßigkeiten und Unreinlichkeiten
unterzogen. Fig. 505 ſtellt eine fertige Patrize dar.


Dieſe Patrize ſchlägt man mit dem Hammer in genau fixierter
Richtung an einer beſtimmten Stelle eines etwa 4 cm langen Kupfer-
ſtückchens ein, deſſen Breite und Dicke von der gewünſchten Schriftart
[951]Die Schriftgießerei.
abhängt. Das Einſchlagen erfordert eine ſehr geübte Hand; beſonders
ſchwierig iſt es nun aber, die Matrize zu juſtieren, d. h. das Kupfer-
ſtückchen ſo lange zu bearbeiten, bis es an allen Seiten wohl geebnet
und ſo gerichtet iſt, daß es einerſeits genau in das ſpäter zu beſchrei-
bende Gießinſtrument hineinpaßt, und daß andererſeits der Buchſtabe

Figure 496. Fig. 506.

Matrize.


an der paſſenden Stelle ſteht, und bis der Buchſtabe die
richtige Tiefe hat. Nun iſt die Matrize (ſ. Fig. 506) fertig.


In neuerer Zeit dienen noch zwei andere Ver-
fahren zur Herſtellung der Patrizen und Matrizen.
Man arbeitet vielfach die Patrize in einem leichter zu
behandelnden Stoff, Schriftgießermetall oder Holz z. B.
aus, oder nimmt auch eine fertige Type als Patrize
und macht daraus auf galvanoplaſtiſchem Wege eine
Matrize, indem ſie, mit flüſſigem Wachs beſtrichen, in
den galvanoplaſtiſchen, mit einer Kupferlöſung gefüllten
Apparat gebracht wird, in dem ſich ſodann auf ihr das Kupfer nieder-
ſchlägt und allmählich die Matrize bildet. Ferner iſt neuerdings eine
ähnliche Bohrmaſchine konſtruiert, mit der man folgendermaßen ver-
fährt. Man führt eine Spitze, den Storchſchnabel, um das richtige Modell
eines Buchſtabens herum, dann bohrt ein kleiner Bohrer das Buchſtaben-
bild als Patrize an der entgegengeſetzten Seite des Apparates aus.


Es erübrigt noch die Gießmaſchine zu beſchreiben, deren ſehr viele er-
funden ſind. Wir wollen den Typus der von David Bruce in Brooklin
im Jahre 1828 erbauten Gießmaſchine (Fig. 507) näher betrachten. Auf
einem etwa 1 m hohen eiſernen Geſtell befindet ſich ein eiſernes Gerippe
mit der Gießpfanne a und der Feuerung a1. In Verbindung mit der
Pfanne ſteht das Pumpwerk b, mittels deſſen das flüſſige Metall
durch einen Kanal in das am Kopfe c befindliche Gießinſtrument
übergeleitet wird. d iſt ein Zählſcheibchen, das bei neueren Maſchinen
die Zahl der gegoſſenen Lettern angiebt. Der Mechanismus wurde
früher von einem Arbeiter mit einer Kurbel in Bewegung geſetzt,
neuerdings arbeitet er mit Dampfkraft. Fig. 508 ſtellt das ſogenannte
Gießinſtrument dar, deren der Gießer eine große Reihe für die ver-
ſchiedenen Schriftarten und Typendicken haben muß. Die Matrize
wird in die Öffnung e zwiſchen die Kerne c und d und die Boden-
ſtücke a und b eingeſetzt. Der genaue Schluß wird durch die Bäckchen f
hergeſtellt. Nun wird das Gießinſtrument mit der Mater und dem
dieſe feſthaltenden Materkaſten mit der hinteren Seite an die Gieß-
pfanne gelegt, ſodaß nun durch die Öffnung k in Fig. 508 das flüſſige
Metall auf die Mater ſtrömt. Die Maſſe erſtarrt ſofort und wird
als fertige Type mit einem Häkchen herausgeholt, nachdem die Boden-
ſtücke a und b mechaniſch auseinandergegangen ſind. Die Type muß
nun noch zugerichtet werden. Dazu gehört zunächſt, daß der Guß-
zapfen teilweiſe abgebrochen und die übrigbleibende Letter auf der
abgebrochenen, alſo dem Buchſtaben entgegengeſetzten Seite abgeſchliffen
[952]Die vervielfältigenden Künſte.

Figure 497. Fig. 507.

Gießmaſchine.


Figure 498. Fig. 508.

Gießinſtrument.


[953]Die Schriftgießerei und das Setzen.
wird. Ferner wird die richtige Höhe, Breite der
Type, die richtige Stellung des Zeichens noch einmal
nachgeſehen. Vielfach geſchehen alle dieſe Arbeiten auf
mechaniſchem Wege in der Komplett-Gießmaſchine, die
am beſten von J. M. Hepburn und P. M. Shanks aus-
geführt iſt. Die oben beſchriebene Bruceſche Gieß-
maſchine gießt in ihrer von Kiſch in Berlin neuerdings
verbeſſerten Geſtalt etwa 12 bis 20000 Buchſtaben pro
Tag, während die Komplett-Gießmaſchine ungefähr
40000 Typen (Fig. 509) täglich vollkommen fertig ſtellt.


Figure 499. Fig. 509.

Typen.

3. Das Setzen.

Das Zuſammenſetzen der Typen zu einer Druckform, von der
man, nachdem ſie mit Druckerſchwärze eingerieben iſt, mit der Drucker-
preſſe beliebig viele Abzüge machen kann, nennt man „ſetzen“. Außer
den mannigfaltigen Sorten von Typen, die von der gewünſchten
Druckart abhängen, braucht der Setzer noch die ſogenannten „Aus-
ſchließungen“, um die Buchſtaben und die Wörter von einander zu
trennen. Dieſe Typenkegel ſind niedriger als die Buchſtabenkegel, ſo
daß nachher beim Drucken die von ihnen beſetzten Stellen auf dem
Papier leer bleiben, haben aber wie jene unter ſich alle genau dieſelbe
Höhe. Sie heißen, wenn ſie quadratiſche Oberfläche haben, Gevierte,

Figure 500. Fig. 510.

Tenakel mit Diviſorium und Manuſkript.


bei einem Seitenverhältnis von 1 : 2 Halb-
gevierte, entſprechend Viertelgevierte und
dann noch Sechſtel- und Achtel-Spatien.
Je nach der Weite des Druckes wendet
der Setzer dieſe oder jene Sorte Aus-
ſchließungen an.


Der Setzer hat nun vor ſich den
Schriftkaſten (etwa 1 m lang, 65 cm breit
und 5 cm hoch) zu ſtehen, in dem die
verſchiedenen Zeichen möglichſt ſo in ein-
zelnen Fächern angeordnet ſind, daß die,
welche er am häufigſten braucht, ihm am
nächſten liegen. Etwa in der Mitte des
Setzkaſtens wird ein mit einer Spitze ver-
ſehenes Holzlineal, das „Tenakel“, ein-
geſetzt, an dem das zu druckende Manuſkript durch ein geſpaltenes
Querholz, das „Diviſorium“, feſtgehalten wird (Fig. 510). Der Setzer
ſchiebt das Diviſorium immer an die Stelle, die er eben geſetzt hat.


In der linken Hand hält der Setzer den „Winkelhaken“ (Fig. 511),
in dem die Breite des offenen Zwiſchenraums durch die Stellſchraube s
ſo reguliert wird, daß ſie gerade der Breite einer Zeile entſpricht.
Mit der rechten Hand ergreift er nun die Type, ſetzt ſie ſo in den
[954]Die vervielfältigenden Künſte.
Winkelhaken, daß die Schrift nach vorn, die ſog. Signatur, das
iſt die Einkerbung, die wir in Fig. 511 mit s bezeichnet ſehen, nach
oben ſteht. Die Signatur hat erſtens den Zweck, daß der Setzer,

Figure 501. Fig. 511.

Winkelhaken.


indem er ſie beim Setzen mit dem Finger an der vorderen Seite
der Reihe fühlt, dadurch die Gewißheit erhält, daß die Type richtig
ſteht. Außerdem werden durch Breite und Form der Signaturen
Verſchiedenheiten zweier Schriftſorten bezeichnet, die man ſonſt nicht
ſehen könnte. Je nach der Weite des Drucks nimmt der Setzer nun
eine Ausſchließung von entſprechender Breite, dann wieder einen Buch-
ſtaben u. ſ. f., nach einem Worte eine größere Ausſchließung, ein Halb-
geviert gewöhnlich, bei geſperrtem Druck zwiſchen je zwei Buchſtaben
ein Spatium.


Das Ausſchließen iſt diejenige Arbeit des Setzers, von der die
Schönheit, die Regelmäßigkeit des Druckes in erſter Linie abhängt.
Bleibt z. B. am Ende der Zeile noch ein kleiner Raum übrig, ſo
muß er dieſen geſchickt durch Anwendung ſehr dünner Ausſchließungen
über die ganze Zeile verteilen oder er muß die von ihm gebrauchten
Ausſchließungen durch kleinere erſetzen, ſodaß noch eine Silbe auf
die Zeile geht. Beſondere Schwierigkeiten machen ihm ſpätere Kor-
rekturen des Autors, da er ſchon den Raum eines von demſelben
zugeſetzten Wortes meiſt auf mehrere Zeilen verteilen muß. Nach
Vollendung einer Zeile, die alſo ein feſtes Gefüge von längeren
Typen, den Buchſtaben oder Zeichen, und kürzeren Typen, den Aus-
ſchließungen, darbieten, wird unterſucht, ob ſie genügend feſt zuſammen-
hält, dann die „Setzlinie“, ein glatter Blechſtreifen von der Länge der
Zeile und der Breite der Typenhöhe, auf die Zeile gelegt, und auf
dieſer Setzlinie als Unterlage die nächſte Zeile begonnen. Satz, bei
dem in dieſer Weiſe die Zeilen dicht an einander ſtehen, heißt kom-
preſſer Satz. Meiſtenteils läßt man aber Raum zwiſchen den Zeilen,
man „durchſchießt“ ſie, wie man ſagt, indem man mehr oder weniger
dünne Durchſchußſtücke, „Regletten“, zwiſchen ſie legt.


Wenn der Winkelhaken gefüllt iſt, wird die Klemmſchraube s
(Fig. 511) gelockert, eine Setzlinie auf die oberſte Zeile gelegt, und dann
der Satz mit beiden Händen feſt gefaßt und auf das ſog. „Schiff“
übertragen. Dieſes iſt eine glatte Zinkplatte, die auf drei Seiten mit
Leiſten umgeben iſt. Bei größerem Format iſt dieſelbe doppelt, die
obere Platte aber mit einem Handgriff verſehen, an dem ſie ſich
[955]Das Setzen.
herausziehen läßt. Die Satzſtücke werden nun aus dem Winkelhaken ſo
oft auf das Schiff übertragen und an einander gereiht, bis eine Seite
oder Kolumne fertig iſt. Dann wird der Satz mit ſtarkem Bindfaden
feſt umwickelt, ſodaß er nicht auseinanderfallen kann, wenn man ihn
heraushebt. Man nimmt ihn mit der Hand, oder man zieht, wenn
die erwähnten zwei Platten vorhanden ſind, an dem Handgriff lang-
ſam die obere Platte mit dem Satz aus dem Schiff heraus und ſchiebt
ſie auf das „Setzbrett“, worauf man, den Satz mit der linken Hand

Figure 502. Fig. 512.

Keilrahmen.


feſthaltend, die Platte ſchnell unter ihm
fortzieht. Man überträgt ſo viele Seiten
auf das Setzbrett, wie bei dem betreffenden
Format zu einem Bogen gehören, muß
dabei aber in der Anordnung vorſichtig
ſein, damit nachher im Druck die Seiten
die richtige Reihenfolge haben. Iſt die
Druckform ſo weit fertig, ſo wird ein
eiſerner Rahmen, der ſog. Schließrahmen
herumgelegt, die Bindfaden werden abge-
nommen und die Zwiſchenräume werden mit größeren Ausſchließungen,
den „Formatſtegen“ ausgefüllt. Mit Schrauben oder Keilen wird das
ganze recht feſt zuſammengefügt, „geſchloſſen“. Es gibt ſehr viele
derartige Rahmen; einen ziemlich gebräuchlichen Keilrahmen mit feſtem
Mittelſteg veranſchaulicht Fig. 512.


Jetzt wird gewöhnlich ein ſog. „Bürſtenabzug“ gemacht — oft ge-
ſchieht dies noch vor dem Schließen —, d. h. die Form wird mittels
einer Walze mit Druckerfarbe eingeſchwärzt, ſchlechtes Papier herüber-
gelegt, darauf Filz oder Pappe, ſodann wird ein erſter Abzug her-
geſtellt, indem man entweder mit einer Bürſte ſtark darüberſtreicht oder
eine einfache Handpreſſe anwendet. Iſt dieſer Abzug vom Ver-
faſſer korrigiert, ſo muß der Setzer mit der Ahle oder Pincette die
falſchen Typen, Wörter und Zeichen herausnehmen und durch die richtigen
erſetzen. Bei größeren Korrekturen muß er dabei oft wieder den Satz
auf den Winkelhaken übertragen. Am günſtigſten iſt für den Setzer
das Korrigieren, wenn der Autor in der Korrektur etwa ebenſoviel
Neues hinzufügt, als er Daſtehendes fortſtreicht. Es werden dann
noch gewöhnlich zwei Reviſionsabzüge geliefert, worauf der Satz
druckfertig iſt.


Es iſt faſt ſelbſtverſtändlich, daß menſchlicher Erfindungsgeiſt ſich
auch bemüht hat, die Arbeit des Setzens der Handthätigkeit zu ent-
ziehen, indem er Setzmaſchinen an deren Stelle bringen wollte. Man
kann aber nicht ſagen, daß dieſes Problem bisher ſchon vollkommen
gelöſt ſei, daß Setzmaſchinen erfunden ſeien, die den Vergleich mit der
Gießmaſchine oder der Druckerpreſſe aushalten könnten, wenn ſie auch
meiſt ſehr ingeniös erdacht ſind. Als erſte praktiſch brauchbare Setz-
maſchine muß man die von Chriſtian Sörenſen bezeichnen, die, im
[956]Die vervielfältigenden Künſte.
Jahre 1846 erfunden, auf der Pariſer Ausſtellung vom Jahre 1855
außerordentliches Aufſehen erregte und die große goldne Medaille
erhielt. Einige Verwendung in der Praxis fanden dann noch die
Setzmaſchine des Amerikaners Brown, die des Engländers Hattersley,
die des Deutſchen Kaſtenbein und die des Engländers Mackie.
Bis auf die letzte beruhen alle auf dem Klaviaturprinzip, d. h. der
Setzer drückt auf eine Taſte, worauf ſich in einem beſtimmten Typen-
kaſten eine Klappe öffnet, durch die gerade ein Buchſtabe herausfallen
kann. Dieſer gelangt dann durch ein Syſtem von Kanälen auf
den Winkelhaken oder das Schiff, welches ſich nach Aufnahme der
Type gerade um deren Stärke fortbewegt.


Wir wollen hier nicht auf die Einzelheiten dieſer Maſchinen eingehen,
weil ſie verſchiedene naturgemäße Mängel haben, die einer Verdrängung
der Handarbeit durch jene vorläufig noch im Wege ſtehen. Erſtens ſind ſie
meiſt nur für eine beſtimmte Typenform geeignet, andernfalls zu kompliziert.
Ferner kann man nicht mit ihnen den Satz direkt korrigieren, die Reihe
umbrechen, d. h. das Ende einer Zeile verlegen, und ſchließlich iſt es auch
noch nicht gelungen, die Maſchine gleichzeitig zum Wiederauseinander-
nehmen des Satzes und richtigen Verteilen der Typen in die Käſten
einzurichten. Da die bisherigen Maſchinen nur vielleicht zwei- bis
dreimal ſo ſchnell arbeiten, wie ein Setzer, ſo findet eine große Be-
ſchleunigung des Setzens nicht ſtatt, zumal man nicht gleichzeitig ſo
viel Kräfte in Arbeit ſtellen kann, wie beim Handſatz, wodurch dieſer
in eiligen Sachen dem Maſchinenſatz immer noch überlegen iſt.


In den achtziger Jahren ſind dann noch zwei erwähnenswerte
Setzmaſchinen erfunden worden, eine von Brackelsberg und eine mit
Klaviatur von Fiſcher und v. Langen, denen manche Vorzüge nach-
gerühmt werden. Beſonders gut konſtruiert ſoll bei der letzteren die
ſogenannte Ablegemaſchine ſein, d. h. der Teil der Maſchine, der das
Auseinandernehmen des gebrauchten Satzes zu beſorgen hat. Durch-
greifende Verbreitung haben aber bisher auch dieſe Maſchinen nicht
gefunden.


Bevor wir uns nun dem Drucken ſelbſt zuwenden, müſſen wir
uns noch mit einer Art Umformung der Druckform, des Satzes be-
ſchäftigen, die von der allergrößten Bedeutung iſt, wenn ſie auch nur
in beſtimmten Fällen zur Anwendung kommt, dem Stereotypieren.


4. Das Stereotypieren.

Unter Stereotypieren verſteht man die Abformung des fertigen
Schriftſatzes in einem zuſammenhängenden Material. Zu dieſem Zwecke
iſt alſo erſt ein umgekehrter Abklatſch der Typenplatte in irgend einem
weichen Material erforderlich, der Matrize, in die ſpäter, nachdem ſie
ganz feſt geworden iſt, leichtflüſſiges Metall eingegoſſen wird, das
dann erſtarrt ein getreues Abbild der Typenplatte giebt. Es liegt in
dieſer Methode nun nicht etwa ein Rückſchritt von beweglichen Typen
[957]Das Setzen und das Stereotypieren.
zu feſten Platten, ſondern die Güte der letzteren iſt weſentlich bedingt
durch die vorhergehende Anwendung einzelner Lettern. Die Wichtigkeit
der Stereotypplatten iſt aber eine ganz ungeheure. Zunächſt war es
früher für den Drucker ſehr koſtſpielig, Werke, die mit geringen
Änderungen oft von neuem verlegt wurden, immer wieder neu zu ſetzen
oder aber längere Zeit den Satz ungenutzt ſtehen zu laſſen. Auch
konnte der Satz leicht im Lauf der Zeit auseinanderfallen. Andererſeits
mußte der Drucker oft gleich eine ſehr große Auflage machen, die dann
wiederum lange Zeit als totes Kapital beim Verleger ruhte. Alle
dieſe Unannehmlichkeiten ſind gehoben, ſeitdem die Stereotypie es
ermöglicht, eine mit dem Satz genau übereinſtimmende, zum Druck
geeignete feſte Platte herzuſtellen, deren Aufbewahrung den Typen-
beſtand der Druckerei unangegriffen läßt, vor allem aber gegen Ver-
änderungen oder Zerſtörungen durch Auseinanderfallen völlig ſicher iſt.
Die größte Bedeutung hat aber die Stereotypie gewonnen, als die
neuen mächtigen Rotationspreſſen erfunden wurden, bei denen der
Schriftſatz eine Cylinderfläche bilden muß. Alle Verſuche, derartigen
Satz direkt mit Typen herzuſtellen, ſind geſcheitert, während hier die
Papierſtereotypie, wie wir ſehen werden, helfend und rettend eintrat,
ſodaß ſich gerade auch bei den flüchtigſten, vergänglichſten Leiſtungen der
Buchdruckerkunſt, den Tageszeitungen, bei denen ein Stehenbleiben des
Satzes gar nicht in Frage kommt, die Stereotypplatte im Großbetriebe
das Feld erobert hat.


Die erſte praktiſch brauchbare Methode zur Herſtellung von
Stereotypplatten rührt, wie oben erwähnt, von Lord Stanhope aus
dem Jahre 1804 her und hat ſich bis in die neuere Zeit hinein ohne
weſentliche Änderungen erhalten. Man gießt über die in einen Rahmen
gelegte Druckform einen dünnflüſſigen Gipsbrei, der in wenigen Minuten
erſtarrt, worauf er abgehoben werden kann und die Typen als Ver-
tiefungen genau abgedrückt enthält. Vor dem Gießen des Gipsbreies
wird die Druckplatte, die, je nach der Größe der Apparate, die man
benutzt, eine, zwei oder mehr Seiten enthält, ordentlich geölt, damit
ſich nicht der Gips feſt anſetzt. Meiſt nimmt man übrigens auch bei
Satz, der ſtereotypiert werden ſoll, höhere Ausſchließungen, Spatien ꝛc.,
als ſonſt, damit die dort hineintretenden und ſpäter hervorſtehenden
Gipszacken nicht zu lang werden, wodurch ſie leicht abbrechen könnten.
Iſt nun alſo die Gipsmatrize ſo weit fertig, ſo läßt man ſie erſt an
der Luft, dann ſorgfältig und langſam in einem Ofen völlig aus-
trocknen. Eine Spur von Feuchtigkeit würde die Herſtellung der
Stereotypplatte vereiteln oder mindeſtens ſehr ſchädlich beeinfluſſen, da
die Feuchtigkeit, wenn nachher heißes Metall in die Matrize gegoſſen
wird, in Dampf aufwallt und leicht ein Springen der Matrize oder
die Bildung eines hohlen Raumes im Abguß verurſacht.


Die Herſtellung des Abguſſes kann nun in verſchiedener Weiſe
erfolgen. Man läßt die Matrize mit ſtarkem Druck auf das dem
[958]Die vervielfältigenden Künſte.
Erſtarren nahe Gußmetall, das über eine ebene Platte ausgegoſſen iſt,
fallen, ſodaß ſie ſich in dieſem dem Schriftmetall ähnlichen, aber etwas
weicheren Material (etwa 6 Teile Blei und 1 Teil Antimon) abdrückt.
Dieſes alte Didotſche Verfahren hat viele Nachteile, vor allem den,
daß die Luft zwiſchen Matrize und Gußmetall nicht entweichen kann,
infolge deſſen die Abdrücke nicht ſcharf werden. Beſſer iſt das Stan-
hopeſche Verfahren, bei dem die Matrize mit ihrer Schriftſeite nach
oben in flüſſiges Metall eingetaucht wird, das dann die Öffnungen
ausfüllt. Die Matrize wird in eine ſtarke Form gelegt, über die ein
mit vier Ausſchnitten an den Ecken verſehener Deckel geſchraubt wird,
der nahe an die Matrize heranreicht. Das ganze wird nun mit einem
ſtarken Druckapparat in einen Behälter, der das flüſſige Metall enthält,
hineingetrieben, ſodaß dieſe Maſſe durch die Öffnungen einfließen kann
und durch den ſtarken Druck, den die flüſſige Maſſe dem Hinabtreiben
der Form entgegenſetzt, feſt an die Gipsmater herangedrückt wird.
Die Luft kann bequem durch die Öffnungen entweichen. Nun hebt
man die Form heraus, läßt das Metall völlig erkalten und nimmt
oder ſchlägt die Gipsmatrize ab. Hobelt man jetzt die Gußplatte auf
der unteren Seite glatt ab, ſo iſt die Stereotypplatte als ſolche fertig.
Sie muß nur noch ſorgfältig geleſen werden, damit eventuelle Unregel-
mäßigkeiten in ihr ausgeputzt werden können. Falſche oder ſchlechte
Buchſtaben werden herausgefeilt oder herausgebohrt und durch die
richtigen erſetzt, die man einlötet. Größere Korrekturen in den Stereotyp-
platten anzubringen, hat aber große Schwierigkeiten, während ſich ja
auf der anderen Seite bei ihrer Anwendung z. B. für den Druck von
Rechentafeln oder Tabellen der große Vorteil darbietet, daß bei ſpäteren
Auflagen nicht wieder neue Druckfehler in das Werk hineinkommen
können. Die Höhe der Stereotypplatten iſt gewöhnlich nur 5 mm,
alſo bedeutend geringer als die der ſonſtigen etwa 25 mm hohen Druck-
platten, ſodaß in vielen Fällen beim Drucken unter die Stereotypplatten
Metallunterlagen kommen müſſen.


Ein etwas einfacheres Verfahren als das Stanhopeſche iſt das
von Daulé erfundene, bei welchem die Matrize in eine eiſerne Form
mit hohem Rand gelegt wird, an der ein eiſerner Deckel mit einem
Scharnier befeſtigt iſt. Der Deckel iſt an einer Ecke ausgeſchnitten
und liegt, wenn er heruntergeklappt wird, nicht viel über der Matrize.
Man gießt nun das Metall mit einem Löffel durch die Öffnung,
indem man das ganze Inſtrument ſchräg hält. Läßt man etwas mehr
als nötig einfließen, ſo bewirkt der Druck einen guten Einfluß des
Metalls in alle Vertiefungen. Das überſchüſſige Metall bildet einen
Angußzapfen, der abgeſägt werden muß.


Faſt ganz verdrängt ſind aber in neuerer Zeit die Gipsmatrizen
durch die Papiermatrizen, die Genoux in Paris im Jahre 1829 erfand,
die ſich aber zuerſt nur ſehr langſam Eingang verſchafften. Sein Ver-
fahren beſteht in folgendem. Man klebt eine Anzahl Seidenpapier-
[959]Das Stereotypieren und das Drucken.
blätter mit einem dünnen Stärkekleiſter, der mit geſchlemmter Kreide
vermiſcht iſt, aneinander, ſodaß das ganze etwa die Dicke eines
ſchwachen Kartons hat, glättet ſie und befeuchtet ſie. Nun legt man
ſie auf die Typenplatte und klopft ſie entweder mit einer Bürſte feſt
an dieſelbe heran, oder man drückt ſie mit einer Preſſe gegen die Typen.
Darauf ſchraubt man eine Eiſenplatte über Form und Papier und
bringt das ganze in einen Ofen. In einigen Minuten iſt die Papier-
matrize ſo weit trocken, daß ſie ohne Mühe von der Druckplatte ab-
zunehmen iſt. Sie hat einen ſehr hohen Grad von Feſtigkeit, ſodaß
ſie meiſt nachher mehrere Abgüſſe aushält. Die wichtigſte Eigenſchaft
ſolcher Papiermatrizen iſt aber, daß ſie ſich bequem biegen laſſen, was,
wie wir erwähnten, für die cylindriſchen Druckformen der Rotations-
preſſen notwendig iſt. Man legt die Matrize feſt in einen Halbcylinder
hinein, in den man darauf einen etwas kleineren Halbcylinder einſetzt.
Zwiſchen dieſen und die Matrize läßt man das Gußmetall fließen,
das dann alſo eine cylindriſch geformte Stereotypplatte liefert, die auf
der Walze der Maſchine befeſtigt werden kann.


5. Das Drucken.

Wir hatten oben das Verfahren bereits ſoweit verfolgt, daß von
der Druckform ein Korrektur- und zwei Reviſionsabzüge gemacht waren.
Es wird dann meiſt das „imprimatur“, zu deutſch: „der Druck kann
beginnen“, erteilt, worauf die Form, falls ſie nicht ſtereotypiert wird,
auf eine horizontale eiſerne Platte, den „Schließtiſch“, gelegt und mit
einem für den Druck geeigneten feſten „Schließrahmen“ umgeben wird.
Die Stege, an deren Stelle die weißen Ränder erſcheinen, müſſen
nun noch genau nachgeſehen werden, damit ſie richtig ſtehen, und
die Typen müſſen, falls ſie vorſtehen, mit einem Holz herunter-
geklopft werden.


Die Druckerſchwärze oder -Farbe, mit der, ſei es mit einer Hand-
walze oder auf mechaniſchem Wege, die Druckplatte eingeſchwärzt wird,
muß ſehr viele Bedingungen erfüllen. Sie muß ſich leicht an die
Typen anſetzen, ſodaß auch die feinſten Teile derſelben die Farbe an-
nehmen, ſie darf nicht ſchmieren, muß ſchnell trocknen und einen dunkel-
ſchwarzen Ton haben und ſchließlich auch gut auf dem Papier haften.
Es ſei nur erwähnt, daß die gewöhnliche Druckerſchwärze meiſt aus
Leinöl, das bis zur Sirupskonſiſtenz eingekocht iſt, und aus Lampen-
ruß beſteht.


Das Papier, das zum Drucken verwendet wird, iſt meiſtens un-
geleimt, muß dann aber befeuchtet werden, während geleimtes Papier
in trockenem Zuſtande gebraucht werden kann. Geleimtes Papier
verwendet man aber nur in ſeltenen Fällen, z. B. beim Buntdruck.
Das Papier wird entweder vorher in Bogenformat geſchnitten, ſodaß
es gerade die Typenplatte deckt, oder man nimmt bei den neueren
[960]Die vervielfältigenden Künſte.
großen Rotationspreſſen ſogenanntes endloſes Papier, d. h. große
Ballen, von denen das Papier abrollt, durch die Maſchine läuft und
erſt nach dem Druck in Bogen zerſchnitten wird.


Bei der Handpreſſe wird die Form auf den ſogenannten Karren
gelegt, eine Einrichtung, auf der die Form unter den „Tiegel“, das iſt
die Druckplatte der Preſſe, gefahren werden kann, während ſie vor der
Preſſe genug Raum bietet, um dort die Druckform mit der „Auftrag-
walze“, die die Farbe enthält, einzuſchwärzen. Iſt dies geſchehen, ſo
wird zunächſt Poſtpapier darüber gelegt, der Karren unter den Tiegel
gefahren und dieſer mit einem Schrauben- oder Hebelwerk — bis in
das 18. Jahrhundert hinein beſtand dies aus einer einfachen gewöhn-
lichen hölzernen Schraube, die mit dem oben daran befindlichen Quer-
holz hinabgedreht wurde — an die Form gedrückt. Durch feine
Spitzen, die „Punkturſpitzen“, entſtehen an mehreren Stellen feine Punktur-
löcher im Papier, damit man ſeine Lage genau wieder von neuem her-
ſtellen kann. Nun werden einige ganz dünne Bogen ebenſo bedruckt
und dieſe an den Stellen, wo der Druck zu ſchwach geworden iſt, aus-
geſchnitten. Dieſe Ausſchnitte werden an der genau entſprechenden
Stelle auf das Poſtpapier geklebt, während dieſes ſelbſt an denjenigen
Stellen, wo der Druck zu ſtark geworden iſt, ausgeſchnitten wird. Der
ſo „zugerichtete“ Bogen wird unter die Typen gelegt, wodurch dann
dieſe Unterſchiede beſeitigt werden. Nach einigen blinden Drucken,
ohne Farbe, die gemacht werden, damit das Zurichtepapier ſich ſetze
wie man ſagt, wird nun ein Bogen auf die Form gelegt, bedruckt,
abgenommen, ein neuer aufgelegt und ſo fort. Da der Bogen auf
beiden Seiten bedruckt werden muß, verfährt man entweder ſo, daß
man erſt hintereinander die erſte Seite, den ſogenannten Schöndruck
druckt, dann mit derſelben Preſſe von einer anderen Form die andere
Seite, den Wiederdruck, oder man druckt mit zwei Preſſen gleichzeitig
auf der einen den Schön-, auf der andern den Wiederdruck. Iſt das
Papier bedruckt, ſo muß es noch ſatiniert werden, damit es die beim
Befeuchten meiſt verloren gegangene Glätte wiedererhalte, und damit die
Buchſtaben nicht hervorſtehen. Es kommt der Druckbogen zu dieſem
Zweck in einen ſogenannten Doppelkalander, einen ähnlichen Apparat,
wie ſolcher in dem Artikel „Erfindung des Papiers“ auf Seite 931
beſchrieben iſt. Das Papier geht dabei durch je ein Paar eng
aneinander ſchließender Walzen von hartem Stahl und von feſter, aber
doch elaſtiſcher Papiermaſſe hindurch.


Iſt nun auch das Prinzip der „Preſſe“, das Gutenberg zum Druck
anwandte, bis heute faſt dasſelbe geblieben, ſo ſind doch in der Form,
Brauchbarkeit und Leiſtungsfähigkeit der Druckpreſſe gewaltige Ver-
änderungen und Fortſchritte in den letzten hundert Jahren eingetreten.
An die Stelle der alten, einfachen hölzernen Tiegeldruckpreſſe, mit der
Jahrhunderte hindurch die Druckwerke und zwar oft in vorzüglicher
Ausführung hergeſtellt waren, trat Ende des vorigen Jahrhunderts die
[961]Das Drucken.
eiſerne Preſſe, die in recht vollkommener Form zuerſt von Lord
Stanhope im Jahre 1800 verfertigt wurde. Fig. 513 ſtellt eine ſehr
beliebte Art eiſerner Handpreſſe, die „Hagarpreſſe“, dar. Die beiden in

Figure 503. Fig. 513.

Hagarpreſſe.


der Figur ſich kreuzenden
Pfeiler über der Druck-
platte ruhen mit runden
Köpfen oben und unten in
Vertiefungen. Die oberen
Vertiefungen ſind feſt ange-
bracht, während die unteren
ſich in einer Platte befinden,
die mit einem Handgriff,
einem Preßbengel, gedreht
werden kann. Die Pfeiler
nehmen beim Drehen eine
immer geradere Stellung zu
einander ein, werden da-
durch gewiſſermaßen länger
und drücken daher den Tiegel
auf die Druckform herunter.
Durch ſtarke Federn werden
die Pfeiler nach dem Druck wieder in ihre alte Lage zurückgeführt.


Der nächſte große Fortſchritt beſtand dann in der Erfindung der
erſten Schnellpreſſe durch Friedrich König aus Eisleben, (geboren am
17. April 1774). Der erſte Druck mit dieſer nur durch Dampfkraft
betriebenen, an Leiſtungsfähigkeit die Handpreſſen ungeheuer über-
treffenden Maſchine war die Nummer der Londoner „Times“ vom
29. November 1814. Der Hauptunterſchied zwiſchen der Schnellpreſſe
und der Handpreſſe beſteht aber in dem ſelbſtthätigen Auftragen der
Druckerſchwärze auf die Form; ohne dieſes wäre eine mit Dampf, ſtatt
mit Menſchenhand betriebene Preſſe nur ein halbes Werk. Zunächſt
waren die Maſchinen im großen und ganzen ſo eingerichtet, daß die
Farbe aus einem oberen Behälter auf eine ſtählerne Walze überging,
welche ſie an eine ſich periodiſch hebende und ſenkende Walze aus
Maſſe abgiebt. Dieſe verreibt beim Heruntergehen die Schwärze auf
einer folgenden ähnlichen Walze, von der ſie über eine größere Walze
wieder auf eine ſolche aus Stahl gelangt. Von dieſer erſt gelangt
die Farbe auf die Auftragwalzen ſelbſt, die ſie an die Druckform ab-
geben, wenn dieſe auf einem Schlittenwerk unter ſie gleitet. Nun geht
die Druckform wieder vor, ein von Menſchenhand auf ein ſchräges
Geſtell gelegter Bogen Papier gleitet, von fingerartigen Greifern er-
faßt, gleichzeitig auf ſie herab und wird, während die Form weiter
nach vorn gezogen wird, zwiſchen dieſer und der ſich an dieſelbe feſt
anlegenden Druckwalze bedruckt. Während die Druckform wieder zur
Farbwalze zurückkehrt, wird der bedruckte Bogen von Laufbändern auf
Das Buch der Erfindungen. 61
[962]Die vervielfältigenden Künſte.
den Ausleger, d. i. eine um ein Scharnier bewegliche Platte oder
Reihe von Stäben, weiter geführt. Sobald der Bogen auf dem Aus-
leger liegt, klappt dieſer um und legt das einſeitig bedruckte Papier
in einen Behälter, um dann wieder zurückzugehen. Alle Teile der
Maſchine fügen ſich ſo organiſch ineinander, daß ſelten eine Störung
im Betriebe eintritt. Es giebt auch ſolche Maſchinen, bei denen das
Drucken ſelbſt, wie bei der Handpreſſe, durch eine Platte, nicht durch
einen Cylinder bewirkt wird. Wir können aber hier auf die zahlloſen
Verbeſſerungen und Neuerungen, die an den Schnellpreſſen gemacht
ſind, nicht eingehen und müſſen uns auf die Erwähnung der wichtigſten
neueren Fortſchritte beſchränken.


Der Amerikaner Bullock war der erſte, der eine praktiſch brauch-
bare Rotationspreſſe oder Endloſe konſtruierte, die von dem Verleger
der Times Walter eingeführt, den Namen Walterpreſſe erhielt.
Das weſentliche bei dieſer Maſchine iſt, daß ein mächtiger Ballen
Papier ohne Ende ſelbſtthätig ſich in ſie hinein abrollt und auch un-
zerſchnitten bedruckt wird. Das letztere konnte Bullock nur dadurch erreichen,
daß er die Schrift auf einer cylindriſchen Fläche, auf einer Walze an-
ordnete, wozu die Möglichkeit, wie wir oben ſahen, erſt durch die
Erfindung der Papierſtereotypie gegeben war. Auch erfolgt bei dieſen
neueren Maſchinen der Schön- und Wiederdruck gleichzeitig in derſelben
Preſſe. Erſt nach dem Druck wird das Papier auf mechaniſchem Wege
zerſchnitten und bei neueren Maſchinen auch gleich doppelt gefalzt, d. h.
doppelt zuſammengelegt, ſodaß eine Zeitung dann alſo fix und fertig
zu ihrem halben Format zuſammengelegt, aus einer ſolchen „Endloſen“
herauskommt. In allerneueſter Zeit hat man ſogar Maſchinen kon-
ſtruiert, die die Zeitungen noch einmal, alſo völlig ſo zuſammenfalten,
wie ſie meiſt in den Verkehr kommen.


Fig. 514 zeigt uns einen Längendurchſchnitt der Walterpreſſe.
Rechts iſt die endloſe Papierrolle, die oft eine oder mehrere Meilen Papier

Figure 504. Fig. 514.

Walterpreſſe.


enthält. Das Papier wird durch die Bewegung der Walzen, wenn
es erſt einmal zwiſchen die beiden erſten eingelegt iſt, immer weiter
fortgeführt. Von der Walze B wird es befeuchtet, da B von der in
[963]Das Drucken.
einem Waſſerbehälter rotierenden Walze D benetzt wird. Das Papier
geht nun durch die Cylinder EE, die durch den Druck, den ſie ausüben,
die Feuchtigkeit gleichmäßig verteilen, weiter zu dem oberen großen
Druckcylinder. Dieſer, der in einem Teile ſeines Umfangs die
Schrift für den Schöndruck trägt, wie der untere Cylinder die für
den Wiederdruck, iſt vorher durch die Walze I eingeſchwärzt. Auf dieſe
wird, wie man ſieht, die Druckerſchwärze durch ein Syſtem von Walzen
übertragen, das ſeinen Abſchluß in der Walze F findet; dieſe rotiert
in dem Farbentrog G und wird durch das Meſſer H von der über-
flüſſigen Farbe befreit. Iſt der Schöndruck fertig, ſo gelangt das
Papier ſo auf die untere Walze, daß die andere Seite bedruckt wird.
Dann kommt es weiter zwiſchen die Walzen A, wo es perforiert wird.
Ein gezähntes Meſſer auf der unteren Walze greift in dem Moment,
wo ein bedruckter Bogen vorbeigegangen iſt, in einen Einſchnitt der
oberen Walze A ein und durchlocht ſo das Papier, das dann beim
Durchgang durch die Walzen L und M durch einen Ruck vollends in
einzelne Bogen zertrennt wird. Über die Rolle N gelangt nun der
fertige Bogen auf den Rahmen O P, der hin- und herſchwingt und
dabei je einen Bogen an die innere oder äußere Reihe Bänder R ab-
giebt, von denen ſie durch den Ausleger S nach hinten und nach vorn
ausgelegt werden.


Zur Falzung der Bogen dient neuerdings eine dreieckige Platte
mit abgerundeten Rändern. Der Bogen gleitet von der oberen Dreieck-
ſeite bis zur Spitze herab, wobei die auf beiden Seiten ſonſt mehr
und mehr freiſchwebenden Teile desſelben mechaniſch an nach innen
ſchräg ſich begegnende Seitenwände gedrückt werden. Die Dreiecks-
ſpitze macht dann den notwendigen Kniff in der Mitte des Bogens

Figure 505. Fig. 515.

Tretpreſſe.


und dieſer, einmal zuſammen-
gelegt, wandert nun zu einem
ähnlichen Apparate weiter.


Wir wollen uns darauf
beſchränken, nach der Er-
örterung der rieſigen Ro-
tationsmaſchinen, die oft
10000 Exemplare einer großen
Zeitung in einer Stunde
doppelt gefalzt liefern, ge-
wiſſe Miniaturmaſchinen, die
in neuerer Zeit für beſtimmte
Zwecke ſehr in Aufnahme
kommen, nur kurz zu er-
wähnen. Zum ſchnellen
Drucken von Viſiten-, Ein-
ladungskarten [und] ähnlichem
war es nötig, eine bequeme,
61*
[964]Die vervielfältigenden Künſte.
handliche, ſchnell arbeitende Maſchine zu erfinden, wie ſie in einer be-
ſonders in Deutſchland ſehr eingebürgerten Form Fig. 515 wiedergiebt.
Das Fundament, auf dem die Schrift ruht und die Druckplatte oder der
Tiegel ſtehen hier ſchräg zu einander, wie die Deckel eines aufgeſchlagenen
Buches. Beim Treten kommen ſie beide zuſammen und der Druck
erfolgt.


Zum Schluſſe wollen wir noch bemerken, daß es in neuerer Zeit
auch gelungen iſt, Rotationsmaſchinen zu erfinden, die gleichzeitig mit
mehreren Farben drucken, doch wird davon noch ſpäter die Rede ſein.


c) Die Schreibmaſchinen.


Eine Vereinigung von Schrift und Druck ſehen wir in der Er-
findung und Anwendung der Schreibmaſchinen vor uns. Zunächſt
hatten ſie ihre Entſtehung der Abſicht zu verdanken, den Blinden das
Schreiben möglichſt bequem zu machen; in den letzten Jahrzehnten hat
ſich aber bei der ſo ungeheuer anwachſenden Schreibthätigkeit der
Menſchheit immer mehr das Bedürfnis herausgeſtellt, Schreibmaſchinen
zu erfinden, die im geſchäftlichen Verkehr Anwendung finden können.
Die Bedingungen, denen ſie genügen müſſen, ſind: 1. natürlich abſolut
ſicheres Funktionieren des Werkes, 2. größere Schnelligkeit, als beim
gewöhnlichen Schreiben zu erreichen iſt, 3. leichte Erlernbarkeit ihres
Gebrauchs und 4. Lieferung einer gut lesbaren, gleichmäßigen und an-
genehmen Schrift.


Die erſte Schreibmaſchine rührt von dem Franzoſen Foucault
aus dem Jahre 1855 her. Größere Verbreitung verſchafften ſich erſt
ſpäter die Malling-Hanſenſche Schreibkugel, der Sholesſche Typen-
ſchreiber, die Remington-Maſchine, die Original-Hammonia- und die
Weſtphalia-Schreibmaſchine. Bei den drei erſten Maſchinen iſt das
Prinzip im allgemeinen das, daß die Typen ſich am Ende von Stäben
befinden, die hebelartig mit dem Taſtwerk, der Klaviatur, verbunden,
alle kreisförmig angeordnet ſind, ſo daß ſie, durch Druck auf die Taſten
in Bewegung geſetzt, mit ihrem Ende, das die Type trägt, ſich genau
in den Mittelpunkt des Kreiſes vorſchieben. Die Typen nehmen dann
erſt von einem in Farbe getränkten Bande Farbe auf und drucken ſich
dann auf dem Papier ab, das, ſobald ein Buchſtabe oder Zeichen
geſchrieben oder vielmehr gedruckt iſt, um ein entſprechendes Spatium
mechaniſch weiter geſchoben wird. Die Typenſchreibmaſchine „Original
Hammonia“ von Guhl \& Harbeck in Hamburg und die Buchdruck-
Schreibmaſchine „Weſtphalia“ von E. W. Brackelsberg in Hagen ſind
dadurch weſentlich einfacher, als die erſteren, daß die Typen direkt,
ohne Farbe aufzunehmen, auf das Papier herabgedrückt werden, die
notwendige Färbung der Schrift aber dadurch erreicht wird, daß über
das zu beſchreibende Papier ein bei gehörigem Druck abfärbender, blau
oder ſchwarz gefärbter Bogen gelegt wird, auf den die Typen herunter-
[965]Die Schreibmaſchinen.
fallen und ſo die Schrifteindrücke hervorrufen. In dieſer Weiſe laſſen
ſich, wenn mehrere Schichten Kopier- und Schreibpapier abwechſelnd
übereinander gelegt ſind, gleichzeitig mehrere Exemplare eines Schrift-
ſtücks herſtellen.


Intereſſant iſt eine Schreibmaſchine, die nicht wie die bisher er-
wähnten das gewöhnliche Schreiben, alſo z. B. auch das Übertragen von
Stenogrammen in gewöhnliche Schrift erleichtern, ſondern das Steno-
graphieren ſelbſt erſetzen ſoll. Wir meinen nicht die Stenographier-
maſchine von Michela, die mit einer Klaviatur-Schreibmaſchine völlig
identiſch iſt, nur daß ihre ganze Einrichtung einem ſtenographiſchen
Schriftſyſtem angepaßt iſt, auch nicht die von Iſidor Mappi, die ſogar
gleich die Worte in Zeichen gewöhnlicher Schrift wiedergiebt, ſondern
den ſinnreich erdachten Gloſſographen, den der Italiener Amadeo
Gentilli im Jahre 1881 praktiſch brauchbar herſtellte. Dieſer Apparat
beſteht aus einem Syſtem von Hebeln und Flügelchen, die durch die
menſchliche Sprache ſelbſt, wenn man den einen Teil des Mechanismus
in den Mund nimmt, in Bewegung geſetzt werden. Jeder geſprochene
Laut übt eine verſchiedenartige Einwirkung auf dieſe Teilchen aus,
welche zum Ausdruck kommt, indem ihre Bewegung mechaniſch und
durch Elektrizität auf Schreibſtifte übertragen wird, die auf einer von

Figure 506. Fig. 516.

Gloſſographiſche Zeichen.


ſechs neben einander laufen-
den Linien (Fig. 516) jeden
Laut auf einem durch
Uhrwerk langſam abrollen-
den Papierſtreifen, zum
deutlichen, bei einiger Übung
leicht zu entziffernden Ab-
druck bringt. Es dürfte
einem derartigen Apparate,
der im Grunde auf dem
Prinzip des Phonographen aufgebaut iſt, wohl zweifellos eine große
Zukunft bevorſtehen, da ſeine Anwendung ja große Vorteile vor dem
Stenographieren hat. Der Stenograph braucht nicht mehr zu ſchreiben
und durch Gebrauch von Abkürzungen mit Aufwendung ſtarker geiſtiger
Kräfte einem ſchnellen Redner zu folgen, ſondern er hat die bedeutend
leichtere Aufgabe, die Worte des Redners leiſe in den Apparat nach-
zuſprechen (vgl. S. 226 ff.).


Es ſei noch erwähnt, daß es auch nicht an Verſuchen gefehlt
hat, das langwierige Notenſchreiben durch einen mechaniſchen Apparat
zu erſetzen. Man nennt einen ſolchen Mechanismus einen „Melo-
graph“.


[966]Die vervielfältigenden Künſte.

d) Der Holzſchnitt, Kupferſtich und Stahlſtich.


1. Der Holzſchnitt.

Der Holzſchnitt im weiteſten Sinne des Wortes iſt bereits im
grauen Altertum erfunden. Viele alte Holzſchnitzereien, z. B. ſolche an den
Särgen der alten Ägypter, ſind ganz entſprechend einem wirklichen
Holzſchnitt der Jetztzeit, in der Weiſe hergeſtellt, daß die Oberfläche
ebener Holzplatten durch Ausſtechen einzelner Holzteile den Anblick
einer bildlichen Darſtellung gewährt. Würde man dieſe alten Arbeiten
mit Druckerſchwärze einreiben, ſo könnte man von ihnen in gleicher
Weiſe wie von den heutigen Clichés Abdrücke nehmen. Die Erfindung
des wahren Holzſchnittes war aber erſt in dem Augenblicke gemacht,
als man mit vollem Bewußtſein dies Verfahren zum Zwecke der Ver-
vielfältigung anwandte. Es geſchah dies wohl unſtreitig zuerſt in
China, wo man wahrſcheinlich ſchon in dem ſechſten Jahrhundert
n. Chr. dieſe Kunſt anwandte, um Bücher zu drucken. Hat ſich doch
bei den Chineſen, ſelbſt als ſie unſere Methode des Buchdrucks kennen
lernten, vermöge der eigentümlichen Bildung ihrer Sprache, die eine
außerordentlich große Anzahl von Typen zum Druck verlangt, bis
zum heutigen Tage die Holzſchneidekunſt als hauptſächlichſtes Verviel-
fältigungsmittel von Druckſchriften erhalten.


Unabhängig von chineſiſchem Einfluß ſehen wir die Anfänge der
Holzſchneidekunſt im 12. oder 13. Jahrhundert ſich in Deutſchland ent-
wickeln. Die Briefmaler oder Briefdrucker, welche Heiligenbilder und
ähnliches, oft mit einigen erklärenden Zeilen verſehen, zeichneten,
dann mit Schablonen herſtellten, kamen damals wohl durch Betrach-
tung der Erfolge der Stempelſchneidekunſt auf den Gedanken, ihre
Figuren und Zeichen in Holz einzuritzen, den ſo erhaltenen vertieften
Holzſchnitt mit Leimfarbe mittels eines Reibers einzureiben und davon
Abzüge zu machen, auf denen das Bild weiß auf ſchwarzem Grunde
erſchien. Bald ging man dann zur heutigen erhabenen Holzſchnitt-
manier über, die das Bild dunkel auf weißem Grunde erſcheinen läßt,
indem man die Zwiſchenräume ausſticht und die Bildteile ſtehen läßt.
Das älteſte Bild, das mit Sicherheit als Holzſchnitt erkannt worden
iſt, ſtammt aus dem Jahre 1423 und ſtellt den heiligen Chriſtoph dar.
Mit der Erfindung der Buchdruckerkunſt gewann erſt der Holzſchnitt
die volle Bedeutung. Es fiel ihm die Aufgabe zu, die Vervielfältigung
von Bildern in gleich vollkommener Weiſe zur Ausführung zu bringen,
wie die Buchdruckerkunſt die Vervielfältigung der Schrift beſorgt, be-
ſonders aber die Werke der letzteren mit Illuſtrationen zu verſehen.
Es war für die weitere Entwicklung der Holzſchneidekunſt ſehr günſtig,
daß ſich ein Holzſchnitt direkt mitten in einen Druckletternſatz hinein-
ſetzen und mit jenem gleichzeitig abdrucken läßt, was bei Kupfer- und
Stahlſtich nicht der Fall iſt.


[967]Der Holzſchnitt.

Wenn auch am Ende des 15. Jahrhunderts die Holzſchnitttechnik
ſchon erhebliche Fortſchritte machte, wenn man auch ſchon begann, die
Schatten durch einfache Schattenſtriche oder Kreuzlagen natürlicher und
abwechslungsvoller zu geſtalten, ſo fehlte doch noch den Figuren die
Proportion, der Landſchaft die Perſpektive. Das goldene Zeitalter des
Holzſchnitts ſollte erſt im 16. Jahrhundert anbrechen, als vor allem
der große Albrecht Dürer (geboren am 21. Mai 1471 zu Nürnberg, ge-
ſtorben ebendaſelbſt am 6. April 1528) und Hans Holbein der Jüngere
die bisherige Holzſchneidetechnik zu einer wahren Holzſchneidekunſt um-
wandelten. Dürer erfand auch die Methode, zweifarbige, vielleicht auch
die, dreifarbige Holzſchnitte herzuſtellen, während zu Anfang des 16. Jahr-
hunderts von J. Dienecker noch die eigenartige Helldunkelmanier ein-
geführt wurde, bei der man zwei oder drei Holzſtöcke von ver-
ſchiedenartiger Färbung benutzt, durch deren Zuſammenwirken beim
Abdruck eine braun, grau oder rötlich getuſchte, oft auch weiß erhöhte
Zeichnung hervorgerufen werden kann.


In 17. Jahrhundert begann die ſchöne Kunſt wieder mehr und
mehr in Verfall zu geraten, teils infolge Mangels an großen Künſtlern,
die ſie pflegten und förderten, teils infolge der gewaltigen Konkurrenz
des Kupferſtichs und wohl nicht zum mindeſten infolge der Kunſt und
Wiſſenſchaft ſo ungeheuer ſchädigenden Einwirkung des dreißigjährigen
blutigen Krieges. Erſt im vorigen Jahrhundert begann ſich die Holz-
ſchneidekunſt wieder langſam zu heben. Wurde doch das Bedürfnis
nach Illuſtrationen immer größer, ohne daß dieſem der Kupferſtich
vollauf genügen konnte, da deſſen Anwendung zu koſtſpielig war. Auch
erlaubt letzterer bei weitem nicht ſo oftmaligen Abdruck, auch nicht ſo
ſchnellen Abdruck, wie der Holzſchnitt. Am Anfang dieſes Jahrhunderts
fing eine neue Blütezeit des Holzſchnitts an, als deren Vater der
Engländer Thomas Bewick anzuſehen iſt. Thomas Bewick und ſeine
Schüler ſuchten durch feinmaleriſche Behandlung des Holzſchnitts, dieſen
an Zartheit den beſten Erzeugniſſen der Kupferſtechkunſt ebenbürtig zu
machen, und führten dadurch den koloſſalen Aufſchwung der Holz-
ſchneidekunſt herbei, den dieſelbe bis in die Neuzeit genommen hat.
Bewick verbeſſerte auch die Technik der Holzſchneidekunſt, zu der wir
nunmehr übergehen wollen, indem er an Stelle des Meſſers den Grab-
ſtichel und an Stelle des Langholzes das Hirnholz einführte.


Für die Technik der Holzſchneidekunſt iſt das wichtigſte Erfordernis
ein gutes feſtes Holz, das einerſeits dem Meſſer oder Grabſtichel ge-
nügenden Widerſtand entgegenſetzt, um ein feines Arbeiten zu ermög-
lichen, andererſeits aber nicht ſo ſpröde iſt, daß es leicht dem Springen,
Platzen und Sichwerfen ausgeſetzt iſt. Am beſten erfüllt dieſe An-
ſprüche das Holz des „Buchsbaumes“, während als Erſatz-
mittel die nordamerikaniſche „Fiſchfrehme“, das „Sandelholz“ und vor
allem auch durch ſtarken Druck komprimiertes und der Haltbarkeit
wegen in beſonderer Weiſe behandeltes „Birnbaumholz“ angeſehen
[968]Die vervielfältigenden Künſte.
werden kann. In früheren Zeiten verwandte man nun Längsſchnitte
des Buchsbaumes, von oben nach unten ausgeſchnitten, das „Langholz“,
während Thomas Bewick, wie erwähnt, die Anwendung von Hirn-
holz, d. h. den Querſchnitt des Buchsbaumes einführte. Die Oberfläche
des Hirnholzes bietet eine viel größere Widerſtandskraft als die des
Langholzes dar. Allerdings liefern die Buchsbäume nur ſolche Platten
von höchſtens 24 bis 30 cm Durchmeſſer, ſodaß es bei größeren
Schnitten nötig wird, mehrere Blöcke zuſammenzuleimen.


Der Holzblock wird nun auf eine Unterlage gelegt, die nicht zu
hart iſt, vielmehr bei einer gewiſſen Feſtigkeit doch dem Hin- und Her-
ſchieben des Holzblocks keine Schwierigkeiten entgegenſetzt. Es wird
dies erfüllt durch das ſogenannte „Sandkiſſen“, ein konvexes, unten
etwas abgeflachtes Kiſſen von 15 bis 18 cm Durchmeſſer, das mit
feinem Sand gefüllt iſt (Fig. 517). Die Figur zeigt auch die Art, in

Figure 507. Fig. 517.

Sandkiſſen.


welcher die linke Hand dem Block hält, während die rechte den Stichel
führt, der vor allem durch die Thätigkeit des Daumens dieſer Hand
ſeine Arbeit verrichtet. Der Grabſtichel (ſiehe Fig. 518) beſteht aus

Figure 508. Fig. 518.

Grabſtichel.


einem Heft oder dem Griff aus poliertem
Holz und der Klinge aus hartem
Stahl, deren einzelne Teile Spitze,
Facette, Rücken und Bauch genannt
werden. Ein Augenſchirm aus Pappe
oder grüner Seide von bekannter Form wird zur Schonung der
Augen um den Kopf gelegt, da der Holzſchneider nur bei ſehr hellem
Lichte arbeiten kann.


Nicht viel jüngeren Datums, wie die europäiſche Holzſchneidekunſt,
iſt die Kupferſtecherkunſt.


2. Der Kupferſtich.

Wer dieſe Kunſt erfunden hat, iſt ziemlich in Dunkel gehüllt.
Viel Wahrſcheinlichkeit hat die Annahme, daß der Florentiner Gold-
ſchmied Maſo Finiguerra ſie zuerſt geübt hat. Sie entwickelte ſich
[969]Der Kupferſtich.
dann jedenfalls ſehr ſchnell und zwar beſonders in Deutſchland, wo
Albrecht Dürer auch dieſem Zweige künſtleriſchen Vervielfältigungs-
verfahrens ein Förderer wurde und eine der wichtigſten Kupferſtech-
manieren, die Radier- oder Ätzmanier, erfand. Einen beſonderen Auf-
ſchwung und beſondere techniſche Vervollkommnung erfuhr ſie aber in
der Zeit des großen Malers Rubens (1577 bis 1640); gelang es
doch den damaligen Meiſtern, was man bis dahin nicht gekonnt hatte,
die Farbentöne auf dem Kupferſtich durch die Art der Behandlung
zum Ausdruck und zur Unterſcheidung zu bringen. Eine Blütezeit des
Kupferſtichs brachte das vorige Jahrhundert. Aber auch in dieſem
Jahrhundert haben der Stahlſtich und die vielen anderen Verviel-
fältigungsmethoden es immer nur vermocht, auf kurze Zeit den Kupfer-
ſtich zurückzudrängen, der aus dem ſich dann erhebenden Wettkampfe
ſchließlich immer wieder als Sieger hervorging. Die Weichheit des
Holzſchnitts und die Feinheit des Stahlſtichs vereinigt heute der Kupfer-
ſtich in vollendetſter Weiſe.


Das weſentliche, was den Kupferſtich und ebenſo den Stahlſtich
vom Holzſchnitt unterſcheidet, iſt, daß bei letzterem die Figuren, die
Schatten, kurz alles, was im Druck ſchwarz erſcheinen ſoll, erhaben
ſtehen bleibt, während bei Kupfer- und Stahlſtich gerade dieſe Stellen
vertieft, mit dem Stichel oder der Nadel ausgearbeitet werden und
die weißen Stellen erhaben ſtehen bleiben.


Der Druck von Kupferſtich und Stahlſtich kann daher auch nicht
in direkter Verbindung mit dem gewöhnlichen Druck vorgenommen
werden, wie das beim Holzſchnitt der Fall iſt. Es werden vielmehr
die vertieften Stellen mit Druckerſchwärze angefüllt und dann wird
dieſe glatt abgeſtrichen und von den hochſtehenden Teilen des Stichs
ſauber abgewiſcht. Darauf wird das Druckpapier auf den Stich gelegt
und mittels Preſſe ein Abdruck genommen. Zuweilen wird auch ein
leichter Hauch von Druckerſchwärze auf den Erhöhungen belaſſen, um
eine ſattere Tönung des Stiches zu erhalten. Leider iſt der Kupfer-
ſtich gegen den Abdruck nicht ſehr widerſtandsfähig, ſodaß die ſpäteren
Abzüge an Schönheit ſehr hinter den erſten, den ſogenannten „avant
la lettre“
zurückſtehen. Der Stahlſtich erlaubt, ungefähr 12 mal ſo
viel Abzüge zu machen, wie der Kupferſtich. Doch hat man in
neueſter Zeit in der Galvanoplaſtik (vgl. S. 137 ff.) ein Mittel gefunden,
dieſem Übelſtande abzuhelfen. Noch ein anderes Verfahren, das der
Verſtählung der Kupferplatten auch auf galvaniſchem Wege iſt in den
letzten Jahren erfunden, das in noch einfacherer Weiſe den gleichen
Zweck erreichen läßt.


Wenden wir nun noch einen kurzen Blick auf die verſchiedenen
Manieren der Kupferſtecherkunſt, ſo haben wir als weſentlichſte 1) die
Linienmanier, 2) die Punktiermanier, 3) die Radiermanier oder Ätz-
kunſt, 4) die Schwarzkunſt und 5) die Aquatinta- oder Tuſchmanier
zu erwähnen.


[970]Die vervielfältigenden Künſte.

Die eigentliche Kupferſtecherkunſt iſt die Linien- oder Grabſtichel-
manier. Die Kupferplatte muß vorerſt, wie bei allen Methoden außer
der Schwarzkunſt, abſolut glatt poliert werden, da jede Unebenheit der
Platte ſich im Druck hervorheben und die Wirkung des Stiches beein-
trächtigen würde. Die Platte wird nun mit dem ſogenannten „Grunde“
überzogen, d. h. einer dünnen Schicht von weißem Wachs, Pech und
Maſtix. Auf dieſe wird, nachdem ſie mit einem Wachsſtock ſchwarz
angeräuchert iſt, die Zeichnung rot durchgepauſt. Darauf ritzt der
Stecher mit einer ſcharfen Radiernadel die Linien der Zeichnung durch
den Grund hindurch ganz leicht in das Kupfer ein, wonach der Grund
mit Terpentinöl fortgewaſchen wird. Nunmehr beginnt das eigentliche
Stechen mit dem Grabſtichel in ähnlicher Weiſe, wie wir es beim
Holzſchnitt ſahen. Die am Rande der Schnitte entſtehenden Er-
höhungen, die ſogenannten Grate, werden mit einem Schabeiſen fort-
genommen. Die Punktiermanier unterſcheidet ſich von der vorigen nur
dadurch, daß man die Konturen der Zeichnung, die Schatten und
Töne nicht durch Linien, ſondern durch Reihen von Punkten darſtellt,
die man mit Punzen oder mit fein gezackten ſtählernen Rädchen auf
auf die Platte bringt. Doch wird bei dieſer Manier die Zeichnung
direkt auf die Kupferplatte übertragen.


Bei der Ätzkunſt beginnt man in gleicher Weiſe, wie bei der Linien-
manier, ſticht aber mit der Radiernadel nach den Linien der Zeichnung
den Grund nur eben durch, ſo daß das Kupfer zum Vorſchein kommt.
Dann wird die Platte mit einem Wachsrand umgeben und mit einer
Miſchung (ungefähr im Verhältnis von 1 zu 2) von Salpeterſäure
und Waſſer, in dem etwas Kupfer aufgelöſt iſt, übergoſſen. Dieſes
Scheidewaſſer frißt das Kupfer an den Stellen, wo es freiliegt, aus
und zwar deſto tiefer, je länger es wirken kann. Man läßt es ſo
lange ſtehen, daß die Wirkung, die man vorher ausprobiert hat, gerade
hinreicht, die ſchwächſten Töne auf der Platte hervorzurufen. Dann
werden dieſe Stellen von neuem mit Ätzgrund überzogen, ſodaß beim
Wiederaufgießen des Scheidewaſſers dieſes nur auf die Stellen ein-
wirken kann, die man noch weiter vertieft wünſcht. In dieſer Weiſe
erreicht man die verſchiedenen Grade der Tönung und kann im ein-
zelnen eventuell noch nach Beendigung des Ätzens mit Grabſtichel
oder Radiernadel kleine Verbeſſerungen anbringen. Es iſt allerdings
zu betonen, daß das Ätzen keineswegs eine leichte Arbeit iſt, da es
große Schwierigkeiten hat, die Wirkung des Ätzwaſſers vorher genau
zu ermitteln.


Die ſogenannte Schwarzkunſt iſt in der erſten Hälfte des 17. Jahr-
hunderts von dem heſſiſchen Oberſtlieutenant L. v. Siegen erfunden
und hat ihren Namen daher, weil man gewiſſermaßen die Zeichnung
aus einem ſchwarzen Untergrunde herausarbeitet. Die Platte wird
nämlich bei dieſem Verfahren vor oder nach der Übertragung der
Zeichnung ganz rauh gemacht, ſodaß ſie zunächſt beim Abdruck ein
[971]Der Stahlſtich und die Lithographie.
völlig ſchwarzes Bild geben würde. Dann werden erſt die lichten
Stellen mehr oder weniger glatt geſchabt, ſodaß die Lichteffekte durch
die größere oder geringere Rauheit der Plattenoberfläche erzeugt werden
und eine einer Kreidezeichnung ähnliche Wirkung hervorbringen


Schließlich war früher die Aquatintamanier mehrfach in Gebrauch,
die wohl um die Mitte des 18. Jahrhunderts erfunden iſt. Bei ihr
wird zunächſt verfahren, wie bei der Ätzmanier, aber die Umriſſe der
Zeichnung werden nur ſchwach geätzt. Die ſo präparierte Platte wird
mit feinem Harzpulver gleichmäßig überſtreut und dann erhitzt, ſodaß
die kleinen Körnchen in den Ätzvertiefungen haften bleiben und nur
geringe Zwiſchenräume zwiſchen ſich laſſen. Darauf wird die Platte
mehrmals in gleicher Weiſe, wie bei der Radiermanier, dem Ätzwaſſer
ausgeſetzt.


Die ſonſtigen Kupferſtichmanieren beruhen immer im großen und
ganzen auf einer Verbindung mehrerer der beſchriebenen Manieren.


3. Der Stahlſtich.

Seine techniſche Behandlung iſt im Prinzip die gleiche wie die
des Kupferſtichs. Über ſeine Vorzüge iſt ſchon oben die Rede geweſen.
Wenn nun die Härte des Materials eine noch feinere Bearbeitung
zuläßt, als ſie ſich beim Kupferſtich erreichen läßt, ſo iſt doch auch
nicht zu verkennen, daß dieſe Härte des Materials nach manchen Rich-
tungen hin die Bearbeitung ſehr erſchwert. Überhaupt darf die Stahl-
platte nicht volle Stahlhärte haben, da ſie ſonſt leicht unter dem Druck
der Preſſe zerſpringen würde, ſie muß daher etwas „nachgelaſſen“
werden. Es geſchieht dieſes Erweichen, indem man dem Stahl ſeinen
Kohlenſtoffgehalt entzieht, wofür erſt im Jahre 1820 von dem Eng-
länder Heath ein Verfahren, das ſogenannte „Dekarboniſieren“, erfunden
wurde. Man kann alſo die Geſchichte der Stahlſtecherkunſt eigentlich
erſt von dieſem Zeitpunkte an rechnen. Am meiſten geübt wird dieſe
Kunſt von den Engländern. Für das Ätzverfahren iſt ein ziemlich
ſtarkes Dekarboniſieren des Stahles erforderlich, ſodaß die fertige
Platte für den Druck erſt wieder gehärtet werden muß, was durch das
auch von Heath erfundene ſogenannte „Karboniſieren“ erreicht wird.
Man kann übrigens auch von den ſo gehärteten Stahlplatten durch
Preſſen einen Abdruck in weichem Stahl anfertigen und von dieſem
Abdruck, nachdem er gehärtet iſt, wieder in weichem Stahl eine Kopie
des urſprünglichen Stiches.


e) Die Lithographie oder der Steindruck.


Einem Zufalle verdankt eine der wichtigſten Methoden der Ver-
vielfältigung, die Lithographie, wie ja auch ſo manche andere Er-
findung ihre Entdeckung. Aloys Senefelder, der Erfinder der Litho-
[972]Die vervielfältigenden Künſte.
graphie, war am 6. November 1771 in Prag geboren, verließ nach
dem Tode ſeines Vaters im Jahre 1790 die Univerſität, wo er die
Rechte ſtudiert hatte, und ergriff den Schauſpielerberuf, den er jedoch
nach zwei Jahren wieder aufgab, um ſich ganz der litterariſchen Be-
ſchäftigung zu widmen. Wenn aber auch ſeine Erſtlingsarbeiten ge-
fielen, ſo war er doch bald nicht mehr in der Lage, ſeine Werke drucken
zu laſſen, weil ihm ſeine Kunſt zu wenig Geld einbrachte. Er
faßte daher den kühnen Gedanken, ſeine Werke ſelbſt zu drucken, und
übte ſich darum zunächſt im Radieren und Ätzen einer Kupferplatte.
Da dieſe bald abgenutzt war, ging er zu billigerem Material über,
nämlich zu dem Solnhofener Kalkſtein. Einſt ſchrieb er, in Ermangelung
von Papier einen Wäſchezettel direkt mit der ſonſt als Ätzgrund be-
nutzten Flüſſigkeit, die aus Wachs, Seife und Ruß beſtand, auf den
Stein. Als er die Schrift ſpäter wieder abwaſchen wollte, kam er auf
die Idee, einmal zu probieren, wie ſie ſich gegen eine Säure verhalten
würde. Der Erfolg war erſtaunlich, die Schrift blieb erhaben ſtehen,
während der Stein an allen anderen Stellen von der Säure etwas
angegriffen und daher vertieft wurde. Es lag nun nahe, die erhabenen
Stellen mit Druckerſchwärze einzureiben und einen Abzug von ihnen
auf Papier zu machen. Im Jahre 1796 gab Senefelder den erſten
lithographiſchen Notendruck, der mittels dieſes Hochätzverfahrens her-
geſtellt war, heraus.


Der erſte Anfang zu Senefelders großer Erfindung, die auf der
verſchiedenartigen chemiſchen Verwandtſchaft von Stoffen, beſonders auf
der Abſtoßung von Fetten und Waſſer beruht, war gemacht. Der
Abdruck von ſeinen Steinen war aber ſehr ſchwer, da von der ein-
geſchwärzten Druckwalze leicht auch die tieferen Stellen des Steins
geſchwärzt wurden, weil die Höhendifferenz nur ſehr gering war. In-
folgedeſſen wurden viele Abzüge ganz ſchwarz, da die Preſſe das Papier
auch noch mit den tiefer liegenden Teilen der Platte in Berührung
brachte. Dieſe Schwierigkeit war es, die Senefelder zur Erfindung der
wahren Lithographie führte. Er kam auf die Idee, ein beſſeres, reineres
Drucken vielleicht dadurch zu ermöglichen, daß er die Schrift auf Papier
ausführte und dann mechaniſch unter Benutzung der chemiſchen Eigen-
ſchaften der angewandten Materialien auf den Stein übertrug. Er
überzog nun das Papier vor dem Schreiben mit einer Miſchung von
Stärke und Gummi, um ein beſſeres Übertragen auf den Stein zu er-
möglichen. Als er zufällig einmal ein ſolches Blatt in Waſſer tauchte,
auf dem einige Öltropfen ſchwammen, ſah er, wie letztere an der Schrift
feſthafteten, am unbeſchriebenen Papier dagegen nicht. In der richtigen
Annahme, daß Druckerſchwärze ſich wohl ähnlich, wie das Öl verhalten
würde, wurde Senefelder ſo zur vollen Entdeckung der Lithographie
geführt, die weder Hochdruck, wie Buchdruck und Holzſchnitt, noch
Tiefdruck, wie Kupferſtich und Stahlſtich iſt. Es war nicht mehr nötig,
den Stein an den unbeſchriebenen Stellen fortzuätzen, um dieſe gegen
[973]Die Lithographie und der Steindruck.
die Druckerſchwärze und den Abdruck unempfindlich zu machen, ſondern
der chemiſche Gegenſatz von Waſſer und Druckerſchwärze bewirkte bei
geeigneter Behandlung des Steines, daß nur die geſchriebenen oder
gezeichneten Stellen der Platte zum Abdruck gelangten.


Senefelder ſelbſt ſollte erſt nach langen ſorgenvollen Kämpfen,
während welcher andere bereits die Früchte ſeiner Erfindung ernteten,
eine materiell geſicherte Exiſtenz erhalten, aber vorher wie nachher
war er bemüht, ſeine Erfindung zu verbeſſern und zu erweitern und
nach allen möglichen Richtungen auszunutzen. Faſt alle Anwendungen,
die die Lithographie erfahren hat, hat bereits Senefelder erdacht
und meiſt auch ſelbſt zu einem hohen Grade der Vollkommenheit ge-
bracht. Senefelder ſtarb in München, wo ihm die bayriſche Regierung
eine feſte Stellung gegeben hatte, am 26. Februar 1834.


Das heute übliche Verfahren iſt nun etwa folgendes: Mit litho-
graphiſcher Tinte oder Farbe wird, natürlich umgekehrt wie gewöhn-
liche Schrift, die Schrift oder Zeichnung auf den Stein aufgetragen.
Die Tinte beſteht aus einer Miſchung von Seife und Fett, die,
nachdem geſchrieben oder gezeichnet iſt, durch Säurebehandlung — das
„Ätzen“ — gegen Befeuchtung mit Waſſer unempfindlich gemacht wird.
Daß beim Ätzen die freien Plattenteile etwas vertieft werden, hat bei
dieſer vollkommenen Lithographie keine prinzipielle Bedeutung mehr.
Man überzieht nun die Platte mit arabiſchem Gummi, das ſich an
allen unbeſchriebenen Stellen feſtſetzt, befeuchtet darauf die Platte und
kann ſie dann mit Druckerfarbe einſchwärzen, ohne daß von dieſer an
irgend einer nicht beſchriebenen oder bezeichneten Stelle etwas haften
bleibt, während bei einfacher Befeuchtung ohne Gummi während des
Druckens leicht einzelne Stellen allmählich trocken gelegt und dadurch
für die Druckerſchwärze empfänglich werden.


Es giebt natürlich auch in der Lithographie eine ganze Reihe von
Zeichenmanieren, die meiſt alle von Senefelder ſelbſt herrühren und von
denen wir nur einige, die Feder- oder Pinſelmanier, die Kreidemanier und
die Graviermanier erwähnen wollen. Die erſte haben wir eigentlich ſchon
eben beſchrieben; die Kreidemanier beſteht darin, daß man dem Stein durch
Reiben mit feinem Sand ein zartes Korn giebt, auf dem man mit litho-
graphiſchen, chemiſch präparierten Stiften in ähnlicher Weiſe zeichnet oder
ſchreibt, wie man Kreidezeichnungen anfertigt. Bei der Graviermanier wird
der Stein mit einem Grund aus Gummi und Ruß überzogen, in dieſen
die Zeichnung ſo tief eingraviert, daß an den bezüglichen Stellen der
Stein gerade freiliegt, darauf Leinöl über das ganze gegoſſen, das
nur an den Stellen der Zeichnung den Stein gegen Waſſer unempfindlich
und infolge deſſen gegen die Druckerſchwärze empfindlich macht. Dann
wird die Platte gereinigt, mit Waſſer befeuchtet und eingeſchwärzt,
worauf man mit dem Druck beginnen kann.


Außerdem kann man auch den Überdruck anwenden, wie es ſchon
Senefelder gethan hat, d. h. eine Zeichnung oder Schrift in Holzſchnitt,
[974]Die vervielfältigenden Künſte.
Kupferſtich, Stahlſtich oder auf Papier, wenn ſie mit einem geeigneten
chemiſchen Präparate behandelt wird oder mit geeigneter Tinte aus-
geführt iſt, auf den lithographiſchen Stein direkt übertragen. Wir
kommen dabei ſchon auf das Gebiet der zahlreichen


f) neueren Vervielfältigungsverfahren,


die im Anſchluß an die bereits beſprochenen weittragenden und viel-
umfaſſenden Methoden: Buchdruck, Holzſchnitt, Kupferſtich, Stahlſtich,
Lithographie und der ſpäter ausführlicher zu behandelnden neuen Kunſt,
der Photographie, oft unter Benutzung der neuen Fortſchritte und Er-
kenntnis der Wiſſenſchaft auf chemiſchem und galvaniſchem Gebiete
erfunden ſind. Die eben erwähnte Manier des Überdrucks von Papier
auf Stein, wodurch es jedem Menſchen ermöglicht wird, eine große
Zahl von Abzügen eines Schreibens in ſeiner eigenen Handſchrift ſich
vervielfältigen zu laſſen, gehört zu der Klaſſe derjenigen Verviel-
fältigungsarten, die man unter dem Namen


Autographie

zuſammenfaßt. Es ſind auch Verfahren erfunden, um Schrift, die mit
beſonders präparierter, autographiſcher Tinte hergeſtellt iſt, auf Metall-
platten aus Kupfer oder Zink ſo zu übertragen, daß man von dieſen direkt
Abdrücke nehmen kann (Metallographie). Hierbei ſei erwähnt, daß das Zink
an Stelle des Steins auch ſchon von Senefelder bei ſeinem Verfahren
Anwendung gefunden hat. Die aus ſeinen Verſuchen hervorgegangene
Zinkographie iſt in neuerer Zeit mehr und mehr vervollkommnet worden,
ſo daß ſie ſich heute ein recht großes Gebiet für ihre Thätigkeit erobert
hat und beſonders dem Holzſchnitt große Konkurrenz macht. Ihre
Technik iſt im Prinzip die gleiche, wie die der Lithographie, weshalb
wir nicht näher auf ſie eingehen. Die größte Verbreitung von den
autographiſchen Methoden hat die


Hektographie

erlangt. Dabei ſchreibt man mit einer Tinte, die es erlaubt, nach-
dem ſie auf in beſonderer Weiſe bereitete Maſſe abgedrückt iſt,
eine größere Anzahl Abdrücke zu nehmen. Dieſe Tinte wird aus
konzentrierter Anilinfarbe bereitet, während die Maſſe, auf die das
Schreiben abgedrückt wird, aus reiner Gelatine oder aus einer
Miſchung von Glycerin, Waſſer, Leim, Barytweiß, Zucker und
Karbolſäure beſteht. Neuerdings hat man den Hektographen ſo ſehr
verbeſſert, daß man von der Gelatinemaſſe mittels Druckes Abzüge
machen kann. Schließlich beruhen eine Reihe autographiſcher Ver-
fahren, wie die Papyrographie von Zuccato, desſelben Trypographie,
die Horographie und ähnliche darauf, das Originalpapier im ganzen
[975]Autographie, Hektographie und Farbendruck.
für die Druckfarbe durch chemiſche Behandlung undurchläſſig zu machen
und nur an den Stellen der Schrift durch eine feine Durchlöcherung
der Züge in der einen oder anderen, meiſt ſehr ſinnreichen, gleichzeitig
mit dem Schreiben erfolgenden Weiſe, einem Durchdringen der Druck-
farbe zugänglich zu machen, ſodaß man in augenfälliger Weiſe auf
untergelegtem Papier einen Abdruck vom Original erhalten kann.


Ein ganz beſonderes Gebiet, das durch die Lithographie den
größten Aufſchwung erhalten hat, bildet der


Farbendruck.

Die Chromolithographie iſt zu einem ganz unentbehrlichen Hülfsmittel
der Befriedigung künſtleriſchen Verlangens und geſchäftlicher Praxis
geworden. Dieſe Künſte beſchäftigen ſich ſowohl mit der Herſtellung von
Öldrucken, die kaum von Ölgemälden zu unterſcheiden ſind, wie mit der
Herſtellung von bunten Gratulationskarten, Geſchäftsanpreiſungen und
ähnlichen Sachen, die mehr oder weniger künſtleriſchen Sinn und ge-
ſchmackvolle Ausführung zeigen. Die Technik des Farbendrucks im
allgemeinen iſt außerordentlich ſchwierig. Die ganze Manipulation
zerfällt in drei Hauptteile: 1. die Zerlegung des farbigen Bildes in
eine Reihe von Bildern, von denen jedes einzelne nur einen Farbenton ent-
hält, die aber in dieſen Tönen übereinandergedruckt die gewünſchte mehr-
farbige Kopie geben; 2. die Herſtellung guter, feſthaftender und leicht
abdruckbarer Farben und 3. den Druck ſelbſt. Der erſte Teil läßt ſich
direkt als eine Kunſt bezeichnen, denn nur durch eine richtige Abtönung der
Einzelbilder in ihren beſonderen Farben läßt ſich eine gute Wirkung
des Geſamtbildes erreichen. Sehr ſchwierig iſt aber auch die Her-
ſtellung brauchbarer Farben.
Meiſtens müſſen dieſelben zu-
nächſt ganz beſonders präpariert
werden, damit es möglich wird,
ſie genügend fein zu verreiben.
Letzteres geſchieht mit Maſchinen,
von denen die Fig. 519 und 520
eine klare Anſchauung geben.
Der Druck ſelbſt erfolgt in der
Weiſe, daß eine Farbe über die
andere gedruckt wird, wobei es
natürlich hauptſächlich darauf an-
kommt, daß die verſchiedenen
Platten ſich an genau derſelben
Stelle des Druckblatts abdrucken,
da ſonſt eine Verzerrung und
Verwiſchung des Bildes eintreten
würde. Der Farbendruck wird
mittels gewöhnlicher Druckplatten,

Figure 509. Fig. 519.

Farbreibmaſchine mit Reiber.


[976]Die vervielfältigenden Künſte.

Figure 510. Fig. 520.

Farbreibmaſchine mit zwei Reibern.


mittels Holzſchnitts oder mittels Lithographie hergeſtellt. Die ſoge-
nannten Öl- und Aquarelldrucke werden meiſt auf lithographiſchem Wege
hergeſtellt.


Keine bedeutenden Erfolge haben bisher aufzuweiſen die ver-
ſchiedenen Methoden der


Chemitypie.

Dieſe Kunſt iſt in der erſten Hälfte dieſes Jahrhunderts von dem
Dänen Piil erfunden in der Hoffnung, dadurch einen billigen Erſatz
für den Holzſchnitt zu gewinnen. Das Prinzip iſt das folgende: Eine
Zinkplatte wird zunächſt genau ſo behandelt, wie die Kupferplatte bei
der Radiermanier (ſ. Kupferſtich S. 970), ſie wird mit dem Ätzgrund
überzogen, darauf die Zeichnung durch den Ätzgrund hindurch mit der
Radiernadel leicht in ſie eingeritzt und mit der Ätzflüſſigkeit mehr oder
weniger an den verſchiedenen Stellen, wie oben beſchrieben, vertieft.
Die ſo hergeſtellte vertiefte Zinkplatte wird vom Ätzgrund befreit und
dann mit dem „chemiſchen Metall“, einer Miſchung aus Wismut, Zinn
und Blei, die von Ätzflüſſigkeit nicht angegriffen wird, übergoſſen, das
natürlich in die Vertiefungen hineinfließt. Das chemiſche Metall wird
nun mit dem Schaber von der ganzen Platte ſo weit fortgeſchabt, daß
es nur in den Vertiefungen ſtehen bleibt. Nunmehr wird wieder eine
Ätzflüſſigkeit auf die Platte gegoſſen, die jetzt alle Teile vertieft, die
vorher erhaben ſtehen geblieben waren. Es bleibt dann das chemiſche
Metall erhaben an den Stellen der Zeichnung ſtehen, ſodaß man von
der ſo gewonnenen hochgeätzten Platte Abzüge machen kann. Dem
ganz ſinnreichen Verfahren fehlt es indeſſen bisher an der feineren
Vervollkommnung, ohne die es mit den neuen Vervielfältigungsmethoden
und mit den edlen Vervielfältigungskünſten, wie Holzſchnitt, Kupferſtich
und Stahlſtich nicht konkurrieren kann.


[977]Heliographie. — Naturſelbſtdruck. — Photographie.

Zum Schluß wollen wir noch eines bedeutenden Zweiges der ver-
vielfältigenden Künſte, der


Heliographie

Erwähnung thun. Unter dieſem Namen kann man ſämtliche Verfahren,
die auf der Photographie baſieren, wie Lichtdruck (Alberttypie), Wood-
burytypie, Phototypie, Photolithographie, Photogravüre, Dallas-
typie ꝛc. zuſammenfaſſen. Es wird aber zweckmäßiger ſein, wenn wir
dieſe Künſte erſt beſprechen, wenn wir näheres über die Erfindung und
Entwicklung der Photographie erzählt haben. Nicht übergehen wollen
wir aber den


Naturſelbſtdruck,

ein originelles Verfahren, flache körperliche Gegenſtände, wie Blätter,
Spitzen, Ornamentumriſſe und ähnliches zu vervielfältigen, das in
neueſter Zeit von dem Faktor Worring und dem Direktor der k. k. Hof-
und Staatsdruckerei in Wien, A. Auer, erfunden iſt. Es beruht auf der
Wahrnehmung, daß Gegenſtände von der erwähnten Art, wenn ſie,
zwiſchen einer Kupfer- und einer Bleiplatte liegend, einem ſtarken Druck
ausgeſetzt werden, einen außerordentlich feinen Eindruck mit allen Details
auf der Bleiplatte hervorrufen. Wird die Bleiplatte, die ſelbſt zu weich
iſt, um von ihr Abdrücke zu nehmen, auf galvaniſchem Wege verkupfert
(ſ. S. 139), ſo kann man von der ſo gewonnenen Platte beliebig viele
Abzüge nehmen, die an Feinheit außerordentliches leiſten.


g) Die Photographie.


1. Die Erfindung der Photographie.

In ſchwungvollen Verſen hat in jüngſter Zeit der Gelehrte und
Dichter auf dem Stuhle des heiligen Petrus, Papſt Leo XIII, die
Erfindung der Photographie beſungen. Es iſt dies recht charakteriſtiſch
für den ungeheuren Fortſchritt, der ſich im geiſtigen Leben, in der
Auffaſſung und Anſchauung aller Kulturvölker ſeit dem Mittelalter
vollzogen hat. Wurde doch noch im Atrium der Neuzeit, im Anfang
des 17. Jahrhunderts, der große Galilei ob ſeiner Entdeckung des
Fernrohres und der Ergebniſſe, die er mit dieſem mächtigen Forſchungs-
mittel erlangte, von dem damaligen Papſt Urban VIII ins Gefängnis
geworfen und jahrelang vom Haß der Kirche verfolgt. Wie wäre es
erſt einem Manne ergangen, den das Unglück betroffen hätte, in den
dunkeln, traurigen Zeiten des Mittelalters die wunderbare Kunſt des
Photographierens zu erfinden. Sicherlich wäre er als Hexenmeiſter
verbrannt worden.


Indeſſen iſt die Erfindung der Photographie (Lichtzeichnung) nicht,
wie ſo manche andere Erfindung, durch einen einzelnen glücklichen Zufall
oder einen glücklichen Einfall eines geiſtreichen Mannes erfolgt, viel-
Das Buch der Erfindungen. 62
[978]Die vervielfältigenden Künſte.
mehr hat ſie eine lange Geſchichte und bildet eine Kette von gedanken-
reichen Entdeckungen und Erfindungen. Sie beruht in erſter Linie auf
der chemiſchen Wirkung des Lichtes auf eine große Reihe von Sub-
ſtanzen, auf der Wirkung des Lichtes, die Farbe dieſer Subſtanzen
zu verändern, indem es die Bildung neuer oder die Trennung
beſtehender chemiſcher Verbindungen fördert. Die Erkenntnis von einem
ſolchen, die Farben gewiſſer Körper verändernden Einfluß des Sonnen-
lichtes insbeſondere iſt uralt. Gehört doch zu dieſer Gruppe von
Naturerſcheinungen, die man unter dem Namen Photochemie zuſammen-
faßt, die ſchon den älteſten Völkern bekannte Thatſache, daß manche
Stoffe, wenn ſie dem Sonnenlicht ausgeſetzt werden, allmählich aus-
bleichen. Auch die Erkenntnis, daß das Grün der Blätter und
Pflanzen eine Folge der Sonnenſtrahlung iſt, gehört in dieſes Gebiet;
dieſe Erkenntnis finden wir aber ſchon in den Werken des Griechen
Ariſtoteles ausgeſprochen. In den letzten Jahrhunderten v. Chr. Ge-
burt wurde man auch bereits darauf aufmerkſam, daß manche
Farben, beſonders Zinnoberrot, unter der Wirkung der Lichtſtrahlen
von Sonne und Mond Farbenänderungen, das Zinnoberrot z. B.
Schwärzung erleiden.


Erſt im Mittelalter ſehen wir dann eine weitere Entwickelung der
Forſchung und Erkenntnis auf dem Gebiete der Photochemie. Be-
ſondere Gelegenheit zu derartigen Entdeckungen hatten die Alchimiſten
bei ihren Verſuchen, deren Ziele ja allerdings meiſt weit ab vom Wege
der Wiſſenſchaft im Zauberland von Phantaſie und Myſtik lagen.
Sicher war ſchon im 16. Jahrhundert die ſchwärzende Wirkung der
Sonne auf Silberſalze bekannt, doch gelangte man noch nicht zur
vollen Einſicht, daß das Licht die Urſache des Vorgangs ſei, machte
ſich vielmehr unklare Vorſtellungen von einer dahingehenden Wirkung der
Luft. Der Engländer Ray war der erſte, der im Jahre 1686 be-
ſtimmt darauf hinwies, daß z. B. das Grün der Blätter eine Folge
der Sonnenſtrahlung, nicht des Lufteinfluſſes ſei.


Der Entdecker der Lichtempfindlichkeit der Silberſalze aber war der
deutſche Arzt J. H. Schulze (1687—1744), der bei einem chemiſchen Verſuch
im Jahre 1727 bemerkte, daß ſich eine Löſung von Scheidewaſſer, Silber
und Kreide an den Stellen, die von der Sonne belichtet waren, violett-
ſchwarz färbte, während die von der Sonne abgewandten Teile weiß
blieben. Schulze unterſuchte die Erſcheinung näher und ſtellte vor
allem feſt, daß es nicht eine Wärme-, ſondern eine Lichtwirkung ſei,
indem er ſeine Löſung in die Nähe eines heißen Ofens brachte, ohne
eine Veränderung derſelben erzielen zu können. Bald fand er auch,
daß eine reine, nicht kreidehaltige, ſalpeterſaure Silberlöſung ſich unter
der Einwirkung des Lichtes ſchwarz färbte. Schulze ging aber weiter,
ſchnitt Schablonen von Schriftzügen aus, klebte dieſelben auf eine mit
Silberſalz gefüllte Flaſche und ſetzte dieſe der Sonne aus. Wurde
dann im Dunkeln die Schablone abgenommen, ſo ſah man die Buch-
[979]Die Photographie.
ſtaben ſich weiß auf dunklem Grunde abheben, da nur in den Zwiſchen-
räumen das Silberſalz durch die Sonne dunkel gefärbt war. Dieſe
erſten Lichtbilder chemiſcher Natur waren aber ſchnell vergänglich, da
jede Bewegung der Flüſſigkeit, ſowie jede weitere Belichtung dieſelben
wieder zerſtörten. Trotzdem muß man J. H. Schulze als erſten in der
Reihe der Männer nennen, die die Photographie erfunden haben.


Es folgten dann im weiteren Verlaufe des vorigen Jahrhunderts eine
ganze Reihe Entdeckungen lichtempfindlicher Subſtanzen, ſo des Chlor-
ſilbers durch Baptiſt Beccarius in Turin im Jahre 1757, der ganz ähnliche
Verſuche wie Schulze anſtellte, und anderer. Erwähnenswert iſt, daß
der berühmte ſchwediſche Chemiker Scheele (1742—1786) im Jahre
1777 zuerſt ein Fixiermittel erfand. Er bemerkte nämlich, daß das
im Lichte geſchwärzte und das unverändert gebliebene Chlorſilber ſich
verſchiedenartig gegen Ammoniak verhalten, wodurch die Möglichkeit der
dauernden Feſthaltung von Bildern, die auf Chlorſilberpapier her-
geſtellt waren, eigentlich ſchon gegeben war. Leider blieb ſeine Ent-
deckung lange Zeit unbeachtet, ſo daß Wedgwood, als er 25 Jahre
ſpäter die Schulzeſche Entdeckung in verbeſſerter Form zur Ausführung
brachte, an der endgültigen Entdeckung der Photographie gerade darum
ſcheiterte, weil er kein Fixiermittel finden konnte, nach deſſen Anwendung
er ſeine Bilder ohne Gefahr wieder dem Lichte hätte ausſetzen dürfen.


Von größter Bedeutung für die Entwicklung der Photochemie
waren die Verſuche des Genfer Gelehrten Senebier, die derſelbe im
Jahre 1782 veröffentlichte und die zur Entdeckung einer ganzen Reihe
lichtempfindlicher Subſtanzen geführt hatten. Beſonders wichtig aber
war es, daß er zuerſt die verſchiedene Wirkſamkeit der verſchiedenen
Farben auf lichtempfindliche Subſtanzen bemerkte, und dadurch der
Vorläufer des Entdeckers der Photographie in natürlichen Farben, des
Phyſikers Dr. Seebeck wurde, der in einem Anhang zu Göthes Farben-
lehre im Jahre 1810 Experimente veröffentlichte, aus denen ſich ergab,
daß grau angelaufenes Chlorſilber, ſogenanntes Silberſubchlorid fähig
ſei, bei Belichtung mit verſchiedenen Farben dieſe Farben wiederzugeben.
Seebeck entdeckte auch die chemiſche Wirkſamkeit der ſogenannten infra-
roten Wärmeſtrahlen, d. h. der Strahlen, die bei ſpektraler Zerlegung
des Lichtes dem Auge unſichtbar bleiben, aber neben den roten Teil
des Spektrums fallend, wie Wollaſton im Jahre 1802 bekannt ge-
macht hatte, dort Wärmewirkungen hervorbringen. Kurz zuvor, im
Jahre 1801, hatte der Phyſiker Ritter entdeckt, daß jenſeits des violetten
Endes des Spektrums noch Strahlen fielen, die zwar dem Auge un-
ſichtbar, aber ſtarke chemiſche Wirkungen hervorzurufen imſtande wären.
Man hat dieſe ultravioletten Strahlen als chemiſche Strahlen bezeichnet.


Inzwiſchen hatte, wie ſchon oben erwähnt, Wedgwood die Verſuche
von Schulze in veränderter Weiſe wieder aufgenommen, indem er Glas-
gemälde auf Papier oder Leder, das mit einer Silbernitratlöſung über-
ſtrichen war, durch den Einfluß des Lichtes kopierte. Doch gelang es
62*
[980]Die vervielfältigenden Künſte.
ihm und ſeinem Mitarbeiter Davy nicht, die Bilder zu fixieren, ſo daß
man dieſelben im Dunkeln aufbewahren mußte. Ein gutes Fixiermittel für
Chlorſilber, nämlich unterſchwefligſaures Natron entdeckte erſt Sir John
Herſchel im Jahre 1819, ohne daß es aber zunächſt Beachtung fand.

Figure 511. Fig. 521.

Camera obscura.


Ein wirklicher Fortſchritt war
es aber, daß Wedgwood auf
die Idee kam, die Bilder der
Camera obscura zu photo-
graphieren, wenn dieſer Ver-
ſuch auch mißlang, weil die
Lichteindrücke in dieſem Falle
zu ſchwach, d. h. ſeine licht-
empfindlichen Subſtanzen zu
wenig empfindlich waren. Doch
war damit immerhin die An-
regung gegeben, die Camera
obscura
zu photographiſchen Verſuchen zu verwenden. Die Wirkungs-
weiſe der letzteren iſt aus Fig. 521 erſichtlich. Im Jahre 1589 machte
Porto in einer neuen Ausgabe ſeines Werkes auf die Vorteile einer
Camera mit Linſe oder Hohlſpiegel aufmerkſam. An die Stelle des
Spaltes trat alſo eine Sammellinſe aus Glas, das Objektiv unſerer
heutigen photographiſchen Cameras, durch die das Bild in beſtimmten,
von den Krümmungsverhältniſſen der Linie abhängigen Dimenſionen
auf die Wand geworfen wurde. (Vergl. auch S. 898 dieſes Werkes.)


2. Die Daguerreotypie.

Wenden wir uns nun der Erfindung der Daguerreotypie, des
erſten vollkommenen photographiſchen Prozeſſes zu. Das Verdienſt
der Erfindung dieſer Methode gebührt zwei Franzoſen, deren Namen
in der Geſchichte der Erfindung der Photographie vereint immer den
Ehrenplatz einnehmen werden: Nicéphore Niepce (1765 bis 1833) aus
Chalons und Louis Jacques Mandé Daguerre (1787 bis 1851) aus
Cormeilles. Niepce beſchäftigte ſich ſeit dem Jahre 1813 mit litho-
graphiſchen Verſuchen und kam dabei bald auf die Idee, den Zeichner
durch das Licht zu erſetzen. Er überzog Metallplatten mit einer
Aſphaltmiſchung, legte über dieſelben eine durchſichtige Zeichnung und
erhielt dann, wenn er Sonnenlicht darauf fallen ließ, auf der Aſphalt-
platte ein Abbild der darüberliegenden Zeichnung, deren einzelne Stellen
je nach ihrer Farbe und Kraft die Wirkung der Sonnenſtrahlen auf
die lichtempfindliche Subſtanz, den Aſphalt, mehr oder weniger hinderten.
Er fixirte dann das Bild mit einem Löſungsmittel, einem Öle, ätzte
es mit Säuren ein und erhielt ſo eine Platte, die zur Vervielfältigung
mittels Preſſe wohl geeignet war. Niepce hatte in dieſer Weiſe bereits
im Jahre 1816 die Heliographie erfunden, d. h. die Kunſt, mit Hilfe
[981]Die Daguerreotypie.
des Sonnenlichts der Vervielfältigung fähige Kopieen von Zeichnungen
und Malereien herzuſtellen. Er verſuchte aber auch, die Bilder der
Camera obscura aufzunehmen und zu fixiren, doch ſtieß er dabei auf
größere Schwierigkeiten, da die von ihm angewandten lichtempfind-
lichen Subſtanzen tagelange Expoſitionszeiten verlangten. Doch iſt eine
Zinnplatte aus dem Jahre 1825 erhalten, auf der eine Landſchaft zu
ſehen iſt, die Niepce mittels Camera obscura aufgenommen hat. Im
Jahre 1829 endlich vereinigte ſich Niepce mit dem Maler Daguerre,
um gemeinſam einen einfachen photographiſchen Prozeß zu erfinden.
Daguerre beſchäftigte ſich auch bereits längere Zeit mit photochemiſchen
Studien, doch hatte er wohl bis dahin namentlich die Wirkungen des
Lichtes auf phosphorescierende Subſtanzen ſtudiert. Außerdem arbeitete
er eifrig an der Vervollkommnung der Camera obscura, indem er eine von
Wollaſton 1812 erfundene Linſenkonſtruktion an die Stelle der bis dahin
üblichen bikonvexen Linſe ſetzte. Niepce teilte Daguerre ſchriftlich genau
ſein erreichtes Reſultat mit, das bereits ein völlig durchgearbeitetes
photographiſches Verfahren, den heliographiſchen Aſphaltprozeß darſtellte.


Daguerre fand nun bald, daß das Jodſilber die Subſtanz
ſei, die ſich beſonders zum Träger der Lichtwirkung eigne, doch
hatte er erſt längere Zeit nach Niepces Tode das Glück, im
Jahre 1837 durch einen Zufall einen geeigneten Entwickler für ſeine
Jodſilberplatten in dem Queckſilber zu finden, deſſen Dämpfe ein durch
Belichtung erzeugtes, aber dem Auge noch gar nicht ſichtbares Bild
zum Vorſchein zu bringen vermögen. Die Jodſilberplatten ſelbſt ſtellte
er her, indem er eine Silberplatte in Joddämpfen räucherte. Als
Fixiermittel griff er auf das oben erwähnte, von Sir John Herſchel
entdeckte unterſchwefligſaure Natron oder auf eine Kochſalzlöſung
zurück. Das weſentliche an Daguerres Erfindung war, daß man
nunmehr in wenigen Minuten Gegenſtände mit Hilfe einer Camera
obscura
aufnehmen, und das noch gar nicht oder kaum ſichtbare Bild
entwickeln und nachher fixieren konnte. Im Jahre 1839 kaufte der
franzöſiſche Staat Daguerre und ſeinem Mitarbeiter Iſidore Niepce,
dem Sohne Nicéphore Niepces, ihr Geheimnis für eine lebensläng-
liche Rente von 6000, reſp. 4000 Francs ab.


Für Perſonenaufnahmen dauerte die Expoſitionszeit, d. h. die
Dauer der Aufnahme allerdings noch zu lange, da ein Menſch un-
möglich etwa 5 bis 10 Minuten ſtillhalten kann. Aber ſehr bald wurde
auch dieſe Schwierigkeit überwunden, als Profeſſor Petzval in Wien
eine lichtſtarke Porträtlinſe berechnete, deren Ausführung durch den
Optiker Voigtländer im Jahre 1840 es ermöglichte, Porträts im Ver-
laufe von etwa ½ bis 1 Minute aufzunehmen. Da die hellen Queck-
ſilberdämpfe ſich beſonders an den vom Licht am meiſten getroffenen
und daher urſprünglich etwas geſchwärzten Stellen niederſchlagen, ſo
wird ein poſitives Bild bei einer Daguerreotypie, wie man eine ſolche
Photographie auf Metall nennt, erzeugt, indem an den den hellen Stellen
[982]Die vervielfältigenden Künſte.
des photographierten Objektes entſprechenden Partieen der Kopie die
meiſten weißen Queckſilberteilchen haften. Das Bild bekam aber durch
das Queckſilber einen etwas harten und kalten Ton und war außerdem
noch nicht dauernd haltbar. Dies wurde erſt durch Fizeaus Ver-
goldungsmethode im Jahre 1840 erreicht, die gleichzeitig dem Bilde
einen ſchönen, warmen Ton verlieh. Die fertige Platte wurde mit
einer verdünnten Chlorgoldlöſung übergoſſen und dieſe Löſung ſchnell
über Spiritus zum Kochen gebracht. Das Chlor verbindet ſich dann mit
dem Silber der Platte und das Gold legt ſich als feiner, ſchön wirkender
Überzug über das ganze. Nach kurzer Zeit ſchon muß man die Platte
herausnehmen und in kaltem Waſſer abwaſchen, worauf ſie ſehr wider-
ſtandsfähig geworden iſt. Die Daguerreotypie erfuhr im Jahre 1841
noch eine weitere Vervollkommnung durch die Entdeckung von Claudet,
daß die Anwendung von Jodchlor ein beſchleunigteres Aufnahmeverfahren
erlaubt, ſodaß man mit wenigen Sekunden Expoſitionszeit ausreicht.


3. Die Talbottypie und die moderne Photographie.

Kurz vor der Veröffentlichung des Verfahrens von Daguerre legte
der Engländer Fox Talbot am 20. Januar 1839 der Königlichen Ge-
ſellſchaft in London ein Verfahren vor, das im ganzen und großen
das Vorbild des heutigen photographiſchen Verfahrens geworden iſt.
Zunächſt handelte es ſich bei ihm allerdings noch nicht um Aufnahmen
nach der Natur mittels der Camera, ſondern er hatte nur ein Ver-
fahren erfunden, Kupferſtiche, Stahlſtiche und ähnliches mit Hilfe des
Lichtes beliebig oft zu vervielfältigen. Er legte den Kupferſtich auf
Papier, das mit Chlorſilber und ſalpeterſaurem Silberoxyd getränkt war;
in der Sonne wurde dann das Papier an allen hellen Stellen des Stichs
geſchwärzt, an den Bildſtellen blieb es mehr oder weniger weiß, ſodaß

Figure 512. Fig. 522.

Negatives Bild.


Figure 513. Fig. 523.

Voſitives Bild.


[983]Die Talbottypie und die moderne Photographie.
er ein ſogenanntes „Negativ“ erhielt. Von dieſem Negativ konnte er,
nachdem es fixiert war, eine beliebige Menge „poſitiver“ Bilder in Wieder-
holung des eben beſchriebenen Verfahrens erhalten. Fig. 522 und 523
zeigen ein ſolches negatives und poſitives Bild. Nachdem Talbot von
der Daguerreotypie Kunde erhalten hatte, verſuchte er ſie mit ſeinem
Verfahren zu verſchmelzen und auch direkt mit der Camera Photo-
graphieen auf Jodſilberpapier zu erzeugen. Das unſichtbare Bild ent-
wickelte er mit einer Miſchung von Gallusſäure und Silberſalz, wo-
durch ſich ſchwarz gefärbtes Silber an allen belichteten Stellen nieder-
ſchlägt, ſodaß wieder ein Negativ entſtand, von dem er nach ſeiner
Fixierung mit Bromkali beliebig viele poſitive Abzüge im ſogenannten
Kopierrahmen in der geſchilderten Weiſe machen konnte.


In den folgenden 50 Jahren bis jetzt ſind nun nach allen Richtungen
hin ungeheure Fortſchritte auf dem Gebiete der Photographie gemacht
worden. Die photographiſchen Apparate wurden für die verſchiedenen
Zwecke des Gebrauchs bequem eingerichtet, es wurden die mannigfaltigſten
Arten von Linſenkonſtruktionen für dieſen oder jenen Fall der Praxis
berechnet, es wurde eine große Reihe neuer Stoffe als Träger des
chemiſchen Lichtprozeſſes entdeckt, und die Entwicklungs-, Fixierungs- und
Kopiermethoden wurden mehr und mehr verbeſſert. Nur das wichtigſte
ſoll im folgenden dem Leſer mitgeteilt werden.


Die Papiernegative von Talbot erreichten nicht entfernt die Feinheit
von Daguerreotypieen. Man ſuchte daher bald nach einem paſſenderen
Träger der lichtempfindlichen Subſtanz und fand einen ſolchen in ganz
rein geputzten durchſichtigen Glasplatten. Niepce de St. Victor, einem
Neffen von Nicéphore Niepce gelang es im Jahre 1847, mit licht-
empfindlicher Subſtanz überzogene Glasplatten herzuſtellen. Er überzog
das Glas mit einer Miſchung aus Eiweiß und Jodkalium und legte
die ſo präparierte Platte in eine Silberlöſung, wodurch ſie licht-
empfindlich wurde. Die Entwicklung nach geſchehener Belichtung geſchah
durch Gallusſäure, die Fixage durch Bromkali. Die Negative wurden
dann über Chlorſilberpapier gelegt, auf dem das Poſitiv wie bei Talbot
durch Einwirkung des Lichtes hervorgerufen wurde. Ein Jahr ſpäter
erfand Blanquart-Evrard das noch jetzt gebräuchliche Albumin- oder
Eiweißpapier, das weit beſſere Kopieen giebt, als gewöhnliches Papier.
Bald wurden auch Eiſenvitriol und Pyrogallusſäure als gut ent-
wickelnde Subſtanzen entdeckt. Einen weſentlichen Fortſchritt in der
Geſchichte der Photographie bezeichnet aber die Erfindung des noch
heute viel geübten Kollodiumverfahrens durch Fry und Archer im
Jahre 1851. Das Kollodium, eine Miſchung von Schießbaumwolle
und Äther oder Alkohol, wird über die Platte gegoſſen, dieſe darauf
in eine jod- oder bromhaltige Silberlöſung getaucht, worauf ſich in
der Kollodiumſchicht Jod oder Bromſilber niederſchlagen wird, ſodaß
nun die Platte lichtempfindlich iſt. Als Entwickler wurde Eiſenvitriol
[984]Die vervielfältigenden Künſte.
oder Pyrogallusſäure, als Fixiermittel unterſchwefligſaures Natron oder
eine Cyankalilöſung genommen.


Wir wollen an dieſer Stelle das Geheimnis der amerikaniſchen
Schnellphotographen
enthüllen. Ihre Bilder ſind nämlich nichts weiter,
als unvollkommen entwickelte Negative. Man hatte die Bemerkung
gemacht, daß ſolche undeutliche Negative gegen einen dunklen Hinter-
grund gehalten ganz gute Bilder und zwar infolge des dunkeln Hinter-
grundes poſitive Bilder geben, und kam dadurch auf den Gedanken,
das Kollodiumhäutchen von der Glasplatte abzunehmen und auf
dunkle Körper, wie ſchwarzes Wachstuch, dunkles Glas oder Eiſen
aufzukleben. Man nannte die ſo entſtehenden poſitiven Bilder je nach
der Unterlage Pannotypieen, Ambrotypieen oder Ferrotypieen. Ferro-
typieen ſind die Produkte der „amerikaniſchen Schnellphotographieen“,
die die Kollodiumſchicht auf dünne, ſchokoladenfarben lackierte Blechtafeln
aufkleben und ſo in wenigen Minuten ſchon dem photographiebedürftigen
Publikum ein Abbild liefern können, während ſonſt die vollſtändige
Entwicklung, beſonders aber, wie wir ſpäter ſehen werden, die Her-
ſtellung von wirklichen Poſitiven ſehr lange Zeit in Anſpruch nimmt.


Die mannigfaltigen Unbequemlichkeiten, die das „naſſe Verfahren“,
das wir beſchrieben haben, mit ſich führte, z. B. beim Arbeiten im
Freien, auf Reiſen u. ſ. w. ließen frühzeitig Trockenplatten herſtellen, die
man bequem transportieren und auch noch längere Zeit nach ihrer
Fertigſtellung benutzen konnte. Bei den erſten Verſuchen erreichte man
aber keine genügende Haltbarkeit, vor allem aber keine ausreichende
Empfindlichkeit. Erſt Taupenot veröffentlichte im Jahre 1855 ein
brauchbares Verfahren, indem er das Kollodium mit einer Eiweißſchicht
überzog. Seine Platten konnten ſchon länger als ein Jahr liegen
bleiben, ehe ſie in Benutzung genommen wurden. Das Tanninver-
fahren von Ruſſell aus dem Jahre 1861 lieferte noch dauerhaftere und
beſſere Platten, verlangte aber immer noch eine Belichtungszeit von
etwa 1½ Minute. Erſt das Kollodiumemulſionsverfahren von Gaudin,
das derſelbe 1861 veröffentlichte und das von andern Forſchern vielfache
Verbeſſerungen erfuhr, erfüllte recht wohl die Anforderungen, die man
von einem realen Standpunkte aus an Trockenplatten ſtellen durfte.


Es beruht das Verfahren auf der Ausführung des Gedankens,
die Glasplatten ſofort mit einer lichtempfindlichen Kollodiumſchicht zu
übergießen, ſtatt erſt die mit Kollodium überzogenen Platten in einer
Silberlöſung lichtempfindlich zu machen. Es wurde dies erreicht,
indem man Kollodiumemulſionen herſtellte, d. h. eine Flüſſigkeit, be-
ſtehend aus Kollodium, in dem ſich andere Körper, in dieſem Falle
Jod- oder Bromſilber, in ungelöſtem Zuſtande fein und gleichmäßig
verteilt lange Zeit halten. Die ſo hergeſtellten Platten bleiben Jahre-
lang brauchbar und zeigen eine ziemlich ſtarke Empfindlichkeit.


An Stelle der Bromſilber-Kollodiumemulſion trat ſeit dem
Jahre 1871 die Bromſilber-Gelatineemulſion, das wunderbare Ver-
[985]Die moderne Photographie.
fahren der Jetztzeit, das der engliſche Arzt Dr. Maddox erfunden hat
und das nach manchen weſentlichen Richtungen die idealſten An-
forderungen, die man an photographiſche Leiſtungen ſtellen kann, erfüllt.
Die Bromſilbergelatine-Trockenplatten, die in Fabriken als Maſſenartikel
hergeſtellt werden, können viele Jahre aufbewahrt werden und ſind in
ſo eminentem Maße lichtempfindlich, daß die Aufnahmen mit ihnen
ſich im allgemeinen auf wenige Sekunden und ſogar bei den ſpäter
zu beſprechenden Momentphotographieen auf ganz geringe Bruchteile
der Sekunde beſchränken.


Erſt durch die immer mehr geſteigerte Lichtempfindlichkeit der
photographiſchen Platten gewann die Photographie die ungeheure Be-
deutung für die Aſtronomie, die ſie ſich in neueſter Zeit errungen hat.
Iſt es doch gelungen, Millionen von Himmelskörpern, von Sternen,
deren Helligkeit zu ſchwach iſt, um ſelbſt in den ſtärkſten Fernröhren
einen Eindruck auf das Auge hervorzurufen, wahrnehmbar zu machen,
durch eine längere Expoſition, wobei ſich die chemiſche Wirkung der
Lichtſtrahlen mehr und mehr ſtärkt, mit den neuen Trockenplatten
photographiſch zu fixieren. Und in neueſter Zeit, im letzten Jahre hat
man mit Hülfe ſolcher Platten, die man längere Zeit durch ein Uhr-
werk auf ein und dieſelbe Stelle des Himmels richtete, eine größere
Anzahl der kleinen Planeten, die zwiſchen den Bahnen des Jupiter
und Mars um die Sonne eilen, und auch manche Nebelflecke entdeckt,
deren Exiſtenz in manchen Fällen nachträglich durch direkte Beobachtung
mit lichtſtarken Fernröhren beſtätigt wurde, in andern Fällen wohl noch
lange Zeit nur durch ihr photographiſches Bild angezeigt bleiben wird.


Auch in der Erfindung von neuen Entwicklern wurden in den
letzten beiden Jahrzehnten große Fortſchritte gemacht, die beſonders
dem Trockenverfahren mit Bromſilbergelatine zu ſtatten kamen und
deſſen außerordentliche Verbreitung bis in die weiteſten Schichten des
Publikums hinein mächtig förderten. Es ſeien genannt der Eiſenoxalat-
Entwickler von Carey Lea (1877) und Eder (1879), der Hydrochinon-
Entwickler von Abney (1880), der Eikonogen-Entwickler von Andreſen
(1889) und der neue Rodinal-Entwickler.


Die Platten werden in abſolut lichtdichten
Käſten aufbewahrt und aus dieſen in einem
dunkeln Raume in die ſogenannte Kaſſette ge-
legt. Die Fig. 524 zeigt eine ſolche Kaſſette,
die in den hinteren Teil der photographiſchen
Camera eingeſchoben wird. Wenn die Thür b
geöffnet wird, kann man die Platte in den
Rahmen einlegen, in dem ſie bei geſchloſſener
Thür und herabgelaſſener Schieberplatte a kein
Lichtſtrahl treffen kann. Die Platte wird mit
der lichtempfindlichen Schicht nach der Seite
des Schiebers a zu gelegt und nach Schluß

Figure 514. Fig. 524.

Kaſſette.


[986]Die vervielfältigenden Künſte.
der Thüre b durch die in ihrer Mitte befindliche Feder feſt gegen die
Ränder des Geſtells gedrückt, ſodaß ſie keine Verſchiebungen während
der Aufnahme erleiden kann. Sobald dieſe erfolgen ſoll, wird der
Schieber a aufgezogen. Nach geſchehener Belichtung wird a wieder
zugeſchoben und die Kaſſette aus der Camera herausgenommen. Man
kann nun die Platte in der Kaſſette oder, wenn man dieſe weiter
benutzen will, in größeren Behältern, ſogenannten Wechſelkäſten, in
die man die Platte durch einen einfachen Mechanismus auch bei
Tageslicht hineinfallen laſſen kann, ohne daß das Licht Zutritt zur
Platte findet, oder in lichtdichten Käſten, in die man die Platten
im Dunkeln oder bei ſchwachem dunkelroten oder gelben Licht hinein-
legt, ſo lange aufbewahren, bis man ſie entwickeln will. Meiſt benutzen
jetzt die Photographen, die auch im Freien und auf Reiſen arbeiten
wollen, ſogenannte Doppelkaſſetten, die für die Aufnahme zweier Platten
eingerichtet ſind, und verſehen ſich mit zwei oder drei Paar ſolcher
Doppelkaſſetten.


Es iſt ſchon mehrfach davon die Rede geweſen, daß manche Manipu-
lationen des Photographen, z. B. das Entwickeln, Fixieren, das Um-
wechſeln der Platten u. ſ. w. in einem Raume, der ſog. Dunkelkammer,
erfolgen müſſen, in dem eine Lichteinwirkung auf die überaus empfind-
lichen Platten ausgeſchloſſen iſt. Glücklicherweiſe giebt es nun einige
Farben, nämlich Rot und Gelb, die photographiſch nur ſehr langſam
und ſchwach wirken. Es iſt dadurch die Möglichkeit gegeben, die Dunkel-
kammer, ohne die Platten zu beſchädigen durch ein kleines Fenſter mit
dunkelrotem oder gelbem Glas oder durch eine kleine Lampe mit Cylinder
und Glocke von eben ſolchen Farben etwas zu erhellen, ſodaß man
bequem in ihr arbeiten kann. Streng zu achten iſt aber darauf, daß
nicht durch irgend einen Spalt in der Thür oder im Fenſter oder ſonſt
woher Tageslicht in den Raum gelangt, auch muß durch einen Schirm oder
Ähnliches verhütet werden, daß die Flamme der Lampe etwa die weiße
Decke des Zimmers beleuchtet, deren Wiederſchein ſich ſehr gefährlich
erweiſen, die Platte verſchleiern oder total belichten könnte.


Figure 515. Fig. 525.

Photographiſche Camera.


Der photographiſche Apparat
ſelbſt ſetzt ſich aus folgenden
Hauptteilen zuſammen: Camera
mit matter Glasplatte, Objektiv
mit Blenden, Kaſſette mit photo-
graphiſcher Platte, Stativ. Die
Camera beſteht, wie man aus
der Fig. 525 erſieht, aus zwei
Holzrahmen i, i, deren vorderer
in einem verſchiebbaren, in der
Figur nicht ſichtbaren Brette
das Objektiv trägt, während
der hintere durch eine matte
[987]Die moderne Photographie.
Glasplatte abgeſchloſſen wird, die hochgeklappt werden kann, wenn
an ihre Stelle die Kaſſette mit der lichtempfindlichen Platte eingeſchoben
werden ſoll. Der hintere Rahmen kann mittelſt des ziehharmonika-
artigen Auszugs M auf dem unteren Schlitten n n durch Schrauben
dem vorderen Rahmen je nach der Brennweite der Objektivlinſe ſo weit
genähert oder von ihm entfernt werden, daß das vom Objektiv ent-
worfene Bild des Gegenſtandes, den man photographieren will, auf
der matten Glasplatte in ſcharfen Umriſſen zu ſehen iſt.


Wenden wir uns nun dem Objektiv zu, das an die Stelle der
kleinen Öffnung in der Camera obscura getreten iſt, ſo müſſen wir be-
züglich Bilderzeugung und Bildwirkung von Linſenſyſtemen die Leſer
auf den optiſchen Teil dieſes Buches (S. 895 ff.) verweiſen. Wir
erwähnten ſchon früher, daß dieſe optiſche Seite der Photographie
ſeit ihren Anfängen eine außerordentliche Entwicklung erfahren hat.

Figure 516. Fig. 526.

Aplanat und Blenden.


[988]Die vervielfältigenden Künſte.
Praxis und Theorie wetteiferten, neue Linſenſyſteme zu erfinden, deren
Wirkungen im allgemeinen oder für beſondere Zwecke Vorzüge vor den
bis dahin beſtehenden boten. Das Objektiv beſteht aus einer Kom-
bination mehrerer Linſen, die in eine metalliſche Faſſung eingeſchloſſen
ſind, wie aus Fig. 526 erſichtlich iſt. In derſelben bezeichnen die Namen
Flint und Crown die zu dem dargeſtellten, von Steinheil 1879 erfundenen
Gruppen-Aplanaten verwendeten Glasſorten, deren Kombination, An-
ordnung und Geſtaltung beſonders auf Erfüllung folgender Bedingungen
Rückſicht nehmen muß: 1. Beſeitigung der ſphäriſchen Aberration,
(ſiehe S. 891), 2. Beſeitigung der chromatiſchen Aberration (ſiehe S. 913)
3. Erzeugung eines Bildes von der gewünſchten Winkelweite, 4. Her-
vorbringung eines möglichſt lichtſtarken Bildes. An Stelle dieſes für
Gruppenaufnahmen beſtimmten Inſtrumentes mit ſeinen vier Linſen,
von denen je zwei zuſammengekittet ſind, erfand Steinheil ſchon 1881
eine noch günſtigere Konſtruktion, den Antiplanaten. Zwiſchen den
beiden Linſenpaaren des in Fig. 526 dargeſtellten Aplanaten ſehen wir
einen Spalt das Objektiv durchziehen, der dazu beſtimmt iſt, die
Blende aufzunehmen.


Die Blende iſt meiſt aus Metall, eine Platte von einer Form,
die aus dem unteren Teil der Figur erſichtlich iſt. In das Objektiv
geſteckt, läßt ſie Licht nur noch durch ihre mittlere Öffnung, die
in der Figur durch die Kreiſe angedeutet iſt, hindurch. Man hat
gewöhnlich ſechs verſchiedene Blenden, die ſich durch die Größe dieſer
Öffnung, wie die Figur zeigt, unterſcheiden. Der Zweck der Blenden
iſt, die ſeitlichen Linſenſtrahlen abzuhalten, die die Schärfe des Bildes
verringern, und nur den beſten mittleren Teil des Objektivs zur Wirkung
kommen zu laſſen. Was man ſo an Schärfe des Bildes gewinnt,
büßt man zum Teil an Helligkeit ein, ſodaß man in der Wahl der
Blenden in erſter Linie von den herrſchenden Lichtverhältniſſen ab-
hängt. Die Blenden bewirken auch eine gleichmäßigere Lichtverteilung
im Bilde, als ſie ohne Blenden erreicht wird.


Es könnte dem Leſer, der von dem Kampfe der Linſenfernröhre
mit den Spiegelteleſkopen in der aſtronomiſchen Technik gehört hat,
auffallen, wenn wir nicht erwähnten, daß auch in der photographiſchen

Figure 517. Fig. 527.

Der Hohlſpiegel im Dienſte der Photographie.


Technik Verſuche gemacht
ſind, das Linſenobjektiv
durch einen Hohlſpiegel zu
erſetzen. Fig. 527 zeigt eine
derartige Konſtruktion einer
photographiſchen Camera
von dem Amerikaner Draper.
A iſt der an der Vorder-
wand der Camera befind-
liche elliptiſche Hohlſpiegel, auf den durch die ſeitliche Öffnung direkt
die Strahlen von dem Objekt, das photographiert werden ſoll, fallen.
[989]Die moderne Photographie.
Sie werden vom Spiegel reflektiert und entwerfen das Bild F auf der
an der andern Seite der Camera eingeſchobenen photographiſchen
Platte B. Praktiſche Anwendung haben ſolche Objekive aber nur für
Spezialfälle gefunden.


Das Stativ iſt gewöhnlich ein dreibeiniges Geſtell, auf das die
Camera aufgeſchraubt wird. Während es für Atelierzwecke maſſiv
gearbeitet werden kann, muß es für die Zwecke eines reiſenden oder
Landſchafts-Photographen möglichſte Leichtigkeit mit der nötigen
Feſtigkeit verbinden. Man muß das Stativ hoch und niedrig und
auch ſo ſtellen können, daß die Camera, wenn ſie auf das Stativ auf-
geſchraubt iſt, nicht horizontal, ſondern ſchräg ſteht. Man hat be-
ſonders in neueſter Zeit Stative für Liebhaber der Photographie kon-
ſtruiert, die mit außerordentlicher Kompendiöſität und Leichtigkeit eine
große Feſtigkeit der Aufſtellung verbinden.


Wie photographiert man denn nun eigentlich? Nehmen wir
an, er habe den eben beſchriebenen Apparat zuſammengeſetzt und
aufgeſtellt und auch lichtempfindliche Trocken-Gelatine-Platten, die er
fertig gekauft hat, in Kaſſetten, wohlverwahrt gegen neugierige Licht-
ſtrahlen, zur Hand. Er nimmt nun die Kappe, die gewöhnlich das
Objektiv bedeckt, ab und verſtellt dann den hinteren Teil der Camera,
ſowie auch das Stativ in Höhe und Entfernung ſo lange, bis er auf
der oben erwähnten Glasplatte das Bild des zu photographierenden
Gegenſtandes in gewünſchter Größe deutlich und ſcharf ſieht. Weder
darf das Licht direkt in den Apparat hineinſcheinen, noch im all-
gemeinen voll auf das Objekt, das photographiert werden ſoll, fallen.
Iſt die Einſtellung erfolgt, wobei der Photograph, um das Bild
auf der Glasplatte beſſer ſehen zu können, ſeinen Kopf und den hinteren
Teil der Camera mit einem ſchwarzen Tuche bedeckt, ſo ſetzt er die
Kappe wieder aufs Objektiv, klappt die matte Glasplatte hoch, ſchiebt
an ihrer Stelle die Kaſſette ans Ende der Camera, zieht die eine Seite
derſelben, die die lichtempfindliche Schicht der Platte bedeckt, auf und
nimmt dann, je nach den äußeren Verhältniſſen, die Klappe eine längere
oder kürzere Zeit vom Objektiv fort. Es wird in dieſer Zeit, da die
Schiebevorrichtung ſo eingerichtet iſt, daß die lichtempfindliche Schicht
genau an die Stelle kommt, wo vorher auf dem matten Glas das
Bild entworfen wurde, auf der photographiſchen Platte ein negatives,
vorläufig noch unſichtbares Bild hervorgerufen. Der Photograph
ſchiebt nun die Kaſſette, während ſie noch in der Camera iſt, wieder
zu, nimmt ſie heraus und geht mit ihr in die Dunkelkammer. Mit
einer oder mehreren der oben erwähnten Subſtanzen übergießt er nun
die in eine Schale gelegte Platte und läßt die Flüſſigkeit ſo lange über
die Platte hin- und herfließen, bis er bei dem matten Scheine ſeiner
Lampe das Bild völlig entwickelt ſieht. Darauf wird die Platte mit
Waſſer tüchtig abgeſpült und z. B. in eine unterſchwefligſaure Natron-
löſung gelegt, d. h. fixiert. Hat ſie nur kurze Zeit darin gelegen, ſo
[990]Die vervielfältigenden Künſte.
iſt die Fixage fertig; die noch nicht vorher vom Licht reduzierten Silber-
ſalze ſind fortgenommen, ſodaß die Platte nunmehr dem Licht ausgeſetzt
werden kann, ohne weitere Veränderungen zu erleiden. Die Entwicklung
iſt eine keineswegs leichte Manipulation, man muß bei ihr ſehr vorſichtig
und umſichtig ſein, da man es ſelten einmal mit einem „Normalbild,“
d. h. einer gerade lange genug belichteten Platte zu thun hat, ſondern
meiſt oder wenigſtens oft eine Unter- oder Überexpoſition, d. h. eine
zu kurze oder zu lange Belichtung ſtattgefunden hat. Doch wollen wir
hier auf dieſe techniſchen Einzelheiten nicht näher eingehen. Die fixierte
Platte wird jetzt tüchtig gewaſchen, um alle Unreinlichkeiten fortzuſchaffen,
das Negativ iſt fertig.


Es handelt ſich nun darum, von dieſem Negativ poſitive Abzüge
zu fertigen. Das Negativ wird, wie ſchon früher erwähnt, nachdem
es längere Zeit in laufendem Waſſer abgewaſchen iſt, in einem Holz-
rahmen, dem „Kopierrahmen“, über ein in lichtempfindliche Silberlöſung
getauchtes Papier gelegt. Der Rahmen wird ſo lange dem Lichte
ausgeſetzt, bis dieſes auf dem Papier, das dem Negativ entſprechende
Poſitiv hervorgerufen hat. Man kann auch ſchon vorher mit der Be-
lichtung aufhören, und den letzten Teil derſelben durch eine dem beim
Negativ angewandten Verfahren der Entwicklung ähnliche Methode
fertig entwickeln. Um einen ſchöneren Ton zu erzielen und die Bilder
dauerhafter zu machen, kommt nun das Poſitiv, das in der Dunkel-
kammer aus dem Kopierrahmen genommen iſt, in ein Goldbad, das
in 1000 Teilen deſtillierten Waſſers etwa ein Teil Chlorgold enthält.
Dann wird das Bild in unterſchwefligſaurem Natron fixiert, mehrere
Stunden gewaſchen, getrocknet, auf einen Karton geklebt und mit einer
Satiniermaſchine (vergl. Erfindung des Papiers, S. 931) geglättet. Das
Bild iſt fertig, bis auf die eventuelle „Retouche“. Die Retouche, die den
Zweck hat, noch einzelne Feinheiten herauszubringen und Härten zu
mildern, erfolgt entweder im fertigen Poſitiv, indem man mit Pinſel
und Tuſche arbeitet, oder aber neuerdings meiſt ſchon auf dem Negativ,
indem man mit dem Bleiſtift vorſichtig die gewünſchten Verbeſſerungen
anbringt. In neuerer Zeit ſind Photographieen auf Platinpapier ſehr
in Aufnahme gekommen, die eine große Ähnlichkeit mit einem Stahl-
ſtich zeigen.


Es ſei erwähnt, daß das Kopieren auch bei elektriſchem Licht vor-
genommen wird, wenn auch beim Poſitivprozeß künſtliches Licht weniger
zur Anwendung kommt, wie bei dem Negativprozeß. Die Verſuche,
künſtliches Licht zum Photographieren zu verwenden, datieren ſchon
aus den vierziger Jahren. Praktiſchen Eingang fand die Anwendung
elektriſchen Bogenlichtes in der Photographie erſt ſeit dem Jahre 1876,
wo van der Weyde geeignete Einrichtungen zu dieſem Zwecke erſann. Die
Photographie bei elektriſchem Licht iſt beſonders wichtig für Inſtitute, die
auf photographiſchem Wege Pläne, Zeichnungen und Karten vervielfältigen,
da ſie hierdurch in den Stand geſetzt ſind, auch bei ſchlechtem Wetter und in
[991]Die Momentphotographie.
ungünſtiger Jahreszeit zu arbeiten, und da ſie außerdem bei Anwendung
künſtlichen Lichtes die günſtigſte Dauer der Expoſition beſſer beſtimmen
können, wie bei Tageslicht. Nächſt dem elektriſchen Licht hat Magneſium-
licht als künſtliche Lichtquelle viel Verwendung gefunden. Metalliſches
Magneſium verbrennt ſehr intenſiv und entwickelt dabei beſonders ſtark
photochemiſch wirkende Strahlen. Einen großen Aufſchwung nahm die
Photographie bei Magneſiumlicht erſt ſeit dem Jahre 1883, als J.
Gaedicke und A. Miethe in Berlin Magneſiumpulver einführten, das
das ſogenannte Magneſiumblitzlicht erzeugt. Es verbrennt dieſes und
ähnliche ſpäter erfundene Magneſiumpulver ſo ungeheuer ſchnell und
intenſiv, daß es möglich iſt, bei ihrem Aufflammen ſogar Momentauf-
nahmen zu machen, über die wir gleich näheres berichten werden. Für
die Aufnahme in oder von dunklen Räumen, von Höhlen u. ſ. w. iſt
das Magneſiumblitzlicht von großer Wichtigkeit.


4. Die Momentphotographie.

Die Momentphotographie hat es ermöglicht, ſchnell veränderliche Vor-
gänge, ſchnell ſich bewegende Tiere oder lebloſe Gegenſtände zu photo-
graphieren. Wenn auch ſchon Daguerre es verſucht hat, bewegliche
Körper photographiſch aufzunehmen, ſo können wir die Geburt der
Momentphotographie erſt von der Zeit an rechnen, wo die Einführung
der Bromſilber-Gelatine-Platten dem Photographen ſo lichtempfindliches
Material in die Hand gab, daß er in ganz geringen Bruchteilen der
Sekunde, z. B. in 1/1000 Sekunde ein brauchbares Bild ſchnell beweglicher
Gegenſtände aufzunehmen vermochte. Das weſentliche Erfordernis zur
Momentphotographie iſt der Beſitz eines guten Momentverſchluſſes, der
vor, hinter oder in der Mitte des Objektivs angebracht, es erlaubt,
die gewünſchte kurze Belichtung mechaniſch erfolgen zu laſſen. Eine
vierte Art der Anbringung des Momentverſchluſſes iſt die Anbringung
desſelben vor der photographiſchen Platte. Einen derartigen Verſchluß,
bei dem ſich ein Spalt vor der Platte vorbeibewegt, hat der fran-
zöſiſche Aſtronom Janſſen zu ſeinen Sonnenauf-
nahmen 1/2000 Sekunden und vielfach auch An-
ſchütz bei ſeinen berühmten Momentbildern benutzt.


Um die verſchiedenen Erforderniſſe zu erfüllen,
die an einen Momentverſchluß geſtellt werden,
gleichmäßige Belichtung aller derjenigen Stellen
der Platte, verſchieden kurze und leicht konſtatier-
bare Belichtungszeiten je nach Wunſch, Fortfall
jeglicher Erſchütterung des ganzen Apparates
während des Öffnens des Momentverſchluſſes,
hat man die verſchiedenartigſten Momentver-
ſchlüſſe erfunden, von denen wir nur einige
gebräuchliche beſchreiben wollen. Es ſei noch

Figure 518. Fig. 528.

Fallbrett.


[992]Die vervielfältigenden Künſte.
vorher erwähnt, daß in der Praxis die Verſchlüſſe die häufigſte An-
wendung finden, die vor dem Objektiv angebracht werden, weil dabei
an dem übrigen photographiſchen Apparat gar keine Änderung vor-
genommen zu werden braucht. Fig. 528 zeigt einen als „Fallbrett“
bezeichneten Momentverſchluß. In einem metalliſchen Rahmen bewegt
ſich ein Holzbrett mit einer kreisrunden Öffnung von oben nach unten.
Das Herabfallen des Brettes wird durch pneumatiſche Auslöſung be-
wirkt, indem man auf den in der Figur ſichtbaren Gummiball drückt.
Der Fall erfährt noch eine Beſchleunigung durch Gummibänder, die
von unten her das Brett halten und, wenn dasſelbe hochgezogen iſt,
die Tendenz haben, es nach unten zu ziehen. Das Objektiv läßt nun
nur Licht hindurch, wenn die kreisrunde Öffnung an ihm vorbeiſauſt.
Da der Vorübergang einer kreisrunden Öffnung, wie eine anſchauliche
Überlegung zeigt, eine nicht ſehr gleichmäßige Belichtung hervorruft,
ſo macht man oft die Öffnung auch von anderer, günſtigerer Form.


Figure 519. Fig. 529.

Momentverſchluß nach Pritſchow und Steinheil.


Eine ganz andere Art Moment-
verſchluß zeigt uns Fig. 529. Die-
ſer Verſchluß, von Pritſchow und
Steinheil im Jahre 1888 erfunden
und als Univerſal-Objektivver-
ſchluß bezeichnet, wird vor dem
Objektive oder auch zwiſchen dem
Linſenſyſtem angebracht und ver-
urſacht gar keine nachteilige Er-
ſchütterungen. Es bewegen ſich
bei dieſem Apparat zwei metalliſche
Schieber, die beide kreisrunde
Öffnungen haben, an einander
vorüber, ſobald der Verſchluß
durch Drücken auf den Gummi-
ball aus gelöſt wird. Die Aus-
löſung kann aber erſt dann er-

Figure 520. Fig. 530.

Rotierender Momentverſchluß.


[993]Die Momentphotographie.
folgen, wenn der Knopf a durch Drehen in eine beſtimmte Stellung
gebracht iſt. An dem Knopfe b kann man die Geſchwindigkeit der
Plattenbewegung regulieren und zwar ſo, daß der Verſchluß Belichtungs-
zeiten von mehreren Sekunden bis herab zu 1/200 Sekunde geſtattet.


Es ſei ſchließlich noch ein rotierender Momentverſchluß erwähnt,
wie ihn Fig. 530 veranſchaulicht. Die Scheibe A verdeckt für gewöhnlich
das Objektiv, das ſich hinter ihr bei B befindet. In der Scheibe iſt
aber ein rechtwinkliger Schlitz C C oder ein kreisſektorförmiger Aus-
ſchnitt D D angebracht. Wird die Scheibe um ihre Axe O in Rotation
verſetzt, ſo erfolgt die Belichtung in dem Moment, wo ſich der Schlitz
oder der Ausſchnitt an dem Objektiv vorbeibewegt.


Welche wunderbaren Erfolge die Momentphotographie in jüngſter
Zeit aufzuweiſen hat, iſt allgemein bekannt. Erſt durch ihre Anwendung
vermögen wir die Flugbahn eines Geſchoſſes, die Einzelbewegungen
von Menſchen und Tieren zu ſtudieren, Aufnahmen von Volksſcenen
und Landſchaftsbildern zu machen, die fortwährendem Wechſel unter-
liegen, ſo ſchnell bewegte Objekte, wie Sternſchnuppen und ſo intenſiv
helle Objekte, wie die Sonne, zu photographieren. Kurz, die Dienſte,
die die Momentphotographie ſpeziell der Wiſſenſchaft leiſtet, ſind ganz
unſchätzbare. Wir haben in der Fig. 531 eine zwar nicht ganz ſcharfe,
aber recht intereſſante Momentphotographie wiedergegeben, die einen

Figure 521. Fig. 531.

Momentaufnahmen.


Mann, der über ein Seil ſpringt, in neun Momenten der Aktion dar-
ſtellt. Es iſt dieſe Aufnahme nach einem von Marey in Paris im
Jahre 1883 angegebenen Verfahren durch neunmalige Vorbeibewegung
des Momentverſchluſſes auf einer einzigen Platte gemacht.


Wir haben früher erwähnt, daß die verſchiedenen Farben ſehr
verſchieden auf die photographiſchen Platten wirken, wodurch bei der
Reproduktion farbiger Gegenſtände eine dem Original unähnliche Ver-
teilung der Helligkeit im Bilde entſteht. Es wurden daher viele Ver-
Das Buch der Erfindungen. 63
[994]Die vervielfältigenden Künſte.
ſuche gemacht, orthochromatiſche Bilder herzuſtellen, die die einzelnen
Farben zwar nicht farbig, aber mit einer ihrer wahren Helligkeit ent-
ſprechenden Intenſität, wiedergeben ſollten. Eine gute Löſung fand die
Aufgabe erſt durch die Einführung der farbenempfindlichen Platten, deren
Herſtellung beſonders durch die Arbeiten von Vogel Anfang der achtziger
Jahre einen Aufſchwung erhielt. Es gelang, durch Beimengung von
Farbſtoffen zu den Emulſionen Trockenplatten herzuſtellen, die auch
für die ſonſt photochemiſch wenig wirkſamen Strahlen, wie rot und
gelb, eine ſtarke Empfindlichkeit zeigen.


Figure 522. Fig. 532.

a) Aufnahme mittels Dr. Miethes telephotographiſchen Objektivs.
(Diſtanz der Camera von der Brücke 350 m.)


[995]Die Photographie in natürlichen Farben. — Die Telephotographie.
5. Photographie in natürlichen Farben.

Ein weiterer Fortſchritt auf dem Gebiete der Photographie wurde
im Jahre 1891 gemacht, als Lippmann das Problem löſte, die Farben als
Farben zu photographieren und zu fixieren. Das Problem hatte vorher
ſeit den Seebeckſchen Verſuchen im Jahre 1810 verſchiedenartige, aber
immer nur unvollkommene Löſungen gefunden. Erſt Lippmann gelang
es, ein Prinzip, das ſchon Zenker im Jahre 1868 ausgeſprochen hatte,
zur praktiſchen Verwirklichung zu bringen. Wir müſſen uns hier darauf
beſchränken, anzugeben, daß Lippmann ſeinen Erfolg, z. B. das Spektrum
in ſeinen natürlichen Farben zu photographieren, in der Weiſe erreicht,
daß das Licht einerſeits direkt auf die völlig durchſichtige und kornfreie
empfindliche Schicht fällt, andererſeits indirekt, indem es von einem
dahinter befindlichen Queckſilberſpiegel reflektiert wird. Es entſtehen
dann Interferenzerſcheinungen, die Anlaß zu farbigen Bildern geben.


6. Die Telephotographie.

In allerneueſter Zeit iſt es auch gelungen, photographiſche Auf-
nahmen aus großer Entfernung in erheblicher Größe des Objekts zu
machen. Mit Hülfe einer Fernrohrkombination war das freilich ſchon
immer möglich, aber derartige komplizierte Apparate können natürlich

Figure 523. Fig. 533.

b) Vergleichs-Aufnahme mittels eines gewöhnlichen aplanat. Objektives vom ſelben
Standpunkte aus.


63*
[996]Die vervielfältigenden Künſte.
nur in den ſeltenſten Fällen Verwendung finden. Ein photographiſches
Objektiv, das größere Abbilder von Gegenſtänden, die einige hundert
Meter entfernt ſind, geben ſoll, hatte eine ſehr große Brennweite, ſo
daß die Camera ganz unförmliche Dimenſionen annehmen würde. Erſt
Miethe in Potsdam gelang es im Jahre 1891 ein telephotographiſches
Objektiv zu konſtruieren, das die erwähnten Übelſtände beſeitigt. Die
beiden Aufnahmen des Münchener Bürgerbräu in Potsdam (Fig. 532 u. 533)
mit einem Mietheſchen Teleobjektiv und mit einem gewöhnlichen apla-
natiſchen Objektiv illuſtrieren die Vorzüge der Telephotographie in
draſtiſcher Weiſe. Es betrug dabei die Auszugslänge der Camera nur
28 cm, während die Entfernung des Objektes vom Apparat 350 Meter
ausmachte. Auch Steinheil und Dallmeyer haben Apparate konſtruiert,
die günſtige Reſultate auf dem Gebiete der Telephotographie ergeben
haben.


7. Die Vergrößerung von Photographieen.

Von ſehr großer Wichtigkeit ſowohl für die direkten Zwecke der
Photographie, wie auch beſonders für Zwecke der mechaniſchen
Reproduktion auf photographiſchem Wege iſt die Technik der Ver-

Figure 524. Fig. 534.

Skioptikon.


größerung von Photographieen. Es dienen dazu Vergrößerungs- oder
Projektions-Apparate, wie Fig. 534 einen ſolchen, das ſog. Skioptikon
darſtellt. Der vordere Teil der Figur iſt im Durchſchnitt, der hintere
[997]Vergrößerung von Photographieen. — Das photograph. Druckverfahren.
perſpektiviſch gezeichnet. Im Behälter S befindet ſich das durch t ein-
gegoſſene Petroleum, das zwei breite, ſchief gegen einander geneigte
Dochte bei E' ſpeiſt. C iſt der Ventilationsraum, I der Abzug. H iſt
der auf- und niederzuklappende Verſchlußdeckel, an deſſen innerer Seite
ein Reflektor angebracht iſt. Das Licht fällt durch die Kondenſations-
linſen p und q auf das hinter den federnden Metallring o o' geſteckte Bild.
Dieſes muß durchſichtig ſein; infolgedeſſen muß man für ſolche Zwecke
Poſitive auf Glas, ſtatt auf Papier, ſogenannte „Diapoſitive“ herſtellen.
a b c d e f g iſt das Doppelobjektiv, mittels deſſen das Bild mehr oder
weniger vergrößert auf eine gegenüberliegende Wand oder auf eine an
deren Stelle befindliche photographiſche Platte geworfen wird. Das
Skioptikon und ähnliche neuere Apparate ſind Vervollkommnungen der
Laterna magica.


8. Das photographiſche Druckverfahren.

Daß die Kunſt, die ſo naturgetreue Bilder lieferte, bald nach ihrer
Erfindung in den Dienſt der mechaniſch vervielfältigenden Künſte ge-
ſtellt wurde, iſt nur natürlich. Das Problem, photographiſche Druck-
platten herzuſtellen, beſchäftigte viele Geiſter und hat dementſprechend
viele Löſungen gefunden. Die neueren Methoden, deren Geſamtheit
unter dem Namen Heliographie oder Lichtdruck zuſammengefaßt werden
kann, zerfallen in drei Hauptgruppen. Entweder ätzt man das photo-
graphiſche Bild, ähnlich wie ein gezeichnetes (ſ. S. 976) in eine
Kupfer- oder Zinkplatte z. B. ein, oder man formt das photographiſche
Bild, dem man durch beſondere Manipulationen das Anſehen eines
Reliefs gegeben hat, ab, oder man ſtellt auf phyſikaliſch-chemiſchem
Wege, in der Art des lithographiſchen Verfahrens eine druckfertige
Kopie her. Auf dieſe Prinzipien laſſen ſich die meiſten heliographiſchen
Verfahren, wie Photozinkographie, Phototypie, Photogravüre, Wood-
burytypie, Stannotypie, Photolithographie und ähnliche zurückführen,
die einzeln zu erörtern uns zu weit führen würde. Wir wollen nur
eines der intereſſanteſten Verfahren, den Woodbury- oder Reliefdruck
kurz betrachten. Er ſtützt ſich auf die merkwürdige Eigenſchaft der
Chromgelatine, nach der Belichtung an den belichteten Stellen ſeine
ſonſtige Quellbarkeit in kaltem Waſſer und ſeine Löslichkeit in warmem
Waſſer zu verlieren. Man legt eine Platte mit Chromgelatine unter
das Negativ, ſodaß auf jener ein Poſitiv entſteht. Wäſcht man dieſes
ſtark mit warmem Waſſer, ſo werden alle nicht belichteten Stellen fort-
geſpült, und ein poſitives Relief bleibt zurück, in dem ſich die ver-
ſchiedenen Helligkeitsgrade des photographierten Objektes als allmähliche
Übergänge von Höhen und Tiefen markieren. Woodbury übertrug
nun dieſe Reliefs durch ſtarken Druck auf Bleiplatten, von denen er
dann direkt oder indirekt Abzüge machen konnte. Neuerdings werden
[998]Die vervielfältigenden Künſte.
ſolche Reliefs direkt zu Druckplatten umgeſtaltet, indem man Stanniol
über ſie legt, dieſes feſt andrückt, ſodaß es ſich ganz den Formen des
Reliefs anſchmiegt, und die ſo gewonnene Platte galvaniſch verkupfert.
Dieſes Verfahren nennt man Stannotypie.


Seit der Lippmannſchen Erfindung der Farbenphotographie ſind
wir der Möglichkeit, farbige Kunſtwerke, Ölgemälde und ähnliches
naturgetreu in ſeinen Farben zu reproduzieren, bedeutend näher gerückt
und dürfen auf eine baldige fruchtbare Ausnutzung ſeiner Entdeckung
auch nach dieſer Richtung hin hoffen.


Die Photographie iſt heutigen Tages zu einem der wichtigſten
Hülfsmittel techniſcher Thätigkeit und wiſſenſchaftlicher Forſchung ge-
worden und gleichzeitig zu einer Quelle reinſten Vergnügens für einen
großen Teil der Menſchheit.

[[999]]

Appendix A Regiſter.



[[1020]]

Appendix B Regiſter der Abbildungen.



[]

Appendix C

Stereotypendruck von Hallberg \& Büchting in Leipzig.


[][][]
Notes
*)
Näheres hierüber unter optiſche Inſtrumente.
*)
Vgl. S. 28.
*)
Die Arbeit, deren eine Dynamomaſchine fähig iſt, muß natürlich auch
gemeſſen werden können. Man mißt dieſe Arbeitsfähigkeit bei den Motoren, wie
S. 59 geſagt worden iſt, mit Pferdeſtärken. Dieſe Einheit muß auch zur Ver-
gleichung der elektriſchen Maſchinen anwendbar ſein. Dasjenige, wodurch dieſe
Arbeit geleiſtet wird, der elektriſche Strom iſt in Bezug auf ſeine Leiſtungsfähigkeit
bekannt, wenn man ſeine Spannung in Volts und ſeine Stromſtärke in Ampères
kennt. Wenn wir z. B. einen Strom von 736 Volt Spannung und 1 Ampère
Stärke haben, ſo leiſtet er gerade dieſelbe Arbeit, wie ein Motor von einer Pferde-
ſtärke. Dieſelbe Arbeitsfähigkeit aber hat auch ein Strom von 73,6 Volt und
10 Ampère oder ein ſolcher von 1 Volt und 736 Ampère, es kommt nur auf das
Produkt von Stromſtärke und Spannung an. Man nennt dieſes Produkt von
1 Volt und 1 Ampère auch 1 Watt und man kann alſo eine einpferdige Dynamo-
maſchine eine ſolche nennen, die einen Strom von 736 Watt liefert, eine 500 pferdige
wird einen Strom von 36800 Watt oder 36,8 Kilowatt ausſenden, d. h. einen ſolchen,
der z. B. eine Spannung von 100 Volt und eine Stärke von 368 Ampère beſitzen kann.
*)
Unter komplementären Farben verſteht man ſolche, deren Miſchung weiß giebt.
*)
Schwefelkohlenſtoff iſt eine ſehr flüchtige, ſtark lichtbrechende und ſehr ent-
zündliche Flüſſigkeit, ſchwerer als Waſſer und von durchdringendem, betäubendem
Geruch. Man gewinnt ſie, indem man Schwefeldampf über glühende Kohlen leitet
*)
Emil Wolff; Praktiſche Düngerlehre. Verlag von Paul Parey, Berlin.
*)
Die rationelle Düngung der landwirtſchaftlichen Kulturpflanzen. Prof. Dr.
Paul Wagner. Verlag T. Winter, Darmſtadt.
*)
Schultz-Lupitz: Die Kalk-Kali-Phosphatdüngung. Dresden, G. Schönfelds
Verlag.
*)
Horaz. Carm. I 3.
*)
Ein Knoten = 1852 m.