Mein Schikkſal verhaͤngt es, ge-
neigter Leſer, ob ich gleich al-
len Gelehrten wohl will, und
ihren Namen, ſie moͤgen von
mir halten, was ſie wollen,
niemals zu verkleinern ſuche; und ob ich gleich
auſſerdem keinen jemals, nur Coſchwizzen aus-
genommen, angegriffen, ja auch die Entdekkung
dieſes Mannes, da ich noch jung, und beinahe
* 2noch
[IV]Vorrede.
noch ein Kind war, in den Jahren 1725 und 1727,
jedoch mit geziemender Beſcheidenheit widerlegt
habe, daß ich demohngeachtet doch, bei dieſen
meinen Geſinnungen, faſt Jahr vor Jahr bittre
Schmaͤhſchriften wider mich erſcheinen ſehen mus.
Und dennoch weis ein jeder, wie ich dem Ham-
berger bei ſeinem Leben (1), und nach ſeinem
Tode (2), nachdem Haens Buch ſchon erſchienen,
welches beinahe eben ſo bitter ſchreibt, geantwor-
tet habe. Und es kann jedermann leicht entſchei-
den, wie ich Gunzens Verdienſte gelobt, und
Albins, ſowol vor ſeiner ſcharfen Cenſur, als
nach derſelben Erwaͤhnung gethan habe.
Mein Entſchluß iſt keine leichte Sache. Jch
eile, dieſes lange Werk zu Ende zu bringen, und
bediene mich des Landlebens, welches nur allein im
Stande iſt, mir Ruhe zu verſchaffen, wiewol ich
jezzo einige oͤffentliche Geſchaͤfte weniger zu beſor-
gen
[V]Vorrede.
gen habe (3). Jch mag dieſe fuͤr mich angenehme
Arbeit, welche mehr Nuzzen, als alles Gezaͤnke
ſtiftet, nicht auf die Seite legen, um Schmaͤh-
ſchriften zu zergliedern, und Knoten aufzuloͤſen,
wodurch man deutliche Erfahrungen verwikkeln,
und unterdruͤkken will.
Je mehr dieſe Verſuche von kundigen Maͤn-
nern, die ſich der Vorfaͤlle in der Wundarznei-
kunſt bedienen wollen, wiederholt werden, deſto
beſſer werden ſie ihnen den Weg zeigen, die Zwei-
fel der Unglaͤubigen zu entkraͤften. Vor kurzen
hat Hunter, Camper, Caldan unſre Arbei-
ten mit ſeinem Zeugniſſe beehrt; bei ſolchen Exem-
peln laͤſt ſich ſchon auch was mehreres hoffen.
Doch Sie halten ſich, wenden mir meine
Freunde ein, denen wie es ſcheint, meine Ehre,
mehr, als mir ſelbſt am Herzen liegt, Sie halten
ſich indeſſen ſo geruhig. Sie hoͤren die Schmaͤ-
hungen an, und heiſſen ſie durch ihr Stillſchweigen
gut; ſie ſtaͤrken Leute in ihrer Verwegenheit, und
dieſe wagen alles, weil ſie ſich fuͤr nichts fuͤrchten.
Jn der That haben ſie, wie ich an mir erfahre
Recht, und dennoch bleibe ich bei dem obigen Ent-
ſchluſſe. Jch ſchone mich lieber. Vielleicht koͤnn-
te ich mich nicht enthalten, wenn ich auf ihre bit-
tre Reden, und ungerechte Verleumdungen ant-
worten wollte, die dem Menſchen angebohrne
Empfindlichkeiten aufzuopfern, und vielleicht wuͤr-
de meine Antwort einige Hizze verrathen. Nun-
mehr iſt es mir ertraͤglicher, daß die Erbitterung
meiner Feinde der Nachwelt in die Hand komme,
als daß ſie meine Hizze leſen ſoll. Ein redlicher
Mann zu ſein, der auch mit ſeinen Gegnern bil-
lig verfaͤhrt, ſcheint mir mehr, als alle Ehre der
Gelehrſamkeit werth zu ſein; und es iſt keine
Schande, gar zu redlich zu ſein, wofern bei
dieſer Tugend zugleich das Laſter Plazz finden
kann. Den Feinden hart zu fallen, und ſich uͤbel
verdienten Perſonen furchtbar zu machen, ſcheint
mir eine leichte Rolle zu ſein, und es gehoͤrt kein
groſſer Wizz dazu, daß man ſchimpfen kann, wenn
wir von dem Widerwillen unterſtuͤzzt werden.
Jndeſſen habe ich doch in der Haeniſchen
(4) Schrift, dasjenige ſorgfaͤltig heraus geſucht,
und auch meine Freunde haben es gethan, was
die Sache ſelbſt einigermaaſſen naͤher angeht. Es
trug dieſer beruͤhmte Mann keinen einzigen Ver-
ſuch vor, wenn man nicht darunter dasjenige ver-
ſtehen will, welches, wenn es gelten ſoll, offen-
bar fuͤr mich iſt, daß er naͤmlich die Sehne eines
Menſchen, ohne daß derſelbe Menſch davon Em-
pfindung gehabt, mit den Fingern ergriffen (5).
Er brachte zwar die Verſuche des Radnizki, ei-
nes Arzneibefliſſnen, und des Vandelli, der
ebenfalls noch kein Anatomicus iſt bei, auf dieſe
aber hatte ich bereits zwei Jahre zuvor geantwor-
tet. Doch es ſagte einer von meinen Freunden,
dieſe Schatten abgelebter Feinde, wuͤrden gegen
mich, als ob ſie noch lebten, aus dem Reiche der
Schatten aufgerufen.
Da er mir uͤbrigens die Widerſpruͤche mehr-
malen zur Laſt legt, die, wie er ſagt, uͤberall vor-
* 4kom-
[VIII]Vorrede.
kommen, ſo will ich hier dieſe Anklage beantwor-
ten, weil man darauf kuͤrzlich antworten kann.
Wenn ich die Verſuche mit den Folgerungen
daraus, erwaͤge, ſo habe ich oft gefunden, daß
dieſe jenen entgegen ſind. Jch gebe alſo beiden
Partheien Gehoͤr, und ein Menſch, dem die Wahr-
heit am Herzen liegt, kann ſich dieſes zu thun nie-
mals entbrechen. Zum Exempel, Schlagadern
ſcheinen, ihre groͤſte Staͤmme ausgenommen laut
den Verſuchen weder reizzbar, noch geſchikkt zu ſein,
ſich zuſammen zu ziehen; indeſſen ſcheinen ſie ſich
doch, vermoͤge andrer Schluͤſſe, die nicht zu ver-
werfen ſind, zuſammen ziehen zu koͤnnen. Folg-
lich mus man geſtehen, daß Schlagadern unter
dem Meſſer nicht reizbar, doch aber unter andern
Umſtaͤnden es zu ſein ſcheinen.
Die Blutadern ſind uͤberhaupt nicht reizbar
(6), ſie haben aber auch keine fleiſchige Haͤute be-
kommen: doch hat die Holader in der Bruſt, die
obere ſowol, als die untere, Faſern, ſie ziehet ſich
zuſam-
[IX]Vorrede.
zuſammen, und ſie iſt dem Reizze unterworfen.
Jch lehre beides, und dadurch, widerſpreche ich
mir auf ſolche Art ſelbſt, daß man meinen Ver-
ſuchen keinen Glauben beimeſſen kann, und eben
ſo wenig gefallen ihm auch meine uͤbrige Gruͤnde.
Sehnen ſind nicht reizbar (7), und ſie laſſen
ſich weder von einer angebohrnen Kraft, noch
durch die Nerven zuſammen ziehen. Und dennoch
ziehen ſich Sehnen, auch lange nach dem Tode,
noch von der todten Kraft zuſammen, und eben
ſolche Beſchaffenheit hat es auch mit den Blut-
aderklappen des Herzens. Dieſe Wahrheiten,
dieſe jedermann bekannte Wahrheiten, meinet
Haene, widerſprechen ſich einander auf das un-
anſtaͤndigſte.
Man ſollte glauben, das Pericranium (8),
habe nach der Analogie zu urtheilen, keine Em-
pfindung, weil es von der Art des Knochenhaͤut-
chens iſt; und dennoch ſcheinet es nach andern
Verſuchen, zu empfinden. Es kriechen am Pe-
* 5ricra-
[X]Vorrede.
ricranio tiefe Nerven, welche man nothwendig
mit zerſchneidet, wenn man das Pericranium be-
ſchaͤdigt. Folglich ſind hier keine ſolche Verſuche,
die die Liebhaber der Wahrheit uͤberzeugen koͤnnten.
Daher rede ich von der Empfindlichkeit des
Pericranii in ſo fern, daß ich dennoch der Ana-
logie der harten Gehirnhaut mehr Einfluß zu-
ſchreibe. Und dennoch ruft der beruͤhmte Mann
dieſe ſo einfaͤltigen Dinge, mit einer ſchmaͤhenden
Mine, fuͤr Saͤzze, eines ſich widerſprechenden
Menſchen aus.
Von dem Marke der Knochen (9), habe ich
keinen eignen Verſuch, ich ſehe, daß dergleichen
ſchwer zu machen iſt, und daß ihm gegenſeitige
Verſuche im Wege ſtehen. Jch nehme alſo, ſo
lange bis jemand auftreten wird, der einen Ner-
ven nebſt der Schlagader, und einer ernaͤhrenden
Blutader bis ins Mark verfolgen kann, den
Sazz an, und will alsdann gerne zugeben, das
Mark habe eben ſolche Empfindung, als ein Nerve
hat
[XI]Vorrede.
hat. Auch dieſes ſoll ſich wieder, meinem Geg-
ner zu Folge widerſprechen.
Jch ſage (10), das Herz habe ſo viele Nerven,
daß ſie folglich zur Empfindung hinreichen koͤn-
nen, ſie waͤren aber ſo klein, daß ſie zu einer ſehr
ſcharfen Empfindung nicht hinlaͤnglich ſein koͤnn-
ten. Jch geſtehe endlich, daß ſich die Nerven
vom Meſſer in innerliche kleine Muſkelſtreife, die
vom Blutaderblute blos durch ihre zarte Beklei-
dung getrennt werden, zertheilen laſſen, oder we-
nigſtens doch nicht zertheilt worden. Und den-
noch ſcheine es gewis zu ſein, daß in dieſe Gegend
des faſt nakkten Herzfleiſches, kleine Nerven hin-
laufen, weil uͤberall im Koͤrper des Menſchen Ner-
ven zu den Muſkelnſtreifen gehen; hier aber im
Herzen dergleichen Muſkelſtreife vorkommen. Bil-
lige Richter moͤgen urtheilen, wie ſich dieſe voll-
kommne Wahrheiten einander zuwider ſein koͤnnen.
Jch habe eingeſtanden, daß ich in Thieren,
durchs Reizzen keinen Huſten (11) hervorbringen
koͤnne
[XII]Vorrede.
koͤnne, auſſer einmal an einem Lamme, und
nicht einmal voͤllig. Am Menſchen verurſacht
eben dieſer Reizz, oder eben der angefuͤhrte Schwe-
felrauch, leicht einen Huſten. Und dieſes iſt
wirklich wieder, wie der beruͤhmte Mann will, ein
abſcheulicher Widerſpruch.
Es iſt wider die Wahrheit, daß ſich das Herz
blos an kalten Thieren ausleeren ſoll (12). Es
leeret ſich ganz augenſcheinlich, im Huͤhnchen im
Eie aus, und ich habe es oft im Menſchen, doch
nicht allezeit, leer gefunden. Jſt es nicht allezeit
in todten Koͤrpern leer, ſo ſtekkt die Urſache in
der zuſtoſſenden lezzten Schwachheit, welche nicht
hinlaͤnglich iſt, daß das Herz die lezzten Blutklum-
pe austreiben kann.
Daß das Herz (13) lang und kurz werde, ob
es ſich gleich nicht ausleert, folgt aus der allgemei-
nen Natur der Faſern, welche wenn ſie von Wech-
ſelrichtungen hin und her gezogen wird, zittert.
Dieſes
[XIII]Vorrede.
Dieſes iſt ſehr widerſprechend, ſagt Hacn, ob
man gleich beide Phaͤnomena zuverlaͤßig geſehen.
So viel finde ich, herauszuziehen, und zu wi-
derlegen. Alles uͤbrige thut zur Sache nichts,
ob es gleich meinen guten Namen angeht. Doch
ich glaube, daß ſich dieſer, ohne durch meine laſter-
hafte Handlungen, nicht beflekken laͤſt.
Die einzige, und wie ich felbſt davor halte,
verdiente Nachrede, trift die Citationen. Da, bei
deren unendlichen Menge, meine alte Hand, wenn
ich die Charactere ziehe, zittert, da ich von der Preſ-
ſe entfernt lebe, da der Corrector oder Drukker
leicht einen andern Zug, ſtatt des Vorgeſchriebnen,
greifen kann, ſo kann mir dieſes, wenn ich die
Blaͤtter aus der Preſſe nachſehe, nicht ſo ſehr ver-
dacht werden, da ich in einem obrigkeitlichen
Amte ſizze, und mit ernſthaften Sorgen beſchaͤf-
tigt bin; ja ich glaube ſelbſt, daß hier Fehler mit
untergelaufen, und ich bitte deswegen um Verge-
bung. Doch halte ich nicht davor, daß man
Drukfehler von Wichtigkeit bemerken werde. Was
zur
[XIV]Vorrede.
zur Beſtaͤttigung eines Sazzes gehoͤret, habe ich
aus dem gegenwaͤrtigen Buche des Autors genom-
men, oder dabei erinnert, wenn ich dieſes Buch
nicht eben bei der Hand gehabt. Und dennoch
wiederhole ich auch hier billig, daß ich die citirte
Stellen nicht darum anfuͤhre, weil beruͤhmte
Maͤnner mit mir einerlei Gedanken davon gehabt.
Es iſt gewis, und geſchicht oft, daß Leute, was
die Sache ſelbſt betrift, das Gegentheil behaup-
ten, ſo oft ich die Namen der Schriftſteller nicht
auf die Art anfuͤhren wollen, daß ich ſie widerleg-
te, weil ich mich daran begnuͤgte, durch das An-
fuͤhren derſelben zu zeigen, daß ich ihre Gruͤnde
geleſen.
Mit dieſem Abſchiede, empfehle ich, unſre
Arbeit, geneigter Leſer, Deinem Wohlwollen,
den 11. April 1763.
Es erſtrekker ſich diejenige Kraft, vermoͤge
welcher ſich die Grundſtoffe einer Faſer
einander naͤhern, nicht nur uͤber das
thieriſche Reich allein, ſondern auch
eben ſo wohl uͤber das Reich der Pflanzen (a). Dieſe
Kraft ſcheinet nicht nur uͤberhaupt die Urſache des
Zu-
H. Phiſiol. 5. B. A
[2]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Zuſammenhaͤngens zu ſein, ſondern ſie laͤſt ſich auch
durch eine leichte Erfarung deutlich machen, wenn man
eine Faſer, der Laͤnge nach, aus einander zieht, wieder
los laͤſt, und beobachtet, wie ſie in wenig Augenblikken
ihre erſte Kuͤrze wieder bekoͤmmt, und dieſe Beſtrebung,
wodurch ſie ſich zu verkuͤrzen ſucht, nie verliert, ſon-
dern ſo lange anſtrengt, bis ſie ihre erſte Kuͤrze
wieder gewonnen hat (b). Dieſe Bewandnis hat es mit
dem Hanfe, dem Flachſe, der Feder, den Haren, mit den
Membranen, mit den Zellfaſern, mit einem abgeſtorbnen
Muſkel, mit den Darmſaiten aus Thieren; ja hiervon
iſt nicht einmal der aus (c) Thieren oder Pflanzentheilen
gemachte Leim ſelbſt ausgenommen.
Sie iſt in den kleinſten Theilgen ſtaͤrker, als in den
groſſen, weil von den einzeln losgezerrten zarten Faͤden (d)
mehr Gewicht, als von ihnen zuſammengenommen, getra-
gen wird. Es koͤmmt auch dieſe Kraft nicht von dem
Gewebe, oder einiger Verdrehung her, indem dieſe Ver-
kuͤrzungskraft an einer geraden und einfachen Faſer groͤſ-
ſer iſt, und hingegen durch ein Zuſammendrehen vermin-
dert wird (e). Andre groſſe Maͤnner, die man ſelbſt
nachſchlagen kann (f), erklaͤren den Faſerbau nach dem
Sinne ihrer Hipoteſe.
Doch es hat das Anſehn, daß ſich dieſe Kraft um ſo
viel ſtaͤrker aͤuſſere, je groͤſſer die Gewalt iſt, welche eine
Faſer hervorbringt, ſo wie eine muſikaliſche Saite an ſich
haͤrter iſt, und ſich mit einer groͤſſern Gewalt zuſammen-
zieht, wenn ſie hundert Pfunde traͤgt, als ſie ſich ſonſt
zuſammenziehen wuͤrde, wenn man ſie blos mit zehn
Pfunden ausſpannen wollte. Sie bedarf alſo, da ſie von
einem ſo groſſen Gewicht ausgedehnt worden, wenn man
ſie weiter ausſpannen will, einer groͤſſern Kraft, und
ſpringt daher, wenn man ſie los laͤſt, auch viel ſtaͤrker und
geſchwinder wieder zuruͤkke. Es erfordert die Menſchen-
haut (g), wenn ſie noch einmal ſo lang ausgedehnt wer-
den ſoll, eine zehnmal groͤſſere, und wenn ſie ſechsmal
laͤnger gemacht werden ſoll, zwanzigmal mehr Kraft (h).
Man hat einen Hautriemen durch ein einfaches Gewicht
auf vier Linien, durch ein gedoppelt Gewichte bis ſieben,
durch ein dreifaches Gewicht, bis auf neun Linien ausge-
ſpannt (i). Jndeſſen hat doch auch dieſe Gewalt ihr be-
ſtimmtes Maas, und wenn man eine Faſer uͤber ihr Ver-
moͤgen verlaͤngert, ſo zernichtet ſich dieſe Kraft voͤllig,
und leidet von der Zerrung dergeſtalt, daß ſich die Grund-
ſtoffe von einander trennen, und eine Tonſaite zerſprin-
gen mus.
Eben ſo ſcheint auch dieſe natuͤrliche Verkuͤrzungskraft,
gegenſeitig in dem Beruͤhrungspunkte ſtille zu ſtehen, wenn
ſich naͤmlich die Grundſtoffe einander ſo nahe bringen
laſſen, daß man ſie nicht naͤher bringen kann. Sie ſuchen
ſich einander ſelbſt ſo nahe zu kommen, als es ihre Natur
und die Freiheit verſtattet. Es zerris ein Hautrieme,
als man ihn von drei bis ſechs Zoll ausſpannte, und ſeine
Enden waren wieder, zuſammengenommen, drei Zoll lang,
und wie Abſchnitte einer gezerrten Schlagader anzuſehen (k).
A 2Jn-
[4]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Jndeſſen iſt es doch warſcheinlich, daß auch alsdenn
noch eine geheime Verkuͤrzungskraft ruͤkkſtaͤndig ſei, wel-
che ſich kuͤnftig aͤuſſern kann, wofern man die Hinderniſſe
aus dem Wege zu raͤumen vermag, welche dem Beruͤren
der Grundſtoffe hinderlich ſind. Wir kennen naͤmlich
kein koͤrperliches Weſen, welches nicht ſeine Poros und
Raͤume zwiſchen den Grundſtoffen haͤtte, durch welche ſich
die Grundſtoffe einander naͤhern koͤnnen.
Vielleicht iſt kein einziger Theil im menſchlichen Koͤr-
per von dieſer Gewalt voͤllig ausgeſchloſſen. Sie offen-
baret ſich indeſſen am deutlichſten an den Muskeln, und
naͤchſt dieſen an den Membranen, an der Ribbenhaut,
dem Knochenhaͤutchen, dem Mittelfelle, wie auch an den
Sehnen, Baͤndern, und am Zellgewebe. Wenn ſie ja
mangelt, ſo mangelt ſie den ungemein weichen Theilen,
dergleichen das Mark, die Markrinde im Gehirne, oder
das Nezhaͤutchen im Auge iſt; oder ſie felet auch den
ganz harten Theilen, als den Knochen und Zaͤhnen.
Alle die Theile, welche ſich wieder zuſammenziehen,
geben alle nach, wenn man ſie durch Gewichter ausdehnt,
ſie werden laͤnger, behalten aber immer noch das Beſtre-
ben, ſich, ſobald ſie koͤnnen, wieder in ihre erſte Kuͤrze
zuruͤkke zu ziehen. Man kann leicht begreifen, daß ver-
ſchiedne Theile auch eine verſchiedne Staͤrke beſizzen. Un-
ter allen ſcheinen die Muskeln darunter die ſchwaͤchſten zu
ſein, und dieſen folgen die Muſkelnſtreifen an der Mem-
bran oder Harnblaſe, am Magen, welche doch an den
Schlagadern noch etwas haͤrter ſind (k*). Staͤrker ſind
die
[5]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
die Membranen, als die harte Gehirnhaut, das Weſen
der Schlagadern, das Knochenhaͤutchen, die Haut,
Sehne und das Band. Jch will von jedem beſonders
einige Verſuche melden.
Jch weis nicht, ob das Kopfhaar nicht, wenn man
deſſen Zaͤhigkeit in Betrachtung zieht, alles uͤbrige
darinnen, nebſt der Seide, deren Faͤden, weil ſie zaͤrter,
auch zum Wiederſtehen am geſchikkſten und ſtaͤrkſten iſt,
uͤbertreffe.
Es traͤgt ein Faden von der Seidenraupe, ehe er zer-
reiſt, 85 Gran (l). Ein Spinnenfaden haͤlt 15 Gran aus
(m). Ein Kopfhaar, welches ſieben und funfzigmal dik-
ker, als ein Seidenfaden war, vertrug 2069 Gran (n).
Ein Pferdshaar, das ſiebenmal dikker iſt, zerris erſt von
7970 (o) bis 7920 Gran. Eine muſikaliſche Saite ſtand
ein dreimal groͤſſeres Gewichte aus (p). Ein Riemen
aus Leder geſchnitten, der \frac{4}{10} Zoll breit und \frac{18}{100} dikk
war, hielte 380 Pfunde (q), und in einem andern Ver-
ſuche hielt ein ſolcher Riemen, der eine Linie im Quadrat
war, 200 Pfunde aus (r). Die ſogenannte Achilles
oder Sprungſehne trozzte dem ſchwerſten Gewichte (s)
und die Sehne des dunnen Schienbeinsmuſkels, die doch
nicht viel dikker, als zwo Linien iſt, ſtand den Druck
von achtzig Pfunden aus (t). Man hat ohnlaͤngſt
in Frankreich angefangen, zu den Trageriemen an den
Kutſchen Thierſehnen zu gebrauchen, weil ſie ſtaͤrker als
Riemen befunden worden (t*). Es haben blos die Kap-
ſelbaͤnder an einem Kalbsfuſſe (u) 119 Pfunde getragen
(x), ſo wie blos das Knochenhaͤutchen 431 Pfunde (y),
A 3und
[6]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
und da es einen Zoll gros war, 100 Pfunde ausgehal-
ten (z). Das Band an der Fuswurzel (a) zerris erſt
bei 830 Pfunden (b).
Hingegen iſt der Muſkel ſchon viel ſchwaͤcher. Es laͤſt
ſich naͤmlich ein, aus der Haut geſchnittner Riemen, drei-
mal laͤnger ausdehnen (c). Hingegen laͤſt ſich eine Magen-
faſer nur bis zum ſiebenten Theil ihrer Laͤnge ausſpannen,
da ſie denn zerreiſt, und das thut eine Blaſenfaſer (d) noch
viel eher (e), und noch eher die Faſer von der Karotis (f).
Es iſt dieſe Kraft, ſich zuſammen zu ziehen, welche
man blos durch die Anziehungskraft der Grundſtoffe gegen
einander beſtimmen koͤnnte, und die den Thieren mit den
Metallen gemein iſt, ein wenig von unſrer eigentlichen
Abſicht entfernt, und wir naͤhern uns alſo derſelben wieder.
Es koͤmmt dasjenige Zuſammenziehen, welches ſich
an einer thieriſchen Faſer beſtaͤndig und ſo lange das Thier
lebt, aͤuſſert, um ſich zu verkuͤrzen (g), und welches eben
ſowohl, an einem feuchten Leichname noch fortdauret,
hingegen mit der Trokkenheit allmaͤhlich verſchwindet, ſchon
den Urſachen der Muſkelbewegung naͤher. Es iſt das
Maas dieſes Zuſammmenziehens derjenige Raum, welchen
eine von den Nebenfaſern abgeſonderte Faſer, um ſich
kuͤrzer zu machen, durchlaͤuft. Es pflegt naͤmlich jede
Membran, wenn man ſie durchſchneidet, die Wunde
immer groͤſſer und groͤſſer dadurch zu machen, daß ſie ihre
Faſern gegen den noch feſten und unbeſchaͤdigten Theil zu-
ruͤcke zieht. Man kann dieſe Kraft an den Wunden (h)
lebendiger Thiere deutlich ſehen, indem ſie die Lefzen der
Wunde
[7]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
Wunde von einander zerret, und aus einer einfachen
Spalte eine weite Oefnung macht. Sie bezeugt ſich an
dem Mittelfelle (i), der Ribbenhaut (i*) dem Darmfelle,
der Haut (k), dem Zellgewebe (l) und an der Sehne (m).
Sie iſt am Zellgewebe ſo gros, daß ich blos von dieſer
in Krankheiten zugenommenen Kraft am Unterleibe und
der Huͤfte eine offenbare Haͤrte wargenommen, davon
die Huͤfte, ohne allen Feler der Muſkeln zuſammengezogen
und gebogen war (m*). Von dieſer Art war diejenige
alte Kruͤmmung des Kniees, welche man durch Baͤder
heilte (m**). Es aͤuſſert ſich dieſe Kraft an den Muſ-
keln noch deutlicher und verſchwindet am getrokkneten Flei-
ſche faſt ganz und gar. Es ziehet naͤmlich ein Muſkel,
deſſen Bauch man mitten durchſchneidet, ſeine Fleiſchfa-
ſern mit Gewalt gegen die Enden zuruͤkke (m***), da-
von auch in todten Koͤrpern ein groſſer Zwiſchenraum ent-
ſteht. Schneidet man ſeine beiden Enden von den Kno-
chen los, ſo ziehet ſich der Muſkel gegen die Mitte ſeines
Bauches zuſammen (n). Trokknes Fleiſch behaͤlt hinge-
gen wenig von dieſer Kraft uͤbrig. Wenn man eine
Schlagader, die in dieſem Stuͤkke mit den Muſkeln viel
Aenlichkeit hat, an beiden Enden bindet, und ſie alsdenn
dies und jenſeits von dem uͤbrigen Stamme losſchneidet,
ſo verkuͤrzt ſie ſich ebener maaßen, und ſie wird uͤberhaupt
um die Helfte kuͤrzer (o); iſt ſie hingegen ſchon ſteif, ſo
zieht ſie ſich weniger und langſamer zuruͤkke.
Es zog ſich eine Fleiſchfaſer um etwas hurtiger, bis
auf ein Drittheil ihrer Laͤnge zuſammen (p).
Es ſcheint dieſe Kraft in thieriſchen Theilen beſtaͤndig
zu wirken, ob man ihre Wirkungen gleich nicht allemal
gewar wird. Es ſcheint naͤmlich das, einem jeden Theil-
chen eigene Zuſammenziehen, von dem gegenſeitigen Zu-
ſammenziehen zweener benachbarten Grundſtoffe beſtritten
und gezerrt zu werden, indem beide nicht kuͤrzer werden
koͤnnen, ohne den mittlern Theil aus einander zu ziehen.
Jndem nun dieſes in allen geſchieht, ſo ſcheint daraus eine
Ruhe zu entſtehen, welches die Summe der gegenſeitigen
und ſich einander zerſtoͤrenden Kraͤfte iſt. Sobald aber
ein Theilchen von den Nebentheilen durch eine Verwun-
dung| abgeſondert wird, ſo wird alsdenn die Lefze oder
Wunde frei, und da ſie nicht mehr von der Gegengewalt
feſte gehalten wird, ſo ziehet ſie ſich gegen das benachbarte
Theilchen, von dem ſie gezerrt wird, oder gegen den noch
ganzen Theil der verlezzten Membran zuruͤkke.
Uebrigens hat dieſe Kraft mit dem Leben nichts zu
thun (q). Denn ob ſie ſich gleich an einer feuchten und
biegſamen thieriſchen Materie deutlicher aͤuſſert, ſo ver-
haͤlt ſie ſich doch nach voͤlligem Tode, an ausgeſchnittnen
Gliedmaaßen, Muſkeln und Membranen noch lange.
Jch rechne zu dieſer Kraft auch diejenige Art einer ab-
geſtorbnen Reizbarkeit, welche ſich nach den chemiſchen
Giften in allen Theilen des menſchlichen Koͤrpers, beſon-
ders aber nach dem rauchenden Nitergeiſte, Vitrioloele,
Spiesglasbutter, und andern dergleichen wieder aͤuſſert.
Es pflegen naͤmlich dieſe ſo hizzige Fluͤſſigkeiten, das Zell-
gewebe (r), die Haut (s), die aus dem Zellgewebe beſte-
henden Membranen (t), den Mutterkuchen (u), die Ein-
ge-
[9]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
geweide (x), Schlagadern (y), Blutadern (z), Milchge-
faͤſſe (a), Auswurfsgaͤnge (b), die Harnſaͤkkchen (c),
Gallenbehaͤlter (d), die Nerven (e), Sehnen (f), ſelbſt
die Muſkeln und das Herz, wenn ſie gedachte Theile be-
ruͤren, zu veranlaſſen, daß ſie ſich in ihrer Laͤnge verkuͤr-
zen muͤſſen. Von ihnen wird das Zellgewebe, nebſt dem
Fette ſelbſt benagt und verzehrt; alles uͤbrige, was eine
groͤſſere Feſtigkeit hat, zieht ſich blos zuſammen, bekoͤmmt
tiefe Furchen (g), verengert ſich, wenn es hole Behaͤlt-
niſſe ſind, und ziehet ſich zu einer Kruͤmme zuſammen;
wenn es hingegen lange und gerade Schnuͤre ſind (h), ſo
krichen ſie ein.
Wir nehmen dieſes Zuſammenziehen mit dem obge-
dachten zuſammen, weil eben ſo wohl alle Theile des
Menſchenkoͤrpers von den Giften zuſammen ſchrumfen,
welche, wie wir gleich melden werden, kein andrer Reiz
noͤthigt, ſich zuſammen zu ziehen; ferner weil ſich auch
lange nach dem Tode noch die Gifte an dieſen Theilen
durch das Benagen und Zuſammenziehen eben ſo, und
ſo lange aͤuſſern als dieſe Theile feucht und biegſam ſind,
A 5an
[10]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
an denen die Erfarung gemacht wird; ſie moͤgen noch
am thieriſchen Koͤrper feſte ſein, oder laͤngſt ſchon davon
abgeſchnitten ſein, und zwar ſeit vielen Stunden, und gan-
zen Tagen, und wenn keine Spur von Empfindlichkeit
mehr vorhanden iſt, oder ſich keine Bewegung von gereiz-
ten Nerven mehr dazu miſchen kann.
Den Giften koͤmmt das Erfrieren ſehr nahe, denn
vom Froſte werden ebenfalls alle thieriſchen Theile (i)
ſteif oder ſtarre gemacht, und die Kaͤlte ziehet eine belebte
Haut (k) bald mit Runzeln zuſammen.
Es mag uͤbrigens das Zuſammenziehen ſeinen Sizz,
in welchem thieriſchen Theile es will, ſeinen Sizz haben, ſo
geſchicht es doch ebenfalls und allezeit (l) ohne ein wechſel-
weiſes Nachlaſſen, und zwar vermoͤge ein fortgeſezztes und
gemeiniglich langſames Annaͤhern der Faſer gegen einan-
der durch dieſes Merkmal unterſcheidet es ſich offenbar
von der Verkuͤrzungskraft der mereſten Muſkeln.
Es iſt faſt kein einziger Theil eines belebten Koͤrpers
vorhanden, welcher nicht die beſchriebne Gewalt ausuͤben
ſollte, wenn man nicht vielleicht die Knochen, die Zaͤhne
und das breiartige Weſen des Gehirns ausnehmen will.
Die folgende Kraft, welche ſich ſchon wirkſamer bezeugt,
iſt allein den Muſkeln eigen.
Man wird naͤmlich an dem Muſkelfleiſche eines leben-
den oder auch vor kurzem geſtorbnen Thieres, oft von
ſelbſt eine Bewegung gewar, welche ſich zuſammenzieht,
ſchnell
[11]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
ſchnell, lebhaft erfolgt, vermoͤge der ſich die Muſkelſtreifen
wechſelsweiſe gegen die Mitte des Bauches zuſammenzie-
hen und ſich wieder (m) von dieſer Mitte entfernen, denn
ich mag hier keine Erſcheinungen mehr erzaͤlen, indem
ſolche an ihrem gehoͤrigen Orte vorkommen ſollen.
Es haben vorlaͤngſt (n) und noch vor kurzem beruͤmte
Maͤnner (o) von dieſer Bewegung behauptet, daß ſie
von einer Muſkelfaſer beſtaͤndig hervorgebracht werde,
indem dieſe Faſer niemals gaͤnzlich ruhen, und ſo gar
aus dem Sauſen der Ohren, wenn wir die Hand ans
Ohr halten, erwieſen werden ſoll (p).
Nun erhellt es noch zur Zeit aus dem Augenſcheine
nicht, daß ſich abgeloͤſte, und entbloͤßte Muſkeln an einem
lebenden Thiere, beſtaͤndig wechſelsweiſe zuſammenziehen
und wieder nachlaſſen. Es ſcheinen ſelbſt die Gedaͤrme
oft ganz ruhig zu ſein (q), ſo bald man den Bauch oͤfnet,
und es haͤtten beruͤmte Maͤnner die Darmbewegung nicht
unter widernatuͤrliche Erſcheinungen rechnen koͤnnen,
wenn ſie ſelbige beſtaͤndig an allen lebendigen Thieren ge-
ſehen haͤtten, die ſie aufgeſchnitten (q*).
Doch ich habe oft genung mit Augen geſehen, daß
dieſe Bewegung ohne eine aͤuſſere Kraft erfolgt iſt, und
zwar an verſchiednen Muſkeln am Magen (r), am Her-
zen (s), an der Gebaͤrmutter (s*), an den Muſkeln der
Schen-
[12]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Schenkel, der Schlaͤfe, der Bruſt, an den geraden Muſ-
keln des Unterleibes, an dem Hebemuſkel der Hoden, des
Bruſtbeins und der Ribben, den Schliesmuſkeln (t), an
der Gebaermutter und es war dieſe Kraft an dem Fleiſche
des Bruſtbeins und der Ribben (u) ſo gar vermoͤgend,
in Wechſelzeiten die Knorpel der Ribben zu kruͤmmen,
und ſolche wieder zuruͤkke ſpringen zu laſſen.
Man hat uͤbrigens Urſache genung zu glauben, daß
dieſe Kraft ohne Unterlaß wirke, ob man ſie gleich nicht
gewar wird, und dieſes iſt auch die Meinung vieler Phi-
ſiologiſten geweſen (x). Beſonders bringen uns die Er-
ſcheinungen an den Gegenmuſkeln (Antagoniſten) auf dieſe
Gedanken. Man gibt dieſen Namen ſolchen Muſkeln,
deren wiedrige Wirkungen einander aufzuheben ſuchen.
Es iſt aber gewis, daß wenn einer dieſer Gegenmuſkeln
durchſchnitten (y), oder geſchwaͤcht wird, der andre ſo
gleich augenſcheinlich zu wirken anfange, und daß ein
Glied, wenn deſſen Ausſtrekker nachlaͤſſet, den Augenblikk,
auch wieder des Menſchen Willen, gebogen werde, daß die
Muſkeln das verrenkte Glied mit Heftigkeit und Gefar
wieder an Ort und Stelle zu ziehen anfangen, ſobald es
nur ſeiner Knochenpfanne gerade uͤber gebracht iſt, daß es
in dieſelbe einfallen kann, ob dieſe Bewegung gleich ohne
alle Beyhuͤlfe des Willens unternommen wird. Nun
laͤſt
(s*)
[13]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
laͤſt ſich dieſer Vorfall gar nicht auf die Art erklaͤren, daß
man glauben koͤnnte, der Muſkel bekomme von der Zer-
ſtoͤrung des Gegenmuſkels eine neue Kraft. Man ſiehet
deutlich, da noch beide Gegenmuſkeln unverlezzt und ganz
waren, daß ein jeder derſelben das Glied auf ſeine Seite
gezogen hat, und daß ſich dieſe von der Natur abgemeſſ-
ne Kraͤfte, einander zerſtoͤrt haben (z), um ein Gleichge-
wicht herauszubringen. Da nun alſo die eine Kraft ver-
nichtet iſt, ſo mus diejenige nothwendig allein ſpielen,
welche allein noch da iſt. Und daher koͤmmt es denn
auch, weil faſt uͤberall die Muſkelbieger ſtaͤrker, als die
Ausſtrekker ſind (z*), und die Gelenke merentheils etwas
wenig gebogen ſind (a), daß ſich die Knochen gegen die
Seite hin kruͤmmen (b), wo ſie die uͤberwichtige Staͤrke
der Biegemuſkeln hinzieht, daher werden ſie zuerſt weich,
und gehorchen alſo der Gewalt der Muſkeln. Daher
kruͤmmen ſich die Gliedmaaßen in der Laͤmung, welche
die Kraft der Nerven zerſtoͤrt und die angeborne Kraft
ohne Verlezzung uͤbrig laͤſt, nach der Weiſe der gewoͤnli-
ſchen Biegung (b*).
Ob ſich aber gleich nicht allemal, von freien Stuͤkken,
die dem Muſkel eingepflanzte Kraft aͤuſſern will, ſo kann
ſolche doch in der That dadurch in Bewegung geſezzt wer-
den, daß man den Muſkel dazu anreizet. Es dienen aber
viele Dinge zu einem ſolchen Reizmittel, dergleichen das
ebenberuͤrte chimiſche Gift iſt (c), wiewohl dieſes keine ge-
nau beſtimmte Bewegungen hervorbringt (d). Man
kann ferner ein Muſkelfleiſch mit Nachdrukk reizen, wenn
man es mit Salze (e), reinem Weingeiſte (f), mit kaltem
Waſſer (g), mit groſſer Waͤrme (h), vornaͤmlich aber mit
Zerfaſern oder Zerreiſſen (i), das durch das Schaben mit
einem Metalle geſchicht. Endlich iſt unter allen Reizmit-
teln der aus einem Muſkel herausgelokkte elektriſche Fun-
ken (k), welcher oft eine Bewegung erwekkt, wenn bereits
alle Reize zu ohnmaͤchtig ſind, das allerwirkſamſte (l).
Es
[15]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
Es pfleget aber dieſe Kraft des Lebens, und zwar ganz
anders als ſie an der todten Reizbarkeit wargenommen
wird, gleich nach der erſten Beruͤrung eines jeden, und
beſonders des ſcharfen Reizmittels, zu erfolgen, aber lan-
ge Zeit und dergeſtalt fortzudauren, daß eine ordentliche
vollſtaͤndige und gewechſelte Reihe von Zuſammenziehun-
gen und Nachlaſſungen auf einander folgt, indem ſich an
dieſem Muſkel die Faſern ziemlich lange Zeit an einander
ſchliſſen, und die nahe Beruͤrungspunkte wieder fahren
laſſen (m). Doch werden die Schwingungen allmaͤlich
immer matter (n), bis endlich eine voͤllige Ruhe erfolgt.
Es unterſcheiden ſich die mereſten holen Muſkeln in
ſo fern von den uͤbrigen, daß ſie ſich, wenn man ſie reizt,
vermittelſt eines beſtaͤndigen Zuſammenziehens, immer
enger zu machen beſtreben, ohne daß ſie wechſelweiſe nach-
laſſen oder erſchlaffen. Und ſo habe ich die Sache an der
Harnblaſe bemerkt (o). Eben ſo ziehen ſich auch die Ge-
daͤrme, wenn man ihre Nerven beruͤrt, ohne ein gewech-
ſeltes Nachlaſſen blos zuſammen (p). Folglich laͤſt ſich
das wechſelweiſe Erſchlaffen von der Bewegung eines
Muſkels trennen (q).
Eben dieſe hole Muſkeln laſſen ſich vom Aufblaſen
mit Luft, ſehr gut reizen (r), welches auch von allerlei
Fluͤſſigkeiten, vom Blute, Waſſer (in dem Beiſpiele der
Harnblaſe) von harten Koͤrpern, dergleichen der Kot iſt,
und von der Frucht geſchicht.
Es haben viele Schriftſteller dieſe lebendige Kraft (s)
mit der todten, eben beſchriebnen Kraft verbunden, und
ſie halten beide vor eins, indem ſie blos in lebendigen
Thieren etwas beſſer als in todten wirken ſoll. Damit
man aber wiſſe, ob ſie einerlei oder verſchieden ſei (s*),
ſo mus man nach den Zeichen urteilen, woran man wiſ-
ſen kann, was beiderlei Bewegungen gemein oder ver-
ſchieden an ſich haben.
Anfangs koͤnnte es das Anſehn haben, als ob beide
Kraͤfte einerlei waͤren, indem alle beide noch nach dem
Tode fortdauren. Selbſt die alten Dichter haben dieſe
Zuͤkkungen des Fleiſches an eben getoͤdteten Thieren nicht
uͤberſehen, die an Thieren von warmen Blute war nicht ſo
lange, aber doch viele Stunden (t), und faſt ſo lange
noch waͤhren, ſo lange noch einige Waͤrme zu ſpuͤren iſt
(u), indem der lezte Zeitpunkt dieſer Bewegung die wirk-
liche Kaͤlte iſt, kraft welcher ein Fett gerinnt, und mit
eben dieſer Zeit endigt ſich auch das Vermoͤgen eines Muſ-
kels, gereizt und wieder ermuntert zu werden (x).
Man koͤnnte hieruͤber viele Schriftſteller anfuͤhren, ich
will mich aber nur bey wenigen begnuͤgen, welche (y) mit
Augen
[17]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
Augen geſehen, wie die Muſkeln geklopft, ſich nach dem
Zerſchneiden zuruͤcke gezogen (z), durch Reizmittel wieder
aufgewekkt worden (a) und ſich bisweilen von freien Stuͤ-
cken wieder in Bewegung geſezzet haben, und daß dieſe
Bewegungen am Herzen (b), an den Gedaͤrmen (b*)
noch fortgedauret haben, wenn gleich der uͤbrige thieriſche
Koͤrper ſchon voͤllig kalt geweſen.
An Thieren von kaltem Blute zeigt ſich dieſer Trieb
zur Bewegung noch etwas beſtaͤndiger (c).
Es waren naͤmlich an einer Schildkroͤte nach ihrem
Tode die Schwanzmuſkeln ſo heftig geſpannt, daß man
ſie kaum von zwo ſtarken Perſonen umbiegen laſſen konnte
(d), es bewegen ſich die Theile dieſes Thieres, wenn man
ſie nach dem Tode reizt, noch lange Zeit (e), und ganzer 3
Tage lang (e*). Wenn man den Nattern die Haut ab-
zieht, ſo leben ſie noch zwoͤlf Stunden und nach ausge-
nommenem Eingeweide ganzer 24 Stunden (e**). Man
hat von den Nattern angemerkt, daß, wenn ſie gleich voͤllig
todt ſind, und man dieſe Thiere in Faͤßchen zuſammen-
pakkt, noch der bloſſe Kopf gefaͤrliche Biſſe verurſacht (f),
und
(y)
H. Phiſiol. 5. B. B
[18]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
und zwar bis nach dreien Tagen (g), ja bis acht und
zwoͤlfe noch (h), ihre ganze Koͤrper ziehen ſich nach eben
ſo langer Zeit noch bei der Beruͤrung zuſammen (i), und
wenn gleich das Herz nicht mehr ſchlaͤgt, ſo iſt doch noch
bisweilen einige Reizbarkeit am Koͤrper zu ſpuͤren (k).
Man weis, daß der zuſammengezogne Kinnbakken eines
todten Krokodils, jemanden der ihm unvorſichtiger Weiſe
zu nahe kam, den Finger abgebiſſen (l).
Man lieſet, daß die vom Koͤrper abgeſonderten
Schwaͤnze der Eidechſen, wiewohl nicht ſo lange als der
Kopf, lebendig bleiben (m). Wenn man die Theile eines
Aales zwo Stunden nach dem Tode beruͤrt, ſo aͤuſſern ſie
noch einige Zitterungen (n). Ja es machen noch die Koͤpfe
von Fiſchen, welche ich oft zerſchnitten, viel Stunden nach
der Abloͤſung des Kopfes Erſchuͤtterungen, ſo bald man die
Nerven beruͤrt. Daß Jnſekten lange nach dem Tode noch
ein Leben haben (o), und ſich ſo gar einige Tage nach ab-
geſchnittnem Kopfe (p) noch bewegen, wiederhole ich im
Vorbeigehen, indem bey dieſen Thierchen der Kopf zur
Erhaltung des Lebens keinen ſonderlichen Vorzug zu haben
ſcheint (q). Es hat Antonius von Heyde das Schla-
gen der Faſern an den Faſern der Fliegen (q*), der Bie-
nen (q**) und Muͤkken (q***), wie auch einige Tage
nach dem Tode, das wechſelweiſe Zuſammenziehen und
Erweitern der Faſern an der Keilmuſchel angemerkt
(q****).
Es wenden dagegen beruͤmte Maͤnner, und Anbaͤnger
der Stahliſchen Lehrart ein, daß die Merkmale des To-
des an ſich ſehr unſicher ſind (r), und daß diejenigen
Thiere, welche wir vor todt angeben, ohngeachtet ſich noch
einige von ihren Muſkeln bewegt haͤtten (s), zu der Zeit
noch gelebt haben koͤnnen, und daß dieſe Bewegung von
den Lebenskraͤften, gleichſam aus dem Quelle des Lebens
nachgefloſſen, da wir dieſelbe hingegen vor ein ruͤkkſtaͤn-
diges Leben anſehen. Folglich muͤſſen wir auch dieſem
Einwurfe unter die Augen treten.
Man hat naͤmlich ſchon vor langer Zeit, und mit
Zuverlaͤßigkeit bemerkt, daß ein vom uͤbrigen Koͤrper
losgeriſſener Muſkel entweder von freien Stuͤkken (t),
oder doch nach einem Reize in Bewegung gerate (u).
Wir haben viele ſolche Beiſpiele vom Herzen ange-
fuͤhrt (x).
Endlich ſo iſt auch das nichts neues mehr, daß ſich
an Thieren das zerſchnittne Herz (y) oder andre Theile,
noch bewegen, zuſammenziehen, und erweitern. Man
findet dieſes ſonderlich an Jnſekten, indem ſich deren los-
gebrochne Beine lange Zeit verkuͤrzen, und wieder aus-
ſtrekken (z).
Wenn man einer Biene den Stachel ausreiſt, ſo be-
muͤhet ſich dieſer noch, von den Muſkelfaſern gereizt, in
die Haut einzudringen (a), und es bewegt ſich noch der
Schnekkenruͤſſel der Sommervoͤgel, wenn man ihn vom
Kopfe trennt, drei oder vier Stunden lang (b).
Man kann auch die verwundernswuͤrdige Bewegung
der Saamenfaſern an den Needhamiſchen Polipen
hieherziehen, welche noch lange nach dem Tode fortfaͤhret,
und die ſich wieder von neuem erwekken laͤſt (c). Man
ſiehet, wie ſich die Reizbarkeit an dem abgeſchnittnen
Fuſſe der Schnekke ohne Haus aͤuſſert (d). Es iſt an
den Eidechſen ſchon was altes, daß ſie ſich, wenn man
ſie in Stuͤkke zerſchneidet, 12 bis 15 Stunden noch regen
(e), welches auch von den Nattern oder Schlangen gilt
(f). Ein aalfoͤrmig Thierchen (Waſſeraal) (g) laͤſt ſich
ebenfalls zerſtuͤkken, ohne die Bewegung zu verlieren, wie
man auch, nach des beruͤmten Abraham Trembley Ver-
ſuchen, von dem Polipus dieſes uͤberall eingeſteht. Eben
dieſes Vorrecht geniſſen, wenigſtens eine Stunde lang,
auch die Aale (h).
Es bewegen ſich auch die, ſo gar aus warmen Thie-
ren, herausgeriſſene Gedaͤrme (i) noch mit ziemlicher Leb-
haftigkeit, und zwar noch heftiger als im Koͤrper ſelbſt (k).
Jch habe dieſen Verſuch bis dahin erweitert, daß ich aus
einem Thiere von warmen Blute, das Gedaͤrme heraus-
gezogen, und darauf in vier Theile zerſchnitten. Es kro-
chen in dieſer Geſtalt noch alle Theile wie Wuͤrmer und
von
[21]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
von ſelbſt herum (l), wenn man ſie aber reizte, ſo veren-
gerten ſie ſich, wie es lebendige Muſkeln zu thun pfle-
gen (m).
Es hat endlich, doch auf einerlei Schlag und vor
andern, der Ehrwuͤrdige Vater Felix Fontana, aus
einer Menge von Verſuchen, die Erfarung gelernt (n),
daß ſich erſt alsdenn die Gedaͤrme in eine heftige Bewe-
gung ſezzen, wenn das Thier vor kurzem geſtorben, und
daß dieſe Gedaͤrme, wenn man ſie nach dem Tode des
Thieres zu reizen anfange, eine viel lebhaftere Empfindung
aͤuſſern, als ſie damals hatten, da das Thier noch am Le-
ben war (o). Jch habe dieſe Anmerkung oͤfters nachge-
macht, und ich ſehe, daß ſich das Fleiſch an geoͤfneten,
aber noch lebenden Thieren viel traͤger bewege, als wenn
man es ausſchneidet, aufhaͤngt, und auſſer allen Ver-
dacht der Empfindung ſezzt. Man weis auch mehr als
zu wohl, daß ein ſterbendes Thier, und beſonders ein
ſolches, welches zu heftige Ausleerungen gelitten, an
kramfhaften Bewegungen ſterbe (o*).
Es erlangt endlich ein Muſkel, der doch bereits ſeine
Reizbarkeit verloren, ſolche dadurch wieder, wenn man
ihn in Stuͤkke zerſchneidet (p).
Nun ſcheint es gar nicht mit der Vernunft uͤbereinzu-
ſtimmen, daß dieſe Bewegung von dem Leben herruͤhre,
indem dieſe Bewegung erſt alsdenn recht deutlich wird,
wenn das Leben voͤllig zerſtoͤrt worden.
Doch es haben es auch beredte Schriftſteller nicht ein-
mal bei dieſen Verſuchen bewenden laſſen wollen. Sie wol-
len naͤmlich, daß die Seele dieſe zerſtuͤkkte Thiertheile noch
bewohnen ſoll, und behaupten nach ihren Lehrſaͤzzen, daß
die Seele gleichſam in jede Theile des abgeriſſenen Ge-
daͤrmes, Pflanzvoͤlker abſenden ſoll, um ſelbige zu regie-
ren, und in Bewegung zu bringen (q). Wir haben aber
auf dieſe Einwendungen bei andrer Gelegenheit geantwor-
tet, und ſehen, daß wir beruͤmten Maͤnnern oder Jour-
naliſten ein Gnuͤgen geleiſtet haben.
Jndeſſen iſt doch auch in dieſen Verſuchen die Zuſam-
menziehungskraft des Lebens, von eben dieſer todten Kraft,
gar ſehr unterſchieden. Jene dauret naͤmlich nur wenige
Stunden, oder Tage nach dem Tode fort, und ſie findet
ſich nicht an getrokkneten thieriſchen Theilen; ſie iſt an
keinem Muſkel mehr zu finden, welcher kalt und ſteif ge-
worden. Hingegen wird die Zuſammenziehungskraft nach
dem Tode noch groͤſſer, wenn man die Saite getrokknet
hat. Sie iſt ſtaͤrker, und es ziehet ſich eine geſponnene
muſikaliſche Saite mit groͤſſerer Kraft zuruͤkke, als ſich
der Darm der Kazze zu verkuͤrzen pflegte, woraus der
Kuͤnſtler dieſe Saite gedreht hat.
Doch es ſind auch alle beide Kraͤfte, der Gegend nach,
ſehr von einander verſchieden. So iſt die todte Zuſam-
menziehungskraft einer jeden thieriſchen Faſer weſentlich;
hingegen eben dieſe lebendige Kraft nur dem Muſkel
eigen. Dieſes mus ich hier mit Sorgfalt entwikkeln, weil
viele beruͤmte Maͤnner (r), ſowohl vor Zeiten, als in
unſern
[23]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
unſern Tagen, andre Gedanken hiervon hegen, und eine
jede thieriſche Faſer mit der Kraft ſich zu verkuͤrzen, nicht
mit der todten, ſondern mit der lebendigen, welche mit
der unſrigen einerley iſt, aufs freigebigſte beſchenken.
Sie haben ſich auch durch gewiſſe Verſuche verſchan-
zen, und durch die Einſchrumpfungen, der nicht muſku-
loͤſen Theile (s), durch die Schwankungen der Membra-
nen (t) und durch die ſo genannte motus tonicos (Span-
nungskraͤfte des Lebens) (u), wie auch durch das Zuruͤkk-
ziehen der zerſchnittnen Theile rechtfertigen wollen (x),
wozu ſie auch die Kraͤfte der Gifte zu Huͤlfe genommen.
Und daher folgerten ſie endlich, daß auch die Haut (y),
der Mutterkuchen (z), das Zellgewebe (a), die Dekken
der Gehirnmaſſe (b), die Membranen im Eie (c), und
die Nerven reizbar (d) ſein muͤſſen.
Doch ich halte dieſes fuͤr viel zu uͤbertrieben, nach-
dem man die Verſuche daruͤber wiederholt hat. Es be-
wegt ſich naͤmlich weder von ſelbſt, noch nach dem Reize,
B 4das
(r)
[24]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
das Zellgewebe (e), die Membran (f), die Ribbenhaut
(g), das Darmfell (h), die harte Gehirnhaut (i),
der Herzbeutel (k), das Mittelfell, der Regenbogen (k*).
Eben ſo wenig ſind die Haut (l), die nervigen Membra-
nen des Speiſeweges, die mit der Haut in eins fortlau-
fenden Membranen, das Knochenhaͤutchen, die Baͤnder,
die Ausfuͤhrungsgaͤnge, die Gallenwege (m), die Harn-
gaͤnge (n), die Eingeweide als die Leber (o), die Lunge (p),
die Milz (q), der Mutterkuchen, und die Ne[r]ven, welche
auch in der Muſkelbewegung vollkommen ruhig ſind, reiz-
bar (r), ja dieſes gilt auch von den Sehnen (s), welche
doch ſo gar eine Fortſezzung der Muſkeln, und bisweilen
gar zu Knochen geworden ſind (t). Jch rede aber von
einer, und zwar augenſcheinlichen Bewegung, welche ſich
durch Verſuche erweislich machen laͤſt, und nicht von
einer ſolchen, welche man ſich etwa nur einbildet (u).
Folglich iſt die Muſkelfaſer blos der einzige Theil (x),
welcher ſich an lebendigen Thieren von ſelbſt in Bewe-
gung ſezzt, und von der Ruhe wieder durch Reizmittel
und Eiſen, zur Bewegung erwekkt wird. Zu den Muſ-
keln gehoͤren das Herz (y), die Gedaͤrme (z), der Ma-
gen (a), der Schlund (b), die Harnblaſe (c), die Ge-
baermutter (d), und ein Theil der Schlageadern (e).
Von der Gallenblaſe hat man noch keine voͤllige Gewis-
heit (f), und man koͤnnte es von den Blutadern vielmehr
verneinen als bejahen (g). Aus den Verſuchen, welche
man an lebendigen Menſchen angeſtellt, ſcheinet zu erhel-
len, daß auch die Schleimſinus, und die Druͤſen an
der Reizbarkeit Theil nehmen (h).
Hingegen laſſen ſich diejenigen Bewegungen, welche
von den ſchaͤrfſten Giften hervorgebracht werden, ſo lange
noch nach dem Tode, ſo ſehr in trokknen und kalten Mem-
branen wieder herſtellen (i), und ſie werden mit ſo groſſer
Zuverlaͤßigkeit in denjenigen Theilen erregt, denen Nie-
mand eine wirkliche und eigentuͤmliche Bewegung jemals
zuſchreiben kann, daß man alſo dieſe Bewegungen zu kei-
ner lebendigen Kraft mitzaͤlen darf.
Wenn man endlich das vorhergehende wiederholt, ſo
erſieht man daraus, daß die todte Kraft eine Fortſez-
zung, hingegen die lebendige eine Abwechſelung ſei, und
daß auch dieſe ein groͤſſeres Zuſammenziehen hervorbringe,
weil ſie eine Faſer uͤber ihren Zuſtand der Ruhe verkuͤrzt
(k).
Da folglich nicht einmal die Geſezze der Bewegung,
in beiderlei Kraͤften einerlei ſind, und beide weder in
der Dauer, noch in der Gegend uͤbereinſtimmig ſind, ſo
mus man die lebendige Kraft allerdings von der todten
abſondern (l).
Dieſe lebendige Kraft einer Muſkelfaſer ſelbſt ſcheint
das einzige Merkmal herzugeben, wodurch ſie ſich von
den Zellfaͤden unterſcheiden laͤſt (m).
Ein beruͤmter Mann hat, ſo ſonnenklaren Gegenver-
ſuchen zuwieder, dennoch zu behaupten Luſt gehabt, daß
weder das Herz, noch die Blaſe eine Emfindung haben
(m*).
So bald unſre Verſuche, ich weis ſelbſt nicht wie,
die Menſchen darauf gebracht, an das reizbare Weſen
einer Faſer zu gedenken, ſo haben die meiſten diejenige
Kraft, vermoͤge der ſich ein Muſkel von freien Stuͤkken
bewegt, mit der Kraft zu empfinden vermengt (n);
an-
[27]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
andre hingegen, wenn ſie nicht eben beide Weſen, das
empfindende Weſen und das bewegende vermengen, ſo
glauben ſie doch, daß der Nerve reizbar ſei (o), daß
dieſes reizbare Weſen im Nerven von der Empfindung
herruͤhre, und daß, ohne Empfindung, keine Reizbar-
keit ſei (p). Es ſei der Grundſtoff zur ſelbigen die
Zartheit (q) und Spannung der Nervenfaſern, und
es verhalte ſich die Kraft der Reizbarkeit, wie die Menge
der Nerven (r).
Sie haben auch zum Beweiſe ihrer Meinung Verſu-
che aufgewieſen, daß alle reizbare Theile, oder die mit
einer lebendigen Kraft begabt ſind, Empfindungen haben,
daß ſie nach Proportion reizbar ſind, wie ſie empfindlich
ſind (s), daß die Theile, welche maͤßig reizbar ſind,
wenn ſie durch Entzuͤndung oder auf andre Art empfind-
lich gemacht worden, nunmehr ſtaͤrkere Kraͤmfe leiden (t),
daß junge Thiere empfindlicher ſind (u) und ein groͤſſeres
Gehirn haben, und viel reizbarer ſind, daß Hunde, wel-
che durch den Kaiſerſchnitt zur Welt gebracht worden,
ſehr reizbar werden (x), daß das klopfende Voͤgelchen im
Eie groſſe Empfindlichkeit aͤuſſere (y), und daß diejeni-
gen Theile, welche in einem neugebornen Thiere reizbar
waren, mit den Jahren ſo wohl unempfindlicher (z), als
zur Bewegung traͤger werden, daß, wenn die Empfindung
abnimmt, auch die Reizbarkeit abnehme, und wenn jene
aufhoͤrt, auch dieſe zugleich mit aufhoͤre (a), (b), daß das
Opium
[28]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Opium die zuſammenziehende Kraft des Herzens (c), und
der Gedaͤrme (d) vernichte, daß der gereizte Muſkel eines
ſterbenden Thieres nur ſchwache Schwankungen hervor-
bringe (e), daß ſich die Bewegung einer Muſkelfaſer
wie das Reizmittel (f) und die Schaͤrfe verhalte, von der
ſie ihren Urſprung bekaͤme, oder ſich auch wie die Ent-
bloͤſung des Nerven verhalte (g).
Es iſt zwar unter dieſen Einwendungen manche War-
heit mit begriffen, wir koͤnnen aber dennoch auf keinerlei
Weiſe einzuſehen beredet werden, daß die Kraft, womit
wir empfinden, und die Kraft, welche ſich bei den Reiz-
mitteln durch neu entſtandne Bewegung verraͤth, einerlei
ſein ſoll, indem die Kluft, welche beide von einander
trennt, viel zu gros iſt. Sie ſind demnach vors erſte
dem Orte nach von einander unterſchieden. Es wird blos
eine Muſkelfaſer von der lebendigen Kraft zuſammengezo-
gen (h), es empfindet blos der Nerve, und diejenigen
thieriſchen Theile, zu denen Nerven hingehen (i). Es
empfinden alſo ſehr viel Theile, welche doch nicht reizbar
ſind, und das thut vor allen andern der Nerve, der,
da er unter allen Theilen die ſtaͤrkſte Empfindung hat,
nicht das mindeſte von der zuſammenziehenden Kraft be-
ſizzt, diejenige todte Kraft ausgenommen (k), welche von
Giften in Bewegung geſezzt wird. Es gilt eben dieſes
auch von dem Marke des Gehirns und dem Marke des
Nezz-
[29]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
Nezzhaͤutchens im Auge. Es iſt aber weit gefehlt, daß
die Kraft, welche empfindet, und die, von der die Lebensbe-
wegungen erwekkt werden, einerlei ſei, und daß demohn-
geachtet doch dieſe Lebenskraft in dem Orte und dem Quelle
der Empfindungskraft aufhoͤren ſollte. Es hat dagegen das
Herz, welches doch vor allen andern Theilen des Koͤrpers
zu Bewegungen am geſchikktſten iſt, uͤberhaupt eine ſo
ſtumfe Empfindung (l), daß es Gegner gibt, welche ihm
die Empfindung abſprechen (m).
Es erſtrekkt ſich aber auch die zuſammenziehende Kraft
viel weiter, als die Gewalt der Nerven. Es beſizzen die
Polipen (n), und was ſich unter den Waſſerinſekkten un-
foͤrmliches, und des Kopfes und der Nerven beraubtes
finden laͤſt, dennoch eine ſehr ſcharfe Verkuͤrzungskraft,
und die ihnen demohngeachtet doch einen Kopf, oder der-
gleichen was zugeſtehen (o), nehmen ſich in der Naturhi-
ſtorie in der That zu viel Freiheit (p), indem ſie ſo was
behaupten, welches doch wieder allen Augenſchein ſtreitet.
Endlich ſo trift man ſogar in Pflanzen etwas an, welches
einer reizbaren Kraft nicht ſo gar unaͤnlich iſt (q).
Wenn man an einem lebenden Thiere (r) um den
Nerven eine Schnur wirft, ſo hebt dieſe die Kraft zu em-
finden auf, ſie hebt aber, unſern vielfachen Verſuchen
gemaͤs, durchaus nicht die von ſelbſt wirkſame, oder durch
Reizze wieder zu erwekkende Zuſammenziehungskraft auf,
ob ſich gleich an einem Muſkel, der viele Stunden lang
einen Nerven im Bande feſte haͤlt, die Zuſammenzie-
hungskraft vermindert (s).
Eben dieſe Beſtaͤndigkeit aͤuſſert ſich auch an der Zu-
ſammenziehungskraft eines Muſkels, deſſen Nerven man
zerſchneidet (t). Ein durch die Kaͤlte geſchwaͤchter Muſ-
kel gerieth in ein Zittern (t*). An einem gelaͤmten be-
kam der Muſkel von der Beruͤrung eines elektriſirten Ei-
ſens, ſeine vorige Bewegung wieder (u) und es geſchicht
eben dergleichen an einem durchſchnittnen Muſkel (x) und
an einem abgeſtorbnen Thiere (x*).
Man weis ferner, daß ſich an einem unterbundnen
(x**) und durchſchnittnen (y) Nerven diejenige Bewe-
gung verſtaͤrken laͤſt (z), welche der Muſkel von Natur
beſizzt, und daß ein ſterbendes Thier von kramfhaften
Zuͤkkungen angegriffen werde (a).
Eben ſo dauret auch dieſe reizbare Kraft noch an Thie-
ren fort, denen man den Kopf bereits abgeſchlagen (b);
an Muſkeln, welche man aus dem Koͤrper eher ausreiſt
(c) und an Gliedmaßen, oder andern koͤrperlichen Thei-
len, welche man von dem Koͤrper abſondert (d); und es
kann dieſe Kraft nach voͤlligem Tode, und wenn kein wei-
terer Verdacht einiger Empfindung mehr ſtatt findet (e),
den-
(s)
[31]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
dennoch von neuem wieder erwekkt werden, wenn man
den, nach dem Tode unbeweglich gewordnen, Muſkel in
Stuͤkke zerſchneidet (f).
Endlich ſo gehoͤret vieles, was beruͤmte Maͤnner vor
wahr angegeben, zu derjenigen Bewegung, welche uͤber-
haupt von den Nerven in die Muſkelfaͤſer uͤbergetragen
wird, und welche nach aufgehobner Gemeinſchaft mit den
Nerven von ſelbſten wegfaͤllt und aufhoͤrt. Man gibt
aber diejenige Bewegung, welche wir ſogleich beſchreiben
wollen, nach der Zuſammenziehungskraft als eine Zugabe
zu, da doch die zuſammenziehende Kraft ohne alle Huͤlfe
der Nerven fortdauren kann.
Es heben ferner Dinge, welche die Reizbarkeit auf-
heben, dennoch nicht eben die Empfindung auf. Es hem-
met der beizende Rauch die Reizbarkeit (g), da doch der-
gleichen Daͤmfe vielmehr den Schmerz rege machen.
Schwaͤchliche Koͤrper empfinden ſtaͤrker, ſtarke hingegen
wemger (h).
Es mindert das Opium das Empfindungsvermoͤgen,
und es zerſtoͤrt die zuſammenziehende Kraft, oder den To-
nus des Magens, der Gedaͤrmen, und des Regenbogens
im Auge. Es ſchadet aber uͤbrigens dem Herzen nicht,
indem das Leben fortdauret (i), indeſſen daß die uͤbrigen
gedachte Bewegungen aufgehoben werden, und ſich viel-
mehr der Umlauf des Gebluͤtes, nach dem Gebrauche des
Opium, noch verſtaͤrket (k).
Was ſonſt von der groͤſſern Gewalt dieſes Giftes,
der beruͤmte Robert Whytt(l) meldet, als ob das
Opium die reizbare Kraft um deſto beſſer vernichte, wenn
das Nervenſiſtem noch in ſeinem vollkommnen Zuſtande
iſt, hingegen traͤger wirke, wenn man dem Thiere den
Kopf abreiſt und das Nervengebaͤude zerſtoͤrt, alles dieſes
iſt nicht nur ein wenig zu fein ausgedacht, ſondern es laͤſt
ſich auch durch beſſere Verſuche wiederlegen. Jch ſage,
zu fein ausgedacht, weil dieſer beruͤmte Mann dem Thiere
ungeheure Wunden beibringt, den Kopf abſchlaͤgt, den
Bauch oͤffnet (m), ſolglich laͤſt ſich bei einer ſolchen Mar-
terbank ſchwerlich urtheilen, was das Opium zu dem
ohnedem toͤdlichen Wunden, entweder beitrage, oder an
denſelben mildere. Ferner ſo ſind es wirkliche Unwarhei-
ten, da man uͤberhaupt gezeigt hat, daß Opium den
Nerven nicht die Kraft Muſkeln zu reizen, raube (n),
wenn man es, wie Whytt gethan, von auſſen an die
Nerven bringt.
Es ſtehet ferner die Zuſammenziehungskraft, und die
Empfindungskraft nicht in einerlei Verhaͤltniſſe gegen ein-
ander (n*), indem ſich die erſtere nach der Groͤſſe und
Bloͤſſe der Nerven richtet, die leztere hingegen ſich nach
der Menge der Faſern bequemt (o), welche dem Reize
ausgeſezzt werden, und es ſcheint dieſes eben die Urſache
zu ſein, warum der elektriſche Funke kraͤftiger, als ein
jedes andre Reizmittel iſt, indem derſelben uͤber alle andre
Reize durchdringend iſt, und ſich in das innerſte der Fa-
ſern
[33]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
ſern einſchleicht (p). Und daher laͤſt ſich auch begreifen,
warum ſich ein durchſchnittner Muſkel ſo heftig zuſam-
menziehe (q).
Es laͤuft ferner gegen die Warheit, daß ſich das Zu-
ſammenziehen, wie die Schaͤrfe der Reizmittel verhalte,
und folglich nicht, wie die vom Reize entſtandne Empfin-
dung beſchaffen ſei (r). Wir haben gezeigt, daß ſich das
Herz viel beſſer von dem Einblaſen der Luft, als von ſau-
ren Geiſtern reizen, und in Bewegung bringen laſſe. Es
erregt ein elektriſcher Strudel an den Muſkeln Bewegun-
gen, oͤhne denſelben Schmerzen zu erwekken. Es gibt
Reize, welche Kraͤmfe nach ſich ziehen, wie man an der
Nieſewurzel ein Exempel hat, da doch andre, und viel
ſchaͤrfere Dinge, nichts von dergleichen Dingen verurſa-
chen (r*). Es entſtehen oft auch in hiſteriſchen Bewe-
gungen ſehr gewaltige Kraͤmfe, ohne daß eine Frauens-
perſon, welche ihrer nicht bewuſt iſt, dabei Schmerzen
und Empfindungen (s) verſpuͤren ſollte. Es geſchicht eben
das in Thieren, deren Muſkeln man entbloͤſt, indem ſel-
bige auch ohne einige Klagen wirkſam ſind (t). Dahin-
gegen ſind die allerheftigſten Schmerzen des Krebſes und
des Steines faſt ohne alle beigemiſchte Bewegungen (u),
und ſo ſchmerzen auch ſelbſt die gelaͤmten Glieder ſehr
ſelten (x).
Folglich bewegt ſich auch das Unempfindliche, und es
empfindet, was ohne Bewegung iſt (y), und man mus
demnach das Empfinden von der Kraft ſich zuſammen zu
ziehen abſondern (z).
Und ſo haben beruͤmte Maͤnner (a) recht, wenn ſie
die Emfindlichkeit von der Reizbarkeit unterſcheiden.
Da alſo dieſe Kraft ſo wohl von der Elaſticitaet,
als auch von der, allen Faſern gemeinen todten Zuſam-
menziehungskraft, unterſchieden iſt, ſo ſcheinet ſelbige
uͤberhaupt eine beſondre Kraft auszumachen, welche einer
thieriſchen Faſer eigen iſt, und den Karakter einer ſolchen
Faſer zu beſtimmen, das Anſehn hat, daß man alſo ſagen
kann, es ſei eine jede Muſkelſaſer reizbar, und dagegen,
was reizbar iſt, iſt auch eine Muſkelfaſer (b). Sie
iſt aber eine fuͤr ſich ganz eigne Kraft (c), welche ſich
von einer jeden andern Kraft unterſcheidet, und die
man unter die Quellen der Bewegungen zaͤlen mus,
ob man ihre innere Urſache gleich nicht kennt. Sie
iſt den Faſern angeboren und weſentlich (d), und ſtroͤ-
met nicht von anders woher in ſie. Dieſe Kraft
hat verſchiedne Namen erhalten, und iſt zur Zeit in
ſo weit bekannt geworden, daß man ſie einiger maaßen
feſtgeſtellt, und beſtimmt hat. Es hat Franz Gliſſon,
der den geſammten Elementen der Koͤrper eine Bewe-
gungskraft (e) beilegt, auch unſre Kraft Reizbarkeit(f)
genannt, nicht aus der Urſache, weil ſie niemals ohne eine
Anreizung geſehen wird, ſondern darum; weil ſie nach
einer Reizung gewis erfolgt. Jndeſſen behauptet dieſer
be-
[35]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
beruͤmte Mann doch, daß dieſe Kraft theils von einer
natuͤrlichen Empfindung (f*) und theils von dem aͤuſſern
Gefuͤle (f**), wie auch von dem Reize des Blutes im
Herzen herruͤhren ſoll. Er theilt ſelbige allen Theilen
des menſchlichen Koͤrpers mit, und laͤſt ſo gar die
Knochen (g) und unſre Saͤfte reizbar ſein. Folglich ver-
bindet er offenbar alle Arten des todten Zuſammenziehens
mit unſrer, unter Haͤnden habenden Kraft. Doch hat
er recht, wenn er ſie von der Nervenbewegung (h), die
von der Einbildungskraft entſteht, unterſcheidet. Er hat
mit Augen geſehen, wie dieſelbe uͤbermaͤßig werden koͤnne,
und es hat dieſes Uebermaas Boerhaave nach gedach-
tem Schriftſteller die Rraft des Jukkens(i) genannt.
Walther Charleton gibt von ihr keine unebene Beſchrei-
bung, wenn er ſie eine natuͤrliche Empfindung, ſich bei
verdrieslichen Beruͤhrungen zuſammenzuziehen, nennt (k).
Es beſchreibt Lorenz Bellin die Zuſammenziehungs-
kraft weitleuftig, welche von ſcharfen Dingen erwekkt
wird, ſich von den Urſachen der Beſchwerlichkeit loszuma-
chen ſucht, zu dem Ende die Muſkeln in Bewegung ſezzt,
den Zulauf des Blutes beſchleunigt, eine Entzuͤndung,
Ableitung, und Ausleerung vornimmt, und dieſes alles
laͤſt derſelbe, der Hipoteſe gemaͤs, ganz mechaniſch, aber
ohne Verſuche geſchehen (l). Auſſerdem ſcheinet ſowohl
dieſer beruͤmte Mann als deſſen Nachfolger, die lebendige
Kraft des Zuſammenziehens von der todten, und dieſe
von der, von den Nerven abhaͤngenden, nicht hinlaͤng-
lich genung zu unterſcheiden.
Solchergeſtalt hat es auch das Anſehn, daß des
Stahls ſein Tonus gar artig zu der Reizbarkeit gezogen
werden koͤnne, da er mit Grunde ſchreibt, daß dieſe Ton-
C 2bewe-
[36]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
bewegung, von der obenein hinzukommenden Nervenbe-
wegung, verſtaͤrkt und groͤſſer gemacht werde (m). Dem-
ohngeachtet ſchreibt doch dieſer Arzt ſeinen Tonus nicht
nur allen und jeden Theilen in einem Thiere, ſondern
auch inſonderheit den Pareuchimatibus (Mittelſubſtanzen,
zwiſchen Fleiſch und Blut) zu, ja, er lehret auſſerdem,
daß derſelbe von der Seele beherrſcht und die Faſern
von der Seele geſpannt, oder nachgelaſſen werden.
Faſt eben dieſes iſt auch die Lebenskraft des Sorters
(n), welche ebenfalls allen Faſern gemein ſein ſoll. Die
Oſcillation (Schwingung), wie ſie Boerhaave(o)
nennt, weicht nicht ſehr von unſrer Kraft ab, nur daß
dieſer vortrefliche Mann, die Kraft der Nerven, an kei-
nem Orte von der Muſkelkraft abſondert. So nennt
auch Friederich Winter(p) die Reizbarkeit ein Princi-
pium der Bewegung, und er geht in ſo fern von uns ab,
daß er lehrt, ſie habe ihren Sizz in den Nerven, und
werde von dem Reize des Geiſtes zur Bewegung veranlaſt.
Als hierauf meine Verſuche bekannt wurden, ſo ge-
wann die Reizbarkeit ploͤtzlich ein ſo groſſes Anſehn, daß
man von derſelben im menſchlichen Koͤrper uͤberhaupt alle
Bewegungen des Lebens, und die unwillkuͤrliche Bewe-
gungen (q) oder wenigftens doch die mereſten darunter
(r), ſonderlich die Schlaͤge des Herzens (s) herleitete.
Sobald ich mich aber, fuͤr meine Perſon, an die Ver-
ſuche ſelbſt machte (t), glaubte ich nicht nur etwas weiter,
als man bisher gekommen, darinnen gehen, ſondern auch
diejenigen Verſuche etwas naͤher einſchraͤnken zu koͤnnen,
mit welcher ſich beruͤmte Maͤnner etwas zu gute gethan
hatten. Jch trennte naͤmlich das reizbare Weſen, einer
Seits von der todten Kraft, andrer Seits von der
Kraft der Nerven, und von der Herrſchaft der Seele,
und ich zeigte, daß von ihr die Bewegung des Her-
zens (u) und die reizbare Natur der Gedaͤrme einzig
und allein abhinge. Jch ſchraͤnkte ſie blos auf die
Muſkelfaſer ein, und in dieſem Stuͤkke hegen die hol-
laͤndiſchen Phiſiologiſten nicht mit uns einerlei Gedan-
ken; ſie werden aber, wie ich verhoffe, meines Sinnes
werden, wofern es ihnen beliebt, von der einem Muſkel
eignen reizbaren Natur, die Zuſammenziehungskraft ab-
zuſondern, welche einer thieriſchen Faſer gemein iſt. Jch
zeigte ferner, daß zwar dieſe Kraft beſtaͤndig, als eine
lebendige Kraft zugegen ſei, und oft, ſo viel wir wenig-
ſtens begreifen koͤnnen, keinen aͤuſſerlichen Reiz vonnoͤthen
habe, um in eine wirkliche Bewegung auszubrechen (x),
daß ſie aber demohngeachtet doch ungemein leicht, ſo oft
ſie gleichſam einſchlafe, von Reizmitteln wieder erwekkt
werden koͤnne. Jch unterſcheide in dieſer Bewegung (y)
den Reiz, der nur klein ſein darf, und die von dieſem
Reize hervorgebrachte Bewegung, welche ungemein gros
ſein kann. Blos in dieſer Anmerkung ſtekkt ſchon die
Antwort, auf die Einwendungen einiger beruͤmten An-
haͤnger der Stahliſchen Theorie, welche ſich die Sache
C 3ſo
[38]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
ſo einbilden, daß man von der Seele die Urſache zur Be-
wegung hernehmen muͤſſe, weil der Koͤrper keine andre,
als eine von ihr erborgte Bewegung hervor zu bringen
vermoͤgend ſei (z). Allein dieſe Ordnung ſteht den leich-
teſten Erfahrungen (a) im Wege, aus denen man lernt,
wie von dem Schlage einer Lanzette, deſſen Gewicht man
leicht berechnen koͤnnte, ein Kramf in unzaͤlbaren Muſ-
keln auch ſo gar an todten Thieren, und eine Gewalt her-
vorgebracht werde, welche tauſend Pfunde uͤber den Hau-
fen werfen koͤnnte.
Jch machte auch den Anfang, an dieſer Gewalt einige
Grade feſte zu ſezzen, und zu zeigen, daß unter den
Muſkeln das Herz (b) mit den Herzohren die allerſtaͤrkſte
Reizbarkeit beſizze, daß auf dieſes die Gedaͤrme zu folgen
ſcheinen (c), und daß gemeiniglich die uͤbrigen Muſkeln
viel ehe einſchlafen, als das Herz oder das Gedaͤrme.
Jch mutmaße, daß das Zwerchfell uͤber alle andre Muſ-
keln einige Vorzuͤge beſizze (d). Und daraus glaube ich,
begreiflich machen zu koͤnnen, warum die Lebenstheile, das
Herz und das Gedaͤrme (e), auch ſogar im Schlafe, ſeine
Be-
[39]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
Bewegungen in eins fortſetzen, indem gedachte Theile
nicht nur aͤuſſerſt reizbar an ſich ſelbſt ſind, ſondern auch
beſtaͤndig gereizt werden. Es ſcheinet naͤmlich der ein-
faͤltigſte Grund, warum andre Muſkeln, die unter den
Befelen des Willens ſtehen, nicht von ſelbſt Bewegungen
machen, dieſer zu ſein, weil ſie weniger reizbar ſind;
denn wenn ſich auch dieſe Muſkeln bewegen, ſo bald man
einen groͤſſern Reiz an ſie bringt, es mag ſelbiger entwe-
der von einer aͤuſſerlichen reizenden Urſache, wodurch
der Kramf erwekkt wird, oder von dem Willen der Seele,
auf den der Strom des reizenden Nervenſaftes bis zu den
Muſkeln zu folgen ſcheinet, herruͤhren, ſo laͤſt ſich uͤber-
haupt ſehr warſcheinlich daraus ſchlieſſen, daß ſolche Muſ-
keln darum von den geringern Reizen des menſchlichen
Lebens, und von der leichten Beruͤhrung der benachbar-
ten Schlagadern nicht zur Bewegung ermuntert werden,
weil dieſe Reize viel zu ſchwach, und nicht geſchickt ſind,
die traͤge Reizkraft bis zu einem voͤlligen Zuſammenziehen
zu vermoͤgen.
Man kann es alſo dieſen unſern Arbeiten zuſchreiben,
daß der alte Name Reizbarkeit (f) hin und wieder zu-
gleich mit meinem Namen wiederholet, und von groſſen
Maͤnnern dieſe Kraft, als was neues, unter die Erfindun-
gen der Deutſchen mit eingeruͤkkt wird (g). Doch ich
nehme mir deswegen nichts vor andern voraus (h), indem
ich die Arbeiten andrer Maͤnner vor mir mit Danke der
meinigen vorziehe (i), und mich gern beſcheide, daß ich
von dem voͤlligen Lichte der Warheit noch weit genung
entfernt bin. Einige beruͤmte Maͤnner unter den Neuern
nennen ſie lieber die Lebenskraft(k) allein dieſer Na-
me gefaͤllt mir nicht ſo gut, weil unſre Kraft, die Kraft
C 4des
[40]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
des Lebens noch ein wenig uͤberlebt. Folglich wuͤrde ich
ſie lieber die angeborne, weſentliche, oder eigene Kraft
des Muſkels nennen.
Man erlaube mir, dieſem noch etwas weniges beizufuͤ-
gen, welches ſeinen Grund in der Mutmaßung hat. Da
es uͤberhaupt in allen menſchlichen Faſern zwei Grund-
ſtoffe gibt (l), naͤmlich eine Erde, und ein bindender
Leim, ſo laͤſt ſich fragen, in welchem von beiden Elemen-
ten dieſe dem Muſkel weſentliche Kraft eigentlich befind-
lich ſei. Jch habe mich geaͤuſſert (m), daß ſelbige vor-
naͤmlich in dem Leime verborgen liege. Es zieht ſich naͤm-
lich der Leim ſelbſt, vermoͤge ſeiner todten Kraft, und es
iſt dieſes gleichſam der allererſte Grad der Materie, welche
auf das Zuſammenziehen Anſpruch macht. Bringt man
hingegen die Erde in ihre Anfaͤnge, ſo iſt ſie zerreiblich,
ohne allen Zuſammenhang, und gelangt, wenn man ihr
den verlornen Leim wiedergibt, zu der vorigen Zaͤhigkeit.
Alle Metalle bekommen ihre Strekkbarkeit unter dem Ham-
mer, die aufs genaueſte mit der anziehenden Kraft ihrer
Theile verbunden iſt, wenn ſie ſolche verloren, von Fet-
tigkeiten wieder, wenn man ſolche unter die ſchmelzende
Metalle miſchet. Thiere, welche faſt nichts als ein beleb-
ter Gallert ſind (n), und deren viele im Waſſer leben, be-
ſizzen dieſe reizbare Kraft in einem hohen Grade, ſo daß
der Polipus ſo gar vom Lichte gereizt zu werden ſcheint,
da er keine Augen hat, und alle Thiere an der Kuͤrze ſei-
ner Hoͤrner (Aerme) uͤbertrift (n*), welche er nach Ge-
fal-
[41]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
fallen verlaͤngern kann. Es ſind Muſkeln anfangs gleich-
ſam gallertartig (o), und eben dieſe Art hat auch das Herz
eines Huͤnchens, wenn es zur Bewegung am geſchikkteſten
iſt. Junge Thiere haben viel Leim, hingegen ſehr wenig
Erde, und ein Kalb gibt viel Erde, und weniger Leim
von ſich. Und ſo lehrt auch die Erfarung, daß junge
Thiere viel reizbarer, als die alten ſind (p). Es ſind die
Theile eines belebten Koͤrpers biegſam, und weich, und
folglich beſtehen ſie aus einer Menge Leim, und ſie ſind
reizbar; dahingegen diejenigen Theile, welche an Erde
Ueberflus haben, als die Knochen und Zaͤhne, und die
Sehnen, welche ſchon haͤrter als ein Muſkel ſind, von
dieſer Kraft der Reizbarkeit ausgeſchloſſen ſind. Jch ſage
dieſes ſo, wie ich es einſehe, da man weis, daß dieſes
beruͤmte Maͤnner, als eine gleichguͤltige Sache beſtreiten,
(q), und es ſagt ein groſſer Mann, daß dieſe Kraft in
den belebten feſten Theilen, und nicht im Leime, noch in
den Grundſtoffen wohne (r), doch auch in belebten feſten
Theilen trift man entweder Erde, oder Leim an (s).
Es ſcheint uͤbrigens dieſe Kraft, um es im voraus zu
ſagen, gleichſam in der Leibesfrucht zu ſchlafen, welche in
der Mutter ihrem Eigen liegt, und nur erſt erwekkt und
belebt zu werden, ſobald ſie von dem maͤnnlichen Saa-
men gereizt wird. Sie ſcheint von der Nahrung endlich
zu wachſen, und von der Kraft des Lebens, mit einem
gewiſſen Grade der Feſtigkeit, immer mehr und mehr
zuzunehmen. Es bezeiget ſich naͤmlich das Gedaͤrm eines
jungen Huͤhngen, noch vor dem ſechszehnten Tage ganz
reizlos (t), und ſtimmt nach dieſem Tage mit dem ange-
C 5brach-
[42]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
brachten Reize uͤberein. Es laͤſt ſich eben dieſe Kraft,
wie es ſcheint, vom Gebrauche des Opium (u) ſchwaͤchen,
weil ſich alsdenn im ganzen Koͤrper das Waſſer anhaͤuft,
wie auch von dem Einſchmieren mit Oel, von erweichen-
den Arzneien, und allen Entkraͤftungen verringern. Sie
waͤchſt von einer mittelmaͤßigen Ausdehnung des reizba-
ren Theiles, wie man an dem Einblaſen der Luft ſehen
kann. Sie hoͤrt in einer zu heftigen Spannung auf.
So verliert das Herzohr (x) oder die Kammer des Her-
zens (y), wenn ſie ſehr mit Blut angefuͤllt ſind, das Ge-
daͤrme (z), wenn es eben ſo von der Luft ausgedehnt iſt,
und die Harnblaſe, die mit Harn uͤberladen wird (a),
ihre reizbare Beſchaffenheit. Es verſtattet mir die weit-
laͤuftige Arbeit, und die gegenwaͤrtige Sache nicht, daß
ich dieſes umſtaͤndlicher ausfuͤhre.
Es ſcheinen uͤbrigens die kleinen Thiere mehr Reiz-
barkeit und die groſſen weniger zu beſizzen (b). Man
mus einem Pferde uͤbermaͤßige Doſen von Brechmitteln
und Kliſtiren reichen, wenn die Gedaͤrme gereizt werden
ſollen, um ſich auszuleeren.
Es ſcheint auch, daß dieſe oder jene Theile des Koͤr-
pers von einerlei Reizmitteln anders angegriffen werden
(c). So vertraͤgt die Harnblaſe einen ſehr ſcharfen Urin,
aber nicht ſo gut laulich Waſſer, welches man in ſie ſprizzt.
Der
[43]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
Der Magen wird vom Spiesglaſe zum Erbrechen ge-
bracht, ob das Auge gleich dadurch nicht gereizt wird.
Hierzu koͤnnen die verſchiedne Bekleidungen das ihrige
mit beytragen, indem dieſe Koͤrper ſo, und andre wieder
anders in ſelbige einzudringen geſchikkt ſind.
Eben ſo ſcheint auch bei manchen Menſchen die reiz-
bare Natur groͤſſer, bei andern hingegen ſchwaͤcher zu
ſein. Man weis mit Gewisheit, daß einige Frauens-
perſonen von einer geringen Gemuͤtsbewegung ſo gleich in
kramfhafte Verzuͤkkungen verfallen, und daß hingegen
Mannsperſonen nicht ſo leicht davon angegriffen werden,
ob gleich einige dennoch zu zittern anfangen, bei bleichem
Urine Froſt empfinden, und das Herzklopfen bekommen.
So werden einige von Freude, oder Zorn ſehr heftig er-
hizzt, dahingegen andre weder von der Furcht, noch vom
Zorne leicht in Bewegung gebracht werden. Einige wer-
den von muſikaliſchen Thoͤnen ſo gleich zum Weinen ge-
bracht, da ſich andre hingegen auch am Wiehern der
Pferde beluſtigen. Es gibt ferner viele Perſonen, die
von dem geringſten Reizmittel Stuͤle bekommen; da es
hingegen bey andern ſehr ſchwer damit haͤlt, und es muͤſ-
ſen ganze Voͤlker Doſen haben, welche man, ohne ſich
luſtig zu machen, in einer andern Himmelsgegend gewis
nicht verſchreiben duͤrfte (c*). Und von dieſer Sache
koͤnnte man unzaͤhliche Exempel anfuͤhren, wenn nicht
jederman mit uns eins waͤre.
So verhaͤlt ſich die Sache mit den Nerven. An den
Muſkeln aͤuſſert ſich ebenfalls bald eine ungemeine Staͤrke,
bald wieder eine Welkheit, und man kann ſo gar an
Muſkeln, welche durch oͤftere Bewegungen gebraucht
werden, den Unterſcheid ſehr leicht, und ſo gar durch das
Anfuͤlen bemerken.
Nun ſcheint die Urſache dieſes gedoppelten Unterſchie-
des in den feſten Theilen zu ſtekken, weil in einem und
eben demſelben Menſchen, wenn er gleich noch ſo fremd-
artige Speiſen genieſſet, immer einerley Beſchaffenheit da
iſt, und nach ſchweren Krankheiten, und wenn ſich der
Koͤrper an ſeinen Saͤften erſchoͤpft hat, eben die vorige
Miſchung wieder einſtellt. Es ſcheinen die Saͤfte, welche
die Gefaͤſſe unſers Koͤrpers durchwandern, mehr Gaͤſte,
als Theile von uns ſelbſt zu ſein. Folglich mus die Ur-
ſache in dem Leime verborgen liegen.
Von dieſer Sache laͤſt ſich nun die zwote und vor-
naͤmſte Urſache der verſchiednen Temperamenten herleiten.
Es ſcheint die Faͤhigkeit, heftige ſinnliche Eindruͤkke, wel-
che ſich mit einer Muſkelſtaͤrke verbinden, das choleriſche
Temperament auszumachen. Eben dieſe Faͤhigkeit, doch
bei einer ſchwachen Faſer (c**), macht das hipochondriſche
und hiſteriſche Temperament. Eine geringere Geſchikk-
lichkeit, zu den Bewegungen des Leibes und der Seele,
aber mit Staͤrke verbunden, ſcheint das ſangviniſche, und
bei einer ſchwachen Faſer, das phlegmatiſche Tempera-
ment hervorzubringen. Jch gebe hier von der Sache
blos die erſten Grundzuͤge, weil ich weis, wie noͤthig es
ſei, ſie ſtuͤkkweiſe durchzugehen, und ich geſtehe es gern,
daß ein jeder Menſch in der Anlage des Reizbaren, ſeine
beſondre Verbindung mit der Beweglichkeit des Nerven-
ſiſtems habe.
Es iſt gewis, daß ſich der Reiz von einer Faſer zur
andern fortpflanzt, und daß ſich das ganze Gedaͤrme weit
und breit zuſammenzieht, wenn gleich nur wenige Faſern
vom
[45]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
vom Gifte, oder einem andern Reize beruͤrt werden;
eben ſo ſieht man, daß ſich dieſe Bewegung bisweilen bis
in die benachbarte Theile verbreitet, wie man an der Ue-
bereinſtimmung des Zwerchfells bei dem Erbrechen gewar
wird, ob die Urſache des Reizes zum Erbrechen gleich
im Magen liegt (c†).
Es ſcheinet dieſe Uebereinſtimmung entweder durch
die Nerven zu geſchehen, welche beiden Theilen gemein
ſind, oder durch das Zellgewebe fortzulaufen (c††).
So zieht ſich der Regenbogen offenbar zuſammen,
nicht weil er dazu eine eigene Kraft hat, denn er iſt nicht
reizbar, ſondern vermoͤge des gereizten Nezzhaͤutgen (d).
Man erſiehet daraus, daß wenn eine Faſer des Muſ-
kels angezogen, und nunmehr kuͤrzer wird, die benach-
barte Faſern ſelbſt, vermittelſt der zellfoͤrmigen Feſſeln,
mit angezogen, und ſolchergeſtalt gereizt werden; eine ge-
reizte Faſer zieht ſich aber zuſammen.
Es offenbaret ſich, auſſer der einer Muſkelfaſer we-
ſentlichen Kraft, noch eine andre in derſelben, welche der
vorigen in ſo fern gleich iſt, daß ſie ebenfalls ganz allein
in der Muſkelfaſer ihren Sizz hat. Dieſes lehren die
Verſuche ſo, und es wiederſpricht dieſer Erfarung Nie-
mand, indem ich denjenigen Schriftſteller uͤbergehe (e),
welcher die Theile des menſchlichen Koͤrpers nicht von den
Muſkeln, ſondern von der toniſchen Kraft der Knochen-
haͤutgen, und der Membranen bewegen laͤſt. Man haͤtte
bei
[46]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
bei dieſem Sazze, entweder den Verſuchen des Galens
(f), welcher beim Zerſchneiden der Ribbenmuſkeln, das
Atemholen und Ausatmen verloren gehen geſehen, oder
auch den Verſuchen der Hollaͤnder (g) ihr Recht thun
muͤſſen, welche den Hals, der zu ſehr auf eine Seite ver-
dreht iſt, dadurch wieder in die Hoͤhe richten, daß ſie den
zizzenfoͤrmigen Muſkel der ſtaͤrkern Seite durchſchneiden;
oder man haͤtte auch die Erfarung des Veſalius beant-
worten muͤſſen (h), welcher bewieſen, daß ein Glied un-
beweglich werde, deſſen Muſkeln man queer durchſchnitten.
Sie iſt von der angebornen Kraft aus dem Grunde
verſchieden, weil ſie vom Gehirne durch die Nerven in
die Muſkeln eingeht, und ſelbige in Bewegung ſezzt.
Dieſes ſcheint mir ſo einfach zu ſein, und aus unzaͤlichen
Verſuchen (i) ſo gewis zu folgen, daß ich nie begreifen
koͤnnen, wie es Maͤnner, welche in der Kunſt ſo erfaren
ſind, noch in Zweifel ziehen koͤnnen. Es aͤuſſert ſich naͤm-
lich in allen Thieren, welche Nerven haben, einerley Zu-
ſammenlauf der Nerven in die Muſkeln (k), es erfolgt
eben ſolche Laͤhmung von der Unterbindung der Nerven
(l), und ein eben ſolcher Kramf, (m) wenn man die Ner-
ven reizet, und es hoͤrt dieſer ebenfalls vom Opium, und
wenn man den Nerven enzwei ſchneidet, auf.
Uebrigens gehet dieſe Bewegung mit dem Leben zu
Ende, und ſie iſt in Thieren von kaltem Blute faſt eben
ſo beſtaͤndig, als die angeborne Bewegung iſt, indem an
einem ohnlaͤngſt geſtorbnen Thiere (n), welches nun keine
Emfindung und willkuͤrliche Bewegung mehr uͤbrig zu ha-
ben ſcheint, der noch feuchte und ganze Muſkel kramfhafte
Be-
[47]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
Bewegungen hervorbringt, wenn man ſeinen Nerven reizt.
Es verhaͤlt ſich dieſe Sache eben ſo bei den Thieren von
warmen Blute (o), ſie zeigt ſich in ihnen noch ſtaͤrker,
als in den kalten, und verlangt noch mehr, daß ſich der
Nerve in vollkommnem Zuſtande befinde, indem auch die
Muſkeln ſelbſt von dem Reize der Nerven Kraͤmfe be-
kommen, wenn der gebundene Nerve unterhalb dem
Bande gereizt (p), durchſchnitten (q), oder endlich der
Muſkel und der Nerve vom Koͤrper abgeſchnitten wird
(r), wie man aus einem Verſuche des Swammerdams
ſieht, und wenn ſonſt keine Zeichen des Lebens mehr vor-
handen ſind (s).
Ob die meiſten Schriftſteller gleich (t) der Beſchrei-
bung der Nervenkraft mit einzuverleiben pflegen, daß ſie
gegenwaͤrtig ſein und mangeln koͤnne, ſo haben wir doch
mehr, als eine Urſache, mit dieſer Erſcheinung genauer
zu verfahren. Es ſind auch einige, welche ſagen, daß
ſie beſtaͤndig wirke, und daß nur das Gleichgewichte un-
ter den Gegenmuſkeln, dieſe Nervenkraft nicht ſichtbar
werden laſſe, indem ſie unterdeſſen ein geheimes Gegen-
beſtreben gegen dieſe wiedrige Gewalt ausuͤbe.
Jch habe geſagt, daß die reizbare Kraft allezeit in den
Muſkeln zugegen ſei, aber dieſes behaupte ich nicht von
der Nervenkraft. Man glaubt wenigſtens, daß ſie als-
denn mangele, wenn das Glied welk wird, und man
an dem Muſkel diejenige Zufaͤlle bemerkt, welche wir an
ſei-
[48]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
ſeinem Orte erzaͤhlt haben (u), doch in dieſem Zuſtande
befindet ſich ein jeder Muſkel in einem lebendigen Men-
ſchen, oder in einem lebendigen Thiere, der Natur gemaͤs,
auſſer wenn man will, daß er ſich in Bewegung ſezzen
ſoll. Man betrachte nur das Fleiſch der Ribbenmuſ-
keln, denn dieſe gehoͤren mit zu den willkuͤrlichen Muſ-
keln, wie ſolches nach der Thaͤtigkeit wieder ruhig wird
(x), welk, weich, lang, flach wird, und in dieſem Zuſtan-
de beſtaͤndig verharrt, in welchen es kraft des Ausatmens
verſezzt worden, bis in dieſes Fleiſch irgend eine neue
Kraft einfliſt, von der ſie gereizt werden, das Einatmen
vorzunehmen. Jn andern Muſkeln aͤuſſert ſich eben dieſe
Kraft, und ſie liegen noch laͤngere Zeit ſtille, da ſie unter
diejenigen Muſkeln mit gehoͤren, denen die Seele lange
Zeit Ruhe laͤſt, ehe ſie ſie wieder gebrauchet, dergleichen
die Wendemuſkeln des Kopfes ſind. Dieſe ſind die ganze
Zeit uͤber, da ſie die Seele nicht zu Huͤlfe nimmt, weich,
lang, und ſie ruhen nicht im Zuſtande des Zuſammenzie-
hens, ſondern der Nachlaſſung.
Man muß hierbei noch ferner anmerken, daß ein
Muſkel bei der willkuͤrlichen Thaͤtigkeit Schmerzen fuͤlt,
wenn er ſelbige zu lange fortſezzen mus, daß er davon
muͤde wird, und daß wir endlich davon ungemeine Be-
ſchwerlichkeit ausſtehen muͤſſen.
Folglich muß man nicht behaupten, daß ſich die will-
kuͤrlichen Muſkeln ſogar im Schlafe ohne auszuruhen im
Zuſtande des Zuſammenziehens befinden, und eben ſo be-
ſtaͤndig wirken, als das Herz, die Schliesmuſkeln, der
Magen, und das Gedaͤrme, als deren Bewegung, weil
ſie von der, den Muſkeln anerſchaffnen Kraft abhaͤngt,
von keiner Ruhe unterbrochen wird, und welche auch
durch keine Ermuͤdung Beſchwerlichkeiten nach ſich zieht.
Es wuͤrde naͤmlich der Einwurf nichtig ſein, wenn
man ſagen wollte, daß Muſkeln, welche von der Ner-
venkraft getrieben werden, nicht in eine wirkliche Thaͤtig-
keit ausbrechen, folglich waͤre die Arbeit der Natur da-
bei geringer; man zeigt naͤmlich, wie es kommen koͤnne,
daß ſie eden ſo gros werde, und daß ein Muſkel alsdenn
nicht weniger arbeite, wenn er gegen einen gleichſtarken
Gegner hundert Pfunde aufzuheben bemuͤht iſt, welche
jener niedergedruͤkkt, als er damals arbeitete (y), da er
ohne einen Gegner wirklich hundert Pfunde in die Hoͤhe
hob.
Es waͤre ferner dieſe aͤuſſerſte Verſchwendung der
Kraͤfte ohne eine gewiſſe Abſicht und man kann ohnmoͤg-
lich von der weiſen Natur erwarten, daß ſich die Biege-
muſkeln beſtaͤndig, vermoͤge der Nervenkraft, anſtrengen,
und dieſe Kraft zugleich von dem Wiederſtande der aus-
ſtrekkenden Muſkeln verzeren laſſen ſollte.
Mit einem Worte, es herrſcht in den Muſkeln eine,
denſelben eingepflanzte Kraft (z), wodurch die Glieder
in ein gewiſſes Gleichgewichte geſezzt werden. Hingegen
wirkt die Nervenkraft nicht, ohne den Befel des Willens,
und es iſt ſich die Seele dieſes Beſtrebens, welches ſich
durch das Verlangen nach einer Bewegung aͤuſſert, mehr
als zu wohl bewuſt. Nun iſt ſie ſich eines dergleichen Be-
ſtrebens in der Ruhe nicht bewuſt, und da ſie uͤberhaupt
eingeſchraͤnkt iſt (a), und in einerlei Zeit nur wenig Ge-
genſtaͤnde empfinden kann, ſo wuͤrde die Seele einer ſo
groſſen Arbeit, naͤmlich das auf gewiſſe Weiſe eingerichtete
Beſtreben ſo vieler Muſkeln, im Schlafe und in allerlei
Lebensumſtaͤnden in Ordnung zu bringen und daruͤber die
Aufſicht zu fuͤhren, ſchwerlich gewachſen ſein. Die Na-
tur
H. Phiſiol. 5. B. D
[50]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
tur hat uns dieſer ganzen Laſt uͤberhoben, da ſie die
Staͤrke der gegenſeitigen Muſkeln in ein ſo gutes Gleich-
gewicht brachte, daß ſie, vermoͤge der Abwaͤgung ihrer
anerſchaffnen Kraͤfte, die Glieder in einer mittelmaͤßigen
Schlafheit und ſo lange erhalten bis der Befel der Seele
einen oder den andern Gegner zur Thaͤtigkeit aufbietet.
Es hat dieſe von den Nerven herruͤhrende Bewegung
mit der dem Muſkel anerſchaffnen Kraft, die mereſten
Merkmale gemein, auſſer daß ſie gemeiniglich etwas
ſchneller und ſtaͤrker geſchehen. Jch ſage mit Fleis, ge-
meiniglich, weil bei Kraͤmfen (b), welche bei dem Verlu-
ſte des Blutes, und in ſterbenden Thieren vorkommen,
und welche man nicht leichtlich andern Urſachen, als der
angebornen Kraft zuſchreiben kann, weil ebendergleichen
noch alsdenn, wenn das Leben vernichtet worden, in den
abgeriſſnen Gliedern vorhanden iſt, kein Abgang an die-
ſer Kraft zu ſpuͤren iſt. Diejenigen Ausleger, welche
hier Gegenkraͤfte, dergleichen die Federkraft (c), oder das
natuͤrliche Zuſammenziehen iſt, annehmen, und davon
einen Muſkel nach der Vollendung des Zuſammenziehens
ſchlaff werden laſſen, haben dasjenige Zuſammenziehen,
welches in einem bereits abgeſtorbnen Muſkel, der ſich
ſelbſt uͤberlaſſen wird, vorgeht, nicht mit Aufmerkſamkeit
betrachtet (d).
Jch werde, bei Beſchreibung dieſer Erſcheinungen,
ſonderlich auf die, dem Willen unterworfene, Muſkeln
mein
[51]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
mein Augenmerk richten, damit man die angeborne Kraft,
mit der Nervenkraft nicht vermengen moͤge; und ich werde
mich dabei derjenigen Anmerkungen bedienen, welche ich
in Erforſchung der Natur ſo oft an den Muſkeln des
Atemholens wahrgenommen, und vordem in meine Auf-
ſaͤzze eingetragen habe.
Man bemerkt erſt an den Muſkelſtreifen, und Faſern
der Muſkeln (e) einen gewiſſen Zug, vermoͤge deſſen ſie
von ihren Enden ſchnell gegen die Mitte (f) zu laufen,
und kurz darauf von dieſer Mitte wieder gegen ihre Enden
zuruͤkke gehen (g). Beide Zuͤge folgen ungemein ſchnell
auf einander, und man kann dieſe kleine Zwiſchenzeiten
ſchwerlich beſtimmen (h). Jch habe dieſes an den Rib-
benmuſkeln, am Zwerchfelle geſehen, und eben dieſes ge-
ſchicht auch am Herzen. Selbſt der Honig der Bienen
bewegt ſich, vermittelſt wechſelsweiſer Ausdehnungen und
Zuſammenziehungen, durch den Saugeruͤſſel hindurch (h*).
Jndem die Faſern angezogen werden, ſo erſcheinen an
denſelben Runzeln (i) und gleichſam Falten, wie man am
Zwerchfelle ſehen kann. Doch es zertheilt ſich auch am
Herzen die ſo bekannte rote Farbe der Faſern in glaͤnzende
D 2weiſſe
[52]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
weiſſe Atlastheilgen, zwiſchen denen ſich Falten zeigen.
Lower beſchreibt ſie (i*) wie kleine Saͤgen.
Jch habe gemeiniglich zugleich an dem ganzen Muſ-
kel eben dieſe Erſcheinungen geſehen, es geſchahe aber
doch auch, daß ſich das Klopfen und Ziehen der Faſern,
in irgend einem Theilgen allein (k), oder in mehrern Theil-
gen aͤuſſerte, und ſich endlich durch den ganzen Muſkel
ausbreitete (m). So faͤngt ſich auch die Bewegung bei
irgend einer Stelle des Muſkels an, und ſie laͤuft allmaͤ-
lich von einem zum andern fort (n).
Es iſt dieſes die vornemſte Erſcheinung an einem
Muſkel, von der die ganze Handlung deſſelben abhaͤngt,
und ich weis nicht, wie dieſelbe von einigen beruͤmten
Maͤnnern angeſehen worden (o), wenn ſie behaupten, daß
ſich der ganze Muſkel, nicht aber deſſen einzelne Faſern,
wenn er wirket, kuͤrzer mache.
Folglich verkuͤrzen ſich die einzelne Faſern, die Strei-
fen, und die aus dieſen Faſerſtreifen zuſammengeſezzte
Muſkeln, indem ſie wirkſam ſind; und ob das Maas
gleich nicht immer einerlei iſt, ſo iſt es dennoch, auch
an den lebendigen Muſkeln augenſcheinlich, indem ſich die
aͤuſſerſten Enden des Muſkels einander nahe kommen,
wenn nicht eins dieſer Enden unbeweglich iſt, und alsdenn
naͤhert
(l)
[53]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
naͤhert ſich das ſchwache Ende dem ſtaͤrkern. Das Zu-
ſammenziehen der Ribben (p), welches die zuſammenge-
zogne Muſkeln hervorbringen, zeiget ſich am allerdeut-
lichſten, wie auch das Abnehmen der Zwiſchenraͤume an
den Ribben (p*). Es iſt ſelbiges gros (q), wenn das
andre Ende um ein vieles ſtaͤrker iſt, und hingegen klein
(r), wenn alle beide Enden faſt gleich feſte ſind.
Es iſt gewis, daß ein Muſkel, von der Annaͤherung
der Ribben gegen einander, um die Haͤlfte kuͤrzer werden
koͤnne (s), und mit dieſem ſtimmt auch dasjenige uͤberein,
was wir taͤglich am Zwerchfelle (t), an den uͤbrigen Muſ-
keln (u), an den Lefzen (x), oder an andern Schliesmuſ-
keln wahrnehmen. Oft verwandelt ſich das Gedaͤrme (y)
in ein Nichts, es ſcheint gar keine Hoͤlung uͤbrig zu blei-
ben, und man ſieht, wie auch die allerkleinſte Koͤrpergen
und ſelbſt die Graͤten und Stacheln der Fiſche darinnen
fortruͤkken, und vom Magen gegen den Hintern getrieben
werden koͤnnen. An dem gallertartigen Thieren verkuͤr-
zen ſich die Muſkeln weit uͤber alle Erwartung (z).
Wenn nun die Matematiker ſchreiben, ein Muſkel
verliere ein Drittheil von ſeiner Laͤnge im Zuſammenziehen
(a), ſo haben ſie ſich blos nach ihrer Hipoteſe gerichtet;
D 3denn
[54]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
denn wenn eine loſe Faſer aus zwo Linien beſteht, deren
Laͤnge 1 iſt; und wenn nun dieſe zwo Linien, von irgend
einem fluͤßigen Weſen ausgedehnt, und zu einer Kugel
werden, ſo ſieht man mehr, als zur Gnuͤge, wenn man
die Sache auf einen Kreis ſezzt, daß der neue, aus zween
Durchmeſſern entſtandne Kreis, zum Durchmeſſer \frac{2}{314}
habe, und daß folglich der eine Durchmeſſer deſſelben et-
was kuͤrzer, als die zwei Drittheile des vorigen ſei, in-
dem er ſo gros, als die Laͤnge der zwo Linien, aus wel-
chen er entſtanden (b), oder als die eine Linie iſt, weil
ſie beide gleich gros ſind. Es iſt aber uͤberhaupt weiter
nichts, als eine Hipoteſe, wenn man vorgibt, daß ſich in
der Muſkelbewegung die Faſern in kleine Kugeln ver-
wandeln, und es laſſen ſich alſo auch dieſe matematiſche
Eigenſchaften einer Faſer nicht auf eine lebendige Faſer,
denn dieſe zeigt ſich niemals kuglig, anwenden. Es hat
bereits vorlaͤngſt Fr. Bayle(c) mit Grunde erinnert,
daß dieſes ein Feler in der Theorie der Blaͤsgen ſei, weil
ſich ein Muſkel nicht uͤber \frac{4}{11} zuſammenziehen kann. Frie-
drich Winter(d) zeigt, daß Bernouilli das Zuſam-
menziehen viel zu klein gemacht, und der vortrefliche Se-
nac, daß ſich das Zuſammenziehen weiter als auf ⅓ er-
ſtrekke (e).
Des Johann Tabor Verſuch hat den Feler, daß
nicht der obere Schulterblatsmuſkel, ſondern der Delta-
muſkel, die Schulter hebt.
Jndem ſich die Muſkelfaſer zuſammenzieht, und im
Wirken verkuͤrzzt, ſo geſchicht es, daß ſie aus einer ſchie-
fen
(a)
[55]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
fen Lage in eine gerade uͤbergeht (f), wenn ſie den Ab-
ſtand zweier Knochen, die ſich nicht biegen laſſen, bezeich-
net. Folglich wird die Faſer des Ribbenmuſkels gerade
werden.
Wenn ein Muſkel, indem er in Bewegung geraͤth,
kuͤrzer wird, ſo muͤſſen ſich notwendig die Enden dieſes
Muſkels einander naͤhern, und zwar allein, wenn es ein
einzelner Muſkel iſt, indem zugleich die feſten Theile, die
Knochen, Knorpeln, und andre Theile, wofern ſie an eini-
gen Faſern angewachſen ſind, mit naͤher herbei gezogen
werden. Es iſt dieſes an ſich ſo einfach, daß es blos eine
Wiederholung von dem bereits erzaͤlten zu ſein ſcheint.
Jch habe davon, und zwar an den einſamen Muſ-
keln, dergleichen das Herz iſt, Beyſpiele geſehen (g), deſ-
ſen Baſis gegen die Spizze, und die Spizze wieder gegen
die Baſis anruͤkkt, wie auch an dem Gedaͤrme, deſſen
Umkreis von allen Seiten gegen den Mittelpunkt angezo-
gen wird, und es hat Johann Swammerdam(h) den
Verſuch, an einem, aus dem Koͤrper geriſſenen Muſkel
gemacht, welchen er mit Nadeln befeſtigt hatte. Jndem
derſelbe in dieſer Lage den Nerven reizte, ſo naͤherten
ſich dieſe Nadeln einander. Es geſchicht eben dergleichen
auch an den Muſkeln, welche an Knochen feſte ſind, als
an den Ribben, und es wuͤrden ſich die Raͤume zwiſchen
denſelben nicht verringern, wofern nicht eine Ribbe der
andern naͤher kaͤme (i). Eben dieſes laͤſſet ſich auch an
den Ribben, wenn ſie vom Zwerchfelle angezogen werden (k),
D 4bemer-
[56]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
bemerken. Man ſieht aber leichtlich ein, daß ſich Theile
einander gleichfoͤrmig naͤhern muͤſſen, wenn ſolche gleich
feſte, wie die gleichnamigen rechten, und linken Ribben
ſind (l), indeſſen daß das Zwerchfell ſein Geſchaͤfte fort-
ſezzt.
Es erhellet von ſelbſt, daß derjenige Theil, welcher
beweglicher iſt, zu dem feſtern Theile, doch aber unter
der Bedingung heraufſteigen muͤſſe, daß der bewegliche
Theil einen laͤngern Weg, und der feſte, einen kuͤrzern
durchlaͤuft. Man kann die Sache am allerdeutlichſten
am Herzen wahrnehmen, indem ſich die Spizze deſſelben
der Baſis (m) ſehr naͤhert, hingegen die Baſis nicht ſo
ſehr gegen die Spizze vorruͤkt (n). So ſinkt auch unter
den obern Ribben, die obere weniger hernieder, als die
untere hinaufſteigt. So ſinkt die Spizze des Herzohres
zu ſeiner dikkern Baſis hernieder (o), und ſo zieht ſich
endlich in dem Huͤhngen die rechte Herzkammer, als die
ſchwaͤchere, mehr gegen die linke, hingegen die linke ge-
gen die rechte ſchon ſchwaͤcher (p) hin.
Wofern endlich das eine Ende des Muſkels unbeweg-
lich iſt, wenigſtens was die Kraͤfte des Muſkels, von dem
die Rede iſt, betrift, alsdenn naͤhert ſich blos der andere
bewegliche Theil gegen diejenigen, deſſen Feſtigkeit un-
uͤberwindlich iſt. Man hat davon ein Exempel an der
oͤberſten Ribbe (q), welche mit ihrer Unbeweglichkeit wi-
derſteht, indeſſen daß ſich die zwote ganz allein der erſten
naͤhert (r).
Da ſich aber die Feſtigkeiten der Theile, die vom
Muſkel herbei gezogen werden, und vermoͤge derſelben
auch die Lage, kraft der vereinigten Bemuͤhung der an-
dern Muſkeln, ungemein veraͤndern laſſen, ſo kann es
geſchehen, daß einerlei Muſkel unter dieſer oder jener Be-
dingung, bald ſein Ende A, entweder einzig und allein,
oder doch mehr gegen B, und wieder das Ende B, ein-
zig und allein, oder doch mehr gegen A anzieht. Wir
ſind dieſe Betrachtung, in der Beſtimmung der Muſkel-
handlung, ſonderlich dem Jakob Benignus Winslow
(s) ſchuldig; und es verdient derſelbe, auch ſchon wegen
dieſer Unterſuchung, bey allen dankbaren und aufrichti-
gen Perſonen den groͤſten Ruhm. Wir wollen aber von
dieſer Sache an einem andern Orte handeln.
Da ſich das Fleiſch eines wirkſamen Muſkels, von
ſeinen Enden gegen die Mitte zuruͤkke zieht (t), ſo mus
derſelbe notwendig, weil er kuͤrzer wird, zugleich auch
dikker werden (u), indem ſich das Fleiſch deſſelben gleich-
ſam gegen die Mitte zu anhaͤuft, und daſelbſt aufſchwillt.
Folglich ſchwellen die Baͤuche der Biegemuſkeln, auch
alsdenn, wenn der Muſkel nicht von dem Willen der
Seele, ſondern von der ſtaͤrkern Gewalt ſeines Gegners
verkuͤrzt, und das Glied gebogen wird, auf (x). Es
mus auch dieſes in der That geſchehen, da die Muſkeln
nach der Uebereinſtimmung der Zergliederer, der Bild-
hauer und Maler, ſehr aufſchwellen, und ſich erheben,
wenn ſie bei verſchiednen Handlungen des Lebens in eine
D 5hef-
[58]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
heftige Bewegung geraten. Ja es gehoͤrt keine geringe
Kenntnis der Maler (y) und Bildhauer, wenn ſie leben-
dige Koͤrper kopiren, dazu, das fleiſchige des Zweikoͤpfigen,
des Deltamuſkels, des geraden Huͤftemuſkels, des Geſaͤs-
muſkels, der Wadenmuſkeln und der uͤbrigen Muſkeln, die
bei jeder Handlung und den gebognen Gliedern vorkom-
men, regelmaͤßig und gruͤndlich auszudruͤkken.
Es ſchwillt aber ein Muſkel, wenn er ſich zuſammen-
zieht, von allen Seiten auf (z), und er ſtoͤſſet den auf-
liegenden Finger zuruͤkke, wie man ſolches an dem Kaͤu-
muſkel eines beiſſenden Menſchen (a), leicht bemerken
kann. Man nennt dieſes das Hart-und Rauchwerden
des Muſkels (a*). Je ſtaͤrker wir zubeiſſen, deſto ſtaͤr-
ker ſchwillt (b) dieſer Muſkel auf, und deſto haͤrter wird
er (c), entweder weil ſich der Knochen des Kinnbakkens,
dem Schlaͤfenknochen mehr naͤhert, oder weil blos die Ur-
ſache des Zuſammenziehens ſchon, welche dem Wieder-
ſtande kraͤftiger wiederſteht (c*), gegen die Mitte zu mehr
Fleiſch anhaͤuft. Da nun ein Muſkel alſo von allen Sei-
ten aufſchwillt, ſo wird davon ein holer Muſkel enger,
und er hebt die vorige Hoͤlung auf (d).
Es behaͤlt ein Muſkel uͤberhaupt, wenn er in Be-
wegung iſt, ſeine Farbe unveraͤndert. Man mus dieſes
mit allem Fleiſſe zeigen, weil man davon gemeiniglich ganz
anders denkt, und die naͤchſtfolgende Frage davon ab-
haͤngt, indem man gemeiniglich zu behaupten pflegt, daß
ein Muſkel, wenn er ſich zuſammenzieht, blas werde (e),
daß die Gefaͤſſe alsdenn zuſammengedruͤkkt (f), und das
Blut ausgetrieben werde, welches ſich in dem Muſkel
befindet (g).
Man weis es aber von den Muſkeln, die nicht hol
ſind, und von dem Gedaͤrme, ſo zuverlaͤßig (h), daß ſie
in ihrer Thaͤtigkeit nicht bleich werden, daß ich nicht
glaube, es habe es jemand auf ſich genommen, einen
Verſuch auf die Bahn zu bringen, da das Fleiſch derſelben
bleich geworden. Und wenn man ein Vergroͤſſerungs-
glas zu Huͤlfe nimmt (i), ſo ſind die Gefaͤſſe, welche zwi-
ſchen den Streifen eines Muſkels krichen, ſowol wenn er
ſich zuſammenzieht, als wenn er nachlaͤſt, voll und rot.
Es ſind einige beruͤmte Maͤnner durch das Beiſpiel des
einzigen Holmuſkels des Herzens verfuͤhrt worden, denn
dieſes wird in der That im Huͤhngen (k), im Froſche (l),
in
[60]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
in der Schlange, der Eidechſe und andern zarten Thieren,
waͤhrend des Zuſammenziehens blas, und im Nachlaſſen
wieder rot. Man weis aber mehr als zu gewis, daß
dieſe Roͤte nicht von der Aufname des Gebluͤtes in die
Gefaͤſſe des Herzens, ſondern in die Hoͤlung ſelbſt, und
von der Blutwelle herruͤhre, welche das Herzohr in die
Kammer getrieben. Und ſo entſteht die Blaͤſſe wieder,
wenn dieſe Welle, die die Herzhoͤle von ſich geſtoſſen, in
die Schlagader uͤbertritt.
Folglich veraͤndert ſich am Herzen der groſſen Thiere
(m), welches viele Faſerſchichten an ſich traͤgt, und ſeine
eigene Roͤte in ſeinem Fleiſche hat, die Farbe nicht im
geringſten, es mag ſich das Herz zuſammenziehen, oder
erſchlaffen. Es ſcheinet naͤmlich, in einem dergleichen Her-
zen, die in die Kammer aufgenommene Welle nicht durch
das dikke Fleiſch durch, folglich macht weder ihre Einnah-
me Roͤte, noch ihre Ausſtroͤmung Blaͤſſe. An einem
Huͤhngen wird das Herz, bevor es aus der Schale gekro-
chen, wechſelsweiſe bleich und rot, aber dieſes wiederfaͤh-
ret keinem ausgekrochnen Huͤhngen (n).
Endlich hat die Gewalt der Warheit beruͤmte Maͤn-
ner dahin gebracht, daß ſie die bleiche Farbe des Herzens
dem Blute zuſchreiben, welches aus den Kammern getrie-
ben wird (o), und daß ſie das Geſtaͤndniß ablegen, wie
die Muſkeln (p), auch nicht einmal an lebendigen Men-
ſchen, bleich werden, wenn man ſie zufaͤlliger Weiſe ent-
bloͤſt ſiehet (q). Wir hegen die gute Hofnung von der
Aufrichtigkeit dieſer Maͤnner, daß auch andre nach und
nach, welche zur Zeit noch dem falſchen Wahne anhaͤn-
gen, ihrem Beyſpiele folgen werden.
Es wird ein Muſkel in der Thaͤtigkeit kuͤrzer, und er
ſchwillt alsdenn zugleich auf. Man koͤnnte hierbei fragen,
ob dieſe zwo Veraͤnderungen dergeſtalt ſchadlos gehalten
werden, daß der Muſkel, wenn er ſich zuſammenzieht (r),
oder wenn er nachlaͤſſet, gleich gros bleibt; ob derſelbe
eine Abname leidet, und ein wirkender Muſkel an ſich
kleiner wird (s); ob er endlich ſtaͤrker aufſchwillt, als er
ſich verkuͤrzt, daß er alles zuſammengenommen, dennoch
einen groͤſſern Raum einnimmt (t). Es hat eine jede
von dieſen Meinungen ihre Vertheidiger.
Daß ein Muſkel nicht aufſchwelle, wenn er ſich zuſam-
menzieht, ſuchte J. A. Borellus durch einen Verſuch
zu erweiſen. Er legte einen Menſchen auf eine ſcharfe
Holzkante, bis er ihn ins Gleichgewichte brachte. Hier-
auf lies er ſelbigen die Muſkeln des untern Gliedes in
Bewegung ſezzen, und dennoch bekamen die Fuͤſſe nicht
das Uebergewichte (t*).
Daß die Groͤſſe der Muſkeln, waͤrend ihres Spieles,
abnehme, ſoll durch eine beruͤmte Erfahrung beſtaͤtigt
werden, welche entweder Goddard, Gliſſonius, oder
Swammerdam gemacht haben. Sie ſtekken naͤmlich
den Muſkel, oder ein ganzes Glied in ein glaͤſernes Ge-
faͤſſe, welches ſie voll Waſſer giſſen. Sie befelen hierauf,
das ganze Glied anzuſtrengen, damit alle Muſkeln zuſam-
men
[62]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
mengezogen werden; oder ſie noͤtigen, wenn nur ein
Muſkel zur Probe gebraucht wird, denſelben dadurch ſich
zu verkuͤrzen, daß ſie ſeinen Nerven reizen. Und ſo fin-
den ſie, ob bei dieſer Anſtrengung das Waſſer niederſinkt,
oder in die Hoͤhe ſteigt; ſinkt es nieder, ſo iſt der Muſkel
kleiner geworden; ſteigt es in die Hoͤhe, ſo hat derſelbe
an Groͤſſe zugenommen.
Nun hat Johann Swammerdam an dem Muſ-
kel des Herzens im Froſche wahrgenommen (u), daß das
Waſſer, wenn das aufgeblaſene Herze ſchlaͤgt, niederſinkt,
und dagegen in die Hoͤhe ſteigt, wenn das Herz ſchlaff
wird.
Nach eben dieſer Art ſahe der beruͤmte Goddard
(x) und Fr. Gliſſon(y), als ſie den ganzen Arm in Waſ-
ſer eintauchten, das Waſſer im Gefaͤſſe niederſteigen, wenn
man ſich anſtrengte, und wieder in die Hoͤhe ſteigen,
wenn der Menſch die Anſtrengung nachlies (z).
Es haben andre dieſen Verſuch anders ausgelegt (a).
Swammerdam zweifelte ſelbſt von ſeinem Verſuche (b),
daß die Luft von dem zuſammengezognen Herzen habe zu-
ſammengedruͤkkt werden koͤnnen, und er will nicht, daß
man dieſes auf andre Muſkeln anwende, weil der Erfolg
an denſelben nicht eben ſo gut von ſtatten gehen wollte (c).
Den gliſſoniſchen Verſuch hat Boerhaave(d),
und Franz Boiſſier de Sauvages dergeſtalt veraͤndert,
daß ſie (e) anfaͤnglich das Waſſer niederſinken laſſen, wenn
das Blut aus dem Muſkel herausgetrieben wird; und es
ſteigt
[63]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
ſteigt, nach ihrem Berichte, wieder in die Hoͤhe (f), wenn
das Blut wieder in den Muſkel einfaͤllt; ich kann aber,
fuͤr meine Perſon, nicht ſagen, ob ſie ſich eines beſondern
Verſuches dabei bedient haben moͤgen.
Mir ſcheint ein Muſkel, in ſeiner Anſtrengung, gar
nicht groͤſſer zu werden (g). Denn da derſelbe ſaſt um
die Helfte kuͤrzer wird, ſo ſcheint derſelbe nicht unterdeſſen
bis zur Helfte aufzuſchwellen (h). Es naͤhern ſich ſerner
uͤberhaupt die Fleiſchſtreifen der Achſe des Muſkels (i), es
mag ſich der Muſkel entweder von freien Stuͤkken zuſam-
menziehen, oder es mag ihn der elektriſche Funke, oder
auch ein andrer Reiz dazu veranlaſſen (k). Und daher
koͤmmt es denn, daß zwiſchen den einzelnen Fleiſchſtreifen
und den uͤbrigen benachbarten, waͤhrend ihres Beſtrebens,
Linien und Rizzen entſtehen (l), weil ſich die Fleiſchſtreifen
offenbar in einander zuruͤkke ziehen, und einſchrumfen.
Denn ſie wuͤrden, wofern ſie aufſchwellen, einander viel-
mehr naͤher kommen, und alle Zwiſchenraͤume verdrengen.
Ueberhaupt kann der Verſuch des Gliſſonius nichts
erweiſen, weil, wenn die Biegemuſkeln zuſammengezogen
worden, und die Fauſt geſchloſſen wird, unterdeſſen die
Ausſtrekker ſchlaff bleiben, und das Blut aus Blutadern,
die
[64]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
die nicht dem wirkſamen Muſkel, ſondern vielmehr den
zwiſchenliegenden Muſkeln eigen ſind, und aus dem Ar-
me herausgetrieben werden kann, weil uͤberhaupt benach-
barte Blutadern vom Anſtrengen ausgeleert werden (m).
Man haͤtte an einem einzigen Muſkel die Probe machen
muͤſſen. Ja es behauptet auch ein Ungenannter(n),
daß Gliſſonius die Sache nicht recht angegriffen habe.
Jch kann deswegen nicht ſagen, daß das Blut aus
einem zuſammengezogenen Muſkel ausgetrieben, oder in
einen erſchlaffenden wieder aufgenommen werde; denn es
verſtattet das, oben (o) von der unveraͤnderten Farbe
eines Muſkels gemeldete, nicht, daß man dieſes vor wahr
halte. Es kann ſeine Maſſe aber ein wenig kleiner wer-
den, wenn ſich ſeine Grundſtoffe einander um etwas naͤ-
hern, oder wenn die Materie, die in den Muſkeln ſtekkt,
zuſammengedruͤckt wird; ich glaube aber, daß ſich der Leim
zuſammendruͤkken, und in eine kleinere Maſſe bringen
laſſe.
Es hat endlich Hamberger das Glied mit einem
Faden umlegt (o*), und wahrgenommen, daß ein
Menſch, wenn er willkuͤrliche Bewegungen vornahm,
Schmerzen empfunden, und er glaubt daher erweiſen zu
koͤnnen, daß die Muſkeln in der Thaͤtigkeit allerdings
aufſchwellen muͤſſen. Es braucht aber nur die Schnur
ausgedehnt zu werden, wenn das Glied aus der rundli-
chen Figur, von irgend einem ſchwellenden Muſkel, in
eine unregelmaͤßige verwandelt werden ſoll. Es ſpannt
ſich naͤmlich, wie jedermann weis, die Schnur, wenn
gleich das Glied weder groͤſſer, noch angezogen wird.
Wir haben gemeldet, was eine Muſkelfaſer, indem
ſie ſich zuſammenzieht, vor Eigenſchaften an ſich habe.
Da die Sehne aber ohne alle Reizbarkeit iſt (p), ſo lei-
det ſie auch inzwiſchen keine Veraͤnderungen, ſie wird
nicht hart, ſie ſchwillt nicht auf, und ſie leidet uͤberhaupt
gar nichts (q), auſſer daß ſie dem Zuge des Fleiſches ge-
horcht (r) und ſich demjenigen Ende des Muſkels naͤhert,
welchem ſich das Fleiſch ſelbſt naͤhert. Ja es ſezzt nicht
einmal eine gereizte Sehne den Muſkel in Bewegung (s).
Man kann die Sache an einem lebendigen Thiere
augenſcheinlich ſehen, und ſie zeigt ſich alsdenn daher noch
deutlicher, weil die Sehnen, ſo wohl an Thieren vom
Geſchlechte der Krebſe und der Voͤgel gemeiniglich kno-
chig, und ohne alle Verkuͤrzung ſind, als auch nicht
ſelten im Menſchen hart werden (t).
Es hat auch bereits vor mir Bagliv mit Augen ge-
ſehen, daß die Sehnen unbeweglich liegen bleiben, wenn
indeſſen die Fleiſchfaſern ihre Schwingungen fortſezzen (u).
Die Alten ſchrieben der Sehne, als dem vornemſten
Werkzeuge in der Bewegung (x) eine Kraft, ſich zuſam-
menzuziehen (y), und zwar ganz allein, zu. Sie rechne-
ten aber die Muſkelfaſern mit unter die ſehnige Theile.
Sobald die Gewalt des Willens und die Kraft der
Nerven zu wirken aufhoͤrt, ſo eraͤugnen ſich am Muſkel
Dinge, welche gerade davon das Gegentheil ſind, was
waͤrend ſeines Zuſammenziehens mit demſelben vorgeht.
Es verſchwinden naͤmlich, oder es entrunzeln ſich die
kleine Falten an den Faſern (y), es ziehen ſich die Faſern
der Muſkeln von der Mitte (z) gegen ihre Enden zuruͤkke
und ſie erlangen ihre erſte Laͤnge wieder (a), welches man
ſonderlich an den Ribbenmuſkeln offenbar ſehen kann (b),
es entfernen ſich die Enden derſelben, indem beide Eigen-
ſchaften unzertrennlich beiſammen ſind, von einander, es
vergeht der ganze Geſchwulſt des Muſkels (c), er wird
wieder weich (d), es verſchwinden die Linien, und Furchen
zwiſchen ſeinen Fleiſchſtreifen (e), und es verharret der
Muſkel in dieſem Zuſtande, ſo lange bis ein neuer Reiz,
und gleichſam ein neuer Zuflus von Nervenkraͤften dazu
koͤmmt (f).
Jch habe geſagt, daß die Muſkelfaſern mit der groͤſten
Geſchwindigkeit angezogen werden. Doch es verrichten
auch die Muſkeln in ihrem natuͤrlichen Zuſtande das
Geſchaͤfte des Zuſammenziehens mit einer unglaublichen
Geſchwindigkeit. Es hat der beruͤmte Boiſſier das
erſte
[67]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
erſte Maas davon gegeben (g). Es ſchlaͤgt das Herz in
einem Huͤhngen, welches noch in dem Eie eingeſchloſſen
iſt, in einer Minute 150 mal, und folglich laͤſt es nach,
und zieht es ſich zuſammen innerhalb ⅖ einer Sekunde,
folglich wuͤrde das Zuſammenziehen allein, wofern man
es eben ſo lang, als das Nachlaſſen macht, innerhalb ⅕
einer Sekunde, oder in zwoͤlf Terzen verrichtet werden.
Es wird aber das Schlagen eines Herzohrs, oder einer
Kammer noch viel geſchwinder vor ſich gehen, da ein jeder
Herzſchlag in drei Schlaͤge, als in den Schlag des Herz-
ohres, der Kammer, und des Aortenknollen eingetheilt
werden kann (h). Solchergeſtalt wird das Klopfen des
Herzohres innerhalb \frac{1}{900} einer Minute, oder in vier
Terzen geſchehen. Man muß aber hierbei die Anmerkung
nicht auſſer Acht laſſen, daß auch alsdenn, wenn zwiſchen
den Schlaͤgen lange Pauſen vorkommen, dennoch das
Zuſammenziehen immer einerlei Geſchwindigkeit uͤbrig be-
halte (i).
Es wird ſich dieſe Bewegung noch um etwas ſchneller
aͤuſſern, wenn man das Pferd zum Beiſpiele nimmt (k),
es laͤuft naͤmlich ein Pferd aus der Barbarei 36¾ Fus in-
nerhalb einer Sekunde, ein engliſches Pferd 41⅔. 54 bis
E 282
[68]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
82½ Fus, oder ſeine Laͤnge in einer einzigen Sekunde, oder
in \frac{6}{7} bis \frac{6}{14} einer Sekunde dreimal durch.
Es wird dieſes Pferd, wenn man ſeinem Schritte
ſechs Fus gibt, beinahe 14 Schritte in einer Sekunde,
zuruͤkke legen; wenn man dieſes mit dem Aufheben des
Fuſſes, mit dem Fortſchritte, welcher eine gedoppelte Er-
hebungszeit erfordert, mit dem Hinablaſſen und mit der
Feſtigkeit des Trittes vergleicht, ſo wird man faſt eben ſo
viel, naͤmlich 70 Zuſammenziehungen auf eine Sekunde
herausbringen. Und es wird die durchlaufene Laͤnge um
etwas groͤſſer, als im Menſchen ſein, weil die Muſkeln
an ſich laͤnger ſind.
Eben ſo gros iſt auch die Geſchwindigkeit am Men-
ſchen (l). Es legen die Laͤufer in Perſien in einem einzigen
Tage 36 kleine Meilen zuruͤkke, ſie laufen ſie aber in zwoͤlf
Stunden, oder in 43200 Sekunden durch. Folglich
werden ſie, wenn man auf eine dergleichen Meile 2200
Schritte oder 13200 Fus rechnet, in 36 Meilen 475200
Fus, und in einer Sekunde 11 Fus durchlaufen ſein, wel-
ches auf einen Menſchen von mittelmaͤßiger Leibeslaͤnge
oder von ſechſtehalb Fus 4⅖ Schritte, in einer Sekunde,
oder einen Schritt faſt in 14 Terzen betraͤgt. Es gehoͤrt
aber zu einem jeden dieſer Schritte das Aufheben des
Fuſſes, welches von dem geraden Muſkeln bewerkſtelligt
wird, ferner das Fortbewegen, welches, damit wir uns
kurz faſſen moͤgen, von eben dieſem Muſkel geſchicht, wie
auch das Niederlaſſen auf die Erde, und der feſte Tritt
gegen die Erde, welches gleichſam der Grund von dem
naͤchſten Schritte iſt. Wir ſezzen von dieſen vier Theilen,
daß das Fortbewegen gedoppelt ſo gros, als ein einfaches
Erheben ſei. Folglich wird ſich der genannte Muſkel,
um den Fus zu erheben, in einer Minute 70 mal zuſam-
men-
[69]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
menziehen; es werden eben ſo vielmal die Fuͤſſe niederge-
laſſen, eben ſo viel feſte Auftritte, und endlich 35 Fort-
bewegungen geſchehen, und es wird ſich der gerade
Muſkel des Schienbeins innerhalb einer Zeit, welche
ſich zu der ganzen Zeit eines Schrittes, wie 1 zu 5 ver-
haͤlt, folglich um etwas ſchneller, als in einer Terze zu-
ſammenziehen.
Wenn es endlich wahr iſt, daß Philippis 1140 und
Philonis 1200 Stadien in einem Tage durchgelaufen,
und wenn man ein Stadium, auf 600 Fus ſezzt; ſo haͤt-
ten ſie einen Weg von 720000 Fus zuruͤkke gelegt, und
folglich haͤtte ſich der gerade Muſkel faſt halb ſo geſchwinde,
oder in \frac{1}{140} einer Sekunde zuſammengezogen. Es wuͤrde
aber dieſe Geſchwindigkeit um deſto groͤſſer ſein, wenn
man bedenkt, daß das beſtaͤndige Laufen den ganzen Tag
durch, die Geſchwindigkeit ſehr ſchwaͤche, da ein Menſch
bei derſelben wenige Spruͤnge machen kann, und wir wuͤr-
den nicht Unrecht thun, wenn wir bei dieſen, obgleich
wenigen, und nicht fortwaͤrenden Spruͤngen, die Ge-
ſchwindigkeit gedoppelt ſo gros, als die Mittelgeſchwin-
digkeit anſezzen. Solchergeſtalt wird die Bewegung des
geraden Schienbeinmuſkels innerhalb \frac{1}{280} Theil einer
Sekunde, oder innerhalb 10\frac{4}{7} einer Quart verrichtet wer-
den, wenn man nun den geraden Muſkel von 15 Zoll ſezzt,
ſo wird das Zuſammenziehen beinahe drei Zoll betragen,
welches innerhalb dieſer Zeit von einem einzigen Fleiſch-
ſtreifen dieſes Muſkels durchlaufen wird.
So wird auch das gewechſelte Zuſammenziehen und
Nachlaſſen in kleinen Thieren, dergleichen ein Hund iſt,
der eben ſo ſchnell laͤuft, ob ſeine Schritte gleich viel kuͤr-
zer ſind, ſchnell vor ſich gehen (m). Es hat ein kleiner
Hund, innerhalb 24 Stunden, 65 Ungariſche Meilen
zuruͤkke gelegt, welches eine Strekke von 1690000
E 3Fus
[70]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Fus betraͤgt, und weil der Schritt eines Hundes kaum
etwas uͤber einen Fus betraͤgt, ſo hat derſelbe eben ſo viel
Schritte verrichtet, und die Schenkel ſo oft gehoben,
naͤmlich zwanzigmal innerhalb einer Sekunde. Wenn
man aber den Schritt theilt, ſo ſteigt, wie im vorigen Ex-
empel, das Zuſammenziehen des Muſkels auf \frac{1}{100} einer
Sekunde, und wenn man ferner den Sprung doppelt ſo
ſchnell als einen mittelmaͤßigen Lauf rechnet, ſo geſchehen
innerhalb einer Sekunde 200 Erhebungen des Schenkels.
Wuͤrde er aber blos zwoͤlf Stunden 65 Meilen zu durch-
laufen anwenden, ſo wuͤrde jedes Heben des Schenkels
in \frac{1}{400} einer Sekunde geſchehen.
So bewegen ſich auch in einem ſprechenden Menſchen
die Muſkeln ungemein geſchwinde, indem derſelbe mit
Huͤlfe dieſer und jener Muſkeln in einer Minute 1500
Buchſtaben auszuſprechen vermag, wie ich an der Aeneis
des Virgils die Probe gemacht. Solchergeſtalt wirkt ein
Muſkel, der die Buchſtaben bildet, in dem 1500ſten
Theile einer Minute, und da das Nachlaſſen des Muſ-
kels eben ſo lange dauret, ſo mus ſein Zuſammenziehen
innerhalb \frac{1}{3000} einer Minute, oder faſt in einer Terze,
geſchehen, und zwar noch viel geſchwinder, wenn ſich
darunter Buchſtaben befinden, wobey ſich einerlei Muſ-
kel oͤfters und zu wiederholten malen, wie man an dem
Buchſtaben R ſieht, zuſammenziehet. Wenn man nun
das Zittern deſſelben fuͤr 10 rechnet; ſo werden ſich die
Griffelzungenmuſkeln, innerhalb einer Minute 30000 mal,
oder ein einzigesmal in \frac{1}{30000} einer Minute, oder in
⅛ einer Terz zuſammenziehen.
Wenn es endlich erlaubt wuͤrde anzunehmen, daß eine
Taube, innerhalb 9 bis 10 Minuten, 30 Meilen durch-
fliegt (o), ſo wuͤrde dieſe Schnelligkeit die obige um ein
vieles uͤbertreffen. Wenn man naͤmlich den Sprung
des
[71]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
des Vogels, der von einer Fluͤgelſchwingung hervorge-
bracht wird, ſo gros, als die Laͤnge des Vogels, welche
eine Spanne betraͤgt, macht, ſo wuͤrden uͤberhaupt
201387 Fluͤgelſchlaͤge, um 30 Meilen zuruͤcke zu legen,
herauskommen, wenn man den Himmelsgrad auf 57100
Ruthen ſezzt, und 70 Meilen annimmt. Da aber in
10 Minuten 36000 Terzen enthalten ſind, und da das
Schwingen des Fluͤgels in der Helfte des Aufhuͤpfens
geſchicht, ſo wird zugleich die Bewegung des Fluͤgels in
einer kuͤrzern Zeit, als der eilfte Theil einer Terz iſt,
oder uͤberhaupt innerhalb ſechstehalb Quarten verrichtet
werden.
Folglich wird das Zuſammenziehen der Muſkeln aͤuſ-
ſerſt ſchnelle, und ſo hurtig geſchehen, daß ſie eine viel
kuͤrzere Zeit, als eine Terz iſt, zum Zuſammenziehen
noͤtig haben.
Wir haben die ungeheure Geſchwindigkeit berechnet,
mit welcher ſich ein Muſkel zuſammenzieht. Es iſt aber
auch die Gewalt deſſelben, oder das Gewichte ſchwerlich
zu glauben, welches ein Muſkel, wenn es an ſein eines
Ende angehaͤngt wird, waͤrend des Zuſammenziehens,
in die Hoͤhe hebt, und man mus auf dieſe Betrachtung,
auf welche ſich das beruͤmte Werk des Borelli faſt ganz
und gar bezieht, allen Fleis verwenden.
Hier wollen wir die zwar unbeſtimmte, aber doch uͤber-
maͤßige und ſeltene Beiſpiele von Staͤrke an Menſchen
und Thieren beruͤhren, womit ſich Menſchen oͤffentlich
ſehen laſſen. So rollte Auguſt der zweete, Koͤnig von
Polen, ſilberne Teller zuſammen, er zerbrach Hufeiſen (p),
E 4und
[72]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
und es konnte ein andrer viel geringerer Mann eine eiſerne
Stange, welche einen Zoll dikk war, mit den Haͤnden
biegen und ausſtrekken. Ein andrer zog zwei Pferde, ob
dieſes gleich ſo viel groͤſſere Thiere ſind (q), und noch ein
andrer ſechs Pferde (q*) zuruͤkke, ja er zog den Fus
eines Ochſen mit ſolcher Gewalt an ſich, daß die ruͤkſtaͤn-
dige Klaue davon flog (q**).
Ein wuͤtender Loͤwe lies im Eiſen Merkmale von den
Zaͤhnen zuruͤkke (r), und ein raſender Menſch zerbrach
ein eiſernes Gitter (s), und riß auf einmal alle Strikke
entzwei (t), womit man ihn angebunden hatte.
So hat man Exempel, daß die Huͤfteknochen von
einem Kramfe (u) und von uͤbermaͤßigem Anſtrengen (x)
entzwei gebrochen, und ein andrer ſchleuderte mit einer
Steinſchleuder (y) den Schulterknochen in Stuͤkken.
Es gehoͤrt auch keine mittelmaͤßige Staͤrke dazu,
wenn die ſo ſtarke Achillesſehnen (z) und die Sehnen
der Schienbeinbieger (a) ohne eine Wunde zerreiſſen.
Es ging der Knochen der Schulter, vom Schulterblate,
einen ganzen Querfinger los (b), da jemand 300 Pfunde
aufhob; und wir haben gezeigt, wie ſtark im Menſchen
die Baͤnder ſind (b*).
Endlich ſcheint auch der Kramffiſch zu den Beweiſen
der heftigſten Zitterungen zu gehoͤren, welche die Muſkel-
faſer auszuſtehen vermoͤgen. Es wirkt naͤmlich dieſer
Fiſch nicht durchs Waſſer (b**) oder einen Dunſt, ſon-
dern durch feſte Koͤrper, Harpunen (c), Spieſſe (d),
oder Staͤbe (e). Und wenn ſich jemand wagt den Kramf-
fiſch mit der Hand zu ergreifen (f), ſo empfindet man
eine hoͤchſtbeſchwerliche Fuͤlloſigkeit, als ob ein Nerve
getroffen worden (g), wobei ſich Kaͤlte, Schauer, ein
Zittern, gleichſam die Verrenkung des getroffnen Gliedes
(h), und eine kurze Laͤhmung (i) einſtellt, welche in kal-
ten Himmelsſtrichen ſchwaͤcher (k), im gemaͤßigten ſchon
deutlicher iſt (l), und bis zur Schulter (m), und zum
Kopfe (m*) heraufſteigt, ſo daß man ſo gar einen
Schwindel verſpuͤrt; da ſonſt dieſe Empfindungen in heiſ-
ſen Gegenden (n) das Herz in Unordnung bringen, die
Gedanken verwirren, und die Kraͤfte darnieder ſchlagen
(o). Es ſcheinet dieſe Fuͤlloſigkeit uͤberhaupt von einer
E 5ſehr
(b*)
[74]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
ſehr heftigen Erſchuͤtterung herzuruͤhren (p), welche dieſer
Seefiſch mit der groͤſten Schnelligkeit, und dadurch her-
vorbringt, daß er ſeinen Koͤrper allmaͤlich gerade aus-
ſtrekkt, und wieder ſchnell zu kruͤmmen weis (q). Auf
dieſe Art empfaͤngt der Finger, welcher ihn beruͤhrt, von
den cilindriſchen holen Muſkeln (r), Stoͤſſe, indem ſich
dieſe Muſkeln mit einem Gallerte erfuͤllen, welcher hinauf
getrieben wird. Folglich ſchadet kein todter Kramffiſch
mehr (r*), und es iſt ſeine Wirkung heftiger, je heftiger
er erſchuͤttert wird (s). Man hat ſich auch ehedem dieſes
Erſchuͤtterns, das Podagra (t), und das Fieber zu hei-
len (u), bedient. Man hielte ihn an die Fusſole, oder
an die Gliedmaßen. Es beſizzet noch ein andrer Fiſch,
welcher mit den Lampreten ſehr uͤbereinkoͤmmt (x), und
den
[75]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
den einige beruͤmte Maͤnner vor kurzem Gymnotus nen-
nen (y), eine aͤnliche Kraft, fuͤllos zu machen, und dieſe dringt
ſo gar bis zum Gehirn, indem viele Menſchen, wenn ſie in
den Seen ſchwammen, ploͤtzlich alle Kraͤfte verloren, und
von der Wirkſamkeit umkamen (z), indeſſen daß ein ſtehen-
der Menſch den Schwindel bekoͤmmt, und ſinnlos zur
Erden faͤllt (a). Er pflanzt dieſe ſeine toͤdliche Wirkung
ebenfalls durch einen Stab fort (b).
Wir wollen die Kraft der Muſkeln einzeln betrachten.
Es wird demnach blos durch das Beiſſen, folglich vermit-
telſt der Schlaͤfenmuſkeln, der Kaͤumuſkeln und der in-
nern Fluͤgelmuſkeln, deren Fleiſch doch zuſammengenom-
men nicht zwei Pfunde wiegt, eine erſtaunliche Kraft aus-
geuͤbt. Es konnte ein Menſch ein leeres Bierfaß (c),
welches er mit den Zaͤnen aufhob, ruͤkklings uͤber den Kopf
werfen, und es trank ein andrer ein Fas mit 116 Unzen
Wein in einem Atem aus, und warf es uͤber den Ruͤkken (d),
dieſes verrichtete ein andrer mit einem groſſen Fusſchemel,
und mit einer Bank (f), welche 15 Haͤnde lang war,
wie auch mit einem Balken (g); ein andrer konnte eine
eiſerne Stange von 25 Pfunden tragen, und dergeſtalt
uͤber den Ruͤkken werfen, daß ſie in einem Balken ſtekken
blieb (h). Man hat von den Kraͤften gewiſſer Menſchen
ein genaueres Maas, indem ſelbige ein Gewicht von
50 (i), 56 (k), 160 (l) und ſo gar von 300 Pfunden
(l*), mit den Zaͤhnen aufzuheben vermochten; andre
haben
[76]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
haben die Steine in Pfirſchen und Morellen zerbiſſen,
welche doch erſt zerbrechen, wenn man ſie mit 200 (m)
und 300 Pfunden beſchwert (n). Erſtaunlich war die
Staͤrke, mit welcher Thomas Topham(o) einen ſechs
Fus langen Tiſch, an deſſen Ende noch 50 Pfunde hin-
gen, in die Hoͤhe hob.
Es tragen die ausſtrekkende Muſkeln der Huͤfte (p)
die Laſten, womit man die Schultern beladet, ſobald der
Menſch fortgeht, und folglich den Fus auf hebt, auf welchem
das Gewichte liegt, oder wenn man damit eine Treppe be-
ſteigt (p*), beſonders aber, wenn man ſich nach der Befrach-
tung in die Hoͤhe richtet, nachdem man ſich mit gekruͤmm-
tem Leibe oder gebognen Knieen die Laſt aufpakken laſſen.
Ein Menſch trug einen Ambos von 200 Pfunden eine
halbe deutſche Meile weit fort (p**).
Es tragen die Laſttraͤger zu Londen den ganzen Tag
300 Pfúnde herum (q), ſo wie diejenigen, welche auf der
Kampechekuͤſte das Faͤrbeholz faͤllen (r), ſo gar bis 400
Pfunde auf ſich nehmen, und es tragen ſo gar die Wei-
ber zu Miſſuſipi, den ganzen Tag uͤber, bis 300 Pfunde
(s). Die Tuͤrken koͤnnen noch einmal ſo viel, als die
Englaͤnder tragen (s*). Noch ein andrer trug 627
Pfunde (t). Ein Englaͤnder (u) konnte einen Ochſen,
der, wie ich davor halte, zwiſchen 700 bis 1000 Pfunde
wog, weggetragen; und ſo trug auch Milo von Kroton
einen Ochſen, ja ein andrer ging mit einem Pferde, wor-
auf
[77]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
auf zween Leute ſaßen, davon (u*). Athamas, wie
ihn Vlinius nennt (x), ging unter einer Laſt von 1000
Pfunden, indem er einen bleiernen Harniſch von 500
Pfunden, und einen bleiernen Panzer von gleicher
Schwere an ſich hatte.
Jch habe auch an dem Ruͤkkenkramfe eines zarten
Maͤdgen geſehen, an dem der Leib wie ein Bogen und
das dergeſtalt gekruͤmmt war, daß der Ruͤkken um einen
ganzen Fus weit vom Bette abſtand, und die geſammte
Gewalt von vier darauf liegenden Maͤnnern, welche
folglich 800 Pfunde ſchwer waren, nicht vermoͤgend war,
den Ruͤkken niederzudruͤkken.
Eben dieſe Muſkeln richten noch vielmehr aus, wenn
ſie einen Strikk zerreiſſen, welcher kaum von 1680 Pfunden
zerreiſſet (y). Dieſe Kraft iſt groͤſſer, als die Kraft zweier
Pferde zuſammengenommen betraͤgt (z), hieher gehoͤrt
noch ein Eſel (a) von 200 Pfunden, den jemand an den
Haaren aufhob.
Blos die Biegemuſkeln des Schienbeins heben 200
Pfunde auf (b), wenn ein Menſch, der auf den Huͤften
liegt, mir gebogner Huͤfte aufſteht. Und wie gros iſt
nicht die Staͤrke der Seiltaͤnzer, welche den ganzen Leib,
entweder blos mit den Biegemuſkeln des Fuſſes mit einem
einzigen Fuſſe, oder mit der Hand, und endlich blos
mit der Ferſe (c), den Leib unterſtuͤzzen, indem hier blos
die groſſen Waden-und Fusſolenmuſkeln dadurch wirken,
daß ſie die Ferſe niederdruͤkken.
Die ausſtrekkenden Muſkeln des Ruͤkkens koͤnnen
eine aufgeladene Laſt von 800 bis 900 Pfunden tragen,
welche
[78]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
welche man dem untern Theile des Ruͤkkens zu tragen
giebt (d). Eben dieſelben tragen und erheben, wenn
man ihnen mit einer bequemen Maſchine zu Huͤlfe koͤmt,
welche einen Theil der Laſt auf die ausgeſtrekkte Huͤften
uͤberleitet, 1900 (e) und ſo gar 3000 Pfunde (f). Es iſt
der Ruͤkken ſo ſtark, daß man 200, 250 (f*) 300, oder
400 (g), 600 (g*), 800 (h) Pfunde, welches mit dem
Gewichte des eignen Koͤrpers faſt 1000 Pfunde betraͤgt,
blos vermittelſt der Haͤnde aufheben kann, indem dieſe
Kraft nicht auf den Aermen beruht, welche nur ſtatt der
Seile da ſind.
Es ſchaͤzzt Philipp de la Hire(i) die Muſkeln des
Armes auf 160 Pfunde; ihre Staͤrke aber iſt gewis viel
groͤſſer. Als ich im Jare 1737 die Rammelsbergergru-
ben befuhr, hatte eben ein Bergmann einen mit Erz an-
gefuͤllten Kuͤbel, um ihn an dem Haſpel heraufzuwinden,
an die Kette gehaͤngt. Dieſer Ungluͤkkſelige hatte noch
den Finger in dem Ringe ſtekken, als die Maſchine den
Kuͤbel ſchon hinaufzog. Er blieb ſolchergeſtalt blos mit
dem einen Finger daran feſte haͤngen, und da er die aͤuſ-
ſerſte Kraft anſtrengte, um nicht den Finger auszurenken,
und ums Leben zu kommen, ſo kam er endlich oben aus
dem Berge zugleich mit dem Kuͤbel, nachdem er ohngefehr
600 Fus hoch hinaufgezogen worden, gluͤkklicher Weiſe
wieder heraus. Dieſes iſt ein ſehr ſeltnes Beiſpiel, daß
er ſich ſo lange erhalten koͤnnen, indeſſen daß er die
Schwere
[79]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
Schwere ſeines Koͤrpers nebſt 150 Pfunden blos an den
zween Biegemuſkeln eines einzigen Fingers haͤngen hatte.
Man mus dieſes ſo verſtehen, daß einer oder etliche
wenige Muſkeln ihre gewiſſe Kraͤfte haben, und es thut
bei unſrer Rechnung keinen Eintrag, daß einige beruͤmte
Maͤnner (k) die beſtaͤndigen willkuͤrlichen Kraͤfte im
Menſchen 70 Pfunden gleich ſchaͤzzen, welche, innerhalb
einer Sekunde einen Fus hoch aufgehoben worden. Sie
reden naͤmlich von der Laſt, welche dieſe Kraͤfte lange Zeit
und mit Beſtand aufzuheben vermoͤgend waͤren, da ich
hingegen von denjenigen Kraͤften ſchreibe, welche dieſe
Muſkeln ohngefehr auszuuͤben tuͤchtig ſind.
Endlich ſo uͤberſteigen die Kraͤfte der Jnſekten unſre
Maaße um ein Auſſerordentliches, ſo wie ſie an der Reiz-
barkeit die groſſen Thiere ſelbſt uͤbertreffen; indem ein
Floh eine Laſt, die 70 bis 80 mal ſchwerer als er ſelbſt
wiegt, fortſchleppt (k*), da ein Pferd ſchwerlich uͤber
2000 Pfunde (k**), das iſt, ohngefehr eine dreimal
ſchwerere Laſt, als es ſelbſt wiegt, zu ziehen vermag.
Wir haben bisher nur den allerkleinſten Theil von
derjenigen Gewalt betrachtet, welche in den Muſkeln
liegt. Dieſen haben wir dergeſtalt mit angehaͤngten Ge-
wichtern verglichen, daß wir annahmen, wie ſich die
ganze Kraft eines Muſkels mit Nuzzen anſtrenge, um
das
[80]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
das Gewichte zu erheben, ſo wie an einer Wage das ge-
ſammte Gewichte einer Schale dazu dient, daß das Ge-
wichte der andern Schale aufgehoben werde. Allein die
ganze Sache verhaͤlt ſich in dem menſchlichen Koͤrper an-
ders; und es hat der Schoͤpfer (l) ſo wenig eine Erſpa-
rung der Kraͤfte bei der Anlage der Muſkeln zur Abſicht
gehabt, daß er vielmehr alle Muſkeln dergeſtalt an den
Knochen gelagert, daß der groͤßte Theil von der Muſ-
kelkraft verloren geht. Wir muͤſſen dieſes ſtuͤkkweiſe er-
weislich machen.
Es verhalten ſich in dieſer ganzen Betrachtung die
Knochen, wie Hebel, welche von den Muſkeln, wie von
Strckken in Bewegung geſezt werden, und da die einge-
pflanzte Kraft dieſe Muſkeln dergeſtalt anzieht, daß man
ſie wirklich berechnen kann, ſo ſchaͤzzt man dieſe Kraft ſo
gros, als das Gewichte, welches an einem Hebel hinge,
und eben die Wirkung thaͤte, die ein von der eingepflan-
ten Kraft angezogner Muſkel verrichtet.
Ruhepunkt iſt derjenige unbeweglich feſte Theil des
Hebels, um den ſich der Hebel herum bewegt. Es durch-
ſchneidet die Achſe des Knochen, der ſich am Gliede be-
findet, die Laͤnge deſſelben, und ſie ſtimmet mit der Mitte
des Gelenkes zuſammen, ob dieſes gleich nicht ſo ganz
genau wahr iſt; und um dieſes Ende der Achſe drehet ſich
der ganze Knochencilinder herum; folglich ſtekkt der
Ruhepunkt mitten im Gelenke (m).
Wenn man nun dem Hebel eine Gewalt mittheilt, ſo
wirkt dieſe um deſto ſtaͤrker, je weiter dieſe vom Ruhe-
punkte abliegt, und den Hebel belebt; und dieſes iſt eine
mehr
[81]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
mehr als zu bekannte Sache; hingegen wirkt ſie um
deſto ſchwaͤcher, je naͤher am Ruhepunkte ſie den Hebel
zu bewegen ſucht. Es ſind aber die mereſten Muſkeln im
menſchlichen Koͤrper an ihren Knochen, dem Ruhepunkte,
viel naͤher angeſchloſſen (n) als das angehaͤngte Gewicht,
und ſo tragen wir z. E. an dem Gelenke des Ellbogens
eine Laſt, welche von dem Deltamuſkel, der die Schulter
aufhebt, getragen wird. Es befindet ſich aber der Ruhe-
punkt der Schulter in der Vergliederung derſelben mit
dem Schulterblate. Die Einlen ung des Deltamuſkels
lieget dieſer Vergliederung viel naͤher, als das Gewichte,
welches von dem aͤuſſerſten Unterende der Schulter getra-
gen wird, und es iſt wenigſtens, wie 1 zu 3, naͤher;
wenn man daher annimmt, daß der Ellbogen ein Ge-
wichte von 55 Pfunden (o) aufhebt, und man die Schwe-
re des Armes mit dazu nimmt, welchen ich 5 Pfund
ſchwer ſchaͤzze, wenn man ferner, des Einfachen wegen,
dieſe ganze Laſt auf den aͤuſſerſten Theil des Ellbogens zu-
ſammenwirft, ſo wird die Kraft, mit welcher der Delta-
muſkel dieſe Gewichte aufhebt, nicht 60 oder 30 Pfunde,
ſondern uͤberhaupt 180 Pfunde gros ſein. Hierzu hilft
der innere Muſkel des Armes nicht das mindeſte mit,
denn ich ſezze, daß die Laſt an der unterſten Schulter,
oberhalb der Vergliederung, und oberhalb der Einlenkung
dieſes Muſkels angehaͤngt ſei.
Wenn ein Muſkel uͤberhaupt mit demjenigen Kno-
chen, welchen er zu bewegen hat, parallel liefe, ſo waͤre
der
H. Phiſiol. 5. B. F
[82]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
der Widerſtand des angehaͤngten Gewichtes unendlich
gros (p). Waͤre ein Muſkel unter einem rechten Win-
kel an den Knochen gefuͤgt, ſo wuͤrde er ſeine geſammte
Kraft (q) auf die Bewegung des Gliedes mit Vorteil
ausuͤben, ſo wie das an eine Waage angehaͤngte Gewicht
ſeine ganze Staͤrke anwendet, den Koͤrper des Wagebal-
ken herabzuziehen.
Man findet ſelten Muſkeln von dieſer Art, und von
der vorhergehenden uͤberhaupt gar keine, und es hat die
Natur nirgens Kraͤfte geſchaffen, welche unwirkſam waͤ-
ren. Hingegen ſind die mereſten Muſkeln unter kleinen
Winkeln, die viel kleiner, als rechte Winkel ſind, an
ihrem Knochen befeſtigt (r). So iſt der Deltamuſkel,
von dem die Rede iſt, beinahe unter einen Winkel von
zehn Graden in den Knochen der Schulter eingefugt.
Es verhaͤlt ſich aber die Kraft, welche ſchief zieht,
zu derjenigen Kraft, welche nach der ſenkrechten Linie zieht,
wie ſich der Sinus der Jnclination zu dem Sinus totus
verhaͤlt (s). Und es betraͤgt dieſes Verhaͤltnis, um ein
Exempel zu geben, wie 1736482 zu 10,000,000.
Wenn demnach, laut obiger Betrachtung, der Delta-
muſkel, um 55 Pfunde aufzuheben, ſo viel Kraft anwen-
det, als zum Erheben von 180 Pfunden erfordert werden,
ſo wird derſelbe, laut dieſer zwoten Betrachtung, ſo viel
Kraft anwenden, als 1058 Pfunde aufzuheben noͤtig iſt.
Es hat dieſe Sache J. Alphonſus Borellus etwas
veraͤndert vorgetragen. Er verbindet naͤmlich unſre beide
Speculationen, welche wir von einander getrennt haben,
mit
(o)
[83]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
mit einander. Er betrachtet den Muſkel, wie er queer
uͤber das Gelenke fortgeht, und bemerkt, daß derſelbe,
wegen Geſchwulſtes des Knochenkopfes, ein wenig von dem
Centro der Bewegung und der Knochenachſe abweiche;
und daraus ſchliſt er, daß ſeine Kraft, welche auſſerdem,
ſo viel als Nichts ſein wuͤrde, in ſo fern zunehme, und daß
ſelbige gegen die ganze Kraft, die ein ſenkrecht in den Kno-
chen eingelaſſener Muſkel ausuͤben wuͤrde, wie die halbe
Dikke des Gelenks oder wie die ſenkrechte Linie ſei, die vom
Ruhepunkte, zur Directionslinie gezogen, zu dem Abſtande
der Einlenkung vom Ruhepunkte iſt (t). Man pflegt naͤm-
lich in allen dergleichen ſchiefen Zuͤgen die wirkſame Kraft
nach dem ſenkrechten Abſtande des Ruhepunktes von der
Linie zu ſchaͤzzen (u), laͤngſt welcher der Zug geſchicht. Es
hat Borell dieſen Sazz in verſchiednen Beiſpielen auf
die Muſkeln des Ellbogens (x) und des Fuſſes (y) ange-
wandt, und es erweiſet Sturm(z) an einem wirklichen
Hebel, auf den ein andrer bald ſo, bald anders ſchiefer Hebel
in einem beweglichen Gelenke aufliegt, daß ſich die ganze
Sache wirklich ſo verhalte. Waͤre daher ein Gewichte
an den Fingern angehaͤngt, ſo wuͤrde ſich die thaͤtige Kraft
des Muſkels, welcher dieſes Gewicht aufheben will, zu
dem Gewichte verhalten, wie der Abſtand der Muſkelachſe,
oder der Linie, laͤngſt welcher der Zug verrichtet wird,
von dem Centro der Vergliederung, zur Laͤnge des Ell-
bogens, oder der Hand, denjenigen Theil der Finger aus-
genommen, welcher ſich auſſerhalb dem Gewichte befindet.
Wenn daher die Dikke des Gelenkes zunimmt, ſo nimmt
zugleich die Kraft des Muſkels zu. Dieſes ſtimmt aber
mit unſern Saͤzzen uͤberein, und es koͤmmt auf den Win-
kel an, unter welchem ein Muſkel an ſeinen Knochen befe-
F 2ſtigt
[84]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
ſtigt iſt. Es koͤnnen auch andre Urſachen als der Ge-
ſchwulſt des Gelenkes vorhanden ſein, oder es kann eine
Muſkel mit dem Knochen einen ziemlich groſſen Winkel
machen, dergleichen an dem Bruſtmuſkel, der ſich an die
Schulter und dem kleinen gezakkten, der ſich an den Fort-
ſazz des Schulterblates anſchliſt, wahrzunehmen iſt.
Man will, daß ſich die Muſkeln in den Jnſekten in
einer groͤſſern Weite von der Gelenkmitte lagern (a), und
daß ihnen dieſe Lage zur Verſtaͤrkung der Kraͤfte befoͤrder-
lich ſei.
Es befinden ſich die Fleiſchfaſern in vielen Muſkeln,
doch aber nicht in allen und jeden, mit ihrer Sehne nicht
in einerlei Richtung. Sie pflegen an den gefiederten
Muſkeln, unter einem abwaͤrts ſtumfen Winkel, in die
Sehne zu laufen; und ſie ſind an den geſtralten Muſ-
keln noch ſchiefer in die Sehne eingefugt; und dieſes thun
die aͤuſſerſten Faſern noch mehr, als die innerſten.
Nun verliert ein Muſkel uͤberhaupt mehr von ſeiner
Kraft, je groͤſſer der Winkel iſt, unter dem ſeine Faſern
in die Sehne laufen, und es wuͤrde unter einem rechten
Winkel gewis ſehr wenig von der Thaͤtigkeit eines Muſ-
kels uͤbrig bleiben. Es werden ſich aber die thaͤtigen Kraͤfte,
wie der mittlere Theil der Direktionslinie verhalten, die
durch die, von der ſchiefen Richtung gezogne ſenkrechte
Linie abgeſchnitten wird, welche zu eben demjenigen Theile
der Richtungslinie hingeht, von dem die ſenkrechte aus-
laͤuft. Oder es verhalten ſich, um einfacher zu rechnen,
die aufgewandte Kraͤfte zu den wirkſamen Kraͤften, wie
der Sinus totus zum Sinus desjenigen Winkels, unter
wel-
[85]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
welchem ſich die Faſern in ihre gemeinſchaftliche Sehne
werfen. Man ſehe davon die Berechnung bei dem J.
Alphonſus Borell(b) nach. Es iſt in einem Winkel
von 30 Graden die angewandte Kraft zu der wirkſamen
Kraft 100 zu 87. Hat man 45 Grade, ſo verhaͤlt ſich die
Kraft, wie 100 zu 70. Sind es 26 Grade, ſo verhaͤlt
ſie ſich, wie 100 zu 89. Sie iſt bey 14 Graden, wie
100 zu 97. Bei 8 Graden, wie 100 zu 99. J. Chri-
ſtoph Sturm(c) hat auch dieſe Abnahme der thaͤtigen
Kraͤfte durch ſeine Verſuche beſtaͤtigt.
Man ſiehet aber hieraus, daß man die Mittelzal
zwiſchen den aͤuſſerſten Faſern eines ſtraligen Muſkels,
deren Richtung von der geraden Mittellinie am meiſten
abweicht, und zwiſchen den innerſten Faſern ſezzen muͤſſe,
welche von gedachter Linie wenig abweichen.
Nach unſrer Rechnung waͤre der groſſe Winkel der
aͤuſſern Faſern am Deltamuſkel = 30 °: der kleine,
oder der Winkel der innern Faſern = 8 °. Daher iſt
die Kraft des Deltamuſkels, wenn man damit 55 Pfunde
auf hebt, uͤberhaupt ſo gros, als 1284 Pfunde zu erheben
koſtet, wenn ſolche eben dieſer Muſkel in die Hoͤhe zoͤge,
wofern dieſer Muſkel an ſeiner Kraft keinen Abgang
gelitten haͤtte (d).
Es mag der uͤbrige Abgang oder Verluſt der Kraͤfte,
die ein angeſtrengter Muſkel einbuͤſt, ſo gros ſein, als er
wolle, ſo mus man dieſen Abgang doch an einem jeden
F 3Muſ-
[86]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Muſkel gedoppelt ſo gros ſchaͤzzen, weil ein jeder Muſ-
kel, indem er ſich zuſammenzieht, ſo viel Kraft anwendet,
um demjenigen Knochen, der dem Muſkel ſein feſtes Lager
macht, zu widerſtehen, als er auf die Aufhebung des
Gewichts (e) verwendet. Er wirkt naͤmlich, weil er
ſich kurz macht, und ſeine Faſern gegen die Mitte des
Muſkels (f) herbeizieht; nun wird er zwar einer Seits
von der Laſt ausgeſpannt, und er uͤberwindet dieſes Aus-
ſtrekken durch ſein Vermoͤgen, ſich zuſammen zu ziehen;
andrer Seits wird er mit gleich groſſer Kraft von dem
Wiederſtande des Knochens ausgeſtrekkt, und er mus alſo
dieſer Ausſtrekkung eben ſo groſſe zuſammenziehende Kraͤfte
entgegen ſtellen, wenn er ſich nicht ausſtrekken laſſen will.
Um die Sache beſſer zu verſtehen, haben einige beruͤmte
Maͤnner (g) Zweifel aufgeworfen, und man ſezze, daß
der Muſkel eine Saite ſei, die theils an einen Nagel,
an einer unbeweglichen Wand, aufgehaͤngt, theils von
einem Gewichte herabgezogen wuͤrde: hier, ſage ich nun,
daß die Saite nicht blos von dem einfach angehaͤngten
Gewichte, ſondern von dieſem Gewichte gedoppelt herab-
gezogen wird, indem es der Nagel ſo ſehr zuruͤkke zieht,
als es das Gewichte ausſtrekkt. Damit man auch den
Widerſtand der feſten Wand einfacher machen koͤnne, ſo
nehme man an, daß, an ihrer Statt, der Nagel auf einem
unbeweglichen Hebel auf liege, und daß er queer uͤber die-
ſem Hebel im Gleichgewichte ruhe. Man ſiehet alsdenn
leicht ein, wie der Hebel ein Gewichte haben muͤſſe,
welches uͤber dem Nagel an ihn angehaͤngt, und das ſo
gros, als das angehaͤngte Gewicht ſei, wenn das Gleich-
gewichte herauskommen ſoll.
Folglich wird ein Seil ſowol von dem Gewichte, wel-
ches an ihm haͤngt, herab, als auch von dem Gewichte
hinaufgezogen, welches mit dieſem im Gleichgewichte ſteht.
Es
[87]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
Es mus aber ein Muſkel bei dieſem Zuge, der ihn aus-
ſtrekkt, und ſeine Faſern verlaͤngert, notwendig allemal
kuͤrzer werden, und in der That einigen wirklichen Wie-
derſtand thun. Folglich wendet derſelbe gedoppelt ſo viel
Kraͤfte an, als das einfach angehaͤngte Gewichte ſonſt er-
fordern wuͤrde.
Jm menſchlichen Koͤrper und am Deltamuſkel iſt
die feſte Wand der Schulterknochen, und das Schluͤſſel-
bein, das angehaͤngte Gewicht, wie wir geſagt haben, 55
Pfunde; folglich mus der Schulterknochen dem Delta-
muſkel um ſo viel Widerſtand thun, als er vom Gewich-
te herabgezogen wird, und es verzehrt ſich die halbe Kraft
des Deltamuſkels im Aufheben der Laſt, und die andre
Helfte im Widerſtande gegen die Feſtigkeit des Knochens,
welche eben ſo als ein zuruͤkkziehendes Seil wirkt, folglich
betraͤgt die aufgewandte Kraft = 2568 Pfunde.
Dieſes hat J. Chriſtoph Sturm(h) ebenfalls
durch Gruͤnde und Verſuche erwieſen.
Es laufen viele lange Muſkeln uͤber zwei bis drei
Gelenke fort, dergleichen der hohe Strekkmuſkel der
Finger thut. Dergleichen Muſkel kann ſein beſondres
Gelenke, welches das allerletzte von den Gelenken iſt, uͤber
welche er laͤuft, nicht anders beugen, als daß zugleich ſeine
Mittelgelenke mit gebogen werden.
Da aber der Wille der Seele dergleichen Beugungen
verwirft, und nicht ſtatt finden laſſen will, ſo verhindert er
ſie durch die Gegenmuſkeln, welches die Ausſtrekker dieſer
Gelenke ſind; demohngeachtet aber wendet doch der
F 4Muſ-
[88]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Muſkel hier vergebens alle die Kraft mit an, womit er
die Mittelgelenke beugen wuͤrde, und welche von dem ge-
genſeitigen Anſtrengen der ausſtrekkenden Muſkeln ver-
nichtet wird (i). So muͤſſen, um ein Exempel zu geben,
die Gelenke des Ellbogens an der Handwurzel, die Ge-
lenke der Handwurzel an der Mittelhand, und die Gelenke
der Mittelhand an den Fingern zuruͤkke behalten werden.
Es hat Henrich Pemberton(k) dieſen Abgang, nach-
dem er die Berechnung des Borelli einigermaßen verbeſ-
ſert (l), ſo geſchaͤzzt, daß ſich der bei der Kraft, unter
einige Gelenke vertheilte Theil des, am aͤuſſerſten Hebel,
(den Fingern), angehaͤngten Gewichtes, wo er bei jedwe-
dem Gelenke ruhet (und dieſes iſt eben der Abgang der
aufgewandten Kraft) gegen dieſes ganze Gewichte, wie
das zuſammengeſezzte Verhaͤltnis, aus dem Verhaͤltniſſe
der ſenkrechten Linie, die mitten aus dieſem Gelenke nach
der Richtungslinie des Muſkels, wovon die Rede iſt, ge-
zogen wird, und womit derſelbe auf dieſes Gelenke wirkt,
gegen die ſenkrechte Linie, welche aus eben dieſem Gelenke
nach der Richtungslinie gezogen wird, kraft der das auf-
liegende Gewichte wirkt; ferner aus dem Verhaͤltniſſe der
ſenkrechten Linie, welche aus dem Gelenke nach eben dieſer
vornemſten Linie (des Fingers) gezogen wird, gegen die
ſenkrechte Linie, die man von dieſem Gelenke nach der
Richtungslinie des Muſkels zieht, verhalte.
Es hat J. Alphonſus Borellus zuerſt die richtige
Anmerkung gemacht, daß ſich an einem jeden Muſkel,
welcher
[89]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
welcher uͤber ein Gelenke laͤuft, das ſich gegen die Achſe
des Muſkels beugt, die Faſern dieſes Muſkels, mitten in
ſeinem Spiele, kuͤrzer machen, indem das untere Glied
gegen das obere Glied heraufgezogen wird (m). Es
ziehet aber, ſagt dieſer vortrefliche Mann, eine ungeſpannte
Saite nicht; folglich mus ein nachgelaſſner Muſkel von
einer groſſen Kraft ausgedehnt werden, damit er nicht
erſchlaffe. Dieſe einblaſende Kraft wird zum Aufheben
der Laſt nicht angewendet, und man kann ſie fuͤr einen
Abgang anſehen. Es ſcheint mir aber an dieſer Stelle
dieſer Gelerte eine thieriſche Faſer mit einem todten Seile
gar zu ſehr zu verwechſeln; indem eine thieriſche Faſer
ſowol in dieſem Falle, als auch allemal zugleich kuͤrzer und
dennoch geſpannt iſt; ja ſie braucht auch nicht aufgeblaſen
zu werden, weil ſie blos durch eine dichtere Annaͤherung
ihrer Theilgen gegen einander ihr Amt verrichten, und
doch zugleich geſpannt und kurz ſein kann.
Doch auch dieſer Verluſt ſcheint der Muſkelkraft wirk-
lich nichts zu entwenden. Es hielte J. Alphonſus Bo-
rellus(n), die Faſern vor eine Kette von Blaſen, oder
Rauten, damit er eine einfachere Figur zu berechnen ha-
ben moͤchte. Von dieſen Rauten ſezzte er auf die Laͤnge
eines Zolles etwa zwanzig (o). Er zeigte ferner, daß in-
dem ſich ein Muſkel zuſammenziehe blos diejenige Raute
(p), in einer jeden Faſer, welche der Sehne am naͤchſten
liege, das Gewicht aufhebe, und daß die uͤbrigen neun-
zehn hintern Rauten die Bewegung vollſtaͤndiger machen
F 5hel-
[90]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
helfen (q). Daher koͤmmt es, daß ein Muſkel, nachdem
er lang iſt, in jeder Faſer, vierzig bis ſechszig Blaͤsgen
enthaͤlt, und daß von der angeſtrengten Kraft nur der
vierzigſte oder ſechzigſte Theil die Laſt aufhebt, ferner, daß
man die aufgewandte Kraft des ganzen Muſkels, wie
wir ſie bisher erlaͤutert haben, um vierzig (r), bis ſech-
zigmal groͤſſer annehmen muͤſſe, um dieſelbe vollſtaͤndig
zu erhalten. Und davon ruͤhrt es nun her, daß man
an dem Deltamuſkel die Staͤrke von 61600 (s), oder
71600 (t) bis 698286 (u) Pfunden gefunden haben will.
Doch es beſtehen die Muſkelfaſern ſo wenig aus Blaͤs-
gen, als ſie nach einem Zirkelſchnitte ausgedehnt wirken,
und man braucht alſo auch nicht anzunehmen, daß blos
der vierzigſte oder hunderte Theil eines Muſkels die Laſt
aufhebe.
Die Verſuche lehren es naͤmlich, daß Faſern blos
von einer etwas heftigern Anſtrengung der Muſkeln zer-
reiſſen (x) oder auch von einem geringen angehaͤngten Ge-
wichte entzwei gehen (y), daher es denn gar nicht war-
ſcheinlich iſt, daß ſie ohne Zerreiſſen auf irgend eine Art
den Widerſtand von 70000 Pfunden uͤberwinden koͤn-
nen (z), indem die Geſchwindigkeit der Wirkung ſolches
noch mehr befoͤrdern, als aufhalten wuͤrde.
Wir erlernen aus dem bisher beigebrachten (a),
daß man die aufgewandte Kraͤfte eines Muſkels, nach
den
[91]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
den wirkſamen oder thaͤtigen Kraͤften deſſelben beſtimmen
muͤſſe. Es iſt aber das Maas der thaͤtigen Kraͤfte das
aufgehobene Gewicht. Und dieſes mus man ſo vielmal
groͤſſer nehmen, als der Muſkel ſeinem Ruhepunkte naͤher
liegt, als das Gewichte an ihm haͤngt (b). Man mus
ferner den Sinus des Winkels aufſuchen, unter welchem
ſich der Muſkel in den Knochen wirft, und denn mus
man die Vergleichung ſo anſtellen, daß man ſchliſſet, wie
ſich dieſer Sinus zum Sinus totus, ſo verhaͤlt ſich die
wirkſame Kraft (welche bereits, nach der vorigen Betrach-
tung, Abgang erlitten) zu der angewandten Kraft. Eben
ſo mus man nach einer andern Analogie aus dieſer Kraft
die angewandte Kraͤfte finden, wenn die ſchiefe Richtung
der Faſern gegen die Sehne zum Grunde genommen
wird (d), man mus naͤmlich abermals die geſammte
Kraft zur thaͤtigen Kraft, wie den Sinus totus zum
Sinus des Einfuͤgungwinkels ſchaͤzzen. Ferner wenn
ein Muſkel uͤber mehr als ein Gelenke ſtreicht, ſo mus
man nach Anweiſung der Regel (e) dieſen Abgang ausfin-
dig machen, und wieder die aufgewandte Kraft groͤſſer
machen. Und endlich mus man ſelbige verdoppeln (f).
Nun waͤre noch die uͤbermaͤßige Kraft uͤbrig, in-
dem die Laſten und der Widerſtand oft nicht langſam, ſon-
dern mit groſſer Hurtigkeit von unſern Muſkeln aufgeho-
ben werden. Doch es iſt dieſe ganze Theorie noch viel zu
neu, und zur Zeit noch nicht berechnet worden, indem
ein Menſch nicht blos ſich erhebt, ſondern auch auſſerdem
noch bis funfzig Fus (f*) fortſpringt, welches einige
Thiere bis acht und zwanzigmal weiter verrichten, als
ihre eigene Laͤnge betraͤgt (f**)
Aber ſo leicht laͤſt ſich nicht die Verhaͤltniskraft der
Muſkeln herausbringen. Pitkarne(g) hat ſie ſchlecht-
hin nach der Staͤrke, wie die Laſten, berechnet, und es ſchaͤz-
zen ſie andre nach der Menge der Faſern (g*), oder nach
dem Queerdurchſchnitte (h) und nach der Dikke (i). Doch
es kann das Gewicht eines Muſkels vom fetten Blute,
und von der Sehne anwachſen, ohne daß eben die Muſ-
kelkraft zunehmen darf. Es kann ferner die Kraft eines
Muſkels uͤberhaupt von der Anzal der Nerven, und von
ihrer Entbloͤſſung (k), bald ſo, bald anders werden, und
dieſe Veraͤnderung laͤſt ſich auch von der angebornen
Reizbarkeit, von der Gewalt eines Reizes (l), der dem
Muſkel beigebracht worden, und vielleicht auch von der
natuͤrlichen (m) oder verurſachten Haͤrte der Faſern be-
greiflich machen (n). Das Herz, welches doch kleiner, als
die meiſten Muſkeln iſt, uͤbertrift dennoch an Staͤrke,
und Dauer alle andre. So ſind die tuͤrkiſchen Traͤger
noch einmal ſo ſtark, als die Laſttraͤger in England, und
es verhaͤlt ſich die Staͤrke der Englaͤnder, gegen die
Staͤrke der Franzoſen (o), wie 7 zu 5.
Was die Groͤſſe der Bewegung betrift, ſo haͤnget
ſelbige von der Laͤnge der Faſern ab (p), und es biegen
ſich
[93]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
ſich ihrentwegen die Glieder geſchwinder (p*). Wenn
man naͤmlich die Verkuͤrzung auf beiden Seiten gleich
gros ſezzt, ſo ziehet ein Muſkel, der einen Fus lang iſt,
ein Glied durch eine Laͤnge von vier Zoll nach ſich, indeſ-
ſen daß ſolches von einem Muſkel, der einen Zoll lang iſt,
durch vier Linien geſchicht. Uebrigens iſt eine jede lange
Faſer ſchwaͤcher (p**), und ſie laͤſt ſich von einer gerin-
gen Gewalt, von ihrer geraden Richtung, verſchieben,
und entzweireiſſen (q).
Man koͤnnte hierbei fragen, warum der weiſeſte
Schoͤpfer dergleichen Bau in Thieren verhaͤngt habe, wo-
bei notwendig ein groſſer Theil von den aufgewandten
Kraͤften zunichte gehen mus.
Hierauf laͤſt ſich leicht antworten. Es kommen alle
menſchliche Erſparungen der Kraͤfte darauf an, daß die
bewegende Macht einen groſſen Weg beſchreiben, indeſſen
daß das Gewicht eine kleine Linie zu durchlaufen hat.
Folglich wirkt dieſelbe in einer groͤſſern Zeit, indeſſen daß
das Gewichte, welches uͤberwaͤltigt werden mus, ſeinen
Weg geſchwinder zuruͤkke legt. Nun konnte aber dieſe
Regel in menſchlichen Dingen nicht ſtatt finden, und
es muſte uͤberhaupt der Widerſtand einen groſſen Zir-
kelbogen, und die Gewalt einen kleinen beſchreiben.
Es mus die Hand, wenn ſie was umſpannt, und der
Fus im Gehen, mit den aͤuſſerſten Fingern oder Zeen
uͤber dem Gelenke des Ellbogens, oder des Kniees,
einen groſſen Bogen beſchreiben, damit im Schritte
eine
[94]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
eine anſtaͤndige Weite herauskomme, oder damit die
ergriffene Koͤrper von der Erde bis zum Munde, um
nur ein einziges Exempel zu geben, heraufgebracht werden
moͤgen. Man muſte, mit einem Worte, darauf ſehen, daß
das Gewichte einen groſſen Weg, und die Gewalt einen
kleinen durchlaufen moͤchte. Man haͤtte aber weder fort-
ſchreiten oder einen Fus vor den andern ſezzen, noch den
untern Kinnbakken vor dem obern in die Hoͤhe bewegen
koͤnnen, noch die Zunge aus dem Munde ſtrekken moͤgen,
wenn nicht der Muſkel, welcher dieſe Bewegungen her-
vorbringen mus, anſtatt in das Ende des zu bewegenden
Hebels, vielmehr in den Ruhepunkt deſſelben eingefugt
waͤre. Und indem eine menſchliche Gewalt, die naͤher
an den Ruhepunkt gebracht wird, einen kuͤrzern Bogen,
hingegen der an dem aͤuſſerſten Hebeltheil angehaͤngte
Widerſtand, einen groͤſſern Bogen beſchreibt, ſo waͤchſet
nothwendig die Geſchwindigkeit in der Aufhebung des
Widerſtandes. Und dieſes war auch die Urſache, war-
um der Schoͤpfer ſein Abſehn nicht auf den Abgang (r)
von der dem Ruhepunkte naͤher gelagerten Kraft ge-
richtet hat (r*).
So war es ferner notwendig, den Urſprung der Muſ-
keln vom Koͤrperſtamme, und den Theilen, die dem
Stamme unſers Koͤrpers nahe liegen, und das Ende der-
ſelben, wofern ſie bewegt werden ſollten, uͤber die aͤuſſerſten
Gelenke herzuleiten. Wenn demnach die Beduͤrfniſſe des
Menſchen ein Glied verlangten, welches ſich uͤber viele
Gelenke beugen laſſen muſte, ſo geſchahe es, daß der
Muſkel uͤber etliche Zwiſchengelenke fortgefuͤhrt wurde (s).
Es muſten ferner die Gliedmaßen rundlich (s*) und
kegelfoͤrmig ſein, damit ſie nach der Reihe leichter werden
koͤnnten,
[95]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
koͤnnten, ſo wie ſie vom Koͤrperſtamme weiter entfernt ſind.
So rundlich und klein ſie waren, konnten die Gelenke doch
nicht ſo dikke gemacht werden, daß der Muſkel weit von
dem Mittelpunkt der Bewegung und von der durch dieſe
Mitte gezogene Achſe, in die Hoͤhe gehoben wuͤrde. Und
folglich muſte man wieder denjenigen Theil Kraft einbuͤſſen,
welcher wegen der Kleinheit der ſenkrechten Linie verloren
geht, die vom Mittelpunkte der Bewegung nach der Rich-
tungslinie des Muſkels gezogen wird (t).
Wenn man das Muſkelfleiſch von dem Stamme des
Koͤrpers immer gegen ein kleineres und leichteres Glied
hinfuͤhren muſte, wenn die Natur uͤberhaupt viele Faſern
vereinigen muſte, um das Glied durch eine ſchmale Sehne
zu bewegen, wenn ſie oft weit vom Knochen eine Reihe
Faſern herbeiziehen muͤſſen, um nur Faſern genug zu ha-
ben, ſo erhellet daraus, warum die Natur geſtralte (u)
und gefiederte Muſkeln (x) geſchaffen, ob dergleichen
Muſkeln gleich an ihren Kraͤften einige Einbuſſe leiden.
Jch unterſtehe mich nicht, das Verhaͤltnis ſtoſſender
Kraͤfte gegen ihren ruhenden Widerſtand, fuͤr unendlich
auszugeben, ob dieſes gleich Borell(y) gethan hat, da
gezeigt worden, daß dieſe ſtoſſende Kraft allerdings berech-
net werden, und mit dem Gewichte des druͤkkenden Waſ-
ſers ins Gleichgewicht gebracht werden kann (z). Dage-
gen
[96]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
gen hat der Schoͤpfer, welcher wohl wuſte, was vor groſſe
Triebraͤder zur Bewegung er in die Nerven, und ins
reizbare Weſen der Muſkeln hineingelegt hatte (a), auf
die Vermerung der Geſchwindigkeit in der Bewegung,
und auf andre Vorteile mehr ſeine Abſicht gerichtet, in-
dem er erlaubte, daß die aufgewandten Kraͤfte Abgang
leiden ſollten.
Er hat aber auch demohngeachtet doch dieſen Abgang
auf allerlei Weiſe zu verringern geſucht, und das zwar in
ſo fern, als es die Vortheile verſtatteten, welche er durch-
aus nicht verabſaͤumen wollte.
Es hat derſelbe nirgend, ſo viel ich weis, einen Muſ-
kel von dem Ruhepunkte weiter weg verlegt, als das zu
bewegende Gewichte, wenigſtens nicht der Hauptabſicht
gemaͤs, entfernt war. Jndeſſen geſchicht es doch zufaͤlliger
Weiſe, daß bisweilen das Ende eines Muſkels vom Ru-
hepunkte weiter abliegt, als das Ende des zu bewegenden
Gewichtes. Hiervon hat man an dem hohen Biegemuſ-
kel, und dem langen Kopfe des tiefen ein Beiſpiel. Man
ſezze, daß man ein Gewicht nicht mit der Hand ergreifen,
ſondern irgendwo am Ellbogen, zwiſchen dem Gelenke
deſſelben, an der Schulter oder Handwurzel anhaͤngen
wollte. Hier werden in der That dieſe Muſkeln, welche
uͤber das Gelenke des Ellbogens weglaufen, daſſelbe beu-
gen und den Ellbogen folglich in die Hoͤhe heben, und es
wird dieſe Maſchine ein wirklicher Hebel ſein, an dem der
Ruhepunkt an der Vergliederung des Ellbogens mit der
Schulter, das Gewicht etwas von dieſer Mitte der Bewe-
gung ab, und die Gewalt noch viel weiter davon abliegt.
Doch hat die Natur viel oͤfter ihr Augenmerk darauf ge-
richtet, daß ſie denjenigen Winkel vergroͤſſern moͤchte (c),
den der Muſkel mit dem Knochen macht, in den er ſich
hin-
(b)
[97]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
hineinwirft. Sie hat denſelben uͤberhaupt groͤſſer, und
die Enden aller Knochen, da, wo ſie an einander gefuͤgt
ſind, dikker gemacht. Solchergeſtalt waͤchſet der Abſtand
von dem Mittelpunkte der Bewegung, worinnen ſich die
Achſen der zuſammengefuͤgten Knochen vereinigen, da-
durch.
Es findet ſich an manchen Stellen, daß ſie einige
Fortſaͤzze, welche aus dem Knochen ſelbſt hervorgehen, her-
ausgefuͤhrt, oder doch wenigſtens andre Knoͤchgen mit
Gelenken verſehen hat, welche vorragen, und von dem
Muſkel, und dem Mittelpunkte der Bewegung abſtehen
ſollten. Jn dieſe Fortſaͤzze, in dieſe Knochen hat ſie fer-
ner Muſkeln eingefuͤgt, welche ſolchergeſtalt von der Achſe
des Muſkels, und dem Mittelpunkte der Bewegung noch
mehr abſtehen. Dieſen Nuzzen verſchaffet der groſſe Um-
dreher (trochanter), an dem der eingefuͤgte mittlere Geſaͤs-
muſkel (d) mit dem Huͤfteknochen einen weit groͤſſern Win-
kel macht, als er ſonſt ohne dieſen Umdreher machen
wuͤrde. Von der Art iſt auch der Fortſazz, welcher ruͤkk-
waͤrts aus der Ferſe (e) herauslaͤuft, damit die ſehr ſtar-
ken Ausſtrekker des Fuſſes weiter von der Vergliederung
des Schienbeins mit dem Sprungknochen eingelenkt
wuͤrden. Und von dieſer Art iſt auch die Knieſcheibe (f),
dieſes beſondre Knoͤchgen, welches die in das Schienbein
eingefuͤgte Strekkmuſkeln auffaͤngt, damit von dieſem
Knochen die Sehne unter einem groͤſſern Winkel in das
Schienbein eingepflanzt werden koͤnne.
Dieſe Bewandnis hat es auch uͤberhaupt mit dem
waren Linſenknochen (ſeſamoidea), welche ſich an den Fin-
gern, beſonders an den Daumen (g) und an den Zeen
be-
H. Phiſiol. 5. B. G
[98]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
befinden (h); denn ich rechne die uͤbrigen callos, welche
oft knochig ſind, und die bei dem Urſprunge der Waden-
muſkeln (i), und im Durchgange des langen Roͤhrenmuſkels
(peroneus longus), laͤngſt dem Wuͤrfelknochen (os cupoi-
des), an der untern Seite des Schiffknochens, an der Seh-
ne des hintern Schienbeinmuſkels (l), unter die Krank-
heiten. Es iſt das rundliche Knoͤchgen der Handwurzel
vom Geſchlechte der Linſenknochen (m), und es thut eben
dieſes Knoͤchgen dem Spindelbeuger der Handwurzel eben
die Dienſte, als die Knieeſcheibe dem Ausſtrekker des
Schienbeins.
Obgleich einige beruͤmte Maͤnner unter den Neuern
dergleichen kleine Knochen nicht vor Maſchinen, ſondern
vor auſſerordentliche Theile halten (n), welche vom Rei-
ben und einer ſtarken Bewegung aus dem ſchwellenden
Kapſelbande entſtehen ſollen (o), ſo ſind ſie doch viel zu
beſtaͤndig, und zwar in allen Arten der Thiere und es ver-
raͤt ihr genauer Anſchlus (p) Abſichten und keinen Zufall.
Jch gebe leicht zu, daß ſie in ihren Anfaͤngen knorplich
ſein
(k)
[99]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
ſein moͤgen (q). Doch ſie haben dieſes mit allen uͤbrigen
Knochen gemein.
Uebrigens werfen ſich an der Hand, in dieſe Knochen
die Beuger der Vergliederung des Daumens mit der
Mittelhand (r). Am Fuſſe wirft ſich von auſſen in den
Knochen der abziehende Muſkel des groſſen Zees (s) und
der Beuger (t); von innen thut es der Beuger (u), und
der mit dem Beuger zuſammengewachſene Abzieher (x).
Aus dem waren Linſenknochen verlaͤngert ſich ein Band
nach der naͤchſten Knochenreihe (phalanx), welches
davon bei Anziehung des Muſkels in Bewegung geſezzt
wird.
Jn dieſem Verſtande bekommen auch die Knochen
ſelbſt vom Wachſen einige neue Staͤrke. Sie ſind an-
fangs rundlich und einfach. Doch die Kraft der ziehen-
den Muſkel (y) ziehet faſt uͤberall die aͤuſſerſten Knochen-
plaͤttgen von den innern ab, und es entſtehen hervor-
ragende Kaͤmme oder ſcharfe Kanten, in welche ſich Muſ-
keln werfen, die daher wenigſtens um einige Linien von
der Knochenachſe weiter abliegen. Daß ſich Fortſaͤzze er-
zeugen, davon hat man ein ganz offenbares Beiſpiel an
dem zizzenfoͤrmigen Schlaͤfenhoͤkker. Es erzeugen ſich
bei dem Anfange und Ende aller etwas ſtarken Muſkeln
rauhe Stellen, welche zwo bis drei Linien hoch ſind, der-
gleichen diejenigen ſind, welche ſich die dreikopfige Muſ-
keln an der Huͤfte machen.
Hieher gehoͤren noch andre Fortſaͤzze, welche ſowol
zur Erweiterung der Bewegung, als auch zur Vergroͤſſe-
G 2rung
[100]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
rung des Abſtandes des eingelenkten Muſkels von der
Achſe, das ihrige mit beitragen, und gemeiniglich das ver-
richten, was die Griffe an den Maſchinen thun muͤſſen.
So ſind in dem groſſen Umdreher die vereinigte Muſkeln
der Piramidenmuſkel (z), die gedoppelten (a) und der
innere Verſtopfer (b) nebſt dem vierſeitigen dergeſtalt ein-
gefugt (c), daß ſie wie Zuͤgel in den Griff des Knochens
eingelenkt ſind, und den Kopf des Knochens aus der
Pfanne (d) nach vorne, und nach auſſen zu, und zwar
viel freier, leichter und weiter bewegen oder ruͤkken koͤnnen,
als ſonſt geſchehen wuͤrde, wofern das Huͤftbein gerade
geweſen waͤren, und ſich in daſſelbe dieſe Muſkeln gewor-
fen haͤtten. Nun beſchreibt der Umdreher nach Art der
menſchlichen Maſchinen den Bogen von einem groͤſſern
Zirkel, der Huͤftekopf hingegen den Bogen von einem klei-
nern Zirkel, und folglich erſpart man dadurch wirklich
Kraͤfte. Es kann leicht ſein, daß dieſe Zuname an Kraͤf-
ten dreifach groͤſſer iſt.
Von eben der Art iſt auch der allerlaͤngſte Fortſazz des
Atlas, als welcher die Einlenkungen beider ſchiefen (e)
und des geraden Seitenmuſkels (f) von dem Mittel-
punkte verſchiebt, damit ſich der Kopf von einer geringern
Staͤrke umdrehen laſſe. Die Querfortſaͤzze der uͤbrigen
Wirbelbeine helfen wenigſtens die Beugung und Neigung
erleichtern. Doch dieſes wuͤrden nur Beiſpiele ohne Ende
ſein.
Mit dieſen Griffen haben auch die Schluͤſſelbeine eini-
ge Aenlichkeit. Dem zufolge hat die Natur an klettern-
den Thieren (g) oder an ſolchen, die ſich mit den Haͤnden
erhalten, und die Speiſe mit der Hand ergreifen (h) und
an
[101]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
an Voͤgeln (i), ſonderlich aber am Menſchen, den Arm
vom Leibe entfernt, und mitten zwiſchen das Bruſtbein
und das Schulterblat einen Knochen eingeruͤkkt. Dieſer
Knochen iſt an Thieren gar nicht vorhanden (k), welche
ſchlechtweg gehen, nicht ſehr klettern, noch mit den Haͤn-
den die Speiſe ergreifen. Man ſiehet leicht, daß auf ſol-
che Weiſe die Aerme freier werden, und daß ſie nunmehr
einen ganzen Zirkel beſchreiben koͤnnen, welchen ſie aber
ohne das Schluͤſſelbein nicht beſchreiben koͤnnten.
Ob in den langen Muſkeln gleich nicht eine Faſer (l)
ſondern viele nach der Reihe verbundene Faſern, in eine
einzige lange Faſer zuſammen wachſen, ſo konnte doch die
Kette der Faſern nicht anders, als ſchwach (m) ſein, und
von der geringſten Kraft bewegt werden, wofern die Dikke
derſelben zur Laͤnge faſt ganz und gar kein Verhaͤltnis hat.
Es iſt aber vieler Urſachen wegen viel daran gelegen, daß
ſich dieſe Faſern nicht beugen laſſen, indem die Beugung
an den geraden Muſkeln des Bauches, den Bauch nur
erweitern wuͤrde, welcher doch von den geſammten Bauch-
muſkeln verengert werden ſollte. Es muſte aber auch an
den uͤbrigen Muſkeln das Beugen verhuͤtet werden, weil
eine gebogene Faſer uͤberhaupt laͤnger wird, und ſich aus
G 3einer
(h)
[102]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
einer Sehne in einen Bogen verwandelt; es ſtreitet aber
dieſe Laͤnge mit derjenigen Verkuͤrzung (o), worinnen
eben das Weſen eines jeden Muſkelgeſchaͤftes beſtehet.
Folglich hat die Natur zum Theil das Beugen ver-
mieden, indem eine Muſkelfaſer zu gleicher Zeit kuͤrzer
wird (o*), wenn ſie ein Glied beugt. Demohngeachtet
hat doch die Natur die groſſe Beugungen der langen
Muſkeln durch diejenige ſehnige Scheiden verhuͤtet, die
ſich von auſſen um ſie herumlegen, von den Knochen ent-
ſpringen, und nach Knochen wieder zuruͤkke laufen, und
die Muſkeln gegen die Knochen andruͤkken. Wo es alſo
lange Muſkeln gibt, da wird man auch dergleichen Schei-
den, am Ruͤkken (p), an der Schulter (q), dem Ellbo-
gen (r), der Huͤfte (s), dem Schienbeine (t), und dem
Unterleibe antreffen. Da die Natur aber in dieſem ſehr
langen Zwiſchenraume keinen Knochen hatte (t*), an wel-
chen ſie den geraden Muſkel befeſtigen konnte, ſo hat ſie
ſich dabei mehr als eines Huͤlfsmittels bedient. Sie hat
ihn erſtlich in eine ſehnige Scheide eingeſchloſſen (u), wel-
che von den ſchiefen Muſkeln hervorgebracht wird. Nach-
her hat ſie den Muſkel an dieſe Scheide und zwar an deſ-
ſen Vorderflaͤche, an drei oder vier Orten mit einem ſehr
feſten Gewebe von Sehnenfaſern angehaͤngt (x), und
hier iſt uͤberhaupt, wie an demjenigen Theile der Muſ-
keln, welcher an die Knochen angewachſen iſt, das Weſen
des Muſkels ſehnig. Solchergeſtalt zertheilt ſich ein jeder
gerader Muſkel in vier bis fuͤnf, zuweilen kuͤrzere Muſ-
keln, darunter die aͤuſſerſten an den Knochen und die mit-
telſten an der Scheide gepflanzt ſind, und es machen die
ſchiefen Muſkeln, indem ſie dieſe Scheiden ausdehnen,
ſolche noch feſter.
Es hat das Fett einen vielfachen Nuzzen, wovon be-
reits oben gehandelt worden (y), und unter andern auch
den, daß es eine Muſkelfaſer mit einem weichen und
ſchluͤpfrigen Schmeer befeuchtet, wodurch das Reiben in
allen Arten bewegter Koͤrper vermindert, und die zur
Bewegung noͤtige Biegſamkeit erhalten werde. Daher
hoͤrt die Bewegung der Muſkeln, und ſelbſt ihre reizbare
Kraft auf, wenn das Fett zerſtoͤrt wird (z), oder auch
verhaͤrtet (a). Man hat zwar geleugnet (b), daß ſich
das Fett uͤber die wirkſame Muſkeln ergiſſen ſoll. Doch
es iſt gewis, daß wenigſtens jeder Muſkel, wenn er im
Spiele aufſchwillt (c), alles Fett, welches um ihn herum-
liegt, ſowol gegen die benachbarte Muſkeln, als auch
noch ſtaͤrker gegen die darunter liegende Knochen ſtoͤſt.
Da die Fleiſchſtreifen ferner, woraus Muſkeln beſtehen
(d), waͤrend des Spiels einander naͤher kommen, ſo wird
auch das inwendige, und zwiſchen den kleinen Streifgen
ergoſſene Fett, von allen Seiten zuſammengetrieben und
gedruͤkkt. Da nun auf dieſen Drukk kurz darauf die Er-
ſchlaffung des Muſkels erfolgt, ſo hat es das Anſehn, daß
dieſes Oel in allen Theilen des Muſkels, und bei einer
jeden Anſtrengung des Muſkels ausgepreſt, kurz darauf
verbreitet, verduͤnnt und ausgedehnt werde.
Das Fett mindert auch das Reiben, wenn ſich Kno-
chen uͤber Knochen bewegen muͤſſen; und hierher gehoͤrt
das Fettſaͤkkchen, welches ſich zwiſchen der Huͤfte, dem
Schienbeine und der Knieſcheibe befindet (d*).
Was das Fett den roten Muſkeln thut, leiſtet auch
die zaͤhe, ſchmierige, doch eiweisartige (e), Fluͤßigkeit den
G 4Seh-
[104]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Sehnen. Jndeſſen ſtekkt doch im Fette etwas, welches
unſre Abſicht naͤher angeht; indem es naͤmlich die Raͤume,
welche zwiſchen den Muſkeln liegen, ausfuͤllt (f), ſo
legt es ſich an vielen Orten zwiſchen Knochen und Muſ-
keln, und es noͤtigt die Muſkeln, daß ſie ſich von den
Knochen entfernen, von der Achſe des Knochens abwei-
chen, und dadurch etwas an Staͤrke gewinnen. Es haͤu-
fet ſich dergleichen Zellgewebe in runde, groſſe, und bei
ihrer Weichheit dennoch widerſtehende Kugeln an, wor-
innen ſich theils Fett befindet, theils etwas eiweisartiges
wie ein Gliedwaſſer inwendig zeiget. Es nennt ſie der
vortrefliche Albin(g) Saͤkkgen (burſa), und er er-
waͤnt verſchiedene derſelben. Die vornemſten liegen in
der Knieſcheibe, und unter den Beugemuſkeln des Schien-
beins.
Jch beruͤre nur mit einem Worte, die Leichtigkeit,
mit der ſich Knochen, ohne alles Reiben, uͤber einander
bewegen, und dieſes ſind die knorplige Rinden, deren
Natur ſo unveraͤnderlich iſt, daß ſie ſchwerlich jemals
knochig werden (h), und ſich ſehr ſelten abreiben. Da
ein Schlagaderſakk die Knochen, das Knochenhaͤutchen,
die Sehnen, und die Haut entbloͤſt hatte, ſo konnte blos
noch der Knorpel der Ribben Widerſtand thun. Es
ſind hoͤchſt elaſtiſche (i), kurze, im Knochen nach der ſenk-
rechten Linie gelagerte, hoͤchſt dichte und durch ein ſchwer-
lich ſichtbar zu machendes Zellgewebe (k) verbundne Faͤ-
den
[105]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
den, welche ein wenig nachgeben, wenn ſich die Knochen
an einander druͤkken, und kurz darauf, vermoͤge ihrer eig-
nen Kraft (l), zuruͤkke ſpringen.
Es koͤmmt ungemein ſelten vor, aber doch habe ich es
an einer alten Frau wargenommen, daß ſich die knorplige
Rinde von der Oberflaͤche des Schlaͤfenknochens, welche
beſtimmt iſt, den untern Kinnbakken auſzunehmen, der-
geſtalt abgerieben hatte, daß eine Menge rundlicher
Kluͤmpgen in der Gelenkkapſel zu ſehen war.
Unter den Wirbelbeinen (m) findet ſich ein beſon-
deres Geſchlecht von elaſtiſchen und ſtraligen Knorpeln,
welche die verbundne Knochen ſo nachdruͤkklich von einan-
der ruͤkken, daß der Menſch nach der Ruhe des Morgens
laͤnger, hingegen des Abends, wenn dieſe Knorpel den
ganzen Tag uͤber gedruͤkkt worden und nachgegeben, wie-
der kleiner iſt.
Die Knorpel werden in ihrem vollkommnen Zuſtande
von dem Gelenkſafte erhalten, und es ſcheint die Natur
die Erzeugung deſſelben ſelbſt durch die Bewegung der
Muſkeln zu befoͤrdern. Er iſt haͤufiger in Thieren,
welche eine groſſe Reiſe verrichtet haben (n), und es hat
das Anſehn, als ob ſich das Knochenmark vermittelſt der
Bewegung in die Gelenkhoͤle deſto reichlicher ergiſſe (o).
Es verſtaͤrkt die Rolle zwar nicht die Bewegung eines
Muſkels, doch lenket ſie ſelbige dergeſtalt, damit ſie mit
den Abſichten des menſchlichen Lebens deſto fuͤglicher uͤber-
einſtimmen moͤge. Wir verſtehen aber unter dieſem Na-
G 5men
[106]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
men ein jedes feſtes Hindernis, um welches ſich der Muſ-
kel zuruͤkke beugt, und mit der andern Helfte dergeſtalt
gegen ſeine erſte Richtung zuruͤkke laͤuft, daß er den zu
bewegenden Theil nach der Gegenſeite hinzieht, da er ihn
ſonſt nach einer andern hinziehen wuͤrde, wenn er dieſes
Hindernis nicht vor ſich faͤnde.
Einfacher geſchicht dieſes, wenn die Sehne eines Muſ-
kels durch eine Furche, oder einige Erhabenheit des Kno-
chens dergeſtalt durchgeleitet wird, daß ſie gegen die Ge-
gend zu zuruͤkke laͤuft, von der der Muſkel herkam.
Man hat davon ein Beiſpiel an dem umgebognen Muſ-
kel des weichen Gaumens, welcher von der Gegend der
Trompete, wo ſie aus den Knochen herauskoͤmmt, herab-
geht, und hiernaͤchſt um das Haͤkgen des beſondern viel-
foͤrmigen Knochens herumgeht und zum weichen Gaumen
hinaufſteigt (p), damit er ſolchen niederdruͤkken moͤge,
da er dieſen ſonſt, ohne dieſes Kunſtſtuͤck uͤberhaupt in die
Hoͤhe gehoben haͤtte.
So laͤuft der inwendige Verſtopfer, wenn er aus
dem Umkreiſe ſeines Loches entſpringt, dergeſtalt nach auſ-
ſen zu, daß er eingefugt in die Huͤfte dieſelbe einwerts
ziehen wuͤrde. Nun aber beugt er ſich, um die groſſe
und ſehr glatte Furche des Huͤftbeins, und um den Rand,
und zwar nach einer gegenſeitigen Richtung herum (q).
Und ſo beugt er ſich ſo einwerts, daß er zugleich mit den
noch unerzaͤlten Nebenmuſkeln, die Huͤfte nach auſſen
heraus kehrt (r).
Selbſt die Augenkugel hilft mit ihrer Erhabenheit den
Muſkel, z. E. den Hebemuſkeln (s), daß ſie um den
groͤßten Durchmeſſer der Kugel zuruͤkke gebogen erſchei-
nen,
[107]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
nen, herablaufen, und das Auge, oder das Augenlied
in die Hoͤhe heben, welches ſie ſonſt blos ruͤkkwerts ziehen
wuͤrden, wenn dieſe kuͤnſtliche Anlage unterblieben waͤre.
Zuſammengeſezzter iſt ſchon der Bau, wenn noch auſ-
ſer der, in den Knochen gedruͤkkten Furche, ein Kanal
vom Bande und Knorpel ausgeſchnitten wird, durch den
die bewegliche Sehne hindurchgeht, und von da nach
veraͤndertem Laufe, gegen ihren Urſprung zuruͤkke kehrt.
Man hat davon ein Exempel an dem obern ſchiefen Au-
genmuſkel (t).
Bei andrer Gelegenheit nehmen Muſkeln zwar keinen
gegenſeitigen aber doch verſchiednen Lauf, wenn ſie ſich
um irgend eine knochige Erhabenheit herumbiegen, und
darauf einer neuen Richtung folgen. So laͤuft der innere
Muſkel des Hammers durch die Furche, die von den
aͤuſſern einwerts hineinſtreicht, dermaſſen fort, daß er den
Hammer nach vorne zu lenken wuͤrde. Allein nun findet
er ein Haͤkgen vor ſich, um welches ſich die Sehne beugt,
nun den Zug nach auſſen zu verrichtet, und den Hammer
einwerts zieht (u).
Es ſcheint die groͤſte Huͤlfe, welche von den Nerven
herruͤhrt, auf die Regierung der Gegenmuſkeln anzukom-
men (x). Man trift naͤmlich im menſchlichen Koͤrper keine
einzige Muſkelkraft an, welche nicht ihre Gegenkraft
haͤtte. So mus das Herz und die uͤbrigen Holmuſkeln
die
[108]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
die ausdehnende Kraft, das Beſtreben des Gewichtes,
und dem Widerſtand des Blutes, Waſſer des Harns,
der Luft und des Kotes uͤberwaͤltigen. Den Ribbenmuſ-
keln widerſezzt ſich ſelbſt die elaſtiſche Kraft der Ribben.
Und ſo widerſteht die Schwere des Kopfes und der uͤbri-
gen Gliedmaßen den Hebemuſkeln und den Ausdehnern.
Dennoch haben die meiſten Muſkeln andre Muſkeln,
welche gegenſeitig wirken, und mit denen ſie ihre Gewalt
abwaͤgen. Den Ausſtrekkenden ſtehen andre gegenſeitige
Beuger, den Aufhebern ſtehen die niederziehenden; den
Schliesmuſkeln ſtehen die erweiternden, den ruͤkkwerts zie-
henden die vorwaͤrts ziehende, und ſo ſtehen ſich die Ge-
genmuſkeln in verſchiednem Verſtande einander entgegen.
Wir nennen aber uͤberhaupt diejenigen Beugemuſkeln,
welche machen, daß zween Knochen, an denen ſie feſte
ſind, in der Gegend des wirkenden Muſkels, einen
Winkel machen. Dagegen ſtrekken die Ausdehner zween
zuſammengefuͤgte Knochen in eine gerade, und in eins
fortgehende Linie aus.
Die Natur hat die Kraͤfte dieſer Muſkeln dergeſtalt
abgewogen, daß alle Vergliederungen in einem gewiſſen
und merentheils mittelmaͤßigen Grade ruhen, wenn keine
Kraft von den Nerven in ſie wirkt, wie man deutlich an
ſchlafenden Thieren gewar wird. Dieſes hat die Natur
dadurch erhalten, daß ſie die Beuger merenteils etwas
ſtaͤrker, als die Ausſtrekker gemacht hat (y). So ſind
am Ellbogen die Beuger ſtaͤrker, als die Ausſtrekker, wel-
ches auch an der Hand, den Fingern, am Fuſſe, und
deſſen Zeen zu bemerken iſt.
Doch gibt es Faͤlle, wo das Gewicht eines zu tra-
genden Theiles, wenn ſich ſolches gegen die Beugetheile
zuneigt, ſtaͤrkere Ausdehner, als am Kopfe, Nakken und
Ruͤkken erforderte. So erforderte auch die Staͤrke des
Ste-
[109]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
Stehens, wozu zuruͤkkgezogne, und ausgeſtrekkte Huͤften
gehoͤren, daß die Ausſtrekker der Huͤfte ſtaͤrker waren,
und dieſes gilt auch von der Natur des Schienbeinsge-
lenkes, welches ganz und gar nicht nach vorne nachzuge-
ben vermag, hingegen ſich leicht zuruͤkke beugen laͤſſet.
Demohngeachtet koͤnnen wir doch uͤberhaupt zugeben,
daß die widrigen Muſkeln einander das Gleichgewicht
halten; und wenn die eine Art hierinnen vor der andern
einen Vorzug beſizzet, ſo biegt ſich, nach dem Maaße
ihrer Kraft, das Glied gegen dieſe Theile hin.
Nun verſtaͤrkt aber die Nervenkraft die dem einen
unter den Gegnern angeborne Kraft, wie am Ausdehner
geſchicht. Folglich wird der Widerſtand des Beugemuſ-
kels, als ob man in die eine Wagſchale ein neues Gewicht
wuͤrfe, uͤberwaͤltigt, und das Glied dieſer neuen Nerven-
kraft gemaͤs, die der Ausſtrekker zum Ueberſchuſſe bekom-
men, ausgeſtrekkt. Solchergeſtalt entſteht nicht ploͤzzlich
eine Kraft, die den Ausſtrekker auf blieſe, und alle deſſen
Grundſtoffe zum Zuſammenziehen vermoͤchte. Sondern
dieſe Kraͤfte bekommen nur ein Uebergewicht, und es
wird von dieſem Uebergewichte kein voͤlliges Zuſammen-
ziehen des Ausſtrekkers, durch alle ſeine Grundteile, in
ſo kurzer Zeit erfordert, indem dieſe Kraft vorlaͤngſt im
Muſkel war, ſondern es iſt nur dazu einiges Uebermaas
an Kraft notwendig (z). Dennoch wird auf dieſe Weiſe
zur Zeit noch keine Kraft erſpart, ob die Geſchwindigkeit
des Muſkelſpiels gleich dadurch ſehr vergroͤſſert wird, und
dennoch iſt blos die neu erzeugte Nervenkraft wirkſam
uͤbrig.
Hingegen wuͤrden die Kraͤfte wirklich erſpart werden
koͤnnen, wenn man auſſerdem zugeben wollte, daß durch
die, dem Ausſtrekker zugeteilte Kraft, etwas von der
zuſammenziehenden Kraft des Beugemuſkels abgenom-
men
[110]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
men wuͤrde. Wenn man ſolchergeſtalt den Beuger er-
ſchlaffen lieſſe, und blos mit der einzigen Nervenkraft den
Ausſtrekker reizte, ſo koͤnnten von dem Zutritte eines noch
ſo kleinen neuen Theilgen, groſſe Bewegungen erfolgen,
daß dieſe erfolgen, haben wir durch einen Verſuch gezeigt
(a), und ich habe dergleichen an todten Koͤrpern wirklich
geſehen. Daß kraft des Willens der zuſammenziehenden
Kraft der Muſkeln wirklich etwas benommen werden koͤnne,
haben einige, an ſich ſelbſt leicht, warzunehmen geglaubt
(b), wenn ſie z. E. um die Laſt abzulegen, den Ruͤkken
und Kopf nach vorne ſinken laſſen, indem dieſe Bewe-
gung nicht von dem ſchnell wirkenden Gewichte, noch von
einiger Gewalt der Beuger, denn dieſe ruhen zu der Zeit,
ſondern von der Erſchlaffung der Ausſtrekker erhalten wird.
Wenn daher die Kraft des Ausſtrekkers a waͤre, die Kraft
des Ausſtrekkers b = a, ſo koͤnnte, wenn man von a erſt
welchen Theil der Nervenſtaͤrke c abnaͤme, und ohne eine
neue Kraft, wenn eine gleiche Kraft c zum Muſkel b ge-
than wuͤrde, die uͤbrige Kraft des Beugers in a — c die
Kraft des Ausſtrekkers in a = c verwandelt werden, und
ſo wuͤrde das Uebergewichte des Ausſtrekkers ſein = 2 c,
weil keine neue Kraft erzeugt worden, und um deſto groͤſ-
ſer wuͤrde das Uebergewichte ſein, folglich waͤre die wirk-
ſame Kraft des ausſtrekkenden Muſkels um deſto ſtaͤrker,
je groͤſſer die Gewalt c zu a iſt. Und wenn c = a waͤre
oder wenn man die ganze Kraft des Beugers vernichtete,
ſo wuͤrde uͤberhaupt die Kraft, welche nunmehr im Aus-
ſtrekker ganz iſt, gedoppelt ſo gros, gegen diejenige ſein,
welche vorher in ihm verborgen war.
Viele beruͤmte Maͤnner (c) haben ſich dieſer oder einer
aͤnlichen Auslegungsart bedienet, die Bewegungen durch
die Muſkeln zu erlaͤutern.
Es hat dieſe Erlaͤuterung keinen andern Feler, als daß
ſie die Kraft der Nerven entweder fuͤr beſtaͤndig annimmt,
oder ihr doch ſo viel zuſchreibt, daß ſie eben ſo geſchikkt
wird, die angeborne Kraft zu vermindern, als ſolche zu
vermeren. Keins von beiden iſt aber warſcheinlich, denn
wenn man die Nerven druͤkkt, oder zerſtoͤrt, ſo wird die
Muſkelkraft blos auf ihr angebornes Weſen reducirt (d)
und vermindert; es ſcheinet aber nicht warſcheinlich zu
ſein, daß dieſe angeborne Kraft von der Vollſtaͤndigkeit
der Nervenkraͤfte vermindert und vermert werden koͤnne,
weil widrige Erfolge auch widrige Urſachen haben muͤſſen.
Daß die Nervenkraft eben ſo beſtaͤndig wirke (d*) als
die angeborne Kraft wirkt, haben wir bereits bei andrer
Gelegenheit verworfen.
Es iſt auſſerdem aus Verſuchen gewiß, daß, wenn
einer der Gegenmuſkeln zerſchnitten worden, ſich der an-
dre nicht kraft des Willens, ſondern vermoͤge der ange-
bornen Kraft zuſammenziehe; indem eben dieſe Erſchei-
nung auch an ſterbenden und todten Thieren ſtatt findet
(e), wenn nunmehr keine Nervenkraft mehr uͤbrig iſt. Es
kann aber auch an lebendigen Menſchen der Wille die
Wirkungen des Gegenmuſkels auf keinerlei Weiſe aufhal-
ten, wovon der Hundekramf, und die Kraͤmfe in einer
Art
(c)
[112]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Art des Schlages (paraplegia), ein Beiſpiel gegeben,
wenn die eine Seite gelaͤmt worden an dem verrenkten
Gliede, welches die Muſkeln freiwillig und mit groſſem
Nachdrukke, ſobald die Hinderniſſe gehoben worden, wie-
der in das Gelenke zuruͤkkeziehen. Ferner, wenn ein Muſ-
kel, der vom elektriſchen Funken getroffen worden, ſich
zuſammenzieht, ſo wirkt ſelbiger ſchnell, er zieht das Glied
in ſeine Gegend nach, und er wartet nicht erſt auf den
Wink des Willens, daß derſelbe die Gegenmuſkeln nach-
laſſen, oder erſchlaffen laſſen ſoll (f). Da endlich die
allerſtaͤrkſten Muſkeln keine andre Muſkeln zu Gegnern
haben, durch deren Erſchlaffung ihre Thaͤtigkeit gehemmt
werden koͤnnte, wie man am Herzen und dem Gedaͤrme
Exempel hat, und da ferner die Seele keine Gewalt uͤber
das Blut, uͤber die Luft, den Kot, die im Herzen und
den Gedaͤrmen enthalten ſind, oder uͤber die Elaſticitaͤt
der Ribben, die den Ribbenmuſkeln Widerſtand thut,
beſizzet, ſo iſt offenbar, daß die allergroͤſte und beſtaͤndige
Bewegungen von den Muſkeln ohne alle Beihuͤlfe der
Nervenkraft hervorgebracht werden koͤnnen.
Folglich kann man noch zur Zeit nicht mit Zuverlaͤſ-
ſigkeit annehmen, daß die Gegenmuſkeln Kraͤfte erſparen
helfen.
So viel muͤſſen wir ſchon dem Wechſelſpiele der Ge-
genmuſkeln zueignen, daß die Seele Bewegungen von
allerlei Art und Richtung nicht nur alsdenn hervorzubrin-
gen vermag, wenn ſie die Gewalt des einen von den
Gegenmuſkeln aufhebt, und auf das Beugen ein Aus-
ſtrekken folgen laͤſſet, ſondern daß auch in eben dieſer
Zeit die Gegenmuſkeln zu einer dritten und mittleren
Bewegung das ihrige uͤbereinſtimmig mit beitragen.
Es koͤnnen alſo verſchiedne Bewegungen, die aus
der beſondren Kraft des Muſkels, der dieſe Bewegung
kommandirt, und aus der verneinenden Nervenkraft des
Gegners entſpringen, nach einerlei Sinn wirken, naͤm-
lich das Beugen, wenn die Kraft des Beugemuſkels zu-
genommen, und die Kraft des Ausſtrekkers abgenommen
hat, oder aus der verneinenden Kraft des Gegenmuſkels
allein. Es hindert hier nichts, daß ſich nicht bei der-
gleichen langſamen Nachlaſſen der Ausſtrekker des Ruͤk-
kens, welche am oͤfterſten langſam und nach beſtimmten
Graden, nach dem Willen der Seele, und niemals ohne
Feſtigkeit und Widerſtand wirken, den Koͤrper vorwerts
beugen ſollte (g)
Es koͤnnen ferner die Muſkeln eines und eben deſſel-
ben Theiles ihr Spiel auf allerlei Weiſe verbinden. Nichts
iſt einfacher als das Auge, deſſen gerade Muſkeln, ob
gleich nicht vollkommen, dennoch aber die vier Weltge-
genden der Augenkugel einnehmen, und denſelben ziemlich
nahe kommen. Folglich kann aus zween geraden und zu
gleicher Zeit wirkenden Muſkeln das Auge nach der Dia-
gonallinie (g*) gelenkt werden, deren Seiten die Direk-
tionslinien der beiden geraden Muſkeln ſind.
Wenn daher der gerade inwendige, und der obere
zugleich wirken, ſo kann das Auge gegen die Naſe, und
dennoch zugleich in die Hoͤhe gezogen werden. Es kann
aber entweder durch die mittlere Diagonallinie ein ſchiefer
Zug, oder ein dergleichen, wenn einer der verwanten
Muſkeln mehr, der andre weniger gezogen wird, nach
allerlei Winkeln geſchehen, welche in dem rechten Winkel
begriffen ſind; und ſo kann das Auge nach Belieben mehr
in die Hoͤhe gehoben, oder mehr einwerts gedreht werden.
Eben dieſes Beiſpiel findet bei allen Gliedmaßen ſtatt.
Es fuͤgte Jakob Benignus Winslow(h), demjenigen
Muſkel, welcher mit dem geraden z. E. dem obern uͤber-
einſtimmt oder dem mittlern an ſeinem Gliede, die Sei-
tenmuſkeln als Helfer bei. Man hat hiervon an den
Fingern deutliche Beiſpiele, indem der Ausſtrekker ſelbige
gerade ausſtrekkt, und die beigefuͤgte Knochen und wurm-
foͤrmige Muſkeln ſolche zwar ausſtrekken, aber auch zu-
gleich nach der Ellbogen - oder Daumengegend ziehen, ſo
wie entweder der Ellbogenmuſkel zwiſchen den Knochen,
wenn der Spindelmuſkel erſchlaffet, oder der Spindel-
muſkel zwiſchen den Knochen, nach Erſchlaffung des Ell-
bogenmuſkels wirket.
Jn den zuſammengeſezzten ſtraligen Muſkeln kann
einerlei Muſkel ſchiefe Bewegungen verrichten, und es
ſind die aͤuſſerſten Fleiſchſtreifen deſſelben die Leiter der
mittlern Sehne (i). Es kann der Deltamuſkel die Schul-
ter theils ruͤkkwerts in die Hoͤhe ziehen, wenn blos die vom
Schulterblate herkommende Faſern wirken, oder wenn ſie
ſtaͤrker wirken, und theils nach vorwerts lenken, wenn die
von dem Schluͤſſelbeine herruͤrende Faſern die Oberhand
haben, denn es iſt gewiß, daß ſich etliche Fleiſchſtreifen
dieſer Muſkeln zuſammenziehen koͤnnen, wenn die uͤbrige
gleich in Ruhe bleiben (k).
Da auſſerdem Muſkeln keine Linien, ſondern Koͤrper
ſind, und da ſie ſich nicht in einem rechten flachen, ſon-
dern in einem rechten feſten Winkel bewegen laſſen, fer-
ner drei Linien ſind, nach welchen ſich Gliedmaßen bewe-
gen koͤnnen, naͤmlich hinauf, nach vorne, und denn ein-
werts (oder auch nach den Gegenrichtungen), ſo koͤnnen
allerdings drei verwante Muſkeln zugleich und dergeſtalt
wirken, daß ſich ein Glied nach einer jeden in dieſem Win-
kel begreiflichen Schiefheit bewegen laſſe. So kann am
Auge
[115]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
Auge der obere ſchiefe Muſkel das Auge nach vorne zie-
hen, daß es aus der Augenhoͤle hervortreten mus; der
innere ziehet es einwerts, und der obere zugleich hinauf-
werts. So wie ferner ein jeder dieſer Muſkeln mit mehr
Lebhaftigkeit wirkt, und ſein Gegner mehr erſchlaft, ſo
wird auch das Auge nach derjenigen Linie hingeriſſen, wel-
che der Wille der Seele haben will, mehr aufwerts, als
einwerts, oder mehr vorwerts, als aufwerts.
Dieſe zuſammengeſezzte Bewegungen, welche von der
Lage der verwanten Muſkeln und der Groͤſſe der Kraͤfte
auf verſchiedne Art entſtehen, hat Joſias Weitbrecht
nach den Verbindungsregeln berechnet, und gefunden,
daß von zehn Muſkeln, und zwo intenſitatibus, wie er es
nennt, nicht weniger mannigfaltige Bewegungen, als
1.048.575 hervorgebracht werden koͤnnen, um das Re-
ſultat von zwanzig oder dreiſſig Muſkeln zu uͤbergehen (l).
Man wird aber bald einſehen, daß dieſes nicht unwar-
ſcheinlich ſei, wenn ſich viele Muſkeln in einem Spiele
mit einander vereinigen.
Auſſer denjenigen Muſkeln, welche aus einem Kno-
chen entſpringen, und in einen weichen Theil laufen, als
zum Auge, zur Zunge oder Schlunde, haben die uͤbrigen
Muſkeln ſelten eins von beiden Enden vollkommen un-
beweglich, und es iſt gemeiniglich das eine Muſkelende
viel feſter, und das andre viel beweglicher; feſter, wel-
ches ſich gegen den Koͤrperſtamm und gegen das Bekken
H 2hin
[116]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
hin kehrt, beweglicher, welches ſich gegen die aͤuſſerſte
Gliedmaßen wendet.
Nun kann des einen Muſkels Ende auf unzaͤliche
Weiſe durch andre weit entlegne Muſkeln feſter, oder be-
weglicher gemacht werden, daß alſo uͤberhaupt die Kraͤfte
faſt des ganzen Koͤrpers mit einander harmoniren, und ſich
wechſelsweiſe einander helfen oder im Wege ſtehen.
So muͤſte der Deltamuſkel, wenn er am ſizzenden und
ruhigen Menſchen die Schulter in die Hoͤhe hebt, zugleich
das Schulterblat und das Schluͤſſelbein niederziehen, in-
dem beide Theile beweglich ſind. Solchergeſtalt wuͤrde
dieſer ſtarke Muſkel aber, da die Schulter mit dem
Schulterblate vergliedert iſt, gar nicht wirken, es wuͤrde
das Aufheben das Niederdruͤkken aufheben, und ſo
umgekehrt.
So oft wir alſo die Schulter aufheben wollen, muͤſ-
ſen wir das Schulterblat und Schluͤſſelbein anhalten, daß
ſie nicht niedergehen, damit dasjenige Ende unbeweglich
gemacht werde, mit welchem der Deltamuſkel an dieſem
Knochen feſte ſizzt. Folglich mus man zugleich den He-
ber des Schulterblates, den Rautenmuſkel, den tiſchfoͤr-
migen und einige ungleich dreiſeitige mit zuſammenziehen
oder verkuͤrzen.
Dieſe Muſkeln aber kommen von den verſchiednen
Halswirbelbeinen her, die auch ſelbſt beweglich ſind,
und ſich beugen laſſen. Wuͤrden ſich aber dieſe Wir-
belbeine von den angefuͤrten Muſkeln beugen laſſen,
ſo wuͤrden ſie dieſem Fleiſche keinen feſten Punkt verſchaf-
fen, da ſolches doch dem Deltamuſkel helfen muͤſte,
und es wuͤrde folglich auch der Deltamuſkel an den Kno-
chen, in welche dieſes Fleiſch eingefugt iſt, keinen feſten
Grund
[117]II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
Grund haben. Folglich muͤſſen die Ausſtrekker des Nak-
kens zugleich mitwirken, das iſt, es muͤſſen die vielſpal-
tigen, heilige Lendenmuſkeln, die allerlaͤngſte Muſkeln,
die abſteigende Nakkenmuſkeln, und diejenige ganze Na-
tion Muſkeln zugleich mitwirken, welche auf der Ruͤkken-
ſeite der Lenden und heiligen Wirbel aufliegen. Und
nun kann erſt der Deltamuſkel von der vereinigten Kraft
ſo vieler Muſkeln, ſeine voͤllige Gewalt erlangen, und er
kann vermittelſt der Kraft, welche ihm eigen iſt, die
Schulter aufheben. Und daraus erhellet abermals, daß
ein Abgang an aufgewandten Kraͤften, wie oben gezeigt
worden, unvermeidlich ſei. Da naͤmlich der Deltamuſ-
kel das Schulterblat (m) und das Schluͤſſelbein eben ſo
herniederzieht, als er die Schulter in die Hoͤhe hebt, und
da das Schulterblat und Schluͤſſelbein in der Erhebung
der Schulter nicht niederſteigen muͤſſen, ſo mus notwen-
dig diejenige ganze halbe Kraft des Deltamuſkels zunichte
gehen (n), welche die angefuͤrten Muſkeln, die das
Schluͤſſelbein und Schulterblat zuruͤkke halten, uͤberwaͤl-
tigen muͤſſen. Und folglich geht am Deltamuſkel die
Helfte Kraft, und die Kraft der Hebemuſkel, welche die-
ſer Mittelkraft gleich iſt, verloren.
Doch man laſſe nunmehr den Menſchen auf der Erde
liegen, und man ſezze, daß er ſich an einem Baumaſte
aufhelfen, oder an einem andern feſten Koͤrper in die
Hoͤhe richten wolle, welchen er ergriffen haͤtte: ſo iſt nun
ſeine Hand unbeweglich, und da dieſelbe durch ihre Beu-
gemuſkeln zuruͤkkgehalten wird, ſo bekoͤmmt ſie mit dem
ergriffnen Aſte einerlei Feſtigkeit. Alsdenn iſt der Stamm
des Koͤrpers unten, und der Arm oben.
Alsdenn wird der Deltamuſkel ſowol das Schulter-
blat, als das Schluͤſſelbein, und zugleich den ganzen Koͤr-
perſtamm mit aufheben, ich ſage, der Deltamuſkel, der
Kuͤrze wegen, denn es ſtimmen in dieſem Handel alle die-
jenige Muſkeln mit uͤberein, welche hier im Schulterblate,
dort in der Schulter ſtekken, naͤmlich der Muſkel uͤber,
und unterhalb der Ruͤkkengraͤte, beide rundliche Muſkeln,
der lange Ausſtrekker des Ellbogens, der groſſe Bruſt-
muſkel, ſelbſt der breiteſte Ruͤkkenmuſkel (o), und auch
der zweikoͤpfige; doch es ſei genung nur den Deltamuſkel
zu beſehen. Jndem ſich dieſer naͤmlich gegen die Schulter
zuſammenzieht, ſo erhebt er den ganzen Koͤrper, und das
Schulterblat, und er zieht das Schluͤſſelbein gegen die
Schulter heran. Alsdenn geben ihm alle die Muſkeln die
Feſtigkeit, und ſie befeſtigen die Schulter, und dieſes
thun die Muſkeln, welche ſich zwiſchen der Schulter, und
der aͤuſſerſten Hand befinden; was aber die Niederzieher
des Schulterblates betrift, welche von dem Stamme des
Koͤrpers entſpringen, ſo erſchlaffen ſie alle, und verhalten
ſich blos als mechaniſche unbewegliche Strikke. Jndeſſen iſt
die halbe Kraft des Deltamuſkels, welche auf das Nieder-
ziehen der Schulter verwendet wurde, verloren gegangen,
und es iſt von der Kraft der Muſkeln, welche die Schul-
ter zuruͤkke hielten, ſo viel verloren gegangen, als die nie-
derziehende Kraft des Deltamuſkels gros war.
Jch habe bereits davon ein Beiſpiel gegeben, und es
laͤſt ſich die Sache ſelbſt auf alle Muſkeln des menſchli-
chen Koͤrpers anwenden. Es wirkt, indem man geht,
der laͤngſte Ruͤkkenmuſkel, und er haͤlt den Ruͤkkgrad feſte,
damit ſich uͤber dieſen unbewegten Theil die Huͤfte bewe-
gen koͤnne (o*).
Doch entſteht in andern Faͤllen einige Veraͤnderung
in den thaͤtigen Kraͤften, wofern beide Enden eines Muſ-
kels nicht blos beweglich ſind, ſondern ſich auch wirklich
zugleich mit bewegen. Denn alsdenn kann es durch die
vereinigte Kraft andrer Muſkeln geſchehen, daß das eine
ſchlaffe Ende ein groͤſſeres Stuͤkk in der vorhabenden Be-
wegung vollendet, indeſſen daß das andre feſte Ende we-
niger niedergeht. Man hat ein Exempel am zweibaͤuchi-
gen. Wir bedienen uns dieſes Muſkels gemeiniglich beim
Herunterſchlingen dergeſtalt, daß er das Zungenbein, und
den damit verbundnen Schlundkopf, gegen die angezogne
Kinnbakken, wie gegen ein unbewegliches Ende, in die
Hoͤhe zieht. Und dennoch koͤnnen wir, obwol mit Be-
ſchwerlichkeit, einiger maßen hinabſchlingen, oder das
Zungenbein und den Luftroͤhrenkopf in die Hoͤhe heben,
daß zugleich der Mund offen ſtehen bleibe, oder auch um
den Mund zugleich zu eroͤfnen. Jn dieſem Falle halten
die Schlaͤfen- Kaͤu - und innere Fluͤgelmuſkeln den Kinn-
bakken zwar aber doch dermaßen zuruͤkke, daß ſie nach
Belieben der Seele etwas erſchlaffen, und man kann zu-
gleich warnemen, wie die Kraͤfte, welche den Kinnbakken
niederziehen, naͤmlich der Hautmuſkel des Halſes, und
der erſte Kopf des Zweibaͤuchigen, in einer heftigen Ar-
beit begriffen ſind. Folglich ſteigt der Kinnbakken allmaͤ-
lich und mit Widerwillen herab, und zugleich ſteigt das
Zungenbein, der Schlundkopf, der Luftroͤhrenkopf viel
freier, weil er von andren Muſkeln, und durch ſich ſelbſt
in die Hoͤhe gezogen wird, in die Hoͤhe. Unter dieſen
Muſkeln befindet ſich auch der Zweibaͤuchige zweite, der
in ſeiner Thaͤtigkeit den Kinnbakken allmaͤlich oͤffnet, und
das Zungenbein viel beſſer in die Hoͤhe zieht. So naͤhert
ſich in der Bewegung des Zwerchfelles, das Zwerchfell
den Ribben, indeſſen daß ſich die Ribben gegen das
Zwerchfell ziehen laſſen (o**).
Es gibt tauſend andre Arten, wie die Wirkung der
Muſkeln von der veraͤnderten Feſtigkeit veraͤndert werden
kann. So beugen die wurmfoͤrmige Muſkeln, wenn die
Handbeuger ſtark wirken, ſelbſt das erſte Fingergelenke.
Eben dieſe ſtrekken auch, wenn die Kraft der ausſtrekken-
den Muſkeln zunimmt, das zweite und dritte Gelenk
aus, und ſie koͤnnen, wenn ſie die Muſkeln zwiſchen den
Knochen zu Huͤlfe nehmen, die Finger auf die Seite
ziehen.
Hier ſehe ich mich wiederum, obſchon wider meinen
Willen, in Hipoteſen verwikkelt, nicht, weil ich
etwa eine eigne Mutmaſſung vorzutragen habe, ſondern
weil ſich gemeiniglich die Schriftſteller von phiſiologiſchen
Sachen, um den Quell der wunderbaren Kraͤfte, welche
ein belebtes Fleiſch in Bewegung ſezzen, zu erklaͤren, mehr
durch Speculationen, als durch Verſuche bemuͤhen.
Und man mus ſie in der That anhoͤren, da auſſerdem
unter ihnen eine Partei bluͤhet, deren Herrſchaft ſich weit
uͤber die geſamte Arzneikunde erſtrekket. Wir muͤſſen
aber unſern Vortrag ſo theilen, daß wir die Urſachen von
allen Bewegungen erklaͤren, die von einer Muſkelfaſer
verrichtet werden, hernach aber auch die Urſachen von der
Erſchlaffung angeben, welche auf eine jede Bewegung
folgt.
Wir uͤberlaſſen beide Kraͤfte, die elaſtiſche (a), und
die todte den Naturkuͤndigern, indem ſolche eigentlich nicht
der Muſkelfaſer, ſondern uͤberhaupt allen, ſowohl thieri-
ſchen als vergetabiliſchen Faſern, gemein ſind. Vielleicht
wuͤrden beide durch eine Anziehungskraft der Theile hin-
laͤnglich erklaͤrt werden, vermoͤge der ſie ſich beſtaͤndig
beſtreben, ſich einander naͤher zu beruͤren. Verlangt
man eine Hipoteſe, ſo findet man ſolche beim Bellin,
H 5und
(b)
[122]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
und es laͤſſet dieſer rechtwinkliche Theilgen, wie Dachziegel,
theils ſich einander beruͤren, theils aber vor einander vor-
ragen. Dieſe beſtreben ſich, ihre Zwiſchenraͤume zu ver-
engern, und ſie laſſen ſich nach einer langen Parallelrich-
tung ausſtrekken, ohne zu befuͤrchten, daß ſie von einander
weichen wuͤrden, wenn ſie nicht von aller Beruͤrung los-
gemacht worden (c).
Jch unterſuche hier weder die mechaniſche, noch uͤber-
haupt die phiſiſche Urſache von dieſer Kraft, weil ich glau-
be, daß eine thieriſche Faſer ihre beſondre eingepflanzte
habe (d), von der man keine andre Urſache weiter ſehen
muͤſſe, es mag nun ſelbige entweder einzig und allein ein
ſtaͤrkrer Grad des todten Zuſammenziehens, oder eine an-
dere Kraft ſein, um daraus zu ſchliſſen, daß die todte Kraft
einer jeden thieriſchen und vegetabiliſchen Faſer, dieſe hin-
gegen der Muſkelfaſer in einem lebendigen Koͤrper eigen
ſei (e). Geſezzt, ſie ſei groͤſſer, als in den uͤbrigen Faſern, ſo
iſt ſie doch ein natuͤrliches Zuſammenziehen der Theile (f),
und eine Verſchiebung eines Grundſtoffes unter den an-
dern Grundſtoff (g). Jch bin wenigſtens nicht dawider.
Ein beruͤmter Mann liefert auch ſo gar eine Hipoteſe dar-
uͤber. Er zeigt, daß der Leim, welcher die Erdſtoffe der
Theile verbindet, die Faſern ſtaͤrker nach der Runde binde,
und daſelbſt haͤufiger anzutreffen ſei; daß er nicht ſo ſtark
nach der Laͤnge binde, und wenn ſich alſo ein Muſkel zu-
ſam-
[123]III. Abſchnitt. Urſachen.
ſammen zieht, ſo muͤſſe derſelbe kuͤrzer werden (h). Nach
meiner Einſicht, ſcheint das natuͤrliche Beruͤren, welches
von dem Leime verrichtet wird, der ſich gleich zur Kuͤrze
und runden Figur bequemt, am allereinfachſten zu ſein.
Von dieſem Bande werden die beugſamen Erdtheilgen
veranlaſſet, ſich einander naͤher zu beruͤren, doch ich ver-
lange ſo wenig, fuͤr dieſe Meinung zu ſtreiten, als jeman-
den zu beunruhigen, welcher anders denket.
Ob ich aber gleich geſtehen mus, daß ich fuͤr entfernte
Urſachen wenig neugierig bin, ſo kann ich doch die Frage
uͤberhaupt von der beſondren Stelle dieſer Gewalt, und
von ihrer naͤchſten Urſache, nicht vorbei gehen.
Da dieſe Kraft beſtaͤndig, und zwar in nicht wenig
Muſkeln wirkſam iſt (i), ſelbſt wenn kein bekannter Reiz
zugegen iſt, ſo fraͤgt es ſich, wenn man den Reiz bei Seite
ſezzt, woher ſie thaͤtig gemacht werde. Es ſcheinet aber in
den Gegenmuſkeln (k), die ſich mit ihrem Zuſammenzie-
hen einander die Waage halten, im leeren Herzen (l), das
bisweilen auch ohne Blut wieder zu ſchlagen anfaͤngt, in
dem aufgehaͤngten Fleiſche todter Thiere (m), welches ſich
ſelbſt uͤberlaſſen wird, in dem ruhigen Gedaͤrme ſterbender
Thiere (n), welches oft ſchnell eine heftige periſtaltiſche
Schlaͤngelung bekoͤmmt, ganz und gar kein Reiz anzu-
treffen zu ſein.
Jch verlange nicht, mich der Verſuche zu bedienen,
wodurch ich dieſe, ohne allen Reiz hervorgebrachte Thaͤ-
tigkeit verwerflich machen koͤnnte (n*). Jch geſtehe
viel lieber, wie es mir vorkomme, daß den Muſkeln eine
immerwaͤrende Kraft anerſchaffen ſei (n**), wodurch ſie
ge-
[124]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
gemeiniglich in den Zuſtand des Zuſammenziehens verſezzt
werden (o), wiewol dieſelbe bisweilen waͤrender Er-
ſchlaffung untaͤtig und ruhig wird, wie wir am Her-
zen ein Exempel haben. Jch geſtehe es, daß ſie gemei-
niglich von dem bekannten Reize (p) des Blutes, der
Luft, des Saamens, der Galle, des Harns, Speiſe
und Waſſers erwekkt werde, daß ſie aber auch von nicht
genung bekannten Urſachen, und von einem vielleicht noch
ſchwachen Reize (p*) ermuntert werden koͤnne, welcher
wiederholt und gleichſam in gewiſſen Zeitpunkten geſam-
melt werden mus, wenn er in eine Bewegung ausbrechen
ſoll; oder daß ſolches von keinem Reize, ſondern von
einer ihr eignen Urſache herruͤhre, welche ſich allmaͤlich
anhaͤufen mus, um an Vermoͤgen groͤſſer zu werden, ſo
wie, nach der Hipoteſe, die allergelindeſte Anziehungs-
kraft der Grundtheile erſt in eine ſichtbare Bewegung
ausbrechen kann, wenn ſie die anziehende Kraft, wie die
Entfernungen verkehrt und vervielfaͤltigt verhaͤlt. Sol-
chergeſtalt wird es geſchehen, daß ein unſichtbares Annaͤ-
hern der Grundtheile ploͤzzlich in die Augen fallen mus,
ſo bald ſelbige die benachbarte Anziehungskraͤfte, welche
ſie verſtaͤrken, zu erreichen im Stande iſt.
Um deſto leichter den Ausſpruch uͤber die Urſache der
angebornen, oder der durch die Nerven hervorgebrachten
Bewegung zu thun, ſo muͤſſen wir unterſuchen, ob bei-
derlei Urſachen an einerlei Orte ihren Sizz haben.
Es iſt dieſer Ort inſofern einerlei, weil beide in der
Muſkelfaſer angetroffen werden (q). Es giebt ferner
keine Muſkelfaſer (r), in welcher nicht die angeborne
Kraft
[125]III. Abſchnitt. Urſachen.
Kraft auch alsdenn noch wonen ſollte, wenn die Nerven-
kraft in Ruhe iſt. Doch iſt der Unterſcheid zwiſchen bei-
den nicht nur wirklich, ſondern er hat auch in der That
viel zu bedeuten.
Es wonet die angeborne Kraft im Herzen, im Ge-
daͤrme, im Schlunde, Magen, in der Harnblaſe, in den
waren Ausſtrekkern der maͤnnlichen oder weiblichen Ruthe,
in den groſſen Schlag- und Blutadern, in den undeut-
lichen Muſkeln der kleinſten Schliesmuſkeln, welche ſich
um die Milchgefaͤſſe, und die wieder einſaugende Gefaͤſſe
der Haut herumlegen.
Jn dieſen Muſkeln bleibt auch, ohne alle Nerven,
und wenn ſelbige zerſtoͤrt, und die Muſkeln losgeriſſen
worden (s), dennoch eine Bewegung, und ein Trieb, dem
Reize zu gehorchen, noch uͤbrig (t).
Wenn die Kraft dieſen Werkzeugen angeboren iſt,
warum bekommen ſie Nerven? Wenn dieſe nicht den
Befel der Seele ausrichten, was thun ſie denn anders?
Sie theilen die Empfindung mit, denn dieſe iſt ohne Ner-
ven unbegreiflich (u). Sie bringen auch vom Gehirne
wirkſame Befele; keine Vorſchriften des Willens, ſondern
Geſezze zu uns, die dem belebten Koͤrper vorgeſchrieben
ſind, und welche wollen, daß bei gewiſſen Reizen gewiſſe
Bewegungen entſtehen ſollen. Es empfangen die Strekk-
muſkeln der maͤnnlichen Ruthe, naͤmlich die waren, von
den Nerven diejenige Kraft, womit ſie die Ruthe aus-
einander dehnen, und es haͤngt dieſe Kraft nicht vom
Willen ab, da ſie von der Seele weder verurſacht noch
zerſtoͤrt werden kann, ſondern es ruͤhret ſelbige vom Ge-
hirn, bei luſtigen Bildern und wolluͤſtigen Vorſtellungen
her. Sie ſezzen das Herz im Zorn in Feuer, und machen
ein Herzklopfen, nicht, weil es der Wille ſo haben will,
ſon-
[126]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
ſondern weil das Gehirn und die Seele Reize von feind-
lichen Vorſtellungen empfindet, von denen ſie ſich auf das
eilfertigſte befreien will.
Folglich ſind die Nerven Boten zwiſchen den Ge-
ſchaͤften der Seele, und den Theilen des Koͤrpers, ob ſie
gleich in dieſen Beiſpielen keine Befele des Willens uͤber-
bringen.
Vielleicht tragen auch ſonſt noch auf andre Art die
Nerven etwas zur Vermerung der Reizkraͤfte mit bei,
indem es gewiß iſt, daß die mereſten Theile mit Schmerz
reizbar werden (x). Man hat ohnlaͤngſt die Mutmaßung
vorgetragen (y), daß Nerven nicht die Urheber, ſondern
die Aufſeher der reizbaren Kraͤfte, oder wirkliche Antago-
niſten ſind.
Wir muͤſſen hier mit Bedacht anhoͤren, was die vor-
mals und noch jezzo maͤchtige Partei des gelerten Stahls,
um die Urſache der angebornen Bewegung, welche in
den Theilen beſtaͤndig wirkſam iſt, ihrer Seele zuzueignen,
vorzutragen habe (z). Sie ſagen demnach, es koͤnne
vom Koͤrper keine einzige Bewegung herruͤhren, und es
muͤſſe alle Bewegung, die Schwere nicht einmal ausge-
nom-
[127]III. Abſchnitt. Urſachen.
nommen (a), von einem belebten Principio (b) herkom-
men, denn es ſei dasjenige, was man Bewegung nenne,
etwas immaterielles, es widerſtehe die Materie der Be-
wegung (c), und es ſei nur laͤcherlich zu ſagen, daß die
Materie eine Bewegung hervorbringen koͤnne (d). Folg-
lich muͤſſe auch alle Bewegung in unſerm Koͤrper von der
Seele herruͤhren. Die Seele erzeuge im menſchlichen
Koͤrper alle Bewegungen, ſie beherrſche ſelbige mit Klug-
heit, um das gute Vernemen mit dem Koͤrper auf das
allerlaͤngſte zu erhalten (e). Wenn ſich die Seele in der
Mutter ihren Koͤrper erbaut (f), ſo richte ſie alle ihre
Gedanken dahin, daß ſie denſelben auf das beſte bedienen
moͤge, und wenn der Koͤrper verwundet worden, ſo ſei ſie
bemuͤht, die verlorne Theile wieder zu ergaͤnzen (g).
Man habe ſich wegen der willkuͤrlichen Muſkeln keine
Bedenklichkeit zu machen (h), und man muͤſſe auch
derentwegen ohne Sorge ſein, welche ohne Einſtimmung
des Willens, und ein Bewuſtſein zu wirken ſcheinen, der-
gleichen das Schlagen des Herzens (i), oder das Ge-
ſchaͤfte des Gedaͤrmes oder der Abſonderungen iſt (k).
Es waͤren anfaͤnglich alle Bewegungen, auch des
Herzens, willkuͤrlich geweſen (l) und ſie waͤren noch fer-
ner in einigen Thieren und Menſchen, davon ſie einen
Mann
[128]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Mann vom Soldatenſtande zum Exempel anfuͤren, will-
kuͤrlich. Es unterdruͤkke naͤmlich die Schnekke (m) vor
Furcht die Schlaͤge des Herzens, und es habe ein Ober-
ſter Townſhend(n) vor ſeinem wirklichen Tode, nach
Belieben die Herzſchlaͤge mindern und endlich gar auf he-
ben, und nach Verlauf einer halben Stunde durch An-
ſtrengung das Herz von neuem in Bewegung ſezzen koͤn-
nen. Ein andrer, welcher waͤrend des Abſterbens er-
muntert worden, habe kraft der ſtarken Gemuͤtsbewegung
eine Stunde wieder gelebt, und ſobald das Gemuͤthe be-
ruhigt worden, ſei derſelbe im Ernſte verſchieden (n*).
Und man wiſſe von Leuten, welche nach Gefallen zu
ſchwizzen, und ſich zu erbrechen verſtuͤnden.
Daß die mehreſten Menſchen die Herrſchaft des Wil-
lens uͤber ihr Herz verloren, ruͤre von der Gewonheit
her, welche uns die offenbar willkuͤrliche Bewegung des
Regenbogens (o), der Augenlieder (o*) und andrer Theile
raube, daß es ſchiene, als ob ſolche von ſelbſt entſtuͤnden;
wenn der Gebrauch dieſer Theile oft wiederholt werde, ſo
verliere ſich die Ueberlegung (p) und das Bewuſtſein da-
bei (p*). Es gibt auch Schriftſteller, welche zween Wil-
len angeben, einen, den Willen des Lebens, der allezeit
gut, und von der Vernunft geleitet werde, den andern,
welcher boͤſe ſei, und vom Vernunftſchluſſe gefuͤrt werde
(q), und dahin ziehen ſie den in der heil. Schrift gemel-
deten
(l)
[129]III. Abſchnitt. Urſachen.
deten Streit zwiſchen Geiſt und Fleiſch (r), wie auch die
Zufaͤlle der Waſſerſcheuen, welche wider ihren Willen Reize
zu beiſen empfinden (s).
Sie glauben auch, die Seele wuͤrde das Gedaͤrme
und Herz nach Belieben bewegen, wofern ſie nur ſehen
koͤnnte (t);
Man ſehe offenbar, was die Gemuͤtsbewegungen uͤber
das Herz vor Gewalt haͤtten, da das Schrekken, und der
Zorn, die Kraͤfte des Herzens (x), und des ganzen Koͤr-
pers, um dem Uebel auszuweichen, aufbiete. Die Furcht,
bei Verzweiflung des Lebens, die Kraͤfte wieder zuruͤkk-
bringe, und es waͤren dieſes keine blinde Bewegungen,
ſondern ſie haͤtten ihre gewiſſe Abſicht, welche auf die Be-
wegungen der Seele folgten (y).
Das Fieber, oder dieſer ſtaͤrker gewordne Lerm des
Herzens (z), ſei eine offenbare Gegenmine der Seele (z*)
gegen die anruͤkkenden Uebel. Es laſſe ſich keine Maſchine
erdenken (a), welche ſich gegen einen vergroͤſſerten Wider-
ſtand mit vergroͤſſerten Kraͤften zur Gegenwehr ſtelle, und
es ſchienen nur die Kraͤfte, ob ſie gleich noch eben dieſel-
ben waͤren, dennoch nach dem Vorwurfe der Schwierig-
keit kleiner zu ſein (b), weil nunmehr der groͤßte Theil
der-
H. Phiſiol. 5. B. J
(u)
[130]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
derſelben von dem Widerſtande vernichtet wird, und der
kleinere Theil nur noch thaͤtig uͤbrig bleibt, dahingegen
ſehe man deutlich, wie ſich die Kraͤfte im Herzen gegen
die Hinderniſſe, und im lebendigen Hunde gegen die Un-
terbindung empoͤren. Die Seele bediene ſich aber, um
die Gefaͤſſe zu regieren, des Faſergewebes, welches dieſe
Gefaͤſſe umgebe (d).
Man ſehe die weiſen Abſichten der ſorgenden Seele
(e) an dem Wechſel der Krankheiten, wenn ſich dieſe
ſelbſt entſcheiden, an den Abſonderungen, wenn ſich dieſe
zum Behufe des Koͤrpers mehren, und am Schlafe (f),
denn dieſer ſei eine willkuͤrliche Ruhe, welche die Seele
ihrem Koͤrper zugeſtuͤnde, damit er nicht von beſtaͤndiger
Arbeit zu fruͤhzeitig erſchoͤpft werde. Jm Schlagfluſſe
werden die Willenskraͤfte fuͤr die Lebenskraͤfte als ein Huͤlfs-
corps aufbehalten (g), und die Seele nehme im Fieber,
von dieſen Willenskraͤften etwas weg, um damit die
Kraͤfte des Herzens zu verſtaͤrken.
Es waͤren die Nerven, um ein jedes Widrige aus-
zutreiben, offenbar, wie im Nieſen (i), bei den ſcharfen
Objecten in der Naſe, bei dem Weinen, um die rauhen
Dinge, die das Auge beruͤhren, abzuwaſchen, in der Er-
weiterung des Regenbogens, um von der verengerten Pu-
pill einen Theil des zu haͤufigen Lichtes abzuwenden, und
beim Krazzen, um das Jukken zu ſtillen (i*), wirkſam.
Dieſen fuͤgen ſie noch die ſimpathetiſche Bewegungen,
und
(c)
(h)
[131]III. Abſchnitt. Urſachen.
und andre von einer widrigen Jdee herruͤhrende Begier-
den, zu den Auswuͤrfen (k) bei.
Es ſei das Bewuſtſein der in dieſen Bewegungen
wirkſamen Seele, gar nicht bei der Thaͤtigkeit des Her-
zens (l) zugegen, ſo wie es bei andern (m) recht willkuͤrli-
chen Bewegungen vermiſſt werde, ſo bald ſelbige uns ſehr
gewoͤnlich geworden, indem man, wenn man Sachen
uͤberlege, gehen, eſſen und verſchiedenes verrichten koͤnne,
ohne ſich deſſelben bewuſt zu ſein, und dahin rechnen ſie
auch die Bewegungen des Regenbogens und das Anſtren-
gen der Gehoͤrmuſkeln, welches man ohne Bewuſtſein ver-
richte. Wir waͤren uns oͤfters des Wollens uͤberhaupt,
doch nicht des einzelnen Muſkels bewuſt, welcher ſich dem-
ohngeachtet doch bewege (n). Man verrichte offenbar
willkuͤrliche Bewegungen (o), als mit den Fingern in der
Muſik, wobei doch das Bewuſtſein des Willens ſehr dun-
kel ſei, und es wuͤrden die Saiten nicht gut klingen, wo-
fern die Seele nicht ſo lange vergeſſe, daß ſie Finger habe
(p). Sie vergeſſe, daß ſie aritmetiſche Aufgaben vor ſich
habe, und zaͤle dennoch die Schwingungen im Ohre (q).
Die Seele regiert, ſagen ſie, auch ihr Eingeweide,
durch den bloſſen Verſtand, ohne alle Ueberlegung und
Vernunftſchluͤſſe (r), hingegen ſtelle ſie ſich blos die auſ-
J 2ſer
[132]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
ſer ihr befindlichen Objecte, mit Ueberlegung, oder mit
Bewuſtſein des Empfindens und Handelns vor (s).
Man habe Exempel, da die Bewegungen, die im
Menſchen willkuͤrlich waͤren, ſchon durch bloſſe Entwoͤ-
nung aufhoͤren, vom Willen beherrſcht zu werden (t),
und in andern Beiſpielen wuͤrden diejenige Bewegungen,
welche notwendig waͤren, nunmehr willkuͤrlich (u), ſo wie
im Gegentheil bei verſtaͤrktem Reize alle willkuͤrliche Muſ-
keln unwillkuͤrlich werden koͤnnten (u*). Es haͤtten
Weibsperſonen, blos kraft ihres heftigen Willens, hiſteri-
ſche Kraͤmfe hervorbringen koͤnnen (u**), ſo wie nicht
ſelten einige das verſtellte ſchwere Gebrechen in ihrer Ge-
walt haben. Folglich waͤren die willkuͤrliche Bewegungen
von den freiwilligen nicht unterſchieden.
Einige geſtehen lieber, die Seele regiere die gedachte
Bewegungen, durch verworrne Gedanken (u†).
Aus dieſem allen und dergleichen ſchliſſen die beruͤmte
Maͤnner, daß dasjenige, was man Reizbarkeit nenne,
eine Anſtrengung der Seele ſei, welche die Reize nicht ver-
tragen wolle (x), und daß ſie die Faſern, um die Urſache
der unangenehmen Empfindung zu entfernen (y), verkuͤrze;
es ſei dieſes Anſtrengen bei dunkeln Empfindungen gerin-
ger (z), oder auch wohl offenbar ſchmerzhaft, wofern die
Ur-
[133]III. Abſchnitt. Urſachen.
Urſache dazu gefaͤrlicher ſei. Daher entſtehe ohne Em-
pfindung keine Bewegung (a), und uͤberhaupt ohne die
Seele ganz und gar keine Bewegung (b); hingegen
kommen diejenigen Zuſammenziehungen von der Seele
her, welche nicht blos im gereizten Muſkel, ſondern auch
weit und breit in den uͤbrigen (c), auch ſchon von dem
bloſſen Erinnern der verhaſten Sache, hervorgebracht
werden (d).
Doch es weichen die beruͤmte Maͤnner in dem Stuͤkke
von einander ab, daß Robert Whytt der Seele blos
ein notwendiges (e), unwiderſtehliches (f), und nicht
durch Klugheit (g) vorhergeſehenes Zuſammenziehen der
Faſer zuſchreibt, wodurch ſie vermocht wurde, den Reiz
von ſich zu entfernen; hingegen glaubt Stahl und vor
kurzem der vortrefliche de Sauvages, nebſt vielen an-
dern, die Seele regiere die Bewegungen ihres Koͤrpers
zu kuͤnftigen und vorhergeſehenen Endzwekken, und zwar
mit der ihr weſentlichen Freiheit. Doch es misfaͤllt auch
dem beruͤmten Wilhelm Porterfield(h), daß Whytt
der Seele den Willkuͤr bei ihren Reizen abgeſprochen.
Jndeſſen folgen doch die meiſten unter den neuern, als
Halbſtahlianer, dem Whytt darinnen nach, daß die
Urſache, welche die Bewegungen erwekkt, im Reize,
und die wirkſame Urſache der Bewegung, in der Seele
zu ſuchen ſei.
Es gibt viele Liebhaber dieſer Partei aus den vorigen
und den neuern Zeiten, welche ſowohl des Hippokratis
kluge und heilende Natur hieher ziehen, als auch den
Galen(i) offenbar auf ihrer Seite haben.
Aus dem ſiebenzehnten Jarhunderte, worinnen die
mechaniſche Erklaͤrungsart in der Medicin aufkam, zeigt
ſich Johann Swammerdam(k), J. Alphonſus Bo-
rellus(l), und Klaudius Perrault(m) als ein Freund
von dieſer Hipoteſe.
Aus der naͤchſtfolgenden Zeit (n) nenne ich den Georg
Ernſt Stahl(o), dieſen ſcharfſinnigen Metaphiſiker,
der dieſe Sache vor allen andern, die vor ihm gelebt, aus-
geſchmuͤkkt, ob ſie gleich durch ganz Deutſchland vom J.
Daniel Gohl(p), Andreas Ottomar Goͤlike, G. Da-
niel Coſchwitz, J. Samuel Karl, George Philipp
Nenter, Johann Junker verbreitet worden, wie auch
den Michael Alberti, Daniel Longolius, ſo wie auch
Auguſtin Friederich Walther, dieſer Meinung beige-
pflichtet, ferner den ber. G. G. Krazenſtein(r), Jo-
hann Gottlob Kruͤger, H. Friedr. Delius, ohne an die
uͤbrigen zu gedenken. Dahin gehoͤrt auch E. Kamera-
rius(s).
Jn Grosbritannien war Georg Cheyne(t) der erſte,
wie auch Johann Tabor(t*), ferner Thomas Mor-
gan(t**), Richard Mead, Franz Nicholls(u),
Thomas Lawrence(x), und unter den neuern iſt Ro-
bert Whytt, ein beherzter Vertheidiger dieſer Meinung,
wie auch der beruͤmte Kirkpatrik(y), und Bryan Ro-
binſon(z).
Als Stahl auf der hohen Schule zu Montpellier
an dem Franz de Sauvages einen Anhaͤnger fand,
ſo breitete ſich ſeine Meinung weiter aus.
Sie fand auf den hollaͤndiſchen Schulen, wegen des
Anſehens des Boerhaavens(a), und auf den italieniſchen
(b) wenig Beifall.
Es koͤmmt dieſer Meinung der Vortrag derjenigen
Maͤnner ziemlich nahe, welche uͤber dieſe Lebensbewegungen
zwar nicht eine unſterbliche Seele, ſondern einen andern
Geiſt, eine empfindende Seele (c) oder ein empfindendes
Weſen, oder den Archaͤus (c*), oder einen Regierer des
Nervenſiſtems (d), zum Vorſteher ſezzen, und dieſes
Mittelweſen faſt mit der Seele einſtimmig wirken laſſen.
Jch glaube, daß es mir bei der Nachwelt zu keiner
Schande gereichen werde, wenn ich der Meinung des
Boerhaavens und Werlhofs beitrete, beſonders da
ich mich, bei meiner allen Hipoteſen ſo zuwider lebenden
Gemuͤtsart, nicht uͤberreden kann, daß meine Gedanken
die rechten ſind, und daß das Warheit ſei, was mich
meine Sinnen in einem ſo langwierigen Geſchaͤfte ge-
lehrt haben (e).
Jch gebe gerne zu, daß die ber. Maͤnner darinnen
recht haben, wenn ſie zur Entſchuldigung ihrer Sache be-
haupten, daß mit den willkuͤrlichen Handlungen nicht
allemal ein Bewuſtſein verknuͤpft ſei (f). Es hat die
Seele, als ein endliches Weſen gemeiniglich ein beſonde-
res Object vor Augen, mit welchem ſie ſich beſchaͤftigt.
Jndem ſie ſich nun demſelbigen ganz und gar uͤberlaͤſt, ſo
vergiſt ſie indeſſen diejenigen Dinge, die ſie wirklich empfin-
det, und deren ſie ſich wirklich bewuſt iſt, ſehr leichtlich,
und ſie glaubt ſelbige nicht empfunden zu haben, um ſo
mehr, je ſchwaͤcher deren Eindrukk auf unſre Sinnen iſt.
Wenn ich mich ſelbſt betrachte, ſo erinnere ich mich oft,
bei keiner einzigen Lage des Koͤrpers, ohne allen Schmerz
geweſen zu ſein, und dieſes iſt auch die Urſache, warum
wir auch in dem weichſten Bette einmal nach dem andern
die Lage des Koͤrpers veraͤndern. Doch ich beſinne mich
nicht, eben dieſe Schmerzen, welche ich, wenn ich auf
auf mich Acht gab, nur gar zu ſehr empfand, empfunden
zu
[137]III. Abſchnitt. Urſachen.
zu haben, ſo lange ich eben dieſe meine phiſiologiſche Ent-
wuͤrfe mit Bedachtſamkeit ſchrieb. Es iſt auch gewis,
daß ich, wenn ich gehe, zwar meines Willens bewuſt bin,
allein ich weis durchaus nicht, was ich in dieſer Abſicht
vor Bewegungen machen, und mit welchen Muſkeln ich
den Koͤrper fortruͤkken mus. Doch ich leugne deswegen
nicht gaͤnzlich, daß das Herz den Reiz empfinden, oder
empfunden haben koͤnne, ob ihn gleich die lange Gewon-
heit ziemlich vertilget hatte.
Doch es ſind noch andre Gruͤnde vorhanden, warum
ich mit dieſen beruͤmten Maͤnnern nicht einerlei Meinung
hegen kann. Sie ſagen, es werden alle Muſkeln durch-
gaͤngig von dem Willen beherrſcht, wiewohl einige kein
Bewuſtſein des Wollens andeuten. Doch es haben die
beruͤmte Maͤnner bisher, indem ich die mereſten Schriften
uͤber dieſe Materie geleſen habe, nichts vorgetragen, wo-
durch ſie erklaͤrt haͤtten, wie einerlei Bewegung willkuͤrlich
ſein koͤnne, ohne doch dem Willen der Seele zu gehorchen,
oder vom Willen erwekkt, und von ſelbigem gehemmt zu
werden: Sie ſcheinen hier, ſo viel ich einſehe, Redensarten
zu gebrauchen, welche ihnen ſelbſt zuwider laufen, und ſie
nennen einen unwillkuͤrlichen Willen.
Es iſt das Schlagen des Herzens zur Erhaltung des
Lebens notwendig, und ſo auch das Atemholen, denn ob
das letztere gleich etwas langſamer geſchicht, ſo kann den-
noch ein Menſch eine Zeitlang und die Thiere noch laͤnger
ſowohl das Atemholen als das Schlagen des Herzens ver-
miſſen.
Nun erfaren wir, was zwiſchen der willkuͤrlichen und
der notwendigen Bewegung vor ein Unterſchied ſei. Es
gehorcht das Atemholen, welches zur Erhaltung des Lebens
erfordert wird, dennoch dem Willen (g). Wir koͤnnen
J 5ſelbi-
[138]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
ſelbiges ſtaͤrker machen, anhalten und hemmen und uns
ſelbſt durch dieſen Kunſtgriff ſo gar das Leben nehmen (h).
Wenn dieſes nicht ſo leicht und gemein iſt, ſeinem verdruͤs-
lichen Leben auf ſolche Weiſe ein Ende zu machen, ſo
macht die Aengſtlichkeit dieſes Verbrechen ſeltner (i), weil
uns ſolche bei Verhaltung des Atems uͤberfaͤllt, und un-
ſern Willen noͤtigt, der gegenwaͤrtigen Beſchwerlichkeit,
die uns unertraͤglich faͤllt, abzuhelfen. Wer dieſe Be-
ſchwerlichkeit nicht achten wollte, iſt von ſeinem Atem
Herr, ſo wie von ſeinem Leben; es iſt aber moͤglich, und
es haben es einige wirklich gethan.
Folglich holen alle Sterbliche und alle Thiere, kraft
ihres Willens, Atem; und es benimmt hier die Gewon-
heit, oder die Notwendigkeit, der Gewalt nichts, und
man kann hier keine unſichtbare Bauart des Zwerchfelles
mit ins Spiel bringen.
Wir koͤnnen alle, und wir koͤnnen jederzeit die Werk-
zeuge des Atemholens nach unſerm Belieben regieren.
Wir ſehen das Herz, deſſen Geſchaͤfte mit der Lunge
ſo nahe verknuͤpft iſt, nicht, ob wir gleich das Schlagen
deſſelben fuͤlen. Kein einziger Menſch hat jemals durch ſeine
Anſtrengung das Schlagen deſſelben hemmen, oder, wenn
es matt geklopft, verſtaͤrken koͤnnen. Es traͤgt hierzu
nichts bei, daß wir das Herz nicht ſehen, indem wir weder
das maͤnnliche Glied nach Willkuͤr regieren, noch diejeni-
gen Perſonen, denen das Gedaͤrme aus einer Wunde,
oder dem verkerten Maſtdarm, vorgefallen, dieſes Gedaͤrme
kraft ihres Willens verengern, oder erweitern koͤnnen, und
ich habe ſelbſt geſehen, daß an einer Frauensperſon we-
nigſtens zwo Ellen Gedaͤrme durch den Hintern vorgeſun-
ken
(k)
[139]III. Abſchnitt. Urſachen.
ken waren, welche dieſe elende Perſon leichtlich mit der
Hand angreifen konnte. Sie gehorchten dem Reize, ſie
ſchwizzten beim Beruͤhren eines ſcharfen Koͤrpers ein Waͤſ-
ſergen aus, und runzelten ſich; ſie wurden aber auf den
Befel der Seele, ob dieſe gleich die Probe machte, weder
enger, noch weiter. Es hat der ber. Wundarzt D. Tenon
in einem aͤnlichen Exempel gleichfalls geſehen, daß der
Wille, uͤber ein im Bruche vorgefallnes Gedaͤrme, nicht
die geringſte Gewalt hatte.
Folglich werden unſre beruͤmte Gegner von der Staͤrke
der Warheit dergeſtalt in die Enge getrieben, daß ſie uͤber-
haupt einen Theil derſelben zugeſtehen (l) naͤmlich, daß
unſer Herz, nicht eben ſo, als ein andrer willkuͤrlicher
Muſkel vom Willen regiert werde; oder wenn ſie ja be-
haupten, daß es von ſelbigen regiert werde, ſo lehren ſie,
daß es durch Umſchweife und durch das Atemholen, und
durch Urſachen, die von der Seele abhingen, die ich aber
nicht unterſuchen will, regiert werde (m). Was die
Geſchichte des Townſchend betrift, ſo erklaͤre ich ſelbige
durch das Liegen, in welchem das Blut uͤberhaupt
langſamer zu dem Herzen geht, und daſſelbe folglich
ſchwaͤcher reizet (n). Daß in der Schnekke das Herz,
nach veraͤndertem Atemholen, und wenn keine Luft zu-
gelaſſen wird, wieder ruhig werde, geſteht Liſter(o),
der dieſe Erſcheinung auf die Bahn bringt. Doch auch
dieſes kann ein Menſch eben ſo wohl thun.
Doch es veraͤndert ſich, ſo ſagen beruͤmte Maͤnner (p),
das Schlagen des Herzens, nach den Gemuͤtsbewegun-
gen der Seele; nun hat die Seele uͤber die Gemuͤtsbewe-
gungen, und folglich auch uͤber das Herz, Gewalt.
Hiervon iſt ein Theil wahr, und ein Theil falſch. Es
iſt gewis, daß das Schlagen des Herzens von ſcharfem
Weingeiſte, von Gift, und von der Jdee eines mir ge-
genwaͤrtigen Misvergnuͤgens, ſehr heftig werde. Doch
es iſt darum nicht wahr, daß dieſe Veraͤnderungen will-
kuͤrlich ſind, oder daß das Herz im Zorne, auf Befel der
Seele ſchlagen ſoll.
Es haͤngt gar nicht von dem Willen ab, unberauſcht
zu bleiben, wenn man zu viel Wein getrunken; es haͤngt
vom Willen nicht ab, in einer geruhigen Gemuͤtsfaſſung
zu verharren, wenn wir Dinge, die unſrer Ehre zuwider
ſind, fuͤr ein Uebel anſehen, welches wir unverdienter
Weiſe leiden.
Es ſtand in unſerm Belieben, keinen Wein zu trinken,
und dasjenige fuͤr kein groſſes Uebel zu halten, was man
wider unſre Ehre vornahm, und wir koͤnnten dieſes Uebel
dadurch niederſchlagen, daß wir es mit demjenigen Uebel
vergleichen, welches die Erfahrung, oder die Religion,
als eine Folge des Zorns angiebt.
Wenn die Nerven einmal, entweder von den Wein-
duͤnſten, oder von der Empfindung eines erlittnen Un-
rechts, in Bewegung geſezzt worden, ſo hat die Seele
keine freie Gewalt mehr, dem Herzen das ſchnelle Schla-
gen zu verbieten, dergleichen ein geſunder und ruhiger
Menſch hat. Wir koͤnnen freylich verhindern, daß in
uns keine Leidenſchaften entſtehen, allein, ſind ſie ſchon
ent-
[141]III. Abſchnitt. Urſachen.
entſtanden, ſo koͤnnen wir die damit verbundne Erſchei-
nungen im Koͤrper nicht verwehren.
Was ſich im Zorne eraͤugnet, das geſchicht im Herzen,
in der Leber, an der Galle, im Antlizze, und dem ganzen
Koͤrper, ohne unſer Bedacht, ohne alle Abſicht, und auf
eine tumultuariſche Weiſe, eben ſo wie von uͤbermaͤßigem
Weintrinken nicht vernuͤnftige Folgen, ſondern der Ver-
nunft widrige Dinge erwartet werden muͤſſen (q). Doch
es klopft auch alsdenn das Herz, wenn es von zu heftigen
Gemuͤtsbewegungen heftiger ſchlaͤgt, wider unſern Willen;
und wir koͤnnen es nicht durch unſern Willen dazu vermoͤ-
gen, daß es ſtaͤrker ſchlagen mus, ſo wie alles, was im
Zorne vorgeht, groͤſtenteils wider unſern Willen, und ſo
gar mit unſerm hoͤchſten Mißfallen geſchicht.
Man ſiehet, daß ein Menſch das Gift des Weines
nach Belieben in ſich trinkt, daß eben dieſer Wille das
ihm ſo widrige Gift zu ſich nimmt; allein was vom Weine
und von dieſer Jdee in dem veraͤnderten Herzen vorgeht,
geſchicht alles wider ſeinen Willen.
Doch es hat der bloſſe Wille ſo wenig, als die Nerven
ſelbſt, uͤber das Herz zu befelen, indem durch die Nerven
allein die Befele der Seele nach allen Muſkeln verſendet
werden. Wenn dieſe gereizt werden (r), ſo wird das
Herz nicht zu ſchlagen veranlaſt, und wenn dieſe gebunden
werden (s), ſo wird es nicht im Schlagen gehemmt.
Nun iſt die Kraft, welche die Nerven reizt, viel ſtaͤr-
ker, als alle Kraft des Willens (t), indem ſie einen Muſ-
kel, aus der Klaſſe der Willkuͤrlichen, wider unſern beſten
Willen zwingt, daß er ſich zuſammenziehen mus (u). Und
den-
[142]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
dennoch aͤndert dieſe Kraft, die ſich im Nerven des Her-
zens aͤuſſert, nicht das mindeſte an dem Herzſchlage.
Es gelangt aber blos durch die Nerven, was auch
andre beruͤmte Maͤnner dagegen einwenden, oder mehr
vermuten, als deutlich ſagen (x), der Befel der Seele zu
den bewegenden Theilen (y).
Folglich ſteht auch aus dieſem Grunde das Herz un-
ter einer andern Herrſchaft, als ein willkuͤrlicher Muſkel,
indem weder der Wille, noch die Nerven einige Gewalt
uͤber daſſelbe haben.
Wir haben vom Herzen gewiſſe Verſuche, doch es er-
regen auch die Nerven des Gekroͤſes, wenn man ſie reizt,
an dem Gedaͤrme eines lebendigen Thieres kein Zuſam-
menziehen, und wir haben von der Harnblaſe, oder den
Magen keinen Verſuch, woraus man ſehen koͤnnte, daß
ſie ſich, nachdem man die Nerven gereizt, ausgeleeret
haͤtten.
Man hat wider alle Warheit vorgegeben, daß ſich
die Klaſſen der willkuͤrlichen Bewegungen und der Bewe-
gungen des Lebens, von der Gewonheit in Unordnung
bringen laſſen. Es ſind diejenigen Bewegungen, welche
in einem erwachſnen Menſchen dem Willen unterwor-
fen ſind, allezeit im Kinde und Knaben ſolches geweſen.
Die Seele des Kindes bedienet ſich einiger Schliesmuſ-
keln nicht, und ſie hatte auch nicht Luſt, ſolches zu thun.
So-
[143]III. Abſchnitt. Urſachen.
Sobald ſie daruͤber getadelt und geſtraft wurde, wollte
ſie lieber den Urin an ſich halten, und ſie wuſte ſich ihrer
Muſkeln zu bedienen. Folglich war das Weſen der
Schliesmuſkeln (y*) geſchikkt, daß ſie dem Willen gehor-
chen konnten. Wir lernen reden (z), da doch dieſe ganze
Sache eine Sache der Kunſt iſt, und auf eine Verabre-
dung mit andern Menſchen ankoͤmmt.
Es ſtekkt aber in dieſer Sache etwas bewundernswuͤr-
diges, welches wir an einem andern Orte weitlaͤuftiger
erwaͤgen wollen. Wir erlangen den Gebrauch der will-
kuͤrlichen Muſkeln ſo wenig durch die Gewonheit, daß ſo-
wohl der Menſch, als das Thier, ſobald ſie an des Ta-
ges Licht kommen, diejenige Muſkeln, die bei ihnen voll-
kommen ſind, ohne eines andern Anweiſung, und ohne
Verſuche zu gebrauchen wiſſen (a).
Es thut uns nichts, daß man ein verſtelltes ſchwere
Gebrechen aufzuzeigen hat (b). Denn hier werden blos
die Muſkeln in Bewegung gebracht, welche dem Willen
ohnedem unterworfen ſind.
Es entzieht ſich ferner ein willkuͤrlicher Muſkel, ſo lange
man lebt, niemals dem Befele des Willens (c). Man fuͤhrt
deswegen die Augenlieder nur vergebens an, indem ſel-
bige jederzeit dem Willen unterworfen, und auch niemals
demſelben ungehorſam ſind. Wir nikken damit tauſend
und hundert tauſend mal, ohne daß die Seele eine beſon-
dere Jdee dazu bekaͤme. Allein wir koͤnnen doch, wenn
es
[144]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
es uns gefaͤllig iſt, unſer Gemuͤt darauf wenden, um das
Nikken zu bemerken, uns deſſen enthalten, und uͤber die
Zeit erſt, blos des Verſuches wegen, nikken. So konnte
jener Fechter (d) die verſtellte Stoͤſſe eines gegen ſein
Auge gerichteten Degens vertragen, weil er dieſes thun
wollte, und ich habe dieſes, nach drei oder viermaliger
Wiederholung, ebenfalls gethan. Es nikken die Kinder
nicht, weil ſie ſich nicht fuͤrchten, und keine Gefar kennen.
Doch auch bei ihnen faͤllt das Augenlied, bei vielem
Lichte, nieder.
Folglich wird keine Gewohnheit verurſachen, daß
das Herz, welches die beruͤmte Maͤnner in der Frucht
vor eine willkuͤrliche Sache ausgeben, nunmehr aufhoͤren
ſollte, dem Willen Gehorſam zu leiſten. Wir haben ge-
zeigt, daß das Herz viele Stunden, Tage und Jare
nicht geſchlagen habe; daß die Darmbewegung in uns
ſelbſt oͤfters unterbrochen werde, und daß dieſe in Thieren,
welche den Winter uͤber viele Monate lang ſchlafen, gar
aufhoͤre, und daß der Regenbogen in einem dunkeln
Gefaͤngniſſe, ſo wie die maͤnnliche Ruthe in einem keu-
ſchen Menſchen und Thiere, die vom Anblikke und Er-
innern des andern Geſchlechts frei ſind, ganze Jare lang
ohne alle Bewegung ſind.
Hier war keine Gewonheit bei ganzen Jaren und
keine Wirkſamkeit im Herzen, Regenbogen, Gedaͤrme,
und dem maͤnnlichen Gliede. Man bringe aber zum
Thiere Waͤrme, Sommer, bloſſes Waſſer, Licht, Speiſe,
oder das Weibliche ſeines Geſchlechtes, ſo wird ſogleich
das Herz, Gedaͤrme, Regenbogen, und der Zeugungs-
theil wieder in Bewegung geraten. Und doch werden
dieſe Theile der Seele eben ſo wenig gehorchen, als ſie in
uns derſelben gehorchen, in denen das Herz taͤglich ſchlaͤgt,
das Gedaͤrme ſich ſchlaͤngelnd fortwaͤlzt, und der Regen-
bogen
[145]III. Abſchnitt. Urſachen.
bogen beim Anblikke des Lichtes enger oder weiter wird.
Folglich iſt dasjenige, was die beruͤmte Maͤnner von der
Gewonheit vorgetragen haben, blos zum Behufe ihrer
Partei erdacht worden.
Daher iſt der Bezirk des Willens von dem Gebiete
der Reizbarkeit durch ein ewiges Geſezze getrennt. Es
hat bisher kein einziger Sterblicher, ſo viel man Exempel
hat, mit ſeinem Willen uͤber das Herz, Gedaͤrme, den
Magen, eine Schlagader, oder uͤber ein anderes Werk-
zeug des Lebens eine Herrſchaft ausgeuͤbt, und dieſe Be-
wegungen weder erwekken, noch verſpaͤten, beſchleunigen,
oder unterdruͤkken koͤnnen. So hat auch kein einziger
Sterblicher die dem Willen unterworfne Muſkeln, wo-
fern dieſe geſund geweſen, ungehorſam gegen den Willen
befunden. Es verſtehen alle Menſchen, alle dieſe Muſ-
keln ſowol in Bewegung zu bringen, als auch noch weiter
anzuſtrengen, oder nachzulaſſen, und wenn ſie es verlan-
gen, ſogar wieder ruhen zu laſſen.
Man ſagt, ohne alle Beweiſe, daß Fieber auf Befel
der Seele (f) entſtehen ſollen, da der Wille weder die
Criſes (g), noch die Auswuͤrfe, z. E. des Gedaͤrmes, in
ſeiner Gewalt hat, indem wir die Muſkeln des Unter-
leibes vergebens anſtrengen, ſobald die periſtaltiſche Be-
wegung in dem Anfange der hizzigen Fieber aufhoͤrt.
Es
(e)
H. Phyſiol. 5. B. K
[146]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Es haben andere gezeigt, wie verkert (h) die mereſten
Bewegungen in Krankheiten geſchehen, die man, aus
Liebe zu ſeiner Partei, der Seele zugeſchrieben. Die
Aerzte ſehen ſich gezwungen, die heftige Wallungen des
Herzens, ſo viel an ihnen iſt, durch ein Aderlaſſen, und
durch Laxirmittel, ſo wie die Kraͤmpfe, welches allemal
vergebliche Reize ſind, mit eben dieſen Mitteln, und mit
Opium zu ſtillen.
Es entſtehen einige mitleidende Bewegungen von der
Gegenwart des Reizes in dem Werkzeuge, und andre
hingegen von dem Daſein des Reizes im Gehirne. Von
dieſer Art hat man ein Exempel an der Nierenkolik, wenn
bei Gelegenheit, da ein Reiz im Harngange feſte ſtekkt,
ein Erbrechen erfolgt. Hier geſchicht eben das, welches
ſonſt bei den groͤſſern Nervenreizen vorkoͤmmt, naͤmlich
ein Krampf (i), welcher ſich von dem beſondern Nerven
in die benachbarte und damit verbundene, ja endlich in
alle uͤbrige Nerven fortpflanzt, wenn der Krampf recht
heftig wird. Hierzu kann der Wille gar nichts beitragen,
ſondern es verrichtet ſolches blos der notwendige Zuſam-
menhang der Nerven mit dem gereizten Nerven.
Jn andern Exempeln, als im Erbrechen, welches
von einer ekelhaften Sache herruͤhrt, oder wenn man bei
widrigen Arzneimitteln genoͤtigt wird, zu Stule zu gehen,
gehorcht der menſchliche Koͤrper dem Geſezze der Einbil-
dungskraft (k), und er verhaͤlt ſich hier nicht anders,
als wenn uns bei der Erneurung eines Schmerzens die
Traͤhnen in die Augen treten. Hierinnen treffen wir keine
ein-
[147]III. Abſchnitt. Urſachen.
einzige Spur des Willens an, ſondern es lieget blos in
der Spur einer ekelhaften oder traurigen Jdee ſo viel
Gewalt, daß davon eben dieſelben Bewegungen hervor-
gebracht werden, als von einem gegenwaͤrtigen und jezzt
in uns wirkenden Objekt erfolgen wuͤrden, welches ſeine
Spur in der Seele zuruͤkke gelaſſen hat: Es iſt naͤmlich
das Erbrechen ſo wenig, als das Weinen ſelbſt eine will-
kuͤrliche Sache.
Das das undeutliche Empfinden die Urſache ſei,
warum ſich das Herz, oder das Gedaͤrme bewege, iſt ein
Vorgeben, welches dem allerſicherſten Zeugen, dem Em-
pfinden ſelbſt, widerſpricht (l). Jch ſehe, wie wir, da
wir unſre Empfindungen zu vernachlaͤßigen pflegen, die
ſchwachen nicht gewar werden, oder doch wenigſtens nicht
im Sinne behalten. Wenn wir aber aufmerkſam ſind,
Ueberlegungen machen, und alle andre Empfindungen
auſſer Acht laſſen, alsdenn empfinden wir auch die ſchwache
Empfindungen, und den kleinſten Wind, der viel leichter,
als die vier Unzen Blut iſt, welche das Herz anfuͤllen.
Und dennoch wird Niemand dieſen ins Herz eindringen-
den Reiz, oder den Unterſcheid zwiſchen der Erweiterung
und Verengerung des Herzens wahrnehmen. Und doch
bewegt ſich noch das Herz, wenn es gleich aus dem Leibe
herausgeriſſen, oder das Gedaͤrme, wenn ſolches zer-
ſchnitten wird, noch, wenn gleich keine Empfindung
mehr zu vermuten iſt.
Wenn die beruͤmte Maͤnner ſagen, das Bewuſt-
ſein (m), und die Macht des Willens, werde durch die
Gewonheit ausgeloͤſcht, ſo ſollten ſie ſich erinnern, daß
vor allem andern die Staͤrke des Reizes durch Gewon-
heit geſchwaͤcht werde (n). Und dennoch iſt das Herz
K 2im
[148]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
im geſunden Menſchen, nach tauſend Millionen Schlaͤgen,
nicht weniger reizbar, als es vor zwanzig Jaren war.
Sollte wohl derjenige die Seele fuͤr eine Baumeiſte-
rin halten, welcher Acht darauf giebt, wie ſelbige einen
einfaͤltigen Thierkoͤrper, von unglaublicher Kunſt, gerade
ſo, wie einen der allerkluͤgſten Menſchen erbaut; und
welcher nicht den mindeſten Unterſcheid in der gehoͤrigen
Bildung eines Kindes, das niemals ſeine geſunde Ver-
nunft gebraucht (o), gegen ein Kind antrift, woraus
ein Newton werden ſoll? Es pfleget mir bei dieſer
Gelegenheit das Exempel von einem dummen Menſchen-
geſchlechte beizufallen, daran das benachbarte Walliſer-
land einen Ueberflus hervorbringt. Es ſind hier die
Leute zu allen Geſchaͤften des menſchlichen Lebens untuͤch-
tig, und ſie ſizzen entweder beſtaͤndig in der Sonne, oder
ſie liegen in ihren Betten, ihr ganzes Leben hindurch un-
beweglich. Jch glaube daher, daß nie ein Dichter ſo was
unglaubliches geſagt haben kann, als dieſe Macht einer
Seele iſt, die ſo ſpaͤt und ſo wenig klug wird, und den-
noch die Macht des groſſen Schoͤpfers nachahmen ſoll;
denn wenn Gott Pflanzen erſchafft (p), ſo erbaut ſich
hier die Seele belebte Koͤrper, die doch wuͤrdiger, als
Pflanzen ſind, auf eigne Rechnung. Wer auſſerdem
die groſſe Aenlichkeit zwiſchen einer wachſenden Pflanze,
und einem wachſenden Thiere, und die faſt gleich groſſe
Macht der Waͤrme, bei Entwikkelung beider Keime, ge-
nauer betrachten will, der wird ſich nimmermehr bereden
koͤnnen, daß Pflanzen ohne Seele, und Thiere von der
Seele erbaut werden koͤnnen.
Endlich wundre ich mich noch, wie kluge Maͤnner
ſagen koͤnnen, daß im Koͤrper keine zeugende Kraft zu
Bewegungen ſtatt finden moͤge (q). Solchergeſtalt wer-
den das Aufbrauſen (r), die Faͤulnis, Gaͤrung, Schwere,
elaſtiſche Kraft, und die todte Zuſammenziehungskraft,
Werke irgend einer Seele ſein, welche im Steine den
Fall hervorbringe, den Moſt ſchaͤumen macht, die aufge-
rollte Uhrfeder aufwikkelt, und den aus dem Schiespulver
erzeugten Damf Thuͤrmer uͤber den Haufen zu werfen ver-
anlaſſet. Jn den Pflanzen bewegen und ſcheiden ſich
endlich nicht die Saͤfte ab, ſie reifen, ergaͤnzen ihre Theile
wieder, und bringen Fruͤchte hervor; wird alſo nicht auch
jeder Schwamm ſeine Seele haben? und hat er keine,
warum iſt die thieriſche Faſer zur Bewegung ſo traͤge, da
doch die Pflanzenfaſer ſo hurtig wirkt? da wir doch nach
den Verſuchen an der thieriſchen Faſer eine gemeinſchaft-
liche, beſtaͤndige und gierige Reizbarkeit, hingegen an den
Pflanzen eine ſchwaͤchere und traͤgere warnehmen. Und
doch hat eine vom Koͤrper losgeriſſene und zerſchnittne,
wie auch von allem Wirken der Seele, oder des Willens
befreite Muſkelfaſer (s), eine eben ſo der Reizbarkeit
gehorſame Zuſammenziehungskraft, und ein eben ſo groſſes
Vermoͤgen, Bewegungen hervorzubringen, noch uͤbrig.
Jch wundere mich endlich, daß ein beruͤmter Mann
(t), zu wiederholten malen, den Beweis von der ver-
vielfaͤltigten Kraft der Wirkſamkeit der Nervenreizungen
K 3vor-
[150]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
vortraͤgt, nachdem bereits vorlaͤngſt von mir oft genung,
wie auch von demjenigen beruͤmten Manne darauf geant-
wortet worden (u), welchen er, waͤrend ſeines Schreibens,
vor den Augen hatte (x). Es iſt die Staͤrke in einem
Krampfe, der von gereizten Nerven entſpringt, eine kleine
leichte Nadel, von zwei Gran, die ſo ſchnell bewegt wor-
den, daß ſie in einer Sekunde eine Klafter durchlaͤuft;
es erfolgt aber ein Krampf, wovon tauſend Pfunde ſchwer
aufgehoben, zerbrochen, und Eiſenwerk gebogen, und
zerſtuͤkkt wird. Folglich wird, nach der Ausſage des
beruͤmten Mannes, der Erfolg groͤſſer, als deſſen Urſache
ſein. Allein, er wird es nicht ſein. Die Urſache iſt die
Zuſammenziehungskraft der Muſkeln in der menſchlichen
Maſchine, welche allen dieſen aufzuhebenden Laſten ge-
wachſen iſt. Jch verwundre mich gar nicht, daß dieſe
Kraft von einem ſo kleinen Koͤrper erregt wird; denn wir
wiſſen von Kraͤften weiter nichts, als was wir aus den
Verſuchen erlernen. Wir haben dem beruͤmten Manne
den Pulverblizz zu bedenken gegeben. Es faͤllt ein Stein,
der ein Quentgen ſchwer wiegt, einen Fus hoch herab,
auf einen andern Kieſelſtein, ſo faͤhrt aus dieſem Stoſſe
ein Funken heraus, der ganze Berge umkehrt, wenn
hinlaͤngliches Pulver darunter iſt. Jſt nun wohl zwi-
ſchen dem vom Falle des Steins erlangten Nachdrukke,
und zwiſchen dem daher entſtehenden Erfolge eine Pro-
portion?
Es iſt keine vorhanden (y), ſondern es verurſacht
ſolches die im Schiespulver erhizzte Materie, die vom klein-
ſten Nachdrukke erregt werden kann, herausbricht, und
von Schritt zu Schritt immer neue Kraͤfte gewinnt.
Dabei mag es bleiben; wenn aber die Folge des Fun-
kens, der das Schiespulver anzuͤndet, gleich gros mit dem
Erfolge einer Lanzette iſt, die einen Nerven ſticht, ſo iſt
im Buͤchſenpulver, wie im Nerven- und Muſkelſiſtem
einerlei zu groſſen Bewegungen aufgelegte Urſache ver-
borgen, und vielleicht iſt ſie im Schiespulver eben dieſelbe,
als im Muſkel, indem viele glauben, daß ein mit elektri-
ſchem Feuer erfuͤllter Dunſt (z), wie der beruͤmte Boiſ-
ſier will, oder wenigſtens doch ein hoͤchſtbewegliches und
kraͤftiges fluͤßige Weſen, die Bewegung in den Muſkeln
verurſachen. Jenes wird in dem ſalpetrigen Schiespul-
ver, und dieſes ſowohl vom Funken, als von andern
beſtimmten Reizen in Bewegung gebracht.
Es ſei ferner dieſes kein fluͤßiges Element, ſondern
blos eine Anziehungskraft, die unter ihren beſondern Ge-
ſezzen ſtehe, und einen unbekannten Urſprung habe; ſo
kann es geſchehen, daß dieſe Anziehungskraft (a) in
verkertem vervielfaͤltigten Verhaͤltniſſe der Entfernungen
wachſen, und von dem erſt erwekkten Reize vergroͤſſert
werden mag, und zwar nicht von dem Nachdrukke des
Reizes, ſondern von dem Geſezze ſeines Wachstums, und
dergleichen Wachſen ſehen wir in den Stufen des Falles
ſchwerer Koͤrper. Dergleichen wuͤrde ſchon zur Erklaͤrung
unſrer Erſcheinung hinlaͤnglich ſein, wofern die Kraft des
Muſkels, von denen ſich einander naͤhernden Grund-
ſtoffen in groͤſſerm Verhaͤltniſſe verſtaͤrkt wird, wovon
wir ohngefehr am Magnetſteine ein Exempel haben. Es
kann auch noch eine andere Urſache darinne ſtecken (a*),
K 4und
[152]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
und es verſtattet unſre Unwiſſenheit dem beruͤmten Manne
kein Recht, die Urſache der Bewegung auf die Seele zu
ſchieben, wenn wir ſelbige gleich nicht gekannt haben.
Was hat man denn nun damit geſagt, daß man der
Seele dieſe erregte Bewegungen zuſchreiben will? Stahl
geſtand es ehedem (b), es heiſſe dieſes gar nichts geſagt;
und er habe leicht dieſer ganzen Erklaͤrung uͤberhoben ſein
koͤnnen. Es bleibt hier naͤmlich noch immer, wie zuvor,
zu zeigen uͤbrig, welches doch die phiſiſche Urſache, und
nicht der metaphiſiſche Wille ſei, die in den Muſkeln
Bewegungen verurſache. Wenn man naͤmlich ſagen
wollte, daß die Seele ſelbſt in der Naͤhe, und, ohne eine
koͤrperliche Urſache, in dem Muſkel ein Zittern, eine
Haͤrte, und Verkuͤrzung hervorbringe, ſo wuͤrde man der
Seele in der That Eigenſchaften des Koͤrpers, als die
Ausdehnung, den Widerſtand und die Haͤrte beilegen.
Jch ſchreibe nicht der Seele dieſe Kraͤfte zu, ſondern
ich ſage nur, daß dieſe Eigenſchaften auf Befel der Seele
hervorgebracht werden. Folglich mus es eine Materie
ſein, von der ſie herruͤren. Dieſes iſt die gewoͤnlichſte
Formel ihres Geſtaͤndniſſes. Wenn dieſe Materie aber
zur Hervorbringung der Erweiterung, des Widerſtandes,
und der Verkuͤrzung des Muſkels hinlaͤnglich iſt, was
lehren denn dieſe Herren uͤber unſrer Erklaͤrung wohl
anders, als daß ſie noch zu einer hinlaͤnglichen, gewiſſen,
und erwieſenen, und von ihnen erkannten Urſache, eine
zwote, unnoͤtige hinzufuͤgen, ohngeachtet ſchon die erſte
hinlaͤnglich iſt; doch, ſie wuͤrde gewis nicht hinlaͤnglich
ſein, ſondern eine andre koͤrperliche Kraft erfordern, wo-
fern dieſe erſte koͤrperliche Urſache nicht zulaͤnglich waͤre.
Es hat bereits ein beruͤmter Schriftſteller von der
Stahliſchen Partei (d) eingeſehen, daß Whytt die
Seele vergebens der Kraft des Reizes beifuͤge, indem
ſolche, ohne ihre Einwilligung, genoͤtigt wird, dem Reize
durch eine unvermeidliche Bewegung zu folgen, und daß
derſelbe nur etwas uͤberfluͤßiges zu unſern Principien hin-
zuſezze; indem man die Frage niemals in die Weite ſpielen
mus, ſobald man von einer Erſcheinung hinlaͤngliche
Urſachen angiebt. Und dieſes iſt die erſte Regel New-
tons, und der Vernunft.
Doch es hat auch J. Auguſt Unzer(e), welcher der
Stahliſchen Meinung in ſo fern beipflichtet, daß er einen
phiſiſchen Einflus zulaͤſſet, behauptet, wie man Unrecht
thaͤte, daß man die Materie von den Quellen der Kraͤfte
ausſchlieſſe; und es bekennt es der beruͤmte Whytt(f),
wie auch ſelbſt Franz Boiſſier(g), daß Stahl ſeiner
Seele zu viel zugetraut habe.
Es war ferner ehedem Aſklepiades in der Medicin
mit den koͤrperlichen Kraͤften (h) zufrieden, und deswegen
fuͤhrte ihn vor kurzem der beruͤmte Cochius(i) mit
groſſem Beifall an. Wir uͤbergehen andre beruͤmte
Maͤnner, deren gewis nicht wenige ſind, und welche ſich
ſowohl vordem (k), als ohnlaͤngſt erkuͤnet haben, von
der Natur ohne Aberglauben zu reden. Jch nenne hier
K 5Aber-
[154]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Aberglauben, was von derjenigen Verehrung herruͤrt,
mit welcher die Aerzte die hippokratiſchen Schriften
verfolgt haben. Und dennoch ſtammen diejenigen Stel-
len, welche der Natur ſo viel zuſchreiben, gemeiniglich
nicht von den aͤchten Werken dieſes groſſen Vorfaren her.
Endlich hat noch der beruͤmte Cigna die Stahliſche
Theorie durch die Beſtimmung der Reizbarkeit uͤber den
Haufen fallen geſehen, weil es eine andre Urſache zu den
bewegenden Kraͤften (l) giebt, die da notwendig, und
koͤrperlich iſt. Jch mag auch die Urſache nicht zu ergruͤn-
den ſuchen, warum die Anhaͤnger dieſer Partei ihre
Kraͤfte ſo ſehr angeſtrengt, mich zu unterdruͤcken.
Nunmehr |iſt es, da wir das vorhergehende mit Fleis
unterſucht haben, nicht mehr ſchwer, dieſe Sache zu be-
antworten. Erſtlich werden alle Muſkeln von einem
Reize in Bewegung geſezzt (m). Es bringt aber die
Natur zu den Kraͤften des Lebens und des Willens fol-
gende Reizmittel. Das Herz und die Schlagadern be-
kommen das Blut, der Magen und das Gedaͤrme, Luft
und Speiſe, die Harnblaſe den Urin, die Gallenblaſe
die Galle, die Saamengefaͤſſe den Saamen, die Gebaͤr-
mutter die Frucht, der Regenbogen das Licht (n). Wenn
nun dieſe Muſkeln gereizt werden, ſo muͤſſen ſie notwen-
dig zu wirken anfangen; denn ſie wuͤrden bei Empfindung
des Reizes wirkſam werden, wenn ſie gleich auch willkuͤr-
lich waͤren (o).
Wir haben auſſerdem durch Verſuche gezeigt, daß
dieſe Werkzeuge, und wenigſtens das Herz (p), und
ſonderlich deſſen Ohren (q), nebſt dem Gedaͤrme (r),
den Reiz durchaus nicht vertragen koͤnnen, daß ſie lange
Zeit ihre Bewegungen fortſezzen, und ſo gar in dieſem
Stuͤkke die unwillkuͤrliche Muſkeln uͤbertreffen. Ob man
gleich bisweilen (s) die willkuͤrliche Muſkeln ſich zuſam-
menziehen geſehen, wenn das Herz, und das Gedaͤrme
ruhig waren, ſo geſchicht doch ſolches ſelten, und es hat
dagegen das Herz und das Gedaͤrme, wie wir ſolches ſo
oft gezeigt haben (t), an dem Huͤhngen im Eie, an dem
immer beſtaͤndigen Exempel der kalten und der meiſten
warmen Thiere, jederzeit die Oberhand gehabt. Wenn
daher dieſe Werkzeuge ſehr reizbar ſind, und wenn ſie
beſtaͤndig gereizt werden (u), ſo darf man ſich uͤberhaupt
gar nicht wundern, daß ſie ſich beſtaͤndig bewegen. Man
nehme dem Gedaͤrme und dem ausgeleerten Herzen den
Reiz (y), ſo wird man ſehen, daß auch dieſe Muſkeln
ohne Bewegung bleiben.
Dahingegen geraten die Muſkeln, welche dem Willen
unterworfen ſind, da ſie weniger reizbar ſind (z), und von
den Gegenkraͤften der Antagoniſten (a) in Schranken
erhalten werden, von freien Stuͤkken nicht in deutliche
Bewegungen. Allein, wenn man ſie durch Gift, Eiſen,
elektriſche Funken, oder irgend andre Schaͤrfe, reizt, ſo
machen ſie ebenfalls ihre unwillkuͤrliche Bewegungen,
indem ſie ſich zuſammenziehen (b).
Es hat aber das Anfehn, daß die Natur ſelbigen, bei
Gelegenheit des Willens (c), anſtatt des Reizmittels,
eine
(o)
[156]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
eine Lebhaftigkeit der Nervengeiſter mittheile. So lange
dieſer Reiz waͤhret, ſo lange ziehen ſie ſich zuſammen, und
ſie ruhen, wenn dieſer auf hoͤrt.
Folglich ſtekkt in dem Unterſcheide zwiſchen den un-
willkuͤrlichen, und zwiſchen den uͤbrigen, dem Willen der
Seele unterworfnen Muſkeln, kein ſolcher Knoten, den
die Seele von einander hauen muͤſſe.
Es empfangen auch die dem Willen unterworfene
Muſkeln von den Nerven ebenfalls ihre Wirkſamkeit her.
Dieſes will ich zum voraus annehmen, ohne dabei dasje-
nige auſſer Acht zu laſſen, was man dagegen geſchrieben.
Es ſind dieſe Muſkeln aber die Muſkeln der Glied-
maßen insgeſamt, die Muſkeln des Antlizzes, der Augen,
des Schlundes, der Stimme, des Koͤrperſtammes, aus-
genommen die ausſtrekkende Muſkeln der maͤnnlichen und
weiblichen Ruthe.
Von den Muſkeln des inwendigen Ohres lieſſe es ſich
noch zweifeln, da ſie nur klein, von den Sinnen entfernt
ſind, und keine Bewegung hervorbringen, welche ſich fuͤlen
lieſſe.
Alle dieſe bekommen ihre Nerven, nach deren Reize
ſie in Kraͤmpfe gerathen, und wenn man ihre Nerven
unterbindet, oder zerſchneidet, ſo gehorchen ſie nicht wei-
ter den Befelen des Willens, ſondern ſie behalten nur blos
noch ihre eingepflanzte Kraft uͤbrig.
Folglich ſiehet man offenbar, daß die Urſache ihrer
Bewegung von den Nerven herruͤhre, und daß der Wille
ſolche blos durch die Nerven veranlaſſe, indem ſonſt kein
andrer Theil des Koͤrpers, wenn ſolcher gereizt wird,
dieſe Bewegung in den Muſkeln erregt, oder wenn ſolcher
gebun-
[157]III. Abſchnitt. Urſachen.
gebunden und zerſchnitten wird, die Herrſchaft des Wil-
lens aufhebt. Man erlaube uns aber, zu unterſuchen,
wie die Nerven, die an ſich unbeweglich ſind, einen Muſ-
kel bewegen koͤnnen, ob es gleich ſchwerlich moͤglich iſt,
dieſe Sache zu entdekken. Wir muͤſſen aber erſtlich zei-
gen, wie der Nerve den Muſkel noͤtige, ſich zuſammen
zu ziehen, und denn, wie er ſolchen wieder ſchlaff mache,
indem beide Handlungen ein Werk des Willens ſind.
Jndem wir den Galen uͤber dieſe Schwierigkeit
befragen, ſo hoͤren wir von ihm eine Antwort, welches
zugleich die allgemeine Meinung vierzehn ganzer Jarhun-
derte geweſen. Es liegt, ſagt er, der Urſprung von der
Bewegung der Muſkeln in dem Anfange der Nerven,
der ſich im Gehirne, und deſſen Kammern befindet (d),
und er bekoͤmmt von dem Willen ſein Entſtehen (e).
Von hier pflanzen ſich die Geiſter, wodurch die Muſkeln
bewegt werden, durch die Nerven in die Muſkeln fort
(f),(g). Es entſtehen aber da, wo ſich der Nerve im
Muſkel zertheilt, Faͤden (villi), die ſich abermals in der
Sehne wieder mit einander vereinigen (h), in welche
ſich die mit dem Bande vermengte Nerven verwandeln.
Ferner laͤuft der Nerve in den Anfang des Muſkels (i),
und es iſt die Sehne das Ende des Muſkels. Folglich
wird der Muſkel, und die Sehne, gegen dieſen Anfang
hin
[158]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
hin gezogen (k), und es bewegen die Nerven, wie Seile,
die Muſkeln aber, wie ein Hebel, ihre Knochen (l).
Es ſchrieb C. Hoffmann, daß die vom Gehirn
kommende Geiſter den Muſkel aufſchwellen machen, und
daß ſolchergeſtalt die zu bewegende Theile herbeigezogen
werden (l*). Karteſens Theorie iſt die allereinfachſte,
wenn man ihr die Kanaͤle, welche die Nerven der Gegen-
muſkeln vereinigen (m), und deren Klappen nimmt (n).
Es glaubt derſelbe, wie auch deſſen Anhang (o),
nebſt dem Molinett(p), R. Hooke(p*), B.
Vieuſſens(q), H. Ridley(r), und Abraham
Kaauw(r*), daß hierzu ein ſchnellerer Einflus des
Nervenſaftes hinlaͤnglich ſei.
So vermutete der vortrefliche Jſaak Newton, daß
der Aether vom Willen in die Nervenroͤhrgen getrieben
werde, und die thieriſche Bewegungen verurſache (s).
Man mus in der That nichts vor ungereimt halten, was
ein ſo groſſer Geiſt vor warſcheinlich angeſehen.
Santorin erklaͤrte die Muſkelbewegung dergeſtalt,
daß er zwar eine Faſer fuͤr einen Fortſazz des Nerven
hielte
[159]III. Abſchnitt. Urſachen.
hielte (t), aber dennoch beifuͤgte, dieſe Faſer ſei nicht
von freien Stuͤkken geſpannt (u), ſondern ſie ſchwelle
von dem Nervengeiſte auf (x), ſie endige ſich in ein
blindes Ende (y), und werde daher von dem eindrin-
genden Geiſt ausgedehnt, welchem ſich die Faſer mit ihrer
eignen Zuſammenziehungskraft widerſezze (z). Solcher-
geſtalt leitet er die Urſache des Zuſammenziehens von dem
drengenden Geiſte, und die Urſache des Erſchlaffens von
der Faſer her, welche ſich nach dem Ausdehnen zu der
erſten geraden Laͤnge wieder ausſtrekke.
Auf eine etwas feinere Art laͤſt Johann Tabor(a)
die Nervenfaſer ſich nicht blos mit einem blinden Ende
endigen, ſondern er zeiget auch auſſerdem, daß in dieſem
Bau die Geiſter ſehr concentrirt wuͤrden, indem ein Ci-
linder, ſo bald nur ein geringer Theil, als der zwoͤlfte
Theil ſeiner Breite zunehme, um ein Drittheil dadurch
kuͤrzer gemacht werden, da man ſonſt in der Hipoteſe der
Blaͤsgen, welche Mode iſt, um die Faſer zu verkuͤrzen,
eine erſtaunliche Erweiterung, und eine faſt funfzig mal
groͤſſere Flaͤche (b) noͤtig habe, wenn ſich der vierte Theil
verkuͤrzen ſoll.
Es hat aber auch Willis(c) geſehen, wie die Ner-
ven aufgeſchwollen, wenn der Muſkel dikker geworden,
ja daß in einer Schnekke ohne Gehaͤuſe die Geiſter ſicht-
barer Weiſe in den Muſkel eintreten, und ſich vom Kopfe
gegen den Schwanz zu bewegen (d).
Dahingegen leitet Richard Jones(e) die Bewegung
eines Muſkels von den Geiſtern her, welche einen Nerven-
faden ausdehnen, er laͤſt aber die Geiſter ſich dabei
ver-
[160]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
verzoͤgern, und alſo, kraft dieſer Verſpaͤtung, denjenigen
Seitendrukk verrichten, wodurch das Faͤſergen erweitert
wird (f).
Da der Nervenſaft (g), nach den Freunden dieſer
Meinung, hoͤchſt langſam fortflieſt, und deſſen Menge
und Gewicht notwendig ſehr geringe iſt, ſo wird man
bei der aͤuſſerſten Zartheit (h) der Faſern in Gefar ſtehen,
daß der Einflus des Nervenſaftes, wenn er gleich ſchnell
genung geſchicht, zur Erzeugung der ungeheuren Gewalt
nicht hinreichend ſei, dergleichen die Erfarungen und
Berechnungen an einer Muſkelfaſer wahrnehmen. Da
auſſerdem, um die ganze Laͤnge des voͤlligen Muſkels auf-
zublaͤhen, bis derſelbe zu einer Kugel wird, eine unglaub-
liche Menge Geiſter erfordert wird, und doch am Muſkel
nur eine maͤßige Verkuͤrzung, laut der Erfarung, noͤtig
iſt; und da ferner dieſes wargenommen worden, ſo haben
ſich beruͤmte Maͤnner des boyliſchen hidroſtatiſchen Pa-
radoxons (i), kraft deſſen ein klein Roͤhrgen in ein wei-
tes Waſſergefaͤs die Fluͤßigkeit, vermoͤge der Schwere
fallen laͤſt, und den Boden dieſes Waſſergefaͤſſes eben ſo
ſtark druͤkkt, als ſolcher gedruͤkkt werden wuͤrde, wenn das
Roͤhrgen eine eben ſo groſſe Muͤndung, als das Waſſer-
gefaͤſſe an ſeinem Boden haͤtte, zu dieſer Erklaͤrung bedient.
Es ſtekkt der Grund dieſes Paradoxi in der Geſchwindig-
keit, mit welcher das Waſſer durch die Roͤhre in die Waſ-
ſerſchale faͤllt, und welche offenbar um deſto groͤſſer iſt, je
weiter das Waſſergefaͤſſe in Vergleichung gegen das Roͤhr-
gen iſt.
Um alſo den Nachdrukk in den kleinſten Faſerroͤhrgen
zu vermeren, nahmen einige beruͤmte Maͤnner an (k), es
erweitere ſich das Ende eines Roͤhrgen in eine Blaſe, die
viel breiter, als das Roͤhrgen ſei. Jndem dieſe leer iſt,
und zuſammengedruͤkkt wird, ſo hat ſie eine nur geringe
Breite. Nunmehr dringt aber eine Fluͤßigkeit in ſelbige
ein, wovon ſie ausgedehnt, und zu einer Kugel wird.
Hier wird nur in dem ausdehnenden Safte eine kleine
Kraft erfordert, da ſich der Drukk auf die Seitenwaͤnde
der Blaſe um ſo viel groͤſſer, als das Roͤhrgen gedenken
laͤſt, als zur Ueberwaͤltigung faſt jedweden Gewichtes
noͤtig iſt. Da ſich aber die Blaſe zu einer Kugel auf-
blaͤht, ſo wird ſie zugleich kuͤrzer (l), und zwar nicht viel
uͤber den dritten Theil ihrer Laͤnge, und es ſteiget ihr
Gewichte, welches am blinden Ende haͤngt, in die Hoͤhe;
dieſes blinde Ende aber ſtekkt, nach dieſer Hipoteſe, in der
Sehne. Sie verwandelt ſich aber beinahe in eine voͤllige
Kugel (m), weil das Fluͤſſige in einen gleich dehnbaren
Cilinder faͤllt, und ſelbigen von allen Seiten mit gleich-
maͤßiger Staͤrke ausdehnt.
Die Sache iſt an ſich ſelbſt wahr, und es konnte
Boyle(n) ſein Paradoxon leicht erweislich machen.
Man hat ſelbiges auch durch vielfache Erfarungen beſtaͤ-
tigt. Man macht ein wuͤrfliches Waſſerbehaͤltnis, das
von allen Seiten mit Stalplatten eingeſchloſſen iſt, und
man
H. Phiſiol. 5. B. L
[162]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
man legt auf deſſen Dekkel die ſchwerſten Gewichte. Aus
der Seite des Kaͤſtgens geht ein langes und duͤnnes Roͤhr-
gen, um der Luft den Ausgang zu verſchaffen. Man
gieſſet durch die Roͤhre Waſſer, bis auf eine oder zwo
Unzen hinein. Solchergeſtalt wird der Dekkel des Kaͤſt-
gens mit den 500 Pfunden aufgehoben (o), und wenn
das Kaͤſtgen groͤſſer waͤre, und mehr Waſſer hineinginge,
koͤnnten wohl 1000 Pfunde aufgehoben werden. Es laͤſt
ſich dieſes an den Waſſerkaͤſten in Holland beobachten,
welche in den Haͤuſern, durch eine aus verzinnten Eiſen
zuſammengeloͤtete Roͤhre, das Regenwaſſer von den Daͤ-
chern auffangen; denn wenn der obere Theil des Waſſers
in der Ciſterne (Waſſerbehaͤlter) zu Eiſe wird, und un-
beweglich dem herabkommenden Waſſer widerſteht, die
Sonne aber vom Dache (p) indeſſen etwas Schnee
ſchmelzt, und dieſes geſchmolzene Waſſer in die Ciſterne
herabflieſt, ſo koͤnnen davon ganze Haͤuſer aufgehoben
werden.
Um ein naͤheres Beiſpiel von den Muſkeln zu geben,
ſo haͤnge man an den Untertheil einer Blaſe etliche Ge-
wichter an (q). Man bringt bei dieſer Blaſe eine Roͤhre
an, und man blaͤſet ſie dadurch voller Luft. Solcherge-
ſtalt laſſen ſich mit geringer Muͤhe 36 (r) 50. 60 (r*)
70. 80 (r**) 150 (s) 160 (t) Pfunde aufheben. Je
enger hierbei die Roͤhre, gegen die Weite der Blaſe iſt,
deſto mehr Laſt kann man dadurch auf heben laſſen (u).
Es iſt bei dieſer Theorie auch noch der Vortheil, daß die
Kraͤfte der Muſkeln nicht nach Proportion des Wider-
ſtandes vermehrt werden doͤrfen, und kaum gedoppelt ſo
viel
[163]III. Abſchnitt. Urſachen.
viel Geiſter erfordert werden, um ein doppelt ſo ſchweres
Gewichte aufzuheben (x).
Man ſiehet leichtlich, wenn man eine einzige derglei-
chen Blaſe an der aͤuſſerſten Muſkelfaſer annimmt, daß
das Aufheben unendlich klein, und nicht groͤſſer ſein werde,
als der dritte Theil von der Laͤnge dieſer Blaſe iſt. Doch
die Erſcheinungen verlangen ein weit groͤſſeres.
Hierzu kam noch, daß ſich einige ſehr beruͤmte Maͤn-
ner uͤberhaupt einbildeten, wie eine Muſkelfaſer aus
Faͤchergen zuſammengeſezzt ſei.
Aus dieſem Grunde fand die Theorie des J. Alfonſi
Borelli(y) leichtlich Beifall. Es kann nach derſelben
eine jede Muſkelfaſer fuͤr eine Reihe Blaͤsgen angeſehen
werden, welche einige Schriftſteller, um ſich leichter zu
erklaͤren, fuͤr Rauten ausgeben.
Auf ſolche Art wird eine einzige Muſkelflaͤche aus
Blaſenlinien, die neben einander liegen, beſtehen, und
der ganze Muſkel ein Koͤrper ſein, in welchem unendliche
Ketten von dergleichen Blaͤsgen gedacht werden muͤſſen.
Es ſind aber dieſe hole Blaſen duͤnne, und laſſen ſich durch
ſchiefwinklige Rauten vorſtellig machen.
Nunmehr ſoll der Geiſt eindringen, und folglich wer-
den ſich die zarte Ellipſen in Kugeln verwandeln. Und
L 2die
[164]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
die Kraͤfte wachſen, vermoͤge der Vervielfaͤltigung der
Blaſenreihen (y*).
Es haben ferner beruͤmte Maͤnner den Vorteil an
Kraͤften in der Zartheit der Blaͤsgen geſucht (z), damit
man nicht (a) eine gar zu groſſe Menge Geiſter zu ihrer
Erweiterung noͤtig haͤtte. Man erkennt naͤmlich leicht,
daß ein Blaͤsgen, welches einen Zoll lang iſt, um zu einer
Kugel zu werden, viel mehr Fluͤßiges, als eine Blaſen-
kette erfordere, welche zwar, alle Blaſen zuſammengenom-
men, eine Zolllaͤnge ausmacht, einzeln aber betrachtet,
um den hunderten Theil eines Zolles breit ſind. Da ſie
eigentlich zu Kugeln werden, ſo iſt die Verſchiedenheit
unglaublich; denn es wird die groſſe Kugel wie 11001.
oder wie 1000.000, und die kleinen Kugeln wie 10+1
ſein, wenn man die Kugeln ſo, wie Wuͤrfel der Durch-
meſſer anſieht (b).
Es hat auch der beruͤmte Sturm(c) die Sache in
Verſuche gebracht, und aus einem leinenen Saͤkkgen eine
Reihe Blaͤsgen gemacht, wodurch er, durch eingeblaſene
Luft, und bei einer maͤßigen Ausdehnung, ziemlich ſchwere
Gewichter auf heben laſſen. Man hat auch dergleichen
Verſuche vom Robert Hooke(c*).
Wir haben erſtlich die Meinungen dererjenigen be-
ruͤmten Maͤnner, welche die Muſkelfaſern fuͤr Fortſaͤzze
der Nerven ausgeben, an einem andern Orte beantwor-
tet
[165]III. Abſchnitt. Urſachen.
tet (d). Denn ſie ſind davon ihrem ganzen Weſen nach
unterſchieden, und jene beſizzen eine Reizbarkeit, hingegen
dieſe ganz und gar nicht.
Es laͤſſet ſich der blaͤſige Bau der Faſern durch kein
richtiges Experiment beſtaͤtigen (e), und es wuͤrde ein
einziges Blaͤsgen nur eine ganz kleine Erhebung hervor-
bringen.
Man erſpart oder gewinnt an Kraͤften bei den aufge-
blaſenen Blaſen, einzig und allein aus dem Grunde, weil
das Gewichte wenig erhoben wird, indeſſen daß ſich dieſe
Blaſen ſehr erweitern; oder, weil der Durchmeſſer der
Faſer, queer uͤber genommen, ſehr anwaͤchſt, indem der
ſenkrechte Durchmeſſer abnimmt. Folglich geſchiehet hier
eben das, was man an einem Bache wahrnimmt, welcher
ſich in einen See ergieſt, und der deſto langſamer laufen
wird, je breiter der See, gegen den Bach iſt (f).
Man verliert naͤmlich an der Zeit, was man an dem
Vortheile gewinnt, oder, es geſchicht die Bewegung in
den Blaſen um deſto langſamer (g), um deſto kleiner die
einblaſende Kraft gegen das aufzuhebende Gewichte iſt,
und es hat uͤberhaupt ein jeder Seitendrukk nur eine traͤge
Wirkung, welche allmaͤlich ſtaͤrker wird. Doch es findet
dieſe Minderung der Geſchwindigkeit uͤberhaupt bei
menſchlichen Dingen nicht ſtatt, indem man bei denſel-
ben nicht auf den Vortheil an Kraͤften, ſondern auf Er-
ſparung der Zeit, ſehen mus, indem ſich die Muſkeln mit
unglaublich ſchneller Geſchwindigkeit bewegen.
Es verſchwenden ferner die Blaſenketten unermeslich
viel Kraͤfte, und es iſt der Aufwand viel zu gros. Denn
da ein Blaͤsgen, von der Kraft des Einblaſens, um ſo
viel auf beiden Seiten aus einander gezerrt werden mus,
L 3als
[166]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
als es von dem Gewichte herabgedruͤkkt wird, ſo wird auf
jedes Blaͤsgen, welches ſich in eine Quadratfigur verwan-
deln ſoll, gedoppelt ſo viel Gewicht erfordert (h); und da
bei einem jeden Blaͤsgen einer vollſtaͤndigen Kette eben
ſo viel Kraͤfte verloren gehen, ſo wird endlich zu dem Auf-
heben des Gewichtes eine ſo viel ſtaͤrkere Gewalt erfordert,
als die Anzal der Blaͤsgen, zweimal genommen, groͤſſer
als die Einheit iſt.
Eben ſo iſt gezeigt worden, daß dazu eine unglaubliche
Erweiterung (i) des Muſkels gehoͤre, wenn nur eine
geringe Verkuͤrzung geſchehen ſoll, und daß man ſie bei
der borelliſchen Rautenhipoteſe um ſiebenzigmal (k)
groͤſſer machen muͤſſe, um nur ſelbigen um den hunderten
Theil zu verkuͤrzen, hingegen fuͤnf und zwanzigmal mehr
(l) um ein Drittheil, wie doch oft mehr geſchicht, zu ver-
kuͤrzen. Doch es findet dergleichen Erweiterung nie bei
einem Muſkel ſtatt, und es mus ſelbige nicht viel uͤber
dreifach bei der Verkuͤrzung auf ein Drittheil ſein, da ein
Muſkel uͤberhaupt entweder ganz und gar nicht, oder doch
um ein ſehr geringes an Dikke zunimmt (l*). Man
nimmt aber nur vergeblich zu der Kleinheit der Blaͤsgen
ſeine Zuflucht, daß ſelbige ihre Erweiterung nicht ſichtbar
werden laſſen. Denn da der ganze Muſkel, vermoͤge
der Hipoteſe, aus dergleichen Ketten beſteht, ſo muͤſte ſich
der Muſkel auch, nach dem Verhaͤltniſſe, als eine einzige
Blaſe erweitern. Ja, es erfordern kleine Blaͤsgen eine
groͤſſere Kraft zum Einblaſen (l**).
Es kann endlich, ſelbſt nach den Hipoteſen der beruͤm-
ten Maͤnner, leicht geſchehen, daß ein Muſkel nach die-
ſer
[167]III. Abſchnitt. Urſachen.
ſer Bauart ſo wenig kuͤrzer werde, daß derſelbe vielmehr
laͤnger gemacht wird (m). Es werden alle blinde thie-
riſche Saͤkke laͤnger, wie an der maͤnnlichen Ruthe (n),
der Gallenblaſe, und dem Magen zu erſehen iſt. Denn
da ſich Membranen von allen Seiten erweitern laſſen, ſo
werden ſelbige nicht nur laͤnger, ſondern auch ebenfalls
breiter.
Da alſo weder die Anatomie die Blaͤsgen erweislich
macht, noch bei dieſem Baue Kraft oder Geſchwindig-
keit, oder Verengerung in dem zuſammengezogenen Muſ-
kel erhalten wird, wenn es nicht gar an dem iſt, daß
daher ein widriger Erfolg zu erwarten iſt, und ſich der
Zug in einen Ruͤkkſtos verwandelt, ſo haben wir weiter
keinen Grund, daß wir dieſe Hipoteſe annehmen ſoll-
ten (o).
Auch in dieſer Hipoteſe herrſcht die Neigung fuͤr die
Rauten und Blaͤsgen, nur daß die Materie, womit eine
Muſkelfaſer erfuͤllt ſein ſoll, von der vorhergehenden ver-
ſchieden, und dagegen die Faſer mit Blut angefuͤllt iſt (p).
Sie unterwerfen auch nicht dieſes Blut, wie diejenigen,
welche wir ſo gleich anfuͤhren werden, der Gewalt des Her-
zens, ſondern der Nerven. Daniel Tauvry iſt der erſte
(q), welcher eine Faſer zu einem Schlagaͤdergen macht, er
L 4laͤſt
[168]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
laͤſt ſelbige, da wo ſie ſich zu einer Blutader zuruͤkke biegt,
von einen herumgelagerten Nerven eingeſchnuͤrt werden,
und ſolchergeſtalt dehnt das verhaltene Blut, und der da-
von entſtehende Seitendrukk die Faſer aus einander.
Es nimmt ferner der beruͤmte Daniel Bernoulli
die Faſer als cilindriſche, hole und mit Blut angefuͤllte
Schlagaderfortſaͤzze (s) an, um welche Qveernervenfaſern
laufen, die ſie zuſammen ſchnuͤren, und zu Blaſen verwan-
deln, die von der krummen elaſtiſchen Linie gebildet wuͤr-
den (t). Dieſe Meinung hat auch D. Privat de Mo-
lieres(u) nebſt andern beruͤmten Maͤnnern (x) behauptet.
Eben dieſe Qveerfaſern hielt auch J. Alfons Borell
(x*) und andre (y) vor Nerven. Es zeigte auch der vor-
trefliche Teichmeyet(z) durch einige Verſuche, daß ſich
ein Gedaͤrme, welches hie und da mit Schnuͤren, die man
anziehe, umflochten werde, verkuͤrze, und das Gewicht
auf hebe.
Noch feiner bediente ſich vor kurzem der beruͤmte Joh.
Ziegler(a) dieſer Faſern, indem er ſezzte, daß ſolche krumm
waͤ-
(q)
[169]III. Abſchnitt. Urſachen.
waͤren, und wechſelweiſe Erhabenheiten haͤtten, darunter
einige z. E. nach Morgen, andre dagegen nach Abend zu
gekehrt waͤren. Dieſe zoͤgen ſich zuſammen, und ſo wuͤrde
eine Muſkelfaſer, die durch wechſelweiſe Biegungen einge-
ſchloſſen waͤre, genoͤtigt, ſich nach Art einer Schlange zu
kruͤmmen, und zu verkuͤrzen.
Ohnlaͤngſt verband der beruͤmte Bertier die Nerven-
bewegung mit der Bewegung des Blutes. Er macht das
Blut zur Urſache dieſer Bewegung (b), indem es die Muſ-
kelfaſer ſo anfeuchten ſoll, wie etwas Waſſer ein ganzes
Strikk kuͤrzzer macht (c). Es zerret aber mit Huͤlfe des
kleinen Nerven die Faſern auf die Seite, und noͤtigt das
Blut des Muſkelnezzes, das die Faſer bedekkt, derge-
ſtalt einwerts zu wirken, daß daher eine Strikkmaſchine
von abgewechſeltem Zuge entſteht, welche, wenn ſie ſich ver-
kuͤrzt, das Gewichte aufhebt.
Cowper will, daß die Fleiſchfaſern ebenfalls von den
Schlagadern Blut empfangen, und daß das Blut, wel-
ches in dieſelben eindringt, und von da nicht wieder zu-
ruͤkke kehrt, die Muſkelbewegung verurſache (d).
Stuart(e) ſchreibt dem in die Schlagader getrieb-
nen Blute die Roͤthe, und den Geſchwulſt zu, welcher,
nach ſeinem Sazze, in der erſten Zeit der Muſkelbewegung
ſtatt findet. Dieſes waren auch die Gedanken des Jo-
hann Swammerdams(f).
Eben von dieſer Art iſt auch faſt die Meinung des
Baglivs(g), welche die Blutkuͤgelgen durch die Raͤume
zwiſchen den Muſkelfaſern (h) ſich bewegen, und die Fa-
ſern reizen laͤſſet, daß ſie ſich an den Beruͤrungspunkten
kraͤuſeln und verkuͤrzen muͤſſen.
Es konnten diejenigen beruͤmten Maͤnner, welche der-
gleichen Theorien beiflichten, den Verſuch zu ihrem Be-
hufe anwenden, welchen man gemeiniglich dem Stenonio
zuzuſchreiben pflegt (i); naͤmlich wenn man die Aorte bin-
de, daß die hintern Gliedmaßen lahm wuͤrden, und ihre
Kraͤfte wieder bekaͤmen, ſo bald man das Band auf die
Seite ſchaffe. Es haben viele beruͤmte Maͤnner dieſen
Verſuch mit einem aͤnlichen Erfolge wiederholt (k).
So ſtirbt auch die Bewegung an einem beſondern
Muſkel, wenn man ſeine Schlagader bindet, ab (l),
und man hat am Schienbeine und Schenkel (m) dieſes
wargenommen. Gemeiniglich wird ein Glied unter ei-
nem Schlagaderſakke fuͤllos (n), und es iſt ſchwaͤcher, wenn
ſeine Schlagader knochig (n*), oder durchhauen wor-
den (n**). Andre beruͤmte Maͤnner bemerkten, wie
auch der Muſkel aufſchwelle (o), und ſein anhaͤngendes
Glied
[171]III. Abſchnitt. Urſachen.
Glied an ſich ziehe, wenn man in die Schlagader Waſſer
einſprizzt (p). Andre behaupten dieſes blos von kaltem
Waſſer (p*).
Dieſem koͤmmt die Theorie des beruͤmten le Cat nahe,
welcher ſich einbildet, daß die Schlagaͤdergen in die Muſ-
kelfaͤcher eine dem Nervenſafte aͤnliche Limphe ausſchuͤtten
(p**), und daher waͤren Thiere aus dem Grunde ſtark,
weil ſie bei wenigem Gehirne mehr Blut haͤtten.
Es iſt offenbar, daß man die Bewegung eines Muſkels
nicht von dem bloſſen Triebe des Herzens, und von dem
haͤufig in den Muſkel eindringenden Blute, herleiten
koͤnne, da das Herz nicht vom Willen beherrſcht wird (q),
die Muſkeln aber nach Gefallen, entweder ruhen, oder in
Bewegung ſind; und da man keine kuͤnſtliche Erfindung
angiebt, wie in einem beſondern Muſkel das Blut, nach
einer andern Regel, als in andre ſehr benachbarte Muſ-
keln eindringt, welche aus einerlei Stamme ihr Blut em-
pfangen, und doch den vorigen entgegen handeln, wie ſehr
oft geſchicht. Es bekommen naͤmlich die ausſtrekkende
Muſkeln (r) des Ellbogens ihr Blut von den Schlag-
adern zwiſchen den Knochen her, welches Fortſaͤzze von der
Spindel und Ellbogenſchlagader ſind, von denen auch
die Beugemuſkeln Aeſte empfangen. Es iſt auch die Bewe-
gung des Blutes viel traͤger, als die Bewegung der Muſ-
keln (s) und die Kraft des Herzens viel zu ſchwach dazu
(s*)
[172]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
(s*). Es iſt aber auch gezeigt worden, daß ein Muſkel-
faden ſubtiler, als die rothen Kuͤgelgen ſind, und das
Blut nicht in ſeine kleinſten Stoffe aufnehme (t).
Es erſtrekkt ſich ferner das Gebiete der Muſkeln wei-
ter, als das Schlagaderſiſtem, da die Jnſekten viele und
ſtarke Muſkeln, ohne Blut (u) und ohne Pulsadern
haben.
Es iſt ein Muſkel ferner aͤuſſerſt reizbar (x), dagegen
die Schlagader nur undeutlich reizbar (y).
Was die Qveerfaſern betrift, welche beruͤmte Maͤn-
ner zum Einſchnuͤren der Muſkelfaſer anwenden, ſo ſind
dieſelben nichts weiter als faͤchrige Faͤden, die ſich nicht
anders auf todte Weiſe zuſammenziehen (z).
Jch habe endlich den Verſuch an der Aorte, und an
der Schlagader eines Gliedes wahr befunden; doch es
hoͤrt deswegen nicht ploͤtzlich die Bewegung deſſelben Thei-
les auf, wie bei einem gebundnen Nerven zu geſchehen
pflegt. Es erfolgt eine langſame Laͤhmung, wenn das
Thier oft lange genung mit der gebundenen Aorte herum-
laͤuft. Und man weiß auch, daß dieſer Verſuch nicht von
ſtatten gehen wollen (b). Jch habe auch geſehen, daß an
Menſchen die Laͤhmung langſam erfolgt iſt, wenn man
ihre Schlagadern wegen ſtarker Wunden notwendig ver-
bin-
[173]III. Abſchnitt. Urſachen.
binden mußte. Es entſteht in einem ſolchen Gliede einige
Fuͤlloſigkeit, es vergeht zugleich mit der Bewegung das
Gefuͤhl (c), und kurz darauf ſchlaͤgt der Brand dazu (d).
Es verloren die Finger das Gefuͤl, da man die Spindel-
ſchlagader, an der ein Sakk war, unterbinden muſte (e).
Deswegen ruͤhrt aber das Gefuͤl nicht von der Schlagader
her. Es gehoͤrt nemlich zur Vollſtaͤndigkeit des Lebens,
daß die Schlagader frei ſei, und ſich das Blut nach allen
Theilen hin bewegen koͤnne. Wird ſolches aber gehemmt,
ſo raͤumt man zugleich die vornemſte Urſache des Lebens
aus dem Wege, und folglich hoͤrt alles dasjenige mit auf,
was eine Folge des Lebens iſt, als die Bewegung, Em-
pfindung und die Waͤrme (g).
So hoͤrt auch an einem Muſkel, oder beſondern Glie-
de (h) die Bewegung von einer unterbundenen Schlag-
ader entweder langſam, oder ganz und gar nicht auf,
wenn gleich eine Schlagader des ganz geſunden Gliedes
unterbunden wird (k).
Es verurſacht das Einſprizzen an einem lebendigen
Thiere, daß auch ein Waſſer, welches man nicht durch die
Schlagadern, ſondern durch die Blutadern einſprizzt, an
den Muſkeln des lebendigen Thieres ein Zittren erregt (l).
Man kan noch hinzufuͤgen, wie es ſich von dem Er-
folge einer gebundenen Schlagader auch daher nicht auf
einen
(f)
(i)
[174]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
einen Einflus von der Schlagader ſchliſſen laſſe, weil auch
nach Unterbindung der Blutadern, zwar nicht allemal (m),
aber doch oft, eine dergleichen Laͤhmung erfolgt (n).
Daß aber die Schnur an der Aorte, wegen der zu-
gleich mit gebundnen Nerven (o) oder auch wegen der auf-
gehobnen Gemeinſchaft des Ruͤkkenmarkes (p) mit dem
Blute, eine Laͤhmung verurſache (q), ſcheint nicht mit den
Erſcheinungen bei der Laͤhmung uͤberein zu ſtimmen, in-
dem ſolche nur nach Unterbindung der Schlagadern zu
erfolgen pflegt (r).
Der Geſchwulſt, die Steifigkeit, und Bewegung an
einem Gliede, nach Anfuͤllung der Schlagader gehoͤret zu
der Ausdaͤmpfung des eingeſprizzten Waſſers in das Zell-
gewebe (s), und dieſe bringt nicht nur einen Geſchwulſt,
Steifigkeit, ſondern auch ein Zuſammenziehen an todten
Koͤrpern zum Vorſchein, und ich habe dieſen luſtigen Ver-
ſuch ſehr oft an todten Kindern mit Fiſchleim vorgenom-
men. Was die Urſache der hervorgebrachten Bewegung
an ganz friſchen Leichnamen, oder an lebendigen Thieren
anbelangt (s*), ſo koͤnnte man ſolche auf Rechnung
des reizbaren Weſens der Muſkeln ſchreiben. Und daher
erfolgt auch eben dergleichen, wenn man Blutadern mit
Waſſer ausſprizzt (s**).
Jch beruͤre die uͤbrige Muthmaſſungen, wodurch man
verſucht hat, den Bau der Muſkelfaſer ausfuͤndig zu ma-
chen, um die Erſcheinungen an dem Muſkel deſto gemaͤch-
licher zu zergliedern, nur ganz obenhin.
Robert Hooke, deſſen Wizz in Erfindung dergleichen
Hipoteſen, ſehr fruchtbar war, ſtellte die wechſelweiſe
Bewegung und Ruhe einer Muſkelfaſer, durch einen
Darm vor, welchen er wie eine Schnekke zog, und einen
geraden Faden daran anbrachte. Blies man den Darm
auf, ſo ward derſelbe kuͤrzer, und ſchnekkenfoͤrmig. War
er leer, ſo ward der Faden gerade, und der Darm waͤlzete
ſich wieder in eine Schnekke zuruͤkke (t).
Vor kurzem verglich der beruͤmte Kruſius die Faſer
mit einer Schnekke, in deren Gruben Nervenfaͤden be-
findlich waͤren, die die Schnekke verengern, und ein Ge-
wichte aufheben (u).
Vor kurzem trug auch der beruͤmte junge Mann, J.
Friedrich Kuͤhn(x), eine andere Mutmaſſung vor, welche
nicht nur von der wechſelweiſen Ruhe eines Muſkels, ſon-
dern auch von dem Unterſcheide zwiſchen den Muſkeln,
die dem Willen unterworfen ſind, und zwiſchen den Muſ-
keln, die von der bloſſen Nothwendigkeit regiert werden,
und auſſerdem beſtaͤndig wirken, Rechenſchaft gibt. Es
bilden ſich daher die Faſern in den willkuͤrlichen Muſkeln
zu wechſelweiſen und geſchlaͤngelten Windungen, welche
doch alle einander parallel ſind, zwiſchen welchen die Ner-
venfaſern frei durchlaufen. Dahingegen haben die Muſ-
keln, welche blos der Notwendigkeit des Reizes gehorchen,
zwar
[176]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
zwar wellenfoͤrmige Faſern, doch ſo, daß ſich die Bukkel
der Wellen einander zugekehrt ſind, und indem ſich ſelbige
beruͤren, ſo druͤkken ſie den dazwiſchen liegenden Nerven,
und entwenden ſich alſo die Urſache der Bewegung ſelbſt.
Jch uͤberlaſſe dieſe, und vielleicht noch andre Mutmaſ-
ſungen, der Ueberlegung des Leſers.
Wenn etwas einfach zu ſein ſcheinet, ſo iſt es gewis
die Hipoteſe von der gedrehten Faſer. Es ſcheint ſelbſt die
Zergliedrungskunſt dieſer Meinung das Wort zu reden.
Auſſerdem lehrt die Mechanik, daß todte angefeuchtete
Strikke blos von einigen Tropfen Waſſers kuͤrzer gemacht
werden, und unglaubliche Gewichter auf heben. Man
hat eine beruͤmte Geſchichte von dem Baumeiſter Fontana
(y), welcher, auf Befel des Pabſtes Sixtus des 5, einen
Obeliſk aufrichten wollte, und da die auf hebende Kraͤfte
nicht hinlaͤnglich waren, und bereits alles den Umſturz
drohte, die erſtaunliche Laſt mit angefeuchteten Strikken
in die Hoͤhe hob, und auf ihre Grundflaͤche niederſezzte.
Jch weiß, daß einige dieſes vor eine mechaniſche Fabel hal-
ten (z). Allein die Sache iſt an ſich ſelbſt wahr, indem
das Waſſer Strikke verkuͤrzt und Muͤlſteine ſpaltet, wenn
man (a) damit beide wie mit einem Thaue beſprengt. Man
hat auf ſolche Weiſe hundert Pfunde aufgehoben (a*).
Es hat zuerſt J. Majow(a**) und nach ihm Wal-
ter Charleton(b), ſo wie vor kurzem der beruͤmte Ber-
tier
[177]III. Abſchnitt. Urſachen.
tier(c) dieſen Verſuch zur Erklaͤrung der Muſkelbewe-
gung angewandt. Es begegnet zugleich der ſcharfſinnige
Mann einem Einwurfe, welchen man gegen dieſe Thaͤtig-
keit einer gedrehten Faſer, von der Langſamkeit ihrer Be-
wegung herzunehmen pflegt. Er fand naͤmlich, daß war-
mes Waſſer ein Strikk beſſer verkuͤrze, und daß ein Seil
mit kaltem Waſſer beſprengt, acht Zoll (d), mit heiſſem
hingegen zween Fus kuͤrzer werde; folglich koͤnne die Waͤr-
me des Blutes, wenn dieſes eine Faſer anfeuchtet (e), die
Bewegung ſchneller machen.
Doch wenn gleich die Hizze eines ſiedenden Waſſers,
die doch gewis groͤſſer iſt, als die Waͤrme im Blute, das
Seil etwas mehr verkuͤrzen kann, ſo iſt doch dieſer Vorteil
gegen die unglaubliche Geſchwindigkeit nichts, mit der die
Muſkeln ſpielen. Denn da das Waſſer, kraft der An-
ziehung in das Seil eindringt, und in die Hoͤhe ſteigt,
wie es uͤberhaupt zwiſchen zwo Glasplatten in die Hoͤhe
ſteigt, oder im Zukker eindringt, ſo kann dieſes niemals
anders, als langſam geſchehen, weil die Wege verdreht
und verwikkelt ſind, durch welche ſich das Waſſer hindurch
zieht, und ſelbiges nicht ehe die Anziehungskraͤfte eines
feſten Grundſtoffes empfindet, als bis es demſelben ganz
nahe koͤmmt, oder ihn beruͤhrt. Man betrachte nur, wie
langſam das Waſſer in eine zollhohe Piramide von Zuk-
ker, und in ein zolllanges Strikk eindringe. Jndem das
Waſſer nun dieſen Raum zuruͤkke legt, ſo durchlaͤuft die be-
wegende Kraft der Muſkeln tauſend Fus und druͤber (f).
Es dringt aber Waſſer geſchwinder ein, wenn Koͤr-
per, von denen es angezogen wird, trokken ſind, und
ſchwerlich, wenn ſolche feuchte ſind. Es ſind aber unſre
Faſern allezeit in einem feuchten Zuſtande.
Endlich iſt es noch nicht ausgemacht, daß die Faſern
gedreht ſind (g), und ich glaube, daß dieſes nur ſo zu
ſein ſcheine, weil ſehr kleine Zellfaͤden um dieſelbe herum-
liegen.
Wir koͤnnen auch dieſe Theorie bei dem Muſkelbaue
nicht uͤbergehen, und ſie iſt in der That die allereinfachſte.
Es meinet naͤmlich dieſer vortrefliche Mann, daß ein
jeglicher Muſkel aus zwo Sehnen, und aus Fleiſchfaſern
beſtehe, welche mit beiden Sehnen ſchiefe Winkel machen
(h), und dieſes finde uͤberhaupt in allen Thiergeſchlechtern
ſtatt (i).
Wenn ſich nun dieſe Winkel veraͤndern, und groͤſſer
werden, ſo erfolgen alle Erſcheinungen der Muſkelbewe-
gung (k), indem der Muſkel kuͤrzer werde, aufſchwelle,
und die Sehnen angezogen werden.
Dieſe ſinnreiche Muthmaſſung bekam Beifall (k*),
und ſie konnte auch dadurch noch beſtaͤrket werden, was
wir von der Verdrehung und den groͤſſer werdenden Win-
keln der Muſkelpaͤkke an den Ribbenmuſkeln bei deren
Spiele vorgetragen haben. Es hat aber auch Stephan
Hales an dem Muſkel eines Froſches, den er im Brenn-
punkte eines Brennſpiegels zur Bewegung brachte, die
Faſern zittren und ſich aus ihrer parallelen Lage in Rauten-
zuͤge (m) verwandeln geſehen, ob ſie gleich vielmehr aus
Rautenfiguren zu parallelen Koͤrpern haͤtten werden muͤſſen.
Allein der Bau laͤuft wider alle Warheit. Es ſind
dergleichen Muſkeln, deren Fleiſchfaſern mit beiden Seh-
nen ſchiefe Winkel machen ſollten, was Seltenes. Die
mereſten machen mit der Sehne ſehr ſpizze Winkel.
Wenn ja einige dieſen Bau zu haben ſcheinen, ſo ſind
es doch nicht die Elementarfaſern, ſondern die groſſen
und deutlichen Fleiſchſtreifen an den Muſkeln, welche dieſer
ſchiefen Richtung folgen.
Es vergiſt auch der vortrefliche Stenonius an einen
Vorrat von fluͤſſiger Materie zu gedenken, welche ſich nach
ſeiner Hipoteſe in die Zwiſchenraͤume der Faſern ergiſſen
muͤſte, wenn er ſelbige nicht leer laſſen will. Denn indem
ſich die Rauten in Vierekke verwandeln, ſo werden auch
zugleich ihre Flaͤchen weiter und geraͤumiger. Folglich
muſte man dieſe Rauten voll machen (n).
Es haben bereits vor langer Zeit beruͤmte Maͤnner
vermutet, daß in dieſer Bekleidung des Gehirns eine
Kraft, ſich zuſammen zu ziehen, anzutreffen ſei (o), und
da ſelbige nach allen Seiten des Koͤrpers ihre Fortſaͤzze
verſende (p), und ſelbſt die Muſkelfaſern von der harten
Gehirnhaut gebildet wuͤrden (q), ſo leiteten ſie die ver-
ſchiednen Bewegungen (q*), wie auch das Schlagen des
Herzens (r), nebſt allen andern Bewegungen (s), von der
zuſammenziehenden Kraft dieſer Membran her.
Doch es hat die harte Gehirnhaut ſo wenig ein Ver-
moͤgen, ſich zuſammen zu ziehen (t), als von ihr Nerven
(u) oder Muſkelfaſern entſpringen.
Wir haben bisher diejenige Lehrarten vorgetragen,
welche man uͤber den Bau der feſten Theile einer Faſer
ausgeſonnen. Da aber die meiſten von dieſen Hipoteſen
wenig Gruͤndlichkeit haben, um ein ſo groſſes Vermoͤgen
zu begreifen, als Muſkeln auszuuͤben gewont ſind, ſo nah-
men die vornemſten Schriftſteller des verfloſſnen Jarhun-
derts ihre Zuflucht zu dem Aufbrauſen widerwaͤrtiger Sal-
ze, um damit die Vorfaͤlle in der Phiſiologie zu erleutern.
Es trug zuerſt Thomas Willis(y), wiewohl auf eine be-
ſcheidene und mistrauiſche Art das Aufbrauſen zwiſchen
dem geiſtſalzigen Nervenfluͤſſigen, und dem ſchwefligen,
oder ſalpetrigen Blute vor. Saure Geiſter, und ein alka-
liſches Blut fuͤhrte J. Alphons Borellus(z) ein, weil
er durch eine groͤſſere Notwendigkeit zu dieſer Hipoteſe ver-
leitet wurde, da er ſelbſt geſtand, daß die Mechanik
der Muſkeln zur Verminderung, und nicht zur Verme-
rung derſelben angeordnet ſei. Daher konnte er ſaſt nicht
umhin, eine Kraft, wodurch Muſkeln ausgedehnt wuͤr-
den, und welche vom Zuſammenziehen der feſten Theile
verſchieden ſei, zu Huͤlfe zu nehmen. Dergleichen, naͤm-
lich einen Streit zwiſchen dem Nervenſafte und dem Blute,
und das daher ruͤhrende Verduͤnnen und Erweitern der
Faͤſergen, trug auch Bellin(a), Wilhelm Croone(b),
nebſt andern vor (c). Peter Chirac leitet die Sache von
dem luftigen Nitergeiſte, welcher mit den alkaliſchen Salzen
des Blutes in Kampf gerathe, her (d).
J. Bernoulli beſchreibt das Aufbrauſen in ſo fern
noch mechaniſcher, daß er die kleinen Stacheln der Gei-
ſter die Schalen der Blutkuͤgelgen durchboren laͤſt, um
dem elaſtiſchen Aether, der in der holen Blutkugel verbor-
gen liege, und auch bisweilen der Luft ſelbſt Plazz zu ma-
chen (e), damit dieſelbe herausdringen, und die Blaͤsgen
ausdehnen koͤnne (f).
Mit dieſem ſtimmet faſt die Theorie des Jakob Keils
(g) uͤberein. Dieſer will, daß die Kuͤgelgen des Blutes
Luft enthalten ſollen, die mit einer Blutrinde uͤberzogen
ſei. Es begegnen dieſen Kuͤgelgen in den lezzten Blaͤsgen,
die thieriſchen Geiſter. Jhre kleine Maſſen ziehen das
Blut ſehr an ſich (h), entreiſſen der Luft die Blutrinde,
und eignen ſich ſelbige ſelbſt zu. Solchergeſtalt dehne ſich
die befreite Luft, die bisher in einem Blutblaͤsgen gefan-
gen war, aus. Es entſtehe kurz darauf vom Geiſte und
Blute eine neue Rinde, in welche die wilde Luft einge-
ſchloſſen wuͤrde.
Nicht weit von dieſem Gleiſe entfernt ſich G. Ehr-
hard Hamberger(i), wenn er lehrt, daß ſich die thieri-
ſchen Geiſter an die Blutkuͤgelgen anhaͤngen, ſolche durch-
dringen, und daß ſie den Widerſtand mindern, den die
Blutrinde gegen die eingeſchloſſene Luft ausuͤbt, und da-
von ſchwellen die Kuͤgelgen des Blutes, oder des Salz-
waſſers auf.
J. Parſons leitet die Kraft der Muſkeln von der
Luft ſelbſt her, welche ſtuͤrmend die Faͤcher aufbleht, und
den Widerſtand der in den Zwiſchenraͤumen ſtekkenden
Luft auf hebt (k), indem zugleich die gedruͤkkte Blutadern,
vermittelſt des aufgehaltnen Blutes, das Schwellen eines
Muſkels verurſachen.
Ein anderer beruͤmter Mann leitet die Urſache
von einem Hauche her, welcher in den Zwiſchenraͤumen
der Faſern vorhanden ſei, und der aus unſern Saͤften und
dem Aether gemiſcht, beſtuͤnde (l).
Von der bewegenden Materie (m), die aus den klei-
nen Nerven in die offene Faſergaͤnge herausfare, und
ſolche erweitere, iſt ein andrer eingenommen, indeſſen daß
ein andrer die Sache von den elaſtiſchen Lufttheilgen her-
leitet, wovon die Faſern ausgedehnt wuͤrden (n). Hieher
koͤnnte man auch noch den Verſuch mit ziehen, aus wel-
chem erhellet, daß Raupen von der Laͤhmung uͤberfallen
werden, ſo bald man die Luftloͤcher an ihnen verſtopft (o).
Vor kurzem verband ein beruͤmter Mann mit dem
Zuſammenziehen ſo gar eine Exploſion (p).
Jſaak Newton iſt der erſte, welcher dem Aether das
Geſchaͤfte, unter der Einſchraͤnkung aufgetragen (q), daß
die Seele Kraft habe, den Aether im Muſkel zu verdich-
ten, und zu verduͤnnen. Denn wenn ſolchergeſtalt das
Gleichgewichte aufgehoben worden, ſo koͤnne im Muſkel
entweder ein Geſchwulſt oder eine Zuſammendruͤkkung er-
folgen, nachdem der innere Aether, uͤber den auſſen be-
findlichen Aether, die Oberhand bekoͤmmt, oder dagegen
vermoͤge der Verduͤnnung demſelben weichen mus. Die-
ſem fuͤgte Newton noch bei, es koͤnne der Aethergeiſt von
der Seele (r) in dieſen, oder jenen Nerven getrieben wer-
den, es wuͤrde aber das Herz ſein Schlagen ohne Bei-
huͤlfe der Seele behalten, wenn ſich in ſelbigem durch die
Gaͤrung der Saͤfte ein Aether von der Art erzeuge, der-
gleichen im Gehirne erzeugt wird.
Zu dem Aether nahmen die neuern Englaͤnder (s)
und der beruͤmte Keſler(t) ſeine Zuflucht, welcher ſich
ebenfals die Sache ſo vorſtellt, daß die in den Faſern ent-
haltene Feuchtigkeit von dieſem Elemente verduͤnnt wird.
Jakob Shebbeare(u) ſchreibt, daß ſich die ausge-
breitete Nerven in das Zellgewebe endigen, und daß die
Bewegung der Muſkeln von dem, durch den Willen da-
hin gelenkten Feuer verrichtet werde (x), das ſich in die
Faͤcher ergieſſe (x*) und die Blaͤsgen ausdehne. Dieſes
Feuer verfliege kurz darauf (y), die Elaſticitaͤt der Faſern
bekomme ihre erſte Geſchlankheit wieder (z), und eben die-
ſes ſei der Nuzzen des Zellgewebes (a). Daher komme es
daß die Muſkeln alle Bewegung verlieren, ſobald das
Zellgewebe zerſtoͤret wuͤrde (b).
Auf eine andre Weiſe bediente ſich der vortrefliche de
Sauvages der elektriſchen Materie. Es entfernen ſich
zween Fleiſchfaͤden, oder Hanf- und Seidenfaͤden, die mit
einem Ende verbunden ſind, und an einen elektriſirten Ei-
ſendrat feſte gemacht werden, von einander, ſobald man
elektriſirt, und ſie gehen deſto mehr von einander, je
ſtaͤrker die elektriſche Kraft iſt; ſie weichen auch von ein-
ander, wenn man ſie an beiden Seiten anbindet, und man
ſiehet daher, weil eben dergleichen am ganzen Muſkel von
allen Seiten geſchicht, daß daraus der geſchwollne Bauch
entſtehen muͤſſe (c). Es verfliege ein Theil dieſes elektri-
ſchen Fluͤſſigen und vielleicht ruͤhre von ihm das brennliche
Weſen im Fette her (d), das uͤbrige bleibe, weil es nicht
rein ſei, zuruͤkke. Hieraus entſtehe offenbar in dem vom
M 4elek-
[184]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
elektriſchen Funken getroffenen Muſkel (e) diejenige Be-
wegung, welche dieſer Muſkel habe.
Vielleicht laͤſſet ſich auch die groſſe Gewalt der Waͤr-
me, welche ſich auch bei der Muſkelbewegung ſo wie bei der
willkuͤrlichen aͤuſſert, hieher ziehen, indem Jnſekten ſowohl
in der Winterkaͤlte die willkuͤrliche Bewegung der Muſ-
keln verlieren, als ſolche von der Fruͤlingswaͤrme (f) oder
jeder andrer kuͤnſtlichen Waͤrme wieder erlangen. Es hat
ehedem Entius an den Schnekken (g), und an dem klo-
pfenden Herzen der Frucht Harvey ſolches wargenommen,
und wir haben bereits davon an einem andern Orte gere-
det. Doch es erlangen auch die Eidechſen ebenfalls, wenn
ſie im Winter unbeweglich ſind, am Feuer ihre Kraͤfte
mit der Waͤrme wieder (h), wie ſolches auch, was die
Thiere von warmen Blute betrift, von der Bergmaus (i)
von der Schwalbe (k) und vom Menſchen gilt. Denn
auch dieſer verliert in der Kaͤlte den Gebrauch ſeiner Fuͤſſe
und Haͤnde, und er erholt ſich bei der Waͤrme wieder.
Wir haben vorlaͤngſt gezeigt, daß im Blute keine wi-
derwaͤrtige Salze ſind (l) und daß davon keine Bewegun-
gen entſtehen. W. Charleton(l*) iſt einer von den
erſten, der ſolches angemerkt hat.
Es ſind auch nicht die Blutkuͤgelgen Luftblaſen (m)
und es wonet weder im Blute (n) noch in den Nerven ein
elaſtiſches Element (o).
Von dem Aether glaube ich (p), daß er ſich in unſren
Nerven nicht verſchlieſſen laſſe.
Daß der elektriſche Funken den Nerven in Bewegung
ſezze, iſt gewis, da ein Nerve die Reize am liebſten auf-
nimmt; es iſt aber gar nicht warſcheinlich, daß unſre Gei-
ſter mit der elektriſchen Materie einerlei Weſen haben (q).
Waͤrme gehoͤrt zwar zu allen Bewegungen, und es
hemmt die Kaͤlte die Reizbarkeit (r); allein es ſcheint nicht
die Waͤrme durch die Nerven, ſondern durch die Schlag-
adern in alle Theile des menſchlichen Koͤrpers einzudrin-
gen (s), und folglich kann ſolche auch nicht vermoͤge deſſen,
was wir vor kurzen erwaͤnt haben, Urſache von der Be-
wegung der Muſkeln ſein (t).
Es gibt nicht wenig beruͤmte Maͤnner, beſonders zu
unſren Zeiten, da man ſich aus den Hipoteſen wenig mehr
macht, welche uͤberhaupt das Gehirn (u) und die Nerven
(x) von aller Muſkelbewegung ausſchlieſſen, und zwar
auch aus dem Grunde, weil weder einige Empfindung,
noch einiger Reiz, die ſo groſſe Bewegungen zu erwekken
hinlaͤnglich iſt, die doch mit groͤſter Heftigkeit blos von der
Ausleerung der Gefaͤſſe hervorgebracht werden (y).
Folglich ſei das Zuſammenziehen der natuͤrliche Zu-
ſtand eines Muſkels (z), und ſolches ruͤhre blos von den
feſten Theilen her (a); das Erſchlaffen komme von den
Nerven und Lebensgeiſtern her (b), und es finde zwiſchen
dem natuͤrlichen und willkuͤrlichen Zuſammenziehen des
Muſkels kein Unterſchied ſtatt (c). Andere wollen,
daß die elaſtiſche Kraft der feſten Theile ein groͤſſeres Ver-
moͤgen habe (c*), und der beruͤmte Perrault(c**), von
der Stahliſchen Partei, ſchreibt das Zuſammenziehen,
welches den Membranfaſern eigen ſei, die Bewegung des
Muſkels zu.
Es iſt dieſes wenigſtens die allereinfachſte unter den
uͤbrigen Hipoteſen; allein, ſie iſt deswegen nicht ſo gleich
wahr, und ſie entſteht aus Vermiſchung der eingepflanz-
ten Bewegung, mit der Bewegung, die von den Ner-
ven herſtammt. So paſſet auch dieſe Theorie nicht mit
den Erſcheinungen zuſammen, indem ſelbige lehren, daß
die heftigſte Bewegungen hervorgebracht werden, ſobald
man einen Nerven reizt (d), und daß ſolche auf hoͤren,
wenn man ihn bindet (e), (indem blos noch ein Klopfen
uͤbrig bleibt) daß ſie nach ſeiner Befreiung oder Entbin-
dung wiederkommen, und nach ſeiner Zerſchneidung nicht,
als nur bisweilen lange Zeit hernach erſt wiederkommen
(g). Obgleich einige Bewegungen ferner, entweder einzig
und allein, oder doch hauptſaͤchlich, von der angebornen
reiz-
(f)
[187]III. Abſchnitt. Urſachen.
reizbaren Kraft, ohne alle Nervenkraft vollbracht werden
(h), wenn gleich der Muſkel herausgeſchnitten, und das
Thier todt iſt, ſo haͤngen doch in der That die groͤſten und
maͤchtigſten Bewegungen der Muſkeln von der Nerven-
kraft ab. Es iſt die Bewegung viel ſchneller, und lebhaf-
ter (i), wenn der Wille den Deltamuſkel anſtrengt, und
viel matter, wenn ſelbiger Muſkel an einem abgehauenen
Gliede oder gebundenen Nerven klopft.
Es zeigt Borell(k), und es ſind die Erfarungen auf
ſeiner Seite, daß ſich ein Muſkel eines todten Koͤrpers
von einigen wenigen Pfunden leicht zerreiſſen laſſe, da er
doch dieſes Gewichte, als er noch ſein Leben hatte, leicht
tragen konnte. So koͤnnen die Beugemuſkeln des Schien-
beins, die doch den ganzen Koͤrper im Gehen tragen, von
wenig angehaͤngten Pfunden (l) zerriſſen werden. Sie
zerreiſſen zwar auch an lebendigen Koͤrpern bisweilen,
aber hoͤchſt ſelten, und nur nach den heftigſten Anſtren-
gungen (m).
Endlich gelangen die Befele der Seele ſelbſt bis zu den
Muſkeln hin. Dieſe aber erzeugen, es mag geſchehen,
auf welche Weiſe es wolle, diejenige Bewegung, wodurch
Muſkeln thaͤtig werden, und ſogar Gewichter aufheben.
Es gelangen aber die Befele des Willens zu den Muſkeln,
blos vermittelſt der Nerven, und es hat die Seele uͤber
dieſe noch ſo geſunde Muſkeln, wenn deren Nerven ge-
druͤkkt oder zerſchnitten werden, oder alsdenn uͤberhaupt
keine Gewalt, wenn das Gehirn gehemmt worden. Folg-
lich
[188]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
lich erzeugt die Seele nicht dieſe Kraft in den Muſkeln
ſelbſt, womit ſie ſpielen, ſondern ſie ſenden ihnen ſolche,
ſie ſei auch, wie ſie ſei, durch den Canal der Nerven zu (n).
Die Sache ſcheint mir in ſo weit klar zu ſein, daß ich
glaube, die natuͤrliche und angeborne Kraft ſich zuſammen
zu ziehen, die ein Muſkel hat, laſſe ſich durch den Einflus
des Willens vergroͤſſern. Da aber was koͤrperliches dazu
gehoͤrt, welches die Maſſe eines Muſkels vergroͤſſere, und
denſelben haͤrter und kuͤrzer macht, ſo ſcheint mir dazu
eine, obwohl unbekannte (o), dennoch aber aͤuſſerſt
ſchnelle und ſubtile Nervenfluͤſſigkeit, das allerwarſchein-
lichſte zu ſein, welches ſich wie ein Reizmittel verhaͤlt, und
die Elementen einer Fleiſchfaſer nach ihrer durchdringenden
Subtilheit von allen Seiten reizet, ſich zuſammenzuziehen.
Jch ſtelle mir die Sache ſo vor, wie die elektriſche Materie
(p) auch im Muſkel die groͤſte Bewegungen, ohne alle
Beihuͤlfe des Willens, erregt, nicht als ob beide Elementen
von einerlei Natur waͤren, ſondern weil beide (q) einerlei
aͤuſſerſte Geſchwindigkeit beſizzen, und ſich allen Elementen
hurtig naͤhern koͤnnen. Jch halte aber, nach dem oben
Erwaͤnten davor, daß ſich der Leim (r) von dem Reize
des Nervenſaftes viel eher, als der irdene Grundteil in
Bewegung ſezzen laſſe.
Man bildet ſich gemeiniglich ein, daß der Wille ein
ſubtiles Element in die Nerven, und folglich auch in die
Muſkeln, einfuͤhre. Zu dieſem Einfuͤhren aber gehoͤrt
eine Kraft, und die Entelechia, von der die Folge iſt,
daß im Nervenfluͤſſigen eine Bewegung hervorgebracht
wird, vermoͤge welcher dieſes Fluͤſſige, noch gewaltſamer,
als vorher, in die Muſkeln eindringt. Es iſt nun die
Frage, was dieſes Vermoͤgen vor eine Urſache habe.
Die Stahlianer, und welche ſonſt den phiſiſchen
Einflus verfechten, ſagen, es ſei die Seele. Jhr komme
es zu, entweder fuͤr ſich allein (s), oder wenigſtens doch zu-
gleich nebſt dem Koͤrper, Bewegungen zu erzeugen. Folg-
lich wuͤrde von der Seele eine neue Bewegung erzeugt
werden, vermoͤge welcher die Nervengeiſter in den Delta-
muſkel eindringen muͤſten, ſo oft ich dieſes haben wollte.
Jch mag mich in dieſe ſchwere Fragen nicht einlaſſen
und ſie kurz zu beruͤren, iſt mir nicht moͤglich. Es be-
hauptet demnach Karteſius, Leibniz, und die meiſten
Mathematiker, daß in der ganzen Natur keine neue Be-
wegung entſtehe oder verſchwinde; daß hingegen Koͤrper
nach dem Kreiſe ſtoſſen und geſtoſſen werden, und daß in
einem Theile des Ganzen, von der Bewegung ſo viel verlo-
ren gehe, als dem andern Theile zuwachſe; da Neuton
gegenteils, mit Genemhaltung der ganzen Natur, behau-
ptet, daß ſich neue Bewegungen erzeugen, und die alten
zernichten laſſen. Folglich wuͤrde diejenige Bewegung,
welche meinen Nervenſaft mit Gewalt in den Deltamuſ-
kel treibt, von der Seele nicht hervorgebracht werden.
Man hat die Sache von einer andern Seite her an-
gegriffen, um den Urſprung dieſer Entelechia zu erklaͤ-
ren.
[190]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
ren. Karteſius ſchreibt die Urſache Gott zu (t), wel-
cher, bei Gelegenheit der in der Seele entſtandnen Ge-
danken, Bewegungen entſtehen laͤſſet, welche mit dieſen
Gedanken verwant ſind.
Da es auf ſolche Weiſe das Anſehn hatte, daß Gott,
bei gottloſen Gedanken, im Koͤrper unanſtaͤndige Bewe-
gungen hervorbringe, ſo behauptete Gottfried Willhelm
Leibniz, daß das goͤttliche Geſezz, nicht zur Erzeugung
der einzelnen Bewegung des menſchlichen Koͤrpers, ſon-
dern zur Erzeugung der ſaͤmtlichen Bewegungen gegeben
ſei, vermoͤge deſſen die Seele, und der mit der Seele ver-
einigte Koͤrper, kraft der vorherbeſtimmten Harmo-
nie, von dem erſten Entſtehn eines Menſchen an, derge-
ſtalt mit einander vereinigt waͤren, daß im Koͤrper, bei
einem gewiſſen Gedanken, oder auf Verlangen der Seele,
eine Bewegung zum Vorſchein komme, welche geſchikkt
ſei, dieſes Verlangen zu ſtillen. Und auf dieſe Meinung
lenkte ſich auch unſer ehemaliger Lehrer.
Wenn ich alſo, um ein Exempel zu haben, den Arm
aufheben will, ſo ruͤhrt die Bewegung, welche den Delta-
muſkel zuſammenzieht, und den Arm auf hebt, nicht von
der Seele her, ſondern es erzeugt ſich dieſe Bewegung
nach dem laͤngſt beſtimmten Geſezze im Koͤrper, und zwar
ohne allen phiſiſchen Einflus der Seele.
Jch geſtehe es, daß mir dieſe Meinung, nachdem ich
die Erſcheinungen bei derſelben in Erwegung gezogen,
beſſer gefaͤllt. Denn ob gleich einige Verteidiger der
Stahliſchen Theorie (u) die Sache leugnen, ſo iſt doch
gewis, daß ſich die Seele eine einzige Sache deutlich vor-
ſtelle, und eine einzige Sache gedenke. Waͤrend des
Gedenkens ſpricht ſie einen Buchſtaben nach dem andern
aus
[191]III. Abſchnitt. Urſachen.
aus, uͤberhaupt, wie man lieſet, und ſie nennt nicht zween
Buchſtaben zugleich. Auſſerdem kann ſie dunkel em-
pfinden, und Schmerzen oder Wolluſt fuͤlen, aber ſich
nichts deutlich weiter vorſtellen. Wenn ſie ſiehet, ſo ſieht
ſie nur einen einzigen Punkt auf einmal deutlich, weil ſie,
wenn ſie lieſet, Buchſtaben vor Buchſtaben ausſpricht,
und nur einen einzigen deutlich ſieht, die uͤbrigen aber nach
der Reihe mit dem Auge und Kopfe verfolget.
Dieſes waren des Boerhaavens(x), und meine
Gedanken, als Robert Whytt(y) dawider ſchrieb. Es
koͤmmt aber der Einwurf dieſes Mannes darauf an, daß
ſich nebſt der deutlichen Jdee, noch andre undeutliche in
der Seele zugleich vorſtellen laſſen. Und das iſt auch
ausgemacht, weil ich das ganze Buch vor mir ſehe, wenn
ich einen einzigen Buchſtaben leſe. Doch dadurch leidet
unſer Schlus nichts.
Nunmehr ſage ich, wie es gar nicht ſcheine, daß unſre
Seele, welche ſich nur eine einzige Sache deutlich vorſtellt,
ſo viel Muſkeln im Koͤrper in Bewegung ſezzen koͤnne,
welche ſie doch wirklich, ſo oft ſie will, in Bewegung ſezzt.
Wir wollen einen Sprung vor uns nehmen, man ſoll uͤber
einen Graben, der vier Fus breit iſt, ſezzen. Die Seele
bequemt ſich dazu. Es ſtoſſen demnach die gebogne Fuͤſſe,
nachdem die Bewegung beliebt worden, von der Erde ab,
es heben die Ausſtrekker des Schienbeins, und die Beuger
der Huͤfte den Leib in die Hoͤhe, ſie entfernen ihn von der
Erde, der Leib wirft ſich vorwerts hin, und erreicht den
Ort, wohin die Seele den Koͤrper beſtimmt hatte.
Die Seele hat von den Muſkeln, welche ſie regiert,
keine Kenntnis (z), und ſie macht ſich von der aͤuſſerſt
ſchweren Aequation keinen Begriff, durch welche das
Gleich-
[192]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Gleichgewichte ſo vieler Muſkeln am ganzen Koͤrper, und
das Ausſtrekken oder Beugen ſo vieler Gliedmaßen, zu
dem beſtimmten Endzwekke abgewogen wird.
Es muͤſte die Seele von allen dem Willen unterwor-
fenen Werkzeugen eine Landkarte vor Augen, und auf das
allergegenwaͤrtigſte vor ſich haben, um nach ſelbiger beſſer,
als auf dem albiniſchen Kupfer, die helfende, thaͤtige,
lenkende, beitretende, und uͤbrige Muſkeln, zu der beſtim-
ten Bewegung anzuſtrengen. Allein, wir kennen dieſe
Karte ſo wenig, daß wir nicht einmal im Schmerzen die
rechte Stelle genau treffen koͤnnen.
Jch uͤbergehe, daß, nach der Theorie unſrer Gegner,
auch die dem Willen nicht unterworfne Werkzeuge (a)
ebenfalls von dem Winke der Seelen regiert werden, und
daß alle Gefaͤſſe, durch den motus tonicus, den andre
Neuere die Schwingungskraft des Lebens (oſcillatorius
vitali,) nennen, bald nachgelaſſen, bald verengert werden,
damit die beſondre und rechtmaͤßige Geſchwindigkeit in dem
Umlaufe der Saͤfte erhalten werden moͤge.
Es mus uns dieſe unendliche Menge Jdeen ſo wenig
zur Laſt fallen, daß wir ſie als gegenwaͤrtig empfinden und
regieren, ob wir gleich nicht einmal wiſſen, daß wir eine
ſo groſſe Beſchwerlichkeit zu ertragen haben, und zu den
feinſten Betrachtungen vollkommen geſchikkt ſind, welche
dennoch von den geringſten Stoͤrungen der Sinne ſo
leicht aus ihrer Sphaͤre gebracht werden; welches aber
alles wider die Erfarung laͤuft. —
Gewonheit erwirbt Fertigkeiten: wir haben durch
Fallen ſpringen gelernt. Dieſes aber verhaͤlt ſich nicht
ſo (b). Es haben Thiere, welche uͤberhaupt haͤrtere
Knochen beſizzen, wenn ſie an des Tages Licht gebracht
werden, nichts gelernt, nichts verſucht, und dennoch laͤuft
das Lamm, wenn es die Gebaͤrmutter verlaͤſt, es folgt der
Mutter
[193]III. Abſchnitt. Urſachen.
Mutter nach, und ſaugt an den Eitern. Die Biene,
dieſe kuͤnſtliche Bearbeiterin des Wachſes und des Honigs,
wird kaum aus einer Made zur Fliege, als ſie ſchon mit
allen vereinigten Kraͤften ihres kleinen Leibes Wachs und
Honig zu ſammeln weis, und ein ſo ſchweres Problem
aufzuloͤſen verſteht, wie naͤmlich der ſtumfe Winkel des
Dekkels ſo beſchaffen ſein muͤſſe, um das Zellgen an der
Wachstafel mit dem kleinſten Aufwande Wachs zu verſie-
geln (b*). Die Seele eines Schmetterlings, welche in
der ehemaligen Raupe andre Gliedmaßen hatte, verſteht,
ſo bald ſie aus der Puppenhuͤlſe gekrochen, die Fluͤgel zu
entwikkeln, und die ihr unbekannte Luft zu durchſtreichen.
Der ohnlaͤngſt geborne Polipus faͤngt ſich Waſſerwuͤrmer-
gen, und er bezeugt ſich nicht traͤger, als ſeine Mutter,
aus deren Seite er vor kurzem hervorwuchs. Die Voͤgel
ſtimmen, einer leichter, als der andre, den gehoͤrten Ge-
ſang an, um denſelben vermittelſt ihrer Werkzeuge nach-
zuamen. Selbſt das neugeborne Kind weinet, ſauget,
und ſchlingt die Milch hernieder. Es weis ſich einer
Menge Muſkeln, die ſich waͤrend dem Einatmen verei-
nigen, und die es nie vorher verſucht, dergeſtalt zu gebrau-
chen, daß die niemals gekoſtete und begerte Milch, wenn
es die Warze der Bruſt niederdruͤkkt, in den Magen
flieſſen kann. Eben dieſes Kind verſteht zu weinen, und
eine Stimme von ſich zu geben, wenn es noch in der
Mutterſcheide halb lebendig ſtekkt, es muͤſſen aber unzaͤ-
liche Muſkeln zuſammen treten, um das Kindergeſchrei
hervorzubringen. Endlich entſtehen dieſe Bewegungen
in den Pflanzen, welche zur Abſonderung der Saͤfte, zur
Ernaͤhrung, Wachstum, zur Fortpflanzung ihrer Art,
noͤtig ſind, oder auch diejenige Bewegungen, vermittelſt
deren einige Pflanzen das Licht fliehen, oder ſuchen;
ferner die Bewegungen, welche offenbar den Reiz nicht
ver-
H. Phiſiol. 5. B. N
[194]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
vertragen, oder auch den reifen Saamen auswerfen: alle
dieſe ſo verſchiedne Bewegungen, welche zu einerlei Zeit,
nach ihrem verſchiednen Gebrauche, aufgefordert werden,
entſtehen, ohne daß man auf die Seele Verdacht werfen
kann (c), und wir haben dieſes hier wiederholt, weil wir
es vor noͤtig finden.
Wenn ich nun die Seele einiger maßen kenne, und
von der Urſache einen Begriff habe, ſo ſcheint die Seele
keine Urſache von einer ſolchen Bewegung zu ſein, von der
ſie weder die Jnſtrumenten, noch das Maas im geringſten
kennt, die ſie vorher nie gebraucht, und dennoch jezzt zu
gebrauchen weis, die unzaͤlbar ſind, dennoch aber alle zu-
gleich, und auf einmal, wiewohl nach hoͤchſt verſchiednen
Maaßen, wirken.
Folglich ſcheint mir diejenige Meinung der Warheit
am naͤchſten zu kommen, nach der nicht von dem Einfluſſe
der Seele in den Koͤrper die Entelechia, oder wirkſame
Urſache der neuen Bewegung herruͤhrt, ſondern in den
Nerven und Muſkeln, nach dem Willen der Seele, der-
gleichen Bewegung entſteht, welche erfordert wird, um die
Befele der Seele auszurichten. Wie dieſes Geſezze aber
beſchaffen, und ob dieſes eine neue Bewegung ſei, welche
aus dem Willen entſpringt, ob dieſes eine Bewegung eines
von andern Orten her beweglichen Elements ſei, welches
ſich, blos zur Bewegung des Muſkels, anhaͤuft, davon
geſtehe ich, daß ich nicht das geringſte weis. Wir ſehen
die Folge von der Bewegung, naͤmlich die Verſezzung der
Koͤrper an andre Oerter, vor uns, ob wir gleich die Natur
der Bewegung nicht verſtehen.
Wie es dem Muſkel weſentlich iſt, ſich zuſammen zu
ziehen, ſo iſt es ihm noch viel natuͤrlicher, ſchlaff zu wer-
den
[195]III. Abſchnitt. Urſachen.
den (d). Es iſt naͤmlich die Kraft des Willens gemei-
niglich von kurzer Dauer, und ſie verſchwindet gleichſam
den Augenblikk mit allen ihren Erſcheinungen wieder,
indem die Faſer diejenige Erſchlaffung und Laͤnge wieder
bekoͤmmt (e), aus der ſie durch den Willen verruͤkkt wor-
den, und die ſie, ſowohl ſich ſelbſten uͤberlaſſen, als auch
im Tode ſo gar uͤbrig behaͤlt. Dieſe Erſchlaffung (f) iſt
nicht blos eine Traͤgheit; denn es zieht ſich ein Muſkel,
den man in ſeinem allerſchlaffſten Zuſtande entzwei ſchnei-
det, ſtark zuruͤkke. Sondern ſie iſt nur eine Abweſenheit
des ſtaͤrkern Zuſammenziehens, welches vom Willen her-
ruͤhrte.
Man verlangt die Urſache zu wiſſen, welche den Muſ-
kel in dieſen Zuſtand verſezzt. Die Mehreſten fuͤhren hier
die Gegenmuſkeln an (g), welche mit Beſchwerlichkeit
ausgedehnt ſind von den zuſammengezognen Gegnern,
und ſolche wechſelsweiſe durch ihr Zuſammenziehen mit
ausdehnen.
Andre ſagen, das kurz zuvor gehemmte Blut oͤffne ſich
einen Weg in den Muſkel (h), und mache alſo den Muſ-
kel lang und weich.
Andre verbinden beide Handlungen mit einander (i).
Andre ſchreiben uͤberhaupt den Nervengeiſtern nicht
das Zuſammenziehen, ſondern das Erſchlaffen zu (k).
Noch andre, welche an der Fleiſchfafer Blaͤsgen be-
haupten, und deren Ausdehnung von den Geiſtern her-
ſchreiben, ſchreiben das Erſchlaffen dieſer Blaͤsgen dem
natuͤrlichen Zuſammenziehen (l) zu.
Wir haben einige von dieſen Hipoteſen ſchon an dem
Orte erwogen, wo wir die Urſachen des Zuſammenziehens
unterſuchten. Es tritt naͤmlich das Blut eben ſo wenig
aus einem zuſammengezognen Muſkel (m), als es in
einen erſchlaffenden eindringt (n).
Wir haben hier das Wechſelſpiel der Gegenmuſkeln
nicht noͤtig; indem ſich die Faſern des Herzens ſchlaff
machen, und zuſammenziehen, ohngeachtet ſie keinen
Gegner haben. Es findet auch in einem und eben dem-
ſelben einzelnen Muſkel, welcher keinen Gegner hat, den-
noch das Wechſeln des Zuſammenziehens und Erſchlaffens
ſtatt (o). Endlich folgt erſt die Handlung eines Gegners,
wenn die zuſammenziehende Nervenkraft aus dem wirken-
den Muſkel zuruͤkke gewichen. Man kann nun bei der
einfachern Hipoteſe, welche wir den uͤbrigen vorgezogen
haben, die Erſchlaffung des Muſkels, der Unterbrechung
des Zufluſſes der Nervengeiſter, welche den Faſerleim zum
Zuſammenziehen vermoͤgen und reizen, zuſchreiben. Sol-
chergeſtalt wird zwar die Zuſammenziehungskraft bleiben,
ſie wird aber nur ſo maͤßig ſein, als ſie an einem ſchlaffen
oder erſchlafften Muſkel iſt. Es koͤnnte aber, nach dem
Belieben der Seele, entweder die geſamte Nervenkraft
den Muſkel dergeſtalt verlaſſen, daß er vollkommen er-
ſchlafft, oder nur ein Theil dieſer Gewalt verloren gehen,
daß ſich ein Muſkel nur um die Helfte, oder noch weniger,
zuſammen zu ziehen vermag.
Jndeſſen bleibt hier doch noch ein Knoten uͤbrig, wel-
cher mir viel Muͤhe zu machen ſcheint. Wo geht dieſer
Nervengeiſt hin, welcher, wenn er uͤberfluͤßig in den
Muſkel eindrang, am Muſkel eine Bewegung hervor-
brachte? Es mus aber gezeiget werden, wohin ſich der-
ſelbe ſo ploͤzzlich zuruͤkke ziehe, indem ein Tonkuͤnſtler ſchnel-
ler, als in einem Augenblikke, einige Fingermuſkeln
erſchlaffen laͤſt, indem er andre in Bewegung ſezzt.
Kehren die Geiſter wieder ins Gehirn (o*), oder
in das allgemeine Nervenbehaͤltnis zuruͤkke, welches man
vor ein Siſtem elektriſcher Saiten halten koͤnnte, das
von einer geiſtigen Fluͤſſigkeit, wie die Saiten von der
elektriſchen Materie, angefuͤllt waͤren.
Es ſcheinet dieſe Erklaͤrung mit einer gewiſſen Muͤdig-
keit nicht uͤberein zu ſtimmen, welche man bei der Bewe-
gung der Muſkeln gewar wird, und welche die Kraͤfte
dergeſtalt erſchoͤpft, daß man eine Menge Geſchichte von
Helden lieſet, welche blos von der Ermuͤdung ſo entkraͤf-
tet worden, daß ſie nach langem Widerſtande, lieber den
toͤdtlichen Streich erwaͤlt, als daß ſie die zu ſehr entkraͤf-
tete Aerme laͤnger gebrauchen wollen.
Es ſcheinet dieſe Ermuͤdung von der Verſchwendung
des zur Muſkelbewegung notwendigen Nervenſaftes her-
zuruͤhren, indem ſie durch Speiſe und Trank, beſonders
durch geiſtige Getraͤnke viel geſchwinder, als durch bloſſe
Ruhe wieder verbeſſert wird. Folglich ſcheint es mir nicht
rathſam zu ſein, die Geiſter von den kleinſten einſaugenden
Blutaͤdergen der Muſkelfaſer wieder aufnehmen zu laſſen,
von denen der vortrefliche Kaauw(p) ſchreibt, daß ſie
waͤrend des Aufſchwellens des Muſkels zuſammengedruͤkkt,
und bald darauf wieder nachgelaſſen werden, die Geiſter
wieder einſaugen, und ſolche den Blutadern wieder uͤber-
liefern. Denn auf ſolche Art wuͤrde der Bewegungsſaft
eben ſo wenig verloren gehen.
Daß ſich die Lebensgeiſter in den Sehnen, als in
Vorrathshaͤuſern (q), verſammeln ſollen, iſt nur eine
bloſſe Vermutung.
Verzehrt ſich uͤberhaupt der Nervengeiſt, waͤrend der
Handlung auf ſolche Art (r), wie man von den widrigen
N 3Sal-
[198]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Salzen ſagen koͤnnte, welche nach dem Aufbrauſen zwar
nicht verſchwinden, dennoch aber durch den gegenſeitigen
Kampf ſtumpf, und zu einem traͤgen Koͤrper werden?
Allein, es findet in der Thaͤtigkeit der Muſkeln kein Streit
gegenſeitiger Salze ſtatt (s).
Oder duͤnſten die Geiſter erſt wohin aus, und ver-
liert man durch die Bewegung ſo viel Geiſter, als durch
die Schweisloͤcher der bewegten Faſer, die zwar ſehr
klein, aber doch noch ſo gros ſind, daß davon eine Faſer
aufſchwellen kann, obgleich unmer etwas verloren geht (t),
entwiſchen koͤnnen?
Oder haͤngt ſich vielmehr etwas von den Nervengei-
ſtern an den Leim des Muſkels an? und verwandelt es
ſich in ſeiner Verhindung zu einer feſten Maſſe, wie wir
geſagt haben, daß ſich die Luft an den Leim anhaͤngt (u)?
Oder hat es damit eben die Beſchaffenheit, wie Muſkeln
ſtaͤrker, und auch dikker werden, wenn ſie oͤfters ange-
ſtrengt werden (x)? Ruͤhren davon die derben Muſkel-
koͤrper der alten Ringer, und der Vorzug der rechten
Hand her, welche nicht bei allen Menſchen, oder bei neu-
gebornen Kindern einerlei iſt, und von der Nachahmung,
und dem oͤftern Gebrauche des rechten Armes herzukom-
men ſcheint (x*).
Es ſei damit beſchaffen, wie es wolle, ſo ſcheint ſich
doch die Bewegungskraft allmaͤlich zu verzeren. Es kann
der Schmerz an dem wirkſamen Muſkel von den oftmali-
gen Abwechſelungen des Biegens, und Ausſtrekkens ent-
ſtehen, denn dieſes vertraͤgt keine auch nicht einmal eine
metalliſche Faſer (y). Jch habe an den geraden und aus-
ſtrek-
[199]III. Abſchnitt. Urſachen.
ſtrekkenden Muſkeln des Schienbeins einen faſt unertraͤg-
lichen Schmerz erlitten, da ich zween ganzer Tage die
Klausthaliſche und Goslariſche Gruben bereiſte und auf
Leitern, welche wenigſtens 700 Fus hoch waren, in die
tiefſte Gruben herabſtieg Jch finde uͤberhaupt, daß
lange Muſkeln am leichteſten muͤde werden, und daß da-
her groſſe Thiere weniger, als kleine arbeiten koͤnnen (z).
Die Laſttraͤger tragen zu London den ganzen Tag uͤber 300
Pfunde (a), da ein Pferd kaum eine Zeitlang 240 Pfunde
zieht (b), und kein Pferd 2000 Pfunde zu tragen ver-
mag (c). Die Voͤgel halten in der Arbeit laͤnger aus.
Man faͤngt oft kleine Voͤgel, weit vom Ufer und mitten
auf dem Meere (d). Die Fiſche thun die laͤngſte Reiſen,
aber ſie werden vom Waſſer getragen. Jn allen Thieren
verrichtet das Herz, ohne Ermuͤdung und Schmerz, die
dauerhafteſte Bewegung; es arbeiten aber auch die Ner-
ven bei den Herzſchlaͤgen, entweder ſehr wenig, oder
auch ganz und gar nicht (e).
Es iſt der erſte Nuzzen, den die Muſkeln verſchaffen, die-
ſer, daß ſie, nach dem Willen der Seele, entweder
den ganzen Leib, oder doch einige Theile deſſelben, von
einem Orte zum andern verſezzen. Es bewegen diejenigen
Thiere, welche gleichſam mit einer unbeweglichen Wurzel
in dem Jnwendigen einer Meerpflanze ſtekken, und in ſo
fern unbeweglich ſind, dennoch ihre Hoͤrner (f), und
Werkzeuge, womit ſie ihre Nahrung ſuchen, ſehr geſchwin-
de, und es gibt kein ſo traͤges Pflanzenthier, das ſich nicht
beim Beruͤhren zuſammenzoͤge, und ſich wieder ausdehnen,
und ſchmaͤler machen koͤnnte (g). Folglich iſt die willkuͤrliche
Bewegung uͤberhaupt das Merkmal eines thieriſchen Lebens,
wodurch es ſich von dem Pflanzenleben unterſcheiden laͤſſet.
Daher haͤlt man die Saamenthiergen fuͤr wirkliche Thiere,
weil ſie dergleichen Bewegung zu haben ſcheinen, und
weder eine gewiſſe Richtung halten, noch untuͤchtig ſind,
ſich in Acht zu nehmen, noch auf die vorſtehende Gegen-
ſtaͤnde anſtoſſen. Da nun Pflanzen nichts willkuͤrliches an
ſich haben, ſo haben ſie auch keine Muſkeln.
Wir koͤnnen uns nicht in alle thieriſche Bewegungen
hier einlaſſen. Die Phiſiologie hat blos einige, als das
Kaͤuen, Hinabſchlukken, Reden, Atemholen, Auswerfen
des Saamens, Ausleeren des Kotes, und die Bewegung
der
[201]IV. Abſchnitt. Thieriſche Beweg. Nuzzen.
der Augen naturaliſirt. Sie iſt gewont, die meiſten auſ-
ſer Acht zu laſſen. Jndeſſen wollen wir doch einige der
vorzuͤglichſten Bewegungen, die im menſchlichen Leben am
oͤfterſten vorkommen, einiger maßen kuͤrzlich entwerfen.
Der Menſch allein kann mit einiger Sicherheit eine
Zeitlang ſtehen, ob der Baͤr gleich einen breiten Fus hat,
und den Koͤrper zum Kampfe in die Hoͤhe richtet. So
kann auch der Affe (h), und noch beſſer der Pigmaͤe (i),
ſtehen. Jndeſſen hat doch der Menſch einen breitern Fus,
und es iſt inſonderheit deſſen inwendiger Theil feſter; und
ſo hat der einzige Menſch vor allen andern Thieren den
groſſen Zee, welcher feſter und laͤnger als alle uͤbrige Zeen
iſt, da derſelbe auch am Affen kuͤrzer, und dem Daumen
aͤnlich iſt. Folglich koͤnnen alle Voͤlker des menſchlichen
Geſchlechtes ſtehen, und es haben auch diejenige wilde
Maͤgdgen, welche unter den Thieren in Wildniſſen gros
gewachſen, und welche fern von aller menſchlichen Erzie-
hung ohnlaͤngſt in Frankreich gefunden worden, ſtehen
koͤnnen.
Wenn ein Menſch ſtehen ſoll, ſo mus die ſenkrechte
Linie, welche zwiſchen dem Schamknochen und dem Hin-
tern, durch den Mittelpunkt der Schwere durchgeht (k),
in den vierſeitigen Raum einfallen, der ſich zwiſchen den
zwo Fusſolen befindet (l), oder ſie mus auf die Fusſole
ſelbſt fallen, wofern der Menſch auf dieſem Fuſſe allein
zu ſtehen beliebt, und dieſe Bewegung kann kein einziges
vierfuͤſſiges Thier, auch nicht auf einen Augenblikk, nach-
machen.
Doch es wuͤrde zum Stehen nicht hinlaͤnglich ſein,
den todten Koͤrper ſo zu ſtellen, daß ſeine Fusſolen den-
jenigen Raum beſchrieben, worinnen ſein Schwerpunkt
liegt. Denn da der Menſch bewegliche Gelenke hat, und
da ſein Kopf und Unterleib vorne mehr vorliegen (m),
als irgend ein andrer Theil hinterwerts vorragt, ſo wuͤrde
ein todter Koͤrper, weil ſich die Gelenke ſo gleich biegen
und niederſinken, umfallen, und nach vorne zu ſinken.
Es gehoͤret demnach eine unendliche Menge Muſkeln dazu,
wenn wir uns aufrecht erhalten wollen. Wir wollen von
dieſen Kraͤften kuͤrzlich handeln.
Man pflegt alſo die Fusſolen beider Fuͤſſe, ſo eben als
moͤglich auf die Erde zu ſezzen; und ſie geben einen deſto
feſteren Stand, wenn man die Fuͤſſe etwas von einander
zieht, die groſſen Zeen auswerts kehrt, und einen groͤſſern
Standraum einnimmt. Zugleich ſcheinen die Beugemuſ-
keln der Zeen, ſonderlich wenn man recht feſte ſtehen will,
ihre Zeen gegen die Erde zu kruͤmmen.
Da aber nicht die Mitte des Fuſſes das Schienbein
auf ſich traͤgt, ſondern uͤberhaupt ein viel groͤſſrer Theil
mehr nach vorne, als dieſes Gelenke, und ein andrer Theil
nach hintenzu vorliegt, ſo mus das Schienbein gegen den
Fus, der der Pfeiler des ganzen Leibes iſt, dergeſtalt geruͤkkt
werden, daß er nicht nach vorne falle. Dieſes geſchicht
mit Huͤlfe der groſſen Wadenmuſkeln, und des Fusſolen-
muſkels, welche das Schienbein und die unterſte Huͤfte
ruͤkkwaͤrts ziehen, damit man nicht nach vorne fallen moͤge.
Es wird ferner zu eben derſelben Zeit, damit ſich das
Schienbein und die Huͤfte nicht zuruͤkke ziehe, und der
Koͤrper ruͤkkwerts falle (n), das Gelenke des Fuſſes mit
dem Schienbeine, vermittelſt des vordern Schienbein-
muſ-
[203]IV. Abſchnitt. Nuzzen.
muſkels, des vordern Roͤhrenmuſkels, der Ausſtrekker der
Zeen, und des groſſen Zees feſte gehalten, welche das
Schienbein ſo viel als genug iſt, nach vorne hin ziehen und
ſchwaͤcher, als die groſſen Wademuſkeln ſind, welche von
der Neigung des Koͤrpers unterſtuͤzzet werden. Der Fus
wird endlich an den Seiten, damit das Schienbein nicht
uͤber dem Fus wakkle, von eben dem vordern und hintern
Schienbeinmuſkel, von dem groſſen Roͤhrenmuſkel, und
von den entgegengeſetzten Kraͤften der Zeebeuger, befeſtigt.
Solchergeſtalt wird das Schienbein uͤber dem Fuſſe an
vier Seiten unbeweglich erhalten, als ob es von eben ſo
viel an der Erde befeſtigten Seilen feſte gehalten wuͤrde.
Da ferner an einem ſtehenden Menſchen das Bekken
gemeiniglich mehr nach hinten zu liegt, als das Knie, und
die Huͤfte vorwerts, gegen das Schienbein zu, geneigt iſt,
ſo mus man ſich in Acht nehmen, daß das Bekken und die
Huͤfte ruͤkkwerts falle. Folglich ziehen die groſſen Muſ-
keln des Schienbeins, und der Schenkelmuſkel (o) die
Huͤfte gegen das Schienbein, welches die vorigen Kraͤfte
unbeweglich machen, nach vorne zu, und ſie halten ſie feſte,
damit ſich das Knie, wenn die Huͤfte zuruͤkke gezogen
wird, nicht biegen moͤge.
Die entgegen geſezzte Bewegung, wodurch man ver-
hindert, daß die Huͤfte und das Bekken nicht nach vorne
ſinken, verrichten die zweikoͤpfige Beuger des Schienbeins,
der halbmembranoͤſe, der halbſehnige und geſchlanke Muſ-
kel, welche das Bekken und die Huͤfte, ſo viel als genug iſt,
ruͤkkwerts ziehen, damit ſie nicht nach vorne vorſinken koͤn-
nen (p). Eben dieſe Muſkeln beſchuͤzzen auch die Seiten des
Kniees
(n)
[204]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Kniees, damit die Huͤfte nicht auf eine, oder die andre
Seite falle.
Es ſtehen die Huͤften am Menſchen weiter als an ir-
gend einem Thiere von einander, und es iſt der Winkel, wel-
chen der Hals der Huͤfte mit dem Koͤrper dieſes Knochens
macht, blos am Menſchen faſt ein halbrechter Winkel.
Dadurch erhaͤlt die Natur, daß die Grundflaͤche breit iſt,
welche das Bekken uͤber den Knochen der Huͤfte traͤgt, da-
mit das Bekken aber nicht ruͤkkwerts fallen moͤge, ſo ſind
vornaͤmlich die Geſaͤsmuſkeln da, welche daſſelbe gegen die
feſte Huͤfte zuruͤkke ziehen. Damit ſich aber das Bekken nicht
zu ſehr zuruͤkke biegen laſſe, und man mit dem Hintern auf
der Erde zu ſizzen komme (q), ſo verhuͤten ſolches eben dieſe
Ausſtrekker des Schienbeins beſonders der gerade, und deſ-
ſen Gehuͤlfe der Darmknochenlendenmuſkel (iliacopſoas).
Das Bekken traͤgt den ganzen uͤbrigen Koͤrper. Wird
ſich dieſer ſelbſt uͤberlaſſen, ſo faͤllt er nach vorne, da ſich
die Lendenwirbel nach vorne beugen, und nicht nach hinten
zuruͤkke beugen laſſen, und da der Kopf auſſerdem, und die
gewoͤnliche Lage der Aerme und die aufgeſchwollnen Ein-
geweide des Unterleibes den Koͤrper nach vorne ſinkend
machen. Daher fallen diejenigen gemeiniglich aufs Ant-
lizz, welche ſich der Natur uͤberlaſſen.
Folglich werden die ſtaͤrkſten ausdehnende Muſkeln,
welche im Bekken liegen, uͤber das unbewegliche Bekken
den Koͤrper zuruͤkke ziehen, und dieſes thun die heiligen
Lendenmuſkeln, die allerlaͤngſten Muſkeln, und ſo viel
andere, welche wir genannt haben (r). Da der Koͤrper
von ſelbſten nach vorne faͤllt, ſo wird derſelbe von dem ein-
zigen Darmknochenlendenmuſkel, und auch einigermaaſ-
ſen von den geraden Muſkeln des Unterleibes, nach vor-
ne gezogen.
Endlich geben die Wirbelbeine, wenn ſie durch ihre
Ausſtrekker zuruͤkke gezogen werden (s), die Stuͤzze fuͤr den
Kopf ab. Da dieſer Kopf vorne weit uͤber das Gelenke
am Atlas vorliegt, und wenn wir ſchlafen allezeit von ſelbſt
nach vorne ſinkt, ſo waren hier wieder viel Ausſtrekker noͤtig,
welche von den Graͤten, und den Querfortſaͤzzen des Halſes
und Ruͤkkens entſpringen, und den Kopf zuruͤkke ziehen.
Da derſelbige gegenteils von ſehr wenigen und viel ſchwaͤ-
chern Muſkeln, als dem geraden groſſen, dem kleinen, und
dem langen Halsmuſkel nach vorne gezogen wird. Die
Seiten des Halſes werden auch von den ungleich dreiſei-
tigen und andern von den Queerfortſaͤzzen herkommenden
Muſkeln unterſtuͤzzt, welche durch den Gegenzug hindern,
daß der Kopf, oder Hals nicht auf eine andre Seite uͤber-
nikken kann.
Da ſo viele Kraͤfte, ob ich gleich nicht einmal alle ge-
nannt habe, bei dem Stehen zuſammen wirken, ſo darf
man ſich nicht wundern, daß ſolches ſo ſehr muͤde macht
(t), und zwar um deſto mehr, weil eben dieſe Muſkeln
in eins weg fortarbeiten. Daher pflegen diejenigen, wel-
che ſtehen, bald auf den rechten Fus (u), indem der
linke gleichſam ſo lange muͤßig iſt, bald auf den linken
aufzutreten, und bald wieder etwas weiter zu ſpazieren,
damit wenigſtens einige Muſkeln, die das Stehen zu ver-
richten haben, indeſſen ausruhen moͤgen.
Das Fortgehen iſt ſowohl fuͤr den Menſchen, als fuͤr
den Beſchreiber leichter, als das Stehen war. Man
ſezze, es ſtehe eine Perſon (x); folglich bleibt der eine
Fus unbeweglich ſtehen, welches der feſte Punkt fuͤr dieje-
nige
[206]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
nige Kraͤfte werden ſoll, die den andern Fus weiter ruͤk-
ken muͤſſen. Es ſei dieſes der rechte Fus, und er werde
durch ſeine Kraͤfte feſte erhalten. Hierauf erhebt man den
linken Fus, vermittelſt ſeiner Ausſtrekker, naͤmlich des
vordern und hintern Schienbeinmuſkels, des Roͤhren-
muſkels, der Ausſtrekker der Zeen und des groſſen Zees.
Hierauf erhebt ſich das Schienbein maͤßig, kraft ſeiner
Ausſtrekker, welche wir erwaͤnt haben. Dieſes thut die
Huͤfte, vermittelſt der Darmknochen und Lendenmuſkel
noch ſtaͤrker, damit der Fus um ein anſenliches kuͤrzer wer-
de (y), und ſich zugleich das Knie nach vorne verlaͤngre.
Wenn nun das Knie ſenkrecht uͤber dem Orte ſteht,
wohin wir den linken Fus niederſezzen wollen, denn uͤber-
laſſen wir es, indem wir die Kraͤfte nachlaſſen, denen er-
hebenden, welche es gerade machen, und wir treten auf
die Erde aber doch dergeſtalt auf (z), daß die Huͤfte vor-
werts uͤberhaͤngen bleibt. Solchergeſtalt ſteht der linke
Fus feſte, und er druͤkkt ſich, da ihn ſeine Biegemuſkeln
kruͤmmen mit den aͤuſſerſten Zeen an die Erde an.
Nun folgt, daß wir auch mit dem rechten Fuſſe gehen,
oder ſelbigen vorwerts uͤber den linken vorausſezzen.
Wir erheben alſo die Ferſe des rechten Fuſſes derge-
ſtalt ruͤkkwerts in die Hoͤhe (a), daß er anfaͤnglich blos mit
den Zeeſpizzen die Erde beruͤrt, und ſie darauf auch mit
denſelben wieder verlaͤſt. Wir ſtrekken zugleich das Schien-
bein ein wenig aus, indeſſen daß wir die Huͤfte (b), ver-
moͤge des Darmknochen Lendenmuſkels, ſo beugen, daß
der Fus kuͤrzer wird, und ſo werfen wir dieſes ganze Glied
gebogen nach vorne hin. Es gibt aber das, uͤber dem
rechten Fuſſe feſte Bekken denen Muſkeln die Standfeſtig-
keit, welche die Huͤfte in die Hoͤhe heben. Wir pflegen
dieſer Bewegung dadurch zu Huͤlfe zu kommen, daß wir
den
[207]IV. Abſchnitt. Nuzzen.
den Unterricht der Natur beibehalten, und uns an die
eingebildete Geſezze des Wohlſtandes nicht keren. Wir
biegen naͤmlich den ganzen Koͤrperſtamm, wenn er uͤber
der Huͤfte des rechten unbeweglichen Fuſſes feſte iſt, nach
vorne uͤber, theils vermittelſt einer beſtimmten Nachlaſſung
der Ausſtrekker, theils vermittelſt der Anſtrengung des
Darmknochen Lendenmuſkels, doch aber an der feſten Seite,
und vermittelſt des geraden Unterbauchsmuſkels (c) und
der ſchiefen. Auf dieſe Art pflegen die Alpenbewoner
das Gebirge zu beſteigen, indem ſie den Leib nach vorne
uͤberbiegen, wodurch ſie weniger muͤde werden, als wenn
wir es vor ein Stuͤkk des Wohlſtandes halten, den Koͤr-
per gerade zu halten.
Nun wuͤrden wir aber bei dem vorgebeugten Leibe
notwendig fallen muͤſſen, weil die durch den Schwerpunkt
gezogene Linie nunmehr vor dem auf die Erde aufge-
ſtemten Fus niederſinkt, und wir fallen auch wirklich,
wenn wir den rechten Fus (d) feſte zu ſezzen verabſaͤumen.
Allein wir ſezzen, wenn wir geſund und aufmerkſam ſind,
nunmehr den rechten Fus, ſobald die erhebende Muſkeln
nachlaſſen, hingegen die Beugemuſkeln das Gegentheil
thun, auf die Erde nieder (e), damit die ſenkrechte Linie
zwiſchen ihn, und den linken Fus fallen moͤge. Hierbei
ergreifen wir gleichſam, wie vorher, mit den Beuge-
muſkeln der Zeen den Erdboden.
Das Laufen unterſcheidet ſich nicht blos vom Gehen,
durch die Geſchwindigkeit der Bewegung, ſondern auch
durch die Art und Weiſe. Es wird der Fus, welcher ſich
vermittelſt des Wadenmuſkels, und den helfenden groſſen
Wadenmuſkeln erhebt, dergeſtalt ruͤkkwerts in die Hoͤhe ge-
hoben
[208]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
hoben und verkuͤrzt, daß er anfaͤnglich die Erde blos mit
den Zeen beruͤrt, nachher nicht einmal mit den Zeen erreicht
(f), ſondern ſich ganz nach hinten zu in die Hoͤhe begibt,
und die Fusſole nach dem Hintern gekert wird (f*). Da-
her ſind diejenigen Thiere traͤge, welche auf dem ganzen
Fuſſe aufſtehen, wie der Menſch, und Baͤr; geſchwinder
welche auf die ganze Zeen auftreten, als die Voͤgel; und
am geſchwindſten, welche blos auf den Zeeſpizzen gehen,
wie die Hunde, und Pferde (g).
Solchemnach wird ſo wohl das Schienbein, vermittelſt
ſeiner Beugemuſkeln in die Hoͤhe gezogen, als das Knie
vorwerts vorgeruͤkkt, und die Huͤfte zugleich ſtaͤrker erho-
ben, daß die Wechſelwinkel von den Knochen, welche in
den Fusgelenken des Schienbeins und der Huͤfte an ein-
ander haͤngen, deutlicher werden, und dieſe ausgeſtrekkte
Knochen uͤber denjenigen Knochen einen groͤſſern Zirkelbo-
gen beſchreiben, welche ihnen zu einem feſten Ruhepunkte
dienen, wodurch alſo der Koͤrper um einen groͤſſern Raum
fortgeruͤkkt wird. Zugleich ſchwebt der Koͤrper deutlicher
und mit einer unvermeidlichen Unanſtaͤndigkeit, nach vorne
uͤber, welches auch die Aerme zu gleicher Zeit thun, da-
mit der Koͤrper ſelbſt durch ſein Gewicht nach vorne zu
eilen koͤnne, welches vielleicht eine Urſache von dem ge-
woͤnlichen Keuchen mit iſt, indem ſich nicht gar zu wohl
atmen laͤſt, wenn man den Koͤrper nach vorne zu uͤberbiegt.
Der Sprung geſchicht um ſo viel ſchneller, als der
Lauf gegen das Gehen geſchicht. Es geſchehen im Sprunge
anfangs groſſe Beugungen (h). Man biegt die Fuͤſſe
ſchief gegen die Erde (i), man laͤſt das Schienbein uͤber
die Fuͤſſe, vermittelſt der vordern und hintern Schienbein-
muſkeln, wie auch der Roͤhrenmuſkeln und Zeebeuger,
nach vorne hinabſinken, und man thut, als ob man mit
den
[209]IV. Abſchnitt. Nuzzen.
den Fuͤſſen in die Erde eine Grube eindruͤkken wollte,
wobei am Sprungknochen ein deutlicher Winkel entſteht.
Es ſtehet ferner das Knie ſehr anſenlich vorwerts hervor,
die Huͤften ſinken, vermittelſt eben derſelben Beugemuſkeln,
uͤber das Schienbein, hingegen das Bekken und der ganze
Koͤrper uͤber die Huͤfte nieder. Hierauf verlaͤngern ſich die
Huͤften nach vorne hin, und es wird auf ſolche Weiſe der
ganze Menſch viel kleiner, als er an ſich ſelbſt iſt (k).
Kurz darauf ſtrekket ſich der ganze Leib, ſchnell und
mit groſſer Gewalt aus (l), die Fuͤſſe heben ſich vermit-
telſt der Fusſolenmuſkeln ruͤkkwerts in die Hoͤhe, das
Schienbein hebt ſich mittelſt der Ausſtrekker nach vorne zu,
und die Huͤfte zu gleicher Zeit mittelſt der Geſaͤsmuſkeln
nach hinten zu, der ganze Koͤrper wirft ſich ruͤkkwerts,
und zugleich ſtoͤſt der ganze Koͤrper von der harten, und
widerſtehenden Erde, welche wir mit den Fuͤſſen druͤkkten,
ab und in die Hoͤhe. Das Springen ermuͤdet wegen
der groſſen Beugungen, und Ausſtrekkungen ungemein
ſehr (m).
Doch ich darf mich, wegen der dieſem Werke beſtimm-
ten Schranken, hieruͤber nicht weitlaͤuftiger erklaͤren. Wir
finden davon etwas in den Alten (n), und denen, welche
ihren Grundſaͤzzen gefolgt ſind; unter den Neuern ſchreibt
davon ſonderlich J. Alfonſus Borellus(p), der aber die
Natur, die ſonſt zuſammen geſezzte Kraͤfte gebraucht, auf
eine matematiſche Einfachheit zu bringen geſucht. Unter
an-
H. Phiſiol. 5. B. O
(o)
[210]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
andern zeigt ſich noch George Ehrhard Hamberger(q)
und J. Rudolf Staͤfelin(r). Allein man hat dieſe
Betrachtung, welche eine der ſchoͤnſten iſt, noch zur Zeit
nicht erſchoͤpft.
Jch will nur dieſes einzige noch beifuͤgen, daß im
menſchlichen Koͤrper viel mehr Bewegungen verborgen lie-
gen, als wir gemeiniglich hervorzubringen pflegen. Dieſe
laſſen ſich erſt alsdenn ſehen, wenn uns die allergroͤſte
Not zwingt, die Natur zu Huͤlfe zu nehmen, und ſie zu er-
ſchoͤpfen Es iſt nichts gemeiner, als Menſchen (s) zu fin-
den, welche keine Haͤnde haben, und mit den Fuͤſſen zu
ſchreiben, naͤhen, und alles dasjenige zu machen gelernt
haben, was wir ſonſt mit den Haͤnden verrichten. Folg-
lich lagen in ihren Koͤrpern gewiſſe notwendige Kraͤfte,
welche man gemeiniglich verabſaͤumt. So lehrt uns auch
die vielfaͤltige Gewonheit, das Gleichgewichte genau zu
halten, den Koͤrper an einem Finger aufzuhaͤngen, unge-
woͤnliche Spruͤnge zu machen, und was dergleichen andre
Kuͤnſte ſind, die der Magen, welcher Menſchen wizzig
macht, lehrt, dennoch aber die philoſophiſche Unterſuchung
ſehr wohl verdienen, indem es Denkmaͤler von ſolchen
Kraͤften ſind, von denen wir ohne dieſe Beiſpiele nichts
wiſſen wuͤrden.
Wir kennen die Urſache von demjenigen Vorteile,
welcher der allernuzzbarſte bei der Muſkelbewegung iſt,
noch
[211]IV. Abſchnitt. Nuzzen.
noch nicht voͤllig. Wenn man die Koͤrper der Leibes-
fruͤchte, Weiber, Kaͤmfer, der zamen und wilden Thiere
betrachtet, daß alle Muſkeln um deſto haͤrter werden, je
oͤfter man ſie gebraucht (t). Daher iſt das Fleiſch von
wilden Thieren oder Wildprett hart, von zamen Viehe
hingegen weich, indem ſich ein wildes Thier Muͤhe geben
mus, um das Leben zu erhalten, da ein zames vom
Menſchen die Speiſe erwartet. Vielleicht ruͤhrt davon
die Staͤrke der Maͤnner her, woran ſie das weibliche Ge-
ſchlecht uͤbertreffen. Wenigſtens findet ſich an der Frucht
kein Unterſchied zwiſchen dem maͤnnlichen und weiblichen
Geſchlechte, welcher doch an einem erwachſenen Menſchen
gar zu deutlich in das Auge faͤllt, welches auch bei den
Geſchlechtern der vierfuͤßigen Thiere ſtatt findet. Viel-
leicht ruͤhrt auch der Vorzug der rechten Hand daher.
Denn obgleich einige die Sache von der rechten Schlag-
ader herleiten, welche groͤſſer iſt, ſo iſt dennoch gewis, daß
ſich ein Kind ſowohl der rechten, als linken Hand bedient,
und daß ihm folglich alle beide zu ſeinen Abſichten gleich
nuͤzzlich ſind, indem ſich blos der Unterſcheid an den er-
wachſenen Mannsperſonen am deutlichſten zeigt (t*).
Woher koͤmmt nun dieſe von dem Muſkelgebrauche
herruͤhrende Staͤrke? entſteht ſelbige von den aus den Fa-
ſern vertriebenen Fluͤſſigkeiten, weil davon der feſten Theile
mehr werden? wenigſtens werden die erſt fleiſchigen Muſ-
keln ſehnig, blos vom Gebrauche, und dieſe ſehnigen
Muſkeln verwandeln ſich endlich in knochige Weſen (u).
Man wuͤrde leicht vermuten, daß das Fett abnehme (x);
allein das Blut wird von einem Muſkel, indem er ſein
Spiel verrichtet, nicht ſo ſehr zuruͤkke gewieſen, daß da-
von eine lebhaftere Roͤthe entſtehen ſollte, nachdem ein
Muſkel ſtaͤrker arbeitet, wovon wir an den Muſkeln ein
O 2Exem-
[212]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Exempel haben, vermittelſt deren die Voͤgel ihre Fluͤgel
bewegen, indem dieſe rot ſind, indeſſen daß die uͤbrigen
weis bleiben (x*). Das Herz iſt faſt in allen Thieren
rot. Doch es haben auch die Alten angemerket, daß ſich
an den Kaͤmpfern die Muſkeln von der heftigen Uebung
dikker ausbilden (y). Folglich ſcheinet die ausgetriebene
Fluͤſſigkeit nicht die ware Urſache von der erlangten Staͤrke
zu ſein.
Die Federkraͤfte und die von Menſchen erfundne Ma-
ſchinen haben nichts von dergleichen an ſich. Dieſe wer-
den alle durch den Gebrauch ſchwaͤcher, und vom oft wie-
derholten Biegen bruͤchig.
Jch werde eine Mutmaſſung wagen. Vielleicht iſt
hier ſchon hinlaͤnglich zuzugeben, daß zu der groͤſten Staͤrke
eines Muſkels, eine gewiſſe Steifigkeit im thieriſchen Lei-
me erfordert werde, und daß ſich dieſe durch denjenigen
Drukk erhalten laſſe, welche ein Muſkel leidet, wenn ſich
ſeine Fleiſchſtreifen einander naͤhern. Daher ſind alte
Perſonen zu Leibesuͤbungen untauglich, da ihr Leim bereits
viel zu zaͤhe und hart iſt, und daher koͤmmt es, daß eine
gar zu arbeitſame Lebensart ein fruͤhzeitiges Alter hervor-
bringt (z).
Die Muſkeln haben groſſen Anteil an der Bildung
der Knochen. Dieſe ſind an der Frucht durchgaͤngig
rund, und ohne Vorragungen an den erwachſenen faſt
alle dreiekkig, wie ich oft an der Schulter, (die nicht deut-
lich dreiekkig iſt,) noch beſſer aber an der Huͤfte, dem
Schienbeine, der Schienroͤhre, Ellbogen, Spindel und
am Knochen der Mittelhand wargenommen habe. Eben
ſo entſteht die rauhe Figur an den Fortſaͤzzen und Linien
der Knochen von dem Gebrauche der Muſkeln.
Die Muſkeln wirken auf allerhand Art. Jndem ſie
an dem Knochen anliegen, und waͤrend ihres Spieles
oͤfters aufſchwellen, machen ſie an ſelbigem Eindruͤkke,
wofern ſie lang und rund ſind, und auf langen Knochen
liegen. Daher entſtehen die Schlaͤfegruben, die an der
Frucht ſchwach, an erwachſenen Perſonen deutlicher, und
an wilden reiſſenden Thieren am allergroͤſten ſind.
Doch ſie druͤkken nicht nur die Knochen nieder, ſon-
dern ſie verhaͤrten ſolche auch, indem ſie das zellfoͤrmige
Faͤchergewebe wegdruͤkken und die Knochenplaͤttgen naͤher
an einander preſſen. Folglich ſind Knochen um deſto haͤr-
ter, je groͤſſer die Muſkeln ſind, denen ſie ausgeſezzt wer-
den (a), als die Huͤfte, das Schienbein, und die Schul-
ter, und es ſind uͤberhaupt die lange Knochen viel haͤrter
als die kurzen, da man die Knochen der Fus- und Hand-
wurzel allezeit ſchwammig findet, indem bei dieſen vielmehr
Sehnen, als Fleiſch liegt.
Nach der zwoten Art druͤkken ſie die nahe beiliegende
Knochen zwar nicht zuſammen, ſie hindern aber ſolche doch,
daß ſie nicht Auswaͤchſe bekommen, indem ſie einen groͤſſe-
ren Widerſtand thun, als der Knochen zuruͤkke druͤkkt.
Auf dieſe Weiſe druͤkken ſogar die Sehnen in die Kno-
chenfurchen, welches ſonderlich an der Fuswurzel, vor-
naͤmlich aber an der Handwurzel und der unterſten Spin-
del vorkoͤmmt.
Die dritte Art wie die Knochen von Muſkeln gebildet
werden, geſchicht dadurch, daß die aͤuſſern Knochenplaͤtt-
gen vermittelſt des beſtaͤndigen Zuges der Muſkeln, von
den innerlichen Plaͤttgen, wohin die Gewalt der Muſkeln
nicht zu reichen vermag, abgeruͤkkt und genoͤtigt werden,
in einen Fortſazz auszulaufen. Auf dieſe Art entſteht der
zizzenfoͤrmige Fortſazz, und die rauhen Striche an der
Huͤfte, dem Schienbeine und den uͤbrigen langen Knochen.
Es gehoͤret auch hieher das Kruͤmmen der Knochen,
welche erſt gerade waren, und nachher durch die groͤſſere
Gewalt der Muſkeln, vermittelſt des beſtaͤndigen Zuges,
auf deren Seite gezogen werden. Daher iſt die Huͤfte
krumm, weil uͤber und unterhalb ihrer Mitte die ziehende
Kraͤfte ſtaͤrker ſind, und dieſe den ſonſt ſehr ſtarken Kno-
chen zuruͤkke ziehen, dahingegen der mittlere Theil ohne
Veraͤnderung ſtehen bleibt. Solchergeſtalt verwandelt ſich
die Schienenroͤhre an einigen Koͤrpern faſt in eine ſchnek-
kenfoͤrmige Windung (b). Sie kruͤmmt ſich oft auf eine
felerhafte Art von dem beſtaͤndigen Sizzen, indem immer
einerlei Muſkeln wirken (b*), wie auch von dem Kram-
pfe (b**). Es iſt uͤberdem die Bewegung der Muſkeln
ſo notwendig, daß an einer Frauensperſon, an der ein
Theil des Schenkels zuſammengezogen war, und ſeine
Bewegung verloren, der Arm aber den Gebrauch ſeiner
Muſkeln erhalten hatte, die Muſkeln am Schenkel ver-
worren wirkten, und die Knochen an der Huͤfte duͤnne,
kurz, durchſichtig und bruͤchig geworden waren, dahinge-
gen der Theil, welcher geſunde Muſkeln hatte, auch or-
dentliche Knochen hervorbrachte (b†). Daher koͤmmt es,
daß die Knochen des rechten Arms ſchwerer, als die am
linken Arme wiegen (b††).
Jch ſchreibe aber deswegen nicht die ganze Bil-
dung und Verhaͤrtung der Knochen den Muſkeln zu, in-
dem ich mich der Zaͤhne, und Gehoͤrknoͤchgen erinnere,
welche ohne allen Muſkeldrukk zu harten und ordentlich
gebildeten Knochen werden. Doch iſt das, was wir bis-
her geſagt haben, allerdings zuverlaͤßig, und es ſind die
Knochen eines erwachſenen Menſchen, von den Knochen
der Frucht in den wenigſten Stuͤkken unterſchieden, da-
von wir nicht den Grund in den Muſkeln finden ſollten.
Wir haben bereits an einigen Orten gezeiget, wie die
Muſkeln (c) ſowohl das Blut in den Blutadern (d) als
auch in den Schlagadern ſelbſt weiter forttreiben (e). So
haͤlt der Muſkelguͤrtel der ſchiefen Bauchmuſkeln nebſt
dem Queermuſkel des Bauches, den ganzen Bauch, und
alle Eingeweide deſſelben (f) zuſammen, er druͤkkt ſolche
zuſammen, daß das Blut nicht ſo wohl nach den untern,
als nach den obern Theilen, zum Herzen und Kopfe laufen
mus (g). Daher entſteht im Erbrechen das rote und ge-
ſchwollene blaue Angeſicht, und es zerreiſſen oft die Blut-
adern bei dieſer Anſtrengung. Hiermit ſtimmen auch die
uͤbrigen Kraͤfte des Ausatmens uͤberein.
Und auf dieſe Art leert ſich auch die Leber und Milz
aus, weil ſich das Blut in dieſen Eingeweiden ſehr lang-
ſam bewegt, und das Blut durch die Gefaͤſſe des Gekroͤ-
ſes beſchleunigt zu werden ſcheint, wie ſolches der boͤrhaa-
venſche Verſuch lehret, da die Gefaͤſſe des Gekroͤſes dik-
ker und knochig werden (h), wenn man die Muſkeln des
O 4Bau-
[216]Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Bauches zerſchneidet. Dahingegen treibt das Zwerchfell
die Eingeweide niederwaͤrts, um den Bauch auszuleeren
(h*). Doch es geſchicht auch das Atemholen, wenn ſich
eine gar zu groſſe Menge Blut in der Lunge anhaͤuft, oͤf-
ter, wodurch das Blut in ſeinem Umlaufe eine neue Kraft
bekoͤmmt (i). Daher haben ſtreitbare Thiere, und wel-
che ſtarke Leibesuͤbungen machen, ein groͤſſeres Herz (k).
Die Speiſe, der Kot, und die Frucht wird von der
periſtaltiſchen Bewegung weiter geſchaft.
Die Muſkeln thun auch noch einige andere kleine
Dienſte, wenn ſie das Blut anhalten, und anſpornen,
wie man an den Zeugungsteilen ſehen kann, an denen man
ein Aufſchwellen, eine Roͤthe, Waͤrme und andre Erſchei-
nungen des gereizten Blutes warnimmt, von denen man
glaubt, daß ſie von den Muſkeln herruͤhren.
Endlich treiben auch ſelbſt die zarten Fleiſchfaſern das
Blut hie und da weiter, ſo wie ſich die Gebaͤrmutter, die
waͤrend der Schwangerſchaft voller Blutaderblut iſt, durch
die zuſammenziehende Kraft ihrer Faſern dergeſtalt aus-
leert, daß ihre Blutadern um eilfmal kleiner werden.
Ob die zuſammenziehende Kraft des Zellgewebes gleich
nur geringe iſt, ſo haͤlt es doch ſo lange es wirkſam iſt,
die Gefaͤſſe aller Eingeweide, und faſt des ganzen Koͤrpers
in einer ſolchen Lage, daß ſie vermittelſt ihrer beſtimmten
Muͤndung den Saͤften weder zu viel noch zu wenig Wi-
derſtand thun. Folglich entſteht ſogleich ein Pulsader-
ſakk, wenn das Zellgewebe durchſchnitten wird (l). Da-
von ruͤhren die zuſammengebogene Gefaͤſſe und der veraͤn-
derte Bau des Herzens in der Frucht her, weil die Natur
dabei nur langſam verfaͤrt.
Selbſt die unwillkuͤrliche Bewegung ſpornet das Blut
ebenfalls an. So haͤuft ſich im ſchweren Gebrechen das
Blut im Gehirne an, daß das ganze Angeſicht violbraun
aufſchwillt (n). Der Leib bekoͤmmt von den hiſteriſchen
Kraͤmpfen Flekke, und es ſchwellen die Schlag- und Blut-
adern des Kopfes ungemein auf (o).
Die Muſkeln bekommen nicht blos von den elektri-
ſchen Funken ihre Bewegung wieder, ſondern es werden
auch dadurch die ausgemagerten Glieder wieder ernaͤhrt
(p). Folglich helfen die Muſkeln dem Herzen (q), indem
ſie, auch auſſer den Bemuͤhungen deſſelben, das Blut in
Bewegung ſetzen. Es ſcheint auch die Natur, indem ſie
uns Muſkeln gegeben, auf dieſe Huͤlfe bei ihren Rechnun-
gen mit geſehen zu haben, und man kann vermuten, daß
ohne ihren Beiſtand nicht Kraͤfte genung vorhanden ſind,
welche das Blut nach der Oberflaͤche zu treiben koͤnnten.
Daher entſteht, wie wir bereits geſagt haben, ein uͤbermaͤſ-
ſiges Fett (r), ein Waſſergeſchwulſt, es haͤuft ſich das
Blut in den guͤlden Blutadergefaͤſſen an, und es ruͤhrt
davon, bei dem Feler der Eingeweide des Bauches, eine
ſchwache Verdauung der Speiſen, und die Hipochondrie,
wie auch die gewoͤnliche Krankheit der Gelerten her (t).
Daher werden dieſe Uebel des Koͤrpers vornaͤmlich
durch die Bewegung geheilt, und durch Arbeiten verbeſ-
ſert, die zugleich Annemlichkeit bei ſich fuͤhren. Die Na-
tur hat den Menſchen zum Akkersmanne und Gaͤrtner
gemacht, und daher ſagt Hoffmann, er wiſſe von vielen
Dummkoͤpfen (u), welche durch Leibesuͤbungen klug ge-
macht worden.
Einen dergleichen dummen Menſchen hat Herodi-
kus, wie ich vermute, durch koͤrperliche Bewegungen wie-
der geſund gemacht (x); Straton(y) welcher Milzbe-
ſchwerungen hatte, nahm die Leibesbewegungen zu Huͤlfe,
er ward nicht nur geſund, ſondern konnte ſich auch unter
die Kaͤmpfer in den Olimperſpielen miſchen. Hiſinoneus,
welcher eine Schwaͤche an den Nerven litte, uͤbte ſich in
dem fuͤnffachen griechiſchen Spiele, bis er ſeine Krankheit
durch dieſe Uebungen dergeſtalt uͤberwand, daß er viele
Siegeskraͤnze verdienen konnte (z). Laomedon muſte
ſich auf Vorſchrift der Aerzte in Leibesbewegungen uͤben,
davon er ſo geſund ward, daß er vor andern im Wettlaufe
Preiſe davon trug (a).
Man hat einen Kranken, vermittelſt des Elektriſirens
von hiſteriſchen Zufaͤllen befreit (b).
Der Koͤrper kann die Leibesbewegungen nicht miſſen,
um das Fett los zu werden (c), (d), daher ſind die zamen
Thiere fett, und die wilden mager, wovon bereits oben
Erwaͤnung geſchehen iſt. Dennoch will ich nach dem
Stahl(e) noch eine wunderbare Erſcheinung hier anfuͤh-
ren. Es ſind die Lerchen des Nachts am allerfettſten,
wenn ſie ſich wohl geſaͤttigt zur Ruhe begeben; ſie werden
bei Tage magrer, und ſie ſind in der Demmerung nicht
einmal fett genung; ſo geſchwinde verzert die Bewegung
der Muſkeln das Fett.
Es iſt zwar nicht unſre Meinung, daß die Abſonde-
rungen der Saͤfte, von der reizbaren Beſchaffenheit der
ſchei-
[219]IV. Abſchnitt. Nuzzen.
ſcheidenden Werkzeuge abhaͤngt; doch aber bekoͤmmt dieſe
Theorie von den Erſcheinungen einige Warſcheinlichkeit.
Denn da es gewis iſt, daß die Abſonderung der Milch,
der Traͤhnen, des Naſenſchleims, des Saftes im Magen,
den Gedaͤrmen, der Harnroͤhre, und der Schweis der
Haut ſchon von dem bloſſen Reize (f) anwaͤchſt, ſo ſcheint
es nicht unwarſcheinlich zu ſein, wenn gleich keine gar zu
groſſe Schaͤrfe in dieſen Saͤften vorhanden iſt, daß den-
noch in dem ſcharfen Weſen dieſer Saͤfte etwas liegen
muͤſſe, wodurch ihre beſondre Werkzeuge zur Abſonderung
gereizt werden.
Es iſt die Ausfuͤhrung eine deutlichere Folge des Rei-
zes, indem kein Zweifel iſt, daß nicht der Reiz (h), den
man an irgend ein Scheidewerkzeug anbringt, die Aus-
fuͤhrung der Saͤfte beſchleunigen ſollte, es mag nun dieſer
Saft blos von Gefaͤſſen abgeſchieden werden, als der Spei-
chel, die Traͤhnen, oder aus Blaͤsgen geſchehen, als der
Schleim der Harnroͤhre, oder der Naſe, oder es mag ſich
dieſe Fluͤſſigkeit in hole Blaſen ſammeln, als der Urin und
Saamen. Folglich laͤſt es ſich vermuten, daß das reiz-
bare Weſen von groſſem Umfange ſei, und daß ſo leicht
keine Ausfuͤhrungswege ohne Reizbarkeit ſind.
Man hat angemerkt, daß ſich Faſern, nicht bei allen
Arten von Reizen, gleich reizbar verhalten (h*). Es
zieht ſich das Herz, und Gedaͤrme, wenn man in ſie Luft
einblaͤſt, ſtaͤrker, als vom Waſſer, oder irgend einem
Gifte zuſammen. Es kann die Harnblaſe einen ſcharfen
Urin vertragen, aber keinen Eiter, oder Blut (i). So
vertragen die Augen ſcharfe Spiesglasarzneien, aber kei-
nen Rauch oder ſcharfe Zwiebelduͤnſte. Die Naſe nieſet
nicht bei allen, ja den ſchaͤrfſten Sachen nicht, wie
von
(g)
[220]Thier. Bew. Nuzzen. XI. B. IV. Abſchn.
von der Nieſewurzel bekannt iſt; der Magen bekoͤmmt
Kraͤmpfe, und erbricht ſich von ſeinen Arzneien, und die Ge-
daͤrme thun dieſes von andern wieder. Die Luftroͤhre ver-
traͤgt nicht einmal das ſo weiche Waſſer. Es haben eini-
ge beruͤmte Maͤnner (k) auf dieſe beſondre Beſchaffenheit
gegen die Reize, ihre Theorie von der Jdioſincraſie gebaut.
Allein dieſes Feld iſt noch lange nicht genung gebaut, und
es iſt zu vermuten, daß wir mit der Zeit noch mehr Fruͤchte
davon einerndten werden. Jndeſſen tragen die verſchied-
nen Bekleidungen dieſer Theile, die von dieſen oder jenen
Koͤrpergen leichter durchdrungen werden koͤnnen, ein vieles
zu den verſchiednen Verhaͤltniſſen gegen die Reize bei.
Eben dieſe ungeduldige Wachſamkeit der Natur, wel-
che bei der Empfindung der Reize gegenwaͤrtig iſt, veran-
ſtaltet auch das Wiedereinſaugen der Saͤfte. So wird
der Chilus von den Milchgefaͤſſen, hingegen kein ſcharfer
Weingeiſt oder das Gift der beiſſigen Thiere eingeſogen.
Man nimmt das Wort Gefuͤhl auf zwiefache
Weiſe. Jn dem weitleuftigen Verſtande
bedeutet daſſelbe beinahe eben das, was
Empfinden bedeutet, naͤmlich, von einem
dergleichen Koͤrper, die unſern Koͤrper beruͤhren, Veraͤn-
derung leiden. Jn dieſem Sinne iſt das Gefuͤhl uͤber-
P 4haupt
[232]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
haupt ein Geſchaͤfte des Nerven: indem nicht nur der
Nerve ganz allein (a), ſondern auch alle und jede Ner-
ven (b) von den Koͤrpern, die den menſchlichen Koͤrper
beruͤhren, dergeſtalt veraͤndert werden, daß davon in
unſrer Seele eine Veraͤnderung entſteht, wodurch ſich die
Seele bewuſt wird, daß in ihrem Koͤrper einige Veraͤn-
derung vorgegangen iſt.
Folglich empfindet der Nerve Waͤrme und Kaͤlte, er
unterſcheidet das Rauhe und Glatte, das Harte und Wei-
che, das Feuchte und Trokkene, das Schwere, welches
durch ſeine Figur oder durch Schaͤrfe, Schmerzen macht,
die Blutanhaͤufungen, woraus Beaͤngſtigung erwaͤchſt, die
Schaͤrfe, welche auch ohne Schmerzen reizt (c), die Ur-
ſachen des Kizzels, woraus ein Jukken wird, und alles,
was nur unſer Koͤrper von andern Koͤrpern leidet. Jch
habe oft daruͤber einen unbarmherzigen Verſuch an dem
entbloͤſten Nerven eines zerfreſſnen Zahnes angeſtellt, wel-
cher alle dieſe Eigenſchaften der Koͤrper auf das lebhafteſte
empfindet. Folglich herrſcht dieſe Art des Gefuͤhls allent-
halben im menſchlichen Koͤrper (d), und nicht nur in der
Haut allein, ſondern auch inwendig im Koͤrper, wovon
man am Magen und den Gedaͤrmen ein deutliches Bei-
ſpiel hat, noch mehr aber, wo viele Nerven liegen, als am
Auge, an der Zunge, und der Spizze des maͤnnlichen Glie-
des, hingegen weniger, wo es weniger Nerven giebt, als
an einigen Stellen der Haut (e), an den Eingeweiden
(e*),
[233]I. Abſchnitt. Werkzeug.
(e*), am Herzen (f), und es mangelt dieſes Gefuͤhl uͤber-
haupt voͤllig, wo die Natur keine Nerven angebracht hat,
als im Oberhaͤutchen, an den Haaren, am Knochen, den
Naͤgeln, den Knorpeln, den Baͤndern, Sehnen, und der
nakkten Membran der Nerven (g).
Es iſt ferner die Empfindlichkeit groͤſſer und ſchaͤrfer,
wo entweder ein Nerve an die Werkzeuge, welche ihn um-
geben, nakkt angrenzt, wie an einer abgezognen Haut, oder
wo er doch in zaͤrtere Huͤllen eingeſchloſſen iſt, wie an der
Mannseichel, am Magen und den Gedaͤrmen.
Wenn alſo blos der Nerve empfinden kann, ſo ſind
dieſe Erſcheinungen an ſich ſchon ſo einfach, daß ſie keines
fernern Erweiſes beduͤrfen.
Jedoch man n[i]mmt das Gefuͤhl in einem andern Ver-
ſtande (h), wenn man diejenigen Kraͤfte eines aͤuſſerlichen
Koͤrpers mit allem Fleiſſe erforſchen will, die wir eben ge-
nannt haben. Alsdenn bedienen wir uns blos der Haut,
und zwar inſonderheit der aͤuſſerſten Finger, ob das Gefuͤl
gleich an den Fuͤſſen, wenn wir dieſe eben ſo blos truͤgen,
und man ſolche weich erhielte, nicht ſtumpfer ſein wuͤrde.
Und eben ſo iſt auch die Zunge zu allen ſolchen Sachen
gleich geſchikkt.
Folglich iſt die Haut diejenige Dekke des menſchlichen
Leibes, welche die Luft abhalten ſoll; genauer aber zu reden,
ſo heiſt eigentlich der inwendige, dichte und feſte Boden
dieſer Dekke, Haut.
Wir haben geſagt, daß die Haut allenthalben die aͤuſ-
ſerſten Theile des Koͤrpers bedekke. Sie ſcheint durch-
P 5loͤchert
[234]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
loͤchert zu ſein an den Augen, Ohren, der Naſe, dem
Munde, Nabel, und den Geburtstheilen, ſo wie am Hin-
tern. Allein man weis nunmehr mehr als zu gut, daß
ſie an dieſen genannten Stellen nicht aufgeſchlizzt, ſondern
nur einwerts (i) gezogen und allmaͤlich veraͤndert ſei, daß
ſie die Hoͤle der Naſe und des Mundes, der weiblichen
Schaam und des aͤuſſerſten Darmes uͤberzieht, daß ſie im
Gehoͤrgange uͤber die Trummelhaut geſpannt iſt, und end-
lich an den Augen in eines fort, mit der Haut der Augen-
lieder, unter dem Namen der gemeinſchaftlichen weislichen
Augenhaut, vor der dunkeln Hornhaut herablaͤuft. Man
hat bemerkt, daß ihre Empfindung deſto ſtumpfer ſei, je
weiter ſie von der Zunge abliegt (i*).
Jhr Bau iſt uͤberhaupt wie an den Membranen (k),
naͤmlich aus Faͤden und Plaͤttchen (k*), die kurz verwik-
kelt ſind, und enge zuſammenhaͤngen, zuſammengeſezzt (l).
Jhre aͤuſſere Flaͤche iſt dichter (m), hingegen die inwen-
dige, welche ſich nach dem faͤchrigen (n) Zellgewebe unter
der Haut zukehrt, allmaͤlich loſer, ſo daß ſie ſich endlich in
einer fortlaufenden Ausartung in eben dieſes Zellgewebe
verwandelt, und man findet nirgends auf beiden Seiten
die richtige Grenzen beſtimmt. Macerirt man die Haut
im Waſſer, ſo ſchwillt ſie allmaͤlich auf, ſie wird lokker,
ſcheidet ſich in ihre Plaͤttchen und Faſern, woraus ſie
geworden iſt (o), ſowohl im Menſchen als Thieren (o*),
und ich betrachte dieſes an der Haut des Elefanten, welche
ich eben vor Augen habe, und daran nur die Plaͤttchen
brei-
[235]I. Abſchnitt. Werkzeug.
breiter ſind. Sie beſizzet aber eine verſchiedne Dichtheit
und Haͤrte. Sie iſt zart an den Augenliedern, Wangen,
Lippen, Weiberbruͤſten, und der Vorhaut, und haͤrter
an dem behaarten Kopfe. Sie kann eine bewunderns-
wuͤrdige Ausdehnung vertragen, wenn dieſe langſam ver-
richtet wird, wie man an den ſchwangern Frauen, und
den fetten und waſſerſuͤchtigen Menſchen ſiehet. Man
hat von einem einzigen Finger 22 Zoll abgeſchnitten (o**).
Ein Scirrhus, der drei oder vier Theile eines Pfundes wog,
befand ſich in der Gegend des Stirn- und Schlaͤfenbeins
(o†). Ein Rieme von der Groͤſſe eines Quadratzolles,
traͤgt 200 Pfunde (o††).
Diejenigen, welche geſchrieben haben, daß die Seh-
nen (p) in den Bau der Haut aufgenommen werden, brin-
gen eine Meinung auf die Bahn, welche, wenigſtens in
Abſicht auf den Menſchen, nicht wahr iſt (q). Es zeigen
ſich naͤmlich an der weiſſen Bauchlinie (r), und am Ruͤk-
ken, dem Halſe (s), dem Knie (t) und Ellbogen (u) ſehr
leicht die ſehnigen Faſern ohne Veraͤnderung und fuͤr ſich,
wenn man die Muſkeln davon abſondert, und ſie werden
jederzeit durch ein Zellgewebe von der wahren Haut ent-
fernt gehalten. Der lange Muſkel der flachen Hand,
(palmaris longus) (x), und eine aͤnliche breite Sehne am
Fuſſe wirft allerdings ſehnige Faͤden in die Haut, welche
ich
[236]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
ich, wenn ich nicht irre, in Augenſchein genommen habe,
ob ſie gleich Albin(y) daſelbſt nicht zulaſſen will. Jch
unterſtehe mich nicht zu ſagen, ob in den Thieren einige
ſehnige Faſern in die Haut mit uͤbergehen (z).
Die Haut iſt an den Vierfuͤßigen, beinahe wie am
Menſchen beſchaffen, und an den Voͤgeln duͤnne, da ſie
von ſo vielen uͤber einander liegenden Federbogen beſchuͤzzt
wird.
Der vortrefliche Albin zaͤlt die meiſten von dieſen
Schlagadern, welche Ruyſch der Haut zuſchreibt, zu dem
Zellgewebe. Und ich habe es uͤberhaupt gefunden, daß
ſich die Sache wirklich ſo verhaͤlt.
Es krichen viele und groſſe Blutadern durch das Zell-
gewebe unter der Haut mit ihren Staͤmmen herum, wie
man an beiden Roſenadern (a*), an der Kopf- an der
Medianader, und der aͤuſſern Droſſelader ein Beiſpiel hat.
Dieſe Blutadern faͤrben die Haut an einer weiſſen lebenden
Frau auf eine angeneme Art blau. Sie werfen in die Haut
Aeſte, die nicht eben ſehr bekannt ſind, weil die Blutadern
unter der Haut ziemlich mit Klappen verſehen ſind. Unter
der Haut kommen Schlagader, die niemals lang ſind, mit
zalreichen und kurzen Zweigen heraus, und dieſe Zweige
ſind da, wo ſie tiefer liegen, mit Muſkeln bedekkt. Die
kleinen Staͤmmchen eben dieſer Schlagadern verteilen ſich
ins
(a)
[237]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ins Zellgewebe: ihre erſte Aeſte laufen ſchon nach der Haut,
wo ſie ſich von dieſem Zellgewebe trennt, ſie ſind zalreich,
wiewohl nicht gros, und ſie machen dasjenige Nezz aus,
welches Ruyſch(b) auszuſprizzen pflegte, wenn die Haut,
nach Art einer Entzuͤndung, rot werden ſollte. Je weiter die
Schlagadern gegen das Oberhaͤutchen in die aͤuſſern Haut-
faͤſerchen fortlaufen, deſto kleiner werden ſie (c), es kom-
men die allerkleinſten in derjenigen Flaͤche vor, welche das
Oberhaͤutchen beruͤhrt, und die ſich zuerſt, nach Fort-
ſchaffung dieſer Dekke zeigt, ſo wie auch einige in den
Warzen (c*) zu Geſichte kommen. Auch an dieſer Stelle
hat die Haut eine angeneme Roͤthe, ſo wohl an lebendigen
Menſchen, an denen blaſenziehende Mittel das Oberhaͤut-
chen abgezogen haben, als an todten Koͤrpern, in deren
Schlagadern man rotgefaͤrbten Fiſchleim ſprizzt. Der
neugeborne Menſch iſt uͤber und uͤber ganz rot (c**), und
faͤngt erſt nach und nach an blaſſer zu werden. An den
Wangen (d) kann das Auge bei vielen Menſchen nicht nur
eine verworrne Roͤthe, ſondern auch an einigen ſogar die
roten Gefaͤſſe und deren Aeſte warnehmen. An Thieren iſt
die Haut gemeiniglich weis, und dieſes iſt die natuͤrliche
Farbe aller faͤchrigen Membranen.
Wenn an andern Orten die Gefaͤſſe von der kleinen
Art (e) helle Saͤfte enthalten, ſo hindert das nicht, daß
nicht in der Haut dergleichen Gefaͤßgen ſein ſollten, und
dieſes ſcheint die hoͤchſtzarte Ausſcheidung des Hautdunſtes,
wo-
[238]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
wovon wir nachgehens reden wollen, vermutlich zu ma-
chen. Man glaubt, daß in dieſe Gefaͤſſe das Blut in
Entzuͤndungen dringe, und daß ein einziger verwirrter
roter Flekke alsdenn vor der ganzen Haut da ſei (f). Al-
lein ich glaube vielmehr, daß dieſes Blut aus ſeinen Ge-
faͤſſen ausgetreten ſei. Denn warum erſcheinen an einer
entzuͤndeten Haut keine groͤſſer aufgeſchwollne rote Ge-
faͤſſe, ſondern aller Orten eine durchgaͤngig gleiche Roͤthe.
Nuck erwaͤhnt einige limphatiſche Blutadern, die von
den Fingern und Zeen an Haͤnden und Fuͤſſen entſorin-
gen (f*). Allein dieſe nehmen von den bekannten Faden-
gewebe (celluloſa tela) ihren Urſprung her (f**).
Jn der ganzen Haut befindet ſich eine groſſe Menge
(f††) von deutlichen Nerven, und es enthaͤlt die Haut
nicht viel weniger Nerven, als der Muſkel (f†††). Obgleich
die geſammte Haut eines Menſchen, vermoͤge angeſtellter
Verſuche, nicht viel uͤber vier und ein halbes Pfund
ſchwer wiegt (g). Es verzeren ſich naͤmlich an den Glied-
maaſſen, nicht nur ganze Nervenſtaͤmme, von denen ich
an gehoͤrigem Orte Meldung gethan (g*), ſondern auch
unzaͤlige Zweige von andern Nervenaͤſten in der Haut:
ſo wie an der Huͤfte (h), am Arme (i), Halſe und Kopfe
geſchicht, allwo von harten Nerven (k), vom fuͤnften
Zweige der drei Aeſte, vom Hinterhauptnerven des zwei-
ten
[239]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ten Nakkennerven (l), vom Ohrnerven, der vom dritten
entſpringt, ſehr haͤufige Fortſaͤzze in die Haut laufen, da-
von die mereſten gemeiniglich nach der Lefze und der Naſe
gehen.
Dieſe Nerven pflegen mit ihren langen Staͤmmen
durch die faͤchrige Raͤume unter der Haut zu wandern
(m), und hierauf krichen ſie mit ihren zarten Aeſten (m*),
welchen das kleine Meſſer ſchwerlich nachfolgen kann, in
die Haut hinein. Man kann dieſe Aeſte, da ſie ſich von
keinerlei Kunſt bedienen laſſen, nicht weit verfolgen, und
ſie verſchwinden in der Haut. Sie machen nicht (n) die
ganze Haut aus, indem dieſe ein Fadengewebe iſt, allein
ſie ſind in einer ſo zalreichen Menge gegenwaͤrtig, und
ſie laſſen zwiſchen ihren Zweigen ſo kleine Zwiſchenraͤumchen
blosliegen, daß ein jeder Theil der Haut empfindlich iſt,
und nach allen unſern Verſuchen ein ſcharfes Gefuͤhl hat
(o). Doch es wiſſen es auch die, welche mit ihren Haͤnden
Arzeneien machen, mehr als zu wohl, daß ein Menſch
alsdenn Schmerzen leide, wenn die Haut zerteilt wird,
und daß faſt alles uͤbrige ohne Empfindung verrichtet wird.
Nach dem Verſuch neuerer Gelerten (p) ſchmerzt die Haut
an ihrer aͤuſſern Flaͤche mehr, als an der innern, die ſie
unempfindlich (q), oder wenig empfindlich (r) befunden
haben wollen, koͤnnen von der aͤuſſerſten Schwaͤche eines
ſterbenden Thieres, oder von der Furcht hintergangen
worden ſein.
Die Haut wird in vielen Thieren (s) von ſtarken
Muſkeln dergeſtalt beherrſcht, daß ſie uͤberhaupt alle Jn-
ſekkten durch Erſchuͤtterungen aus der Stelle treibt, und
ſich das ganze Thier mit Veraͤnderung ſeiner Figur und
vermittelſt der zuruͤkkgezognen Gliedmaaßen (t) in eine
kugliche Form verwandelt.
Dergleichen Bewegungen geſchehen, vermittelſt der
Schicht der Muſkelfaſern, welche unter dem geſammten
Koͤrper zwiſchen der Haut und dem Fette vorkommen,
und welche an dem vierfuͤßigen faſt allezeit zugegen ſind
(u). Wenn man dieſes auf den Menſchenkoͤrper anwen-
det (x), ſo pflegt man es unter dem Namen der Fleiſch-
haut (panniculus carnoſus) fuͤr die beſondre Bekleidung
des Menſchen zu halten.
Aus der Urſache haben viele beruͤmte Maͤnner (y),
welche wir bereits angefuͤhret haben, die Haut reizbar
gemacht, weil die Haut bald geſpannt (z), bald loſe iſt,
weil
[241]I. Abſchnitt. Werkzeug.
weil ſie in der Kaͤlte, und in den Gemuͤtsbewegungen
ſtarre wird (a), ſich nach der Ausdehnung zuruͤkke
zieht (b), und ſich ſo gar die Haare in der Kaͤlte, und im
Zorne (c), ſonderlich an den vierfuͤſſigen Thieren, in die
Hoͤhe richten.
Am Menſchen werfen ſich einige, doch nicht zalreiche
Muſkeln in die Haut, und ſie theilen derſelben einige Be-
wegung, wie an der Stirn, der Naſe, den Lefzen, dem
Kinne, dem Angeſichte und der Kehle mit. An dem
uͤbrigen Menſchenkoͤrper und dem groͤſten Theile ſeiner
Oberflaͤche bemerkt man dergleichen nicht. An der Run-
zelhaut des Hodenſakkes liegt unter der Haut kein Muſkel,
ſondern es haͤnget blos ein Fadengewebe daran feſte.
Es liegt aber unter der ganzen Haut am Menſchen,
ohne alle Ausname, ein Fadengewebe, welches an den mei-
ſten Stellen voller Fett, an einigen dagegen, welches aber
ſelten geſchicht, ſehr mager iſt, als am maͤnnlichen Gliede,
am Ohre und den Augenliedern (d). An den Fiſchen er-
ſcheint ein ſehr haͤufiges Fett unter der Haut (d*).
Dieſes bereits oben beſchriebene Fadengewebe verbin-
det die Muſkeln dergeſtalt mit der Haut, daß dieſelbe bei
aller Beweglichkeit dennoch eine Feſtigkeit hat. Man
weis ſo gleich, daß ein Feler vorhanden iſt, ſo bald ſich die
Haut nicht uͤber die aufgeſchwollne Eichel ziehen laſſen will.
Dagegen hat bisweilen die gar zu groſſe Beweglichkeit (e)
verurſacht, daß man die Haut von der Kehle weit uͤber
die Naſe heraufziehen konnte, und daß ſolche von den Muſ-
keln aller Orten zuruͤkke gezogen wurde (e*).
Jch habe ſie ſo rot befunden, daß man ſie vor eine
kuͤnſtliche Fleiſchmembran ausgeben konnte (f). Und die
Natur ſelbſt bildet keine andre, die von einer Fettmem-
bran verſchieden waͤre (g).
An der Haut ſelbſt erſcheinen keine Muſkelfaſern, und
die Haut hat keine ſo reizbare Kraft, als die Muſkelfaſern,
ob ſie gleich in der Kaͤlte ſtarr wird, und ſich zuſammen-
zieht; denn ſie bequemt ſich den Reizen nicht (h).
Dieſes iſt, ſo viel ich finden koͤnnen, eine Entdekkung
des Malpighi, welcher an den unvernuͤnftigen Thieren,
und inſonderheit an dem Fuſſe des Schweins, zuerſt be-
merkt hat (i), daß die Haut nicht in einer gleichfoͤrmigen
Ebene fortlaͤuft, ſondern ſich uͤberhaupt an ihrer aͤuſſern
Flaͤche zu einigen Huͤgelchen erhebt, welche unter dem
Oberhaͤutchen vorragen.
Weil aber nur gar zu oft der Bau in den unver-
nuͤnftigen Thieren, der doch von dem unſrigen verſchieden
iſt, mit dem menſchlichen vermengt wird (k), ſo muß man
ſich
[243]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ſich huͤten, etwas baraus in unſre Beſchreibungen mit ein-
zumiſchen. Demnach ſind die Koͤrnerchen an dem groͤ-
ſten Theile der menſchlichen Haut ſo klein, daß man uͤber-
haupt, auſſer einer leichten Ungleichheit, nichts weiter be-
merken kann, das von der uͤbrigen Haut unterſchieden
waͤre. So hat nicht einmal Ruyſch(l) an dem erhabnen
Theile des Fuſſes einige Waͤrzchen finden koͤnnen, und er
geſteht es, daß ſolche anderswo tief in der Haut ſtekken
(m), und nicht ehe zum Vorſchein kommen, als bis man
Farbenſaͤfte einſprizzt. Ferner ſchreibt derſelbe nebſt an-
dern beruͤmten Maͤnnern, daß dieſe Waͤrzchen ſich ſo gar
durch Vergroͤſſerungsglaͤſer ſchwerlich entdekken laſſen, ſo
wie andre ſie gar uͤberhaupt leugnen (o), oder doch ſagen,
daß das Gefuͤl nicht durch dieſelbe verrichtet werde (p).
Doch das heiſt, zu weit gegangen. Jch habe naͤm-
lich am groſſen Zee und deſſen Theile, wo er mit der Fus-
ſole zuſammengrenzt, wenn ich das Oberhaͤutchen von der
macerirten Haut abzog, deutlich geſehen, daß ſich die
Waͤrzchen, wie Faͤden (q), oder Haare von dieſen
Schnekkenlinien (r) erhoben: und ſo verhalten ſie ſich auch
an der flachen Hand und der Fusſole (r*).
Eben ſo koͤmmt an eben den Zeen oder Fingern der
Hand, wenn die Naͤgel behutſam und blos durch Mace-
ration weggeſchaft werden, die darunter liegende Haut,
laͤngſt aus in Furchen geteilt, zum Vorſchein, und ſie
zerteilt ſich in Faͤden, welche ſich laͤngſt dem Nagel beu-
O. 2gen
(n)
[244]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
gen, und vorwerts fortgehen (s). Doch ſind dieſelben
an den kleinſten Zeen und Fingern unvollſtaͤndiger, ſie beu-
gen ſich nicht ſo und erſcheinen verhaͤltnismaͤßig kleiner (t).
An der flachen Hand, und der innern Seite der Finger
findet man ſie zugleich faſerhaft (t*).
An den Lefzen (u), den Wangen (x) und im Ange-
ſichte (y) erſcheinen ſie wie Zotten.
An der Eichel des maͤnnlichen Gliedes zerteilt ſich die
hoͤchſtweiche und ſchwammige Haut zugleich nach Riſſen
(z), von denen die vorwerts vorliegende Flokken abgeſon-
dert werden (a).
Sie ſind an der Weiberbruſt vielmehr ſtumpf und ke-
gelfoͤrmig (a*).
An den mereſten uͤbrigen Stellen der Haut ſind ſie
ungemein klein (b), und noch kleiner, als ein Sandkoͤrn-
chen (c), ſo daß ſie in der Haut nur eine ſehr geringe Un-
gleichheit hervorbringen. Sie erſcheinen unter dem Ver-
groͤſſerungsglaſe ſtumpf (d) und etwas breit. Eirund zeich-
nete ſie vor kurzem der beruͤmte David Kornelius von
Courcelles(e) am Arme, nach dem Vergroͤſſerungs-
glaſe.
Da ſie ungemein klein ſind, ſo laſſen ſich die Grund-
zuͤge eines ſo zarten Theilchen nicht leicht erklaͤren. Doch
ſcheinen ſie warſcheinlich mit der Haut einerlei Beſtand-
theile zu haben, und dieſes laͤſſet ſich durch das Beiſpiel
der Zungenwaͤrzchen bekraͤftigen, an denen man alles die-
ſes vor Augen zu legen im Stande iſt. Folglich werden
ſie erſtlich Nerven bekommen, welche der beruͤmte Kaauw
(f) ſehr muͤhſam (g) bis zu den Waͤrzchen der Haut
verfolgt hat. Man fuͤgt hierzu noch, daß nicht blos ein
einziger Faden, ſondern mehrere (h), in ein einziges
Waͤrzchen zuſammen laufen. Mit einem ſtraligen Pinſel
O. 3ver-
[246]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
vergleicht ſie ein beruͤmter Mann (i) und ein andrer erin-
nert, daß ſie ſich nach Art eines Pinſels in Faͤden zer-
trennen (k).
Man glaubt, daß die Nerven an dieſem Orte blos
liegen, und ihre Bekleidungen ablegen (l), nicht nur, weil
die Koͤrnerchen hoͤchſt zart ſind, wenn ſich das Oberhaͤut-
chen von den blaſenziehenden Arzeneien loshebt, da man
ſie denn mit einem Gallerte verglichen hat (m), ſondern
weil auch die Analogie auſſerdem ſolches zu rathen ſcheint.
Sie bekommen ferner an ihrer Grundflaͤche auch rote
Gefaͤſſe (n), welche mit gefaͤrbten Saͤften, die man ein-
ſprizzt, ausgefuͤllt werden koͤnnen, und ſich durch das
Waͤrzchen in Aeſten zerteilen. Man ſezzt noch hinzu, daß
dieſe Gefaͤſſe, wenn ſie ausgeſprizzt werden, das Waͤrz-
chen in die Hoͤhe heben (n*), und daß ſie endlich an der
Spizze des Waͤrzchen zuſammen kommen, dergeſtalt daß
ſie zu einem einzigen Staͤmmchen werden, der ſich in das
Loch des Oberhaͤutchen paſt (n**). Andre Schuͤler des
Albins wollen, daß das Staͤmmchen in den Umkreis des
Waͤrzchen Schlagaderaͤſte, mit weiten und offnen Muͤn-
dungen, werfen (n†). Sie entſpringen aus den kleinen
Schlagadern der Haut (o).
Folglich iſt dasjenige, was man ein Waͤrzchen nennt,
kein einzelner kleiner Huͤgel, ſondern ein Haufe kleiner
Huͤgel, und wenn man es macerirt (p), ſo zerteilt es ſich
in dergleichen. Es ſind naͤmlich dieſe kleine Gefaͤſſe, und
dieſe kleine Nerven, ohne Zweifel durch ein Fadengewebe
mit einander verbunden, wodurch ſie ihre Feſtigkeit erhal-
ten (q), und wodurch dieſe kleine Huͤgel alſo ihr Entſtehen
bekommen.
Man ſagt, daß die Waͤrzchen an ihrer Spizze durch-
loͤchert ſind, und ein Haar durchlaſſen (r), welches ich
von einigen zugeben will. Allein es hat nicht das Anſehn,
daß ein wirkliches Haar mit dem Waͤrzchen was zu thun
habe. Es koͤmmt naͤmlich weder an dem fuͤlenden Brei
der Hand, noch des Fuſſes, oder an der Mannseichel
und der Zunge ein Haar zum Vorſchein, wo dieſer Brei
unter der Haut liegt.
Man darf nicht zweifeln, daß ſie das Gefuͤl verrich-
ten, weil ſie an dieſen Stellen groͤſſer ſind, und daſelbſt
mehr entbloͤſt liegen, wo das Gefuͤl ſeinen vornemſten
Sizz hat, wie an der Eichel der maͤnnlichen Ruthe, und
an der Spizze der Finger und der Zeen, oder der Zunge,
oder da ſie kleiner ſind, wo die Natur ein ſchwaͤcheres
Gefuͤl verlangt. Da Nerven in ſie laufen, und da ſie
den aͤuſſern Gegenſtaͤnden um deſto mehr ausgeſezzt ſind,
je heftiger ein ausgeſtrekkter und erhabner Theil, der
ſich in Faͤden verlaͤngert, von einem widerſtehenden Koͤr-
per getroffen wird, als eine flache oder niedergedruͤkkte
Flaͤche.
Man koͤnnte noch, nach der Hipoteſe der Schwin-
gungen, hinzuſezzen, ob dieſes gleich eine Sache von Sub-
tilitaͤt iſt, daß an einem einzigen Waͤrzchen immer kleinere
Sektionen auf einander folgen, und daß das Weſen der
Nerven zu groͤſſern oder kleinern Schwingungen dadurch
geſchikkt gemacht wird (r*).
Daß die kleinen Gefaͤſſe der Waͤrzchen einen zarten
Dampf ausduͤnſten (s), widerſpricht der Analogie nicht,
indem ſie Theile der Haut ſind, welche ganz und gar zum
Ausduͤnſten aufgelegt iſt.
Die Trokkenheit, oder die Schaͤrfe der Luft iſt von
der Beſchaffenheit, daß die entbloͤſte Haut das Gefuͤl
derſelben nicht ertragen kann. Sie vertrokknet, wenn
man ſie der Luft ausſezzt, und wird zu einer Art von har-
tem Leder. Eben dieſes Element verwandelt auch an
todten Koͤrpern die Nerven in ſehr harte, durchſichtige,
bernſteinartige und zerbrechliche Strikke, und faſt eben
ſo arten auch die Sehnen aus. So gar ſterben Knochen,
die man an die Luft legt, bald ab, und es gehen die ent-
bloͤſte Schuppen von einem belebten Knochen bald ab.
Ja ich kenne keinen einzigen Theil des menſchlichen Koͤr-
pers, den man, ohne Schaden, der Luft ausſtellen koͤnnte,
es muͤſte denn der mit einer Glasrinde bedekkte Theil der
Zaͤhne, und das Oberhaͤutchen ſein.
Man pflegt naͤmlich Oberhaͤutchen (epidermis, cuti-
cula) uͤberhaupt diejenige Bekleidung von ſonderbarer
Art
(t)
[249]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Art zu nennen, welche trokken iſt, ſich an der Luft nicht
veraͤndert, im Waſſer ſchwer zergeht (t), zu keinem Fa-
dengewebe aufſchwillt, uͤberall gleichartig und von
einerlei Natur, unempfindlich (t*) iſt, und womit die
geſammte Haut uͤberzogen iſt, ſo wohl wenn man die
aͤuſſerſte duͤnne Haut, welche uͤber das Weiſſe im Auge
gezogen iſt, (conjunctiva) als den ſaftigen und ſchwam-
migen Bau der Lefzen (u), die Rutheneichel, oder die
Eichel der weiblichen Ruthe und das Zahnfleiſch darunter
begreift (u*).
Doch es laͤuft eben dieſes Oberhaͤutchen offenbar, und
wie es ſo gar das Meſſer zeigt, in eins fort, es begiebt ſich in
den Hintern (x), in die weibliche Schaam, in den Harn-
gang (y), in die Hinterbakken (z) Ohren hin, und es
fuͤllet aller Orten (a), dieſe geſammte lange Hoͤlungen
aus, bekleidet ſelbige inwendig, wohin dieſe Loͤcher hin-
fuͤhren. Sie wird alsdann zur zottigen Membran des
Gedaͤrms, des Magens (b), des Schlundes (c), Gau-
men (d), ſie iſt gleichſam die aͤuſſere Scheide der Trum-
melhaut (d*), ſie iſt das aͤuſſerſte Plaͤtichen der Schleim-
haut, und ſie iſt endlich die Bekleidung der Luftroͤhre,
und deren Aeſte, welche von der Luft beruͤhrt wird (e).
Nach meinen Gedanken iſt kein Thier (f), kein Pflan-
zenblat, noch Stengel ohne dergleichen Oberhaͤutchen.
Jch verſtehe unter Kindern, die ohne ein Oberhaͤutchen
O. 5auf
[250]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
auf die Welt gekommen ſein ſollen (g), weiter nichts als
eine Fabel; denn es iſt an der zaͤrteſten Frucht bereits
gleich anfaͤnglich mit da (h).
Es laͤſt ſich am Oberhaͤutchen und deſſen Theilen kein
Unterſcheid warnehmen (i), ohne nur daß es von ver-
ſchiednen Furchen durchlaufen wird (k), welche an dem
Ruͤkken der Hand vielekkig ſind und viele Diagonallinien
haben. Sie ſind an der flachen Hand parallel gerade,
und an den aͤuſſerſten Fingern auf ſonderbare und kuͤnſt-
liche Weiſe ſchnekkenfoͤrmig gewunden (l).
An dieſen Furchen liegen, zwiſchen den Parallellinien,
einige Punkte, die ohngefaͤhr wie Loͤcher ausſehen, in
denen das Oberhaͤutchen am nezzfoͤrmigen und an der
Haut feſte haͤngt (m); allein man hat nach genauen Nach-
ſuchen nicht gefunden, daß dieſe Loͤcher durch die Haut,
durchgehen (n). Diejenigen aber, durch welche die Haare
heraus gehen, gehen freilich durch die Haut durch. Man
glaubt, die Urſache von dieſen kleinen Gruͤbchen darinnen
gefunden zu haben, daß das Oberhaͤutchen loſer und wei-
ter als die Haut iſt, und ſich folglich notwendiger Weiſe
in Runzeln zuſammen zieht (n*).
Das Oberhaͤutchen haͤngt mit der uͤbrigen Haut ziem-
lich genau zuſammen, vermittelſt kleiner Faͤden, von denen
ihre inwendige Flaͤche gleichſam rauh anzuſehen iſt (o),
doch aber dergeſtalt, daß es vom Feuer, oder kochenden
Waſſer (o*) losgeht, und eben ſo von der nagenden Kraft
eini-
[251]I. Abſchnitt. Werkzeug.
einiger an die Haut gebrachten Mittel, oder in Krankhei-
ten abgeſondert wird. Oft geht es auch nach Fiebern (p),
Blattern (q), Frieſel (r), nach andern ſchweren Krank-
heiten (s), oder nach dem Podagra in ziemlich breiten
Stuͤkken ab (t).
Es laͤſſet gemeiniglich die Haut wie eine Kleie, von
kleinen Schuppen (u), die allerlei Figuren haben, zuruͤkke,
und vielleicht ruͤhrt es daher, daß ein in mikroſkopiſchen
Verſuchen beruͤmter Schriftſteller das ganze Oberhaͤutchen
fuͤr ein Schuppendach, beinahe wie an den Fiſchen (x)
anſieht. Er ſagt, die Schuppen waͤren fuͤnfekkig (y)
oder rundlich (z), um fuͤnf und zwanzigmal breiter, als
ſie dikk ſind (a), und ſie laͤgen in drei Reihen uͤber ein-
ander (b).
Ob nun aber gleich in Krankheiten oͤfters dergleichen
ſchuppiges Weſen an dem Oberhaͤutchen entſteht (c), ſo
hat man doch in neuern Zeiten nach vielen Bemuͤhen ge-
funden, daß das Weſen des Oberhaͤutchen einfach flach,
gleichſam pergamenthaft, und ohne Schuppen iſt (d).
Wenn
[252]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
Wenn der Zergliederer genau verfaͤhrt, ſo gehen ganze
Handſchue (e), oder Stiefel von der Haut los, und
dieſe pflegen weiter zu ſein, als ſie erſt waren (f). Jch
habe es aus der Erfahrung gefunden, daß dieſes an der
Frucht und Kindern, mittelſt einer langen Maceration,
leichtlich von Statten geht.
Diejenigen, welche ſagen, daß im Koͤrper alles von
Nerven erzeugt werde, nehmen dennoch das Oberhaͤut-
chen davon aus, weil ſie an demſelben keine Empfindung
warnehmen, und wenn es abgehoben iſt, die Haut aufs
heftigſte ſchmerzt.
Doch es finden ſich auch im Oberhaͤutchen keine Ge-
faͤſſe, wenigſtens ſolche nicht, welche bis jezzt von einem
Zergliederer mit einigem Safte ausgeſprizzt ſein ſollten.
Einige haben ſie zugelaſſen (g), theils weil man ſie ver-
mutete (h), theils kraft der gemachten Verſuche. Jch
ſelbſt habe es mit Augen geſehen, und durch ein Ver-
groͤſſerungsglas betrachtet, wie die kleine Schuppen des
Oberhaͤutchen, an einem Schweizeriſchen Wundarzte, S.
Andre, auf deſſen innrer Flaͤche Gefaͤſſe liefen, mit Qvek-
ſilber ausgeſprizzt waren. Doch hat es auch ſein koͤnnen,
daß mit einem Stuͤkkchen dergleichen Oberhaut zugleich
ein wenig Haut mit weggenommen worden, und daran
ſizzen geblieben iſt. Daß dieſer Mann ſehr leichtglaͤu-
big geweſen, bewis die laͤcherliche Fabel von einer Frau,
welche Kaninchen zur Welt gebracht haben ſollte; und er
glaubte
[253]I. Abſchnitt. Werkzeug.
glaubte nicht nur dieſes Maͤhrchen ſelbſt, ſondern er be-
muͤhte ſich auch, daſſelbe andern glaublich zu machen.
Leute, welche ſich in der Ausſprizzung der Gefaͤſſe ſehr
geuͤbt haben (i), behaupten, daß ſie nie ein Gefaͤß im Ober-
haͤutchen geſehen, und ich ſelbſt habe niemals dergleichen
warnehmen koͤnnen, da doch ein gefaͤrbter Saft aus
den allerkleinſten Gefaͤſſen der Haut offenbar ausſchwizzt.
Noch zur Zeit rede ich nicht von den ausduͤnſtenden
und ſchweisfuͤhrenden Gefaͤſſen.
Man hat ſehr geſtritten, wenn es keine Gefaͤſſe im
Oberhaͤutchen giebt, wie ſich denn das Oberhaͤutchen an-
faͤnglich erzeuge, wie es ſich nach dem Verluſte wieder
ergaͤnze, und wie ſich die langen Lappen, welche ſich bis-
weilen an der Haut, dem Gaumen, der Zunge, dem
geſammten Speiſenkanale, und wo es ſonſt ſeinen Sizz
mehr hat, losloͤſen, wieder erſezzen laſſen (k). Man
weis, daß die Natur auch die inwendige Membran der
Harnblaſe, des eitrigen Gedaͤrms, und das Oberhaͤut-
chen des ganzen Mundes und der Luftroͤhre wiederherſtellt.
Es geht auch an Thieren nicht nur ganz und gar ab, ſon-
dern es waͤchſt auch alle Jahre von neuem wieder. Man
kennt die gewoͤnliche Schlangenbaͤlge (l), woran ſo gar
ein Theil des Oberhaͤutchen ſizzt, welches vor die Horn-
haut im Auge vorgeſpannt iſt, und man weis, daß ſich
die Raupen (m), Spinnen, und andre Jnſekten, nicht
einmal, ſondern oͤfters haͤuten.
Einige haben auch dieſe Membran von dem Auf-
bluͤhen der Nervenwaͤrzchen herzuleiten geſucht (n).
Andre, wenn ſie im Oberhaͤutchen ausduͤnſtende Ge-
faͤſſe entdekkten, lieſſen die Oberhaut aus eben dieſen zu-
ſammengewachſenen Gefaͤſſen (o), die von dem Beruͤhren
der Luft ein wenig calloͤſe geworden, entſtehen (p). Jn
dieſem Verſtande laͤſt ſich das Exempel von einem Kinde
anfuͤhren (q), an welchem die ganze Oberflaͤche des Koͤr-
pers in Haufen von vorragenden calloͤſen Roͤhrchen ab-
ging, welche einmal nach dem andern wieder wuchſen.
Dieſe Bemerkung mit dem Vergroͤſſerungsglaſe ſchien die
Leeuwenhoekiſche Theorie zu beſtaͤtigen. Auſſerdem
beobachtet die Natur an der Oberhaut des Manati, dem
Wallfiſche (q*), und anderen Meerthieren einen hoͤchſtaͤn-
lichen Bau.
Jndeſſen iſt die Meinung doch alt, daß die Oberhaut
aus Feuchtigkeit entſtehe (r), und dieſes wird ſo gar durch
das Beiſpiel der Pflanzen beſtaͤtigt, in denen die Ober-
haut ohne Nerven iſt. Damit man alſo die Gruͤnde
beider Partheien deſto beſſer einſehen moͤge, ſo muͤſſen wir
einige Anmerkungen voranſchikken.
Die Oberhaut hat nicht uͤberall einerlei Dikke. Jn
der flachen Hand, an der Fusſole, an der Ferſe, und
den Gelenken der Zeen iſt die Oberhaut, ſo gar in der
Frucht ſelbſt (s), dikker (t).
Sie iſt am Ruͤkken der Hand, an der haarigen Haut,
und der Eichel der Mannsruthe am allerzaͤrteſten (u).
Viele unter den Alten haben bereits zwei Plaͤttchen an
dieſer Membran (x), ein aͤuſſeres zartes, und ein zwei-
tes feſtes von Faſern behauptet.
An denenjenigen Theilen des Menſchenkoͤrpers, die vom
Reiben und Gebrauche calloͤſe oder hart werden, zaͤlt man
nicht zwei, ſondern viele Plaͤttchen der Oberhaut, welche man
wie Blaͤtter eines Buches, oder Zwiebelhaͤute losreiſſen
kann, ſonderlich an der Fusſole, die inwendig vorragt,
und die Laſt des Koͤrpers vornemlich traͤgt (y).
Sobald als die Oberhaut vom Reiben, von der Hizze
des ſiedenden Waſſers, oder von Beruͤhrung eines ſchar-
fen chimiſchen Giftes (z) zerſtoͤrt wird, ſo waͤchſet erſtlich
eben ſolche wie zuvor wieder, die ſich ebenfalls runzelt,
aber zaͤrter iſt. Koͤmmt nun ein wiederholtes Reiben,
oder neue Waͤrme hinzu, ſo ſchlieſſen ſich an das erſte
calloͤ-
[256]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
calloͤſe Plaͤttchen immer mehr neue an (a), welche ſich
endlich in einen dikken hornartigen (b) Huͤgel verwandeln,
und da ſie unempfindlich ſind, ſo dekken ſie die darunter
liegende Hautnerven vor dem Eindrukke der Koͤrper, ſo
uns umgeben, mit ſolchem Nachdrukke, daß man gluͤhende
Kolen (c), gluͤhendes Eiſen (d) in der Hand herumtra-
gen, und die Haͤnde in geſchmolznes Blei (e), Eiſen (f)
oder Kupfer (g) eintauchen lernt, ohne von dieſer heftigen
Hizze was zu leiden, die ein Metall fluͤßig macht. Der-
gleichen pflegte Boerhaave(g*) von einigen Eiſenſchmie-
den zu erzaͤlen, man hat noch andre Zeugen hiervon (h),
und ich ſelbſt habe ehedem dergleichen in der Glashuͤtte,
in den Bergen von Baſel geſehen. Blos von dem heiſſen
Sande bekommen die Egiptier ſo harte Fusſolen (i), als
die Ochſen, daß man ſie ohne Schmerzen mit Eiſen be-
ſchlagen kann. Die Leute koͤnnen im Reiche Siam ohne
Schaden (k) auf gluͤhenden Kolen, und in Malabar ſo gar
ganze 20 Minuten lang gehen (l). Ehedem hatte man
Exempel, da es mit gluͤhenden Kolen in einer Gegend
anging, die nicht ſo heis war (m).
Alles dieſes mus man entweder auf die Rechnung ge-
wiſſer Krankheiten rechnen, oder mit andern Kunſtſtuͤkken
vergleichen, wo alle Arten der Membranen mit der Zeit
zu Plaͤttchen werden, die man darum nicht vor Hervor-
bringungen der Natur anſehen mus. Die waren Plaͤtt-
chen muͤſſen von einer verſchiednen Beſchaffenheit, von
der Zwiſchenlage des Fadengewebes, und von einem ver-
ſchiednen Bau abgeſondert werden.
Doch es hat der Fleis der Neuern an der Oberhaut
eine andre Art vom zweiten Plaͤttchen entdekkt, da beſon-
ders der Farbenunterſcheid an der Mohrenhaut behuͤlflich
geweſen, dieſe Sache weiter zu unterſuchen.
Es laͤſt ſich demnach an den Negren, die im weſtlichen
Afrika wohnen, die Oberhaut, vermittelſt der ſpaniſchen
Fliegen, in zwei Plaͤttchen abſondern, deren beide voͤllig
ſo dikk als das europaͤiſche Oberhaͤutchen, uͤbrigens flek-
kig, und durch faſerige Bande verbunden ſind (n).
Alsdenn erſt entdekkt man unter beiden Plaͤttchen,
wovon geredet worden, eine braunſchwarze (o) Beklei-
dung, welche ſich leicht vom Oberhaͤutchen abſondern laͤſt,
zu welchen die Oberhaut dennoch einige Faſern ſendet.
Dieſe
H. Phiſiol. 5. B. R.
[258]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
Dieſe Bekleidung haͤngt an der Haut feſter an, iſt dikker
als an den Europaͤern, und einer waren Membran aͤnlich,
da jene vielmehr einen geronnenen Schleim haben (p*).
Dieſerwegen habe ich lieber einen beruͤmten Mann
ausgeſchrieben, der haͤufige Gelegenheit hatte, Mohren-
koͤrper auf der Jnſel Jamaika zu oͤffnen. Andre ſehr be-
ruͤmte Zergliedrer nehmen nicht zwei Oberhautplaͤttchen
in den Moren an (q), ſondern ſie halten das, was man
nezzfoͤrmiges Gewebe (reticulum) nennt, vor das innere
Plaͤtichen der Oberhaut (r). Jch habe keine Gelegenheit
gefunden, dieſe Sache gehoͤrig zu unterſuchen.
Ferner erhellet aus den Moren viel deutlicher, daß
dieſes Nezzchen (reticulum) nicht ſo gebaut iſt, als die
Fuͤſſe an den Voͤgeln (s), und die Warzenzunge an den
Thieren, in denen das Nezzchen ſehr lange Waͤrzchen, die
ſich in die Scheiden der Oberhaut einſenken, durch deut-
liche Loͤcher (t),(u) durchlaͤſt. Es hat naͤmlich der Menſch
(x) und der Elefant (y) eine vollſtaͤndige und durchgaͤngig
fortlaufende Membran, welche undurchloͤchert iſt, auf
den Waͤrzchen aufliegt, und von ſelbigen eingedruͤkkte
Gruͤbchen bekoͤmmt, welche, da ſie an ſich duͤnner ſind,
auch nicht ſo ſchwarzbraun ſind (z). So wie die Waͤrz-
chen unter den Naͤgeln lang ſind, ſo hat auch daſelbſt dieſe
Bekleidung lange Furchen (a).
So wie auch das Nezzchen in den Moren nicht uͤberall
am ganzen Koͤrper einerlei Farbe hat (b), ſo hat es deſto-
weniger an den Europaͤer dergleichen. An denjenigen
naͤmlich, deren Haut weis iſt, findet man das Nezzchen
ſelbſt bald weis (c), bald braunſchwarz (d), und es laͤſt
ſich von der Oberhaut nicht ſo gut, als von der Haut ab-
ſondern (e).
Es iſt am Kinde weis, es wird mit den Jahren gelblich,
und es haben beruͤmte Maͤnner aus den Farben deſſelben
die Kennzeichen der Temperamenten hergenommen (f).
Es iſt gelb (g), und endlich bisweilen faſt ganz ſchwarz,
denn ich habe es an der Schaam einer Frauensperſon ſo
ſchwarz gefunden, daß es von der Morenſchwaͤrze nicht
ſehr verſchieden zu ſein ſchien (h).
Da es am Pferde weich iſt, ſo zerflieſt es (i), und
giebt erſt in der Maceration ſeine Farbe von ſich. Auch
die Faͤulnis loͤſet es zu einem ſchwarzen Mele auf (k).
Mit dem Orte der Schwaͤrze hat es wenig Schwie-
rigkeit. Denn da das Nezzchen der Moren lebhaft braun-
ſchwarz, die Oberhaut hingegen ſchwach (l), aſchfarben (m),
und faſt durchſichtig (n), die Haut aber eben ſo, wie an den
Europaͤern, weis iſt (o), ſo ſcheint kein Zweifel mehr uͤbrig
zu ſein, warum man nicht der Meinung des Malpighi
beipflichten ſollte (p), der den Sizz dieſer beſondern Farbe
in das Nezzchen ſezzt. Findet ſich bisweilen an einem
Moren eine Schwaͤrze, ſo wird alsdenn die Oberhaut in
der That von dem ſchleimigen Nezzchen geſchwaͤrzt (q).
Es ſtekkt auch keine Schwaͤrze in der Haut, welche weis
iſt, noch in der Oberhaut, denn ſie haben weder den in-
wendigen Mund, noch die zottige Darmhaut ſchwarz.
Auſſerdem halte ich nunmehro davor, daß man einen
guten Schritt darinnen gethan habe, wie ſich die Ober-
haut
[261]I. Abſchnitt. Werkzeug.
haut eigentlich erzeuge. Da ſelbige naͤmlich offenbar, und
ſonderlich am weiſſen Menſchen, die aͤuſſere Schicht des
Nezzchen iſt (r), da ferner das Nezzchen ein geronnener
Schleim iſt, der im Waſſer zergeht (s).
Da ſich eben dieſes Nezzchen (t) ſo wohl durch Wein-
geiſt, als durch Trokkenhert in eine Membran bringen
laͤſt: da ſelbſt die Oberhaut in dergleichen Schleim ver-
wandelt werden kann (u): da ſich zugleich das Nezzchen
wiederherſtellen laͤſt, wenn die Oberhaut wiederwaͤchſt (x);
ſo ſcheint nichts im Wege zu ſtehen, daß nicht die Ober-
haut aus dieſem Schleime durch die Wirkſamkeit der Luft,
durch eine jegliche Zuſammendruͤkkung, durch Austrokk-
nen und Ausduͤnſten, zu einer Art von Membran wer-
den ſollte (y). Die Undurchſichtigkeit derſelben verur-
ſacht die menſchliche Furcht (y*), an der ſich die Ober-
haut mitten in den Waſſern befindet (z). Dennoch aber
iſt dieſe Oberhaut viel feuchter, als am erwachſenen Men-
ſchen, breiiger, und viel ſchleimaͤnlicher.
Daß ſie von der harten Gehirnhaut entſtehen ſoll,
iſt die Vermutung eines Mannes, welcher von dieſer Ge-
hirnhaut alles herleitet (a).
Ueberhaupt iſt es ausgemacht, daß das Nezzchen um
deſto ſchwaͤrzer werde, je mehr es der Sonnenhizze aus-
geſezzt iſt. Es iſt an den Einwonern der kalten Gegen-
R 3den
[262]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
den weislich (b), an den mittaͤgigen Franzoſen und Jta-
lienern olivenfaͤrbiger, noch gefaͤrbter an den ſuͤdlichen
Spaniern; ſchwaͤrzlich an den Mauren (c) und denen
Kuͤſtenbewonern von Afrika, 18 Grade von der Mit-
tagslinie, nach beiden Seiten, herauf und herab gerech-
net (c*), faſt ſchwarz an den Malabaren, welche Koro-
mandel und das eigentliche Malabar bewonen, ſo wie an
den Malayern und den Bewonern der heiſſen Jnſeln
von Aſien.
Daß dieſe dunkle Farbe vornaͤmlich ein Werk des
Sonnenbrandes ſei, erhellet auch ſo gar aus dem Exem-
pel der Weiber, welche in ihren Zimmern eingeſperrt, nie-
mals an die freie Luft kommen, und in Aſien weis (d),
und von den Europaͤern wenig verſchieden ſind. Eben
ſo zeiget ſich auch an uns Europaͤern, wie ſehr die Stirn,
wenn ſie mit dem Hute bedekkt, oder der Arm, wenn er
mit Kleidern bedekkt iſt, von der uͤbrigen bloſſen Haut
des Geſichtes, oder der Hand verſchieden iſt. Dahinge-
gen iſt es gewis, daß alle Neger in den brennenden Erd-
ſtrichen wonen, und daß auch diejenigen, welche die Jn-
ſeln des ſtillen Meeres bewonen (e), wie die natuͤrlichen
Einwoner des brennenden Erdguͤrtels ausſehen (f), da
die Bergbewoner in Amerika beinahe weis ſind (f*).
Man erſiehet daraus, daß der Schweis gelb ſei, in-
ſonderheit derjenige, den eine ſcharfe Sonnenhizze erregt,
daß
[263]I. Abſchnitt. Werkzeug.
daß von dieſer Feuchtigkeit nicht nur die Oberhaut von
auſſen befeuchtet, ſondern auch das Nezzchen von inwen-
dig durchdrungen wird, weil der eingeſprizzte Leim an
todten Koͤrpern von der Haut dergeſtalt ausſchwizzt, daß
ſie die Oberhaut oͤfters abſtoͤſt, und ſich unter derſelben
zu Blaſen erhebt. Jndem dieſes an geſunden Menſchen
vorgeht, ſo kann dergleichen gelbe Feuchtigkeit, wenn ſie
ſich an das Nezzchen haͤngt, daſſelbe nicht nur dikker, ſon-
dern auch wegen der angeſezzten Plaͤttchen ſchwaͤrzer
machen, und dergleichen Geſichter bringen Soldaten, die
viel ausgeſtanden haben, oder Leute, die heiſſe Laͤnder be-
reiſt haben, oft aus entfernten Landen mit ſich nach Hauſe,
wodurch man ſie leicht von ihren zuruͤkkgebliebnen Landes-
leuten unterſcheiden kann. Man weis, daß die Portu-
gieſen, welche nunmehr in Guinea ſeit hundert Jahren
leben, eben ſo ſchwarz, als die Moren ſelbſt ſind (g).
Hingegen wiſſen wir, daß die Abißiner (h), und Moren
im oͤſtlichen Afrika, oder wo die Hizze nicht ſo heftig iſt,
weis werden (h. (i), daß die um das Vorgebirge der guten
Hoffnung, nicht ſo ſchwarz ſind (k), und daß ſie in den
mitternaͤchtigen Laͤndern allmaͤlich bleicher werden (l).
Wenigſtens ſcheint auch jezzo eine Morin zu Londen die
europaͤiſche Farbe angenommen zu haben, und die Ver-
wandlung iſt bereits zum Theil vollkommen geſchehen (m).
Noch helfen einige Dinge die Farbe der Moren in
Nigritien mehr zu ſchwaͤrzen. Sie haben naͤmlich eine
weichere (n), zarte (n*), gleichſam geoͤlte (o) Haut, und
ihr Schweis iſt beſtaͤndig ſcharf, ſo wie er ſich an den
R 4meiſten
[264]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
meiſten afrikaniſchen Nationen durch einen beſondern Ge-
ſtank (p) verraͤth, welches ein deutlicher Beweis iſt, daß
ſich in dieſem Schweiſſe weniger Waſſer, hingegen mehr
geſchmolznes und verduͤnntes Oel befinde (q). Es ſind
ferner alle uͤber der Haut liegende Membranen an ſich
dikker, weil ſie uͤberhaupt mehr ſchwizzen, und eine groͤſ-
ſere Menge von dem ſtinkenden (gleichſam branſtigen)
Oele ins Nezzchen eindringt (s); denn ſie werden weis
geboren und bleiben eine Zeitlang beinahe weis (t). Die
Narben ihrer Haut ſind ebenfalls weis (u), und ſie gehen
nach den Blattern erſt nach und nach wieder durch die
gelbe Farbe in die voͤllige Schwaͤrze uͤber (x). So wer-
den auch die Negern nach Krankheiten gelb (x*).
Jhr Blut iſt ſchwarz, und dieſes koͤnnte ſchon fuͤr
ſich der Schluͤſſel zur Aufloͤſung des Problems ſein. Denn
was laͤſt ſich von einem ſchwarzen Gebluͤte anders, als
ein brauner Schweis erwarten (y).
Man ſagt, es ſei auch die Galle der Moren ſchwarz
(z), und es ſcheine zwiſchen Galle und Haut, oder doch
dem Nezzchen eine natuͤrliche Verbindung zu ſein, wie
man an der gelben und ſchwarzen Sucht ein Exempel
hat
[265]I. Abſchnitt. Werkzeug.
hat (a). Es ſei im Seefiſche, Mullus genannt, als
welcher eine ſehr geſchwollne Haut hat, die Leber von eben
derſelben Farbe, indem dieſer Fiſch keine Gallenblaſe
hat (b).
Ferner ſei das Gehirn der Moren von dieſer ihnen
eignen Schwaͤrze nicht frei (c). Folglich haben beruͤmte
Maͤnner die Farbe der Negern einzig und allein vom
Sonnenbrande hergeleitet (d), und es wuͤrden auch weiſſe
Menſchen in dergleichen Himmelsſtriche allmaͤlich in das
Schwarze ausarten (e).
Hierzu koͤnnte noch das Nakktgehen (f), das Sal-
beneinreiben, und die groͤſſere Dikke der Oberhaut etwas
mit beitragen (g).
Ein Menſch, dem es um Warheit zu thun iſt, beru-
higt ſich nicht, ſo lange noch ein Zweifel uͤbrig bleibt, den
er ſich ſelbſt nicht benehmen kann. Es ſtekkt naͤmlich in
dieſer Urſache der Morenſchwaͤrze etwas, welches vielmehr
von den Verſchiedenheiten im menſchlichen Geſchlechte
herzuruͤhren ſcheint, indem in den alleraͤlteſten, und uns
unbekannten Zeiten, in dem Menſchengeſchlechte Unter-
ſcheide entſtanden ſind, welche ſich niemals allgemein ver-
breitet haben, ſondern von den Vaͤtern und Muͤttern, bis
auf die lezzte Enkel, in einer ununterbrochnen Geſchlechts-
folge fortgepflanzt haben.
So hat ein Neger (g*) nicht blos die bereits gemeldete
Merkmale an ſich, ſondern auch auſſerdem geſchwollne
R 5Lef-
[266]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
Lefzen, eine flachgedruͤkkte Naſe, woran man ihn auch in
einer Bildſaͤule kennen kann, ohne daß man die Farbe
dabei zu Huͤlfe nehmen darf.
Dagegen iſt es den Europaͤern, um die Farbe auſſer
Acht zu laſſen, natuͤrlich, gerade Haare, kleine Lippen,
und eine vorſtehende Naſe zu haben.
Ferner werden die Europaͤer in dieſen brennenden
Morenlaͤndern zwar ſchwarz, doch ſo, daß ſie ihre uͤbrige
Statur, Haare und Natur genau behalten (h), und
niemals weder zu ſchwarzen Moren werden, noch die
uͤbrige Leibesbeſchaffenheit derſelbe annehmen (i). Doch
es arten auch die Mauren nicht, welche unter den Moren
leben, in dieſer ihre Statur aus, und ſie haben keine
oͤlige Haut. Ja, man erblikkt in dieſen heiſſen Laͤndern
ganze weiſſe Nationen.
Dagegen ſind die Negern, welche von ihren Vaͤtern
und Grosvaͤtern in den am wenigſten europaͤiſchen Pflanz-
ſtaͤdten gezeugt worden, ebenfalls ſchwarz (k), und ſie
bleichen nicht von der Kaͤlte des Himmelsſtriches aus.
Es iſt gar nichts neues, daß in eben dieſen Gegenden,
unter gleicher Sonnenhizze, weiſſe Nationen, mit ſchwar-
zen vermiſcht, gefunden werden (l).
Dahingegen leſen wir, daß in eben dieſem Afrika, oder
auf den heiſſen Zukkerinſeln, vom Beiſchlafe eines weiſſen
Mannes mit einer ſchwarzen Frau, oder umgekehrt, die
Farbe
[267]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Farbe bleicher wird, und Menſchen daraus werden, die
von europaͤiſchem und Morenkarakter gemiſcht ſind, naͤm-
lich gelbe (l*) Menſchen mit krauſen Haaren (m). Es
bleibet dieſe Gilbe unveraͤndert, wenn ſich dieſe Mulatten
unter ſich von neuem vermiſchen (n). Wenn ſich dieſer
Mittelmenſch, der von einem Weiſſen und einem Schwar-
zen gezeugt worden, mit einem weiſſen Menſchen von
neuem vermiſcht, ſo wird daraus eine Frucht, die den
Europaͤern ſchon naͤher koͤmmt, bis endlich, faſt nach der
vierten Zeugung (o), nachdem naͤmlich das Morenweſen
gleichſam von der europaͤiſchen Natur, zu wiederholten
malen, vertilget worden, ein Menſch zum Vorſchein
koͤmmt, der gelbe Haare hat, und von den uͤbrigen Eu-
ropaͤern in nichts verſchieden iſt (p). Giebt ſich aber
eben dieſer Mulatte mit einer Morin ab (q), ſo ver-
ſchwindet eben ſo, durch oͤftere Vermiſchungen mit ſchwar-
zen Weibern, ebenfalls in der vierten Zeugung, des Euro-
paͤers Natur, und es behaͤlt blos die moriſche die Ober-
hand.
Doch es ſcheinen nicht blos die Moren ein anderes
Volk, als die Europaͤer auszumachen. Man weis, daß
die Amerikaner eine Kupferfarbe an ſich haben, und braun
ſind (r); doch ſind ihre Haare lang, ſchwarz und hart.
Eini-
[268]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
Einige behaupten, daß ſie keine Baͤrte haben (r*); allein,
ſie reiſſen ſich ſelbige aus (r**). Auch dieſe bekommen in
der andern, oder dritten Zeugung ein europaͤiſches Ge-
ſichte (s).
Die Samojeden, Groͤnlaͤnder und Lappen haben ein
plattes Geſicht, eine breite kurze Naſe, ſie ſind von
Statur klein, vierſchroͤtig (t), und haben ſchwarzes Haar
und einen kleinen Bart.
An den Chineſen ſind die Augen klein, der Bart duͤnne,
die Naſe klein, und das Geſichte flach (u).
Dennoch aber, damit man nicht auf die Meinung
verfalle, und glaube, das Menſchengeſchlecht ſei von ver-
ſchiedenen Staͤmmen entſproſſen (x), und behalte ſeine
Unterſcheidungszeichen in ſeinen Arten, ſo erblikken wir,
dieſer Meinung zuwider, weiſſe Moren, weis, wie ein
Schimmel, mit roſenfarbnen Regenbogen im Auge, welche
kein Licht vertragen koͤnnen, ſchwach und zaͤrtlich ſind.
Von ihnen finden wir hin und wieder einzelne Exempel
(y); ferner, ganze Voͤlkerſchaften auf der Jnſel Java (z),
auf
[269]I. Abſchnitt. Werkzeug.
auf der Erdzunge von Darien (a), im weſtlichen Afrika
(b). J. Atkins erwaͤnt von gelben Voͤlkern in den
nordlichen Theilen von Aethiopien.
Dieſe weiſſe Menſchen werden von ſchwarzen Moren
(c) und roten Jndianern erzeugt (d).
Eben dieſe Menſchen haben nun ihre Farbe weder
von der Sonne, noch von ihren Eltern her. Beruͤmte
Maͤnner halten es vor eine Krankheit (e). Doch es er-
zaͤlen auch alte Schriftſteller (e*) von den Rieſen Guaye-
nures, dieſen weiſſen wilden Menſchen in Braſilien. Es
klingt dieſes nicht unwarſcheinlich, da man auch geflekkte
Leute und Halbſchwarze ſieht (f), und da wir auch an
dem flekkigen Gaumen der Widder und Hunde ſehr oft
warnehmen, wie ſich das ſchwarze vom weiſſen Nezzchen
nicht einmal an der Stelle abſondert, und (g) wie die
Schwaͤrze, gleichſam als eine Krankheit, in Europa (h)
dazu gekommen, da auch an alten Voͤgeln die Federn
ſchwarz werden.
Dieſes ſcheint blos daraus zu flieſſen, daß die Schwaͤrze
oder Weiſſe des Nezzchen von den Eltern auf die Kinder
fortgepflanzt werde, daß ſie ſich durch Krankheit und ver-
borgne Urſachen, ohne die Elemente des Saamens, erzeuge,
und daß der Himmelsſtrich zu beiderlei Farben viel bei-
tragen koͤnne, doch daß nicht der Himmelsſtrich allein,
oder
[270]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
oder der Grundſtoff des Saamens, der Grund ſei, uͤber
das Entſtehn der Farbe den Ausſpruch zu thun.
Es iſt die Geſchichte der Naͤgel mit der Oberhaut
verbunden, indem ſie an derſelben feſte anhaͤngen, und
mit derſelben, waͤrend der Maceration, zugleich abgehen
(i). Sie verhalten ſich, wenigſtens an den Europaͤern,
anders, als an den Thieren. Bei dieſen ſind ſie dikk und
kegelfoͤrmig gebogen; dagegen ſind ſie am Menſchen und
wenigen Thieren (k) flach und duͤnne.
Jch habe am groſſen Zee den Nagel folgender geſtalt
befunden. Man koͤnnte an dieſem Nagel drei Schichten
unterſcheiden, ob dieſelben gleich alle ſehr mit einander ver-
bunden ſind.
An dem menſchlichen Nagel unterſcheide ich die Ober-
haut, das wirkliche Weſen des Nagels, das in Furchen
getheilte Nezzchen, das unter dem Nagel liegt, und die
Waͤrzchen, welche in dieſem Nezzchen, wie in Scheiden,
ſtekken.
Der Nagel ſelbſt iſt an der Frucht, und am erwach-
ſenen Menſchen, wenn er wieder waͤchſt, weich und faltbar,
hernach elaſtiſch, haͤrter als ein Knorpel, und mehr wie
ein Horn zu betrachten; er hat eine platte Oberflaͤche, die
vom angewachſnen Oberhaͤutchen glatt iſt, und dagegen
eine in Furchen abgetheilte untere Flaͤche. Denn da er
ganz und gar aus Faſern beſteht, welche nach der Laͤnge
liegen (l), und in vielen Schichten uͤbereinander aufge-
haͤuft
[271]I. Abſchnitt. Werkzeug.
haͤuft ſind, ſo ſind dieſe Faſern inwendig oder gegen den
Knochen zu, wo keine Oberhaut iſt, in Furchen abgetheilt
(m), welche ebenfalls nach der Laͤnge laufen.
Der ganze Nagel iſt, wie die Oberhaut, ohne Empfin-
dung (n), und ohne Gefaͤſſe.
Er hat ſeinen Anfang oder Wurzel her (o) aus der
zakkigen Linie, welche in eine Schaͤrfe auslaͤuft, da, wo
ſie aus der anhaͤngenden Haut gegen das Zeegelenke ent-
ſpringt (p), an deſſen Kapſel es blos, vermittelſt des Fa-
dengewebes feſte haͤngt. Doch es reicht die Sehne nicht
bis dahin (q), und man hat Naͤgel wieder wachſen geſe-
hen, wenn gleich der dritte Knochen, und folglich zugleich
die Sehnen verloren gegangen waren (r). Der hintere
Rand dieſer Wurzel, und ihre zwo Seiten, machen den
Anfang zu der vierſeitigen Figur (s).
Es iſt dieſer Theil des Nagels weis, beigſamer, er
koͤmmt aus der Haut heraus, und wird ſichtbar, und end-
lich ſcheidet er ſich mit einem kleinen Bogen des groͤſſern
Zirkels von dem uͤbrigen roten Nagel ab (t).
Nachdem er ſich hierauf flach verlaͤngert, ſo verſtekkt
er ſich allmaͤlich mit ſeinen auseinander laufenden Seiten,
er iſt nun roͤter, wird allmaͤlich auch dikker, und verbindet
ſich mit dem Brei der Waͤrzchen. Endlich endigt er ſich,
wie
[272]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
wie es an den Europaͤern gewoͤnlich iſt, mit einem freien
Bogen, der ſo gleich auswaͤchſt, wenn man ihn ver-
ſchneidet.
Wir haben geſagt, daß ſeine innere Flaͤche, die nach
dem Knochen gekehrt iſt, voller Furchen ſei, und dieſes
verhaͤlt ſich dergeſtalt, daß die Furchen gleichſam von mem-
branoſen Waͤnden abgeſondert werden. Doch iſt blos
derjenige Theil furchig, welcher ſich uͤber dem kleinen Halb-
monde entbloͤſt, verlaͤngert (u), und es reichen nicht die
Furchen bis an dieſen Halbmond (x).
Nun begiebt ſich die Oberhaut an zweien Stellen zum
Nagel. Sie pflegt bei dem obern Anfange der Haut
gleichſam mit einer Mondfigur ausgeſchnitten zu ſein, da-
mit die Haut zugleich auch den Nagel in ſich nehmen koͤnne.
Doch iſt ſie nicht ausgeſchnitten, ſondern ſie biegt ſich wie-
der gegen ſich ſelbſt zuruͤkke, und kehrt wieder zur Wurzel
des Nagels zuruͤkke, und waͤchſt theils im Anfange dieſer
Wurzel damit zuſammen (y), theils verlaͤngert ſie ſich
auch vorne her, bis in einen deutlichen Theil des Nagels,
wofern dieſer nicht beſchnitten wird. Solchergeſtalt wird
daraus ein Blatt der Oberhaut, welches die entbloͤfte Flaͤche
des Nagels bekleidet, und mit derſelben weggeſchnitten
wird.
Doch es iſt auch die inwendige Flaͤche des Nagels,
wiewol an einer andern Stelle, an die Oberhaut angewach-
ſen. Wenn alſo die Oberhaut von dem empfindlichen
Brei des aͤuſſerſten Zees, der voller gewundenen Furchen
iſt, gegen den Urſprung des Nagels zuruͤkke kehrt, ſo waͤchſt
ſie ſelbſt daſelbſt an den Nagel an, wo die Waͤrzchen auf-
hoͤren, und es faͤngt der Nagel an frei zu ſeyn, ſo daß man
ihn ohne Schmerzen beſchneiden kann (z).
Von dieſem Anwachſen laͤuft der Nezzkoͤrper ferner
gegen den Urſprung des Nagels fort, und er dekkt die unten
liegende Haut ſo viel (a), als der Nagel Furchen hat.
Derowegen ſtekkt auch in dieſer Gegend die Schwaͤrze im
Moren (b). Wenn ſich dieſes Nezze weiter verlaͤngert,
ſo wird es da, wo es von der Wurzel des Nagels bedekkt
iſt, nunmehr weis (c), und die Haut laͤuft mit dem Nezze
zu den Seiten des Nagels weiter fort.
Dieſes Nezzchen iſt auf verſchiedne Weiſe von dem
Nezzchen am uͤbrigen Koͤrper unterſchieden. Denn es
iſt mit Furchen bezeichnet, welche laͤngſt dem Nagel laufen
(d), daß es die untenliegende Waͤrzchen vollkommen
dekkt, und auſſerdem weich, wo es zunaͤchſt unter der Haut
liegt, hingegen allmaͤlich haͤrter wird (e), wo es dem
waren Nagel naͤher liegt, bis es endlich gar nicht mehr
vom Nagel weiter unterſchieden werden kann; daher es
ſich gar nicht beſtimmen laͤſt, wo eigentlich der Nagel
aufhoͤrt, und wo ſich das Nezzchen anfaͤngt. Daher
pflegen es andre beruͤmte Maͤnner (f) vom Nagel nicht
einmal zu unterſcheiden.
Nun wollen wir die Haut betrachten. Es ſcheinet
ſelbige, wie die Oberhaut, eben ſo von einer Parabel-
furche ausgeſchnitten zu ſein, um den Nagel aufzunehmen:
allein ſie laͤuft in der That weiter fort. Die Haut bedekkt,
nachdem ſie ſich mit dem Knochenhaͤutchen vermiſcht, und
einem roͤtlichen Fadengewebe aͤnlich iſt, deutlich die Wur-
zel
H. Phiſiol. 5. B. S
[274]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
zel des Nagels, ſie verſtekkt ſie, und haͤngt ſich an den
hintern gezakkten Rand dieſer Wurzel (g).
Doch es laͤuft auſſerdem die Haut ſowohl von der
Gegend des Gelenkes, nachdem ſie ſich mit dem Kno-
chenhaͤutchen vermiſcht (h), als auch von beiden krummen
Aeſten der bereits gedachten Parabel, zwiſchen dem lezz-
ten Knochen und dem Nagel fort, und ſie geht bis zum
aͤuſſerſten empfindenden Brei, der bisher noch entbloͤſt
liegt, in einem ununterbrochnen Gange fort (i).
Doch iſt die Haut nicht allhier einfoͤrmig, ſondern
ſie wirft gleichſam zarte Faͤden von ſich, die ſowohl ober-
waͤrts, als gegen die Naͤgelwurzel entſpringen, ſich herab-
neigen (k), und von den Furchen des Nezzchen aufge-
nommen werden, und, wenn ſie endlich ihre Laͤnge durch-
laufen, ſich an das Nezzchen des Nagels anhaͤngen, ob
man ſie gleich durch Maceriren leicht wieder davon los-
machen kann. Dieſe Faͤden entſpringen nicht alle ober-
halb dem Nagel, ſondern nachgehens (l), wo ſich die
Haut unter dem Nagel verlaͤngert; folglich wird der
Nagel im Fortgehen immer dikker (m), und es ſind die
erſte Faͤden kuͤrzer, die folgenden hingegen laͤnger. An
die Wurzel, da dieſe keine Furchen hat, haͤngen ſich keine
Faͤden an. Sie ſind erſt ſehr weich, werden hernach
haͤr-
[275]I. Abſchnitt. Werkzeug.
haͤrter nach und nach (n), ſind nicht mehr ſo rot, und
haͤngen ſich ganz vorwerts gar nicht an den Nagel an,
ſondern es nimmt die Haut ihren gewoͤnlichen Bau wie-
der an, und es ſtreichen die Waͤrzchen auf die Seiten
auseinander (o).
Von dieſen Waͤrzchen ruͤhrt die hoͤchſtſcharfe Em-
pfindlichkeit in dem Fingerwurme her, einem Uebel, das
unter der Haut liegt, ſo wie die grauſame Marter unter
Barbaren daraus begreiflich wird, daß ſie den Elenden
die Naͤgel ausreiſſen. Denn alsdenn muͤſſen notwendig
alle Waͤrzchen, welche an dem Nagel feſte ſizzen, zerriſſen
werden.
Die Naͤgel haben in der That vieles mit der Ober-
haut gemein; ſie werden ebenfalls in Krankheiten, durch
auf einander liegende Plaͤttchen, dikker, die Oberhaut ver-
wandelt ſich oft zu Verhaͤrtungen (callos), die nicht viel
weicher ſind, ſie fallen ab, und wachſen eben ſo wieder,
ſie haben keine Gefaͤſſe und Empfindungen, und es laͤſt
ſich das Nezzweſen nicht von ihnen abſondern.
Boerhaave(p) machte den Verſuch, daß er den
Mond des Nagels mit einem roten unausloͤſchlichen Flek-
ken, vermittelſt eines in Koͤnigswaſſer aufgeloͤſten Goldes,
S 2beizte
[276]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
beizte, und bemerkte, daß der Flekken allmaͤlich gegen das
freie Ende des Nagels und ſo lange fortruͤkkte, bis er mit
dem Nagelſchnitte voͤllig verſchwand.
Jch leſe, daß die Naͤgel auch nach dem Tode noch
wachſen, und daß man ſie an der Leiche der Katharina
Vicri(q), die man nunmehr 250 Jahre erhalten, noch
alle Jahre abſchneiden koͤnne.
Dennoch findet ſich am Nagel mehr, als an der Ober-
haut zu betrachten; denn er nimmt nicht nur die Haut,
welche an ihm feſte haͤngt, auf, ſondern ſein Nezzweſen iſt
auch viel haͤrter und feſter, und es ſind an dieſem Nezz-
weſen die Waͤrzchen angewachſen. Hieran zweifelte auch
Albin(r).
J. Duverney(s) verglich die Naͤgel in ſo weit mit
den Hoͤrnern, daß ſich an den Hoͤrnern mehr Schichten
von Faſern und Plaͤttchen befinden, die noch deutlicher
hol ſind, um die Waͤrzchen in ſich zu nehmen (t). Doch
es liegen ebenfalls dieſe Waͤrzchen an den Klauen der
Thiere tief. Wenigſtens verwandeln ſich die ſchadhafte
Naͤgel in wirkliche Hoͤrner, die aus Plaͤttchen beſtehen
(u*). (u**). An einem Haſen wuchſen, ſtatt der Klauen,
feſte Faſern, wie Borſten, heraus (u***).
Mit den Haaren verglich ſie der vortrefliche Ludwig
(u****).
Malpighi ſchrieb die Naͤgel den Nervenwaͤrzchen
zu (x), und es glaubte bereits Empedokles(y), daß
ſie
(u)
[277]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ſie vermittelſt der Gerinnung aus den Nerven entſtuͤnden.
Allein, das Nezzweſen, und der Nagel noch mehr, laͤſt
ſich leicht von den Waͤrzchen unterſcheiden.
Aus dem beſchriebnen Bau ſcheint genung zu erhellen,
daß aus einem verhaͤrteten Nezzkoͤrper (y†) ein Nagel
werde, daß derſelbe aber ſich nach dem geneigten Waͤrz-
chen, als nach einem Modelle richte. Jch ſehe aber nicht
die Urſache ein, warum ſich hier das Nezzweſen vornaͤm-
lich verhaͤrtet; wiewohl es wachſen in Krankheiten uͤberall
felerhafte Hoͤrner (y*).
Es iſt offenbar, daß die Naͤgel bei dem Gefuͤle nuͤzz-
lich ſind. Dieſes Gefuͤl geſchicht vermittelſt der Waͤrz-
chen, die am Brei der aͤuſſerſten Finger, nach gewundnen
Linien, geordnet ſind. Es konten dieſe Waͤrzchen nicht
vom Knochen allein unterſtuͤzzt werden, weil dieſer Brei
notwendig haͤtte kuͤrzer werden muͤſſen, damit er Dekke
genung haben moͤchte. Nirgend hat die Natur Knochen,
ohne eine hinlaͤngliche Dekke von Fadengewebe und Haut,
blosgeſtellt. Waͤre nun nichts an der Ruͤkkenſeite der
Finger, welches den Waͤrzchen Widerſtand thaͤte, ſo wuͤr-
den ſie dieſem Drukke nachgeben, und in einander zuruͤkke
S 3ſin-
[278]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
ſinken. Nunmehr aber haben ſie den Nagel, als ein
vorgehaltnes Schild (y**), auf ſich liegen.
Sie koͤnnen auch behuͤlflich ſein, kleine Koͤrperchen feſter
zu ergreifen (z).
Bei den Thieren vertreten ſie die Stelle der Waffen;
allein, ſie ſind an ihnen anders gebaut, indem ſie mit den
Knochen der Zeen vergliedert ſind, und ihre eigne Muſ-
keln bekommen haben (a).
Sie wachſen an den Menſchen (b), ſo oft man ſie aus
Wildheit (c), oder aus altem Gebrauche zu verſchneiden
unterlaͤſt, lang, und bis drei (d) vier Zoll (e) oder eine
Spanne lang (f). Dergleichen eraͤugnet ſich auch bei
Krankheiten (f*).
Doch es hat die Natur dem Menſchen weit beſſere
Waffen gegeben, indem ſich auch die allerwildeſten Na-
tionen des Pruͤgels und Bogens zu bedienen wiſſen.
Dieſe Waffen wuͤrden viel zu ſchwach ſein, wenn die
Menſchen mit ſolchen die zottigen Thiere angreifen woll-
ten. Es ſollen ſich die Floridaner (g) der Naͤgel in
Kriegszeiten bedient haben. Doch es iſt dieſe ganze Ge-
ſchichte fabelhaft, und man ſieht zu unſern Zeiten keine
einzige Spur von ſo leichten Waffen mehr.
Die Haare ſind zwar nicht uͤberall mit der Haut ver-
bunden, aber ſie ſind es doch an den meiſten Stellen. Der
Menſch iſt, ſeiner Natur nach (h), ein haariges Thier,
ganz voller Haare, auch am Geſichte, der Bruſt, und
einem groſſen Theile der Aerme und der Schenkel; und
wenn irgendwo gar keine Haare ſind, ſo ſcheinen ſie an
der Fusſole, in der flachen Hand, und an der maͤnnlichen
Ruthe zu felen. Gemeiniglich giebt man den Menſchen
fuͤr ein glattes Thier aus, weil ſeine Haare, einige gewiſſe
Theile am Koͤrper ausgenommen, kurz und weich ſind;
doch giebt es einige die rauh ſind. Wir werden (i)
rauh geboren, und es hat die ſchoͤnſte Frauensperſon ein
ganz rauhes Geſicht. Uebrigens iſt der Menſch, um
ſich fuͤr den widrigen Winden und dem Regen beſto beſſer
zu ſchuͤzzen, an der Bruſt und dem Vorderleibe ſeines
Koͤrpers rauh (k). Thiere, denen der Regen auf den
Ruͤkken faͤllt, haben am Ruͤkken laͤngere Haare (l).
So oft diejenigen Haare, welche gemeiniglich kurz
bleiben, am Menſchen herauswachſen, und mit den Haaren
der gemeiniglich rauhen Theile gleiche Laͤnge bekommen,
erblikkt man rauhe Menſchen (m), baͤrtige Frauensper-
S 4ſonen
[280]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
ſonen (n), von denen man in den Jahrbuͤchern zu erzaͤlen
pflegt, daß es dergleichen ganze Voͤlkerſchaften geben
ſoll (n*), ſcheint blos eine Fabel zu ſein.
Das Haar iſt kein weſentlicher Theil der Haut, obgleich
das kleine und weiche Haar aus der Haut hervorzukommen
ſcheint (o). Doch Leute, die dieſes genauer unterſucht
haben, haben gefunden, daß auch dieſe weiche und weiſſe
Haare im Geſichte von dem Fadengewebe unter der Haut
herruͤhren (p). Endlich habe ich an dem Menſchen-
geſichte die Sache ſo befunden, daß beide Meinungen
wahr ſind; denn ſie haͤngen hin und wieder an der in-
wendigen Flaͤche der Haut feſte, wo dieſelbe an das Fett
grenzt.
Daß das Fett der wirkliche Sizz der Haare ſei (q),
erhellet augenſcheinlich aus dem Exempel der Theile des
menſchlichen Koͤrpers, wo oͤfters Haare aus Verſehen der
Natur wachſen. An ſelbigen aber iſt Fett, und weder
Oberhaut, noch Nezz, noch Haut. Jch ſelbſt habe in
einem Breigeſchwulſte des Eierſtockes (r). (s) die Faͤcher-
chen voller krauſen und ſchwarzen Haare geſehen, und es
iſt dieſes gemein, wie auch an den Breigeſchwulſten ande-
rer Theile, ſo wie an den Thieren zu ſehen (t). Doch
es keimen auch am Nezze (u), Magen (x), und anders-
wo hin und wieder an der Haut (y), Haare hervor, und
ſie ſind an denen Moſchbaͤlglein (z) zu ſehen geweſen,
oder mit dem Urin (a) abgegangen, oder durch den Hin-
tern ausgeworfen worden (a*). Die Zunge, woran
ſich oftmals Haare zeigen (a**) koͤnnte man zur Haut
mitrechnen.
Jch werde hier den Anfang von den vollkommnern
Exempeln machen, dergleichen am Menſchen die Haare
ſind, die am Hodenſakke und der Schaam wachſen; wie
auch der Bart an der Schnauze der wilden Thiere.
Es finden ſich unter der Haut im Fadengewebe (a†)
gefaͤrbte, und faſt eirunde Zwiebeln (b), welche ſo
gar auch an den kleinen Haaren im Geſichte beſtaͤndig
vorkommen. Doch ſind ſie am Kopfe und der Schaam
oval, an den Augenwimpern und Augenbranen rund,
und daß ſie am Milchbarte geſchlank ſind, lehrt ein
beruͤmter Mann (c). Folglich ſind die Zwiebeln, mit
ihrem halbkuglichen, zarten (d) Anfange, welches voller
Gefaͤſſe iſt, mit dem Fadengewebe vereinigt; ſie bekom-
men von dieſem Gewebe Gefaͤſſe (e), und, wie die Zer-
gliederer, welche die Sache ſubtiler einſehen wollen,
behaupten, auch Nerven (f), und endlich Faͤden vom
Fadengewebe (g).
Mitten um den Bauch der Zwiebel legt ſich eine
glaͤnzende, harte (h) Bekleidung an, welche ſich zerſchich-
ten laͤſt (i), und welche gegen die Haut zu zaͤrter, roͤtlich,
und ſchmaͤler iſt (k), und ſich unterhalb dem Loche der
Haut endigt. Jhre Figur iſt laͤnglich elliptiſch, ſie hat
ſchmale Enden, und die Mitte des Bauchs iſt dikker.
Durch ſie laufen rote Gefaͤſſe durch (l).
Jm Menſchen findet man auch die Zwiebel, von
eben derſelben Farbe, als die Haut hat (m), ſo daß man
ſie kaum in zwo Haͤute abſchaͤlen kann. Wenigſtens geben
ihr beruͤmte Maͤnner nur eine einzige Bekleidung.
Wenn man dieſe harte Bekleidung oͤffnet, ſo laͤuft Blut
(n) genung und uͤberfluͤßig heraus, daß es ſcheint, als
ob es ſich aus einer Hoͤlung ergieſſe. Jn andern befin-
det ſich ein duͤnner, etwas zaͤher Saft (o), welcher im
Fadengewebe ſeinen Sizz hat.
Nachdem man aber das Blut herausgeſchaft, ſo er-
ſcheint eine andere inwendige Zwiebel (q), die langweg
cilindriſch iſt, ein rundliches Ende hat, welches in einer
zarten halbkugligen Scheide ſtekkt, und uͤbrigens weis,
und ein wenig hart iſt.
Wenn auch dieſe zwote Schale des Haares eroͤffnet
iſt, alsdenn erſcheint erſt das Haar blos (r). Sein An-
fang ſtekkt in dem zaͤrtern Theile der erſten Scheide. Es
iſt daſelbſt duͤnner gebogen, und kegelfoͤrmig (s). Wo
es in der Zwiebel ſtekkt, iſt es weicher (t). Zwiſchen ihm
und der innern Zwiebel befindet ſich noch in dem Fa-
dengewebe eine zaͤhe, und fette Schmierigkeit (u).
Von da ſteigt das Haar, mit ſeiner innern cilindri-
ſchen, und aͤuſſern Scheide, bis zum Schweisloche der
Haut herauf, und hier hoͤrt die aͤuſſere Scheide auf (y):
die inwendige aber bekleidet ferner das Haar (z). Sie
findet entweder in irgend einem offnen Mittelpunkte der
Linien der Oberhaut (a), oder in einer Talgdruͤſe (b),
oder, wie viele beruͤmte Maͤnner wollen (c), in einem Waͤrz-
chen, eine offne Straſſe. Andre leugnen dieſes (d), und
es iſt ausgemacht, daß ſich die Haare von der Stelle
des Gefuͤls, und folglich von den vornemſten Waͤrzchen
entfernen.
Durch ein dergleichen Loch geht das Haar heraus,
und indem es die Oberhaut beruͤhrt, ſo durchbort es ſelbige
nicht wirklich, ſondern es macht ſelbige zu einer Art von
Trichter (e), um ſich aus der Oberhaut ſelbſt eine Scheide
zu machen, welche mit einem unaufloͤslichen Zuſammen-
hange
[285]I. Abſchnitt. Werkzeug.
hange an die zwote Scheide angewachſen iſt (f), die von
der Zwiebel herruͤhrt; die Scheide aber, welche die
Oberhaut hinzu giebt, iſt hornig, von groſſer Elaſticitaͤt
und Haͤrte, und ſo gar an Mumien noch ruͤkkſtaͤndig.
Wenn man daher die Oberhaut abreiſt, ſo reiſt man die
Haare mit ab (g).
Wenn man dieſe Scheide zerſchneidet, ſo ſieht man
fuͤnf bis zehn (h) elaſtiſche Faͤden, welche unter ſich mit
dem Fadengewebe, und mit der Rinde verbunden ſind (i).
Sie laſſen eine maͤßige Oefnung zuruͤkke, welche mit
einem gegitterten Fadengewebe (k) angefuͤllt iſt, worinnen
wie in der Zwiebel eine zaͤhe Feuchtigkeit (l) iſt, die eben-
ſo vertrokknet und verſchwindet (m).
Das folgende iſt ſchon leichter, und Jedermann
bekant.
Es ſind die Haare, wenigſtens am Menſchen, cilin-
driſch (n), und von einem kegelfoͤrmigen Ende (n*). Es
hat auch eine genauere Sorgfalt an ihnen, weder Kno-
ten (o), noch Aeſte (p), noch Zerfaſerungen an der Spizze
(q), beſtaͤtigen koͤnnen (r).
Jhre Dikke iſt verſchiedentlich, gemeiniglich \frac{1}{700} vom
Zoll, bis zu \frac{1}{300}(s), (t). Es rechnet der beruͤmte Wit-
hof
(m)
[287]I. Abſchnitt. Werkzeug.
hof auf eine Zolldikke 572 pechſchwarze, 608 braune, und
790 bleiche Haare (u), welche alſo duͤnner, als die
uͤbrigen ſind.
Es laͤſt ſich ein trokknes Haar wie 5, ein feuchtes
wie 35 ausdehnen (x). Es beſizzt eine ungemeine Feſtig-
keit. Wir haben bereits von den Seidenfaͤden geredet (y).
Man weis, daß das Menſchenhaar 2069 Gran aus-
gehalten (z), ein Pferdshaar hingegen, das ſieben-
mal dikker iſt, trug 7970 Gran (a). Withof rechnet
uͤberhaupt vier Lot (a*). Das Haupthaar eines acht-
jaͤhrigen Menſchen trug 7812, eines jungen Menſchen von
22 Jahren 14285 Theile, eines von 57 Jahren uͤberhaupt
22222 Theile, nach einem andern Verſuche (b). Jn einem
andern, von gleichen Jahren, waren die Zalen 10309.
12967. und 25000 (b*). Von heiſſem Waſſer werden
die Haare ſehr merklich ſchwach, und verlieren bis zum
zehnten Theile von ihrer Staͤrke (b**).
Man beſtaͤtigt es, daß ihr Weſen faſt unzerſtoͤrlich
ſei, da welche in den alleraͤlteſten Graͤbern gefunden
worden.
Die Farbe ruͤhrt vom Safte her (c), der das inwen-
dige Fadengewebe anfuͤllt, das man das Mark heiſt.
Die Farbe iſt an der Frucht gemeiniglich weis (c*), und
bleibet auch in kalten Gegenden, doch nicht in den aller-
kaͤlteſten Gegenden, weis. Denn hier haben die Leute
braunes Haar (d). Von da waren, wenigſtens ehedem,
die Haupthaare bis zum 50 Grade oͤfters gelb. Gelb
hatten ſie die Deutſchen, und Burgundier. Je waͤrmer
die
[288]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
die Laͤnder ſind, deſto haͤufiger findet man die Haupt-
und andre Haare ſchwarz, ſie ſind blos ſchwarz an den
Moren, ausgenommen an den weiſſen Moren, die ſie
milchfaͤrbig haben (d*). Man glaubt, daß pflegmatiſche
und rohe Saͤfte weiſſes Haar machen. Daß ein choleriſches
Temperament (e) rote (f), und ein hizziges und blutreiches
Temperament die ſchwarzen hervorbringe. Gruͤnes Haar
findet man (g) in den Kupfergruben (h).
An den Alten werden die Haare in allen Laͤndern
grau, da hier nur blos die Farbe der Oberhaut noch
uͤbrig iſt (h*), und das Alter das Mark ausgetrokknet
hat, von welchem die Farbe herruͤhrt. Gemeiniglich ſind
ſie zugleich mit durchſichtig (i), wie es ein Glas iſt. Man
ſagt auch, daß alsdenn ihre Zwiebeln kleiner werden.
Viele ſchreiben, daß Leute vom Schrekken ploͤzzlich
grau geworden (k), die Geſchichte ſcheint aber ſehr un-
warſcheinlich zu ſein (l). Das glaube ich wohl, daß man
von Krankheiten (l*), jedoch nur nach und nach (m),
grau werden koͤnne. An den Haſen und Kaninchen,
wenn
[289]I. Abſchnitt. Werkzeug.
wenn dieſe zur Winterzeit ihre Farbe zu wechſeln ſcheinen,
oder weislich werden (n), ſo ſind entweder die braunen,
unter die weiſſe gemiſchte Haare weniger (o), oder es
bleichen blos die Haarſpizzen aus (o*).
Jn den nordlichen Laͤndern wachſen die Haare gerade,
ſie ſind kraus in den mittaͤgigen (p), und gemeiniglich
auch an der Schaam. Dahingegen wird die Wolle der
Schaafe in kalten Laͤndern kraus, in heiſſen lang und
nicht dichte (q).
Die Haare wachſen in eins fort. An der Frucht und
dem Kinde ſind die Haare des Bartes und der Schaam,
ſo wie die Haare der Schaam am Maͤdchen, unter der
Haut im Fette verſtekkt (q*), und keimen erſt zu ſeiner
Zeit hervor, ſo wie ſie gemeiniglich haͤrter ſind. Man
lieſet hin und wieder, daß ſie nach dem Tode gewachſen (r).
Wenn daran etwas wares iſt, ſo moͤgen ſie vielleicht von
der zuruͤkkgezognen Haut laͤnger geworden zu ſein ſcheinen.
Nach dem Verſchneiden wachſen ſie, wie die Oberhaut
wieder, ſie wachſen am Kopfe, innerhalb ſieben Tagen,
beinahe eine Linie lang (s). (s*), und endlich in nicht gar
langer Zeit ganz wieder nach. Wenn man die Haut los-
ge-
H. Phiſiol. 5. B. T
[290]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
geriſſen, ſind zugleich die Haare wieder mit gekommen (t).
Alten Perſonen, und einigen Familien (u), oder Voͤlkern
fallen ſie von ſelbſt aus (x). Sie ſind am zalreichſten
auf dem Kopfe (y), und am laͤngſten (z), ſowohl in der
ganzen Haut, womit die Hirnſchale bedekkt iſt, die Stirn
und einen Theil der Schlaͤfe ausgenommen, als am
Mannsgeſichte, unterhalb dem vorragenden Bakkenkno-
chen und Kinne.
An den unvernuͤnftigen Thieren wachſen in warmen
Laͤndern wenige, hingegen in kalten uͤberfluͤßige Haare
(z*). Unſre nach Afrika gebrachte Hunde werden kal.
Ohne Zweifel ruͤhrt die Urſache und Materie des Wachs-
tums von dem Marke her, welches, kraft ſeines Triebes,
aus der Zwiebel bis ins Haar aufſteigt (a), und ſich durch
ſein ſchwammiches Weſen ausbreitet (b).
Ob die Haare ausduͤnſten, das ſoll an einem andern
Orte unterſucht werden. Jn Polen iſt diejenige Krank-
heit, unter dem Namen des polniſchen Zopfes (Haar-
flechte)
[291]I. Abſchnitt. Werkzeug.
flechte), bekannt, da die Haare uͤbermaͤßig (c), und
faſt unglaublich, wachſen, und eine groͤſſere Dikke bekom-
men (d). (e). Man ſagt, ſie waͤren zugleich mit Blut (f)
und viel Saft angefuͤllt. Doch es ſind nicht wenig be-
ruͤmte Maͤnner, welche dieſe ganze Krankheit der Unflaͤ-
tigkeit und Unreinigkeit zuſchreiben (g), welches andre
hingegen leugnen (h), und ich habe keine beſondre Gruͤnde,
dieſe Streitigkeit entſcheiden zu koͤnnen.
Haare ſind ohne Empfindung. Denn ob man ſie
gleich mit Schmerzen ausreiſſet, und man die ſchlimmſten
Zufaͤlle vom Ausreiſſen der Haare in der Naſe hat erfol-
gen geſehen (i), ſo waren doch dieſes keine Nerven der
Haare, die da ſchmerzten, ſondern es thun die dikke Zwie-
beln, weil ſie durch die Haut nicht folgen koͤnnen, einen
Widerſtand, und man zieht die Haut nach ſich. Zugleich
wurde die Scheide der Oberhaut mit gezerrt, und die
Haut mit Empfindlichkeit erhoben.
Wenn man endlich die Haare im Feuer unterſucht,
ſo geben ſie faſt eben die Grundſtoffe, welche andre Theile
des Menſchenkoͤrpers darbieten, jedoch aber weniger Waſ-
ſer, und viel Salz. Aus einem Pfunde (k) Kopfhaare
vom Menſchen bekam Neumann(l) 46 Quentchen
harnhaften Geiſt, an fluͤchtigem Salze 17 Quentchen (l*),
T 2an
[292]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
an Oel 30 Quentchen, am todten Kopfe 35 Quentchen,
worinnen ſich an Feuer beſtaͤndigem Salze 21 Gran be-
fanden, folglich war ungemein wenig Waſſer dabei.
Seide, die mit den Haaren ſehr verwandt iſt (m),
gab, in gleichem Gewichte, an Uringeiſte 34 Quentchen,
an branſtigem Oele eine Unze, an fluͤchtigem Salze 30,
an fixem Salze zwei Quentchen.
Aus dem folgt, daß ſowohl die Seide, als die Haare,
mehr fluͤchtiges Salz, als Hoͤrner und Knochen enthalten.
Es gab nemlich die Seide von 15 Unzen, 18 Quentchen,
Hirſchhorn aber nicht uͤber fuͤnftehalb Quentchen (n).
Vormals wollte Quicenna aus den Knochen ſchon mehr
Waſſer bekommen haben, als aus den Kopfhaaren.
Endlich haben die Kopfhaare des Menſchen mehr fluͤchtig
Salz und Oel, als die Seide ſelbſt.
Daher bereitete J. Godard ſeine Tropfen, welche
lange her unter dem Namen der engliſchen Tropfen be-
kannt ſind, und vom Koͤnige Karl dem Andern erkauft
wurden, aus der rohen Seide (o). Es wuͤrde ſehr leicht
ſein, ſelbige aus Haaren zu verfertigen.
Da die ganze Haut uͤberhaupt keine Trokkenheit ver-
traͤgt, ſo wird ſelbige allenthalben mit mehr als einer Art
von Schmier angefeuchtet. Beruͤmte Maͤnner haben
zuerſt in den Fiſchen die Schleimquellen gefunden, da die
Haut an dieſen Thieren durch den Schleim, wider die
macerirende Gewalt des Waſſers, in Sicherheit geſezzt
wird. Dieſe Haut iſt an den Wallfiſchen mit einem ſehr
haͤufigen Oele, welches ſich durch die Faͤcherraͤume ergieſt,
und
[293]I. Abſchnitt. Werkzeug.
und durch beſondre Schweisloͤcher ausſchwizzt (p), ange-
feuchtet, und ſie wird davon ſo klebrigſchluͤpfrig, daß man
kaum darauf ſtehen kann (q). An den Regenwuͤrmern
ſind dergleichen Schweisloͤcher (r).
An andern Fiſchen liegen theils einfache, theils zuſam-
mengeſezzte Druͤſen unter der Haut (s). (t), welche durch
eigne Gaͤnge und deutliche Loͤcher (u) ihren Schleim uͤber
die Haut ergieſſen. Dergleichen Gaͤnge ſind bisweilen
lang und aͤſtig (x), und krichen vorher unter der Haut
herum, bevor ſie ſich durch ihre Poros den Weg oͤffnen.
An dem groſſen Seehunde zeigen ſich daſelbſt leere Hoͤ-
lungen (x*).
An den Eidechſen (y), und Froͤſchen (z), doch an
jenen noch deutlicher, ſieht man an dem Anfange der Huͤfte
Schweisloͤcher, durch welche man aus einer einfachen
Druͤſe etwas Zaͤhes ausdruͤkken kann, welches wie Milch
an den Rubetis(a) und Salamandern ausſieht (b).
T 3An
[294]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
An den Schnekken ſind (c) unter der Haut viele ſchleim-
fuͤhrende Druͤſen, und mit dieſem Schleime uͤberzieht ſich
die Haut, wenn ſie ſich verbirgt (c*).
Am Menſchen ſind, nach Verſchiedenheit der anzu-
feuchtenden Theile, bald ſolche, bald andre, jedoch allezeit
zaͤhe Saͤfte, zum Einſchmieren der Haut vorhanden,
und zwar ſo entſteht erſtlich ein oͤliger entzuͤndbarer (d),
ſanfter (e) und traͤger Saft in den haͤutigen (f), runden
und einfachen Blaͤschen der behaarten Haut des Kopfes,
und es ergieſt ſich dieſer Saft durch lange Gaͤnge (g),
und das Schweisloch der Haut (h).
Jn einem dergleichen Holweg oͤffnen ſich uͤberall
Schlagadern (i), es flieſſet aber, wenn man dieſen Hol-
weg druͤkkt, ein oͤliger Saft heraus, welcher die Haupt-
haare ſelbſt anfeuchtet (k), und an der Luft zu Schuppen
vertrokknet. Faſt eben ſolchen butterartigen Saft ſchwiz-
zen die erhabnen Druͤſen im Ohre von ſich (l), und hie-
her rechne ich ſowohl die Ohrenſchmalzdruͤſen, als die
Druͤſen unter den Aermen (m), deren Schweisloͤcher gros
ſind.
Auſſer den Kopf haaren entſteht (m*) noch eine andre
traͤgere, trokknere, weiſſe, teigige (n) Schmier, welche
ſich
(b)
[295]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ſich zu Wuͤrmer bilden laͤſt (o), aus den meiſten einfachen,
doch aber auch bisweilen aus den zuſammengeſetzten Druͤ-
ſen (p), unter den Augen (q), an den Wangen (r),
Lefzen (s), der Naſe (t). (u), den auswendigen Ohren
(u*), dem Nakken (x), Ruͤkken (x*), dem Hofe an
den Bruͤſten (y), am Hintern (z), den Hinterbakken (a),
an dem Geſaͤſſe (b), am Hofe des Nabels (c), an den
Nimphen (d), an den Lippen der Schaam (e), am Ho-
denſakke (f), an der Schaam (g), vielleicht auch an der
maͤnnlichen Ruthe (h), am Kranze der weiblichen Ruthe
(i), bei den Knieen (i*), Schulterblaͤttern (k), und
faſt allenthalben, wenn man die Fusſolen und flache Hand
nebſt dem Fingermarke ausnimmt (l).
Man trift ſie aber allenthalben an, wo eine Falte oder
die Verrichtung des Gliedes ein notwendiges Reiben ver-
langt (m); oft auch daſelbſt, wo eine ſcharfe Feuchtigkeit
(n) die zarte Haut beruͤhrt; oder, wo dieſelbe der Luft
ausgeſezzt iſt (o).
Alle dieſe Druͤſen rechne ich in eine Klaſſe, obgleich
der Saft in einigen um etwas weniges weicher ſein kann.
Wenigſtens hat die weiſſe feſte Schmierigkeit der maͤnn-
lichen und weiblichen Ruthe die groͤſte Aenlichkeit mit dem
Talge (Fette) des uͤbrigen Koͤrpers, und der Schmierig-
keit der Bruͤſte.
Die genannte Druͤſen beſtaͤtigt der Augenſchein ſelbſt.
Doch es haben, ohne dieſes Zeugniß, beruͤmte Maͤnner,
als Nikolaus Stenonius(p), und Malpighius(q),
wie es zu geſchehen pflegt, nebſt andern Anhaͤngern groſſer
Maͤnner, in dem ganzen Umfange des Koͤrpers Druͤſen
angenommen, durch welche der Schweis abgeſondert
werden ſoll, und die in der Fettmembran liegen, und
Schlagadern, Blutadern und Nerven (r) haben ſollen,
mit einer kleinen Muͤndung eroͤffnet (r*) waͤren, vor die
ſie, damit ja nichts fele, eine Klappe vorlegten, welche
Contulus(s) und Manget(t) ſo zeichneten, daß
ſich durch dieſe Klappe eine Laus frei hindurch bewegen,
und
[297]I. Abſchnitt. Werkzeug.
und ſie auf keinerlei Weiſe dem Auge unſichtbar bleiben
koͤnnten (t*). Man kann viele beruͤmte Maͤnner nennen,
welche dergleichen ſchweisfuͤhrende Druͤſen angenommen
haben (u).
Jch ſehe, daß die ſaͤmtliche Haut garſtig werden kann,
daß die Haut allenthalben angefeuchtet werden mus, und
man trift einige Spuren von dieſen Druͤſen bisweilen hin
und wieder im menſchlichen Koͤrper an, als die kernfoͤrmige
Theilgen in der Menſchenhaut (x), die Druͤſen in der
Haut des Elefanten (y), in ausgezehrten Menſchen (z),
oder Waſſerſuͤchtigen (z*), oder die in der Kaͤlte deut-
licher zu ſehen ſind (a), oder anderswo an menſchlichen
Koͤrpern ins Geſichte fallen (a*). Allein, man hat zur
Zeit noch nicht Verſuche genung, um dieſe Druͤſen in der
ganzen Haut zuzugeſtehen. Denn es hat der Schweis
nicht nur offenbar andre Quellen (b), ſondern es erzeugt
auch die ausſchwizzende Fettigkeit (c) haͤufig Schmuzz,
und man mus nicht leicht Theile am Menſchenkoͤrper an-
nehmen, welche uns die Sinne nicht an die Hand geben (d).
Doch darum will ich nicht glauben, daß es Waͤrzchen
(e) geweſen, was beruͤmte Maͤnner geſehen, von deren
T 5Mut-
[298]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
Mutmaßung wir Gegner ſind. Es iſt moͤglich, daß ſie
Talgdruͤſen geſehen haben koͤnnen, welche an vielen Orten
der Haut gefunden werden, und ſie koͤnnen dieſe im gan-
zen Koͤrper allgemein gemacht haben. Sie koͤnnen eine
felerhaft angehaͤuſte Materie im Fettblaͤschen geſehen ha-
ben, dergleichen an den Schweinen die Finnen ſind.
Die duͤnne und warme Feuchtigkeiten duͤnſten nicht
blos durch deutliche und organiſche Gaͤnge aus. Die
Haut des Menſchen und des Thieres haͤlt auch weder das
warme Waſſer (f), noch das traͤgere Beſtreben des war-
men Oeles zuruͤkke. Wir haben dieſes bereits von den
Wallfiſchen gemeldet (f*); doch es dringt auch am
Menſchen ebenfalls ein Theil von dem unter der Haut
gelagerten Fette (g) durch die Haut hervor, und zwar auf
verſchiedne Weiſe. Das Fett umgiebt naͤmlich das Haar
(h), es gehet durch einerlei Oefnung mit ſelbigem heraus,
und es feuchtet das Haar an (i). Es dringt noch leich-
ter durch die Haut hindurch, und es haͤuft ſich zu den
Kluͤmpchen an, welche ſich in die Gruben der Haut anle-
gen (i*). Es verurſacht dieſes Oel, daß die Haare an
allen Thieren das Waſſer abhalten (i**).
Anderswo und auch im Geſichte befinden ſich hie und
da Pori (k), welche eben nicht klein ſind, ſondern ſehr
gut geſehen werden koͤnnen, welche nicht eben in eine
ihnen eigene Druͤſe, ſondern zum Fette unter der Haut
fuͤhren, welches ſie in fluͤßiger Geſtalt durchlaſſen. Dieſe
Schweisloͤcher erſcheinen um die Naſe (l), am Knie und
Halſe (m). Jn der Oberhaut oͤffnet ſich nach dem Tode
das Fett einen Weg, und macht Flokken (n), welche ſich
an die Oberhaut anhaͤngen. Dieſes iſt dasjenige Oel,
welches Leeuwenhoek(o), und unſer Lehrer Boerhaave
(p), doch aber dergeſtalt beſchrieben, daß es nicht vom
Oele in den Blaͤschen ſehr verſchieden ſei. Wir werden
an ſeinem Orte melden, daß das Waſſer unter der Haut
durch eben dieſe Schweisloͤcher ausduͤnſtet.
Daß endlich die Haare ſelbſt ausduͤnſten (q), nehmen
nicht wenige Schriftſteller an, und ſie fuͤhren ſo gar die
Loͤcher an, durch welche das Mark ausſchwizzen ſoll.
Gewis, es mus das Mark, ob wir gleich die Wege nicht
kennen, dennoch notwendig, da es beſtaͤndig friſch zuwaͤchſt,
einigen Abgang leiden und ausſchwizzen, wenn das Haar
einen Zuwachs verlangt. Daß die elektriſche Materie,
welche funkelt und knakkt, ausduͤnſte, beſtaͤtigen viele Ver-
ſuche, die ſich entweder von ſelbſt (r), oder vermittelſt der
Kunſt eraͤugnen (s).
Jn gewiſſen Umſtaͤnden des menſchlichen Lebens wird
die Oberhaut allenthalben von Feuchtigkeiten naß, welche
durch die, merenteils unſichtbare, Schweisloͤcher der Ober-
haut dringen.
Es iſt gewis (t), daß dieſe Feuchtigkeit durch die
Schlagadern in die Schweisloͤcher der Haut eindringt,
weil die Gefaͤſſe, die von der Haut nach der Oberhaut zu
gehen, wie Baͤnder (t*), die beide Haͤute umgeben, ab-
geriſſen werden, indem man die Oberhaut losreiſt. Gott-
fried Bidloo(u) ſchmeichelte ſich, Waſſergaͤnge gefunden
zu haben, welche von der Haut nach der Oberhaut zu
liefen. Sein Herausgeber, Cowper, verſtattete ſelbige
nicht, und man hat ſie auch bisher nicht deutlich machen
koͤnnen. Daß aber der Schweis ſeinen Urſprung von
den Schlagadern her habe, beſtaͤtigt ſonderlich folgender
leichte und unveraͤnderliche Verſuch. Man mag in die
Schlagader, weſſen Gliedes man will, oder in den Stamm
der Aorte an jungen Perſonen Waſſer, oder in Weingeiſt
aufgeloͤſten Fiſchleim, den man mit dem Purpur von
Mexiko lebhaft gefaͤrbt hat, einſprizzen, ſo wird man nicht
leicht irren koͤnnen, daß nicht faſt uͤber die ganze Haut (y)
breite Blaſen (z) auffahren ſollten, worinnen der gefaͤrbte
Fiſchleim ſelbſt iſt (a), der aus der Haut aller Orten aus-
ſchwizzt, und ſich ohne Zweifel in paſſende Schweisloͤcher
der Oberhaut (b), welche nach dem Tode enger geworden
ſein muͤſten, treiben laſſen, und ſich unter die Oberhaut
er-
[301]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ergoſſen hat. Es ſind naͤmlich die Wege enge, und es
erſcheinen ſelbſt an der Oberhaut des Moren uͤberhaupt
keine Schweisloͤcher, ſondern blos zarte (c) und faſt durch-
ſichtige Stellen. Aber die Oberhaut wird von den Saͤften
leicht durchdrungen (d). Das Fett folgt dieſem Wege
hurtig genung, wie auch das Talg (e), ob dieſes gleich
oft farbenlos iſt, doch aber auch bisweilen (f) die zuge-
miſchte Farbe an ſich behaͤlt.
Jch uͤberrede mich, daß dieſes der wahre Quell (g)
des Schweiſſes ſei, weil ſich uͤberall am menſchlichen
Koͤrper Schlagaderroͤhrchen befinden, die einen Saft aus-
ſchwizzen, ſo wie der Schweis durch den ganzen Koͤrper
ausbricht; hingegen ſind die Druͤſen blos auf gewiſſe
Gegenden des Koͤrpers eingeſchraͤnkt, und es iſt der
Schweis nicht beſtaͤndig, ja an gewiſſen Menſchen, wovon
ich ein Exempel an einer Frauensperſon vor mir ſehe (h),
hoͤchſt ſelten, da doch notwendig in dergleichen Exempeln
die Druͤſen auſſernatuͤrlich aufſchwellen muͤſten, die man
fuͤr die Werkſtaͤtte des Schweiſſes zu halten pflegt, da ſie
in ſo viel Monaten nicht ausgeleert worden. Endlich ſo
iſt der Schweis fluͤßiger, und mehr waͤſſrig, als alle dieſe
Arten von Schmierigkeit, wovon die Haut angefeuchtet
wird.
Doch ich will nicht in Abrede ſein, daß nicht die
Materie des Schweiſſes, wenn dieſelbe in einem Theile
des Koͤrpers haͤufig zuſammenflieſt, auch in dieſen Druͤſen
ihre
[302]
ihre Niederlage nehme, und durch die Ausfuͤhrungs-
gaͤnge derſelben herausgehen ſoll. Eben ſo gebe ich zu,
daß dasjenige Oel, von welchem wir eben ſagten, daß es
durch die Haut ausſchwizzt, mit dem waren Schweiſſe
vermenget werde, und denſelben faͤrben koͤnne, ſowohl mit
ſeiner Farbe, als Zaͤhigkeit, und ſtinkendem Geruche, den
der Schweis leichtlich unter der Achſel und an den Schaam-
ſeiten annimmt, wo es viele von dieſen
Druͤſen giebt.
Bisher haben wir die Werkzeuge beſchrieben, nunmehr
wollen wir ſehen, was man aus andern Verſuchen
vornaͤmlich zu erlernen hat. Es iſt der Schweis ein
ſichtbarer Ausbruch der Feuchtigkeit durch die Schweis-
loͤcher der ganzen Haut.
Wir ſchwizzen, doch nicht allezeit, und es ſchwizzen
nicht alle Menſchen. Es giebt unter den Thieren, wenn
ſolches gleich hizzige Thiere ſind, dennoch welche, die nie-
mals ſchwizzen, als die Hunde (a), und Voͤgel (b), ob
wir
[303]XII. Buch. II. Abſch. Das Gefuͤhl ꝛc.
wir gleich nicht die Urſache davon begreifen. Es dringen
aus der Haut ganz kleine Troͤpfchen hervor, welche, wenn
ſie mit ihres gleichen zuſammenkommen, ſogleich zu groͤſ-
ſern Tropfen werden. Der Menſch ſchwizzt, ſo bald er
uͤber den Grad der Mittelmaͤßigkeit heis wird. Daher
ſchwizzen die Leute in denjenigen Laͤndern, wo die Luft heiſſer
iſt, in eins fort (c). Der heftigſte Schweis erfolgt,
wenn man unter den Wendezirkeln reiſet, mit groſſen
Tropfen (c*). Wir ſchwizzen aber, die Waͤrme mag
herkommen, woher ſie will, von der Hizze des Bades (d),
von Leibesuͤbungen, von Bemuͤhung, wie an den Gebaͤ-
renden, von der Anſtrengung der Seelenkraͤfte, von hef-
tigen Leidenſchaften, von warmen Getraͤnke, von zu vie-
lem Eſſen, von Schmerzen (d*), von Beaͤngſtigung,
vom Fieber, von der zu heftigen Erſchlaffung der Schweis-
loͤcher, von der Furcht, von Ohnmachten (e), und vielleicht
kann man auch den Todesſchweis hieher rechnen (f).
Man kann nicht leicht ſagen, in welchem Grade der
Hizze man ſchwizzt. Jch habe bei der groͤſten Fluͤchtig-
keit des Pulſes, von 136 Schlaͤgen, keinen Schweis zum
Vorſchein kommen geſehen, und es iſt bei den Prakticis
diejenige trokkne Hizze mehr als zu bekannt, welche ſich
im Anfange der Fieber einfindet, in beſondern Paroxiſmis
hoͤchſt beſchwerlich iſt, und ſehr leidlich wird, ſobald ein
Schweis auszubrechen anfaͤngt. Unſer Freund, den wir
vor kurzem verloren, dieſer ſcharfſinnige J. Friedrich
Schreiber(g). (h), bezeugte, daß bei einer Hizze von
108
[304]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
108 Fahrenh. Graden kein Schweis geweſen, bei 102
Graden aber ausgebrochen ſei. Ein andrer ſchwizzte im
Quartanfieber beim hunderten Grade (i). Jn einem
Bade, deſſen Hizze mit dem 34 Grade des Reaumur
uͤberein kam (k), floß der Schweis, obgleich der Puls
kaum vermehrt war.
So wie das Hin- und Herwerfen den Schweis ſehr
hindert, ſo befoͤrdert eine vollkommene Ruhe, wenn man
die Glieder unter dem Dekkbette haͤlt (l), den Schweis
ungemein. Wir wollen zum Voraus die Urſache geben.
Es erweichet naͤmlich die Ausduͤnſtung, welche ſich um
einen ruhigen und gekruͤmmten Koͤrper anhaͤuft, die Haut
dergeſtalt, daß ſie der duͤnſtenden Naͤſſe viel leichter nach-
giebt. Vielleicht iſt dieſes der willkuͤrliche Schweis des
Oligerius Paulus(m). Es ſchwizzte der beruͤmte
Adanſon(n) nicht einmal in der groͤſten Hizze, wenn
ein trokkner Wind dabei wehete. Jn naſſen Sommern
findet ſich bei Fiebern kein Schweis, und dieſer erfolgt
erſt bei erfolgendem Regenwetter.
Es geſchicht nicht ſelten, daß irgend ein Theil des
Leibes allein ſchwizzt, als die Stirn, die Achſel und die
Schaamſeiten.
So iſt auch der Schweis an einer Seite allein nicht
ungewoͤnlich, und wenn ich merkte, daß meine rechte
Seite ſchwizzte, ſo duͤnſtete die linke noch nicht. Ein
Schweis an der rechten Wange iſt von andern bemerkt
worden (p).
Es iſt der Schweis eines geſunden Menſchen, und
der ſich reinlich haͤlt, beinahe waͤſſrig, von Farbe etwas
weniger durchſichtig, als Waſſer, und er faͤrbt doch das
Leinenzeug nicht anders, als das Waſſer zu thun pflegt;
er iſt fluͤßig, doch ein wenig zaͤhe, ohne Geruch, von etwas
ſalzigem Geſchmakke (q), und zugleich mit elektriſcher
Materie angefuͤllt (r). Leeuwenhoeck(s) hat dar-
innen Kuͤgelchen wargenommen.
Man hat wenig chimiſche Scheidungen vom Schweiſſe
aufzuzeigen; indeſſen aͤuſſert er doch Grundtheile, die
mit dem Urin viele Aenlichkeiten haben (t), nur daß er
eine geringere Schaͤrfe hat (t*). Petit hat einen alka-
liſchen Schweis bemerkt (u).
Doch es aͤndert ſich einerlei Schweis auf allerhand
Art. Es geſchicht oͤfters, daß ſich Fett und das Oel aus
den Blaͤschen und Schweisloͤchern darunter miſcht, von
denen oben die Rede war (x). Der Schweis iſt von
jenem weiß, und von dieſem faͤrbt er ſich gelb (y). Die
Geſchichte der Aerzte erwaͤnt hie und da eines gruͤnen (z),
eines blauen (a), und ſchwarzen Schweiſſes. Viele
Din-
H. Phiſiol. 5. B. U
[306]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
Dinge machen ihn riechend und ſtinkend (b). Ja, es giebt
Voͤlker, deren Schweis uͤbel riecht, als die weſtlichen
Moren (c), und die Juͤden.
Auſſerdem bringt eine unflaͤtige Lebensart und beſon-
dere Abſondrung einer ungeſunden Feuchtigkeit, an den
Fuͤſſen, und bei vielen Menſchen am ganzen Leibe, einen
Geſtank hervor. Jn dem Falle pflegen gute Folgen da-
von zu entſtehen, und ſchlimme auf ſeine Unterdruͤkkung
zu folgen (d). Den Geſtank unter der Achſel, an den
Weichen, verurſacht ein beigemiſchtes Fett. Selbſt die
Speiſe traͤgt dazu viel bei: indem Knoblauch, Zwiebeln,
und andre Speiſen ſowohl den Schweis zaͤhe, als riechend
machen, und dieſes thut auch das Bokksfleiſch, nach der
Erzaͤlung oder Fabel der Alten (e), der Wein (f), das
Franzoſenholz (guajacum) (g), das Baumoͤl (h), Bier
(i), die Dekokten (i*), abgekochte Kraͤuter, und
Opium (i**).
Auſſerdem macht der Ueberflus an ſauren Speiſen,
und eine nach und nach geſammelte Menge der ſauren
Saͤfte, den Schweis ſelbſt ſauerriechend (k), und die-
ſes
[307]II. Abſchnitt. Schweis.
ſes eraͤugnet ſich auch in einigen langſamen Krankhei-
ten (l).
Ein beſondrer Geruch, den ein praktiſcher Arzt unter-
ſcheiden mus, dampft in den Blattern, im Frieſel (m),
Podagra (n), in der Peſt (o), im Flekkfieber (o*), im
Fieber der Gefaͤngniſſe hoͤchſt ſtinkend aus (p). Er bricht
oft mit Vorteil (q), und ſo zaͤhe aus, daß er ſich an die
Kleider, und den Hausrat anhaͤngt, und ſo gar in kochen-
dem Waſſer zu Boden faͤllt (r).
Es kann das Fett unter der Haut zugleich mit dem
Schweiſſe durch die Schweisloͤcher ausduͤnſten, von denen
wir geredet haben (s). Hierauf beruht die Heilung der
Waſſerſucht, vermittelſt des Sandes, die ehedem beruͤmt
war, und es noch in den warmen Gegenden von Frank-
reich iſt, wie ich von dem liebſten Jthius erfaren habe.
Und ſolche Kraft haben auch die Dampfbaͤder des Chri-
ſippus, die Galen lobte (t).
Selbſt das Blut ſcheint (t*) in der groͤſten Som-
merhizze (u), in heftigen Bewegungen (x), bei Wein-
trinkern, im Schrekken (y), in Beaͤngſtigungen (z),
von Blutaufloͤſungen (a), und von verſchiednen andern
Urſachen (b), den Weg des Schweiſſes zu nehmen; wo-
bei nicht die geringſte Folge geweſen (c), zu einem offen-
baren Beweiſe, daß die ſchweisfuͤhrende Gefaͤſſe nicht viel
kleiner, als die roten Schlagaͤderchen ſind, und daß es nur
beim Blute auf eine lebhafte Heftigkeit ankomme, um auch
in dieſelben uͤberzugehen (c*).
Es mus auch die Galle auf dieſem Wege ausdampfen,
weil man die Gelbeſucht durch einen gelben Schweis (d)
geheilt hat, und dieſes gilt auch vom verſtopftem Urine (e).
Bei einigen Menſchen iſt zugleich ein zarter Sand
(e*) mit dem Schweiſſe zum Vorſchein gekommen, und
ich habe ſelbſt auf dem Geſichte der Glasmacher Salz zu
Kriſtallen geworden geſehen, welches auch der beruͤmte
Theo-
[309]II. Abſchnitt. Schweis.
Theodor Tronchin(f) bezeugt. Man lieſet von Salz-
ſtrichen, die von der Haut abgewiſcht worden (g). An
der Haut der Wallfiſche bemerkt man eine Menge Salz-
koͤrner (g*).
Die geſundeſten Menſchen koͤnnen ohne Schweis ſein,
und es iſt derſelbe eine Art von Krankheit (h), die uns
unertraͤglich fallen wuͤrde, wofern ſie nicht nachlieſſe.
Folglich ſchadet er ſehr den Schwachen (i), er richtet
die Schwindſuͤchtige hin (k), ſo wie diejenigen, welche
von Wechſelfiebern matt ſind (l). Es iſt in Bengalen
die Krankheit gemein, da ein uͤbermaͤßiger Schweis,
wofern er nicht gemaͤßiget wird, den Tod bringt (l*).
Die Krankheit ſtekkt in demjenigen Theile, wo der Schweis
iſt (m). So bricht er in Fiebern die Paroxiſmos, und
er ſchaft gemeiniglich eine Erleichterung, wenn er auf eine
mit dem Fieber verbundne trokkne Haut folgt; es ſei, daß
er einige alkaliſche und hizzerregende Theile vom Blute
losmacht, oder daß er die Stelle der unterbrochnen Aus-
duͤnſtung erſezze (m*), oder daß er die Hautwaͤrzchen,
denen eine trokkne Hizze beſchwerlich faͤllt, mit einem ſanf-
ten Waſſerdunſte anfeuchte.
Man will nicht (n), daß Hippokrates eines kritiſchen
Schweiſſes Erwaͤnung thue; doch habe ich dergleichen
hie und da bei ihm angemerkt (o), und ich finde auch,
daß ihn dieſer gelehrte Greis durch Arzeneien zu befoͤrdern
geſucht hat (p).
Der Schweis iſt gemeiniglich im Anfange der hizzigen
Krankheiten ſchaͤdlich (q); und er geht alsdenn beſſer von
ſtatten, wenn die ſchaͤdliche Materie, nach geſchehener
Kochung, geſchikkt iſt, durch die Haut ausgeworfen zu
werden. Doch heilt er fuͤr ſich ſelber weder die Flekkfieber,
noch den Frieſel, oder Blattern, und man ſucht ihn mit
Gefar durch hizzige Arzeneien (q*) zu erzwingen, ſo daß
nicht einmal ein warmes Getraͤnke ſicher genung iſt, wie
ich von den gelindeſten Kraͤuterdekokten erfaren habe, daß
davon ein Kranker, der am Frieſel lag, innerhalb drei
Tagen zweimal in eine heftige Raſerei verfiel, der, ſobald
man von allen Seiten Kuͤlung machte, Erleichterung fand,
und endlich wieder geſund wurde.
Es laͤſt ſich nicht wohl beſtimmen, wie viel man
ſchwizze. Jch leſe, daß man bis ⅜ einer Pinte (r), bis
drei Pfunde (s) Schweis verloren, daß ganze Becher
damit angefuͤllet worden (t), daß man in der Kur der
Venusſeuche, welche man damals mit dem Dekokte von
Franzoſenholze zu bewirken ſuchte, im Hemde gegen hun-
dert (u) Unzen geſammelt habe. Schon lange hat man
die
[311]II. Abſchnitt. Schweis.
die Anmerkung gemacht, daß der Schweis einen ſtaͤrkern
Verluſt der menſchlichen Saͤfte nach ſich ziehe, als die
Ausduͤnſtung, wenn er mit einmal erfolgt, wie in der
Abname der Wechſelfieber (x).
Dieſe andre Ausduͤnſtung durch die Haut iſt zwar
nicht ſo merklich, aber dennoch bei den Aerzten viel be-
ruͤmter. Die Sache ſelbſt iſt ungemein alt, und bereits
vom Hippocrates(y), Throphraſt(z), Eraſiſtra-
tus(a), Aſklepſades(b), Galen(c), und den
uͤbrigen Schuͤlern der alten Schule angemerkt worden.
Sanctorius(d) hat ſie in Ruf gebracht, und es iſt
ſein Name in dem Artikel der Ausduͤnſtung noch beſtaͤndig
denkwuͤrdig, weil er der erſte geweſen, der, mittelſt Erfa-
rungen und Verſuche, die Urſachen und Maaße dieſer
Ausdaͤmpfung unterſucht hat.
Man hat dieſe Ausduͤnſtung unmerklich genannt,
weil ſie nicht ſo, wie der Schweis im Geſichte, faͤllt;
allein, darum iſt ſie doch nicht unſichtbar.
Es hat Ezech. de Caſtro an einem raͤudigen Men-
ſchen, wenn er ſich krazzte, beobachtet, daß die abgehende
Schuppen einen Rauch erwekkten (e). Eine Hand, die
man gegen das Eis haͤlt, raucht, wenn ſie gleich trokken
iſt, an allen Stellen (f). Bonnet ſahe, wenn ihm
die Sonne auf den Ruͤkken ſchien, und der Schatten auf
den freien Seſſel fiel, einen Dampf aufſteigen (g). Man
lieſet von einem Advokaten, an dem, wenn er ſeinen recht-
lichen Vortrag that, ein Rauch von der Pfeil- und Kranz-
naht aufſtieg (g*). Laurenz Bellin(h) verſichert,
daß er an einem dunklen Orte, der nur von einem einzigen
Licht erhellt wird, ſeine Hand rauchend zeigen koͤnne, und
er glaubte, eben dieſes bei Beruͤhrung eines Metalles zei-
gen zu koͤnnen, indem dieſes beſchlaͤgt, und ſich der Flekke
in Tropfen ſammlet (i); Allein, der Verſuch wird durch
das Angreifen, und beigemiſchte Oel und Fett felerhaft,
und es laͤſt ſich der Hauch viel beſſer an einem entfernten
Metalle auffangen (k). Benignus Winslow(l) konnte
den Schatten von dieſem Rauche, der vom Kopfe auf-
ſtieg, zur Sommerzeit mit Augen ſehen.
Endlich laͤſt ſich die Ausduͤnſtung am leichteſten in
einer dichten Luft warnehmen. Jn den unterirdiſchen
Berggruben zu Klausthal und des Rammelberges habe
ich aus jeglichem Finger, aus dem Angeſichte und allen
bloſſen Theilen des Koͤrpers einen Dampf und Wolke aus-
duͤnſten geſehen. Der vortrefliche von Buffon(m) be-
zeugt, daß von weitem am Haſen wie eine Wolke zu ſehen
ſei. Der beruͤmte Penroſe beobachtete dergleichen im
Bette, wenn er ſeine Hand zwiſchen die Augen und das
Licht
[313]II. Abſchnitt. Schweis.
Licht hielte (n). Von einem fluͤchtenden Wallfiſche ſteigt
ein Dampf, wie vom kochenden Waſſer auf (o). Seine
eigne Ausduͤnſtung fing Tachenius(p) unter einem
beoͤlten Gewebe, bis zu vier Unzen auf. Martin Liſter
(q) bekam von ſeinem Arme, den er in ein Glas ſtekkte,
ein ſalziges Waſſer aus den Daͤmpfen, und dergleichen
Verſuch machte auch Abraham Kaauw(r), doch der-
geſtalt, daß er den Dampf in Salmiac gehen lies, womit
er das Glas angefuͤllt hatte, um eine Kaͤlte zu machen.
Die Naſentropfen, welche im kalten Winter aus der
Naſe herablaufen, ſind ebenfalls eine geſammelte Aus-
duͤnſtung (s).
Das ausduͤnſtende Waſſer hat ſich in einen ſo zarten
Dampf aufgeloͤſt (s*), daß davon zwar das Glas
beſchlaͤgt, allein, er zerflieſt uͤbrigens von ſelbſt wie-
der (t).
Wenn daher die Ausduͤnſtung in den Koͤrper zuruͤkke
ſchlaͤgt, ſo vermert ſie entweder den Urin, oder ſie macht
einen Durchlauf, oder den Speichelfluß (u). Bei ge-
ſunden Menſchen, und die gehoͤrig ausduͤnſten (x), iſt
der Stulgang hart. Von einem umgewechſelten Seiden-
kleide, ſtatt eines Pelzes, erfolgte die Ruhr (y).
Nichts iſt vermoͤgender, den Leib zu oͤffnen, als eine
ploͤzzliche Kaͤlte (z). Der Durchlauf mindert die Aus-
duͤnſtung (a).
Das, was die Pflanzen ausduͤnſten, iſt vornaͤmlich
Waſſer (b), doch nicht ein reines, indem es geſchwinde
verdirbt (c).
Man kann die Ausduͤnſtung auch noch auf andre
Weiſe deutlich machen, wenn ſolche naͤmlich, in Geſtalt
der Funken, von erſchuͤtterten Haaren, oder friſch vom
Leibe gezogenen Kleidern faͤhrt. Man hat dieſe Erſchei-
nung in den Schriften ſo erzaͤlt, daß man glauben ſollte,
daß ſie einigen Thieren (d) und Menſchen gleichſam eigen,
und eine Seltenheit waͤre (e). Hieher gehoͤren diejenigen
Thiere, welche, in ihrem lebendigen Zuſtande, und nicht,
wenn
[315]II. Abſchnitt. Schweis.
wenn ſie todt ſind, einen Schein von ſich werfen, als die
Skolopender (e*), die amerikaniſchen Johanniswuͤrmer,
welche nur ſchwach, und todt gar nicht leuchten (e**),
ſo wie der Fullo(e†), und andre Jnſekten (e††).
Doch es iſt uͤberhaupt und allen gemein, daß von
uns ein Licht ausdaͤmpfe, und ich weis nicht anders, als
daß Mercur von Hellmont dieſes zuerſt beobachtet
hat (f).
Nur vor kurzem machte man bekannt, daß, wenn
man jemanden elektriſire, lichte Punkte aus den Kopf-
haaren, mit der Empfindung eines Stechens, wie von
Ameiſen, und mit Schmerzen herausfuͤhren (g).
Doch man ſiehet auch die aͤuſſerſten Federn (g*) und
Spizzen der Haare mit dergleichen leuchtenden Punkten
erhellt (h). Die elektriſchen Daͤmpfe machen einen
Theil der Tranſpiration aus (h*).
Blos vermittelſt des Reibens und Stoͤſſen trokkner
Haͤnde hat der beruͤmte Wilſon(i) ein blaues Licht her-
vorgebracht.
Uebrigens koͤmmt dieſe Materie mit den elektriſchen
Elementen ſo augenſcheinlich uͤberein, daß der Geruch in
der elektriſchen Atmoſphaͤre eben ſo, als an dem Ruͤkken
der
[316]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
der Kazze (k), beſchaffen iſt, welcher vom Reiben fun-
kelt, und endlich knakkt (l). Vermoͤge der artigen Ver-
ſuche des beruͤmten Symmers(m) wird ein trokkner
Strumpf, wenn man ihn nur uͤber die bloſſe Haut an-
zieht, vollkommen elektriſch, er zieht an, und ſtoͤſt weg
leichte Koͤrper, ſo wie eine eiſerne Ruthe elektriſch gemacht
wird, welche man nahe an eine umgedrehte Glaskugel
haͤlt. So werden auch die Haupthaare von den Wan-
gen angezogen, und zuruͤkke geſtoſſen. Es wird eben dieſe
Materie heis, und wenn man eine Hand an die andre
haͤlt, ſo nimmt ſie eine Waͤrme von zwoͤlf Graden an ſich
(m*). Des Morgens fruͤhe ſind die Haͤnde am meiſten
elektriſch (m†).
Auſſerdem faͤhrt dergleichen Materie auch aus todten
Koͤrpern (n), und aus den Blaͤttern der Pflanzen (o)
heraus.
Dieſes ſcheinet eben diejenige Materie zu ſein, welche
nicht ſelten, das Fleiſch leuchtend macht (p), und welche
in Geſtalt der Flammen aus todten Koͤrpern (q), wie
auch aus Thieren (q*), gefahren ſein ſoll.
Die dikkere halbſtinkende und uͤbelriechende Materie
des ausduͤnſtenden Dampfes (r), die die Spuͤrhunde
leichtlich, und bisweilen auch wir ſelbſt riechen, koͤmmt
entweder zugleich mit dieſer Materie hervor, oder ſie iſt
gar ein Theil von derſelben.
Daß ſolches die Materie des thieriſchen Koͤrpers (s)
(s*) ſelbſt ſei, die in ein fluͤßiges Weſen gebracht worden,
erhellet daraus, daß die ſpuͤrende Thiere leicht die Arten
von andern Thieren, und ſo gar die Jndividua unterſchei-
den, indem unterrichtete Hunde (t) Hirſche fahren laſſen,
und blos Haſen, oder, mit Verachtung der Haſen, blos
Fuͤchſe verfolgen: und was die einzelne Thiere betrift, ſo
hezzen ſie unter zehn Hirſchen denjenigen allein, den man
ihnen aufgegeben, ſie wiſſen ihren Herrn, unter einem
Haufen Menſchen, bisweilen viele Tage nach einander,
und hundert Meilen weit, uͤber gebahnte Straſſen nach-
zufolgen, dergleichen man von der bewundernswuͤrdigen
Geſchicklichkeit dieſes getreuen Thieres auf dem Schloſſe
Altenklingen in einer Tafel aufgezeichnet lieſet. Es koͤnn-
ten aber auch die allerbeſten Spuͤrhunde nicht die Perſo-
nen unterſcheiden, und blos die ihnen anbefolene auf-
ſuchen, wo nicht die Ausduͤnſtungen eines jeden Menſchen
was eignes an ſich haͤtten. Dieſe aber koͤnnten der Per-
ſon nicht eigen ſein, wo ſie nicht von den alten Saͤften
und den daſelbſt ſchwebenden Theilen abwichen.
Daß ſich auch unter dieſe Materie einige Geiſter (u)
mit miſchen, welche aus den Waͤrzchen der Haut aus-
daͤmpfen (u*), iſt eine Mutmaßung beruͤmter Maͤnner,
woraus zu folgen ſcheinen wuͤrde, daß die Ausduͤnſtung
in den Kraͤften einen Verluſt hervorbringe.
Duͤnſtet etwa die Luft (x), welche unſern Koͤrper
durchlaufen hat, endlich durch die Haut aus? Wir haben
bereits (y) geſehen, daß es von einer elaſtiſchen Luft nicht
geſchicht. Hingegen iſt von der fixen Luft kein Zweifel,
daß ſie nicht dem Waſſer folgen ſollte.
Jn der That ruͤhrt ein groſſer Theil der Ausduͤnſtung
vom Getraͤnke her (y*), ſo oft eine maͤßige Waͤrme dazu
koͤmmt. Es duͤnſtet naͤmlich faſt alles Waſſer, welches
man trinkt, von einem geſunden Menſchen, unter dem
Dekkbette, bei einer ſanften Waͤrme aus, daß kaum etwas
uͤbrig bleibt, im Nachttopfe. Eben dieſer Dampf wird,
wenn man den Leib der Kaͤlte ausſezzt, ploͤzzlich einwerts
gekehrt, und man giebt ihn hell, faſt wie ein reines Waſſer,
durch den Urin von ſich (z).
Doch es duͤnſtet auch ein ziemlicher Theil der Speiſen
(z*) von uns, welche bisweilen ihren beſondern Geruch
verrathen, dergleichen der Knoblauch (z**), die Zwiebel,
und
[319]II. Abſchnitt. Schweis.
und der Teufelsdrekk iſt; oder ſie offenbaren ſich durch
ihre Farbe, wie man von dem Weine, und dem Aethiops
Mineralis lieſet (z†). Oft iſt es eine gedaͤmpfte und in
einen Dunſt aufgeloͤſte Materie, welche kein deutliches
Merkmal uͤbrig behalten hat. Es zeigt ſich dieſes daraus,
daß man viel mehr Speiſe zu ſich nimmt, als man durch
den Stulgang von ſich giebt, obgleich zum Kote noch viel
Galle und Darmſchleim hinzukoͤmmt. G. Rye genos,
wie wir gezeigt haben, faſt zwei Pfund (z††) Speiſe, nebſt
vier Unzen, innerhalb 24 Stunden; er gab durch den
Stul faſt vier Unzen von ſich (a). Folglich giengen die
zwei Pfunde durch die Haut verloren. Man wird ein-
zeln ſehen, wie viel von jeder Speiſe (b) durch die Haut
ausduͤnſtet.
Man hat fuͤr beide Meinungen geſtritten, und es
haben einige beruͤmte Maͤnner daraus einerlei Materie (c)
gemacht, und behauptet, daß der Schweis nichts, als
eine dichter angehaͤufte Ausduͤnſtung ſei; andre hingegen
unterſcheiden beide von einander (d).
Beide koͤnnen in der Materie, aber auch im Werk-
zeuge unterſchieden ſein.
Die Materie iſt in ſo fern verſchieden, daß bei der
Ausduͤnſtung alle Arten von Oel (e) und Fett mangelt,
daß
[320]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
daß die Ausduͤnſtung weder gelb noch oͤlig, noch zaͤhe iſt:
daß ſie fluͤßiger und waͤſſriger iſt, daß ſie nach dem Gut-
befinden der Natur ohne Unterlaß (f) ausſchwizzt; der
Schweis hingegen eine Art von Krankheit iſt.
Was das Werkzeug betrift, ſo ſcheinet ſolches aller-
dings einerlei zu ſein (g), ſo daß einzig und allein eine
maͤßige Kraft des bewegten Saftes einen Dampf verur-
ſachet, deſſen Tropfen einander von ferne folgen, die eine
uͤbermaͤßige Heftigkeit ſo ſchnell einander erreichen laͤſt, daß
die kleinen Troͤpfchen in groͤſſere Tropfen zuſammenflieſſen.
Leeuwenhoeck ſahe funfzehn Troͤpfchen der ausduͤnſten-
den Materie in einen einzigen Tropfen Schweis zuſammen-
laufen.
Jch habe das Geſchaͤfte der Natur oft an mir ſelbſt
beobachtet, wenn ich haͤufig duͤnſtete; es war alsdenn
meine Haut weich, roͤtlich, gleichſam aufgedunſten, beim
Anfuͤlen nicht trokken, dennoch aber nicht waͤſſrig, es ſtan-
den, auch dem Augenſchein nach, die Schweisloͤcher offen,
und es waren auch die Durchgaͤnge der Haare groͤſſer.
Wenn daher die Oberhaut an einer Stelle zerſtoͤrt iſt, und
die Gefaͤſſe der Haut loſer geworden, ſo ſchwizzt ein ſol-
cher Ort beſtaͤndig (h).
Bald darauf erfolgte, unter eben dieſem Dekkbette,
nach dem Dunſte, ein deutliches Waſſer, welches ſich in
weisliche Tropfen, die ſich einander anzogen, ſammelte,
und wovon die Oberhaut naß wurde, daß nunmehr die
Finger feuchte wurden. Folglich ſcheint es, daß der
Schweis durch eben dieſelbe, nur mehr erweiterte, Poros,
auf den Dunſt folge (h*). Da alſo der Schweis Schweis-
loͤcher verlangt, die uͤber ihr natuͤrliches Durchmeſſermaas
geoͤffnet ſein muͤſſen, ſo iſt er auch nicht eben der Natur
gemaͤs (i).
Der Weg ſcheint gleichfalls eben derſelbe zu ſein, wo-
von die eingeſprizzte Saͤfte den Beweis geben, da ſie allent-
halben aus der Haut durch die kleinſte Poros herausdrin-
gen, wie ein Schweis, doch aber ſo gedrengt, daß an der
Haut keine einzige Stelle frei iſt, die nicht ſo beſchwizzen
ſollte. Geſchiehet dieſes durch die unorganiſche (i*) Po-
ros der Oberhaut? Daß die Saͤfte in die Saͤfte der
Cadavers ausduͤnſten (k)? Geſchiehet das Ausduͤnſten
durch die anziehende Kraft, nicht aber durch den Austrieb,
weil ſie gar zu ſubtil iſt, noch von den Gefaͤſſen fortgedrengt
werden kann (k*)?
Gewiß iſt es, daß dieſer Dampf aus den Schlagadern
(l) der Haut koͤmmt, und dieſes wuſten auch ſo gar die
Alten (m). Wir meinen die kleinſten Schlagaͤderchen,
die aber dennoch fuͤr Waſſer offen genung ſind (m*). Es
widerſpricht ſich durchaus, daß das Ausduͤnſten ohne
Schlagadern, gleichſam als aus einem duͤnſtenden Safte,
geſchehen ſollte. Es beſchuͤzzt naͤmlich die trokkne Ober-
haut die weiche Haut vor der Luft, und es iſt die Ausduͤn-
ſtung nichts bedeutend, wenn keine Merkmale eines ſchar-
fen Antriebes von Schlagadern, keine Waͤrme, Roͤthe,
oder Pulſirung dabei iſt. Es duͤnſtet aber nicht nur die
ganze aͤuſſere Haut, ſondern auch die inwendige im Munde,
der Naſe, den Geburtsgliedern, und dem Speiſe- und
Luftkanale (n) aus.
Die Groͤſſe des Werkzeuges, die unzaͤlbare Menge
der Roͤhren, die in einem kleinen Raume dicht beiſammen
liegen, die Geſchwindigkeit, womit wir den Dampf aus der
Hand duͤnſten und auf einander folgen ſehen, die unge-
heure Menge von Schlagadern an der geſamten Haut,
ob ſie gleich an ſich nur klein ſind, alles ſtimmt darinn
uͤberein, daß dieſe Ausduͤnſtung der Haut in groͤſtem Ueber-
fluſſe geſchehen muͤſſe. Es mus uns auch, was wir beim
Sanctorius leſen, nicht ſo gar paradox vorkommen, da
Pflan-
[323]II. Abſchnitt. Schweis.
Pflanzen blos von der Waͤrme mehr ausduͤnſten, als ein
Menſch, und der Menſch ſowohl eine groͤſſere Waͤrme,
als einen ſtarken Antrieb des Herzens beſizzet. Taͤglich
uͤberſteigt der wegdampfende Dunſt das Gewicht eines
Aſtes, aus dem er aufſteigt (o),(p). Das Ausduͤnſten
der Sonnenblume zur Ausduͤnſtung des Menſchen verhaͤlt
ſich wie 17 zu 1.
Man will, daß der Kardinal Cuſani der erſte ge-
weſen (q), welcher die Ausduͤnſtung zu waͤgen geſucht.
Jch habe aber ſeine Werke niemals zu ſehen bekommen.
Nach ihm gab ſich der beruͤmte Sanctorius lange Zeit
darauf viele Muͤhe, die Ausduͤnſtung nach angeſtellten
Verſuchen auf ein beſtimmtes Gewichte zu bringen. Weil
er aber noch nicht gelernt hatte, Verſuche in Tagebuͤcher
und Tabellen zu ſezzen, ſo liefert er uns Aphoriſmos, die
einen Wald von Beobachtungen zum Grunde haben, welche
er zugleich herausgeben muͤſſen, damit Jedermann wuͤſte,
ob die Schluͤſſe dieſes beruͤmten Mannes auch richtige
Folgerungen waͤren. Nunmehr mus man alſo ſeine
Saͤzze auf Treu und Glauben annehmen, ob man gleich
die Verſuche nicht hat, auf welche er ſich gegruͤndet hat.
Ja man hat gewieſen (q*), daß viele Stellen des San-
ctorius nach den Galeniſchen Saͤzzen (r), und einer
Vergleichun der Theorie abgefaſt ſind; andre hingegen
der Theorie dieſes beruͤmten Mannes ſo gar widerſprechen
(s). Vieles ſcheint mir ſo beſonders zu ſein, daß ich es,
ohne unendliche Verſuche, nicht begreifen kann.
Nach ihm hat in Frankreich ein frommer und gelehrter
Mann, Dioniſius Dodart(t), viele Jahre lang, an
ſeinem eignen Koͤrper Verſuche gemacht, welche ſich mit
dem Jahre 1688 anfingen, als er 33 Jahre alt war (u).
Auch von dieſem Manne haben wir keine Aufſaͤzze, ſon-
dern uͤberhaupt nur wenige Corollarien.
Karl der Zweite, Koͤnig von Grosbritannien (x),
machte ſich ebenfalls ein Vergnuͤgen daraus, Verſuche
mit der Abwaͤgung an ſich ſelbſt anzuſtellen.
Nachher machte Jakob Keil(y), ein Arzt in der
Stadt Northampton, zehn Jahre lang an ſich Verſuche,
und es war dieſem Manne gegeben, daß er ein vollkommen
freies Leben fuͤhren, gut ſpeiſen und gut punſchen konnte.
Doch iſt er der erſte, welcher von ſeinen Verſuchen ein
Tagebuch herausgegeben (z).
Schon genauer ſind die Verſuche des Bryans Ro-
binſon(a), die derſelbe in Jrrland angeſtellet, und die
G. Rye(b), ebenfalls in Jrrland, in der Stadt Cork,
ſehr genau veranſtaltet hat.
Johann von Gorter(c) hat uͤber den Sanctorius
gelert kommentirt, ebenfalls Verſuche gemacht, allein, er
hat ſelbige nicht beſonders herausgegeben.
Endlich unternahm es der beruͤmte Linings(d),
unter einem heiſſen Himmelsſtriche, im ſuͤdlichen Karolina,
genaue Verſuche zu machen, und ordentlich aufzuzeichnen.
Zur Zeit haben wir noch nichts vollſtaͤndigeres. Vor
kurzem fuͤgte Franz Home(e) noch einige von ſeinen
Verſuchen hinzu.
Diejenigen Verſuche, welche unſer vortreflicher Amts-
gehuͤlfe, George Gottlob Richter, ſeit vielen Jahren an
jungen Perſonen gemacht, ſind zur Zeit noch nicht gemein
gemacht. Hartmann(f) hat einige edirt, die er an
ſich ſelbſt angeſtellt.
Folglich haben wir Verſuche, die gemacht ſind unter
dem Grade 56 der Breite zu Edimburg, unter dem Grade
53, und hinter Dublin; unter dem Grade 52, und dar-
uͤber zu Northampton, und ebenfalls zu Helmſtaͤdt, oder
in deren Nachbarſchaft, unter dem Grade 51, und dar-
uͤber zu Cork, ferner unter dem Grade 49 zu Paris, unter
dem Grade 45 zu Venedig, und unter dem Grade 33 in
dem mittaͤgigen Karolina.
Damit die Verſuche richtig von ſtatten gehen moͤgen,
ſo gebraucht die Art, ſie anzuſtellen, einige Sorgfalt.
Man mus eine Wage in einem gedoppelten Kaſten bei
der Hand haben, in deſſen einem Verſchlage aller Aus-
wurf geſammelt, und alle Tage ins Regiſter verzeichnet
werden kann. Jn dem andern befindet ſich die Speiſe
mit dem Getraͤnke, welches ſich leicht abwaͤgen laͤſt, wenn
man die Gefaͤſſe, ſowohl, wenn man ſie herbeibringt, als
wenn man ſie wieder wegſchaft, in der Wage waͤgt. Der-
gleichen Schranken iſt eine Erfindung des vortreflichen
Segners.
Es laͤſt ſich nicht gleich ſo geſchwinde von den Ver-
ſuchen Schluͤſſe machen. Die Ausduͤnſtung kann auf
allerhand Art, bald gar zu gros, und bald wieder zu klein
werden. Folglich mus man feſte ſezzen, daß aller der
Verluſt des Gewichtes, welcher nicht von dem Kote oder
Urin herruͤhrt, fuͤr Ausduͤnſtung angerechnet werde. Es
X 3wie-
[326]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
wiege ein Menſch 160 Pfunde: er nimmt ſchwerlich
acht Pfunde Narung zu ſich, denn dieſes wuͤrde ein Exem-
pel von ſeltſamer Gefraͤßigkeit ſein, ſondern es genieſſet
ein Menſch, innerhalb 24 Stunden, an Speiſe und
Trank ſechs Pfunde. Der Abgang an Urin ſei z. E.
33 Unzen, an Kote gegen vier Unzen. Es muͤſte dieſer
Menſch, weil er ſechs Pfunde zu ſich genommen, und drei
verloren, nunmehr 163 Pfunde waͤgen; allein, er wiegt
darum nicht mehr, als vorher, ſondern blos ſeine vorige
160 Pfunde. Folglich ſind die drei Pfunde, welche un-
bewuſt verloren gegangen, das Maas der unmerklichen
Ausduͤnſtung. So rechnet Sanctorius, und ſo rechnen
alle andre Schriftſteller.
Allein, man uͤbertreibt hier die Vermehrung des
Ausduͤnſtens uͤberhaupt. Es verlor naͤmlich der Menſch,
auſſer Kot und Urin, auch Speichel, den die, welche ſtark
auswerfen, nicht in geringer Menge (g) von ſich geben;
ferner verliert man den Schleim der Luftroͤhre, der Naſe,
das Hauptfett und den Schweis; und auſſer allem dieſen
noch die Ausdaͤmpfung aus der Lunge. Wenn man die-
ſes betrachtet, ſo kann man jene drei Pfunde auf die Helfte
reduciren. Die Lunge duͤnſtet naͤmlich uͤber ein Pfund
aus (h), man wirft leichtlich, wenigſtens wenn man ſchon
bei Jahren iſt, etliche Unzen Speichel aus, und an Unflat
kann man ein halbes Quentchen rechnen (i).
Hingegen wird die Ausduͤnſtung aus andern Urſachen
wieder groͤſſer, als man ſie nach dem Obigen findet. Man
weis, daß Pflanzen, Thiere und Menſchen viele Duͤnſte
in ſich ziehen, obgleich Niemand das Maas am Menſchen
beſtimmt hat. Es ſei, daß derſelbe ein Pfund einatme:
ſo mus dieſes ganze Pfund durch die Ausduͤnſtung wieder
erſezzt worden ſein; denn ſonſt wuͤrde dieſe Materie der
Schwe-
[327]II. Abſchnitt. Schweis.
Schwere des Koͤrpers noch zuwachſen. Hiervon wuſte
Sanctorius(k) nichts, denn ſonſt haͤtte er dieſes in
Rechnung mit bringen muͤſſen (l).
Es ſei demnach die Ausduͤnſtung x, das Einatmen y,
Speiſe und Trank a, der Urin b, der Kot c, Schweis
und Unflat z, Schleim und Speichel v, die Lungen-
duͤnſtung t, ſo wird das ware Maas der Ausduͤnſtung
ſein, = a ✠ y — b — c — z — v — t. Da aber
die mereſten von dieſen Dingen unbekannte Groͤſſen ſind,
ſo iſt es geſchehen, daß man ſie gemeiniglich bei der Be-
rechnung weggelaſſen hat.
Da ferner die Waͤrme, ſonderlich eine feuchte, eine
erſtaunliche Wirkung hat, da Getraͤnke, und beſonders
die warmen, das Ausduͤnſten anſenlich vermehren, da das
Alter viel dabei veraͤndert, ſo mus man dieſes alles mit
in Betracht ziehen, wenn man den Vorſazz faſſet, eine
Regel zu beſtimmen. Man haͤtte dieſelbe von dem Reſul-
tate vieler Beobachtungen, und der naͤchſten waren Theo-
rie hernehmen koͤnnen. Es vergroͤſſert naͤmlich eine heiſſe
Gegend, die Jahreszeit, welche auſſerdem das Getraͤnke
forttreibt, ein jugendliches Alter, die Zalen zu ſehr: hin-
gegen wird die Rechnung in kalten Gegenden, in hohem
Alter, und in kalter Witterung viel zu klein.
Wir muͤſſen dieſes folglich ſtuͤkkweiſe durchgehen, um
eine Mittelzal anzutreffen. Was den Franz Home be-
trift, ſo hat derſelbe wenig Verſuche: er giebt an Speiſe
und Trank nur vier Pfund, drei Unzen (m), an Kote
viertehalb Unzen (n), an Urin drittehalb Pfunde (o),
X 4und
[328]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
und viertehalb an Ausduͤnſtungsmaterie, fuͤr die Stunde
zwei Unzen und ein Drittheil (p), eine Unze (q), an-
derthalb Unzen (r), zwei Unzen (s), und daruͤber (t),
drei (u), vier (x), und eine halbe (y), endlich ſechs
(z) Unzen in freiem Sonnenſchein.
Die Nacht uͤber betraͤgt die Ausduͤnſtung innerhalb
zwoͤlf Stunden 12 Unzen (a), 13 (b), 14. 15 (c), 16. 17
(d), und 18 Unzen (e), und in 23, und einer halben
Stunde, 3 Pfunde, viertehalb Unzen (f), und faſt
2 Pfunde und ſiebentehalb Unzen (g).
Der beruͤmte Rye verglich die Ausduͤnſtung in der
Stadt Corke, im Monate December (h), mit dem Urin,
wie 5 zu 4, und es war der Urin von beinahe 66 Pfun-
den, und 14 Unzen, innerhalb 26 Tagen, folglich betrug
er in 30 Tagen 1234 Unzen; da die Ausduͤnſtung 80
Pfunde, 4 Unzen, oder in einem Monate 1531 Unzen
war.
Jm Monate Januar (i) machte innerhalb 15 Tagen
der Urin 31 Pfunde, 2 Unzen, folglich in einem Monate
von 30 Tagen 1489 Unzen, ſo wie die Ausduͤnſtung 50
Pfunde, und in 30 Tagen 1600 Unzen.
Jm Februar war der Urin 55 Pfunde, 10 Unzen (k)
in 22 Tagen, oder in 30 Tagen faſt 1214 Unzen, die
Ausduͤnſtung 76 Pfunde, 6 Unzen, und innerhalb 30
Tagen 1666 Unzen.
Jm Maͤrzmonate war der Urin 42 Pfunde, 15 Unzen
(l) in 17 Tagen, oder in 30 Tagen 1212 Unzen, die
Ausduͤnſtung 56 Pfunde, 13 Unzen, und in 30 Tagen
1604. Der Kot 6. 2. und in 30 Tagen 184 Unzen.
Jm April war der Urin 65. 11. (m) in 28 Tagen,
und in 30 Tagen 1126 Unzen; die Ausduͤnſtung 116. 14.
und in 30 Tagen 2004 Unzen; der Kot 8. 15. und in
30 Tagen 153.
Jm Maimonate (n) befand man den Urin 73. 11. in
29 Tagen; und in 30 Tagen 1220 Unzen; die Ausduͤn-
ſtung 110. 11. und in 30 Tagen 1797 Unzen; den Kot
9. 3. und in 30 Tagen 152 Unzen.
Jm Junius (o) waren an Urin 67. 13. in 28 Tagen,
und in 30 Tagen 1270 Unzen; an Ausduͤnſtung 105. 6.
und in 30 Tagen 1806 Unzen; an Kote 8. 12. und in
30 Tagen 140 Unzen.
Jm Julius fand man an Urin 66. 3. (p) und in 30
Tagen 1056 Unzen; an Ausduͤnſtung 110. 5. und in 30
Tagen 1765 Unzen; an Kote 9. 6. und in 30 Tagen
150 Unzen.
Jm Auguſt waren an Urin 42. 2. (q) in 20 Tagen,
und in 30 Tagen 1026 Unzen; an Ausduͤnſtung 83. 4.
und in 30 Tagen 2148 Unzen; an Kote 6. 4. und in 30
Tagen 150 Unzen.
Jm September (r) wog der Urin 53. 5. in 26
Tagen, und in 30 Tagen faſt 984; die Ausduͤnſtung 97,
und in 30 Tagen faſt 1663.
Jm Oktober (s) war der Urin 51. 13. in 21 Tagen,
und in 30 Tagen 1184 Unzen; die Ausduͤnſtung 61. 4.
und in 30 Tagen 1400 Unzen.
Jm November (t) wog der Urin 75. 1. oder in 30
Tagen 1201 Unzen; die Ausduͤnſtung 88. oder in 30
Tagen 1408 Unzen.
Es laͤſt ſich aus dieſen Regiſtern ziemlich genau fol-
gern, daß innerhalb den drei Wintermonaten, im Decem-
ber, Januar und Februar, fuͤr den Urin 3937 Unzen, und
fuͤr die Ausduͤnſtung 4797 Unzen herauskommen; daß die
Fruͤlingsmonate, Maͤrz, April und Mai 3558 Unzen Urin,
und 5405 Unzen Ausduͤnſtung herausbringen; daß in
den Sommermonaten Junius, Julius und Auguſt 3352
Unzen Urin, und 5719 Unzen Ausduͤnſtung abgeſchieden
werden; und daß die drei Herbſtmonate September,
Oktober und November 3369 Unzen Harn, und 4471
Ausduͤnſtung liefern.
Wenn man alſo die Mittelzal herauszieht, ſo iſt der
Urin in einem Wintertage 42 \frac{7}{10} Unzen; die Ausduͤn-
ſtung 53 Unzen. Nach der Vergleichung des beruͤmten
Rye verhalten ſich beide, wie 5. 4. und wie 5. 3. (u).
Ein Fruͤlingstag bringt an Urine 40 Unzen, an Aus-
duͤnſtung 60 Unzen hervor; ein Sommertag an Urin
37 Unzen, an Ausduͤnſtung 63 Unzen. Rye ſezzt das
Verhaͤltnis wie 4. 3. und 4. 2. (x). Jn einem Herbſt-
tage betraͤgt der Urin ebenfalls 37 Unzen, und beinahe
eine halbe, und das Ausduͤnſten faſt 50 Unzen. Nach
dem Verhaͤltniſſe dieſes beruͤmten Mannes kommen die
Zalen wie 4. 3. und 5. 4. heraus (y). Wenn man
dieſes ebenfalls maͤßigt, ſo iſt die mittlere Menge des
Urins, auf jeden Tag des Jahres, etwas weniger als 40
Unzen, die Menge der Ausduͤnſtung aber 56 Unzen, und
eine halbe, daß ſich alſo die allgemeine Zal fuͤr den Urin
gegen die Ausduͤnſtung im ſuͤdlichen Jrrland verhaͤlt wie
10 zu 14, und zwar aufs ganze Jahr, ob die Ausduͤnſtung
gleich, wiewohl in ungewiſſem Verhaͤltniſſe, den Ueber-
ſchuß macht.
Bei dieſen Regiſtern bemerke ich einzig und allein,
daß die Winterausduͤnſtung gros ſei, aber nicht daher,
daß der Froſt der Ausduͤnſtung keine Hindernis in den
Weg legt, ſondern daß mit der Ausduͤnſtung am Tage
von 6 Unzen, die Nachtausduͤnſtung 40 und 65 Unzen
betraͤgt, wenn der Menſch 9 Stunden in einem warmen
Bette liegt (z). Dieſe Ausduͤnſtung iſt an einem Men-
ſchen gedoppelt ſo gros, welcher auſſer dem Bette ruht (a),
und dieſe ſchaͤzzt unſer beruͤmter Autor auf 38.
Das Mittelgewichte fuͤr den Kot ſind auf den Tag
fuͤnftehalb Unzen.
Jm Winter war die groͤſte Ausduͤnſtung 60 Unzen
(b), und in einem andern Jahre 51 Unzen (c). Jm
Sommer iſt die groͤſte Ausduͤnſtung nicht groͤſſer, als 93
(d), die kleinſte 33, und die mittlere 63 (e).
Fuͤr Speiſe und Trank ſind 96 Unzen, und etwas
druͤber, das Mittelmaas.
Wir nehmen hier blos die Mittelzalen, weil es uns
nicht moͤglich iſt, alles und jedes einzeln zu beſtimmen.
Es macht Jakob Keil die Ausduͤnſtung, mittelmaͤßig
gerechnet, 31 Unzen gros (f), den Urin 38 Unzen (g),
folglich iſt mehr Urin, als Ausduͤnſtung. Der Kot wiegt
5 Unzen, und die Speiſe nebſt dem Getraͤnke 75 Unzen.
So giebt der beruͤmte Robinſon zu, daß ſich im
Sommer der Urin vermindert, und daß ſich die Ausduͤn-
ſtung um ein anſenliches vermert, ſo daß die Mittelunzen
im Sommer 27, im Winter hingegen uͤber 30 ſind, ſich
einander wechſelsweiſe aufheben (h), und ſich in den
Sommermonaten die Ausduͤnſtung und der Urin, wie 5
zu 3 (i), aber in den Wintermonaten, wie 2 zu 3 ver-
hal-
[332]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
halten, und im April, Mai, Oktober, November und
December faſt gleich gros ſind (k). Jm Winter iſt die
Ausduͤnſtung faſt 28 Unzen, im Fruͤlinge uͤber 28 (l).
An jungen Perſonen betraͤgt die Ausduͤnſtungsmaterie
gegen den Urin 1340. 1000. in Alten 967 zu 1000 (m).
Er rechnet die mittlere Menge verſchiedentlich (n),
Speiſe zu 86, und als er aͤlter wurde, zu 58 Unzen; den
Urin zu 35, und 28 Unzen, die Ausduͤnſtung zu 46 und
27¼, den Kot zu 5½, und 3½ (n*), und folglich ver-
mindern ſich mit den Jahren (o) ſowohl die Speiſe, als
alle offenbare Auswuͤrfe.
Der beruͤmte Hartmann fand fuͤr Speiſe und Trank
80 Unzen, fuͤr den Urin 28, fuͤr den Kot 6 und 7, und
folglich fuͤr die ausduͤnſtende Materie 45 und 46 Unzen
(o*).
Johann von Gorter ſchaͤzzt in Geldern Speiſe und
Trank 91 Unzen, die Ausduͤnſtung 49 Unzen, den Urin
36 Unzen, den Kot 8 Unzen (o**).
Dodart giebt zum Verhaͤltniſſe der Ausduͤnſtung
zu dem Kote die Zalen wie 7 zu 1 an (p); die Aus-
duͤnſtung zu den ſichtlichen Auswuͤrfen (q) wie 15 zu 12
oder 10 an. Er rechnet ferner die Ausduͤnſtung im Som-
mer 40 Unzen, 3 Quentchen, 26 Gran; im Winter
26 Unzen, 46 Gran (q*), und zur Mittelſchaͤzzung 33
Unzen, 2 Quentchen. Es ſchaͤzzt aber derſelbe diejenige
Perſpiration, welche langſam naͤſſet, auf 5 bis 6 Unzen,
fuͤr eine Stunde (q**). Jn Frankreich ſchaͤzzt man
die Ausduͤnſtung in einer Stunde auf eine Unze (r), und
in
[333]II. Abſchnitt. Schweis.
in den waͤrmern Provinzen deſſelben den Tag uͤber auf
33 Unzen, den Urin auf 22 Unzen, den Kot auf 5, die
Speiſe auf 60 Unzen, nach dem beruͤmten Boißier(s).
Der beruͤmte Everhard Zevianus giebt die Tranſpi-
ration fuͤr halb ſo viel, als die ſichtbaren Auswuͤrfe an
(s*).
Es macht Sanctorius de Sanctoriis zu Venedig
in einer warmen und feuchten Luft Speiſe und Trank (t)
acht Pfunde ſchwer; die Ausduͤnſtung beſtimmt er auf
fuͤnf Pfunde (u), den Kot auf vier Unzen (x), den
Harn auf 16 Unzen, in einer Nacht (y), und in 24
Stunden, nach den uͤbrigen Rechnungen, auf 44 Unzen.
Folglich hat der beruͤmte Arbuthnot recht, wenn er
erinnert, daß das Verhaͤltniß wie 5 zu 3, welches San-
ctorius zwiſchen der unmerklichen und deutlichen Aus-
fuͤhrung ſezzt, blos fuͤr die Sommerwaͤrme in England
wahr ſei (z). Mehr an Gewichten fuͤgt derſelbe nicht
hinzu.
Doch es hat der vortrefliche Johann Linings(a),
fuͤr die warme Gegenden genaue Regiſter gegeben. Die-
ſemnach war im Monate December das mittlere Gewichte
der Speiſe und des Getraͤnkes 318 ✠ 1186 = 1504
Unzen, die Ausduͤnſtung 574½, der Urin faſt 906, der
Kot 50¼, und die Ausduͤnſtung in einem Tage, nach
der mittlern Zal geſchaͤzzt, 42, 55; der Urin, eben ſo
gerechnet, 70. 81.
Jm Januar war fuͤr einen Tag Speiſe 331. zunaͤchſt
✠ … das Getraͤnke 1324⅔ = 1655½ Theile, die Aus-
duͤnſtung 560 Theile, der Urin 1014 Theile, der Kot 56¼.
Der Urin auf einen Tag, Mittelgewichte, 72. 43. Die
Ausduͤnſtung, Mittelgewichte, 39. 97.
Jm Februar betrug die Speiſe 344 Theile ✠, der
Trank 1313, die Ausduͤnſtung 524, der Urin 1090,
der Unflat 45. Jn einem Tage war der Urin, an
Mittelgewichte, 77. 86. Die Ausduͤnſtung 37. 45.
Jm Maͤrzmonate die Speiſe 315, das Getraͤnke
1154½, die Ausduͤnſtung 540½, der Urin 882½, der
Unflat 44½; der Urin, Mittelgewicht, 70. 59. Die
Ausduͤnſtung 43. 23.
Jm Aprilmonate, die Speiſe 277½, Trank 975,
Ausduͤnſtung 549 zunaͤchſt, der Urin 680. Kot 39.
Mittelgewichte, Urin 59. 17. Ausduͤnſtung 47. 72.
Jm Maimonate, auf den Tag 395¾, Getraͤnke
1362, Ausduͤnſtung 872, Urin 842, der Kot ‒ ‒ ‒ ‒
Urin auf einen Tag, Mittelmaas, 56. 15. Ausduͤn-
ſtung 58. 11.
Jm Junius, Speiſe 329, Trank 1491½, Aus-
duͤnſtung 1034¾, Urin 710 zunaͤchſt ‒ ‒ ‒ Mittel-
urin 52. 90. Ausduͤnſtung 71. 39.
Jm Julius, Speiſe 378, Trank 1700¾, Aus-
duͤnſtung 1344 ✠ Harn 683 ✠; Mittelurin 43. 77.
Ausduͤnſtung 86. 41.
Jm Auguſt, Speiſe 383 beinahe, Trank 1528,
Ausduͤnſtung 1014 zunaͤchſt, Harn 1013¾, Mittel-
urin 55. 41. Ausduͤnſtung 70. 91.
Jm September, Speiſe 351, Trank 1422 zunaͤchſt,
Ausduͤnſtung 1156. ✠ Urin 600¾ Faß. Mittelurin
40. 60. Ausduͤnſtung 77. 90.
Jm Oktober, Speiſe 371 zunaͤchſt, Trank 1127,
Ausduͤnſtung 632, Urin 779, Kot 34. Mittelurin
46. 67. Ausduͤnſtung 40. 78.
Jm November, Speiſe 348 ✠ Trank 1083, Aus-
duͤnſtung 526, Urin 821, Kot 36 ✠. Mittelurin 63.
16. Ausduͤnſtung 40. 47.
Man erſiehet aus dieſem Regiſter, ſo wie aus dem
Robinſonſchen, daß in heiſſen Monaten die Ausduͤn-
ſtungen, und in kalten der Urin die Oberhand behalte.
Dennoch aber hatte der Urin in ſieben Monaten die
Oberhand, und nur in fuͤnfen war die Ausduͤnſtung
groͤſſer. Am meiſten Urin kam im Monate December,
und die groͤſte Ausduͤnſtung im Monate September, naͤm-
lich der Urin war im December 143½, und die Ausduͤn-
ſtung im September 130 Unzen.
Das ganze Jahr verhielt ſich die Narung zum Urin
:: 2. 02. 1. doch oft iſt ſie wie 3 zu 2, zur Ausduͤnſtung
wie 2. 18. zu 1. zum Kote:: 30. 13. zu 1. und die
Ausduͤnſtung des ganzen Jahres zum Urin 1. 1. 08. (b).
Dieſes widerſpricht den Sanctoriſchen Saͤzzen,
und dem G. Rye darinnen, daß der Urin in heiſſen Laͤn-
dern dennoch die Oberhand hat. Es ſchiebt die Urſache
davon der beruͤmte Robinſon auf das zu haͤufige Trin-
ken des Punches, der ein Harntreibendes Mittel iſt (d).
Es erzaͤlt dieſer beruͤmte Mann in einer andern
neuern Diſſertation (e) faſt eben dieſe Erfarungen. Er
giebt den Fruͤlingsurin 53. 93 Unzen, den im Sommer
36. 62. den im Herbſte 37. 67. den im Winter 53. 53.
an; folglich iſt die Summe 18175.
Zur Ausduͤnſtung im Fruͤlinge ſezzt er 33. 77. im
Sommer 51. 39. im Herbſte 48. 34. im Winter 31.
91. in Summa 16541.
Den Kot rechnet er im Fruͤlinge 263, im Som-
mer 266, im Herbſte 402, im Winter 290. in Sum-
ma 1221. Und ſo verhielte ſich der Urin zur Ausduͤn-
ſtung faſt wie 9 zu 8, und zum Kote, wie 15 zu 1.
Die mittlere Perſpiration das ganze Jahr hindurch
iſt auf 24 Stunden 4 Pfunde, 29; der mittlere Urin von
24 Stunden 4 Pfunde, 90 (f).
Es war die mittlere Ausduͤnſtung fuͤr eine Stunde
bei Tage, 1 Unze, 68, bei Nacht 2. 61. beide 2. 145 (g).
Der mittlere Urin war bei Tage 2. 55. bei Nacht
2 Pfund, 35. Mittelgewicht 2. 45.
Wenn man dieſes alles mit einander vergleicht, ſo
ſcheint es uͤberhaupt zweifelhaft zu ſein, ob die Ausduͤn-
ſtung den Urin uͤbertreffe, wenn man naͤmlich die Mittel-
zalen von den verſchiednen Himmelsſtrichen, Altern und
Jahreszeiten hernimmt: folglich wird die Menge der
Ausduͤnſtung weit unter den Sanctoriſchen Zalen zu
ſtehen kommen, indem ſie in den heiſſeſten Provinzen
wenig uͤber 60 Unzen ſteigt, und in den kaͤlteſten von 56.
46. und 30 Unzen iſt, da auſſerdem noch davon dasjenige
abgeht, was wir bereits gemeldet haben.
Man erlaube uns, auf dieſe ſo beruͤmte Verrichtung
des menſchlichen Koͤrpers einige wenige Blaͤtter zu ver-
wenden. Demnach wird die Ausduͤnſtung ſtaͤrker und
vermehrt 1) von allen denjenigen Dingen, welche erwaͤr-
men, und verurſachen, daß innerhalb einer gegebnen Zeit
mehr und ſtaͤrkere Pulsſchlaͤge geſchehen. Hierzu traͤgt
2) alles dasjenige mit bei, welches die duͤnne und laufende
Fluͤßigkeit in unſerm Koͤrper vermehrt. 3) alles, was
unſre Haut und die Duͤnſtungsgefaͤſſe loſer ſpannt, und
es erreicht die Ausduͤnſtung ihr hoͤchſtes Maas, ſo bald
ſich die Kraͤfte von dieſen drei Urſachen mit einander ver-
einigen.
Diejenigen (h), welche die Kraͤfte des Herzens von
der Tranſpiration ausgeſchloſſen haben, weil ſie glauben,
daß dieſe Kraͤfte in den kleinen Gefaͤſſen viel zu klein waͤ-
ren, irren hierinnen, wie anderswo gezeigt worden, offen-
bar; weil man die Stoͤſſe des Herzens in den haarkleinen
Gefaͤſſen unterſcheiden kann. Uebrigens haben ſie auf
das, was nun folgen wird, nicht Acht gegeben, indem ſie
aus dieſen Erſcheinungen deutlich ſehen koͤnnten, daß eine
noch ſo trokkne Luft der Ausduͤnſtung nicht befoͤrderlich iſt
(i), da ſie ihr doch, der Hipoteſe zu Folge, hoͤchſt dienlich
ſein muͤſte (k): daß hingegen zum Ausduͤnſten nicht ein-
mal Luft noͤthig ſei (l), da man im Bade mitten im
Waſſer, und deſſen Dampfe, und in feuchten Daͤmpfen,
die von den Bettdekken zuruͤkke gehalten werden, am aller-
be-
H. Phiſiol. 5. B. Y
[338]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
beſten duͤnſtet (m): daß endlich die vermehrten Kraͤfte des
Herzens das Duͤnſten vermehren, daß die ſchwachen Herz-
ſchlaͤge ſie hemmen, und zwar in einer und eben derſelben
Luft, ohne daß die Menge der duͤnſtenden Theilchen im
geringſten verringert worden, und die Haut vielmehr
loſe geſpannt iſt, wie man an der Ohnmacht, und einem
ſehr heftigen Schrekken ein Exempel hat.
Folglich vermehrt die Muſkelbewegung allein dadurch,
daß ſie eine Waͤrme erzeugt, die Menge der Ausduͤnſtung.
Es verlor der beruͤmte Home(n) ſechs Unzen, nach dem
Spazierengehen im Sonnenſchein, in einer einzigen Stun-
de. Jn einem Morgen duͤnſtete G. Rye bei Bewegung
29 Unzen, und in drei Stunden, da er ſpazieren gieng,
23 Unzen (o), ja in einer einzigen Fruͤſtunde ein ganzes
Pfund aus (p).
Karl der Andre war, wenn er ſich im Ballhauſe (q)
Bewegungen machte, um zwei Pfunde und drei Unzen
leichter geworden, und G. Rye duͤnſtete innerhalb drei
Stunden zwei Pfunde und ein halbes aus (r). Von
einer andern Uebung verlor derſelbe innerhalb einer halben
Stunde, ohne zu ſchwizzen, ein Pfund (s). Folglich
war dieſe Ausduͤnſtung nicht dreifach (t), ſondern vier-
zehnmal groͤſſer, wenn man ſie mit der gewoͤnlichen Schaͤz-
zung in Vergleichung ſtellt, indem die mittlere Menge des
Sanctorius zwei Unzen und ein Drittheil Dunſtmaterie
be-
[339]II. Abſchnitt. Schweis.
betraͤgt. Sich ſieben Stunden nach dem Eſſen bis zur
zwoͤlften Stunde uͤben, macht eine ſtarke unmerkliche
Ausduͤnſtung (u). Wenn die Ausduͤnſtung einem ge-
ſunden Menſchen mangelt, ſo wird ſie durch Leibesuͤbung
erſezzt (x). Unſer Koͤrper kann durch Bewegungen ſo
duͤnſtend gemacht werden, daß er ſich daruͤber verzert (y).
So gar iſt die Winterkaͤlte nicht einmal hinderlich,
wofern nur die Kraft des Herzens hinlaͤnglich iſt. Es
verzerte naͤmlich die Muſkelbewegung von acht und einem
halben Pfunde Speiſe und Trank, die man in einem Tage
zu ſich nahm, vier, oder die Helfte des Gewichtes (z).
Die Wallfiſche werden, wenn ſie ſchnell ſchwimmen, im
Eismeere ſo heis, daß ſie ſtinken und rauchen (a). Die
kalte Luft macht ſtarke Koͤrper leichter (a*). Daher ſind
Menſchen, die ſich in der groͤſten Kaͤlte uͤben, bei voll-
kommner Geſundheit (b), ſie eſſen ſtark, vertragen die
haͤrteſte Speiſen (c), und fuͤlen, nach dem Exempel des
Brutus(d), oft einen unerſaͤttlichen Hundshunger. Jm
Winter iſt der Magen hizziger (d*). Endlich vermert
auch ein kaltes Bad die Ausduͤnſtung (e); davon werden
die Schotten und Jrrlaͤnder, wenn ſie aus dem Bade
kommen, rot und heis (f), und ſie werfen ſich in den
Schnee, um warm zu werden (g). Dieſe Gewonheit
Y 2herrſcht
[340]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
herrſcht auch unter den Ruſſen. Man hat die Diſenterie
durch Baden im Fluſſe geheilt, weil man naͤmlich dadurch
die Ausduͤnſtung befoͤrderte (g*). Die Urſache iſt nicht
dunkel; denn es reiben ſich die Saͤfte ſtark an einander,
wenn die Muſkeln in eine heftige Bewegung geraten, und
die Gefaͤſſe ſtarr ſind, um deſto beſſer zu widerſtehen (h).
So vermehrt auch das Elektriſiren ſowol den Umlauf
der Saͤfte (i), als die Ausduͤnſtung (k), nicht nur (l)
um den vierten Theil mehr, oder um 58 und 66 Gran,
innerhalb vier Stunden, in einer Kazze (m), oder auf
ſieben Gran, in fuͤnf Stunden, in kleinen Voͤgeln (n),
und bis 38 und 55 Gran, welches das hoͤchſte iſt, in Tau-
ben (o), ſondern auch endlich in ganz kleinen Voͤgeln um
22. 24. 25 Gran (p), und bis \frac{1}{57} ihrer Maſſe, welches
mit den drei Pfunden fuͤr den Menſchen uͤbereinkoͤmmt (q).
Ein Menſch duͤnſtete innerhalb fuͤnf Stunden vier Unzen
und anderthalb Quentchen aus (r). Es ſcheint dieſes
freilich wohl nicht viel zu ſein, und dennoch uͤberſteigt es
um 324 Gran die gemeine Exhalation (s) dieſes Menſchen.
Unterdeſſen waͤchſt die Waͤrme ganz und gar nicht (t).
So vermehrt der maͤßige Gebrauch eines guten Weins
die Ausduͤnſtung (t*).
So macht der Zorn, und die Pericharia(u) den Koͤr-
per leichter, Furcht und Traurigkeit hingegen ſchwer, am
allerleichteſten aber (x) die Gemuͤtsberuhigung (y).
Aber auch das Reiben vermert die Ausduͤnſtung (z),
ob einige beruͤmte Maͤnner gleich dawider ſind; denn es
zeigt die Waͤrme und Roͤthe der Haut, ſo wie die Sache
ſelbſt (a), daß die Ausduͤnſtung zunimmt.
So vermert eine warme Luft (b), in Vergleichung
mit allen andern, die Ausduͤnſtung, und diefe iſt in allen
vor kurzem angeſtellten Verſuchen in den Sommermona-
ten (c) groͤſſer, als in den Wintermonaten (d), naͤmlich
bei Tage (e); denn bei Nachte geſchiehet dieſelbe des
Winters in einer warmen Luft. Man fand beim Ofen
die Ausduͤnſtung im Winter ſo gros, als die im Som-
mer (f). Uebrigens war ſie zur Sommerszeit in zehnte-
halb Tagen 27 Pfunde, des Winters in 27 Tagen 26
Pfunde, folglich doppelt ſo gros im Sommer (g).
Dieſe Sachen erhalten von den Verſuchen des be-
ruͤmten Rye(h), Linings(i) und Keils(k) ihre
Beſtaͤtigung. Folglich mus man dasjenige anders aus-
legen, was Sanctorius(l) von der freiern Winter-
ausduͤnſtung ruͤhmt. Es ſcheint naͤmlich die Staͤrke
anzugehen, weil der Koͤrper im Winter ohne Schaden,
eine Verminderung der Ausduͤnſtung vertraͤgt, welche auf
den Tag zwei Pfunde macht (m).
Die erſte Art, wie die Ausduͤnſtung groͤſſer wird,
geſchicht durch haͤufiges und warmes Getraͤnke. Jch
finde zwar daruͤber keinen Verſuch; allein, es laͤſt ſich
dieſes leichtlich aus der rotwerdenden Haut, welche weich
und loſer wird, ſo, wie aus dem zarten und naͤſſenden
Dampfe erkennen, der aufs Theetrinken folgt, und vor
dem Schweiſſe vorangeht.
Hiernaͤchſt gehoͤren die Speiſen hieher, und wer ſich
derſelben enthaͤlt, wird gewis ſehr wenig ausduͤnſten.
Wer des Abends nicht ſpeiſet, wird die Nacht darauf
um den dritten Theil weniger ausduͤnſten (n). Da der
beruͤmte Home nicht des Abends as, ſo duͤnſtete derſelbe
ſo wenig, daß er ſo gar an Gewichte zunahm (o), da er
nach einer Leibesuͤbung ungegeſſen zu Bette gieng. Das
Faſten mindert die Ausduͤnſtung einer einzigen Nacht um
22 Unzen (p), indem dasjenige auf 18 Unzen herab-
geſezt wird, was 40 ſein muͤſte. Nach einem langen
Faſten wird die Ausduͤnſtung, wenn man dem Koͤrper
mit Speiſen wieder etwas zu gute thut, um ein Pfund
ſtaͤrker (q*).
Gegentheils, da der beruͤmte Rye acht und ein hal-
bes Pfund innerhalb 24 Stunden verzeret hatte, ſo war
ſeine Ausduͤnſtung von einer Stunde vier Pfunde, acht
Unzen, mitten im Winter (r). Ein andrer, der an
Speiſe und Trank 7 Pfunde, 7 Unzen zu ſich nahm, duͤn-
ſtete 5 Unzen (s) aus, alſo 13 Unzen mehr, als Sancto-
rius; von dem dennoch der beruͤmte Secker(t) urtheilt,
daß
(q)
[343]II. Abſchnitt. Schweis.
daß er wegen des ſtarken Abendeſſens ſo ſehr des Nachts
ausgeduͤnſtet habe, da man uͤberhaupt ſieht, daß er ein
ſtarker Eſſer geweſen, weil er uͤber das Mittelmaas aller,
die Verſuche gemacht, an Eſſen und Trinken gegangen;
ſo wie das Mittelmaas der Sanctoriſchen Ausduͤn-
ſtung die allergroͤſte Rechnung, und noch groͤſſer, als die
in Karolina gefundene Erfarung, iſt.
Dahingegen hatte Keil, der des Abends wenig ſpei-
ſete, des Nachts eine ganz geringe Ausduͤnſtung (u): er
duͤnſtete naͤmlich 12 Unzen (x), und ⅖ aus, hingegen
Sanctorius 40, 50 bis 80 Unzen. Daher ruͤhrte
die Anmerkung des Robinſons, daß die Ausduͤnſtung
von der Waͤrme und Kaͤlte um deſto mehr Veraͤnderung
leide, je mehr man ſpeiſe, und ſo umgekehrt (x*).
Vor andern aber verwandelt ſich die Speiſe in Aus-
duͤnſtung, wenn ſelbige nach etlichen Stunden die Ver-
dauung ausgeſtanden, ins Blut aufgenommen, und ſo
duͤnne geworden iſt, daß ſie aus dem Koͤrper durch die
kleinſte Gefaͤsmuͤndungen ausdaͤmpfen kann. Jch habe
dieſen Verſuch oft genung gemacht, wenn ich nach ſchweren
Krankheiten ganze Jahre lang ſchwaͤchlich blieb, und kaum
eine Unze Fleiſch verzerte. Nach fetten Speiſen, oder
Fleiſch empfand ich eine langwierige Kaͤlte, wobei die
Haut ganz trokken war, und der Urin haͤufig und bleich
flos. Dieſe Kaͤlte verwandelte ſich allmaͤlich in eine trokkne
Hizze, und endlich in Schweis und Schlafloſigkeit.
Die Zeit, wenn die Ausduͤnſtung kleiner iſt, faͤllt als-
denn ein, wenn der Magen angefuͤllt iſt (y). Man duͤn-
ſtet drei Stunden (z) nach dem Eſſen (a), oder vier (b)
Y 4wenig
[344]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
wenig aus. Waͤrend dem Eſſen ſelbſt duͤnſtet man in
einer Stunde eine Unze aus (c). Jn vier Stunden duͤn-
ſtet kaum ein Pfund aus (d). Von der fuͤnften Stunde
bis zur neunten betraͤgt die Ausduͤnſtung im Schlafe zwei
Pfunde (e). Es findet ſich, daß in der fuͤnften Stunde
noch nicht ein halbes Pfund, und in der achten drei ausge-
duͤnſtet ſind, oder daß auf eine Stunde ein Pfund geht (f).
Zwiſchen der erſten und ſechſten Stunde ſeit dem Eſſen
duͤnſten vier Unzen in einer Stunde aus, doch in jeder
der folgenden Stunden verrauchen neun Unzen (g). Eine
Leibesuͤbung ſieben Stunden nach dem Eſſen bis zur 12ten
Stunde, hilft dreimal mehr verduͤnſten, als in einer an-
dern Stunde geſchicht (h). Die Ausduͤnſtung iſt des
Morgens fruͤhe gedoppelt ſo gros, naͤmlich von drei Un-
zen (i), oder auf die Stunde ein Pfund; dahingegen
betraͤgt ſie nicht ein Viertheilpfund, wenn die Verdauung
nicht gehoͤrig geſchehen iſt (i*). Des Morgens iſt der
Koͤrper am meiſten elektriſch (i†).
Man begreift auch leicht, daß man nach leichten und
duͤnnen Speiſen, die ſich leichtlich verdauen laſſen, viel
beſſer, und ſchlechter nach fetten, zaͤhen Speiſen, die ſich
ſchwer aufloͤſen, und davon ein groſſer Theil, wegen der
Unaufloͤsbarkeit, zu groben und ſichtbarem Auswurfe
wird, ausduͤnſte.
Fleiſchwerk duͤnſtet vom Abendeſſen bis zum Mittags-
male achtzehn Unzen aus (k), duͤnne Speiſen vierzig
Unzen (l). Schweinefleiſch (l*) und Pilzen mindern
die
[345]II. Abſchnitt. Schweis.
die Ausduͤnſtung um ein Drittheil; Auſtern hindern die
Ausduͤnſtung (m), und Melonen nehmen den vierten
Theil weg (n).
Dieſe Schlafheit der Haut richtet ungemein viel aus.
Junge Perſonen, die eine weiche, ausgedehnte und feuchte
Haut haben, duͤnſten haͤufiger aus (o), und ſie ſchwizzen
ſtaͤrker (p), als die Alten, deren Haut trokken und hart
iſt, und ſich runzelt.
Ferner gehoͤrt die ſtarke Ausduͤnſtung hieher, die des
Nachts unter dem Dekkbette vor ſich geht. Wenn wir
naͤmlich mit Federn oder Haaren von Thieren (q) bedekkt
liegen, welche den aus unſerm Koͤrper ſteigenden Dampf
aufhalten, und ihn nicht verfliegen laſſen, ſo ſammelt ſich
um unſre Haut ein laulicher feuchter Dunſt, von dem die
Haut allmaͤlich weich, und die Muͤndungen in der Haut
geoͤffnet werden. Dieſes geſchiehet nun zwar nicht mit
einem mal, es mus aber doch fruͤher oder ſpaͤter gewis
erfolgen. Boerhaave pflegte die feuchte Haut an den
Kindern, welche unter dem Finger nachgiebt, und ihre
feuchte Weichheit in dem Morgenſchlafe, ſehr artig zu
beſchreiben. Bei dieſem Dampfe duͤnſten wir ſo ſtark
aus, daß dieſe Ausduͤnſtung, ob gleich das Herz ſanft
ſchlaͤgt, und der Koͤrper vollkommen ruht, dennoch ſtaͤr-
ker als am Tage iſt, wenn man den Leib bewegt. Des
Winters ſtieg die Ausduͤnſtung, die bei Tage und bei
Bewegung nicht uͤber 16 Unzen war, des Nachts bis
Y 535
[346]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
35 (r), 40 und 60 Unzen, und alsdenn iſt die Ausduͤn-
ſtung (s) wenigſtens doppelt ſo gros, als am Tage (t).
Es hat aber Sanctorius vornaͤmlich angemerkt,
daß der Koͤrper bei Leibesuͤbungen weniger, und im Schlafe
mehr ausduͤnſtet (u). Jm Schlafe theilen ſich die guten
oder ſchlimmen Eigenſchaften der nebenliegenden Koͤrper
beſſer mit (x). Entzieht man ſich etwas vom Schlafe,
ſo vermindert man die Ausduͤnſtung (y). Nach einem
ungewoͤnlichen Wachen vermehrt ein ſiebenſtuͤndiger Schlaf
die Ausduͤnſtung um ein Pfund (z). Jn ſieben Stunden
duͤnſtet man bis 35 (z*), 40 (a), 50 (b) Unzen, bis
fuͤnf Pfunde (c) und gedoppelt ſo viel, als im Wachen
aus (d).
Ehedem ſammelte Tachenius, wie wir geſagt haben,
unter einem beoͤlten Gewebe, vier Unzen Waſſer (e): und
es flieſt auch aus den Hautgeſchwuͤren des Nachts uͤber
mehr Eiter aus (f).
Bei einer vollkommnen Ruhe duͤnſtet man beſſer, weil
ſich alsdenn der Dampf beſſer ſammelt. Blos durch dieſe
Kunſt wandte Harvey(g) bisweilen Krankheiten ab,
wenn er, wie es ſcheint, die Ausduͤnſtung vergroͤſſerte.
Und vielleicht iſt dieſes die Urſache, warum der Koͤrper,
der ſich im Bette umher waͤlzt, weniger ausduͤnſtet (h),
und ſie iſt es auch, die da macht, daß der Schmerz das
Ausduͤnſten vermindert (h*).
Dieſes ruͤhrt weder vom Schlafe, noch von einer groͤſ-
ſern Bewegung des Herzens her. Wir werden an einem
andern Orte weitlaͤuftiger zeigen (h**), daß im Schlafe
ein langſamer Puls und ein langſames Atemholen vorgeht,
und es wuͤrde ein Menſch, der blos in ſeinen Kleidern
ſchlaͤft, gewis in einerlei Luft frieren. Die mit bloſſen
Fuͤſſen ſchlafen, duͤnſten des Nachts uͤber ein Pfund we-
niger aus (i). Einem Schlafenden ſchadet eine kleine
Kaͤlte mehr, als eine heftige Kaͤlte dem Wachenden (k).
Ein abgeworfnes Dekkbette thut mehr Schaden, als wenn
man im Wachen die Kleider ablegt (l); dahingegen ſchlaͤft
es ſich in warmen Kleidern beſſer (m), man duͤnſtet beſſer,
und die ſich mit Kleidern gut verſehen, haben eine beſſere
Ausduͤnſtung (n).
Jm Winter mus man ſich alſo, wenn die kalte Luft
das Ausduͤnſten mindert, laͤnger im Bette verweilen (o),
um zu duͤnſten, ſo viel als genung iſt. Jm Winter ſtiftet
der Schlaf groͤſſern Nuzzen (p).
Dennoch verſchwindet dieſe Wolthat der warmen
Naͤchte von ſelbſt wieder, und es ſteigt der Puls, der erſt
haͤufiger war, zu ſeiner vorigen Anzal Schlaͤge wieder
hinauf. Wenn der Koͤrper zehn Stunden nach dem
Abendeſſen ruht, ſo wird er ſtark duͤnſten, ſchlaͤft er laͤnger,
ſo wird die Ausduͤnſtung gehemmt (q). Von zu langem
Schlafe frieren die Koͤrper (r), ſie wollen nicht duͤnſten,
und werden ſchwerfaͤlliger. Man duͤnſtet von der neun-
ten Stunde, nach dem Abendeſſen, bis zur ſechszehnten
kaum ein Pfund (s) aus. Daher koͤmmt es, daß wir
durch
[348]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
durch Schlafen fett werden, indem wir am Gewichte zu-
nehmen.
Uebrigens ſtimmen nicht alle Schriftſteller in dieſer
Menge der naͤchtlichen Ausduͤnſtungen uͤberein. Es
macht der beruͤmte Linings ſowol in ſeinen erſtern (t),
als leztern Regiſtern (u) die Tagausduͤnſtung anderthalb
mal ſo gros, als die bei der Nacht erfolgt, ſo daß ſich
beide gegen einander faſt wie 1 zu 0.644 verhalten (x).
Doch es macht auch Keil(y) die Nachtausduͤnſtun-
gen ſehr klein, und bisweilen ſchaͤzzt er ſelbige fuͤr nichts,
um in einen Zuwachs des Gewichtes auszuarten. Dodart
ſchaͤzzt die Nachtausduͤnſtung fuͤr kleiner (z), welches auch
J. von Gorter(a), und B. Robinſon thut (b).
Vielleicht ruͤhrt dieſes bei den Meiſten von der geringen
Abendmalzeit (c), vielleicht auch von dem wenigen Ge-
brauche der Dekkbetten, und von der ſehr heiſſen Luft in
Karolina her, welche Urſache iſt, daß ſich die Menſchen
des Nachts ſchlecht bedekken, und bei Tage in der heiſſen
Luft mehr ausduͤnſten.
Sanctorius hat bisweilen die Nachtausduͤnſtung (d)
doch blos bei ſchwer zu verdauenden Speiſen, bis auf 18
Unzen herabgeſezzt. Dieſes Maas uͤberſteigt der beruͤmte
Home nicht eben ſehr (e). Wenigſtens laͤſt die rote
und weiche Haut eines geſunden Menſchen, der ſich des
Nachts, nach europaͤiſcher Art, bedekkt, nicht daran
zwei-
[349]II. Abſchnitt. Schweis.
zweifeln, daß nicht das Ausduͤnſten frei von ſtatten
gehen ſollte.
Endlich weis man von keinen andern Arten, die Aus-
duͤnſtung ſtaͤrker zu befoͤrdern, als vom Bade, ob es gleich
ſcheint, daß ſich etwas Waſſer mit in die Haut einzieht.
Denn dabei vereinigen ſich die Kraͤfte der Waͤrme (f) und
der Erſchlaffung. Jn einer halben Stunde duͤnſteten 15
und eine halbe Unze (g), 16 und eine halbe Unze (g*),
und in einer Stunde anderthalb Pfunde (h) im Bade
aus. Ein Menſch wurde innerhalb vierzehn Tagen, vom
Gebrauche der Baͤder, um 28 Pfunde leichter (i).
Dieſes thun die Gegenurſachen des vorhergehenden
Textes, und man ſieht leicht, daß die Ruhe, eine muͤßige
Lebensart, davon die Haut bleich wird, und der Koͤrper
friert (k), dieſes bewerkſtelliget. Bei Kaͤlte und Ruhe
betraͤgt die Ausduͤnſtung in einer Stunde kaum eine halbe
Unze (l). Und man nimmt bei Ruhe, in feuchter und
kalter Luft, an Gewichte um 13 Unzen zu (m).
Wir haben gezeigt, daß die aͤuſſerliche Kaͤlte auf die
Ausduͤnſtung einen groſſen Einflus hat, da die Winter-
ausduͤnſtung jederzeit kleiner als die im Sommer iſt (n).
Eben ſo mindert auch die feuchte Luft, welche doch die
Feuertheilchen ſehr rauben muͤſte (n*), die Ausduͤnſtung
um
(h*)
[350]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
um ein vieles, daß ſie ſelbige vielmehr in eine Anziehungs-
kraft verwandelt (n**). Wegen Kaͤlte der Luft war das
Einatmen acht und eine halbe Unze in drittehalb Stun-
den (o). Bei feuchter und kalter Luft mus man weniger
eſſen, weil man weniger ausduͤnſtet (p). Trokkne Wit-
terung iſt geſuͤnder, als Regenwetter, und macht die
Koͤrper leichter (q). Jm Herbſte nehmen die Koͤrper an
Gewichte zu, weil man alsdenn weniger ausduͤnſtet (q*).
Selbſt die leuchtende Funken, welche aus der Haut
ſpringen, leuchten heller, und ſind haͤufiger, wenn der
Nordwind weht, ſo wie ihrer zur Zeit der Suͤdwinde
weniger werden (r).
Wenn auf einen heiſſen Koͤrper eine ploͤzzliche Kaͤlte
auffaͤllt, ſo ziehen ſich die Gefaͤſſe ſchnell zuſammen, die in
der Haut die Ausfuͤhrung zu beſorgen haben (r*), und
es werden gleichſam auffahrende Blaſen daraus, ſo daß
es das Anſehen bekoͤmmt, als ob viele Gefaͤſſe in ein ein-
ziges zuſammengezogen waͤren, deſſen Porus vielen gemein
iſt; wenn ſich aber dieſer Porus von der Kaͤlte einiger-
maßen zuſchlieſt, ſo ſcheint es, daß ſich das ausdaͤmpfende
Waſſer uͤber die Oberflaͤche der Haut ergieſt. Dieſes wird
geſchwinde von den reſorbirenden Gefaͤſſen wieder einge-
ſogen, es verſchwindet, und es befoͤrdert den Stulgang,
wie wir oft erinnert haben, oder den Urin. Beruͤmte
Maͤnner argwoͤnen, daß dieſes die Hautſphinkters ſind,
welche dieſe Gefaͤſſe bei der brennenden Kaͤlte zuſchnuͤren
(s).
[351]II. Abſchnitt. Schweis.
(s). Doch es kann, auch ohne eine Muſkelkraft, das
Faͤdengewebe mit ſeinen Faſern von der Kaͤlte zuſammen-
gezogen und gerunzelt werden; denn es zeigt ſich auch
nach dem Tode dergleichen Gaͤnſehaut (t).
Bei anderer Gelegenheit wendet ſich die Ausduͤnſtung,
wie wir oft erinnert haben, auf die Urinwege. Es wurde
die Hemmung des Urins gehoben, ſo bald man einen brei-
ten Guͤrtel, mit kaltem Waſſer benezzt, anlegte (u). Bei
andrer Gelegenheit wendet ſich ſelbige auf die Lunge (x),
und aufs Fadengewebe der Haut (y). Da die Schweis-
loͤcher von der ſelenitiſchen (frauenglasfoͤrmigen) Erde des
Karlsbades verſtopft waren, erfolgte ein allgemeiner Ge-
ſchwulſt (y*). Das Schrekken, welches Kaͤlte verurſacht,
verwandelt auch ploͤzzlich die Dunſtmaterie, die zu Waſſer
geworden, in Huͤgelchen.
Der Mangel (z), oder die uͤble Verdauung der
Speiſen raubt dieſe Materie; denn ſo oft die Materie
der Speiſen von unſern Kraͤften nicht ſo uͤberwaͤltigt wird,
daß ſie, ins Blut aufgenommen, geſchikkt iſt, durch die
kleinſte Gefaͤſſe zu laufen, ſo mangelt es allerdings an
Vorrath der ausdampfenden Feuchtigkeit, und alsdenn
pflegt
[352]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
pflegt ein andrer deutlicher Auswurf an die Stelle der
Ausduͤnſtung zu treten.
Ein ſtarker Menſch, ſpricht Sanctorius, verzehrt
(a) die Speiſen, mittelſt der Ausduͤnſtung, ein weniger
ſtarker, mittelſt des Urins, ein Schwacher durch Faͤulnis,
naͤmlich durch den Stulgang, oder durchs Erbrechen;
oder es ſtellt ſich endlich eine Krankheit ein (b). Wer
demnach mehr, als gewoͤnlich iſt, durch ſichtbare Ausfuͤh-
rungen verliert, der duͤnſtet nicht gehoͤrig aus (c), und
es iſt dieſes eine Krankheit (d). Ein geſunder Menſch
mus weder ſchwizzen, noch viel harnen, noch einen duͤn-
nen Leib haben (d*).
Bei hipochondriſchen Perſonen findet ſich, wie ich er-
innert habe (e), weil ſie ſchlecht verdauen, in den erſten
Stunden nach dem Eſſen, haͤufiger Urin, und den folgen-
den Morgen iſt der Stulgang duͤnne.
Bei einer weichen Haut iſt der Stulgang harte (f).
Der Bauchfluß mindert die Ausduͤnſtung (g). Daher
koͤmmt es, daß in einem geſunden Menſchen der Stulgang
durch einen Feler ſchluͤpfrig iſt (h): und die Leibesuͤbung
macht den Leib hart (i), ſo wie ſie eine haͤufige Ausduͤn-
ſtung hervorbringt. Das Zeichen, daß eine Speiſe gut
ausduͤnſte, iſt, wenn der natuͤrliche Unrat von ihr abgeht
(k). Der Durchlauf mindert die Ausduͤnſtung (l). Der
Salat mindert die Ausduͤnſtung, ſo wie er den Stulgang
befoͤrdert (m).
An dem Tage, da man eine Purganz nimmt, duͤnſtet
man wenig aus (n), es ſei denn, daß man eine ganz ge-
linde
[353]II. Abſchnitt. Schweis.
linde Purganz eingenommen (o). Es kann auch ſein,
daß das Purgiren, das in einem geſunden Menſchen die
Ausduͤnſtung hemmt, ſie bei einem Kranken dadurch be-
foͤrdert, daß ſie das Verdorbne wegraͤumt (p). Wenig-
ſtens wollte Keil nicht zugeben, daß die Ausduͤnſtung von
Purgirmitteln vermindert werde (q). Und G. Rye
will nicht, daß ſie von einem Durchlaufe verringert werde
(r). Jndeſſen iſt doch zuverlaͤßig genung, daß die Diarhoe
in hizzigen Krankheiten, wo die Haut loſe ſein mus, der
Ausduͤnſtung ſo zuwider ſei, daß die gluͤkklichſten Aerzte,
und ſelbſt Werlhof, durch Opium ſelbige ſtillen.
Und aus dieſer Urſache ſind Speiſen, die nicht gut
zu verdauen ſind, auch nicht zum Ausduͤnſten tauglich, als
die Auſtern (s), Plattfiſche, Schwaͤmme und Kuͤrbiſſe.
Wenn daher die Ausduͤnſtung zuruͤkke tritt, ſo reizt ſie
zum Stulgehen, z. E. die Erkaͤltung der Fuͤſſe, und das
Beſprengen mit kaltem Waſſer (t). Das Erbrechen
leitet ebenfalls die Ausduͤnſtung ab (u).
Daher heben ſich die Auswuͤrfe einander auf (x): und
man hat angemerkt, daß die Feuchtigkeiten von einem
Geſchwuͤre auf den Stulgang, von dieſem auf den Schweis,
von da auf Traͤhnen, weiter auf den Speichel, wieder auf
den Stulgang, und endlich wieder auf die Haut gefallen
(y). Weil die Hautdruͤſen viele Feuchtigkeiten auswerfen,
ſo wird eine doppelt ſo groſſe Kraft eines Purgirmittels
erfor-
H. Phiſiol. 5. B. Z
[354]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
erfordert, um den Leib zu oͤffnen (z). Selbſt die Aus-
duͤnſtung der Lunge (a) erſtattet den mangelhaften (b),
oder ſehr wenigen Schweis (c).
Endlich duͤnſtet eine harte und dichte Haut weniger
aus, wie man an den Alten ein Exempel, und an einigen
beſondern Perſonen hat. Daher gab beim Curzius(d)
die verhaͤrtete Haut keinen Schweis, keine Ausduͤnſtung
von ſich, und es wurde an einem andern Menſchen, der
ſich des Nachts mit den Betrachtungen der Geſtirne be-
ſchaͤftigte, die Haut ſo hart, daß er weder ſchwizzte, noch
uͤberhaupt die Haut ſchmuzzig machte (e).
Auch in dieſem Falle wird die gehemmte Ausduͤnſtung
durch andre Abſonderungen wieder erſezzt (f).
Jndem ein ſanfter Dampf aus den Schlagadern zwi-
ſchen der Haut und der Oberhaut ausduͤnſtet (g), ſo
ſcheint derſelbe die Weichheit und ohnentbehrliche Zartheit
der Waͤrzchen (h) zu erhalten, und die Oberhaut, wider
das uͤbermaͤßige Austrokknen, anzufeuchten (i).
Man glaubt, daß ſie in dem ganzen Koͤrper viel Gu-
tes ſtiftet, weil das Ausduͤnſten ſowol allen Thieren (i*),
als
[355]II. Abſchnitt. Schweis.
als Gewaͤchſen ſo gemein iſt. Um deſto weniger darf
man ſich verwundern, wenn Aſklepiades berichtet, daß
Krankheiten auf eine zuruͤkkgetretene Ausduͤnſtung folgen
(i**). Galenus leitet die Fieber von der Hemmung
der Dunſtmaterie, die da ausduͤnſten ſollte, her (i†), wo
dieſer Dunſt nicht durch eine andre Ausleerung abgefuͤhrt
wuͤrde; und Sanctorius nimmt uͤberhaupt von einer
vollkommnen Ausduͤnſtung das vornemſte Zeichen zu einer
vollſtaͤndigen Geſundheit her, und er glaubte, daß wir nicht
krank werden koͤnnten, ſo lange dieſelbe in ihrem freien
Gange bliebe.
Der Koͤrper befindet ſich bei voͤlliger Geſundheit,
wenn er, ohne eine ſinnliche Ausleerung, ſein voriges Ge-
wichte behaͤlt (k), wenn naͤmlich die Ausduͤnſtung den
groͤſten Theil der Speiſen verzehrt. Die feſten Koͤrper
ſind die (l), welche in etlichen Jahren ihr Gewichte nicht
veraͤndern, und diejenigen befinden ſich nicht wohl, deren
Schwere ſich veraͤndert (m). Man kraͤnkelt, wenn die
Ausduͤnſtung oft unterbrochen, und oft wieder hergeſtellt
wird (n). So redet Sanctorius.
Vor jeder Krankheit geraͤth die Ausduͤnſtung in Un-
ordnung (o), und daran laͤſt ſich der Anfang einer Krank-
heit ſpuͤren (p). Wenn ſie abnimmt, wird der Koͤrper
ſchwach (q). Und es leidet der ganze Koͤrper, und jeder
Theil deſſelben, ſo bald man nicht ausduͤnſtet (q*). Eben
derſelbe.
Die gut duͤnſten, ſind ſchwaͤcher, aber geſuͤnder, und
ſie werden leichter von Krankheiten geheilt (r). Selbſt
die Thiere ſcheinen vom Ausduͤnſten viel Nuzzen zu haben,
Z 2ſo
[356]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
ſo wie die Pferde von der Striegel glatter und geſunder
werden (r*).
Der beruͤmte Mann fuͤgt noch hinzu, daß wir eine
Abnahme in der Ausduͤnſtung an uns warnehmen, wenn
unſer Koͤrper an Schwere zunimmt.
Folglich befinde man ſich wohl auf, wenn der Koͤrper
nach dem Schlafe leicht wird, und wenn man des Morgens
fruͤhe aus dem Bette leicht aufſteht (s). Es iſt das
zuverlaͤßigſte Zeichen einer guten Geſundheit, wenn der
Koͤrper nach der Waage ſchwer, und dennoch nach der
Empfindung leicht befunden wird (t). Dahingegen kuͤn-
digt eine von freien Stuͤkken entſtehende Ermattung (u)
Uebel und Krankheiten an, und man haͤlt es fuͤr das
ſchlimmſte Zeichen, wenn der Koͤrper, ob er gleich leichter
geworden, dennoch, wie es einem vorkoͤmmt, ſchwer zu
ſein ſcheint (x).
Man iſt einſtimmig, daß eine Hemmung der Dunſt-
materie in der trokknen Haut der bejahrten Perſonen
Urſache zum Podagra (y) und des Reiſſens in den Glie-
dern ſei; daß die Stoͤrung des Ausduͤnſtens ſchaͤdlicher
ſei in kurzen, als langwierigen Krankheiten, weil man
die Faͤulnis in jenen mehr zu befuͤrchten hat (y*). Daß
die epidemiſche Ruhr auf den Antillen graſſire, wenn eine
kalte Witterung die Ausduͤnſtung hemmt, weil die ſchar-
fen Theile, wie es ſcheint, auf den Maſtdarm zuruͤkk-
getrieben worden (y**). Bei warmer Witterung bringen
eben dieſe Urſachen Fieber hervor, und davon gerathen
die Saͤfte in eine Faͤulnis (z), weil ein fluͤchtiges und
ſchar-
[357]II. Abſchnitt. Schweis.
ſcharfes Element im Koͤrper ſtekkt. Galenus(a) ſagt,
daß Auswuͤrfe, von duͤnner Art, auf dieſem Wege ausge-
fuͤhret werden.
Man hat Exempel von ſehr ſchlimmen Uebeln, die von
der gehemmten Ausduͤnſtung entſtanden ſind, wenn ſich
ein heiſſer Koͤrper ploͤzzlich erkaͤltet, und daß manche Per-
ſonen in die heftigſte Krankheiten, in Fieber (b), und in
Todtenkraͤmpfe (b*) daruͤber verfallen ſind, die in Lima
toͤdlich waren, ſo bald die in Hizze Liegenden Luft ſchnapp-
ten (c). Unter den Beriberiern in Jndien entſteht eine
Krankheit, die von Kraͤmpfen und der Laͤhmung zuſam-
mengeſezzt iſt, auf keine andre, als auf dieſe Art (d).
Manche ſind uͤberhaupt ploͤzzlich umgekommen (e). Und
man kann glauben, daß dahin der heiſſe Brand an den
Fuͤſſen zu rechnen iſt, welcher blos im Fadengewebe ſeinen
Sizz hat, und welcher oft von der feuchten Luft ſeinen
Urſprung her hat (f). Man lieſet in den talmudiſchen
Schriften, daß ein Maͤdchen dadurch das Leben eingebuͤſt,
daß ſie ihre Haut allenthalben mit Oel beſchmiert (g).
Es iſt auch ſehr wahrſcheinlich, daß dieſes der Weg ſei,
auf welchem ſich das Gebluͤte in dem fortdaurenden Laufe
des Lebens von den ſchaͤdlichen Theilen, und ſonderlich in
den Fiebern, reinigen muͤſſe, ſo bald dieſe Theile uͤber-
fluͤßig vorhanden ſind. Gewis iſt es, daß ſich die Wech-
ſelfieber und Catarrhen blos bei Merkmalen einer ge-
hemmten Ausduͤnſtung, wenn die Haut bei der Kaͤlte
feuchte iſt, erzeugen.
Es hat Schellhammer(h), und es haben auch
andre beruͤmte Maͤnner vorlaͤngſt eingeſehen, daß ſich
Sanctorius mit ſeiner erklaͤrten Ausduͤnſtung zu viel zu
gute gethan hat. Daß der vornemſte ausdaͤmpfende Theil
Waſſer ſei (i), und daß Speiſen eben dieſes Vorrecht
haben. Daß Waſſer mit ſolcher Leichtigkeit durch andre
ausfuͤhrende Gefaͤſſe, ſchlecht verdaute Speiſe aber durch
den Stulgang ausgefuͤhrt werden; daß man von einer
geſtoͤrten Ausduͤnſtung (i*) eben keine ſonderliche Gefar
zu befuͤrchten habe. Daß geſunde Perſonen beſtaͤndig
bald dieſen, bald jenen Theil der Hautdaͤmpfe ausgeduͤn-
ſtet haben, und wenn dieſe um den doppelten und drei-
fachen Theil vermindert worden, ſo entſtehe keine Krank-
heit davon, und wenn die Ausduͤnſtung in eben ſo groſſem
Verhaͤltniſſe vermert worden, ſo ſehe man keinen Zuwachs
in der Geſundheit davon. Es duͤnſtete der beruͤmte
Home zwei Quentchen (k), etwas weniger, als eine Unze
(l), eine Unze (m), anderthalb Unzen (n), zwo Unzen (o),
drei Unzen (p), und daruͤber (q), vier Unzen (r), und
ſechs Unzen aus (s), und folglich war ſeine Ausduͤnſtung
um vier und zwanzig mal groͤſſer, als wenn ſie recht klein
war. Nicht geringer war die Verſchiedenheit in der
Menge der Ausduͤnſtung beim George Rye(t). Sie
iſt auch eben ſo veraͤnderlich bei den Pflanzen, ohne daß
es denſelben Schaden thaͤte (t*).
Daß endlich die geſamte Ausduͤnſtung gehemmt, und
in eine Jnhalation, ohne allen Schaden, verwandelt wor-
den (u); daß ganze Voͤlker (x), in den heiſſeſten Laͤn-
dern, ihre Haut mit Oel und allerhand Salben ſo ver-
kleiſtern, daß keine freie Schweisloͤcher zum Duͤnſten uͤbrig
bleiben, und daß ſie doch wenig von dieſer Sorgfalt leiden,
ſondern vielmehr glauben, daß ſie fuͤr ihr Beſtes bedacht
ſind. Eine Waſſerſucht wurde durch die Einreibung mit
Oel, und dadurch erregten Urinfluß (x*) geheilt. Franz
Bakon hofte von einer geringen Ausduͤnſtung die Ver-
laͤngerung des Lebens, ſo wie vor kurzem A. von Reau-
mur(x**), und woruͤber man ſich wundern mus, auch
Sanctorius ſelbſt (x†).
Die im Winter erſtarrte Haut (y) kann ebenfalls
zum Beweiſe dienen, daß Menſchen entweder ganz und
gar nicht, oder doch uͤberhaupt ſehr wenig ausduͤnſten,
ohne deswegen in Krankheiten zu verfallen.
Ferner ſagen ſie, iſt in den Verſuchen ein Verſehen
begangen worden, daß ſich die Ausduͤnſtung bei bevorſte-
henden Krankheiten ſo zuverlaͤßig verringern ſoll (z),
und daß in den meiſten und gefaͤrlichſten Fiebern in den
erſten Tagen die Ausduͤnſtung und der Schweis ſehr
haͤufig erfolge, ohne daß ſich dadurch die Heftigkeit der
Krankheit in etwas braͤche: daß die gluͤkklichſten Aerzte,
ſowol in Blattern, als dem Frieſel, auf die Ausduͤnſtung
ſo wenig dringen, daß ſie vielmehr die Wut des Uebels
Z 4durch
[360]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
durch Emulſionen und leichte Bedekkung des Koͤrpers zu
beſaͤnftigen ſuchten.
Man koͤnne die ploͤzzliche Todesfaͤlle von Erkaͤltungen
nicht wohl einer gehemmten Tranſpiration Schuld geben,
und dieſe koͤnnten auſſerdem in ploͤzzlich erſchuͤtterten Ner-
ven und in geronnenem Blute ihren Grund haben (a).
Eine uͤbermaͤßige Ausduͤnſtung, wie ſie in den heiſſen
Laͤndern, zu Karthagena, auf der Jnſel Barbados (b),
zu Surinam und in Perſien gewoͤnlich iſt (c), entkraͤftete
die Europaͤer ſchnell, und nicht weniger als es ein Durch-
lauf thut (d), und auch unter uns waͤren diejenigen
ſchwaͤchlich, welchen die Haͤnde ſchwizzen. Die Perſer
aͤßen weniger, haͤtten weniger Blut, und koͤnnten die
Leibesuͤbungen weniger ausſtehen (e). Es koͤnnten ſchaͤd-
liche Saͤfte durchs Ausduͤnſten mit Nuzzen ausdaͤmpfen,
und man koͤnne bei haͤuſigen und riechenden Ausduͤnſtun-
gen, oder Abwechſelungen derſelben, dennoch eben ſowol
geſund bleiben. Uebrigens hilft das Ausduͤnſten ſowol
dadurch, daß es einige ſcharfe Theile verjagt, als daß es
zu einem guten Zeichen dient, weil es vermuten laͤſt, daß
die Speiſen dergeſtalt verdauet worden, daß ſie zum Ver-
duͤnſten ſubtiliſirt genung ſind.
Eben dieſe Autoren fahren weiter fort, und ſagen,
daß die Empfindung vom Schwerer- und Leichterwerden
gar nichts mit der Ausduͤnſtung zu ſchaffen habe. Ge-
ſunde Menſchen fuͤlten nicht (f), wenn ihr eigner Koͤrper
an Gewichte zunehme, weil ſich in unſern Nerven und
Muſkeln Kraͤfte genung befinden, dieſe neue Laſt zu heben
und
[361]II. Abſchnitt. Schweis.
und weiter tragen zu koͤnnen. Wir merkten allerdings
unſer Gewicht alsdenn, ſo bald unſere Kraͤfte einen
Abgang erleiden, und zwar mehr bei feuchter Luft, weil
dieſe an den Kraͤften der feſten Theile einigen Abbruch
thut, und hingegen weniger bei einer trokknen Luft (g).
Jn Fiebern aber ſchienen unſre Kraͤfte, aus Urſachen, die
uns noch nicht voͤllig bekannt waͤren, abzunehmen; nicht
daher, weil das Herz einen zu groſſen Theil von Kraͤften
fuͤr ſich wegnaͤhme, denn es ſcheint das Herz in den aller-
aͤrgſten Fiebern nicht heftiger zu ſchlagen, weil alsdenn die
Pulsſchlaͤge klein ſind, ſondern dieſes ruͤhre vielmehr von
der ſonderbaren Kraft her, die die Faͤulnis habe, die
Kraͤfte niederzuſchlagen (g*), und weil uͤberhaupt dieſe
Art von Theilchen die das Fieber hervorbringen, die
erſte Urſache der Nervenkraͤfte im Gehirne zerſtoͤrt. Wir
haben bereits (h) von der ſchnellen Wirkſamkeit eines
faulen Geruches auf das Toͤdten geredet. Eine aͤnliche
Kraft hat die boͤsartige und verdorbene Feuchtigkeit, dieſe
Mutter der Krankheit, auch in Fiebern. Jch habe es ſelbſt
empfunden, und ich wundre mich, daß ich wieder geſund
geworden, um ein Zeugnis davon ablegen zu koͤnnen, ich
habe es ſelbſt empfunden, ſage ich, wie bei mir die Materie
des Frieſels zuruͤkke getreten, und auf den Magen geſun-
ken iſt; und dieſe Empfindung war mit einem ſchwachen
Beſtreben zum Erbrechen und mit Ohnmacht verbunden,
dergleichen diejenigen Perſonen erfaren, welche ſich auf
Hoͤhen in der Luft ſchaukeln, und welche von dieſem S iele,
wegen einer bevorſtehenden Ohnmacht, abzuſtehen gezwun-
gen ſind.
Dieſe Urſache entſteht, und ſammelt ſich vor dem
Ausbruche des Fiebers, und ſie bringt hervor und ernaͤhrt
das Fieber; allein, ſie iſt nicht die gewoͤnliche Ausduͤnſtungs-
Z 5ma-
[362]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
materie; ſondern ein neues und widernatuͤrlich angehaͤuf-
tes Element, welches von keinem Zuwachſe der Ausduͤn-
ſtung uͤberwaͤltigt, oder ausgetrieben werden kann. Jch
halte, fuͤr meine Perſon, nicht eine gehemmte Ausduͤnſtung,
ſondern die Verſtopfung des Leibes auf einen einzigen Tag
fuͤr das gewiſſeſte Zeichen einer ſchweren Krankheit.
Wir wollen zuerſt zeigen, daß Waſſer, Queckſilber,
und allerlei zarte Theilchen durch die Haut eines Menſchen
einen Weg finden; ferner, daß in einem lebendigen Men-
ſchen dergleichen Theilchen allerdings durch unſre Haut in
das Blut ſelbſt eindringen; und daß endlich einige Theil-
chen, auf eben dieſem Wege, in die Maſſe unſrer Saͤfte
kommen.
Es laſſen alle Membranen des menſchlichen Koͤrpers
Waſſer durchgehen, und ſolches thut die Haut, der Magen
und die Harnblaſe. Wenn man Sal Tartari in eine
Blaſe verſchlieſt, und dieſe in Waſſer legt, ſo zerflieſt es (i).
Ganz unverlezzte Leichname, die im Waſſer ſchwimmen,
ſchwellen von eingezognem Waſſer auf (k). Man kann
Queckſilber leicht durchs Leder druͤkken, und dieſes thut
auch das Menſchenleder (l), ja, es entfaͤrben ſich auch
Metalle im Leder von Saͤften, die von auſſen daſſelbe
umgeben (m). So gar haben die Eier viele Schweis-
loͤcher, und ſie ſalzen ſich, wenn man ſie in Salzlake
wirft (n).
Doch wir wollen hier zeigen, daß dieſes keine unorga-
niſirte Schweisloͤcher ſind, durch welche dieſe Theile in die
Me-
[363]II. Abſchnitt. Schweis.
Metalle eindringen, ſondern daß es vielmehr Blutader-
oͤffnungen ſind, welche zum Herzen fuͤhren. Wenn man
Queckſilber, in einem ſehr bekannten Exempel, auch mit
fetten Salben in die Haut einreibt, ſo verliert ſich daſſelbige,
und, wenn es haͤufig genung genommen worden, ſo erregt
es einen Speichelfluß, und heilt die veneriſche Seuche
auf eben die Art, wie es, durch den Mund genommen,
thut.
Doch es dringt auch ohne Einreiben ein (o), und
erwekkt den Speichel. Es entſtand die Braͤune, als es
in die Beinkleider gefallen war (p). Da man ſolches an
ein Blech brachte, worinnen ein verborgner Krebs ver-
wahrt wurde, ſo bekam dieſer Krebs Geſchwuͤre, und es
flos aus deſſen Geſchwuͤren wieder heraus (q). Es war
im vorigen Jahrhunderte, da man ſich faſt blos der Mer-
kurialſalben allein bediente, ſehr gewoͤnlich, daß ſich das
eingezogene Queckſilber im ganzen Gebluͤte ausbreitete,
und eine in den Mund gelegte Muͤnze verſilberte (r),
oder auch dieſes that, wenn man es blos an die Haut
brachte (s); ja man bekam dieſes Metall im Urine (t),
in den Knochenfaͤchern (u), und in der Geſaͤshaut wieder
zu ſehen (x).
Hieher gehoͤrt auch, daß manche in der Kur der
Seuche den Merkurialrauch von angezuͤndetem Zinnober
blos an den nakkten Koͤrper gehen laſſen (x*).
Auch Blei dringt durch das Reiben in die Haut ein.
Auf der Achſel getragne Silberglaͤtte verurſachte ein ſchwe-
res Atemholen (y). Ohnmacht, Ekel, Erbrechen (z),
und dergleichen Uebel eraͤugneten ſich, da man Bleyweis
beim Wundwerden der kleinen Kinder (a) gebrauchte.
Vom Staube des geſtoſſnen Arſeniks erfolgte ein
ſchweres Atmen, und ein Schmerz an den Nieren (b),
und der Blaſe. Von einem arſenikaliſchen Pflaſter, das
man auf den Kopf auflegte, erfolgte der Tod (c), und
eine andre Perſon konte kaum gerettet werden, der man
dergleichen mit Honigſeim aufgelegt hatte (d). Vom
Crocus Metallorum, den man auſſen auf Flechten legte,
erfolgte ein Erbrechen (e). Da Jemand den Kupfer-
dampf, aus Kupfer, das in Scheidewaſſer aufgeloͤſt war,
mit den Fingern beruͤhrte, ſo empfand er an der ganzen
Hand Schmerzen, die den ganzen Koͤrper durchwitterten,
als ob ſich aus einem brennenden Punkte Funken ausbrei-
teten (f).
Da man Steinoͤl auf den Wirbel troͤpfelte, koſtete
man den Geſchmakk deſſelben im Munde (g).
Aus Pflanzen gemachte geiſtige Arzeneien berauſchen,
wenn man ſie aͤuſſerlich gebrauchet (h): wenn man Ter-
pentin mit den Haͤnden behandelt, ſo aͤuſſert derſelbe ſeine
Kraft dadurch, daß er dem Urin einen Violengeruch mit-
theilt (i): das Oel Cayput, auf die Fusſole gerieben,
giebt ſeinen Geſchmakk im Munde zu erkennen (k):
Ta-
[365]II. Abſchnitt. Schweis.
Tabaksoͤl auf die Zunge einer Kazze, da die Zunge ein
fortgeſezzter Theil der Haut iſt, getroͤpfelt, durchdrang
das ganze Thier mit ſeinem Geruche (l), und ein Dekokt
von dieſer Pflanze, mit dem man den Kopf wuſch, machte
ein Erbrechen. Eine Ohnmacht (m), Kraͤmpfe (m*),
Trunkenheit (n) und Erbrechen folgte, als man es uͤber
den Magen legte (o), und ein andrer, den man mit dem
chimiſch verfertigten Oele dieſer Pflanze beſchmierte, pur-
girte davon (p). Brod uͤber den Magen gelegt, ſtaͤrkt (q).
Doch es hat auch Opium, im Pflaſter uͤbergeſchlagen,
Wahnwizz (r), und einen toͤdlichen Schlaf hervorge-
bracht, als man es an einen Zahn ſtrich (s); doch ich
erzaͤle dieſes mit einer Art von Ruͤkkhalt, weil andre das
Gegentheil behaupten (t).
Es findet ſich ein zuverlaͤßiger Autor, welcher berich-
tet, daß Maͤdchen durchgehends ſchwach geworden, wenn
ſie ſich Straͤuſſer von Eiſenhuͤttlein vorgeſtekkt hatten;
und ich leſe, daß ein Erbrechen erfolge, wenn man ſich
die Wurzel von der weiſſen Nieſewurz uͤber den Magen
legt (u). So wiſſen wir, daß von bittern Arzneimitteln,
die man aͤuſſerlich auf den Unterleib legt, die Wuͤrmer
abgehen (x); daß Pillen, uͤber das Herz geſchlagen,
purgiren (y), und daß vom Handthieren der Koloquinte
ein
[366]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
ein ſtarker Stulgang erfolgt (z). Jch leſe, daß die
Conganer ein Gift wiſſen, welches, ſobald man es mit
der Hand beruͤhrt, umbringt (a). Und es iſt eine alte
Sage, daß ſich der Urin roth faͤrbe, wenn man Faͤrber-
roͤthe (rubia) in der Hand haͤlt (b).
Jch uͤbergehe die Verſuche (c), da die Daͤmpfe von
peruvianiſchen Balſame, mittelſt der Elektriſirung, in
den Koͤrpern eingedrungen, und da die Kraͤfte der Pur-
girmittel (d), welche man in der Hand gehalten, auf den
Stulgang gewirkt haben ſollen; denn ich weis gar zu gut,
daß dergleichen Verſuche verdaͤchtig zu ſein pflegen.
Das Gift der ſpaniſchen Fliegen, wenn man ſie ein-
ſammelt und in den Haͤnden haͤlt (e), oder in Pflaſtern
auflegt (f), macht den Schleim in der Harnblaſe los,
und verurſacht ein Brennen im Urin, ob dieſes gleich nicht
allemal geſchicht (g).
Um naͤher auf den menſchlichen Koͤrper zu kommen,
ſo giebt es viele Schriftſteller, welche darinnen uͤberein-
ſtimmen, daß die Venusſeuche, durch Betaſtung ange-
ſtekkter Geburtsglieder (h), oder durch die Haut, fort-
gepflanzt worden, indem es andre leugnen (i), aber den-
noch geſtehen, daß davon Maͤngel in der Haut und
Ruͤk-
[367]II. Abſchnitt. Schweis.
Ruͤkkengeſchwuͤre (k) ererbt worden. So geſchahe es
auch, daß ein Arzt, welcher ſeinen Arm in den Schlund
eines Thieres ſtekkte, das an der Hornviehſeuche geſtorben
war, viel Schmerzen davon ausſtehen muſte, und es
erfolgte in einem aͤnlichen Falle der Tod darauf (l).
Dahingegen beſtaͤtigt der heilſame Erfolg von den
menſchlichen Ausduͤnſtungen, oder den Duͤnſten eines
Thieres, in Zertheilung der mit Blut unterlaufnen Quet-
ſchungen (m), in Ueberſtehung der ſchlimmſten Krank-
heiten (n), daß die Jnhalation wirklich ihren guten
Grund habe. Man bewerkſtelligte eine gewiſſe Kur, da
man einen Schwamm an die Gegend der Milz anbrachte
(o). Eine verwundete Hand, welche ſteif geworden war,
wurde, da man ſie in lebendige Hunde ſtekkte, und etwas
zurechte gebracht hatte, wieder geheilt (p).
Hieher gehoͤren andre wohlbekannte gluͤkkliche Erfolge,
wenn man naͤmlich ſteife Gliedmaßen in ein warmes Ge-
daͤrme ſtekkt und baͤht, und eben ſo wird auch die Glieder-
ſchwindung kurirt (q).
Jch uͤbergehe die Blutbaͤder im Ausſazze, welche
toͤdlicher ſind, als das Uebel ſelbſt, das man zu heilen ſich
bemuͤht (r).
Endlich ſchlukkt die Hand den Dampf des heiſſen
Waſſers ein (s), und es ſchwillt an einem Menſchen, der
im
[368]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
im Bade ſizzt, die Haut auf, ſie wird roth (t), der Leib
nimmt an Schwere zu (u), der Durſt loͤſcht ſich (x), und
man wird alle Zeichen, von eingezognem und ins Blut
aufgenommnen Waſſer, gewahr (y). (z).
Von einem Fuswaſchen erfolgte, wegen des eingeſog-
nen Waſſers, eine Diarhoea (a).
Heut zu Tage iſt man auch von den Daͤmpfen, die
in der Luft ſchweben, verſichert, daß dieſelbe in die Haut
eindringen, ſo wie man von den Terpentindaͤmpfen (b),
die ſich im Schlafzimmer ausbreiten, weis, daß davon
der Urin hizziger wird. Es wurde die Schwindſucht
durch das Beiliegen mitgetheilt (c), ſo wie das Podagra
(d), und man empfal dagegen den berufnen Rath des
Hermipps(e), und das Beiliegen friſcher muntrer
Maͤdchen den Greiſen.
Endlich ſo ziehen Menſchenkoͤrper in einer feuchten
Luft (f) die Duͤnſte ſo ſehr in ſich, daß dieſes Gewichte
mehr, als die Ausduͤnſtung ſelbſt, betraͤgt (g). Und es
ſchaͤzzet der beruͤhmte von Gorter(g*) die naͤchtliche
Jnhalation auf 2, 4 bis 6 Unzen.
Auf Jamaika ſchwizzt man in der feuchten Luft beſtaͤn-
dig, und dennoch laͤſt man nicht weniger Harn (h). Die
Leute trinken nicht viel, und Pferde und Ochſen thun es
wenig, und ſelten (i). Die auf dem ſtillen Meere gebo-
ren wurden, trunken erſt am neunten oder gar am ſieb-
zehnten Tage (i*).
Daß es endlich eine anſenliche Menge Waſſer ſei,
welches die Haut aus der Luft in ſich ſaugt, zeigt ſowohl
die Groͤſſe des reſorbirenden Werkzeuges, als auch die
gehemmte Ausduͤnſtung, welche, wie man glauben mus,
etwas zu bedeuten hatte, ob die Jnſpiration gleich groͤſſer
war, und dieſes lehren auch einige zuverlaͤßige Exempel
von Leuten, welche eine groſſe Menge Urin von ſich gaben,
ob ſie gleich dazwiſchen wenig getrunken hatten. Vordem
nannte Kaſtell den Maſkardus, welcher in drei Jah-
ren zehnmal mehr Urin gelaſſen hatte (k), als er getrun-
ken. Ein andrer lies zweimal mehr, und truͤben Urin,
als er getrunken hatte (l), und noch ein andrer dreimal
mehr (m). Man lieſet bei dem Mathias de Gradibus
die Geſchichte von einer Frau, welche, da ſie alle genoſſene
Speiſen durch Erbrechen wieder von ſich gab, und mehr
durch Erbrechen ausſchuͤttete, als ſie Speiſe genoſſen hatte,
ſich die Woche zweimal zur Ader lies, und ganzer ſechs
oder acht Monaten lang ſieben bis acht Unzen Blut weg-
lies, dennoch leben geblieben. Man lieſet, daß Jemand
taͤglich zwoͤlf Pinten Urin (n), ja vier Eimer (n*), von
ſich gegeben. Ein Mann, der an der Bruſt krank war,
harnete in ſieben Stunden ſieben Pfund, in andern An-
faͤllen
H. Phiſiol. 5. B. A a
[370]Das Gefuͤhl. XII. Buch.
faͤllen ſtieg dieſes bis auf zehn, und ferner in drei oder vier
Tagen hintereinander bis auf 70 Pfunde (o).
Nach dem Gatinaria(q) harnete ein Maͤdchen alle
Tage, ſechzig Tage hintereinander, 16 Becher voll, deren
ſie drei getrunken hatte, ſo daß damals der Urin das Ge-
traͤnke um 1740 Pfunde uͤberſtieg, und ſie hatte, auſſer
Speiſe und Trank, wiewohl mit gutem Erfolge, 1740
Pfunde verloren. Eine Nonne gab den Urin in unglaub-
licher Menge von ſich (r). Eine Jungfer verlor inner-
halb 60 Tagen, ohne Durſt zu empfinden oder krank zu
ſein, 20 Pfunde (s). Gauzer 97 Tage lang gab Jemand
taͤglich 40 Pfunde Harn von ſich (t).
Faſt eine dergleichen Erzaͤlung thut Boerhaave(u),
und es vermutet Antonius von Haen(x), die waſſerſuͤch-
tigen Koͤrper haͤtten die Art an ſich, Luft in ſich zu ſaugen.
Jn dieſen Beiſpielen, da man mehr Urin laͤſt, als
Speiſe und Trank liefern koͤnnten, und da ſich der Koͤrper
ſelbſt wenige Tage lang, bei ſo anſenlicher Einbuße erhielt
und daurete, wenn er gleich ganz und gar zu Waſſer ge-
worden zu ſein ſchien, glaubt man (y), daß dieſe Feuch-
tigkeiten uͤberhaupt aus der Luft eingezogen worden.
C. Taglini hat durch Rechnungen gefunden (z), daß
durch das Atemholen allein ſo viel Waſſer nicht einge-
ſchlukkt werden koͤnne.
Da alſo auſſerdem todte Schwaͤmme (a) und Saiten
(b), Kleider (c) und alle Pflanzen (d) ebenfalls Feuch-
tigkeiten in ſich ſaugen, ſo wie ſie ausduͤnſten, ſo ſcheint
nichts im Wege zu ſein, daß man nicht glauben koͤnnte,
daß Thiere durch die Haut inhaliren, ſo wie ſie exhaliren.
Dieſes war dem Hippokrates(e) nicht unbekannt, und
Galen(f), die geſammte Schule, und alle Neuern
geſtehen es (g). Allein, es iſt nicht warſcheinlich, daß
man die Luft auf eben dieſem Wege reſorbire (g*).
Es ſteht ſehr zu vermuten, daß man meiſtens durch
die Hautblutaͤderchen inhalire, wiewohl es nicht leicht iſt,
ſie ſo auszufuͤllen, daß ſie ſchwizzen (g**).
Es giebt auch noch eine Art von Einduͤnſtung (Jn-
halation), welche aus der Luft nicht in ſich zieht, ſondern
dieſes aus der Oberflaͤche der Haut, unter der Oberhaut,
bekoͤmmt. Notwendig muͤſſen Blutadern vorhanden ſein,
welche Feuchtigkeiten reſorbiren, die ſich vom Verbrennen
in die Brandblaſen ergießen, wenn das unbewegliche
Oberhaͤutgen nichts durchlaͤſt (h).
Die Jnhalation ſcheint gerade das Gegentheil von
der Exhalation zur Urſache zu haben. Wenigſtens inha-
A a 2liren
[372]Das Fuͤhlen XII. Buch.
liren Pflanzen, die bei Tage und in der Waͤrme ausduͤn-
ſten, des Nachts uͤber in der Kaͤlte, ſie ſchwellen, und
nehmen an Groͤſſe zu.
Hieher gehoͤrt auch, laut dem Obigen, eine feuchte
(i) und zugleich kalte Luft: Ruhe (k) und Muße: trau-
rige Gemuͤtsbewegungen (l), die oft und ſchnell den Urin
waͤſſrig machen, weil die Dunſtmaterie zuruͤkk tritt (m);
und die Furcht, die den Durchlauf erwekkt. Man glaubt,
die Furcht erweitre die inhalirende Gefaͤſſe der Haut, daß
ſie ſich gegen die ſchaͤdliche Ausduͤnſtungen, ſonderlich in
der Peſt, leichter oͤffnen (n).
Wenn wir die Eigenſchaften der Koͤrper, welche uns
umgeben, genauer beſtimmen wollen, und die wir
weder nach dem Urteile des Augenſcheins, noch mit Huͤlfe
andrer Sinnen zu erkennen vermoͤgend ſind, ſo pflegen
wir uns dazu unſrer Fingerſpizzen, und zwar an der Stelle
zu bedienen, wo die Oberhaut, ſchnekkenfoͤrmig gewunden,
Runzeln aufwirft: wir koͤnnten uns aber dabei eben ſo-
wohl der aͤnlich gebauten Zeeſpizzen bedienen, wofern nicht
das Gehen und Reiben der Schue dieſe Zeen untauglich
dazu machte, ob ſie gleich einerlei Anlage zum Fuͤhlen
haben.
Dieſes Fleiſch der Fingerſpizzen iſt ganz voller Nerven,
welche theils laͤngſt den Fingergelenken, theils ſeitwaͤrts
herkommen (a), und, wie es ſcheint, mit ihren lezten
Zweigen zu dieſen Waͤrzchen laufen: es ſind auch die
Waͤrzchen groͤſſer, als auf dem Ruͤkken der Finger, und
faſt uͤberall am uͤbrigen Koͤrper (b).
Es iſt dieſes fuͤr uns Menſchen ein groſſes Vorrecht,
weil, die Affen ausgenommen, kein einziges vierfuͤßiges
Thier dergleichen weiches Fleiſch hat, um die Eigenſchaften
der Koͤrper zu erforſchen; denn da ſie gemeiniglich auf
ihren aͤuſſerſten Zeeſpizzen gehen, ſo entſtehen dadurch vom
Gange, Gewichte, und dem Reiben an dieſem Theile,
Verhaͤrtungen, davon man ſchon die erſten Anfaͤnge an
der Frucht der Thiere ſelbſt gewar wird; denn ich habe
an jungen Hunden ſowohl die Verhaͤrtung, als den Be-
wegemuſkel ſchon eingepflanzt gefunden. Auch an Voͤgeln
iſt dieſe Stelle ſchwuͤlig.
Es fuͤgt der beruͤmte Buffon auf ſubtile Art hinzu
(c), daß ſich der Menſch, wegen der zertheilten Zeen (d),
fuͤr den unvernuͤnftigen Thieren, deutlichere Begriffe von
Koͤrpern machen koͤnne: daher waͤren die unbegliederte
Fiſche (e) dumm; hingegen ſey es eine beſondere Eigen-
ſchaft der Schlangen, ſich um die Koͤrper herumzuwinden:
ja es wuͤrde das Fuͤhlen viel vollkommner ſein (f), wenn
die Hand in eine Menge von Fingern zertheilt waͤre.
Zum Theil iſt dieſes wahr, und zum Theil auch falſch.
Es ſind Thiere mit Hufen, als das Pferd, viel mehr
gelehriger, und weniger dumm, als die Thiere mit zwo
Klauen, dergleichen das Schwein iſt, und dummer findet
man einige mit geſpaltnen Zeen, als das Kaninchen, und
der Affe ſelbſt, der doch beinahe Menſchenhaͤnde hat. Jch
ſehe auch nicht ein, warum das Fuͤhlen nicht eben ſowohl
mit einem oder dem andern Finger allein ſubtil genung
von ſtatten gehen ſollte; da wir ſelbſt, meiſt einen, hoͤch-
ſtens aber nur zween Finger zum Fuͤhlen gebrauchen.
Doch die Finger haben ein andres Vorrecht, weil ſie
einzig und allein einen kugligen Koͤrper, und folglich alle
Koͤrper beſſer umfaſſen koͤnnen, und feſte halten, indem
der allerlaͤngſte den Pol, die kuͤrzeſten die Enden des
Aequators, und die Mittelfinger die mittlern Meridiane
umſpannen.
Um aber genauer zu fuͤhlen, ſo reiben wir die Finger
ſanft an demjenigen Koͤrper, deſſen Eigenſchaften wir
kennen lernen wollen, und folglich druͤkken wir viele Punkte
dieſes Koͤrpers an unſre Waͤrzchen, oder einerlei Punkt
an viele Waͤrzchen an, und wir preſſen die Waͤrzchen durch
verſchiedne Verſchiebungen an dieſen Koͤrper an, nachdem
ſich dieſer Koͤrper den Waͤrzchen naͤhert, oder nahe drunter
liegt, oder ſich wieder davon entfernt.
Man hat ſich die Gedanken gemacht, daß ſich die
Waͤrzchen aufrichten (g), und gleichſam aus ihren Hoͤlen
hervortreten, um die umliegende Koͤrper deſto aufmerkſa-
mer zu betrachten. Man verfiel auf die Mutmaſſung, ſie
koͤnnten, wenn das Blut dahin gerichtet ſei, davon ange-
fuͤllet werden, um vorzuragen, wie man an der Warze
der Weiber, an der maͤnnlichen Ruthe, und an den
Waͤrz-
[375]III. Abſchnitt. an ſich.
Waͤrzchen der Zunge (h) Exempel habe. Wenigſtens
werden die Waͤrzchen an einem lebendigen Menſchen, und
an Koͤrpern, deren Schlagader der Kuͤnſtler mit gefaͤrbten
Saͤften ausſprizzt, erhabner, und ſie ragen mehr, als an
Leichnamen, hervor (i).
Das uͤbrige behauptet man faſt in der Sprache der
Vermutung, ob man gleich geſtehen mus, daß dieſe nicht
allerdings unwarſcheinlich ſei. Man erkennt naͤmlich
leicht, daß vorragende und geſteifte Waͤrzchen nicht nur
dem zu beruͤhrenden Koͤrper eine groͤſſere Oberflaͤche ent-
gegen ſtellen, ſondern daß ſie auch, weil ſie zu einiger
Groͤſſe gelangen, leichter von demſelben geſtoſſen und be-
wegt werden koͤnnen. Eine ſpizze und kegelfoͤrmige Figur
wird aber beſſer beruͤhrt, und faͤngt die Begegnungen
der Koͤrper beſſer auf (i*).
Erſtlich erkennen wir die verſchiedne Figuren der Koͤr-
per. Die Spizzen erkennen wir, wenn das Objekt ſo klein
iſt, einen heftigen Drukk verurſacht; die Rundung erken-
nen wir aus der maͤßigen Wirkung eines groͤſſern Objekts,
und aus derjenigen Beruͤhrung, welche an der Mitte
groͤſſer iſt, und an den Seiten abnimmt; und den Umfang
aller Figuren nehmen wir gemeiniglich aus den nachſol-
genden Graden der Erhabenheiten, und der alſo wirk-
ſamern Grenzen, ab, worinnen eine Figur eingeſchloſſen
iſt, oder es ſind dieſe vorſtehende Enden zwar uͤberhaupt
nicht wirkſamer, aber ſie ruͤhren uns doch auf verſchiedne
Weiſe, als wir ſonſt von dem uͤbrigen Koͤrper geruͤhrt
werden. Wir empfinden die Rauhigkeit und Ungleichheit,
A a 4weil
[376]Das Fuͤhlen XII. Buch.
weil einige Theile der Finger ſtaͤrker geruͤhrt werden, die-
jenigen naͤmlich, welche man den Vorragungen des Koͤr-
pers entgegen haͤlt, andre hingegen davon weniger leiden,
welche mit den mittlern Austiefungen zuſammen zu paſſen
ſcheinen. Bei der Glaͤtte empfinden alle gleich viel.
Zu den ſubtilern Ungleichheiten zaͤle ich diejenigen
Farben, von welchen ſo viel Zeugen vorhanden ſind, daß
ich es nicht leugnen darf, und die man durch das Fuͤhlen
zu unterſcheiden gewuſt. Ein durch Krankheit blind
gewordner (k) konnte die vermengte Farben durch das
Fuͤhlen dergeſtalt unterſcheiden, daß er auch ſo gar an
liniirten und gemiſchten Farben erkennen konnte, ob ſie
gemiſcht waren oder nicht (k*). Er ſagte, es waͤre die
ſchwarze Leinwand (l) am allerrauhſten, und die rothe
am glaͤtteſten. Man ſagt, er habe ſogar an den Spiel-
karten die Farben unterſcheiden koͤnnen (m).
Ein hartes Objekt erkennen wir, wenn das fuͤhlende
Fleiſch an unſern Fingern nachgeben mus; ein weiches,
wenn es unter unſern Fingern ausweicht; ein ſchweres,
wenn wir von einer kleinen Maſſe ſehr gedruͤkkt werden;
ein leichtes, wenn uns eine groſſe Maſſe wenig entgegen
druͤkkt; ein feuchtes, wenn ſich an die Haut Waſſer an-
haͤngt; und ein trokknes, wenn es dergleichen nicht thut.
Die Waͤrme meſſen wir, wenn wir die Waͤrme unſers
Blutes und beſonders unſerer Haut damit vergleichen.
Warm ſcheinen uns diejenigen Dinge, welche waͤrmer
als wir ſelbſt ſind. Kalt, die unter dieſem Grade ſind.
Daher verſteht der Menſch kein wirkliches Maas der
Waͤrme; und es iſt ihm dieſes, bis auf die Erfindung der
Thermometer, voͤllig unbekannt geblieben. Daher ſind
uns die Keller des Winters warm, und im Sommer kalt,
ob ſie gleich eine unveraͤnderte Waͤrme haben, weil die
Waͤrme darinnen im Winter nicht ſo, wie in der uns
umgebenden Luft abnimmt, und im Sommer nicht eben
ſo zunimmt. Daher haben die franzoͤſiſchen Akademiſten
von den Reiſenden, welche von den Gebirgen in Quito
nach dem flachen Seeufer niederſteigen, oder gegentheils
von dem garſtigen Ufer die Berge an ſteigen, angemerkt,
wie ſich beide zanken, indem jene verſichern, wie die Luft
mitten auf dem Berge warm ſei, da ſie dieſe hingegen
kuͤhl finden.
Die Erfarung hat zu dem Urtheile des Karteſiani-
ſchen Blinden (n), uͤber die Entfernung der Dinge,
Anlaß gegeben. Ein ſolcher bedient ſich zweener gegen
einander geneigten Staͤbe, die vor ihm vorſtehen muͤſſen,
und er urtheilt aus dem Winkel, unter welchem ſie ſich
durchſchneiden, von der Naͤhe des Objekts, daß es naͤmlich
nahe bei ſei, wenn dieſer Winkel gros, und entfernt, wenn
dieſer Winkel klein iſt. Jch bin nicht der Meinung, daß
uns die Geometrie angeboren ſei, und ich gruͤnde dieſes
blos auf oft wiederholte Verſuche, woraus man von der
Winkelgroͤſſe nichts lernt; denn dieſes ſind dem Blinden
unbekannte Sachen, ſondern man erkennt blos, daß ein
nahes Objekt den Stab mit groͤſſerer Kraft gegen uns ſtoͤſt.
Doch dieſes wird an ſeinem Orte unterſucht werden.
Viele beruͤmte Maͤnner haben ſich zu unſern Zeiten
zu zeigen bemuͤht, daß die Jrrtuͤmer der uͤbrigen Sinne,
und beſonders des Geſichtes, durch das Fuͤhlen ſich ver-
beſſern laſſen (o), und daß dieſes Fuͤhlen lebhafte Ein-
druͤkke von Jdeen verurſache, welche dauerhaft ſind: ſo
wie ein blinder Bildhauer vom bloſſen Fuͤhlen lerne, ganz
aͤnliche Bildſaͤulen Perſonen aͤnlich nachzuſchnizzen (p).
Dieſes iſt zum Theil wahr, zum Theil falſch. Jn
der That hat das Fuͤhlen das Vorrecht, daß wir von dem
Koͤrper ſelbſt unmittelbar geruͤhret werden, von deſſen
Beſchaffenheiten wir unſer Urtheil ſagen, da z. E. beim
Sehen, das Auge nicht von dem geſehenen Koͤrper, ſon-
dern von einem andern, naͤmlich dem gefaͤrbten Lichtſtrale
getroffen wird.
Allein, darum truͤgen die uͤbrigen Sinne, und ſelbſt
das Geſicht viel weniger, als man gemeiniglich zu ſchrei-
ben pflegt.
Ein Pferd miſſet, ohne alle Gefuͤhlhuͤlfsmittel, wozu
ohnedem ein vierfuͤßiges Thier ganz und gar ungeſchikkt
iſt, die Weite mit ſeinem Auge auf das beſte, und ſpringet
genau uͤber den anbefolenen Graben. Neugeborne Thiere,
z. E. Laͤmmer, ſuchen ſogleich ihre Muͤtter, und finden
ſie: die eben aus dem Ei kriechende Fliege, die vor kur-
zem erſt Augen bekam, fliegt, ohne alle erlernte Erfarung,
gerades Weges, vom Geruche geleitet, zu dem ſtinkenden
Koͤrper hin. Doch hiervon ſoll anderswo geredet werden.
Ferner ſo truͤgt das Fuͤhlen eben ſo wohl. Jch will
nicht den Verſuch des Sturms anfuͤhren (q), da die
uͤbers
[379]III. Abſchnitt. an ſich.
uͤbers Kreuz gelegte Finger eine einzige Kugel uns ſo an-
geben, als ob ihrer wirklich zwo da waͤren. Sondern
ich will nur uͤberhaupt ſagen, daß wenn wir durch das
Fuͤhlen von den Beſchaffenheiten der Dinge urtheilen, wir
dieſe bekannte Beſchaffenheiten niemals aus dem Fuͤhlen
ſo lernen, wie ſie wirklich am Koͤrper ſind, ſondern nur,
wie ſie durch die von der Natur zwiſchengeordnete Mittel-
bekleidungen von unſern Waͤrzchen empfunden werden
koͤnnen, ſo daß alſo in dieſem Stuͤkke das Fuͤhlen vom
Sehen gar nicht verſchieden iſt.
Man ſezze, es ſei im Nerven irgend eine ſolche Be-
ſchaffenheit, daß er keine Anſtrengung vertragen will,
welches bei der Hipochondrie ſehr oft vorkoͤmmt (r), ſo
kann einem ſolchen die beſtaͤndige Empfindung von einer
kalten Luft beſchwerlich fallen, weil auch die allergelindeſte
Beruͤhrung der Luft ſeine Nervchen mit unangenemen
Eindruͤkken ruͤhren wuͤrde. Anna von Oeſterreich, Koͤ-
nigin von Frankreich, ſchlief blos auf dem ſehr feinen
Zeuge, welches man Batiſt nennt, und es kamen ihr die
Bettlaken von der feinſten hollaͤndiſchen Leinwand ganz
rauh vor. Eine andere Perſon konnte weder die Beruͤh-
rung des Sammets, noch die zarte Wollhaut der Pferſichen
ausſtehen (r*).
Wer ſeine Hand in heiſſes Waſſer ſtekkt, bringt Fin-
ger heraus, die von der Kraft der Ausdaͤmpfung faſt zu-
ſammenfallen, und welche ſo empfindlich ſind, daß man
ſich ohne Beſchwerde kaum die Kleider anziehen kann, und
ihm alles rauh vorkoͤmmt, was doch bei einem geſunden
Menſchen keine Empfindung macht. Deren Oberhaut
an einer Stelle duͤnner iſt, die empfinden auch ſogar eine
ſanfte Luft auf eine unangeneme Art.
Dahingegen werden die Finger fuͤhllos, wenn die
Oberhaut ein wenig dikker iſt, oder wegen eines ſonſt be-
kann-
[380]Das Fuͤhlen XII. Buch.
kannten Felers, wie ich an einer mir bekannten Frau geſe-
hen, deren Haut bis zum ſiebzigſten Jahre an den Fingern
der Hand ohne Gefuͤhl war (s). Doch auch ein Callus
unterdruͤkkt das Gefuͤhl, und ich habe ſtarke Maͤnner
geſehen, welche Dornen und Neſſeln abbrachen, die doch
die Haut eines zarten Maͤdchens aller Orten zum ſchwaͤren
gebracht haben wuͤrden. Es giebt auch geſunde Menſchen,
welche kaum einiges Gefuͤhl uͤbrig behalten (s*), und
die weder eine Nadel unter dem Nagel, noch das Ver-
brennen achten (s**).
Folglich ruͤhrt auch von der Dikke der Bekleidung
der Eindrukk der Rauhigkeit und der uͤbrigen Beſchaffen-
heiten an Koͤrpern her, welche wir beruͤhren.
Dahin gehoͤrt auch, was ich kurz zuvor geſagt habe.
Die Gewonheit macht es, daß uns eben diejenigen Dinge
als kalt vorkommen, welche uns bei einer andern Gewon-
heit heis ſcheinen wuͤrden. So iſt die Hizze in den Glas-
huͤtten unertraͤglich, da die Glasarbeiter das gefloſſne Glas
mit eiſernen Roͤhren aus dem Ofen herauslangen, es zu
Kugeln aufblaſen, und wir koͤnnen daſelbſt keinen Augen-
blikk ausdauren.
Wenn das Fuͤhlen einerlei Koͤrper, mit eben denſelben
Beſchaffenheiten, bald ſo, bald wieder anders der Seele
vorſtellt, ſo kann es folglich in der Seele ebenfalls falſche
Urtheile hervorbringen, weil beide gegenſeitige Urtheile
nicht wahr ſein koͤnnen.
Das Fuͤhlen thut auf das Gedaͤchtnis, wie ich mir
vorſtelle, keine ſehr ſtarke Eindruͤkke. Wenigſtens ſtelle
ich mir Schloͤſſer und Berge leicht vor, und druͤkke ſie
in mein Gehirn ein. Doch kann ich mir abweſende
Ergoͤzzungen und Schmerzen nicht wieder vorſtellen.
Doch hiervon an einem andern Orte.
Auſſer den Verhaͤltniſſen, welche die Beſchaffenheiten
der Koͤrper zum Grunde haben, bringt das Fuͤhlen auch
noch Wolluſt, das Kizzeln, und den Schmerz in der
Seele hervor.
Die Wolluſt iſt, was das Fuͤlen betrift, derjenige
Zuſtand des Koͤrpers, oder eines koͤrperlichen Theils,
welchen man gerne fortdauren wiſſen moͤchte. Nicht eine
jede Wolluſt ſezzt die Nerven ſehr in Bewegung. Es iſt
beim Jukken angenem, wenn man ſich krazzt, weil die bloſſe
Haut gerieben wird; und eben dieſes kann zu heftig wer-
den. Man weis aus der Entdekkung des geliebten Hia-
cinth Cretons, daß es Jnſekten giebt, die dieſes Jukken
erregen, die zugleich im Mehle, und in den Beulen der
Kraͤzze wohnen, und mit ihrem Kriechen und Saugen,
und wenn ſie die Nerven der Haut anſtechen, dieſe juk-
kende Empfindung verurſachen.
Heftiger und lebhafter ſind die Wolluͤſte, wenn die
Waͤrzchen an den Theilen des menſchlichen Koͤrpers, die
am empfindlichſten ſind, gerieben werden. Um die Ent-
zuͤkkungen der Liebe nicht zu beruͤhren, ſo ſtekken die Chi-
neſer einen Pinſel ins Ohr und drehen ihn darinn herum;
dadurch machen ſie ſich eine lebhafte Empfindung, welche
ſie, nach der Wohlthat der Venus und der Ceres, fuͤr das
dritte Goͤttergeſchenke halten.
Dieſes Reiben verwandelt ſich, wenn ein groſſer Nerve
entbloͤſt darunter liegt, in ein Kizzeln. Von einem ſanften
Reiben der Lefzen: von einem dergleichen Reiben der
Fusſole, oder der flachen Hand, und bei einigen Men-
ſchen von dem Reiben der Haut, welche zwiſchen den
Ribben und den Darmknochen liegt, entſteht dieſes Kiz-
zeln, welches in der That eine heftige Empfindung iſt, da
der Nerve gros iſt, und eine unausſtehliche Bewegung
verurſacht (t). Andre Menſchen, welche vom Kizzel we-
niger ausſtehen, ſcheinen in dieſer Gegend entweder kleinere
oder doch tiefer liegende Nerven, eine dichtere Haut, oder
doch Nerven mit mehr Fett bedekkt, zu haben.
Schmerz iſt derjenige Zuſtand des Koͤrpers, der uns
zuwider iſt. Es wird an einem andern Orte gezeigt wer-
den, daß (u) in den Nerven die Zerſtoͤrung keine ſolche
Statt findet, indem oft der allerunſchuldigſte Schmerz,
ohne eine Spur zu hinterlaſſen, verſchwindet; ſondern daß
irgend eine ſtaͤrkere Bewegung darinnen vorgeht, ich ſage,
eine ſtaͤrkere, denn es verurſacht einerlei Urſache in einem
Menſchen, der calloͤſe iſt, Wolluſt, in einem zaͤrtlichen
hingegen Schmerz, und folglich ſind keine andre Zwiſchen-
graden, als daß die geringere Bewegung der Seele wohl-
thut, und die groͤſſere misfaͤllt.
Der Schmerz iſt allen Nerven weſentlich, und hat
alſo uͤberall in allen Theilen des Koͤrpers ſeinen Sizz, nur
daß er groͤſſer iſt, wo die Nerven groͤſſer ſind, dem Gehirne
naͤher liegen, und mehr entbloͤſt getroffen werden. Der
allerempfindlichſte Schmerz trift eine entbloͤſte Haut, da,
wo ſie viele Waͤrzchen hat. Die amerikaniſche Wilden,
die ſich eine Ehre daraus machen, wenn ſie von ihren
Feinden die aͤrgſte Schmerzen leiden, und dieſelbe eben
ſo wieder bezahlen koͤnnen, verſtehen, was die Standhaf-
tig-
[383]III. Abſchnitt. an ſich.
tigkeit am meiſten beunruhige. Sie reiſſen die Naͤgel
aus, um die an den Naͤgeln haͤngende lange Waͤrzchen
zugleich mit zu zerreiſſen; oder ſie ſchlagen die maͤnnliche
Ruthe mit einer Keule entzwei, welche ſie langſam regieren.
Davon entſtehen die Schmerzen des Wurms am Fin-
ger (x).
Jch erfahre es oft, und auch jezo an mir ſelbſt, daß
ein Menſch niemals ganz von Schmerzen frei iſt, und daß
er nie ſo weich ſizt oder liegt, daß er nicht an ſeinem ge-
bognen oder gedruͤkten Gliede einige unangenehme Em-
pfindung oder dergleichen verſpuͤren ſollte. Doch wir
laſſen dieſes leicht wieder aus der Acht, und es iſt dieſes
eine von den Sinnlichkeiten, deren wir uns nicht bewuſt
ſind. So bald wir das Gemuͤth aufmerkſam machen, ſo
wird unſer ganzer Koͤrper, an dem wir nichts empfanden,
ganz Sinn, und wir verſpuͤren faſt allenthalben Unge-
maͤchlichkeit. Es iſt dieſes die Urſache, warum der Koͤr-
per oft ſeine Lage veraͤndern mus, und warum wir uns
im Bette herumwerfen.
Um die Gewaltſamkeit des Fuͤhlens zu maͤßigen, hat
die Natur die Oberhaut gemacht. Man nehme dieſelbe
von einem noch ſo kleinen Theilchen weg, ſo wird alsdenn
das ganze Leben des Menſchen zu einer Folter. Es ver-
traͤgt naͤmlich die Haut, wenn ſolche durch die Kraft der
Blaſenpflaſter von der Oberhaut entbloͤſt iſt, weder ein
Kleid, noch die Luft mehr. Nun aber raubt die Ober-
haut, und zwar an allen und jeden Stellen, von der
allzulebhaften Empfindlichkeit der Waͤrzchen ſo viel, als
es ſich zum Gebrauche des Lebens rauben lies: ſie entzieht
der
[384]Das Fuͤhlen XII. Buch.
der Eichel an der Mannsruthe wenig, wenig den Lefzen,
die zum Kuͤſſen gegeben ſind, wo ſie duͤnne iſt; ſie raubt
ihr aber viel beim untern Anfange des groſſen Zees, an der
Haut unter der Ferſe, worauf ſich der Koͤrper ſtuͤzzen
mus. Beides iſt kein Werk der Notwendigkeit, ſondern
eine deutliche Anlage von der goͤttlichen Vorſehung; denn
es hat nicht nur das Kind bereits eine zarte Oberhaut, ob
es gleich von der maͤnnlichen Ruthe noch keinen Gebrauch
macht, ſondern man findet auch an der Fusſole der Frucht
eine harte Oberhaut, ob ſie ſich gleich noch nicht auf die
Ferſen aufſtaͤmmt.
Der Malpighiſche Schleim, der ein Oel nebſt den
Haaren ausſchwizt, und die unter der Oberhaut zutre-
tende Dunſtmaterie, erhalten dieſe Waͤrzchen zart und
weich.
Ueberhaupt erwaͤrmen die Haare, und ſie ſind die
erſten Kleider der Thiere: daher kann man ſie am Men-
ſchen, wenn der Kopf von zu groſſer Hizze eingenommen
iſt, mit Nuzzen verſchneiden. Jm Wahnwize beſcheert
Aretaͤus(y), und andre in Kopfſchmerzen die Koͤpfe
der Kranken mit gutem Erfolge (z).
Nach der Meinung des beruͤmten Ludwigs(z*)
befoͤrdern eben dieſe Haare die Ausdaͤmpfung des Oels,
indem ſie das Loch frei erhalten, durch welches dieſes Oel
ausduͤnſtet, und indem ſie das Fadengewebe um die Haar-
zwiebel anſchlieſſen helfen.
Der Geſchmak hat mit dem Gefuͤhle vieles gemein,
und es empfindet auch die entbloͤſte Haut diejenige
Schaͤrfe, welche der Geſchmak unterſcheidet, als
beſchwerlich. Doch hat er auch einige andre Eigenſchaf-
ten, die ihm eigen ſind.
Der vornemſte Sizz dieſes Sinnes iſt die Zunge, und
beſonders deren Spizze (a), und der naͤchſte Rand; er iſt
ſtumpfer am Ruͤkken (b), und um deſto weniger fein, je
naͤher man dem Kehldekkel koͤmmt. Andre erinnern, daß
B b 2er
[388]Der Geſchmak. XIII. Buch.
er daſelbſt dauerhafter und lebhafter ſei (c), vielleicht weil
er einzig und allein vom Salze entſteht.
Die Zunge iſt dasjenige Werkzeug allein, welches die
ſanftern Arten des Geſchmaks empfindet, und es ruͤhrt
die Suͤßigkeit des Zukkers ſelbſt (d), und die Bitterkeit
des Salis Ammoniaci (e) nirgend anderswo die Seele,
welches ich oft ſelbſt verſuchet habe, und hierdurch haben
groſſe Maͤnner zu ſchlieſſen Urſache gefunden (f), daß die
Zunge allein den Geſchmak in ihrer Gewalt habe. Doch
man hat noch andre Arten von Geſchmak, welche wirkſa-
mer ſind; und dieſe ruͤhren, auſſer der Zunge, noch andre
Werkzeuge. Die Lefzen, ſagt der beruͤmte Nehemias
Grew(g), in dem Tone einiger Alten, werden von der
Nieſewurz angegriffen: der Gaume (h) unterſcheidet den
Geſchmak der Belladonna: das Zaͤpfchen (i) empfindet
die Pimpinelle und den Senf (k): und der Schlund
koſtet (l) den Geſchmak des Wermuts. Der innerſte
Theil des Mundes und der Schlund haben auch an dem
Geſchmakke ihren Antheil (m). Einige fuͤgen hier noch
den Magen bei (n): ſie ſchlieſſen aber das Zahnfleiſch vom
Munde aus (o).
Daher koͤnnen wir die Natur erklaͤren, wenn wir
leſen, daß der Geſchmak noch da geweſen, wenn gleich die
Zunge ausgeſchnitten worden (p), oder verloren gegan-
gen. Ein Maͤdchen, welches nur ein Huͤbelchen ſtatt der
Zunge uͤbrig behalten hatte, konnte ſehr gut koſten (q).
Und doch hat die Zunge allein das Vorrecht, die mei-
ſten Arten des Geſchmakkes zu beurtheilen, und ſie unter-
ſcheidet alle lebhafter. Wir haben einige allgemeine
Stuͤkke davon bereits beruͤhrt (r), und nun folgen noch
einige beſondre Dinge, welche eigentlich das Schmekken
betreffen.
Es iſt das Weſentliche der Zunge, welche ein Jnbe-
griff von Muſkeln iſt, haͤutig (s), ſie iſt eine Fortſezzung
der Haut, welche den Mund und Gaumen bekleidet, aus
Faͤden auf verſchiedne Weiſe durch einander gewebt, doch
aber um etwas weicher, gleichſam fetter, und mit dem
Muſkelfleiſche (t), von dem ſie eine Menge Nerven be-
koͤmmt, doch ohne Bewegung verbunden.
Die Flaͤche dieſer Haut, welche die Muſkeln auf-
nimmt, und diesſeits der Zungenſpizze befindlich iſt, zeigt
ſich gegen die Whartonianiſche Gaͤnge zu ſehr einfach und
kurz. Wo ſie ſich aber in den Gaumen wirft, wie auch
an der Spizze, und den Raͤndern, ſieht man ſie allenthal-
ben voller Waͤrzchen, die hier viel deutlicher, als an der
Haut, ins Geſichte fallen (t*).
Jhre Natur iſt am Menſchen folgender Maaßen be-
ſchaffen. Die erſte Art derſelben iſt beſonders geartet,
und blos dicht am hinterſten Theile, und oben am Ruͤkken
zu finden: ſie liegen faſt nach der Figur des lateiniſchen
Buchſtaben V(u), oder eines Winkels, deſſen Spizze
mitten auf der Zunge hinterwerts zu, und oft ſelbſt im
blinden Loche (u*), angetroffen wird. Man koͤnnte
ſieben, acht oder neun dergleichen Waͤrzchen, faſt in einer
einzigen Reihe zaͤlen. Albin will nur drei (x), und
Vater(x*) ihrer fuͤnfe gefunden haben. Jch habe ihrer
uͤber 20 geſehen, da eine im Blindloche, die andere vor
demſelben, eine andere hinter demſelben lag, und zehn
andre in zwo Reihen, noch andre aber hie und da herum,
auſſerhalb dieſen Reihen, zerſtreut waren. So beſchreibt
es auch beinahe Duverney(x**).
Sie ſind unter allen Waͤrzchen die groͤſten, und ſtellen
abgekuͤrzte Kegel (y) vor, die, wenn ſie an ihrer Grund-
flaͤche frei waͤren, ihre Spizze in der Zunge ſtekken haben
wuͤrden. Es iſt dieſe Grundflaͤche bald deutlicher, bald
undeutlicher, zu einer Art von Trichterhoͤlung gedruͤkt,
und hat gleichſam einen Punkt zum Loche (z). Sie ſind
einiger Maaßen hart, und bekommen viele deutliche Ner-
ven (z*) und Gefaͤſſe, welche ſich mit dem weiſſen Faden-
gewe-
[391]I. Abſchnitt. Werkzeug.
gewebe in ein einziges Huͤgelchen verwandeln. Um ſie
pfleget ein gewiſſer zirkelrunder Graben (a) zu gehn, den
der etwas geſchwollne Ring der Hautbekleidung endigt.
Jch habe aus einer einzigen ſolchen Grube zwei bis drei
Waͤrzchen kommen geſehen (a*). Vor den vorderſten
liegen einige dergleichen, doch nur wenige auf dem Ruͤkken
der Zunge zerſtreut.
Sie laſſen ſich von den benachbarten Druͤſen, an ihrer
Haͤrte und durchgaͤngiger Feſtigkeit, indem ſie nicht hol
ſind (b), leicht unterſcheiden.
Sowohl hinter dieſen Reihen der abgekuͤrzten Waͤrz-
chen, als vorne auf der Zunge, liegen die ſtumpfen
(obtuſæ) Waͤrzchen. Es ſind dieſes halbkuglige, durch-
borte, zerſtreute, deutlich abgeſonderte Erhabenheiten, an
der Zahl bis dreißig, und eben dieſes Geſchlechte von
Waͤrzchen ſcheinet in die ſchwammfoͤrmige (e) auszuarten.
Die ſchwammfoͤrmigen(f) ſind gemeiniglich cilin-
driſch, von einer ſtumpfen, rundlichen, dikkern Spizze,
welche dennoch oft kaum breiter, als der Stiel iſt. Sie
fangen ſich am hintern Theile des Ruͤkkens an, ſind duͤn-
ner gelagert, und hie und da zerſtreut, ſonderlich vor den
B b 4zwo
(c)
[392]Der Geſchmak. XIII. Buch.
zwo Reihen der abgekuͤrzten Waͤrzchen, dennoch aber auch
hinter und neben denſelben (g) anzutreffen.
Hierauf werden ſie vorne her allmaͤlich kleiner (h),
und ſie liegen gegen die Zungenſpizze zu dichter beiſam-
men (i), wo ſie zalreicher ſind, als die kegelfoͤrmigen
ſelbſt, und ſo ihren Strich behalten. Jhre Lage iſt nach
Linien, welche mitten auf der Zunge von einander ſtreichen,
und ſie verwandeln ſich in die Geſchmakwaͤrzchen der Zun-
genſpizze, die von den kegelfoͤrmigen einzig und allein dar-
innen unterſchieden ſind, daß ſie dennoch ſtumpfer aus-
fallen.
Sie ſind uͤberhaupt zalreicher; und es machen die
kegelfoͤrmigen(k) Waͤrzchen (l), welche ſowohl vorne,
als hinten liegen (m), wie auch hinter dem blinden Loche,
den Hauptſtamm der Zungenwaͤrzchen aus, ob ihr Ende
gleich bald duͤnne, bald kuͤrzer kegelfoͤrmig iſt. Die hin-
terſten darunter ſind gerader, die vordern neigen ſich mehr
herab, und haben eine freie und bewegliche Spizze. Dieſe
nehmen den Rand und die Spizze der Zunge faſt ganz
allein ein. Juſt an der Spizze der Zunge wird ihre
Groͤſſe klein, ſie laufen laͤngſt der Zunge in Parallellinien
herab; ſtehen ſenkrecht auf, und auf ſie folget endlich die
glatte Oberhaut.
Zwiſchen dieſen liegen andre Waͤrzchen, die kegelfaͤden-
foͤrmig, cilindriſch, lang, duͤnne ſind, dergleichen auch
neben den abgekuͤrzten gefunden werden; ſie ſind vorne
her kleiner, liegen gehaͤuft an den Seiten, und ſind an
dem
(c)
[393]I. Abſchnitt. Werkzeug.
dem ſcharfen Rande haͤufig vorhanden. Unter ihnen
ſiehet man einige groͤſſere, andre ſind wie ein Haar ſo
duͤnne.
Ruyſch nennt ſie bogige Waͤrzchen (n). Die klein-
ſten des Albins(o) ſind vom Geſchlechte der kegelfoͤrmi-
gen, ganz allein kleiner, rundlich, und liegen auch an der
Zungenwurzel zwiſchen den uͤbrigen.
Jhnen fuͤgt der beruͤmte Albin noch Queerrunzeln
bei (p), die man in der That an den Seiten der hinter-
ſten Zunge findet, und er glaubt, daß man dieſe Ausar-
tungen einiger Maaßen zu den Waͤrzchen rechnen koͤnne.
Beruͤmte Maͤnner pflegen unter den Waͤrzchen drei
Gattungen zu unterſcheiden (q), oder vier feſte zu ſezzen
(r). Doch hierbei iſt gewiß viel willkuͤrliches; denn ſie
arten in fortlaufender Reihe, und ohne Spruͤnge zu
machen, allmaͤlich eine in die andere Art aus; ſo werden
die fadenfoͤrmigen und allerkleinſten kegelfoͤrmig; dieſe
ſchwammfoͤrmig, dieſe ſtumpf und endlich zu abgekuͤrzten
Waͤrzchen, indem ſie gleichſam die Mittelreihe der Farben
durchlaufen. Man findet auch an dieſer oder jenen
Zunge Verſchiedenheiten (s), welche mir uͤberhaupt gros
vorkommen, indem diejenige Arten, welche wir unter
verſchiednen Titeln aufgefuͤhrt haben, ſowohl in der Menge
Waͤrzchen, als auch an der Bauart derſelben, von einan-
der abweichen.
Hier zeigt ſich der Bau der Waͤrzchen viel deutlicher,
als in der Haut, ſowohl weil ſie gros, als weil ſie hart
ſind, und mit den Waͤrzchen an den groͤſten Thieren viel
Aenlichkeit haben. Sie beſtehen aber nicht blos aus einem
einzigen Huͤgelchen, ſondern es vereinigen ſich gleichſam
viele Erhoͤhungen in eine einzige (t), ſie werden durch ein
weiſſes (u), ziemlich feſtes (x), kurzes und verwikkeltes
Fadengewebe zuſammengehaͤngt, daran die Faͤden ganz
klein ſind. Jn dieſes Gewebe begeben ſich ſehr viele
Schlagadern, die ſich leicht ausſprizzen laſſen (y), und
eine jede derſelben wirft ſich in ein oder mehrere Waͤrzchen.
Dieſe Schlagadern verbreiten ſich in einem ſolchen Waͤrz-
chen dergeſtalt, daß daſſelbe ohnſchwer ganz und gar, durch
dieſe Gefaͤſſe roth gefaͤrbt werden kann (z). Aus dieſem
Gefaͤschen, oder durch das Schweisloch des oͤberſten
Waͤrzchen, oder uͤberhaupt durch andre undeutliche Loͤcher
ſchwizzet ein eingeſprizter waͤſſriger Saft leichtlich aus (a).
Oft iſt auch auf dieſem Wege Blut herausgedrungen (a*).
Eben ſo gehen auch Blutadern, von denen man aber
zur Zeit wenig weis (b), in das Waͤrzchen, und ſie ſau-
gen mit ihrem Ende eine zarte Feuchtigkeit in ſich (c).
Nerven laſſen ſich hier (d) leichter als irgendswo, und
auch am menſchlichen Koͤrper in die Waͤrzchen verfolgen,
und ich habe ſelbige nicht ſelten von den Zweigen des
fuͤnften Paares bis zu den Waͤrzchen, ſonderlich wo dieſe
nahe an den Seiten der Zunge liegen, mit dem Meſſer
begleitet. Das aber weis ich nicht, wie ſie in dem weiſſen
Fadengewebe ihr Ende finden (e).
Daß nun dieſe Waͤrzchen das Werkzeug zum Ge-
ſchmakke ſind, laͤſt ſich ohne Schwierigkeit zeigen. Es iſt
an der Zunge keine einzige, auch nicht die geringſte Stelle,
welche davon nicht bedekt waͤre, folglich mus ein jeglicher
Koͤrper erſt die Waͤrzchen beruͤhren, wenn man ihn ſchmek-
ken ſoll.
Man weis ferner durch Verſuche, daß derjenige Theil
der Zunge, wo keine ſind, nicht zu koſten vermag (f), daß
hingegen die Spizze der Zunge (g), wo nicht nur das
Geſchlecht der kegelfoͤrmigen uͤberfluͤßig vorhanden iſt, das
gegen ſeine Grundflaͤche die groͤſte Oberflaͤche hat, ſondern
die auch am allerbeweglichſten iſt, den ſchaͤrfſten Geſchmak
beſizt, und wir trauen alſo dieſem Verſuche, da wir erfah-
ren, daß ſie fuͤr allen uͤbrigen Waͤrzchen das Amt zu koſten
auf ſich haben. Ein Theil dieſer Empfindung gehoͤrt in-
deſſen der abgekuͤrzten Art (i), ein Theil den ſchwamm-
foͤrmigen (k), und den allerkleinſten (l) zu. Lorenz
Bellin(m) iſt der erſte, welcher durch Verſuche den
Sizz des Geſchmakkes in den Waͤrzchen entdekt hat.
Die Oberhaut an der Zunge iſt dikke (n) und dikker,
als am uͤbrigen Koͤrper, einer glatten Membran aͤnlich,
klebrig, weiß, durchgaͤngig gleichartig, und hat von den
Waͤrzchen leichte Zeichnungen und Eindruͤkke (o): ſie iſt
undurchloͤchert (p), ohne nur, wenn man ſie von den
Waͤrzchen ungeſchikt abloͤſet und ſie zerreiſſet an derjenigen
Stelle (q), wo ſie auf der Erhabenheit der Waͤrzchen
aufliegt; und dieſes traͤgt ſich ſehr leicht zu, weil ſie an
den Waͤrzchen feſter haͤngt (r). Allein, man kann ſie
durch das Maceriren abſondern (s).
Sie iſt ebenfalls wie die Oberhaut ohne Gefaͤſſe, ohne
Empfindung, und waͤchſt wieder nach. Ein Exempel von
einer ſolchen abgegangnen und wieder hergeſtellten Beklei-
dung einer vereiterten Zunge berichtet Marcellus Do-
natus(t). Fallop nannte es eine zottige Zungen-
rinde (t*).
Der wahre Erfinder der Struktur der Zunge am
Menſchen iſt entweder Johann Mery(u), der an einer
abgekochten Menſchenzunge eine dikke, einfache Membran
beſchreibt, die ſich ganz und gar nicht in zween Theile
zertheilen laͤſt, unter der ſogleich die Waͤrzchen befindlich
waͤren, und in deren niedergedruͤkten Zwiſchenfellen die
Waͤrzchen laͤgen (x): oder auch Wilhelm Cowper(y),
wel-
[397]I. Abſchnitt. Werkzeug.
welcher an der Zunge des Menſchen eine Bekleidung, die
da weich, und der Oberhaut aͤnlich war, gefunden. Allein,
er hat den Bau der Menſchenzunge mit der thieriſchen
nicht gut verglichen.
Ruyſch will nicht (z) die Nezmembran an der Zunge
gefunden haben.
Nachher hat J. Benignus Winslow erinnert, daß
ſich dieſer Bau an Thieren anders, als am Menſchen
verhalte (a), und es habe der Menſch an der Zunge keine
Nezzmembran; er ſagt ferner, daß ſich in den Thieren
eine ſchleimige helle Subſtanz zwiſchen die Waͤrzchen er-
gieſſe, ſo wie zwiſchen die Waͤrzchen, die ſich gekocht in eine
Art von Membran verwandeln. Sie ſei am Menſchen
duͤnne, und der Oberhaut aͤnlich (b). Aus der Schule
dieſes vortreflichen Mannes tadelt J. R. C. Garengeot
den Heiſter, da er eine durchloͤcherte Nezzmembran be-
ſchrieb, mit Bitterkeit (c).
Nach dieſem, da die Schriftſteller in der Zergliede-
rungskunſt immerfort (d) ein nezzfoͤrmiges Weſen und
Loͤcher daran, nach den Thieren, lehrten, erwies der vor-
trefliche Albin dergleichen, und nannte dieſe Oberhaut
Periglottis(e), er trug den wahren Bau derſelben vor,
welches auch die Schuͤler dieſes beruͤmten Mannes thaten
(e*), welche ſeine Erfindungen noch ehe, als ihr Lehrer,
oͤffentlich bekannt machten. Jch habe den wahren Bau
theils nach dem Unterrichte dieſes vortreflichen Mannes,
theils aus der Natur (e**) bereits vorlaͤngſt vorgetragen.
Es geſchieht wegen der Oberhaut, daß es keine groſſe
Seltenheit iſt, an gluͤhendem Eiſen oder gluͤhenden Kohlen
zu lekken (f), geſchmolznes Glas hinabzuſchlingen, Feuer
zu ſpeien (f*), oder es kann auch der Vitriolgeiſt die
Oberhaut (g) calloͤſe gemacht haben (h), wenn die Zunge
nicht von ſelbſt die Empfindung verloren gehabt.
An der Zunge der Schafe, oder Ochſen, und der
meiſten vierfuͤßigen Thiere, ſind die Waͤrzchen viel deutli-
cher, als im Menſchen, ſowohl was die wahren ſchwamm-
foͤrmigen (k), zum Schmekken beſtimmten, und von
Nerven belebten (l), als die piramidenfoͤrmigen be-
trift (m).
Dieſe Waͤrzchen geben, wenigſtens nach der Kochung,
durch ein Nezz, oder eine weiſſe, weiche, und mit ſo viel
Loͤchern durchborte Membran (n), als aus der Haut der
Zunge Waͤrzchen gehen, die ſie durch ihre Loͤcher durch-
laͤſt, es mag nun dieſes die aͤuſſere Platte und Oberhaut,
oder eine beſondre Membran ſein.
Endlich bedekkt eine ſtarke Oberhaut, die in ſo viel
hole Scheiden gebildet iſt, als ſich Waͤrzchen von der Haut
der Zunge erheben (o), die Zunge. Jn dieſe Scheiden
verlaͤngern ſich dieſe Waͤrzchen (p), wie ſich ein Degen in
ſei-
[399]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ſeiner Scheide verbirgt. Es ſcheinen dieſe knorplige Be-
kleidungen an den Piramidalwaͤrzchen (q) einen andern
Nuzzen zu haben; es ſei nun entweder den Mund auszu-
kehren, oder die Speiſe feſte zu halten, daß dieſe, wenn ſie
lebendig iſt, nicht entwiſche, indem ſie ihrer Schwere ent-
gegen in den Schlund ſteigen mus (r).
Dieſe vom Malpighio und Bellin entdekkte Bau-
art haben anatomiſche Schriftſteller und Phiſiologiſten (s)
ohne Widerſpruch angenommen, und ſogar durch erdich-
tete Kupfer auszudruͤkken geſucht (t). Sie weichen aber
darinnen von dem menſchlichen Baue ab, daß in den
Thieren ſowohl das Nezzchen durchloͤchert, als die Ober-
haut in hole Scheiden verlaͤngert iſt.
Die Zunge koſtet nicht, wenn ſie trokken iſt, und es iſt
ihr die Empfindung von ihrer Unſauberkeit ſo unbequem,
daß ſo gar der Erloͤſer ſelbſt die ewige Strafen dadurch
ausgedruͤkt hat. Hingegen hat die Natur auf vielfache
Art
[400]Der Geſchmak. XIII. Buch.
Art davor geſorgt, damit dieſes Uebel nicht leicht entſte-
hen moͤchte. Die Zunge ſelbſt duͤnſtet aus (u), es fliſt der
Speichel haͤufig aus verſchiednen Quellen in die Hoͤle des
Mundes zuſammen (x), und es ſchwizzen nicht nur der
Mund ſelbſt allenthalben, ſondern auch die Wangen einen
feuchten Dampf aus (y), ſo wie die Zunge fuͤr ſich ſchon
einen Schleim verfertigt, eine Schmierigkeit, welche in
der That wider die Austroknung der Luft ein guter Schuz
iſt.
Es beſizzt demnach der obere und hintere Theil der
Zunge, der dem Kehlendekkel nahe liegende Theil, bis
zum Blindloche hin, wie auch die Seiten der Zunge, der
untere Theil der Wurzel, auch vor dem Blindloche, zwi-
ſchen dem Fleiſche, und der aͤuſſern Bekleidung, eine groſſe
Menge Druͤſen (z), welche einfach, deutlich, rund oder
langrund ſind, indem ſich die halbkuglige Bekleidung von
der Oberhaut, und der Boden (a) bis zur Haut der
Zunge erſtrekkt. Eben dieſe Druͤſen haben, mitten auf
ihrer Erhabenheit ein oder mehr Loͤcher, welche den Schleim
zu machen (b), zu behalten, und bei jedweder Bewegung
der Zunge auszuwerfen tuͤchtig befunden werden. Man
wuͤrde es ſchlecht eine zuſammengeſezzte Druͤſe nennen (c),
weil ein jedes Beutelchen ſeinen eignen Gang hat.
Jch habe ſie einfache genannt. Jndeſſen befindet ſich
mitten auf der Zunge, in der ſchwacheingedruͤkkten Furche,
vor dem Kehlendekkel ein Loch (d), welches vorne her offen
iſt, und ſich hinterwerts gegen den Kehlendekkel zu in das
Zungenfleiſch verlaͤngert: es iſt uͤbrigens blind, bald laͤn-
ger, bald kuͤrzer, bisweilen undeutlich, daß man es kaum
bemerken kann (e). J. Friedrich Schrader hat es zu-
erſt beſchrieben (f); und Samuel Collins(g), noch
genauer aber Morgagnus(h) davon ein Kupfer ge-
geben.
Jn dieſen Holweg, welches mir kein wirklicher Gang
zu ſein ſcheint (i), ergieſſen die herumgelagerte einfache
Druͤſen ihren Schleim, als in einen gemeinſchaftlichen
Behaͤlter aus (k). Morgagnus bemerkte dergleichen
Gang allezeit im vierten Koͤrper.
Hier zeiget ſich auch oft ein abgekuͤrztes Waͤrzchen,
und bisweilen auch mehrere (l).
Ehedem wollen beruͤmte Aerzte hier wirkliche mem-
branoͤſe Gaͤnge geſehen haben (m), die dem Speichel-
gange (n) aͤnlich waren, oder es ſollen ihrer zween (o),
ſich einander gleiche, und parallellaufende geweſen ſein;
allein,
H. Phiſiol. 5. B. C c
[402]Der Geſchmak. XIII. Buch.
allein wir, und andre groſſe Maͤnner (p) wiſſen davon
nichts. Es iſt nicht zu vermuthen, daß ſie zu der Schild-
druͤſe (q) gehoͤren ſollten. Wenn Vater(r) in ſie
Waſſer ſprizzte, und die druͤſige Ausdehnung bis zu den
Druͤfen, die unter der Zunge liegen, bis zu den Mandeln,
gegen den Schlund und Luftroͤhrenſpalte, erweiterte, ſo
trieb er das Waſſer in der That bis in ihr Fadengewebe.
Man erlaube mir, die Gefaͤſſe der Zunge, die gewis
wenig bekannt ſind (s), zu beſchreiben. Es koͤmmt die
vornemſte Schlagader (t), welche ich die Zungenſchlag-
ader nenne (t*), andre beruͤmte Maͤnner hingegen (u)
ſublingualis heiſſen, gemeiniglich mit einem beſondern
Stamme aus der aͤuſſern Carotis, oberhalb der Ober-
ſchildader (x), unter der Lefzenader, und in jedem fuͤnften
Koͤrper aus der Lefzenader ſelbſt her (y).
Sie laͤuft uͤber dem Zungenbeine gekruͤmmt und ein-
werts fort (z), und macht einige kleine Zweige, deren
einer den Zungenbeinbogen beſchreibt, und zu dem breiten
Seitenmuſkel der Zunge, zu dem zweibaͤuchigen, zum
breiten Muſkel des Zungenknochens, zum Bruſtknochen-
muſkel des Zungenbeins, zum Schulterblatmuſkel des
Zun-
[403]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Zungenbeins, zum Zungenknochenmuſkel des Schildes (a)
laͤufet: bisweilen ſtrekkt er noch einen in die Kieferdruͤſe,
und ferner nach den Seiten, und dem hintern Theile der
Zunge aus, wo der Griffelmuſkel der Zunge zutritt (b).
Nachdem ſie ſich von dem breiten Seitenmuſkel der
Zunge, und dem Grundmuſkel der Zunge bedekken laſſen
(c), ſo reicht ſie dieſen und den uͤbrigen benachbarten
Muſkeln des Zungenbeins Zweige, aus denen der Bogen
am Kinnmuſkel des Zungenbeins entſpringt; ſie erzeugt
ferner die Ruͤkkenader der Zunge (d), welche zum Grif-
felzungenmuſkel, und dem Ruͤkken der Zunge laͤuft, und
beim Kehldekkel und der benachbarten Wurzel der Zunge
das Nezz macht, welches mit Blutaderzweigen vermiſcht
iſt. Bisweilen verſorget ſie auch den benachbarten
Schlundkopf und die Mandeln, und bisweilen ſtreicht ſie,
wenn ſie groͤſſer iſt, gegen den beweglichen Gaumen zu.
Bei dem Ende des Grundmuſkels der Zunge erzeugt
die Zungenſchlagader gemeiniglich einen Aſt, den ich lieber
den Aſt unter der Zunge(e) nenne, weil er zwiſchen
dieſer Druͤſe und dem Kinnmuſkel des Zungenbeins, vor-
werts bis zum Kinne hin lang fortlaͤuft, und ſich auf dieſe
Druͤſe und auf dieſen Muſkel, und endlich in dem Ende
des breiten Muſkels des Zungenbeins, und des Zwei-
baͤuchigen verzehrt. Eben dieſe Ader entſpringt faſt in
jedem fuͤnften Subjekte, von der Ader unter dem Kinne,
die ein Aſtausſchuß der Lefzenader iſt.
Das uͤbrige koͤnnte man nunmehr den Froſchaſt(e*)
von dem Namen der gepaarten Blutader benennen. Es
laͤuft dieſe Schlagader zwiſchen dem Kinnzungenmuſkel
und dem Seitenfleiſche der Zunge durch das Thal gebogen
(f) fort, und ſie verliert ſich endlich unter der Haut an
C c 2der
[404]Der Geſchmak. XIII. Buch.
der Spizze der Zunge (g); daher ihre Verwundung
gefaͤrlich wird.
Sie iſt die groͤſte Schlagader, und noch groͤſſer als
die Lefzenader, daher man von ihr auch, aus dieſem Grun-
de, einige Abſonderung erwarten kann.
An den Seiten und dem Ruͤkken der Zunge erſcheinen
zwo kleinere Zungenſchlagadern, die von den Aeſten der
Lefzenſchlagader, dem Gaumen (h) und Mandelnaſte her-
ruͤhren (i), und auch von den kleinen Zweigen herkom-
men, die ſich in der Kieferdruͤſe erzeugen (k).
Es laſſen ſich dieſe viel ſchwerer, als ihre Neben-
ſchlagadern, erweislich machen, ſie ſind mehr zuſammen-
geſezzt, in den verſchiednen Koͤrpern verſchieden, dennoch
aber nicht auſſer Acht zu laſſen, da ſie ſonderlich fuͤr eine
andre und beruͤmtere Art von Gefaͤſſen gehalten worden
ſind. Die erſte iſt die Blutader unter dem Kinne,
welche von der Lefzenader, oder der Schild- oder Zungen-
ader entſpringt, gegen das Auswendige des zweibaͤuchigen
Muſkels, zwiſchen dieſem Muſkel, zwiſchen der Kiefer-
druͤſe, und dem Kinnbakken fortkriecht: ſie giebt dieſer
Druͤſe, dem Muſkel, und dem breiten Muſkel des Zun-
genknochens Zweige, ſchleicht ſich am Ende des eingehaͤng-
ten Zweibaͤuchigen, des breiten Muſkels des Zungenbeins
und des Kinnes queer durch die Haut; und begleitet mit
einem anſenlichen Stamme den Whartoniſchen Gang,
und hat an der Seite des Kinnmuſkels der Zunge und
der Druͤſe unter der Zunge, nachdem ſie dahin Aeſte ab-
gegeben, mit der vorigen Gemeinſchaft (l).
Eine andre, oder die Blutader der Oberflaͤche der
Zunge(m) entſpringt vom Blutaderſtamme auf der
Oberflaͤche der innern Droſſelader, welcher die mereſte
Aeſte der aͤuſſern Carotis begleitet, auf vielerlei Weiſe,
bald mit einem, bald mit zween Staͤmmen; ein andermal
entſteht ſie dennoch aus der Zungenader (n), welche zu
allernaͤchſt folgt; bald ſtreicht dieſelbe von der winkligen
gegen das Vorderende des breiten Seitenmuſkels der
Zunge fort. Sie macht unter dem Kinnmuſkel der Zunge
und dem breiten Seitenmuſkel der Zunge, mit ihrer Ge-
faͤrtin einen merkwuͤrdigen Bogen (o), und kriecht ferner
zwiſchen dem Kinnmuſkel der Zunge und der Druͤſe unter
der Zunge, zur Zungenſpizze, als eine Begleiterin des
fuͤnften Nerven fort. Nahe an dieſer Spizze tritt ſie mit
einem Aſte der Lefzenblutader (p) in Gemeinſchaft, von
welchem wir geredet haben, und ſie dringt mit einem an-
dern Stamme oft auf der Oberflaͤche fort, in den zwei-
baͤuchigen Muſkel und in den vierſeitigen Kinnmuſkel (q),
indeſſen daß ſie, mittelſt eines andern, in die Froſchader
mit dem folgenden zuſammenlaͤuft.
Ein andrer Zweig dieſes oder des folgenden Stammes,
oder der Schildader, iſt die zwote Froſchblutader,
welche vor dem breiten Seitenmuſkel der Zunge (r) den
Nerven des neunten Paares begleitet, und zur Spizze
der Zunge wandert, und zwiſchen dem Kinnmuſkel der
Zunge, und der Druͤſe unter der Zunge durch viele Muſ-
kelaͤſte mit der Froſchader zuſammenhaͤngt, und mit ſelbiger
in den gemeinſchaftlichen Stamm laͤuft. Eben dieſer
Zweig verſorgt auch den Schlundkopf.
Ferner begleitet bisweilen eine tiefe, bald eine ſehr
kleine Blutader, ein andermal ein wirklicher Zungen-
C c 3ſtamm,
[406]Der Geſchmak. XIII. Buch.
ſtamm, von der Froſchader, oder von irgend einer Schlund-
kopfsader, die Schlagader zwiſchen dem Kinnmuſkel der
Zunge und zwiſchen der Zunge. Von ihr koͤmmt auch
der ſchoͤne Bogen des Zungenbeins her.
Die Blutadern des Zungenruͤkkens entſpringen von
der Zungenader, die dem fuͤnften Nerven zur Begleitung
dient, wie auch von der Lefzenader, bei dem Eintritte des
Griffelmuſkels der Zunge, oder von der Schlundkopfs-
blutader, oder von der Blutader des Luftroͤhrenkopfes,
auf verſchiedne Weiſe.
Die Zweige dieſer Blutadern machen ein ſchoͤnes
Nezz (s) und nicht allein den Bogen zwiſchen dem blinden
Loche und dem Kehlendekkel aus, es iſt dieſes Nezz aber
mit einigen andern leeren Blutaderaͤſten, fuͤr einen neuen
Speichelgang vom George Daniel Coſchwitz gehalten
worden, weil dieſer beruͤmte Mann die Klappenblutadern
ſowohl leer, als auch vielleicht, wie in ertrunknen Perſonen
voll Waſſer gefunden haben mag. Er beſchrieb aber einen
Gang, oberhalb dem breiten Seitenmuſkel der Zunge (t),
welcher in die Druͤſe unter der Zunge ging (u), mit dem
Kiefergange Gemeinſchaft hatte, und mit den limphati-
ſchen Gefaͤſſen und mit der Schilddruͤſe (x) vor dem Keh-
lendekkel einen Bogen machte, der ſich in die Waͤrzchen
der Zunge oͤffnete. Er fuͤgt hinzu, er habe dieſes in ver-
ſchiednen Koͤrpern ſo befunden, und ihn durch den Blind-
gang der Zunge aufgeblaſen (y), ob dieſes gleich nicht ſo
leicht von ſtatten gehe. Ob er aber gleich die Vertheidi-
gung der neuen Entdekkung ſelbſt uͤbernahm, und einige
Anhaͤnger der Stahliſchen Lehrart dieſen Gang annah-
men (y*), ſo ſtimmen doch Heiſter(z), Walther(a),
und
[407]I. Abſchnitt. Werkzeug.
und andere beruͤmte Maͤnner mit nur uͤberein (b), daß
dieſes Blutadern ſind; da uͤberdem Coſchwitz, ob man
ihn gleich aufforderte, niemals weder Blutadern, noch
Gaͤnge beſonders erweislich machen konnte, und der Gang
ſelbſt offenbar einen Blutaderbau und viele Aeſte, die vom
Stamme an abnehmen, und ſich in die kleinſte Zweige
endigen, an ſich hat.
Die Zweige eben dieſes Nezzes machen durch den
Schildgaumenmuſkel, mit den Aeſten der Adern des
Schlundkopfes ein Adergeflechte.
Flieswaſſergefaͤſſe laufen nahe bei der Zunge, in dem
Kinnmuſkel des Zungenbeins, im eigentlichen Schlund-
muſkel, und an andern benachbarten Orten der Zunge (c),
wie wir ſolches in menſchlichen Koͤrpern geſehen, und ſonſt
gemeldet haben; ſie ſcheinen aber nicht, zuverlaͤßig der
Zunge ſelbſt anzugehoͤren (d).
Wir haben drei Zungennerven, einen hintern (e),
der vom achten Paare entſpringt, einen mittlern (f),
vom neunten Paare, und einen vordern (g), vom dritten
Aſte des fuͤnften Paares, beſchrieben. Es lieſſe ſich fra-
gen, welcher unter dieſen Nerven eigentlich das Geſchaͤfte
des Geſchmakkes verrichte. Die Alten ſchrieben dem
neunten die Bewegung zu, vom fuͤnften leiteten ſie die
Empfindung (i) her, weil die Aeſte des fuͤnften Paares
C c 4in
(h)
[408]Der Geſchmak. XIII. Buch.
in die aͤuſſere Haut der Zunge eingeflochten waͤren, nicht
ins Fleiſchige giengen, die Nerven aber des neunten Paa-
res ſich in die Muſkeln vertheilten.
Hingegen bildete ſich unſer ehemaliger Lehrer(k) ein,
daß blos der neunte Nerve in die Zunge gehe, daß ſich
der fuͤnfte auch in andre Theile des Koͤrpers erſtrekke,
folglich ſcheine es billig zu ſein, das beſondere Amt der
Zunge von einem Nerven zu erwarten, welcher ſchon ſelbſt
der Zunge eigentuͤmlich angehoͤrt. Auch andre folgten
dem Gedanken dieſes vortreflichen Mannes, wie es zu ge-
hen pflegt, nach (l).
Doch es ſcheint, daß man beide Saͤzze dieſes vortref-
lichen Mannes beſtreiten koͤnne. Denn die Zunge ver-
richtet nicht durchgaͤngig den Geſchmak allein (m), und
es theilt ſich der Nerve des neunten Paares, auſſer der
Zunge, noch vielen andern Nerven mit (n). Es iſt aber
billig, den Geſchmak von demjenigen Nerven zu erwarten,
deſſen Aeſte ſich in den Theilen der Zunge ausbreiten, die
die meiſte Empfindung haben. Nun erſtrekkt ſich blos
der fuͤnfte in die Spizze der Zunge (o), wo der ſchaͤrfſte
Geſchmak ſeinen Sizz hat, und der neunte endigt ſich viel
ehe. Und von dieſem Nerven allein, der tief in die Zunge
eindringt, habe ich die kleine Aeſte bis in die Waͤrzchen
verfolgt.
Doch es ſcheinen auch die Krankheiten unſrer Meinung
zu ſtatten zu kommen. Es hoͤrte der Geſchmak im Hunds-
krampfe auf, woran ein Fehler des fuͤnften Nerven
Schuld zu ſein ſchien (p): wenigſtens war der Speichel-
fluß und Hundskrampf davon entſtanden (q). Dieſer
iſt es und nicht der neunte, welcher den Muſkeln des
Kinn-
[409]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Kinnbakkens Aeſte giebt. Lazarus, welcher Glas ver-
ſchlukkte, hatte keinen Geſchmak (r), und ihm fehlte die
vierte Verbindung, weil kein dritter Aſt des fuͤnften Paares
vorhanden war; doch wir verlaſſen uns nicht eben auf
dieſen Bericht.
Vielleicht koͤnnte man den Geſchmak ſowohl vom
neunten als fuͤnften Paare herleiten (s): und es ſcheint
in der Erzaͤlung des beruͤmten Heuermanns(t) der
Geſchmak verloren gegangen zu ſein, da man den Aſt des
neunten Paares, wegen einer ſcirrhoͤſe gewordnen Druͤſe
weggeſchnitten hatte.
Wofern ſich am Gaumen, den Bakken, im Schlunde,
und im Umfange des Mundes der Geſchmak einiger maaſ-
ſen aͤuſſert, ſo ſcheint die Analogie einige aͤnliche Werk-
zeuge, und dergleichen Waͤrzchen zu erfordern, von denen
ſich eine aͤnliche Empfindung erwarten laͤſt.
An den Thieren zeiget ſich uͤberhaupt dergleichen an
den Bakken (u), am Gaumen (x), am Schlunde (y),
den Mandeln (z), der Schlundroͤhre (a), in einigen
Arten, wo man Waͤrzchen angebracht findet, und es hat
die Oberhaut ihre Scheiden.
Jm Menſchen hat es hingegen ſchon mehrere Schwie-
rigkeiten damit, obgleich Kuyſch den Wangen, Lefzen
und dem Schlunde eine waͤrzige Bekleidung zum Ueber-
zuge giebt, und dergleichen auch dem Magen und dem
Gedaͤrme (b) zuſchreibt. Eben dieſer Autor ſahe am
Gaumen koſtende Waͤrzchen, die kleiner, als Sandkoͤr-
nerchen waren (c).
Der beruͤmte Kaauw erwaͤhnt, um die Muͤndung
des Stenonianiſchen Ganges zottige Waͤrzchen (d)
und Zotten, die vom eingeſprizten Wachſe ſteif wurden (e),
gefunden zu haben.
Die neuern Aerzte glauben daß dieſe Waͤrzchen der
Bakken und des Gaumens das Schmekken verrichten (f).
Es giebt hier viele dunkle Stellen. Es ſcheint wun-
derbar zu ſein, daß einerlei Sinn durch Werkzeuge von
verſchiednem Baue verrichtet werden ſoll, und man kann
nicht mit vollkommner Zuverlaͤßigkeit angeben, ob dieſe
Zotten am Gaumen und den Bakken Waͤrzchen ſind, ob
es ausduͤnſtende Flokken, oder uͤberhaupt nur fuͤhlende
Waͤrzchen ſind.
Und dennoch koͤnnte man faſt glauben, daß Thiere (g),
die kaum eine Zunge, noch deutliche Waͤrzchen, noch einen
Kopf haben, eines Sinnes beraubt ſein ſollten, der mit
dem Geſchmakke verwandt waͤre, weil ſie blos ſolchen
Speiſen nachgehen, die ſich fuͤr ſie ſchikken, und ſich hin-
gegen der andern enthalten. Selbſt die Polipen (h) ver-
ſtehen, Thierchen, die nicht fuͤr ihren Mund ſind, wieder
auszuſpeien.
Es verrichten dieſe anſenliche und nervige Zungen-
waͤrzchen, welche wir beſchrieben haben, ein gedop-
peltes Geſchaͤfte; ſie beſizzen naͤmlich ein ſchaͤrferes
Gefuͤhl, als die Finger ſelbſt, da ſie beſtaͤndig angefeuchtet,
weich, und mit einer weichern Haut bezogen ſind, und weil
ſie groͤſſer und kegelfoͤrmig ſind, ſo ſtellen ſie demjenigen
Koͤrper, welchen ſie beruͤhren, eine groſſe Flaͤche entgegen.
Aus dieſer Urſache ſchmerzt die Zunge, wenn ſie gereizt
und angegriffen wird, heftig, wie ich mich erinnere, ſehr
lebhafte Schmerzen daran empfunden zu haben, als man
eine calloͤſe Wunde an der Zunge mit Vitriol beruͤhrte,
da doch dieſes Sauerſalz an der Haut uͤberhaupt nur eine
ſehr maͤßige Empfindung hervorbringt. Aus eben dieſer
Urſache dauern auch die Schmerzen an der Zunge viel
laͤnger, wiewohl die Wunden ohne Schwierigkeiten hei-
len (a), vielleicht weil ſie beſtaͤndig feucht iſt.
Doch es hat die Zunge eine Eigenſchaft voraus, die
der uͤbrigen Haut fehlt. Sie empfindet naͤmlich von
einigen Koͤrpern, die dazu geſchikt ſind, und ſich an die
feuchte Waͤrzchen anſchlieſſen, und fluͤßig, oder im Spei-
chel aufgeloͤſt ſind, auf mancherlei Weiſe, wovon die Haut
nichts
[412]Der Geſchmak. XIII. Buch.
nichts weis, entweder angenehme oder unangenehme Vor-
ſtellungen, und dieſer Sinn kann von keinem andern
Theile nachgeahmt werden. Durch dieſen Geſchmak
werden wir gereizt, gewiſſe Speiſen oder Getraͤnke zu
uns zu nehmen, oder er verekelt ſie uns.
Wenn wir ſchmekken ſollen, werden gewiſſe Bedin-
gungen nothwendig erfordert. Es mus die Bekleidung
der Zunge, welche mit der Oberhaut viel Aenlichkeit hat,
weder gar zu dikk, noch trokken, noch zu zart, oder weich
ſein.
Jſt ſie zu dikke, ſo koſtet man die Dinge nicht beſſer,
als man durch eine calloͤſe Oberhaut Koͤrper fuͤhlt. Man
ſollte faſt glauben, daß bei ſolchen Menſchen, die faſt
alles ohne Unterſcheid verſchlungen, dergleichen Fehler
zum Grunde gelegen haben muͤſſe.
Eine trokne Zunge, dergleichen in Fiebern nicht un-
gewoͤnlich iſt, empfindet entweder gar keinen Geſchmak,
oder doch nicht den rechten, ſondern vielmehr einen falſchen.
Urſache zur Trokkenheit iſt der Mangel an Speichel, an
ausduͤnſtender Feuchtigkeit im Schlunde, an der Zunge,
und der Mangel des Schleims ſelbſt. Jn den Fiebern
ſcheint eine ſo dikke Materie in dieſe Gefaͤſſe getrieben zu
werden, daß ſie durch die Muͤndungen nicht wieder her-
ausflieſſen kann. Wenigſtens habe ich die Zunge oft ganz
gelbe, oder braun, und wie es gewoͤnlich iſt, weiß geſehen:
ich verſtehe hierunter aber nicht den Schleim, womit ſich
die Zunge an Kranken uͤberzieht, ſondern uͤberhaupt die
Waͤrzchen.
Wenn eben dieſe Bekleidung der Zunge losgeht, ſo
fuͤhlt man, ſtatt des Geſchmakkes, einen Schmerzen (b),
oder einen mit Geſchmak vermiſchten Schmerz, nachdem
der Koͤrper, der die Zunge beruͤhrt, ſcharf iſt. Wenn ich
mir die Zunge noch ſo leicht verwundet hatte, und dennoch
ver-
[413]II. Abſchnitt. Werkzeug.
vermoͤge meines Amtes auf dem Lehrſtuhle eine lange Zeit
reden muſte, ſo erinnere ich mich, bei der Mittagstafel
einen unglaublichen Schmerz waͤrend des Eſſens ausge-
ſtanden zu haben, wofern ich nicht die ſanfteſte Speiſen
ausſuchte.
Ferner mus unſer Speichel ſeine natuͤrliche Beſchaf-
fenheit an ſich haben. Waͤre er bitter, ſo wuͤrden wir
ſeinen Geſchmak fuͤr den Geſchmak der Speiſen halten:
iſt er ſuͤſſe (c), ſo verfaͤlſcht er die Speiſen durch ſeine
ſuͤsliche Beimiſchung, und dieſes Uebel iſt ſehr gemein,
und nach hizzigen Krankheiten, ſo wie bei den Hipochon-
driſten gewoͤnlich, ob es gleich nicht eben ſehr gefaͤrlich
iſt (d). Sauer ſcheinet der Speichel geweſen zu ſein,
wenn er Urſache war, daß auch Suͤßholz ſauer ſchmekte
(d*). Endlich kann er ſchleimig ſein, wenn uns alles
ungeſchmakt vorkoͤmmt.
Vielleicht iſt es notwendig, daß ſich die Waͤrzchen
hervorſtrekken und aufrichten (e)? ſie ſchwellen ein wenig
auf, wenn man dem Munde eine angenehme Speiſe an-
bietet, und dieſes weis ein Freund an der Zunge eines
Freundes zu unterſcheiden. Folglich ſchmekket man das-
jenige weniger, welches man ohne Acht zu geben herunter-
ſchlingt, indem diejenigen, welche waͤrend dem Eſſen eine
Sache mit Aufmerkſamkeit uͤberleſen, kaum wiſſen, wie
die Speiſen geſchmekket haben.
Endlich mus der Koͤrper ſelbſt, den wir durch den
Geſchmak unterſcheiden ſollen, nothwendig in einen fluͤſ-
ſigen Zuſtand gebracht werden. Auf einer troknen Zunge
bringt
[414]Der Geſchmak. XIII. Buch.
bringt ein trokner Zukker blos die Empfindung des Ge-
fuͤhls, und ſeine Trokkenheit zum Vorſchein. Sobald
derſelbe aber aufgeloͤſt iſt (e*) und in die Poros der Haut
eindringen kann, ſogleich koſten wir ſeine Suͤßigkeit. Aus
der Urſache haben Erden, die ſich nicht weiter aufloͤſen
laſſen, keinen Geſchmak, ſo wie ein jeder Koͤrper, der nicht
zerflieſt, geſchmaklos bleibt. Und daher ruͤhrt vielleicht
das von dem vortreflichen Sekondat beobachtete Phaͤ-
nomenon, da die Kriſtallen, von denen die Bagneren
entſtehen, anfaͤnglich auf der Zunge ungeſchmakt ſind,
nachher aber, wenn ſie die Oberhaut der Zunge allmaͤlich
durchdrungen, einen ſcharfen Geſchmak hervorbringen (f).
Doch es iſt nicht genung, daß ein Koͤrper in Waſſer
aufgeloͤſt, oder fluͤßig ſei, wenn man ihn ſchmekken ſoll;
nein, er mus etwas ſalziges enthalten. Wir kennen Salz
vornaͤmlich daran, daß es geſchikt ſei, gekoſtet zu werden,
und es ſcheinet daſſelbe, auſſer Waſſer und Erde, welches
eine unrichtige Zuſammenſezzung der Phiſiker iſt (g), vor-
naͤmlich ein kraͤftiges und ſcharfes Element zu enthalten,
welches eben nicht allein tauglich iſt, unſre Waͤrzchen in
Bewegung zu ſezzen, ſondern auch vermoͤge dieſer eindrin-
genden Kraft aufgelegt iſt, Koͤrper aufzuloͤſen. Man
vermutet, daß dieſes bewegliche Principium von dem all-
gemeinen Sauerſalze abhaͤngt (h), und daß die Sauer-
ſalze mit verſchiednen Erden, ſo wie die alkaliſche Salze
mit einem Phlogiſton und ihrer beſondern Erde, bei einer
gewiſſen Beimiſchung der uͤbrigen Elementen, alle Arten
des Geſchmakkes ausmachen.
Wir wiſſen nicht recht, ob der Lebensgeiſt ſelbſt einen
Geſchmak hat, und ob derſelbe vielmehr auſſer dem brenn-
baren
[415]II. Abſchnitt. Werkzeug.
baren noch ein hoͤchſtzartes Salzelement enthalte, ja ich
ſehe, daß erfahrne Maͤnner in dem Alkohol, ſolglich in
dem Lebensgeiſte, davon der hoͤchſt geſchaͤrfte Weingeiſt,
oder Alkohol, eine Art iſt, einige ſubtile Saͤure annehmen
(i). Es ſei aber, wie ihm wolle, ſo ſcheint uns doch in
der That dieſer Lebensgeiſt, oder das aͤtheriſche hoͤchſt-
fluͤchtige Pflanzenoͤl in dem Zimmet, den Gewuͤrznelken,
im Kampfer und andern Gewuͤrzen, ſeinen eignen Ge-
ſchmak zu haben. Es iſt das Principium, welches ohne
Verminderung ſeines Gewichtes ausduͤnſtet, zart und
fluͤchtig (k).
Das Auge unterſcheidet Farben ſtufenweiſe, und ein
jeder Menſch empfindet ihren Unterſchied ohne Schwie-
rigkeit; was aber die Urſache dieſer Unterſcheide betrift,
ſo ſind ſolche entweder bis auf die Zeiten Newtons ver-
borgen geblieben, oder auch noch bis zur Stunde verbor-
gen. Eben ſo unterſcheidet die Zunge an ſchmakhaften
Koͤrpern die Art ihres Geſchmakkes, das ganze menſch-
liche Geſchlecht ſtimmt damit uͤberein; allein, die Urſache,
warum dieſer Geſchmak von jenem abweicht, gehoͤrt unter
die verborgne Urſachen.
Unter dieſen Geſchmakarten macht ſich einer vor dem
andern deutlicher, z. E. der Geſchmak des Sauren, des
Suͤſſen, des Bittern, des Salzigen, des Scharfen, wie-
wohl dieſer vielfach iſt, wie an der Pflanze Hanenfus, an
dem beiſſenden Floͤhkraut (Perſicaria acris), an der mut-
tellina, und an ſo viel andern Pflanzen, die auf ſo viel-
faͤltige Weiſe ſcharf ſind. Auſſerdem kennt man den gei-
ſtigen Geſchmak.
Andre Arten haben nicht ſo deutliche Unterſchiede,
und ſie ſcheinen ſich mit einer der vorhergehenden Arten,
wie Arten mit ihren Geſchlechtern, vergleichen zu laſſen.
Dergleichen ſind der herbe und der ſtrenge, welche man zu
dem geiſtigen Geſchmakke bringen koͤnnte. Andre bezie-
hen ſich auf andre, und ſie ſind nur ſchwaͤchere Arten von
rechtmaͤßigem Geſchmakke (l), wie der ſtumpfe; oder ſie
verbinden ſich mit dem Geruche, wie der faule und ekel-
hafte (m) und vielleicht auch der geiſtige Geſchmak ſelbſt.
Dieſe Arten des Geſchmakkes werden von dieſen oder
jenen Perſonen anders empfunden, und man findet ſie
angenehm oder unangenehm.
Hierbei thut die Entbloͤſſung der Zungenwaͤrzchen et-
was. Davon koͤmmt es, daß Kinder uͤberhaupt Suͤſſes
lieben, und Alte (n), bei denen dieſe Suͤßigkeiten ſchon
matter wirken, und die verhaͤrtete Nerven wenig ruͤhren,
ſich mit dem Weine was zu gute thun. Selbſt in einem
und eben dem Menſchen vergleicht die Zunge den gegen-
waͤrtigen Geſchmak mit dem kurz zuvor gekoſteten. Wer
daher Suͤßigkeiten genoſſen, findet den Wein hoͤchſt ſauer,
und dieſer koͤmmt ihm angenehm vor, wenn er vorher
ſanfte und geſchmakloſe Dinge gekoſtet hat. Aus dieſer
Urſache ſcheint uns weder das Waſſer, noch der Speichel
geſalzen zu ſein, ob beide gleich Salz enthalten; und wir
finden nur Dinge geſalzen, wofern ſie mehr Salz als
unſer Speichel in ſich haben.
Die Begierde, gewiſſe Dinge zu eſſen, laͤſt ſich ſchwer-
lich erklaͤren. Verſchiedne Menſchen verſchlingen (o)
faulgewordne Dinge, ob dieſelben gleich unſrer Natur
aͤuſ-
[417]I. Abſchnitt. Werkzeug.
aͤuſſerſt zu wider zu ſeyn ſcheinen. Amatus berichtet
uns (p), daß die Bengalen keine andere, als bebruͤtete,
und halbfaule Eier verzeren, und ich leſe von den Ein-
wonern von Siam eben dergleichen. Wer kan die un-
natuͤrliche Begierde, Erde (q), Holz, Kalk, Kolen, Sand
aus den Streubuͤchſen (r), Spinnen (s) zu eſſen, alle er-
zaͤlen. So lieben andre Thiere andre Speiſen; ſo ver-
gnuͤgen ſich an Wermut, Pfeffer, Galgant, an der Ja-
lappe, an Bertram einige Jnſekten, und dieſe finden an
dieſen hoͤchſt ſcharfen Wurzeln ihre Koſt (s*).
Der ſaure Geſchmakk herrſcht im Pflanzenreiche und
bewont dieſen Theil der ſichtbaren Natur. Die zeitigen
Gartenfruͤchte, dieſe fleiſchige Bekleidungen des Saa-
menbehaͤlters in Baͤumen, die viel Bluͤtfaͤden haben,
ſind alle mit einander eine Zeitlang ſauer geweſen, oder es
gehen doch endlich ihre Fruͤchte in eine Saͤure uͤber. So
iſt der Geſchmakk an den meiſten Beeren, entweder von
ſelbſt ſauer, oder er wird doch durch die Gaͤhrung ſauer.
Das Mehl der Pflanzen verwandelt ſich, mit Waſſer ver-
miſcht, in eine Saͤure, es erzeugt Bier, und aus Bier
wird Eßig. Auch die ſcharfen Pflanzen nehmen an dem
ſauren Weſen Antheil, wie der Senf und andre, welche
doch, ſich ſelbſt uͤberlaſſen, in die Faͤulnis uͤbergehen.
Wenn man im Feuer die Feuchtigkeit aus einer Pflanze
austreibt, ſo giebt ſolche mehr, oder weniger roten Geiſt,
worinnen die Saͤure ſtekkt.
Jm thieriſchen Reiche iſt die Saͤure etwas ſparſamer,
und dennoch ſtekkt ſelbige in dem roten Geiſte (u) von
thieriſchen Theilen, im Fette und deſſen Fluͤßigkeit, in
den ſcharfen Saͤften (x) einiger Pflanzen, beſonders
aber in der Milch, welche unter allen Fluͤßigkeiten am
erſten ſauer wird, oder auch von der veraͤnderten
Miſchung der Luft, oder vom Donnerwetter eine Saͤure
an ſich nimmt.
Unter den Salzen der erſten Art befindet ſich dasje-
nige Sauerſalz, welches in der Luft (y) und in den mei-
ſten Waſſern ſtekkt, und mit den verſchiednen Erden von
ſaurem Beſtandweſen Salze macht, als Vitriol, Alaun,
Salpeter, Meerſalz, aus denen allen blos das Feuer eine
ſehr ſtarke Saͤure austreibt. Eben dieſe Saͤure theilt
den mineraliſchen Waſſern ihren Geſchmakk mit, wie wir
nunmehr nach den ehemaligen Demonſtrationen des vor-
treflichen Seip, vom Karl Lukas deutlich lernen. Es
faͤrbte der Dunſt des Spaawaſſers, den man des Mor-
gens fruͤh unterſuchte, den Violenſirup rot. Doch man
empfindet auch eben dieſe Saͤure im Meerwaſſer (y*).
Der ſuͤſſe Geſchmakk, ob ihn gleich die Zunge von
ſauren Dingen weit zu entfernen ſcheint, iſt doch der
Sache nach wenig davon unterſchieden, und man findet
ihn nicht leicht ohne eine offenbare Saͤure. Beeren und
zeitige Gartenfruͤchte ſind die kurze Zeit ihrer Dauer uͤber
ſuͤſſe; denn die Sonne verfertigt aus den hoͤchſt ſauren Wein-
beerfafte einen ſuͤſſen Wein, welcher von ſelbſt wieder zu ei-
ner ſcharfen Eßigſaͤure wird; und eben dieſe Verwandlung
ſteht auch der Zukker, der Honig und alle wirkliche Suͤßig-
keiten aus. Sobald man Feuer an ſie bringt, deſtillirt
man aus den Suͤſſeſten Sachen ſaure Tropfen (z).
Doch es iſt auch die Suͤßigkeit im Mineralreiche was Sel-
tenes, wiewol ſie ſich in den bleuſchen Arbeiten zeiget, und
die-
[419]I. Abſchnitt. Werkzeug.
diejenige Suͤßigkeit, welche man im ſuͤſſen Vitrioloͤle an-
trift, iſt ohne Zweifel der Saͤure zuzuſchreiben. Jm
Alaune ſtekkt von ſelbſt ſchon eine Suͤßigkeit (a), und man
kann ſelbige durch wiederholte Aufloͤſungen, und Abzie-
hung des Phlegma beſonders haben. Jn den Thieren
iſt die Suͤßigkeit ſeltner, und dennoch laͤſſet ſich ein ſuͤſſes
Salz aus der Milch kochen: obgleich das ganze Weſen
der Milch, ſonderlich der Molken, woraus der ſo genann-
te Milchzukker gekocht wird, ſauer iſt.
Man pflegt dieſes ſo zu erklaͤren, daß die ſaͤure Spiz-
zen ſo lange eine Suͤßigkeit verurſachen, als ſie gleichſam
in Scheiden ſtekken. Dieſe Scheide iſt oftmals Oel,
bisweilen Erde, oder ein metalliſcher Kalk. Das Wein-
oͤl theilt der vitrioliſchen Saͤure (b) eine Suͤßigkeit mit.
Der bittre Geſchmakk gehoͤrt vornaͤmlich fuͤr die
Pflanzen, er iſt mannigfaltig, allein alle ſind darinnen
einſtimmig, daß derſelbe zu einerlei Klaſſe gehoͤre, wie
man vom Wermut, Enzian, Gottesgnadenkraute, von
der gemeinen Rhapontik, Aloe, Koloquinte, von den
meiſten milchigen flachblaͤttrigen Pflanzenblumen weis;
ferner gehoͤren hieher die Gummata der heiſſen Laͤnder,
welche mehrenteils aus dem Geſchlechte der fuͤnf blaͤttrigen
irregulaͤren Blumenbuͤſchel (Umbellen) ſind, als das
Galbanum, Mirrhen, und des verdorbnen Oels. Jn
Thieren giebt die Galle, und das Ohrenſchmalz ein Exem-
pel von der Bitterkeit.
Unter den Mineralien hat man einige bittre metalli-
ſche Aufloͤſungen (c) ſonderlich wenn man Silber im Ni-
tergeiſte aufloͤſet.
Jn dem Thierreich ſcheint ſich das Bittre mit dem
Oele zu verbinden, aber nicht ſo in den Metallen, noch
deutlich genung in allen Pflanzen. Doch iſt die Milch der
flachblumigen Pflanzenarten, und die Gummen der aus-
laͤndiſchen Gewaͤchſe, in vielen Exempeln ziemlich harzig.
Der ſalzige Geſchmakk iſt eine mineraliſche Geburt,
und er geht aus dieſem Reiche in verſchiedne Pflanzen
uͤber (d), die mit vielem Miſte und Urin, worinnen viel
Salz ſtekkt, oder von dem geſalznen Meerwaſſer genaͤhrt
werden. Dennoch liefern viele ein Alkali, und andre
Salpeter (e).
Jn den Thieren herrſcht das Meerſalz (f) wegen des
haͤufigen Gebrauches, wie auch das beſondre Thierſalz,
welches eine fluͤchtiglaugenhafte (g) Klaſſe ausmacht, und
dieſes waͤchſet entweder memals, oder doch ſehr ſelten,
auſſerhalb den Thieren.
Das Scharfe iſt in Pflanzen uͤberfluͤßig vorhanden,
ſonderlich aber in den Waſſerpflanzen, wie auch in den
kleinen Thierarten, den Jnſekten, und in den Thiergiften.
Doch auch das Mineralreich enthaͤlt viel von dieſer
Art, welche man zu keinerlei Salz rechnen kann, naͤmlich
das Giftige, welches im Spiesglaſe und im Arſenik ſtekkt.
Doch man wird dieſe Mineralſchaͤrfe nicht ſowohl
durch den Geſchmak, als durch andre Wirkungen gewahr.
Es ſcheint naͤmlich, daß Gott unſer Werkzeug des Ge-
ſchmakkes nicht auf dergleichen Koͤrper eingerichtet habe,
die von Menſchen willkuͤrlich zu Arzneimitteln bearbeitet
worden, weil uns blos die Sorge aufgetragen iſt, durch
den Geſchmakk Dinge zu unterſcheiden, welche ſich im
Thierreiche, im Geſchlechte der Pflanzen, und in den ge-
wachſenen Salzen fuͤr unſere Natur ſchikken.
Figuren der Salzkriſtallen herruͤhre.
Wenn Salze im Waſſer ſchwimmen, ſo ſind ſie im
Waſſer zertheilet, dem Auge unſichtbar, aber dennoch
mit
[421]I. Abſchnitt. Werkzeug.
mit ihrer voͤlligen Kraft, ſoviel man aus dem Geſchmakke,
und der ganzen Analiſirung derſelben ſchlieſſen kann, darin-
nen vorhanden. So bald aber der groͤßte Theil Waſſer,
mittelſt des Feuers, davon verjagt worden, und nicht
Feuchtigkeit genung mehr uͤbrig iſt, das verborgene Salz
ſchwimmend zu erhalten, ſo haͤngen ſich die Salze an die
Seiten der Gefaͤſſe an, und ſie bilden ſich zu deutlichen
Figuren, welche alleſammt ekkig, aber doch bei dieſem
oder jenen Salze anders ekkig ſind.
Man giebt gemeiniglich dem Meerſalze kubiſche Kri-
ſtallen; ob hier gleich bisweilen ein Jrrthum mit unter-
laͤuft: der Salpeter hat ſechsekkige priſmatiſche ſtumpfe
Kriſtalle, deren Seiten oft ungleich, und von ſechs holen
Roͤhren durchbort ſind (h). Die Figur des Vitriols iſt
ein langrautiges Parallelepipedum (i). Der Alaun hat
achtekkige Kriſtallen, ſo wie die uͤbrigen Demantarten (k).
An dem ſublimirten Quekſilber (l), wie auch an dem
Salzgeiſte (m), und am Geiſte des Schwefels (n), ſo wie
an den Silberkriſtallen (o) ſieht man die Salzſtacheln
ganz deutlich.
So haben ferner die alkaliſchfluͤchtigen Salze etwas
regelativiſches, oder baumfoͤrmiges an ſich, und es ſtellt der
Salmiak beinahe ſolche Blumenfiguren, als der Froſt dar (p).
Die Luftdaͤmpfe frieren blos vom Froſte, in geraden
Linien, die ſich faſt unter rechten Winkeln wiederholt ver-
einigen, und die allmaͤlich abnehmen.
Wenn man nun ſezzt, daß ein jedes Salz ſeine eigne
Figur hat, welche es beſtaͤndig wieder erlangt: wenn man
D d 3uͤber-
[422]Der Geſchmak. XIII. Buch.
uͤberdem dieſem Salze ſeine Figur ſo eigenthuͤmlich zuge-
ſteht, daß kein andrer Koͤrper dieſelbe annehmen kann,
ſo iſt man geneigt zu vermuten (q), daß die weſentliche
Natur der Salze, und folglich auch ihr beſondrer Ge-
ſchmakk von dieſen Ekken abhaͤnge, unter denen Salze
zu Kriſtallen anſchieſſen.
Und dennoch fuͤhrt uns dieſer Weg ganz leicht
zu Jrrthuͤmern (r). Erſtlich giebt einerlei Salz nicht
eine gewiſſe beſtaͤndige Kriſtallfigur. Es haͤngt naͤmlich
der Charakter eines Salzes von ſeiner Saͤure (r*), und
die Figur ſeiner Kriſtallen oftmals von der Erde ab (s),
in welche ſich die allgemeine Saͤure einzieht. Man hat
davon am Salpeter einen Beweis: denn man kann die-
ſen eben ſo gut, und nach allen ſeinen Merkmalen vollkom-
men haben, wenn man ihn aus ſeiner beſondern Saͤure (t)
und aus der Erde des Meerſalzes herſtellt, welches man
den wuͤrfligen Niter nennt (u). Hier iſt die beſondre Ni-
terſaͤure, die Erde, und die Figur des Meerſalzes.
Das Meerſalz, welches durch Sieden bereitet wird,
verwandelt ſich zu holen Piramiden (x), welches ſich aus
flachen Vierekken, die ſich ſtufenweiſe uͤber einander legen,
aufthuͤrmet. Wenn man eben dieſes Salz, nach unſrer
Art, mit anſehnlicher Koſtenerſparung an der Sonne ent-
ſtehen laͤſt, ſo wird daſſelbe zu feſten Wuͤrfeln, die voll und
nunmehr mit keiner Piramidenfigur zu vergleichen ſind (y).
Endlich ſo machen jedwede kleinſte Urſachen und Um-
ſtaͤnde eine Veraͤnderung in der Figur der Kriſtallen,
indeſſen daß ihre Natur beſtaͤndig dieſelbe bleibt (z). Jn
den neuern Verſuchen zeigt ſich eine wunderbare Verſchie-
denheit in den Figuren, welche aus einen und eben den-
ſelben Salze, nach deſſen Aufloͤſung entſtohen (a). Eben
ſo wenig kan man irgend einige Verwandſchaften aus den
Figuren der gemachte Salze herausbringen (b).
Wenn einerlei Salz unter verſchiednen Figuren er-
ſcheinen kann, ſo laͤſt ſich auch eben dieſe Figur der Kri-
ſtallen, mit einem hoͤchſt verſchiednen Geſchmakke, und
den mediciniſchen Kraͤften vereinigen.
So findet ſich die Wuͤrfelfigur in dem Bertrams-
infuſo (c), im Arſenik (d), im Zukker (e), im Wermuts-
ſalze, in der Lauge von Pottaſche (f), im Apfelſafte (g),
im Weine von Orleans (h), und in der Lake des Tarta-
rus Emeticus (i) in den Salzen von Baldrian (k), von
Saueramfer (l), Jngwer, und Frauenhaar (l*).
So kommen die priſmatiſchen Niterfiguren, im Salze
der Endivie, der Wolfsmilch, der Waſſermelonen vor:
und dergleichen Figur haben auch die Salze des Koles,
des Laktuks, des Rosmarins, der Mechoakanna, des weiſ-
ſen Lorbeers, der Nieſewurz (m), der Schale der Gra-
nataͤpfel, der ſchwarzen Nieſewurz (n).
Eben ſo erſcheint die kuglige Figur im Zitronenſafte,
aber auch im Oele (o).
Auf eine andere Art ſtehen die Kraͤfte der Salze in
einer ſolchen Verwandſchaft, daß ſie alle purgiren, wie-
wol einige wuͤrflich, andre wieder anders ausfallen (p).
Endlich trift man gewiſſe und beſtaͤndige Kriſtallfiguren
in Koͤrper an, welche von der Natur der Salzarten (q)
ſehr verſchieden ſind: ſo ſieht man von Piramiden gekroͤn-
te Priſmata im Bergkriſtalle, und im Amethiſte (q*): ein
Zwoͤlfekk im Demant (r), ein Achtekk im Rubin (s) und
Sapphir (t), der Topaſer beſteht aus langrautigen vier-
ſeitigen Kriſtallen (u), und man erblikkt im Smaragd
ſechsekkige abgeſtumpfte Kegelkriſtallen (x). Hier entſte-
hen ſie alſo offenbar von keiner Saͤure, oder Figur.
Folglich haͤngt die Urſache der Kriſtallfiguren nicht
vom Salze ſelbſt, ſondern vielmehr von den Verhaͤltniſſe
und der wechſelweiſen Wirkſamkeit der Salze und der
Saͤfte ab, von denen die Salze aufgeloͤſt werden: und
folglich iſt der Geſchmakk, der vom Salze herruͤhrt, nicht
wegen der verſchiedner Figur verſchieden. Vielmehr ſcheint
derſelbe von allerhand unter einander wirkenden Urſachen
zuſammen geſezzt zu ſeyn (y), naͤmlich von der Figur, Dich-
tigkeit, Bewegung, Anziehung, und ſonderlich von den
Grundſtoffen, woraus ſchmakkhafte Koͤrper zuſammen ge-
ſezzt ſind; oder es ſcheint endlich der Geſchmakk, um mich
ſo einfaͤltig als moͤglich auszudruͤkken, theils von der Fi-
gur, Dichtigkeit, und andern Kraͤften der Beſtandtheile,
theils aus der Zuſammenfuͤgung, Ordnung, Verhaͤltnis
der verſchiednen Anziehungskraft herzuleiten zu ſein, Kraft
der dieſe Grundſtoffe unter ſich zu einem ſchmakkhaften
Koͤrper vereinigt ſind.
Ohne Zweifel iſt die vornemſte Urſache, warum die
Natur den Thieren dieſen Sinn verliehen, dieſe geweſen
daß wir durch die Annemlichkeit eines ſchoͤnen Geſchmakkes
gereizt wuͤrden, zur Erhaltung des Lebens, und zur muͤh-
ſamen Anſchaffung der Speiſen nach Proportion bekuͤm-
mert zu ſein, als uns der Hunger dazu zwingt. Der
Schoͤpfer hat durch dieſe hoͤchſtweiſe Einrichtung vorbeu-
gen wollen, daß wir nicht unſer Leben der ſo geſchwinden
Gefar umzukommen, Preis geben ſollen, und es mus der
Menſch darinnen eine Ergoͤzzung finden, daß er ſich ſelbſt
erhaͤlt, und den unertraͤglichen Schmerz zu vermeiden
ſuchen, welcher von der Vernachlaͤßigung ſeiner Erhal-
tung eine empfindliche Folge iſt.
Es laͤßt ſich ferner glauben, daß uns auch der Geſchmakk
gegeben ſei, Pflanzen zu unterſcheiden, und die Natur der
uͤbrigen Speiſen zu erkennen, um uns blos derjenigen zu
bedienen, die uns bey maͤßigem Gebrauche heilſam ſind,
und daß wir von den uͤbrigen, die kein nahrhaftes Weſen
enthalten, durch eine Bitterkeit oder andre Urſachen, ja
ſelbſt durch die Geſchmakkloßigkeit abgehalten werden
moͤchten. Dieſes Geſchaͤfte ſcheint der Geſchmakk mit dem
Geruche zu theilen. Wenigſtens leiden die unvernuͤnftige
Thiere, welche ſich mitten unter giftigen und ſchaͤdlichen
Kraͤutern aufhalten, ſelten davon was, indem ſie ſolche
nicht einmal anruͤhren. Es waͤchſt auf den felſigen Alpen
eine uͤbermaͤßige Menge von der blauen Wolfswurz (na-
pellus) und noch eine groͤſſere Menge auf den niedrigen
Alpenwieſen von der weiſen Nieſewurz, da doch beide
Pflanzen von keinem Vieh angeruͤhrt werden.
Doch es giebt auch der Geſchmakk die meiſten medicini-
ſche Kraͤfte der Pflanzen mit Zuverlaͤßigkeit zu erkennen (z).
Allein man muß dieſe Sache nicht uͤbertreiben (a). Man
hat naͤmlich Exempel, daß Thiere aus Noth, oder Unwiſ-
ſenheit betrogen worden, ſchaͤdliche Speiſen zu genieſſen
(a*). Raupen erwaͤlen ſich zwar ihre eigne Baͤume, eſſen
aber doch auch, vom Hunger gezwungen, fremde Blaͤtter (b).
Die Schwediſche Ziegen eſſen das ihnen ungewoͤnliche
Kraut Napell (c) zu ihrem Schaden, ob es gleich unſre
Ziegen, die gleichſam durch Erfahrung kluͤger geworden,
nicht anruͤhren.
Man glaubt, daß ſich hin und wieder Seuchen unter
die Heerden verbreiten, wozu der Genuß des Ranunculus
lanceolatus, des Waſſerſchierlings, des phellandrii Anlas
geben ſoll, und doch wachſen zwiſchen den Alpen einige,
welche keiner gewis unter die ſchwachen Gifte zaͤhlen wird.
Die Menſchen irren ſich darinnen ſchon leichter. Da
man eine Pflanze aus Virginien unter den Salatkraͤutern
mit gebrauchte (d), ſtarben einige Seefahrer. Von ge-
wiſſen Nuͤſſen, welche wie Muſkatnuͤſſe ausſahen, entſtand
in Amerika unter den Seeleuten eine Krankheit, und ein
Sterben (e). Doch es gehoͤren die Betruͤgereien mit dem
giftigen Safte der Mancenilla, des Bilſenkrauts, der Bel-
ladonna, und Oenanthe, des Waſſerſchierlings, der Stech-
aͤpfel, wovon jedermann weis, nicht hieher.
Wahrſcheinlicher Weiſe ſchaͤrfet ſich der Geſchmakk bei
den Thieren dadurch, daß ſie unter den Kraͤutern eine
auserleſene Wal anſtellen, ſo wie ſie auf der Zunge groͤſ-
ſere Waͤrzchen dazu haben.
Was die Einſaugung, welche an der Zunge vorgeht,
da ſich beſonders die geiſtigen Saͤfte in dieſelbe hinein bege-
ben, und den Nuzzen der Zunge zum Hinabſchlagen betrift;
dieſes ſoll an anderm Orte bequemer unterſucht werden (f).
Ein Theil desjenigen Werkzeuges, womit wir die
Geruͤche unterſcheiden, erhebt ſich vor der Flaͤ-
che des Antlizzes, und macht ein anſehnliches
Stuͤkk davon aus: ein Theil iſt in die knochige Hirnſcha-
le eingeſchloſſen.
Der in die Augen fallende Theil heißt Naſe. Er
beſteht aus Seitentheilen, aus einem Mittelſtuͤkke (a).
Dieſes Mittelſtuͤkk entſteht aus zwei Knochen, welche man
von der Sache ſelbſt die Naſenbeine nennt. Es ſind
dieſelben laͤnglich und beinahe Parallelogrammen, doch ſo,
daß ſie abwerts breit werden; ſie ſind zugleich ſtark, gegen
das Antlizz zu erhaben, ſie ſchlieſſen mit einer ſchwachen
Linie, die inwendig rauher iſt, an einander, und ihr
breiteres Ende iſt aufgeſchlizzt (b). Sie bringen gegen
die Naſenloͤcher, der ganzen Laͤnge von auſſen, noch einen
Fortſazz hervor, der etwas rauch iſt (c), und an welchen
ſich der Kieferknochen anſchlieſt; an ſeine innern und un-
tern Flaͤchen, iſt der Knochen von einer rundlichen Fur-
che
[430]Der Geruch. XIV. Buch.
che ausgehoͤlt (d), und es laufen fuͤr die Gefaͤſſe Spal-
ten hernieder. Dieſe Knochen haben einige Loͤcher, zu
beiden Seiten eins (e), durch welche einige Schlagaͤder-
chen (f) vom Antlizzſtamme zu den Membranen der Na-
ſe dringen, und ſich weit herabwerts begeben.
Die Seitentheile der Naſe haben ihre Unterſtuͤzzung
an einem ſtarken Fortſazze, den das eigentlich ſo genann-
te Kieferbein (g) heraufſtrekket, und welcher dikker, et-
was gekruͤmmt, gegen das Antlizz zu an ſeiner innern
Flaͤche faſt flach iſt, an der aͤuſſern hingegen gegen die
Augenhoͤle einen leichten Ausſchnitt hat: gegen die Na-
ſenloͤcher machen ihn zween ſchiefe und nicht tiefe Kanaͤle
ungleich, und dieſe werden von der vorragenden Mittel-
linie getheilt (h). Zugleich ſiehet man an ihm diejeni-
gen Loͤcher (i), durch welche die Leffzengefaͤſſe nach den
Membranen der Naſenloͤcher zu laufen.
Sowol das Naſenbein, als der Kieferfortſazz ſtekken
mit ihrem rauhſten und gezakkten Theile in dem Stirn-
knochen (k).
Vom unterſten Ende der Naſe, und von der innern
Grenzſcheide des Naſenfortſazzes, des obern Kinnbakken-
knochens, verlaͤngert ſich derjenige Knorpel, welcher die
Naſe ausmacht, ich verſtehe naͤmlich denjenigen Seiten-
theil, welcher uͤberhaupt die Figur eines Triangels hat,
deſſen
[431]I. Abſchnitt. Werkzeug.
deſſen Hipothenuſe an dem gedachten Naſenfortſazze eine
Fortſezzung iſt, die Baſis hingegen vorwerts laͤuft, und
die Seite ſich mitten an die Scheidewand anſchließt, die
Spizze aber ſtumpf iſt.
Doch es iſt dieſer Knorpel im Menſchen nicht einfach,
und er aͤuſſert uͤberhaupt Mannigfaltigkeiten.
Die obern Knorpel ſind beinahe vierſeitig, dreiſeitig
(l), oder von einer andern (m) Figur, durch einen Gra-
ben abgeſondert, mit der Scheidewand der Naſenloͤcher
zuſammen gewachſen (n), und ſizzen an Naſenknochen
feſte. Ein jeder derſelben endigt ſich mit einem dreiek-
kigen Anhaͤngſel, welcher nach Art eines Pfeiles etwas
uͤber die Mitte des Knorpels fortlaͤuft. Zwiſchen dem-
ſelben, und dem Naſenbeine liegen einige kleine Schlag-
adern, die von den Augenadern bis zu den Naſeloͤchern
fortreichen.
Es liegen ferner an beiden Seiten laͤngliche Schluͤſ-
ſelknorpel, die ohne Form ſind (o), und zwiſchen den
obern und untern Knorpeln ihr Lager haben. Bald ſie-
het man an dieſem Orte ſtatt des Knorpels eine bloſſe
Membran, und bald erſcheinen Knorpelkerne daſelbſt (p).
Die untern Knorpel ſtellen einen Sonnenzeiger vor
(p*). Ein andrer Schenkel, der mit dem Rande des
Naſenbeins parallel laͤuft, macht dem Naſenfluͤgel inſon-
derheit aus (q)
Er faͤngt ſich an der unterſten Naſenſpizze, gleichſam
mit einem Kuͤgelchen an, er wird darauf breit, und ver-
wandelt ſich gegen der Scheidewand der Naſe, in eine
flache und eifoͤrmige Platte.
Von da wendet er ſich ruͤkkwerts, er ergreift auf bei-
den Seiten die Mitte der Scheidewand der Naſenloͤcher,
mit einer flachen Platte, welche ſich endlich bei dem hin-
tern Theile der Scheidewand der Naſenloͤcher mit einem
ſtumpfen Ende endigt (r).
Anſtatt dieſes Knorpels ſind bisweilen zween da, de-
ren einer eine Spizze macht, und der andre die Scheide-
wand von beiden Seiten ergreift.
Endlich ſteigt die knorplige Scheidewand der Na-
ſenloͤcher, wovon an ſeinem eigentlichen Orte geredet wer-
den ſoll, von der Spizze der Naſenknochen vorwerts her-
ab, es theilt entbloͤßt die Naſenloͤcher, oder es iſt mit den
untern Knorpeln zuſammen gewachſen, oder wenigſtens
doch durch ein kurzes Fadengewebe verbunden.
Uebrigens kommen an dieſen Knorpeln viele Verſchie-
denheiten vor. Gemeiniglich zaͤlt man ihrer fuͤnfe (s), die
Scheidewand, die obern, und die untern. Santorin
geht ſogar bis eilf.
Es wird der knorplige Theil der Naſe im Menſchen,
und den vierfuͤßigen Thieren von Muſkeln regiert, welche
bei einem lebhaften Atemholen, und ſchaͤrfern Riechen ih-
re Wirkſamkeit aͤuſſern. Plemp hat gegen den Spi-
gel, der dieſes beſtritte, dieſe Bewegung an ſich ſelbſt
erweislich gemacht (t), und ich habe ſie ſelbſt, ſonderlich
an Kranken, die einen ſchweren Atem hatten, ja ſo gar an
den
[433]I. Abſchnitt. Werkzeug.
den Froͤſchen (t*), beobachtet. Der vornemfte, welcher
die Naſenloͤcher erweitert, iſt der Hebemuſkel des
Naſenfluͤgels(u), welcher zugleich auch die Oberleffze
mit erhebt. Er entſpringt zu oberſt aus dem Naſenfort-
ſazze des Kieferknochens, laͤuft herab, und wirft einen
aͤuſſern Muſkelzweig in die Oberleffze, und deren Haut
(x), wovon an einen andern Orte geredet werden ſoll: mit
ſeinem innern Theile ſenkt er ſich, nahe an der Vereini-
gung des obern Knorpels mit dem untern, ein (y), und
dekkt den Zuſammendruͤkker.
Der hohe Muſkel wird beim Stirnmuſkel mit vor-
kommen (z), und es glaubt ein beruͤmter Mann von ihm,
daß er die Haut der Naſe beiſeits ziehe und runzle.
Hingegen druͤkken andre Muſkeln die Naſenloͤcher
zuſammen, indem ſie die beweglichen Seiten der Naſe ge-
gen die Mitte der Scheidewand ziehen.
Albins Zuſammendruͤkker der Naſe(a), oder
der Queermuſkel Santorins(b) iſt ein zarter Muſ-
kel, er entſpringt zunaͤchſt an der Einfuͤgung des kurz
gedachten Hebemuſkels, aus der Wurzel des Naſenfluͤ-
gels von auſſen (c), er iſt ſchmal und mit dem Nieder-
druͤkker vereinigt (d). Er wird, wie er fortgeht, breit,
und
H. Phiſiol. 5. B. E e
[434]Der Geruch. XIV. Buch.
und ſteigt durch den Obertheil des Naſenfluͤgels zum Ruͤk-
ken der Naſe gekruͤmmt herauf, er beruͤhrt den Ruͤkken
ſelbſt, und iſt theils mit ſeinem Nebenmuſkel (e), theils
mit dem Stirnmuſkel, doch zwar ſo (f) vermiſcht, daß
ſich ein Theil diſſeits in den unterſten Fluͤgeln endigt (g).
Der Nebenmuſkel des Niederdruͤkkers, wenn dieſer die
Naſe anhaͤlt, ſobald |ſie hinabwerts gezogen worden, ſo
druͤkkt er ſelbſt die Fluͤgel nieder, und zieht ſie gegen die
Scheidewand; denn er iſt der einzige Muſkel, welcher
ſie in die Hoͤhe hebt.
Der Niederdruͤkker des Naſenfluͤgels(h) koͤmmt
vom Knochen des Oberkinnbakkens, und von den Behaͤlt-
niſſen der Scheidezaͤhne, und des Hundezahnes, mit ei-
nem halbzirkligen Anfange her, und zwar etwas mehr
nach inwendig zu, als der Zuſammendruͤkker; er ſteigt in
die Hoͤhe, wird breit und etwas krumm (i), und wirft ſich
in die Scheidewand der Naſe, und die unterſte Wurzel
des Fluͤgels, und legt ſich bisweilen um die Naſenfluͤgel
herum (k). Er zieht die Naſe herab, und druͤkkt ſie zu-
ſammen (l).
Bisweilen liegt noch ein Pakk, das vom Knochen
entſpringt, und wieder zum Knochen zuruͤkke kehrt, der
mit
[435]I. Abſchnitt. Werkzeug.
mit dieſem verwant (m), aber von der Naſe unterſchie-
den iſt, daneben.
Der Naſenmuſkel der Oberleffze(n) entſteht von
der lezten Spizze der Naſe, und von dem naͤchſten Theile
der Scheidewand, er ſteigt ruͤkkwerts zur Oberleffze her-
nieder, gegen den Winkel des Mundes, und verliert ſich
in dem rundlichen. Er kann auch die Scheidewand der
Naſe und die Spizze niederziehen.
Andre Schriftſteller nennen noch einen kleinen Muſ-
kel, welcher ſich von dem unterſten Fluͤgel gegen den Ruͤk-
ken zu, erweitert (o).
Es iſt dieſe Hoͤlung vielfach ſchwer zu beſchreiben,
und mus dennoch einigermaaſſen auch beſtunmt werden,
wofern man das Werkzeug des Geruches kenntlich ma-
chen will.
Es oͤffnet ſich naͤmlich die Naſe ſelbſt vorneher mit
zween Ausgaͤngen gegen die Luft, und dieſe machen in ih-
rer Verbindung ein Dreiekk aus, und werden durch die
Scheidewand mitten durch abgeſondert: die uͤbrigen Hoͤ-
len ſind enger, als das Naſenloch (o*).
Eben ſo oͤffnet ſich hinterwerts eben dieſe Naſenhoͤle,
in dem Kopfe des Magenſchlundes, uͤber dem Munde
mit zwei dergleichen Eingaͤngen, welche durch die Schei-
dewand unterſchieden, aber eifoͤrmig, und nach der ſenk-
rechten Linie laͤnger ſind.
Es iſt die ganze Hoͤlung, zu beiden Seiten der Schei-
dewand einfach, und ſie ſteigt von ihrer Dekke bis zum
unterſten Gange ſenkrecht hernieder, ſie iſt ziemlich vier-
ſeitig, doch ſo, daß der vordere Winkel in eine dreiekkige
Spizze (p) vorlaͤuft, welchen der aͤuſſerſte Knochen der
Naſe ſchlieſt, und ein Theil vom hintern abgeſchnitten iſt.
Die Dekke iſt kuͤrzer, als die uͤbrigen Seiten, und
entſteht von dem untern Theile des vordern Fortſazzes des
vielfoͤrmigen Knochen (q). Von der untern Flaͤche der
ſiebfoͤrmigen Platte (r), von der benachbarten Platte des
Stirnknochens, und endlich von dem Knochen der Naſe
(s) und der Stirn.
Die hintere Linie wird oberwerts durch die in die
Naſenloͤcher vorragende Erhabenheit der Schleimhoͤle des
Keilknochens (t) geendigt; unterhalb derſelben oͤffnen ſich
die Naſenloͤcher zu beiden Seiten der Pflugſchaar in den
Hals.
Die vordere Linie ſchlieſt der mit der Scheidewand
der Naſenloͤcher vermiſchte herabſteigende Fortſazz des
Stirnknochens (u). Dieſer hole Theil der Naſenbeine (x)
iſt, ſo wie die Naſenfluͤgel, welche bedekt mit der Scheide-
wand verbunden ſind, ihr uͤbriger Theil iſt im Antlizze offen.
Der innerſte Theil der ganzen Naſenhoͤlung, der zu
naͤchſt an der Scheidewand iſt, laͤuft von der oͤberſten
Aushoͤlung des Siebbeins, bis zum unſterſten Gange fort,
den
[437]I. Abſchnitt. Werkzeug.
den die Knochen des Kinnbakkens, und des Gaumens aus-
machen. Hingegen wird der aͤuſſere Theil der Naſenhoͤ-
lung von den vorragenden Knochen, die ich beſchreiben
werde, in drei Theile abgetheilt.
Der unterſte Gang liegt faſt der Queere nach (y),
doch aber dergeſtalt, daß er ſich ſowohl gegen die Kehle
(z), als gegen das Angeſicht ein wenig herabneigt. Und
dennoch ſchlagen die Umlaͤufer, an lebendigen Thieren,
und ſo gar an Menſchen, durch dieſen Gang einen Nagel
tief durch. Er iſt am Knochen des Oberkiefers (a), ferner
am Gaumenknochen (b) faſt wie ein Halbcilinder ausge-
hoͤlt (c). Ein ziemlicher Theil deſſelben liegt blos, ein
Theil wird hingegen von dem unterſten ſchwammigen
Knochen bedekkt (d).
Er wird von dem Mittelgange durch dieſen Knochen
unterſchieden, ſo wie durch die untere Queerlinie (e), wel-
che ſich unter der Wurzel des Naſenfortſazzes des Kiefer-
knochens befindet: hinterwerts wird er auch, doch nur
durch eine undeutliche Linie, von dem Fortſazze des Na-
ſengaumenbeins, abgeſchieden (f).
Der Mittelgang iſt laͤnger, als die uͤbrigen, und
mitten zwiſchen den zwo rauhen Queerlinien des Knochens
des Oberkinnbakkens (g), und den aͤnlichen Linien des
Gaumenknochens (h) inne gelagert, ſo daß auch das
obere Schwammbein zum Theil denſelben einnimt, und
den aͤuſſerſten Winkel bedekkt (i). Jn ſeinen Grund
ragt der unterſte Schwammknochen ein wenig vor (k).
E e 3Er
[438]Der Geruch. XIV. Buch.
Er ſteigt zu dieſem Gange vorwerts hinauf (l), von da
legt er ſich faſt nach der Queere. Zu Waͤnden dienen
ihm der eigentlich ſo genannte Kieferknochen mit ſeinem
Naſenfortſazze (m), ferner der Traͤnenknochen (n), die
Platte, welche zwiſchen den zweien Schwammknochen (o)
die Gemeinſchaft unterhaͤlt, der hintere aufſteigende Fort-
ſazz des Kieferknochens, und der Naſenfortſazz des Gau-
menknochens (p).
Kuͤrzer iſt ſchon der obere Gang. Dieſem dient
vorwerts zur Wand derjenige Theil des Siebknochens
(q), welcher die Schleimhoͤlen des Siebknochens enthaͤlt,
hinten zu endigt er ſich mit dem Keilſinus (r), und es
zeigt ſich zwiſchen dieſem Sinus, und dem obern Schwamm-
knochen ein und andrer blinder ſchiefer Winkel (s), welche
zu einem einzigem werden, und ſich dergeſtalt ruͤkkwerts
hinabſenken, daß ſie ſich hinter dem obern Schwamm-
knochen mit dem Mittelgange vereinigen.
Es iſt einerlei, ob man die zween Schwammknochen
zum Siebbeine rechnen will, oder ob man vier, oder uͤber-
haupt ſechs bis acht Stuͤkke daraus macht (s*). Die
Platte, welche den mittlern Schwammknochen mit dem
untern verbindet, pflegt nicht gar zu ſelten gaͤnzlich von
dem mittlern zugeſpizzten Knochen, in den aufſteigenden
Fortſazz des unterſten gleichnamigen Knochens herabzu-
ſtei-
[439]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ſteigen (t), und alsdenn ſind alle dieſe Knochen, die
man ſchwammige nennt, Knochen des einzigen Siebbeins.
Doch geſchicht es, daß ſich zwiſchen dieſer Platte, und
dem unterſten ſchwammigen Knochen, eine Membrane
dazwiſchen legt; es eraͤugnet ſich, daß zwiſchen eben die-
ſen zwo Platten eine Naht angetroffen wird; und ſol-
chergeſtalt entſtehen drei Knochen, der Siebknochen, und
zween untere ſchwammige Knochen. Wollte man auſſer-
dem die zwei Hoͤrner des Keilbeins fuͤr beſondre ſchwam-
mige Knoͤchgen halten, ſo bekoͤmmt man in allem acht
Schwammknochen.
Der Theil des Siebbeins iſt es vorzuͤglich, warum
die Alten (u) den ganzen Knochen mit dieſem Namen be-
legt haben; er iſt wie ein kleines Schiff anzuſehen, gegen
das Gehirn zu hol, ganz und gar durchbort (x) von al-
lerlei Art Gaͤngen, welche von der Hoͤle der Hirnſchale
Nerven, und Gefaͤſſe in die hole Naſe verſenden.
Von der hinterſten Gegend derſelben erhebt ſich ein
knochiger Huͤgel, der in eine Schaͤrfe auslaͤuft, er iſt
uͤberhaupt hoͤher, und wird zu einem runden (y) und et-
was dikkem Berge (z). Zwiſchen dieſem, und dem Stirn-
knochen liegt das Blindloch (a). An deſſen Seiten waͤchſt
ein kleiner halbzirkliger Huͤgel zu beiden Seiten hervor,
der ſich vorne erhebt, und einer Seits zu dem Vorderende
des gedachten Berges, andrer Seits zur Scheidewand
der Naſe wird. Zwiſchen dieſem Huͤgel (b) und dem
Berge giebt es andre groͤſſere und undeutlichere Loͤcher.
Aus der untern, mittlern, und vordern Gegend dieſes
Knochens geht eine Platte (c), welche ohngefehr ein Pa-
rallelogramma vorſtellt, vorneher dikke, hinten duͤnne,
unter der untern Schaͤrfe etwas dikke (d) und ſchwammig
iſt, und vorne mit der Naſenplatte des Stirnknochens (e),
unterwerts mit der knorplichen Scheidewand (f), und hin-
terwerts mit der obern Furche der Pflugſchaar zuſammen-
haͤngt (g), und mit dieſer in erwachſnen Koͤrpern nicht
ſelten zuſammengewachſen iſt (h). Die hintere Grenze
vereinigt ſich mit der Erhabenheit des Keilknochens, die
dieſen Sinus vorne theilt (i),(i*).
Es iſt ſchwer dieſen Knochen mit Worten zu beſchrei-
ben, da man ihn kaum mit dem Pinſel treffen kann. Es
iſt aber uͤberhaupt an beiden Seiten ſein Seitentheil eins,
der rechte wie der linke, welcher von dem Rande des
Siebknochens ſeiner ganzen Laͤnge nach herkoͤmmt. Faſt
die obere Mitte die einiger maaſſen einem der Queere
nach langen Parallelepipedo gleich iſt, macht denjeni-
gen Papierknochen aus (k), der inwendig ganz und gar
in Faͤcher von verſchiedner Anzal (l), in drei (m), in
vier
[441]I. Abſchnitt. Werkzeug.
vier (n), oder mehr, nach keiner Gewisheit, noch gewiſ-
ſer Figur eingetheilt iſt, und darunter einige, jedermann
bekannte, inwendig und der Scheidewand naͤher liegen,
andre weniger bekannte hingegen, nach auſſen und unten
zu, auf allerlei Weiſe (o) vorkommen, wobei ſich doch
dieſe Faͤcher mit ihren Ausgaͤngen, in den oͤberſten, von
uns beſchriebnen Naſengang oͤffnen.
Jhr Dach macht an wenig Stellen den Knochen
ſelbſt, in den ſie eingegraben ſind, mehrenteils aber den
Stirnknochen aus (p), deſſen beiderſeitige Mitte laͤngſt
der ſiebfoͤrmigen Platte in Faͤcher ausgehoͤlt iſt, welche
uͤber den Siebbeinen liegen, und dieſe Beine ausmachen.
Es pflegt ſich auch in das vordre Fach der Siebfaͤcher der
Stirnſinus zu oͤffnen, und ſich durch deſſen Ausgang (q)
in den obern Naſengang auszuleeren.
Folglich wird ſeine vordere Flaͤche von dieſen Stirn-
knochen, und von dem Traͤnenknochen gebildet.
Die Hinterflaͤche bekoͤmmt vom vordern Fortſazze des
Gaumenknochens (r) verſchloſſene Faͤcher, und es ge-
ſchieht an dieſer Stelle nicht ſelten, daß der Gaumen-
knochen mit dem ſchwammigen Knochen gaͤnzlich zuſam-
men waͤchſt (r*)
Die innere Flaͤche ſiehet nach der Naſenſcheidewand
und es ragt (r**) eine rauhe, gegitterte Platte wie eine
Keilmuſkel (s), in dieſelbe vor.
Die untere Flaͤche iſt ſo duͤnne, als Papier, und aus
ihr laͤuft das folgende ſchwammige Bein, das gemei-
niglich das obere heißt, fort.
Die aͤuſſere Flaͤche iſt groͤſtentheils flach, ziemlich vier-
ekkig (t), und erſcheint in der Augenhoͤle; man hat die-
ſen Theil ſo wohl vormals, als ohnlaͤngſt fuͤr einen be-
ſondern flachen Knochen (u) gehalten. Da er kuͤrzer, als
die Siebfaͤcher iſt, ſo wird dasjenige, welches vorne vom
flachen Knochen nicht vollendet wird, vom Traͤnenkno-
chen ausgefuͤllt (x), und haͤngt oft ſo feſte daran, daß
man es fuͤr einen Theil des Siebknochens mit gezaͤlt
hat (y).
Es oͤffnen ſich die vordern Faͤcher in den zweeten Na-
ſengang (z), die hintern in den oberſten und deſſen hin-
tern Winkel (a), und zwar mit runden, und oft ſchie-
fen Eingaͤngen.
Aus dem flachen Knochen (b), bisweilen auch aus
dem hintern Stuͤkke der ſiebfoͤrmigen Platte (c) wachſen
knochige Platten hervor (d), welche ſich in einen dreiekki-
gen Knochen verwandeln (e), der zum Theil ein wenig
erhaben, zum Theil ein wenig hol iſt, und ſich durch drei
Fortſaͤzze vervielfaͤltigt (f); die flachen inwendigen Seiten
deſſelben machen den groſſen Schlund des Keilſinus aus
(g), und ſie haͤngen mit der vorragenden vordern Graͤte
dieſes
[443]I. Abſchnitt. Werkzeug.
dieſes Knochens zuſammen (h). Andre beruͤmte Maͤnner
ſehen es lieber, daß man ſie vor beſondre Knoͤchgen an-
ſieht, und ihnen den Namen der Keilhoͤrner giebt (i),
ob ſie gleich mit den Jahren mit dieſem Knochen (k) und
bisweilen mit dem Gaumenknochen (k*) zuſammenwach-
ſen. Blos in dieſem Knochen allein befindet ſich ent-
weder der Eingang des Keilſinus (l), oder doch wenig-
ſtens ein Theil dieſes Einganges.
Caſſerins(l*) zeichnet abgebrochne, und mit dem
Keilknochen zuſammengewachſene Partikelgen.
Wenn die Hirnſchale noch ganz, und dieſer Knochen
noch nicht entbloͤßt iſt, ſo erſcheint derſelbe in der Geſtalt
einer einfachen, oder gedoppelten Muſchel, welche ſich von
dem oͤberſten Horne des Siebbeins gegen den Keilſinus
zu erſtrekkt (m).
Hiervon iſt man nur vor kurzem unterrichtet worden,
ob man gleich diejenige ſchwammige Knochen vor-
laͤngſt
[444]Der Geruch. XIV. Buch.
laͤngſt gekannt hat, welche man gemeiniglich die obern nennt
(n), und welche billig uͤberhaupt die Mittlern heiſſen
ſollten, und ſie ſind der Keilmuſchel nicht unaͤnlich (o).
Es ſteigen ſelbige naͤmlich von dem faͤchrigen Theile (p)
des Siebbeins, dieſſeits den oͤberſten Schwammknochen
herab (q), beſtehen aus einer langen und zarten Platte,
und ragen (r) vom Traͤnenknochen, bis zum Eintritte
der Staͤmme der Naſenſchlagadern weit in die Naſe her-
vor. Vorwerts zeigt ſich ein dergleichen zugeſpizzter
ſtumpfer Knochen (s), hinterwerts aber verlaͤngert er
ſich mit einem ſpizzen Ende (t) gegen den Keilſinus zu,
und dieſes Ende wird von dem rauhen Striche des Gau-
menknochens (u) getragen. Der vordere Theil iſt dikke,
rauh (x), gegittert. Der hintere hingegen zart, und ein-
werts und oberwerts erhaben gebogen, abwerts aber und
vorwerts hol. Die untere Schaͤrfe beſtreicht eine Fur-
che zu Gefaͤſſen (y). Gemeiniglich iſt dasjenige eine
Grube, was ein beruͤmter Zergliedrer als einen beſondern
Sinus beſchrieben hat (z).
Endlich fuͤhrt derſelbe aus dem vordern Theile des
Jrrganges (a), eine Knochenplatte von verſchiedner Fi-
gur auf, die zart, zerbrechlich, und beſſer an einer un-
verlezzten Naſe, als an den angeloͤßten Knochenwerke zu
erkennen iſt; ſie ſteigt ſchief und ruͤkkwerts herab, und
laͤuft vor dem Kieferſinus, davon ſie einen Theil ſchließt,
zur aufſteigenden Platte des untern Schwammknochens
hernie-
[445]I. Abſchnitt. Werkzeug.
hernieder, und vereinigt ſich mit derſelben (b). Jch ha-
be dieſe Platte zweiſpaltig geſehen, indem der Kieferſinus
zwiſchen dieſen auseinander weichenden Theilen ſeinen
Eingang hatte (b*) Jch habe dazwiſchen einen Mem-
branſtrich; und einen eignen langen, und ſchmalen Kno-
chen gefunden (b**)
Sie werden von den meiſten Schriftſtellern fuͤr be-
ſondre Knochen gehalten, ſind ebenfals der Keilmuſchel
wie die bereits gedachte, aͤnlich, und liegen uͤbrigens un-
terhalb denſelben (d), ſind laͤnger und vorne ſpizzig, ſo-
wohl wo ſie auf der rauhen Linie des Kieferknochens (e)
ſizzen, als hinterwerts, wo ſie mit einem laͤngern Schna-
bel (f) auf der rauhen Linie des Gaumenknochens auflie-
gen (g), mit welcher ſie bisweilen zuſammen wachſen (h).
Hinter dieſem gleichſam knochigen Kerne, habe ich einen
weichen membranoͤſem Fortſazz, wie das Halszaͤpfchen ge-
ſtalt, ruͤkkwerts laufen geſehen (i). Seine obere Flaͤche
iſt rauh, gegittert, und ſchwammig (k) von untenher wie
inwendig geſtaltet, von auſſen duͤnner wie eine Keilmuſchel
hol, aber dennoch ein wenig rauh (l). Es iſt faſt die ganze
Laͤnge rauh, hinten aber hat ſie eine Furche zu Gefaͤſſen, und
hier zeigt ſich eine Schlagader (m). Die Lage iſt nicht allezeit
dieſelbe,
[446]Der Geruch. XIV. Buch.
dieſelbe, und es liegen dieſe Knochen bisweilen tiefer, ein
andermal naͤhern ſie ſich der Scheidewand mehr, und ha-
ben andre Verhaͤltniſſe gegen einander (m*).
Aufwerts gegen dieſen Knochen, gegen dem Kiefer-
ſinus zu, waͤchſt ein breiter und kurzer Fortſazz ſchief
heraus, welcher demjenigen Fortgange begegnet, wovon
eben die Rede geweſen; er laͤuft von dem zugeſpizzten mitt-
lern Knochen (n) herab, und iſt mit demſelben, wie wir
geſagt haben, oft genug vereinigt. Sein vordrer oder
aͤnlicher Theil iſt der Fortſazz, den er aufwerts herauf
treibt, und ich habe geſehen, wie derſelbe mit dem ab-
ſteigenden Haken des Traͤnenknochens (o) zuſammenge-
wachſen war, und mit ſelbigen den Naſenkanal ausmach-
te (p). Andre haben mehr knochige Blaͤtter geſehen (p*).
Endlich entſpringt noch vom aͤuſſern Rande ein drit-
ter, breiter, und zum Theil gegitterter Fortſazz, der nach
hinten zu liegt; er laͤuft einwerts herab, macht mit den
vorhergehenden eine Hoͤle aus, bildet einen groſſen Theil
von dem Eingange des Kieferſinus, und traͤgt den zuge-
ſpizten Knochen (q). Und da dieſer bei den ſo genann-
ten rauhen Linien nur ganz leicht befeſtigt iſt, ſo dient er
nur zu einem ſchwachen Schuzze ſeines Poſtens (r).
Er beſchreibt den unterſten Naſengang (s), wie auch
einen Theil des highmoriſchen Sinus (Schleimhoͤle des
obern Kinnbakkenknochens).
Es zeiget ſich zu beiden Seiten aus dem Knochen des
obern Kinnbakkens, wo dieſer mit ſeinem Nebenknochen
zuſammengrenzt, ein rauher Rand (t), welcher mit einem
aͤnlichen Rande ſeines Wechſelknochens eine Spalte macht.
Dergleichen Spalte ſteiget auch von beiden Gaumenkno-
chen herauf.
Jn dieſe Spalte ſenket ſich die laͤngſte Seite der
Pflugſchaar herab (u), deren zwo Platten daſelbſt zuſam-
mengewachſen ſind (x). Jhre Schneide iſt in der Mit-
te, und die Seiten ſinken herab (y)
Dieſer Knochen hat gemeiniglich die Figur eines
Rhombus, er beſteht aus zwo Platten, welche ſich ein-
ander hoͤchſt aͤnlich ſind, ſie vereinigen ſich ſowohl an
obern als unterſten Rande mit einander, und weichen in
der uͤbrigen Breite von einander ab (z). Bisweilen ſieht
man ihr knochiges Weſen unterbrochen, und es iſt nur
eine entbloͤßte Membran allein noch uͤbrig (a). Man
hat auch Exempel, da die ganze Pflugſchaar durchbort
iſt, und ſich die rechte Naſe in die linke oͤffnet (a*).
Die hintere Seite iſt wie ein Ziegenfuß (a**) geſpal-
ten, und ſie ſteiget von der Gegend des Keilſinus vor-
werts
[448]Der Geruch. XIV. Buch.
werts hernieder. Dieſer Ziegenfuß nimmt die Graͤte des
keilfoͤrmigen Knochens in ſich (b).
Die obere kurze Seite iſt mit der untern Flaͤche der
Siebſcheidewand zuſammengewachſen (c), und macht mit
derſelben (d) die Naſenſcheidewand aus.
Die vordre Seite verwandelt ſich von der Schaͤrfe
zu einem Knorpel (e), welche wie ich geſagt habe, von
der Mitte der Siebplatte, und von der innern Flaͤche
der Naſenknochen herab laͤuft.
Solchergeſtalt bildet die Natur dieſe Scheidewand,
theils aus Knorpel (e), theils aus Knochen, und ſie theilt
dadurch die Hoͤlung der Naſe in zween Theile ab (f).
Man hat vorgegeben, daß dieſe Scheidewand oͤfters
die Naſe in zween ſchiefe Theile theile (g). Jch habe ge-
ſehen, daß der rechte Gang der Naſe ſchmaͤler war, in-
dem die Scheidewand erhaben war; ich habe eben dieſes
am linken wahrgenommen. Bei dergleichen Menſchen
findet die Luft in einen der beiden Naſenloͤcher keinen
freien Durchgang, und ſie leiten oͤfters Schnuppen (h).
Gunz ſagt, daß ſie ſich gemeiniglich links neigen (i),
doch ich habe es in der That anders befunden.
Es iſt das untere Ende des Stirnknochens, welches
mit der Naſe und dem Siebknochen zuſammenhaͤngt, ganz
und gar in Faͤchergen ausgehoͤlt, welche gleichſam ein
An-
[449]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Anhaͤngſel der Naſe ſind. Es laufen einige darunter,
mit den darunter liegenden Siebhoͤlungen, in eins zuſam-
men (k), von andern glaubt man, daß ſie dem Stirn-
knochen eigen ſind, und dennoch ſtehen ſie auch mit
den ſiebfoͤrmigen in Verbindung, ſie nehmen einen groſſen
Theil derjenigen Breite ein, welcher ſich uͤber der Naſe
befindet, ſo wie einen Theil uͤber der Augenhoͤle, ſo daß
dieſer Bau uͤberhaupt in todten Koͤrpern eine groſſe Ver-
ſchiedenheit hat, und bald die ganze Breite der Augen-
hoͤle (l), bald die halbe voller Faͤcher (m), und bald die-
ſer ganze Knochen feſte iſt (n), wie in der Frucht (o), und
an der Hirnſchale eines erwachſenen Menſchen, die ich
eben vor mir liegen habe. Doch es folgen auch die Schei-
dewaͤnde dieſer Hoͤle keiner Regel, und es iſt ſo wohl ihre
Stellung als Anzal in den verſchiednen Koͤrpern verſchie-
den, und bald iſt der Sinus einfach, bald die Scheide-
wand mit der Laͤnge des Sinus parallel, und gemeinig-
lich unvollkommen (p), und ſie theilt ſich in das vordere
und hintere Stuͤkk ab, welches auf der Augenhoͤle auf-
liegt; bald ſind wieder viele Scheidewaͤnde da (p*). Sol-
chergeſtalt hat man bald zween Sinus, einen rechten und
linken, ſie ſind aber gemeiniglich auſſer der Mitte ungleich
getheilt (q): bald trift man drei (r), vier (s) und meh-
rere an (t): und endlich findet man auch nur einen einzi-
gen
H. Phiſiol. 5. B. F f
[450]Der Geruch. XIV. Buch.
gen Sinus, der durch eine unvollkommne Scheidewand (u)
unterſchieden wird.
Endlich oͤffnet ſich der Eingang dieſer Sinuum, auf
jeder Seite einer, gemeiniglich in das vorderfte Siebfach
(x), und er ſtehet mit dieſem in demjenigen Winkel offen,
welcher mitten zwiſchen dem Traͤnenknochen (y), und
dem ſchwammigen Knochen liegt, woraus alſo ein ſchiefer
Schlupfwinkel wird, der in den mittelſten Naſengang
fuͤhrt. Er ſteigt ſchief, und ruͤkkwerts hernieder. Es
giebt Faͤlle, wo dieſer Ausfuͤhrungsgang in zween Theile
geſpalten, oder gedoppelt iſt, indem er ſich in zwei Sieb-
faͤcher eroͤffnet (z). Es giebt aber auch Koͤrper, wo nur
ein einziger Eingang, und einer von beiden Sinus blind
iſt (a).
Die vordre Platte des Knochens, welche den Sinus
verſchließt, hat eine lokkre Knochenſubſtanz; wie an der
Hirnſchale bekannt iſt (diploe) (a*), die hintere und
duͤnnere Knochentafel hat hingegen ſchwerlich dergleichen
diploe. Ueberhaupt entſpringen dieſe Sinus (b) und
uͤbrigen Faͤcher der Naſen und Zizzenfortſazze aus den er-
weiterten Faͤchern (b*).
Man findet in den meiſten vierfuͤßigen Thieren (c),
oder gar in allen dergleichen Sinus, welche vorlaͤngſt,
wenig-
[451]I. Abſchnitt. Werkzeug.
wenigſtens vor dem Jakob Berengarius(d), und nach-
her faſt allen Zergliederern bekannt waren (e). Und
dennoch fehlt es nicht an Maͤnnern, die allen Ruhm ver-
dienen, und dennoch nichts davon gewußt zu haben
ſcheinen (f).
Es iſt der ſo genannte vielfache Knochen, eben ſo wie
der Stirnknochen in der Frucht feſte, und im erwachſnen
Menſchen (g) zu einer groſſen Vertiefung ausgehoͤlt. Die-
ſe Hoͤlung befindet ſich in der geſammten Mitte desjeni-
gen Knochens (h), welchen man mit dem Tuͤrkenſattel
vergleicht, ferner mitten unter der erhabnen Stelle, wie
auch innerhalb den Seiten, welche von hier gegen die
Fluͤgel herablaufen, und endlich unter denjenigen Fortſazze,
welcher zwiſchen den vordern Sattelfortſaͤzzen, und unter
den Augenloͤchern (i),(k) liegt, wie auch unter der Graͤte,
welche von den vielfachen Knochen zum Siebknochen fort-
laͤuft, oberhalb derjenigen Erhabenheit, welche ſich vor
dem Keilſinus, und hinter dem Sattel befindet; endlich
zeigt ſie ſich noch in dem keilfoͤrmigen Fortſazze, welcher
ſich bis zum Knochen des Hinterhaupts erſtrekkt (l). Der
Schlupfwinkel, welcher in dem kleinen Fluͤgel dieſes Kno-
chens ausgehoͤlt iſt, und ſich, wie es mir vorkoͤmmt in
den groͤſſern Sinus zu oͤffnen ſcheint, ſcheint einzeln und
F f 2blind
(c)
[452]Der Geruch. XIV. Buch.
blind in demjenigen Koͤrper geweſen zu ſein, den der be-
ruͤmte Bertin(l*) beſchrieben.
Es iſt dieſer Sinus entweder einfach (m), oder durch
eine Scheidewand (n), wie es oͤfters zu geſchehen pflegt,
doch gemeiniglich in ungleiche Raͤume abgetheilt (o), und
alsdenn hat man einen rechten und linken Sinus. Ein
jeder derſelben bekoͤmmt auſſerdem noch ſehr oft von un-
vollkommnen Waͤnden allerlei Verſchlaͤge (p).
Er iſt auf allen Seiten blind, und einzig und allein
vorne zu, mit einem breiten, und unfoͤrmlichen Eingan-
ge (q) am entbloͤßten Knochen geoͤffnet, doch es ſchlieſſet
das anſchlieſſende Horn des Siebbeins (r) ein groſſes
Stuͤkk von oben, und ein unteres Stuͤkk der hintere auf-
ſteigende Fortſazz des Gaumenknochens zu, ſo wie eine
Membran den uͤbrigen Theil bildet. Man findet Koͤrper,
wo der ganze Eingang im Horne angetroffen wird (t).
Es iſt dieſer Eingang (u) auf beiden Seiten einfach,
rundlich, vorwerts und abwerts ein wenig offen, er oͤff-
net ſich nicht vollkommen im oͤberſten Theile des Sinus,
unter dem hinterſten Siebfache, und laͤuft in den Winkel
des oͤberſten Naſenganges, welcher ſich zwiſchen dieſem Sieb-
fache und zwiſchen dem unterſten Horne befindet. Einige
Schriftſteller bezeugen (z), daß auch ganz und gar kein
Eingang vorhanden geweſen.
Nicht gar zu ſelten fuͤhren einige Loͤcher auch von der
Hoͤle der Hirnſchale, wo dieſe ſich nach dem Gehirn zu
kehrt, in dieſen Sinus hinein (a), und dieſe Loͤcher laſſen
Gefaͤſſe durch. Bisweilen mangelt der ganze Sinus
uͤberhaupt (b), wie am Pigmaͤen (b*).
Schon vorlaͤngſt waren die Schleimhoͤlen im Keil-
knochen, ſowol dem Veſal(c), als Jakob Sylvius(d),
Fallopius(e) und allen Zergliederern ihres Jahrhun-
derts bekannt, und folglich ſind ſie keine Erfindung des
guten Ruyſch(f), der keines fremden Ruhmes beduͤrf-
tig iſt.
Selbſt in der Frucht ſind ſchon die Anfaͤnge des Si-
nus des Kinnbakkens deutlich zu ſehen (h), ob ſie gleich
kleiner ſind (i), und es wird dadurch die ganze hintere
Erhabenheit dieſes gleichnamigen Knochens dergeſtalt
weitlaͤuftig ausgehoͤlt, daß dieſe Schleimhoͤle unter allen
Schleimhoͤlen die geraͤumigſte iſt (k). Auf ihr liegt die
F f 3Au-
[454]Der Geruch. XIV. Buch.
Augenhoͤle, und unter ihr faſt alle Bakkenzaͤhne deren
Kanaͤle wie Huͤgelchen in den Sinus vorragen (l). Es
iſt dieſes eine alte Sache (m), und man hat den Sinus
im Kieferknochen nicht dem Highmor zuzuſchreiben, ob
dieſer gleich von der Krankheit dieſes Sinus nuͤzzliche Er-
innerungen gethan hat (n).
Es iſt ſein hintrer Theil glatt, und es wird der vor-
dre Theil durch unvollkommne Scheidewaͤnde (o) in klei-
ne Kanaͤle getheilt (p).
Er hat, wenigſtens an den Hirnſcheideln, welche ich
beſizze, zween Ausgaͤnge. Der erſte iſt ein unfoͤrmliches
Loch (q), womit er ſich unten in den Naſengang oͤffnet (r),
und dieſe Oefnung wird von der niederſteigenden Platte
des mittlern Schwammknochens, wie ein rundes Loch
verengert (s), wozu auch die zwo Platten des unterſten
Schwammknochens, der vordre Fortſazz des Gaumen-
knochens (t), und der Traͤnenknochen das ihrige mit bei-
tragen, indem dieſe Platten, nebſt einem Stuͤkke der
Membran (u) den groͤßten Theil dieſes Ausganges beſez-
zen (x). Jch habe eben denjenigen Kopf vor mir liegen,
nach
[455]I. Abſchnitt. Werkzeug.
nach welchem ich mein Kupfer habe zeichnen laſſen (y). Es
liegt dieſer Ausgang an den Vordertheilen derjenigen
Platte, welche von dem unterſten zugeſpizzten Knochen
nach dem Traͤnenknochen hinaufſteigt (z).
Hiernaͤchſt nenne ich diejenige Hoͤlung dieſes Sinus
(a), die dennoch nicht voͤllig unbekannt, laͤnglich iſt (b)
und unterhalb dem innern Theile der Augenhoͤle liegt,
das Anhaͤngſel. Es iſt dieſe Hoͤlung inwendig ge-
faͤchert, und verbindet ſich (c) faſt an der Mitte des un-
terſten Schwammknochens, ein wenig hinter dem Aus-
gange des Traͤnenknochens mit dem Kieferſinus.
Die Waͤnde dieſer Hoͤlung macht der Traͤnenknochen,
der flache Knochen und die Augenhoͤlenwand des Kiefer-
knochens, wie auch die etwas gefaͤcherte Platte, welche
den Papierknochen aus einem der Vorderfaͤcher in den un-
terſten Schwammknochen herabwirft. Sie haͤngt mit
den vordern Siebfaͤchern, und vermittelſt derſelben mit
dem Sinus des Stirnknochens auf das deutlichſte zu-
ſammen, und es koͤnnen ſich alſo dieſe Schleimhoͤlen in
den Kieferſinus ausleren. Budaͤus(d) und Aurivill
(e) nennen dieſes den gekruͤmmten Kieferſinus. Tarin
zeichnet ſeinen Ausgang (f). Dieſes iſt der Zugang, den
der Kieferſinus den Siebfaͤchern darbietet (g). Dieſes
iſt der Kanal des Vieuſſens(h), vermittelſt deſſen der
vordere Siebſinus mit dem Kieferſinus Gemeinſchaft un-
terhaͤlt. Caſſerius hat auch vorlaͤngſt Erwaͤhnung da-
von gethan (i). Jch rechne hieher, was ein ber. Mann
F f 4von
[456]Der Geruch. XIV. Buch.
von dem Ausgange des Naſenſakkes, welcher ihm in der
That am naͤchſten liegt, und der ſich in den Sinus des
Highmors oͤffnet, ſchreibt (k).
Endlich iſt die untere Wand von dem vordern Loche
der Augenhoͤle an, bis zum Ende der Augenhoͤleplatte
des Kieferknochens, ganz und gar zu Faͤcher ausgehoͤlt.
Es ſind ſelbige in ziemlicher Anzal vorhanden (l), wenig
tief, doch vorneher groͤſſer (m), und da ſie Niemand, ſo
viel ich weis, vorher kannte, ſo habe ich ſie die Faͤcher
der Augenhoͤle genannt. Es ſind ſelbige von auſſen
hol, und oͤffnen ſich vorwerts in irgend eins der Sieb-
faͤcher, von denen naͤmlich, welche zwiſchen den hinter-
ſten und vordern mitten inne liegen (n).
Jn den Thieren iſt der Kieferſinus gros, und von
einer Menge Scheidewaͤnde abgetheilt (o).
Es hat ein jeder von den bisher beſchriebenen Kno-
chen ſein Knochenhaͤutchen (p), und an den Knorpeln
ſeine
(i)
[457]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ſeine Knorpelhaut. Doch es begiebt ſich auſſerdem noch
(q) die Haut vom Angeſichte zu beiden Seiten in die
Naſe (r), und ſie veraͤndert ihre Natur allmaͤlich derge-
ſtalt, daß ſie, wenn man ſie erweicht, markig wird, aber
ihre Zaͤhigkeit dennoch beibehaͤlt, doch aber deſto duͤnner
wird, und einer gemeinen Membran naͤher koͤmmt, nach-
dem ſie ſich weiter von ihrem Urſprunge in die Winkel der
Sinuum (s) verbirgt; indeſſen bleibt ſie doch daſelbſt
noch ziemlich dikke, und behaͤlt eine rote Farbe: ſie iſt
aber mitten in der Scheidewand (t) und bei den zuge-
ſpizzten Knochen (u) dikker. Auf ihr liegt ihr Oberhaͤut-
chen, ſie hat ihr Fadengewebe (x), wodurch ſie mit der
Knochenhaut zuſammenhaͤngt. Man ſieht auch offenbar
an ihr, wenn man ſie gleich nicht ausſprizzt, eine Men-
ge Gefaͤſſe.
Macerirt ſchwillt ſie auf von dem eingeſogenen Waſ-
ſer (y), und ſie glaͤnzt vom ſchoͤnſten Purpur, wenn man
gefaͤrbten Fiſchleim in ſie ſprizzt, welcher ſich in die faͤch-
rige Raͤume, die unter der Haut liegen, ergieſſet. Sie
laͤßt ſich durch die groſſe Menge Schlagadern (z) leicht
dergeſtalt anfuͤllen, daß ſie eine der lebhafteſten Roͤthe an
ſich nimmt.
Conrad Victor Schneider(a) verdiente, nachdem
er den alten Jrrthum wiederlegte, daß er dieſer Mem-
bran ſeinen Namen beilegen konnte, ob ſie gleich unſern
F f 5Vor-
[458]Der Geruch. XIV. Buch.
Vorfaren nicht unbekannt war, und mit ziemlicher Dikke
in der Naſe und dem Schlunde, bis zur Zunge, Luft-
roͤhren und Schlundkopfe nebſt der Kehle fortlaͤuft (b).
Man findet dieſe Membran jederzeit ſowohl in leben-
digen, als todten Thieren feucht (c): es ſchwizzen ſo gar
noch nach dem Todte, wenn man ſie mit der Nadel ſticht,
(d) Troͤpfgen heraus, deren viele in einen einzigen Tro-
pfen zuſammen laufen (e). Es iſt ein Schleim, wie ein
Gallert (f), und von dem ich bereits oben eine Beſchrei-
bung gegeben habe (g).
Man koͤnnte fragen, woher dieſe Naͤſſe komme, in-
dem die Druͤſen in der Naſe eines Menſchen nicht ſo
deutlich zu ſehen ſind, als man ſie hin und wieder in den
Kupfern zu zeichnen pflegt (i).
Erſtlich laͤßt es ſich leichtlich zeigen, daß die Schlag-
adern der Schleimmembran allenthalben ausduͤnſten (k).
Schneider leitete den Rozz blos aus den Schlagadern
her (k*), und Stenonius fuͤgte noch die Druͤſen bei.
Es erſcheinen ferner in der Naſe und zwar hin und wie-
der in ganzen Haufen an der Naſenſcheidewand (l), laͤngſt
der Grundflaͤche derſelben, neben dem Vorderende, wie
auch in dem innern Theile des mittlern (m) und unterſten
Gan-
(h)
[459]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Ganges, und in dem Vordertheile des mittlern Schwamm-
knochens (n) Schweisloͤcher.
Ob es gleich ferner keine recht groſſe Druͤſen giebt,
und auch nicht allezeit die kleinen erweislich gemacht wer-
den koͤnnen, ſo ſiehet man doch bisweilen welche (o), und
dieſe ſind von dem Geſchlechte der verſtekkten, markig,
etwas dikke, und runde oder eirunde Blaͤsgen, die ſich
mit dem gedachten Schweisloche in die Naſe oͤffnen. Jch
habe dergleichen Blaͤsgen an beiden Seiten der Scheide-
wand (p), bei den mittlern und untern zugeſpizzten Kno-
chen (q), bei dem unterſten Naſengange, ſonderlich aber
an demjenigen Theile geſehen, welcher dem Schlunde
nahe liegt (r). Die vordern, und der Haut naͤher lie-
gende Druͤſen ſind Talgdruͤſen, und laſſen Haare durch
ſich (s). Jn den Sinus habe ich niemals Blaͤsgen wahr-
genommen (t); und wenn ja welche darinnen vorhanden
ſind, ſo muͤſſen ſolche ungemein klein ſein, und endlich
nur durch Krankheiten zum Vorſchein kommen (u).
Endlich habe ich noch am vordern Theile der Schei-
dewand, und vor mir Ruyſch(x) einen groſſen Sinus
geſehen, welcher vielen Blaͤsgen gemein war, der Queere
nach
[460]Der Geruch. XIV. Buch.
nach fortlief, vorneher offen war, und den auch andre
Schriftſteller bemerkt haben (y), ſo wie ſie andre aͤnliche
Sinus wahrgenommen. Jch habe viele in der Pflug-
ſchaar angemerkt (z).
Sie beſizzen einige Aenlichkeiten mit den Schleimge-
faͤſſen der Naſe, die der fleißige Stenonius(z*) in den
Schafen entdekkt, es liegt zu beiden Seiten ein Gang,
der vielen Druͤſen gemein iſt, um den aͤuſſerſten Theil der
Naſe, er oͤffnet ſich in den Sinus, welcher zwiſchen der
knorplichen Vorragung der Fluͤgel deutlich zu ſehen iſt,
deren Ausgang ſich bei der Theilung der Fluͤgel oͤffnet.
Es finden ſich noch andere zalreiche gerade Gefaͤſſe
unter den Schlagadern, die das Wachs aufnehmen, und
dennoch, wenn man ſie druͤkken ſollte, einen zarten Schleim
von ſich geben wuͤrden; es ſind ſolches Schlagader-
ſchleimgefaͤſſe, welche auf der Oberflaͤche der Schwamm-
knochen der Schafe (z**) und Kuͤhe (a) vom Ruyſch
gefunden worden. Man ſolte faſt glauben, wie wohl ih-
rer ſehr viele ſind, daß ſie Schleimſinus ſind.
Jch finde hie und da bei beruͤmten Maͤnnern, daß
die Schleimmembran ſonderlich nachdem ſich die gefaͤrbte
Gefaͤſſe voll Saft gezogen haben, bei oft veraͤnderten
Waſſer flokkig werde (b), und daß dieſe Flokken Waͤrz-
chen (c), und das vornemſte Werkzeug des Geruchs (d)
ſind:
[461]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ſind: da ſie gegentheils vielmehr von andern fuͤr ausdaͤm-
pfende Gefaͤſſe angeſehen werden (e). Die Schuͤler Al-
bins behaupten nach ihrem Lehrer, daß die weichen Waͤrz-
chen in der Naſe dennoch aus Gefaͤſſen und kleinen Ner-
ven beſtehen (f). Alles dieſes habe ich nicht deutlich ſehen
koͤnnen, ſo wenig als der vortrefliche Morgagnus vor
mir (g). Jch befuͤrchte alſo ſehr, es moͤgen beruͤmte
Maͤnner dieſe in Flokken aufgeloͤſte Membran geſehen
haben, ſo wie ſich uͤberhaupt im menſchlichen Koͤrper alle
Gewebe durch die Kraft des Waſſers in Flokken und ein
ſchwammiges Weſen aufloͤſen laſſen. Doch ich will die-
ſes deswegen nicht vom Albin geſagt haben.
Da die Theile der Naſe, welche wir bisher beſchrie-
ben haben, von einer vielfoͤrmigen Figur ſind, ſo hat die
Natur auch an vielen, und zwar verſchiednen Orten viele
Gefaͤſſe angebracht, welche ich ohnmoͤglich alle hernennen
kann, ob ich gleich viele darunter entwikkelt habe.
Der vornemſte Stamm dieſer Gefaͤſſe (h) iſt ein
Fortſazz der innern Kieferſchlagader, welche gemeiniglich
mit zween Aeſten, oder auch mit drei, die nahe bei ein-
ander laufen, zwiſchen der vordern Naſenplatte, und der
hintern des Gaumenknochens (i), theils zum oͤberſten
Gange, und theils zu demjenigen Winkel hingeht, wo
ſich der mittlere Schwammknochen hinterwerts endigt.
Jhre
[462]Der Geruch. XIV. Buch.
Jhre Vertheilung habe ich bald ſo, bald anders gefun-
den (k). Es waren zween Staͤmme, ein obrer und un-
trer vorhanden.
Der obere laͤuft mit einem Aſte, in den Keilſinus:
mit einem andern zu den hintern Siebfaͤchern, und zum
hintern Theile der Naſenſcheidewand: mit einem andern
in den mittlern Schwammknochen (k*): mit noch einem
andern durch die zu Gefaͤſſen ausgehoͤlte Furche dieſes
Knochens in die vordern Theile der Naſe, in den genann-
ten Knochen, und ſtehet mit den Siebſchlagadern in Ver-
bindung: andre Aeſte, welche den Namen der Staͤmme
zu fuͤhren verdienen, wenden ſich zu dem hintern Theile
der Naſenſcheidewand (l) zum Siebknochen, zur Pflug-
ſchaar, und vereinigen ſich mit der Siebſchlagader, und
der folgenden Naſenſchlagader auf verſchiedene Weiſe.
Der untere Aſt (l*) laͤuft uͤber die bezieferte Spalte
der Platte des Gaumenknochens herab: er geht zu dem
mittlern ſchwammigen Knochen, und mit einem andern
Aſte auch zu dem unterſten Knochen dieſes Namens fort,
er laͤuft durch die Gefaͤsfurchen beider Knochen auf bei-
den Seiten nach vorne zu, wirft ſowohl in den unterſten
Naſengang, als in den mittlern Naſengang einige Zwei-
ge, und es ſteigen auch aus dieſen kleinem Stamme
einige Aeſte in den highmoriſchen Sinus, und in den
unterſten Naſenſakk, deſſen Membran artig mit Gefaͤſſen
bemalt iſt (m) uͤber.
Naͤchſt dieſem ſind die Siebſchlagadern, die von der
Augenader abſtammen, die erheblichſten. Die vordere der-
ſelben koͤmmt aus dem Augenſtamme hervor, indem ſich der-
ſelbe
[463]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ſelbe an die inwendige Wand der Augenhoͤle anſchließt (n).
Sie findet hier einen Kanal, welcher uͤber das vordere
Siebfach wie uͤber eine Bruͤkke fortgeht. Hierauf theilet
ſie ſich, und ſie bleibet mit einem Aſte, wovon bereits
oben geſagt worden (o) in der harten Gehirnhaut; mit-
telſt eines andern wirft ſie durch die Loͤcher des Siebkno-
chens (p) Zweige in die Naſenſcheidewand, die ſich auf
allerhand Art mit dem vorhergehenden Stamme verbin-
den: andre fendet ſie in das vordre und mittelſte Sieb-
fach; und vermittelſt deſſelben ſowohl in den Stirnſinus,
und die Sinus der Augenhoͤle, als in den Theil, der an
den Sinus des Kinnbakkens angrenzt, ſo wie ſie wie-
der andre Zweige in den mittlern ſchwammigen Knochen
wirft (p*).
Die hintere Siebſchlagader(q) iſt gemeiniglich
kleiner, nicht allezeit vorhanden, und laͤuft uͤberhaupt in
einem aͤnlichen Loche uͤber das hintere Siebfach, und
theilt ſich dem vorigen und naͤchſten Keilſinus mit (r).
Auch von dem Augenftamme, und deſſen tiefen Stirn-
aſte entſpringen einige kleine Schlagadern des Stirnſinus,
welche aus der Augenhoͤle durch irgend einen kleinen kno-
chigen Kanal, oder durch mehrere, in der hintern Ge-
gend desjenigen Einſchnittes, welcher fuͤr dieſen Augen-
ſtamm und Nerven, um ſolche in die Stirn durchzulaſſen,
gemacht iſt, in den Stirnknochen eindringen, und es
laufen eben dieſe Adern in das vordre Siebfach herab.
Auſſer-
[464]Der Geruch. XIV. Buch.
Auſſerdem vereinigt ſich ein anderes Schlagaͤderchen wel-
ches von dem Naſenaſte der Augenader abſtammt,
die ein Loch im Naſenknochen antrift, und durch die in-
wendige Furche dieſes Knochens herablaͤuft, bei den vor-
dern Theilen des Naſenkanals, und im Vordertheile des
Mittelganges, mit den Schlagaͤderchen des vornemſten
Naſenſtammes, die aus dem unterſten ſchwammigen Kno-
chen in die Hoͤhe ſteigen (r*). Andre kommen von eben
dieſem Staͤmmchen und gehen nebſt dem Naſenſakke ſelbſt
unten und vorne in die Naſe. Jch uͤbergehe die uͤbrige
Schlagaͤderchen, welche von den Leffzen und Augenadern
durch den aͤuſſern Theil der Naſe nach der Scheidewand
und dem unterſten Gange zuruͤkke laufen (s).
Endlich koͤmmt von der innern Carotis, auf beiden
Seiten ein kleines Schlagaͤderchen hervor, welches aus
derjenigen Furche, die fuͤr dem Stamm der Carotis aus-
gehoͤlt iſt, in den Keilſinus laͤuft (t). Die uͤbrigen
Schlagadern der Naſe, ſo viel ich kenne, entſtehen von
den verſchiednen Aeſten der innern Kieferſchlagader.
Erſtlich giebt der Aſt der Schlagader unterhalb der
Augenhoͤle, indem derſelbe durch den Kanal des obern
Kieferknochens geht, von der Muͤndung des Kanals ſelbſt
zween oder mehr Aeſte (u), welche durch beſondre Loͤcher
nach dem Kieferſinus laufen. Einer derſelben ſteigt bis
zu den Vorderzaͤhnen herab, und vereinigt ſich in der
Furche, unter dem highmoriſchen Sinus mit der hintern
Zahnader (x). Von eben dieſem Stamme laufen noch
andre Aeſte nach den mittlern Siebfaͤchern durch beſon-
dre Loͤcher des flachen Knochens, und zur Naſe (y). An-
dre
[465]I. Abſchnitt. Werkzeug.
dre Zweige (z) kommen aus dem Antlizze ſelbſt in die in-
nere Theile der Naſe zuruͤkke.
Andre Aeſte ſtammen aus der obern hintern Zahn-
ader, welche ſelbſt ein Sproͤsling der Schlagader der
Zahnladen iſt, ſie laufen in eben dieſen Kieferſinus (a),
und es entſtehen ſonderlich aus dem Vorderaſte, welcher
uͤber die Zaͤhne durch einen beſondern Gang des Kiefer-
knochens herablaͤuft (b), Aeſte, die in dieſen Sinus ge-
hen: und endlich laͤuft dieſer kleine Stamm ſelbſt bei dem
Urſprunge des aufſteigenden Fortſazzes des Kieferknochens
durch ein eignes Loch in den unterſten Gang der Naſe
fort.
Von der Gaumenſchlagader, und indem ſolche durch
den Kanal des Gaumenknochens herab geht, kommen
einige Zweige in den highmoriſchen Sinus (c), und die
vordern Staͤmmchen dieſer Schlagader wandern nach
den Hintertheilen der Naſe zu (d).
Der aus eben dieſer Schlagader ſtammende Gaumen-
aſt, laͤuft vorwerts (e) uͤber den knochigen Gaumen her-
ab, und macht mit ſeinem Gefaͤrten in der Gegend der
Schneidenaht einen Bogen (f), aus welchem erſt ein ein-
facher Zweig durch das Schneideloch, hierauf ein gedop-
pelter entſpringt, ſich in die zwei Naſenloͤcher wirft, und
ſich endlich zum unterſten Gange der Naſe hinbegiebt (g).
Noch giebt es anderswo zwiſchen der unterſten Na-
ſenhoͤle, und zwiſchen dem knochigen Gaumen eine groſſe
Menge Loͤcher, durch welche Gefaͤſſe vom Gaumen in die
Naſe hinaufſteigen.
Es iſt dieſen Schlagadern beſonders eigen, daß ſie
ſich unter allen Schlagaͤderchen des menſchlichen Koͤrpers
am leichteſten oͤffnen, Blut von ſich laſſen, und bald dar-
auf, ohne eine Spur von einem Uebel zuruͤkke zu laſſen,
wieder zuheilen. Jch kann nicht mit Gewisheit ſagen,
aus welchem Schlagaderſtamme dasjenige Blut herkom-
me, welches die blutende Naſe verliert, warſcheinlich
iſt es, daß ſolches von den oͤberſten, und gemeiniglich aus
den vordern herab komme, folglich daß es von den Aeſten
der Augenſchlagader, und ſonderlich von der vordern
Siebſchlagader herruͤhre. Da nun dieſe ein Sproͤsling
der innern Carotis iſt, ſo erhellet daraus, daß durch der-
gleichen Abfluß das Blut vom Gehirne mit Nachdrukk
weggeleitet werde, und es laͤßt ſich nicht undeutlich dar-
aus abnehmen, warum man in den ſchlimmſten Krank-
heiten des Hauptes von einem ſtarken Naſenbluten eine
ſo offenbare Erleichterung bekoͤmmt, wie ich ſelbſt in einer
heftigen Roſe am Kopfe, wobei ich innerhalb zween Ta-
gen durch die Naſe beinahe vier Pfunde wegblutete, em-
pfunden, und deſſen ich mich als einer beſondern Wohl-
that der Natur noch erinnere. Keine andre Schlagadern
im menſchlichen Koͤrper laſſen ihr Blut ſo leicht von ſich:
denn es muͤſſen die Schlagadern der Gebaͤrmutter etliche
Wochen Zeit haben, das Monatsgebluͤte zum Durch-
bruche vorzubereiten.
So leicht aber dieſe Schlagadern dazu zu bringen
ſind, ſo groß iſt die Menge Blut, welches ſie einbuͤſſen,
wie wir an einem andern Orte gezeigt haben (h). Ein
Barbier zu Venedig (i) erwekkte, als er die Haare in
der Naſe beſchneiden wolte, durch ſeine ungeſchikkte Hand
eine ſo ſtarke Verblutung, daß der arme Menſch dar-
uͤber das Leben einbuͤſte. Jch habe oͤfters dergleichen
groſſen Blutverluſt in den Frieſelkrankheiten, und den
Blattern ſehr heilſam gefunden, ob er gleich bei alten Leu-
ten leicht zur Waſſerſucht Anlaß giebt.
Wir vermiſſen faſt die ganze Geſchichte dieſer Adern.
Jndeſſen ſind ihre Staͤmme faſt eben ſo, wie der Schlag-
ader ihre beſchaffen. Jch habe geſehen, wie von der
Augenblutader die Siebaͤſte, entweder den Schlagadern
ganz nahe, oder mit einer gemeinſchaftlichen Muͤndung
in die Naſe gingen. Es hat die groſſe Naſenſchlagader
eine Nebenblutader, welche von dem Schlaͤfenſtamme,
oder einem andern entſpringt, der vom tiefen Aſte der
Droſſelblutader entſteht, die Gefaͤſſe des Schlundkopfes,
Gaumens, und der hinterſten Zunge von ſich giebt, und
mit dem Santoriniſchen Behaͤltniſſe ſehr zuſammen-
haͤngt (i*).
Jch leſe bei einigen beruͤmten Maͤnnern (k), daß an-
dre Naſenblutadern, die man aber nicht genung beſtimmt
hat, nach dem ſichelfoͤrmigen Sinus zu laufen. Aus
dem Keilſinus gehen Blutadern nach dem Sinus der
harten Gehirnhaut (k*).
Wir haben oben geſagt, daß ſich in der Siebplatte
viele Loͤcher befinden (l). Dieſe Loͤcher ſiehet man an fri-
ſchen und kurz verſtorbenen Thieren voller kleiner Trich-
terchen (m), die von der aͤuſſern Platte der harten Ge-
hirnhaut entſtehen, und in die Naſenſcheidewand fuͤhren,
worinnen ſie endlich verſchwinden.
Jn dergleichen kleinen Trichtern, doch vornaͤmlich in
friſchen Koͤrpern, befindet ſich das Mark des Geruch-
nervens (n), das mit ſeiner duͤnnen Gehirnhaut umgeben
iſt, und folglich ſteiget dieſes Mark, faſt ohne eine Ver-
aͤnderung gelitten zu haben, in die Naſenſcheidewand her-
ab (o), und hier endigt es ſich mit Aeſten. Diejenigen
Schriftſteller, welche vorgeben, daß man in dieſen Taͤfel-
chen kein Mark antreffe (p), ſcheinen dieſe ſchwere Sa-
che in alten Koͤrpern vor die Hand genommen zu haben.
Dergleichen, aus der vordern Vorragung des Ge-
hirns verlaͤngerten Nerven, trift man in allen Thieren,
und zwar in den Vierfuͤßigen vielfach getheilt, in den
Voͤgeln (q) einfach, und in den Fiſchen (r) gar faſrig an,
und ſeine Aeſte laufen mit dem Stamme parallel, und
zertheilen ſich in zalreicher Menge durch das Werkzeug
des Geruches aus (s).
Sehr groß iſt der Nerve in den Fiſchen (t), ſo wie
in der Schildkroͤte (u), und es ſind auch die Staͤmme in
den Voͤgeln groß (x), in denen ſie in die Schwammkno-
chen herabſteigen (y), ſie theilen ſich offenbar in die
Schleim-
[469]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Schleimhaut aus, und verlieren ſich endlich darinnen.
Doch es ſind auch dieſe Nerven gemeiniglich in den Vier-
fuͤßigen groͤſſer, als im Menſchen (z), wie im Elendthie-
re (a), im Baͤren, im Kaatimondi (b), im Stachelthie-
re (c), Maulwurfe (c*), und ſie ſind uͤberhaupt um deſto
groͤſſer, je ſchaͤrfer ein Thier die Spur beurteilt (d).
Jn allen Thieren laufen, ſo viel ich weis, auſſer
dem erſten Nervenpaare, immer andere Nerven nach der
Naſe. An den Voͤgeln durchlaͤuft ein beſondrer weiſſer
Nerve vom fuͤnften Paare, den vordern faͤchrigen Bau
des Schnabels (e). Und ſo laufen an den Fiſchen zwei
Paare (f) in die Naſe. Jn den Vierfuͤßigen giebt das
fuͤnfte Paar andre Aeſte von den Geruchsnerven der Na-
ſe (g). Jm Menſchen theilet eben dieſes fuͤnfte Paar der
Naſe eine zalreiche Menge von Aeſten mit.
Anfaͤnglich koͤmmt ein Aſt vom erſten Aſte des fuͤnf-
ten Paares, und deſſen untern Zweiges (h), indem er
die aus der Augenader ſtammende Schlagader (i) beglei-
tet, oder derſelben nahe vorbeiſtreicht, uͤber dem Sieb-
fache aus der Augenhoͤle nach der Hoͤle der Gehirn-
G g 3ſchale
[470]Der Geruch. XIV. Buch.
ſchale zuruͤkke, und nachdem derſelbe nach vorne zu den
Strich genommen, ſo trift er ein Loch von den vor-
dern Siebloͤchern an, durch dieſes ſteiget er in die Vor-
dertheile der Naſenſcheidewand (k), und auch in den obern
Schwammknochen (l), und in den Stirnſinus hinab (m).
Eben dieſer Aſt vereinigt ſich, nach dem Zeugniſſe eines
beruͤmten Mannes, mit dem erſten Paare (m*). Auch
die Thiere haben einen dergleichen Nerven bekommen (n).
Ferner ſo giebt der zweete Nerve des fuͤnften Paares,
an vielen Orten, der Naſe ſeine Aeſte. Darunter ſind
die vornemſten, die, welche der Fluͤgelaſt (o) ſelbſt aus
ſeiner Wurzel, mit welcher er aus dem Gaumenſtamme
heraus koͤmmt, von ſich ſtrekket, und welche neben der
vornemſten Naſenſchlagader, zu drei oder in groͤſſrer An-
zal (q) durch ein, oder mehrere Loͤcher laufen, welche
dem Gaumenknochen entweder eigen, oder ihm und dem
Keilknochen gemein ſind. Dieſe Nerven gehen nach dem
oͤberſten Naſengange. Wenn ich ſie weiter in der Naſe
ſelbſt verfolgte, ſo fand ich, daß ſie nach dem hintern
Theile der Naſenſcheidewand (r) gingen, und daß andre
in den obern Schwammknochen, und in die hintern Sieb-
faͤcher liefen (s), ſo wie es uͤberhaupt die Aeſte der Ne-
benſchlagader thun, Jm Menſchen ſind nicht nur eben
dieſe Nerven, ſondern auch die, welche ich jezzo nennen
werde, weich.
Dieſe giebt ebenfalls der Fluͤgelſtamm, doch aber an
ſeinem hintern Ende, und etwas tiefer, aus dem Kanale
ſelbſt durch Gaͤnge von ſich (t), welche zwiſchen der
Wurzel
(p)
[471]I. Abſchitt. Werkzeug.
Wurzel des Fluͤgelfortſazzes, und den Gaumenknochen
ausgetieft ſind, es giebt deren gemeiniglich drei, und es
hat ſie der vortrefl. Mekel(u) zuerſt beſchrieben. Sie
laufen nach dem hintern Theile der Naſenfcheidewand.
Die zur Trompete laufende Aeſte habe ich zu allererſt
geſehen (x).
Ferner theilt der unter der Augenhoͤle liegende Nerve,
ſo wie ſeine Nebenſchlagader (y) dem highmoriſchen
Sinus zween Zweige mit (z), darunter der groͤſſere (a)
uͤber die Wurzeln der Zaͤhne (b) ruͤkkwerts fortlaͤuft, und
dem hintern Zahnnerven begegnet (c).
Es laͤuft endlich zwiſchen den zalreichen obern Zahn-
aͤſten des Kinnladennerven, einer der vordern und
groͤſſern (d) durch einen Kanal, den er mit dem Schlag-
aderkanale (e) gemein hat, oder der doch nahe bei liegt,
vorne uͤber die Zaͤhne weg, er giebt dem highmoriſchen
Sinus Zweige, und haͤngt mit dem naͤchſtgemeldeten zu-
ſammen.
Doch es laufen auch Zweige aus dem vordern
Gaumenſtamme zur Naſe, und inſonderheit zum un-
tern Schwammknochen (f) nach dem mittlern Naſengan-
ge, und nach demjenigen Theile des obern Schwamm-
knochens, der dem Rachen nahe liegt.
Man mus eine genauere Geſchichte von den Nerven
innerhalb der Naſe ſelbſt, von der Geſchikklichkeit des
vortrefl. Mekels erwarten.
Jch weis nicht, wie es gekommen, daß man uͤber die
Salzfiguren, uͤber die Lichtſtralen, das Zittern der
Lufttheile, die feinſte Verſuche angeſtellt, Menſchen
aber, um die kleinen Koͤrperchen zu erkennen, welche in
uns den Geruch hervor bringen, ſo wenig neugierig
geweſen, daß man darinnen uͤberhaupt Ordnung und
Siſtem erſt jezzo feſte ſezzen mus. Dieſem zu folge will
ich einige Erſcheinungen, die ich hin und wieder geſam-
melt, zum Grunde der Erklaͤrung dieſes Sinnes, hier
beibringen. Es iſt naͤmlich nicht allein die Warheit von
allen Materien nuͤzzlich, ſondern ſie verdient auch in der
That, daß wir ſie lieben, ſo wie der Sinn des Geruches
zur Annemlichkeit des Lebens, zu unſrer Sicherheit, um
der Gefahr und ſelbſt dem Tode auszuweichen, wichtig
genung iſt, und uns nebſt dem Geſchmakke hilft, unter
Speiſen eine Wal anzuſtellen, und die Arzeneimittel ken-
nen zu lernen.
Die meiſten Koͤrper, und vielleicht alle kleine Koͤrper,
verlieren beſtaͤndig Theile, welche in die Luft ſteigen, und
ſich um den Koͤrper, von welchem ſie erzeugt werden, be-
wegen, dichter ſind, je naͤher ſie ſich an ſeiner Oberflaͤche
befinden, und ſich allmaͤlich in der Luft ausbreiten (a).
Dergleichen Ausfluͤſſe kommen aus den mehreſten Koͤr-
pern, auch ſo gar aus ſolchen, welche trokken und feſte
zu
[473]II. Abſchnitt. Werkzeug.
zu ſein ſcheinen (b), und man weis nicht, ob ein Koͤrper
irgend vorhanden ſei, welcher nicht Ausfluͤſſe von ſich
laͤſt. Denn die Koͤrper, welche am allerfeſten zu ſein
ſcheinen, werden dennoch von Reiben, von der Waͤrme,
von dem elektriſchen Feuer, und dem Brauſen widerwaͤr-
tiger Salze, von der Aufloͤſung durch ſcharfe Saͤfte, von
der Verbindung mit andern Koͤrpern gezwungen, ihre
Ausfluͤſfe fahren zu laſſen. Alles, was ich hier geſagt
habe, wird durch Verſuche beſtaͤtigt.
Die meiſten Metalle (c), die meiſten Steine, alle
Pflanzen, Hoͤlzer (d), und alle Thiere geben dergleichen
Ausfluͤſſe beſtaͤndig von ſich. Es ſind unendlich viel Koͤr-
per, von denen der beruͤmte Beccarius gewieſen, daß
ſie gerieben bei Nacht leuchten, und folglich eine leuch-
tende Atmoſphaͤr ausdampfen (e), ſonderlich leuchten die
haͤrteſten Steine und ſelbſt die Demanten im Finſtern
das verſchlukkte Licht wieder aus. Dieſe Ausfluͤſſe ſind
hoͤchſt zart, und ob ſie gleich aus einem kleinem Koͤrper
herruͤhren, ſo breiten ſie ſich doch in der Luft in einen groſ-
ſen Raum aus, und verſchiedne Koͤrper laſſen dieſe Aus-
fluͤſſe, ohne Abgang des Gewichtes, von ſich (f).
Die mehreſten von dieſen Ausfluͤſſen geben Geruch
von ſich. Jn der That thun dieſes die Metalle, wenn
man ſie reibt, ſie geben einen beſondern Geruch von ſich,
wie das Blei, Zinn, Eiſen (g) und Kupfer (h). Gold
zeigt von freien Stuͤkken keinen Geruch an, auſſer in ge-
wiſſen Aufloͤſungen, da es wie Rosmarin (i) oder Moſch
(k) angenehm riecht. So iſt Spiesglas (l), Wismut (m)
G g 5und
[474]Der Geruch. XIV. Buch.
und Arſenik (n) an ſich ohne Geruch, wenn ſie aber ins
Feuer gebracht werden, und man ihnen andre Sachen
zuſezzt, ſo ſtreuen ſie bald angenehme und wirkſame, bald
wieder ſehr ſtinkende Geruͤche aus.
Steine, ſie moͤgen ſo hart und rein ſein als ſie wollen,
ſind elektriſch (o), geben im Reiben einen Geruch von
ſich, welcher in der That in denjenigen Funken heftig iſt,
die ein Kriſtall, den man mit dem andern zuſammen
ſchlaͤgt, hervorbringt. Doch es riechet auch der gerie-
bene Marmor (p), und zwar heftig und unangenehm.
Alle Thiere, alle Pflanzen, ſind entweder offenbar
riechend, oder ſie enthalten doch eine Geruchsmaterie,
die das Feuer, und andre Mittel offenbaren. So gar
empfinden Hunde dieſe riechende Daͤmpfe von weiten,
unterſcheiden ſie genau, und ſie koͤnnen dadurch ein Thier-
geſchlecht vom andern, ſo wie ein einzelnes Thier unter-
ſcheiden (q).
Folglich mus man ſehr wenige Koͤrper aus der Klaſſe
der geruchgebenden Dinge ausſchlieſſen. Dieſes ſind erſt-
lich die vollkommenen feuerbeſtaͤndige Koͤrper, welche durch
kein Reiben, durch kein Feuer zu daͤmpfenden Ausfluͤſſen
werden. So iſt reine Erde, ſich ſelbſt uͤberlaſſen, ohne
Geruch und ohne Daͤmpfe; indem man den unangeneh-
men, oder angenehmen Geruch an einigen (r) einer frem-
den beigemiſchten Materie zuzuſchreiben hat.
Selbſt die Mittelſalze ſind ohne Geruch, obgleich das
Meerſalz, wenn man es an der Sonne auskochen laͤßt,
oder das Salz geſalzner Brunnen, wenn man es nach
meiner Art, damit zu verfahren, von den Sonnenſtralen
berei-
[475]II. Abſchnit. Werkzeug.
bereiten laͤſt, nach Violen riecht, und eben dieſes Meer-
ſalz, im Kohobiren einen Ambrageruch von ſich giebt (s).
Dieſes mus man von den beigemiſchten fremden Theilen
herleiten.
Unter die Dinge ohne Geruch zaͤlet man ferner das,
was zwar ausgedaͤmpfet und Ausfluͤſſe hat, aber ſo ſanf-
te duͤnſtet, daß ſeine Daͤmpfe unſere Geruchsnerven nicht
ruͤhren. Dergleichen ſind die Ausfluͤſſe von reinem Waſ-
ſer, und was im ſtaͤrkſten Froſte von Eiſe und gefrornen
Koͤrpern ausduͤnſtet (t). (u).
Die mehreſten Schriftſteller ſchreiben dem Brennba-
ren, oder entzuͤndlichen Theile der Koͤrper den Stoff des
Geruches zu. Wenigſtens iſt das, was dem Feuer zur
Nahrung dient, allezeit fluͤchtig, und geſchikkt in die Luft
aufzuſteigen, und dieſe Dinge riechen alle entweder von
ſelbſt, oder im Feuer. Auch ſind die Kalke oder Aſchen
von Thieren, Pflanzen und Metallen, aus denen man
das Brennbare durch die Gewalt des Feuers herausge-
trieben hat, ebensfalls ohne Geruch. Allein ich weis
nicht, ob man mit Zuverlaͤßigkeit alle andre Materie,
auſſer dem Brennbaren, von der Kraft zu riechen, aus-
ſchlieſſen koͤnne. Die Sauerſalze, ſowohl die minerali-
ſchen, als die, welche man aus dem Gebiete der Pflan-
zen hernimmt, haben oft einen ſehr kraͤftigen Geruch,
welcher mit dem ſauren Geſchmakke innigſt verbunden iſt,
und beinahe ſchon in der Naſe den Geſchmakk hervor
bringt. Dieſer Geruch hat von demjenigen nichts an
ſich, den das Brennbare dieſer Koͤrper, von deren
Saͤure wir geredet haben, von ſich giebt; indem der Eſ-
ſigdampf ganz anders als der Geruch des Alkohols iſt.
Das Glas ſcheinet die lezzte Verwandlung der irrdnen
Koͤrper
[476]Der Geruch. XIV. Buch.
Koͤrper zu ſein (x), das kein Feuer weiter veraͤndern kann,
und es wuͤrde nicht leicht ſein, nach einer ſo heftigen Ge-
waltſamkeit des Feuers, im Glaſe, welches aus einem
feuerbeſtaͤndigen Salze und aus Quarz gemacht worden,
irgend etwas Brennbares mehr zu erweiſen. Und den-
noch riechet ein geriebnes Glas ſtark (y) und unangenem,
da ich jezzo eben den Verſuch damit mache.
Diejenigen, welche ſchreiben, daß blos Koͤrper, die
an ſich elektriſch ſind, Geruch machen, muͤſſen ſich nicht
auf den Geruch der Metalle beſinnen, welche blos durch
Mittheilung elektriſch werden. Es iſt der elektriſche Fun-
ke kein brennbarer Stoff, ſondern ſelbſt ein Feuer, wel-
ches ſich oft, aber doch nicht notwendig, mit dem Brenn-
baren verbindet, und ſeinem Weſen nach vom Brennba-
ren weit unterſchieden iſt, indem das Brennbare ein ſol-
cher Stoff iſt, der vom Feuer gluͤhend gemacht, und zer-
ſtreuet wird (z).
Es iſt ſchwer, die Elemente des Geruchs rein und
blos darzuſtellen, da es oft mit dem Oele, bisweilen auch
mit dem Sauerfalze, oder fluͤchtigen Alkali, wenigſtens
doch mit einem elektriſchen Elemente, oder endlich mit
Waſſer verbunden iſt. Es iſt naͤmlich dasjenige waͤſſrig,
welches einem ſtark riechenden Spiritus, der die ganze
wohlriechende Kraft des Zimmetoͤls ausmacht, zum Fahr-
zeuge dient (z*): und Waſſer iſt es, welches die riechen-
de Duͤnſte von Menſchen und Thieren aufnimmt.
Wenigſtens iſt es bekannt, daß es ein hoͤchſt zartes
Element ſei, oder daß die Theilchen, welche in einem rie-
chenden Koͤrper, in einem faſt unendlich kleinen Raume
eingepakkt ſind, einem ſehr groſſen Plazz in der Luft ein-
nehmen, wenn ſolche ſich felbſt uͤberlaſſen werden. Wir
haben hievon viele Erfahrungen. Zwei Gran aufgeloͤ-
ſten Kamphers, erfuͤllen ein ganz Gemach mit ihrem Ge-
ruche, daß jeder Theil der Luft damit angefuͤllet iſt. Man
hat hieraus gefolgert, daß unſre Naſentheilchen, die nicht
groͤſſer, als \frac{1}{2263783000} eines Grans ſind, empfin-
den koͤnne (a). Der genannte graue Ambra duͤnſtet weit
und breit einen ſehr angenehmen Geruch aus, und den-
noch verlor derſelbe ganzer drei Tage lang nicht das min-
deſte von ſeinem Gewichte, und Teufelsdrekk nur ſehr
wenig in langer Zeit (b). Jch erinnere mich, daß ein
einziger Gran Ambra eine groſſe Menge Papier (c) mit
ſeinem Geruche durchdrungen, welchen er ganzer vierzig
Jahre lang noch an ſich behalten. Nun erwaͤge man,
daß es vierzig Diſputationen geweſen, denn dergleichen
waren es, die mir ehedem Johann Salzmann zum Ge-
ſchenke machte. Jede beſtand aus vierzig Seiten, und
wenn man einem halben Fus vor jede nimmt, ſo macht
es 8000 Fus aus, welche von dem Ambrageruche durch-
drungen waren, Dieſer duͤnſtete nunmehr 14600 Tage
lang in die Atmoſphaͤr aus, wenigſtens auf eine Dikke
z. E. eines Fuſſes, und alle dieſe Daͤmpfe verflogen bei
ihrer ſo groſſen Fluͤchtigkeit, alle Tage groͤſtentheils wie-
der. Man ſezze, es ſei der hunderſte Theil davon uͤbrig
geblieben, ſo wird man, nach gemachter Rechnung fin-
den, daß folglich ein Zoll Papier von dem \frac{1}{2691664000}
Theile eines Grans Ambra den Geruch angenommen.
Noch viel feiner iſt die koͤrperliche Ausduͤnſtung, wel-
che ein Hund ausſpuͤrt. Jener treue Hund, welcher aus
dem
[478]Der Geruch. XIV. Buch.
dem Schloſſe Altenklingen, nach Paris lief, und ſeinen
Herren unter dem Haufen entdekkte, folgte blos der Aus-
duͤnſtungsmaterie des Sanktorius, welche uͤber einem
Wege ſchwebte, der hundert Meilen lang oder 1500000
Fus breit war, wenn man zehn Fus dazu annimmt,
folglich eine Linie von 15000000 Quadratſus, und
2160000000 Zoll machte, welche man 144 mal nimmt,
weil der Geruch des Hundes, der in ſeiner Naſe einen
Eindrukk machen ſoll, wenigſtens eine Hoͤhe der Atmo-
ſphaͤr von zwo Menſchenlaͤngen ausfuͤllen mus; es wer-
den alſo 311040000000 kubiſche Fuͤſſe voller Geruch-
theile ſein. Nun iſt unſre Ausduͤnſtung beinahe Waſſer,
welches mit einem feinem und wenig Geiſte, den der
Menſch nicht vom Waſſer unterſcheidet, maͤßig vermiſcht
iſt. Es hatte der Menſch auf ſeiner dreitaͤgigen Reiſe (e),
auf welcher er nach Paris gekommen war, etwa 12 Pfun-
de Waſſer, und etwa 12 Gran an Geruchtheilen ausge-
duͤnſtet. Dieſe waren auf dem betretenen Wege auf tau-
ſenderlei Art wieder verflogen. Man ſezze, es waͤre
zwoͤlf Tage hernach noch der tauſende Theil davon uͤbrig
geweſen, ſo wird es, wenn man maͤßig rechnet, den
\frac{1}{2593005000000} Theil eines einzigen Granes betragen,
welcher eine Kubikzoll groſſen Flaͤche, auf dem nach Pa-
ris fuͤhrenden Wege, ſo wirkſam anfuͤllte, daß der Hund
ſeinen Herren aus dieſem Geruch erkennen konnte (f).
Folglich darf man ſich nicht wundern, oder es fuͤr
unglaublich halten, daß die Geier aus Aſien, um die
Koͤrper in der Pharſaliſchen Niederlage zu verzehren, zu-
ſammen geſlogen, oder daß Eulen in einer wuͤtenden Peſt
auf denen Haͤuſern ſizzen, deren Geruch von einer, in den
Kranken ſchon angehenden Faͤulnis, das von Aeſſern le-
bende Thiere herbeilokkt (g): oder daß man die Kuͤſte
Spani-
[479]II. Abſchnitt. Werkzeug.
Spaniens (h) und des alten Arabiens (i), oder die von
Sumatra (k), oder Ceilon (l) ſchon von weiten, und auf
vierzig Meilen (m) an dem Gewuͤrzgeruche erkennen koͤn-
nen. Eine gewiſſe Frauensperſon konnte, ehe noch ein
Ungewitter ausbrach, ſchon den Schwefelgeruch in der
Luft empfinden (m*).
So zart auch dieſe Materie immer ſei, ſo mus man
ſie doch fuͤr dikker, als das Licht, die Waͤrme, die magne-
tiſche Materie, und die Materie der Elektricitaͤt halten,
indem dieſe Elemente durch Glas dringen, und der Ge-
ruch im Glaſe eingeſchloſſen bleibt (n). Vielleicht wuͤrde
aber auch dieſe Geruchsmaterie, wofern ſie nicht von ih-
rem Waſſer und Oele, und deren anziehenden Kraft ge-
bunden waͤre, auch dieſes Gefaͤngnis durchbrechen. Das
fluͤchtige Urinſalz und der mit Vitrioloͤl gemachte Salpe-
tergeiſt dringen auch durch Glaͤſer durch (o).
Es iſt den Elementen mehrentheils weſentlich, da ihre
Theile aͤuſſerſt zart ſind, daß ſie auch deſto wirkſamere
Kraͤfte beſizzen, je feiner ihre Stoffe ſind; wir haben
davon am Feuer und dem Elemente der Elektricitaͤt ein
Exempel. Eben ſo groß ſind auch die Kraͤfte derjenigen
Materie,
[480]Der Geruch. XIV. Buch.
Materie, welche den Geruch verurſacht, und ſie enthaͤlt
uͤberhaupt die beſondern Kraͤfte derer Koͤrper ganz, in
welchen ſie anzutreffen iſt, ſo daß ihre beſondre Kraft,
nach Zerſtoͤrung dieſes Elements voͤllig verſchwindet.
Man hat davon an Dingen Exempel, welche offnen
Leib machen, Verzuͤkkungen erwekken, an den einſchlaͤfren-
den, giftigen, krafterſezzenden, und toͤdtenden Mitteln,
die den Menſchen, man weis nicht auf welche Art, ploͤzz-
lich ums Leben bringen. Von den Purgiermitteln hat
bereits J. Nicolaus Pechlin(p) die Salze erklaͤrt. Und
es iſt gewis Niemand, der nicht dieſen eke haften Geruch
der Sennesblaͤtter, des Rhei, und ſelbſt der Jalappa,
der noch feiner iſt, ſcheuen ſollte, ſo bald er nur ihre
Kraͤfte erfahren hat. Ein jeder ploͤzlicher und heftiger
uͤbler Geruch erregt ſo gleich Ekel und Erbrechen, ſo wie
der Geruch des deutſchen Jngwers (arum) und des Bil-
ſenkrautes (hyoſciamus) (p*). Doch hat man auch
Exempel, daß ſchon der bloſſe Geruch des geriebenen
hellebori(q), des rhei(r), Tabaks, der Koloquinten (s)
(Eſelkuͤrbiſſe) (t) des Spiesglaſes (u), der bleichen Ro-
ſen (u*), der pilularum cochiarum(x), und verſchied-
ner Arzeneien uͤberhaupt (x*) offnen Leib gemacht, und
hiermit hat es eben die Beſchaffenheit, als mit den Pul-
vern vom Scammoneo, der jalappa, und dem rheo,
wenn dieſe liegen, und nach Verfliegung dieſer Kraͤfte
allmaͤlich unwirkſam werden (y).
Da alſo dasjenige hoͤchſt zart iſt, welches dieſe beſon-
dre Thaͤtigkeit hervorbringt, ſo verrichtet es auch bei oͤf-
terer Wiederholung dennoch groſſe Dinge, und dabei ver-
ringert ſich ſein Gewichte entweder ganz und gar nicht,
oder doch nur um ein ſehr geringes (z).
Jedermann weis, daß an zarten Frauensperſonen,
und bisweilen auch an Mannsperſonen, deren Nervenbau
zart iſt (a), Kraͤmpfe und Ohnmachten von dem ſonſt an-
genemen Ambrageruche, von Moſch, und ſo gar von
Roſen erfolgen: und ich wuͤrde die Menge der Exempel
niemals erſchoͤpfen, wenn ich alle die Jdioſincraſien anfuͤhren
wollte, welche machen, daß ein verhaßter Geruch, wie
von Roſen (b), von Kazzen, die man nicht einmal zu Ge-
ſichte bekoͤmmt (c), von Kaͤſe (d), Obſt (e) und Fledermaͤu-
ſen, den ganzen Koͤrper angreift (f). Jch uͤbergehe, was
wir von den kleinen Apfelkuͤrbiſſen, den Haſen, Voͤgeln (g),
von der Jalappa, dem Huͤnerfleiſche, Fiſchen, Heeringen (h);
der
H. Phiſiol. 5. B. H h
[482]Der Geruch. XIV. Buch.
der Buttermilch, gekauten Papiere (i), Maͤuſen (i*),
Violen (k), Nachteulen (l), Ferkeln, Pflaumen (m) und
unzaͤlichen andern Dingen bei den Schriftſtellern leſen (n),
wobei der Geruch, wofern es kein Scherz geweſen, die
Hauptſache ausmacht.
Nicht nur an Frauensperſonen, ſondern auch an den
ſtaͤrkſten Mannsperſonen bringen die ſcharfen Geruͤche ein
uͤbermaͤßiges Nieſen hervor (n*).
Wir wollen von der Gewalt der Gifte etwas weniges
mit anfuͤhren: es iſt das Beiſpiel der Klapperſchlange
ſehr bekannt, welche nach einſtimmigem Berichte der Rei-
ſebeſchreibungen nach dem noͤrdlichen Amerika, die Voͤgel,
Maͤuſe, und Eichhoͤrner veranlaſſen ſoll (n**), ſich in
ihren Rachen, ob ſie gleich ſtille liegt, zu werfen. Man
ſchreibt, daß ſie einen heftigen Geſtank ausduͤnſte (o),
andre wollen, daß ſie, waͤrend ihrer Bezauberung, nach
Moſch riechen ſoll (p). Wenn an dieſer Geſchichte was
wahres iſt, ſo mag dieſer Geruch, der heftig iſt, bei dem
elenden Thiere vielleicht dergleichen Uebel anrichten,
als die ebengedachte ſtarke Geruͤche dem Menſchen zufuͤ-
gen. Eine Wieſelart maritacaca verurſacht, blos durch
ihren haͤslichen Geſtank (q), Ohnmachten, und ſie ſcheint
mit dem, vom Kalm(r) beſchriebnen Stinktthiere einer-
lei zu ſein. Boerhaave(s) pflegte, wie ich jezzo ge-
funden, nach dem Delrius(t), zu erzaͤhlen, daß wenn
man
[483]II. Abſchnitt. Werkzeug.
man Kroͤten und Nattern in Trummeln einſperre, dar-
auf mit Stoͤkken ſchluͤge, und dadurch dieſe Thiere zu der
aͤuſſerſten Wut braͤchte, ihr Geruch einen ploͤzlichen Todt
verurſacht habe.
Auch andere Arten von groſſen Geſtanke haben einen
ploͤzzlichen Todt (u) nach ſich gezogen, ſonderlich die, wel-
che von einer Faͤulnis entſtanden. So erfolgte vom Ge-
ſtanke eines verfaulten Ochſen (x) ein ſchneller Todt, ſo
wie vom Geruche todter Koͤrper (y), vom Zuſammenfluſſe
des Auswurfſchlammes (z) u. ſ. f. Die Alten glaubten,
daß Koth, der vom Gifte angegriffen ſei (a), einen ſolchen
Geſtank hervorbringe, welcher die Umſtehenden toͤdtete,
und man koͤnne Briefe oder Handſchue mit ſehr durch-
dringendem Gifte verſehen (b), davon ſind viele die es
glauben. Es ſtarb jemand vom Arſenikdampfe (c), den
derſelbe in die Naſe zog, ohne daß andre Zufaͤlle dazu
gekommen waͤren. Man ſagt, Dippel habe eben dieſes
Schikkſal gehabt, der ſich in ſeinen Schriften den Na-
men Chriſtiani Democriti gegeben hat.
Einſchlaͤfrende Kraͤfte haben angezuͤndete Kolen, der
Wein, die Alraunwurzel (mandragora) (d), einige Ge-
wuͤrze, und beſonders der Saffran (e); denn man lieſet,
daß derſelbe, wenn man ihn in Menge eingeſammelt,
die Menſchen und ſo gar die Pakkeſel (f) eingeſchlaͤfert.
Auch ſtark wohlriechende Dinge ziehen uns Beſchwerun-
gen zu, und es beraͤucherten einige Schiffer, welche vor
H h 2der
[484]Der Geruch. XIV. Buch.
der Kuͤſte Arabiens vorbei ſeegelten, weil ſie ſich fuͤr dem
zu heftigen Geruche der Gewuͤrze fuͤrchteten (g), ihre
Schiffe mit Harz. Man lieſet, daß Seefahrende vor
kurzem von dem heftigen Geruche der Gewuͤrze (h), das
Leben verloren, und es lehren die Verſuche, welche ein
beruͤmter Mann vor kurzem gemacht hat (i), wie gefaͤrlich
der Geruch von ſehr angenehmen Pflanzen den Voͤgeln
ſei, und wie ſchnell er dieſelbe toͤdte.
Mit beſſerm Gluͤkke wendet man die Geruͤche bei
denjenigen Menſchen an, welche wie todte anzuſehen,
und faſt wirklich todt ſind, wofern man ihnen nicht mit
dergleichen Mitteln zu Huͤlfe kaͤme, welche, ſie geſchwin-
de wieder zu ſich ſelbſt zu bringen, die Kraft haben. Er-
trunkene, die man wie Todte auf das Ufer zieht, brachte
der Geruch vom Salmiaksgeiſte (k), aus der tiefſten Ohn-
macht wieder zum Leben. Und die Erfahrung iſt bekannt,
daß man Frauensperſonen, die hiſteriſch ſind, mit ſtin-
kenden Geruͤchen, aus der Ohnmacht wieder zu ſich ſelbſt
bringt (l).
Die Alten haben die Anmerkung gemacht, daß Ge-
ruͤche eine naͤhrende Kraft beſizzen, und man lieſet vom
Demokrit, daß ihn ſeine Schweſter einige Tage mit dem
Geruche des friſchen Brodtes erhalten habe, damit er
nicht waͤrend der Feſttage verſtuͤrbe. Hippokrates be-
fielt uͤberhaupt, Perſonen, welche eine ſchnelle Erholung
noͤtig haͤtten, durch den Geruch zu erquikken (m).
Von der Jnſel Ternate lieſet man, daß ſie nach Aus-
rottung der Gewuͤrznelken (n) geſunder zu bewonen ge-
worden.
Jch verſuche hier einen leichten Schattenriß von einer
Eintheilung zu geben, in welcher viele Dinge aus der
Chemie und den Thieren nicht bekannt genung ſind,
und bei welcher die Entſchuldigung ſtatt findet, daß man
von den Geruͤchen, als Jndividuis, niemals, wie von
andern Sinnen wohl, Klaſſen und Arten geſammelt hat.
Jndeſſen kann man doch einigermaaſſen hoffen, daß man
mit der Zeit einige Klaſſen und Verwandſchaften der
Geruͤche feſte ſezzen werde, da man auch ſchon jezzt aus
einigen Exempeln weis, daß es Geruͤche giebt, die aus
den Metallen, Thieren und Pflanzen hergenommen wer-
den, und dennoch ſehr mit einander uͤbereinſtimmen.
Wir haben erwaͤhnt, daß der Moſchgeruch in einigen
Goldaufloͤſungen angetroffen werde: dieſen trift man in
der That in einem Thiere, und im Saamen einer Art
von Pappelroſen (malva) an, von dem man offenbar
ſagen mus, daß er aus einerlei Art beſtehe, ob man ihn
gleich aus verſchiednen Naturreichen hergenommen. Der
wiederliche Knoblauchsgeruch dampft nicht nur aus ver-
brannten Arſenik, ſondern auch aus einigen Thieren aus.
Kalms Americaniſches Stinkthier giebt einen ſolchen,
doch noch ſchlimmern Geruch, als das Kraut Roberts,
Storchſchnabel (geraninm Robertianum, Gottesgnade)
genannt, von ſich. Man findet den Violengeruch im
Meerſalze, in dem harzlichem (Lichen Hercynius) und
in dem vom Terpentin veraͤnderten Urin. Der Saff-
rangeruch offenbaret ſich in den martialiſchen Floribus des
Salmiaks. Einige Jnſekten riechen nach Roſen. Den
ſtinkenden Wanzengeruch merkt man am Koriander, im
Knabenkraute (orchis), den Bokksgeruch am Knaben-
kraute, den Geruch des Mannsſaamens an den Kaͤzzchen
H h 3oder
(n)
[486]Der Geruch. XIV. Buch.
oder Blumenzapfen des Kaſtanienbaums, an der Blume
des Knabenkrautes und deſſen Wurzel; den Geruch der
weiblichen Schaam und der Heeringe in der ſtinkenden
Melte (vulvaria) und den Aasgeſtank an der Stapelia.
Es ſei alſo unter den wohlriechenden Geruͤchen der erſte,
der Moſchgeruch, mit welchen der Geruch der Ziebethiere
viel Aenlichkeit hat. Er hat ſeinen urſpruͤnglichen Sizz in
dem thieriſchen Talge, den die Druͤſen in ein Behaͤltnis
ausſchuͤtten, worinnen er aufbehalten, und bis auf einen
gewiſſen Grad faul wird. Es iſt naͤmlich der Moſch
ſelbſt dergleichen ſchmierig Weſen, das ſowohl im Moſch-
thiere (o) als in der Zibetkazze, im Krokkodile, Beutel-
thiere (p), im Schmerlfiſche (q), vom einerlei Geruche
angerroffen wird. Doch es riechet auch der auf Aekker
ausgeſtreute Miſt (r), ſonderlich in der erſten Winterkaͤl-
te, ſo wie der Koth der Schlangen (s) des Krokodils (t),
die Eule, dieſer haͤsliche Vogel (u), der durch Ausdaͤm-
pfung verdikkte Urin der Kuͤhe (x), die trokkne Schaam
der Kuh (y), die Galle (z), wenn man ſie einige Monate
lang digerirt, wie auch deren, Kraft der Faͤulnis im
Waſſer niederſinkender Bodenſazz, das Ochſenblut, der
Morgenſchweis eines geſunden Menſchen, auch an mir
ſelbſt, und digerirter Kohl nach Moſch. Wie alſo dieſer
Geruch bei Abnehmen der Faͤulnis wohlriechend wird,
ſo riecht friſcher Moſch ſo unangenehm, daß man davon
ein Naſenbluten bekoͤmmt (a), und er entſteht dagegen,
wenn wan das faul gewordne Fleiſch der Krokodile dige-
rirt (a*). Eben ſo wenig kann man an einer lebendigen
Zibet-
[487]II. Abſchnitt. Werkzeug.
Zibetkazze den Geruch ausſtehen (b). Die branſtigen
thieriſchen Oele, riechen, wenn man ſie rectificirt, ange-
nehm (c). Wenn der Athem nach Moſch oder Bieſam
riecht, ſo iſt dieſes ein Zeichen einer bevorſtehenden Krank-
heit (d).
Dieſem Moſch oder Bieſamgeruche kommen die Koͤr-
ner des hibisci, die Blaͤtter des Moſchſtorchſchnabels, der
Moſchrhapontik, des cardui nutantis, des Alpenmohns,
des Bieſamkrautes (moſchatellina) der monotropa, der
Bieſamſkabioſe, ſo wie an verſchiednen Pappelroſen
(malva) Z. E. der Portugieſiſchen, und der, welche an
der Sonne ſchimmert, bei. Wenn man ein Mengſel von
ſagapeno, galbano, Opopanax, und Judenharze macht,
ſo nimt daſſelbe einen Moſchgeruch an ſich (e). Wir ha-
ben bereits erwaͤhnt, welche Mineralien nach Moſch rie-
chen (f).
Der Ambrageruch findet ſich ſowohl an der grauen
Art von Harze, als auch in einem andern, welches uns
Boerhaave unter dem Namen von Bernſtein zeigte,
und welches man aus Afrika gebracht haben wollte.
Einen aͤnlichen Geruch haben dioſina, die Beeren
der wahren Syriſchen Balſamſtaude (carpobalſamum) fau-
le Aepfel, und unter den Bergarten Ungariſcher Vitriol,
der oͤfters mit Salmiak gefaͤllt worden (g).
Ein andrer ſaffranartiger Geruch offenbart ſich unter
den Mineralien, an den mit Eiſen verſezzten floribus des
Salmiaks.
Ein andrer harziger von allerhand Art koͤmmt vor im
Kampfer, im Aethiopiſchen Oelbaumharze (elemi) im
Fichtenharze, chamaepitii, Rosmarin, Volcameria, in
H h 4der
[488]Der Geruch. XIV. Buch.
der afrikaniſchen Ringelblume (calendula) und einigen
Storchſchnabelkraͤutern. Dergleichen bringt auch die
obengedachte Goldaufloͤſung hervor (i).
Ein andrer herzſtaͤrkender Geruch ſtekkt in der Sal-
vei und Muͤnze.
Auf andre Art duͤnſtet aus dem Benzoinharze, Sti-
rax, und Peruvianiſchen Balſame ein balſamiſcher Ge-
ruch aus.
Nach Lavendel riechen Jſop, Thimian, Majoran,
Diktam, Wohlgemut (origanum) und andre Stauden
mit Blumen in abgetheilten Reihen um den Stengel.
Aromatiſch angenem riecht der Zimmet, feurig die
Gewuͤrznelken, Nelkenbluͤhte, und etwas ſchwaͤcher die
Sommerwurzel (orobanche).
Scharf iſt er im Pfeffer, und den Pfefferarten, dem
Jngwer (amomum) Lorbeeren, Holwurzel (ariſtolochia)
Haſelwurzel (aſarum). Unter den Magenſtaͤrkungen
koͤmmt derfelbe vor im Kalmus (acorum), als ein fetter
in der Moſchatennuß, und Blumen; fein in der Zitro-
nenſchale, Ceder und Meliſſe.
Anders zeigt er ſich im Obſte, und dergleichen em-
pfindet man an den Blaͤttern des Afrikaniſchen roten
Strochſchnabels, und der roſae eglanteriae, ſo wie des
ſchmierigen melampyri, (Waldweizen) und wenn man
Weingeiſt mit Salpetergeiſt zuſammen gieſt (k)
Anders iſt der Geruch an den Erdbeeren, und Hind-
beeren.
Damit verwandt, aber ſchwaͤcher iſt der Geruch der
wohlriechenden Violenwurz von der Schwerdtlilie, der
Geruch der Violen, des durch Rußland zu uns gebrach-
ten Thees, und des roten Steinflachſes aus den Steinen
des Harzes, des ſcari(l), der Melonen (m), des vom
Ter-
[489]II. Abſchnitt. Werkzeug.
Terpentin durchwitterten Urins. Wenn der Urin vom
ſelbſt nach Violen riecht, ſo hat man eine Krankheit zu
befuͤrchten (n).
Eine andre Art von ſtarken Geruch koͤmmt von der
Bluͤhte der Orangenbaͤume, und des gemeinen weiſſen
Diptams (fraxinella).
Einen andern ſuͤſſen Geruch macht die Roſe, die Ro-
ſenwurzel (radix rhodia) lathyrus roſeus, ſalix perſica,
das Wollkraut (verbaſcum) und ein Jnſekt vom Ge-
ſchlechte der Jchnevmonsfliegen (o).
Ein andrer Liliengeruch entſteht von der Lilie, Tube-
roſe, blauen Schwerdtlilie, Pflaumen und Weinſtoͤkken.
Dergleichen doch ſtaͤrkerer und angreifender koͤmmt von
der Narciſſe mit Binſenblaͤttern, polyanthe tuberoſia,
Jaſmin, Arabiſchen Jaſmin mit dem Orangenblate,
(nyctanthe) Levkoien, einigen Pfriemkraͤutern (geniſta)
dem lathyro ſiculo und heliotropio.
Ein andrer ſanfter und zarter iſt verſchiednen Alpen-
gewaͤchſen, der primulae, Aurikel, dem lilio convallio
(Maiblumen) dem wohlriechenden polygonato, dem Sei-
delbaſte (thymella) der Linde, dem Saubrodte (cycla-
men) der Hiacinthe, und vielen andern Blumen gemein.
Anders aͤuſſert er ſich an den Umbellenfoͤrmigen Blumen
der Angelike, an der Meiſterwurzel (imperatoria), trago-
ſelino (Pimpinell), Aniſe, und an den Wurzeln des la-
ſerpitii, und des oreoſelini.
Ein andrer ſtarker an dem Baldrian (valeriana) an
der ſpica celtica (welſche Spik) Baͤrenfenchel (meum)
ſiler, Dill und Kuͤmmel.
Ein beifusartiger Geruch (artemiſiacus) koͤmmt vor
an wohlriechenden achillea, am Wermute, abrotano,
Beifuſſe, und dem wohlriechenden chamaemelo.
Ein andrer trokkner, etwas angenehmer iſt im Stern-
kraute (gallium) Geisbarte (ulmaria) Holunder, und
dem Sternleberkraute (aſperula matriſylva).
Unter dieſen Klaſſen ſind einige ſehr aͤnliche und ſehr
unaͤnliche Geruͤche begriffen, doch ſo, daß ſie einige ge-
meinſchaftliche Merkmale an ſich haben.
Es herrſcht das Oel vor in den Ambrageruͤchen, und
den gewuͤrzhaften.
Harz in den Harzen, und hizzigen Balſamen.
Waͤſſriger ſind der Violen, Rofen, Safran, Lilien
und derjenige Geruch, welchen ich den ſanften Wohlge-
ruch genannt habe.
Mehrentheils geben Thiere einen wiederlichen Geruch,
die bieſamartigen ausgenommen, von ſich. Wir nehmen
wenige Jnſekten aus (p). Man hat von Alexander dem
Groſſen, von der von Stephan Blankaard angefuͤhrten
Frau (q), und von einer andern, von der Camerarius
Nachricht giebt, Exempel, daß auch aus Menſchen ein
angenehmer Geruch ausduͤnſtet (r).
Sehr angenehm iſt der Geruch der vom Alkohol aus
dem Pflanzenreiche, und aus den Foßilien von der Saͤure
des Vitriols zuſammengeſezzt iſt. Die uͤbrige wenige ha-
ben wir bereits beruͤhrt.
Was man nicht eigentlich zur Klaſſe der Wohlriechen-
den rechnen kan, davon hat man verſchiedne, darunter
die meiſten angenehmer, als unangenehm ſind.
Hieher rechne ich den ſpirituoͤſen Geruch des Alkohols,
den ſauren Geruch des Weins und Eßigs; denn es hat
ſchon die mineraliſche Saͤure einen heftigen Geruch.
Angenehm branftig iſt der Geruch des geroͤſteten Kaf-
fees, und des geroͤſteten Brodts, der Geruch der Huͤl-
ſenfruͤchte, ſonderlich der Geruch der Bohnenbluͤhte, wel-
cher faſt unter die wohlriechende mit gehoͤrt, wilder rie-
chen die Erbſen, und andre Saamen von Papilionfoͤrmi-
gen Blumen.
Der Mehlgeruch, dem viele Schwaͤmme aͤnlich ſind,
und darunter der Geruch des friſchen Brodtes eine An-
nehmlichkeit bei ſich fuͤhrt.
Bitter iſt der Geruch des Wermuts.
Zum Befoͤrdern der monatlichen Reinigung dient der
Geruch des Poleis (pulegium) des Mutterkrautes, und
des ſtinkenden chamaemeli.
Kreſſgeruch ſtekkt in der Kreſſe, im Loͤffelkraute, in
dieſem ganzen Geſchlechte, ſo wie in der marchantia.
Ein wilder Kuͤrbisgeruch, in den Geſchlechtern der
Kuͤrbiſſe, welcher ſich in der Melone mit einem Ambra-
geruche vereinigt.
Krautgeruch liegt in der roten Ruͤbe, im roten Hah-
nenkamme (blitum) in der Melde (atriplex) Boragen,
und der Ochſenzunge (bugloſſum).
Der Grasgeruch.
Der fuͤſſe Geruch der Feige, des Honigs, des rohen
Zukkers, iſt von verſchiedner Art, doch etwas angenehm.
Der Geruch des Bieres.
Der ſtarke, nicht unangenehme Geruch der Wall-
nuͤſſe.
Unter den Wolluſt erwekkenden, der Geruch des
Knabenkrautes (orchis) der Kaͤzzchen an den Kaſtanien,
und des maͤnnlichen Thierſaamens.
Der Geruch des griechiſchen Heues (foenum grae-
cum) des Steinklees (melilotus).
Der ſtarke Geruch des gale, und roſtigen ledi (wilde
Rosmarin.
Uebel und misfaͤllig riechen faſt aller Thiere Ausduͤn-
ſtungen, ſo wie der Urin, die Milch, der Koth, und
Schweis. Doch hat jedes Thier noch ſeinen beſondern
Geſtank an ſich.
Uebel riechen faſt alle mineraliſche Geruͤche, darunter
einige ſehr ſtinken, als ein angebrannter Arſenik, aufge-
loͤſtes Eiſen, und des im Alkali zerflieſſenden Schwefels.
Vor andern iſt der Geruch, um mich in die Arten ein-
zulaſſen, ekelhaft von verfaulten, oder faulen Koͤrpern, der
ziemlich einerlei iſt, er mag aus einem verfaulten Thiere,
oder von vermodernder Pflanzen herruͤhren. Unter den noch
friſchen Vegetabilien duͤnſtet einen Leichengeruch aus die
ſtapelia, ſo daß die blauen Fliegen dadurch betrogen wer-
den, und ihre Eier in die Blume derſelben, als in ein
Aas legen. Mit dieſem koͤmmt der Geſtank des phalli
ſehr uͤberein.
Stinkend iſt der Geruch der Arten des Kothes, welche
noch nicht verfault ſind, beſonders aber der Koth von
fleiſchfreſſenden Thieren. Unter den Pflanzen duͤnſtet die-
ſen Geruch aus das Geſchlecht der Baumſchwaͤmme, und
einige Hoͤlzer in Jndien.
Stinkend iſt der ranzige Geruch des verdorbnen Trah-
nes, und des Fettes andrer Meerthiere, der Voͤgel, wel-
che ſich von Fiſchen ernaͤhren; ſtinkend und ekelhaft von
anderm Fette, welches alt und von der Zeit verdorben iſt,
ſo wie der Geſtank auſſerordentlich von dem Kothe derer-
jenigen iſt, welche Fettigkeiten ſchlecht verdauen.
Eben ſo uͤbel riechen auch faule Eier.
Jn dieſen Arten von Geſtanke ſtekkt gemeiniglich eine
Art von Gifte, ſie erregen ein Erbrechen, welches oft
hartnaͤkkig iſt, und ſie machen Entzuͤndung an den Au-
gen (s).
Unangenehm iſt der Geruch des Kaͤſes, und von ver-
moderten Knochen, und es hat der Geruch des Krautes
der blauen Heidelbeeren (myrtillus) einige Aenlichkeit
damit.
Unter den Thieren ſtinket der Bokk und einige Schlan-
gen. Dem Bokksgeſtanke koͤmmt eine gewiſſe Art des
Knabenskrautes und das ſtinkende Ruͤhrkraut (gnapha-
lium) nahe.
Zum Wanzengeruche gehoͤret friſcher Koriander, und
das Knabenkraut (orchis) deſſen lateiniſcher Name vom
Geruche entſtanden iſt.
Unangenehm iſt der Knoblauchsgeruch, dergleichen
man auch an der Kroͤte und in gewiſſen ausartenden Foſ-
ſilien bemerkt, ſo wie am Knoblauchskraute (alliaria) am
kleinen Schierling, an der lantana, chara dem Teufels-
drekke (aſa foetida) (t). Verwandt damit ſind das ſtin-
kende Gummi des galbani, und Sagapeni. Es iſt bei
dieſem Geruche das Sonderbare, daß er ſtark und lange
Zeit, ſo gar dem Athem und der Ausduͤnſtung derjenigen
Menſchen anhaͤngt, welche ſich dieſer Pflanzen bedienen.
Der Jltisgeruch, der Geruch des Kazzenurins, wel-
cher in dem Rupertskraute (geranium Robertianum) ge-
linder iſt, und zugleich mit dem ſchwarzem Johannesbeer-
ſtrauche und der ſtinkenden Wieſenraute (thalictrum) viel
Aenlichkeit hat.
Gelinder iſt der hiſteriſche Geruch der lamii, der tau-
ben Neſſel (galeopſis) einiger Salveiarten, der cattaria-
rum, des ſchwarzen Andorns (ballote).
Zart, aber wirkſam iſt das Gift der Pfingſtroſe
(paeonia) der Nieſewurz, der weiſen Nieſewurz (vera-
trum) des Schierlings, des Eiſenhuͤtleins (aconitum) des
Ritterſporns mit Eiſenhutblaͤttern (delphinium) des Spa-
niſchen Schotenpfeffers (capſicum) der Schwalbenwurz
(aſclepias) der Jalappe, des Flachskrautes (linaria) des
Wald-
[494]Der Geruch. XIV. Buch.
Waldweizen (melampyrum) und beinahe der ganzen
Klaſſe der didynamiae diangiae in der Kraͤutereinthei-
lung.
Heftiger iſt das Gift in der Afrikaniſchen Sammet-
blume (tagetes) in den Liebesaͤpfeln (lycoperſicum) in den
Sennesblaͤttern, in der ſtinkenden caſſia, in der roten
aufgeworfenen Lilie, in der Kiebizblume (fritillaria) und
der Kaiſerkrone. Auch dieſer Geruch deutet eine giftige
Natur an.
Einen unangenemen Poͤkelgeruch (muria) haben die
Schwaͤmme, viele friſche Meerfiſche, und ihm iſt die
Heeringslake verwandt; dergleichen duͤnſtet auch das Kraut
Gaͤnſefuß aus (chenopodium fœtidum).
Narkotiſch iſt der Geruch der Hundezunge (cyno-
gloſſum) des lithoſpermi in den Apotheken, der Alraun-
wurzel (mandragora) und noch beſchwerlicher iſt er im
Bilſenkraute und Tabake.
Der Opiumsgeruch koͤmmt im Opio und ſtachlichen
Laktuk vor.
Harzig iſt er im Harze, in der in ſandige Steine
eingedrungnen Naphta, wovon die fabelhafte Felſen um
Chavornay voll ſind. An einigen Arten der paſſiflora,
des Klees, der Wallwurz (ſolidago) des Hauhechts
(anonis) bemerkt man etwas aͤnliches, ſo wie am Biber-
geil. Es misfaͤllt uns auch der modrige Geruch des fuci,
des Meergraſes (alga) der Sumpfgewaͤchſe, des Meerkal-
bes (phoca).
Scharf iſt er an der Raute, den Schwaͤmmen, des
ſchleimigen Erdmooſſes (mucor) an friſchen Leichen, an
mancher Menſchen Athem, und im giftigen Geruche der
Berggruben.
Wir verſtehen von dieſer Urſache ſehr wenig, und es
hat ſich Niemand gefunden, welcher dem fleißigen Robert
Boyle
[495]II. Abſchnitt. Werkzeug.
Boyle darinnen nachgefolget waͤre. Wenn wir indeſſen
uͤberhaupt entweder das Leben und das langſame Fortwach-
ſen der Pflanzen, oder der Thiere betrachten, ſo finden wir,
daß die erſten Anfaͤnge beider Geſchlechter gemeiniglich
im maͤnnlichen Saamen einen ſumpfen (fatuus) mehligen,
oder wenigſtens doch Wolluſt erwekkenden Geruch beſiz-
zen, welcher mit dem mehligen Weſen etwas hizziges ver-
bindet. Derjenige iſt nur zart, welchen ich an den erſten
Grundzuͤgen der Voͤgel bemerkte, da ich ihrer Bildung
nachſpuͤrte; und er iſt gleichfals zart, oder uͤberhaupt
gar nicht vorhanden in dem Saamen der meiſten Baͤume,
und in dem Keime dieſer Saamen.
Das Leben der Thiere bekoͤmmt einen Zuwachs von
wirkſamen Veraͤnderungen, Pflanzen genieſſen auſſer einer
waͤſſrigen Narung und der Saame kaum etwas mehr.
Und dennoch kommen aus dieſem geruchloſen Mehle
des Nelkenſaamens allmaͤlich Blumen hervor, welche einen
kenntlichen Kraͤutergeruch beſizzen, um bei einem einfaͤlti-
gen Exempel ſtehen zu bleiben. Allmaͤlich entwikkelt die
angeneme Waͤrme, ſonderlich von der Sonne an dieſen
Blumenblaͤttern nach der gruͤnen Farbe die weiſſe, nach
der weiſſen einen lebhaften Purpur und die Natur ſtreuet
zu gleicher Zeit nebſt der Farbe durch die Blaͤtter ein ſehr
angenehmes Gewuͤrze aus, welches nunmehr ganz was
neues iſt, dergleichen weder im Saamen noch in dem
Safte war, von welchem die Pflanze ihr Wachstum er-
hielt, und welcher blos waͤſſrig haͤtte ſein koͤnnen. Man
ſiehet, daß aus Waſſer und ſehr wenig Mehl mittelſt der
Waͤrme gewuͤrzhafte Geruchstheile erzeugt werden, ob-
gleich keine fremde Urſache dazu gekommen.
Jm Menſchen theilet eben dieſe Waͤrme dem geruch-
loſen Waſſer zwar keinen angenemen, aber doch ſtarken
Geruch mit, ſo hat z. E. der friſche Schweis an der
Schaamſeite, welcher ſich an einer geſunden und ſchoͤnen
Frauensperſon eben einfindet, nichts als einen ſumpfen
Geruch
[496]Der Geruch. XIV. Buch.
Geruch und das Anſehn eines weislichen etwas undurch-
ſichtigen Waſſers. Bleibt dieſer Schweis in der Falte
der Weichen ſizzen, und haͤuft er ſich daſelbſt, wie ge-
woͤnlich, oder in einer andern Falte an, ſo nimmt er
in kurzer Zeit einen durchdringenden unangenemen Ge-
ruch an ſich, der keinem andern Geruche aͤnlich iſt, ohne
nur, daß er mit dem elektriſchen Funken, ich weis ſelbſt
nicht, was uͤbereinſtimmendes hat. Es wirkte die Waͤr-
me in dieſes Waſſer, ſie machte die ſanfte Theile fluͤchtig,
und ſie fuͤgte ihnen eine ſtehende Schaͤrfe bei.
So verurſacht die Faͤulnis in der geruchloſen Galle,
aus dem im duͤnnen Gedaͤrme geruchloſen Kothe erſt einen
durchdringenden Geſtank, hierauf einen hoͤchſt angene-
men Geruch, und beide entſtehen doch ohne allen Bei-
tritt einer neuen Materie.
Es ſcheinet demnach daß Theilchen, die im thieriſchen
Waſſer ſumpf, ohne Geruch und ſanfter Art ſind, ſo-
bald ein Theil des Waſſers verraucht, von einer zarten
Waͤrme geruchbar gemacht werden. Sie werden zu glei-
cher Zeit zaͤrter gemacht, wenn ihre fluͤchtige Theile in
der Luft verfliegen. Ueberhaupt ſcheint die Natur der
Geruͤche auf eine Zartmachung der Theile anzukommen,
welche uns durch die Luft zufliegen, ſo wie auf eine ge-
wiſſe Schaͤrfe, welche macht, daß ſie unſre Naſe ruͤhren.
Vielleicht iſt ſelbſt die unbezwingliche Haͤrte der Waſſer-
theile Urſache, daß das Waſſer, indem es Geruͤche aus-
dampfet, keinen Geruch annimmt; indeſſen ſind beide
Eigenſchaften notwendig zu verbinden, wofern ein Ge-
ruch entſtehen ſoll (u). Es ſind die Mittelſalze ſcharf,
aber ohne fluͤchtig zu ſein; es iſt das Waſſer fluͤchtig,
ohne ſcharf zu ſein; es riechen die fluͤchtigen Salze, weil
ſie beide Eigenſchaften mit einander verbinden. Ja es iſt
faſt kein einziger Koͤrper, Waſſer ausgenommen, welcher
nicht,
[497]II. Abſchnitt. Werkzeug.
nicht, wenn man ihn im Feuer verfluͤchtigt, zugleich ei-
nen Geruch ausbreiten ſollte.
Mit einem Worte, es iſt die Waͤrme die Mutter des
Geruches, und man kann ſich alſo nicht wundern, daß
ſie die Kraͤfte der Geruͤche ſo ſehr verfeinert (u*); eben
dieſes wird auch von dem Reiben, wodurch das Feuer
nachgeahmt, und ebenfalls Waͤrme erzeuget wird, erhal-
ten (x).
Jch bin indeſſen nicht dawider, daß man nicht auch
durch andre Urſachen, als durch die Aufloͤſung und durch
Vermiſchung Geruͤche auf allerlei Art veraͤndern, und
vermehren koͤnne. Wir haben bereits erwaͤhnt, daß aus
Vermiſchung ſtinkender Gummen ein angenemer Geruch
hervorgebracht werden koͤnne (y). Caͤſalpinus be-
merkt, daß Melilotenwaſſer, welches ſehr wenig riecht,
den Geruch aller ſtark riechenden Koͤrper vermehrt, und
Boyle zeigt, daß der ſchwache Geruch des wahren Ambra
(z), wenn man ein wenig Bieſam und Zibet zufuͤgt, aus-
nehmend ſtaͤrker gemacht werde. Von dem ſtinkenden
Vitrioloͤle, und dem nicht ſehr lieblich riechenden Wein-
geiſte, wird eine angenehmriechende Miſchung (a). Da-
hingegen ſteiget aus dem, mit Salmiakſalze gemengten
Kalke ſo gleich ein harnhafter Geruch auf (b), und es
entſtehet ein Schwefelgeſtank, wenn man Terpentinoͤl (c)
mit Vitrioloͤl zuſammen gieſſet.
Eben ſo wohl entſtehen ſtarke Geruͤche durch die Auf-
loͤſung, z. E. des Eiſens von einer mineraliſchen Saͤure,
des Schwefels, den ein Lauchenholz zernagt, und in an-
dern unzaͤlbaren Verſuchen mehr, ſo wie ſich auch ange-
neme Geruͤche, wofern man dem Verſuche des Boyle
trauen
H. Phiſiol. 5. B. J i
[498]Der Geruch. XIV. Buch.
trauen darf, erzeugen, welcher aus Edelgeſteinen einen
angenehmen Geruch hervor brachte, wenn er dieſe in Vi-
triolſpiritus aufloͤſte (d).
Es erhellet aber hinlaͤnglich daraus, daß ſich die
Grundſtoffe der Koͤrper, vermoͤge der Anziehungskraft
dergeſtalt unter einander verknuͤpfen laſſen, daß ſie von
ihren Theilchen nichts fahren laſſen, ſo wie ſich ein drit-
ter beigefuͤgter Koͤrper, welcher mit einem der vorigen
durch ein ſtaͤrkeres Band verbunden worden, davon los-
machen laͤſſet, da denn das eine von den beiden wieder
ſeiner fluͤchtigen Natur uͤberlaſſen wird.
Bei der Annehmlichkeit der Geruͤche kommt es zum
Theil auf etwas willkuͤrliches, zum Theil auf etwas Ei-
gentuͤmliches an. So bedienen ſich die Thiere der Ge-
ruͤche zu ihrem Nuzzen, und ſie nehmen ſelbige als an-
genem an, wenn ſie ihnen bequeme und zur Narung
taugliche Koͤrper anbieten. So verachtet der Hund, wel-
cher doch zum Ausſpuͤren der Thiere ein ſo feines Geſchikk
hat, einzig und allein den Geruch einer Roſe und Viole,
und er ſcheint von dieſen Geruͤchen keine Empfindung zu
haben (e)
Daher finden die Einwohner von Groͤnland den Ge-
ruch des Fettes von Wallfiſchen, und Robben angenem;
weil die Natur in dieſem unfruchtbaren Winkel der wohn-
baren Erde, kein ander Huͤlfsmittel, als dieſe Fiſche uͤbrig
gelaſſen hat. Sie trinken daher dieſe noch ſo ranzig ge-
wordne Fiſchfettigkeiten, mit eben der Wolluſt, als die
Europaͤer die feurige Weinbecher ausleeren. Bei den
Siamern iſt der Geruch von bebruͤteten Eiern lekkerhaft,
weil
[499]II. Abſchnitt. Werkzeug.
weil ſie dergleichen Eier ſpeiſen, und der Kaͤſe riechet
denjenigen vortreflich, welche dieſe Speiſe gerne eſſen.
Die Afrikaner geniſſen das faule Fleiſch von Elephanten.
Die Roͤmer rechneten die Salzbruͤhen von Fiſchrogen,
oder dieſe Tunke von faulen Fiſchlebern, ſo widerlich ſie
auch rochen, unter die Lekkerbiſſen.
Aber dennoch kann man nicht zweifeln, daß auch eine
gewiſſe angeborne, und dem ganzen Menſchengeſchlechte
eigne Neigung in der Natur ſtatt habe, kraft welcher
man Violen, Roſen und Zimmet gerne riecht, und den
Geſtank von menſchlichen Leichnamen, von Koth, und
vom Amerikaniſchen Stinkthiere verabſcheut.
Es ſcheinet dieſe Annemlichkeit auf eine mittelmaͤßige
Temperirung des Geruches anzukommen. Gar zu ſchwa-
che Geruͤche ruͤhren uns kaum, und die zu heftigen fallen
uns beſchwerlich. Wir haben bereits erwaͤhnt (f), daß
friſcher Moſch unangenehm riecht, und wenn eben dieſer
in etwas geſchwaͤcht worden, und einen Theil ſeiner Kraͤfte
eingebuͤßt, ſo faͤngt er an zu gefallen. Eben ſo iſt es
mit einem faulen und eben gekochten friſchen Eie beſchaf-
fen; der erſtere Geruch iſt uns widerlich, und der andre
beliebt, und gefaͤllig. Jm Moſelerweine ſtekkt ein zarter
Geruch von Kazzenurin, der aber in den Muſkateller-
trauben, weil er ſchwach iſt, angenem riecht. Der Ge-
ruch der Tuberoſe, und Hiacinthe, ſo wie des ſiriſchen
Apocinum (Wolfsmilch) faͤllt uns mit ſeiner Heftigkeit
beſchwerlich. Dahingegen fehlet es den gar zu ſchwachen
Geruͤchen an der Wirkſamkeit, um uns zu gefallen. So
riechet das Holz von der Buche, welches ſonſt keinen
Geruch von ſich giebt, wie wir eben geſagt haben, unter
dem Dreheiſen der Drechsler angenemer (g). Und da-
her koͤmmt es, daß Fleiſch welches ſonſt ohne allen Ge-
ruch iſt, gebraten ſehr angenem riecht.
Hieraus erhellet nun, daß ein Geruch Jemanden an-
genem ſein koͤnne, wenn er gleich einer andern Perſon
misfaͤllig iſt. Derjenige, welcher einen ſcharfen Geruch
beſizzet, pflegt die heftigen Geruͤche nicht ſo gut vertra-
gen zu koͤnnen. Aus dieſer Urſache kann ich, da ich ei-
nen ſcharfen Geruch beſizze, Kaͤſe, noch ſo wenig gefaul-
tes Fleiſch, und keine etwas ſtarke Geruͤche vertragen,
dahingegen die, welche ſich des Schnupftabaks, des Wein-
trinkens bedienen und dadurch die Werkzeuge der Naſe
angreifen, dergleichen Geruͤche leicht ertragen.
Es ſtekkt in der That in beiden Sinnen eine groſſe
Analogie, welche bereits den Alten (h) ſo wie den Neuern
bekannt war (i). Ariſtoteles ſagte, daß alles, was
zugleich feuchte, und zugleich ſchmakkhaft iſt, getrokknet
einen Geruch von ſich gebe, und es hat beruͤmte Maͤn-
ner gegeben, welche fuͤr beide Sinnen einen gemeinſchaft-
lichen Grundſinn, oder einen herrſchenden Lebensgeiſt an-
nehmen (l). Wenigſtens giebt es Koͤrper, deren Ge-
ruͤche ihren Geſchmakk in der Naſe vorſtellig machen,
dergleichen einige bittre Sachen, der Wein, der Eßig,
und der ſaure Saft aus dem Franzoſenholze (guajacum),
oder gebratenes Fleiſch ſind (l*).
Sobald dieſe fluͤchtige Theile zerſtoͤrt werden, welche
den Geruch verurſachen, ſo hoͤrt zugleich der Geſchmakk
auf. So verliert Zimmet, von welchem man ſein Oel
uͤberdeſtillirt hat, nebſt den Geruche auch den Geſchmakk,
und es pflegen uͤberhaupt wohlriechende Kraͤuter, von
denen man den geiſtigen und den waͤſſrigen Extrakt ge-
nom-
(k)
[501]II. Abſchnitt. Werkzeug.
nommen, im Gefaͤſſe trokken, geſchmaklos und zugleich
ohne Geruch zuruͤkke zu bleiben. Endlich verliert man
in Schnupfen (m*) Geruch und Geſchmakk zu gleich.
Hierzu fuͤgt man noch, daß diejenigen Membranen, wel-
che beide Sinnen bedienen, einander gleich ſind (n).
Und dennoch ſtekkt in beiden Grundſtoffen ein ganz
deutlicher Unterſchied (o). Es giebt naͤmlich in der That
heftig riechende Sachen, welche kaum einigen Geſchmakk
haben; ſo wie es Koͤrper von ſcharfen Geſchmakke giebt,
die ohne Geruch ſind. So riechen die Blumen der Nel-
ken ſchoͤn, ob ihr Geſchmakk gleich von keiner Bedeu-
tung iſt, und eben dieſe Beſchaffenheit hat es auch mit
der Lilie, Viole, Roſe, mit den meiſten Blumen, mit
dem Sandelholze, und mit andern wohlriechenden Hoͤl-
zern.
Dahingegen haben die Mittelſalze, und die laugen-
haften Salze keinen Geruch, und dennoch einen durch-
dringenden Geſchmakk.
Man hat auch angenehme Geruͤche, wenn der Ge-
ſchmakk unangenem iſt, und ſo umgekehrt. Angenehm
riecht die Lilie und Zitronenſchale, obgleich ihr Geſchmakk
ſehr bitter iſt. Das Oel Gayeput duͤftet einen ſehr an-
genemen Geruch von ſich, ob es gleich im Munde uͤbel
ſchmekkt, und man findet nichts angenemes im Geſchmak-
ke an denjenigen Geruͤchen, welche man von Thieren
hernimmt. Da die Faͤulnis den Geruch vermehrt, ſo
zerſtoͤrt und verwirrt ſie den Geſchmakk, und ſie macht
dasjenige geſchmakklos, was ſonſt hoͤchſt angenem roch.
Dahingegen iſt der Geruch des durionis unangenem
(p), und wie an verfaulten Zwiebeln, ob gleich der Ge-
J i 3ſchmakk
[502]Der Geruch. XIV. Buch.
ſchmakk angenem und wie Mandelmilch iſt. Der Ge-
ruch, den der Kaͤſe und das angelaufene Fleiſch von Voͤ-
geln und vierfuͤßigen Thieren von ſich giebt, begleitet den
Geſchmakk mit einer groſſen Annemlichkeit.
Folglich leite ich den Unterſchied zwiſchen dem ſchmakk-
haften und riechendem nicht blos von den feinern Werk-
zeugen, und den mehr entbloͤſten Nerven im Geruche
her; denn ſonſt wuͤrden Dinge, welche den ſtumpfern
Sinn, den Geſchmakk, in Bewegung ſezzen, auch den
ſchaͤrfern Sinn, den Geruch reizen. Allein ſie erregen
denſelben nicht.
Es ſcheinet vielmehr der Geſchmakk faſt einzig und al-
lein vom Salze herzuruͤhren, und dazu nichts zu helfen, ob
ſein Grundſtoff fluͤchtig oder nicht ſei. Hingegen mus
der Stoff der Geruͤche notwendig ausduͤnſten koͤnnen, und
es muͤſſen ihre Theilchen viel zaͤrter, und mit dem Lebens-
geiſte oder brennlichen Weſen vermittelſt der Waͤrme,
oder Faͤulnis hoͤchſt verfeinert und verbunden ſein, wel-
ches zugleich eine Narung fuͤr das Feuer, und die Ma-
terie der Elektricitaͤt iſt (q). Darinnen kommen beide
Sinnen mit einander uͤberein, daß ſie etwas ſtechendes
erfordern, welches ihre Nerven in Bewegung ſezzen kann,
das uͤbrige mag ſo verſchieden ſein, als es will.
Jch empfehle dieſen geringen Verſuch den Kennern
der Naturkraͤfte, und denen welche mehr Muſſe, als ich
haben, zur Verbeſſerung und beſſern Ausarbeitung.
Es dringt die Luft welche mit Geruchduͤnſten angefuͤllt
iſt, entweder von ſelbſt, vermoͤge der Kraft des
Einathmens in die Naſe, oder ſie wird vom Men-
ſchen mit Fleis, wofern derſelbe die Beſchaffenheit eines
Koͤrpers genauer unterſuchen will, durch oͤftere, kleine
und wiederholte Einathmungen herbeigezogen, wobei man
die Naſe wechſelsweiſe erweitert (r) und verengert (s),
und man ſieht zugleich, wie die Naſenfluͤgel dabei wech-
ſelsweiſe in die Hoͤhe ſteigen, und wieder niederſinken.
Diejenigen, welche ſchreiben, man rieche ohne Ein-
athmen; und vielmehr waͤrend des Ausathmens (t), dieſe
haben weder die Erſcheinungen ſelbſt in Obacht genom-
men, noch die Lehrſaͤzze der Alten im Gedaͤchtniſſe. Ga-
len hat vor dem ſchon, weil er Verſuche machte, geſagt,
daß man keine Geruͤche anders (u), als vermittelſt des
Einathmens empfinden koͤnne.
Da ferner ein Polipus der Luft durch die Naſe kei-
nen freien Zug verſtattete, ſo hatte der Kranke gar kei-
nen Geruch (x), und ein Hund (y) dem man bei einer
Verwundung die Luftroͤhre oͤffnen muſte, um die Luft
durch die Wunde zu leiten, hatte uͤberhaupt gar keinen
Geruch.
Endlich kann man die Probe ſehr leicht machen, daß
wir durch Oerter voller haͤslichen Geſtankes, und mitten
durch heimliche Gemaͤcher gehen koͤnnen, ohne im ge-
ringſten von dieſem Geſtanke belaͤſtiget zu werden, weil
es uns frei ſteht, waͤrend dieſer Zeit ohne Einathmen zu
bleiben.
Da diejenigen Theile, welche den Geruch beſchaͤfti-
gen, fluͤchtiger Art ſind, ſo breiten ſie ſich ohne Zweifel
ſo gleich uͤberall in der ganzen Naſe aus. Es iſt dieſes
naͤmlich die beſondre Art der Geruchduͤnſte, daß ſie durch
alle Loͤcher in alle Winkel einſchleichen. Folglich werden
ſie die Naſe anfuͤllen, und ſich in den Schleimhoͤlen aus-
breiten.
Man koͤnnte noch fragen, ob die Geruchſtoffe auch
bis zum Gehirne gelangen, ob wir dieſes gleich von der
Luft ſchon gelaͤugnet haben (z)
Die Alten folgten der Theorie beſtaͤndig, daß die
Luft (a) durch die Loͤcher des ſiebfoͤrmigen Knochens in
die vordre Gehirnkammer, nebſt den Geruchtheilen ge-
lange (b); daß in dieſer Kammer der Sinn des Ge-
ruches vor ſich gehe (c), daß das Gehirn ſelbſt, Kraft
der erweiterten Kammer, aus der Naſe die Luft an ſich
ziehe, und daß aus dieſem Grunde der untere Theil der
Kammern auf den Siebknochen aufliege (d). Und folg-
lich waͤren die Siebknochen aus dem Grunde unter einan-
der verwikkelt, damit nicht die rohe Luft zum Gehirn
kommen koͤnne (e).
Schneider hat vorlaͤngſt dieſen Weg (f) wiederlegt,
und ſeine ſaͤmmtliche Nachkommenſchaft findet die Wege
des
[505]III. Abſchnitt. Werkzeug.
des Siebknochens (g) blind, und mit einem nervigen
Marke angefuͤllt, ſo wie ſie ferner von dieſen Loͤchern im
Menſchen keinen Weg nach den Kammern zu entdekken
kann. Es wuͤrde in der That die Wirkſamkeit der Ge-
ruͤche gar zu maͤchtig werden, wenn ſie das entbloͤßte Ge-
hirnmark beruͤhren koͤnnten, indem ſie auch jezzo, wenn
die Naſennerven mit vielen Membranen, und vielem
Schleime bedekkt ſind, ſo heftige Kraͤmpfe hervorbringen.
Es wuͤrde nur uͤberfluͤßig ſein, wenn man allerlei
Gruͤnde beifuͤgen wollte, dergleichen das einer mit iſt, daß
die Thiere, welche am ſchaͤrfſten ſpuͤren, einen langen
Kopf (h), und bei ihnen der Weg der Geruchſtoffe einen
langen Weg bis zum Gehirne haben; daß der Menſch,
oder die Kazze, weil ſie einen runden Kopf haͤtte, einen
ſtumpfern Geruch beſizze, und es werden die Geruch-
ſachen dem Gehirne nahe gehalten.
Man iſt darinne ziemlicher maaſſen einſtimmig, daß
dieſes Werkzeug auf die pulpoͤſe Membran der Naſe (i),
und auf diejenigen Nerven ankomme, welche durch dieſe
Membran ausgetheilt ſind.
Nur iſt die Frage, an welcher Stelle in der Naſe
beſonders der Geruch verrichtet werde. Jch finde, daß
man gewoͤnlicher maaſſen keinen Theil der Naſe davon
auszunehmen pflegt. Jndeſſen wollen einige doch, daß die
Schleimſinus zu dieſem Geſchaͤfte nicht mit gehoͤren ſollen
(k); uͤbrigens nennen ſie vorzuͤglich die ſchwammigen Kno-
chen (l), andre inſonderheit die Naſenſcheidewand (m),
J i 5und
[506]Der Geruch. XIV. Buch.
und noch andre halten die oͤberſten Theile der Naſe und
die unter der Siebplatte liegen, fuͤr das weſentliche Werk-
zeug dieſes Sinnes (n).
Doch es iſt auch noch vom Nerven die Frage. Ge-
meiniglich pfleget man alle Naſennerven unter diejenigen
Theile, welche den Geruch verrichten, mit zu ſezzen. Den-
noch aber ſchlieſſen einige das erſte Nervenpaar (o) aus,
weil dieſe Nerven in einem Menſchen, welcher einen
guten Geruch hatte, hart und zerſtoͤrt geweſen, folglich
waͤren bloß die vom fuͤnften Paare ſtammende Nerven
hinlaͤnglich, dieſen Sinn zu verrichten.
Dahingegen ſchlos vor kurzem der beruͤmte Aurivil-
lius das fuͤnfte davon aus (p), und lies blos das erſte zu,
welches zu den ſcharfriechenden Theilen laufe, und in den
ſpuͤrenden Thieren viel groͤſſer ſei.
Wir muͤſſen uns alſo aus dieſen Zweifel herauszuwik-
keln ſuchen; denn die Verſuche langen nicht zu, um zu
zeigen, welche Theile in der Naſe davon auszuſchlieſſen,
oder anzunehmen ſind.
Um zu wiſſen, daß irgend ein gewiſſer Theil der Naſe
das Werkzeug des Geruches ſei, ſo ſcheint es, daß ſich
dieſer Theil in den verſchiednen Gattungen der Thiere be-
ſtaͤndig finden muͤſſe, welche das Vermoͤgen zu riechen
haben.
Es ſcheint dazu erfordert zu werden, daß dieſer Theil
einen beſondern Bau, der von dem gemeinen Bau der
Luft und Speiſeſtraſſen unterſchieden ſei, habe.
Es ſcheint damit uͤbereinzuſtimmen, daß dieſer Theil
dieſen Bau vollkommner, vollſtaͤndiger habe, und daß
er uͤberhaupt in den Spurthieren groͤſſer ſei, hingegen ei-
ne kleinere Flaͤche und undeutlichern Bau in den Thieren
haben werde, welche einen ſchwachen Geruch haben (p*).
Hierzu koͤnnte man noch fuͤgen, wenn dieſer Theil
beſchaͤdigt, oder die Straſſe der Luft gehemmt, und davon
der Weg der riechenden Ausfluͤſſe abgeleitet worden, ſo
muͤſſe auch der Geruch ſchwach werden, und endlich gar
verſchwinden; und es iſt ſehr warſcheinlich, daß dieſer Theil,
welcher an Nerven einen Ueberfluß hat, auch leichter fuͤr
das Werkzeug des Geruches angeſehen werden koͤnne.
Wenn man dieſes zum Grunde ſezzet: ſo finden wir
in der obern Naſenſcheidewand eine Stelle, welche den
Ausfluͤſſen der Luft ausgeſezzt iſt, eine Menge Nerven, eine
dikke Schleimhaut, und weiter nichts von einem beſon-
dern Bau.
An den Schleimhoͤlen finden wir, daß die Kinder,
welche doch einen ſcharfen Geruch haben, keine Schleim-
hoͤlen haben, und daß ſie auch einigen erwachſenen Per-
ſonen, bei denen doch dieſer Sinn ganz gut iſt, mangeln
(q); daß ſie eine zaͤrtere Membran, keine ſo deutliche Ner-
ven, und einen knochigen Bau haben, welcher vielmehr
geſchikkt iſt, den Schleim zu beherbergen, als einen be-
ſondern Sinn auszuuͤben.
An den ſchwammigen Knochen finden wir beinahe
alle Eigenſchaften beiſammen, welche wir anfangs ver-
langten. Sie kommen vor in den Fiſchen, Voͤgeln, und in
den vierfuͤßigen Thieren. Sie ſind beſonders plattenwei-
ſe gebaut, und beſtehen in den Fiſchen aus geraden (r)
einander parallelen, zalreichen Platten, wie im Stoͤr
(turſio) (s) an einem Fiſche aus dem Geſchlechte der
Seehunde (t), am Karpen (u) Rochen (x), und der
Schildkroͤte (y). Dieſe Plaͤttchen ſind in einer beſondern
Hoͤle oder Sinus der Gehirnſchale enthalten. Sie be-
ſtehen
[508]Der Geruch. XIV. Buch.
ſtehen an den Voͤgeln aus allerlei zugeſpizzten, und wun-
derlich zuſammen gerollten kleinen Knochen (z). Die
meiſten vierfuͤßigen Thiere beſizzen einen vortreflichen Ge-
ruch (a), womit die Raubthiere ihren Raub ſchon von
weiten riechen, ſo wie die Thiere von ſanftern Sitten,
und welche von Kraͤutern leben, die ſchaͤdlichen Gewaͤch-
ſe mit einer bewundernswuͤrdigen Feinheit ausleſen. Jh-
nen koͤmmt darinnen uͤberhaupt, die laͤngere Naſe zu Huͤl-
fe, wie wir am Baͤren, Schweine (b), und dem Spuͤr-
hunde (b*) ſehen. Ferner bemerkt man deutlichere, zal-
reichere, ſchoͤner gebaute (c), groͤſſere und artig gekruͤmm-
te Schwammknochen an denjenigen Thieren, welche ſchaͤr-
fer riechen. Am Windhunde (d) ſiehet man mehr, und
wunderlich in einander gedrehte Schwammknochen, wel-
ches der einzige Vorzug iſt, welchen dieſes Thier voraus
hat, indem es keine groͤſſere zizzenfoͤrmige Nerven hat (e),
wie man vorlaͤngſt angemerket hat. Eben dieſe Knochen
ſind auch anſehnlich im Loͤwen (f), der Kazze (g), dem Baͤr
(h) und dem Wieſel (i), Ochſen (k), Schafe (l), Pferde
(m), Schweine (n), Haſen (o), Stachelſchweine (p),
Hirſche
[509]III. Abſchnitt. Werkzeug.
Hirſche, Rehe und Elephanten (q). Jch habe die be-
wundernswuͤrdige Artigkeit dieſes Baues an einem Rehe
betrachtet.
Dieſer Bau iſt endlich am Menſchen, den die mei-
ſten Thiere an feinem Geruche uͤbertreffen, einfach roͤh-
rig (r). Einfach iſt er an dem Krampffiſche (s), dieſem
traͤgen Thiere, welches nur eine faule Beruͤhrung von
ſeiner Beute erwartet.
Ob man aber darum die Naſenſcheidewand von dem
Rechte, ein Werkzeug des Geruches zu ſein, die untere
Flaͤche der Siebplatte, und den mittlern und unterſten
Gang in der Naſe, ſo wie die uͤbrigen Hoͤlen, ausſchlieſ-
ſen muͤſſe, das laͤßt ſich nicht ſo leicht beſtimmen. Es
findet ſich uͤberall einerlei Membran, von einerlei Bau,
uͤberall ſind zalreiche Nerven, und zwar an der Naſen-
ſcheidewand von eben dem erſten Paare (t), dem ein be-
ruͤmter Mann den Geruch inſonderheit zuſchreibt. Es
haͤngen aber auch die Schleimſinus mit zuſammenhaͤngen-
den Stufen mit den Siebfaͤchern zuſammen, und es ſchei-
net hart zu ſein, wenn man ſagen wollte, daß in dieſen,
als Theilen vom Schwammknochen, der Geruch nicht
ſtatt finden ſollte. Endlich finde ich bei dieſem Baue
ſelbſt keine Urſache, warum dieſſeits einer ſichern Grenze
der Geruch ausgeuͤbt werden ſollte, und jenſeits derſel-
ben nicht.
Jch gebe leicht zu, daß es einige Theile in der Naſe
gebe, welche mehr, als andre empfinden; daß diejenigen
den groͤßten Antheil daran haben, welche nach vorne
zu oben liegen, und den Geruchduͤnſten naͤher ausge-
ſezzt ſind, welche mehr Nervenaͤſte haben (u), welche ihre
Nerven naͤher an den Staͤmmen bekommen, und welche
mehr entbloͤßt, weicher und zaͤrter ſind. Jch glaube daß
der
[510]Der Geruch. XIV. Buch.
der Geruch an den hintern untern Theilen der Naſe, an
dem Stirnſinus (x), am Kieferſinus, an dem Keilſinus,
ſchwaͤcher iſt, indem an dieſen Theilen der Naſe die Ner-
ven weniger, kleiner, von den Staͤmmen weiter entfernt,
und daſelbſt auch mit einer groͤſſern Menge Schleim be-
dekkt ſind.
Wir haben das erſte Paar fuͤr den Geruchnerven
gelten laſſen (y). Jſt aber deswegen der fuͤnfte davon
auszuſchlieſſen?
Es ſcheinet dieſes nicht ſtatt zu finden, man mag nun
die Naſenſcheidewand, oder die zugeſpizzte Knochen fuͤr
die Hauptwerkzeuge des Geruches halten. Nicht nur
dieſe Scheidewand, ſondern auch ein jeder der Schwamm-
knochen empfaͤngt, wie vom erſten, ſo vom fuͤnften ſeine
Aeſte. Denn ob man gleich glauben wollte, daß unter
den Nerven ein Unterſchied waͤre, und daß der Ambra-
geruch vom erſten empfunden, aber nicht ſo von andern
Nerven erkannt werde (y*), und ob man gleich den erſten
fuͤr weich, und den fuͤnften fuͤr haͤrter halten wollte, ſo
wird man doch befinden, daß ſich die Sache anders ver-
haͤlt, ſo bald man die Natur genauer erforſchen will. Es
ſind naͤmlich uͤberhaupt die Aeſte des fuͤnften im Men-
ſchen weich, und ſie unterſcheiden ſich in ihrer Beſchaffen-
heit nicht im geringſten von dem erſten, den ich an Voͤ-
geln, welche doch einen vortreflichen Geruch beſizzen, bis
ins Gehirn verfolgt habe. Jch mag nicht wiederholen,
daß es Schriftſteller gebe, welche verſichern daß in ſpuͤ-
renden Thieren (z) Nerven nichts vor andern voraus ha-
ben, und daß eben ſo viel Nerven durch den Siebknochen
im Menſchen, als im Pferde durchgehen (a).
Warum dieſe Nerven aber in der Naſe vielmehr, als
im Munde oder Gaumen das Riechen verrichten, darauf
laͤßt ſich nicht ſo leicht antworten. So viel ſehen wir,
daß in der Naſe eine Menge Nerven vorkommen, welche
alle weich und zart, und in der pulpoͤſen Membran ver-
theilt ſind, die durch ein hoͤchſt zartes Oberhaͤutchen vor
dem Eindringen der Geruchkoͤrper beſchuͤzzt wird, ohne
von einem deutlichen Nezzwerke bedekkt zu ſein, indem
die Naſe an den Mohren keine andre Farbe hat. Wir
ſehen, daß die Zungenwaͤrzchen des Geſchmakkes haͤrter
ſind, und daß ſie viel von Fadengewebe, und viel von
Gefaͤſſen enthalten. So ſind die Flokken der Gedaͤrme
groͤßtentheils Gefaͤſſe, und ihre Nerven in weit geringerer
Anzal vorhanden, und viel haͤrter.
Von dieſer Weiche und Entbloͤſſung der Nerven ſelbſt
leiten wir her, daß an keinem Orte im Menſchenkoͤrper
die angebrachten ſcharfen Koͤrperchen heftigere Wirkung
thun. Es zwingt uns ein wenig Pulver von Nieſewurz,
daß wir uns faſt zu Tode nieſen muͤſſen (c), da es doch
im Munde, auſſer etwas Brennen, weiter nichts hervor-
gebracht, und die bloſſe Augen nicht einmal gereizet ha-
ben wuͤrde. So gar verurſacht ein ploͤzliches Licht dem
Menſchen, welcher aus dem Finſtern koͤmmt, ein Nieſen (d).
Von dieſer Entbloͤſſung ſcheinet auch herzuruͤhren,
daß ſo leicht eine etwas grobe Beruͤhrung, oder der Ge-
ruch von Roſen (e) oder friſchen Moſch (f), das Bluten
verurſacht, und daß endlich von ſelbſt, wenn das Blut
mit einiger Gewalt zum Kopfe ſteigt, ein Naſenbluten
erfolgt. Jn dieſem Stuͤkke koͤmmt auch der Bau der
Thiere mit dem Menſchen uͤberein, daß es Pferde giebt,
wiewohl dieſes nicht von den gemeinen gilt, welchen die
Naſe blutet. Schon Empedokles bemerkte, daß die
blutloſen Blutadern im Koͤrper offen ſtehen.
Uebrigens koͤnnen manche Menſchen bloſſe liegende,
und empfindlichere Nerven haben, entweder weil die hoͤchſt
zarten Nerven vom Tabak zerſtoͤrt werden, oder weil ſie
vom Kampfer angegriffen worden (g), oder auch durch
einen organiſchen Feler (h), oder von unbekannten Ur-
ſachen (i) untauglich geworden, welche vermutlich in den
beſſer bedekkten Nerven oder in weniger Nerven ſtekken
kann.
Wenigſtens lieſet man hin und wieder von Menſchen,
welche kein Vermoͤgen zu riechen haben (k).
Dahingegen kommen andre, oder auch ganze Voͤlker-
ſchaften, oder einzelne Menſchen mit ihrer ſcharfen Kraft
zu ſpuͤren, ſo gar den Thieren nahe. Kardan erwaͤnt
von ſich ſelbſt (l), daß er allezeit was zu riechen pflege.
Eine Frauensperſon, welche den Schwefelgeruch vor
dem Gewitter unterſcheiden konnte, fuͤhret der beruͤmte
Woodward(m) an, wie wir vor kurzem erzaͤlt haben.
Von andern trift man hie und da dergleichen Exempel
an (n). Ja es giebet ganze Voͤlker, welche von feinem
Geruche ſind. Dieſer Sinn iſt fuͤr die Jndianer des
nordlichen Amerika der Wegweiſer, ihre Feinde auszu-
ſpuͤren (o). Wir leſen bei glaubwuͤrdigen Schriftſtellern,
daß es auf den antilliſchen Eilanden Negers gebe, welche
durch den Geruch die Spur eines Negers, von der Spur
eines Franzoſen zu unterſcheiden wiſſen (p).
Es ſcheinet faſt, daß einfache Speiſen Urſache davon
ſind, daß manche Menſchen einen reinern Geruch beſizzen,
wie
[513]III. Abſchnitt. Werkzeug.
wie wir eben von den Jndianern geſagt haben (q). Denn
eben dieſe verloren, bei veraͤnderter Nahrung, dieſen Vor-
zug (q*). Ein Menſch, welcher unter den Thieren er-
zogen war (r), konnte die Nahrungsmittel eben ſo gut
von einander unterſcheiden, als es die Schafe zu thun
pflegen, und ich beſinne mich, daß man mir von einem
dummen Knaben, welcher auf den Alpen und unter den
Thieren aufgewachſen, dergleichen erzaͤlt hat, daß er
naͤmlich eine abgeriſſene Handvoll Kraut vorher berochen,
um davon auszuleſen, was ihm der Geruch zu nehmen
anrieth.
Die Geruchsnerven werden in Krankheiten, ſo wie
andre Nerven gar zu empfindlich. Ein Waſſerſcheuer
verſtand ſich ſo gut, als ein Hund, auf die Spur (s).
Da es in der Naſe eine Menge Nerven giebt, welche
ſchlecht bedekkt, und der Luft, die oft mit den ſchlimmſten
Daͤmpfen angefuͤllt iſt, ausgeſezzt ſind, ſo ſcheint die Na-
tur eine weiſe Urſache gehabt zu haben, uͤber dieſe faſt
blos liegende Nerven einen weichen Schleime zu gieſſen.
Es verlezzt naͤmlich ſchon die Luft an ſich, durch ihre Aus-
trokknung ſo gleich die Haͤute im Menſchen, und wir rie-
chen in einer trokknen Luft ſchlecht. Nur die Naſe em-
pfindet die Geruͤche wie ſie ſoll, wenn ſie feucht iſt (t).
Dieſe Nerven finden alſo an dem ausduͤnſtenden
Rauche, und hierauf an dem ſehr haͤufigen Schleime,
woran nicht nur die Schleimſinus, ſondern auch die ganze
Naſe einen Ueberflus hat, ihren Schuzz. Ob ich gleich
gewar
H. Phiſiol. 5. B. K k
[514]Der Geruch. XIV. Buch.
gewar werde, daß man gegen dieſe edle Verrichtung des
Schleimes (u) allerlei vorbringt; ob ich gleich leſe, der-
ſelbe ſei da in Ueberfluſſe vorhanden, wo kein Riechen
ſtatt findet, als in den Sinuſſen; ſo erlaubt mir doch die
Analogie der Natur hier nicht, von der in den Schulen
angenommenen Meinung abzugehen.
Es ſcheint naͤmlich gar kein Zweifel zu ſein, daß
nicht die Natur auf dem ganzen Weg, den in uns die
Luft und Speiſe nimmt, zur Beſchuͤzzung der Nerven
den Schleim veranſtalte, und es zwingen uns die Zufaͤlle,
welche auf den Verluſt des Schleimes auf dieſen Straſſen
erfolgen, ſolches zu geſtehen. Nun iſt es mehr, als
warſcheinlich, daß ein aͤnlicher Bau in der Naſe, auch
eine aͤnliche Abſicht gehabt haben mus.
Nun finde ich dieſen Schleim, welchen die alten
Griechen coruza nannten, in der That in den Sinuſſen,
ſonderlich in dem Kieferſinus vorzuͤglich, wie auch in dem
Keilſinus (y), und zwar bei dem Handgriffe am leichteſten,
wenn ich die umliegende Knochen allmaͤlig wegnehme,
damit blos die Membran des Sinus, die von ihrem
Schleime aufgeſchwollen iſt, uͤbrig bleibe. Jch glaube es
beruͤmten Maͤnnern, daß die Sinus ohne dergleichen
Schleim (z) geweſen, allein nur in ſo fern, daß ſie daraus
nichts gegen meine Verſuche, da ich dieſen Schleim in
Menſchen ſo oft angetroffen habe, folgern.
Es leeret ſich der Schleim leicht aus dem Stirn und
den Siebſinuſſen aus, an denen ihre Auswurfsgaͤnge, wie-
wohl nach vorne zu und ruͤkkwaͤrts ſchief herablaufen (a).
Der Keilſinus (b) leeret ſich leichter aus, wenn man den
Kopf vorwerts herabbuͤkkt, der Kieferſinus, wenn man
den
[515]III. Abſchnitt. Werkzeug.
den Kopf auf die gegen uͤber ſtehende Seite des Sinus
biegt (c). Jndeſſen lehret doch der Fall der haͤufigen
Eitergeſchwuͤre, und der Aufenthalt der Naſengewaͤchſe
(polypus) (d) daß ſich dieſer Sinus nicht ſo leicht auslee-
ren laſſe. Es erzeugen ſich im Stirnſinus bei Menſchen
und Thieren haͤufige Jnſekten (e), von allerlei Art, nicht
ohne groſſe Schmerzen und Umbequemlichkeit. Es ſcheint,
daß man davon die Urſache von der ſchiefen Straſſe, wel-
che von den geſchwollnen Membranen noch mehr veren-
gert wird, hernehmen muͤſſe.
Man kann glauben, daß ſich in eben dieſem Schleime
die Geruchſtoffe, und inſonderheit die ſtinkenden (f), wel-
che in der Naſe laͤngere Zeit ſtekken bleiben, bis zwanzig
Tage (g) und ſo gar bis zum Tode verwikkeln (h).
Damit der Schleim deſto leichter aus der Naſe her-
ausflieſſen moͤge, ſo bedienen wir uns des Ausſchnaubens,
oder des heftigen Luftſtromes, den wir mit dem Athem
in uns zogen, und nun im Ausathmen ſich aus der Naſe
zu ſtuͤrzen zwingen. Zu eben dieſer Abſicht erregt auch
die Natur das Nieſen (h*). Der Schleim wird alsdenn
durch die Traͤhnen verduͤnnt, welche in die Naſe einflieſ-
ſen (i).
Es ſchlukken die ſaugende Blutadern, nach angeſtell-
ten Verſuche, einen Theil des Naſenſchleims wieder in ſich,
indem das Waſſer, welches man einem Hunde in die
Blutadern ſprizzte, die Naſe anfuͤllte (k).
Man erlaube uns in einem Werke, welches vornaͤm-
lich den Lehrlingen gewidmet iſt, anzumerken, daß die
Alten, welche ſich einbildeten, der Weg vom Gehirn zur
Naſe ſtehe offen (l), auf eben dieſem Wege den Schleim
in die Naſe herleiteten. Sie gaben dieſen alſo vor einen
Auswurf des Gehirns aus, und von ihm ſtammte das
Waſſer in den Gehirnkammern her (m). Einige wenige
unter den Neuern glauben, daß die Roͤhrchen dieſes Kno-
chens fuͤr den Schleim eroͤffnet ſind (n). Bernhard
Verzaſcha(o) ſahe einen mit dem Schleime zugleich
ausgeworfenen kleinen Wurm fuͤr einen Gehirnwurm an.
Da man hiernaͤchſt die Loͤcher des Siebknochens gar
zu deutlich verſchloſſen (o*), voll und untauglich fand, den
Schleim durchzulaſſen, ſo ſuchte man bald dieſe, bald jene
Wege
[517]III. Abſchnitt. Werkzeug.
Wege fuͤr den Schleim aus dem Gehirn ausfuͤndig zu
machen. Veſal beliebte die auf beiden Seiten zerriſſene
Spalte, und Schlund zwiſchen dem Felſenknochen und
Keilknochen neben den Loͤchern der Carotis (p). C. Ste-
phan hingegen ſahe die ſchwammige Karunkeln zwiſchen
den Durchſeichern der Naſe und dem Gaumenknochen
fuͤr die Straſſe an, denen Feuchtigkeiten aus dem Gehirne
Luft zu machen (q).
Doch es ſtuͤrzte leicht Hermontius(r) vor langer
Zeit, und hierauf der in der That ſehr gelehrte Kon-
rad Viktor Schneider(s), dieſen in der Pathologie
herrſchenden Jrrthum voͤllig. Er zeigte auch, daß die
heimlichen Abfluͤſſe des Veſals Erdichtungen ſind (t), da
ſie un Knochen der Hirnſchale offen ſtuͤnden, an der un-
verlezzten Hirnſchale von dem harten Gehirnhaͤutchen
verſchloſſen, und mit haͤufigen Knorpeln angefuͤllet waͤren.
Jezzo iſt alſo der, von alten angenommene Jrrthum endlich
aus der Mode gekommen.
Es ſcheinet bei der Nuzzbakeit des Geruches kein
Zweifel Statt zu finden. Denn ob der Menſch gleich
ſeinen Raub nicht eben ausſpuͤrt, ſo wird er doch von der
ſchaͤdlichen oder unſchaͤdlichen Kraft der Speiſen durch
den Geruch benachrichtigt, worinnen ſich gewis eine groſ-
ſe Vorſorge der Natur zu Tage legt, indem der Ge-
ſchmakk ſpaͤter und erſt alsdenn eine Schaͤdlichkeit in der
Speiſe entdekkt, wenn ſolche nach dem Kaͤuen Schaden
anrichten konnte. Der ſich ſelbſt uͤberlaſſene Menſch un-
terſcheidet ſeine Speiſen, wie es die Thiere zu thun pfle-
gen, durch den Geruch.
Was mich betrift, ſo glaube ich voͤllig, daß keine
Speiſe geſund ſei, welche ſtinket. So erregt die beige-
miſchte Faͤulnis in dem Kaͤſe, in Fleiſch und Fiſchen,
wenn dieſe Speiſen nicht friſch ſind, einen uͤbeln Geruch.
Dieſe Faͤulnis laͤſſet ſich bisweilen durch die Nothwendig-
keit, ein andermal durch die Zartheit, des in ſeine Grund-
theile ſchon zerfallenden Fleiſches entſchuldigen. Da uͤbri-
gens die Faͤulnis das menſchliche Weſen zerſtoͤrt, ſo macht
ſie auch ſolche Speiſen zum Fieber, Skorbut, und Durch-
laufe geſchikkt. Eine etwas ſtaͤrkere Faͤulnis macht Eier
und Fleiſch emetiſch. Es bekam der Kaͤſe jemanden uͤbel,
den er im Ekel aß (u), es erfolgte ein gefaͤrliches Fieber,
und ich erinnere mich noch ganz wohl, da mir einige Ver-
wandte Kaͤſe, als ich noch jung war, wider meinen Wil-
len durch einen unzeitigen Spaß aufdrungen, daß ich
denſelben mit groſſer Beſchwerlichkeit, und erſt nach lan-
ger Zeit, nachdem er verdorben aufgeſtoſſen, verdauen
koͤnnen. Die Frucht vom Durion, welche wie man ſagt,
angenehm ſchmekken ſoll, ob gleich der Geruch ekelhaft
iſt, laͤſſet ſich nur mit Gefahr eſſen. Denn ſo wie ſie faul
riecht, ſo erregt ſie Durchlauf und andre Uebel (u*)
Dahingegen halte ich |davor, daß man ſo leicht keine
Speiſe ungeſund finden wird, welche einen angenehmen
Geruch bei ſich fuͤhrt. Jch kehre mich hier an die mine-
raliſchen Gifte nicht, welche entweder ohne Geruch ſind
(x), oder auch gefallen (y). Die Natur hat dieſe Gifte
uns nicht verliehen, und alſo auch nicht deswegen Unter-
richt gegeben. Endlich koͤmmt der Geſchmakk dem Ge-
ruch zu Huͤlfe, wofern ja derſelbe bisweilen ſtumm waͤre.
Das Mezereon (Seidelbaſt, deutſcher Pfeffer) hat eine
Blume
[519]III. Abſchnitt. Werkzeug.
Blume von angenehmen Geruche, allein der ſcharfe Ge-
ſchmakk der Frucht bewahrt uns vor der Schaͤdlichkeit
derſelben. Jch leſe von der Mancenilla(z), daß ihre
Farbe, Geruch, und Geſchmakk angenehm ſei, ich traue
dieſem Obſte aber nicht, da ſeine brennende Schaͤrfe im
Munde und auf den Lippen Geſchwuͤre hervorbringt, und
folglich den Geſchmakk nicht betruͤgen kann.
Friſches Fleiſch, zeitige Fruͤchte ſind nicht ungeſund,
und was uns von Speiſen die Natur anbietet, ſchmeichelt
unſerm Geruche, und erwekkt den Hunger, und es ſcheint
dieſe Annehmlichkeit zugleich, ſo wie die Ergoͤzzlichkeit des
Geſchmakkes (a), den Menſchen zur Speiſe einzuladen,
ſo wie uns der Hunger zur Speiſe zwingt. Der Schoͤ-
pfer regiert uns durch Strafen und Belohnungen.
Mit dem erſtern Nuzzen iſt der andre verwandt,
Kraft deſſen der Geruch die mediciniſchen Gewaͤchſe, oder
Heilkraͤfte der Dinge entdekken hilft. Wenigſtens giebt
uns der Geſchmakk zugleich mit dem Geruche, und bis-
weilen ſchon der Geruch fuͤr ſich allein, Gewuͤrze, die ve-
getabiliſche Saͤure, Bitterkeit, und Gift zu erkennen;
denn bisweilen befindet ſich die wohlriechende Kraft ohne
Geſchmakk.
Die unvernuͤnftigen Thiere bleiben ohne Unterricht,
und ſie lernen nur fuͤr ſich allein, ſie ſorgen nur fuͤr ſich,
und nuͤzzen damit ihrer Nachkommenſchaft gar nicht. Und
daher war ihnen die Spuͤrkraft nothwendiger. Vermoͤ-
ge dieſer Gabe der Natur entdekken einige ihre Beute
ſchon von weitem, als die Geier, die Hunde, und wie
wir ſo gleich ſagen werden, auch die Jnſekten ſelbſt.
Durch eben dieſen Sinn unterſcheiden Thiere, die ihnen
ſchaͤdliche oder nuzzbare Kraͤfte der Dinge einzig und al-
lein. Man ſehe nur wie fleißig ein Schaf graſe, wie es
K k 4auf
[520]Der Geruch. XIV. Buch.
auf der Weide das Kraut ſchuͤttelt, und ſich nur dasjeni-
ge herauslieſet, was ihm geſund iſt. Man trift auf den
Alpen groſſe Striche von Nieſewurz, und eine unendliche
Menge vom Napellus (Wolfswurz) auf den felſigen Stie-
gen an, und kein einziges Vieh ruͤhrt eins von beiden
an. Dahingegen thun ſich Menſchen, welche in entfern-
ten Wuͤſteneien von dem Unterrichte andrer Menſchen ſich
verlaſſen ſehen, leicht damit Schaden, und ſie verderben
ihre Geſundheit mit ungeſunden Pflanzen, als mit Sa-
laten (b), Fruͤchten (c), Honig (d) und andern Kraͤutern
(e). Es pflegen ſich daher die Wandersleute dieſe Regel
zu machen, daß ſie blos diejenigen Fruͤchte eſſen, von
welchen ſie gewahr werden, daß ſie von Affen oder Voͤ-
geln zur Speiſe gewaͤlt werden.
Aus der Urſache glauben wir auch, daß der Geruch
allen Thieren gemein ſei. So ſpuͤren auch Fiſche (f),
und verſtehen ſich auf die Kraͤfte derjenigen Geruͤche, wel-
che ſie nicht vertragen koͤnnen. Sie kommen, wenn
man Hanfſaamen ins Waſſer wirft, hervor, werden davon
ſchwindlich, und ſuchen nicht mehr der greifenden Hand
zu entwiſchen (g). Man faͤngt ſie auch, wenn man ge-
wiſſe Geruchſachen ins Waſſer ſtreuet (h), und ſie ver-
folgen die Wuͤrmer nicht mit dem Geſichte, ſondern mit
dem Geruche, welche man zu ihrem Fange an die Angel-
ruthe ſtekkt (i).
Selbſt die Jnſekten (k) haben offenbar einen Geruch
(k*). Man mus ſich wundern, in welcher Entfernung, und
wie
[521]III. Abſchnitt. Werkzeug.
wie geſchwinde, oder mit was vor Gierigkeit Weſpen und
Bienen, um Honig zu rauben, Schnekken zum Kaͤſe (l),
Fleiſchfliegen zum faulen Fleiſche und nach den leichenhaf-
ten Ausduͤnſtungen des kranken Viehes (m), und zu der
ſtapelia, die ſie dem Geruche nach zu urtheilen, fuͤr ein
Aas halten, herbeigeflogen kommen. Doch es unterſchei-
den auch die Bienen genau die nuͤzzlichen Kraͤuter, ſie
nehmen ſich fuͤr die ſchaͤdliche in acht, ſo wie fuͤr die
Narkotiſchen (n). Man kennet das Werkzeug nicht, deſ-
ſen ſie ſich im Geruche bedienen (o). Ein beruͤmter Mann
muthmaſſet (p), daß dahin der kleine Bart oder Fuͤlſpiz-
zen gehoͤren, welche an der Seite ihres Mundes liegen.
Man hat angemerkt, daß man bisweilen eine unge-
ſunde Luft aus dem Geſtanke erkennen, und meiden
koͤnne.
Es iſt zwar nicht ein Nuzzen des Geruches, aber
dennoch ein Vortheil fuͤr die Naſe, daß wir dieſen Sizz
des Geruches, wenn man Ertrunkene oder halbtodte
Menſchen wieder zu ſich ſelbſt bringen will, als den
naͤchſten Weg zu der Kunſt des Arztes anwendet (q);
indem man an dieſe faſt blos liegende, zalreiche, weiche,
und dem Gehirne ganz nahe gelegnen Nerven ſcharfe
Arzneimittel anbringt.
Wir wiederholen hier nicht, daß die Luft durch die
Naſe einen freien Durchgang findet, aber wir erinnern
doch dabei, daß ſich dieſer Weg fuͤr die Natur beſſer
ſchikket, als der Weg durch den Mund, daß man bei
einem Fehler der Naſe mit offnen Munde zwar athme,
K k 5aber
[522]Der Geruch. XIV. Buch.
aber davon eine unangenehme Trokkenheit empfinde. Da-
her ſchlizzen die Auslaͤnder ihren Mauleſeln, damit ſie in
heiſſen Gegenden deſto leichter Luft holen moͤgen, die
Naſe auf (r). Jch wiederhole auch nicht, daß ſich der
Ton der Stimme verſtaͤrke, wenn die Luft frei durch die
Naſe gehen kann, die etwas aufgehobne Knochen zittern
macht, und ſich in den Schleimhoͤlungen in die wieder-
ſchallende Gruben (s) ausbreitet. Jn der That hat
man eine unangenehme Ausſprache, wenn die Naſe ver-
ſtopft iſt (t), und es iſt die Rede an Perſonen dumpfig,
welche durch die Luſtſeuche am Gaumen oder an der Naſe
gelitten haben. Doch es iſt auch ſo gar aus der ver-
glichnen Zergliederungskunſt gewis, daß darum weder
die Schleimſinus, noch die Naſenhoͤrner gemacht ſind,
indem auch in den ſtummen Fiſchen hole Faͤcher und
Plaͤttchen da ſind, welche mit unſern Hoͤrnerchen groſſe
Aenlichkeit haben.
Das Werkzeug des Geruches empfindet einige in
der Luft umherfliegende Daͤmpfe, ſo wie das Ge-
hoͤr die Zitterungen der Luft ſelbſt. Um dieſen
Sinn zu erklaͤren, machen wir, wie ſonſt von der Zer-
gliederung den Anfang. Es hat aber dieſes Werkzeug
gleichſam drei Bezirke: den aͤuſſerſten, oder das ſo ge-
nannte Ohr und den Gehoͤrgang; den mittlern oder die
Trummel, und den innerſten oder den Jrrweg.
Dieſen Theil vermiſſen die meiſten Thiere, Jnſekten
(a), Fiſche, auch die ein warmes Blut haben (b), die
kaltbluͤtigen Vierfuͤßigen (c), die Voͤgel (d), die doch ſonſt
ein feines Gehoͤr haben. Man nennt ihn nicht, weil er
ſehr kurz iſt, und nicht vorraget (d*). Der Menſch hat
dieſen Theil, wie auch die Thiere mit vier Fuͤſſen, welche
ein
[524]Das Gehoͤr. XV. Buch.
ein warmes Blut haben, wenige oder gar keine ausge-
nommen (e), und auch dieſe haben eine undeutliche Spur
vom Ohre.
Am Menſchen und auch beinahe am Affen (f), hat
das Ohr eine laͤngliche Eirundung, es iſt am Kopfe er-
haben und einfach, und gegen vorne zu und nach einer
kuͤnſtlichen Faltung auswendig hol und von allerlei Bil-
dung.
Das Weſen des ganzen Ohres beſteht aus Knorpeln,
und dieſes elaſtiſche Weſen wird durch ein Fadengewebe,
und hierauf durch eine ziemlich zarte Haut, welche ge-
ſpannt und kaum beweglich iſt, dergeſtalt bekleidet, daß
dieſelbe faſt eben ſo gut, als ein Knorpel ſelbſt geſpannt
iſt. Selten und nur unterwerts miſcht ſich Fett darunter.
Doch hat dergleichen der beruͤmte Duverney(g) war-
genommen. Jn dem Fadengewebe koͤmmt eine Menge
von Talgblaͤschen vor, welche in dem Theile, welcher
dem Kopfe zugekehrt iſt, eine buttrige Schmier abſondern,
ſo wie in den kleinen Tiefen ein wirklicher Talg (h) ent-
ſteht, welcher ſich zu einem weichen und ſchwammigen
Schmalze verhaͤrtet, und wenn man es ausdruͤkkt, wie
Wuͤrmer anzuſehen iſt (i), und eine Entdekkung unſrer
Amſterdammer Freunde (k) iſt.
Jn den unvernuͤnftigen Thieren iſt die Wurzel des
Ohres faſt wie an den Menſchen beſchaffen, und ebenfalls
voller krummen Gaͤnge. Doch verlaͤngert es ſich gemei-
niglich oberwerts in einen Kegel (l), der inſonderheit in
wehrhaften und wilden Thieren aufgerichtet oder ſtehend
iſt, indem furchtſame Thiere die Ohren ſinken laſſen.
Man
[525]I Abſchnitt. Werkzeug.
Man hat bemerkt, daß der Haſe (m) und das Kanin-
chen (m*), welches ſchuͤchterne Thiere ſind, ihre Ohren
nach hinten zu offen halten, um den Laut ihrer Verfolger zu
vernehmen; und daß der Loͤwe (n) und die Kazze, welche
vom Raube leben, die Ohren vorne oͤffnen, um ihren
Raub nach dem Gehoͤr zu verfolgen. Das Wieſel und
Stinkthier, welche laͤngſt der Erde jagen, kehren es nach
vorne, und neigen es gegen den Horizont (n*), der Fuchs,
welcher von Baͤumen und Vogelneſtern lebt, ſpizzet es
aufwerts (n**), die Eule, welche von der Hoͤhe herab-
ſieht, nach vorne zu, und herab (n†).
Das Pferd hat ſehr bewegliche Ohrkegel, welche es
leicht nach derjenigen Gegend zu kehrt, von welcher es
den Schall vernimmt (o). Der Rehbokk (p) auf den
Luchſe, und andre Feinde von der Hoͤhe herabſpringend,
hat die Ohren nach oben zu offen. Wir haben eben ge-
ſagt, daß zame und knechtiſche Thiere die Ohren herab-
haͤngen laſſen. Jndeſſen giebt es doch in Sirien gewiſſe
Ziegen mit langen und haͤngenden Ohren, und ſie haͤn-
gen auch am Elephanten, wenn dieſer gleich wild iſt,
herab, wofern er nicht boͤſe wird.
Die Natur hat dem Menſchen bloſe Ohren gegeben,
und dieſelbe vom Kopfe entfernet (q), ſo wie ſie nach vorne
zu gerichtet ſind. Es hat ſie die Mode und beſonders der
beſtaͤndige Gebrauch der Binden an den Europaͤern, der-
geſtalt an den Kopf angepreßt, daß ſich das mehreſte vom
Fadengewebe, ſo aus dem erhabnen Theil der Schnekke,
und
[526]Das Gehoͤr. XV. Buch.
und dem Gehoͤrgange entſpringt, an die ſehnige Haube
der Hirnſchale, und die Dekke des Schlaͤfenmuſkels an-
ſchließt (r).
Hierauf folgt ein zuſammengeſezztes Band, welches
oberhalb dem Zizzenfortſazze entſpringt, und ſich in die
Wurzel des Gehoͤrganges, neben deſſen Zugange wirft,
und daneben in eine beſondre Grube eingeſchloſſen iſt (s),
ſo bald man den hintern Muſkel aus dem Wege raͤumt.
Ein anders, ſo genanntes Valſalvianiſche Band,
entſpringt vorne (t) bei der Wurzel des Jochſortſazzes,
oberhalb der Einlenkung des Unterkiefers, an der Wur-
zel des vordern Ohrblattes (tragus) und da wo ſich dieſer
mit dem auswendigen Kreiſe vereinigt, und es fuͤgt ſich,
theils vorne an den knorpligen Gang, theils an den
ſpizzen knorpligen Fortſazz des Ohres an. Jch habe bei-
des von einander unterſchieden, aber auch auſſer dem Fa-
denfaſern nichts weiter gefunden (u).
Endlich wirft ſich die lezzte knorplige Platte, welche
den Gehoͤrgang ausmacht, der ſich in kleine Streife endigt,
an beiden Enden mit einer kurzen Membran, und Fa-
denverbindung in den rauhen und knochigen Umfang,
des Gehoͤrganges hinein (x).
Die Europaͤer haben kleine Ohren, und dieſe ſind
gemeiniglich an andern Menſchen, als an den Einwoh-
nern von Siam (y), den Malabaren (z) und verſchied-
nen Amerikanern (a) groͤſſer, deren Ohrlappen bis fuͤnf
Zoll
[527]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Zoll lang herabhaͤngen. Doch vielleicht ruͤhrt dieſe mon-
ſtroͤſe Groͤſſe von eingehaͤngten Gewichte her.
Ueberhaupt ſieht das Ohr am Menſchen wie eine
Blechmuͤnze aus, welche zwo Flaͤchen hat, und an deren
inwendigen Fleiſche diejenige Zuͤge hol ſind, welche auf
den auswendigen erhaben ſtehen, und ſo umgekehrt.
Der helix, oder aͤuſſere Ohrkreis (b) endigt ganz
allein den obern Umfang des Ohres, er iſt erhaben, und
faltet ſich gegen das Ohr wieder zuruͤkke (c). Es iſt ſein
vorderes Ende breit, und flacher (d) an der Vorragung,
welche die Schnekke in zween Theile theilt (e). Sein
hinteres Ende erweitert ſich theils in die Schnekke, theils
nebſt den innern Ohrkreiſe in einen paraboliſchen freien
Streif herab, oder in den Fortſazz des aͤuſſern Ohrkreiſes
(f), wozu dennoch der innere Ohrkreis das groͤſte Stuͤkk
hergiebt (g). Dieſen Fortſazz beſchreibt zuerſt Fabri-
cius(g*), und hierauf J. Mery(h), ausgeſchnitten
und gleichſam gablig (i), und Santorin faſt gleichfoͤr-
mig. Jch habe ihn faſt eben ſo, und ſpizz gefunden (k).
Anthelix, der innere Ohrkreis (l), faͤngt ſich vorne
mit einem gedoppelten Schenkel an (m), und er wird
vom erſten und breitern Theile des aͤuſſern Ohrkreiſes be-
dekkt. Es vereinigen ſich dieſe Schenkel unter einen,
nach
[528]Das Gehoͤr. XV. Buch.
nach vorne zu offen ſtehenden Winkel. Jhr vereinigter
Huͤgel laͤuft ruͤkkwerts herab, und er endigt ſich zum Theil
in die Schnekke und den Anfang des Gegenbokkes, theils
aber, wir wir geſagt haben, in den Fortſazz des aͤuſſern
Ohrkreiſes.
So wie dieſe Vorragungen ihre Namen haben, ſo
haben auch die zwiſchen ihnen gelegne Vertiefungen ihre
Benennungen. Scapha, Schiffchen (n) heiſſet die Tiefe,
welche die Wurzel des aͤuſſern Ohrkreiſes allenthalben um-
giebt, und indem ſie nach hinten zu herablaͤuft, allmaͤ-
lich flach wird, und verſchwindet. Die ungenannte Tiefe
iſt eine kleine Erniedrigung zwiſchen den Schenkel des
innern Ohrkreiſes (o).
Concha, Muſchel (p) heiſſet die mittlere Erhaben-
heit (q), welche aus dem aͤuſſern Ohrkreiſe entſpringt (r),
theilet ſich in Figur einer Niere, deren Spalte nach vorne
zu gekehrt iſt, und ſie iſt einwerts erhaben (s). Jn die-
ſer Muſchel endigt ſich ſowohl der aͤuſſere, als der innere
Ohrkreis. Jhr oberer Theil, welcher zwiſchen dem Ur-
ſprunge des aͤuſſern Ohrkreiſes, und zwiſchen dem innern
Ohrkreiſe liegt, iſt kleiner. Jhr untrer groͤſſerer, und
tieferer Theil macht mit dem Gehoͤrgange ein Stuͤkk aus,
und zwar auf ſolche Art, wie ich gleich erzaͤlen werde.
Tragus, der Bokk (t), iſt eine faſt rundlich vierſei-
tige (u) knorplige ziemlich breite Erhabenheit, welche vorne
in die Hoͤhe geht, vor dem Anfange des Gehoͤrganges
liegt (u*), und aus der, an der Wurzel des aͤuſſern Ohr-
kreiſes entſtandnen Muſchel, herauf ſteigt, dennoch aber
von dieſem Kreiſe durch einen membranoͤſen Theil abge-
ſon-
[529]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ſondert wird. Jhn unterbricht der halbmondfoͤrmige
Einſchnitt (x).
Der Gegenbokk antitragus(y), wird vom innern
Ohrkreiſe, und von dem holen Theile der Muſchel gebil-
det, er iſt dem vorigen gleich, nur kleiner, halbeirund (z)
hat eine knorplige Vorragung, welche vor der obern
Muſchel vorliegt, und liegt weiter nach hinten.
Unterhalb beiden, und unterhalb dem Anfange des
Gehoͤrganges, befindet ſich der Ohrlappe, lobus, ein
Theil, welcher blos haͤutig, mit vielem Fette ausgeſtopft,
und dieſen hat man von dem erſten Weltalter an mit Rin-
gen und Zieraten zu puzzen pflegen.
Der Menſch iſt der einzige, ſagt Ariſtoteles(a),
deſſen Ohren unbeweglich ſind. Und dieſes verhaͤlt ſich in
der That ſo, jedoch iſt daran der Zwang der Kleider und
die Gewohnheit der erſten Menſchen Schuld. Jndeſſen
weis man hie und da von Menſchen, welche die Ohren
aufrichten (b), oder auf andre Weiſe bewegen koͤnnen (c),
davon man ein beruͤmtes Exempel am Johann Mery(d),
Bourdelin(d*), Muret(d**) und Juſtinian(d†)
hatte.
H. Phiſiol. 5. B. L l
[530]Der Gehoͤr. XV. Buch.
hatte. Zu ihrer Schoͤnheit verlangt ſie Brouzet(e)
beweglich.
Derjenige, der ſie bewegen konnte, hatte ein vor-
trefliches Gehoͤr (e*). Eſteve(e**) ſagt, daß viele das
Ohr bewegen koͤnnen.
Wenigſtens findet man an den Ohren des Menſchen
deutliche, obſchon geſchlanke Muſkeln (f), beſonders an
ſtarken Koͤrpern, und es behauptet ein beruͤmter Mann
(g), daß ſich an einem ſolchen Menſchen die Haut am
Hinterkopfe ausdehne, wenn dieſe Ohrmuſkeln wirken
ſollen.
An den Thieren bewegen ſich die Ohren deutlicher,
und ſie haben auch deutlichere und fleiſchige Muſkeln, als
das Pferd (h), Schwein (i), die Kazze (k), Rehe (k*),
Ochs (l) und andre.
Der vornehmſte Muſkel, welcher die uͤbrigen an Ver-
moͤgen uͤbertrift, iſt der Zuruͤkkzieher, oder der hintere
Muſkel (m); denn es geben ihm beruͤmte Maͤnner nur
einen einzigen Namen, ob er ſich gleich in (n) zween,
drei
[531]I. Abſchitt. Werkzeug.
drei (o), vier (p) und bisweilen in mehrere Paͤkke (q)
zertheilen laͤſt. Jn der That habe ich zween, drei, und
vier ſelbſt geſehen.
Dieſe Muſkelpaͤkke ſind fleiſchig, roͤtlich, und ziem-
lich dikke; ſie entſpringen von der Wurzel des Zizzenfort-
ſazzes, naͤmlich von den Membranen, welche dieſen Kno-
chen uͤberziehen, und die Oberflaͤche der Nakkenmuſkeln
bedekken, meiſtentheils bei den inwendigen obern Theile,
an dieſem Fortſazze (r) unter dem Muſkel des Hinter-
hauptes, indem ſie zum Theil von dieſem Muſkel bedekkt
werden, und ſie faſſen Faſern in ſich, die ihnen der
Hinterhauptsmuſkel mittheilt. Sie liegen nach der Quee-
re, oder ſie laufen bei dem Ohre hernieder. Es iſt ihr
Anfang und Ende ſehnig (s), dieſe werfen ſich in den
erhabnen Theil der Muſchel daſelbſt hinein, wo vorneher
die mittlere Erhabenheit (t) der Muſchel die Austiefung in
zween Theile abtheilt, und auch oberhalb dieſer Gegend.
Jndem dieſer Muſkel die Muſchel zuruͤkke zieht, ſo
eroͤffnet er zugleich den Zugang zu dem Gehoͤrgange.
Seine Erfinder lebten zu gleicher Zeit, und ſind Co-
lumbus, Fallopius, und Euſtach, ſo wie ihn Kaſ-
ſerius wieder bekannt gemacht hat.
Der obere Muſkel (u) oder der Aufheber des Ohrs
(x) iſt zwar breiter, aber auch ohngefehr ſo duͤnne, wie
der Stirnmuſkel, er ſchwebet auf der Bekleidung des
Schlaͤfenmuſkels, und bekoͤmmt am Umkreiſe geſtralte (y)
Faſern von der Aponevroſis der Hirnſchale, doch in ſo
fern her, daß dieſelben mehr nach hinten zu herablaufen
(z). Er iſt zum Theil von derjenigen Aponevroſis bedekkt,
welche von dem Hinterhauptsmuſkel herkoͤmmt, er uͤber-
kreuzt unter rechtem Winkel beide Schenkel des innern
Ohrkreiſes, laͤuft in die unbenannte Hoͤlung des Ohrs (a)
oder in den benachbarten innern Ohrkreis, oder auch in
den Obertheil des aͤuſſern Ohrkreiſes (b). Von vorneher
vereinigt er ſich mit dem Stirnmuſkel, hinterwerts giebt
ihm die Sehne des Hinterkopfmuſkels Faſern ab. Sein
Amt iſt das Ohr in die Hoͤhe zu heben, und den Gang
zu eroͤffnen.
Der vordere Ohrmuſkel (c) iſt faſt eben ſo beſchaf-
fen, aber nur kleiner (d), und ſchwebt ebenfalls auf den-
jenigen Membranen, die den Schlaͤfenmuſkel bedekken,
er hat einerlei Urſprung, er laͤuft mit ſeinen Faſern ge-
linde nach hinten herab, und er naͤhert ſich theils dem
Obern, theils wirft er ſich in den Fortſazz des aͤuſſern
Ohr-
[533]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Ohrkreiſes, und in die benachbarte Muſchel hinein (e).
Es wird von beruͤmten Maͤnnern mit dem Obern verbun-
den (f), von andern geleugnet (g), oder man will doch
wenigſtens angemerkt haben, daß er oͤfters mangeln ſoll
(h). Allein ich habe an einigen untern Strichen geſehen
(i), daß einer unterhalb den Faſern des obern da geweſen,
und daß dieſes folglich ein beſonderer Muſkel iſt. Zween
hat der vortrefliche Walther(k) bemerkt, davon der ei-
ne vordere zum Schiffchen, der andre zur Muſchel hin
lief; und auch Morgagnus hat zween gefunden (l).
Auch dieſer Muſkel macht, ſo viel als ihm moͤglich iſt,
den Gehoͤrgang offen.
Dennoch aͤuſert ein beruͤmter Mann die Meinung, daß
auch der Muſkel des Hinterhauptes das Seinige zur Span-
nung des Ohres, und den Ton ſchaͤrfer und genauer zu
hoͤren, mit beitrage; und dieſer Mann hat ſich viele Muͤ-
he gegeben, dieſe Theile mit allem Fleiſſe zu beſchreiben (m).
Andre ſchreiben, daß noch andre Paͤkke, als die gemei-
nen, von dem Hinterhaupte herkommen, um die Muſ-
kel zu erweitern (n).
Daß auch noch Faſern, von dem breiteſten Halsmuſ-
keln (o) nach dem Ohre hin ſtreichen, bezeugen einige
beruͤmte Maͤnner; und ich leſe von einem Niederzieher an
der Wurzel des Ohres (p); ſo wie man noch einen andern
L l 3Muſ-
[534]Das Gehoͤr. XV. Buch.
Muſkel nennt, der wurmfoͤrmig, unter der Ohrdruͤſe
von Griffelfortſazze entſpringen, und in den Gehoͤrgang
eingefuͤgt ſein ſoll (q). Alle dieſe Erzaͤhlungen mus man
unter die ſeltne Erempel rechnen.
Es ſind dieſes von den kleinſten Muſkeln des menſch-
lichen Koͤrpers einige, und ſie werden von den meiſten
der Neuern, und beſten Zergliederer gar uͤbergangen (r).
Doch da ich die mehreſten ſelbſt angetroffen habe, ſo er-
laube man mir, ſie kuͤrzlich zu beruͤhren.
So habe ich den Muſkeln des Gegenbokks(s),
welcher nicht eben der kleinſten einer, und roth iſt, ge-
ſehen (t). Dieſer iſt am obern Theile des Gegenbokks,
wo derſelbe aus dem aͤuſſern Ohrkreiſe entſteht, kegel-
foͤrmig, er laͤuft ruͤkkwerts, und hinauf (x), von da
wirft er ſich in die Wurzel des innern Ohrkreiſes (y),
und in die Kruͤmmung unterhalb dem Queerhoͤkker des
aͤuſſern Ohrkreiſes, wo er die Muſkel theilt (y*).
Er ſcheinet den Gegenbokk hinauf und ruͤkkwerts zu
ziehen, und den Eingang der Muſkel ein wenig zu ver-
engern.
Der Bokksmuſkel(z) bekoͤmmt vom Bokke, auf
welchem er liegt, ſeine Benennung. Er entſpringt am
Rande des Bokkes, in einer breiten und faſt vierſeitigen
Figur
(u)
[535]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Figur (a), wird gegen den Anfang des Gehoͤrganges et-
was enger, und bleibt im Bokke ſelbſt; doch entſteht er
auch bisweilen von der Muſchel, neben dem Bokke (b),
wie ich es geſehen habe. Jch habe es ziemlich undeutlich
gefunden (c), da der Muſkel des Gegenbokkes deutlich
zu ſehen war.
Man ſagt, daß er dem Bokk flach mache (d), und
die Muſchel erweitere.
Der Muſkel des aͤuſſern Ohrkreiſes, den Santorin
hat (e), und welchen der vortrefliche Albin(f) den groͤſ-
ſern nennt, mangelt oͤfters, und auch Valſalva er-
waͤhnt ihn nicht. Er iſt ziemlich lang, gerade, entſpringt
von dem untern Theile des breiten Anfanges des aͤuſſern
Ohrkreiſes, und ſteiget nach dem aͤuſſern Rande des aͤuſ-
ſern Ohrkreiſes, oberhalb dem Bokke in die Hoͤhe (g).
Morgagnus hat ihn ſchwerlich und ſelten finden koͤnnen
(h), und Walther zeichnet ihn undeutlich (i). Unter
meinen Aufſaͤzzen finde ich ihn nicht.
Der kleine Muſkel des aͤuſſern Ohrkreiſes, bleibet (k)
nach dem vortreflichen Albin im aͤuſſern Ohrkreiſe, er
entſteht vom untern Rande des Einſchnittes des aͤuſſern
Ohrkreiſes, wo ſich deſſen Anfang theilt, er laͤuft in die
Hoͤhe (l) uͤber die vordere Flaͤche des anfangenden aͤuſſern
Ohrkreiſes, und laͤuft in den Rand des aͤuſſern Ohrkrei-
ſes. Jch habe ihn dreimal geſehen, er nahm aber faſt an
der Mitte der Muſchel ſeinen Urſprung, und warf ſich
oberhalb dem vordern Urſprunge des aͤuſſern Ohrkreiſes
L l 4in
[536]Das Gehoͤr. XV. Buch.
in denſelben; doch dieſem widerſpricht das Kupfer des
Albins nicht (m), noch des Walthers(n). Mor-
gagnus ſagt (o), daß man ihn ſchwerlich finden koͤnne.
Der Queermuſkel des Ohres, den Valſalva(p)
beſchrieben, iſt vom Albin in Ordnung gebracht (q),
und zierlich gezeichnet worden, er liegt an den erhabnen
Theile des Ohres, was dem Kopfe entgegen geſtellt iſt,
ganz allein, er iſt lang, wenn man von ſeiner Perpendi-
kellinie redet, wenig breit, wenn man ſeine Queerlinie
nimmt, er entſteht theils von der Muſchel, und theils
von dem holen Ruͤkken des innern Ohrkreiſes (s), und
wirft ſich in das vorragende Schiffchen. Dieſe Faſern
finde ich unter meinen Aufſaͤzzen ein einziges mal.
Der neue Einſchnittsmuſkel kann nicht eher be-
ſchrieben werden, als bis ich den Gehoͤrgang abgehan-
delt habe.
Jn der Frucht, und im neugebohrnen Kinde (t), iſt
der ganze Gehoͤrgang entweder knorplig oder membranoͤs:
mit den Jahren waͤchſet an ihn, aus dem verlaͤngerten
Ringe eine knorplige Platte an (u), welche den naͤhern
Theil des Ganges bei der Trummel, und den hintern
Theil einnimmt (x), indem der vordre und aͤuſſere Theil
weich iſt. Der knochige Theil, welcher ſich mit dem rau-
hen Ende endigt, nimmt den angewachſenen weichen Theil
in ſich. Der obere Theil dieſes Ganges, welcher in der
Frucht entbloͤßt war, und zwiſchen der Wurzel des Joch-
beins
(r)
[537]I. Abſchnitt. Werkzeug.
beins und dem Zizzenfortſazze liegt, iſt ein wenig hol, und
machet nunmehr, wegen der vorliegenden eben gedachten
Platte, den mittlern Theil des ganzen Ganges, welches
aber nur ein kleines Stuͤkke iſt, aus (x*).
Der weiche Theil iſt auch im erwachſenen Menſchen,
zum Theil knorplig, und zum Theil membranoͤſe. Er iſt
ganz membranoͤſe am unterſten Theile, oder nahe an der
Trummelhaut, und denn da, wo ſich Knorpel befinden,
am obern hintern Theile des ganzen Ganges.
Das knorplige Weſen zeiget ſich an dem untern Theile
des ganzen Ganges. Es hat dieſer etwas mit den Rin-
gen der Luftroͤhre gemein, wo dieſe entweder aus dem
Luftroͤhrenkopfe entſpringt, oder wo ſie ſich in der Ver-
breitung der Lungenaͤſte auf etwas groͤbere Art zeraͤſtelt.
Auf ſolche Art habe ich den Gang in den vollkommenſten
Exempeln angetroffen.
Aus dem Bokke (y), den der halbmondfoͤrmige Ein-
ſchnitt unterbricht, entſtehet da wo ſelbiger nach hinten
zuruͤkke laͤuft, ein unvollkommnes vierſeitiges Plaͤttchen,
welches ſich an den naͤchſten Knorpel anſchließt (y*). Die-
ſes liegt, wo es weit vom Ende der Muſchel entſpringt,
(y**) unten im Gange, und es wird kleiner und ſchmaͤ-
ler und ſiehet wellenfoͤrmig gewunden aus, ſo wie es ſich
von der Muſchel entfernt. Bisweilen laͤufet es nach vor-
ne zu in Geſtalt einer kleinen Zunge fort (y†), welche ſie
unterhalb dem Bokke verſtekkt, und zwiſchen dieſem und
dem innerſten Ringe liegt.
Dieſes Plaͤttchen erzeugt aus der Vereinigung mit
demjenigen, welches ich das erſte genannt habe, hinter-
werts, ſo wie der Bokk vorwerts, einen dritten (y††)
L l 5untern
[538]Das Gehoͤr. XV. Buch.
untern und gablichen Knorpel, den der bis zum zizzenfoͤr-
migen verlaͤngerte Fortſazz vergroͤſſert, und welches der
lezzte und der Trummel naͤchſte Knorpel iſt.
Zwiſchen dieſe Knorpel legt ſich ein membranoͤſes
Stuͤkk ein, ſo daß es zween Einſchnitte giebt (z), der
erſte zwiſchen dem Bokke und dem Fortſazze der Muſchel
(a), der zweete zwiſchen dem gemeinſchaftlichen Ringe,
und zwiſchen dem dritten (a*).
Nun laufen von dem mittlern Knorpel, nach dem
dritten Muſkelfaſern uͤber, welche gar nicht undeutlich
ſind, die beiden Ringe vereinigen, und in der Thaͤtig-
keit den weichen Theil des Gehoͤrganges kleiner, und den
elaſtiſchen groͤſſer machen. Dieſes iſt der Muſkel des
groͤſſern Einſchnittes beim Santorin(b), und wel-
chen ſowohl Albin, als Morgagnus(c) auſſer Acht
gelaſſen haben. Auf Treu und Glauben unſrer Hand-
ſchrift hat dieſes der vortrefliche Kaſſebohm ebenfalls ge-
ſehen, und ich habe es auch einige male ſo gefunden.
Es iſt der ganze knochige Gehoͤrgang rundlich flach-
gedruͤkkt, er biegt ſich einwerts, und ein wenig nach vorne
zu, ſo wohl da, wo er bei ſeinem Anfange aus der Mu-
ſchel weicher iſt, als da, wo er ſich an die Trummelhaut
anſchlißt (e). Er iſt in ſeiner Mitte enger, er bieget ſich (f),
und
(d)
[539]I. Abſchnitt. Werkzeug.
und da er ſich von ſeinem Anfange an ein wenig in die
Hoͤhe bewegt, ſo laͤuft er nunmehr gerader nach vorne
hin (g).
Er endigt ſich endlich ſchief, mit ſtumpfen Ende, er
laͤuft nach vorne und unten weiter fort (h); er endigt ſich
hinterwerts und oben ſo kurz, daß er eine Sektion macht,
welche mit dem Kanale ſelbſt einen ſchiefen Winkel be-
ſchreibt (i).
Alle Thiere haben eine Art von Gehoͤrgange, und ſo
gar die Wallfiſche (k), die Fiſche (l), die eierlegende Vier-
fuͤßigen (m); doch iſt er laͤnger in den warmen Vierfuͤßi-
gen. Jn den Wallfiſchen (o), und uͤberhaupt in den
Fiſchen (p) ſind die Ohrloͤcher, oder Muͤndungen des Ge-
hoͤrganges ſehr enge; in den Schlangen (q) und Eidech-
ſen werden ſie mit einer Haut bedekkt (r), und erſcheinen
ſie gleichſam verſchloſſen.
Bisher haben wir die knochige Platte, und knorplige
Ringe dieſes Gehoͤrganges beſchrieben. Wenn man nun
dieſe Stuͤkke wegraͤumt, ſo bleibet nur der membranoͤſe
Kanal uͤbrig, den eine wirkliche Haut bildet, die ſo gar
bis zur Mitte des Ganges Haare hervorbringt (s), ſehr
empfindlich iſt, und es ſind nicht nur die Ohrſchmerzen
faſt
[540]Das Gehoͤr. XV. Buch.
faſt unertraͤglich (s*), ſondern ſie ſezzen auch leicht die
Seele ſelbſt in heftige Bewegung (t). Die Chineſer zaͤhlen
das Kizzeln unter die vornehmſten Wolluͤſte des menſch-
lichen Lebens, welches ſie mittelſt eines beſonders herum-
gedrehten Jnſtrumentes im Ohre hervorbringen (u). Es
ſcheinet die Urſache dieſer ſcharfen Empfindlichkeit auf die
Zartheit des Oberhaͤutchens anzukommen. Jnwerts wird
die Haut duͤuner, und endlich ſo zart, daß ſie duͤnner,
als das Oberhaͤutchen iſt, und hier wird dieſe Membran
vor die Trummel vorgeſpannt (x).
Dieſe Haut wird inwendig von demjenigen Oberhaͤut-
chen bekleidet, welches mit dem geſammelten Schmier,
welches ſich an daſſelbe anhaͤngt, in der Frucht zuſammen-
haͤngt (y), und eine beſondre pulpoͤſe Membran (y*) macht,
welche einige fuͤr Schleim (z) gehalten haben, und welche
die Trummelhaut anfeuchtet. Sie hat eben ſolche Runzeln,
als das uͤbrige Oberhaͤutchen, und laͤuft mit ihr in einem
Stuͤkke fort (a). Sie iſt vorhanden, wenn gleich in den
neugebohrnen Kindern die Ohren uͤberhaupt undurch-
loͤchert
[541]I. Abſchnitt. Werkzeug.
loͤchert ſind (b). Weun eben dieſe Membran dikker ge-
worden (c), ſo entſtehet daher eine Taubheit, welche da-
durch gehoben worden, daß man kleine Laͤppchen von ihr
abgezogen (d), oder ſie ganz und gar zerſtoͤrt hat (d*).
Es liegt um der aͤuſſern Oberflaͤche, wie ſonſt im
menſchlichen Koͤrper, ein Fadengewebe (e), welches aber
hier mager, und einiger maaſſen (f) in langrautige Bie-
nenfaͤcher abgetheilt iſt.
Jn den Flaͤchen dieſer Bienenfaͤcher ſizzen (g) runde
eifoͤrmige (h) gelbbraune Druͤſen, die aus einer feſten
Membran gebildet ſind, und welche ſo wohl an dem ent-
bloͤſten membranoͤſen Theile (i), als in den Einſchnitten,
und im vordern Theile des knochigen Ganges (i*), als
in der knorpligen Portion deutlich zu ſehen ſind. Jhr
Erfinder iſt Stenonius(k), und nach der Zeit erwaͤhnt
ſie auch Drelincourt(l).
Es gehet aus je[d]weder Druͤſe ein kurzer (l*) cilindri-
ſcher Gang heraus, welcher die Haut nebſt dem Ober-
haͤutchen durchbort, und ſie in die hole Roͤhre des Ge-
hoͤrganges oͤffnet.
Aus dieſen Druͤſen flieſſet ein gelber Saft, wie ein
duͤnnes Oel (m), der ſich in dem Gange, an einem war-
men Orte, und mit Beitritt der Luft, in eine Art von
gelber, ſehr bitterer, und im Feuer brennender Salbe
verwandelt (n). Mann nennt es Ohrenſchmalz. Wenn
dieſes ſtokkt, ſich ſammelt, ſo bildet es ſich oftmals in
feſte Cilinder (o), die den Gehirngang verſtopfen, und
Leute gemeiniglich taub (o*) oder ſchwerhoͤrend machen.
Man kan ſolche Perſonen leicht, mit Seife, die man in
Waſſer zergehen laſſen, und in den Gehoͤrgang ſprizzet,
wie ich oft geſehen, wieder herſtellen (p). Man lieſet hie
und da, daß das Ohrenſchmalz bei ſterbenden ſuͤſſe wer-
den ſoll (q).
Man glaubt, daß das Ohrenſchmalz, nicht nur Jn-
ſekten, welche uns groſſe Quaal verurſachen koͤnnten, ein-
wikkeln, ſondern auch die gar zu groſſe Heftigkeit ſtarker
Toͤne brechen koͤnnen (r). Auſſerdem beſchuͤzzt es, wie
ſonſt die Schmier die Haut wieder die Gewaltſamkeit der
Luft, und erhaͤlt ſie weich, und empfindlich (s). Eben
dieſen Nuzzen leiſtet auch die ſchleimige Membran in der
Frucht (s*).
Die Voͤgel haben kein Ohrenſchmalz, ſondern nur
diejenigen Thiere, die einen langen Gehoͤrgang beſizzen (t).
Es gehoͤren die Druͤſen des Bokkes (u) in das Ge-
ſchlecht der einfachen Druͤſen, dergleichen eine Menge in
der Ohrendruͤſe vorkommen.
Es iſt in der Frucht ein kleines Knoͤchgen da, welches
man von den uͤbrigen Theilen des Felſenknochens leicht-
lich abſondern kann. Dieſes (x) iſt uͤberhaupt eifoͤrmig
(y), wie ein Ring anzuſehen, und mit einer Furche aus-
getieft (z), in welche die Trummelhaut einpaſſet.
Eben dieſer Ring zerfaſert ſich in einige kleine Fort-
ſaͤzze (a) an ſeiner aͤuſſern Oberflaͤche, woran der Gehoͤr-
gang feſte haͤngt. Oben (b) fehlet ein Stuͤkk des knochi-
gen Ringes, und derjenige Theil, der dieſer Luͤkke ganz
nahe iſt, verwandelt ſich vorwerts in einen unfoͤrmlichen
Fortſazz, in dem eine beſondre Furche eingegraben (d), und
an der Wurzel des Jochbeins feſte angewachſen iſt. Der
dieſem entgegen liegende Theil des Ringes, wird hinter-
werts (e) duͤnne, und haͤngt an dem Sinus zwiſchen den
Wurzeln des zizzenfoͤrmigen Fortſazzes feſte.
Mit den Jahren waͤchſet dieſer Ring mit dem uͤbri-
gen Felſenknochen zuſammen, und in eins, und die Kno-
chenfurche ſchlieſſet zugleich die Trummelhaut feſter ein (f).
Dieſer Name iſt ihr angemeſſener, als wenn man
ſie Trummel(g) nennt, und die Analogie der Sache
verlangt es auch.
Es iſt dieſe Membran uͤberhaupt eirund (h) doch
aber ſo, daß ſie den obern Fortfazz (h*) in die Luͤkke des
Ringes wirft, welcher in der Frucht deutlicher, und ziem-
lich lang iſt, ſie iſt nach der ſenkrechten Linie laͤnger, ſchief
und dergeſtalt gelagert, daß ſie nach vorne zu herablaͤuft,
und mit dem obern Theile des Gehoͤrganges einen ſtum-
pfen Winkel, mit dem untern hingegen einen ſpizzen
macht (i). So vorhaͤlt es ſich mit der Trummelhaut im
erwachſenen Menſchen, denn in der Frucht iſt ſie, ſo wie
die Membran runder (k), ſo auch flacher und horizontal.
Sie beſchreibet keine geradlinige Flaͤche, und ſie wird auf
zweierlei Weiſe vom Hammer bauchig gezogen und ange-
trieben. Jhre groͤſſere Erhabenheit formiret faſt die Fi-
gur von der erhabnen Mitte eines Schildes, die auswen-
dig hol, aber gegen die Trummelgegend zu einwerts er-
haben iſt (l). Dieſe Figur des Schildbukkels befindet
ſich naͤher bei dem untern Ende.
Jhre kleinere Erhabenheit (m) aͤuſſert ſich da, wo
die Membran, von dem kurzen Fortſazze des Hammers,
ein wenig nach auſſen heraus getrieben wird, und ſie ragt
daſelbſt vor, und iſt inwendig hol. Sie befindet ſich
oben und vorne.
An dieſer Membran laſſen ſich ohnſchwer vier Plaͤtt-
chen unterſcheiden (n), das Oberhaͤutchen, welches im
Maceriren losweicht, und abgeht, die Haut des Gehoͤr-
ganges, das Knochenhaͤutchen des Gehoͤrganges, und
das Knochenhaͤutchen der Trummel (o). Zwiſchen dem
zwei-
[545]I. Abſchnitt. Werkzeug.
zweiten und dritten befindet ſich ein deutliches Fadenge-
webe (p) mit Gefaͤſſen (q), die ſehr ſchoͤn ſind, und ein
Baͤumchen vorſtellig machen; ein anderes dergleichen Ge-
webe zwiſchen dem dritten und vierten, und zwiſchen die-
ſen iſt auch (r) der Fortſazz des Hammers groͤſſer, oder
deſſen Stiel. Jch mag die harte Membran nicht, es ſei
denn vermittelſt entfernter Verbindungen, hieher ziehen
(s). Beide Knochenhaͤutchen verwandeln ſich, wenn ſie
trokken werden in eine geſpannte haͤsliche Membran, da
ſie doch in einem friſchen Leichname weich und feuchte iſt
(t). Diejenigen Autoren, welche nur zwei Plaͤttchen zaͤh-
len (u), oder drei zugeben, haben entweder aus dieſer
Zahl die Haut oder das Oberhaͤutchen weggelaſſen. Mor-
gagnus(x) ob derſelbe gleich anders Sinnes zu ſein
ſcheint, nimmt dennoch wirklich eben dieſe Anzahl von
Plaͤttchen an, wofern man den Sinn dieſes vortreflichen
Mannes recht einſieht.
Man findet uͤbrigens die Trummelhaut in den Vier-
fuͤßigen (y), auch an den mehreſten von kaltem Blute, als
in der Schildkroͤte (z), Schlange (a), Krokodile (b), Ei-
dechſe
H. Phiſiol. 5. B. M m
[546]Das Gehoͤr. XV. Buch.
dechſe (c), Froſche (d), in den Voͤgeln (e) und an den
Wallfiſchen (f). Die Fiſche von kaltem Blute haben
dagegen keine (g).
Dieſe Membran in den Ohren iſt bereits eine alte
Sache, welche dem Verfaſſer der hippokratiſchen Schrif-
ten (g*), und einem andern wohl bekannt war, deſſen
Werk man dem Ariſtoteles zugeeignet hat (g**). Jn
den erſten Zeiten der wieder hergeſtellten Zergliedrungs-
kunſt war ſie dem Carpenſi bekannt, ſo wie dem Achil-
lino(g†). Man will angemerket haben (h), daß zwo
und merklich von einander abliegende Membranen in
Exempeln vorgekommen, wofern dieſes nicht vielleicht Thei-
le der Trummelhaͤute geweſen, oder verzerrte Plaͤttchen
unſrer Membran vorgeſtellt hat. Oftmals wird ſie kno-
chig (i).
Da ſie eine Haut um ſich gezogen hat, ſo mus ſie
allerdings empfinden. Man berichtet, daß das Krazzen
der Trummelhaut Huſten (k) und Erbrechen nach ſich
gezogen.
Schon das Alterthum kannte dieſe Straſſe, ob man
ſie gleich gemeiniglich dem Rivin zuzueignen pflegt.
J. Colle
(b)
[547]I. Abſchnitt. Werkzeug.
J. Colle behauptete ſchon vorlaͤngſt unter den Neuern ein
Trummelloch (m). Schon lange ſchrieb J. Heinrich
Glaſer(n), daß am Kalbe ein Ring ein kleines Loch
zwiſchen der Trummelhaut, und dem Gehoͤrgange laſſe,
und daß daſelbſt zwar das Pericranium vorkomme, um
die beſchriebene Membran zu machen, die Feuchtigkeit
aber von der Trummel zum Gehoͤrgange durchflieſſe, aber
nicht umgekehrt, und daß es folglich das Anſehen habe,
daß im dieſem Loche ein klappenfoͤrmiger Bau ſtatt finde.
Nach der Zeit berichtet Emanuel Koͤnig(o), daß ihm
dieſe Straſſe vom Amman gewieſen worden, und daß
durch dieſelbe der Eiter im Kopf und Ohrenſchmalze aus
dem Ohre laufe.
Man hat naͤmlich ſchon vor langer Zeit angemerket,
daß im Kopfe oder Gehirnwunden der duͤnne (p) oder
dikke Eiter (p*), oder Blut (q) durch die Ohren ablaufe.
Man wuſte, daß auf eben dieſem Wege im Schlage (r)
und in den Erwuͤrgten (s) Blut herauslaufe. Eben ſo
lief auf eben dieſem Wege im Kopfwehe eine Menge Waſ-
ſer aus (t), und man lieſet, daß Wuͤrmer durch den
Gehoͤrgang in den Stirnſinus gekrochen (u), und daß
der Geſchmakk von einem bittern Oele, welches man in
dieſen Gang geſprizzt hatte, bis zum Gaumen durchge-
drungen (x). Man behauptete ferner, daß Dinge, die
ins Ohr gefallen, durch das Nieſen ausgeworfen werden
M m 2koͤn-
[548]Das Gehoͤr. XV. Buch.
koͤnnen (y). Vieuſſens ſahe (z), daß Daͤmpfe, die man
in den Gehoͤrgang dringen lies, bis zur Trummel und
den Jrrgang fortgiengen, ſo wie Rav(a) anmerkt, daß
Quekſilber, welches man durch die Trompete des Euſtachs
eingegoſſen hatte, wie durch ein Leder, durch die Trummel-
haut drang, und daß das, in dieſe Trompete geſprizzte
Waſſer, durch dieſelbe wieder zuruͤkk kam (b). Auſſer-
dem ſchrieben ſchon die Weltweiſen der aͤlteſten Zeiten,
daß Ziegen durch die Ohren Athem holen (c), und daß je-
mand mit ſeinem Athem, die ans Ohr gehaltene Federn
in Bewegung ſezzen koͤnnen (d), daß Leute mit ihren Oh-
ren Athem holen gekonnt (e), und wenn ſie den Mund
und die Naſe zudruͤkkten, Luft durchs Ohr (f), und zugleich
Eiter (g) ausblieſen; endlich ſchrieben viele beim Anfan-
ge des ſechszehnten Jahrhunderts (h), daß man den Ta-
baksrauch vom Munde durch die Ohren heraus blaſen
koͤnne, womit auch einige der allerneuſten Schriftſteller
uͤbbereinſtimmen (i).
Endlich ſchrieb Rivin(k) im Jahre 1689 mit groͤſ-
ſerer Genauigkeit, er habe ohngefehr an der hintern Sei-
te des oberſten Hammerſtieles nahe am Kopfe des Ham-
mers unter der Sehne der Trummel ein Loch angetroffen;
und man werde gewahr, daß dieſes Loch von einem
Schlies-
[549]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Schliesmuſkel (l) oder Kappe beherrſcht werde (m), wel-
ches man durch Zugieſſung des Waſſers beweiſen koͤnne
(n). Seit der Zeit haben viele unter den Neuern das
riviniſche Loch beſtaͤtigt (o), und einige auch damit Ver-
ſuche gemacht. Der beruͤmte Maloet ſagt, daß er es
zweimal geſehen (p), und biswetlen iſt es auch, doch ge-
meiniglich in einzelnen Exempeln (q) andern beruͤmten
Maͤnnern zu Geſichte gekommen.
Ein wirkliches, rundes Loch an einem menſchlichen
Theile, der nicht gros iſt, haͤtte nicht lange verborgen
bleiben muͤſſen. Da alſo die neuern beruͤmteſten Zerglie-
derer, von dergleichen nichts anzutreffen vermoͤgend wa-
ren, ſo verwarfen ſie dieſe Entdekkung, und zwar um
deſto eher, je mehr ein jeder Erfahrung hatte, und ſie be-
ſtanden darauf, daß man dergleichen Loch weder in der
Frucht, noch in erwachſenen Menſchen erweislich machen
koͤnne. Die Amtsgehuͤlfen des Rivins waren faſt die
erſten (r), welche den neuen Gang wiederlegten, und
eben dieſes thaten auch damals (s), ſo wie jezzo, verſchiedne
beruͤmte Maͤnner (t).
Man hat auch Verſuche angegeben, daß das Quek-
ſilber, welches man in den Gang geſprizzt, nicht in die
Trummel gelangen koͤnne (u).
Salvator (x)Morand, welcher ſich mit dieſer Fra-
ge beſonders abgegeben, rechnet das Auslaſſen des Tabaks-
rauches durch die Ohren, unter die Betruͤge, und Mor-
gagnus bekennet, daß dieſe verſprochene Wanderung des
Rauches, zu Bononien weder von ſehr erfahrnen Maͤn-
nern, noch von ihn ſelbſt geſehen werden koͤnnen (y).
Endlich urtheilte unter allen zuerſt M. Aurelius Se-
verinus(z), daß weder der Eiter noch die Luft durch
ein Loch in die Trummel kommen koͤnne, und hievon hat
Schneider einerlei Gedanken.
Wenn ſich daher das Blut in den Krankheiten des
Gehirns dieſen Weg erwaͤhlt, ſo kann daſſelbe durch Loͤcher
und Wege, welche wiedernatuͤrlich entſtanden ſind, wie
ſolches von verſchiednen Exempeln zuverlaͤßig iſt, hervor-
gedrungen ſein, es kann das Felſenbein carioͤſe (a), oder
zerbrochen (b) und geſpalten (c), oder ſelbſt die Trummel-
haut zerriſſen ſein (d). Ein beruͤmter Mann hat vor-
laͤngſt vermuthet, daß ſelbige Riſſe bekommen haben muͤſſe,
woferne man im Stande geweſen, wirklich Tabaksrauch
durch die Ohren zu laſſen (e). Sie war an der Perſon,
von der Walther Erwaͤhnung thut, von einem Ge-
ſchwuͤre angefreſſen (f), und es konnte der Menſch ſchlecht
hoͤren, an welchem Leprot ein Loch wahrnahm.
Endlich weis man von Exempeln, daß entweder die
Oeffnung des Ringes nicht voͤllig geſchloſſen, oder etwa
in der Gegend, wo ſich die Sehne der Trummel befin-
det (g), und wo der laͤngſte Muſkel des Hammers her-
aus koͤmmt, einige Luͤkke, und zwar an einem andern
Orte geweſen, als es die Beſchreibung des Rivins be-
merket.
Die Aenlichkeit hat dieſem Theile den Namen der
Trummel beigelegt, welchen ihm Fallopius gegeben (h)
und Boerhaave(i) beſtaͤtigt hat.
Sie iſt hol, in das Felſenbein der Schlaͤfe einge-
hauen, ohngefehr rund (k), dennoch aber von vorne nach
hinten zu breiter, als von oben nach unten, oberwerts
laͤnger, unten kuͤrzer (l). Von oben wird die Trummel
von der aͤuſſerſten und hintern Schuppe des Felſenbeins
beſchuͤzzt.
Jnwendig liegt der Jrrgang an ihr, deſſen Vorhof,
nach der Art eines Vorgebirges zwiſchen zwei Fenſtern,
faſt mitten in die Hoͤlung der Trummel rund hervor-
ragt (m).
Von hinten liegt an ihr das Fach des zizzenfoͤrmigen
Fortſazzes (n), doch ſo, daß es ſchwerlich ein Ganzes da-
mit macht.
Vorne und oben oͤffnet ſich die knochige Trompete in
die Trummel (o).
Unter der Trompete iſt der Kanal, durch welchen die
Carotis eintritt (p), und in dieſer Gegend iſt ſowol oben,
als hinten, die ganze Trummel von Faͤchern, Flaͤchen
und kleinen Balken rauh (q). Nicht ſelten verbindet ſich
auch zwiſchen den beiden Fenſtern, hinterwerts, das
Vorgebirge mit einem einzigen knochigen Balken, oder
mit zween, oder auch mit dem Zizzenfortſazze, oder mit der
Piramide des Steigbiegels (r).
Die kleinen Knochen nehmen in der Trummel die
obere, aͤuſſere (s) Gegend ein; die innere und nach der
Hoͤhe gemeſſene mittlere Gegend, nimmt der Steigbiegel (t),
mit dem eirunden Fenſter (u); das Vorgebirge die untere
hintere (x), das runde Fenſter die unterſte ein (y).
Jhre ganze Hoͤlung iſt durch das Knochenhaͤutchen
(z), welches voller Gefaͤſſe iſt, bezogen (z*), die ſowol
von ſich ſelbſt ins Auge fallen, als ſie ſichtbar werden,
wenn man ihre Staͤmme ausſprizzt; ſie laͤufet mit der
Schlundmembran (a), die durch die Trompete des Eu-
ſtachs koͤmmt, in eins fort, und von da thut ſie es mit
der harten Gehirnhaut (b). Eben dieſes Knochenhaͤut-
chen breitet ſich in die kleine Knochen aus, und bedekket
ſelbige (c).
Jn der Frucht iſt die Trummel gemeiniglich mit ei-
nem roͤtlichen (d) zaͤhen Waſſer angefuͤllt; ſo wie nicht
ſelten in erwachſenen Menſchen mit Schleim (d*).
Jn den Thieren ſowol den vierfuͤßigen (e) als den Meer-
thieren (f) von warmen Blute, befinden ſich gemeiniglich drei
groſſe Knoͤchgen in der Trummel, und ein kleines viertes.
Die Voͤgel haben, anſtatt dieſer kleinen Knochen, gemeinig-
lich nur ein einziges (g): und in den kalten Vierfuͤßigen als
in der Schildkroͤte (h), Eidechſe (h*), Kamaͤleon (i), der
Schlange (k), der Natter (l) und Kroͤte (m), hat es
faſt eben die Bewandnis, als mit den Voͤgeln. Dieſer
kleine einzige Knochen kann, wenn es Jemanden beliebt,
auch fuͤr zwei angeſehen werden, und er iſt ſo gebildet,
daß man in den uͤbrigen kalten Vierfuͤßigen zwei Knochen
rechnen kann, als in der Eidechſe (m*), im Krokodile (n),
Froſch (o), der Schlange (p); endlich hat der Sala-
mander uͤberhaupt gar keinen Knochen (p*). Derſelbe
M m 5hat
[554]Das Gehoͤr. XV. Buch.
hat faſt eben die Form, als den in Voͤgeln, er breitet
ſich aus einem duͤnnen Stengel zu einer faſrigen Breite
aus, er haͤngt ſich an das eirunde Fenſter an, und der
andre iſt aͤſtig, und ſchlieſſet ſich gemeiniglich an die Trum-
melhaut an (q).
Eben dieſe Beſchaffenheit hat es auch mit den kalten
Fiſchen. Jhnen fehlen die verſchiednen Knochen (r), da-
hingegen haben ſie zwei (s) oder drei Paar Steine (t) in
einer beſondern Hoͤle (u), ſie ſind uͤberhaupt auf eine an-
dre Weiſe entſtanden, und werden dennoch von beruͤmten
Maͤnnern fuͤr Gehoͤrknoͤchgen angeſehen (x).
Die vierfuͤßigen Thiere haben wirkliche Knoͤchgen, die
mit ihren Knochenhaͤutchen bekleidet (y) und inwendig in
ſubtile Faͤcherchen abgetheilet ſind. Man findet ſie in neu-
gebornen Menſchen ſchon vollkommen gebildet (z), und
im Huͤnern eben ſo gros, als im Pferde (z*).
Dasjenige Knoͤchgen, welches an der Trummelhaut
haͤngt, und in einigen Thieren einzeln iſt, wie gedacht
worden, fuͤhrt den Namen Hammer von dem dikkern
Kopfe, welcher oben ſteht. Er wurde gegen den lezzten
Theil des funfzehnten Jahrhunderts bekannt (a), nicht
daß Jakob Berengarius der Endekker, ſondern nur der
Beſtaͤ-
[555]I Abſchnitt. Werkzeug.
Beſtaͤtiger war (b). Es kommen mir im Menſchen die
uͤbrigen Gehoͤrknochen, ſo wie dieſer, viel netter geformt
vor, als in den Thieren.
Dieſes lange Knoͤchgen ſteht faſt nach der ſenkrechten
Linie gerade, wobei es ſich dennoch nach der Schiefheit
der Membran richtet, es lieget in der Luͤkke des Ringes,
mehr als laͤngſt uͤber die Mitte der Laͤnge der Trummel-
haut, und an dieſer Membran haͤngt der Hammer mit
einem langen Stiele (c).
Sein oberer dikker Theil ſieht wie ein Kopf aus, er
iſt von vorneher faſt kuglich, glatt, und lieget in dem
Winkel des Felfenbeins (d) ganz nahe an dem dikkern
Ende des Ringes. An ſeiner hintern Seite wird er an
einem kleinen Ende von zwo Gelenklinien, die vorragen
(e) und uͤber welche mitten durch eine Furche, die vorne
breiter, hinten flaͤcher iſt, ſchief laͤuft, durchſtrichen, und
alle dieſe Striche laufen ſchief nach vorne zu herab.
Unterhalb dem Kopfe zeiget ſich ein etwas engeres
Genikke (f), welches nach auswendig zu, einen kurzen
ziemlich dikken, feſten Fortſazz von ſich ſtrekkt. Dieſer
bewegt die Trummelhaut (g), und macht ſie nach aus-
wendig zu aufſchwellend.
Vorwerts aber, und etwas abwerts gehet aus eben
dieſem Nakken ein ſehr langer Fortſazz, der gemeiniglich
flach, dieſſeits faſt wie ein Spatel ſo breit, aber nicht
allezeit von einerlei Breite, und Figur (h), oft geſichelt (i)
breiter
[556]Der Gehoͤr. XV. Buch.
breiter als die Figuren (k) des Ringes, von der ich ſchon
Meldung gethan habe, und endlich in eine Spalte, wel-
che auswendig an dem hintern obern Ende der Trompete
des Euſtachius ſizzet.
Die Sache iſt nicht neu, ſonden bereits vom Veſal
(l) und Plater(m) in Grund gelegt, von Hieronimus
Fabricius(n) und mit mehrerem Fleiſſe von Caecilius
Folius(o) abgezeichnet worden. Doch es hat auch
Vesling dieſen Fortſazz des Hammers im Kupfer vor-
geſtellt (p), und Samuel Collins mit Namen benennet
(p*); unter den neuern iſt Rav der erſte (q), und von
dieſem bekam er auch den Namen.
Es koſtet keine groſſe Muͤhe ihn zu praͤpariren, und zu
erhalten, ob gleich einige denſelben ganz uͤbergehen (r) und
andre blos die Spuren (s) von einem abgebrochnen Fort-
ſazze zeichnen, andre vortrefliche Maͤnner aber demſelben
ſpaͤter angenommen (t), und er ſelbſt an den Knoͤchgen
des Rav oft fehlt (u). Bei alten Leuten haͤngt er an
der
(i)
[557]I. Abſchnitt. Werkzeug.
der Furche (x), und an den Membranen feſte, welche
die Sehne etwa eines Muſkels umwikkeln (x*).
Endlich laͤuft ſein Hammerſtiel ein wenig einwerts
herab, er iſt zwiſchen den Platten der Trummelhaut
laͤngſt dieſer Haut und uͤber ihrer Mitte feſte, und en-
digt ſich mit einem nach auſſen und vorne etwas krummen
(z), und endlich breiter werdenden Ende (a).
Der ganze Hammer wird geſchwinde zum Knochen,
indeſſen habe ich doch in einer Frucht einen kurzen dikken Fort-
ſazz, und einen knorpligen Stiel gefunden, ſo daß bald
der bloſſe Kopf des Hammers knochig, und bald auſſer-
dem auch der ſehr lange Fortſazz es war. Folglich ſchei-
net es nicht ſehr muthmaslich zu ſein, daß er aus einer
Sehne verhaͤrtet ſei, und in Faſern, wie die Sehne
pflegt, zertheilt werden koͤnnen (b).
Man lernte den Ambos zugleich mit dem Hammer
kennen, denn es konnte faſt nicht anders ſein, da beide
Knoͤchgen ſo nahe bei einander liegen. Man vergleicht
den Ambos nicht uneben mit einem Bakkenzahne, allein
es ſperren ſich ſeine beide Schenkel ein wenig ſtaͤrker aus-
einander.
Sein Lager iſt in dem obern, auswendigen, hintern
Theile der geſammten Trummel (c). Sein breiter Theil
iſt, wie die Krone an einem Zahne, ausgeſchnitten, und
er wird durch eine Furche mitten durch abgetheilt in einen
obern
(y)
[558]Das Gehoͤr. XV. Buch.
obern und untern Theil, welche beide durch eine etwas
krumme Linie niedergedruͤkkt ſind (d), und mitten durch
von einer vorragenden Anhoͤhe getheilt werden. Durch
dieſe Linien, welche nach vorne zu gekehrt ſind, haͤngt der
Ambos, vermittelſt einer zarten Knorpelſchale an beiden
Knoͤchgen, und dergleichen Vergliederungskapſel zuſam-
men, ſo viel als es hier die Geſchlankheit der kleinen
Knoͤchgen verſtattet,
Nach dieſer Breite zerſpaltet er ſich in zween kleine
Schenkel. Der kuͤrzere (e) feſtere und kegelfoͤrmige
ſteiget mit der obern Linie ſchief und ruͤkkwerts herab, mit
dem untern liegt er horizontal (f), er endigt ſich mit ei-
nem geſpaltenen Ende in eine Spizze (g), und ſtuͤzzet
ſich auf eins der Faͤchergen, deren viele in dem Knochen
ausgehauen zu werden anfangen, und er verliert ſich da-
ſelbſt in dem zizzenfoͤrmigen Faͤcherchen (h). Jch habe
ihn in einer Frucht knorplich gefunden.
Das geſchlanke Schenkelchen, welches ein wenig
laͤnger, und mit dem Hammerſtiele faſt parallel iſt, laͤuft
auf einige Entfernung von der Trummelhaut (i), doch
nicht nach der Mitte herab, es wendet ſich mit ſeinem er-
weiterten, und einwerts etwas gekruͤmmten Ende (k), von
dieſer Membran einwerts weg, und iſt an dieſem Ende
mit einer kleinen Grube ausgetieft (l). Das aͤuſſerſte
erhab-
[559]I. Abſchnitt. Werkzeug.
erhabne Ende dieſes Muſkels beruͤhret den Steigbiegel
(m), und haͤngt ſich mit einer ungemein kleinen Verglie-
derung an denſelben an.
Man findet in dem warmen Vierfuͤßigen (n) und
Wallfiſchen (o), nicht aber in den uͤbrigen Thierklaſſen
den Ambos.
Da der Steigbiegel an ſich kleiner iſt, ſo hat man
denſelben auch ſpaͤter kennen lernen, und es erfordert es
die Billigkeit, die Ehre ſeiner Erfindung dem Euſtach
zuzueignen (p). Denn ob gleich Reald Columb(q),
J. Philipp Jngraßias(r), Fallop(s), und Veſal
(s*), darauf Anſpruch machen, ſo ſcheint es doch, da
Euſtach mehr andre Stuͤkke des Gehoͤrwerkzeuges, und
Columb und Jngraßias nichts entdekkt, wenigſtens
wahrſcheinlich zu ſein, daß dieſer Theil von demjenigen
ans Licht gebracht worden, welcher auf Erforſchung dieſer
Theilchen viele Muͤhe verwandt hat.
Es lieget dieſes Knoͤchgen faſt mitten, doch zugleich
hinter der Trummel, uͤber dem Vorgebuͤrge, ſo daß es
faſt mit dem Horizonte parallel, und mit dem Koͤpfchen
auswerts (t), mit der Grundflaͤche aber einwaͤrts gekehrt
iſt. Es ſiehet ziemlich wie der Steigbiegel heut zu Tage
aus, welches ein Huͤlfsmittel iſt, das den alten roͤmiſchen
Rittern unbekannt war. Sein kleines rundes (u) nach
auſſen
[560]Das Gehoͤr. XV. Buch.
auſſen etwas holes Koͤpfchen, nimmt den laͤngern Schen-
kel des Amboſſes in ſich.
Es pflegen die alten Zergliederer gemeiniglich die
Schenkels des Stiebiegels gar zu gerade zu zeichnen (x),
ſo daß daraus ein dreiſeitiger Knochen wird, da es doch
an dem wahren Steigbiegel eine andere Beſchaffenheit
damit hat, weil ſie etwas krumm gebogen ſind, und es iſt
das vordere derſelben zugleich kuͤrzer, und gerader, das
laͤngere aber und kruͤmmere lieget hinten (y) Beide ſind,
um eine angewachſene Membran in ſich zu nehmen, mit
einer Furche ausgehoͤlt (y*), wo ein jeder Schenkel nach
ſeinem Nebenſchenkel zugekehrt iſt. Jhre Geſtalt iſt nicht
immer einerlei (y**); und ich habe einen faſt dreiſeitigen
Steigbiegel, mit langen geraden Schenkel, aber auch ei-
nen runden mit ſehr krummen Biegeln, und unfoͤrmlichen
geſehen.
Endlich hat die breitere, eifoͤrmige Grundflaͤche(z),
welche nach auſſen zu an der Trummelhaut etwas we-
niges hol (a) gegen das eirunde Fenſter aber erhaben iſt
(b), oben einen Umkreis der kruͤmmer iſt, ſo wie der un-
tere
[561]I. Abſchnitt. Werkzeug.
tere Umkreis gerader wird (c). Uebrigens iſt ſie feſte,
und keine ſiebfoͤrmige Platte (d).
Er wird von einer beſondern Furche des Felſenbeins,
welche fuͤr ihn paſſet, und ihm einige Beweglichkeit
verſtattet, aufgenommen.
Der ganze Zwiſchenraum, welcher ſich zwiſchen den
Schenkeln des Steigbiegels, zwiſchen der Baſis und
dem Kopfe befindet, iſt mit einer Membran voller Ge-
faͤſſe (e), und welche an den Furchen der Schenkel an-
gewachſen iſt, bekleidet. Einige haben dieſe Haut ge-
doppelt (f) und mit einem Mittelraume vorgeſtellet;
und ich bin nicht dawider, wenn ich ſolches gleich nie-
mals geſehen. Ein beruͤmter Mann (f*) hat dieſe
Membran in Knochen verwandelt gefunden.
Eben die Thiere, bey denen ſich der Ambos findet,
haben auch einen Steigbiegel (g). Jn den Voͤgeln
paſſet dieſes Knoͤchgen ſowohl an die Trummelhaut, als
an das eirunde Fenſter an. Er iſt ein Knorpel, deſſen
aͤuſſeres Stuͤkk wie ein holer ungleichſeitiger Triangel
ausſieht: ſeine Hipotenuſe ſtekkt zwiſchen den Plaͤttchen
der
H. Phiſiol. 5. B. N n
[562]Das Gehoͤr. XV. Buch.
der Trummelhaut, die zween Schenkel ſtoſſen in der
Spizze eines laͤngern Fuſſes zuſammen, deſſen innerſtes
Ende in ein auf beiden Seiten holes eirundes Plaͤttchen
eingefuͤgt iſt, welches auf ein aͤnliches Loch des eirunden
Fenſters paßt.
Es hat der ſcharfſichtige Morgagnus einige Spu-
ren von dem rundlichen Knoͤchgen(h) bei dem
Arantius(i) angetroffen (k). Uebrigens eignet man
die Entdekkung dieſes Knoͤchgen gemeiniglich dem
Franz Silvius de le Boe(l) zu; und es iſt kein Wun-
der, daß dieſes ſo kleine Theilchen unter allen Knochen
des menſchlichen Koͤrpers am ſpaͤteſten bekannt ge-
worden.
Es iſt eirund (m) an beiden Seiten ein wenig aus-
gehoͤlt (n), und ruhet zum Theil auf der innern, etwas
holen Oberflaͤche, des langen Schenkels des Amboſſes,
(o) zum Theil auf dem inwendigen Theile des Steigbie-
gelkopfes, denn es lieget weder zwiſchen dem Amboſſe
(p) noch Steigbiegel. Doch es iſt nicht nur beſtaͤndig
vorhanden, ob es gleich von einigen beruͤmten Maͤn-
nern
[563]I. Abſchnitt. Werkzeug.
nern (q) nicht angenommen worden, ſondern es iſt auch
weder ein Fortſazz vom Amboſſe (r), noch vom Steig-
biegel (s). Wenn man naͤmlich dieſen auf die Seite
ſchaft, ſo ſizzet dennoch das rundliche Knoͤchgen noch im-
mer auf dem Amboſſe. Doch will ich nicht in Abrede
ſein, daß es nicht daran antrokknen koͤnnen ſollte (t).
Daher glaube ich, daß man es fuͤr einen Anſazz gehal-
ten habe (t*).
Auſſer dieſen beſtaͤndigen Knoͤchgen, ſind bisweilen
von einigen beruͤmten Maͤnnern (u) noch einige, ent-
weder im Menſchen, oder doch in den unvernuͤnfti-
gen Thieren bemerkt worden. Das erſtere iſt ſeltener,
aber dennoch im Menſchen vorgekommen, und gleichſam
ein Linſenknoͤchgen, welches zwiſchen dem Hammer und
Amboſſe liegt, und vormals von unſerm Schwieger-
vater (x) gemeldet worden.
Ferner redete Schelhammer(y) da er von dem
Werkzeuge des Gehoͤres inſonderheit ſchrieb, von einem
Knoͤchgen an dem innern Muſkel des Hammers, wel-
ches noch niemand gefunden, und welches etwa ein
knochiger Haken war (y*), um welchen ſich die Sehne
dieſes Muſkels biegt.
Ein anderes koͤmmt am Muſkel des Steigbiegels
vor, und man ſollte glauben, daß Veſling(z) daſſelbe
meine, ob dieſer gleich den beruͤmten Silvius fuͤr den
N n 2Urhe-
[564]Das Gehoͤr. XV. Buch.
Urheber ausgiebt: dergleichen melden auch Rolfink
(a)Folius(b)Schelhammer(c) T. Bartholin
(d) und Bilſius(e). Die Neuern haben dergleichen
mehrmalen (f) doch in den Thieren (g) gefunden.
Endlich ſoll noch ein anderes Knoͤchgen unter dem
kuͤrzern Schenkel des Amboſſes und daſelbſt gelegen
haben (h), wo derſelbe auf dem Anfange des zizzenfoͤrmi-
gen Sinus aufliegt. Auch dieſes hat man blos in Thie-
ren gefunden.
Dieſe kleine Membranchen, denn dikker ſind ſie
nicht als Haͤutchen, haben nicht allezeit einerlei Be-
ſchaffenheit, ob ich ſie gleich deutlich, beſonders an eini-
gen Trummeln an jungen Perſonen geſehen habe.
Jch habe am Hammer zwei Baͤnder bemerkt.
Das hintere(i) unterſtuͤzzete wie ein krumliniges
Dreiekk inwendig den laͤngern Schenkel des Amboſſes,
und von auſſen den Stiel des Hammers; es endigte ſich
im Muſkel des Steigbiegels, es lief in eins fort, vom
Umkreiſe der Trummel queer durch, und nach vorne zu,
uͤber die Sehne der Trummel.
Das vordere, welches nahe am laͤngſten Fortſazze
des Hammers, zwiſchen dieſem und dem Steigbiegel
aus der Trummel entſteht, lief abwerts zuruͤkke, warf
ſich zugleich in den Hammerſtiel, und trennete nebſt dem
vori-
[565]I. Abſchnitt. Werkzeug.
vorigen, nach Art einer Scheidewand den obern Theil
der Trummelhoͤle, von dem untern (k).
Der Ambos hat (l) ein deutliches Membranbaͤndchen,
welches ſich in den kuͤrzern Schenkel, und deſſen Furche
wirft, und aus dem Zugange zu den zizzenfoͤrmigen
Faͤcherchen entſpringt, auf welchem dieſer Schenkel
ſizzet.
Der Steigbiegel wird mit ſeinem Trummelwinkel,
welchen er beherrſcht, wiederum vermittelſt eines Mem-
branchen von der groͤſſern Trummelhoͤle abgeſondert.
Das Membranchen endigt ſich bei dem Muſkel dieſes
Steigbiegels.
Noch andere Baͤnder hat der ſehr genaue Caſſe-
bohm gefunden (m) davon eins ſich von dem Rande zwi-
ſchen den Schenkeln des Amboſſes ſich zu dem Hoͤkker
ausſtrekkte, unter welchem der halbzirkelfoͤrmige Canal
von auſſen verborgen liegt. Er ſagt, daß oft eins,
oder das andere fele. Jch habe auch die Sache anders
gefunden, als ich ſie hier beſchrieben.
Es haben zwei von dieſen Knoͤchgen ihre Muſkeln.
So hat der Hammer ſeinen beſondern Muſkel, welcher
nicht klein, ſondern viel groͤſſer, als ſein ganzes Knoͤch-
gen iſt. Dieſer innere Hammermuſkel, oder Trum-
melſpanner(n) liegt in derjenigen Furche (o), welche von
N n 3oben
(i)
[566]Das Gehoͤr. XV. Buch.
oben und auswendig an der Euſtachstrompote liegt (p).
Er iſt in dieſer Furche befindlich, und entſpringt weiter
vorwerts zwiſchen dem Durchgange der Gehirncarotis,
und dem Loche der Schlagader der Gehirnhaͤute, von
demjenigen Stuͤkke des Fortſazzes des vielfoͤrmigen
Knochens, welches mit dem Fluͤgel den Einſchnitt macht,
in den der Knorpel der Trompete aufgenommen wird;
und ſo entſpringt er auch weit von dem knorplichen Theile
der Trompete (q). So laͤuft derſelbe, vorne und hin-
ten ſehnig, an der Mitte fleiſchig, gleichſam von
einer Scheide bedekkt, zuruͤkke (s) ein wenig nach auſſen
zu, bis zur Trummel fort, in welche ſich ein Theil,
der fuͤr dieſen Muſkel beſtimmten Furche verlaͤngert (t).
Hier bildet an dem Ende ſeiner Furche, welches kno-
chig iſt (u) bisweilen das Band eine Rolle; bisweilen iſt
der Knochen allein (x) und der Muſkel bieget ſeine
Sehne herum. Von da aͤndert der Muſkel ſeinen
Gang (y) er neigt ſich herab und nach auſſen, zugleich
mit ſeiner Scheide (z) und wirft ſich, unter dem Ham-
merkopfe, dem kurzen Fortſazze gegen uͤber, in den An-
fang des Hammerſtieles, unterhalb dem laͤngſten Fort-
ſazze (a). Es mus bisweilen der Bau eine andere Be-
ſchaffenheit haben, und es mus diefer Muſkel mit dem
aͤuſ-
(o)
(r)
[567]I. Abſchnitt. Werkzeug.
aͤuſſern Muſkel des Hammers vereinigt ſein, und ſich
in den einbaͤuchigen (b) Muſkel begeben, welcher vier
Schenkel hat. Winslow ſchreibt, daß dieſelben ganz
nahe liegen. Doch es haben auch viele Alten dieſem Mu-
ſkel zwo Sehnen zugeſchrieben (c). Jch habe beſtaͤndig die
Sehne einfach geſehen. Man glaubt, daß die Mem-
bran beruͤmte Maͤnner hintergangen habe (d).
Man pfleget dieſen Muſkel fuͤr den Ausſpanner der
Trummelhaut anzuſehen (e), und er ſoll dieſen Hammer,
und die mit dem Hammerſtiele verbundene Membran
einwerts ziehen, den Bukkel der Mitte dergeſtalt mehr
nach einwerts vorzuragen noͤthigen, (e*) daß da der Win-
kel zwo gerader Linien, die auf dieſen Bukkel gelegt
worden, ſpizzer wird, dieſe Membran dadurch laͤnger
wird. Wenn man dieſen Muſkel zerſchneidet, ſo wird
die Trummelhaut laͤnger (f). Folglich hat man ihn
unrecht fuͤr den Nachlaſſer gehalten: denn es entſtehet
dieſer Zuſtand der Membran nicht, wenn dieſer Muſkel
wirkt, ſondern wenn er zerſtoͤret worden.
Er iſt ein wirklicher Muſkel, indem ſo wohl ſein
Fleiſch, als ſeine Sehne deutlich in das Auge faͤllt,
und folglich kann man ihn weder fuͤr ein Band, noch
fuͤr einen Nerven anſehen (g). Man iſt ſeine Erfin-
dung dem Euſtach ſchuldig (g*), ob ihn gleich vor dem
N n 4Jahr
(r)
[568]Das Gehoͤr. XV. Buch.
Jahre 1561. Veſal aus einem Kalbe dunkel beſchrie-
ben hat (h). Jch glaube aber doch, daß Euſtach ſei-
nen Muſkel vor dem Veſal entdekkt hat, weil dieſer
vortrefliche Mann das ganze Werkzeug des Gehoͤrs,
welches gewis ein langwieriges Werk und keine Sache
von Einem Jahre iſt, in dieſem Buche beſchreibt.
Veſal erzaͤhlt ſchon neuere Dinge, und die gemachte
Anmerkungen, ſeit dem er ſchon das Fallopiſche
Werk, ſo im Jahre 1561. herausgegeben worden, ge-
leſen hatte.
Die Schriftſteller ſind nicht eben ſo bei den uͤbrigen
Hammermuſkeln, unter ſich eins. Es entſtehet der
aͤuſſere(i) des Caͤcil Folius, nach andern der vor-
dere(k) oder der ſchiefe (l) aus dem vordern Ende des
ſpizzen Fortſazzes, den der vielfoͤrmige Knochen zwi-
ſchen dem ſchwammigen und felſigen macht (l*). Er
tritt in die Rizze (m) des Schlaͤfengelenkes mit dem Un-
terkiefer, durch welche die Trummelſaite (n) koͤmmt, und
in dieſer Rizze laͤuft dieſer rundliche, faſt gerade Mu-
ſkel ruͤkkwerts, und ein wenig nach auſſen, und legt
ſich von allen Seiten um den laͤngſten Fortſazz des
Hammers herum (o).
Beruͤmte Maͤnner nehmen dieſen Muͤſkel in Schuzz,
und glauben, daß er den Hammer vom Amboſſe nach
vorne ziehe (p) damit die Wirkung eines groſſen Kra-
chens nicht mit ihrer ganzen Gewalt bis zu dem innerſten
Werkzeuge gelangen moͤge.
Doch es ſind vorlaͤngſt (q) und vor Kurzem Maͤn-
ner geweſen, (r) welche an den wirklichen Fleiſchfaſern
dieſes Muſkels gezweifelt, (s) da ſie ſahen, daß zwar
viel von der Membrane, die eine Fortpflanzung des
Knochenhaͤutchens iſt, (t) die Furche des Kiefers anfuͤllt,
und um den laͤngſten Fortſazz herumwaͤchſt, an derſelben
aber kein fleiſchiges Weſen wahrnahmen. Meine Ver-
ſuche entwikkeln die Sache eben ſo wenig. Jch habe
den Muſkel, ſo oft ich wollte, gezeiget, aber immer bin
ich zweifelhaft geblieben, ob ich auch wahre Faſern da-
ran geſehen habe.
Ein anderer Muſkel, den ſein Erfinder Caſſerius
vormals den aͤuſſern(u) nannte, und Hieronymus
Fabricius(x) beſchrieb, iſt kleiner (y) und undeutli-
cher, und ſoll von dem knochigen Gange des Gehoͤrs,
daſelbſt ſeinen Urſprung nehmen, wo er mit der Mem-
bran zuſammengrenzt, naͤmlich am obern und hintern
Theile (z) er ſoll mit der innern Membran bedekkt ſein,
N n 5welche
[570]Das Gehoͤr. XV. Buch.
welche das Ohrenſchmalz abſondert, allmaͤlich enger
werden, einwerts durch die Furche des unterbrochnen
Ringes (a) und oberhalb der Trummelhaut in die Sehne
gehen, und ſich neben der Wurzel des kuͤrzern und dik-
ken Hammerfortſazzes in denſelben werfen (b).
Wenn dieſes ein Muſkel iſt, ſo laͤſſet er in der That
die Trummelhaut nach, und ziehet ſie nach der auswen-
digen Seite hin. Doch man hat laͤngſt ſchon an dieſem
Muſkel gezweifelt (c). Und ihn haben vor uns einige
beruͤmte Maͤnner nicht (d) andre hingegen zwar gefunden
und beſchrieben, aber ihm dennoch wenig offenbare
Kraft beigelegt (e).
Vieuſſen haͤlt ihn fuͤr Druͤſen, und mir ſcheint er
eine Membran des Gehoͤrganges zu ſein (f). Der be-
ruͤmte Lieutaud(f*) nennt es das aͤuſſere Band.
Jch habe niemals zuverlaͤßige Faſern, ſo wenig
als Morgagnus bemerken koͤnnen, wenn dieſer mit
einem Vergroͤſſerungsglaſe die Sache unterſuchte (g).
Doch es hatte auch Caſſerius ſchwerlich einige hoͤchſt
zarte Faſern ſehen koͤnnen; und Fabricius zeichnet ſie
dergeſtalt (h) daß man dasjenige, was der Zeichner aus-
druͤckt,
[571]I. Abſchnitt. Werkzeug.
druͤckt, fuͤr keinen wirklichen Muſkel halten kann:
Caſſebohm geſtehet es, daß man ihn in den meiſten
Ohren kaum unterſcheiden koͤnne (i).
Dieſer zuverlaͤßige Muſkel, woran Niemand mehr
zweifeln kann, ob er gleich der kleinſte im menſchlichen
Koͤrper iſt, wurde vom Varolius erfunden (k, l)
und vom Caſſerius(m) und andern (m) fuͤr ein Band
gehalten (n); ſo wie ihn andre fuͤr ein knochiges Kuͤ-
gelchen anſahen (o), ob er gleich nunmehr bekannt ge-
nung iſt.
Es befindet ſich ein knochiger Kegel (p) an dem untern
hintern Theile der Trummel: er raget nach vorne her-
vor, und oͤffnet ſich mit einer Muͤndung, welche ſich
gegen den Steigbiegel zu kehrt.
Es iſt dieſer Kegel inwendig hol, und ganz und gar
mit einem wirklichen Muſkel, welcher fleiſchig iſt, aus-
gefuͤllt (q), deſſen Sehne aus einem Loche des Kegels (r)
heraus
[572]Das Gehoͤr. XV. Buch.
heraus koͤmmt, nach vorne laͤuft, (s) und ſich in den
hintern Theil des Steigbiegelkopfes (t) unter der Ein-
lenkung mit dem Amboſſe wirft (u).
Er ziehet den Steigbiegel dergeſtalt an ſich, daß
ſein hinterer Theil hoͤher getrieben, auf das eifoͤrmige
Loch trift, und der vordere Theil von diefem Loche ab-
weicht (x).
Der Ambos hat keinen Muſkel, denn es begiebt
ſich in dieſes Knoͤchgen weder die eine Sehne des ein-
baͤuchigen Muſkels (y) noch derjenige Muſkel, welchen
Ruyſch(z) von ohngefehr bemerkt haben will, und
den kein Neuerer wieder finden koͤnnen. Der gabliche
Muſkel, welchen der beruͤmte Mery, dem Hammer
und Amboſſe zuſchreibet (a) iſt offenbar die Saite der
Trummel, welche dieſen ſonſt ruhmwuͤrdigen Mann hin-
ter das Licht gefuͤhrt.
Wir haben die Saite der Trummel bereits oben
beſchrieben (b). Auſſer ihr trift man ſonſt an der Trum-
mel nichts merkwuͤrdiges mehr an; und es iſt nur noch
uͤbrig, daß wir auch die verſchiedne Ausgaͤnge, welche
in die Trummel fuͤhren, beſchreiben. Es befindet ſich
alſo
[573]I. Abſchnitt. Werkzeug.
alſo oberhalb dem Hammer, und Amboſſe, und neben
dem hintern Schenkel dieſes Knoͤchgen, ein Faͤchgen
(c) und gleichſam ein Anhaͤngſel der Trummel, ohnge-
fehr wie ein Sonnenzeiger, welche von obenher mit der
Platte bedekkt iſt, womit ſich die Hirnſchale endiget,
hinten aber iſt ein knochiges Huͤgelchen, welches nach
Art eines hoͤkkrigen Vorgebirges vorragt, ſeine Grenze.
Hinter dieſem Fache faͤngt der felſige Knochen, wel-
cher laͤngſt ſchon oberhalb dem zizzenfoͤrmigen Fortſazze
Faͤcher hatte, an, in Faͤcher ausgehoͤlt zu werden, welche
hernach, ſo wie ſich dieſer Fortſazz mit den Jahren ver-
laͤngert, dergeſtalt ſelbſt mit herablaufen und ſich ver-
laͤngern. Sie werden groͤſſer, bekommen allerlei Fi-
guren, (d) ſind gros (e) und klein (f) und ſtehen in ein-
ander offen.
Diejenigen Faͤcher, welche oberhalb dem Fortſazze
ſind, (g) felen auch der Frucht nicht, in der ich jedoch,
nach dem Jnhalte meiner Aufſaͤzze, oͤfters nur ein einzi-
ges groſſes Fach angetroffen habe (h).
Die Faͤcher, welche im Fortſazze vorkommen, er-
zeugen ſich in der That mit demſelben (i), da die aͤuſſere
Platte des Knochens von dem zweibaͤuchigen Muſkel
nieder-
[574]Das Gehoͤr. XV. Buch.
niedergezogen, von der innern durch die harte Gehirn-
haut befeſtigt und weggezogen wird, und die mittlern
Faͤcher der ſchwammigen Subſtanz der Hirnſchale zwi-
ſchen beiden nach der Laͤnge ausgeſtreckt werden.
Auch der hintere Theil der Trummel iſt gegen dieſen
Fortſazz zu von Faͤchern rauh (i*).
Thiere, welche ein ſcharfes Gehoͤr haben, beſizzen
bald dieſe oder jene Schallhoͤlungen in der Hirnſchale,
(k) und dieſe iſt an dem ſo gelehrigen Elephanten (l)
ganz und gar voller Faͤcher. Jn Voͤgeln, die ein mu-
ſikaliſches Gehoͤr haben, haben beide Ohren oberhalb
und unterhalb dem Gehirne inwendig, eins mit dem
andern Gemeinſchaft (m) und es ſind die Faͤcher zwi-
ſchen den beiden Platten der Gehirnſchale (n) ununter-
brochen und in Menge vorhanden.
An dieſen Faͤchern, welche ich beſchrieben habe, iſt
die Membran voller Gefaͤſſe, und roten Saftes, wie
an allen Orten an den Knochen, und ich finde hier nichts
beſonders druͤſiges, oder was den Schleimhoͤlen aͤnlicher
waͤre (o). Jch habe ſie, wie die Trummel in der That
ganz voller roten Schleim gefunden, und es iſt kein
Zweifel, daß zwiſchen ihnen und der Trummel keine
offne Straſſe ſein ſollte (p).
An dem unterſten ſchwammigen Theile des Schlaͤfe-
knochens zeigen ſich Faͤcher, welche ebenfalls mit den
zizzenfoͤrmigen Gemeinſchaft haben (q).
Ein andrer Weg, welcher aus der Trompete fuͤhrt,
iſt groͤſſer, und liegt weiter nach vorne. Er faͤngt ſich
mit dem halbgetheilten Kanale, welcher in der Trum-
mel ſichtbar iſt, (r) vor dem Vorgebirge an, und laͤuft
von da nach vorne, und zugleich ein wenig einwaͤrts
fort. Er iſt blos im innern Theile des Felſenkno-
chens (s) ausgehauen, und oͤffnet ſich endlich mit einer
rauhen unfoͤrmlichen Muͤndung, zwiſchen der Graͤte
des vielfoͤrmigen Knochens, und dem Gange der Caro-
tis (t). Er wird, ſo wie er fortgeht, immer enger,
als der Zugang aus der Trummel (u). Es iſt ſein
Durchſchnitt ungleich, und beruͤmte Maͤnner machen
ihn elliptiſch (x).
Jn dieſer Gegend ſchlieſſet ſich eine zwote Trompete,
an dieſen knochigen Canal an, welche ebenfalls aus dem
Kegelgeſchlechte iſt, und im Fortgehen weiter wird (y)
bis
(p)
[576]Das Gehoͤr. XV. Buch.
bis zum Schlunde, wo ſie ſich oberhalb dem bewegli-
chen Gaumen, zu naͤchſt an der Wurzel des Fluͤgels,
des innern fluͤgelfoͤrmigen Fortſazzes (z), doch etwas
mehr nach hinten zu, als der Zugang von der Naſe (a)
beim Schlunde oͤffnet, und mit einer weiten Muͤn-
dung, die nach auſſen laͤnger vorlaͤuft (b) die aber oben
kuͤrzer, und nach einwerts und vorne zu offen iſt, oͤff-
net. Es umgiebt ein geſchwollner (c) haͤutiger Ring
ihre Muͤndung, in welcher ſich Schleimdruͤſen zeigen.
Es iſt dieſer Theil der Trompete von einer gemiſchten
Beſchaffenheit. Jhr oberſter knochiger Theil iſt rauh,
ungleich, und aus dem Schlaͤfenknochen und dem viel-
foͤrmigen Knochen (d) und einer gemiſchten Membran
zuſammengeſezzt. Mitten an ſelbige ſchlieſſet ſich ein
Knorpel von der Figur einer Pflugſchaar (e) an, welche
den kleinern Theil, und die Seiten einnimmt. Das
Ende iſt membranoͤſe.
Jch habe dieſen Knorpel in drei Theile an ſeinem
Ende zerſpalten geſehen, und daß er unterwerts eine
Furche hatte, in welche ein knochiger Griffel lief. Jch
habe auch geſehen, daß hier zween Knorpel waren: ein
oberer, welcher aus dem Knochen ſelbſt hervorkam (f);
und ein unterer, welcher die Muͤndung (g) verſicherte.
Jch habe an deſſen Stelle gleichſam einen knochigen Ci-
lin-
[577]I. Abſchnitt. Werkzeug.
linder den untern und mittlern Theil des knorplichen
Stuͤkkes befeſtigen geſehen. Valſalva beſchreibt die
Sache dergeſtalt, daß der Knorpel den obern halben
Theil des Canals einnahm (h), und einen Theil des
Ringes ausmachte (i). Wiederum auf andere Art zaͤ-
let der beruͤmte Lieutaud(k) zween Knorpel, einen
groſſen hintern dreiſeitigen dikken, mit den Knochen ver-
bundenen, aus denen die Trompete koͤmmt: und einen
kleinen, welcher nicht an die Muͤndung der Trompete
reichte.
Jhre Seiten ſind zuſammengedruͤkkt, (l) und die
Section ſtellet eine Ellipſis vor.
Jn der Frucht iſt ſie ganz und gar membranoͤſe (m)
und ohne Knorpel.
Die inwendige Membran der Trompete, welche
bei ihrem Anfange am Schlunde weich, ſchleimig, und
druͤſig iſt, artet allmaͤlich zu der Zartheit eines Kno-
chenhaͤutchen aus (n).
Man glaubet, daß ſie dem Alkmaͤon in ſo weit
bekannt geweſen, daß er wenigſtens wuſte, wie zwi-
ſchen dem Ohre, und dem Wege des Athemholens eine
freie Straſſe ſei (o). Beſſer hat Ariſtoteles den Weg
vom Ohre zum Gaumen beſchrieben, durch welchen eine
Blutader lief (p). Veſal kannte die Trompete, ob er
gleich annahm, daß ſie zugleich zum Durchlaſſen der
Luft, und des Nerven des fuͤnften Paares diene (q).
Doch
H. Phiſiol. 5. B. O o
[578]Das Gehoͤr. XV. Buch.
Doch es hat auch J. Philipp Jngraßias(r) dieſen
Weg erwieſen. Allein Euſtach hat denſelben viel ge-
nauer beſchrieben (s). Einige der Neuern (t) und nicht
die Franzoſen allein (u) haben ſie unter dem Namen der
Waſſerleitung beſchrieben; und man hat ihnen ſchon
lange her vorgeworfen, daß ſich dieſer Name nur fuͤr
einen Canal ſchikke, welcher den harten Nerven aus der
Hirnſchale herausfuͤhrt.
Man findet ſie jederzeit in den warmen Thieren (x)
und in den Voͤgeln (y), und es iſt dieſe Trompete in ei-
nigen kalten Thieren (z) die Hauptſtraſſe fuͤr den Schall.
Der beruͤmte Geofroi(a) will, daß ſie nicht in der
Schlange vorkomme. Jm Froſche iſt ſie gros und of-
fen (a*).
Es ſtehet die Trompete beſtaͤndig offen, und ſie
kehrt ſich dergeſtalt, gegen den von uns ſo genannten
unterſten Naſengang (b), daß die auf dieſem Wege an-
kommende Luft, nothwendig in die Trompete dringen
muß (c) nicht nur, wenn wir die Speiſe hinabſchlin-
gen
[579]I. Abſchnitt. Werkzeug.
gen, (d) ſondern auch bei dem natuͤrlichen Einathmen, wel-
ches wir mittelſt der Naſe verrichten. Wenn wir den
Athem an uns halten, ſo ſcheinet die herabgedruͤkkte hin-
tere weiche Gaumenſeite (velum palati) den Weg in die
Trompete freier zu machen, daß die Luft mit einem
Rauſchen ins Ohr dringt; (e) und man hat bemerkt, daß
die angehaltene Luft die Trummelhaut zerſprengt (f).
Man hat behauptet, daß ſich auch auf dieſem Wege
durch das Nieſen (g) die Trummel reinige; daß Kuͤgel-
chen, welche man ins Ohr geſtekkt, durch den Mund
wieder hervorgebracht worden: (h) und in dieſem Falle
muͤſſe nothwendig die Trummelhaut ein weiteres Loch ge-
habt haben.
Auch die neuern Wundaͤrzte haben gelernt, ihre
Werkzeuge (i) durch den Mund in die Trompete zu
ſtekken, und durch dieſen Weg in Krankheiten heilende
Feuchtigkeiten in die Ohren zu ſpruͤzzen. So ſind auch der-
gleichen mediciniſche Fluͤßigkeiten, welche man in ein
Geſchwuͤr, neben den zizzenfoͤrmigen Fortſaͤzzen ein-
ſpruͤzzte, (k) in der That in den Mund herabgelaufen.
Sie ſteht wegen ihrer knorplichen Beſchaffenheit
beſtaͤndig offen; und es zeiget ſich auf dieſem Wege
keine Klappe (l) ſo wenig, als dieſelbe hier nothwendig
O o 2waͤre,
(c)
[580]Das Gehoͤr. XV. Buch.
waͤre (m), weil kein Weg aus dem Munde zur Trom-
pete im Niederſchlingen der Speiſe vorhanden iſt.
Denn in dieſem Geſchaͤfte verſtattet der herabgedruͤkkte
bewegliche Gaume, welcher an die Zunge gezogen wird,
uͤberhaupt keinen Zugang zu der Trompete des Eu-
ſtachs(n). Es koͤnnte im Erbrechen, wenn die Spei-
ſen auf eine widerliche Art durch die Naſe ausgeworfen
werden, etwas davon hinein kommen; wiewol auch als-
denn die Enge der knochigen Muͤndung, mit der die
Trompete aus der Hirnſchale hervor koͤmmt, gleichſam
die Wache haͤlt.
Eine Muthmaaſſung iſt es, daß die Muſkeln die
Trompete erweitern, und wieder zuſammen druͤkken,
weil der herumgebogne Muſkel des weichen Gaumens
zum Theil von dem Knorpel der Trompete entſpringt (o)
und ſelbige herabziehen kann, indem er gegen den Fluͤ-
gelhaken, als gegen einen feſten Ort niederſinkt.
Solchergeſtalt lieſſe ſich die Trompete des Euſtachs er-
weitern (p). Dahingegen behauptet der vortrefliche
Albin, daß die Trompete von dieſem Muſkel ein klein
wenig zuſammengedruͤkkt werde; (q) und es will nicht der
juͤngere Duverney,(r) daß ſie ſich erweitern laſſe.
Mir ſcheinet es nicht wahrſcheinlich zu ſein, da der Knor-
pel den untern Theil der Trompete einnimmt, daß ſel-
bige von dem Muſkel, der ſich laͤngſt dem Fluͤgelhaͤk-
chen herumſchlingt, erweitert werde. Dahingegen lieget
der bewegliche mittlere Theil der Trompete zwiſchen die-
ſem Muſkel, und zwiſchen dem Aufheber des beweg-
lichen Gaumens; (s) und er kann von dem aufſchwellen-
den
[581]I. Abſchnitt. Werkzeug.
den Hebemuſkel in ſo ferne in Bewegung geſezzt werden,
daß entweder der Schleim, oder dasjenige aus ihr her-
ausgeworfen wird, was in dieſelbe auf widernatuͤrliche
Art herein geraten iſt.
Es zelget ſich vornaͤmlich aus der Trummel nach
dem Jnnerſten des Ohres ein gedoppelter Weg: einer,
welcher groͤſſer, und deutlicher, faſt mitten an der
Trummel (t) und hinterwerts zwiſchen dem Vorgebirge
(u) und der Waſſerleitung liegt; und ein ovaler, oder
wie eine Niere geformter, (x) deſſen unterer und vorde-
rer Umkreis, eben ſo wie an der Baſis des Steigbie-
gels gerader, der obere und hintere aber mehr gekruͤmmt
iſt (x*). Um ihn laͤuft gegen den Vorhoff ein vorra-
gender Rand herum (y). Gegen die Trummel zu macht
der Kanal einen Boden, welcher ziemlich tief iſt (z)
und zwiſchen eben dieſer Waſſerleitung, und dem Vor-
gebirge ſeine Stelle bekoͤmmt. Jn dieſem Kanale liegt
der Steigbiegel. Ein beruͤmter Mann macht dabey die
Anmerkung, daß das Fenſter vom Steigbiegel nicht
voͤllig ausgefuͤllt wird; (a) welches an ſich wahr iſt, wenn
die Rede von einer vollkommnen Ausfuͤllung iſt.
Es findet ſich an dieſem Fenſter keine Membran,
welche ſonſt beruͤmte Maͤnner hieher ſezzen, (b) weil es
von der Baſis des Steigbiegels beſezzt wird: und ich
verſtehe unter der Membran, welche der vortrefliche
Morgagnus erwaͤhnt, (c) das Knochenhaͤutchen des
Vorhofes.
Es liegt das runde Fenſter an einem ſchlimmern
Orte, unterhalb dem vorigen (d) im Winkel des Vor-
gebirges hinten und unten und dergeſtalt ausgehauen,
daß es ſchief nach der hintern und aͤuſſern Gegend zuſieht,
(e) und ebenfalls von einer ovalen Figur (f) in eine
Spizze herablaͤuft, und in dieſer Richtung laͤnger er-
ſcheint (g).
Dieſes Fenſter enthaͤlt in einer eigenen Furche (h)
eine Membran, wodurch es von der Leiter der Trum-
mel abgeſondert wird (i), und gegen die Schnekke rund iſt
(k); denn es iſt vielmehr ein Kanal, als ein Loch, wel-
cher zwo Muͤndungen hat.
Wir haben beide Fenſter dem Fallopius(l) zu
verdanken. Ein aͤnlich oval Fenſter haben alle diejeni-
gen Thiere, deren Hammer ſich in eine Art von Trom-
pete erweitert, die vierfuͤßigen alſo, die Voͤgel und
einige kalte Thiere ausgenommen (m).
Das runde Fenſter ſteht nicht ſo weit offen, und
man findet es nicht, ausgenommen in den Thieren von
warmen Blute.
Es mag genug ſein, dieſe Loͤcher hier zu nennen, da
ich ſie ohnedem an einem andern Orte wieder anfuͤhren
mus. Es gehoͤren demnach darzu der Beitritt eines
kleinen Nerven, welchen man die Trummelſaite nennt (n),
der Ausgang deſſelben aus der Trummel, der Lauf eines
viel kleinern Nerven nach dem Steigbiegelmuſkel (o);
eine kleine Schlagader, welche aus der Griffelzizzenader
zur Trummel geht (p), ein offenes Stuͤkkchen der Waſ-
ſerleitung (q) wo der Nerve bei den zizzenfoͤrmigen Faͤ-
chern entbloͤßt vorragt.
Jnſonderheit aber laufen da, wo der felſige Theil des
Schlaͤfeknochens mit dem ſchwammigen zuſammen-
haͤngt, etwa drei kleine Schlagadern (r) von dem Ge-
hirnhaͤuteaſte der aͤuſſeren Carotis zur Trummel hinab,
und von dieſen wollen wir an ihrem Orte Erwaͤnung
thun. An einem Gerippe ſieht man die Loͤcher entbloͤßt
liegen. Man glaubt, daß dieſes der Weg ſei, auf
welchem das Blut (s), der Schleim (t) und waͤſſrige Ei-
ter (u), oder das Gehirn (x) aus der holen Hirnſchale,
und wofern aus der Trummel nach dem Gan-
O o 4ge
[584]Das Gehoͤr. XV. Buch.
ge ein Weg vorhanden iſt, in ſo vielen Exempeln aus
dem aͤuſſern Gange herausgefloſſen; ja es glauben be-
ruͤmte Maͤnner, daß die natuͤrliche Feuchtigkeit der
Trummel, auf eben dieſem Wege, von der harten Ge-
hirnhaut herkomme (y). Andre ſtellen ſich dagegen vor,
daß die Luft auf eben dieſer Straſſe zur harten Gehirn-
haut eindringe (z). Man will auch, daß die durch die
Euſtachstrompete eingeſpruͤzzte Saͤfte auf eben dieſem
Wege in das Gehirn uͤberſteigen.
Jn der That finden ſich an einem Knochengeribbe die
Wege dazu (z*), allein ſie ſind in einem lebendigen Koͤr-
per voller Gefaͤſſe, welche nicht das mindeſte durchlaſ-
ſen, wenn man nicht Gewalt gebraucht, ſie zu erwei-
tern. Jch habe bisweilen in einigen ſchlimmen Zufaͤl-
len, ſo gar die Felſenknochen geſprengt geſehen, und es
kann auch an einem andern Orte, als in der Hirnſchale,
eine Schlagader zerriſſen geweſen ſein (a).
Es iſt noch der innerſte Theil des Gehoͤrwerkzeuges
uͤbrig, welchen man mit einem gemeinſchaftlichen Na-
men Jrrgang belegt; weil die Alten, bevor man die
Zergliederungskunſt genauer beſtimmte, in dieſer Ge-
gend eine unzaͤhliche Menge Kanaͤle annahmen (a*).
Der
[585]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Der Vorhoff bedeutet die mittlere Stelle (b) in dieſem
Jrrgange. Er iſt eine rundliche Hoͤle, mitten am
Felſenbeine, wo ſich dieſes nach der Trummel wendet,
und das Vorgebirge macht.
Wenn man die Sache genauer erforſchet, ſo finden
ſich in dieſer kleinen Kammer zween oder drei Winkel.
Der untere derſelben iſt zirkelrund (c), oder halbkug-
lich (d).
Der obere ſiehet wie ein halbes Ei, oder elliptiſch
aus; (e) und er lieget in der Gegend der Muͤndung des
halbrunden mittlern Kanals.
Der dritte furchaͤhnliche Winkel (f) hat ſeine Stel-
le, da wo die Muͤndung des gemeinſchaftlichen Kanals
iſt, welcher aus den beiden halbkreiſigen eins wird.
Dieſe Winkel werden von vorragenden knochigen Li-
nien abgeſondert (g). Die vornemſte dieſer Linien iſt
piramidenfoͤrmig, und endigt ſich mit einer deutlich ge-
zakkten Spizze (h).
Jn dieſem Vorhofe zeiget ſich ein nerviges Fleiſch (i)
welches von einem Knochenhaͤutchen eingeſchloſſen
wird (k). Zwiſchen dieſem Fleiſche und den knochigen
O o 5Waͤn-
[586]Das Gehoͤr. XV. Buch.
Waͤnden wird man einen Dunſt gewar, der ſich in eine
Feuchtigkeit (l) anhaͤuft. Folglich kan man nicht |mit
Zuverlaͤßigkeit behaupten, daß darinnen Luft ſein ſollte,
wenn gleich alle Schriftſteller einſtimmig waͤren (l*).
Jn dieſen Vorhoff oͤffnen ſich viele groſſe Loͤcher: die
Muͤndung der einen Schnekkenleiter (m), die obere
Muͤndung des obern halbzirkligen Kanals (n), die un-
tere Muͤndung des untern halbzirkligen Kanals (o), die
gemeinſchaftliche Muͤndung des halbzirkligen obern und
untern Kanals (p), die obere (q) und untere (r) Muͤn-
dung des aͤuſſern halbzirkligen Kreiſes; das eirunde Loch,
welches ſich gegen die Trummel oͤffnet (s); die kleinen
nervigen Gaͤnge, welche das Mark vom weichen Nerven
herbeileiten (t), oder die kleinen Flekken, die fuͤr dieſe
Straſſe beſtimmt ſind (u); und die Durchgaͤnge der klei-
nen Schlagadern, welche ich wenig kenne (x), und die
Gehoͤrſchlagader entſpringen, ſo wie die Wege der Blut-
adern (y).
Man glaubt gemeiniglich, daß durch das eirunde
Loch, Luft und Feuchtigkeit aus der Trummel in den
Vorhoff kommen koͤnne (z).
Die zwote Hoͤle iſt die Fallopiſche(a) und das| |fo-
rum metallicum des Veſals(a*). Dieſe hat die Natur
ſowohl den Voͤgeln (b) als den kaltigen vierfuͤßigen
Thieren mitgetheilt.
Jn der Frucht enthaͤlt der felſige Knochen unter ei-
ner duͤnnen und glatten Schale (c) viel vom Fadenge-
webe, welches weich und voller Saft iſt. Es befinden
ſich in dieſem knochigen Fadengewebe wirkliche Kanaͤle
von ſehr verſchiedener Natur, welche aus einem hoͤchſt-
zerbrechlichen Knochen gemacht, unterſchieden, und
ſchon zu der Zeit vollkommen ausgebildet ſind, wenn
der Menſch ans Tageslicht koͤmmt. Jn dieſem Alter
iſt es nicht ſchwer, dieſe Roͤhren entbloͤßt und vom Fa-
dengewebe frei zu praͤpariren; und es hat ſie Folius(d)
zuerſt, und nach ihm Johann Mery in ihrem entbloͤß-
ten Zuſtande abgezeichnet (e). Jndem dieſer Knochen
groͤſſer waͤchſet, ſo wird das Fadengewebe hart, es ver-
engern ſich ſeine Raͤumchen, und endlich vereinigen ſie
ſich mit der Schale der halbzirklichen Kanaͤle, ohne ſich
davon wieder abſondern zu laſſen, und alsdenn laſſen
ſich dieſe Roͤhrchen nur durch die Kunſt wieder herſtel-
len (f). Sie nehmen die hintere (g), die obere und
aͤuſſere Gegend des Felſenbeins ein. Sie zeigen ſich in
der Frucht von ſelbſt, da ſie nur mit einem duͤnnen Kno-
chen
[588]Das Gehoͤr. XV. Buch.
chen bedekkt ſind (h), weniger aber im erwachſenen
Menſchen (i).
Alle haben dieſes unter einander gemein, daß ſie et-
was weniges mehr, als einen Halbzirkel (k) Kruͤmmung
machen; und alle haben ihre Muͤndungen in dem Vor-
hofe, die gemeiniglich um etwas (l) breiter (m) als al-
lezeit der mittlere Kanal ſind, uͤbrigens aber zum Theil
elliptiſch (n) und zum Theil rund ausfallen (o), ſo wie
der Durchſchnitt des Kanals ſelbſt zum Theil eine El-
lipſe, zum Theil aber ein Zirkel iſt (p). Alle haben
auch noch inwendig ihr Knochenhaͤutchen, (q) das Ge-
faͤſſe hervorbringt, und ihre Feuchtigkeit, wie im Vor-
hofe (q*).
Sie finden ſich faſt uͤberall im Thierreiche in den Vier-
fuͤßigen von warmen Blute (r), in den kaltbluͤtigen (s),
Voͤgeln (s*) und in den Fiſchen (t). Nur in den
Schlan-
[589]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Schlangen will man ſie vermißt haben (u). An der Zahl
trift man ſie gemeiniglich und im Menſchen faſt allezeit
dreifach an (x); doch hat man bisweilen zween Ka-
naͤle (y), niemals aber mehr (z) gefunden.
Man hat dieſen Kanaͤlen allerlei Namen gegeben,
und unter andern, nach den muͤhſamen Vermeſſungen,
welche in der That allen Ruhm verdienen, hat man ſie
in den groͤſten, mittlern und kleinſten(a),(b) abge-
teilt. Weil man aber Dinge nach ihrer Lage am leich-
teſten abteilt, ſo wollen wir dieſe auch zum Grunde
legen.
Es liegt der obere(c)ſenkrechte(d)vordere und
kleine(e) Kanal ſchief, er machet mit der Lage des Fel-
ſenbeins faſt rechte Winkel, und ſtrekkt ſich von vorne
und auſſen nach hinten und inwendig zu (f). Er hat
zwo Muͤndungen, beide ſind nach unten gekehrt. Die
aͤuſſere
[590]Das Gehoͤr. XV. Buch.
aͤuſſere iſt ihm eigen (g) eirund (h); und die innere, die
er mit dem untern gemein hat (i), zirkelrund (k). Doch
es laufen noch vorher beide Kanaͤle in eins, und machen
einen gemeinſchaftlichen, faſt cilindriſchen Kanal mit
einander aus (l).
Der andre untere(m), hintere(n) auch ſenkrech-
te(o) und groͤſſere Kanal (p) lieget an einem niedri-
gern Orte (q) faſt mit dem vorigen unter einem rechten
Winkel, er hat ſeine Lage hinterwerts, und iſt in Ver-
gleichung der Laͤnge gemeiniglich groͤſſer: und hat zwo
Muͤndungen unten, die eine hintere, welche ihm ei-
gen (r) zirkelrund (s), oder elliptiſch iſt (t), denn man
findet dieſe Figur abwechſelnd (u); die obere und vor-
dere hat mit dem obern Kanale eine gemeinſchaftliche
Rundung (x).
Er iſt bisweilen nicht groͤſſer, als der vorhergehen-
de (y) aber auch bisweilen wieder kleiner (z).
Der dritte horizontale(a), untere(b), aͤuſſer-
liche(c) und kleinſte(d) lieget, doch nach auſſen ab-
haͤngig
[591]I. Abſchnitt. Werkzeug.
haͤngig (d*) zwiſchen den beiden vorhergehenden: er hat
ſein Lager unten, hinterwerts und nach auſſen zu (e).
Man ſiehet an ihm zwo Muͤndungen, die aͤuſſere, wel-
che zirkelrund (f), die innere, welche oval iſt (g).
Mir ſcheint vorlaͤngſt dieſe kleine Maſchine im menſch-
lichen Koͤrper, eine der allerkuͤnſtlichſten zu ſein.
Man nennt ſie, von der groſſen Aehnlichkeit (h), die
ſie mit der Sache hat, Schnekke; und man hat ſie be-
reits in den aͤlteſten Zeiten einigermaaßen gekannt (i).
Man findet ſie allein in den vierfuͤßigen Thieren (k)
und dem damit verwandten Wallfiſchgeſchlechte (l): die
Voͤgel haben ſie nicht, (l*) ſo wenig, als die Schlan-
gen (m) und die Fiſche von kaltem Blute (n).
Sie iſt in der Frucht beſſer bekannt, denn wenn man
die innerſte Schale, wie wir eben geſagt haben, am
Felſen-
[592]Das Gehoͤr. XV. Buch.
Felſenbein wegſchaft, ſo erſcheint die wahre, und aus ſehr
zerbrechlichen Knochen (o) zuſammengeſezzte Schnekke,
welche die vordere Gegend des Felſenbeins einnimmt (p),
und zwar kurz vor dem vordern Ende des obern halb-
zirklichen Kreiſes (q).
Sie lieget, faſt der Quere nach, dergeſtalt, daß ihre
Baſis nach dem Kanal der Gehoͤrnerven, die Spizze
etwas weiter nach hinten, als der Kanal des Euſtachi-
ſchen Muſkels (r) vor dem Hammer, ein wenig aus-
werts und vorwerts gewandt iſt, inſenderheit aber ab-
werts geneigt iſt (s). Sie waͤchſet in erwachſenen Men-
ſchen mit dem faͤchrigen Gewebe des Knochens zuſam-
men; und alsdenn laͤſſet ſich von ihr ſagen, daß ſie ein,
in das Felſenbein eingehauener Kanal ſei (s*).
Jn dieſer Schnekke findet man zwo volle Kreiswin-
dungen, mit einer dritten halben (t) verbunden, ohne
eine mittlere (u) wie man ſonſt im Geſchlechte der Schaa-
lenthiere antrift, und dieſe werden auch eben ſo wohl ge-
gen die Spizze enger (x).
Wenn es auf ein zuſammengeſezztes und undeutliches
Theilchen ankoͤmmt, ſo beruhet die Hoffnung eines deut-
lichen
[593]I. Abſchnitt. Werkzeug.
lichen Vortrages einzig und allein auf der Eintheilung.
Es winden ſich demnach die Zuͤge dieſer Schnekke um
eine Spindel, oder um einen knochichen Kegel (y), wel-
cher dergeſtalt geneigt iſt, daß die ganze Schnekke, mit
ihrer Baſis gegen den Gehoͤrſinus zugekehrt iſt, und
mit ihrer Spizze gegen die Furche des innern Hammer-
muſkels zu ſteht. Sie durchlaͤuft nicht die ganze Laͤnge
der Schnekke (z), ſondern ſie endigt ſich mit ihrer Spiz-
ze mitten an der zwoten Windung in dem Trichter. Es
hat dieſer Kegel von der Mitte der Baſis bis zur Spiz-
ze eine kleine hole Furche an ſich (a), und die Spizze
iſt mit kleinen Loͤcherchen beſezzt (b). Jhr Durchſchnitt
iſt von einer Ellipſis hergenommen (b*).
Die Baſis dieſes Kernes iſt einigermaaßen hol, und
mit einer Menge Loͤcher durchbohret (b**): ſie empfaͤngt
einen von den dreien kleinen Staͤmmen des weichen
Nerven (c), welcher weiter, nebſt einigen Blutgefaͤſ-
ſen (d) durch dieſe Furche, doch nicht bis zur Spizze
hin, laͤuft.
Es iſt auch die ganze auswendige Oberflaͤche der Spin-
del, welche zu der Hoͤle der Schnekke mit gehoͤrt, mit
kleinen Loͤchern durchbohrt (e), welche in gedoppelter Rei-
he
H. Phiſiol. 5. B. P p
[594]Das Gehoͤr. XV. Buch.
he liegen (e*), und an der Leiter der Trummel zahlrei-
cher ſind (e**).
Endlich ſo wird das innere Ende der Spindel, wie-
der von ihrem engſten Stuͤkke an, weiter zu werden; es
verwandelt ſich in einen holen Kegel (f), welcher in der
Gegend des Kanals des Euſtachiſchen Muſkels weiter
wird, und den die neueren Schriftſteller mit dem an-
gemeſſenen Namen des Trichters belegen. Jn dieſe
Schale oͤffnet ſich aus der Spindel ein groͤſſeres Loch (g)
nebſt andern ganz kleinen Loͤchern (h).
Um dieſe Spindel windet ſich, gleichſam als um
eine feſte Stuͤzze, ein Kanal (i) herum, welches eigent-
lich die Schnekke iſt, und welchen man, von anderen
Augenpunkten betrachtet, (k) fuͤr eine einzige, in einen
Kreis zuruͤkklaufende Roͤhre anſehen koͤnnte.
Doch es laͤuft aus der Spindel, und aus der Platte,
welche ihre Oberflaͤche endigt, (k*) in die Hoͤle der Schnek-
ke ein knochiger Fortſazz, der ſich in einen Kreis biegt,
flach nach der Qveere gelegt, ſchnekkenfoͤrmig, und im
Fort-
[595]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Fortgehen immer duͤnner iſt, und die Stiegen der
Schnekken abtheilt (k**). Dieſes iſt die Spiralplat-
te der Antoren (l). Der innere Theil dieſer Scheide-
wand, welcher dem Kerne naͤher, groͤſſer, vom Eu-
ſtach genannt (n) und knochig iſt, beſtehet aus einem
hoͤchſt zarten und faſt biegſamen Knochen (o). Jhre
Flaͤche, welche ſich zur Stiege des Vorhofes kehrt, iſt
von Koͤrnern und Hoͤkkern ungleich (p); die Flaͤche,
welche an die Stiege der Trummel reicht, hat vorra-
gende Striche, welche von der Spindel hervorkom-
men (q). Der aͤuſſere Theil, der vom Kerne weiter
ab liegt, iſt duͤnner, glatt und einfach, (r) aber dennoch
ſehr zart liniirt.
Das uͤbrige an der Scheidewand iſt membranoͤſe, und
zuerſt vom Kaſſerius erwaͤnt worden (s). Dieſe Zo-
ne des Valſalva(t) iſt eigentlich das Knochenhaͤutchen
der Schnekke, welches weniger Gefaͤſſe enthaͤlt (u),(x),
und ebenfalls, wie der knochige Theil doppelt, (y) indem
es einen kleinen Raum zwiſchen ſich laͤſſet, in welchem
Raͤumchen Nerven und Gefaͤſſe befindlich ſind. Sie
ſcheidet voͤllig die hole Roͤhre der Schnekke in zwo Hoͤ-
lungen ab, da ſie an dem aͤuſſern Umkreiſe dieſer Hoͤ-
lung angewachſen iſt. Es zeigen ſich die Loͤcher dieſer
P p 2Gefaͤſ-
[596]Das Gehoͤr. XV. Buch.
Gefaͤſſe, mit welchen ſie aus der Spindel kommen, zwi-
ſchen beiden Platten der knochigen Scheidewand (z).
Eben dieſe Bekleidung umſchlieſſet anfaͤnglich die Kno-
chenplatte; und ſie laͤuft nachgehends, wenn dieſe Platte
zu Ende geht, allein weiter fort.
Doch in derjenigen Gegend, wo nunmehr keine Spin-
del mehr iſt, ſondern die Schale, oder der Trichter,
windet ſich dieſe Spiralplatte, welche hier viel enger
wird, blos mit ihrem glatten Theile (a) auch um den
Trichter herum (b) und ſie endigt ſich an deſſen Seiten,
erſt in knochiger Geſtalt, nachgehends aber als eine
Membran, dergeſtalt, daß ſie nahe an der Baſis des
Trichters (c) mit einer kleinen Oefnung abſteht, die der
membranoͤſe Theil der Platte auf die Art davon trennt,
daß von beiden Stiegen, davon gleich die Rede ſein ſoll,
ein Zugang in den holen Trichter offen bleibt (d). Eben
dieſe Platte, welche an dem oͤberſten Gewoͤlbe der Schnek-
ke haͤngt, endigt ſich daſelbſt (e) in Geſtalt eines Haͤk-
chens, womit ſie ſich in die gegen uͤberſtehende Seite,
wo ſich der letzte Kreis zu winden anfaͤngt, einſenkt (f).
Cotugnus will, daß ſie am Trichter aufhoͤren ſoll (g).
Auf eine andere Art hat dieſen Bau der uͤberaus fleiſ-
ſige Caſſebohm,(h) anders wieder ſelbſt Morgag-
nus(i) beſchrieben, der ſich aber dennoch kein Gnuͤge
leiſtet; anders erzaͤhlet es Cotugnus(k). Man koͤnnte
aus
[597]I. Abſchnitt. Werkzeug.
aus den Worten des Bartolus(l) ſchlieſſen, daß die
Stiegen im Mittelpunkte, oder der Spizze der Schnek-
ke, unter ſich Gemeinſchaft haben, daß alſo die Luft im
Kreiſe herumgefuͤhrt wuͤrde. Das runde Loch, mit dem
die Stiegen unter ſich Gemeinſchaft haben, hat Me-
ry(m) zuerſt deutlich gezeigt. |Denn es ſchrieb auch
Willis daß die Scheidewand der Schnekke mit einem
Loche durchbrochen ſei (n).
Es theilet demnach dieſe Platte, die in eine Kreisli-
nie gewundne Schnekkenhoͤle, in zwo Hoͤlungen ab. Die-
ſe Hoͤlungen bekommen von ihrem Anfange (o) ihre rich-
tige Benennungen her; denn es laͤßt ſich von der Lage
weder was gewiſſes, noch was hinlaͤnglich deutliches,
beſtimmen (p).
Es faͤngt ſich die Stiege des Vorhofes(q) in dem
untern Theile dieſes Ganges (r) mit einer breitern Muͤn-
dung an (s): ſie liegt mehr nach auſſen (t), mehr nach
vorne (u) und mehr nach unten (x), als ihre Nebenſtiege:
P p 3ſie
[598]Das Gehoͤr. XV. Buch.
ſie iſt ſchmaͤler (y), laͤnger (z) und beſteht aus einem el-
liptiſchen Schnitte (a).
Sie oͤffnet ſich in die Schale, zwiſchen dem Zinni-
ſchen Haͤkchen der Spiralplatte, und zwiſchen dem
Gewoͤlbe der Schnekke (b).
Die Trummelſtiege(c) nimmt ihren Anfang von
dem runden Fenſter (d) mit einer kleinern Muͤndung;
ſie liegt mehr inwendig (e), mehr nach hinten (f) und
hat einen breitern Durchſchnitt (g). Sie oͤffnet ſich
ebenfalls in die Schale, zwiſchen eben demſelben Haͤk-
chen und der innern Wand der Schnekke (h).
Jnwendig werden beyde Stiegen von dem Knochen-
haͤutchen (i) bekleidet, welches mit der Gefaͤſſemembran
des Vorhofes in eins fortgeht (k).
Auſſerdem findet man in der Schnekke, ſo wie im
Vorhofe, oͤfters ein Waͤſſerchen (l), das oft roth und kle-
brig iſt.
Unter den Nerven des Gehoͤrwerkzeuges giebt es
einige, welche auswendig, oder inwendig liegen. Jene,
und auch nicht wenige von dieſen, ſtammen vom Ner-
ven
[599]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ven des ſiebenten Paares her (m). Wir haben ihren
Stamm in den Gehoͤrſinus, oder bis in die Hoͤle des
Felſenbeins begleitet: wir muͤſſen ſie alſo auch bis an
ihre Enden fortfuͤhren.
An dem hintern Steiſſe des Felſenbeins, faſt mitten
zwiſchen den vordern und hintern Enden dieſes Knochens,
befindet ſich nahe am obern flachen Winkel gleichſam ein
Loch, welches ſchraͤge nach vorne zu fuͤhrt, und vorne
mit einer ſchwachen Furche die ankommende Nerven auf-
nimmt, hinten aber ſich mit einem Bogen endigt, wel-
cher ſich zu einer Spizze verlaͤngert (n).
Von auſſen endigt ein blindes Ende dieſe Hoͤle. Jn
dieſer zeigen ſich zween Winkel. Der obere kleinere (o)
nimmt den harten Nerven auf, und laͤſſet ihn nach der
Waſſerleitung laufen. Wir haben dieſen Nerven, nebſt
den uͤbrigen beſchrieben.
Aus eben dieſem Winkel fuͤhret ein Loch, das etwas
kleiner, als die Waſſerleitung iſt, in die halbelliptiſche
Hoͤlung des Vorhofes (p). Bertin iſt zur Zeit noch
der einzige, der einen kleinen Nerven aus dem harten
Stamme, in einen einzigen halbzirklichen Kanal, durch
ein beſonderes Loch der Waſſerleitung fortfuͤhrt (p*).
Der untere groͤſſere Winkel (q) iſt von dem vorher-
gehenden durch eine hervorragende Linie abgeſondert,
und er wird auch ſelbſt von einer vorragenden Linie in
zween blinde Saͤkke abgeteilt; er oͤffnet ſich mit vie-
len Straſſen, durch welche die Aeſte des weichen Ner-
ven aus dem ſiebenten Paare gehen.
Der vordere Grund (r) richtet ſich nach der Schnek-
ke, und deren Spindel, und oͤffnet ſich oͤfters mit einem
ziemlich groſſen Loche (s) ſo wie mit andern kleinen (t)
in dieſelbe. Das groſſe Loch laͤſſet auſſer dem Nerven
auch eine Schlagader durch (u). Andere mehrere Loͤ-
cher, oder auch nur ein einziges (x), gehoͤren zur Trum-
melſtiege.
Der hintere Winkel liegt naͤher am Vorhofe (y),
und hat vornaͤmlich zwei Loͤcher, oder ganze Paͤkke von
Loͤchern (z), welche ſich in dieſe Hoͤle oͤffnen. Das erſte
derſelben fuͤhrt in die halbe kreisrunde Hoͤlung (a), wel-
che ſo wohl fuͤr die Schlagader (a*), als fuͤr den Ner-
ven beſtimmt iſt. Das andere (b) oͤffnet ſich in die untere
Muͤndung des untern halbzirkligen Kanales.
Das dritte und vierte Loch, welche beide nur ſehr
klein ſind (c), ſcheinen auch in den Vorhoff zu gehen.
Valſalva zaͤlet ihrer fuͤnfe (d), drei bis vier Fallop(e),
etliche
[601]I. Abſchnitt. Werkzeug.
etliche Albin(f), zwei Duverney(g); und die Natur
folgt hierinnen nicht allezeit einerlei Regel (i).
Aus dieſer Hoͤle kommen, nachdem der harte Ner-
ve abgeſendet worden, die weichen Gehoͤrnerven,
und ſie laufen in den Vorhof, in die Schnekke, und in
das halbzirkliche Fleiſch. Es laſſen ſich dieſe Nerven
ſo ſchwer auseinander ſezzen, daß auch der Vortrag des
Zergliederers ſchwer werden mus; und er wird um ſo
viel undeutlicher, weil ich hier meine eigene Erfahrun-
gen nicht, ſondern andrer ihre erzaͤhle, indem mich mei-
ne veraͤnderte Lebensumſtaͤnde hindern, die Sache ſelbſt
zu unterſuchen.
Es zerſpaltet ſich alſo im Grunde ſelbſt der Gehoͤr-
ſinus, in die Aeſte der Schnekke, und in die Nerven
des Vorhofes (k). Der groͤſte Theil begiebt ſich in den
Vorhof (l); und auf dieſem Wege wandern jederzeit
zween Faͤden des weichen Nerven, wie auch andre mehr,
doch nicht allezeit.
Derjenige iſt immer vorhanden, welcher aus dem
obern blinden Sinu der Gehoͤrgrube herkoͤmmt (m).
Der andere, welcher durch das Loch des hintern
Winkels, des untern Sinus geht, und ſich in die halb-
kreiſige Hoͤle wirft, iſt faſt immer vorhanden (n).
Der dritte Aſt, welcher ſein Loch in dem Anfange
des beſondern Loches des groͤſſern halbzirklichen Kanals
hat (o), iſt entweder da, oder er mangelt. Andre zween (p)
begeben ſich durch Loͤcher, welche nicht beſtaͤndig ſind,
in den Vorhof. Der letzte von ihnen koͤmmt von einem
Nervenaſte der Schnekke (q).
Folglich giebt es, wenn es viele ſind (r), fuͤnf wei-
che Staͤmme. Ein andermal findet man nur, wenn
wenig da ſind, zween (s).
Und ſo koͤmmt hier wieder die Anmerkung vor, daß
einige von dieſen Faſern des weichen Nerven, in einem
ganzen Pakke (t) durch an einander grenzende Loͤcher,
andere hingegen durch die kleinſte Tuͤpfelchen der Sieb-
platten, durchgefuͤhrt werden (u), um ſie mit den klei-
nen Nerven, die den Siebknochen durchboren, zu
vergleichen.
Das folgende iſt ganz und gar undeutlich; denn
wenn es ſchwer iſt, die weiche Nerven in dem Werk-
zeuge des Geruches zu verfolgen, welche doch lang ſind,
und von einer harten Membran beſondere Scheiden be-
kommen, ſo verſtehet es ſich von ſelbſt, daß es unge-
mein ſchwer ſeyn muß, ganz kurze, ganz weiche Ner-
ven durch die allerhaͤrteſte Knochen zu begleiten.
Es verwandelt ſich der Nerve des Vorhofes, den
wir oben an geſezzt haben (x), in dem Vorhofe in ein
hoͤchſt weiches Huͤgelchen (y) und zwar an dem vordern
Ende des eirunden Loches.
Der zweete Aſt, dem wir die zwote Stelle gaben (z),
lieget blos auf dem Knochenhaͤutchen des Vorhofes un-
ter der Geſtalt einer dikken Membran auf (a).
Der dritte Aſt, der nicht allezeit vorhanden iſt, macht
ebenfalls an der eignen Muͤndung des untern halbzirkli-
gen Kanals, eine kleinere Erhabenheit (b).
Von einem der uͤbrigen Nervchen entſteht eine, doch
nicht beſtaͤndige dritte ſehr kleine Erhabenheit (c), wel-
che zwiſchen dieſer Muͤndung, und der halbkreiſigen Hoͤ-
le liegt: das uͤbrige Nervenmark vermiſcht ſich mit dem
Knochenhaͤutchen des Vorhofes (d).
Von dieſem nervigen Marke (pulpa) und von beiden
Gehirnhaͤuten, bildet ſich die Membran, welche in dem
Vorhofe ausgeſpannt iſt, (e) an dem Obertheile der Pi-
ramide des Cotugni anhaͤngt, hierauf im Umkreiſe
des Vorhofes vorkommt, und den Vorhof in den obern
und untern Theil (e*) abſondert (f).
Von dieſer Membran begiebt ſich das in eins fort
gehende Mark in die halbzirkligen Kanaͤle (g), und man
nennt es hier, doch nicht geſchikkt genung, das Ner-
venſeilchen.
Dasjenige nervige Fadenwerk, (h) welches Morga-
gnus(i), Simoncell(k), Vieuſſens(l), Duverney,
(m)Caſſebohm(n) und Mery(o) in den halbzirklichen
Kanaͤlen geſehen haben, ſcheinet mir vielmehr, Gefaͤſ-
ſe geweſen zu ſein (p). Endlich erwaͤnt Valſalva(q)
gewiſſe Zonen, welche gleichſam mitten an den Durch-
meſſern der halbzirklichen Kanaͤle ſchwebten (q*), und
dieſe ſcheinen Ueberbleibſel entweder von dem trokknen
Knochenhaͤutchen (r), oder der gedachten markigen Mem-
bran (s) oder Stuͤkke von den Gefaͤſſen geweſen zu
ſein (t). Winslow konnte dergleichen Zonen (u) ſo
wenig, als Albin in den Schaafen, in denen ſie doch
Valſalva gefunden hatte, antreffen.
Valſalva beſchreibet noch einen, vom nervigen
Marke, das in den Vorhof aufgenommen worden, auch
in die Stiege des Vorhofes laufenden, Sproͤßling (x);
allein noch Niemand iſt ihm hierinnen nachgefolgt, und
es blieben ihm ſelbſt, bei ſeiner Entdekkung noch Zwei-
fel uͤbrig.
Wir haben geſagt, daß ein anderer der vornemſten
Staͤmme des weichen Nerven, fuͤr die Schnekke beſtimmt
ſei (y). Es begiebt ſich alſo ein groſſer Stamm (z), der
zugleich vorne liegt, von dieſem weichen Nerven groͤ-
ſtentheils in die Kruͤmmung, welche ſich unter der Ba-
ſis der Schnekke zeigt (a). Er ſcheinet ſich (b) in die
Furche der Schnekkenſpindel zu begeben, und durch ſel-
bige bis zur Schale hinauf zu ſteigen, denn es kan kei-
ne Kunſt den Nerven auf dieſem Wege verfolgen (c).
Andere Zweige laufen durch kleine Loͤcher gegen die
Schnekke zu (d) und ſcheinen mit der Spindel weiter
zu ſtreichen.
Jch habe aber niemals einigen Nerven unter der
deutlichen Geſtalt von Faͤden ſich um die Windungen
der Schnekke herumziehen geſehen (e).
Doch es hat noch nie eine noch ſo geſchikkte anatomi-
ſche Hand Nervchen aus der Spindel durch die, von
uns beſchriebene Loͤcher, oder in eine von beiden Schnek-
kenſtiege (f), oder in beide, oder auch in die Membran
der
[606]Das Gehoͤr. XV. Buch.
der Spiralplatte, am Zwiſchenraume des Knochenhaͤut-
chens fuͤhren koͤnnen (g), ob es gleich ſehr wahrſcheinlich
iſt, daß ſie dahin laufen muͤſſen (h). Doch das laͤßt
ſich nicht vermuten, daß aus einem hoͤchſt weichen Ner-
ven, die harte und knochige Schale (i), welche ſich an
dem aͤuſſern Ende der Spindel befindet, gebildet wer-
den ſollte; und es laͤßt ſich eben ſo wenig glauben, daß
aus dieſem Nerven die Spiralplatte werden ſollte (k).
Auſſer denen Zweigen, welche wir bereits gemeldet
haben, und ſich ganz inwendig im Ohr befinden, auſ-
ſer denen, von denen ich geſagt, daß ſie vom harten
Nerven (l) auf die Trummel, und die Mittelhoͤle des
Gehoͤrwerkzeuges verwendet werden, muß ich auch noch
diejenige beruͤren, welche ganz zu aͤuſſerſt nach dem Ohre,
nach dem aͤuſſerlichen Ohre, und nach dem Gehoͤrgange
hin ſtreichen.
Zuerſt giebt der harte Nerve, kurz darauf, wenn
er aus der Muͤndung der Waſſerleitung hervorgekom-
men, einen Sproͤßling von ſich, welcher ſich um das
aͤuſſere Ohr ſchmiegt, und deſſen hintern Muſkeln, ſelbſt
dem aͤuſſern Ohre, dem Bokk und Gegenbocke, Aeſte zu-
wirft (l*). Jn ihn wirft ſich der tiefe Aſt vom dritten
Nakkennerven (m).
Ein andrer Zweig des fuͤnften (n) und zwar von deſ-
ſen drittem Aſte, laͤuft ebenfalls ins aͤuſſere Ohr, wirft
ſich mit einigen Zweigen laͤngſt dem Unterkiefer in
die Aeſte des harten Nerven; giebet dem aͤuſſern
ſern Ohre, dem aͤuſſern Ohrkreiſe, dem Bokke, Gegen-
bokke, dem innern Ohrkreiſe, dem Schiffchen und dem
erhabenen Theile der Schnekke, Aeſte; und ſendet aus
einem andern tiefe Zweige in den Gehoͤrgang ab.
Wenn man dieſen Nerven beim innern Ohrkreiſe, nahe
am Bokke brennt, ſo ſollen die Zahnſchmerzen ver-
gehen (n*).
Der dritte Nerve des aͤuſſern Ohres entſpringt vom
dritten Paare der Nakkennerven, welches ſich mit dem
zweeten vereinigt; und es iſt ſein erſter Zweig, der hin-
tere Ohrnerve(o), und er laͤßt einen tiefen Aſt von
ſich, welcher ſich an den harten Nerven anhaͤngt. Hier-
auf entſpringt von dieſem Paare ein Zweig, welcher
uͤber den zizzenfoͤrmigen Muſkel in die Gegend der
Schnekke ſtreicht, und ſich nach der oberſten Spizze des
aͤuſſern Ohrs in den Knorpel ohne Namen, und aͤuſſern
Ohrkreis wendet (q). Er hat auch mit den andern
Aeſten ſeines Stammes, von den Hinterhauptsnerven
Zuſammenhang. Jn andern Koͤrpern gehoͤrt er zum
dritten der Nakkennerven.
Ein Aſt vom dritten der Nakkennerven iſt der vor-
dre Dhrnerve, und auch dieſer unterhaͤlt mittelſt der
Ohrdruͤſe mit dem harten Nerven Gemeinſchaft. Die-
ſer verlieret ſich bisweilen gleichſam in dieſem Ner-
ven
(p)
[608]Das Gehoͤr. XV. Buch.
ven (r). Ein andermal iſt er um ſo viel groͤſſer, daß
er ſelbſt das Anſehen eines Stammes behauptet; und er
breitet ſich, wie ich allerdings geſehen, im Bokke, Ge-
genbokke, Ohrlaͤppchen, innern Ohrkreiſe und Schiff-
chen aus.
Zu den hintern Ohrmuſkeln lauſen von dem zwee-
ten Paare der Nakkennerven Zweige hin (s).
Es beſizzet dieſes Werkzeug viele und kleine Schlag-
adern, und man kennet ſie noch zur Zeit nicht alle, da
ſie klein ſind, und man ſie nothwendig durch die haͤrteſte
Knochen verfolgen muß. Jndeſſen| wird der folgende
Vortrag doch wahr ſein, ob man gleich dabey das Voll-
ſtaͤndige vermiſſet.
Wir haben diejenige Ader, welche entweder von der
aͤuſſern Carotis, oder von der Hinterhauptsſchlagader ein
Sproͤsling iſt, die hintere Ohrader genannt (t). Jhr
Stamm ſteiget in einer Falte zwiſchen dem Kopfe und
Ohre in die Hoͤhe, und theilet einige Unteraͤſte dem
Ohrlaͤppchen, dem Bokke, Gegenbokke, dem Gehoͤr-
gange mit, die ſich in die tiefe Aeſtchen der Schlaͤfe-
pulsader werfen: auſſerdem verſchwendet er andere Ober-
aͤſte auf die Schnekke, den aͤuſſern und innern Ohrkreis,
und auf das uͤbrige Stuͤkk des aͤuſſern Ohrs, und dieſe
verbinden ſich mit den vordern (u).
Gemeiniglich entſpringet von dieſer Griffelzizzenſchlag-
ader (x) diejenige Begleiterin der harten Nerven, wel-
che dem Gehoͤrgange einen Aſt und Zweig giebt, von
welchem der Kranz der Trummelhaut ſeinen Urſprung
nimmt. Jndem naͤmlich dieſelbe um den Ring von
auſſen herumſtreicht, welcher ſich dem Gehoͤrgange zu
kehrt, ſo macht ſie gemeiniglich nebſt dem erſten Zwei-
ge derjenigen Schlagader, welche von der Schlaͤfenader
koͤmmt, und nach dem Gelenke des Kinnbakkens geht,
denjenigen Kranz aus, von welchem das Schlagader-
baͤumchen (y) durch die Trummelhaut, und mit dem
Hammerſtiele parallel herablaͤuft.
Der andere Zweig dieſes Staͤmmchen geht uͤber der
Trummelhaut vorwaͤrts in die Trummel, durch die Luͤkke
des Ringes (y*).
Die Schlaͤfenſchlagader theilet, ſo wie ſie vor-
waͤrts laͤngſt dem Ohre zu den Schlaͤfen eilt, dem Ohre
viele Aeſte mit. Der erſte derſelben, welcher fuͤr das
Gelenke des Kinnbakkens beſtimmt iſt, laͤſſet durch die
Spalte des Gelenkes einen Zweig von ſich, welcher die
Trummelſaite, und den vordern Hammermuſkel beglei-
tet. Von dieſem Zweige koͤmmt derjenige her, welcher
mit dem Ohraſte, oder ganz allein, die Trummelader
von ſich giebt.
Die unterſten laufen zum Gehoͤrgange, und machen mit
den Aeſten der hintern Ohrenſchlagader ein Nezze (z).
Die ſolgenden begeben ſich zum Bokke zum Anfange
des Ganges zum erſten Einſchnitte (a), ſo wie andre
zum
H. Phiſiol. 5. B. Q q
[610]Das Gehoͤr. XV. Buch.
zum aͤuſſern Ohrkreiſe, zum Schiffchen, zum innern
Ohrkreiſe, zum obern Theil des Ganges wieder zum
aͤuſſern Ohrkreiſe, zum innern Ohrkreiſe, und zur
Schnekke, nachdem ſie mit der hintern in groͤſſerm Zu-
ſammenhange getreten, und hierzu gehoͤrt noch ein ande-
rer, welcher ſich um den aͤuſſern Ohrkreis herum biegt.
Von der Hinterhauptsader, von der Griffelzizzenader,
oder von der hintern Ohrader, kommen einige kleine
Zweige, welche ſich in die zizzenſoͤrmige Faͤcher begeben (c).
Von der innern Kieferader entſpringet oberhalb dem
Queerbande des Kinnbakkens ein Weg, welcher den
Muſkel der Trompete, die weiche Trompete ſelbſt, und
den Gehoͤrgang bedient.
Das Jnwendige des Ohrs enthaͤlt viele Staͤmmchen.
So laufen von der Griffelzizzenader Aeſtchen aus der
Waſſerleitung des Fallopius nach den zizzenfoͤrmigen
Faͤchern (d) nach dem Steigbiegelmuſkel, nach dem
aͤuſſern halbzirkligen Kanale, wo derſelbe dicht an die
Waſſerleitung grenzt, und es gelangt ein Aeſtchen zu
dem hintern obern Theile der Trummelhoͤle, indem er
ſich mit dem verbindet, von welchem ich ſo gleich reden
werde. Dieſe und die andre Aeſte koͤnnte man mit beſ-
ſerm Rechte der Hirnhautſchlagader zuſchreiben.
Von der Hirnhautſchlagader koͤmmt ein Zweig zum
Vorſchein, deſſen erſter Sproͤsling (e) zur Trummel-
hoͤle geht, und ſich bis zum eirunden Fenſter, zur Ge-
gend des Amboſſes begiebt, und ſich in dem Knochen-
haͤutchen ausbreitet.
Ein andrer Sproͤsling deſſelben, welcher groͤſſer iſt,
laͤuft nach dem vordern obern Theile der Trummel, zum
Vor-
(b)
[611]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Vorgebirge, zu der Gegend des runden Loches und zur
vordern Gegend der Trummel herab. Auch dieſer
Sproͤsling faͤllt deutlich in die Augen.
Eben dieſes Staͤmmchen der Hirnhautſchlagader ſtrei-
chet, indem es zum ſuͤnften Paar Aeſte ſendet, durch
die Luͤkke des Fallopius(f) und wirft ſich nunmehr in
die ſehr kleine Griffelzizzenader.
Der dritte Zweig der Hirnhautſchlagader, welcher
auſſerhalb der Hirnſchale entſteht, bisweilen aber auch
aus dem Stamme der innern Kieferader abſtammt (g)
begiebt ſich in den Kanal des Hammermuſkels (h): er
laͤuft mit dieſem zur Trummel, indeſſen daß er mit
einem andern Zweige der Trummelſaite, und Muſkel
des Folius folget (i), und zum Hammer laͤuſt, nach-
dem er ſich mit einem Aeſtchen der Griffelzizzenader
durch einen geraden und ziemlich anſehnlichen Zuſam-
menhang verbunden.
Ein andrer Zweig von der innern Carotis (k), wel-
cher durch den Felſenknochen ſtreicht, und die vordre
Grenze der Trummel beruͤhrt, begiebt ſich in das Vor-
gebirge hinein.
Doch es giebet auch die Schlagader des Schlundkopfes
einen Zweig mit der Trompete zur Trummel ab.
Endlich entſpringt die vornehmſte Schlagader des
Jrrganges aus einem derer Aeſte der arteriae baſilaris
an der Bruͤkke, und dieſer Aſt geht auch nach der untern
Q q 2Gegend
[612]Das Gehoͤr. XV. Buch.
Gegend des kleinen Gehirns hin (l). Er laͤuft mit dem
weichen Nerven zum Gehoͤrſinus, und ſoll mit ſeinem
Hauptſtamme durch die kleinen Loͤcher dieſes Faches in
den Vorhoff gehen (m), und von da ſowohl durch alle ein-
zelne halbzirkliche Kanaͤle, (n) in einander zuruͤkklaufen-
de Kreiſe beſchreiben, als auch durch die Schnekke her-
umgefuͤhrt werden (o).
Die Schnekke hat eine andere Schlagader, welche
von der Gehoͤrader entſteht (p), welche durch den Kanal
der Spindel geht, endlich in die Schale dringt, und
ſich in ſelbiger mit ſternfoͤrmigen Zweigen (q) endigt,
und auch durch die kleinſte Loͤcher der Schnekke (r) in
ihre Stiegen Aeſte wirft.
Doch es laͤuft auch durch beide Stiegen der Schnek-
ke (s) ein Gefaͤßchen, welches ſich in eben ſolche Win-
dungen dreht, und hie und da ins Knochenhaͤutchen (s*)
Aeſte abgiebt. Der Stamm der Vorhoffsſtiege koͤmmt
von der Schlagader des Vorhofes (t): das Staͤmmchen
der Trummelſtiege von der mit der Droſſelblutader ge-
paarten Schlagader, es mag nun ſelbige von der Hin-
terhauptsader, oder von der Ader des Schlundkopfes
abſtammen (u).
Die aͤuſſern Blutadern des Ohres kommen auf eben
die Art, wie die Schlagadern pflegen von beiden Schlaͤ-
fenadern her, (x) theils an der vordern Gegend des Ohres,
theils an der hintern.
Beruͤhmte Maͤnner haben die Blutader der Trum-
mel (y) in den groſſen Sinus, oder den Aufenthalt der
Droſſelblutader (z) geleitet, denn ich habe hier keine
eigene Verſuche aufzuweiſen.
Andere ſcheinen einem beruͤmten Manne (a) durch
die zizzenfoͤrmige Faͤcher, und durch die kleinſte Loͤcher
um dieſen Fortſazz zu laufen.
Caſſebohm vermuthete eine Blutader im Vor-
hofe (b).
Eben derſelbe ſahe in den halbzirklichen Kreiſen zwo
Blutadern neben den Schlagadern laufen (c), und er
leitete ihren Urſprung von dem Quartiere der Droſſel-
blutader vielmehr her, als daß er ſie mit den Augen
verfolgt haͤtte (d).
Eben ſo redet Duverney(e) von Blutadern neben
Schlagadern in den halbzirklichen Kanaͤlen und in der
Stiege des Vorhofes auf eine Art, daß er ſelbige nicht
zuverlaͤßig genung geſehen zu haben ſcheint (f).
Caſſebohm erwaͤhnt von einem Blutaderloche an
der Leiter der Trummel, und Zinn erklaͤrt dieſes von
der dritten (g).
Eben ſo vermuthet Caſſebohm,(h) daß eine Blut-
ader aus dem griffelzizzenfoͤrmigen Kanale zu dem ge-
dachten Quartiere lauſe.
Endlich verſichert Cotugnus, daß die wahre Blut-
ader der Schnekke, welche ihre Aeſte durch die Zone
und Stiegen werfe, wirklich gefunden werde (i): es flieſ-
ſe ihr Stamm aus beiden Stiegen in die Trummelſtiege
zuſammen (k), und er arbeite ſich durch ein beſonderes
Loch (l) dicht an der Muͤndung der Waſſerleitung der
Schnekke, durch die Hirnſchale hindurch; er ſtreiche ge-
gen die Droſſelblutader fort, und ſcheine ſich in den un-
tern Felſenſinus zu oͤffnen (m). Eben dieſe Blutader
empfaͤngt einen Aſt vom Vorhofe (n).
Eine andre Hauptblutader des Vorhofes (o), welche
ſich aus allen halbzirklichen Kanaͤlen, und aus dem Vor-
hofe verſammelt, gelangt durch ein Loch (p) an der Spal-
te der Waſſerleitung des Vorhofes in die Hirnſchale,
und oͤffnet ſich in dem Seitenſinus (q). Folglich ver-
miſſe ich hier in der That die vornehmſte Blutader, die
den Gehoͤrnerven begleitet; und dieſe habe ich zuver-
laͤßig mit der Schlagader herankommen geſehen, ob ich
gleich ihre Zweige nicht verfolgt habe. Es ſcheint ſehr
wahrſcheinlich zu ſein, daß von dieſer Blutader haupt-
ſaͤchlich die Gefaͤſſe des Vorhofes abſtammen. Denn
es laſſen Blutadern an kleinen Zweigen niemals leicht
ihre Schlagadern im Stiche, wenn ſie gleich an ihren
Staͤmmen unter einander verſchieden ſind.
Jch finde keine Flieswaſſergefaͤſſe, ob ich gleich
weiß, daß man ſie als eine wirkliche geſchehene Sache
zu beſchreiben pflegt. So ſind des Vieuſſens(r) lym-
phatiſchnervige Gefaͤſſe oͤfters lauter Gewebefaͤſern, und
von dieſen findet man nur bei dieſem beruͤhmten Manne
eine einzige Sylbe. Valſalva vermuthat ſie blos (s).
Caſſebohm ſagt, daß er nichts davon gefunden
habe (t).
Ein anderes Geſchlecht von Flieswaſſergefaͤſſen, das
ohne Klappen, aber dennoch geſchikkt iſt, die Feuchtig-
keit aus der Schnekke und dem Vorhofe wieder einzu-
ſaugen, beſchreibt der beruͤhmte Cotugnus ſehr muͤh-
ſam. Es laͤuft nehmlich der Kanal, welchen Mor-
gagnus mit einer Furche verglichen (u) durch das Fel-
ſenbein fort, (x) und er fuͤhrt durch deſſen Rizze (y)
Flieswaſſeradern in ſeinen beſondern kleinen Sinus (z)
und in den (a) ſehr bekandten Querſinus der harten
Membran (b), indem dieſer Kanal auch in den wilden
Thieren ſichtbar iſt (c).
Die Waſſerleitung der Schnekke aber (d) faͤngt
ſich nahe am runden Fenſter, an der Stiege (e) der
Trummel an, (f) und oͤffnet ſich durch einen eignen Halb-
kanal (g) mit einer Muͤndung, die ein Bogen ſchließt (h),
Q q 4nahe
[616]Das Gehoͤr. XV. Buch.
nahe an dem Wege, den der Zungenſchlundnerve
nimmt (i), in die Hoͤlung der Hirnſchale.
Wir hoffen, daß dieſe Neuigkeiten, die von Nieman-
den erwaͤhnt worden, durch die Verſuche anderer Zer-
gliederer werden beſtaͤtigt werden, damit nicht etwa Je-
mand, da die Gefaͤſſe in dem Sinus der harten Mem-
bran mehr eingeſprengt, als eingeſchoben ſind, von dem
Urſprunge und Ende dieſer Blutaͤderchen andere Mey-
nung vorbringen moͤge.
Auch hier wiederhole ich, das von mir mehr als
einmal geſchehene Geſtaͤndniß. Jch bediene
mich geſammelter Schaͤzze, und ich kan in die-
ſer Theorie nichts fuͤr meine eigene Entdekkung ausge-
ben. Auſſerdem verſpreche ich meinen Leſern keinen voll-
ſtaͤndigen Vortrag, weil es die Natur eines weitlaͤufti-
gen Werkes nothwendig verlangt, daß die zahlreichen
Theile deſſelben kurz ſein muͤſſen.
Jch verſtehe hier nicht unterm Worte Schall eine
Empfindung der Seele, ſondern ich ſehe blos auf dieje-
nige phiſiſche Beſchaffenheit in Koͤrpern, welche um uns
herum liegen, wovon in der Seele die Empfindung des
Schalles hervorgebracht wird, wofern das Werkzeug
des Gehoͤrs geſund und frei wirkt.
Es zeiget die Erfahrung, daß in demjenigen Koͤrper,
welcher den Schall erregt, zu der Zeit abwechſelnde Zit-
terungen und Schwingungen vorgehen, in welcher er
den Schall hervorbringt. Man kan dieſe Bebungen
auf die allereinfachſte Art ſo betrachten, daß man die
Theilchen des zittrenden Koͤrpers, als Saiten anſieht,
welche wechſelweiſe aus einer geraden Linie zu einer krum-
men werden, deren groͤſte Kruͤmmung, oder groͤßte Ent-
fernung von der geraden Linie vor dem Thongeben, in
der Mitte dieſer Linie befindlich iſt, und daß dieſe Sai-
ten wechſelweiſe wieder ſo gerade werden, als ſie in der
vorigen Ruhe waren (k).
Jndem nun dieſes von allen Seiten in dem klingen-
den Koͤrper vorgeht, ſo wird die ganze Glokke, wenn
ſie klingt, wechſelweiſe weiter im Umfange, weil ſich
alle ihre einzelne Saiten nach einer Kruͤmmung bewe-
gen, und ſich der Quere nach in eine groͤſſere Ellipſis
verwandeln; bald aber verwandeln ſie ſich wieder in
eine Ellipſis, welche nach dem andren Diameter gemeſ-
ſen, weiter, nach dem erſtern aber kuͤrzer iſt, wenn
dieſe Saiten wieder gerade werden (l). Dieſes iſt nicht
eine Sache der Theorie, ſondern aus wirklichen Ver-
ſuchen bekannt. Auch ein Ring, an welchen man
Q q 5ſchlaͤgt,
[618]Das Gehoͤr. XV. Buch.
ſchlaͤgt, verwandelt ſich in eine uͤberzwerch gemeſſene
breitere Ellipſis (m).
Daher koͤmmt es auch, daß in einem Trinkglaſe, wel-
ches voll Waſſer iſt, mit einem Finger gelinde gerieben
wird, und einen Klang macht, das Waſſer aufhuͤpft,
und Tropfen wirft, und zugleich Waſſer und Quekſil-
ber, auch von entlegnen klingenden Koͤrpern zum Zitt-
ren gebracht wird (o).
Da es alſo blos die Eigenſchaſt eines elaſtiſchen Koͤr-
pers iſt, wechſelweiſe Schwingungen zu machen, und
hin und her zu ſpringen: ſo bringen auch keine andere,
als elaſtiſche Koͤrper (p) und das um ſo viel mehr einen
Schall hervor, je haͤrter ſie ſind, und je weniger ſie
ſich zuſammendruͤkken laſſen, um von geringen Biegun-
gen zu zerbrechen, dergleichen die zerbrechlichen Metal-
le ſind (q), welche man aus Kupfer und Galmei, aus
Kupfer und Zinn (r), und aus Kupfer und Wismut (s)
zuſammenſezzt. Jn groſſer Kaͤlte verſtimmte ſich die
Saite eines Fluͤgels um einen ganzen Thon tiefer (s*):
hierzu pflegt man, wegen der Dehnung, welche ſie lei-
den, die Daͤrmer aus den Thieren, oder auch unter
dem Holze dasjenige zu nehmen, welches am meiſten
elaſtiſch iſt.
Daher geben weiche Metalle, als Gold oder Blei,
wenig klang (t).
Aus eben dieſem Grunde klingt auch eine geſpannte
Saite und eine ungeſpannte ganz und gar nicht.
Die neuern Weltweiſen haben vorlaͤngſt erwieſen,
daß zur Hervorbringung eines Schalles nicht genug ſei,
daß ein klingender Koͤrper in der Luft Schwingungen
mache, ſondern daß dazu uͤberhaupt das Zittren der fe-
ſten Grundſtoffe dieſes Koͤrpers (u), und das Hin- und
Herſchwanken derſelben erfordert werde. Solcherge-
ſtalt zittret, und ſchwingt ſich eine eiſerne Zange ganz,
wenn man ihre Schenkel zuſammenzieht, und darauf
wieder los laͤſſet, allein ſie giebt keinen wirklichen Schall
von ſich, indem ſie ſchwankt, und auch nur alsdenn,
wenn man an ſie ſchlaͤgt, macht ſie nur einen leichten
und ſchwachen Schall. Doch wenn eben dieſe Zange,
mit ihren aͤuſſerſten Enden an einen harten Koͤrper ſtoͤßt,
ſo zittert ſie (x) dergeſtalt, daß man die Schwingung
an dem Finger fuͤhlet, und ſie klingt (y). So zittert
eine Saite des Klavirs, wenn ſolche von einem harten
Koͤrper getroffen wird, und ſie giebt einen Klang: wenn
der Klavis, von dem bezognen Tuche herabfaͤllt (z), ſo
ſchwankt ſie zwar, aber ſie klingt nicht; und ſie klingt wie-
derum, wenn ſie auf einen harten Koͤrper faͤllt.
Eine mit Schnee bedekkte Glokke (a) zittert, aber
klingt nicht, und ein mit Oel beſtrichner Bogen (b)
macht zwar, wenn er eine Saite anſtreicht daß ſolche
ſchwingen muß, aber nicht, daß ſie klingen kan, weil ſie
von dem weichen Streifſtoſſe die Grundſtoffe nicht in
ein Zittren bringt.
Ob wir gleich hier einige Dinge vorausſezzen, welche
wir nachgehends erweiſen wollen, ſo gehoͤret doch noch
ein anderer Verſuch hieher, welcher zeiget, daß alle
Grundtheile eines klingenden Koͤrpers, und nicht die
Oberflaͤche allein, das ihrige zum Schalle mit beitra-
gen. Damit ein Cilinder die Octave vom Thone eines
andern Cilinders von ſich gebe, ſo muß derſelbe nicht
noch einmal, ſondern achtmal groͤſſer ſeyn, und dieſe
Beſchaffenheit hat es auch mit den Glokken und Cilin-
dern (c). Es muͤſſen naͤmlich achtmal mehr Grundthei-
le zittren, wenn die Oktave des erſtern gedoppelt ſein
ſoll (d).
Es laͤſſet ſich das Zittren in den kleinſten Theilchen
leicht an den Fingern, und an einem nach Spirallinien
geſchnittnen Glaſe (e) einfinden, und es erregt, wie ge-
ſagt worden, an Gefaͤſſen voller Waſſer, die gemeldete
Wellen (f) von denen man angemerkt hat, daß ſie nicht
vom Umkreiſe gegen den Mittelpunkt gehen, wie von
einer einfachen Erweiterung des Glaſes geſchehen muͤſte,
ſondern daß zugleich das ganze Waſſer ſchwanke (g).
Weil alſo die Theilchen der ſehr klingenden Koͤrper
leichtlich von einander los laſſen, ſo laſſen ſie ſich auch
leicht-
[621]II. Abſchnitt. Werkzeug.
leichtlich von den Thoͤnen ſelbſt zerbrechen. Man kannte
vordem einen berufnen Gaſtwirth in London (h)Petter,
und einen andern, Conrad Meyer, in Holland, ſo
wie man (k) in neuern Zeiten andre gewinnſuͤchtige weis,
welche dieſen Verſuch gemacht haben, wiewohl nicht
alle dieſes Kunſtſtuͤkk zu treffen wiſſen. Der Kunſtgriff
dieſes Gaſtwirthes beſtand darinnen, daß er mit einem
gewiſſen Thone, welchen wir anderswo angeben wollen,
ein Glas zerſchrie, und innerhalb einer halben Stunde
fuͤnf und zwanzig Glaͤſer nach der Reihe zerbrach (l).
Sie zerbrachen aber, wenn man den groben Thon in
die Hoͤhe ſteigen laͤßt (m), und dadurch die Geſchwin-
digkeit der Schwingungen vermehrt. Sie zerbrechen
auch ohne eine Menſchenſtimme, blos vom Anſtreifen
der Saiten (n), welche man ſchnell, und noch einmal
ſo fein, als der Thon der Glaͤſer iſt, klingen laͤßt, oder
wenn ein Mann heftig mit der Hand daran faͤhrt (o).
Der Schall pflanzt ſich uͤberhaupt durch die mehre-
ſten Koͤrper fort, und er theilet ſich den entlegenen Gegen-
den mit. Wir muͤſſen alſo erſtlich zeigen, wie ſich der-
ſelbe durch harte Koͤrper (p) fortpflanzen laſſe, da be-
ruͤhmte Maͤnner behaupten wollen, daß ſich der Schall
blos durch die Luft fortpflanze.
Dieſes zeiget erſtlich die Art zu hoͤren deutlich, ver-
moͤge der auch taube Perſonen hoͤren koͤnnen. Es koͤn-
nen naͤmlich diejenigen, welche durch die Ohren keine
Thoͤne hoͤren koͤnnen, dennoch hoͤren, wenn ſie z. E. einen
eiſernen Stab zwiſchen die Zaͤhne nehmen, und derjenige,
welcher mit ihnen reden will, an den Stab ſchlaͤgt (p*).
Auf ſolche Art wird der Kranke den Schall des ſchwan-
kenden Eiſens empfinden, und es wird eben dieſes ge-
ſchehen, wofern er ein muſikaliſches Jnſtrument mit
den Zaͤhnen haͤlt. Schwerhoͤrende koͤnnen ſehr gut die
Worte eines Redenden durch einen Stab, den der Re-
dende und Hoͤrende mit den Zaͤhnen ergreift, verneh-
men (q), und aus dieſem Verſuche iſt die Methode |er-
wachſen, Taube hoͤren zu lehren. Es muß aber hier-
bei, der da hoͤren will, die obere Zaͤhne dazu anwenden,
und der Redner das Jnſtrument im Munde halten (r).
Wer mit verſtopften Ohren ein Jnſtrument mit einem
Stabe beruͤhrt (r*), der wird, wenn dieſes klingt, die
Thoͤne der Muſik vermittelſt der Zaͤhne hoͤren. Man
kann eine auf das Ende eines Stabes gelegte Uhr, ſehr
wohl gehen hoͤren, wofern man den Stab zwiſchen den
Zaͤhnen haͤlt, nicht aber ohne Zaͤhne (s). Taube koͤn-
nen durch ein Horn hoͤren, wenn ſie dieſes in den Mund
nehmen (s*), und ſie vernehmen das Gehen einer Uhr,
wenn ſie ſolche im Munde halten (s**). Ein Tauber
konnte,
[623]II. Abſchnitt. Werkzeug.
konnte, wenn er einen Stab feſte gegen die Kanzel an-
druͤkkte, von der der Prediger redete, und dieſen Stab
zwiſchen die Zaͤhne brachte (s†), vernehmlich hoͤren.
Ein muſikaliſcher Tauber nahm den Wirbel zwiſchen
die Zaͤhne, und ſpielte, wenn er nun die Thoͤne hoͤrte,
die Laute nach der Kunſt (t); oder es konnte auch Je-
mand, wenn er die Finger an eine Zitter hielte, die
Thoͤne unterſcheiden (u). Was man uͤber dem Arme
oder Ruͤkken einer tauben Jungfer ſchrieb, konnte dieſe
ſehr gut hoͤren (x). Ein Tauber, der die Perſon, ſo
mit ihr ſpricht, bei der Hand haͤlt, kann gleichſam die
Silben der Worte aus dem Zittren verſtehen (y). Es
iſt Tauben gemein, dasjenige zu hoͤren, was man uͤber
ihrem Kopfe ausſpricht, indem das Zittren ganz nahe
in die Knochen des Hauptes eindringt, und ſich dem Jn-
nerſten des Ohrs mittheilt (y*). Auch das kleinſte Ge-
raͤuſche, welches man an einem Gefaͤſſe macht, worin-
nen Fiſche ſind, wird von dieſen empfunden (z).
Aus dieſen Verſuchen erhellet, daß das Zittern eines
klingenden Koͤrpers, durch einen feſten Koͤrper zum
Menſchen gelange, und gehoͤret werde, wenn nur die
Knochen ſeiner Gehirnſchale in aͤhnliche Erſchuͤtterungen
verſetzt worden.
So giebt in dem beruͤhmten Verſuche, wodurch man
zu erweiſen ſucht, daß die Luft allein das klingende Mit-
tel
[624]Das Gehoͤr. XV. Buch.
tel ſei, daß die Glokke einer Uhr, welche man in einen
luftleeren Raum bringt, wenn dieſe vom Hammer getrof-
fen wird, allerdings einen Schall von ſich gebe, wofern man
ſie nicht auf Baumwolle (a) oder ein weiches Polſter
ſtellt, welches die Erſchuͤtterung verſchlukkt. Nun
mangelt hier alle Luft, es folgt alſo, daß die klingende
Erſchuͤtterung (b) durch den Tiſch und die Glokke zu der
aͤufſerlichen Luft, und den Ohren der Umſtehenden ge-
langet ſein muß.
Doch es kommen auch die Thoͤne in groͤſſerer Entfer-
nung durch feſte fortgehende Koͤrper, z. E. durch einen
Balken (c) an deſſen einem Ende ein klingender Koͤrper
gehalten wird, und an das andre das Ohr; denn auch
dieſer zittert, wofern er trokken iſt (d). Und ſo kann
man das Geraͤuſche auf der Erde vom Pferdetraben,
wenn man das Ohr an eine Grube in der Erde haͤlt, bis
auf zwo Meilen hoͤren (e).
Die Erde ſelbſt uͤbertraͤgt den Schall bis auf weit
entlegene Oerter, und man koͤnnte ſonſt nicht von ferne
die Ankunft der Feinde wiſſen. Da man in Halle das
Ohr an die Erde hielte, konnte man das grobe Geſchuͤz-
ze von der Roßbacher Schlacht auf etliche Meilen weit
hoͤren (f); und andere haben mit einem in die Erde ge-
ſtekkten Stabe, welchen ſie zwiſchen die Zaͤhne nahmen,
den Knall von entferntem groben Geſchuͤzze vernehmen
koͤnnen
[625]II. Abſchnitt. Werkzeug.
koͤnnen (f*). Selbſt das Quekkſilber bewegt ſich von
dem Schalle in der Erde zu Wellen (g).
Endlich ſo ſcheint es, wenn man alles mit einander
vergleicht, daß in den Sprachgewoͤlbern (h), worinnen
die Stimme eines Menſchen, welcher gegen die Wand
leiſe ſpricht, an der gegenuͤberſtehenden Wand leicht ge-
hoͤrt wird, nicht aber in den mittlern Stellen, uͤber-
haupt die Erſchuͤtterung nicht der Luft, ſondern der
Wand der Mauer mitgetheilet werde, und daß ſie von
da, durch das Gewoͤlbe, nach der entgegengeſezzten Sei-
te zuruͤkkgefuͤhrt werde. Es haben naͤmlich dieſe vier-
ſeitige Kammern nichts mit den zweien Brennpunkten
einer Ellipſe gemein (i), woraus man gemeiniglich die-
ſes Phaͤnomenon zu erklaͤren pflegt. Sie ſind vierſei-
tig oder ſphaͤriſch, oder von einer andern unelliptiſchen
Figur, wenn ſie nur gewoͤlbt ſind, und keine Loͤcher
haben, wodurch die Luft und der Schall durchfahren
kann (k), woraus man ofſenbar ſieht, daß der Schall
durch feſte Mauren dringt. Es laͤßt ſich beſſer ganz
oben am Gewoͤlbe hoͤren (l), und es nimmt uͤberhaupt
der Schall um deſto mehr an Staͤrke zu, wenn er wei-
ter laͤuft (m). Der beruͤhmte Bartoli(m*) geſtehet
ſelbſt,
H. Phiſiol. 5. B. R r
[626]Das Gehoͤr. XV. Buch.
ſelbſt, bei anderer Gelegenheit, daß ſich der Schall durch
die Mauren fortpflanze.
Man wird ſich nicht wundern, daß beruͤhmte Maͤn-
ner den Schall nicht durch Waſſer gehen laſſen wollen,
weil dieſes unelaſtiſch iſt, die Elaſticitaͤt aber mit Recht
zum Zittern erfordert zu werden ſcheint, welches doch
den Schall erzeugt. Es haben alſo beruͤhmte Maͤnner
die Anmerkung gemacht, daß Fiſcher, welche unter der
Taͤucherglokke unter Waſſer ſind, keinen Schall hoͤ-
ren (n), und daß ſo gar Taͤucher unter dem Waſſer auf
ſechs Klafter tief, nicht einmal den Knall des geloͤßten
Geſchuͤzzes gehoͤrt haben wollen (o).
Es ſei dieſem, wie es wolle, ſo iſt dennoch gewiß,
daß ſich der Schall durch das Waſſer fortpflanze (p).
Und man wird an ſeinem Orte zeigen, daß die Fiſche
nicht taub zu ſein ſcheinen.
Ein beruͤhmter Mann ſagt noch, daß der durch das
Waſſer gefuͤhrte Schall, vielmehr ſtaͤrker werde (q),
als der durch die Luſt ginge. Doch muͤſſe man zweifeln,
daß dieſes geſchehe, wenn er aus dem Waſſer in die Luft
faͤhrt (r). Daher koͤnnen Taͤucher hoͤren (s), ſie wer-
den aber von denen im Schiffe zuruͤkke gebliebenen
Schiffsleuten nicht gehoͤrt (t). Endlich hat Nollet
ſelbſt
[627]II. Abſchnitt. Werkzeug.
ſelbſt unter dem Waſſer (u), bis auf achtzehn Fuß weit,
hoͤren, und die Menſchenſtimme unterſcheiden koͤnnen.
Man hat davon mehr aͤhnliche Exempel (u*). Jndeſſen
ſchwaͤcht ſich doch der Schall (x), und er wird allerdings
um einige Noten tiefer (y), und zugleich angenehmer.
Eben ſo wird auch der Thon eines mit dem Finger am
Rande geſtrichenen Glaſes tiefer, oder etwas groͤber,
wenn man das Glas mit Waſſer anfuͤllt (z). Ein ge-
wiſſer Menſch, welcher falſche Muͤnze praͤgte, hatte ſich
mit Vorſicht in einen Keller verſtekkt, und die Grube
mit Gefaͤſſen voller Waſſer beſezzt (a). Eine Schelle,
welche ſonſt in der Luft klinget, aber doch nur denn,
wenn dieſe Luft einen andern Raum voller Waſſer oder
Quekkſilber um ſich hat, giebt alsdenn nur ſehr ſchwache
Schlaͤge von ſich (b).
Doch es gehoͤrt darum nicht dieſer, durch das Waſſer
fortgefuͤhrte Schall, zur Luft (c), welche im Waſſer ſtekkt:
denn man hat ihn noch vernehmen koͤnnen, wenn man
gleich die Luft aus dem Waſſer gepumpt (d); und es
will daher ein beruͤhmter Mann dem Waſſer lieber ſeine
Elaſticitaͤt wieder einraͤumen, um dem Drukke nachge-
ben, und ſich wieder herſtellen zu koͤnnen (e). Wenn es
uͤberhaupt wenig und langſam zittert, ſo geſchieht ſol-
ches wohl darum, weil ſeine Grundtheile aͤuſſerſt hart
R r 2ſind.
[628]Das Gehoͤr. XV. Buch.
ſind. Und endlich giebt es einen ſchwachen und groben
Thon von ſich.
Hierzu koͤnnte man noch fuͤgen, daß das Waſſer vom
Schalle offenbar zu Wellen aufſteige, und huͤpfe (f),
und daß das Oel uͤberhaupt nicht davon runzlich wer-
de (g), woraus zu folgen ſcheint, daß dieſes nicht eine
Eigenſchaft aller fluͤßigen Dinge, ſondern nur des Waſ-
ſers, und aller waͤſſerigen Fluͤßigkeiten ſei (h).
Jndeſſen pflanzet ſich doch der Schall durch die Luft,
dieſen zugleich zarten und hoͤchſt elaſtiſchen Koͤrper, am
beſten in die entfernte Luft fort, ſo daß uͤberhaupt, wenn
man das Element der Luft, in dem Raume, durch wel-
chen der Schall fortlaͤuft, vermehret, und gleichſam
mehr als eine Atmoſphaͤr in dieſen Raum preßte, da-
durch zugleich die Gewalt des Schalles zunehmen
muͤßte (i), und dieſe Kraft waͤchſet, wie das Quadrat
der Verdichtung (k), indem ſich zugleich der Schall in
einer groͤſſern Weite vernehmen laͤßt (l). Wenn man
auf etwas andere Art die Elaſticitaͤt der Luft groͤſſer
macht, ſo waͤchſet zugleich der Nachdrukk des Schalles
groͤſſer. Hieher gehoͤrt die Erfahrung, daß der Schall
im Sommer ſtaͤrker, als im Winter (m) iſt, und daß
derje-
[629]II. Abſchnitt. Werkzeug.
derjenige Schall, welchen man in einer erhizzten Luft
hervorbringt, weiter gehoͤrt wird (n). Er waͤchſet zu-
gleich, wenn die Luft von Mauren eingeſchraͤnkt wird,
und nicht ausweichen kann (o).
Folglich erhellet, daß man die Lebhaftigkeit eines
Schalles, entweder blos durch die Verdichtung, wie in
der Glokke, in welche man zwo Atmoſphaͤren einſchlief-
ſet (p), oder blos durch die Elaſticitaͤt, wie in einer
erwaͤrmten, und zugleich verſchloſſenen Luft, oder endlich
auf beiderlei Art verſtaͤrken koͤnne, wenn man die Dich-
tigkeit und Elaſticitaͤt anwachſen laͤßt, wie an der unter-
irrdiſchen, und zugleich erwaͤrmten und verſchloſſenen
Luft zu ſehen iſt.
Dahingegen vermindert ſich der Schall in einer leich-
tern oder weniger elaſtiſchen, oder zugleich leichten und
unelaſtiſchen Luft. Man kann in einer regnigen, nebli-
chen Luft, und dieſe hat eine Menge unelaſtiſcher Theil-
chen bei ſich, kaum den Schall vernehmen (q). Man
ſagt, daß man auf den hoͤchſten Bergen, wegen der duͤn-
nen Luft (r), den Flintenknall nur ſchwach hoͤre: allein
wir haben dieſen Verſuch, der auf dem Karpatiſchen Ge-
buͤrge gemacht worden, auf den Alpen, die doch viel hoͤ-
her ſind, niemals mit eben dieſem Fortgange wiederho-
len koͤnnen.
Vielleicht waͤre dieſes wahr, wenn man die hoͤchſte
Felſen beſteigen koͤnnte, welche von allen Seiten frei in
die Luft aufgethuͤrmt ſind. Doch ſo weit koͤmmt man
ſchwerlich jemals, und es befinden ſich noch immer eini-
ge umliegende Felſen, welche den Schall vielmehr ver-
R r 3ſtaͤrken.
[630]Das Gehoͤr. XV. Buch.
ſtaͤrken. Und ich glaube kaum der Erzaͤhlung des Froͤ-
lichs, da ich die volle Elaſticitaͤt der Luft auf den hoͤch-
ſten Gebuͤrgen zum Athemholen erfahren habe.
Doch es iſt gewiß, daß eine Luft, welche in der Luft-
pumpe verduͤnnet worden, matter wird, einen Schall
hervorzubringen, und zwar um ſo viel mehr, je duͤnner ſie
iſt (s), und daß der Schall, wenn man mit Fleiſſe faſt
Luft aus der Glokke herausgepumpt, ganz und gar ver-
ſchwindet. Zu dieſem Verſuche muͤßte ein Gehuͤlfe,
der die Luft auspumpen will, die Arbeit etwas laͤnger
ſortſezzen, als zum vollem Falle des Quekkſilbers im Ba-
rometer (t) noͤthig waͤre, indem auch noch in der Luft
Elaſticitaͤt uͤbrig bleibt, wenn man gleich ihre Dichtig-
keit ſehr vermindert hat, wie ich eben von der Luft auf
Gebirgen erinnert habe.
Allein, wenn man alles richtig veranſtaltet, und die
Glokke im luftleeren Raume vergebens geſchlagen wird,
ſo giebt ſie freilich keinen Schall, und es laͤſſet ſich nichts
davon hoͤren (u), woſern man alle Luft ſorgfaͤltig her-
ausgezogen, und auſſerdem die Vorſicht genommen hat,
daß die Uhr ihren Klang nicht den feſten Theilen der
Maſchine mittheilen kann. Denn auf ſolche Art koͤnnte
der Verſuch verfuͤhren, und ein Schall im luftleeren
R r 4Rau-
[631]II. Abſchnitt. Werkzeug.
Raume gehoͤrt werden (x), dergleichen auch in der Luft
wiederfaͤhrt, welche man nicht mit aller Genauigkeit
herausgepumpt hat. Daher iſt es gekommen, daß be-
ruͤhmte Maͤnner nicht zugeben wollen, daß der Schall
im luftleeren Raume erſtikke (y).
Giebt man der Glokke ihre Luft wieder, ſo giebt ſich
der Schall wieder zu vernehmen (z), und er nimmt mit
der Menge Luft wieder zu (a). Wenn auch eine Glok-
ke in einem, mit Luft erfuͤllten Raume klingt, um dieſen
Raum aber ein anderer luftleerer Raum angebracht
wird, ſo erſtikkt der Schall in dieſem luftleeren Raume
eben ſo wohl, und er kann nicht zu unſerem Ohr ge-
langen (b).
Folglich iſt es offenbar, daß der Aether den Schall
fortzupflanzen ungeſchickt iſt, und ich kann nicht abſehen,
was der beruͤhmte le Gat(c) fuͤr eine von der gemeinen
Luft unterſchiedene Luft verſtanden haben will, wodurch
ſich der Schall fortpflanzen ſoll.
Es koͤnnte auch ohne einen feſten Koͤrper ein Schall
in der Luft entſtehen, wofern ein fluͤßiger Koͤrper inwen-
dig Feuer ſaͤngt, und aus einander faͤhrt, wie im Don-
nerwetter in der Luft feurige Kugeln zerplazzen. End-
R r 4lich
[632]Das Gehoͤr. XV. Buch.
lich wird ein Schall entſtehen, wenn die in Bewegung
geſezzte Luft in eine ruhende Luft eindringt (c*).
Man ſezze, daß es ein feſter Koͤrper ſei, welcher
zu erſt dergeſtalt zittert, daß er in ſeinen allerkleinſten
Theilchen Schwankungen leide; man ſezze den Ausgang
dieſes Koͤrpers aus einer Sehne in einen Bogen, vor
den eine Sehne vorgeſpannt iſt. Folglich ſtoͤſſet derſel-
be die Luft (d), die den Raum zwiſchen der Sehne, und
dieſem Bogen anfuͤllte, an, und treibet ſelbige nach der
naͤchſten Luftgegend zu, naͤmlich denjenigen Theil der
Luftwelle ungemein ſchnell, welcher ſich zunaͤchſt am klin-
genden Koͤrper befindet, und denjenigen immer traͤger,
welcher von dem Anfange der Bewegung mehr ent-
fernt iſt.
Doch es giebt dieſe Luft, je weiter ſie von dem zit-
trenden Koͤrper abliegt, um deſto langſamer nach: folg-
lich wird die ruhende, oder langſam bewegte Luft, gegen
die Luft einen Widerſtand thun, die der klingende Koͤr-
per durch das Zittern beweget. Es wird an der Gren-
ze, an welcher die zitternde Luft von der widerſtehenden
uͤbrigen Atmoſphaͤr zuruͤkke gedruͤkkt wird, die Luft am
dichteſten, und gegentheils an der Oberflaͤche des Koͤr-
pers duͤnner ſein, welcher zittret, indem eben dieſe Be-
bung einen groſſen Theil der Luft vor ſich her jagt.
Folglich wird der dichteſte Theil der Luft, vermoͤge der
Geſezze der elaſtiſchen Koͤrper, die duͤnnere Luft gegen
den klingenden Koͤrper, von dem ſie herkoͤmmt, zuruͤkke
ſtoſſen; und dieſen Theil ſtoͤßt ferner eine zwote Bebung
eben dieſes Koͤrpers gegen die Atmoſphaͤr zuruͤkke.
Doch da auſſerdem der auf ſolche Weiſe verdichtete
Theil der Luft, auch ganz nahe an der Atmoſphaͤr dich-
ter wird, ſo wird ſich dieſe dichter gewordne Luft nicht
nur gegen den klingenden Koͤrper, ſondern auch zu glei-
cher Zeit gegen die freie Atmoſphaͤr ausdehnen, und die
Luft, die nahe bei ihr iſt, anſtoſſen: folglich muß, nach
eben dieſen Geſezzen, eine zwote Gegend von dichterer
Luft entſtehen, welche ebenfalls zum Theil die Luft gegen
die erſte Gegend der Verdichtung, und gegen den klin-
genden Koͤrper zuruͤkke druͤkkt, und ſich zum Theil ge-
gen die Atmoſphaͤr ausdehnt, und weil ſie ſolche zugleich
zuſammendruͤkkt, ſo muß ſie einen dritten Verdichtungs-
bezirk bilden. Es wuͤrde aber diejenige Luft, welche
zum klingenden Koͤrper zuruͤkke koͤmmt, ſtille ſtehen, wo-
fern nicht ein neuer Stoß, der vom zitternden Koͤrper
verrichtet wird, in der Luft eine neue Welle hervor-
braͤchte (f).
Es wird ſich aber der Schall durch dieſe Wellen al-
lenthalben, und gleichmaͤßig, durch eine Art von Holku-
gel fortpflanzen, deren Radius der Abſtand der lezzten
Welle vom klingenden Koͤrper, und das Centrum der
klingende Koͤrper ſelbſt iſt, indem ſich jedwede Richtung
fuͤr die Bewegung der Luft gleich gut ſchikkt, weil wir
die Luft als einfoͤrmig annehmen. Jn einer dergleichen
R r 5Holku-
(e)
[634]Das Gehoͤr. XV. Buch.
Holkugel muͤſſen alle zu gleicher Zeit hoͤren, wenn alles
mit Menſchenohren angefuͤllet iſt. Es wird aber der
Schall, wie das Quadrat der Entfernungen, ſchwach wer-
den, weil beſtaͤndig die eingebildete Rinden der kuͤglichen
Hoͤlung wachſen, und ſich die bebende Kraft des klingen-
den Koͤrpers in einen groͤſſern Raum verbreitet, je mehr
ſie alſo Luft fortſtoͤßt, je mehr nimmt der Schall ab, bis
der Widerſtand groͤſſer wird, als der Drukk, da denn
der Schall endlich von ſelbſt erſtikkt. Dieſe Abnahme
wird ſich gedoppelt, wie die Entfernungen (g), verhal-
ten; und eben dieſes iſt auch das Verhaͤltniß der beſtaͤn-
dig wachſenden, und gleich dikken Kugelrinden.
Jn der That pflanzt ſich der Schall, in ziemlich entle-
gene Orte, und mit anſehnlichem Nachdrukke fort. Ein
Glas voll Waſſer, welches man zum Singen reibt, bringt
auch andere Glaͤſer in Bewegung (h), und es entſteht
im Quekkſilber von dem Klange einer Glokke ein Stru-
del (i), ſo wie vom Schall einer Trompete, oder Lau-
te (l), im Waſſer dergleichen Wellenkreiſe hervorgebracht
werden, als wir geſagt haben, daß in der Luft entſtehen,
welche gegen das Centrum wechſelsweiſe wachſen, und
wechſelsweiſe gegen den Umkreis des Glaſes zuruͤkke lau-
fen, wodurch das Waſſer gleichſam ſo kraus und runz-
lich wird, daß es endlich in die Hoͤhe huͤpfet (m).
Doch es zittren auch die ſtaͤrkſten Saͤulen (n), wenn
ſolche gleich weit entfernt ſind, von den ſtarken Thoͤnen,
und ich habe oft, wenn man die Orgel in der Kirche
ſpielte (o), den eingeſtekkten Stokk wechſelweiſe in die
Hoͤhe
(k)
[635]II. Abſchnitt. Werkzeug.
Hoͤhe ſteigen, und niederſinken geſehen; woraus offenbar
erhellet, daß das ganze Gebaͤude der Kirche in ein Zit-
tern gerathe, und ſich in die Hoͤhe begebe.
Wir leſen, daß vom Freudengeſchrei der Griechen,
da der roͤmiſche Feldherr Griechenland in den Spielen
fuͤr frei erklaͤrte, und von dem Geſchrei der Armee,
welche Ptolemais belagerte, die Voͤgel aus der Luft todt
herabgefallen. Der Knall des Donners toͤdtet die jun-
gen Kanarienvoͤgelchen, am ſiebenten oder achten Tage
der Bruͤtung ſo gar in den Eiern (p), und betaͤubt und
toͤdtet die Fiſche (p*). Endlich hat das grobe Geſchuͤzze
auf ſieben, bis zehn (p†), oder gar bis vierzig Meilen
weit (q), die Haͤuſer erſchuͤttert, und die Fenſter. Die-
ſes thut der Aetna uͤberhaupt in einer Strekke von dreiſ-
ſig Meilen, doch blos an denjenigen Haͤuſern, welche
dem Schlunde der brennenden Spizze gegen uͤber
liegen (r).
Die Wirkung des Schalles, iſt vermoͤge deſſen, was
wir geſagt haben, in einer verdichteten Luft ſtaͤrker. So
hrachte der Trompetenſchall einen Menſchen unter der
Taͤucherglokke ganz auſſer ſich (s), und es werden die
Fiſche unter dem Eiſe betaͤubt, wenn man auf das Eis
ſtoͤßt, daß ſie ſich mit den Haͤnden greifen laſſen (t).
Noch kennt man nicht die letzte Entfernung, welche
ein Schall durchlaͤuft. Jch leſe, daß derſelbe neunzig
Jtalieniſche Meilen durchgelaufen (u), und daß er bis
hundert
[636]Das Gehoͤr. XV. Buch.
hundert und achtzig, oder zweihundert Engliſche Mei-
len zuruͤkkgelegt (u*): ja ich erinnere mich, von glaub-
wuͤrdigen Perſonen gehoͤrt zu haben, daß man den
Knall der Stuͤkke in der Belagerung von Landau,
faſt acht und vierzig Meilen weit, zu Baſel, verneh-
men koͤnnen.
Jch verſtehe dieſes nicht ſo, als ob der erſte urſpruͤng-
liche Knall ſo viel Kraſt gehabt habe; denn dieſer waͤch-
ſet, wie ich ſogleich ſagen will, von dem fremden hinzu-
gekommenen Schalle feſter Koͤrper ungemein an.
Es hat eine klingende Erſchuͤtterung eben diejenige
Eigenſchaften, welche ein anderes fluͤßiges Element hat,
beide beſchreiben auf ihrem Wege eine gerade Linie, ſie
durchdringen die harten Koͤrper, auf welche ſie |ſtoſſen,
und ſie fahren von dieſen Koͤrpern unter einem Winkel
zuruͤkke, der demjenigen gleich iſt, unter welchem ſie
auf ſie trafen (x). Jch will nicht hoffen, daß es dieſem
augenſcheinlichen Geſezze Abbruch thun wird, wenn ein
Menſch, der durch eine Mauer redet, gehoͤret werden
kann, und ich glaube daher nicht, daß ſich die klingende
Welle um die Hinderniſſe herumbeugen (y). Es ſchwaͤ-
chen naͤmlich die dazwiſchen liegende groſſen Hinderniſſe,
als die Huͤgel, den Schall ungemein, und ſie erſtikken
ihn, ſo oft ſie ſehr dikke ſind. Wenn aber eben dieſe
Hinderniſſe von dem Schalle in eine zittrende Bewe-
gung geſezzt werden koͤnnen, wie es eine Mauer aller-
dings kann, ſo wird eben dieſe erſchuͤtterte Mauer den
Schall
[637]II. Abſchnitt. Werkzeug.
Schall durchlaſſen. Denn wenn gleich die Mauer von
allen Seiten her verſchloſſen iſt, und die klingenden
Wellen weder von oben her, noch von der Seite durch
Umbiegungen hinter der Mauer einen Weg finden; ſo
kann man doch den Schall durch die Mauer hoͤren, wie
man an benachbarten Kammern, die durch eine voͤllige
Zwiſchenmauer abgeſchnitten ſind, erfahren kann. Folg-
lich laͤßt es ſich nicht wohl vorſtellen, daß ſich der Schall
in krumme Linien biege (z), und ſich auf ſolche Art vom
Licht unterſcheide, welches ich niemals fuͤr wahrſchein-
lich halten koͤnnen.
Nun laͤßt es ſich aus dieſem Beſtreben nach geraden
Linien begreifen, wie es geſchehen koͤnne, daß in einer
Kammer von elliptiſcher Woͤlbung (a) zwo Perſonen,
welche in beiden Brennpunkten der Ellipſe ſtehen, jeder
leiſe reden, mit dem andern ſprechen koͤnne, ohne daß
die anderen, welche noch naͤher dabei ſtehen, das ge-
ringſte vom Geſpraͤche vernehmen. Es iſt naͤmlich ganz
bekannt, daß eine Ellipſe die Art an ſich hat, daß eine
gerade Linie, welche vom Brennpuncte nach der Circum-
ferenz gezogen worden, mit einer andern Linie, welche
man aus der Achſe der Ellipſe zieht, mit dem Tangen-
ten gleich groſſe Winkel macht, und daß dieſe in den
zweeten Brennpunkt dieſer Ellipſe faͤllt (a*). Man
kann in Gemaͤchern, deren Gewoͤlber ſphaͤriſch ſind, faſt
eben dieſes Phaͤnomenon beobachten, indem eine Ellipſe
(Eirundung) von einem Zirkel wenig unterſchieden iſt,
und
[638]Das Gehoͤr. XV. Buch.
und nur durch die ungleiche Groͤſſe der beiden Achſen
davon abweicht.
Von dieſer Gleichfoͤrmigkeit der Ruͤkkfallswinkel,
mit dem Auffangswinkel koͤmmt es her, daß man den
Schall im Brennpunkte eines paraboliſchen Spiegels (b)
ſtaͤrker hoͤren kann, ſo wie man an hoͤlzernen paraboli-
ſchen vergoldeten Spiegeln, die einander gegen uͤber ge-
ſtellet werden (c), den Schall, der in einem der Brenn-
punkte ausgeſprochen wird, beim andern vollkommen
vernehmen kann, welches leichtlich bis auf ſechszig Fuß
weit angeht.
Zur Erhaltung des Schalles dienet auch die vom
Graveſand im Sprachrohr angebrachte Parabel (c*).
Einer paraboliſchen Glokke bediente ſich der beruͤhmte
Convers Purſchall, in welche man eine cilindriſche
Roͤhre ſtekkte, durch welche man redete (c**).
Die Kraft dieſer krummen Linie hat ein beruͤhmter
Mann mit der Ellipſe verbunden. Er brachte naͤmlich
an den Brennpunkt einer elliptiſchen Roͤhre den Mund
an: und dadurch erhaͤlt man, daß die klingende Linien
in dem andern Brennpunkte der Ellipſe zuſammenkom-
men. Dieſer Brennpunkt iſt aber dem Bau nach eben
der Brennpunct, den eine paraboliſche Roͤhre hat, die
mit einer elliptiſchen Roͤhre verbunden. Folglich lau-
fen, nach der Eigenſchaft einer Parabel (d), alle Ra-
dii, welche ſich vom Brennpunkte verbreiten, wenn ſie
auf
[639]II. Abſchnitt. Werkzeug.
auf die Wand aufſallen, gegen die Achſe der Parabel
parallel (e), und zerſtreuen ſich nicht.
Zwar vermehrt ſich nicht die Staͤrke des Schalles
durch einige Sammlung, aber ſie enthaͤlt ſich doch, wenn
man hindert, daß ſich nicht die klingende Wellen, ihrer
Natur nach, in eine ſehr groſſe Sphaͤre ausbreiten.
Man erhaͤlt dieſen Endzwekk an den Cilindern, welche
die Stimme einſchraͤnken, ſo daß man in einer Waſſer-
leitung die Stimme auf fuͤnfhundert bis ſechshundert
Fuß weit vernehmen kann, (f) und ſolche am andern En-
de hoͤrt. Die Stimme verſtaͤrkt ſich auch ſehr in einem
bleiernen Cilinder, wenn man in denſelben ſchreyet (g).
Der Schall verſtaͤrkt ſich in einem ſtumpfen Kegel,
weil, durch was vor Linien er auch eingetrieben wird,
nach vielen wechſelweiſen Stoͤſſen an die Waͤnde, und
Abprallungen von den Waͤnden, lezztlich doch alle Klang-
wellen in eine einzige zuſammenfahren (i). Hieher ge-
hoͤren die gewoͤhnliche Sprachroͤhre, die ſehr gut ſind,
wenn ſie ein ſehr enges Mundſtuͤkk haben (i*). Wenn
man gegentheils eben dieſe Kegel aus Ohr haͤlt, ſo thei-
len ſie dem Ohre den Schall ſehr wohl mit (i**). Die
nach Spirallinien gebogne Trompeten, welche ſich aus
einem weiten Anfange zu einem engen Ende ziehen, preſ-
ſen den Schall von der weiten Circumferenz gegen den
engen Ausgang, und verſtaͤrken denſelben ſolcherge-
ſtalt (k),(l). Die Thoͤne aber verſtaͤrken ſich, (m) und erhal-
ten
[640]Das Gehoͤr. XV. Buch.
ten ſich nicht blos, wenn die klingende Radii nicht ein-
zig allein zerſtreuet, ſondern auch zugleich in einen engern
Brennpunkt getrieben werden.
Daß ein ſpiralfoͤrmiges Sprachrohr eine groſſe Wir-
kung thue, hat ehedem der beruͤhmte Wedel(n), un-
ſer Oheim, gezeigt; dergleichen Kircherus, wie ich
davor halte, nach der Theorie gezeichnet hatte.
Robert Hooke macht die Anmerkung (o), daß ſich
der Schall durch Huͤlfe einer holen Schnekke, mit der
groͤſten Geſchwindigkeit, auf eine groſſe Weite, und in
einem Augenblikke fortpflanzen laſſe. Allen ſolchen Jn-
ſtrumenten aber ziehet der beruͤhmte Helsham die
Trompeten vor, welche nach einer logaritmiſchen Spi-
rallinie gemacht worden, welche ſich um ihre Achſe her-
umwaͤlzt (p). Das Schnekkenohr des Dionyſius,
wie es Kircher nannte (q), iſt keine wirkliche Schnek-
ke, denn es iſt von einem zuverlaͤßigen Augenzeugen an-
ders befunden worden (r), allein es kann doch, von
welcher Beſchaffenheit es auch immer ſein mag, ſeine
Dienſte thun, den Schall zu ſammeln. Man bringt
wechſelweiſe einen Gang in daſſelbe, welcher nach oben
zu enger iſt, und man bringt in dieſem am aͤuſſerſten
Ende einen engern Kanal an, von dem man glaubt,
daß er ſich im Schlafzimmer des Dionyſius geendigt
habe, wo man freilich auch den kleinſten Schall wahr-
ſcheinlicher maſſen vernehmen gekonnt. Wenigſtens iſt
es auch noch ein gutes Sprachgewoͤlbe (s).
Hieher gehoͤret ein groſſer Theil von der Wirkſam-
keit, welche man an den Sprachroͤhren in den unter-
irrdiſchen Kanaͤlen, in den Hoͤlen, und in den ſchnek-
kenfoͤrmig angelegten Kammern beobachtet. Es zwin-
get naͤmlich die zitternde Luft, welche auf harte und ela-
ſtiſche Koͤrper trift, dieſe Koͤrper mit zu zittren, naͤmlich
gegen den erſten Koͤrper Schwingungen zu machen, oder
ſo zu beben, wie die angeſchlagene Luftwelle bebte. Dieſe
Kraft uͤbet die Luft an allen Mauren, Felſen, Metallen,
Hoͤlzern und andern harten Koͤrpern, welche widerſte-
hen, ja an der glatten Oberflaͤche des Waſſers ſelbſt aus.
Daher koͤmmt es, daß die Kraft des Schalls ganz aus-
nehmend wachſen muß, da ſie von ſo vielen Springfe-
dern wieder angeſchlagen wird (t), welche einen aͤhnli-
chen Schall hervorbringen. Denn wenn die Entfernung
nicht groß iſt, ſo flieſſet der, von den umherſtehenden
Koͤrpern entſtandene Schall mit dem urſpruͤnglichen Schall
in eins zuſammen (u), und es verwandeln ſich die un-
zaͤhlbaren Stimmen in eine einzige groͤſſere, indem ſo
viel Waͤnde auſſer der erſten gleichſam noch eine Menge
derſelben nachſingen; daraus wird der Schall aber un-
deutlicher, als er erſt zu ſeyn ſchien, weil nun viele Thoͤ-
ne in einen einzigen einſtimmen (x).
Es geben aber alle harte Koͤrper eine Reſonanz (Nach-
klang) von ſich. Und davon entſteht der lebhafte Nach-
klang
H. Phiſiol. 5. B. S s
[642]Das Gehoͤr. XV. Buch.
klang (y), welchen leere Gotteshaͤuſer, Kammern, die
noch mit keinem Hausgeraͤthe verſehen ſind, Felſen und
Hoͤlen, von ſich geben (z). Selbſt die Blaͤtter an den
Baͤumen klingen nach (a), ſo daß der Wiederſchall in
den Waͤldern zur Sommerzeit (b) lebhafter, als im
Winter iſt, da die Baͤume nakkt ſind. Es thoͤnt ſelbſt
das Waſſer nach, wenn es ruhig und eben ſteht; und
man kann muſikaliſche Jnſtrumenten weit und ſchoͤn ver-
nehmen (c), wenn man ſie bei ſtiller Nacht, und an
ſtillen Seen ſpielt, ſo daß man auch die Reden der Schif-
fer bis auf vier Meilen weit unterſcheiden kann (d).
Da einer von zween Freunden im Serail, der andere
zu Skutari ſtand, und mit einander ſprachen; ſo konn-
ten ſie ihre Worte uͤber dem ſtillen Meere auf zwo Mei-
len weit verſtehen (e).
Weiche Koͤrper ſcheinen dagegen den Schall zu er-
ſtikken, weil ſie ihn nicht vermehren. Ein mit Schnee
bedekktes Land (f), weicher Sand (f*), nebliche waͤſſe-
riche Luft, groſſe Wieſen, Kirchen mit Tapeten ge-
ſchmuͤkkt, oder die mit Zuhoͤrern angefuͤllt ſind (g), laſ-
ſen den Schall nicht zunehmen (h). Die in einem Kahne
mit einander ſprechen, koͤnnen kaum ihre gewechſelten
Worte verſtehen, wenn nicht Haͤuſer am Felſen vorlie-
gen,
[643]II. Abſchnitt. Werkzeug.
gen, wovon der Schall wieder abſpringen kann, um
ihre Worte ſo zu hoͤren, als ob ſie in dieſen Haͤuſern
ausgeſprochen worden (i).
Wenn Koͤrper, welche den Schall abſpringen ma-
chen, in der Nachbarſchaft unſers Ohres liegen, ſo flieſ-
ſen dieſe neuen Thoͤne, welche die nahe ſtehenden Koͤr-
per darbieten, mit dem urſpruͤnglichen Thone zuſam-
men (k). Doch man hat noch kein gewiſſes Maas durch
Verſuche beſtimmt, und es iſt ſolches nach der genauen,
oder weniger zarten Empfindung (k*) des Zuhoͤrers viel-
fach, indem dieſe zweeten Thoͤne beſonders von dem erſten
vernommen werden, und unſere Seele ſowohl die Silbe
des urſpruͤnglichen Schalles, als auch die aͤhnliche Silbe
des nachgeſprochenen Thons, unterſcheidet. Kircher
giebt dieſe Entfernung, mit ſammt dem Ruͤkklaufe, auf
hundert und zehn Fuß an (k*). Muſſchenbroek auf
drei und funfzig Fuß, folglich mit dem Ruͤkkwege auf
hundert und ſechs Fuß (l) an. Mortonus ſchaͤzzet
den Weg auf neunzig (m); Sturm auf hundert (n).
Robert Plot(p) auf hundert und zwanzig Fuß: Mer-
ſennus auf zweihundert Fuß (q); denn ich erklaͤre ſei-
ne vierzig Schritte ſo. Um aber einen laͤngern Schall
zu wiederholen, dazu gehoͤret eine weitere Entfernung.
Einige verlangen zu zwo Silben vierhundert (r), andere
S s 2nur
[644]Das Gehoͤr. XV. Buch.
nur hundert und fuͤnf (s), noch andere, zweihundert und
vierzig Fuß (t). Zu drei manche ſechshundert, (u) andere
hundert und funfzig, andere hundert und achtzig (x): zu
vier Silben hundert zwei und achtzig Fuß (y): zu vier
oder fuͤnf Silben zweihundert und zehn (z), zu eilf Sil-
ben 1320 Fuß (a), als Merſennus; und zu zwoͤlf Sil-
ben vierhundert achtzig Schritte (b), und ſo weiter zu
laͤngern Silben, wiewohl hier einiger Unterſcheid vor-
koͤmmt. Wenigſtens bezeuget Sturm(c), daß von
dreihundert Schritten, ſechs oder ſieben Silben, von
vierhundert und dreißig neun, von vierhundert und acht-
zig, eilf Silben wiederholt werden; dabei es zu ver-
wundern ſteht, daß zu ſieben bis neun Silben, viel mehr
Weite, als zu andern erfordert wird. Kircher giebt
ganz andere Diſtanzen an (d).
Der Wiederſchall prallt von den jezzterwaͤhnten Koͤr-
pern ab (e). Wenn man von einer Mauer zur andern
redet, mit welcher die eine parallel ſteht, ſo kann es ge-
ſchehen, daß man einerlei Silbe, nicht einmal, ſondern
uͤberhaupt mehrmal hoͤrt: und es giebt einige, nicht ge-
nung bekandte Gebaͤude, wo man eine urſpruͤngliche
Stimme achtmal (f), zwoͤlfmal, dreizehnmal (g), vier-
zehn (h), ſiebzehn, neunzehn (i), vier und zwanzig,
neun und zwanzig, zwei und dreißig (k), und ſechs und
funf-
[645]II. Abſchnitt. Werkzeug.
funfzigmal (l) wieder hoͤren kann. Hieher gehoͤrt das
beruͤhmte Echo im Dorfe Simonetta, wiewohl die gar
zu nahe Mauren vielſilbige Worte daſelbſt verworren zu
hoͤren geben (m).
Dergleichen vielfache Wiederholung entſtehet auch,
wenn bald dieſe, bald jene Hinderniſſe die Stimme ab-
zuprallen noͤthigen, ſo daß einige hoͤher, als andere lie-
gen, ſo wie ſie entfernter ſind (n): denn man wird die
von dem erſten Gegenſtande, hierauf die vom andern,
denn die vom dritten abprallende Stimme hinter einan-
der vernehmen koͤnnen.
Doch das Echo wird immer ſchwaͤcher, weil die lezz-
ten Thoͤne von einer groͤſſern Weite zuruͤkke laufen
muͤſſen.
Der Widerſchall ſpricht nicht nur die Menſchenſtim-
me und Buchſtaben, ſondern auch ganz genau muſika-
liſche Thoͤne nach (o). Jch leſe, daß der Buchſtabe S
vom Echo nicht nachgeſprochen werden ſoll (p).
Wir haben geſagt, daß ſich der nachklingende Thon
vom urſpruͤnglichen nicht trenne, wofern das Hinder-
niß gar zu nahe dabei liegt. Es kann naͤmlich die menſch-
liche Seele zween ſchnell auf einander folgende Thoͤne
nicht von einander unterſcheiden, ſo wenig als zwei Bilder
leuchtender Koͤrper; ſondern es hat die Seele ein gewiſſes
S s 3Zeit-
[646]Das Gehoͤr. XV. Buch.
Zeitmaas noͤthig, wovon wir an einem anderen Orte
reden wollen; und dieſes Maas hat ſie noͤthig, um zwei
naͤchſt auf einander folgende Dinge zu unterſcheiden.
Nun bewegt ſich der Schall mit aͤuſſerſter Geſchwindig-
keit; und dieſe haben beruͤhmte Maͤnner theils durch
Rechnungen, theils durch angeſtellte Verſuche, ziem-
lich genau beſtimmt. Es legt naͤmlich das Licht ſeinen
Weg ſo fluͤchtig zuruͤkke, daß der Zeitverluſt, wenn es
aus der Sonne koͤmmt, fuͤr nichts angeſehen werden
kann, wenn von Dingen, die auf unſerer Erde vorge-
hen, die Rede iſt.
Folglich loͤſen gewiſſe Perſonen ein grobes Geſchuͤz-
ze, damit daſſelbe eine ſichtbare Flamme und vernehm-
lichen Knall von ſich geben moͤge, indeſſen, daß an-
dere, welche ſo und ſo viel Fuß davon entfernt ſtehen,
nach einer guten Uhr (p*), oder den Pendulſchwankun-
gen, von dem Augenblikke des Blizzes, die Schlaͤge
zu zaͤlen anſangen (p**), welche zwiſchen dem zuerſt er-
blikkten Blizze, und dem gehoͤrten Stuͤkkdonner ver-
laufen. So fing ehedem Gaſſendus(q) die Geſchwin-
digkeit des Schalles zu berechnen an, und er fand auf
eine Secunde 1473 Fuß: und Merſenn ſchreibt, der
Schall durchlaufe innerhalb einer Secunde 1380 Fuß (r).
Die Mitglieder der Akademie del Cimento fanden, daß
er innerhalb fuͤnf Secunden (s) eine italiaͤniſche Mei-
le, folglich 1147 Fuß ⅘ in einer Secunde zuruͤkklege.
Die Mitglieder der franzoͤſiſchen Akademie, Caßin
der Aeltere, Pikard, und der beruͤhmte Daͤne Roͤmer,
brach-
[647]II. Abſchnitt. Werkzeug.
brachten 1097 franzoͤſiſche Fuß heraus, welche der Schall
durchlaufen hatte (t). Der beruͤhmte Walker fand
nicht immer einerlei Summe, ſondern zwiſchen 1150
und 1526 Fuß (u). Jſaak Newton brachte nach der
feinſten Rechnung (x) 969 Fuß heraus, welchen er we-
gen der Dikke der Luft noch 119 Fuß beifuͤgte, woraus
1086 werden; und er ſand wegen der Daͤmpfe, welche
die Luft verdichten, 1142 Fuß (y), welches 1020 Pari-
ſer Fuß betraͤgt: und dieſe Summe haben Flamſted
und Halley durch Verſuche beſtaͤtigt, ſo wie G. Der-
ham(z)Euler, durch angewandte Berechnung 1100
Fuß beſtimmt (a), da er doch ſonſten die Geſchwindig-
keit des Schalles zwiſchen 1222 und 1069 Fuß einge-
ſchloſſen hatte (b). Die Franzoͤſiſchen Akademiſten,
welche ſich der groͤſſeſten Entfernungen und Geſchuͤzze
bedienten, ſezzten 1038 (c) und 1041 Fuß (d). Jn
der Naͤhe von Quito fand man 1044 Fuß (e) und 1050,
zu Cayenne aber uͤberhaupt 1198 Fuß (f).
Dieſe Verſuche, wenn man dabey genau verfahren,
erweiſen, daß von dieſer oder jener Urſache die Ge-
ſchwindigkeit des Schalles bald ſo, bald anders, be-
ſchaffen ſei.
Und zwar ſo hat es das Anſehen, daß dieſe Geſchwin-
digkeit im Sommer (g), und in warmen Gegenden um
S s 4etwas
[648]Das Gehoͤr. XV. Buch.
etwas groͤſſer ſei (g*), ſo daß ſich das Verhaͤltniß bei-
der Geſchwindigkeit, wie 76 zu 78 verhaͤlt (h). Es
hatte ſchon aus bloſſer Berechnung die Verſchiedenheit
der beruͤhmte Cotes(h*) vorgetragen. Doch bisweilen
beſchleunigt auch ein guͤnſtiger Wind den Lauf des
Schalles ein wenig (i).
Beruͤhmte Maͤnner wollen nicht, daß die Winde eine
Gewalt haͤtten, den Schall in etwas aufzuhalten (k).
Da aber ein mittelmaͤßiger Wind faſt dreizehn Fuß,
und ein Wind, welcher noch nicht der groͤßte eben iſt,
entweder ſechs und ſechzig, oder gar hundert und neun-
zehn Fuß (l), in einer Minute durchſtreicht; ſo koͤnnte
folglich der Wind durch ſeinen Widerſtand faſt den zehn-
ten Theil von der Geſchwindigkeit des Schalles, oder
der klingenden Luft, rauben: und es ſtimmen auch in
der That die Verſuche damit uͤberein, daß der Wind
der Geſchwindigkeit des Schalles nach dem Verhaͤltniſſe
Abbruch thue, welches wie 112 (m) zu 122 (n) iſt; und
es hat endlich ein heftiger Sturmwind den Schall ploͤtz-
lich gehemmt (o). Und eben ſo uͤbertraͤgt im Gegen-
theil ein guͤnſtiger Wind den Schall in eine entferntere
Diſtanz (o*).
Der Nebel vermindert die Geſchwindigkeit des Schal-
les um \frac{1}{77} Theil (p).
Diejenigen, welche alſo die Entfernungen der Oerter
nach dem Laufe des Schalles (q) meſſen wollen, muͤſſen
auf alles dieſes ihre Gedanken mit richten.
Jn der That weis man von dieſer Verſchieden-
heit ſo viel, daß darinnen nichts gewiſſes ſtekke,
was man von der Staͤrke des Schalles zu beſtim-
men pfleget. Welche meynen, daß ein ſtarker Schall
ſchneller fortlaufe (r), deren Verſuche wollen nicht
uͤbereinſtimmen, ſo wenig als die Natur der Sa-
che ſelbſt (s). Dieſes erwies in der That Gaſſendus
dadurch, daß er den Knall einer Buͤchſe, mit dem Knal-
le eines Stuͤkkes verglich (t); und es haben ſolches die
Florentiner, welche ſich verſchiedener Arten des gro-
ben Geſchuͤzzes bedienten (u), wie auch unter den Neuern
einige beruͤhmte Maͤnner beſtaͤtigt (x). Doch es laͤuft
auch nicht ein feiner Schall geſchwinder, als ein grober
fort (y).
Eben ſo wenig ermuͤdet der Schall, oder er laͤuft nicht
die letzte Strekke ſeines Weges langſamer, als die erſte
durch, und er legt beſtaͤndig in gedoppelter Zeit einen
gedoppelten Weg zuruͤkke (z). Selbſt das Echo bringt
in eben der Zeit den Schall vom Abprallsorte zum Ohr,
als es denſelben vom Ohre zum Abprallsorte bringt (a),
welches auch von ſeiner dreißigſten Wiederkehr gilt.
Daher miſſet man auch die Entfernung vom Echo, je
ſpaͤter daſſelbe zuruͤkk koͤmmt. (a*).
Wenn ein klingender Koͤrper, der von der Luft oder
einem andern harten Koͤrper getroffen worden, zittert,
ſo iſt dieſe Bebung nicht eine Sache von einem einzigen,
oder ungetheilten Zeitpunkte, ſondern ſie wird noch lan-
ge wiederholet, und es waͤchſet, und es nimmt ein ſol-
cher Koͤrper wechſelweiſe ab (b). Man kann dieſe Be-
bungen, wie wir erwaͤhnt haben, da ſie lange Zeit fort-
dauren, an einer klingenden Glokke leicht mit Augen ſe-
hen; und es kann ein aufmerkſames Ohr zugleich den,
von der Glokke gemachten Thon, langſam durch wech-
ſelnde Schlaͤge endlich verſtummen hoͤren. Eben dieſe
Fortdauer der Thoͤne kann man auch bei den muſikali-
ſchen Saiten, und uͤberhaupt bei allen klingenden Koͤr-
pern, was ihr Zittern betrift, beobachten. Hieraus
laͤßt ſich leichtlich abnehmen, daß auch dieſe Schalle
eines und eben deſſelben Koͤrpers, aus vielen auf einan-
der folgenden Thoͤnen in eins zuſammenflieſſen, ſo daß
ein zartes Gehoͤr in einem Schalle, ſo gar bis fuͤnf
gleichartige unterſcheiden kann (c).
Doch man hat vorlaͤngſt ſchon die ſubtile Entdekkung
gemacht, daß dieſe wechſelnde Bebungen in einigen
Exempeln ſehr geſchwinde auf einander folgen, in an-
deren hingegen nur langſam, ſo daß ein klingendes
Jnſtrument, innerhalb einer gegebenen Zeit bald mehr,
bald weniger Schlaͤge thut.
Ferner, daß unſer Ohr anders geruͤhrt werde, wenn
der bewegte Koͤrper ſchnelle Bebungen macht, und an-
ders, wenn derſelbe langſam zittert. Man nennt da-
her
[651]II. Abſchnitt. Werkzeug.
her einen groben Thon, denjenigen, welcher von we-
nigen Bebungen entſteht, die langſam auf einander
folgen; und dagegen einen feinen Thon, welcher von
mehr Bebungen, die innerhalb einer gewiſſen Zeit un-
gemein ſchnell auf einander folgen, herruͤhrt. Daß fer-
ner und uͤberhaupt die Feinheit des Schalles ſich, gera-
de wie die Zahl der Schwingungen verhalte, und daß
Thoͤne der Unterſcheid von der Anzal der klingen Wel-
len (e) ſind.
Auſſerdem hat die Natur dieſen Schwingungen ge-
wiſſe Grenzen vorgeſchrieben. Sind nur ungemein we-
nige Bebungen vorhanden, ſo hoͤret man nicht einmal
die Thoͤne, welche dieſe Schwingungen hervorbringen.
Man hat angemerkt, daß ein Schall unvernehmlich
bleibe, (f) welcher von zehn Vibrationen entſteht, und
er laͤßt ſich uͤberhaupt nicht empfinden, wenn das Auge
die Anzahl ſeiner Schwingungen zaͤhlen kann.
Daher verlangt Merſennus(g) ſechs Vibrationen
auf eine Secunde, wenn man einen Schall hoͤren ſoll;
und er ſagt, daß wenig Menſchen ſo muſikaliſch ſind,
welche unter einen Thon von fuͤnf und zwanzig Vibra-
tionen abſteigen koͤnnten (h). Er fand an der allerſein-
ſten Saite 832 Ruͤkkſchlaͤge (i).
Daher fand der beruͤhmte Sauveur(k), welcher ſich
mit dieſer Sache ſehr abgab, daß eine Kirchenpfeife,
welche vierzig Fuß lang iſt, den allergroͤbſten Thon her-
vorbringe, wenn ſelbige innerhalb einer Secunde, zwoͤlf
und ein halbmal zittert.
Er nahm ſich zur feſten Grenze denjenigen Thon an,
welcher von hundert Schwingungen innerhalb einer Se-
kunde hervorgebracht wird, und es ſei dieſes der aller-
feinſte Thon, deſſen Schwingungen innerhalb eben die-
ſer Zeit 6400 machen. Folglich iſt die ganze Thonlei-
ter von vernehmlichen Thoͤnen zwiſchen dreizehntehalb
und 6400 Vibrationen eingeſchraͤnkt, und dieſe Zahlen
verhalten ſich wie 1 zu 512. Gemeiniglich pflegt man
es mit dieſem Manne zu halten (l).
Etwas anders berechnet der groſſe Mathematiker,
Leonhard Euler, dieſe Schwingungen, indem er
30 zur Grenze der Schwingungen macht, und dieſes ſei
der tiefſte Thon von allen vernehmlichen Thoͤnen, ſo
wie er 7520 Schlaͤge dem allerhoͤchſten, oder feinſten
Thone, vorſchreibt. Hier iſt das Verhaͤltniß wie 1 zu
250 ⅖ (l*).
Die Feinheit iſt uͤberhaupt von der Staͤrke unterſchie-
den, und es iſt alſo ein lebhafter und ein feiner Thon
eine ganz verſchiedene Sache. Die Staͤrke ruͤhrt da-
von her, wenn die Materie einerley iſt, und ſich der
Nachdrukk des Schlages, und die Anzahl der geſchlag-
nen Theilchen im klingenden Koͤrper anders verhalten:
die Feinheit koͤmmt dagegen auf die Geſchwindigkeit der
Ruͤkkſchlaͤge an. Die groͤbſten Thoͤne, welche vom Ohr
kaum begriffen werden koͤnnen, verurſachen an Pfeilern
ſtarke Bebungen (m). Und es kann in einerlei Thone
die Lebhaftigkeit des Schalles um zwei und ſiebenzigmal
groͤſſer, oder kleiner ſein (n).
Wir muͤſſen in Erwaͤgung ziehen, warum einige Sai-
ten in einer gegebenen Zeit mehr Schwingungen ma-
chen, als andere. Hierzu giebt es verſchiedene Urſa-
chen, und darunter iſt die erſte die verſchiedene Span-
nung der Saiten. Folglich kann man durch verſchiedne
Gewichte, welche eine und eben dieſelbe Saite ſpannen,
an derſelben alle Thoͤne hervorbringen: man ſieht aber
leicht vorher, daß eine ſtaͤrker geſpannte Saite ſchnellere
Ruͤkkſchlaͤge macht, und daß eine weniger gedehnte Sai-
te ſchwerer bewegt wird, und langſamer ſchwankt.
Man hat durch Erfahrungen gelernt, daß die An-
zahl der Vibrationen, oder die Feinheit des Thones ſich
gedoppelt, wie die ſpannende Gewichter verhalten (o).
Wenn man daher eine Saite durch ein angehaͤngtes Pfund
ausſpannt, und der andern vier Pfunde zu tragen giebt,
ſo werden ſich ihre Schwingungen wie 1 zu 2 verhalten,
und die Thoͤne werden um eine Oktave von einander un-
terſchieden ſein. Wenn die Saite a durch ein Pfund
geſpannt wird, die andre b durch neun Pfunde, ſo wird
ſich auch alsdenn die Anzahl der Vibrationen von b, wie
drei, zur Vibration des Koͤrpers a verhalten.
Aus eben dem Grunde, werden ohne dehnende Ge-
wichter, Koͤrper, die haͤrter und elaſtiſcher ſind, feiner
klingen, wie die aus zerbrechlichen Metallen zuſammen-
gefetzte Glokken oder ſtaͤlerne und kupferne Saiten; hin-
gegen werden diejenigen Koͤrper groͤber klingen, wel-
che aus einem weichern Metalle gemacht ſind. Am groͤb-
ſten klingen unter den metalliſchen Saiten die goldne (p);
und
[654]Das Gehoͤr. XV. Buch.
und noch groͤber, welche aus dem Siamiſchen und wei-
chen Golde gezogen werden (q). Wir haben bereits ge-
ſagt, daß Klavirſaiten von groſſer Kaͤlte um einen gan-
zen Tohn verſtimmt worden (q*). Es ſcheint das Waſ-
ſer, womit ein Glas angefuͤllet wird, die elaſtiſche Be-
bungen des Glaſes aufzuhalten, indem der Thon davon
groͤber wird (r).
Wenn Saiten gleich ſtark geſpannt werden, oder von
einerlei Metall, oder Materie ſind, ſo werden ſich die
Zahlen der Vibrationen ebenfalls verkehrt verhalten,
wie die Laͤngen der Saiten (s): ſo daß eine zweimal
laͤngere Saite, zweimal weniger Schwingungen macht,
oder eine Oktave niedriger angiebt; und unter den Or-
gelpfeifen (t) zittert eine, die achtmal groͤſſer iſt, auch
um achtmal weniger (u). Es laͤſſet ſich dieſes durch aͤhn-
liche Verſuche (x), und ſo gar durch das Monochordium
beweiſen. Selbſt die Wellen, welche in einem mit
Waſſer angefuͤlltem Glaſe entſtehen, theilen ſich mit-
ten durch, wenn der Thon durch die Oktave hinauf-
ſteigt (y). Folglich verhaͤlt ſich A zu B wie l. L, wenn
man die groſſen Buchſtaben fuͤr die Eigenſchaften von
A, und die kleinen fuͤr die Eigenſchaften der Saite B
nimmt.
Endlich verhalten ſich gleichgeſpannte Saiten, die
gleich lang ſind, in der Anzahl der Bebungen, ver-
kehrt,
[655]II. Abſchnitt. Werkzeug.
kehrt, wie die Durchmeſſer (z), oder Dikken, ſo daß alſo
eine doppelt ſo dikke Saite, doppelt ſo wenig Vibratio-
nen macht. Folglich iſt A zu B, wie c zu C.
Folglich verhalten ſich uͤberhaupt die Zahlen der Vi-
brationen verkehrt, wie die Laͤngen und Dikken, und ge-
doppelt wie die Spannungen, und es wird an der Sai-
te A dieſe Zahl = l c v T, an der Saite B. L C. v t
ſein. Von beiden Saiten werden die Schwingungen
gleich groß werden, wenn l c v T = L. C. v t,(z*) iſt.
Die Feinheiten der Glokkenſchlaͤge verhalten ſich wie die
Schweren, oder das dreimal groͤſſere Verhaͤltniß der
Durchmeſſer (z**).
Allein man muß ſich hierbei erinnern, daß keine Sai-
te, oder Pfeife ihren eignen Thon habe, ſondern daß
ſie wegen der verſchiednen Natur ihrer Theile, welche
nicht auf einerlei Art geſpannt ſind, mehr als einen
Thon (a) von ſich geben, und dieſe kann ein geuͤbtes
Ohr, als fein und grob unterſcheiden. Man hat Nach-
richten, daß ſie bei dem Hauptthone zugleich die Oktave,
Quinte und Terz, die man zugleich hoͤren koͤnnen, von
ſich gegeben (b); und man weiß, daß ein jedweder Thon,
aus einem Hauptthone, und aus zweien ſehr feinen Thoͤ-
nen, nehmlich dem zwoͤlften und ſiebenzehnten, (c) zu-
ſammengeſezzt ſei, wie die geuͤbten Kuͤnſtler lehren.
Die
[656]Das Gehoͤr. XV. Buch.
Die Alten ſchrieben ſchon (d), daß ſich in einer einzigen
Glokke verſchiedene Thoͤne in eins vereinigen.
Pithagoras war der erſte, welcher, vermoͤge ſei-
ner bewundernswuͤrdigen Scharfſinnigkeit, (e) bei Gele-
genhe it der harmoniſch klingenden Schmiedehaͤmmer,
durch eine Menge Erfahrungen dieſes herausbrachte,
daß die verſchiedene Harmonien, verſchiedene Verhaͤlt-
niſſe enthielten, und daß man ſieben Stimmen in der
Muſik habe.
Man nennt naͤmlich, ſeit dieſer langen Zeit eine Con-
ſonanz(f), wenn die Zahl der Vibrationen in zwo
Saiten gleich groß iſt, und ſich folglich ihre Vibratio-
nen, die zu einerlei Zeit geſchehen, zu einem einzigen
Thone vereinigen.
Oktave nennt man, wenn die Laͤnge einer Saite,
die uͤbrigens gleich iſt, gedoppelt iſt (g), und wenn
uͤberhaupt die Anzahl der Schwingungen, an der Saite
A doppelt ſo groß, als die Schwingungen der Saite
B iſt.
Die Quinte nennt man, wenn ſich die Laͤnge der
Saite A, die eben ſo geſpannt, und eben ſo dikke, als
die Saite B iſt, ſich wie 3, und an der Saite B wie
[3] verhaͤlt.
Die Quarte iſt, wenn eben dieſes Verhaͤltniß, nebſt
der damit verbundenen Anzahl der Schwingungen, ſich
wie 4 und 3 verhaͤlt.
Die groſſe Terz hat eben dieſes Verhaͤltniß, wie
5 zu 4.
Jn der kleinen Terz iſt das Verhaͤltniß, wie
6 zu 5.
Die uͤbrigen Thoͤne einer Oktav uͤbergehen wir in
dieſem Werke, welches zu ſo viel andern Materien be-
ſtimmt iſt (h).
Obere Oktav heißt, wenn doppelt ſo viel Schwin-
gungen vorgehen; untere, wenn halb ſo viel geſchehen.
Es ſind alle vernehmliche Thoͤne entweder in acht
Oktaven (i), oder in zehn (k) enthalten, ſo daß die hoͤch-
ſten Verhaͤltniſſe der Laͤngen an klingenden Saiten wie
1024 und 1 ſind, und man kann uͤber dieſes Maas keine
Thoͤne mehr unterſcheiden, ſo wenig als darunter (l).
Zwiſchen zwo Oktaven kann ein feines und geuͤbtes
Ohr 43 Thoͤne unterſcheiden (m). Folglich laͤßt ſich
eine gewaltige Menge Thoͤne, naͤmlich bis 387, unter-
ſcheiden.
Wenn eine angeſtreifte Saite, oder ein jedwedes
muſikaliſches Jnſtrument einen Thon von ſich giebt, ſo
entſte-
H. Phiſiol. 5. B. T t
[658]Das Gehoͤr. XV. Buch.
entſtehen eben ſolche Schwingungen, und eben ſo viel
Schwingungen an der Anzahl, in allen gleichthoͤnigen
Jnſtrumenten (n), welche naͤmlich innerhalb eben der-
ſelben Zeit ſo oft zu beben geſchikkt ſind, ſo oft als das
zuerſt zitternde Jnſtrument zu vibriren pflegt. Es
braucht nicht ein Jnſtrument von eben der Art zu ſein:
denn es klingt eine Saite mit einer gleichſtimmenden
Stimme, eine Orgelpfeife (o) mit einer Pfeife oder
Floͤte (p), oder mit einer Saite harmoniſch zuſammen;
und ein Glas Waſſer thut dieſes (q) mit ſeiner gleichſtim-
migen Saite, wie auch damit eine Floͤthe (r), Trom-
pete (s), oder auch ein anderes gleichſtimmiges Glas (t),
oder eine Trummel mit dem Glaſe (t*). Man kann an
gleichſtimmigen Glaͤſern das Zittren und die Bewegung
der Wellen ganz deutlich wahrnehmen (t**). Endlich
klingen auch die Trummeln zuſammen, ſo daß die Ku-
geln auf der einen in die Hoͤhe ſpringen, wenn man die
andere ſchlaͤgt (t†).
Auſſer den Saiten, welche in gleicher Zeit, gleiche
Anzahl von Vibrationen machen, zittren auch Saiten
harmo-
[659]II. Abſchnitt. Werkzeug.
harmoniſch zuſammen, wenn ſich ihre Schwingungen,
gegen die Schwingungen des klingenden Koͤrpers ein-
fach verhalten (u), das iſt, wenn ſie in einem doppel-
ten Verhaͤltniſſe gegen einander ſtehen, oder um eine
Oktave unterſchieden ſind (x): ferner, wenn ihr Ver-
haͤltniß anderthalbmal groͤſſer iſt, und ſie um die Quin-
te von einander entfernt ſind (y): ſchwaͤcher zittren Sai-
ten zuſammen, wenn ſie um die Terz verſchieden ſind (z),
und dieſes gilt auch von den uͤbrigen Thoͤnen, deren
Verhaͤltniſſe durch mehr zuſammengeſezzte Zahlen aus-
gedruͤkkt werden; endlich geben ſie undeutliche und kaum
vernehmliche Thoͤne von ſich. Es zittren ferner an einer-
lei Saite verſchiedene Theile der Saite mit, ſo daß
man neben dem Hauptthone noch zween andere fei-
ne vernehmen kann, naͤmlich den zwoͤlften und ſieb-
zehnten (a).
Es iſt glaublich, daß dieſes Zittren vornehmlich durch
die harten Koͤrper ſelbſt, von der Hauptſaite zu den mit
einſtimmenden Saiten fortgepflanzt werde, weil nicht
nur dieſer Mitlaut erſtikkt, wenn der erſte klingende
Koͤrper auf Wolle (b), oder einem andern weichen Pol-
ſter aufliegt, ſondern auch groſſe und harte Laſten gar zu
ſtark mit beben, als daß man glauben koͤnnte, daß ſie
von der bloſſen Luft beweget wuͤrden (c). Daher beben
auch aufgehaͤngte Saiten, welche uͤbrigens harmoniſch
ſind, nicht mit, wenn man die Jnſtrumenten auf-
T t 2haͤngt
[660]Das Gehoͤr. XV. Buch.
haͤngt (d), es ſey denn, daß ſie ſich ganz nahe dabei
befinden (e).
Jndeſſen kann man doch auch mit beruͤhmten Maͤn-
nern annehmen, daß dergleichen mitlautende Bebungen
durch die Luft (f), von der klingenden Saite zur gleich.
ſtimmigen fortgepflanzt werden. Es iſt naͤmlich offen-
bar, daß die Luft ſelbſt, und ſchon der bloſſe Wind vom
muſikaliſchen Jnſtrumente ſeine Thoͤne erhalten habe (g).
Wenn nun die Luft auch blos in ihrem Striche oder
Zuge die muſikaliſche Bebungen von den Saiten be-
koͤmmt; warum ſoll ſie nicht eben das bekommen, wenn
fie ſelbſt ſchon von den Muſikbebungen in Schwingun-
gen verſezzt iſt (h)!
Vielleicht giebt es daher, weil die ſieben urſpruͤngli-
chen Lichtſtrahlen ſich bei ihren Brechungen verſchiedent-
lich verhalten, auch in der Luft Theilchen, von verſchie-
dener Schnellkraft, deren einige ſich zu dieſen, andere
zu anderen Thoͤnen gleichſtimmig verhalten, und jede
Bebung mag in gewiſſer Zeit, ihre gewiſſe Anzahl Schlaͤ-
ge thun, und alſo jedwede Art diejenigen Thoͤne ins Ohr
bringen, welche mit ihr harmoniſch ſind (i). Ob es
auch in anderen und harten Koͤrpern Theilchen von ver-
ſchiedenem Grade Elaſticitaͤt gebe, darunter jedes mit
ſeines gleichen Thon mitbebe, und demſelben harmoniſch
nachſinge (k), iſt ebenfalls noch die Frage.
Auf dieſe Gedanken bezog man ſich, wenn man an-
merkte, daß Fenſter von einem gewiſſen Schalle der
Trummel ſtaͤrker gezittert (l), und das Echo gewiſſe
Thoͤne getreuer und vollſtaͤndiger, als andere nachge-
ſprochen habe (m), vielleicht, weil die Hinderniſſe, die
das Echo zuruͤkke geben, an gewiſſen Theilchen einen
groͤſſern Ueberfluß haben. Man ſchreibt das Zittren
der Kirchenſaͤulen dergleichen beſtimmten Uebereinſtim-
mung zu (n), und beruͤhmte Maͤnner ſcheinen das Phaͤ-
nomenon derjenigen Saiten, welche nicht harmoniſch
mit einſtimmen, wenn ſie von ſehr ungleichen Thoͤnen
ſind (o), gewiß zu machen, indem in der That einerlei
Mauer-Stimmen von allerlei Art, Thoͤne und Melo-
dien (p), ſo wie das Krachen des groben Geſchuͤzzes,
oder die ſanfte Floͤthe, folglich die groͤbſten und feinſten
Thoͤne getreulich wiederholet.
Was die Lufttheilchen belangt, ſo macht der vortref-
liche Leonhard Euler(q) den Einwurf, es koͤnne
nicht in den Theilchen der Atmoſphaͤr eine verſchiedene
Elaſticitaͤt in irgend etwas langer Zeit uͤbrig ſein: denn
wenn man annehme, daß Koͤrperchen in der Luft von
ungleicher Schnellkraft waͤren, ſo muß den Augenblikk,
wenn die obere ausgedehnt, und die untere zuſammen-
gedrukkt worden, allen das gemeinſchaftliche Elaſtici-
taͤtsmaas wieder gegeben werden.
Wahrſcheinlicher iſt es, daß in harten Koͤrpern die
Theilchen bald ſo, bald anders, elaſtiſch und hart ſind.
Jndeſſen koͤnnte es doch wunderbar ſcheinen, daß ſowohl
die weichen Blaͤtter, als die harten Felſen, und dar-
T t 3unter
[662]Das Gehoͤr. XV. Buch.
unter Steine von allerlei Haͤrte, eben ſowohl Thoͤne von
allerlei Art im Echo zuruͤkke werfen.
Es ruͤhret uͤbrigens von dieſen innerlichen mitſtim-
menden (r) Bebungen an gleichlautenden Koͤrpern (r*),
die der klingende urſpruͤnglich hervorbringt, das beruͤhm-
te Zerſprengen der Glaͤſer her, wovon Morhof ge-
denkt. Sie zerſprungen naͤmlich durch eine Menſchen-
ſtimme (r**), durch einen Gleichlaut (s), und noch nach-
druͤkklicher von der ſchnellgeſchryenen Oberoktav (t), de-
ren ſchnellere Bebungen alſo, die Beſtandtheile des
Glaſes zu trennen, mehr Kraft haben muͤſſen (u). Denn
es klingen auch grobe Saiten, wenn man feine an-
ſchlaͤgt (x). Wenn man aus einer feinen Stimme in
eine grobe abfaͤllt, zerſpringen nicht die Trinkglaͤſer (y).
Man muß ſich wundern, daß ſie nicht von einer Trom-
pete zerſprungen, obgleich das Waſſer heraus ſprang,
und ausfloß (z). Sie zerſprungen aber nicht nur von
der Menſchenſtimme, ſondern auch vom Reiben eines
andern Glaſes (z*), oder auch von einer mit dem Glaſe
gleichſtimmigen Laute (z**).
Es hat das menſchliche Ohr eine breite Oberflaͤche,
und es ſteht nach der Abſicht der Natur vor dem
Kopfe vor, um die faſt von allen Seiten des
Kopfes herkommenden Thoͤne aufzufangen (a), ſonder-
lich aber die von der vordern Seite herkommen, wie
man an den jagenden Thieren gewahr wird. Der Ge-
brauch der Kindermuͤzzen benimmt dieſer natuͤrlichen
Vollkommenheit der Ohren ein vieles (b).
Klingende Strahlen nennen wir diejenige Linien,
welche vom klingenden Koͤrper, als aus dem Mittel-
punkte, auf die concentriſche Wellen, und nach dem
Umfange der Holkugel gezogen werden, welche der
Schall anfuͤllet. Es ſind die Ohren der unvernuͤnftigen
Thiere offenbar kegelfoͤrmiger, und zwar ſo, daß die
Spizze des Kegels in den Gehoͤrgang fuͤhrt. Da alſo
die Reflexionswinkel der Klangſtrahlen, denenjenigen
Winkeln gleich ſind, unter welchen ſie einfallen, ſo kom-
men dieſe Strahlen von jeder Stelle des aͤuſſern Ohrs
in die gegen uͤberſtehenden, und endlich, da die koni-
ſche Figur ſelbſt ſie nicht entwiſchen laͤßt, in dem Ge-
hergange zuſammen, wie ſolches die Figur ſelbſt beſſer
etklaͤrt (c).
Am Menſchen iſt das aͤuſſerliche Ohr weniger koniſch,
allein es hat vorragende knorpliche Erhabenheiten. Jn-
deſſen pflegte uns doch Boerhaave(d) zu berichten, daß
er mit vieler Gedult am aͤuſſern Ohre eines todten Koͤr-
pers Linien gezogen, welche mit jedweder, aufs Ohr
auffallenden Linie gleich groſſe Winkel machen wuͤrden,
und es waͤren auf ſolche Art alle dieſe Linien endlich in
den Gehoͤrgang zuſammen gekommen.
Es ſcheinen nicht nur die Thiere, ſondern auch Men-
ſchen, die von keinem unterrichtet worden, dieſen Zu-
ſammenfluß der Thonſtrahlen in dem Gehoͤrgang, als
ein Huͤlfsmittel anzuſehen, indem die Pferde (e) und
Hirſche (f) und andere vierfuͤßige Thiere augenſcheinlich
die Ohren in die Hoͤhe richten, und ſie ausgeſtrekkt, da
ſie bei ihnen beweglich ſind, gegen den Ort hin zu dre-
hen, (g) wo der Schall herkommt, um dadurch deſto-
mehr Strahlen des Schalles zuſammen zu bringen. Jn
Jamaika ſtrekkt das Heerdevieh die Ohren nach dem
Schalle des Hirten hin, welcher es zum Futter ruft,
und wenn ſie dieſen Schall gehoͤrig vernommen, ſo ma-
chen ſie ſich kurz darauf zur Abreiſe fertig (g*). Da-
her hoͤren Thiere auch genau, wenn ſie die Ohren aus-
ſtrekken, und undeutlich, wenn ſie ſolche herabhaͤngen
laſſen (h).
Die Menſchen koͤnnen kaum merklich das Ohr bewe-
gen, allein ſie ſtrekken ſie doch durch ihre bereits er-
zaͤhlte Kraͤfte in ſo fern aus, daß der Zugang zur Schnek-
ke mehr geoͤffnet wird. Sie legen, und ſonderlich die
ein
[665]III. Abſchnitt. Werkzeug.
ein ſchwaches Gehoͤr haben, ihre Hand (i) unter einem
rechten Winkel mit dem Kopfe hinter das Ohr an, wenn
ſie die Worte ihres gegenuͤberſtehenden Freundes beſſer
hoͤren wollen. Endlich ſtekken Perſonen von ſchlechtem
Gehoͤre einen ſehr weiten (k), geraden (l) und ſchnekken-
foͤrmig gekruͤmmten (m) Trichter in den Gehoͤrgang; da-
mit ſie den Schall von einer recht groſſen Flaͤche ſammeln
moͤgen. Daher hoͤren auch gemeiniglich Menſchen
ſchlechter, denen die Ohren abgeſchnitten ſind (n).
Dadurch erhaͤlt man nicht nur, daß viele klingende
Strahlen in die Schnekke, und den Gehoͤrgang zuſam-
men kommen, ſondern auch, da das aͤuſſerliche Ohr viel
weiter, und der Gang viel enger iſt, ſo nehmen die
Thoͤne ungemein an Staͤrke zu, und ſie ſammeln ſich
an der Trommelhaut, wie bei einem Brennpunkte.
Hier thut die Natur eben das, was ein ins Ohr gehal-
tenes Sprachrohr, oder das Dionyſiusohr, durch wel-
ches derjenige, welcher im Mittelpunkte ſaß, auch den
allerkleinſten Schall, ungemein ſtaͤrker vernahm (o).
Andere bringen eine wiederſchallende Trummel (p)
ans Ohr, damit die geſpannte Haut den Schall auffange,
den der Widerſchall in der holen Kapſel vermehren, und
alſo auf die Trummelhaut ſtaͤrkere Schlaͤge thun muß.
Endlich verſtaͤrkt der Gehoͤrgang ſelbſt, wie andere
Roͤhren, durch das Abprallen der Thoͤne, und das ela-
ſtiſche Zittren der Knochen und Knorpel, ſo darauf
ſolgt, den Schall ungemein (q).
Es befindet ſich auf dem Grunde des Gehoͤrganges
eine Membran, und an dieſer raget eine niedergedruͤkk-
te Stelle, wie ein Schild, gegen die Trummel, kegel-
artig hervor, ſo daß ſie ſich in einem einwerts convexen (r)
Bukkel endigt. Auf dieſen Schildbukkel treffen die klin-
genden Wellen, Kraft der Natur eines convergirenden
Kegels zulezzt auf (s): es iſt aber dieſe Membran von
ſelbſt geſpannt, und in einem erwachſenen Menſchen noch
mehr (s*). Folglich laͤßt ſich nicht zweifeln, daß nicht
dieſe Membran von klingenden Saiten in ein Zittren
gebracht werden ſollen (t).
Daß auf dieſem Wege die klingende Zitterungen zu
der Maſchine des Gehoͤrs gelangen muͤſſen, veranlaſſet
die Analogie zu glauben, da ſo viele Thiere mit einem
dergleichen Gehoͤrgange verſehen ſind (u), und man
ſchlieſſet es auch aus den Krankheiten, welche das Ge-
hoͤr zerſtoͤhren, ſo oft entweder der klingenden Luft die
freie Straſſe nach dem Gehoͤrgange abgeſchnitten wird,
oder die Trummelhaut nicht mehr zittren kann.
Wenn ſich im Gehoͤrgange Fleiſch angeſetzt, und den-
ſelben angefuͤllet, ſo iſt das Gehoͤr gehemmet worden (x),
und man hat daſſelbe wieder hergeſtellet, wenn man
das Fleiſch herausgezogen (y), oder den ins Ohr gefal-
lenen
[667]III. Abſchnitt. Werkzeug.
lenen Koͤrper, und den fehlerhaften Ueberzug, der die
Trummelhaut bekleidete (z), fortgeſchaft, ſo wie das
Vermoͤgen zu hoͤren von Wuͤrmern geraubt worden, wel-
che im Gehoͤrgange niſteten (a).
Doch es koͤmmt auch ſehr oft vor, daß eine zu groſſe
Menge und Zaͤhigkeit des Ohrenſchmalzes (c), ein
ſchweres Gehoͤr mache, und die Taubheit erzeuge.
Dergleichen ſind diejenige Perſonen, denen die Markt-
ſchreier durch Einſprizzung einiger Seife, wie ich ſelbſt
geſehen, das Gehoͤr wieder geben (d). Der vortref-
liche von Buffon(e) geſteht eine angeborne Taubheit
von der Verſtopfung des Gehoͤrganges zu.
Wenn ja einiges Gehoͤr noch uͤbrig iſt, ob ſchon das
Ohr verſtopft iſt (f), wie bey einem Knaben, welcher
keine Ohren mit auf die Welt brachte, und bei dem der
Gang verſchloſſen war (f*), ſo koͤnnen einige Thoͤne
entweder durch die Trompete zum Werkzeuge|| des Ge-
hoͤrs, oder ſelbſt durch das Zittren der erſchuͤtterten
Knochen gekommen ſein (f**).
Was die Trummelhaut ſelbſt betriſt, ſo laͤßt | es ſich
noch zweifeln, ob das Gehoͤr verſchwinde, wenn dieſelbe
gelitten. Einige ſagen nein, und ſie fuͤhren| Exempel
und Verſuche an (g),(h).
Andere ſagen dagegen, daß Leute taub geworden,
wenn dieſe Membran durchloͤchert worden, und ſie nen-
nen ebenfalls Erempel (i) und Verſuche, die man Hun-
den gemacht habe (k). Man ſagt, daß dieſes Uebel in
Jtalien gemein ſei, und es ſoll von dem zu vielen Rein-
machen ein ſchweres Gehoͤr entſtehen, welches man
dieſer zerriſſenen Membran Schuld giebt. An einem
Tauben fand man (l) keine Trummelhaut. Derjenige
verlohr das Gehoͤr, dem man die Trummelhaut mit
einem Degen verlezzt hatte (m); doch kam das Gehoͤr
allmaͤlich wieder, als er geheilet wurde. Durch Ver-
eiterung gieng das Gehoͤr verlohren (m*). Da alſo
auch Valſalva bezeugt, daß ſich leicht die Wunden an
dieſer Membran ſchlieſſen (n), ſo koͤnnen einige Exem-
pel von einer unſchaͤdlichen Verletzung derſelben, zu der-
gleichen Kuren gerechnet werden, oder es mag auch
noch die Trompete des Euſtachs ihre Dienſte gethan
haben.
Es erlaubet naͤmlich weder das beſondere Kunſtſtuͤkk
dieſer Membran, die keiner anderen Membran gleich
iſt, noch ihre beſtaͤndige Analogie in ſo vielen Thie-
ren (o), noch ihre Verbindung mit den Gehoͤrknoͤchgen,
und
(b)
[669]III. Abſchnitt. Werkzeug.
und die beſondern Muſkeln, welche dieſe Knoͤchgen be-
dekken, zu glauben, daß ſie ohne Nuzzen ſei, oder wel-
ches faſt eben ſo viel iſt, als unnuͤzze ſein, daß ſie einzig
und allein die Trummel verſchlieſſen ſollte (o*).
Sie iſt in Kindern loſer geſpannt (p) und auſſerdem
mit Schleim bezogen, und ſie zittret ſchwaͤcher, ſo daß
man glauben kann, daß dadurch die lebhaften Thoͤne,
die einem neugebornen Kinde gefaͤhrlich werden koͤnnten,
um etwas gebrochen werden. Jn erwachſenen Men-
ſchen wird ſie nicht nur an ſich ſelbſt hart, ſondern ſie
wird auch in ihrem Ringe ſtaͤrker geſpannet, wie wir
oben geſagt haben.
Es thoͤnt eine geſpannte Saite beſſer (q). Aus die-
ſer Erfahrung, aus der Betrachtung des Baues der
Trummelhaut, und von der Verrichtung des Euſtachi-
ſchen Muſkels, hat man eine Muthmaſſung hergeleitet,
welche gar nicht unwahrſcheinlich iſt. Wenn es naͤm-
lich unſer Vortheil iſt, genauer zu hoͤren, um die
ſchwachen, und aus der Ferne kommenden Thoͤne ſubtil
zu unterſcheiden: ſo glaubt man, daß ſich dadurch der
Zugang des Ohres beſſer oͤffene, ferner daß die Trum-
melhaut durch den Muſkel des Hammers, entweder
vorzuͤglich, oder gar einzig und allein dergeſtalt geſpan-
net werde, daß ſie einwerts herabgezogen, mit demje-
nigen Zirkel, uͤber welchen ſie vorragt, einen kleinern
Winkel mache. Solchergeſtalt werden alle Radii, die
aus der Mitte des Schildbukkels nach dem Umkreiſe
gezo-
[670]Das Gehoͤr. XV. Buch.
gezogen worden, laͤnger werden, als ſolche, welche die
Oberflaͤche eines laͤngern Kegels beruͤhren, und es wird
die ganze Membran aller Orten geſpannt ſein. Es
wollte aber unſer beruͤhmter Lehrer, daß ſich die Thiere,
und wenigſtens der Menſch doch, dieſer Membran be-
dienen, wenn die von einem verwirrten Geraͤuſche er-
wekkte Seele, aus Neugierde ſich ſammelt, und dieſes
Geraͤuſch, ſo deutlich, als moͤglich, vernehmen will (r),(r*).
Welche Muſkeln behaupten, die die Trummel nach-
laſſen, ſehen Kraͤfte vor ſich, welche die Trummelhaut
bei gar zu lebhaften Thoͤnen entweder ſchlaff machen,
oder mit Huͤlfe des Euſtachiſchen Muſkels dieſe Trum-
melhaut wieder in ihre gehoͤrige Lage ſezzen (s).
Sie fuͤgen uͤbrigens ein ſonderbares Exempel von einer
gar zu loſen Trummelhaut bei (t), welche zum Gehoͤr
unnuͤzze war, es ſey denn, daß man dabei die ſtaͤrkeſte
Erſchuͤtterung der Trummeln anbrachte. Wenn ſie da-
von geſpannet wurde, ſo konnte ſie jezzt auch die menſch-
liche Stimme vernehmen. Von zu vielem Waſſer,
welches ſich in der Trummel geſezzt hatte, ruͤhrte eine
Taubheit her (t*).
Andere Schriftſteller haben dieſer Trummelhaut eine
andere, noch feinere Spannung zugeſtanden. Obgleich
mit allen Thoͤnen einige Theilchen an harten Koͤr-
pern uͤbereinſtimmen (u), ſo iſt doch diejenige Harmo-
nie
[671]III. Abſchnitt. Werkzeug.
nie (x) harter Koͤrper genauer, welche bei gleicher Span-
nung einerlei Anzahl von Bebungen, in einerlei Zeit
hervorbringen. Da man alſo glaubt, daß zum Hoͤren
Schwingungen der Trummelhaut erfordert werden, ſo
glaubt man zugleich, daß die verſchiedenen Thoͤne, an
welchen uns etwas gelegen iſt, ſie zu hoͤren, unſerer
Seele ganz rein vorgeſtellt werden, dazu wuͤrden auch
verſchiedene Spannungen dieſer Membran erfordert.
Folglich glauben beruͤhmte Maͤnner, daß diejenigen
Kraͤfte, von denen wir geſagt haben, daß ſie dieſe Mem-
bran ſpannen, und nachlaſſen, dazu angewandt werden,
daß ſie nachgelaſſen werde, um die groben Thoͤne zu hoͤ-
ren, hingegen geſpannt werde, um die feinen zu ver-
nehmen, und daß ſelbige mit allen Thoͤnen, ſo verſchie-
den auch dieſe ſind, einſtimmig ſei, einerlei Anzahl von
Bebungen in einerlei Zeit vorſtelle, und folglich in
dem innerſten Werkzeuge des Gehoͤrs eben die Thoͤ-
ne wiederhole, welche die Luft zur Trummelhaut ge-
bracht hat (y).
Wenn die Muſkeln uͤberhaupt die Trummelhaut ver-
mittelſt der Gehoͤrknoͤchgen regieren, ſo fraͤgt ſichs, ob
ſie vom Willen der Seele regiert werden, oder ob dieſe
Bewegung aus der Klaſſe derjenigen ſind, welche ohne
den Willen, Kraft der Bauart der koͤrperlichen Maſchi-
ne, erfolgt. Hieronymus Fabricius glaubte, ver-
moͤge einer an ſich ſelbſt gemachten Erfahrung, daß dieſe
Muſkeln dem Willen gehorchen, da man inwendig im
Ohre, durch die Gewalt des Willens, ein Geraͤuſche
erregen koͤnnte (z). Es laͤßt ſich an einem ſtillen Orte
ein Geraͤuſche, vor dem Geraͤuſche ſchnell aber undeut-
lich empfinden (a).
Fuͤr die andere Meynung ſcheinet die Analogie der
Augen zu ſtreiten, in denen eine gewiſſe geheime Ver-
aͤnderung, nach der groͤſſeren oder kleineren Kraft des
Lichtes, und nachdem die Objecten naͤher, oder weiter
ſind, in der That ſtatt findet, und dennoch der bloſſe
Wille, ohne dieſe Verſchiedenheit des Lichts, oder der
Naͤhe der Objekten, uͤberhaupt keine wirkliche Herrſchaft
uͤber einen, und eben denſelben Regenbogen hat, noch
dieſen, wie ſonſt einen Schliesmuſkel, nach Komman-
do ſpannen, und verengern kann.
Es vermuthet der beruͤhmte Cotunnus, daß die
Trummelſaite von der Trummelhaut ſowohl durch deren
faͤchrige Zuſammenhaͤnge, als durch den Hammer-
ſtiel (a*), zum Beben gebracht, und ſolchergeſtalt von
dieſem Reize der Muſkel des Euſtachs, und des Steig-
biegels, die vom harten Nerven ihre Aeſte bekaͤmen,
zuſammengezogen wuͤrden, welches in der That ſeinen
feinen Wizz andeutet. Es ſcheinet aber die Trummel-
haut nach dieſer Hypotheſe von den ſtarken Thoͤnen noch
ſtaͤrker geſpannt zu werden, da es im Gegentheil fuͤr ſie
beſſer waͤre, wenn ſie nachgelaſſen wuͤrde.
Dieſe Frage laͤßt ſich ſchwerlich entſcheiden, da es
nicht in unſerm Vermoͤgen ſtehet, daruͤber Verſuche an-
zuſtellen. Wenn es in der That dennoch ein Muſkel
iſt, der die Trummelhaut ſpannen kann, ſo wuͤrde ich
der Meynung ſein, daß ſelbige in der That geſpannt,
oder nachgelaſſen wird, und daß der Hammer weder
umſonſt auf der Membran ſtehe, noch von einem Muſkel
beherrſcht wird. Dieſem widerſpricht auch die Erfah-
rung nicht: denn man kann glauben, ob man gleich
der Sache nicht gewiß iſt; aber glauben kann man den-
noch, daß man genauer hoͤre, wenn man genauer hoͤren
will, wenigſtens koͤmmt es mir, der Erfahrung gemaͤß,
ſo
[673]III. Abſchnitt. Werkzeug.
ſo vor. Folglich iſt es ſehr wahrſcheinlich, daß ſich die
Membran bey ſehr ſchwachen Thoͤnen ſpannen laſſe: hin-
gegen ſcheint es mir kaum wahrſcheinlich zu ſeyn, daß
ſie ſich alsdenn nachlaſſen laſſe, indem man, ſo gerne man
auch immer wollte, dennoch auf keine andere Art das
feine Getoͤſe, anders, als durch Verſtopfung der Ohren
ſchwaͤchen kann.
Jch werde aber der Meynung ſchwerlich beipflichten,
daß ſich dieſe Trummelhaut harmoniſch ſpannen laſſe,
da es gewiß iſt, daß ſich die Seele allerlei Thoͤne, auch
ohne Huͤlfe dieſer Membran, eben ſo wohl vorſtellen
koͤnne, wenn die thoͤnenden Erſchuͤtterungen (b) den Kno-
chen des Kopfes ſelbſt unmittelbar mitgetheilt werden,
und daß der Schall auf ſeinem Wege keine groͤſſere,
oder kleinere Spannung nothwendig brauche, weil ſich
die Knochen der Hirnſchale auf keinerley Art ſchaͤrfer
ſpannen laſſen.
Wenn die Trummelhaut erſchuͤttert, und einwerts
gedruͤkkt wird (c), ſo muß der Hammer auch, vermoͤge
ſeines mechaniſchen Lagers (d), mit einwerts gedruͤkkt
werden, ſo wie der mit dem Hammer verbundene Am-
bos, und beſonders deſſen laͤngerer Schenkel, wel-
cher den Steigbiegel anſtoͤßt, und tiefer in das eirunde
Fenſter treibt (e). Dieſes iſt eben diejenige Bewegung,
wel-
H. Phiſiol. 5. B. U u
[674]Das Gehoͤr. XV. Buch.
welche Fabricius(f) hoͤrte, und welche Wilhelm
Derham an einem Maulwurfe (g) mit Augen ſahe.
Aus dieſem Grunde zerſtoͤhret die Zerreiſſung der
Trummelhaut die Annagung der Knoͤchgen (h), ihr
Entfallen (i) die Zernagung des langen Ambosſchen-
kels (k), und endlich, wenn man den Berichten trauen
darf, der Mangel des Amboſſes (l), das Gehoͤr. Da-
durch wird naͤmlich der allernatuͤrlichſte Weg unterbro-
chen, wodurch die Erſchuͤtterungen der Luft zum Vor-
hofe gelangen muͤſſen.
Daher haben Thiere, die mit einem Gehoͤr begabt
ſind, Knoͤchgen, welche die thoͤnende Erſchuͤtterungen
vom Gehoͤrgange zum Vorhofe durchlaſſen, und dieſes
ſind die Thiere von warmen Blute, und die Voͤgel.
Daher hoͤret unter den Thieren von kaltem Blute die
Eidechſe (m) am beſten, hierauf folgt der Froſch (n),
welcher zwei Knoͤchgen hat; die Natter hat ſchon ein
ſchwaͤcheres Gehoͤr bei ihrem einzigen Knoͤchgen, und
weil ihr die halbkreiſigen Kanaͤle (o) fehlen; der Waſ-
ſerſalamander (p), der gar keine Knoͤchgen hat, kann
kaum etwas weniges hoͤren. Folglich kann man billig
behaupten, daß die Ohrknoͤchgen zur Vollkommenheit des
Gehoͤrs gemacht ſind (q).
Es vermag der Steigbiegelmuſkel den aͤuſſern
Theil des Steigbiegels, tiefer in den Vorhof ein-
zudruͤk-
[675]III. Abſchnitt. Werkzeug.
zudruͤkken (r), und dadurch, wenn es uns ſchaͤrfer zu
hoͤren beliebt, den Drukk in den Vorhof zu verſtaͤrken.
Es iſt das aͤuſſerliche Ohr nicht der einzige Weg,
auf welchem der Schall zur Trummel gelangt: es iſt
noch ein zweeter vorhanden, durch die Naſe, durch den
Mund, und durch die Trompete des Euſtachs; und
dieſer Weg ſteht immer offen.
Es iſt gewiß, daß ein Menſch, welcher von ſeinem
natuͤrlichen Jnſtinkt regieret wird, ſo oft er ein Getoͤſe
genau hoͤren will, den Mund weit oͤffnet (s), ob dieſes
gleich unanſtaͤndig und baͤuriſch heraus koͤmmt. Bei
alle dem aber erreichet ein ſolcher doch ſeinen Endzwekk,
beſonders wenn er ein ſchwaches Gehoͤr hat (t). Es
ſcheint, daß dieſer Schall in der Trummel, durchs
Abprallen, und Wiederholen ſeine Beſtaͤtigung be-
komme (t*).
Auch hat es das Anſehen, daß es Thiere gebe, bei
denen der Schall dieſes Geſchaͤfte vorzuͤglich ausuͤbt, als
in der Schildkroͤte (u) und dem Froſche.
Doch im Menſchen ſcheinet eine freie Straſſe der
Luft durch die Trompete zum inwendigen Ohr, ſo noth-
wendig zu ſein, daß das Gehoͤr, nach ihrer Verſtopfung
nicht weniger verlohren geht, als es vergeht, wenn
Gebrechen den Weg durch den Gehoͤrgang verhindern.
U u 2Man
[676]Das Gehoͤr. XV. Buch.
Man hat Exempel von den zernagten Muſkeln der
Trompete (x), von Gewaͤchſen, die die Trompete ver-
ſtopfen (y), an Wikken, die man in die Euſtachstrom-
pete ſtekkt (z), an der oͤftern Entzuͤndung der Halsman-
deln (z*), an der Mundſchwaͤmme (z**), am Gaumen-
geſchwulſte (a), welcher nach dem Gange des Euſtachs
zu laͤuft, an angehaͤuftem und verdikkten Schleime in
der Trompete (b). Gemeiniglich wird zwar im Schnu-
pfen das Gehoͤr undeutlicher, allein dieſes vergeht im
Durchfalle (c), oder Laxiren wieder (d), wenn die Urſa-
che fortgeſchaft worden, welche die Trompete verſtopfte.
Jch kenne ein Fraͤulein, bei der das eine Ohr, von der-
jenigen ſchlimmen Schlundkrankheit, die gegen Anfang
des Jahres 1762 zu Bern gefaͤhrlich und toͤdtlich graſ-
ſirte, taub geworden. Zu gleicher Zeit iſt damit ein
Eitergeſchwuͤr verbunden.
Mit vielen Umſtaͤnden lehret der beruͤhmte Wa-
then(e) die Taubheit von einer Verſtopfung der Euſta-
chiſchen Trompete, durch eine eingeſtekkte Sonde, und
durch Einſprizzung eines Waſſers mit Roſenhonig ge-
miſcht, zu heilen. Die Kranken bekommen davon ſo-
gleich Erleichterung. Man berichtet, daß Jemand,
der vom Schnupfen ein ſchwaches Gehoͤr bekommen,
nachdem er von freien Stuͤkken eine Anſtrengung zum
Hin-
[677]III. Abſchnitt. Werkzeug.
Hinabſchlingen geaͤuſſert, und gleichſam einen kleinen
Knall gehoͤrt, wiederhergeſtellet worden (f). Hierbei
thut auch das Gurgeln, welches mein beruͤhmter Lehrer
anwenden lies, gute Wirkung (g).
Man muß ſich aber, wenn wir uns dieſer Wohlthat
bedienen wollen, ein wenig bei dem Einathmen maͤßi-
gen: denn waͤhrend deſſen, daß wir Athem holen,
koͤmmt nicht einiges Zittren, ſondern der ganze Strom
der Luft durch die Trompete, und dieſer druͤkkt die
Trummelhaut ſtaͤrker nach auſſen zuruͤkke, als ſie von
dem Zittren der Luft nach einwerts zu gedruͤkkt wird.
Daher leſen wir, daß die zuruͤkkgehaltene Luft, mit
Rauſchen in die Trompete tritt, (h) mit ihrer Kaͤlte be-
ſchwerlich geweſen, und endlich die Trummelhaut zer-
ſprengt habe, wenn man Mund und Naſe zuhielte.
Waͤhrend des Gaͤhnens entſteht eine voͤllige Taubheit (h*),
wie ich oft genug acht gegeben habe, daß ich auf einmal
die Worte meines Freundes verlohren, wenn ich gaͤhn-
te: (h**) denn Gaͤhnen iſt ein langſames und ſehr groſſes
Einathmen.
Darum will ich aber nicht in Abrede ſein, daß nicht
die Trompete des Euſtachs einen andern Nuzzen haben
ſollte. Man kann glauben, daß durch ſelbige die Luft
in den groͤbſten Thoͤnen (h†), im Donner und Loͤſen des gro-
ben Geſchuͤzzes ausweichen kann (i). Alsdenn iſt naͤmlich
die Wirkung von dergleichen Krachen ſo heftig, daß
davon Menſchen auf einmal taub werden. Viel ſchlim-
U u 3mer
[678]Das Gehoͤr. XV. Buch.
mer wuͤrde dieſes Uebel ſein, wenn die in der blin-
den Trummel (i*) eingeſchloſſene Luft, mit ihrer voͤl-
ligen Gewalt, denen durch den Gehoͤrgang kommen-
den Wellen widerſtuͤnde, von denen ſie zuſammen-
gedrukkt wird. Allein jezzo kann ſie durch die Trom-
pete ausweichen.
Man hat auch geglaubt, daß die aͤuſſerliche Luft auf
dieſem Wege zur Trummel kaͤme: theils um die Luft
dieſer Hoͤle durch ein friſches Element anzufriſchen, da-
mit ſie nicht bei Einbuͤſſung der Schnellkraft unnuͤzze
werde; theils damit dieſe Luft mit der aͤuſſern einerlei
Elaſticitaͤt bekomme (k).
Wir wuͤrden naͤmlich viel zu ſcharf hoͤren, wofern
die Luft der Atmoſphaͤr ſchwer, und indeſſen die Luft in
der Trummel leicht waͤre; und es wuͤrde im Gegentheil
unſere Empfindung ſtumpf werden, wenn die Atmoſphaͤr
ſo leicht waͤre, wie wenn man Berge beſteigt, und die
Luft in uns ſo dichte bliebe, wie ſie an den Seekuͤſten
iſt. Nun wird aber, wenn wir einathmen, die Luft der
Trummel mit der aͤuſſern Luft einerlei.
Man ſagt auch, die Luft wuͤrde in der Trummel
warm, und verduͤnnt, und ſie widerſtuͤnde alſo der Luft,
welche durch den Gehoͤrgang mit Bebungen ankaͤme.
Dieſe Waͤrme maͤßige die Luft, welche wir eben durch
die Nafe und Trompete in uns zoͤgen (l).
Daß dergleichen Luft durch das Trummelloch zur
Trummel (m) gelangen koͤnne, wollen wir jezzo nicht
widerlegen, da dergleichen Loch nicht ſtatt findet.
Man koͤnnte aber in ſo fern einiges Athemholen durch
das Ohr zulaſſen, daß ſich auch die Trompete ausleere,
wenn Kraft des Ausathmens ein Theil von der Luft,
welche den Schlund erfuͤllet, fortgeſchaffet wird, und
daß folglich auch die aͤuſſere Luft, welche in den Gehoͤr-
gang tritt, die Trummelhaut erhaben macht. Wenn
dagegen die Luft waͤhrend des Einathmens in die Trom-
pete koͤmmt, und die Trummel anfuͤllet, und der aͤuſſe-
ren Luft Widerſtand thut, ſo koͤnnte man glauben, daß
die Membran herauswerts getrieben wird (n). Es ſoll
im Froſch die Bewegung der Trummelhaut mit dem
Athemholen zu einerlei Zeit geſchehen (n*).
Endlich glaubt der vortrefliche Valſalva, daß bei
allem Hoͤren die Trompete von ſeinem neuen ungeboge-
nen Muſkel des weichen Gaumens eroͤffnet, und nach-
gelaſſen werde, um etwas Luft zuzulaſſen, und daß die
Trummelhaut von den, durch den Gehoͤrgang hineinge-
brachten Zitterungen der Luft (o) beſſer geſpannt werde.
Damit aber nicht das Einathmen in die Trompete Luft
einlaſſe, die dieſen Zitterungen widerſtuͤnde, ſo werde
die Trompete von dem zwiſchen der Trompete und dem
Zapfen gelegenen, und dem zwiſchen dem Schlundkopfe
und Zapfen befindlichen Muſkel (p) die an der Trompete
liegen, zuſammengedruͤkkt. Es ſind dieſes Subtilitaͤ-
ten, welche ſich weder leicht widerlegen, noch erweis-
lich machen laſſen. Dennoch glaube ich ſchwerlich, daß
in allem Einathmen, die jezztgedachte Muſkeln des
Gaumens wirken, weil der zwiſchen der Trompete und
U u 4dem
[680]Das Gehoͤr. XV. Buch.
dem Zapfen gelagerte Muſkel die Naſe allerdings durch
Verſtopfung des weichen Gaumens verſchlieſſen kann,
dieſes aber wider die Natur des Einathmens iſt, wel-
ches meiſtentheils durch die Naſe, und zwar am natuͤr-
lichſten verrichtet wird, und folglich eine freie Straſſe
durch dieſelbe zum Schlunde erfordert.
Wenn es noͤthig iſt, den Schleim in der Trummel
nicht blos der Frucht (q), ſondern auch eines erwachſe-
nen Menſchen, fortzuſchaffen (r), ſo wird man, auſſer
der Trompete, keinen andern Weg finden. Und auch
ſelbſt die Schwere leitet ſelbigen ein wenig dahin. Daß
das Nieſen hieher gehoͤre, behaupten beruͤhmte Maͤnner,
und es ſoll daſſelbe den Schleim durch Erwekkung des
Luftſtroms fortreiſſen (s).
Doch man kann alles dieſes, was man von der Luft
der Trummel behauptet, in dem Verſtande nehmen,
daß wir dabei bedenken, wie dieſe Hoͤle gemeiniglich
mit Schleim angefuͤllt, und hier kein reiner luftleerer
Raum vorhanden iſt.
Wir erinnern erſtlich von dem runden Fenſter, daß
es nicht das Anſehn gewinne, daß die Luft. Erſchuͤtte-
rungen auf dieſem Wege zum Werkzeuge des Gehoͤrs
leicht gelangen koͤnne (t). Es paſſet nicht gerade |auf
die Trummelhaut, ſondern es iſt von derſelben uͤber-
haupt abgewandt, und ſiehet nur von hinten dahin (u),
und
[681]III. Abſchnitt. Werkzeug.
und iſt durch den ganzen Hoͤkker des Vorgebirges davon
getrennet. Ferner ſcheint der Schleim (x), welchen ich
in der Trummel allemal gefunden, die Bebungen ſehr
zu unterbrechen, welche man in der Luft, ſo die Trum-
mel erſuͤllet, behaupten koͤnnte.
Folglich werden wenigſtens diejenigen Bebungen zum
eirunden Fenſter kommen, welche die Trummelhaut
und Knoͤchgen getroffen haben, und es wird der Steig-
biegel ſowohl vom Amboſſe, als von ſeinem Muſkel ins
eirunde Fenſter getrieben werden. Dieſes fuͤhrt in den
Vorhof, worinnen ſich ſowohl ein Waſſer (y), als eine
ſehr weiche nervige Membran aufgehaͤngt befindet (z).
Dieſer Brei wird von der Feuchtigkeit des Vorhofes
angeſtoſſen, mitbeben (a); und man ſiehet hier wieder,
daß ſich die Tuͤchtigkeit des Waſſers, klingende Bebun-
gen anzunehmen (b), von der Phiſiologie nicht trennen
laſſe, da ſich im Vorhofe keine Luft befindet, und der
weiche Gehoͤrnerve von nichts anders, als von dieſem
Waſſer in Bewegung gebracht werden kann. Es wird
aber dieſe Membran von hinten zu, von da das treiben-
de Waſſer koͤmmt, hol, und vorne dagegen erhaben
werden (c). Dieſe Bewegung muß nur ungemein klein
ſein, da der Steigbiegel uͤber den vierten Theil einer
Linie in ſeiner Bewegung nicht beſchreibt (d).
Da nun die halbzirklichen Kanaͤle mit ihrer Feuchtig-
keit angefuͤllet ſind, (e) ſo wird auch dieſe Feuchtigkeit
nachgeben, und angeſtoſſen werden, und ſie wird durch
die Kanaͤle ſelbſt, ſonderlich durch den aͤuſſern abhaͤngi-
gen eintreten (f), und durch den obern, weil dieſer
ſenkrecht ſteht, in den Vorhof zuruͤkke flieſſen, und
U u 5deſſen
[682]Das Gehoͤr. XV. Buch.
deſſen breyige Membran ſo flach, als vorher wieder
machen (g).
Dieſe Hin- und Hergaͤnge werden ſo oft wiederholet
werden, ſo oft der Steifbiegel in den Vorhof vorruͤk-
ket (h), und ſo viel es klingende Wellen giebt, welche
durch den Gehoͤrgang ankommen, und den Steigbiegel
anſtoſſen.
Da ſich die Schnekke ferner mit einer ihrer Stiegen
in den Vorhof oͤffnet (i), und ebenfalls voll von Waſ-
ſer iſt (k), ſo wird die Feuchtigkeit auch aus dem Vor-
hofe in die Schnekke gedruͤkket werden, und durch die
Schale (ſcyphus) (l) in die Trummelſtiege kommen, wel-
che freilich verſchloſſen iſt. Damit nun dieſes Waſſer
ausweichen koͤnne, ſo muß man entweder annehmen,
daß es ſich zuſammendruͤkken laſſe, wie man gemeinig-
lich von den limphatiſchen und gallertartigen Feuchtig-
keiten glaubt (m); doch es gehoͤren auch die Daͤmpfe un-
ter die elaſtiſche Feuchtigkeiten, oder es muß das Waſ-
ſer der Schnekke, wie vor kurzem der beruͤhmte Cotun-
nus behauptete, durch die Waſſerleitung ausweichen (o),
welche, wie er zeigt, aus derſelben nach der Hoͤle der
Hirnſchale fuͤhret. Es geht auch eine dergleichen Waſ-
ſerleitung (p) aus dem Vorhofe heraus, und von dieſer
glaubt dieſer beruͤhmte Mann, daß ſie ſonderlich in dem
zu heftigen Drukke, wenn der Steigbiegel von ſtarken
Thoͤnen lebhaft bewegt wird, einen Abfluß fuͤr | das
Waſſer des Vorhofes verſchaffe.
Uebrigens ſcheinet dieſes gewiß genung zu ſein, daß
durch den Steigbiegel, die Membran, welche dem
Vor-
[683]III. Abſchnitt. Werkzeug.
Vorhofe ſtatt des Knochenhaͤutchens dienet; durch dieſe
die Feuchtigkeit des Vorhofes, durch dieſe die ausge-
ſpannte Membran, welche der beruͤhmte Mann Schei-
dewand nennt, die ſehr weiche nervige Erhabenheiten des
Vorhofes (q), und die empfindende breyige Mem-
bran (r), der halbzirklichen Kanaͤle, und in der Schnek-
ke die haͤutige Scheide der Spiralplatte (s), welche
die Stiegen theilt, gedruͤkkt werde.
Beruͤhmte Maͤnner ſchreiben gemeiniglich der Luft,
welche durch das eirunde Loch eintritt (t), und den Vor-
hof anfuͤllet, ſehr aͤhnliche Verrichtungen zu (u). Da
aber Nerven, welche von der Luft beruͤhrt werden, noth-
wendig verderben, und zu einer durchſichtigen harten
Saite vertrokkenen, ſo hat die Natur mit gutem Grun-
de ſowohl die Trummelſaite, als die Nerven des Vor-
hofes, und das empfindende Knochenhaͤutchen der halb-
zirklichen Kanaͤle, wie auch das Knochenhaͤutchen in
der Schnekke, nicht mit Luft, ſondern mit Duͤnſten
umgeben (x), welche an dieſen Nerven die Zartheit und
Weichheit, die zur Empfindung nothwendig ſind, in
Schuzz nehmen.
Nothwendig muß das Gehoͤr im Jnnerſten| ſeinen
Sizz haben, und im Jrrgange ſtatt finden, da man
noch, wenn gleich die Ohrknoͤchgen, die Trummelhaut
zer-
[684]Das Gehoͤr. XV. Buch.
zerſtoͤhret worden, bisweilen etwas hoͤren kann (y), oder
wenigſtens doch noch ein Sauſen (z), oder ein Gehoͤr der
Bewegungen, die in unſerm Koͤrper vorgehen, und der
Thoͤne, die uͤber unſerm Kopfwirbel gemacht werden (a),
oder uns durch die feſte Knochens mitgetheilet werden,
uͤbrig bleibt (b). Ein Tauber, welcher nicht einmal
den Schuß der Buͤchſen hoͤren konnte, vornahm den-
noch das inwendige Getoͤſe (b*). Es empfinden aber
dieſe Theile viel vom Schmerz (c), und Getoͤſe. Jch
habe oftermals in hizzigen Krankheiten von dem zarten
Blutergieſſen der Schlagaͤderchen, die man im inwendi-
gen Ohre gewiß nur klein demonſtriren kann, ungeheu-
res Getoͤſe, und als ob der Kopf von Wellen uͤberſchwem-
met worden, ausſtehen muͤſſen. Eine ins Ohr gefallene
Fliege erregte darinnen gleichſam ein ſchrekkliches Don-
nerwetter (d).
Dieſes alles uͤberſteiget gar nicht die Vermuthung.
Denn hier iſt ein blos liegender Nervenbrei: wie ſcharf
aber die Empfindung deſſelben ſei, kann man leicht von
einem ganz kleinen Zahnnerven abnehmen, wenn man
dieſen ebenfalls entbloͤßt, und beruͤhrt.
Nun zweifelt Niemand, daß nicht das Gehoͤr von
der Beruͤhrung des weichen Gehoͤrnerven durch die ſchal-
lende Bebungen entſtehen ſollte; denn man findet faſt
die-
[685]III. Abſchnitt. Werkzeug.
dieſen Nerven allein in allen Thieren, welche hoͤren (e).
Allein das iſt eine andere Frage, in welcher Gegend die
Seele den Schall eigentlich vernehme, und wie ein ein-
ziger ſehr weicher Brei, ſo viel Thoͤne zu unterſcheiden,
hinlaͤnglich ſein kann.
Man koͤnnte vermuthen, daß der Vorhof der Sizz
des Gehoͤrs ſei (e*), da ſich in demſelben vornaͤmlich der
Nervenbrei befindet, und in allen bekandten Thieren,
wenn dieſe gleich faſt taub ſind, dennoch etwas vorhof-
aͤhnliches antreffen laͤßt (f). Allein es koͤnnen ohnmoͤg-
lich, die ſo zierlich angelegte Schnekke, und die halb-
zirklichen Kanaͤle vergebens gemacht ſein; und es hoͤren
uͤberhaupt Thiere nur undeutlich, welche nur einen Vor-
hof bekommen haben (g).
Wenn alſo in dem Vorhofe allein undeutlich gehoͤrt
wird, ſo wird doch noch etwas Kraft zu hoͤren in der
Schnekke und in den halbzirklichen Kanaͤlen uͤbrig blei-
ben, und vielleicht haͤngt die feinere Unterſcheidungs-
kraft der Thoͤne von einem dieſer Theile, oder von bei-
den ab.
Welches von beiden wahrſcheinlicher ſei, lieſſe ſich
entweder aus dem Bau, oder aus der vergleichenden
Anatomie beſtimmen. Wir wuͤrden viel gewinnen,
wenn man das Gehoͤr der Fiſche kennte. Ob aber
gleich viele beruͤhmte Maͤnner daſſelbe behaupten,
und auch den Jnſekten ein Gehoͤr zuſchreiben (h),
ſo zweifeln doch andere daran (i), oder man leugnet es
gar
[686]Das Gehoͤr. XV. Buch.
gar (k): und dieſe laſſen weder an dem Eidechſen (l),
noch an den Jnſekten (m) das Gehoͤr zu. Ariſtoteles
ſchrieb (n), daß die Fiſche, auch ohne ein deutliches
Werkzeug zu haben, dennoch hoͤren koͤnnen. Wir leſen,
daß die groſſe Taſchenkrebſe ohne Scheeren durch die
Muſik aus ihren Schlupfwinkeln gezogen werden (o); und
daß ſich gewiſſe breite Knorpelfiſche mit einem Stachel am
Bauche (paſtinaca) an muſikaliſchen Thoͤnen beluſti-
gen (o*): denn ich mag die Luſt der Delphinen daran
nicht beruͤhren, da ſie in die Klaſſe der vierſuͤßigen
Thiere von warmen Blute gehoͤren (p). Wir leſen hin
und wieder, daß man die Fiſche durchs Klatſchen ver-
ſammle, und daß man ſie in ihren Weihern an beſon-
dere Namen gewoͤhnen koͤnne (q): ja es berichtet Ron-
delet aus eigener Erfahrung, daß die Troctae glani
und Karpen auf die Stimme ihres Meiſters herbei ge-
ſchwommen gekommen (r), und daß die Aloſa, beim Sai-
tenſpiele erſcheinen (s). Vor kurzem hat Jakob Theo-
dor Klein(t) weitlaͤuftig das Gehoͤr der Fiſche ver-
theidigt, und es bezeugen viele, daß ſie auf den Ruf
herbei kommen (u).
Andere verſichern, daß die Karpe, und der Lachs (x)
ein Gehoͤr haben, und ſich durch ein Getoͤſe verjagen
laſſen (y). Von dem Eidechſenfiſche, und einer Art
deſſelben, Warral genannt, verſichert ein guter Schrift-
ſteller, daß ſie die Muſik liebe, und mit den Dervis-
moͤnchen herumtanzen (z).
Wenn es erlaubt waͤre, anzunehmen, daß die Fiſche
ein wirkliches Gehoͤr haben; ſo haͤtte man fuͤr die halb-
zirklichen Kanaͤle, und fuͤr diejenige Meinung viel ge-
wonnen, welche den Sizz dieſes Sinnes in dieſen Kanaͤ-
len, und mitten in ihrer Laͤnge feſt ſezzte. Alsdenn
koͤnnte man folgende Schlußrede machen: daß ohne
Ohrknoͤchgen, ohne Trummel und Schnekke (a) die kal-
te Fiſche hoͤren; daß die Voͤgel mit den Knoͤchgen, doch
aber ohne Schnekke (b), hoͤren; daß beide Thierarten
ihre halbzirkliche Kanaͤle haben; daß ohne halbzirkliche
Kanaͤle kein einziges Thier (c), es ſei denn bei den
Schlangen (d), und Salamandern (e) ein undeutliches
Gehoͤr lebe; daß dagegen Froͤſche (f) und Eidechſen (g) beſ-
ſer hoͤren, die dergleichen Kanaͤle haben. Beruͤhmte
Maͤnner fuͤgen zu dieſem noch, daß auch in den halb-
zirklichen Kanaͤlen ein kegelfoͤrmiger Bau, und ordent-
lich abnehmende Laͤngen vorkommen, welche mit vielen
Saiten einſtimmen koͤnnten (g*).
Doch es pflichten dieſer Meynung ſehr wenige
bei, und es hat dagegen Cotunnus vieles vorge-
bracht
[688]Das Gehoͤr. XV. Buch.
bracht (h), unter andern, daß man mit Gewißheit kei-
ne Nerven in dieſen Kanaͤlen zeigen koͤnne, und daß die
Richtung derſelben zwar kegelfoͤrmig, aber auch ihre
Oeffnung gleichmaͤßig ſei (i).
Dennoch hat die ſo kuͤnſtliche Maſchine der Schnekke
vorlaͤngſt ſchon die Augen der Phiſiologen auf ſich ge-
wandt, und ſie glaubten, daß an keinem andern Orte
ein ſo genaues Gehoͤr, und ein ſo ſubtiler Unterſcheid
der Thoͤne ſtatt finden koͤnne. Jnſonderheit aber gefiel
beruͤhmten Maͤnnern die membranoͤſe Splralplatte, nebſt
den, zwiſchen beiden Blaͤttern derſelben herablaufenden
Nerven (k), welche ſie ſich erwaͤhlen. Denn da dieſe
Platte ein wirkliches Dreiekk, und nur zuſammengerol-
let, und recht winklich iſt, deſſen Winkel gegen die
Spizze der Schnekke ſehr ſpizz zu laͤuft: ſo fanden ſcharf-
ſinnige Maͤnner ſogleich eine kleine Maſchine, worin-
nen unzaͤhliche Saiten befindlich ſind (l). Es zeiget ſich
ein ſehr breiter Anfang an der Grundflaͤche der Schnek-
ke, und ſehr kurze Enden nahe an der Spizze, naͤmlich
ſo, wie ſich beruͤhmte Maͤnner dieſen Bau vorſtellten.
Sie meynten demnach, daß die laͤngſten Saiten, die an
der Baſis liegen, mit den groͤbſten Thoͤnen (m), die kuͤr-
zeſten hingegen, welche an der Spizze ſind, mit den
feinſten Thoͤnen harmoniſch zuſammen beben, und durch
dieſe Bebungen der Seele dieſe Thoͤne deutlich vorſtel-
len. Sie machten aber dieſe Saiten nervig und empfind-
lich, weil man glaubte, daß aus der Schnekkenſpindel
(modiolus) zwiſchen den beiden Blaͤttern der membra-
noͤſen Platte keine Nervchen hervorkommen; und aus
eben
(n)
[689]III. Abſchnitt. Werkzeug.
eben dem Grunde waͤren einige laͤnger, als andere.
Folglich ſei die Spiralplatte das vornehmſte Werkzeug
des Gehoͤrs (o).
Man koͤnne den Mangel derſelben in den Voͤgeln da-
mit entſchuldigen, daß ſie eine ſchnekkenfoͤrmige Hoͤle
um den Kopf gezogen haͤtten, die in Geſangvoͤgeln groͤſ-
ſer ſei (p).
Einige beruͤhmte Maͤnner unter den Neuern, welche
den ſcyphus (Schale) ſahen, der ſich an der Spizze der
Schnekke befindet, und welche glaubten, daß der Ge-
hoͤrnerve dahin liefe, ſahen vorzuͤglich dieſe Schnekken-
ſpizze als den Sizz des Gehoͤrs an (q).
Man hat zwar darwider eingewandt, daß die Ner-
ven der Spiralplatte kurz ſind (r), und daß ſie mit ſol-
chen Saiten nicht zuſammenſtimmen koͤnnen, die um
ſo viel laͤnger, als ſie waͤren, und auſſerhalb den Ohren
mitzittern. Man hat auch den Einwurf gemacht, daß
man wider alle anatomiſche Zuverlaͤßigkeit, Nerven an-
nehme, welche nach der Laͤnge der Spiralplatte lie-
fen (s), daß das breyige Weſen der Nerven zu den ſo
ſchnellen Bebungen nicht hinlaͤnglich ſei, und daß dieje-
nigen Nerven, welche auf einer feſten Baſis aufliegen,
zum Zittren wenig geſchikkt zu ſein ſcheinen.
Man hat auf dieſen Einwurf geantwortet (t), es ſei
nicht nothwendig, daß die Saiten der Schnekke gleich-
ſtimmig, und gleich lang mit den aͤuſſern Saiten ſind,
und es ſei zum Gleichſtimmen hinlaͤnglich, wenn ſie nur
einigermaaſſen mit dem klingenden Koͤrper, z. E. in der
Oktave, oder der Oktav von der Oktav, oder wenigſtens
doch in irgend einem andern einfachen Verhaͤltniſſe (u).
Jndeſſen hat doch einer Seits die kuͤnſtliche Schnek-
ke, anderer Seits die vergleichende Anatomie ſo viel
ausgerichtet, daß diejenigen, welche den halbzirklichen
Kanaͤlen viel zutrauen, die Schnekke davon nicht aus-
ſchloſſen. So verband Valſalva(x) alle ſeine Zonen
mit einander, ſo wohl die, welche in den halbzirklichen
Kanaͤlen, als die, welche in der Schnekke ſind. Auch
der vortrefliche Senac(y) fuͤgte dennoch die Spizze der
Schnekke hinzu, wenn er den Sizz des Gehoͤrs mitten
in den halbzirklichen Kanaͤlen zu ſein behauptet. Ande-
re theilen dieſe Verrichtung wechſelweiſe unter beide,
und glauben, das Werkzeug zu einem genauen Gehoͤre
befinde ſich in der Schnekke, ſo wie das nicht ſo deut-
liche Gehoͤr in den eben genannten Kanaͤlen verrichtet
werde (a).
Jch verwerfe alſo, als das erſte von allem, bei dem
Werkzeuge des Gehoͤrs die elaſtiſche Zitterungen der
Nerven, welche bei den Bebungen der aͤuſſern Koͤrper
harmo-
(z)
[691]III. Abſchnitt. Werkzeug.
harmoniſch mit beben ſollen (b). Es ſcheinet naͤmlich
ein Nerve, der ungemein weich iſt, dadurch zur Schnell-
kraft und Spannung vor allen Dingen am ungeſchickte-
ſten zu ſein.
Hierauf trenne ich die Luftzitterungen von denen, wel-
che ganz dicht, und durch keine Zwiſchenraͤume abge-
ſondert, die feſten Theile des Kopfes in Bewegung ſez-
zen. Jch glaube, daß dieſe ſonderlich durch die Ohr-
knoͤchgen, und durch den Steigbiegel, zum innerſten
Gehoͤrwerkzeuge fortgepflanzt (c), aber auch bisweilen
durch die Trompete (d) werden; daß aber der Steigbie-
gel durch das zarte Waͤſſerchen, ſowohl die innerſte Ge-
hoͤrmaſchine des Vorhofes ins Beben bringe, als auch
den membranoͤſen Brei des Vorhofes zittren mache (e),
ſcheint mir aus dem Obigen erweislich zu werden.
Es iſt ferner durch die Verſuche ausgemacht, daß
das Gehoͤr keine aͤuſſere Anſtalten von Ohren noͤthig ha-
be, und daß es der Seele die Thoͤne (f) ohne alle Bei-
huͤlfe vom Gehoͤrgang, Trummel, oder Knoͤchgen, vor-
ſtellig machen koͤnne. Dieſes iſt an ſich ſo wahr, daß
voͤllig Taube nicht nur vermittelſt eines Stabes feine
und grobe Thoͤne unterſcheiden (g), ſondern uͤberhaupt
an der ganzen Oberflaͤche des Koͤrpers den Thon- und
das Zittren empfinden (h), und daß ſie ſo gewiß wiſſen,
daß dieſes Zittren bis zu den Fuͤſſen und dem Oberthei-
le des Unterleibes fortlaufe (i), daß ſie aus der Empfin-
dung um den Magen lernen, wenn man eine Trummel
ruͤhrt (k). Kaauw, welcher vollkommen taub war,
war nichts deſtoweniger ein vortreflicher Redner. Folg-
X x 2lich
[692]Das Gehoͤr. XV. Buch.
lich dienet das aͤuſſere Ohr mit der Trummel, ſonderlich
entfernte Thoͤne aufzufangen, und zu verſtaͤrken.
Jch leite ferner das harmoniſche Zittren von den har-
ten Knochen ſelbſt her, welche von den aͤuſſerlichen Thoͤ-
nen, und den Luftwellen, die entweder von ferne, oder
aus der Naͤhe kommen, zu gleichſtimmigen Bebungen
veranlaſſet werden. Es ſind aber dieſe Knochen recht
dazu gemacht, ſehr hart und ſo zerbrechlich (l), daß
kein klingend Metall zerbrechlicher iſt, denn ich rede
von der Schnekke, und den halbzirklichen Kanaͤlen. Jch
werde alſo gewahr, daß dieſe knochige Kanaͤle mitbeben,
und ihre Nerven durch ihr Beben anſchlagen, damit ſie
empfinden, nicht weil die Nerven zittren, ſondern weil
ihr weicher Brei von den elaſtiſchen Erſchuͤtterungen und
Stoͤſſen der Knochen, die ſehr ſchnell auf einander fol-
gen, getroffen wird.
Es wird ſich die Gegend des Gehoͤrs ſo weit erſtrek-
ken, als die Nerven im Jrrgarten; folglich in der mem-
branoͤſen Ausſpannung des Vorhofes (m) in anderen
breyigen Huͤgelchen (n) dieſer Kammer: in den Nerven-
aͤſtchen der Schnekke (o), welche man ſich zwiſchen den
beiden Blaͤttern der Platte vorſtellen kann: in den
Nerven des pulpoͤſen Knochenhaͤutchen (p) der halbzirk-
lichen Kanaͤle, welche man billig in dieſem Knochen-
haͤutchen vermuthen kann, wenn es gleich ſchwer waͤre,
dieſe Nerven darzulegen.
Jch will auch nicht in Abrede ſein, daß nicht die laͤn-
gere Saiten der knochigen Spiralplatte, und die brei-
ten Abſchnitte der Kanaͤle mit den groben Thoͤnen von
auſſen (q), und hingegen mit den feinen von auſſen die
kuͤr-
[693]III. Abſchnitt. Werkzeug.
kuͤrzern (r) Knochenſaiten (s) eben dieſer Platte, und
die engeren Oefnungen dieſer Kanaͤle beſſer zuſammen
beben koͤnnen. Schon das bloſſe Auge kann die Kno-
chenfaſern queer uͤber an der Schnekke unterſcheiden (t).
Folglich koͤnnte das Gehoͤr ſtatt finden, wenn ein
Nerve in der Gehoͤrmaſchine da iſt, welcher von einem
mitbebenden Knochen beruͤhret wird (u). Allein es
wird ſich viel vollkommener verrichten laſſen, wofern die
Knochen des Gehoͤrs, Platten oder kegelfoͤrmige Roͤhr-
chen (x), oder wie Triangel abnehmende (y) Roͤhrchen
bekommen, damit einige Sektionen laͤnger, als andere
in langen Abnahmen dadurch entſtehen koͤnnen.
Der uͤbrige Theil des Gehoͤrs hat nichts von andern
Sinnen verſchiedenes; denn es ſenden die Gehoͤraͤſte
durch den Stamm des weichen Nerven den Eindrukk
des Schalles zum Gehirn zuruͤkke. Man hat naͤmlich
gezeiget, wenn der Gehoͤrnerve gedruͤkkt, und auch da-
durch eine Stelle im Gehirn verderbet worden, das
Gehoͤr aufhoͤre, wenn das Ohr gleich an ſich vollkom-
men geſund iſt.
Daß derſelbe zur Spannung der Trummel etwas
helfen ſoll, wie beruͤhmte Maͤnner zur Hypotheſe ge-
X x 3nommen
(z)
[694]Das Gehoͤr. XV. Buch.
nommen (a), laͤßt ſich wohl nicht bejahen, weil dieſe
menſchliche Saite von der Trummel um den ganzen
Hammerſtiel abliegt, und wenn ſie ja bisweilen mit Faͤ-
chern daran grenzt, ſo iſt ſie doch, als Nerve, zu
Spannungen unfaͤhig (b), und ſie vermag eben ſo we-
nig andere Koͤrper zu ſpannen.
Doch ich mag auch die Urſache eines leichten Gehoͤres,
wenn man ein klingendes Jnſtrument zwiſchen die Zaͤh-
ne nimmt (c), nicht auf dieſe Saite ſchieben. Denn
man kann die Bebungen, welche wir an andern Orten
nahe an den Knochen der Gehirnſchale hervorbringen,
wo doch kein Verdacht auf eine Trummelſaite geworfen
werden kann, eben ſo wohl hoͤren (d). Vielleicht aber
moͤgen durch dieſe Saite die Bebungen zum harten Ner-
ven fortgepflanzt werden (e)? Vielleicht ruͤhrt es von
dieſer Saite her, daß die Zaͤhne von einigen gar zu fei-
nen Thoͤnen ſchwirren (f)? Vielleicht lieſſe ſich dadurch
zeigen, daß der harte Nerve etwas zum Gehoͤr beitrage,
weil die Taubheit erfolgt iſt, wenn man demſelben ge-
druͤkkt, weil der weiche Nerve auf keinerlei Art dabei
gelitten; dergleichen bei einer Wunde am Urſprunge
des Kaͤumuſkels (g), und von einer ſtarken Zuſammen-
preſſung der Kehle erfolgt iſt (h)? Dieſes laͤßt ſich aller-
dings fragen.
Bei dieſen Zeugniſſen kann man ſchwerlich in Abre-
de ſein, daß nicht ein geſunder Zuſtand des harten Ner-
ven
[695]III. Abſchnitt. Werkzeug.
ven zum Gehoͤr erfordert wuͤrde; doch man muß auch
nicht verlangen, daß er blos fuͤr dieſen Sinn allein ge-
macht ſein ſoll, da er das aͤuſſerliche Ohr, denn den in-
nern Muſkel, und den Steigbiegelmuſkel, vermittelſt
ſeiner Zweige bedient. Es iſt naͤmlich auch bisweilen
noch das Gehoͤr vorhanden, wenn gleich dieſe Muſkeln,
oder Knochen fehlen (i). Doch koͤnnte man fragen, wie
und in wie fern der harte Nerve zur Vollkommenheit
dieſes Sinnes das Seinige mit beitrage, da er ſich nir-
gendwo mit dem weichen Stamme vermiſcht. Nichts
widerſpricht der Wahrheit, daß die Saite, da ſie durch
die Trummel durchgeht, und der Nerve, da er durch
die Waſſerleitung laͤuft, von den thoͤnenden Bebungen
in ſo fern geruͤhret werde, wie man in dem bekandten
Stumpfwerden der Zaͤhne gewahr wird.
Es hat Bartholomaͤus Simoncelli(k) in einem
ungedrukkten Buche einen beſondern Bau des Jnwen-
digen im Ohre hinterlaſſen. Er will naͤmlich, daß der
weiche Nerve durch eine Furche der Schnekke geht, den
Kanal der Schnekkenſpindel durchwandert, hierauf aus
der Spizze geht, ſich in die Stiege der Schnekke wirft,
zugleich mit der Schnekke gewunden fortgeht, in den
Vorhof koͤmmt, ſich zu Brei ausſpannt, wieder zu
Faͤden wird, durch die drei halbzirkliche Kanaͤle herum
laͤuft, und hierauf in einer eigenen Muͤndung des groͤ-
X x 4ſten
[696]Das Gehoͤr. XV. Buch.
ſten Kanals, oder des untern durch ein beſonderes Loch
in die Hoͤle der Gehirnſchale wiederkehrt, und in Aeſte
getheilt, in der harten Gehirnhaut, und der obern Ge-
hirnflaͤche, und um die Zirkeldruͤſe vertheilt wird, und
daß ſolchergeſtalt der Eindrukk der Thoͤne, nicht durch
den gemeinſchaftlichen Weg des weichen Nerven, ſon-
dern gleichſam durch dieſen Blutadernerven ins Gehirn
gebracht werde (k*).
Man ſiehet hier uͤberhaupt viele Zuſaͤzze zur Anato-
mie. Bis jezzt hat noch Niemand mit Gewißheit geſe-
hen, daß irgend ein Nerve wirklich durch die Schnek-
ke (l), oder durch die halbzirklichen Kanaͤle (m) herum-
laͤuft. Jn der That iſt dieſes nervige Faͤdenwerk, wel-
ches dem Simoncelli in die Gehirnſchale zuruͤkk zu
laufen ſchien, oder bis harten Hirnhaut nur ein Ab-
koͤmmling vom zweeten Nerven des fuͤnften Paares (n),
welcher von der harten Gehirnhaut bedekkt wird, in
den Waſſergang koͤmmt, und ſich mit dem harten Ner-
ven vermiſcht. Daß ſich dieſes ſo verhaͤlt, kann man
vom Antonius Pacchion(o) lernen, ſo wie aus des
Valſalva Werken (p), die erſt nach deſſen Tode bekandt
gemacht worden. Wir haben nicht noͤthig, dasjenige
zu wiederholen, was ehedem Elias Camerarius(q)
vor Einwuͤrfe gemacht.
Hier faͤllt eine doppelte Frage vor: die erſte iſt, da
ein jeder Thon oder Schall aus vielen Thoͤnen, die in
einem
[697]III. Abſchnitt. Werkzeug.
einen zuſammen kommen, erwaͤchſet (r), und da in je-
dem Thone ſowohl ein urſpruͤnglicher Thon, den der
Quell des Thons macht, als auch unzaͤhliche Thoͤne vor-
kommen, die von den harten Koͤrpern, die dieſer Thon
trift, zuruͤkkgeworfen werden, und welche endlich im
Gehoͤrgange, in der Trummel und Jrrgange noch hinzu
kommen (s). Warum empfindet man, ſage ich, einen
ſo ſehr zuſammengeſezzten Thon doch nur einfach? Es
ſcheint uͤberhaupt die Seele Eindruͤkke nicht zu unter-
ſcheiden, die ſich einander ſehr gleich ſind; denn wenn
ſie ſie unterſcheiden ſoll, ſo muͤſſen ſehr deutliche Merk-
male des Unterſchiedes darinnen vorkommen, die ſie eben
ſo deutlich empfinden muß, als ſie die Objekten empfin-
det, die unterſchieden werden muͤſſen: wenn dieſe nicht
augenſcheinlich genung ſind, ſo wird ſie auch die Ob-
jekte nicht zu unterſcheiden vermoͤgen. So ſiehet die
Seele an einer weiſſen Wand eine einfoͤrmige Weiſſe,
wenn ſie ſie von weiten anſieht; und daher entſtehet in
ihr nichts, als eine einfache Empfindung der weiſſen
Farbe. Naͤhert ſich das Auge mehr, ſo wird man ſchon
Huͤgelchen und Tiefen an dieſer Wand bemerken, und
die Seele wird ſich uͤberreden, daß einige Theile von
der andern unterſchieden ſind. Nun ſind dieſe urſpruͤng-
lichen Thoͤne, und die vom Abprallen entſtanden ſind,
in ſo fern mit einander ganz gleich, daß von dem Ob-
jekte des Schalles in harten Koͤrpern harmoniſche Be-
bungen (t), und zwar eben ſo ſchnelle Bebungen erregt
werden, wenn gleich die urſpruͤnglichen Thoͤne ſchwaͤcher,
die nachher hinzugekommenen, aber ſtaͤrker ſind. Daher
unterſcheidet ein geuͤbtes Ohr in dieſen zuſammengeſezz-
ten Thoͤnen unaͤhnliche Theile (u), die ein gemeines Ohr
nicht zu empfinden verſtehet. Wie wenn in dem von
unſerm Lehrer vorgeſtellten Exempel eine groſſe Menge
X x 5Zuhoͤ-
[698]Das Gehoͤr. XV. Buch.
Zuhoͤrer zugleich ſinget, eine Perſon, die ſolches von
ferne anhoͤret, davon urtheilt, daß alle einen einzigen
Thon machen, wofern alle Saͤnger vollkommen harmo-
niſch einſtimmen, und alle einerlei Thon von ſich geben,
ein anderer aber dennoch leicht einen Unterſcheid bemer-
ken muß, wofern unter den Saͤngern ein ungeuͤbter einen
fremden Thon mit darunter menget.
Doch das Geſezze, Kraft deſſen eine einſtimmige
Saite mit einer klingenden Saite ſtaͤrker, und hingegen
allezeit um ſo viel ſchwaͤcher mitthoͤnet, je weiter ſie ſich
von der gleichſtimmigen entfernet (z), verſtattet keine
dergleichen Diſſonanz in den zuſammenflieſſenden Be-
bungen. Diejenigen Saiten, welche der einſtimmigen
nahe kommen, aͤuſſern einen Unterſcheid, welcher ſchwer,
und von der Seele nicht leicht zu begreifen iſt; und die-
jenigen, welche von der einſtimmigen entfernet ſind,
kann die Seele wegen ihrer Schwaͤche nicht empfinden.
Doch es iſt noch eine andere Frage, warum wir
naͤmlich mit zwei Ohren nicht zwo Stimmen, ſondern
nur eine einzige hoͤren, da doch auſſerdem die Lage des
einen Ohres, welche den klingenden Koͤrper gerade zu-
gekehrt, das andere aber weggewandt iſt, in der Staͤr-
ke des Schalles einen Unterſchied machen kann. Es
verhaͤlt ſich naͤmlich die Lebhaftigkeit eines Schalles, wie
die Anzahl der Theilchen, welche ins Ohr mit Geſchwin-
digkeit, oder nach dem Siſteme des Leibnizens(a)
nach dem Quadrat der multiplicirten Geſchwindigkeit
eindringen; und es iſt zu ſchlieſſen, daß mehrere Theil-
chen in ein zugekehrtes und freies Ohr, und wenigere in
eln weggekehrtes, und mit weichen Muͤzzen bedekktes
kommen (a*).
Hier antwortet man ebenfalls, daß die Seele Ein-
druͤkke, welche ſich einander gar zu aͤhnlich ſind, nicht
zu unterſcheiden vermag; und daß zwei Ohren einander
ſo gleich und aͤhnlich ſind, daß auch das Maas der halb-
zirklichen Kanaͤle (b) an beiden Seiten einerlei Groͤſ-
ſe hat.
Einige haben ſich hier einer in der That feinen ana-
tomiſchen Anmerkung bedient, und die Vereinigung
der Gehoͤrnerven in der Schreibefeder (c) dazu ange-
wandt, wovon bereits die alten Zergliederer Erwaͤ-
nung thun (d).
Nun beſizzen zwar die Ohren ungleiche Kraͤſte (d*),
und es haben beruͤhmte Maͤnner aus dieſer Ungleich-
heit (e) den Unterſcheid eines nicht muſikaliſchen Ohres,
und einer falſchen Stimme hergeleitet. Und ſo gewiß
iſt es auch, daß die meiſten Menſchen auf dem einen
Ohre recht hoͤren, auf dem andern aber faſt taub ſind.
Allein dieſe Menſchen vernehmen doch mit ihren unglei-
chen Ohren nur einen einzigen Thon.
Und doch ſcheinet es hinreichend zu ſein, daß ein
klingender Koͤrper durch beide Ohren, die Bebungen in
gleichmaͤßiger Anzahl in den feſten Theilen beider Ohren
hervorbringt: und auf ſolche Art entſtehen gleichmaͤßige
Thoͤne, und die Seele kann die ſchwachen nicht unter-
ſcheiden, ſo bald ſie von den ſtarken lebhaft geruͤhrt
wird. Durch dieſe Gruͤnde ſehe ich mich von neuem
darinnen beſtaͤtiget, daß nicht unſere Nerven, denn die-
ſe ſind in dem einen Ohre oftmahls zaͤrter, im andern
hingegen calloͤſer, ſondern die feſten Theile des innern
Ohres von dem Thone zu beben veranlaſſet werden.
Wenn in einerlei Menſchen das rechte Werkzeug
des Gehoͤres, dem linken ganz aͤhnlich zu ſein pflegt, ſo
iſt dergleichen Beſchaffenheit nicht eben in verſchiedenen
Menſchen einerlei. Es hat Valſalva bereits laͤngſt
angemerkt (f), daß dennoch die Maaſſe der halbzirkli-
chen Kanaͤle bei dieſen und jenen Menſchen anders be-
ſchaffen ſind, und es hat Caſſebohm dieſe Anmerkung
in ſo fern ausgedehnt (g), daß er nicht einmal die von
der Laͤnge dieſer Kanaͤle hergenommene Benennungen
gelten lies, indem er ſolche veraͤnderlich fand. So hat
auch der ſehr genaue Cotunnus(h) manche Gehoͤrknoͤch-
gen, ſogar noch einmal ſo groß, als ſonſt, gefunden;
und ich erinnere mich, daß ich unter den Steigbiegeln,
deren ich viele vor mir liegen hatte, nicht zween einan-
der recht gleiche angetroffen.
Dieſes waͤre fuͤr uns hinlaͤnglich genung, und wir ha-
ben ſowohl von dem zu groſſen Vermoͤgen zu hoͤren, als
auch von dem zu ſchwachen Erwaͤhnung gethan. Eini-
ge Perſonen hoͤren bisweilen zu ſcharf in hizzigen Krank-
heiten (i), in einer Entzuͤndung der Gehirnhaͤute (k),
wenn ſie Waſſerſcheu geworden (l), im Todtenkram-
pfe (m). Wir haben an einem andern Orte die Krank-
heit des juͤngern Albins(n) beruͤhrt. Oft werden hiſte-
riſche Weiber auch von den geringſten Thoͤnen in Un-
ruhe geſezzt. Es ſcheint dieſes ein Uebel der Nerven zu
ſein,
[701]III. Abſchnitt. Werkzeug.
ſein, deren Empfindungskraft zugenommen, allein man
kann nicht ſagen, wie dieſe zunimmt. Als Muthmaſ-
ſungen koͤnnte man dabei, die Aufſchwellung, welche
ſich den Bebungen entgegen ſtellet, die Zartheit der
Einhuͤllungen, welche das entbloͤßte Mark den Stoͤſſen
beſſer unterwirft, und die Spannung, welche durch
Trokkenwerden, und aus andern Krankheiten entſteht,
anzeigen. Es werden naͤmlich alle Theile des menſch-
lichen Koͤrpers, die man nur ſchlechthin ausſpannt, un-
gemein empfindlich gemacht, wovon man an der Tor-
tur ein bekandtes Exempel hat.
Dahingegen ſtellet ſich oftermals ein ſchweres Gehoͤr
ſchon in der Frucht ſelbſt ein, indem viele Kinder ohne Ge-
hoͤr auf die Welt kommen, und aus dieſer Urſache auch
ſtumm ſind, weil ſie niemals die Reden anderer Men-
ſchen vernehmen gekonnt (n*). Auſſerdem werden alle
Menſchen im Alter entweder fruͤher, oder ſpaͤter, ſchwer-
hoͤrend; und dieſes war die einzige Krankheit des be-
ruͤhmten Fontenelle, welcher faſt ein Jahrhundert
uͤberlebte, und der franzoͤſiſchen Muſe Scuderi(o).
Und obgleich bejahrte Perſonen endlich den Gebrauch
der Augen verliehren, ſo ſcheint es mir doch, daß Leute
oͤfterer, und bei weniger Jahren taub werden. Hier
bleibt uns noch ein anſehnlicher Theil der Medicin un-
bekandt, weil man den gewoͤhnlichſten Ort, und die
Natur dieſer unter allen Krankheiten des Alters gemein-
ſten Krankheit nicht kennt. Es erfordert naͤmlich dieſe
Unterſuchung eine ſubtile Anatomie, wozu wenig Aerzte
tuͤchtig ſind. Man vermuthet, daß ſich die Spiralplat-
te verhaͤrte (p). Doch ſcheinen alle Nerven calloͤſe zu
werden, indem weder das Gedaͤrme, noch die Harn-
blaſe den Reiz der Unreinigkeiten eben ſo wenig empfin-
det
[702]Das Gehoͤr. XV. Buch.
det, das Auge vom Lichte nicht mehr ſo lebhaft geruͤhrt,
noch die Waͤrzchen der Zunge vom Geſchmakke, oder
die Zeugungsmuſkeln von den Reizzen der Liebe in Be-
wegung geſezzet werden.
Jndeſſen werden doch diejenigen fruͤher taub, welche
oft lebhafte Thoͤne empfinden. Die bei dem groben Ge-
ſchuͤzze kommandiren, und die Glokken laͤuten, koͤnnen
kein ſchwaches Gethoͤne unterſcheiden, wie gemeldet
worden (q).
Ueberhaupt ſind die unangenehmſten (q*) Thoͤne
die ſehr ſcharfen, |als das kurze Getoͤſe einer eiſernen
Platte, die man befeilt: das feine Geziſche (q**), und
das Anſchlagen der Luft an die Zaͤhne, bei einigen Men-
ſchen, wenn ſolche den Buchſtaben S ausſprechen. Die-
ſe Urſache iſt in der That mechaniſch, denn es werden
nicht nur die Zaͤhne davon ſtumpf (r), ſondern es blei-
bet auch die Empfindung von dem ſehr ſcharfen Ziſchen
der Eingebornen von den Kanarien, funfzehn Tage
lang in dem Ohre zuruͤkke (s). Man glaubet, daß
die ſehr kurzen Saiten der Schnekkenzone mit dieſen
hoͤchſt ſcharfen Thoͤnen ſo heftig zuſammen beben, daß
ſie beinahe zerreiſſen (s*): faſt auf die Art, wie der-
gleichen ſcharfe Thoͤne ſogar Glaͤſer zerſprengen (t).
Die groͤbſten Thoͤne beſizzen einen ungemeinen Nach-
drukk, aber nur ſehr wenig Annehmlichkeit. Es ruͤh-
ret der Knall naher Stuͤkke die Ohren dergeſtalt, daß
davon die Umſtehenden oft taub werden, und Zeitlebens
taub bleiben (u).
Man kennt die mechaniſche Urſache davon nicht; in-
deſſen iſt doch gewiß, daß unſere Nerven keine zu heftige
Eindruͤkke vertragen, ſondern von ſelbigen zernichtet
werden, wie das Nezzhaͤutchen vom Glanze der Sonne,
und die Zunge von ſehr ſauren Saͤften.
Bisher war alles begreiflich, allein nun koͤmmt eine
ſchwerere Frage zu beantworten vor, warum die in der
Muſik auf einander folgende Thoͤne entweder gefallen,
oder Ohren, beſonders geuͤbten, mißfallen. Man hat
angemerkt, daß haͤufige Conſonanzen, wobei die Be-
bungen gleich groß ſind, oder doch proportionirte Thoͤ-
ne, deren Bebungen gegen einander einfache Verhaͤlt-
niſſe haben, die ſich mit kleinen Zahlen ausſprechen laſſen,
angenehm ſind (x), als faſt doppelte doppelt, oder wie 2
zu 3, und wie 3 zu 4 (y), ſo daß endlich das Vergnuͤ-
gen abnimmt, wenn das Verhaͤltniß in groſſen Zahlen
zu groß, als 6 gegen 7 iſt.
Man hat ferner gefunden, daß die Bebungen in ein-
fachen Verhaͤltniſſen oͤfters mit einander zuſammen tref-
fen, als in der gleichſtimmigen Stimme allezeit, in der
Oktav funfzigmal in hundert Bebungen, in der Quinte
uͤber drei und dreißig mal, ſeltener aber je weiter die
Zahlen von der Gleichheit der Bebungen entfernt ſind.
Dieſe haͤufigen Uebereinſtimmungen der Bebungen
machen Vergnuͤgen (z).
Man fuͤgte dieſer Anmerkung noch bei, daß uns die
Conſonanzen, und leichte Proportionen darum gefielen,
daß die Seele, ob ſie gleich ihrer eigenen Arbeit unkun-
dig iſt, die Bebungen wirklich zaͤhle, und ſich an der
Begreiflichkeit der einfachen Verhaͤltniſſe beluſtige (a):
und dieſes Arguments bedienen ſich einige Stahliſche
Schuͤler, um uns dunkele Empfindungen zu demon-
ſtriren (b).
Nun ſcheint es allerdings wider unſer Bewußtſeyn,
und die allereinfaͤltigſte Erfahrung zu ſtreiten, daß un-
ſere Seele zaͤhlen, und in einer Sekunde 7000 Be-
bungen zaͤhlen, und doch davon nichts wiſſen ſoll, was
ſie gethan hat. Schwerlich wird ein Arzt, welcher noch
ſo aufmerkſam iſt, 140 Pulsſchlaͤge, oder gar funf-
zigmal mehr Bebungen zaͤhlen, ohne zu wiſſen, daß
er gezaͤhlet habe.
Auſſerdem iſt die ganze Sache an ſich falſch. Jch
habe erfahrne Thonkuͤnſtler gefragt (c*), ob uͤberhaupt
dieſe leichte Conſonanzen eine gefaͤllige Melodie geben
wuͤrden? ſie ſagten, nein, und antworteten, es wuͤrde
kindiſch und laͤppiſch herauskommen, auf einerlei Sai-
te zu verbleiben.
Doch es bezeugt auch der in dieſen Dingen erfahrne
Bartolus, daß nicht nur beide Terzen, ſondern die
Sexten uͤberhaupt, deren Verhaͤltniſſe wie 5 zu 3, und
8 zu 5 ſind (d), in den Melodeien am angenehm-
ſten ſind.
Auf etwas andere Weiſe ſezzte ohnlaͤngſt der vortref-
liche Euler die Wolluſt (e) in der erkannten Ordnung,
wie ſich feine und grobe Thoͤne einander folgen (f), und
daß folglich in der Seele eine angenehme Empfindung
entſtehe, wenn nach einer gewiſſen Reihe ſchnelle Be-
bungen, und grobe mit einander abwechſeln. Doch
auch dieſe Ordnung ſelbſt, und die Urſache dieſer Ord-
nung ſiehet kein anderer, als ein Muſikverſtaͤndiger ein,
und dennoch fuͤhlen alle, und ſo gar auch Thiere (f*),
ein Vergnuͤgen dabei.
Folglich rechne ich dieſe Urſache der Annehmlichkeit
in der Folge der Thoͤne auf einander, unter diejeni-
gen Dinge, von welchen die Erfahrung die Wirklich-
keit lehret; ob man gleich ihre phiſiſche Urſache nicht
verſtehet.
Jch will auch nicht glauben, daß man bei dieſem Ex-
empel mehr von uns verlangen werde, daß wir die me-
chaniſche Urſache in ihr Licht ſezzen ſollen, als daß wir
gehalten ſind, Rechenſchaft davon zu geben, warum
uns einige Farben gefallen, warum ein gewiſſer Grad
der Schaͤrfe Koͤrper wohlſchmekkend macht, warum das
nach gewiſſem Grade verrichtete Reiben der Haut-
waͤrzchen Wolluſt macht.
Es iſt gewiß, daß in allen Menſchen, wenn ſolche
auch noch ſo unwiſſend in der Thonkunſt ſind, dieſe
Thoͤne und Thonabwechſelungen, andere Bewegungen
in der Seele hervorbringen; und es iſt kein Zweiſel,
daß die Schnelligkeit (g) und die feinen Thoͤne Froͤlich-
keit, hingegen grobe Thoͤne, und langſame Melodien,
Traurigkeit erwekken, um bei dieſen Exempeln zu blei-
ben, und daß andere ſtarke, und zugleich ſchnelle Thon-
arten, ſo gar Thieren den Muth ſchaͤrfen. Selbſt die
Barbaren, welche an dem Fluſſe Orenoko wohnen,
bringen durch ſehr grobe Thoͤne, welche ſie durch Schlaͤu-
che, ſo an einer Trompete angebracht, eine ſo traurige
Melodie hervor, daß ſich Niemand der Betruͤbniß er-
wehren kann, die durch dieſes Jnſtrument verurſachet
wird (h). Die Thonkuͤnſtler ſelbſt lehren luſtige, ſanf-
te, majeſtaͤtiſche, und andere Weiſen (i), durch eine
gewiſſe Temperirung der Stimme, zu machen; folg-
lich unterrichten ſie uns von der Methode, wie man
eine gewiſſe verlangte Leidenſchaft in der Seele hervor-
bringen muͤſſe (k). Und daher mag ich nicht den alten Ge-
ſchichtſchreibern unter den Griechen und noͤrdlichen Voͤl-
kern widerſprechen, welche von Thonkuͤnſtlern erzaͤhlen,
daß ſie in den Zuhoͤrern allerlei beliebige Gemuͤthsbewe-
gungen hervorzubringen gewußt (l). Amurath der
vierte, dieſer blutduͤrſtige Moͤrder ſeiner Bruͤder, wur-
de von einem kuͤnſtlichen Liederſaͤnger dahin gebracht,
daß
[707]III. Abſchnitt. Werkzeug.
daß er ſowohl demſelben, als ſeinen Freunden, das Le-
ben ſchenkte, und der Sultan ſelbſt konnte ſich nicht
der Thraͤnen enthalten (m).
Mir ſcheint die Sache ſelbſt nicht eben unbegreiflich
zu ſein. Die Menſchen pflegen, von der Natur ſelbſt
unterrichtet, ihre Freude mit hurtigen und geſchwinden
Thoͤnen, die Traurigkeit hingegen durch langſame und
grobe Thoͤne ausdruͤkken; ſo wie ſie, wenn ſie luſtig
ſind, die Stirn entfalten, und im Zorne runzeln.
Folglich bringen, nach dem Geſezze der Erinnerung (n),
geſchwinde Thoͤne im Gehirn und in der Seele denjeni-
gen Zuſtand wieder hervor, deſſen Zeichen dieſe ge-
ſchwinde Thoͤne ſind, ſo wie die groben ebenfalls den
Gemuͤthszuſtand auffriſchen, welcher ſich durch grobe
Thoͤne verraͤth (o); ſo wie uͤberhaupt die Geberden der
Pantomimen blos durch die Erneuerung der Jdeen
bei den Alten froͤhliche, verliebte und traurige Af-
fekten entſtehen lieſſen.
Man lieſet endlich hie und da, daß verſchiedene Krank-
heiten durch die Thonkunſt geheilet worden, und dieſes
bezeugen auch groſſe Schriftſteller; dergleichen iſt der
Wahnwizz (p), die Raſerei (q); und man pflegt hieher
das Exempel der von der Tarantel gebiſſenen Kranken
zu rechnen (r), welche blos durch gewiſſe Thoͤne zum
Tanzen aufgefordert, und geheilet wuͤrden. Doch es
hat der Tarantelbiß keine dergleichen Kraͤfte, indem
der beruͤhmte Koͤhler(s) vorlaͤngſt gezeiget hat, daß
Y y 2dieſe
[708]Das Gehoͤr. XV. Buch.
dieſe Spinne ganz unſchuldig, und die Krankheit viel-
mehr eine Art von Melancholie ſei, von der einige Leu-
te angefallen wuͤrden. Nun gebe ich in ſo ferne zu, daß
Schwermuͤthige durch luſtige Thoͤne curiret werden, daß
ſelbige ihr zur Betruͤbniß geneigtes Gemuͤthe von derje-
nigen Wolluſt abziehen, welche Leute von dieſem Schla-
ge in ſchwermuͤthigen Jdeen ſuchen.
Es ſtekkt auch in den ſtarken Thoͤnen etwas Mecha-
niſches, das Gehirn zu beunruhigen, das Gebluͤt in
Bewegung zu ſetzen, und eine Art von Fieber hervor-
zu bringen. Wir leſen, daß das Blut beim Trummel-
ſchlage geſchwinder flieſſe, wenn man dabei eine Blut-
ader oͤffnet (t).
Dieſes verſuchte ehedem der beruͤhmte Roger(u), dem
das Schickſal kein langes Leben beſtimmt hatte, dadurch
zu erklaͤren, daß fremdartige Theile unter unſere Lebens-
geiſter gemiſcht wuͤrden: dieſe wuͤrden nach ſeiner Mey-
nung verdichtet, und auf ſolche Art gleichſtimmig mit
ſolchen Thoͤnen, mit denen ſie ſonſt nichts harmoniſch
hatten; wenn alſo dieſe Thoͤne erregt wuͤrden, ſo entſte-
he in den Lebensgeiſtern eine Bewegung, wodurch ſie
feiner gemacht wuͤrden. Doch es haͤtte erſt das Phaͤ-
nomenon beſtaͤtigt ſeyn muͤſſen, ehe man ſeine Aufloͤ-
ſung ſuchte.
Etwas auf eine andere Art lehrte George Chey-
ne, daß von der Muſik in den Nervenfaſern gleich-
ſtimmige Bebungen entſtehen, wie ſich die mitbe-
benden Schwingungen der Saiten einander auſſor-
dern (x). Man koͤnnte aber glauben, daß das Ner-
venſyſtem durch dieſe Schwingungen bald ſo, bald an-
ders geruͤhrt werde.
Jch will nur noch ein Wort ſagen. Man |ſollte
glauben, daß der Menſch im Gehoͤre einen Vorzug
habe (y), wenn uns nicht das muſikaliſche Ohr der
Geſangvoͤgel, welches ſo geſchikkt iſt, Menſchengeſaͤnge
zu lernen, und nachzuahmen, hier ſtuzzig machte, und
unſerm Geſchlechte dieſen Ruhm verſagte.
Es ſind die Ohren gemacht, um die Bebungen der
Lufttheile zu empfinden, und die Augen, das
Zittren des Aethers zu erkennen: aus dieſer Ur-
ſache ſind jene Theile zum Theil elaſtiſch, zum Theil
hart gebauet, weil die Luft in weichen Koͤrpern keine
klingenden Bebungen hervorbringen kann, und derglei-
chen Koͤrper keine Reſonanz von ſich geben. Dahinge-
gen beſtehen die Augen aus Feuchtigkeiten, weil Feuch-
tigkeiten dem Lichte den Durchweg verſtatten, aber
auch dieſen Weg ziemlich und nachdruͤkklich veraͤndern.
Es wird dieſe Beſchreibung langweilig werden, und
wir wollen erſt diejenigen Theile beſchreiben, die dem
Auge zum Schuzze dienen, und hernach das Auge ſelbſt,
wobei wir uns freuen, daß kein anderer Theil des menſch-
lichen Koͤrpers ſo vollkommen bekannt geworden, als
man die Zergliederung des Auges, ſonderlich in gegen-
waͤrtigem Jahrhunderte, gelehrt hat.
Es erſtrekket ſich der Bezirk des Auges viel weiter,
als der Bezirk des Gehoͤres. Denn es haben nicht nur
Fiſche
[711]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Fiſche offenbar Augen, da man ſonſt noch an ihrem Ge-
hoͤre zweifelt, ſondern auch die meiſten Jnſekten, und
ſehr viele Schalenthiere. Die meiſten Conchilien ha-
ben (a) auf beſondern Hoͤrnern zwei Augen. Die Kreb-
ſe haben wirklich Augen, und werden nach deren Ver-
luſte blind (b). Selbſt die Floͤhe (c), und andere Thier-
chen (d), die ſechsfuͤßig, und vom Geſchlechte der Laͤu-
ſe ſind (e), wie auch die Milben, und blos vom Ver-
groͤſſerungsglaſe bekandte Jnſekten (f), haben Augen
bekommen; und man trift an den jedem der Aerme der
vielaͤugigen Thierpflanze (argi zoophyti) Koͤrperchen an,
die Augen aͤhnlich ſind (g).
Jndeſſen giebt es doch Wuͤrmer ohne Augen, als die
faſciola(h), welche der Leber wiederkaͤuender Thiere
gefaͤhrlich iſt, ſo wie die erſte Klaſſe der Schnekken
ohne Haus (i). Es ſollen auch die Muſcheln das Licht
fliehen (k).
Dem Maulwurfe thut man Unrecht, daß man ihn
blind ſein laͤſſet (l), da man doch ſeine Augen bereits in
den aͤlteſten Zeiten gekannt hat (m).
Endlich ſcheinen doch Thiere, welche keine Augen
zu haben ſcheinen, einiges Geſicht zu beſizzen; denn es
lieben nicht nur die Polipen das Licht (n), weil ſie dem-
ſelben nachfolgen, ſondern es wiſſen auch die Mikroſco-
penthierchen der Gefahr auszuweichen, ſo nahe ſie auch
derſelben ſind (o).
Die meiſten Thiere haben paarweiſe Augen bekom-
men. Ein einziges Paar haben die vollkommenen vier-
fuͤßigen Thiere, die Voͤgel und Fiſche. Ein einziges
Paar ſiehet man auch an den meiſten Jnſekten (p), an
andern doch nur an Jnſekten und Schalenthieren findet
man zwei (q), drei (r), vier (s), fuͤnf (s*), ſechs (t),
ſieben (u), acht (x) Paare. Wir rechnen aber die zu-
ſammen-
(m)
[713]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ſammengeſezzten Augen (x*) an den Fliegen, nur fuͤr
ein einziges Paar.
Von dem kleinen Waſſereinauge zweifelt man noch,
ob es nur ein Auge (y), oder zwei ſehr nahe beiſammen-
ſtehende Augen (z) habe. Hat es nur ein einziges, ſo
kennt man zur Zeit nur dieſen einzigen kleinen Ciclo-
pen noch (a).
Gemeiniglich hat das Fliegengeſchlecht zwei groſſe
Augen (b), die gegittert ſind, nebſt drei kleinern (c):
denn man weiß aus gewiſſen Erfahrungen, daß dieſe
kleine Augen, oder Kuͤgelchen (d), wirklich zum Sehen
geſchikkte Augen ſind (e). Folglich haben fuͤnf Augen
die Heuſchrekken (f), die Fliege von einem Tage (g), die
Fliegen (h), Horniſſen (i), Erdmuͤkken (k), gefluͤgelte
Ameiſen, Mann und Weib (l), und eine Menge an-
derer Jnſekten (m). Zwei kleine Augen hatte ſchon
Y y 5Got-
[714]Das Geſicht. XVI. Buch.
Gottignies an der Feldwanze (n) wahrgenommen.
Swammerdam ſchreibt davon: Valiſneri zweifelt,
ob die groſſen Augen wirkliche Augen ſind (o), und an-
dere ſezzen dieſem Gegenerfahrungen entgegen (p).
Die Augenbranen ſind erhabene Huͤgel, von vie-
len auswaͤrts gegen die Schlaͤfe geneigten dichten Haa-
ren, welche wie Dachziegel auf einander liegen, und zu
unterſt an der Stirn an beiden Seiten ſo gelagert ſind,
daß ſie am innern Theile hoͤher, oben von der Naſe un-
terſchieden, uͤber den Augen in einerlei Linie mit dem
Bogen der Augenhoͤle ſtehen, und ſich nach und nach ge-
gen den aͤuſſern Rand der Augenhoͤle verliehren (q). Sie
beſezzen die Erhabenheit, welche von dem obern Bogen
der Augenhoͤle, der ſich etwas mehr nach vorne zu ver-
laͤngert, als die uͤbrige Stirn entſteht. Sie entſtehen
aus der Haut, aus vielem und loſen Fadengewebe, und
aus Muſkelfleiſche (r).
Die Augenbranen geben dem Angeſichte eine beſon-
dere Anmuth, und ihr Mangel ein Mißfallen. Man
findet ſie nicht an den Thieren, an denen die Haut
mehrentheils mit vielen Haaren bedekkt, oder der
Kopf haarig iſt, folglich ſind ſie dem Menſchen eigen.
Sie haben eine genaue Empfindung, wegen der Ner-
ven, die hier zahlreich ſind, und genannt werden ſollen,
und
[715]I. Abſchnitt. Werkzeug.
und ſie laſſen ſich nicht ohne Gefahr verlezzen (s). Sie
beſizzen eine groſſe Beweglichkeit, und ſie laſſen ſich ſehr
leicht, mit der aufgezogenen Stirne in die Hoͤhe, und
wieder gegen das Auge herabziehen. Zu dieſen Bewe-
gungen ſind beſondere Muſkeln da, die ſie bedienen muͤſ-
ſen. Um dieſe zu kennen, muß ich vorher von einigen
Dingen noch Erwaͤhnung thun.
Alle Knochen der Hirnſchale haben ihr Knochen-
haͤutchen, welches an den meiſten Orten ſo duͤnne iſt,
als die Knochen ſelbſt duͤnne ſind, und an wenig Orten
dikker iſt, wo dieſe dikke ſind, und von eben dem Fa-
dengewebe, als andere Knochenhaͤutchen zuſammenge-
ſezzt ſind, nur daß es aus weniger Faͤchern beſtehet,
und glaͤtter iſt. Es wird (t), wie ſonſt uͤberall, von
unzaͤhlichen Schlagadern durchkreuzt. Man fraͤgt, ob
es fuͤhle (u): ich wuͤrde, fuͤr meine Perſon nach der Ana-
logie, nein dazu ſagen; allein die anſehnliche Menge
Nerven, welche uͤber dem Knochenhaͤutchen der Hirn-
ſchale laufen, machen den Verſuch ſchwer. Es iſt die-
ſes Knochenhaͤutchen, ſo man vom Knochenhaͤutchen (x)
nicht recht unterſchieden, einfach (y), und ohne gewiſſe
Blaͤtter (z).
An dieſes haͤngt ſich, vermittelſt loſer Zellfaͤden, mit
einiger Beweglichkeit die Membran uͤber der Hirn-
ſchale (membrana epicrania) an, und dieſe iſt gemei-
niglich loſer, als andere Membranen, und von einem
Glanze, wie eine Sehne (b), dennoch aber auch zell-
foͤrmig, und zwiſchen ihr und der Haut befindet ſich wie-
der ein Zellgewebe, das gar nicht dichte iſt, und etwas
trokkene und haͤrtliche Fettigkeit in ſich ſchließt.
Sie faͤngt ſich an bei dem vorragenden Kamme des
Hinterhaupts ſehen zu laſſen, wo ſie ſich mit den ſehni-
gen Faſern der Kopfmuſkeln, die hier eingelenkt ſind,
vermiſchet (c). Sie laͤuft nach vorne zu uͤber den Schlaͤ-
femuſkel, iſt nicht ſo ſtark am Ohre (d) und Jochbei-
ne (e), wo ſie feſte anhaͤngt, und alſo macht, daß der
Schlaͤfemuſkel zwiſchen dem Knochenhaͤutchen, und die-
ſer Membran zu liegen koͤmmt. Diejenigen, welche
behaupten, daß unter dem Schlaͤfemuſkel kein Knochen-
haͤutchen ſei (f), glauben, daß ſich, eben ſo, wie an an-
dern Orten im menſchlichen Koͤrper, muſkuloͤſe Faſern
in den Knochen werfen. Doch man kann an der Frucht
leicht ſehen, daß ſich die Muſkeln eigentlich in das
Knochenhaͤutchen endigen.
Die Alten haben dieſe Membran hin und wieder
fuͤr das Knochenhaͤutchen angeſehen, und geglaubt,
daß ſich zwiſchen beiden Fett, und der Schlaͤfemuſkel
befin-
(a)
[717]I. Abſchnitt. Werkzeug.
befinde (g). Jch glaube, daß man daher, das Kno-
chenhaͤutchen in drei (h) und vier (i) Blaͤtter zu unter-
ſcheiden, Anlaß hergenommen. Und dennoch hat man
laͤngſt entdekkt, daß ſie zur Stirn-Aponevroſis des Hin-
terhaupts mit gehoͤre (k).
Sie ſenkt ſich ferner zwiſchen beiden Jochbeinen uͤber
die Stirn (l) in zarter Geſtalt hernieder, wird vom Stirn-
muſkel bedekkt, und verſchwindet bei den Augenliedern
und der Naſe (m), wo ſie ſich in ein Fadengewebe ver-
wandelt. Doch es laſſen ſich alle ihre Enden nicht recht
genau beſtimmen, weil ſie ihre Glaͤtte verliehren, keine
gewiſſe Faſerrichtung mehr bei ihrem undeutlichen Um-
riſſe beobachtet, und gleichſam mit Zerſtreuung ver-
ſchwindet. Den wirklichen panniculus carnoſus(n),
welchen der beruͤhmte Weitbrecht, als vom Fette
durch zellfoͤrmige Faſern unterſchieden, hinzugefuͤgt hat,
kann ich nicht davor erkennen.
Dieſe breite (p), ohngefaͤhr parallelogrammfoͤrmi-
ge (q), kurze, fleiſchige Muſkeln, der beide Enden
ſehnig
[718]Das Geſicht. XVI. Buch.
ſehnig ſind, entſpringen von der Wurzel des Zizzenfort-
ſazzes des Schlaͤfenknochens, und von der obern Quer-
linie am Knochen des Hinterhauptes, ſie laufen einan-
der ganz nahe, ſind aber doch von einander unterſchie-
den, und bewegen ſich uͤber den Muſkeln des Nakkens
und Kopfes.
Jhre untere Faſern ſind gerader, die aͤuſſern mehr
geneigt, und ſie laufen ſchief, indem ſie ſich vorne von
einander ſperren (r), und endigen ſich in eine aponevro-
tiſche Membran (s).
Sie ſpannen und befeſtigen dieſe Membran derge-
ſtalt (t), daß die Stirnmuſkeln, die Augenbranen,
und damit verbundene Augenlieder, gegen ſelbige, als
gegen einen feſten Theil in die Hoͤhe heben koͤnnen.
Jch leſe in den Werken des Caſſebohms, die nach
deſſen Tode bekannt geworden, daß dieſer beruͤhmte
Mann bisweilen gar keine Hinterhauptsmuſkeln gefun-
den, und es ſtimmet Winslow mit ein (u), daß ſel-
bige ungemein klein geweſen.
Bisweilen haͤngen ſie mit den Muſkeln zuſammen,
die die Ohren zuruͤkke ziehen (x).
Man mag daraus mit dem Stirnmuſkel (y) einerlei
Muſkel, oder zween verſchiedene machen (z), ſo wird
man nicht ſehr irren; ich moͤchte ſie aber doch lieber mit
einander verbinden. Welche nur einen Muſkel machen,
halten
[719]I. Abſchnitt. Werkzeug.
halten gemeiniglich die Membran uͤber der Hirnſchale
fuͤr ſeine breite Sehne (a).
Die Stirnmuſkeln(b) ſammeln ihre Faſern aus
der vordern Gegend der Membran, uͤber der Hirnſcha-
le (c), wo ſie gleichſam aus einer Spizze entſprin-
gen (d), von da neigen ſie ſich gegen die Stirn gegen
einander (e) ſind von oben her (f) unterſchieden, und hier-
auf, von der Mitte der Stirn an, nehmen ſie die gan-
ze Breite der Stirn ein (g). Jhre innerſten Faſern
convergiren mehr, die innern weniger (h). Sie be-
kommen noch Faſern vom innern Ohrkreiſe, und dem
Hebemuſkel des Ohrs (i).
Die innerſten Faſern begeben ſich in die Naſe, und
laufen mit einem gewiſſen dreiekkigen Anhaͤngſel (k),
welches die Neuern mit einem beſondern Namen des
muſculi proceri(l) belegen, indem ſie ſich in die breite
Sehne der zuſammendrukkenden Muſkeln der Naſe ver-
liehren (m): mir koͤmmt es vor, daß ſie ſich auch in
den Knorpel und naͤchſtem Ende des Knochens (n) endi-
gen.
[720]Das Geſicht. XVI. Buch.
gen. Die andern Faſern werfen ſich in den gemein-
ſchaftlichen Heber der Naſenfluͤgel, und der Oberlippe (o),
wie auch, wie wenigſtens Albin will, in den Stirn-
knochen ſelbſt, im groſſen Augenwinkel (p). Endlich
ſenken ſich die meiſten Faſern in die Faſern des runden Au-
genliedermuſkels hinein (q), und zum Theil auch, wie ich
mit Zuverlaͤßigkeit geſehen, in den Runzler der Au-
genbranen (r).
Man ſollte glauben, daß dieſer Muſkel verſchiedene,
und einander faſt entgegengeſezzte Verrichtungen habe.
Wenn die Membran uͤber der Hirnſchale geſpannt iſt,
und ſich zugleich der Hinterhauptsmuſkel zuſammenzieht,
alsdenn ſcheint er die Augenlieder, die Augenbranen
und die Stirn, welche er zugleich, wenn er maͤßig
wirkt, ausdehnet, in die Hoͤhe zu ziehen, wie in der
Freude geſchiehet (s): wenn er ſich aber ſtaͤrker zuſam-
menziehet, ſo runzelt er die Stirn in Queerfalten.
Wenn im Gegentheil der Hinterhauptsmuſkel nach-
laͤßt, und ſich der runde Muſkel der Augenlieder ſtark
zuſammenzieht, alsdenn koͤnnte eben dieſer Stirnmuſ-
kel (t) die Stirn gegen die Naſe hernieder ziehen, und
die Augenbranen uͤber das Auge, wie im heimlichen
Zorne geſchiehet, und wenn wir ein zu ſtarkes Licht ab-
halten wollen, niederziehen.
Es will der beruͤhmte Weitbrecht lieber hier eine
zuſammengeſezzte Wirkung annehmen (u), und es ſoll die
Stirn niederſteigen, hingegen die Augenbranen in die
Hoͤhe gehen, weil ſich die beweglichen Enden des Mu-
ſkels einander naͤherten. Doch dieſes leugnet der be-
beruͤhmte Parſons, und er will, daß er zugleich alle
ſeine Enden mit einmal aufheben ſoll, da ſich die Stirn-
muſkeln in einen einzigen Muſkel vereinigen (x).
Der beruͤhmte Eſchenbach fand ſie in einem, und
eben dem Menſchen von ungleicher Groͤſſe, und es lag
einer hoͤher, als der andere (y).
Man pflegt an beiden Seiten nur einen einzigen
zu zaͤhlen. Er entſpringt theils von dem Rande der
Augenhoͤle (b) nach auswaͤrts zu, und zwar mehr, als
der innere Winkel, gegen das Jnwendige des Loches
uͤber der Augenhoͤle; mit einem andern Pakke entſpringt
er uͤber dieſem Loche; ferner (c) von demjenigen Theile
des Stirnknochens (d), der uͤber der Naſe flach gedruͤkkt
iſt; und endlich auch nach auſſen zu mit mehreren, naͤm-
lich drei oder vier Pakken.
Solchergeſtalt laufen dieſe, durch einige Furchen un-
terſchiedene Faſerpaͤkke (e) beſonders fuͤr ſich, und aus-
waͤrts zuruͤkke (f), ſie werden von dem runden Muſkel be-
dekkt, und endigen ſich in den Stirnmuſkel (g), von wel-
chem ſie vorwaͤrts bedekkt werden, und in dem runden Mu-
ſkel der Augenhoͤle, der unter dem Stirnmuſkel liegt (h),
und zulezzt in die pulpoͤſe Haut (i) der Augenbranen,
etwas auswaͤrts von dem mittlern Theile der Augen-
hoͤle gerechnet.
Es ſtellet dieſer Muſkel, wenn er gelinde wirkt, die
Stirn und Augenbranen wieder her, wenn die Stirn-
muſkeln dieſe Theile aufwaͤrts gezogen haben. Jn
einer ſtaͤrkern Zuſammenziehung zerret er ſowohl die Au-
genbranen, als denjenigen Theil der Haut, welcher ſich
den Augen zunaͤchſt befindet, nach der inwendigen Sei-
te zu, und vor das Auge, er zwingt die Haut der Stirn
zu folgen, daß ſie ſich an der Naſe mit Runzeln nach
der Laͤnge falten muß (k), er richtet die Haare der Au-
genbranen in die Hoͤhe (l), und ſpannet in ſo fern die
Membran uͤber der Hirnſchale (m).
Solchergeſtalt beſchattet er die Augen, und haͤlt den
zu groſſen Glanz davon ab. Ob man dieſes gleich leugnen
wollen (n), ſo wendet doch Niemand ſeine Augen gegen die
Sonne, wenn dieſe dem Horizonte nahe iſt, daß er nicht
die Augenbranen mit dieſem Muſkel niederziehen ſollte.
Hierbei macht der beruͤhmte Porterfield die Anmer-
kung, daß es keine uͤbele Gewohnheit der Morgenlaͤn-
der ſei, bei einem ſo ſtarken Leuchten der Sonne, in
einer
[723]I. Abſchnitt. Werkzeug.
einer ſo heitern Luft, ſich nach einer von uralten Zeiten
hergebrachten Gewohnheit die Augenbranen ſchwarz zu
faͤrben (o).
Es iſt eben dieſer Muſkel im Zorn und Unwillen
wirkſam, und er iſt es, welcher macht, daß wir Je-
manden mit einer graͤßlichen Mine anſehen, welches
die Englaͤnder durch das beſondere Wort frown, aus-
druͤkken. Vielleicht druͤkkt man den Karakter dieſes
Haſſes dadurch aus, daß dieſer Muſkel das Auge von
einem verhaßten Objekte abzieht, welches nicht einmal
des Anblikkes wuͤrdig iſt.
Wir haben von den aͤuſſerſten Verſchanzungen, oder
Auſſenwerken der Augen geredet, es folgen nunmehr
die, welche ihnen beſonders eigen ſind. Man findet
dieſe an allen vierfuͤßigen Thieren (p) auch den kalten (q),
an Fiſchen von warmen Blute (r), an den Voͤgeln (s).
Die kalte Fiſche haben keine Augenlieder (t), |da ihre
Augen hart ſind (u), ſo wenig als die Jnſekten (x) und
Krebſe, wie ich glaube, aus eben der Urſache (y).
Es iſt dieſer Schuzz den Augen ſo ohnentbehrlich, daß
Augen, denen die Augenlieder fehlen, theils von allen
Verlezzungen leiden, theils den ſo angenehmen Schlaf
vermiſſen. Wenigſtens leſen wir, daß der Conſul Re-
gulus, den die Carthaginenſer durch alle Arten der
Marter umgebracht haben ſollen, in beſtaͤndiger Schlaf-
loſigkeit (z), weil man ihm die Augenlieder endlich ab-
geſchnitten, ſein Leben geendigt habe (a); wenn dieſes
nicht eine roͤmiſche Verleumdung iſt, denn andere wol-
len, daß er durch ein langſames Gift umgekommen,
und es hat uͤberhaupt die ganze Erzaͤhlung wenig Wahr-
ſcheinlichkeit. Man lieſet, daß bei den Sineſen, oder
Japanern ein heiliger Mann, mit Namen Darma,
nachdem er alles vergebens ausgeſtanden, endlich durch
das Abſchneiden der Augenlieder zuwege gebracht habe,
daß ihn kein Schlaf in ſeinen hohen Betrachtungen ſtoͤ-
ren mußte (a*).
Es iſt daher ein toͤdtliches Zeichen, wenn die Augen-
lieder im Schlafe nicht zuſammen ſchlieſſen wollen (b),
indem hier die Seele nachlaͤßig wirkt, und den Nach-
theil ihres Koͤrpers nicht mehr empfindet.
Es hat daher die Noth, wo man beſtaͤndigen Schnee
hat, und die Sonnenſtrahlen immer am Horizonte her-
um ſpielen, und alſo den Augen Gefahr drohen, die
barbariſchen Voͤlker gelehret, ſich gedoppelte kuͤnſtliche
Augenlieder zu machen, und dieſe beweiſen faſt in die-
ſem einzigen Stuͤkke allein einen Wizz. Es ſind dieſes
Schuzzwehren von Holze, oder Elfenbein, (c) in denen
eine zarte Spalte das Licht durchlaͤßt. Was die Renn-
thiere
[725]I. Abſchnitt. Werkzeug.
thiere betrift (d), ſo iſt es nicht zu glauben, daß es
blos durch ein kleines Loch der Augenlieder, ſo viel ſe-
hen koͤnnen ſoll, als es noͤthig hat, wenn es im Schnee
die Augen verſchließt.
Wenn die Haut von den Augenbranen herabkoͤmmt,
von Haaren frei, und allmaͤhlich duͤnner iſt; ſo gehet ſie
gerade aufs Auge zu: ſie iſt frei, und ſcheinet etwas
unterhalb dem Aequator des Auges verlaͤngert, daſelbſt
gleichſam abgeſchnitten zu ſein, und aufzuhoͤren.
Allein ſie hoͤret hier nicht wirklich auf (e), ſondern ſie
beugt ſich um, wird zaͤrter, bekoͤmmt eine Menge ro-
ther durchſichtiger Gefaͤſſe (f), und ſteiget faſt bis zum
Rande der Augenhoͤle hinauf. An ihr hat Ruyſch
Nervenwaͤrzchen geſehen (g).
Hierauf beugt ſie ſich endlich, und laͤuft, als ein
Vorhang vor dem harten Augenhaͤutchen, und vor der
durchſichtigen Hornhaut herab, bekoͤmmt einen neuen
Namen des weiſſen zuſammenfuͤgenden Haͤutchens (ad-
nata, coniunctiva) (h) waͤchſt mit dem harten, und mit
dem Hornhaͤutchen (i), mit jenem vermittelſt eines lo-
Z z 3ſen,
[726]Das Geſicht. XVI. Buch.
ſen, mit dieſem durch ein kuͤrzeres (k) Fadengewebe dicht
zuſammen, und ſtreicht zum untern Rande der Augen-
hoͤle hin. Sie iſt weiß, und ziemlich voller Gefaͤſſe.
Zwiſchen ihr, und zwiſchen der harten Haut befindet
ſich etwas Fett, wie auch viele Gefaͤſſe, und eben in
dieſes Fadengewebe ergieſſen ſich die Feuchtigkeiten in
den Krankheiten, indeſſen daß ſich die Hornhaut ganz
und gar nicht veraͤndert (m). Wir haben| bisher das
obere groͤſſere Augenlied (n) beſchrieben.
Von dem Rande der untern Augenhoͤle beugt ſie ſich
abermals in die Hoͤhe zuruͤkke: ſie wird durch ſich ſelbſt,
wo ſie das zuſammenfuͤgende war, blos von einem da-
zwiſchen befindlichen Dunſte beſchuͤzzt, ſteigt nicht voͤl-
lig bis zur Mitte des Sterns herauf, und verwandelt
ſich daſelbſt ebenfalls in eine Spizze, welche von der
obern Spizze durch eine Queerſpalte ſo weit abſteht, daß
dennoch die genaͤherten Augenlieder auf einander paſſen,
und nur, wegen des geſchwollenen Randes der Augen-
lieder, zwiſchen ihnen, und dem Auge, gleichſam ein
dreiekkiger krummliniger Kanal uͤbrig bleibt (o). An
dieſem Theile iſt das Augenlied, wie am obern Augen-
liede roth, und voller Gefaͤſſe.
Von dieſer Spizze wird ihm wieder die Natur einer
Haut zu Theil, es laͤuft gegen ſich ſelbſt hernieder, und
verlaͤngert ſich ferner in die Haut des Angeſichts. Die-
ſes iſt das untere, kleine Augenlied.
Wo alſo das Augenlied nur das Auge bedekkt, da-
ſelbſt hat es drei Blaͤtter: die vordere Haut, oder die
wahre aber duͤnnere Haut; die mittlere, oder die rothe
Dekke des Augenliedes (o*), welche das Auge beweglich
beruͤhrt; und das zuſammenfuͤgende Haͤutchen, welches
nunmehr von einer Haut ausgeartet, und dem Auge vor-
geſpannet iſt. Wenn der Dunſt verſchwunden, welcher
ſich dazwiſchen legt, ſo waͤchſet das Augenlied im Schla-
ſe leichtlich an das Auge an (p).
Alle dieſe drei Blaͤtter der Haut haben ihr Oberhaͤut-
chen (p*), welches ſich ſowohl vor dem zuſammenfuͤgen-
den Haͤutchen verlaͤngert, als auch vor der Hornhaut (q)
vorgezogen wird, ſich durch die Maceration leicht ab-
ſondern laͤßt, im Sterben mit Schleim und Schmier
bezogen, nunmehr dunkel und dikker iſt, und als eine
neue Haut den Zuſchauer betruͤgt (r). Daher findet
man an der abgeſtreiften Haut der Schlangen auch dieſe
Dekken der Augen (s) indem ihnen neue wieder wach-
ſen (t). Dieſes giebt bisweilen zur Blindheit Gelegen-
heit (u). Von dergleichen ſchmierigen Materie, wel-
Z z 4che
[728]Das Geſicht. XVI. Buch.
che die Augen uͤberzogen hatte, und welche man fort-
ſchafte, erklaͤrt der beruͤhmte Behrens(x) fuͤr ein aber-
glaͤubiſches Wunderwerk.
Es vereinigt ſich das obere Augenlied in beiden Win-
keln des Auges, mit dem untern. Man nennet denje-
nigen den groſſen Augenwinkel (y), welcher der Naſe
naͤher liegt, und den kleinen, der der Schlaͤfe zuge-
kehrt iſt.
Die Haut der Augenlieder beſizzet ein ſehr ſcharfes
Gefuͤhl, und man hat hierbei eine wunderbare Erſchei-
nung angemerkt, daß man blos vom Lichte, obgleich
das Oberhaͤutchen in vollkommenem Stande geweſen,
ein Nieſen (z), und Thraͤnen (a) empfinde. Doch es
iſt auch an dem zuſammenfuͤgenden Haͤutchen, die Em-
pfindung des Auges, und Augenliedes groß (a*), ſo
daß das kleinſte Sandkoͤrnchen, welches zwiſchen die Au-
gen und Augenlieder faͤllt, eine unertraͤgliche Beſchwer-
lichkeit verurſacht, welches ich mich erinnere erfahren
zu haben, und die nicht eher nachlaſſen wollte, als bis
ich mit einer Sprizze laulich Waſſer einſprizzte. Jch
leſe, daß man ein Jukken, das von Jnſekten entſtan-
den, daran bemerkt habe (b).
Damit das Augenlied mit einem freien Rande ſei-
ner ganzen Laͤnge nach, und in allerlei Bewegungen
verſe-
[729]I. Abſchnitt. Werkzeug.
verſehen ſein moͤge, und es nicht im Zuſammenziehen
an ſeinem Queerdurchmeſſer enger werde: ſo hat ſich
die Natur faſt eben ſolches Huͤlfsmittels bedienet, als
wir anzuwenden pflegen, wenn wir groſſe Gemaͤhlde
ausſpannen wollen. Wie wir ſolche naͤmlich an einem
Stabe ausſpannen, ſo iſt jedes Augenlied an einem
Knorpel befeſtigt, den man tarſus, Augenliedknorpel
nennt. Beide ſind eine Platte, doch iſt der obere groͤſ-
ſer, mehr geſichelt, und aufwaͤrts convex; der untere
gerader, und lieget zwiſchen dem aͤuſſern Blate des Au-
genliedes, und dem innern, ganz dicht am Rande (c).
Beide Knorpel werden ſonderlich gegen Auſſen zu duͤnne,
und gegen die Naſe dikker (d): beide ſind um etwas kuͤr-
zer, als das Augenlied.
Dieſer Rand, der aus einer geſchwollenen Haut be-
ſteht, bringet eine vielfache Reihe von Augenwim-
pern(e),(f), oder harten elaſtiſchen Haaren hervor,
die an dem obern Augenliede zahlreicher (g) ſind, weit
herabgehen, hierauf aber einen Bogen beſchreiben, und
ſich wieder in die Hoͤhe zuruͤkke biegen (h): ſie ſteigen
am untern Augenliede zuerſt in die Hoͤhe, ſie beugen
ſich hierauf zuruͤkke, gehen herab, und ſind an beiden
Seiten um deſto laͤnger, je naͤher ſie der Mitte des Au-
genliedes ſtehen. Dieſe Augenwimpern beſchatten die
Spalte, welche zwiſchen beiden Augenliedern liegt, und
halten den Zutritt des Lichtes ab. Sie ſind es, wel-
che ſchoͤne Farben (i), die von den ſtaͤrkern Strah-
len eines hellen Koͤrpers, die vorbei fahren, und ſich
biegen, entſtanden, annehmen, und einen runden Re-
Z z 5genbo-
[730]Das Geſicht. XVI. Buch.
genbogen formiren, der des Morgens fruͤhe an den
feuchten Augenwimpern beim Lichte dem Deſcartes
und mir oͤfter erſchienen.
Die Natur hat an beiden Augenliedern, damit die
an einander geriebene Knorpel die Haut nicht verlezzen
moͤgen (k), eine Schmier (l) angebracht, die, wenn ſie
friſch abgeſondert iſt helle (m), trokken aber, und vom
Beitritte der Luft, zu weichem Schmier wird, und ſich,
wie ich ſelbſt geſehen, zu Wuͤrmerchen und Augen-
ſchmalz bildet. Die Alten haben dieſes ſchmierige We-
ſen ſchon gekannt (n), und es wird in einer beſondern
kleinen Maſchine zubereitet. Man erblikkt am Rande
beider Augenlieder, und zwar an einem, und in zwo
Reihen (o) hinter den Augenwimpern dreißig (p) bis
vierzig (q) Loͤcherchen. Dieſe Loͤcherchen fuͤhren in einen
ſehr kleinen holen (r), meiſtentheils gebogenen kleinen
Darm (s), welcher ſich an beiden Augenliedern, uͤber-
haupt nach einer geraden Linie vom Augenliedknorpel zu-
ruͤkke begiebt. Die obern und mittlern ſind an beiden
Augen-
[731]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Augenliedern laͤnger (t),(u). Es giebt auch geſpaltene (x),
oder aus zween oder drei (x*) vereinigte Daͤrmchen. Sie
ſizzen nicht laͤngſt dem ganzen Augenliede, ſondern es
befinden ſich auf einige Weite von den Augenwinkeln zu
beiden Seiten gar keine (y). Sie liegen zwiſchen bei-
den Platten des Augenliedes, und zwar naͤher an der
hintern, und es paſſen die Incilia mit ihnen am Knor-
pel zuſammen (z). Am untern Augenliede ſind ſie brei-
ter (a).
Doch es iſt auch dieſes kein einfacher Bau. Es oͤff-
nen ſich naͤmlich in dieſe kleine Daͤrme andere kleine
Saͤkke von beiden Seiten: ſie ſtehen in einer dichten
Reihe, ſind kurz, rundlich (b), wie Holgaͤnge anzu-
ſehen (c), und voll von aͤhnlicher Schmierigkeit. Jch
kann nicht mit Gewißheit ſagen, ob einige Elementar-
druͤſen in dieſe kleine Gaͤnge ihren Saft ausgieſſen.
Wenn man in ſie durch die Schlagadern Wachs ſprizzt,
ſo koͤmmt ſelbiges weiß zuruͤkke (d).
C. Stephan redet von vielen ſehr kleinen Druͤſen-
koͤrperchen in beiden Winkeln der Augen (e), welche ſich
nicht leicht auf andere Stellen deuten laſſen. Es hat
daher Julius Caſſerius(f) im Kupfer wirkliche Gaͤn-
ge und parallele Streifen ausgedruͤkkt. Und es koͤnnen
die Thraͤnenpunkte im aͤuſſern Winkel, wie ſie F. Fa-
bri-
[732]Das Geſicht. XVI. Buch.
bricius(g) nennt, keine andere Bedeutung haben.
Endlich hat Henrich Meibom, dieſer ſehr gelehrte
Mann, alles im Jahr 1666 (h) feſtgeſezzt, da es ſchon
drei Jahre vorher (i) entdekkt worden: ob es gleich in
Frankreich nicht eben ſehr bekannt war, ſo hat es doch
Johann Mery(k), daſelbſt wieder in Gang gebracht,
und der vortrefliche Morgagni hat die Sache weiter
erklaͤret.
Meibom will, daß man ſie in vielen vierfuͤßigen
Thieren, ſowohl was die Raubthiere (l), als was die
wiederkaͤuenden betrift (m), antreffe.
Aus dem Schmier dieſer Druͤſen, und den beige-
miſchten Thraͤnen entſtehet derjenige Kleiſter, welcher
an vielen vierfuͤßigen (n), ſogleich nach ihrer Geburt,
die Augenlieder dergeſtalt zuſammenleimet, daß ſolche
blind auf die Welt kommen; und es findet ſich in der
That, weder am Hunde, noch der Kazze, eine wirkliche
Membran (o), welche von dem Verzerren der Augen-
lieder zerreiſſen ſollte. Wenn einige ſchreiben, daß die
Tartarn einige Tage nach der Geburt verſchloſſene Au-
gen haben, ſo ſchreibe ich ſolches einer vorgefaßten
Meinung zu (p).
Es befindet ſich zwiſchen dem vordern und hintern
Blate des Augenliedes ein Fadengewebe, in welches
ſich
[733]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ſich die Feuchtigkeit leicht ergieſſet (p*), es mag ſolche
nun durch die kuͤnſtliche Hand des Zergliederers, als
Waſſer eingeſprizzt, oder von einer Krankheit daſelbſt
angehaͤuft worden ſein. Es koͤmmt dieſer Geſchwulſt in
den Blattern ſehr oft vor, und er haͤlt, nebſt dem aus-
ſchwizzenden zaͤhen Leime, die Augen oft einige Tage
lang verſchloſſen.
Auch oberhalb in dieſem Zwiſchenraume zeiget ſich
viel Fett.
Ferner befindet ſich hier ein Muſkel, eine Reihe von
Thraͤnengaͤngen, und ein Band, welches man das Au-
genknorpelband nennt. Jch habe hier nichts als
eine faͤchriche, breite Platte finden koͤnnen, der man
durch die Kunſt zu Huͤlfe kommen kann, und wel-
che ſich von beiden Raͤndern der Augenhoͤle gegen den
Knorpel unterhalb dem runden Muſkel verlaͤngert, aber
dennoch fruͤher in ein wahres Zellgewebe verwandelt,
als ſie den Knorpel erreicht (q). Andere leiten ſie vom
Knochenhaͤutchen (r), oder von der harten Haut her,
ſo die Augenhoͤle bekleidet (s), und von deren aͤuſſern
Platte her, und man giebt ihr bis zum Knorpel eine
Fortſezzung (t). Es iſt mir niemals ein zuverlaͤßiges
und von der Natur feſtgeſezztes Band zu Geſichte ge-
kommen. Caſſebohm ſchreibt, daß es in Kaͤlbern
deutlicher zu ſehen ſei, und Joſias Weitbrecht hat
es weggelaſſen.
Es hat auch das weiſſe zuſammenfuͤgende Augen-
haͤutchen mit dem Knochenhaͤutchen der Augenhoͤle nichts
gemein, wenn gleich die Alten (u), und einige der
Neuern dieſer Meinung ſind. Nicolaus Maſſa(x),
und J. Fantonus(y) reden davon viel richtiger.
Dieſe Druͤſe, welche ihren Namen in der That ver-
dienet, haben die Alten (z) die ungenannte, oder auch
die obere genannt, weil ſie entweder die eine im innern
Winkel befindliche Carunculam(a) fuͤr die Thraͤnendruͤſe,
oder fuͤr eine den Thieren eigene Druͤſe (b) hielten.
Sie iſt haͤrter als die meiſten Druͤſen, und in vielerlei
Laͤppchen (c) durch deren Zwiſchenraͤume Nerven durch-
laufen, und Gefaͤſſe zertheilt, indem ſich die Lappen
in kleine runde Kernchen zerlegen laſſen (d), die eine fa-
denartige und ziemlich harte Membran von der Art des
Fadengewebes verbindet. Ein dikkerer Lappe lieget aus-
wendig gegen die Schlaͤfe zu, und laͤßt an dem knochi-
chen Gewoͤlbe, ſo auf der Augenhoͤle liegt, eine nicht
undeutliche Spur von ſich zuruͤkke, und dieſes nennet
man das Lager der Druͤſe in dem Winkel (e) der Dekke
an der Augenhoͤle. Auch die Alten wußten es ſchon,
daß ſie zu dem Thraͤnengeſchaͤfte mit gehoͤre (f).
Man trift ſie in den Vierfuͤßigen (g) und Voͤgeln an,
die auſſerdem noch eine andere zwote Thraͤnendruͤſe be-
ſizzen, und von welcher man lange ſchon bei den Voͤ-
geln (h) geredet hat. Jn den Vierfuͤßigen hat ſie Har-
der, als was neues beſchrieben, ſie befindet ſich im
Haſen (i), Kaninchen (k), Eichhoͤrnchen (l), Hirſch (m),
Dachſen (n) und Elephanten (o). Duverney(p) hat
ſie als eine neue Entdekkung wiederhergeſtellet, und auf
diejenigen Thiere eingeſchraͤnkt, die ein drittes Augen-
lied haͤtten. Man verfaͤhrt unrecht, wenn man be-
hauptet, daß man auch die Druͤſe des Harders im
Menſchen antreffe (q), oder daß Horſt die dritte
Thraͤnendruͤſe erfunden habe (r).
Es macht die Analogie der uͤbrigen aͤhnlichen Druͤ-
ſenpaͤkke, die ebenfalls ihre ausfuͤhrende Gaͤnge haben,
die Nothwendigkeit den Quell der Thraͤnen zu finden, und
die Aehnlichkeit der Thraͤne mit dem Speichel, den Schluß
wahrſcheinlich, daß die Thraͤnen allerdings in dieſer
Druͤſe, welche wir beſchrieben haben, bereitet, und
durch einige ausfuͤhrende Gaͤnge uͤber das Auge aus-
getheilet werden.
Es hat ferner Nikolaus, Stenonis Sohn (s),
am eilften November im Jahre 1661, in Gegenwart
des Borrichius(t) am Ochſenauge Gaͤnge entdekkt,
deren ihrer ſechs (u) bis zwoͤlf vorhanden waren, die bei
den Zwiſchenraͤumen der Lappen ihren Urſprung nah-
men (x), und in welche man Borſten ſtekken konnte (y).
Sie liefen ferner inwendig am obern Augenliede herab,
oͤffneten ſich mit deutlichen Muͤndungen in deſſen zuſam-
menfuͤgender Haut, und dieſes geſchahe weiter nach hin-
ten (z), oder oben zu, als die Augenwimpern. Dieſe
Gaͤnge habe ich auch am Rinder- oder Schaaf-Auge
leicht und vielmals geſehen (a).
Doch es haben auch beruͤhmte Maͤnner von der groͤſ-
ſern Thraͤnendruͤſe in den Voͤgeln (b) einen Gang ge-
funden, welcher ſich bei dem Anfange der nikkenden
Haut oͤffnet (c), welches man auch an der Schildkroͤte
und deren beiden Druͤſen ſo befunden, darunter die innere
ihre Gaͤnge in einen groſſen Kanal ausſchuͤttet, der
ſich uͤberhaupt leichtlich verfolgen laͤßt (d). Dergleichen
eigene Thraͤnendruͤſe, die ihren Gang hat, befindet ſich
auch in den vierfuͤßigen Thieren (e).
Vor kurzer Zeit wußte man dieſes alles, was
den Menſchen betrift, nicht mit gehoͤriger Zuverlaͤßig-
keit: denn ob gleich Stenonius laͤngſt geſchrieben
hatte,
[737]I. Abſchnitt. Werkzeug.
hatte (f), daß er auch im Menſchen Ausfuͤhrungsgaͤnge
geſehen, und viele Schriftſteller davon ſo handeln (g),
als ob man ſie ohne allen Widerſpruch im Menſchen eben
ſo wohl, als in den unvernuͤnftigen Thieren faͤnde; ſo
iſt es dennoch, wenn man ſchon alle Sorgfalt anwendet,
keine leichte Sache, dieſe Gaͤnge zu finden, und es konn-
te ſie weder Morgagni(h), noch Zinn(i), oder ich,
noch wie es ſcheint der beruͤhmte Porterfield(k) und
unſer ehemalige Freund Schobinger(l) entdekken.
Jndeſſen fieng man nach und nach an, einige am
Menſchen angeſtellte Verſuche vorzutragen. Sanro-
rin erwaͤhnt, daß er einmal Muͤndungen und Gaͤnge
zu Geſichte bekommen (m). Jakob Benignus Wins-
low(n), und J. Lieutaud beſchreiben den Hand-
griff, dieſe Kanaͤle im Auge, unter reines Waſſer ge-
taucht, aufzublaſen; und es zwang auf andere Weiſe
J. Friederich Caſſebohm, wenn er das Augenlied
ausdehnte, und die ungenannte Druͤfe druͤkkte, aus den
Muͤndungen eine Feuchtigkeit heraus zu treten.
Nach der Zeit trug vor Kurzem der fleißige Sohn
eines beruͤhmten Vaters ſeine gemachte Entdekkung um-
ſtaͤndlicher vor. Es ſahe demnach dieſer beruͤhmte Mann,
nach einigen Verſuchen ſeit dem Jahre 1753 (o) an
einem Auge, welches er in blutigem Waſſer macerirte,
im
H. Phiſiol. 5. B. A a a
[738]Das Geſicht. XVI. Buch.
im Jahre 1758 (p) Muͤndungen, und gefaͤrbte Gaͤn-
ge (q), welche gegen die Druͤſe zu liefen: und er fuͤllte
ſolche endlich gar mit Quekkſilber aus. Es waren ſechs
bis ſieben Gaͤnge (r), welche aus der ungenannten Druͤſe
kamen (s), unter ſich nirgendwo zuſammenhiengen (t),
uͤber die innere Flaͤche der zuſammenfuͤgenden Augen-
liedshaut (u) herabliefen, und die ſich einige Linien weit
uͤber dem Knorpel in der zuſammenfuͤgenden Haut des
harten Augenhaͤutchens oͤffneten.
Doch es demonſtrirte bereits der beruͤhmte Hunter
ſeit dem Jahre 1747, wie ich nunmehr ſehe (u*), dieſe
Gaͤnge.
Es iſt indeſſen doch gewiß, daß nicht alle Feuchtig-
keit, welche die Augen von auſſen befeuchtet, von dieſer
Druͤſe, oder dieſen Gaͤngen ihren Urſprung bekoͤmmt,
welches man ſo gar aus dem untern Augenliede erkennen
kann, welches eben ſo mit dem Auge zuſammenhaͤngen
wuͤrde, und welches dennoch keine Gaͤnge hat, von denen es
inwendig befeuchtet werden koͤnnte. Es dunſtet demnach
von der ganzen inwendigen Flaͤche der zuſammenfuͤgenden
Augenliedshaut, und zugleich auch ſonder Zweifel von der
zuſammenfuͤgenden Haut des Auges, aus den Schlag-
adern (x) uͤberall ein Dunſt aus, welcher beide zuſam-
menfuͤgende Haͤutchen, ſo wie dergleichen aller Orten
in dem menſchlichen Koͤrper zwiſchen benachbarten Mem-
branen
[739]I. Abſchnitt. Werkzeug.
branen geſchicht, anfeuchtet und von einander trennet.
Wir machen dieſe Ausduͤnſtung ohne gar zu groſſe Muͤhe
mit Waſſer nach, welches man in die Caroris ſprizzt.
Jch weiß nicht, ob die Vermuthung, daß die Schlag-
adern vornaͤmlich den Dunſt, und die Druͤſe diejenigen
Thraͤnen hervorbringe, welche ſich waͤhrend des Weinens
haͤufiger ergieſſen.
Die Alten leiteten die Thraͤnen vom Gehirn her (y),
und zwar von der vordern Kammer.
Wir wiſſen von der Natur dieſer Feuchtigkeit nur was
weniges, naͤmlich daß ſie ein helles, doch ſalziges Waͤſſer-
chen iſt, welches im Feuer ganz und gar verraucht. Jch
kenne keine chemiſche Auseinanderſezzung der Thraͤnen,
da man ſchwerlich ſo viel davon ſammeln kann, als zu
einem Verſuche hinlaͤnglich iſt. Jch leſe, daß ſie zu
Kriſtallen angeſchoſſen (z): und es geſchicht nicht ſelten,
daß ſich, wie in den uͤbrigen waͤſſerigen Feuchtigkeiten
des menſchlichen Koͤrpers, ſo auch ebenfalls in den Thraͤ-
nen, Steine erzeugen (a). Sonderbar iſt der Bericht
von gewiſſen Kriſtallen, welche ſich von ſaurer Art in
einer Augenentzuͤndung an die Augenlieder angehaͤnget
hatten, und die dem beruͤhmten Schaper zu Geſichte
gekommen (b).
Daß ſich unter die Thraͤnen Blut in ſolcher Menge
gemiſcht habe, daß man von Perſonen geſagt, daß ſie
Blut geweint (c), davon finden ſich hie und da einige
Exempel, worunter dennoch einige verdaͤchtige mit vor-
kommen. (d).
Es berichtet Jemand, daß in der Augenentzuͤndung
bisweilen die Thraͤnen einen ſuͤßlichen Geſchmakk gehabt
haben (e). Sie ſtinken am Hirſche, und ſehen wie ein
Ohrenſchmalz (f) aus, wie ich davor halte, wegen der
Menge des beigemiſchten Talges, welches dieſe Thiere
nicht von den Augen wiſchen koͤnnen.
Jhr vornehmſter Nuzzen ſcheinet darinnen zu beſte-
hen, daß ſie die aͤuſſerliche Flaͤche des Auges anfeuch-
ten, damit daſſelbe nicht von der Luft, wie alle andere
Membranen ausgetrokknet werden, und die ſchluͤpfrige
Beweglichkeit am Auge, und an den Augenliedern er-
halten werden koͤnne.
Die zuflieſſenden Thraͤnen wiſchen alle Schaͤrfe weg,
es mag dieſe mechaniſch ſein, wie von eingeflogenen
Thierchen, oder Sandkoͤrnern (g), oder von einem chemi-
ſchen Reize herruͤhren, dergleichen der Rauch, die Zwie-
beln, ſelbſt ein lebhaftes Licht (h), die Kaͤlte iſt. Alle
dieſe Beſchwerlichkeiten hebet der Zufluß der Thraͤnen
auf eine mechaniſche Weiſe.
Wir haben von ſcharfen Dingen uͤberhaupt geredet.
Sie flieſſen auch vom Kizzeln der Naſe zu (h†). Es
iſt offenbar, daß die Natur keine andere Maſchine noͤ-
thig habe (h*), damit ſie bei der Beruͤhrung eines ſchar-
fen und verlezzenden Koͤrpers haͤufig zuflieſſen moͤge,
und daß die Abſonderung der Thraͤnen ohne Huͤlfe des
runden Muſkels zunehmen koͤnne. Jch habe naͤmlich
geſehen, wenn ich ein ſalziges Pulver auf die zottige
Haut des Grimmdarmes ſtreuete, daß unter meinen Au-
gen dieſe Bekleidung von ganz kleinen Troͤpfchen naß
wurde. Eben dieſes hat auch der ehedem beruͤhmte
Meibom(i) an den Augen erfahren; und ich habe es
am Speichel, bei Beruͤhrung der ſcharfen cevadilla,
nicht ohne Ungemaͤchlichkeit ſelbſt wiederholet. Die Ur-
ſache, warum dieſe Abſonderung haͤufiger geſchicht, iſt
noch nicht bekandt, doch ſcheint ſie in den Nerven zu
ſtekken (i*).
Eine andere Urſache koͤmmt auf den Zufluß des Blu-
tes nach dem Kopfe an, wenn ſolcher ploͤzzlich geſchicht.
So erzeugen ſich die Thraͤnen, und flieſſen die Bakken
herab, bey uͤbermaͤßigem Lachen, Nieſen, und im Hu-
ſten, wie ich gar zu oft an mir ſelbſt erfahren muß.
Noch eine andere Urſache beruhet auf eine zarte Lei-
denſchaft, es mag ſich nun ſelbige mit der Freude, oder
mit der Betruͤbniß vereinigen. So flieſſen bei der
A a a 3Freu-
[742]Das Geſicht. XVI. Buch.
Freude uͤber das groſſe Gluͤkk eines Freundes, oder
uͤber ein bewundernswuͤrdiges Beiſpiel einer Tugend, ſo
man lebhaft ſchildert, Perſonen von empfindlichen Sin-
nen, die Thraͤnen haͤufig in die Augen. Und daß dieſes
die Traurigkeit bewirke, iſt Jedermann bekandt.
Bei dieſem Affekte vereinigt ſich zugleich eine beſon-
dere Art des Athemholens, wobei das Blut mit mehr
Schwierigkeit durch die Lunge fließt (k); doch geſchicht
dieſes nicht nothwendiger Weiſe: denn es laufen auch,
ohne ſolches mit einem Geſchrei vermiſchtes Weinen, ſtil-
le Thraͤnen von den Wangen der Frauenszimmer haͤufig
herab, da doch bei viel groͤſſern Hinderungen des Blu-
tes in der Lunge (l), und ſo gar im Seitenſtechen ſelbſt,
keine Thraͤnen zum Vorſchein kommen. Jch kann mir
auch nicht vorſtellen, daß die Menge der zum Kopfe
geſtiegenen Feuchtigkeiten, durch Abfluß der Thraͤnen
auf eine anſehnliche Art, vermindert werden koͤnne (m).
Eben ſo wenig ſcheinen, bei dieſer Erregung der Thraͤnen,
die Muſkeln viel zu thun zu haben (n): denn man wird,
auſſer einem maͤßigen Verſchlieſſen der Augen, welche
das ſich ſelbſt uͤberlaſſene obere Augenlied verrichtet,
kaum etwas mehr dabei beobachten koͤnnen (o). Es
hat aber das Erheben der Mitte an der Unterleffze das
Niederlaſſen der Seiten, und der unter dem Auge lie-
genden Theile, keine Macht uͤber die Thraͤnenwege.
Man ſagt, daß auch Thiere in traurigen Affekten
weinen, wenigſtens ſollen dieſes die Pferde (p), Hir-
ſche, der traͤge Vogel (q), und die Schildkroͤte (r) thun;
und
[743]I. Abſchnitt. Werkzeug.
und man will, daß Thiere von verſchiedenen Arten,
wenn man ſie gefangen, und dem Tode uͤbergeben, ſeuf-
zen und weinen. Der Pigmaͤe weint, und bedekkt
ſein Geſichte mit der Hand (r*).
Ohne Zweifel wird ein groſſer Theil der Thraͤnen
in geſunden Menſchen wieder eingeſogen: denn es finden
ſich uͤberall im menſchlichen Koͤrper einſaugende Blut-
adern, welche mit den ausduͤnſtenden Schlagadern zu-
ſammen paſſen, und man hat auch Anzeigen, daß der-
gleichen im Auge vorkommen. Jch habe mittelſt des
erweichenden Waſſers oͤfters Gerſtenkoͤrner, Entzuͤndun-
gen, und unterlaufenes Blut zertheilt; und ich haͤtte
der Krankheit nichts anhaben koͤnnen, wenn dieſes Waſ-
ſer keine reſorbirende Poros gefunden haͤtte. Schon
die Alten pflegten bei unterlaufenen Blutſtellen Tauben-
blut einzutroͤpfeln (s), welches man auch bei der Farbe
und Entzuͤndung, die vom niedergedruͤkkten Staar zu
erfolgen pflegt, zu thun gewohnt geweſen (t).
Doch es iſt noch ein anderer Weg uͤbrig, auf wel-
chem der Ueberfluß der Thraͤnen zur Naſe abfließt, und
dieſen muͤſſen wir nunmehr beſchreiben.
Wegen der nahen Lage, wollen wir dieſe beiden
kleinen Theile kuͤrzlich beſchreiben.
Es hat dieſe Druͤſe im ſechzehnten und ſiebenzehnten
Jahrhunderte zu vielen Jrrthuͤmern Anlaß gegeben, in-
dem die Phyſiologi im Auge zwo Druͤſen verlangten,
und die Zergliederer auſſer dieſer caruncula keine andere
fanden, welche den Namen einer untern Druͤſe bei den
Alten fuͤhren koͤnnte. Und dennoch hatte hier Riolan
einen Unterſcheid gemacht (u).
Sie iſt laͤnglich, und nach auswendig zu kegelfoͤrmig,
als ob ſie in einen Schwanz ausliefe, roͤthlich, und be-
ſteht aus der Membran des innerſten Theils des dritten
Augenliedes, welche ſich mit den beiden groͤſſern Augen-
liedern und mit einem haͤufigen Fadengewebe verbindet,
welches weich iſt, und in einen laͤnglichen Koͤrper ſich
verwandelt, der nach der Queere gelagert iſt, in einem
Anhaͤngſel der Augenliederſpalte, welches ſich im innern
Winkel befindet. Sie legt ſich zwiſchen denjenigen Theil
des Augenliedes ein, welcher inwendig am Thraͤnenloche
liegt (x), und welcher am Menſchen (y) aus denen, in
einen ſpizzen Winkel zuſammengehenden Augenliedern
entſteht.
Jn dieſem Koͤrperchen ſtekken viele (z) ſchmierige,
rundliche, ziemlich groſſe (a) Druͤſen, die Loͤcher ha-
ben, welche kleine (b), und kaum ſichtbare Haare,
die
[745]I. Abſchnitt. Werkzeug.
die zuweilen in Krankheiten lang werden (c), hervor-
bringen.
Duverney ſagt, daß ſie mit aͤhnlichen Kernchen
umgeben iſt (c*).
Sie hat mit den Thraͤnpunkten, und mit dem Thraͤn-
nenwege (d) nichts gemein, und durch ſie laufen ganz
und gar keine Thraͤnen: ſondern ſie haͤlt den untern
Theil der Augenlieder in der That von einander, und
zwar an beiden Seiten, um die Thraͤnen zum Still-
ſtande zu bringen, und ſolche gegen das inwendige En-
de der Augenlieder zu ſammeln, woſelbſt ſich genau die
ſo genannte Thraͤnenpunkte frei erheben, und gleichſam
gegen das lezzte abhaͤngige Ende der Augenliedſpalte,
die gegen die Naſe gekehrt iſt, vorragen. Sie ſon-
dert auch eine ſchmierige Feuchtigkeit ab (e), welche,
wenn ſie ſich in dieſer Gegend ſammelt, unter dem Na-
men der Augenſchmier (lema) bekandt iſt. Man findet
ſie in den Voͤgeln (f) und vierfuͤßigen Thieren.
Es iſt dieſes im Menſchen einige ſchwache Nachah-
mung von dem Bau der Thiere. Sie beſteht im Men-
ſchen aus einer bleichen mondfoͤrmigen Falte einer ge-
doppelten Haut (g), welche vor der Thraͤnendruͤſe, oder
hinter derſelben, indem ihre Lage nicht immer einerlei iſt,
A a a 5von
[746]Das Geſicht. XVI. Buch.
von dem innern Augenwinkel nach auswendig hervor-
koͤmmt. Sie iſt uͤberhaupt ſehr klein, geſichelt, indem
ihre Hoͤrner herauf und herab laufen, und ihr holer
Mitteltheil nach auſſen gekehrt iſt. Wir verſtehen ihren
Nuzzen ſehr wenig. Sie iſt indeſſen beweglich, und
erhebt oder verbirgt ſich (g*) oft. Sie iſt an den vier-
fuͤßigen Thieren groͤſſer (h), hart, knorplich (h*), als
am Ochſen (i), Biber (i*), der Kazze (k), dem Schwei-
ne, tayacu(l), Philander, opaſſum(m), Baͤren (n),
Elephanten (o); und wiederum groͤſſer an den Voͤ-
geln (p), denn ſie iſt an ſelbigen ſo lang, daß, wenn
ſie von einem beſondern Muſkel uͤber das Auge gezogen
worden, das Auge ganz bedekken kann. Daher haben
viele Schriftſteller von dieſem dritten Augenliede bei
dem Adler (q), Beinbrecher (r), kalekutiſchen Hah-
ne (s), der Nachteule (t), Strauſſen (u), Kaſuar (x),
der Gans (y), Erwaͤhnung gethan. Daher kommt es,
daß in das innerſte Auge derjenigen Thiere, die des
Nachts auf Raub ausgehen, und eine ſehr weite Pu-
pille haben (z), eine Menge Licht dringt, und diejenigen,
wel-
[747]I. Abſchnitt. Werkzeug.
welche in vollem Lichte der Atmoſphaͤre leben, und ſo
gar in die Sonne ſehen muͤſſen (a). Dieſe Thiere ha-
ben ein Auge, welches ſich zugleich bei dem geringſten
Lichte oͤffnet, und dennoch gegen den ſtaͤrkſten Glanz
des Lichtes geſichert iſt. Es kann dieſes dritte Augen-
lied auch die Hornhaut von den eingefallenen Koͤrper-
chen rein wiſchen, (b) und ſchaͤdliche Koͤrper vom Auge
abhalten.
Es iſt in den Fiſchen ebenfalls zugegen, und es hat
daſelbſt auch ſeinen Muſkel, wie am galeus(c), ſcom-
ber(d), Stokkfiſche (e), an allen Plattfiſchen uͤberhaupt (g).
Dergleichen hat auch die Schildkroͤte (h) mit ihren Mu-
ſkeln, der Krokodil (i), das Kamaͤleon (k), und der Froſch,
ob es gleich durchſichtig iſt (l). Auſſerdem bedekken ſich
die Fiſche oft mit der gemeinſchaftlichen Haut ſelbſt (l*).
Es findet ſich auch an den warmen Fiſchen, als am
Meerkalbe (m), der Seekuh (n), an welcher es knorp-
lich iſt. Der Blakkſiſch hat ſeine beſondere Au-
genbeſchuͤzzung (o). Man hat geſehen, daß es ſich
an der Kazze (p), Froſche u. ſ. w. uͤber das Auge
gezogen (q).
Vidus ſcheint es unter dem Namen eines Knorpels
anzuzeigen (r). Am Menſchen, welcher das Auge mit
der Hand reinigen, und auf vielfache Art, ſowohl ge-
gen das zu viele, als zu wenige Licht Mittel finden
kann, iſt es nur klein.
Es ragt das wirkliche Ende des Augenliedes, und
derjenigen Linie, welche von dem inwendig gelagerten
Augenknorpel beſtaͤtigt wird, bei dem Anfange des An-
haͤngſels der Augenlieder, wovon wir geredet haben (s),
und dem inwendigen Ende der Thraͤnendruͤſe (t) um et-
was hervor, mit einem weiſſen, warzfoͤrmigen (u) Huͤ-
gelchen, woſelbſt am Augenliede, das, was uͤbrig iſt,
in einer andern Richtung gegen ſein Ende fort laͤuft (x).
An dieſem Huͤgelchen zeiget ſich, etwas weiter nach in-
wendig zu, als die Linie des Augenknorpels liegt, auf
beiden Seiten ein aͤhnliches und gleich groſſes, nicht
eben ſo kleines Loch, daß man nicht eine Vorſte leicht
einſtekken koͤnnte, und dieſes gehet um deſto leichter an,
weil ſich bei jedwedem Loche, zwar kein Knorpel (y),
aber doch ein haͤrtliches und ſchwielartiges Fadengewebe
befindet, welches dieſe Punkte niemals zuſammenſinken
laͤſſet (z), noch verſtattet, daß ſie nach Art einer Spalte,
wie andere Loͤcher, denen dieſe Anlage fehlet, zuſam-
men fallen. Sie ſtehen, wenn man das Auge offen
haͤlt,
[749]I. Abſchnitt. Werkzeug.
haͤlt, von einander, und beruͤhren ſich einander, ſo bald
ſich daſſelbe ſchlieſſet.
Dieſe Sache war bereits dem Galen(a) und Ve-
getius(b), welcher von der Vieharzneikunſt geſchrie-
ben, und mehrern bekandt, welche die Zergliederungs-
kunſt verbeſſert haben (c); doch hat ſie Fallopius in
Richtigkeit gebracht (d), und die Neuern haben ſie wei-
ter fortgeſezzt.
Die Thraͤnpunkte kommen auch an den Vierfuͤßi-
gen (e) und Voͤgeln vor. Am Adler hat ſie Borri-
chius(f), an der Eule Petit(f*), am ſcope numidica
die Pariſer(g) beſchrieben.
Es muß ein ſonderbarer Fehler geweſen ſein, wenn
Mell ganz kleine, oder gar keine Thraͤnpunkte (h)
gefunden; und Fabricius hat Unrecht, wenn er ih-
rer vier, in beiden Augenwinkeln zween, geſehen haben
will (i).
Sie halten, weil ſie enge ſind, fremde Koͤrper ab,
welche hineinfallen wollen, und thun dem Ruͤkkfluſſe
aus dem Thraͤnenſakke Widerſtand.
Ein jedes Thraͤnenpuͤnktchen fuͤhret zu einem Gange,
welcher zwiſchen den Platten (k) des Anhaͤngſels der
Augenlieder, hinter den unter der Haut befindlichen
Faſern des runden Muſkels (l) verſtekkt, zart, der
Erfahrung gemaͤs reizbar iſt (m), und welcher eine
Fortſezzung des Oberhaͤutchens, und der in der Naſe
verduͤnnten Haut iſt, und mit der Schleimhaut zuſam-
men laͤuft.
Es ſind dieſe Gaͤnge viel breiter, als die Thraͤnpunkte
vermuthen laſſen (n),(o), wie ich oft geſehen, wenn ich
den einen zudruͤkkte, und den andern mit blaugefaͤrbtem
Fiſchleim anfuͤllete. Es iſt aber ihr Weſen ungemein
zart, und weislich (p). Sie laufen in den Thraͤnpunkten,
in einem kurzen Striche gerade aus, der untere auf-
waͤrts, der obere herab (q), und ſie aͤndern hierauf ihre
Richtung. Wenn ſich das Auge ſchlieſſet, ſo legen ſich
beide in die Queere: oͤffnet es ſich, ſo ſteigt der obere
herab (r) und der untere legt ſich allezeit uͤberzwerch (s),
wie ich an lebendigen Menſchen geſehen habe. Der
obere
[751]I. Abſchnitt. Werkzeug.
obere iſt um etwas laͤnger (t) und kleiner. Sie ſind
nicht voͤllig gerade (t*), und um etwas laͤnger, als die
Haut, welche ſie enthaͤlt.
Einer von ihnen laͤuft uͤber die Thraͤnendruͤſe, der an-
dere unterhalb derſelben weg, und ſie nehmen alſo ſelbi-
ge mitten zwiſchen ſich. Bald ſcheinen ſie ſich an zween
verſchiedenen Orten in den vordern Theil (u) des Thraͤ-
nenſakkes (u) zu oͤffnen, wie ich an eingeſtekkten Bor-
ſten, und gefaͤrbten Einſprizzungen (x) geſehen habe,
bald nur an einer einzigen Stelle: da naͤmlich zwiſchen
dem obern und untern Gange ein geringer Zwiſchen-
raum vorhanden iſt, und beide ſich nur mit Gefahr von
einander trennen laſſen, weil hier das Fadengewebe,
welches ſie abſondert, eine calloͤſe Art an ſich hat (y),
ſo reden die meiſten Schriftſteller nur als von Einem
gemeinſchaftlichen Gange, in welchen beide Thraͤnen-
gaͤnge zuſammenlaufen (z). Jndeſſen meldet doch Mor-
gagni(a), daß er ſehr kurz ſei, und es erhellet zur
Gnuͤge, daß Zinn eben dergleichen, als wir daran
beob-
(x)
[752]Das Geſicht. XVI. Buch.
beobachtet habe (b). Jch leſe, daß ſie von einem
Schließmuſkel eingefaßt ſein ſollen, ob ich gleich davon
nichts weiß (b*).
Auch dieſe Sache war bereits den Alten bekandt;
Galen(c) und Vegetius wußten ſchon davon (d):
indeſſen hat ſie doch vornaͤmlich Fallopius(e) wieder
in den Gang gebracht, und nach der Zeit Steno-
nius(f). Nach der Zeit, da man die Wundarznei-
kunſt mit groͤſſerer Sorg alt ſtudirte, hat ſich Domi-
cius Anel(g), und andere Neuere, die Beſchreibung
dieſer Kanaͤle beſſer angelegen ſein laſſen; und ich habe
ſie ebenfalls mehrmalen mit Fleiß unterſucht. Einige
haben, ohne alle Wahrſcheinlichkeit, dem Ludwig
Bilſius die Ehre der Erfindung zugeſchrieben (h).
Man findet ſie ebenfalls in den Vierfuͤßigen und Voͤ-
geln (i).
Was will man unter den unwillkuͤhrlichen Thraͤnen-
ſprizzen an dem aͤuſſerlichen Augenwinkel eigentlich ver-
ſtehen (k)? Doch ich ſehe nicht ein, warum Stahl(l)
geſchrieben, daß der Eiter in einer Thraͤnenfiſtel nur
aus dem obern Thraͤnengange hervorkommen ſoll.
Dieſer wurde zugleich mit den Gaͤngen ſelbſt be-
kandt: denn es wußte ſchon Galen, Avicenna und
Vegetius, nebſt andern Alten, daß dieſelben nach der
Naſe zu fuͤhren. Es iſt vom Salomon Alberti(m)
genauer beſchrieben worden. Nur waren beruͤhmte
Maͤnner nicht darinnen eins, ob man ihn ſchlechtweg
den groſſen Gang nennen muͤßte (n); oder ob man
an dieſem Gange zwei Stuͤkke zu betrachten habe, eines
unter der Haut, welches man gemeiniglich den Thraͤ-
nenſakk nennet, und dasjenige, welches durch die da-
zwiſchen liegende Knochen herab laͤuft, und von andern,
ein Naſengang geheiſſen wird.
Es iſt alſo der Thraͤnenſakk, damit wir die Be-
ſchreibung theilen moͤgen, um ein gutes Theil groͤſſer,
als die Kanaͤle, welche die Thraͤnen herbei bringen.
Seine aͤuſſere Bekleidung beſteht aus einer dichten,
fadenartigen gleichſam aponeurotiſchen Membran; die
inwendige aus der eigenen rothen und pulpoͤſen Schleim-
haut (o), welche von der Naſe dahin hinaufſteigt (p),
und an welcher beruͤhmte Maͤnner, wie an der Naſe,
Druͤſen geſehen haben wollen (q), die ganz klein ſind,
und, welche ich ebenfalls einmal zu Geſichte bekom-
men
H. Phiſiol. 5. B. B b b
[754]Das Geſicht. XVI. Buch.
men habe. Es ſtehet dieſe mittelſt des Fadengewebes
mit den darunter liegenden Knochen in Verbindung.
Sie hat an ihrer Oberflaͤche eine Bekleidung von laͤn-
gern Faſern; und man glaubet, etwas aͤhnliches von
einer Sehne gewahr zu werden (r). Sie wird aber
vom runden Muſkel der Augenlieder bedekkt, deſſen
Band queer uͤber dem Gange, gegen das Lager der ein-
geſenkten Thraͤnenkanaͤle, nach der Queere laͤuft. Die
Figur des Sakkes iſt einigermaaſſen eifoͤrmig (t): we-
nigſtens endigt ſich ſein oberes blindes Ende (u) ober-
halb der Jnſertion der Thraͤnengaͤnge in eine hinaufge-
kehrte Convexitaͤt, ſo wie es unterwaͤrts mit einer Oeff-
nung in den Naſengang fortgeht.
Er ſtekkt vornaͤmlich im Thraͤnenknochen, und im
Naſenfortſazze des obern Kieferknochens (x) faſt ſenk-
recht, nur daß er gegen die hintern Theile ein wenig
herabgeneigt iſt. Sein inwendiges Ende liegt am vor-
ragenden Joche des Thraͤnenknochens, an welchem es
feſte anhaͤngt (y). Sein oberſtes Ende erhebt ſich ein
wenig uͤber dem Bande des runden Muſkels. Sein
unterſtes Ende ſtoͤßt an den innern ſchiefen Muſkel des
Auges, von welchem ich einige Faſern ſich offenbar in
den Sakk werfen geſehen habe. Andere reden von einem
beſondern Muſkel (z). Diejenige Anmerkung, daß
der
[755]I. Abſchnitt. Werkzeug.
der obere Theil von einer Klappe gleichſam in zween
Theile getheilt geweſen, in deren hintern der Thraͤnen-
gang inſerirt geweſen (a), verdient den Namen einer
Seltenheit.
Groſſe Maͤnner haben vermuthet, daß dieſer Sakk
auch von andern Orten her, auſſer den Thraͤnenpunkten,
einige Feuchtigkeit bekomme (b). So hat P. Pau-
lus Molinellus, da keine Thraͤnenpunkte mehr
vorhanden waren, dennoch, wenn man den Sakk druͤkk-
te, aus der Naſe ein haͤufiges Waſſer herausflieſſen
geſehen (c). Einen aͤhnlichen Vorfall beobachtete der
beruͤhmte Gunz, da die Gaͤnge verſtopft waren. Da
ferner B. Zinn(d) Wachs einſprizzte, ſo fuͤlleten ſich
zugleich die durch die Augenlieder zerſtreuete Gefaͤſſe
aus. Man koͤnnte glauben, daß es ausduͤnſtende
Schlagadern ſind (e).
Gemeiniglich laͤuft mit dem Sakke ein Stuͤkk eben
dieſes Thraͤnenkanals, der in den Knochen enthalten iſt,
ohne irgend unterſchieden zu ſein, in eins fort. Dem-
ohngeachtet ſagen doch beruͤhmte Maͤnner, daß er bei
dem Anfange des im Knochen enthaltenen Theils, von
einer Klappe, welche aber nicht eben den ganzen Kanal
abgrenze, unterſchieden werde. Dieſes habe ich ein
einziges mal eben ſo befunden (f).
Aus dieſem Sakke begiebt ſich der Naſengang, wel-
cher etwas ſchmaͤler, als ſein Sakk iſt, in eine knochige
B b b 2Roͤhre.
[756]Das Geſicht. XVI. Buch.
Roͤhre (g). Dieſe bildet anfaͤnglich die Augenhoͤlen-
platten des vornehmſten Kieferknochens (h), nebſt dem
Thraͤnenknochen (i); unterwaͤrts aber die mit dem Thraͤ-
nenknochen verbundene vordere aufſteigende Platte, des
untern ſchwammigen Knochens (k), und durch deſſen
Zwiſchenkunft unterſcheidet er ſich vom highmoriſchen
Sinus. Er laͤuft uͤberhaupt ein wenig ruͤkkwaͤrts (l),
und auch etwas weniger nach auſſen fort, und er kruͤmmt
ſich bisweilen erſtlich nach auſſen, und hierauf etwas
wenig nach inwendig zu. Es ſind auch ſeine Durch-
meſſer nicht alle gleich groß (m): denn er pfleget gerne
zuſammengedruͤkkt zu ſein (n), und auſſerdem iſt er oͤf-
ters an der Mitte ein wenig ſchmaͤler (o).
Seine Muͤndung befindet ſich endlich in dem unter-
ſten Naſengange, und in dem Winkel, den der unterſte
ſchwammige Knochen mit ſeinem Bogen beſchuͤzzt (p)
nicht weit von dem knochigen Ende der Naſe, gemei-
niglich oberhalb dem zweeten und dritten Bakkenzahn (q).
Sein Ausgang iſt ungleich, indem die Membran, wel-
che den Gang ausmacht, unterwaͤrts weiter vorlaͤuft,
und dieſe haben einige fuͤr eine Klappe ausgegeben (r);
oben
[757]I. Abſchnitt. Werkzeug.
oben iſt der Ausgang kuͤrzer. Es iſt eben dieſe Muͤn-
dung um etwas enger, als der uͤbrige Gang (s), und
ein aͤrts hineingekehrt. Jch habe das Blaͤschen nicht
finden koͤnnen (t), in welches ſich dieſer Gang oberhalb
dem Ende, nach Art eines Trichters verſtekken ſoll (u).
Da aber zuverlaͤßige Schriftſteller auch davon reden (x),
ſo muß hier eine Verſchiedenheit im Bau Statt finden.
Die ſchiefe Jnſerirung, und die vorſtehende Mem-
bran verurſachen, daß man an todten Koͤrpern, und
noch weniger in lebendigen Menſchen, nicht leicht
durch die Naſe eine Borſte in den Thraͤnengang brin-
gen kann (y).
Die Alten kandten dieſen Weg nur oben hin, ob ſie
gleichwohl wußten, daß hier der Weg zur Naſe fuͤhret.
Sie leiteten auf ſelbigem einen Nerven in die Naſen-
haut (z). Fallopius hat ihn kuͤrzlich (a), und Salo-
mo Alberti zuerſt richtig beſchrieben (b).
Es hat ſonſt mit ihm eben die Beſchaffenheit, als mit
dem Sakke, und man will an dieſem Theile des Na-
ſenganges ebenfalls Druͤſen geſehen haben (c). Man
trift ihn auch in den Thieren an, und er fuͤhret
ebenfalls in den Vierfuͤßigen und Voͤgeln (d) zur
Naſe hin.
Daß ſich die Thraͤnen auch nach andern Orten ver-
laufen, und daß ein Theil derſelben aus dem Thraͤnen-
ſakke, in der Naſenſpizze (d*), unter dem mittlern zu-
geſpizzten Knochen, (welches ſonſt der obere iſt) (e) nie-
derſteige; daß ein anderer Theil ſich in den highmori-
ſchen Sinus ausleere (f) iſt zwar eine Vermuthung von
einem guten Schriftſteller, aber weder durch einen Ver-
ſuch dieſes beruͤhmten Mannes, noch eines andern Zer-
gliederers beſtaͤtigt geworden. Etwas dergleichen, aber
dunkles, traͤgt Mellius vor (g). Sie haben auch im
Thraͤnenknochen ihre Loͤcher (h), doch ſind der Sakk
und die Gaͤnge verſchloſſen, und behalten die einge-
ſprizzte Feuchtigkeit in ſich.
Um die Straſſe der Thraͤnen zur Naſe zu erklaͤren,
muͤſſen wir die Beſchreibung dieſes Muſkels voraus-
ſchikken, welchen die Schriftſteller von der Zergliede-
rungskunſt auf verſchiedene Weiſe, bald fuͤr einen (i),
oder zween, ja auch mehrere (k) Muſkeln gehalten
haben.
Es befindet ſich naͤmlich ein eigenes (l), ziemlich har-
tes, faſt knorpelartiges Band, in der Gegend der in
den Naſenſakk inſerirten Thraͤnengaͤnge, welches ſich
von dem Naſenfortſazze des obern vornehmſten Kiefer-
kno-
[759]I. Abſchnitt. Werkzeug.
knochens (m) der Queere nach allmaͤhlich ſchwaͤcher, bei
dem innern Winkel, und in das innere Ende der Haut,
die das Augenlied ausmacht, hineinwirft.
Nun verſteht man unter dem Namen des runden
Muſkels, eine Schicht von Fleiſchfaſern, die viel brei-
ter, als der Umfang der Augenlieder (n) iſt, und wel-
che allenrhalben unter der Haut um die Augenhoͤle her-
umgeht, an den Augenbranen (o), und am aͤuſſern Win-
kel gegen die Schlaͤfe breiter (p), ſo wie unterhalb der
Augenhoͤle: aber oberhalb derſelben, ſonderlich bei dem
innern Winkel ſchmaͤler iſt. Jn dieſe Schicht miſchen
ſich von obenher Faſern vom Stirnmuſkel, und Runz-
ler, und vom langen (p*) mit ein. Die ganze Schicht
iſt an der Schlaͤfe beweglich, ohne an einem Knochen
anzuhaͤngen (p**).
Jhre Enden ſind verſchieden, und gehemmet. Ein
Theil verlaͤngert ſich an beiden Seiten in beide Augen-
lieder (q), und dieſen haͤlt man fuͤr einen verſchiedenen
Muſkel (r). Er lieget unter der Haut, auf dieſer gan-
zen Laͤnge bis zum Augenknorpel. Es ſind hier die Fa-
ſern um ſo viel gekruͤmmter, je naͤher ſie dem Rande
der Augenhoͤle, ſonderlich dem innern Rande liegen;
und um deſto gerader (s), je naͤher ſie dem Knorpel
kommen: ſie ſind hier dikker (t), ſo daß beruͤhmte
Maͤnner aus dieſen Faſern einen beſondern Muſkel
B b b 4machen,
[760]Das Geſicht. XVI. Buch.
machen, welchem ſie den Namen des ciliaris bei-
legen (u).
Der groͤſſere Theil des Muſkels, der zur Augenhoͤle
gehoͤret, wirft ſich in das beſchriebene Band (x) von
beiden Seiten hinein: ein Theil ſenket ſich in den Stirn-
knochen (y) und Naſenfortſazz (z) des Oberkiefers, und
ſowohl ober, als unterhalb dem Bande ein. Ein welcher
ſich von der obern Gegend gegen die untere herumzieht,
laͤuft ſowohl gegen das innere Band, als uͤber daſſelbe,
und uͤber den Thraͤnenſakk fort (a).
Ein Theil des Augenliedmuſkels endigt ſich am Knor-
pel: ein Theil haͤngt am Queerbande feſte (b); und end-
lich durchkreuzt ſich ein Theil der obern Faſern, bei bei-
den Vereinigungen der zwei Augenlieder, unter ſehr un-
gleichen Winkeln, mit den untern Faſern eben dieſes
Muſkels (c).
Da der feſte Punkt dieſes Muſkels an dem innern
und mittlern Theile befindlich iſt, der bewegliche Theil
hingegen an den Augenbranen, und Schlaͤfen: ſo zie-
het daher der runde Muſkel, wenn er wirkſam iſt, aller-
dings das obere Augenlied, und zwar deutlich herab,
und ſtrekket ſolches unterhalb dem Aequatore des Auges
aus (d): hingegen hebt er das untere, doch ſchwaͤcher,
wiewohl gewiß uͤber ſich in die Hoͤhe, bis der Kanal al-
lein, wovon wir geredet haben, wenn die Augenlieder
zugezogen worden, uͤbrig bleibt. Auf ſolche Art halten
wir die zu groſſe Menge Licht von den innern Theilen des
Auges
[761]I. Abſchnitt. Werkzeug.
Auges ab, um uns der Annehmlichkeit des Schlafes zu
uͤberlaſſen. Doch wir bedienen uns dieſes Muſkels auch
zu einem ſchaͤrfern Sehen, und davon werden wir am
andern Orte weitlaͤuftiger reden.
Da dieſer Muſkel zugleich inwendig feſter iſt, ſo ſam-
melt ſich, alles, was ſich uͤber das Auge ergieſſet, ver-
mittelſt ſeiner uͤbereinſtimmigen Thaͤtigkeit, in dem in-
nern Winkel (e), und in diejenige Gegend, welche gleich-
ſam an der Augenliederſpalte ganz inwendig iſt, wo ſol-
che Dinge von der Thraͤnendruͤſe, von dem dritten Au-
genliede, von den Vorragungen der Thraͤnenpunkte,
und von dem untern darunter liegenden Augenliede an-
gehalten, und deſto leichter geſammelt werden, weil in
dieſer Gegend eine Stelle zwiſchen den Falten der bloſ-
ſen Haut befindlich iſt, welche wenig Widerſtand thut,
und von den Knorpeln des Augenwinkels (f) gedruͤkkt
wird. Folglich laufen hier die Thraͤnen zuſammen, und
hier ſammeln ſich die Fliegen und andere beſchwerliche
Koͤrper, welche auf das zuſammenfuͤgende Haͤutchen fal-
len. Es faͤngt ſich daher in der That das Zuſammen-
ziehen des runden Muſkels im aͤuſſern Winkel an, und
laͤuft gegen den groͤſſern Winkel fort (g). Zugleich
vereinigt ſich mit dem Weinen ein oͤfteres Zuſammen-
ziehen des runden Muſkels (h).
An dieſer Stelle ragen diejenigen kleinen Huͤgel her-
vor, an denen ſich die Thraͤnenpunkte befinden. Wenn
man annimmt, daß dieſe Punkte entweder wie eine
B b b 5gebo-
[762]Das Geſicht. XVI. Buch.
gebogene Sprizze, und durch den Drukk der Luft, Waſ-
ſer in ſich ſaugen, weil an dieſer Sprizze der kuͤrzere
Schenkel eingetaucht iſt; oder wenn man ſich vielmehr
vorſtellt, daß dieſes kleine Roͤhrchen nach Art der Haar-
roͤhrchen, Waſſer in ſich zieht, ſo treten die Thraͤnen in
den Thraͤnenpunkt, und wenn ſie endlich in den gleich-
namigen Sakk gebracht worden, ſo laufen ſie ferner,
vermoͤge ihrer Schwere zur Naſe herab. Daß ſich das
Waſſer (i) aber nicht nach Art der Sprizzen einziehe,
laͤßt ſich daher ſchlieſſen, weil die Thraͤnen in den un-
vernuͤnftigen Thieren, die den Kopf hochhalten, und
im Menſchen, wenn er liegt, durch ihre Schwere in
Gaͤngen, die in der That in die Hoͤhe gehen (k), von ihrer
Schwere keine Huͤlfe bekommen, und weil dennoch der
Thraͤnenſakk angefuͤllet wird, wenn ſich gleich der Weg
der Thraͤnen von Urſachen, die in der Naſe entſtehen,
verſtopft hat, und alsdenn das eingenommene Waſſer,
von welchem er ſich zu befreien unvermoͤgend iſt, durch
die Punkte wieder ausgieſſet (l).
Andere wollen, daß die Thraͤnen von dem Drukke
der Luft in die Punkte gepreßt werden (m): ich halte
aber dieſe Punkte fuͤr zu enge dazu; indem die Luft
die Feuchtigkeiten nicht einmal in Haarroͤhrchen hin-
eintreibt.
Vor kurzem glaubte man, daß dieſes Geſchaͤfte ver-
mittelſt der Anziehungskraft geſchehe (o), weil gefaͤrbte
Troͤpfchen zwiſchen den Augenliedern ſchnell in die Hoͤhe
ſteigen (p), und ein Salbencilinder, den man zwiſchen
die geſchloſſene Augenlieder (q), ſchiebe ihre ganze Ober-
flaͤche
[763]I. Abſchnitt. Werkzeug.
flaͤche von inwendig ſchwarz faͤrbet. Doch es wird der
Weg laͤngſt den Augenliedern offenbar von den Muſkeln
verrichtet (r).
Daß das Waſſer vermittelſt der Anziehung in die
Punkte wieder aufgenommen werde, wird durch das
Exempel der Haarroͤhrchen wahrſcheinlich.
Sie breiten ſich in einer weinenden Perſon, bei der
ſtaͤrkern Arbeit, billig weiter aus (r*).
Es geſchehe dieſe Sache indeſſen wie ſie will, ſo iſt
es doch gewiß, daß der natuͤrliche Weg der Thraͤnen
durch die Punkte in beide Gaͤnge, durch dieſe in den Sakk,
hinauf in den Naſengang, und in die Naſe fuͤhre, und
daß der unterſte Gang der Naſe davon angefeuchtet
werde.
Eben dieſen Weg nimmt ein Faden, den man in
den Thraͤnenpunkt ſtekkt (s), oder eine Borſte, oder
Waſſer, welches man durch eine ſubtile Sprizze ein-
ſprizzt (t) leichtlich, und es iſt bereits vorlaͤngſt ange-
merkt worden, daß der Geſchmakk der Augenſalben im
Munde, folglich allerdings durch die Naſe zu ſpuͤren
ſei (u), und daß in die Augen geſprizztes Waſſer den
Stuhlgang befoͤrdert habe (x).
Wenn daher einige unter den Alten und Neuern (y),(z)
Zergliederern den Thraͤnen einen umgekehrten Weg an-
gewie-
[764]Das Geſicht. XVI. Buch.
gewieſen, und ſie aus dem Sakke durch die Punkte ins
Auge ſich ergieſſen laſſen; ſo haben ſie einen der Natur
zuwider laufenden Weg vor ſich geſehen, und dieſes
koͤmmt auch nicht ſelten vor, wenn ſich der Thraͤnen-
gang in der Naſe verſtopft, oder in ſterbenden Men-
ſchen die kleinen Schließmuſkelchen erſchlaffen (a), da
denn die Thraͤnen ſelbſt (b) Eiter, oder eine aus Eiter
und Schmier gemiſchte Materie, durch dieſe Punkte
zuruͤkke tritt. Und auf ſolche Art iſt auch die in der
Naſe verhaltene Luft (c), und das Blut, in getoͤdteten
Voͤgeln (d), oder der Rauch von angezuͤndetem Ta-
bak (d*) durch dieſe Punkte zum Vorſchein gekommen.
Schon lange her hat J. Franco(e), Tagliaco-
tius(f) die Wahrheit davon eingeſehen; und Mei-
bom(g), Glaſer(h) und Duverney(h*) fuͤr den
Jrrthum gewarnet. Ziemlich richtig ſchreibt Sal.
Alberti(i) daruͤber, und Nic. Maſſa lehret die
Wahrheit (k).
Jn der Naſe koͤnnen die Thraͤnen die empfindende
Membranen anfeuchten, und den Schleim verduͤnnen.
Ob die Thraͤnen ſo gar in den Mund durch den du-
ctus inciſorius abflieſſen, und ob man dieſe Kanaͤle mit
Recht zu den Speichelkanaͤlen rechnen koͤnne (l), wie
vor kurzem M. Bordeu(m) behauptete, ſoll anders-
wo unterſucht werden (n); indeſſen ſehe man nach, was
wir
[765]I. Abſchnitt. Werkzeug.
wir von den Augenſalben und dem Alcohol geſagt ha-
ben (n*). Es iſt aber, um kurz davon zu reden, die-
ſer Kanal blind. Daß ein Gang von den Thraͤnen-
gaͤngen zum Zahnfleiſche herabgehe, ſcheint eine Muth-
maſſung zu ſein (o).
Es verſchließt der runde Muſkel das Auge; und
das Sehen, dieſes vornehmſte Geſchaͤfte des Auges, giebt
demſelben Befehl, es zu oͤffnen.
Das obere Augenlied ziehet ſowohl der Stirnmuſkel
ſelbſt, welcher die Augenbranen und den runden Mu-
ſkel in die Hoͤhe zieht (p), als auch der beſondere He-
bemuſkel des obern Augenliedes in die Hoͤhe.
Es entſtehet dieſer mit den Augenmuſkeln von der
Bekleidung des Sehenerven, in Geſtalt eines ſehnigen
Weſens (q), wie ich oft geſehen habe, neben dem Roll-
nerven (patheticus). Er laͤuft nach vorne gerade zu;
er beſteigt die Augenkugel (r), und liegt zum Theil in-
wendiger, als der gerade obere Muſkel, zum Theil
oberhalb demſelben, und durchſchneidet ſelbigen uͤber
das Kreuz. Er biegt ſich um den groͤſten Zirkel der
erhabenen Kugel, wird vom runden Muſkel des Augen-
liedes bedekkt, nimmt eine ſehnige Beſchaffenheit an (s),
breitet ſich in Geſtalt eines Triangels aus (t), und wirft
ſich
[766]Das Geſicht. XVI. Buch.
ſich entweder in den obern Augenknorpel (u), oder in die
naͤchſte Haut (x). Folglich hebt er das ganze Augen-
lied in die Hoͤhe, und oͤffnet fuͤr das Licht das Auge. Er
wirkt bei Verliebten, und in der Bewunderung (y).
Er war ſchon den Alten, und vielleicht ſelbſt dem Ga-
len bekandt, da die Araber (z), welche den Galen
auszuſchreiben pflegten, ſchon davon reden. Doch lie-
ſet man in den Galeniſchen Schriften, welche noch
uͤbrig ſind (a), daß die ſchiefe Muſkeln in die Augen-
knorpel inſerirt werden. Die Ehre, dieſen Muſkel
wieder auf die Bahn gebracht zu haben, eignen ſich
Arantius(b) und Fallopius zu (c). Jndeſſen eignet
ſie doch ſelbſt Veſal dem Euſtach zu (d).
Das untere Augenlied iſt nicht unbeweglich, wie ich
bei einigen leſe (e). Jch habe wahrgenommen, daß es
ſich an lebendigen Menſchen, und ſonderlich in dem
empfindlichen Geſchlechte niederlaͤßt, und gegen den in-
nern und aͤuſſern Winkel zu bewegt (f).
Jch habe naͤmlich gefunden, daß vom runden Muſkel
der Augenlieder, allezeit zween oft auch drei Pakke aus
deſſen untern Theile herauslaufen.
Das aͤuſſerſte dieſer Paͤkke laͤuft aus der Nachbar-
ſchaft der Wangenknochen, zu dem kleinern Jochmu-
ſkel (g) herab, und ſtreicht mit ſelbigem zum Winkel
der Leffzen fort. Dieſes Pakk zieht zugleich die Augen-
lieder nach auswendig hin.
Das zweete Pakk, welches ebenfalls faſt immer zu-
gegen iſt, iſt gedoppelt, oder dreifach, entſteht von
eben demſelben, liegt mehr nach innen zu, als der er-
ſtere runde, und ſenkt ſich einwaͤrts gegen die Ober-
leffze herab (h).
Beide koͤnnen den untern runden niederdruͤkken.
Das dritte innerſte Pakk geſellet ſich oft zu dem be-
ſondern Hebemuſkel der Oberleffze (i). Dieſe beide zie-
hen das Augenlied herab und einwaͤrts.
Eben dieſes iſt der Niederdruͤkker der Augenlieder,
welcher von der Wurzel der Augenwimpern entſpringt,
ſich in den innern Winkel der Augenhoͤle inſerirt, und
das untere Augenlied umgiebt. Von ihm redet Ber-
nardin Genga(k). Vielleicht iſt es der faſciculus
acceſſorius des runden Muſkels beim Joſias Weit-
brecht(l).
An den unvernuͤnftigen Thieren iſt oftermals das un-
tere Augenlied beweglicher, als das obere, als an den
Voͤ-
[768]Das Geſicht. XVI. Buch.
Voͤgeln (m), am indianiſchen Huhne (n) und andern;
an den Schlangen (o), und auch an der Schildkroͤte (p).
An der Eule iſt das obere beweglicher (q): am Strauſſen
bewegen ſich beide faſt mit gleicher Freiheit (q*), ſo wie
an andern Voͤgeln (r).
Das dritte Augenlied hat ſeinen beweglichen Mu-
ſkel (s), welcher auch am Froſch vorkoͤmmt (t).
Man lieſet hin und wieder, daß die Bewegung der
Augenlieder nicht (u) willkuͤrlich geſchehe, und daß ſie
wider Willen verrichtet werde, vielleicht weil es die Hy-
potheſe fuͤr nothwendig erachtet hat. Allein ſie gehor-
chen doch in der That dem Willen der Seele, ob ſie ſich
gleich hie und da bei einer undeutlichen Empfindung
von Beſchwerlichkeit, oder von uͤbermaͤßigem Lichte, mit
einem geringen Bewußtſein bewegen. Das Auge
ſchließt ſich wider unſern Willen, wenn man ſich fuͤrch-
tet; und es ſtehet unter dem Befehl der Seele, wofern
wir uns nicht fuͤrchten. Derjenige aber, welcher ſich
fuͤrchtet, will einem Uebel ausweichen. Unter einer
Menge Fechter konnten wenige, ohne Nikken, die Stoͤſſe
auffangen, und dieſes waren die Tapferſten (x).
Es iſt dieſes die lezzte, allernaͤchſte und ſicherſte
Beſchuͤzzung fuͤr das Auge, und ſie leiſtet dem Men-
ſchen, vor allen andern Thieren, ſo viel ich deren kenne,
den meiſten Schuzz (z). So iſt auch am Menſchen,
vor allen andern Thieren, ein groͤſſerer Theil der Augen-
hoͤle knochig.
Augenhoͤle haben die Zergliederer (a) denjenigen un-
foͤrmigen, dennoch aber von der Enge erweiterten, faſt
uͤberall knochigen Trichter genannt, in welchem die Au-
genkugel mit allem Gefolge von Muſkeln, Nerven,
Gefaͤſſen, und haͤufigem weichen Fette enthalten iſt.
Die Augenhoͤle zeichnet ſich einigermaaſſen, als ein
Dreiekk (b), und enthaͤlt drei dreiſeitige Flaͤchen; dar-
unter die obere die Stirnflaͤche, die innere die Naſen-
flaͤche, die auswendige die Schlaͤfenflaͤche iſt.
Das Stirndreiekk lieget unter dem Gehirne, iſt
hinterwaͤrts etwas hol, wo es mit dem Schlaͤfendreiekke,
zuſammenſtoͤßt, iſt es tiefer niedergedruͤkkt, und hier zei-
get ſich die groͤſſere Thraͤnendruͤſe. An dieſem Stuͤkke
offenbaret ſich auch das Loch des Sehnerven, welches in
den Keilknochen eingehauen iſt.
Es verbindet ſich mit dem Schlaͤfendreiekke eine be-
ſtaͤndige Naht, und hinterwaͤrts trennet es ſich davon
durch eine ungleiche dreiekkige Luͤkke, die nach auſſen zu
geſchwaͤnzt iſt, und rima lacera geheiſſen wird.
Es iſt die fortlaufende Naht auch von dem Naſen-
ſtuͤkke getrennet, und endiget ſich endlich in die gabella.
An dieſer Naht ſind zwei, oder drei Loͤcher, welche
Schlagadern und Nerven einwaͤrts hineinlaſſen. Das
obere Ende endigt ſich mit einem maͤßig vorragenden,
und mit der Stirn in eine Schaͤrfe zuſammenwachſen-
den Rand, woran ſich eine Rinne zu den Gefaͤſſen und
Nerven, die zur Stirn laufen, zeigt.
Das Naſenſtuͤkk der Augenhoͤle iſt flach, und gemei-
niglich etwas wenig erhaben. Dieſes Stuͤkk wird erſt-
lich vom Keilknochen von einem geringen Stuͤkke des
Gaumenknochens (b*), das ſich von unten gleichſam
heranſchmiegt, ferner von dem flachen, und dem mit
dem flachen zuſammengehaͤngten Knochen des obern
Kinnbakkens, endlich vom Thraͤnenknochen, der vorne
tief eingedruͤkkt iſt, und es flach macht, gebildet. Es
iſt vom Schlaͤfenſtuͤkke durch eine lange Luͤkke, welche
man die Keikieferrizze nennt, getrennt; doch wird
es vorne, von einem Theile des Wangenknochens, der
in die Augenhoͤle reicht, vollendet. Ueber die Mitte
dieſer Spalte hinaus, zeiget ſich der Kanal, welcher
den Nerven unter der Augenhoͤle, und die Schlagader
zum Antlizze durchlaͤßt.
Der vordere Rand macht auch einen Bogen, der etwas
erhabener, und oberwaͤrts hol iſt.
Das Schlaͤfenſtuͤkke, faͤngt ſich vom groſſen Keil-
fluͤgel an, wird vom Wangenknochen gebildet, iſt ein
wenig ausgehoͤlt, und wird vom Naſenſtuͤkke und Stirn-
ſtuͤkke
[771]I. Abſchnitt. Werkzeug.
ſtuͤkke theils durch die Nahten, wovon ich geredet, theils
von einer Luͤkke getrennet. Auch dieſes hat ſeine Loͤcher,
welche Gefaͤſſe und Nerven in die Schlaͤfengrube durch-
laſſen.
Die Augenhoͤlen ſind nach auſſen zu gekehrt, ſie ſind
einander bei dem hintern Anfange nahe, und vorne
mehr von einander entfernet (c). Jnwendig laͤuft die
Augenhoͤle weiter, von auſſen iſt ſie kuͤrzer, ſo daß der
aͤuſſere Winkel zugleich der hintere iſt (d).
Man ſagt, daß an den Kalmukken die Augen wei-
ter von einander ſtehen (e).
Die ganze Augenhoͤle iſt von auſſen von einem Fort-
ſazze der harten Gehirnhaut bekleidet, welche durch das
Sehloch und die fiſſura lacera ankoͤmmt, und weiter
mit dem Knochenhaͤutchen des Angeſichts fortlaͤuft.
Sie haͤngt ſich nicht feſte an, wie ſie an den duͤnnen
Knochen zu thun pflegt (f).
Es iſt das Auge im Menſchen, und in allen mir
bekannten Thieren, beinahe kugelfoͤrmig (g),
und nur vorne flacher, es raget, nachdem ſich die
Convexitaͤt in der Mitte vermindert, ein etwas erhabne-
res Kugelſegment vor, und es iſt auſſerdem der Durch-
meſſer, welcher von vorne nach hinten geht, und etwas
laͤnger, als derjenige, welche von der rechten, nach der
linken gezogen wird (h). Uebrigens nimmt es die vor-
dere Gegend der Augenhoͤle ein, ſo wie die inwendige
Gegend, ſo daß der Regenbogen dem innern Winkel
naͤher liegt (i). Es iſt convexer an jungen und ſtarken
Perſonen voller Saͤfte, und in einigen kurzſichtigen (k),
weniger convex hingegen in alten und ſchwaͤchlichen Per-
ſonen. Jch finde, daß das eine Auge convexer, das
andere flaͤcher geweſen (l).
An den Voͤgeln (m) und Fiſchen (n) iſt es vorne viel-
mehr flach gedruͤkkt, und an den Fiſchen iſt es hinten
ebenfalls (o). Es iſt an einigen vierfuͤßigen Thieren
convexer, als im Menſchen, wie am Maulwurfe (p),
Haſen, Kaninchen (q), an der Fledermaus (r), und
eben dieſe haben hinten flaͤchere Augen (s). Auſſerdem
ragen ſie am Kaninchen und Haſen an den Seiten
vor (t).
Jch leſe, daß ſie in allen Thieren zu den Durchſchnit-
ten Zirkel haben (u). Jch finde aber bei einem zuver-
laͤßigen Schriftſteller, eine ſonderbare Beſchreibung von
den Augen des egyptiſchen Krebſes (x), und man iſt bei
dieſer Figur nicht gewiß, ob die Sectionen deſſelben
zirkelrund ſind. Es waͤre dieſes moͤglich, wofern ſie
Feuchtigkeiten in ſich faſſen.
Was die Groͤſſe betrift, ſo verhaͤlt ſich dieſe verkehrt,
wie die Groͤſſe der Thiere. So hat der Wallfiſch (y),
das Naſenhorn, und der Elephant kleine Augen, und
ſie ſind an den Jnſekten ſehr groß, wie auch an den
Voͤgeln (z), ſo daß uͤberhaupt die Augenhoͤle groͤſſer,
als die uͤbrige Hirnſchale, und an einigen auch das Auge
C c c 3ſelbſt
[774]Das Sehen. XVI. Buch.
ſelbſt groͤſſer, als das Gehirn iſt (a). Der Adler hat
ſehr groſſe Augen (b), und dieſes gilt auch vom Hahn (b*).
Sie wachſen mit den erſten Theilen eines thieriſchen
Koͤrpers (c), und ſie haben am Huͤhnchen eine erſtaun-
liche Groͤſſe (d), ſo lange es im Eie ſtekkt. Auch unter
den Fiſchen giebt es einige, welche groſſe Augen haben,
und die groͤſſer als das Gehirn ſind (e), und zwar um
ein Anſehnliches. Jm Kamaͤleon iſt ebenfalls die Au-
genhoͤle groͤſſer, als das Gehirn (f), und ſo auch im
Froſche (g). Auch ſollen in den maͤnnlichen Thieren
die Augen groͤſſer ſein (h), als in den weiblichen.
Wir betrachten den Sehnerven von der Stelle an,
wo er ſich mit dem Pferdsſattel vereinigt. Um denſel-
ben genauer zu beſchreiben, muͤſſen wir zeigen, daß der
Sehnerve die Geſtalten der Dinge ins Gehirn bringe;
oder, es geſchehe auch das Sehen, wie es immer will,
daß dennoch dieſer Sinn vom Sehnerven abhaͤnge (i).
Dieſes zeigen vornaͤmlich die Krankheiten. So ent-
ſteht von dem im Sehnerven ſtokkenden Blute (k) eine
Blindheit. Eben dieſes eraͤugnet ſich, wenn der Seh-
nerve
[775]II. Abſchnitt. Das Auge.
nerve gedruͤkkt (l), verhaͤrtet (m), zerſtoͤhret (n), und
geſchwaͤcht worden (n*). Dergleichen ruͤhret auch von
Geſchwuͤlſten her, die den Sehnerven druͤkken (o).
Oder von der ſchwellenden Schleimdruͤſe, (p) von einem
Steine in dieſem Nerven (q); von einem Gehirn-
ſchwuͤre und gemindertem Sehnerven (r) von Waſ-
ſer, ſo auf den Sehnerven druͤkkt (s) von einem
Waſſerkopfe (t), von der Verlezzung der Hirnſchale,
und des Gehirns (u), von niedergedruͤkkter Hirnſchale (x),
von einer Erſchuͤtterung, und unter der Hirnſchale er-
goſſenem Blute, ob dieſe Blindheit gleich gehoben wer-
den kann, und von mir geheilet worden, vom Falle von
der Hoͤhe. Hieher kann man diejenigen Arten von
ſchwarzem Staare rechnen, welche vom Fallen (x*) ent-
ſtanden, und durch Aderlaſſen und Purgiren gehoben wor-
den (x**). Jn dergleichen Falle wurde eine Blindheit
C c c 4erſt
[776]Das Sehen. XVI. Buch.
erſt den fuͤnf und zwanzigſten Tag (y) gehoben. Bis-
weilen werden Perſonen von Trunkenheit ſchwach am
Geſichte, oder gar blind (y*).
Nun tritt am Tuͤrkenſattel der rechte Sehnerve zum
linken, und vereinigt ſich mit ſelbigem dergeſtalt (z), daß
ſie nicht blos mit ihren Membranen zuſammenwachſen,
noch ſich blos einander uͤberkreuzen, ſondern ſich in einem
ziemlichen groſſen Raͤumchen mit ihrem ganzen Marke
vermiſchen (a), ſo viel das Auge unterſcheiden kann: und
auch dieſer Raum iſt im Menſchen nicht ganz kurz (b),
faſt vierſeitig, und in einigen Thieren noch laͤnger (c).
Dergleichen Vereinigung trift man in allen vierfuͤßi-
gen Thieren an, und man muß davon weder das Wieſel-
chen ausnehmen (d) noch dem Loͤſel Glauben beimeſſen,
welcher die Sehnerven unvereinigt geſehen haben will (e).
Doch man ſieht auch, daß ſie an den kalten Vierfuͤßigen
vereinigt ſind, wenn man genauer darnach ſucht, wie
am Froſche (f), an der Natter (g), Eidechſe (h), Ka-
maͤleon (i) und den Schnekken ohne Haus (k). Endlich
laufen dieſe Nerven auch an den Voͤgeln in eins (l).
Man zweifelt noch, ob dieſes an den kalten Fiſchen
ſtatt finde. Es giebt beruͤhmte Maͤnner, welche von den
meiſten (m), oder von allen Fiſchen (n) behaupten, daß
ſie darinnen in keiner Verbindung ſtehen (o): indeſſen
nehmen ſie doch einige aus (p), oder ſie geſtehen es, daß
ſie ſich, wiewohl nur mit der Oberflaͤche vereinigen (q).
Jch habe ſie in keiner Art von Fiſchen vereinigt geſehen,
weil ſie ſich nicht vereinigen, da wo ſie aus der Hirn-
ſchale herauskommen, und auf einander liegen. So-
bald aber ihre hintere Wurzel zwiſchen den Kammern
und dem untern Huͤgelchen des Gehirns hervorkoͤmmt,
alsdenn finde ich beſtaͤndig, daß ſie ſich mit einem ſehr
groſſen, und ganz deutlichen Queerbalken vereinigen.
Doch es wird auch der ſtreifige Theil der Kammern
(thalami) von dieſem Nervenſeile, ſo wie von einer obern
Nervenſaite zuſammengehaͤngt, welche mit dem vordern
Gehirnbande weiterlaͤuft.
Bei denen Thieren, darinnen ſich die Sehnerven
vereinigen, koͤnnte man noch fragen, ob ſie ſich uͤber-
haupt und blos ſo vereinigen, daß das ganz und gar
nicht vermiſchte Mark des rechten Nerven zum rechten
Auge, und das Mark des Linken zum linken Auge
fortlaufe.
Oder ob es gegentheils uͤbers Kreuz gehe, daß das
rechte Auge den linken Sehnerven, und das linke den
rechten in ſich nimmt.
Oder ob ſich endlich beiderlei Mark vermiſche, und
das rechte Auge zugleich vom linken Nerven einigen Mark-
vorrath, und ſo das linke vom rechten erhalte.
Fuͤr die Durchkreuzung ſind die Fiſche ein Exempel (r),
und die Krabben, die Einſiedler (s). Jch habe ſelbſt
geſehen, daß in verſchiedenen Fiſchen (s*) der linke Seh-
nerve auf dem rechten liegt, und ohne alle Vermiſchung
einiger Faſern, nach dem rechten Auge zu laͤuft; und
daß eben ſo der rechte, doch tiefer liegend, in das linke
laͤuft. Cheſelden iſt Zeuge, daß von einer Verwun-
dung des linken Auges, nicht an der linken, ſondern rech-
ten Kopfſeite, Schmerz und Laͤhmung erfolgt iſt (t),
und es glaubt der beruͤhmte Petit, daß es ſchon aus der
Zergliederung ſelbſt erhelle, daß der linke Nerve wirk-
lich zum rechten Auge hingehe (u).
Doch es ſtreiten uͤberhaupt gegen dieſe Hypotheſe, viele
ſowohl alte als neue Krankheitsfaͤlle. So war in dem
Berichte des Veſals(x) das rechte Auge ſowohl vor der
Vereinigung, als hinter derſelben kleiner, als gehoͤrig iſt,
da ſich doch das linke in vollkommenem Zuſtande befand.
Weiter ſahe Caͤſalpin(y) einen Menſchen, deſſen
rechtes Auge ſchwach war, und an dem doch an eben
der Seite, und nicht an der linken Seite der Sehnerve
erſchlafft, und der rechte gut war. Eine aͤhnliche Ge-
ſchichte melden Werner Rollfink(z), und der groſſe
Zerglie-
[779]II. Abſchnitt. Das Auge.
Zergliederer J. Dominicus Santorin(a), und der
beruͤhmte Bertrand(b). An einem blinden Hunde,
war der Sehnerve an der Seite des blinden Auges haͤr-
ter, und duͤnner (c), und man traf hinter der Vereini-
gung nichts fehlerhaftes an.
Da ſich dieſes nun ſo verhaͤlt, ſo ſcheinet daraus zu
folgen, daß die Alten Recht gehabt zu ſagen, daß das
rechte Auge vom rechten Sehnerven, und das linke vom
linken das Vermoͤgen zu empfinden herhabe, und die-
ſes war auch die Meinung der geſammten Schule ſo (e);
indem es vor dem Galen Leute gab, welche lehrten,
daß ſich dieſe Nerven durchkreuzen, und dieſes wider-
legte Galen ſelbſt (f).
Jndeſſen geben doch viele beruͤhmte Maͤnner zu, daß
hier einige Verbindung ſtatt finde, daß ſich das innerſte
Weſen der Nerven mit einander vereinige, ſo wie einige
glauben, daß beide Augen von beiden Nerven (g) ein
gemiſchtes Mark bekommen. Wenigſtens ſchrieb Ga-
len(h) daß ſich die Gaͤnge mit einander vermiſchen,
und davon komme es her, daß wenn ein Gang ver-
ſtopft worden, alle Lebensgeiſter in den andern uͤber-
gehen (i).
Die Gruͤnde zu dieſer Meinung ſind folgende: daß
wir mit zweien Augen ein einziges Object ſehen (k),
daß wenn ſich ein Auge beweget, ſich auch das andere
mit
(d)
[780]Das Sehen. XVI. Buch.
mit bewegt: daß Krankheiten ſehr leicht von einem Au-
ge zu dem andern uͤbergehen, und daß ſich Entzuͤndun-
gen, welche auch von Wunden herruͤhren, ſo wie ſo
gar die Blindheit, von einem Auge zum andern fort-
pflanzet (l).
Als das linke Auge verwundet war, zeigte ſich das
rechte gelaͤhmt (m): die chroniſchen Laͤhmungen machen
gemeiniglich beide Augen unbeweglich (n). Hiezu kann
man noch fuͤgen, daß keine andere Urſache, dieſe Ver-
einigung zu bewerkſtelligen, welche bei dieſen Nerven,
als dem einzigen Exempel ſo weitlaͤuftig bei verſchiede-
nen Thieren vorkoͤmmt, vorhanden iſt. Man ſagt
auch, daß unter allen Thieren, das Kamaͤleon allein (o)
ſeine Augen auf verſchiedene Weiſe bewege, und mit
dem einen hinauf, mit dem andern aber herabſehen
koͤnne. Dieſes ſoll davon herruͤhren, daß ſich in dieſer
Eidechſe die Sehnerven nicht mit einander vereinigen (p).
Daß hierunter etwas wahres zu ſtekken ſcheine, daß et-
was aber auch eine andere Auslegung anzunehmen, iſt
eine Sache, welche ich noch beruͤhren muß. Daß ſich
beide Augen im Menſchen zugleich bewegen, ſcheinet
nicht ſo wohl von den Sehenerven, als von der aͤhnli-
chen Nothwendigkeit beider Augen, wegen der Veraͤn-
derung des Lichts, und der Lage des ſichtbaren Objekts
abzuhaͤngen: denn es bewegen ſich ſowohl die Augenlie-
der, als der Stern zugleich mit (p*), und es bekom-
men die Muſkeln, wodurch dieſe Bewegungen veranlaſ-
ſet
[781]II. Abſchnitt. Das Auge.
ſet werden, nicht vom Sehnerven, ſondern vom drit-
ten, fuͤnften und ſiebenten, ihre Aeſte her. Man ſagt
noch, daß ſich beide Augen zugleich, kraft der Gewohn-
heit (q) bewegen laſſen. Doch es haͤtten dieſe Schrift-
ſteller, auch die Urſache von dieſer Gewohnheit nennen
ſollen. Ohne Zweifel ſehen auch Jnſekten ein einziges
Bild, da man doch von dieſen gezeiget hat, daß in ih-
nen die Sehnerven ſehr zahlreich ſind, ſich nirgendswo
vereinigen (r), und es entſpringen in ihnen endlich, wel-
ches ſehr merkwuͤrdig iſt, die Sehnerven aus verſchie-
denen Staͤmmen, welche auch nach andern Theilen hin-
gehen (s). Wir empfinden auch den Schall einfach, ob
derſelbe gleich in zweien Ohren vorgehet (t).
Vom Kamaͤleon haben wir gezeiget, wie es falſch
ſei, daß ſich die Sehnerven in demſelben nicht ver-
einigen (u).
Jndeſſen ſcheinen doch die Krankheiten, und der Au-
genſchein ſelbſt, vermuthen zu laſſen, daß hier etwas
wahres mit unterlaufe (x). Denn wenn die Natur
ſchlecht weg die Sehnerven, aͤuſſerlich und bis zur Ober-
flaͤche haͤtte vereinigen wollen, ſo haͤtte ſie dieſes, nicht
mit der Vermiſchung des Marks, ſondern durch ein
Fadengewebe leicht erhalten koͤnnen, welches beide Ner-
ven bei ihrer Vereinigung verbunden haͤtte. Endlich
bekoͤmmt die gemeinſchaftliche Bewegung beider Augen
nicht von den Muſkeln, ſondern ſelbſt von dem verei-
nigten Marke der Sehnerven ihren Anfang. Man er-
weiſet nehmlich, daß die Verengerung des Regenbo-
gens
[782]Das Sehen. XVI. Buch.
gens, die vom Lichte herruͤhret, vom Nezzhaͤutchen ge-
ſchehen. Doch es erweitert ſich auch der Regenbogen
eines geoͤffneten Auges ohne Veraͤnderung des Lichts,
wenn ſich der Regenbogen des geſchloſſenen Auges ver-
groͤſſert (x*), und im Staar zieht ſich mit dem guten
Auge oͤfters auch die Pupille des blinden Auges zuſam-
men (y). Vielleicht erſezzt in den Fiſchen der Queer-
ſtreif, welcher die Sehkammern vereiniget, da wo die
Sehnerven herauslaufen, die Stelle dieſer Vereinigung.
Daß ſich in dieſer Sache eine Verſchiedenheit zeige, und
daß einige Sehnerven einzig und allein nahe an einan-
der liegen, andere hingegen unterſchiedentlich nach ihren
Augen hinlaufen, ſcheinet zu unbeſtaͤndig, und der Wei-
ſe der Natur widerſprechend zu ſein (z).
Es wird der Sehnerve von ſeiner Vereinigung mit
dem Nebennerven, in das Loch, welches in dem keil-
foͤrmigen Knochen eingeſchnitten iſt, aufgenommen, und
von da laͤuft er weiter nach vorne, nach auſſen, und ein
wenig herab durch die Augenhoͤle fort (a).
Es beweget ſich auch derſelbe nicht wie man in gemei-
niglichen Figuren zeichnet, nicht in gerader, ſondern ein
wenig ſchlangenfoͤrmiger Linie (b), aber doch ſo, daß
er gerade iſt, wenn man ſeine Beugungen vergleichet.
Er iſt zugleich ein wenig zuſammengedruͤkkt (b*). Er
naͤhert
[783]II. Abſchnitt. Das Auge.
naͤhert ſich aber der Augenkugel, und ſchließt ſich an die-
ſelbe an, und zwar mit einem ziemlich merkwuͤrdigen
Stuͤkke, und etwas mehr nach inwendig zu (c), als die
Achſe der Laͤnge zu ſehen iſt, ſo daß das Stuͤkk von der
Augenkugel nach der aͤuſſeren Seite des Nerven zu, viel
groͤſſer als dasjenige iſt, welches ſich nach deſſen innern
Theilen zu kehret. Dieſe Neigung behalten die meiſten
Thiere (d), und man ſiehet ſie am Kalbe, Schaafe, der
Kazze, Hunde, Pferde (e) und in den meiſten Voͤ-
geln (e*), wie auch Fiſchen. Jndeſſen leſe ich doch,
daß es Thiere gebe, in denen der Nerve beinahe (f) in
den Mittelpunkt des Auges, oder uͤberhaupt in die Ach-
ſe, und der Cryſtallinſe gegenuͤber, eintritt (g).
Wir muͤſſen dieſen Bau mit deſto groͤſſerm Fleiſſe
vortragen, da kein anderer Nerve in dem menſchlichen
Koͤrper ſo, wie dieſer, gebauet iſt. So bringt der Seh-
nerve ganz allein (h), ſo lang als er iſt, von dem Loche,
wo
(b*)
[784]Das Sehen. XVI. Buch.
wo er aus der Hirnſchale herauskommt, die hartige
Hirnhaut, und deren inneres Plaͤttchen ins Auge mit
ſich, und er iſt in derſelben, wie in einer runden Schei-
be (i), die aber doch weich und biegſam iſt (i*), von
allen Seiten eingeſchloſſen.
Doch zeigt ſich vornaͤmlich die duͤnne Gehirnhaut (k)
an dieſen Nerven (l) offenbar, und ſie macht davon eine
einzige Bekleidung, welche ſich auch mit einem Meſ-
ſerchen abheben laͤßt; und von dieſer Bekleidung iſt wie-
derum der ganze Nerve, und nicht blos deſſen einzelne
Schnure, wie ſonſten die Eigenſchaft anderer Nerven
iſt, eingewikkelt.
Jn der That kommen aus dieſer Bekleidung ſubtile
und faͤchrige Scheidewaͤnde (m) hervor, und wenn ſich
dieſe zwiſchen das Mark einſenken, ſo theilen ſie daſſelbe
auf verſchiedene Weiſe, doch aber nicht in deutliche
Schnuͤre, dergleichen man an andern Nerven findet.
Wenn man dahero das Mark ausdruͤkkt, ſo erſcheinet
der aufgeblaſene und trokke Nerve (n) faͤchrich (o). Es
ſollen dieſe Scheidewaͤnde in einigen Fiſchen die Geſtalt
eines gefalteten und gegen ſich zuruͤkkgeſchlagenen Tu-
ches (p) haben.
Endlich iſt in der Scheide, von der wir geredet ha-
ben, und welche von der duͤnnen Gehirnhaut entſprin-
get, ein Mark enthalten (q), welches in der Frucht
wie ein Gehirnmark, in erwachſenen Menſchen etwas
haͤrter, und am haͤrteſten in einigen Thieren iſt, der-
gleichen die Waſſervoͤgel ſind. Jch habe diejenige
faſerige Schnuͤre in Menſchen niemals geſehen (r), wel-
che anderen Nerven aͤhnlich ſein ſollen, obgleich an die-
ſen Nerven einige Streifen hervorkommen, welche nach
ſeiner Laͤnge laufen. Man kann an einem Ochſenauge
die Nervenſchnuͤre deutlich ſehen, welche ſich von der
duͤnnen Gehirnhaut einfinden. Dieſes zeiget ſich an
den Fiſchen, und ſo gar auch an den kleinen ganz deut-
lich: und es ſammlen ſich eben ſo, wie in dem groſſen
Euſtachianiſchen Fiſche ſo auch in den kleinſten Tro-
ctis die Markplaͤtchens in Falten, in eine einzige Schnur,
und eben ſo unterſcheidet ſich auch uͤberhaupt der Seh-
nerve im Reiher durch ſeine parallele Falten. Doch es
zeiget ſich auch das Fadengewebe, welches hier die Plaͤt-
chen verbindet, ganz leichtlich.
Da ſehr viele kleine Schlagadern, von denen ich am
andern Orte reden will, durch dieſes Mark, entweder
zum Auge hinlaufen, oder doch zu dem Weſen des Mar-
kes ſelbſt gehoͤren, ſo erſcheinen am Sehnerven pori(s),
wenn
H. Phiſiol. 5. B. D d d
[786]Das Sehen. XVI. Buch.
wenn man dieſen trokknet, nach einer Linie durchſchnei-
det, welche mit der Achſe perpendiculair laͤuft.
Unter dieſen kleinen Schlagadern befindet ſich eine
groͤſſere, welche wir am andern Orte beſchreiben wol-
len (t), und deren ziemlich groſſer Durchſchnitt bereits
den Alten bekannt war. Sie nannten ſie porus, oder
einen Gang, durch welchen die ſichtbare Geſtalten zum
Gehirn kaͤmen; und man hatte noch nicht Uebung ge-
nug, die Natur der Sache auszulegen, ob ſie gleich die
Sache ſelbſten ſehr wohl geſehen haben. Es iſt naͤm-
lich dergleichen Schlagader, deren Oeſnung an einem
zerſchnittenen Sehnerven deutlich uͤbrig bleibt, allezeit
im Menſchen (x), und in Fiſchen zugegen, wie auch an
den groſſen vierfuͤßigen Thieren, indem der Eingang
des Nerven in ihnen rund iſt, obgleich andere, welche
dem Galen zuwider ſind, weil ſie die Sache an einem
andern Orte geſucht haben, ſolches nicht geſehen haben
wollen (y). Es iſt in der That kein Gang, und er
kann auch keine Lichtſtrahlen durchlaſſen.
Der beruͤhmte Zinn vergleicht dieſe Streitigkeiten
mit einander (z), und will, daß dieſer porus in der
That erſt ſeit der Jnſertion der Mittelſchlagader des
Nezzhaͤutchen und nicht ehe ſichtbar werde, folglich nur in
der Nachbarſchaft des Auges zum Vorſchein komme.
Uebrigens begiebt ſich in allen Thieren, auch in dem
allerkleinſten der Nervenmark deutlich ins Auge, wie
man an den Bienen, Fliegen, Raupen (a), Krabben (b),
dem Einauge (c) mit ſo vielem unterſchiedenen Faͤden-
werke als kleine Augen vorhanden ſind, die ein einziges
groſſes ausmachen (d). Die Nerven ſind faſt allezeit
einfach, und ohne Aeſte. Jndeſſen machen ſie doch am
Blakfiſche nicht nur einen Knoten, ſondern ſie ſchikken
auch Aeſte zur Aderhaut des Auges (e); und es giebt
unter den Sehnerven der Raupen einer auch noch einen
andern Aſt von ſich (f), welcher auſſer dem Auge noch
zu andern Theilen hinlaͤuft.
Es dringt der Sehnerve ſowohl im Menſchen, als
in den vierfuͤßigen Thieren, tief in die Augenkugel hin-
ein, welches wir am andern Orte weitlaͤuftiger bemer-
ken wollen, und er haͤngt ſich an dieſe Kugel, durch
ein Fadengewebe aufs genaueſte an.
Es iſt aber in dieſer Gegend, wo ſie den angewachſe-
nen Sehnerven empfaͤngt, die aͤuſſerſte Bekleidung die-
ſer Kugel mit der harten Membran des Nerven genau
zuſammengewachſen. Es beſtehet dieſe weiſſe Beklei-
dung (g) aus einem dichten Fadengewebe, ſie iſt ohne
deutliche Faſern und Plaͤttchen (h) dichte und feſte, wird
von kleinen Gefaͤſſen (i) und wenigen und ſehr kleinen
Nervchens (k) durchſtrichen, und hat alſo wenig Em-
pfindung (l), ſie wuͤrde die ganze Augenkugel umflech-
ten, wofern ſich nicht an dieſelbe vorne die Hornhaut
anſchloͤſſe, zu deren Aufnahme ein rundes und etwas
ovales und gegen die Naſe zu breiteres Stuͤckchen,
naͤmlich die dunkele Hornhaut (Sclerotica) ausgeſchnit-
ten iſt.
Der hintere Theil dieſer dunklen Hornhaut iſt dikker
im Menſchen (m) und in den vierfuͤßigen Thieren, und
ſie wird vorne duͤnner, auſſer daß ſie bei der Einfuͤgung
der geraden Muſkeln von neuen etwas dikker zu werden
ſcheint (n). Doch es iſt dieſer Zuwachs dem Weſen der
dunklen Hornhaut zuwider, und ſie wird nicht wirklich
daſelbſt dikker (o). Sie iſt vorne in den Voͤgeln dikker,
und hinten zaͤrter. Jn den Waſſervoͤgeln iſt das aͤuſſe-
re Plaͤttchen haͤutig, und das inwendige hornartig. Sie
beſizzt keine andere Kraft ſich zuſammen zu ziehen, als
die, welche ſie mit allen Theilen des menſchlichen Leibes
gemein
[789]II. Abſchnitt. Das Auge.
gemein hat. Sie macht es, daß in Augenwunden die
glaͤſerne Feuchtigkeit, die Aderhaut, und die Nezzhaut
herausdringt (p).
Nun haben die Alten dieſe Haut (q) mit allgemeiner
Uebereinſtimmung fuͤr die Fortſezzung der harten Ge-
hirnhaut uͤber das Auge angeſehen, und ſelbſt einige
groſſe Maͤnner unter den neuern (r) halten davor, daß
man von dieſer Meynung nicht abweichen muͤſſe.
Man fieng daher im vorigen Jahrhunderte an, an
dieſer Fortſezzung zu zweifeln (s), weil die harte Haut
weniger dikk iſt (t), als daß ſie die dunkele Hornhaut
hervorbringen ſollte, da der Bau derſelben in Voͤgeln
und Fiſchen von der harten Haut unterſchieden, und
hin und wieder knorplich zu ſeyn ſcheinet.
Dahero behaupten die meiſten unter den neuern, daß
die dunkele Hornhaut (Sclerotica) eine beſondere (u),
und von der harten Haut unterſchiedene Bekleidung ſei,
wobei dennoch einige zugeben, daß die harte Haut, uͤber
der dunklen Hornhaut, gleichſam eine aͤuſſere Schaale
oder wenigſtens ein Fadengewebe uͤberwerffe (x), wel-
che die dunkle Hornhaut umgeben ſoll (y).
Morgagni(z), welcher die Zweifel der vorigen in
Ueberlegung zog, hatte doch mit den Alten einerlei Mei-
nung, und glaubte, daß die dunkle Hornhaut, ſowohl
in Menſchen, als in Hunden, vor der harten Gehirn-
haut eine Fortſezzung ſei. Man hat auch in der That
eine neue Erfahrung, die uns dieſen Bau vermuthen
laͤßt. Denn da das innere Plaͤttchen der dunklen Horn-
haut, von welchem wir ſogleich reden wollen (a), offen-
bar eine Fortſezzung von der duͤnnen Gehirnhaut iſt, ſo
wird dadurch ſehr wahrſcheinlich gemacht, daß die aͤuſ-
ſere Bekleidung des Auges, von der aͤuſſeren Membran
des Sehnerven eben ſo gebildet werde, wie die inwen-
dige Dekke des Sehnerven der Augenkugel ihre innere
Haut giebt.
Jndeſſen giebt es doch bisweilen gar zu ſichere Graͤn-
zen, zwiſchen den Sehnerven und der dunklen Horn-
haut (b): es ſind faͤchriche Faͤden vorhanden, die den
Nerven mit derſelben verbinden, und wenn man dieſel-
ben langſam, und mit Geduld wegſchneidet, ſo bleibt
an der dunklen Hornhaut (c) ein Loch: es laͤßt ſich auch
eine knorpliche Membran von einer weichen Bekleidung
nicht wohl herleiten (d); es durchbohret auch der Sehe-
nerve
[791]II. Abſchnitt. Das Auge.
nerve in vielen Thieren offenbar die dunkle Hornhaut,
und dahero aͤndere ich nunmehro meine Meynung, da
ich ſehe, daß die Hornhaut eine beſondere und jederzeit
beſtaͤndige Bekleidung ſei, mit welcher ſich die Beklei-
dung des Sehenerven mittelſt eines ſehr kurzen Faden-
gewebes vereiniget.
Ein Theil dieſer Bekleidung iſt bisweilen auch im
Menſchen, knochig befunden worden (e).
Die alten Schulen haben durchgaͤngig gelehret, daß
die Aderhaut (f) eine Fortſezzung von der duͤnnen Ge-
hirnhaut ſey, und ſie hatten darinnen nicht Unrecht. Es
hat naͤmlich Claudius Nicolaus le Cat uͤberhaupt
zuverlaͤßig bezeiget (g), daß die inwendige Bedekkung
des Sehenerven ſich in das beſondere Plaͤttchen der
Hornhaut verwandele, welches inwendig liegt, zart
und braun iſt, mit der dunklen Hornhaut einerlei Laͤnge
hat, und ſich in jungen Perſonen nur ſchwach, in er-
wachſenen aber feſte mit der dunklen Hornhaut verbin-
det (h), dergleichen man auch in andern vierfuͤßigen
Thieren findet. Daß aber die duͤnne Gehirnhaut ein
inneres Blaͤttchen haben ſoll, woraus die Aderhaut
wurde (i), dieſes finde ich nicht; und es erhellet mehr
als zu deutlich, daß auch nicht der Schriftſteller ſolches
D d d 4gefun-
[792]Das Sehen. XVI. Buch.
gefunden habe, welcher die Aderhaut, blos von den
Gefaͤſſen und kleinen Nerven entſtehen laͤßt (k), welche
inwendig aus dem wahren Plaͤttchen herauslaufen.
Man giebt dieſer ganz allein mit beſſerm Rechte den
Namen, den ſowohl die Alten (l) als neuern, ſonder-
lich unter den Franzoſen, mit der Sclerotica getheilet
haben: denn ſie iſt es ganz allein, die durchſichtig iſt,
und aus Plaͤttchen beſtehet; und ſie iſt uͤberhaupt in al-
len Arten von Thieren, welche Augen haben, und ſo
gar auch in den Fliegen (m), Sommervoͤgeln (n), Heu-
ſchrekken (o), Kefern (p), Spinnen (q) und Krebſen (r),
durchgaͤngig hart, trokken (s), und an den Schalen-
thieren ſehr feſte (t).
Jhre Figur iſt zirkelrund, doch verlaͤngert ſie ſich ein
wenig mehr nach inwendig gegen die Naſe zu (u). Sie
lieget dergeſtalt uͤber der dunklen Hornhaut, daß ſie erha-
bener iſt (x), und gleichſam als ein Segment einer klei-
nen Kugel auf der groͤſſern Augenkugel aufliegt, wel-
ches man ſowohl am Menſchen, an der Frucht und jun-
gen
[793]II. Abſchnitt. Das Auge.
gen Perſonen (y), als auch an den vierfuͤßigen (z), ja noch
beſſer in allen mir bekandten Voͤgeln (a), oder auch am
beſten an den Raubvoͤgeln ſehen kann (a*). Man hat
aber ihre Convexitaͤt ſo beſtimmt (a**), daß am Menſchen
der Durchmeſſer dieſer Kugel ſieben, achtehalb und ſie-
ben dreiviertel Linien (b) ſei, deren Segment die Horn-
haut iſt, ſo wie man acht Linien zum Durchmeſſer der-
jenigen Kugel auswirft, die das Auge ſelbſt vorſtellt (c).
Es ſind die Maaſſe des beruͤhmten Pemberton, wel-
cher der Achſe des Auges \frac{9}{10} engliſche Zolle giebt, und
die Hornhaut zu einer Kugel von \frac{8}{10} macht (d), oder
des Martinius nicht ſehr unterſchieden, welcher den
Radius zu fuͤnf und dreißig Linien ſchaͤzzt (e).
Sie iſt bei alten Perſonen (f) weitſichtiger, und neu-
gebohrnen Menſchen flaͤcher (g), an den Fiſchen ſehr
flach (h), ſehr dikke an der Kazze, und ungemein duͤn-
ne am Reiher.
Sie verbindet ſich ſchief mit der dunklen Hornhaut (i)
und zwar dergeſtalt, daß die Hornhaut darunter und
inwendig, die Sclerotica aber oberwaͤrts, und aus-
D d d 5wendig
[794]Das Sehen. XVI. Buch.
wendig (k) zu liegen koͤmmt; die lezzte vorne uͤber
der Hornhaut, dieſe aber hinterwaͤrts unter der Horn-
haut fortgehet. Auf ſolche Art iſt die Hornhaut von hin-
ten breiter, die Sclerotica aber von vorne breiter, ſo daß
der Unterſcheid beinahe den zehnten Theil einer Linie be-
traͤgt. Man kann dieſes an den wiederkaͤuenden ſehr
deutlich ſehen, und es iſt gleichſam die Hornhaut vorne
eine Fortſezzung von der Sclerotica, ſo wie ſie ſich von
hinten ſchief und ruͤkkwaͤrts an ſich ſchließt.
Jm Wolfe und dem Dachſe iſt die Hornhaut zugleich
inwendig laͤnger. Jm Haaſen enthaͤlt die Sclero-
tica ſowohl von vorne, als von hinten die Hornhaut
in ſich.
Nach einer langen Erweichung im Waſſer, wenn
man ſie in ſiedendes Waſſer wirft, ſcheidet ſich die Horn-
haut, und die Sclerotica von einander (l).
Vor der Hornhaut und vor der Sclerotica haͤngt
ein Vorhang, den die zuſammenfuͤgende Augenhaut
und das Oberhaͤutchen hergeben. Dieſer Vorhang
ſcheidet ſie von der Sclerotica, vermittelſt eines haͤufigen
Fadengewebes, in welchen ſowohl die Gefaͤſſe, welche
an lebendigen Menſchen ſehr bekannt ſind, und durch
Entzuͤndungen groͤſſer werden, wie auch ſehr empfind-
liche Nerven, laufen. Dieſer Vorhang haͤngt mit der
Hornhaut ſehr feſte zuſammen (m), er laͤſſet ſich aber
doch durchs Waſſer und Maceriren davon abſondern.
Jch habe bereits geſagt, daß auch das Oberhaͤutchen
vor der Hornhaut herablaufe (n).
Ob ſie ſich gleich mit der Sclerotica ſehr genau,
und oft mit Wechſelweiſe in einander laufenden Flam-
men (o) vereinigt, ſo hat ſie doch keinen ſehr verſchie-
denen Bau (p) von der Sclerotica. Es findet naͤmlich
an der Hornhaut jederzeit und in allen Thieren eine
Durchſichtigkeit ſtatt, welche oft und ſonderlich an Voͤ-
geln, auch nach ihrem Tode, wie auch an der trokkenen
Hornhaut noch ſtatt findet (q), wiewohl ſie ſonſt von ſie-
dendem Waſſer (r), gluͤendem Eiſen (s), und Benezzung
der ſauren, oder brennlichen Geiſter ihre Durchſichtig-
keit verliehret (t), und nach dem Tode dunkel wird.
Sie iſt an einem neugebohrnen Menſchen weniger durch-
ſichtig, und entweder roth (u), oder gelb gefaͤrbt, wie
ich einigemal geſehen habe. Sie iſt ſehr ſchoͤn an dem
Huͤhnchen, welches noch im Ey iſt. Mit den Jahren
wird ſie immer dunkler (x), und im Alter dunkel und
grau (y). Dahero iſt ſie von beruͤhmten Maͤnnern
nicht vollkommen durchſichtig geſehen worden. Wenn
man ſie uͤber eine Schrift haͤlt, ſo zeigen ſich die Buch-
ſtaben offenbar groͤſſer, wie wohl nicht ſo groß, als
wie bei der Cryſtallinſe; und ſie ſind ſehr groß, wenn
man ſie durch das Kaninchenauge ſieht (z).
Sie beſteht ferner aus Plaͤttchen (a), deren man
deutlich, ſo viel als man will, drei (b), vier (c), ſie-
ben (d), vierzehn (e), ſechszehn (f), nach der Reihe
mit einem Meſſer abheben kann; oder ſie ſcheiden ſich
auch in Krankheiten davon (g), da ſie von einem ſehr
zarten Fadengewebe (h) an einander gehaͤnget ſind. Der
dikkere Theil dieſes Plaͤttchens befindet ſich im Umkrei-
ſe, und der duͤnnere Theil mitten an der Hornhaut (i).
Sie iſt in der Frucht dikker (k), bis auf eine Linie (l),
und daruͤber (m) zugleich runzlicht (n), und uͤberſtei-
get in erwachſenen Menſchen kaum drei Linien (o). Sie
hielte ſieben und \frac{7}{10} theil vom Gewichte der Atmoſpheraͤ
aus, ehe ſie zerriß (p).
Jn den mehreſten Voͤgeln haͤngt ſie, da wo ſie ſich
mit der dunkeln Hornhaut vereiniget, in einem knorp-
lichen oder knochigen Ringe (q).
Uebrigens werden dieſe Plaͤttchen von vieler Feuch-
tigkeit (r) angefeuchtet, welche ſich entweder zwiſchen
dieſelbe, und zwiſchen die feſten Theile ergießt, oder in
den ungemein kleinen Gefaͤßchen enthalten iſt, und die
man Tropfen vor Tropfen aus den Poris (s) druͤkken
kann (t), nach dem Stich einer Nadel hervorkommen,
in Sterbenden herausſchwizzen (u) und von ſelbſten nach
dem Tode ausdunſten (x), wodurch die Hornhaut ſo-
gleich weniger dikk, und zugleich glaͤtter wird. Dieſe
Membran ſauget durch eben dieſe Schweißloͤcher das
Waſſer in ſich, in welches man ſie wirft, geſchwind
davon auf (y), und da das in lebendigen Thieren einge-
zogene Waſſer nunmehr mit dem Waſſer einerlei Kraft
Strahlen zu brechen bekommt, ſo hoͤrt auch die Horn-
haut auf, ein convexer Spiegel zu ſein (y*). Ein be-
ruͤhmter Mann rechnet dieſe Poros zur Tunica adna-
ta(z), doch ſie ſind auch alsdenn noch zugegen, wenn
man auch gleich dieſe adnata weggeſchaft hat.
Folglich hat dieſe Hornhaut eine beſondere Beſchaf-
fenheit an ſich, und mit der weichen Schmiere, oder
Knor-
[798]Das Sehen. XVI. Buch.
Knorpeln etwas gemein. Sie iſt ohne Gefaͤſſe (a),(b),
welche fuͤr ſich ſelbſt Blut haͤtten; doch zeigen ſich einige
kleinere, welche in ſonderbaren Exempeln, vielleicht
weil ſie noch nicht bekandt genug ſind (c), bei Entzuͤn-
dungskrankheiten (d) ſichtbar gemacht werden, ſo daß
auch von Quetſchung an der Hornhaut rothe Flekke zum
Vorſchein kommen (e): bisweilen kann man in der gel-
ben Sucht die gelbe Walle, oder eine Faͤulniß von einem
ausgearteten Blute, an der Hornhaut bemerken. Nie-
mand hat weiter von dem Hovianiſchen Aeſtigen Ge-
faͤß Erwaͤhnung gethan, welches aus der ungenannten
Druͤſe entſpringen ſoll (f), noch hat kein Zergliederer
mit aller Kunſt Nerven bis zur Hornhaut befolgen koͤn-
nen: doch es aͤuſſert auch weder Menſch noch Thier
Merkmaale von Schmerzen, wenn die kuͤnſtliche Hand
des Daviels(g) die Hornhaut zertheilt, um die dunkle
Linſe herauszuziehen, oder wenn wir in Verſuchen
in die Hornhaut der Thiere eine Nadel ſtekken (h).
Jauſſerand(i), den ein anderer die Feder gefuͤhret
zu haben ſcheint, wie auch der beruͤhmte Thurant(k),
und vorlaͤngſt Theodor Mayerne(l) geſtehen es, daß
ſie keine Empfindung habe. Whytt giebt es zu, daß
ſie
[799]II. Abſchnitt. Das Auge.
ſie beim Herausziehen des Staars eben keine ſonderliche
Empfindung haben (m). Wenn die Hornhaut das Rei-
ben rauher Koͤrper zu empfinden ſcheint (n), ſo gehoͤrt
dieſe Empfindung zur zuſammenfuͤgenden Haut, die von
der gemeinen Haut ein Fortſazz iſt.
Sie waͤchſet, wenn ſie verlezzt worden, wie ich da-
von ein Exempel vor mir habe, von dem ausgetretenen
Safte, durchſichtig wieder (o); und wenn man ſie gleich
ziemlich weit zerſtoͤhret, ſo waͤchſt doch uͤberhaupt, wie
das Oberhaͤutchen, eine neue an ihrer Stelle wieder.
Da das Auge in einigen auf einander folgenden Huͤl-
len eingewikkelt iſt, ſo kennt man die zweite von dieſen
Huͤllen lange ſchon unter den Namen der Choroidea
(Aderhaut), und dieſer Name druͤkkt eine Bekleidung
voller Gefaͤſſe aus (p). Um ſolche aber genauer zu be-
ſchreiben, muß ich ſagen, auf was fuͤr Art der Sehner-
ve ſeinen Eingang in das Auge haͤlt.
Dieſer zieht ſich naͤmlich allmaͤhlich zuſammen (q),
er verengert ſich in die Mitte eines Kegels, doch aber
nicht in die Spizze; und er iſt auch nunmehro kleiner,
als die harte und duͤnne Gehirnhaut, welche er fahren
laſſen.
Endlich, wenn er nunmehro enger geworden iſt, ſo
wird weiter nach vorne das Ende des Sehnerven ſo weit
derſelbe zum Auge gehoͤret, von einer runden (r) ſieb-
foͤrmigen (s) Membrane, die ihm beſonders eigen iſt,
bedekkt, durch deren haͤufige Poros das deutliche Ner-
venmark (s*) zur Nezzhaut fortgehet. Es kann dieſes
Plaͤttchen nicht von der dunklen Hornhaut herkom-
men (t), ob ich gleich dieſes ehemals nebſt beruͤhmten
Maͤnnern vermuthet habe, indem ſich die dunkle Horn-
haut vom Sehenerven, und in den Fiſchen zwo Linien
eher trennt, als dieſes Plaͤttchen ſeinen Urſprung
nimmt (x). Es erſcheinet ferner in den Schweinen und
im ibice wo es ganz deutlich iſt, unter einem Vergroͤſ-
ſerungsglaſe ganz offenbar: man ſiehet, daß es vom
faͤchrichen Weſen ſei, und daß es groſſe Gefaͤßloͤcher
und kleine unzaͤhlbare markige Loͤcher hat. Doch ich
habe es auch in andern vierfuͤßigen Thieren faͤchrich
gefun-
[801]II. Abſchnitt. Das Auge.
gefunden. Es iſt im Dachſe roth, und auch im Wol-
fe ſehr ſchoͤn.
Von deſſen Umfange, und dem Umfange der duͤnnen
Gehirnhaut, die ſich zur dunklen Hornhaut zuruͤkkbiegt,
oder der Membrane, ſo die dunkle Hornhaut faͤrbet,
haͤngt die Aderhaut mittelſt eines faͤchrichen einwaͤrts
immer enger werdenden und kurzen Gewebes (y) an der
dunklen Hornhaut feſte: ſie trennt ſich durch einen ge-
ſchwollenen Ring von der Nezzhaut, und laͤßt auch,
wenn man ſie gleich vom Auge forttrennt, ein vollkom-
men circulrundes Loch uͤbrig (z).
Mit den Voͤgeln hat es eine andere Beſchaffenheit.
Es koͤmmt naͤmlich der Sehnerve, wenn er an der aͤuſ-
ſeren Gegend einen Halbzirkel beſchrieben, ins Auge, und
haͤngt ſich an die dunkle Hornhaut an. Er dringt aber
nach inwendig, oder der Naſe zugerechnet, weit durch
die dunkle Hornhaut (a), und ſchief ein, und bildet
einen Schweif, welcher faſt den halben Weg zur Horn-
haut macht, viel geſchlanker als der Nerve iſt, und auf
einmahl duͤnne wird. Von den Raudern dieſes Schweifs
wie auch von dem aͤuſſern Halbzirkel des Sehnerven ent-
ſtehet die Aderhaut: innerhalb der Aderhaut aber nimmt
ſie von der Nezzhaut, wie anderswo gemeldet werden
ſoll, ihren Urſprung.
Ganz anders verhaͤlt ſich die Sache in den Fiſchen.
Man hat ſie von eben der Art ſowol in den groſſen Fi-
ſchen, als in der Trocta lacuſtri, Lachſe, dem Hech-
te, und in den kleinern, als im Schmerl und Bar-
ſchen, gefunden (a*). Es ziehet ſich der Sehnerve bei
ſei-
H. Phiſiol. 5. B. E e e
[802]Das Sehen. XVI. Buch.
ſeinem Eintritte kaum zuſammen, ſondern er erweitert
ſich vielmehr zu einer ſchiefen und halben Ellipſis. So-
bald derſelbe durch die dunkle Hornhaut gegangen, ſo
begiebt er ſich in die Aderhaut, welches eine ſilberfarbe-
ne reine Membran iſt, theils wo ſie ſich nach der dunk-
len Hornhaut hinwendet, theils inwendig, wo ſie ſich
nach der naͤchſten Membran zukehret. Jn einiger Weite
davon, die in der Trocta mehr als eine Linie betraͤgt, ent-
ſtehet eine zarte rothe Membran voller Gefaͤſſe (a†).
Es ſind dieſes rothe Gefaͤſſe, naͤmlich eine aͤſtige Schlag-
und Blutader, die die dunkle Hornhaut durchbohret
hatten, ſich herumbieget, und auf der Stelle, theilen
und wiedertheilen, und ſich endlich in einen fleiſchichen
zirkelrunden Brey verwandeln. Dieſer Brey oder
Mark iſt mit einem beſondern Haͤutchen bedekkt, und
beſtehet durch das Vergroͤſſerungsglas beſehend aus kur-
zen flachen und ſehr rothen Saͤulen, die dicht neben
einander aufgerichtet ſind, und nachdem ſie kurz darauf
von ihrer Haut befreiet worden, mit der Ruyſiſchen in
eins fortgehen. Jm friſchen Zuſtande ſind ſie einem
rothen Gallert gleich, wenn ſie aber trokken, und durch
Weingeiſt ſteif gemacht worden, ſo ſehn ſie wie ein wirk-
liches geblaͤttertes und faſriges Fleiſch aus.
Hierauf entſtehet ganz zunaͤchſt an der Nezzhaut,
dergeſtalt, daß ſie den Sehenerven, gleichſam bei deſ-
ſen Urſprunge wuͤrget, die ſehr ſchwarze ruyſiſche Haut,
welche mit einer ſchwarzen Schmier dergeſtalt angefuͤl-
let iſt, daß ſie auch die Nezzhaut neben dem Eintritte
des Sehenerven von allen Seiten beſchmieret. Sie
wird von einem weiſſen faͤchrichen Zirkel, in einiger
Weite von Sehnerven umgeben, und erſt denn empfaͤngt
ſie den angewachſenen Trichter, der aus lauter Gefaͤſſen
beſtehet, kurz darauf auch die ſilberfarbene Aderhaut,
mit welcher ſie zuſammenwaͤchſt.
Folglich kann die Aderhaut nicht von der duͤnnen Ge-
hirnhaut entſtehen (b), denn dieſe hat ein anderes Ende,
noch vor dem einen Plaͤttchen derſelben (c); noch viel-
weniger aber von der dunklen Hornhaut (c*), von wel-
cher ſie durch die Zwiſchenlage der duͤnnen Gehirnhaut
abgeſondert wird.
Es laͤuft dieſe Aderhaut, welche weich, und mit einer
groſſen Menge von Gefaͤſſen bemahlet iſt (d), laͤngſt der
innern Flaͤche der dunklen Hornhaut, um die Augen-
kugel parallel, ganz nahe und frei, doch aber durch ein
deutliches Fadengewebe (e), Gefaͤſſen und Nerven, mit
der dunklen Hornhaut verbunden fort. Jn dieſem Faͤ-
dengewebe zeiget ſich in den Thieren bisweilen ein ergoſ-
ſenes Fett (f), ſo wie im menſchlichen Leichname Waſ-
ſer (g). Jhre Farbe iſt in der Frucht und neugebohr-
nen Menſchen roth, voller mit Blut angefuͤllten Gefaͤſ-
ſe (h); in erwachſenen Menſchen von auſſen ſchwarz-
braun (i), und mit der Farbe ſchwarzer Weintrauben
vermiſcht, welche aber mit den Jahren allmaͤhlich im-
mer blaſſer wird (k).
Jhre inwendige, der Nezzhaut zugekehrte Flaͤche,
befindet ſich durchgaͤngig von derſelben frei (l), iſt in-
wendig eben ſo braun, und mit einer ſehr ſchwarzen
Mahlerey (m) hie und da, in der Frucht mehr, in alten
E e e 2Per-
[804]Das Sehen. XVI. Buch.
Perſonen aber weniger uͤberzogen. Sie iſt nicht alle-
mal in den Thieren, mit dieſem braunen Schleime ange-
ſtrichen: oft, wenn dieſe noch leben, iſt ihre Farbe leb-
haft grau, oder gelbig (n); dahero haben ſie vorlaͤngſt
die Mitglieder der Pariſer Akademie mit den Namen
der Tapete (o) unterſchieden (p). Sie glaͤnzt nicht im
Menſchen (q), Voͤgeln (r), und dem Baͤr (s). Sie
wird allenthalben von den faͤchrichen und ſehr ſubtilen
Flokken zottig gemacht (t), und zeiget in den wieder-
kaͤuenden Thieren eine ſehr artig gewundene ſchlangenfoͤr-
mige Runzel. Am Wolfe unterſcheidet ſie ſich durch
runde Theilchens gleichſam gefaͤchert: am Hunde aber
zottig und ſchwarz.
Es haben auch die Gefaͤſſe (u) an dieſem Blate einen
anderen Bau, als wir ehemals beſchrieben haben: ſie
ſind inwendig gerade, von auſſen voller Schluͤnde, und
wie Baͤume geſtaltet.
Da ſich alſo in einigen unvernuͤnftigen Thieren (x),
und bisweilen auch im Menſchen ſelbſt (y), die vordere
Sei-
[805]II. Abſchnitt. Das Auge.
Seite der Aderhaut, von der hintern abſondern laͤßt,
und der Abſtand der Plaͤttchen am Regenbogen noch
deutlicher iſt, ſo nannte Heinrich Ruyſch(z) dieſes
inwendige Plaͤttchen, ſeinem Vater zu Ehren, das ruy-
ſiſche; und Hovius(a) hat dieſe Erſindung ſoweit aus-
gedehnet, daß er der Aderhaut 5 Plaͤttchen giebt, dar-
unter das zweite die Schluͤnde enthaͤlt, das vierte aber
dem Ruyſch zugehoͤret.
Doch es wird dieſes ruyſiſche Haͤutchen, durch kein
wirkliches Fadengewebe von der Aderhaut abgeſon-
dert (b), und es bekoͤmmt das ruyſiſche Plaͤttchen ſeine
Gefaͤſſe von den Gefaͤſſen der Aderhaut her.
Es iſt endlich das aͤuſſere Plaͤttchen der Aderhaut mit
einem immer ſtaͤrker aufbluͤhenden Fadengewebe uͤber-
zogen, wodurch es ſich der Hornhaut immer mehr naͤ-
hert, bis es endlich ganz und gar mit der weiſſen Aus-
fuͤllung uͤberzogen, da wo die dunkle Hornhaut mit der
Hornhaut zuſammengraͤnzt im Menſchen (c) und den mir
bekannten Thieren, wie ein ziemlich breiter weiſſer und
weicher Kreiß zuſammenhaͤngt, wiewohl dieſes Band
nicht ſehr zaͤhe iſt, noch ſich ſo dazwiſchen legt, daß man
es nicht endlich mit dem Ruͤkken eines Meſſers, ohne
ſonderliche Schwierigkeit abſondern kann (d). Wir
nennen es orbiculus ciliaris(e) um den Namen eines
Bandes fuͤr einen andern Theil zu ſparen (e*).
Es iſt in allen Thieren die dunkle Hornhaut, oder
Hornhaut ſelbſt (f), mit einer dergleichen braunen, und
der| Aderhaut aͤhnlichen Membrane, auch an den Jn-
ſekten (g) inwendig bezogen, wofern dieſes nicht ein
Schleim iſt.
Man wird leicht glauben, daß ſie empfindlich ſei,
da ſie an Nerven einen Ueberfluß hat (h).
Es leiten die meiſten Schriftſteller von der Zergliede-
rungskunſt (i) denjenigen zirkelrunden und durchloͤcher-
ten Ring, welcher unter der Hornhaut durchſichtig iſt,
von der Aderhaut her: ob derſelbe gleich einer andern
Richtung folgt, und mit der Aderhaut beinahe einen
rechten Winkel macht. Man koͤnnte noch hinzufuͤgen,
daß es einige Thiere gebe (k), in denen ſich der Regen-
bogen mehr von der Graͤnze der dunklen Hornhaut, als
der Orbiculus ciliaris iſt. Es haben ſich unter denen
neuern einige beruͤhmte Zergliederer dieſes dergeſtalt ein-
gebildet, daß ſie den Regenbogen zu einer beſondern
Membrane machen (l). Jndeſſen habe ich doch augen-
ſcheinlich die Aderhaut und die ruyſiſche ſich allmaͤhlich
im
(e*)
[807]II. Abſchnitt. Das Auge.
im Ochſen in Falten verwandeln geſehen, welche an dem
Regenbogen in geraden Strahlen an der ruyſiſchen
Haut in die Radios ciliares, die auf der Linſe liegen, fort-
gehen. Jch finde, daß Caſſebohm in ſeinen nach dem
Tode bekannt gewordenen Schriften dergleichen behau-
ptet. Es iſt in den Voͤgeln der Orbiculus ciliaris brei-
ter, und vorne hoͤher gelagert, als die Aderhaut, oder
der Regenbogen. An denſelben haͤngt ſich die nunmehro
blaß gewordene Aderhaut von auſſen an, und es laͤuft
der Regenbogen aus denſelben dergeſtalt hervor, daß
einige graue Flokken des Orbiculi nach dem Regenbogen
fortgehen, und im Geyer der Zuſammenhang des Re-
genbogens mit der Aderhaut offenbar wird (l*). Von
hinten haͤngt die ruyſiſche Haut mit dem Corpore ci-
liari zuſammen; indeſſen legt ſie ſich doch mit einem
Kreiſe, als eine Nath und Graͤnze von beiden dazwi-
ſchen. An den Fiſchen laͤuft die ſilberne mit Punkten
verſehene Aderhaut offenbar in die Nezzhaut fort, und
zwar durch einen Kreiß, welcher dem Orbiculo ciliari
gleich iſt, und es iſt die Vereinigung der mit Gefaͤſ-
ſen angefuͤllten Traubenhaut mit der ruyſiſchen nicht
undeutlich.
Es entſpringet alſo der Regenbogen von der Gegend
des Orbiculi ciliaris und deſſen vordern Zirkel, doch et-
was weiter nach hinten, als die Oberflaͤche des Orbiculi
ciliaris (Sternbaͤndchen) iſt.
Von da laͤuft ſie gerades Weges einwaͤrts fort, und
beſchreibet einen Kreiß von einem Kugelabſchnitte, wel-
ches die Hornhaut iſt, nur daß ſelbiger gegen die Naſe
um etwas kuͤrzer wird, und ſich bei den Schlaͤfen ver-
laͤngert (m).
Ob dieſer Zirkel conver (n) ſei, daran hat man gezwei-
felt (o). Es ſchien mir in der Frucht, und in neuge-
bornen Kindern, wie auch in nicht wenigen Thieren (p),
ganz deutlich convex zu ſein. Doch tritt Zinn mit eini-
gen Bedenken dennoch auf die Seite des Petits (q).
Es iſt naͤmlich in den Menſchen, der an die Welt
gebracht wird, der Regenbogen nach dem Geſezze der
Natur zirkelrund durchbohrt (r), und dieſes Loch verlaͤn-
gert ſich ebenfalls ein wenig gegen die Naſe zu (s), und
man nennt dieſes Loch, welches einen veraͤnderlichen
Durchmeſſer hat, dennoch aber anderthalb Linien ge-
ſchaͤzzt wird (t), von dem zuruͤkkſpielenden Bilde der
Perſon, welche durchſieht, pupilla oder pupula. An
den wiederkaͤuenden Thieren iſt eben dieſe Spalte der
Queere nach laͤnglicht (u), klein in Thieren, welche des
Nachts ſehen koͤnnen, wie auch bisweilen im Menſchen
ſelbſt (x), in welchem es manchmal eine andere Figur
hat (y). Auch die Voͤgel und Fiſche haben einen Au-
genſtern, nicht aber die Jnſekten (z) nach den beſten
Schriftſtellern.
Von dieſer Gegend kehret die in die Falten gelegte
Membran des Regenbogens parallel und aͤhnlich gegen
das Sternbaͤndchen zuruͤkk, und iſt zugleich an dieſem
Orte ſowohl mit der Hornhaut, als mit der Aderhaut
verbunden. Auf ſolche Weiſe entſtehet ein gedoppeltes
Blatt, und es hat daher Jacob Sylvius den Regen-
bogen ehedem ſchon fuͤr eine gedoppelte Aderhaut gehal-
ten (a): doch laͤßt ſie ſich im Menſchen muͤhſamer, in
den Fiſchen zuverlaͤßig und ganz augenſcheinlich auch ſo-
gar mit einem Meſſer in zwo Membranen zertheilen.
An dem vordern Blate des Regenbogens raget ein
flokkiches Weſen hervor (b), welches auf verſchiedene
Weiſe, wie kleine Flammen, die nach einwaͤrts laufen,
anzuſehen iſt, und dieſe Flammen haben einige Aehn-
lichkeit mit runden Bogen, welche gegen den Mittel-
punkt des Sterns erhaben ſind. Ein jedes Flokkchen
iſt eine Sammlung von ſchlangenfoͤrmigen einwaͤrts
convergirenden Streifen, und untermiſchten braunen
Flekken: hingegen machen die flokkigen Gebuͤnde zuſam-
mengenommen einen gleichſam zakkigen Bogen aus, der
in einiger Entfernung vom Stern vorragt, erhaben
vorſtehet, und gleichſam nach vorne uͤber der uͤbrigen
Flaͤche des Sterns erhaben iſt. Man kann die Schoͤn-
heit dieſes Baues durch keinen Kupferſtich ausdruͤkken (c).
Jn der Kazze und im Steinbokk iſt der |Regenbogen
nicht ſchlechter gemahlt, als im Menſchen. Jn den
Ochſen ſind dieſe Radii gerade, und laufen in aͤhnliche
Radios des kleinern Ringes fort. Der innerſte, und
dem Stern naͤchſte Zirkel (e) hat eben dergleichen, nur
E e e 5nicht
[810]Das Sehen. XVI. Buch.
nicht ſo deutlich geſtrahlte Flekken (f), welche ebenfalls
unterm Vergroͤſſerungsglaſe zu ſehen ſind, ſie ſind klei-
ner, entſtehen aus der Convexitaͤt der erſtern Bogen,
und ſind ihnen uͤbrigens gleich, und von gleicher Farbe,
indem ihre haͤutige Baſis braun an Farbe iſt (g).
Wir haben gezeiget, daß von dieſen Flokken die Far-
be des Regenbogens abhaͤnge (h), wozu aber dennoch
einige ſchwarze Mahlerei, einige Gefaͤſſe und Ner-
ven das ihrige mit beitragen, um dieſe Farbe hervorzu-
bringen. Dieſe Streifen ſind, wenn der Stern ſchlaff
iſt, mehr ſchlangenfoͤrmig, dagegen faſt gerade, wenn
ſich der Regenbogen verengert. Sie endigen ſich am
Rande des Sterns, gleichſam mit dikken und braunen
Handhaben. Dieſe ſchlangenfoͤrmige Streifen hat der
beruͤhmte Zinn etwas anders, als wir, beſchrieben: ſie
ſolle ſich nach einwaͤrts neigen, gegen die Schaͤrfe des
Regenbogens, in einiger Weite aber von dieſer Schaͤr-
fe, aus einander fahren, und gablicht werden (i) ſich in
einen zakkichen und krummen Zirkel verwandeln, aus
welchem andere kleinere undeutliche Streifen (k) gegen
die Mitte des Sterns laufen, und den kleinen Regen-
bogenring machen ſollen, welcher um den Stern herum-
gezogen, und braun iſt. Darinn gehe ich naͤmlich von
ihm ab, daß im kleinen Zirkel ebenfalls deutliche Schlan-
genlinien vorkommen, und daß ſich an denenſelben nicht
das mindeſte muſkuloͤſe (l) antreffe.
Es iſt die Farbe dieſer Flokken (m) mannigfaltig,
und davon ruͤhret der Name des Regenbogens her.
Dieſer pflegt bei denen Einwohnern der nordlichen Ge-
genden
[811]II. Abſchnitt. Das Auge.
genden blau oder blaßgrau zu ſein (n). Die Einwoh-
ner der heiſſen Gegend haben einen lebhaften braunen
Regenbogen (o), wie die Aderhaut iſt, und er iſt bei-
nahe ſchwarz: dieſe Farbe hat ſich in den neuern Zeiten
bis in den Norden ausgebreitet, und man findet ſie nun-
mehro in Teutſchland und England nicht ſelten (o*).
Es giebt auch welche, die an beiden Augen Regenbo-
gen von verſchiedener Farbe haben (p). Er iſt roſen-
farben bei den weiſſen Negern (q), bisweilen auch bei
den Europaͤern (r), ſo wie an den weiſſen Kaninchen (s).
Oft trift man an Thieren den Regenbogen von ſehr leb-
hafter Farbe an. Er iſt am Wolfe, der Kazze und Eule
gelb, leuchtet bei Nacht, iſt in Fiſchen goldfarben, ſil-
berfarben, und im Froſche goldfarben (s*).
Die hintere Flaͤche der Traubenhaut, welche auf die
Cryſtallinſe paſſet, iſt mit einer haͤufigen ſchwarzen
Mahlerei uͤberzogen, welche durchſichtig iſt, und ſich zu
den Farben des Regenbogens in ſo fern mit beimiſcht,
daß es dennoch gewiß iſt, daß die ſchwarzbraune Farbe
in den Flokken ſelbſt ihren Sizz habe. Es iſt die Trau-
benhaut viel einfacher, und viel reiner eine Membrane,
und ſie hat nur in einigen Thieren, wie im Stein-
bokk, Flokken.
Wenn man dieſe Mahlereien wegwiſcht, ſo erſcheinet,
beſſer nach einer Macerirung, und nicht ſo gut an fri-
ſchen
[812]Das Sehen. XVI. Buch.
ſchen Koͤrpern (t), an der Traubenhaut gerade (u) erhoͤhe-
te, und wie es ſcheint, aus der Falte (x) der aufſteigen-
den Membrane gemachte Streifen, welche von der Ge-
gend, wo ſich die Knoten des Sternbaͤndchens trennen,
einwaͤrts in die Schaͤrfe der Traubenhaut, und zum
Loche des Sterns fortlaufen, nur daß ſie im Menſchen,
und nicht in allen Thieren (y) in einiger Weite von der
Schaͤrfe der Traubenhaut, etwas dunkler ausfallen, und
einen inwendigeren Guͤrtel machen, der nicht ſo deutlich
geſtrahlt iſt.
Es wollen viele Schriftſteller, nach der Hypotheſe,
daß in dieſem inwendigen nicht ſo flokkichen Zirkel des
Regenbogens und der Traubenhaut, Faſern vorhanden
waͤren, die ſich in einen Kreiß herumbiegen ſollen (z).
Doch ich habe dieſelbe oft, mit meinen kurzſichtigen,
uͤbrigens aber guten Augen, und glaͤſernen ſtark ver-
groͤſſernden Linſen, niemals einige Faſern gefunden,
ſon-
[813]II. Abſchnitt. Das Auge.
ſondern auch (a) ohne Gebrauch eines erhaben geſchlif-
fenen Glaſes, am Ochſen- und Menſchenauge aͤhnliche
und gleichfarbige Strahlen (b), durch die naͤchſte Zone
gehen geſehen.
Doch ich unterſtehe mich auch nicht zu behaupten,
daß die gerade Faſern, von denen ich eben an der Trau-
benhaut geredet habe, nach der Meynung beruͤhmter
Maͤnner (c) fleiſchich ſind, und den Stern oͤffnen ſollen.
Es mangelt naͤmlich, vermoͤge ſorgfaͤltig angeſtellter Er-
fahrung (d), dem Regenbogen in lebendigen Thieren, alle
Reizzbarkeit, und wird ſogar von den Lichtſtrahlen, die
man durch einen Kegel von Pappier einzig und allein
auf den Regenbogen fallen laͤßt, nicht in Bewegung
geſezzt (e), und es iſt dieſes nur einer Muſkel eigen,
reizzbar zu ſein. Dennoch hat vorlaͤngſt ſchon Joſias
Weitbrecht(f) erinnert, daß die Faſern des Regen-
bogens nicht muſkuloͤſe ſind, und dieſes hat auch nach
ſeinen neuern Erfahrungen der beruͤhmte Demours(g)
bewieſen. Jch habe an dem Regenbogen der Fiſche,
oder ihrer Traubenhaut, ſelten etwas, das einer Faſer
gleich geweſen, geſehen. Was an der Traubenhaut
Streifen zu ſein ſchienen, ſind offenbar zuruͤkkgeſchlagene
Falten von der ſchwarzen Haut.
Jch| leſe hin und wieder, daß der Regenbogen eine
groſſe Empfindlichkeit beſitzen ſoll (h): doch aber habe
ich ohnlaͤngſt von dem beruͤhmten Daviel(h*), und
einem braven Manne, welcher deſſen Kunſt an ſich er-
fahren hatte, vernommen, daß ſich der Regenbogen
ohne Empfindung durchſchneiden laſſe, wenn es noͤthig
iſt, denſelben zu oͤffnen, oder vom Staare loszumachen (i),
der ſich an ihm haͤngt, oder auch ihn zu erweitern,
wenn er die Linſe durchlaſſen ſoll (i*), folglich kann man
auch dieſe Faſern nicht fuͤr kleine Nerven halten, die an
der Traubenhaut ſind, weil ſie ſonſt gar zu deutlich die
Nerven an ihrer Anzahl uͤbertreffen wuͤrden (k).
Und dennoch koͤnnte es wunderbar ſcheinen, wenn
man an dieſem Ringe eine ſo geſchwinde Bewegung wahr-
nimmt, da der Regenbogen keine Empfindung noch
einige Reizzbarkeit hat.
An der Frucht des Menſchen, und der vierfuͤßigen
Thiere, zeiget ſich kein Stern, wie ich am Schaafe,
an der Mißgeburt einer Kazze geſehen, und am Hunde
Werner Chrouet(l) bemerket hat. Es koͤmmt naͤm-
lich allenthalben aus der Schaͤrfe des Regenbogens (m),
welche im erwachſenen Menſchen den Stern endigt, eine
ungemein zarte Membran hervor, welche viel zaͤrter
als der Regenbogen iſt, eine aſchgraue Farbe hat, ohne
Flok-
[815]II. Abſchnitt. Das Auge.
Flokken, und mit Gefaͤſſen bemahlt iſt, welche ſie von
dem Regenbogen von erloſchener Farbe bekoͤmmt (n), die
aber dennoch durch die Kunſt der Anatomie leicht ausge-
ſprizzt werden koͤnnen, roth werden, und ſich in ein
Nezze durchflechten. Hiezu koͤmmt nun nach der Er-
fahrung des beruͤhmten Hunters, welche ich erſt jetzo,
da dieſe Blaͤtter die Preſſe verlaſſen, mir zu Geſichte
kommen, ein ungemein zartes Haͤutchen mit ſeinen Ge-
faͤſſen, welches faſt vom Rande der Kapſel der Cry-
ſtallinſe ſich erhebt (n*), und ſich an den Rand des
Sterns anſchließt.
Man findet dieſe Haut, welche wir beſchreiben, be-
ſtaͤndig an der Frucht eines Menſchen bis zum ſiebenten
Monathe. Sie mangelt demſelben, wenn er an die
Welt gebracht wird (o); ſo daß man davon nicht ein-
mahl einige Spuren mehr davon uͤbrig findet. Doch
hat man bisweilen dieſelbe an einigen blinden Menſchen
noch wahrgenommen (p). Jch habe ſie an den jungen
Voͤgeln nicht gefunden (q), und ich wundere mich deſto-
mehr daruͤber, daß ſie ehemahls vom Corteſius am
Adler (r), und nachgehends auch von den Pariſern(s)
gefunden worden.
Geſchichts etwa dieſer Haut wegen, daß ein neuge-
bohrnes Kind nicht ſehen kann (s*)? Oder iſt die Er-
fahrung
[816]Das Sehen. XVI. Buch.
fahrung auch gewiß genug (s**)? Oder kann der Re-
genbogen beweglich ſein, und das Auge doch nicht
ſehen (s†)?
Wir nennen es Sternhaut, die ehemahls der vor-
trefliche Wachendorf(t) zu allererſt (t*) beſchrieben.
Jch habe ſie nicht ſogleich, als ich ſie fand, erkannt,
nachgehends aber beſſer betrachtet, und in einem neuen
Kupfer bekannt gemachet (u). Endlich bezeigt der vor-
trefliche Albin(x), er habe dieſes Haͤutchen bereits
vor vielen Jahren entdekkt (y), und im Jahre 1737
dem Kupferſtecher eingehaͤndiget. Jndeſſen hat er ſich
doch niemals (z) ſeinen Schuͤlern (a) gezeiget, und es
wird auch dieſe Erfindung von ihnen in der Menge von
Diſputationen niemals erwaͤhnt, welche ſie von dem Au-
ge ans Licht geſtellt: und hieraus beſtaͤtiget es ſich, daß
weder wir noch Wachendorf daran Schuld gehabt,
daß wir nicht das Prioritaͤtsrecht dieſes beruͤhmten
Mannes gewußt haben. Es handelt auch unſer beruͤhmter
Zinn(b), und der beruͤhmte Lawrence(c) davon.
Es iſt die Sache ſehr alt, und man kann die Ehre
der Erfindung weder dem Achillinus(d), noch dem
Sar-
[817]II. Abſchnitt Das Auge.
Sarpius(e) zugeſchrieben. Es thun davon nicht nur die
Araber Wiekahzes(f), Avicenna(g) Meldung, ſondern
auch die neuern Schriftſteller haben es ſeit der Wiederher-
ſtellung der Wiſſenſchaften (h) ſehr haͤufig beobachtet.
Ja es ſchrieb auch Gallen(h*) wiewohl undeutlich, daß
ſich der Stern vom ſtarken Lichte veraͤndere.
Es iſt nehmlich der Durchmeſſer des Sterns unbeſtaͤn-
dig. Jn Menſchen und denen mir bekannten vierfuͤßigen
Thieren (i), in den Voͤgeln (k) und den Eyerlegen-
den (l) wird der Stern um ſo viel weiter, je ſchwaͤcher das
Licht iſt, ſo, daß der groͤſte Theil des Auges ſchwarz bleibt,
und ſich der Regenbogen hingegen alsdenn verengert.
Bey den Fiſchen, welche ich geoͤfnet habe, bleibt der Re-
genbogen gegen die Veraͤnderungen des Lichts unbeweg-
lich (m), ob ich ihnen gleich die Flamme eines Lichtes
ganz nahe brachte.
Dahingegen wird der Regenbogen, ſo wie der Glanz
des Lichtes zunimmt, in eben dem Verhaͤltniſſe breiter und
der
H. Phyſiol. 5. B. F f f
[818]Das Geſicht. XIV. Buch.
der Stern enger: und wenn gleichſam der erſte und hef-
tige Eindruck des Lichts wieder verſchwindet, ſo erweitert
er ſich kurze Zeit darauf ein wenig (n). Es iſt nehmlich
die ploͤtzliche und erſte Wirkung des Lichts ſehr ſtark, daß
ſie auch im Staar den Stern verſchließt (o).
Es laͤſt ſich dieſe Bewegung ſehr leicht zeigen, wenn
man die Augen eines Menſchen einem lebhaften Lichte blos
ſtellet, und gegentheils mit vorgehaltener Hand daruͤber
Schatten machet. Der Stern wirkt lebhafter in jungen
Leuten (p), in den alten traͤger. Der Regenbogen iſt
ſchon in neugebohrnen beweglich (q). Man ſetzet ſeine
Graͤnzen zwiſchen ¾ einer Linie (r) und zwiſchen 1 und
2¾ (s), oder zwiſchen 1 und 3 (t).
Beruͤhmte Maͤnner glauben, daß ſich der Stern auch
ohne Unterſcheid auf das Licht, bei entfernten Gegen-
ſtaͤnden erweitere (u), bei nahen hingegen verengere (x).
Und da ſie dieſe Sache weitlaͤuftig unterſucht, ſo wollen
ſie, daß ſich der Stern mehr wegen der Verſchiedenheit
des Lichts verengere und erweitere, als wegen eines un-
deutlichen oder deutlichen Anblicks der Gegenſtaͤnde (y).
Sie ſagen ferner die Pupille werde bei den Gegenſtaͤn-
den enger (z), welche wir genau erkennen wollen, und
ich habe befunden, daß dieſes allerdings wahr ſey.
Dieſe Bewegung ſchwaͤcht ſich, und es bleibt der Stern
erweitert und unbeweglich, wenn entweder die Wirkung
des
[819]I. Abſchnitt. Das Auge.
des Lichts auf das innerſte Werkzeug des Geſichts ſchwaͤ-
cher iſt, oder wenn das Nervenſyſtem im Auge weniger
empfindlich iſt. Es geſchicht dieſes durch einen Fehler
des Staars (a), oder des gruͤnen Staars (b), bei wel-
chem man das Uebel fuͤr deſto unheilbarer haͤlt, je wei-
ter und je unbeweglicher der Stern iſt (c). Es begeg-
net dieſes der Netzhaut, oder es hat der Sehenerve dar-
an Schuld (d) und wird amauroſis, ſchwarzer Staar (e)
genannt. Wenn einige ſagen, daß in dem amauroſi der
Stern noch einige Beweglichkeit uͤbrig behalte (e*), ſo
ſchreiben ſie von einer unvollkommenen Krankheit, bei
welcher man einigermaßen noch das Licht empfunden. Es
iſt nehmlich der Regenbogen unbeweglich, ſo oft Men-
ſchen ſo blind ſind, daß ſie kaum den Schatten unter-
ſcheiden koͤnnen (e**).
Er erweitert ſich auch im Staar (f), in der Ohn-
macht (g), im Tode ſelbſt (h), in denen vom Schlage
geruͤhrten (i), in der Schlafſucht (k), in Waſſerkopfe (l),
in Thieren, die vom genommenen Opio eingeſchlaͤfert wer-
den (m), in den boͤsartigen Fiebern, die mit einer Ver-
F f 2wirrung
[820]Das Geſicht. XIV. Buch.
wirrung der Sinne (n), oder mit Tollheit verbunden
ſind (o).
Wenn ſich der Stern einige Tage nach dem Tode wie-
der verengert (o*), ſo iſt dieſes eine Folge von der Aus-
duͤnſtung der waͤßrigen Feuchtigkeit, wodurch alſo der
Raum kleiner wird, vor welchen der Regenbogen vorge-
ſpannet iſt (o**). Aus dieſer Urſache wird auch der
Stern in erwachſenen Menſchen enger (o†) als in Kindern.
Jn Thieren, die man unter Waſſer taucht, iſt der
Stern ungemein weit (p); er zieht ſich bei dem Lichte
nicht zuſammen, bis daß das Thier aus dem Waſſer ge-
nommen, und wieder in die Luft gebracht worden (q).
Hingegen vergroͤſſert ſich die Bewegung des Regenbo-
gens, oder ſie ergaͤnzt ſich wieder und der Stern veren-
gert ſich von elektriſchen Funken (r), von dem mechani-
ſchen Reitze der Nerven (s) und von einer Entzuͤn-
dung (t).
Wenn daher uͤberhaupt in den Verſuchen des Fon-
tana und in Leuten, die am Staar und der amauroſi lei-
den, das Licht auf den Regenbogen faͤllt, und ſich der-
ſelbe dennoch nicht zuſammenzieht (u), ſo ſteckt die Urſache
davon nicht in der Jrritirung des Regenbogens, ſon-
dern, wie es das Anſehen hat, vielmehr in einen Nerven-
ſehler der Netzhaut (x).
Wenn daher in der Hemeralopia(y) die Sonnenſtra-
len ganz allein vermoͤgend ſind, die Empfindung des Ge-
ſichts hervorzubringen, und weder angeſteckte Lichter, noch
eine Daͤmmerung hinreichen, ſo ſtehet der Stern be-
ſtaͤndig erweitert und offen (z), welches ſogar ein epide-
miſches Uebel iſt. Man hat angemerket, daß dieſes
Uebel alte Soldaten leichter treffe. Es hat nehmlich ein
ſchwaches Licht, oder eine geringe Empfindung vom Lichte,
einerlei Folgen, als eine geringe Empfindung vom
Licht.
Uebrigens ſtehet die Pupille in der Frucht (a), und
in ganz jungen Kindern (b) weit offen, in den alten hin-
gegen nur ſehr wenig (c). Unter den Thieren haben ei-
nen weiten Stern diejenige, welche bei Nacht ſehen, als
die Eule (d), und der Stern iſt ſehr weit, wenn er ſich
in der Katze oͤfnet (e), die außerdem einen ſo beweglichen
Stern hat, daß er ſich ſogar im Finſtern ſo gleich bei Er-
blickung einer Maus erweitert (f). Bei den kurzſichti-
gen (g) und bei der Nachtzeit ſehenden Perſonen (h),
welche ohnedem ein ſcharfes Geſichte oder eine ſcharfe Em-
pfindlichkeit in den Augen haben, iſt der Stern breiter,
und breiter an denjenigen, welche ſich lange im Finſtern
aufhalten koͤnnen, wovon ſie ſehr zarte Augen bekommen
und zugleich bei Nacht ſehen koͤnnen (i). Um die Ur-
ſache von dieſer bekannten Erſcheinung zu erklaͤren, und
F f f 3um
[822]Das Geſicht. XIV. Buch.
um das Werkzeug ſelbſt vollkommen zu erkennen, bemuͤht
man ſich bis zur Stunde vergeblich.
Daß die Bewegung des Regenbogens willkuͤhrlich
ſey (k) und daß ſich die Pupille in den Voͤgeln (l) und
Katzen (m), ohne daß ſich das Licht dabei veraͤnderte,
verengere und erweitere, daß ſich auch im Menſchen,
wenn man ſich einbildt, daß ein Object weit entfernet ſey,
welches man betrachten wolle (n), ſich der Stern oͤfnet.
Daß ſich uͤberhaupt die Kinder dieſes Werkzeuges nach
Gefallen bedienen, daß die Erwachſenen dieſes Vermoͤ-
gen verlernen (o) und ihre Augen dennoch Gegenſtaͤnde
genau zu betrachten gewoͤhneten (p): und daß endlich
die Seele ſo oft als das Auge vom uͤberfluͤßigen Lichte nicht
verletzet werden kann, den Stern erweiteren, damit mehr
Licht eindringen moͤge (q). Alles dieſes ſind Gruͤnde be-
ruͤhmter Maͤnner, ſonderlich von Stahlens Parthey.
Doch dieſes iſt uͤberhaupt zu weit getrieben, und es
laͤſt ſich von den leichteſten Verſuchen widerlegen. Der
Menſch nehme ſich mit Ernſt vor den Stern entweder zu
verengern oder zu erweitern, ſo wird er doch nicht das
mindeſte ausrichten, ſo lange das Licht einerlei Lebhaftig-
keit behaͤlt. Was die Erweiterung bei entfernten Ge-
genſtaͤnden betrift, ſo koͤmmt hier alles auf ein ſchwaͤche-
res Licht an, und es muß nothwendig ein von entfern-
ten Gegenden hergebrachtes Bild ſchwach ſeyn, nicht
nur wegen der Wenigkeit der Lichtſtrahlen, welche para-
lel auffallen, ſondern welches auch den Mahlern bekannt
iſt, wegen der darzwiſchen liegenden blauen Luft.
So lieget ferner die Schwierigkeit an dem Jnſtrumente
ſelbſt. Man koͤnnte daſſelbe ſehr leicht erklaͤren, wenn
man
[823]I. Abſchnitt. Das Auge.
man den innerſten Zirkel der Traubenhaut zu einen Schließ-
muskel, und die Faſern am uͤbrigen Regenbogen geſtralt
machen wolte. Auf ſolche Art wuͤrde ſich der Schließ-
muskel vom gereitzten Regenbogen (r) zuſammen und zu-
gleich den vorgeſpannten Regenbogen einwaͤrts ziehen.
wenn er wieder erſchlaffe, ſo wuͤrde er ſich nothwendig,
bei ſchwachem Lichte, in die erſte Figur ſetzen, und ſo
wuͤrden ſeine graden Faſern mit ihrer Federkraft den Re-
genbogen verengern und den Stern erweitern (s).
Doch man muß ſich keine neue Bauarten ausſinnen,
welche unſer Geſichte nicht beſtaͤtiget. Es zeigt ſich an
der Traubenhaut kein zuſammenſchnuͤrender Kreiß (t), und
es ſind nicht einmal die oͤfnende Faſern deutlich zu ſe-
hen (u). Ja man kann nicht einmal an Katzen, in de-
nen ſich doch der Stern auf das allergenaueſte zuſammen
zieht, etwas von einer Schließmuskel entdecken.
Vielmehr ſcheint die Urſache in dem Reitze des Lichts
zu liegen, welches durch ſeine Thaͤtigkeit, von der ich bald
reden werde, den Regenbogen einwaͤrts treibt, und die
ſchlangenfoͤrmige Runzeln der Gefaͤße und faͤſrige Streife
dergeſtalt entfaltet, daß ſie grade werden, und den Re-
genbogen erweitern (x). Auf ſolche Art wird man auch
die Augen der Katzen und der andern Thiere, deren
Stern eine Linie betraͤgt, leicht erklaͤren koͤnnen. Es
waͤre alſo der natuͤrliche Zuſtand des Regenbogens dieſer,
daß er enge, und der Stern breit waͤre (y). Er wuͤrde
aus dieſem Zuſtande durch den Reitz der Urſachen nicht
ohne einige Gewaltthaͤtigkeit verdraͤngt werden.
Es ſcheint dieſe Urſache etwas mit einer Entzuͤndung
gemein zu haben (z): denn die Entzuͤndung bringt (a)
nicht nur die Schlagadern zum Aufſchwellen, ſondern ſie
fuͤllet auch die faſrigen Gewebe an, entſtehet ebenfals von
Reitzungen, und es hat das Licht ebenfals einen ſo zuver-
ſichtlichen Reitz bei ſich, daß es das ganze Werkzeug des
Geſichts zerſtoͤhret, wofern es uͤbermaͤßig iſt. Waͤre die
Wirkſamkeit des Lichts etwas groͤßer, ſo wuͤrde auch die
Wirkſamkeit des Regenbogens einigermaßen mit Schmerz
verbunden ſeyn, welcher derjenige empfindet, welcher in
die Sonne ſiehet.
Es muß aber der Reitz, welcher das Netzhaͤutchen
trift, eine ſchnelle Anhaͤufung der Saͤfte in den Gefaͤßen
und Flocken des Regenbogens hervorbringen koͤnnen.
Man kann ſich vorſtellen, daß dieſes am beſten durch die
Nervenkraft bewirkt werde, ſo wie offenbar am maͤnn-
lichen Gliede von allerlei Reitzungen, wenn dieſe auch
ſcharf und mechaniſch ſind, ein ſchneller Geſchwulſt
entſtehet.
Jch mag keine Hypotheſen Dingen zufuͤgen, die zuver-
laͤßig ſind. Wenn man von verengerten Blutadern, die
die Urſache des Uebels am maͤnnlichen Gliede ſind, die
Verengerung des Regenbogens erklaͤret (b), ſo hat man
dagegen die ſchnelle Wirkung des Lichts eingewandt (c).
Doch hierdurch erhaͤlt man gewiß keine große Kraft, in-
dem ſich die ganz kurze Gefaͤſſe des Regenbogens leicht
und ſchnell anfuͤllen laßen.
Der beruͤhmte Weitbrecht erklaͤrt die ganze Erwei-
terung der Pupille, daß ſie ſich von den Regenbogen,
welcher gegen die Cryſtallinſe gezogen, verengern, und
dadurch
[825]II. Abſchnitt. Das Auge.
dadurch erweitern laſſe, wenn ſie gegen die Hornhaut
zuruͤckgezogen wuͤrde (d). Er hat aber keine Urſachen
zu dieſem wechſelnden Marſche angegeben.
Man muß hier nicht eine paradoxe Erſcheinung ver-
ſchweigen, welche mir zuverlaͤßig zu Geſichte gekommen.
Es war in einer jungen Kalze der Regenbogen, drey und
zwanzig Stunden nach der Erſaͤufung, ungemein weit:
und es ſchien die Linſe durch dieſelbe beinahe opac. Jch
wolte nach Art des Petits, dieſe Undurchſichtigkeit durch
eine maͤßige Ofenwaͤrme vertreiben, und da ich ohnge-
fehr nach einer Minute das Auge wieder befehe, ſo finde
ich den Stern faſt ganz verſchloſſen, ſo wie er ſich in die-
ſem Thiere ſchließt: dagegen war der Regenbogen ſehr
weit, und hatte einen ſehr ſchoͤnen gezackten Bogen von
gelben Streifen. Hier brachte alſo lange Zeit nach dem
Tode der Reitz der Waͤrme die Kraͤfte in Bewegung,
welche den Regenbogen erweitern.
Es iſt dieſer Theil vom Fallopius(e) und Mor-
gagni(f)corpus ciliare genannt worden, ſo wie es bei
andern das Band der Aderhaut (g), oder Fortſatz des
Regenbogens (h) genennt wird.
Jn der That iſt dieſes Band, eine ſchoͤne Zierde des
Auges, rund, ausgenommen, daß es eben ſo, wie der
Regenbogen bei den inwendigen Winkel (i) etwas enger
iſt. Es entſtehen nehmlich von der Oberflaͤche der Ader-
haut, und zwar etwas ehe (k) als dieſes Sternbaͤndchen
F f f 5ſich
[826]Das Geſicht. XIV. Buch.
ſich an die Hornhaut anhaͤngt, ohngefehr anderthalb Li-
nien vom Regenbogen im Menſchen, in den Thieren
aber auch etwas eher, gewiße Falten (l), welche ſich
allmaͤhlich von der Oberflaͤche der Aderhaut dergeſtalt
erheben (m), daß dieſe Aderhaut vorwaͤrts und die Falten
hinterwaͤrts zu liegen kommen, zu einem einzigen Streifen
aber zwo, drei, vier Linien erhaben zuſammen laufen (n);
da ſie aus der gedoppelten Aderhaut beſtehen, ſo haben
ihre Blaͤtter ein Fadengewebe zwiſchen ſich liegen (o).
Es laufen ferner dieſe Streifen, welche ſich einander
aͤhnlich, aber wechſelweiſe gemeiniglich groͤßer ſind, nach
einwaͤrts, und grade auf dieſes Sternbaͤndchen (p) zu,
durch deſſen Fadengewebe ſie durch ſcheinen, und an wel-
ches ſie ſich anhaͤngen: ſie liegen auf einem ſchleimigen
Plaͤttchen auf (q), davon ſogleich gehandelt werden ſoll,
und welches ebenfals wieder auf der Glaßhaut aufliegt:
ſie werden in ihrem Gange immer breiter, und fuͤllen den
ebenfals breiter werdenden Raum zwiſchen der Glaß- und
Traubenhaut aus (r). Jn dieſer Gegend befinden ſich
im Haaſe, Wolfe und Steinbock gleichſam große mem-
branoͤſe Fahnen.
Da, wo endlich die Traubenhaut (s) aus den Stern-
baͤndchen hervorkoͤmmt, laſſen dieſe Strahlen den Zu-
ſammenhang der Flaͤche, welche mit der Aderhaut in eins
fortgehet, im Stiche, vermiſchen ſich nunmehr mit der
weißen Haut (t), laufen queer uͤber das kleine Thal, wel-
ches die Cryſtallinſe mit der glaͤſernen Feuchtigkeit gemein
hat, und legen ſich endlich etwas mehr nach vorne zu, als
ihr groͤſter Kreis liegt, auf die Kapſel dieſer Linſe (u),
ohne
[827]I. Abſchnitt. Das Auge.
ohne ſich in menſchlichen Koͤrpern im geringſten daran zu
haͤngen (x). Es paſſet aber auf jeden Streif an der
Glaßhaut oder auch an der Netzhaut ein aͤhnlicher Strich,
welcher bey den Zwiſchenraͤumen der Streifen des Stern-
bandes hervorragt (y), und an der Linſe ſchwarze Spu-
ren hervor bringt, die mit ihm uͤbereinſtimmig ſind (z).
Sie haͤngen ſich aber an dieſe Striche der Glaßhaut, in
eben verſtorbenen Menſchen genau (a), doch nach einigen
Tagen, aber (b) auch in den Voͤgeln, nur ſchwach an. Sie
ſchweben, wenn man die Linſe wegſchaft, eine Linie weit
frey herum (c). Jm Haaſen und Wolfe werfen ſie ſich
augenſcheinlich, nachdem ſie ihre groͤſte Breite abgelegt,
in die Streife der Traubenhaut hinein, ſie bringen dieſe
zum Vorſchein, und haben alſo uͤberhaupt in der Cry-
ſtallinſe nicht ihr Ende. Der alſo herumſchwimmende
Theil beſitzt an ſeinen freien Streifen keine ſolche Haut,
wodurch ſonſt zwei Strahlen des Sternbaͤndchens zuſam-
men gehalten werden (d), doch behaͤlt aber auch jeder
Streif ſeine eigene Membran. Zinn hat ſie gezaͤhlet,
und ohngefehr ſiebenzig gefunden (e); an den Fiſchen zei-
gen ſich keine ſolche Fortſaͤtze des Regenbogens: und es
bekoͤmmt die Cryſtallinſe ihre beſondere Unterſtuͤtzung.
Es iſt dieſes in den Arten der Karpen ein Fortſatz der
ruyſiſchen und Netzhaut, welcher ſich gleichſam zu einen
holen Beutel bildet, und endlich einen breiten Bandſtreif
verduͤnnet, der an der Hinterflaͤche der Cryſtallinſe an-
haͤngt. Jn den Fohren (Trocta) und Hechte koͤmmt von
der Centralſchlagader der Netzhaut ein Faden um den
Glaßkoͤrper zu liegen, und wenn er von der ſchwarzen
Mem-
[828]Das Geſicht. XIV. Buch.
Membran und der Traubenhaut Zuwachs bekommen, ſo
verwandelt er ſich in eine kleine Glocke, die gefleckt, in-
wendig weiß, voller Gefaͤße und nervigt iſt, und ſich mit
ihrer ſcharfen Spitze in die Capſel der Cryſtallinſe hin-
einwirft. Auch dieſe traͤgt ſchon ganz allein zwei Tage
lang die aufgehaͤngte Linſe. Peireſcus redet von zweien
kleinen Handhacken im Thumfiſche (f). Auſſerdem haͤngt
in allen Fiſchen die Traubenhaut an der Glaßhaut ſehr
feſte an.
Da ich dieſes betrachtete und in den Koͤrpern der vier-
fuͤßigen Thiere die Cryſtallinſe von der Glaßhaut ſo frey
fand, daß ſie ſich nach Belieben wenden ließ, und die
fordere Flaͤche der Linſe der Netzhaut zukehrete, und zu
gleicher Zeit die waͤßrige Feuchtigkeit truͤbe fand, ſo bin
ich dadurch nunmehr bewogen zu glauben, daß die Cry-
ſtallinſe einiges Band haben muͤſſe, von dem ſie in ge-
ſunden und vollſtaͤndigen Koͤrpern eine ſichere und beſtaͤn-
dige Lage erhalten muß. Jch glaube aber dem ohngeach-
tet doch, daß das Sternbaͤndchen (corpus ciliare) dieſes
Band iſt, und daß es auf zweierlei Art die Cryſtallinſe
trage. Erſtlich, daß es mit ſeinen Spitzen, ob dieſe
gleich frei zu ſeyn ſcheinen, dennoch ſo viel als hinlaͤnglich
iſt, durch Huͤlfe des ſchwarzen Schleims an der Linſe feſt
klebe. Jch habe dieſe Feſtigkeit in einer Katze geſehen,
und wenn ich die Linſe zog, ſo folgten die Strahlen des
Sternbaͤndchens dem Zuge, ohne von derſelben loszulaſ-
ſen. Jhr Anhaͤngen iſt viel groͤßer und unverletzlicher
im Reiher, bei dem der ganze Koͤrper das Sternbaͤnd-
chen an der Kapſel der Kryſtallinſe unaufloͤslich feſte haͤngt.
Die zwote Kraft beſtehet in ſchwarzen Schleime, welcher
die vorragenden Linien eben dieſes Koͤrpers an die Furche
des Sternbaͤndchens dergeſtalt anhaͤngt, daß ſie nicht,
ohne einige kleine Gewalt der Hand, abgeſondert werden
koͤnnen. Doch es ſcheinen dieſe Bande von der Faͤulniß
zerſtoͤhrt zu werden, welche den Schleim aufloͤſt und die
waͤßrige
[829]II. Abſchnitt. Das Auge.
waͤßrige Feuchtigkeit truͤbe macht. Jch glaube alſo, daß
in den Koͤrpern, von welchen beruͤhmte Maͤnner geredet
haben, die Faͤulniß einen ſolchen Grad erreicht haben
muͤſſe, daß die ſchwimmende Spitzen von der Cryſtal-
linſe los gelaſſen haben: denn ich habe in den großen vier-
fuͤßigen Thieren dieſelben mit Zuverlaͤßigkeit los gehen ge-
ſehen. Dieſe Kraft und Schleim zu verduͤnnen iſt um
deſto groͤßer, wenn die ganze Linſe nebſt den Glaßkoͤrper
beweglich gemacht wird, und ich habe auch geſehen, daß
ſich dieſes in der Winterkaͤlte am fuͤnften oder ſechſten
Tage zugetragen. Endlich habe ich ſelbſt an den Augen
des Reihers, wo die Strahlen des Sternbaͤndchens an
der ganzen Cryſtallinſe viel genauer feſte haͤngen, am
fuͤnften oder ſechſten Tage gefunden, daß die ſchwim-
mende Radii des Sternbaͤndchens von dieſer Linſe los
gegangen.
Es bildet ſich ferner dieſes corpus ciliare an großen
Thieren offenbar aus einer Haut, welche ſich in einen
kleinen Schlauch erweitert (g), dergleichen an dem Kam-
me der Voͤgel vorkoͤmmt, und deſſen Spitze mit ſchwarz-
braunen zottigten Flecken verzieret iſt (h), ſo wie ſich deſ-
ſen Ende gleichſam in einer dickern Handhabe endigt:
Wiewohl ſich zwiſchen denen wurmfoͤrmigen Raͤndern in
der That eine weiße Haut daſelbſt zeigt, wo ohne Ver-
groͤßerungsglaß ein Loch zu ſeyn ſcheinet. Endlich iſt der
ganze Koͤrper des Sternbaͤndchen mit fedrigen ſehr zarten
Zotten allenthalben uͤberzogen, die von der ruyſiſchen
Haut geliefert werden. Von muskelhaften Weſen, findet
hier nicht das geringſte ſtatt (i). Es zeigen ſich wechſel-
weiſe laͤngere und kuͤrzere Strahlen (k), welche hie und
da durch Aeſte an einander gehaͤngt ſind (l).
Es iſt die ganze inwendige Flaͤche der Aderhaut (m),
welche einige ruyſchens Haut nennen, ſo wie auch die
ganze hintere oder inwendigere Flaͤche der Fortſaͤtze des
Regenbogens, ſo wie endlich diejenige Flaͤche der Trau-
benhaut, welche ſich gegen dieſe Fortſaͤtze zukehret, mit
einen ſchwarzbraunen (n) und faſt ſchwarzen Schleim be-
deckt, welcher die Geſtalt von einer weichen unorgani-
ſchen Membran hat, und ſich in große Flecken heraus
waſchen laͤſt. Er iſt in Kindern dicker als in Erwach-
ſenen (o), und bleicher gegen den Hinternurſprung der
Aderhaut zu. Er treibet das Waſſer auf, wenn man
ihm wegwaͤſcht, faͤrbt den groͤſten Theil deſſelben (p) und
macht es braun wie von Toback, oder Sapphierblau (q),
welches aber was ſeltenes iſt. Vom Weingeiſte verhaͤr-
tet er ſich mehr, als daß er gerinnen ſolte (r), und laͤſt
ſich leicht in runde Maſſen bringen, welche auf der Netz-
haut ihren Eindruck zuruͤck laſſen. Uebrigens haͤngt er
ſich nicht wenig an, und er laͤſt ſich nicht ohne einige Zeit
und Macerirung abwiſchen, indem ich oft in Menſchen,
in Voͤgeln und in vierfuͤßigen Thieren große ſchwarze
Flecken an der Netzhaut haͤngen geſehen. Dieſe Flecken
laufen im Fiſche wie eine Membran zuſammen, und be-
decken die ganze Netzhaut. Man vermiſſet am weißen
Kaninchen (s) mit rothen Sternen dieſen ſchwarzen
Schleim, und daher koͤmmt es, daß man durch die Horn-
haut die Gefaͤße der Netzhaut und der Aderhaut wahr-
nehmen kann. Er mangelt in den vierfuͤßigen Thieren
dem-
[831]I. Abſchnitt. Das Auge.
demjenigen Theile, wo ſich die leuchtende Tapete ſehn
laͤſt. Uebrigens trift man dieſe ſchwarze Farbe meiſten-
theils an den Augen der Fiſchen an, und ſie herrſchet auch
bei den Jnſecten (t); am Huͤhnchen ſtellet ſich nach vier
und neunzig Stunden dieſe Schwaͤrze zu allererſt im
Auge ein (u).
Von dieſem Schleime ſelbſt erzeugt ſich in den Kindern
ein ſchoͤner Ring (x), wenn man den Koͤrper des Stern-
Baͤndchens mit Genauigkeit von der glaͤſernen Feuchtig-
keit entfernt. Es zeiget ſich alsdenn an der Glaßhaut
eine darunter liegende dem Sternbaͤndchen aͤhnliche, eben-
falls gegen die Schlaͤfe zu breitere (y) und gegen die Naſe
ſchmalere Figur von einer ſchoͤn ausgezackten Blume, die
auch einen Theil der Cryſtallinſe ſelbſt bedeckt, und mit
ihren Streifen auf die wechſelweiſe Streifen des Stern-
baͤndchens paſſet. Jn den Fiſchen zeiget ſich ein ſehr aͤhn-
licher und recht runder Ring, der ſich leicht in Ordnung
bringen laͤſt.
Oft irren einige von dieſem Schleime abweichende Flo-
cken an dem Rande des Regenbogens herum, und haben
in einem jungen Schweine an der Membran, nach Art
einer Nadel am Stern gehangen.
Es iſt der Urſprung dieſer Tinte wenig bekannt. Man
koͤnnte, da ſie von einem ſchleimigen Weſen, Drieſen
fuͤr ihr Abſonderungswerkzeug halten, dergleichen Peter
Chirac von dem aͤuſſerſten Ende des Regenbogens (z),
an
[832]Das Geſicht. XIV. Buch.
an der Aderhaut Coſmopolita (a), Valſara(b) und
Guenellon(c), an der Traubenhaut J. H. Sba-
ragli(d), an den aͤußerſten Sternbaͤndchen Johann
Mery und der beruͤhmte Briſſeau(e) geſehen haben
wollen. Diejenigen, welche in den neueſten Zeiten dieſe
Sache in Unterſuchung gezogen haben, haben an dieſem
Theile des Auges niemals eine wahre Drieſe geſehen, ſo
wenig als Morgagni(f), Ruyſch, Zinn, oder ich.
Es hat auch der hintere Theil des Auges viel von dieſem
ſchwarzen Schleime an ſich. Daß dieſe Tinte aus den
thieriſchen Geiſtern, welche etwas dem Queckſilber aͤhn-
liches an ſich haben, und aus dem Schwefel des Bluts
eben ſo wie der aͤthiops mineralis gemacht werde, fuͤhre ich
aus den C. N. le Cat(g) darum an, damit man ſehe,
daß die Muthmaſſung ihre Freiheit noch nicht eingebuͤſ-
ſet habe.
Es iſt dieſes ein alter Name, ob man wohl nicht eben
ſagen kann, warum die Alten dieſen Theil ſo genannt ha-
ben (h). Sie haben es fuͤr eine wirkliche Haut er-
kannt (i). Es iſt die dritte gemeinſchaftliche Bekleidung
des Auges, wenigſtens des Hinterauges, und man haͤlt
es gemeiniglich fuͤr die innerſte Bekleidung deſſelben. Es
hat die Netzhaut aus dem Marke des Sehenerven (k),
doch
[833]II. Abſchnitt. Das Auge.
doch in verſchiedenen Thierarten, auf verſchiedne Weiſe
ihren Urſprung.
Wir haben geſagt, daß ſich der Sehnerve im Men-
ſchen und in aͤhnlichen vierfuͤßigen Thieren zu einem Kegel
zuſammen ziehe (n*), wenn er durch die dunkle Hornhaut
durchdringt: daß er ferner an dem allerengſten Orte mit
einer zarten und durchloͤcherten Membran bedekt wird (o),
durch deren Loͤcher ſich das Mark ausdruͤkken laͤſt. Dieſes
Mark, ſo wie es durch dieſe Loͤcher gegangen (p), giebt ſich
dergeſtalt zuſammen, und verwandelt ſich in eine zwar dik-
ke (r), aber doch ſehr weiche und durchſichtige Membran (s),
wenn man ein friſches Auge anſieht, daß man durch ſie unter
den Waſſern die Aderhaut wiewohl gelbgrau ſehen kann.
Der Urſprung deſſelben iſt ein wenig niedergedruͤckt, und
hat gleichſam die Geſtalt eines Kelchs (t), die im Men-
ſchen undeutlicher, in den Thieren hingegen gemeiniglich
deutlicher in die Augen faͤllt (u): denn es iſt in den meh-
reſten Thieren das ſiebfoͤrmige Plaͤttchen unterhalb den
Horizont der ruyſiſchen Haut herabgedruckt. Von ſtar-
ken
H. Phyſiol. 5. B. G g g
[834]Das Geſicht. XVI. Buch.
ken Weingeiſte und Eßige, wie auch von ſelbſt nach dem
Tode, pflegt die Nezhaut undurchſichtig zu werden. Sie
hat in allen Thieren eine weißliche Farbe (x), ohne ſich
mit einer andern zu vermiſchen.
Von dieſem Urſprunge ſpannet ſich die Nezzhaut allen-
thalben um die innere Flaͤche der Aderhaut und um die
glaͤſerne Feuchtigkeit aus (y): doch iſt ſie von dieſer (z) und
von der Aderhaut los (a), umſpannt den groͤßern Theil
der Kugel, haͤngt ſich feſt an den Anfang der Aderhaut-
fortſaͤtze an (b), und verrichtet dieſes mit einem augen-
ſcheinlichen reinen und etwas dickern Zirkel (c).
An den Voͤgeln entſpringt ſie auf eine andere Art aus
den Sehenerven. Es bringt dieſer nemlich wie wir ge-
ſagt haben, indem er ſchief nach einwaͤrts verlaͤngert, aus
ſeiner Bekleidung die Blutader hervor. Hingegen geht
das Mark durch eine lange Spalte hindurch, und ich
habe daſſelbe leicht im Reiher aus der ganzen Laͤnge der
weiſſen Platte durch Druͤcken herausgepreßt. Dieſes
Mark verwandelt ſich nun, wenn es durch die lange
Spalte
(u)
[835]II. Abſchnitt. Das Auge.
Spalte der Bekleidung durchgegangen (d), in eine durch-
ſichtige Nezzhaut, welche auch ſogleich an dem Orte, wo
der Kamm iſt, zwiſchen dieſen Kamm und Nerven mit-
ten inne hervorkoͤmmt. Sie bieget ſich daſelbſt eben ſo
wohl und mit eben ſolchen Zirkel um, und ſcheinet ſich
bei dem Anfange des Sternbaͤndchens zu endigen.
An den Fiſchen iſt der Bau der Nezzhaut ſchoͤn und
bequem zu ſehen. An einigen iſt, z. E. am Karpen und
Schmerl wie auch an anderen, der Sehenerve unter der
dunklen Hornhaut erweitert, und nachdem er dieſelbe durch-
bohret, und die Aderhaut hervorgebracht, ſo verlaͤngert
er ſich, laͤuft noch durch einen kleinen Raum entbloͤßt
fort, und bringt hernach ſo wohl den Scyphum vaſculo-
ſum, als die naͤchſte ruyſiſche Haut hervor, und nach-
dem er ſelbige ebenfalls durchbohret, ſo laͤuft er weiter
fort, und erzeuget endlich die Nezzhaut. Jnwendig er-
ſcheint durch die unverlezte Feuchtigkeiten hindurch
ein weiſſer undurchſichtiger, und ein wenig niedergedruck-
ter Zirkel mit einem Loche zu Gefaͤſſen durchbohret, und
es umgiebt in verſchiedenen Fiſcharten dieſen Kreiß eine
vielfache Reihe von braunen Haaren.
An dem Fohren (trocta), am Lachſe und dem Hechte
ſiehet man einerley Bauart, wie an den Voͤgeln, und
es laͤſt der Sehenerve die Nezzhaut durch eine ſehr lange
Spalte durchgehen, indeſſen daß er ſich ſelbſt zu beiden
Seiten in einem Boden verlaͤngert.
So viel von dem Urſprunge der Nezzhaut; nun muͤſ-
ſen wir auch ihr vorderes Ende unterſuchen. Es iſt of-
fenbar, daß an den Voͤgeln, die ich geoͤfnet, an einer
großen Menge von Huͤhnern, Tauben, Gaͤnſen, Enten,
und ſo auch an den Raubvoͤgeln, z. E. am Geyer, der
dickere Theil der Nezzhaut nicht weiter fortlaͤuft: und
daß aus dieſem Zirkel (e), mit welchem die Nezzhaut am
Sternbaͤndchen ſeſthaͤngt, eine zartere mehr nach inwen-
G g g 2dig
[836]Das Geſicht. XVI. Buch.
dig zu, als dieſes Sternbaͤndchen liegende aſchfarbene und
von der Glaßhaut verſchiedene Platte, weiter als die uͤbri-
ge Nezzhaut fortgehet, daß ſie unter das Sternbaͤndchen
untergeſchichtet und zur Cryſtallinſe zugleich mit fortlaͤuft.
Es laͤſt ſich dieſe Platte am Huͤnchen, ſo lange dieſes noch
im Ey eingeſchloſſen iſt, vom corpore ciliari dergeſtalt
abſondern, daß ſie an der Glaßhaut unverlezt zuruͤkke
bleibt (g). Eben dieſe Platte kann auch von der Glaß-
haut in jungen Thieren getrennet werden, ſo, daß ſie
ſelbſt bei dem corpore ciliari bleibt, und nur eine ſehr
durchſichtige Spur, die einen vollkommenen Zirkel zeich-
net, an der Glaßhaut uͤbrig iſt, eine Spur, die weniger
nach auswendig liegt, als da das Plaͤttchen der Nezzhaut an
ſeinem Orte liegen blieb. Wenn aber das Huͤnchen aus
dem Ei gekrochen iſt, ſo haͤngt ſich dieſe kleine Membran
ſo wohl an das corpus ciliare als an die Glaßhaut an (h).
Man koͤnnte ſagen, daß dieſe Platte nicht von der Nezz-
haut herruͤhre, und daß ſie eine neue Membran ſei: doch
iſt ſie eine Fortſezzung von der Nezhaut, und zwar aus
der aͤuſſern Flaͤche derſelben (i), ob ſie gleich duͤnner iſt,
und von ſauern und weinartigen Geiſtern opac wird.
Jch habe aber im Menſchen auch dergleichen (k) Mem-
branchen, ſo wie andere beruͤhmte Maͤnner neben mir,
als Winslow(l), Pallucci(m) und J. Lieutaud(n),
Fere-
[837]II. Abſchnitt. Das Auge.
Ferrenius(o), Tenonius(p) wahrgenommen: und es
haͤngt alſo auch in dem Auge eines erwachſenen Koͤrpers
zwar die Nezzhaut an der Glaßhaut und an dem groͤſten
Umkreiſe des Sternbaͤndchens an, ſie laͤſt aber doch auch
eine zaͤrtere Platte durchgehen (q), welche das Stern-
baͤndchen von innen zu bekleidet, das unter dem Schleim-
ringe liegt, und koͤmmt mit dieſem Sternbaͤndchen bei der
Linſe an, an deren vordern Flaͤche ſie ſich anhaͤngt. Jch
glaubte dieſe Platte im Jahre 1744 den 9. Apr. in einer
Frucht zuerſt gefunden zu haben, und nach der Zeit habe
ich ſie auch an einigen menſchlichen Koͤrpern bemerkt.
Es leugnete aber Zinn(r) dieſes Plaͤttchen; eben die-
ſes thun auch andere beruͤhmte Maͤnner, und da ich daſſelbe
dem Zinn ſelbſt an einem Menſchenauge zeigte, ſo berief
ſich derſelbe auf den Weingeiſt, welcher ſehr zarte Theile
zu veraͤndern vermoͤgend ſey (s): dasjenige aber, was
andere beruͤhmte Maͤnner geſehen haben (t), eignete er
der Glaßhaut, und der von ihm ſogenannten Zona ci-
liaris zu. Er wirft ſogar wegen der Lage ſelbſt Fragen
auf (u). Doch macht er wegen der Lage zwiſchen dem
Schleimringe und der Glaßhaut kein Bedenken. Jch
habe an den Voͤgeln die glaͤſerne Zonula und Nezhaut
mehr als zu gewiß unterſcheiden koͤnnen: und es kann am
Menſchen der Zirkel des Petits in allen unverlezten Koͤr-
pern gewieſen werden, welches ein Beweiß iſt, daß die
vordere glaͤſerne Zonula unverſtuͤmmelt uͤbrig bleibe, wenn
die weiſſen Plaͤttchen der Nezzhaut faſt in allen Koͤrpern,
an dem ſchwarzen Schleime haͤngend geſehen werden. Ob
G g g 3nun
[838]Das Geſicht. XVI. Buch.
nun gleich die Sache an den vierfuͤßigen Thieren viele
Schwierigkeiten macht, ſo habe ich dennoch die Membran
von der Nezzhaut bis zur Linſe unter dem Schleimringe,
vor kurzer Zeit am Dachſe verfolgt. An den Voͤgeln
hoͤrt an dieſem Orte die wirkliche Nezzhaut auf; allein es
laͤuft eine duͤnnere Platte weiter fort, und an den Fiſchen
findet keine Zona ciliaris des Zinns ſtatt. Wenn ich
alles dieſes erwege, ſo trete ich derjenigen Meinung bei,
welche eine von der Nezzhaut verſchiedene kleine Mem-
bran, zwiſchen der Trauben- und Glaßhaut, zur Linſe
laufen laͤſt.
Die Nezzhaut hat eine große Empfindlichkeit, indem
ſie ein fortgeſeztes Mark des Sehenerven iſt. Und wenn
ſie von der Sonne zu ſehr getroffen wird (x), ſo verur-
ſachet ſie heftige Schmerzen und Ohnmachten. Es ſoll
an einem andern Orte gezeiget werden (y), an welchem
Theile ſie unempfindlich iſt.
Sie hat rothe Gefaͤſſe (z), welche in allen Geſchlech-
tern der vierfuͤßigen Thiere deutlich ſind, wiewohl die klei-
nen Aeſte weniger Roͤthe haben (a) und deutlich ſind, und
dennoch nicht eben mit großer Schwierigkeit die einge-
ſpruͤzten duͤnne und gefaͤrbte Saͤfte annehmen, wovon ſie
zu einem deutlichen Nezze werden (b). Jch will von
ihrem Urſprunge und von ihren Staͤmmen, welche durch
die ſiebfoͤrmige Platte gehen, an einem andern Orte reden.
Von dieſen an der Nezzhaut deutlichen Gefaͤſſen ſind ei-
nige ganz offenbar Schlagadern, andere hingegen Blut-
adern, wie Oribaſius vorlaͤngſt bemerkt hat (c). Jch
habe dieſes an den Fiſchen nicht ſehen koͤnnen, und es iſt
an den Voͤgeln viel undeutlicher wahrzunehmen. Dieſes
von
[839]II. Abſchnitt. Das Auge.
von Gefaͤſſen gebildete Nez lieget dergeſtalt, daß es die
innerſte Gegend, oder die den Glaßkoͤrper beruͤhrende
einnimmt, ſo wie die aͤuſſere, welche gegen die ruyſiſche
Haut zugekehret iſt, von vielen angehaͤuften Mark bedeckt
wird. Jch leſe, daß man hier zwei Membranen finden
will (d); es hat mir aber niemals gluͤcken wollen (e), daß
ich den Theil der Gefaͤſſe unverlezt abſondern koͤnnen,
daß der markige Theil unverlezt geblieben. Man kann
es aber in der That durch ein weichendes Waſſer dahin
bringen, daß nach Zerſtoͤhrung des Markes (f), ganz
allein ein Adernezze uͤbrig bleibt, welches von einem Fa-
dengewebe bedeckt iſt (g). Zu dieſem Verſuche hat
Ruyſch den Anfang gemacht (h), und Albin hat den-
ſelben vollendet.
Jn den Fiſchen iſt alles (h*), auch ohne Kunſtſtuͤck deut-
licher. Es zeigt ſich naͤmlich am Karpen, da wo der Se-
henerve gleichſam mit zwo ſchwarzen Linien bemahlet iſt,
an der Nezzhaut kurz darauf einige Abſonderung, wenn
man ſie im Weingeiſte maceriret, dergeſtalt, daß ſich ein
kleiner markiger Stiel des Nerven gleichſam in eine deut-
liche Halbkugel wirft. Wenn man alsdenn mit einem
Meſſer die Nezzhaut laͤngſt der Richtung der Faſern ſpal-
tet, ſo wird ſich dieſelbe offenbar in eine aͤuſſere und weiſſe
Membran verwandeln, die nur da nicht mehr weiß iſt,
wo der ſchwarze unorganiſche Schleim an ihr anhaͤngt:
Die inwendige Membran iſt hingegen ein wirkliches Mark,
welches ungemein artig anzuſehen iſt, und gleich dem aller-
reinſten Schnee ſich in Streifen und gradeu Faſern aus-
dehnt, wo ſich aber das Mark anfaͤngt zu zerſtreuen, da
G g g 4iſt
[840]Das Geſicht. XVI. Buch.
iſt gleichſam ein Loch oder niedergedruͤckte Stelle, wie ein
Trichter vorhanden. Folglich iſt hier an der Nezzhaut
eine inwendige faſrige Platte, und eine andere aͤuſſerliche
breiige (h**) vorhanden. Die deutlichſten, groͤßeſten und
am meiſten freie Faſern kommen am Schleichen vor, wie-
wohl man ſie auch in den groͤßern Karpen findet. Jch
habe dieſe faſrige Bauart ferner vor kurzem mit allen
Fiſchen, am Hechte und Lachſe (h†), gefunden, und ich
habe auch eben ſo die beiden Platten an allen abſondern
koͤnnen. Dieſes gehet auch unter den Voͤgeln, doch
aber nicht eben ſo leicht von ſtatten, als in dem indiani-
ſchen Huhn und dem Reiher. Ob auch gleich die Nezz-
haut in den vierfuͤßigen Thieren verhaͤltnißmaͤßig weicher
und zarter iſt, ſo habe ich dannoch auch in der Kazze, im
Schweine und Steinbocke mehrmalen, wenn ich die weiche
breiige aͤuſſerſte Haut abſchabte, eine inwendige und ſehr
zarte Platte voller Gefaͤſſe abgeſondert. Und alſo laſſen ſich
uͤberhaupt, ohne Furcht zu irren, an der Nezzhaut zwey
Plaͤttchen annehmen, ein breiiges und ein ſpinnenwebi-
ges Plaͤttchen, welches wirklich dieſen Namen verdienet.
Jch glaube auch nicht, daß denen uͤbrigen Thieren die
Faſern mangeln, welche ich am Haaſen (h††) und am
Schweine, aus der Klaſſe der vierfuͤßigen Thiere, ſo wie
unter den Voͤgeln am Reiher deutlich geſehen, und die
an der Eule noch deutlicher ſind.
Einige ſtrahligte Falten und weiche Stellen (i) hat
wohl der Zufall zuwegegebracht, wirkliche Streifen aber (k)
oder ſtrahlige Faſern ſind an der durchſichtigen Nezzhaut
des Menſchen gar nicht vorhanden (l), obſchon die verglei-
chende
[841]II. Abſchnitt. Das Auge.
chende Anatomie die ſubtilere und unſichtbare Faſern ver-
muthen laͤſt.
Es iſt in allen Thieren, die Augen haben, eine Nezz-
haut vorhanden, indem ſich in dem Jnwendigſten ihrer
Augen ein markiger Gehirnbrei zeigt (n).
Ueberhaupt iſt die Bauart an den großen Augen der
Bienen ungemein artig. Denn obgleich ihre ſechseckigte
Hornhaut von einer Pyramidalfaſer angefuͤllt iſt, welche
an der Oberflaͤche ſchwarz, und gegen den Boden des
Auges convergirend (o), ſo iſt ſie doch, wo ſie ihre Spizze
an der halbmondenfoͤrmigen Membran (p) hat, weiß:
und unter ihr liegt eine duͤnnere und durchſichtigere (q),
und ich glaube, daß dieſe die Stelle der Nezzhaut ver-
trit. Unter dieſer, der Nezzhaut aͤhnlichen Membran
zeiget ſich eine Reihe von weichen Faſern, unter welche
ſich Luftroͤhrenaͤſte miſchen, die ſich inwendig an dieſe
Membran anſchlieſſen, uͤberzwerg laufen, und diejenigen
Pyramiden tragen (r), welche mit dem Gehirn zuſam-
menhaͤngen, (r*) und mit dem Gehirn einerlei Farbe haben.
So laͤuft am Naſenhornkaͤfer der dicke Sehenerve (s) zu
der Membran (t), ſo der Nezzhaut aͤhnlich iſt, und auf
dieſer ſtehen die gallertartigen Pyramiden auf, welche
mit ihrer Baſis ſeine Hornhaut anfuͤllen (u). Am Ufer-
aaſe (x) findet man nicht nur ein nezzfoͤrmiges Haͤutchen,
ſondern auch Faſerchen, welche von demſelbigen entſtehen,
und nach einer jeden Hornhaut hinlaufen (y). Ueber-
haupt hat es auch eben dieſe Beſchaffenheit mit den klei-
nen Krebſen, in denen der Sehenerve zu dem Gallerte,
welcher unter der Hornhaut liegt, augenſcheinliche Faden
G g g 5ſendet.
[842]Das Geſicht. XVI. Buch.
ſendet (z). So zertheilt ſich im Rochen der in Faͤden
abgetheilte Nerve, unter die Theilchen der Hornhaut
aus (a).
Man erlaube uns mit wenigem von dieſen ungemein ar-
tigen Theile zu reden, welchen ich in allen Voͤgeln be-
trachtet habe, und welchen Petit, nachdem die Arbeiten
ſeiner Vorgaͤnger nicht gluͤcklich genug geweſen (b), ge-
nauer beſchrieben. Jch werde aber dieſem noch etwas bei-
fuͤgen muͤſſen (c).
Es koͤmmt innerhalb dem Urſprunge der Nezzhaut aus
dem Sehenerven der Kamm hervor, dergeſtalt, daß man
die ganze Nezzhaut von dieſem Nerven los machen kann,
und dieſe Nezzhaut enthaͤlt dieſen Kamm, wie eine Schei-
de, die ſich auch mit einem blinden Ende endet. Er
entſpringt von der Nezzhaut aus der Spalte des Sehe-
nerven (d) mit Flaͤchen, die gleichſam wechſelsweiſe zu der
Schneide einer Saͤge auslaufen. Es iſt gleichſam eine
vierſeitige (e) beutlige Membran (f), voller Gefaͤſſe,
dunkelbraun und faſt ſchwarz, zart, zerfaltet ſich uͤberein-
ander, nach Art eines Faͤchers, iſt einem kleinen Sacke
nicht gleich (g), enthaͤlt keine Hoͤhle, und wenn man ſie
maceriret, ſo entwickelt ſich eine unvollkommene grade
Flaͤche. Sie laͤuft nach vorne (h) gegen den hintern Theil
der Linſenkapſel, ſchließt ſich an dieſelbe breit an, wiewohl
ſich bisweilen nur ein einziger laͤngerer Faden (i) ganz
allein an ſie feſt anhaͤngt, bisweilen aber nicht einmal
ein
[843]II. Abſchnitt. Das Auge.
ein Faden zu ſehen iſt, und ’blos die Linſe vom Kamme
angezogen wird.
Es laufen aus den Sehenerven in den Kamm ſo viel
nach der Ordnung einander paralel gehende Schlag-
adern (k) und ſo viele Blutadern, als Falten vorhanden
ſind, ſie laufen laͤngſt der Laͤnge des Kamms nach deſſen
vorder Ende, und vielleicht auch nach der Kapſel der
Linſe hin (l).
Der Kamm hat weder Faſern (m) noch etwas muskel-
haftes (n), daß er die Linſe bewegen koͤnnte (o): ſon-
dern er iſt uͤberhaupt eine Membran, welche dem Stern-
baͤndchen ſehr aͤhnlich iſt. Es will der beruͤhmte Petit,
daß er die Seitenſtrahlen des Lichts auffangen ſoll (p).
Mir ſcheint derſelbe, da er der albiniſchen Schlagader
und dem Saͤckgen in den Fiſchen gleich iſt, der Cryſtal-
linſe das Blut zuzufuͤhren.
Es haben naͤmlich auch die Fiſche einen doch ſehr un-
aͤhnlichen Kamm. Es kommt an den Fohren (trocta)
und Hechte, aus dem Eintritte des Sehenerven, eine
Schlagader hervor, welche mit einer ſchwarzen Mahlerey
uͤberzogen iſt, und deren Ein Aſt nach dem Glaßkoͤrper
hinlaͤuft, da ſich der andere Aſt um die glaͤſerne Feuchtig-
keit herum legt, von einem nach und nach hoͤher werden
den Fadengewebe groͤſſer gemacht wird, und endlich gleich-
ſam von der inwendigen Seite des Regenbogens ſich in
eine kleine Feder verwandelt, welche mit ihrer Spitze an
der Kapſel der Cryſtallinſe anhaͤngt (p*). Doch es laſſen
ſich am Karpen und an der andern ſchlechten Karpenart,
Capito genannt, die Gfaͤſſe des Glaßkoͤrpers noch ſchoͤ-
ner
[844]Das Geſicht. XVI. Buch.
ner demonſtriren. Es kommt nemlich an dieſem Fiſche
aus der ruyſiſchen Haut nebſt den Traͤger der Cryſtal-
linſe, eine Schlagader hervor. Dieſe zerſpaltet ſich in
zween Aeſten, und umgiebt, da wo ſich die Nezzhaut
vorne endigt, die ganze glaͤſerne Feuchtigkeit, nach Art
eines Zirkels. Aus dieſem Zirkel laufen unzaͤhlige Ge-
faͤſſe zur Glaßmembran; ſie zerſtreuen ſich allenthalben,
biegen ſich um die Erhabenheit dieſer Feuchtigkeit herum,
und vereinigen ſich mit den hintern Gefaͤſſen, vermittelſt
Aeſte, die wie eine Hand ausſehen. Es gehen dieſe hin-
tern Gefaͤſſe von der Centralſchlagader der Nezzhaut nach
dem Mittelpunkte der glaͤſernen Feuchtigkeit. Und nach-
dem ſie ſich aus einem einzigen Anfange wie Strahlen
auseinander breiten, ſo laufen ſie theils gerade, theils
ſchlangenfoͤrmig nach dem Umkreiſe, und ſind unter ſich
ſelbſt, und mit denen vordern Gefaͤſſen durch ſchoͤne Zu-
ſammenhaͤnge verbunden. Jn ihrem Anfange befindet
ſich Blut, doch iſt das Ende der Gefaͤſſe ohne Farbe.
Ob dieſe gleich bei den Alten, Membrana yaloidis,
genannt wird (q), ſo iſt ſie dennoch eine Erfindung des
Fallopius(r), und eine ungemein durchſichtige, ſehr
zarte, von keinem Weingeiſte zu veraͤndernde und ein-
fache Membran (s), und ſo wohl in den Voͤgeln als in
den vierfuͤßigen Thieren und Fiſchen, innerhalb der Nezz-
haut, aus ſich ſelbſt entſtehet, und nirgends, ſo viel man
obſerviren kann, mit etwas zuſammen haͤngt, wenn man
nicht etwa das albiniſche Schlagaͤderchen (t), oder die
durch-
[845]II. Abſchnitt. Das Auge.
durchſichtigen Gefaͤſſe der Glaßhaut dazu rechnen wolte,
welche im Schaafe und Ochſen (u) zu derſelben, indem
ſie mit der Nezzhaut paralel laͤuft, nicht undeutlich ge-
laufen koͤmmt. Es laͤſt ſich die Glashaut ſehr leicht zei-
gen, wenn man ſie durch eine kleine Wunde aufblaͤſt;
und man muß ſich in der That wundern, daß es Leute
gegeben, die ſolche gelaͤugnet haben (x). Aus ihr laͤuft,
wenn ſie verletzt worden, die Feuchtigkeit heraus (y).
Einige ſchreiben, daß ſie vorwaͤrts dicker ſey (y*), ſie
ſcheint ganz kleine Schweißloͤcher zu haben (z), indem die
ſich ſelbſt uͤberlaſſene glaͤſerne Feuchtigkeit faſt ganz und
gar verraucht (a), und ſich gegentheils vom eingezogenen
Waſſer am Gewichte mehret (b). Sie erfuͤllt die ganze
Hoͤhle der Nezzhaut, und laͤuft von deren weiſſen Kreiſe
unter dem Schleimringe weiter nach vorne hin. Doch
verwandelt ſie ſich an dieſem Orte, und in den groͤſſern
vierfuͤßigen Thieren offenbar in zwei Platten.
Die vordere derſelben (c) wird von einigen Furchen
des Sternbaͤndchens gemeiniglich geſtreift, und auch durch
eigene kuͤrzere Faſern (d), die auf dieſe Furchen paſſen,
mehrmalen durchlaufen, ſie gelangt zu der vorderen Ebene
der Cryſtallinſe (e), vor dem groͤſten Zirkel, und haͤngt
ſich daſelbſt an deren Kapſel an. Dieſe Platte hat der
beruͤhmte Camper(f) mit einem neuen Namen, nehm-
lich Corona ciliaris(f*) benannt. Zinn nennt ſie Zona
ciliaris(g): denn die Sache ſelbſt wurde vom Petit(h) ent-
dekt
[846]Das Geſicht. XVI. Buch.
dekt und war lange bekannt, wo nicht gar dieſer Ring
vor dem (i)Petit, dem Jacob Raw gezeigt wor-
den (i). Er wuͤrde zirkelrund ſeyn, wenn er nicht ge-
gen die Schlaͤfe breiter waͤre (k). Daß er von der Nezz-
haut gemacht werde, iſt ein Einfall des Ferrenii, wo-
fern dieſes nicht gar ein Jrrthum des Schuͤlers iſt (l).
Die hintere Platte der glaͤſernen Glaßmembran, be-
giebt ſich zu dem Urſprunge der Fortſaͤtze der Aderhaut,
und zur Linſe einwaͤrts hin; ſie koͤmmt aber etwas weiter
nach hinten hin, iſt gerade ausgeſtreckt, und ſchlieſſet ſel-
bige, nachdem ſie ſie beruͤhret, mit einem ziemlich zaͤhen
Zuſammenhange, von hinten ein. Jch leſe, daß dieſer
Ring, mit welchem dieſe Linſe haͤlt, an alten Perſonen
feſter ſey (m).
Man kann zwiſchen dieſe zwey zarte Membranen (n)
Luft einblaſen, wodurch ein zirkelrunder Kanal entſtehet,
welcher durch verſchiedene kleine Zaͤume gehalten wird, und
von dieſen wird die groͤſte Peripherie der Linſe umgeben.
Er iſt vom Petit benennet worden (n*): und mit kei-
nen (o) deutlich zu machenden fluͤßigen Safte angefuͤllt (p):
Jndem es nur eine Vermuthung iſt, daß er von der Ele-
ctriſirung aufſchwellen ſoll (q).
Man findet ihn, wie ich davor halte, in allen vier-
fuͤßigen Thieren (q*), doch mangelt er in den Voͤgeln,
und es laͤuft nur eine einzige Platte der Glaßhaut zur
Cryſtallinſe fort.
Die Natur hat den Fiſchen, Voͤgeln, vierfuͤßigen
Thieren und den Schalenthieren (r), Feuchtigkeiten in die
Augen geſetzt, welche den Jnſecten voͤllig fehlen (s), und
was einige Schriftſteller (t) Cryſtallinſen genannt haben,
daß ſind wirklich nichts, als hornartige.
Unter dieſen Saͤften iſt die, von der Durchſichtigkeit
ſogenannte glaͤſerne Feuchtigkeit im Auge, am alleruͤber-
fluͤßigſten (u). Sie iſt in der zarten Menſchenfrucht (x), und
in der Frucht der vierfuͤßigen Thiere (y): Denn ſie
iſt in den Voͤgeln vollkommen rein und durchſitig (y*) und
macht faſt ganz allein die Groͤſſe des Auges aus (z): denn
es iſt die Linſe im Huͤhnchen ungemein klein. Es betraͤgt
ihr Gewichte gegen 104 Gran (a), wenn das ganze Auge
142 wiegt.
Jm Menſchen gerinnt dieſe Feuchtigkeit nicht (b), ſie
verfliegt allmaͤhlich beim Feuer, und verraucht auch wohl
von ſelbſten (c), laͤſt ſich eben ſo wenig als das Waſſer
zuſam-
[848]Das Geſicht. VXI. Buch.
zuſammendruͤcken (d), und dieſes thut ſie, ob ſie gleich
Salz, etwas Erde und Luft (e) enthaͤlt (f). Der fleiſ-
ſige Leeuwenhoeck hat in der glaͤſernen Feuchtigkeit
mehrere Kuͤgelchen angetroffen, als in der waͤßrigen (g).
Sie iſt ſchwerer als gemeines Waſſer, faͤllt in demſel-
ben zu Boden, und iſt doch nur um ein geringes dichter
als daſſelbe (h). Sie vergroͤſſert Buchſtaben, wenn man
ſie daruͤber haͤlt (i), wiewohl nur maͤßig, und weniger
als die Cryſtallinſe (k). Von der Kaͤlte wird ſie eben ſo
hart (l) und eben ſo auseinandergedehnt (m).
Uebrigens darf man ſich nicht wundern, daß ſie leim-
artig ſey (n), und zwar um vielmehr als das Waſſer (p)
in den Froͤſchen (q), in der Schildkroͤte (r), in den Voͤ-
geln (s) und in einigen Fiſchen (t), ganz und gar leimig
oder klebrig. Denn ſie iſt kein bloſſes Waſſer. Die
Kaͤlte (u), welche ſie dick macht, die Luft, welche ſich in
einem Windgeſchwulſte ausdehnet (x), ein ſaures Gift,
wovon die Haͤutgen der Faͤcher dunkel gemacht werden (y),
das
[849]II. Abſchnitt. Das Auge.
das nicht ploͤzzliche, ſondern allmaͤhlige Herauslaufen die-
ſes Waͤſſerchens aus entſtandenen Wunden (z), indem
ein Troͤpfgen nach den andern durch friſch gemachte Wun-
den hervor quillt, und in dem Raume, aus welchem die
Luft entzogen iſt, einmal uͤber das andere neue Blaſen
zerplazzen, und Luft heraus laſſen (a): Alles dieſes zeiget,
daß die Glaßhaut (b) in die Hoͤhle dieſes Koͤrpers herab-
ſteige, und denſelben in unzaͤhlige Scheidewaͤnde zertheile,
ſo, daß der ganze Koͤrper aus lauter Faͤcherchen beſteht,
welche unter ſich Gemeinſchaft haben (c), und die auswendig
breiter (d), inwendig aber ſchmaͤler ſind. Das uͤbrige
beſtehet aus dem in die Faͤcherchen aufgenommene Waſ-
ſer und aus Gefaͤſſen, welche ſich durch die Haͤute ver-
theilen. Waldſchmidt thut ihnen eine Ehre an, ſie zu
Parallelepipedis zu machen (d*). Wenn man den glaͤſer-
nen Koͤrper aufblaͤſet, ſo verwandelt er ſich gemeiniglich
in ein Pakk Traubenaͤſte, die zu den kleinen Lappen hin-
gehen (e); es zieht ſich alſo am Feuer, nachdem das
Waſſer verraucht iſt, in einen Knauel Haͤute zuſam-
men (f), und nachdem das geſalzene Waſſer, welches
von der Gewalt des Feuers fortgetrieben worden, in die
Hoͤhe geſtiegen, ſo bleibet ein blaͤſiges und faͤchriges Ge-
webe uͤbrig (g). Dieſer Urſachen wegen, wollen einige
dieſes lieber den Glaßkoͤrper nennen (h). Es wird die
glaͤſerne
H. Phyſiol. 5. B. H h h
[850]Das Geſicht. XVI. Buch.
glaͤſerne Feuchtigkeit von chymiſchen Giften (h*) und in
Krankheiten (h**) bisweilen truͤbe (i), welches die Neue-
ren grauen Staar (k) nennen, ein unheilbares Uebel;
und endlich hat man befunden, daß ſich die glaͤſerne
Feuchtigkeit in ein knorplichtes (l) oder knochiges Weſen
verwandelt habe (m). Uebrigens wird ſie nicht einmal
im hohen Alter ſo leicht opac.
Man hat einſtmals nach dem Gebrauch der Faͤrber-
roͤthe, an der Glaßhaut einige Roͤthe bemerkt (n).
Ein Schriftſteller, der nicht zu verwerfen iſt, behaup-
tet, daß ſie nach der Forttreibung wieder wachſen ſoll (o);
und es ſagen einige, daß der Verluſt, der in den Hand-
grif des Daviels vorgehet, ſich leicht wieder erſezzen
laſſe (o*).
Dieſer Theil war dem Hippokrates nicht unbekannt,
welcher wenigſtens (p) im Auge etwas leimiges kannte,
welches, wenn es herausgenommen wuͤrde, gleichſam
zu einer Art des Weihrauchs wurde. Sie war auſſer-
dem der ganzen Vorwelt bekannt (q). Man findet ſie
in
[851]II. Abſchnitt. Das Auge.
in Fiſchen, in den Voͤgeln und vierfuͤßigen Thieren (r),
aber allezeit viel kleiner als die glaͤſerne Feuchtigkeit iſt,
ſonderlich aber in den jungen Voͤgeln. Sie iſt in Thie-
ren, welche bei der Nacht ſehen, als in der Eule (s), und
ferner im Kaninchen und Haaſen groͤſſer. Dem Ver-
haͤlniſſe nach, iſt ſie viel groͤſſer in den Fiſchen, wenn man
ſie mit der glaͤſernen Feuchtigkeit vergleicht.
Es iſt dieſer Koͤrper von einem hellen und klaren We-
ſen, auch noch an den jungen Voͤgeln, die in den Eyern
ſind, denn ſie zeigt ſich in den Jungen der vierfuͤßigen
Thiere (t), und in ungebohrnen Menſchen, wie ich oft
geſehen habe, in der That roth. Sie iſt in den Kinder-
jahren viel ſchoͤner durchſichtig (t*), und in den vierfuͤßi-
gen Thieren (u) und Voͤgeln farbenlos (x): bei den lezten
zeigt ſie ſich ſehr nett, und ſie wird in ihnen nicht ſo gelbe
als in Menſchen.
Jndeſſen wird ſie doch zeitig bisweilen ſchon an neuge-
bohrnen Kindern, wie ich zweimal geſehen habe, nach
andern hingegen nach dem fuͤnf und zwanzigſten Jahre (y),
gelblich, und ſo naͤhert ſie ſich immer mehr und mehr der
Farbe eines Topaſers. Jch habe aber die Mitte gelber, den
Umkreiß hingegen nur blaßgelb gefunden. Jch habe
aber doch nicht bemerken koͤnnen, wenn ich ſie auftrocknete,
daß dieſe Linſen gelb wuͤrden (z), und ich habe welche
ganz trockne, gummige und ſehr weiſſe Linſen vor mir lie-
H h h 2gen.
[852]Das Geſicht. XVI. Buch.
gen (a). Jm hoͤchſten Alter wird dieſer Cryſtalkoͤrper
opac: denn es vereinigt ſich gemeiniglich dieſes hohe Alter
mit einer Verdunkelung der Augen (b).
Endlich wird ſie auch in den juͤngeren Jahren weiß
und undurchſichtig, ſo wohl am Menſchen als vierfuͤßigen
Thieren (b*): Und es iſt dieſer Staar gemeiner, wie
man bei dem Anfange dieſes Jahrhundert (c) mit Recht
gezeiget hat, und welches durch eine groſſe Menge (d),
ſowohl unſerer als anderer Exempel beſtaͤtiget worden.
Es hatte das vorige Jahrhundert (e) zum Theil nur einige
Vermuthungen davon, zum Theil lieferte es einzelne Be-
obachtungen davon, und es pflegten die Alten Jrrthuͤmer
mit der Wahrheit zu vermiſchen (e*). Die Cryſtallinſe
wird
[853]II. Abſchnitt. Das Auge.
wird auch von ſauren Saͤften und Brandwein opac (f),
ſo wie vom Feuer (g), und von der Congelation (h)
verdichtet (i).
Jhre Figur iſt, in dieſen oder jenen Thieren, ſo wie
am Menſchen anders beſchaffen. So iſt ſie erſtlich in
den Fiſchen nicht kuglich (l). Sie iſt nehmlich allezeit
vorne flaͤcher, wie ich nunmehro an vielen Arten, jedoch
mit einem geringen Unterſcheide (m), vor mir ſehe.
Sie koͤmmt der kugeligen Figur naͤher in dem Ge-
ſchlechte der Schlangen (n), in der Schildkroͤte (o) und
im Froſche (p).
Sie iſt auch in den Thieren von warmen Blute, die
ſich aber im Waſſer viel umſehen muͤſſen, ſehr convex und
ſchwoͤriſch, als im Turſio (q), Meerkalbe (r) und Meer-
ragen (s): indem die Strahlen des Lichts durch das
Waſſer in die Fiſche gelangen, und ihre Hornhaut flach iſt.
Ferner iſt in allen Voͤgeln uͤberhaupt, die ich geſehen
habe, die Linſe mehrentheils vorne flaͤcher (t), am aller-
H h h 3flaͤchſten
(e*)
[854]Das Geſicht. XVI. Buch.
flaͤchſten aber in der Elſter, wo ſie hinten ſehr convex iſt,
und wie es mir ſcheinet, eine groͤſſere Abweichung als in
den vierfuͤßigen Thieren macht (u). Jndeſſen giebt es doch
einige, wo ſie vorne auch convexer iſt, als in der Eule,
in andern (x) und im Koͤnigsvogel (y).
Mehrentheils haben alle vierfuͤßige Thiere dieſes unter
ſich gemein, daß die Cryſtallinſe in ihnen von auſſen flaͤ-
cher, von hinten aber convexer iſt (z). Jndeſſen iſt ſie
doch vorne convexer, und beinahe kuglich im Haaſen (a),
Kaninichen (b), Stachelſchweine (c), Coatimondi (d),
und im Loͤwen (d*). Am allerflaͤchſten ſchien ſie mir an
der vordern Halbkugel in der Kazze; im Dachſe hinge-
gen ſehr convex zu ſeyn, und einen kuglichten Kern zu
haben.
Jn den Menſchen hat ſie zwar nicht immer und beſtaͤn-
dig einerley Figur (e), dennoch iſt ſie ſo beſchaffen, daß
ſie eben ſo, wie in den vierfuͤßigen Thieren, vorne flaͤcher
und hinten convexer (f), doch aber weniger convex als in
irgend einem Thiere iſt (g); und es wuͤrde was ſeltnes
ſeyn,
[855]II. Abſchnitt. Das Auge.
ſeyn, wenn bisweilen dieſe Convexitaͤt entweder gleich
groß (h), oder die hintere kleiner (i), oder auch die Cry-
ſtallinſe paraboliſch waͤre (k): denn dergleichen Linſe hat
weder Zinn(l) noch ich geſehen.
Sie iſt zu beiden Seiten am meiſten convex und faſt
kuglig in einem Menſchen, welcher noch nicht das Tages-
licht erblicket hat, oder in einem neugebohrnen Kinde (m)
und in einem Kurzſichtigen (n). Sie wird hierauf von
ſelbſten immer flaͤcher (o), und man glaubt (p), daß ſie
das voͤllige Maaß ihrer Flachheit ohngefehr um das drey-
ßigſte Jahr erreichte. Jndeſſen lieſet man doch hin und
wieder, daß ſie in alten Perſonen flaͤcher ſeyn ſolle (q);
es wuͤrde in der That ſchwer halten (r), mit ihr Ausmeſ-
ſung vorzunehmen, wenn man mit dieſer Arbeit genau
verfahren wolte. Jndeſſen hat doch Petit, der ſich viel
Muͤhe gegeben, die Cryſtallinſe auszumeſſen, gefunden,
daß ihre vordere Convexitaͤt ein Stuͤck von einer groͤſſeren
Kugel ſey, deren Durchmeſſer zwiſchen ſechs und neun Li-
nien zu ſezzen waͤre, ſelten aber kaͤme es druͤber (s), den-
noch betragen ſie oͤfters ohngefehr \frac{15}{2}tel und acht Linien (t).
Da er die hintere Convexitaͤt derſelben maß, ſo fand er,
daß ſie ein Segment von einer Kugel ſey, deren Diame-
ter zwiſchen 4¾tel und 5½tel Linie, oͤfters aber doch bis
fuͤnf ſey (u). Ehemals verglich Kepler die vordere Con-
H h h 4vexitaͤt
[856]Das Geſicht. XVI. Buch.
vexitaͤt mit einer Sphaͤroide, die hintere aber mit einem
hiperboliſchen Kegel (x).
Peureßius iſt vielleicht der erſte (y), welcher die Cry-
ſtallinſe auszumeſſen angefangen, und es erregen diejenige
einen Zweifel, welche ſagen, daß dieſe Oberflaͤche nicht
vollkommen kugelrund waͤre (z). Walter macht den groͤſ-
ſern Halbmeſſer (a) zwoͤlf, in kleinern eilf; Klifton Win-
tringham(b) macht den Sinus verſus des Bogens, wel-
cher die vordere Convexitaͤt miſſet 0. 189, die hintere Con-
vexitaͤt 0. 266. Die mittlere Achſe der Linſe, oder der
groͤſte Durchmeſſer ihrer Dikke, wurde \frac{19}{100}(c) engliſcher
Zolle und 2 Linien in Frankreich befunden (d). Der
Durchmeſſer ihrer Breite iſt (f) vier Linien und etwas
druͤber, folglich macht Scheiner die Linſe gar zu dick,
wenn er ihren Querdiameter zu der Tiefe wie vier zu drey
macht (g).
Gemeiniglich nimmt man eine zirkelrunde Conferenz
an der Linſe an, es ſind aber dennoch bisweilen die Durch-
meſſer ungleich (h). Molinetti hatte ſie bereits eliptiſch
gemacht (i).
Jhre Schwere, welche ihre Groͤſſe bey gegebener Dich-
tigkeit ausdruͤcket, betraͤgt 4 Gran und etwas druͤber,
bis gegen 4¾ Gran (k).
Man erſiehet zugleich, daß ſie dichter als Waſſer ſeyn
muͤſſe, weil ſie darinnen, und auch ſogar in Scheidewaſ-
ſer zu Boden faͤllt. Man hat aber von ihrer Dichtig-
keit
[857]II. Abſchnitt. Das Auge.
keit verſchiedene Maaſſe angegeben. Der beruͤhmte
Wintringham(l) giebt ihr eine kleine Verſchiedenheit
von Waſſer, und es ſoll nach dieſen die ganze Linſe ſich
gegen das Waſſer, wie 1106 zu 1000, der Kern aber
wie 1148 zu 1000 verhalten. Das Verhaͤltniß macht
F. Hawksbee an der Linſe eines Rindes ſo, daß ſich
die brechende Kraͤfte des Waſſers und der glaͤſernen Feuch-
tigkeit, denn dieſe ſezzt er einander gleich, ſich zu den
Kraͤften der Linſe wie 16. 50. zu 24. 10 verhalten. Et-
was kleiner ſchaͤzzt ſie der beruͤhmte Robinſon(m), und
dieſer ſezzt das mittlere Verhaͤltniß 11 zu 10 (n), hinge-
gen nahm er es im Menſchen wie 11083 zu 10000 an;
der beruͤhmte Ludolph machte das Verhaͤltniß der Dich-
tigkeit des Waſſers zur Dichtigkeit der Linſe 39 zu 43,
das Verhaͤltniß der Dichtigkeit des Glaßkoͤrpers zur Dich-
tigkeit der Cryſtallinſe im Ochſen, wie 12 zu 13; im Men-
ſchen wie 9 zu 10, oder wie 7 zu 8 (n*), folglich iſt ſie
viel weniger dicht als das Glaß, indem ſich deſſen Ge-
wicht zur Cryſtallinſe verhaͤlt wie 2. 58 zu 1. 106, alſo mehr
als noch einmal ſo groß iſt (o).
Folglich wird ſie weder eine ſolche ſtrahlenbrechige
Kraft haben, als das Glaß (p), wie man gemeiniglich
davor haͤlt, wiewohl dieſe von den brennbaren Theilgen
einigermaſſen Huͤlfe bekommen kann, noch vielweniger
die Refraction eines Demanten haben (q), dem der Si-
nus der Berechnung der halbe Sinus des Einfalls iſt (r).
Die Neuern geſtehen es, daß die Cryſtallinſe das Waſ-
ſer nur um ein weniges uͤbertreffe. Doch muß ſie einen
H h h 5klei-
[858]Das Geſicht. XVI. Buch.
einen Vorzug haben, wenn man das Gewicht, wel-
ches gemeiniglich wie 1. zu 10. iſt, und die brennbare
Theilchens in die Rechnung bringet. Den Winkel des
Einfallſtrahls ſo aus der waͤßrigen Feuchtigkeit zur Linſe
kommt macht der beruͤhmte Porterfield(s) zum Refrac-
tionswinkel wie 87. zu 85. eben dieſes Verhaͤltniß nennet
auch der beruͤhmte Pembertonus(u), denn dieſer ſezzt 13.
zu 12. oder 21. zu 20. Kliwton Wintringham(y) giebt
das Verhaͤltniß gegen den aus der Luft kommenden
Strahl, wie 7. zu 5. an (z), und dieſes Verhaͤltniß macht
der beruͤhmte Porterfield nicht groͤſſer als 1. 3645. zu 1
(z*). Die Cryſtallinſe vergroͤſſert den Umfang der Buch-
ſtaben um einen ziemlich anſehnlichen Theil (a), ſie iſt wie
man leicht vermuthen kann in der Frucht weicher (b), in
erwachſenen Menſchen allmaͤhlig haͤrter (c), und hart im
alten Manne (d), ja im Menſchen weniger hart, als in
irgend einem Thiere (e), doch loͤſen ſie ſich an der Schild-
kroͤte faſt den Augenblick zu einen zaͤhen Waſſer aus. Jn
der Trappe iſt ſie groß und weich (f).
Jhre Laage iſt nicht vollkommen in der Achſe des
Auges, denn es befindet ſich die Axe der Linſe, etwas naͤ-
her bei dem innwendigen Winkel als dieſe Achſe (g).
Sie wird aber vor der fuͤr ſie zu rechte gemachten
Grube des Glaßkoͤrpers (h) aufgenommen, welche der
Zirkel des Petits anfuͤlt. Jch habe, und ſonderlich in
einigen vierfuͤßigen Thieren den Glaßkoͤrper uͤberall
vor
[859]II. Abſchnitt. Das Auge.
vor der Linſe dergeſtalt hervortreten geſehen, daß der-
ſelben gleichſam in einem kreißfoͤrmigen Thal derſelben ſein
Laager hat, und der Traubenhaut von vorne ſo nahe
kommt, daß er ſie zu beruͤhren ſcheint. Doch ich will
hiervon weitlaͤuftiger reden.
Es beſtehet die Cryſtallinſe, von welcher wir gehan-
delt haben, aus ihrer Kapſel und den Koͤrper.
Die Alten haben uns einigermaſſen, doch aber nicht
vollſtaͤndig eine Geſchichte dieſer Kapſel hinterlaſſen (i),
und ſie haben ſie viel zu duͤnne, und gleich einem Spin-
nengewebe beſchrieben (k).
Es iſt nehmlich die ganze Linſe nicht nur mit ihrem
vordern Theile (l), ſondern auch allenthalben in eine Mem-
bran eingeſchloſſen, welche ihr eigenthuͤmlich gehoͤret (m),
und welche nicht von der Glashaut ihren Urſprung be-
koͤmmt (n), es ergiebet ſich nehmlich, wenn man in ſie
blaͤſet, daß ſich der petitiſche Kreiß allein aufblaͤſt, daß
die Luft weder in die Linſe noch in den Glaskoͤrper ein-
dringt, und daß dieſer Kreiß alſo gegen die Linſe von der
Kapſel verſchloſſen iſt (o). Es laͤßt ſich ferner die Linſen-
kapſel allein leicht aufblaſen, und alsdenn gehet die Luft
weder in den Kreiß noch in den Glaskoͤrper hinein. Es
nimmt ferner der Glaskoͤrper das Blaſen an, ohne daß die
Luft in die Linſe oder in den petitiſchen Ring eindringt.
Es iſt dieſe Kapſel ferner, ſonderlich von vorne her,
von einem hornartigen Weeſen (p) durchſichtig, elaſtiſch,
und
[860]Das Geſicht. XVI. Buch.
und dikke (q), und man kann nicht mit Gewisheit ſagen,
daß ſie in dieſer Gegend von der glaͤſernen eingeſchloſſen
wird (r). Hinten iſt ſie, wo die Glashaut aufgenom-
men wird, zaͤrter (s), und ſie kann von dieſer unverlezt
abgeſondert werden (t), ob ſie gleich mit derſelbigen durch
ein zartes Fadengewebe verbunden iſt (u). Einige haben
ſie in zwo Plaͤttchen abtheilen wollen (x).
Sie iſt uͤberhaupt durchſichtig, und dieſes ſo gar noch
mehr als die Cryſtallinſe ſelbſt, folglich weniger dichte (y).
Vom Froſte (z), und von ſauren Saͤften, wird ſie ſchwe-
rer und zugleich ihrer klaren Durchſichtigkeit beraubt (a),
und dennoch habe ich ſie ſelbſt nicht ſelten (b) beim Staar
im Menſchen und Thieren, undurchſichtig gefunden (c),
und man hat vor kurzem dieſe Anmerkung dahin erwei-
tert, daß die Kapſel allein, uͤberhaupt und oft im Staar
fehlerhaft ſei, wenn der Linſenkoͤrper ſelbſt, nach dem Her-
ausnehmen, ſeine durchſichtige gelbe Farbe erhaͤlt (d). Sie
iſt
[861]II. Abſchnitt. Das Auge.
iſt alſo ſelbſt eine mit von den Urſachen, des haͤutigen
Staares (e), den junge Wundaͤrzte durch ihre Verſuche
verbeſſern: Und dieſes iſt die Art des Staares mit durch-
ſichtiger Linſe, davon Woolhouſe ihrer ſechs angegeben
(f). Es ſind auch diejenige Flokken, welche den Staar
begleiten, abgeriſſene Stuͤkken von der Kapſel (g).
Jn dieſer Kapſel haͤngt die Linſe frey (h), und zwar
dergeſtalt, daß ſie entweder in todten oder in lebendigen
Menſchen, in der Operation des beruͤhmten Daviels nach
einigen alten Exempeln (i), welche man nunmehro deut-
lich gemacht, ſo gleich heraus ſpringt, ſo bald die Kapſel
verlezzet iſt (k). Wenn die Linſe durch einen Zufall her-
aus-
(d)
[862]Das Geſicht. XVI. Buch.
ausfaͤlt, ſo verliert ſolche ſogleich die Ratur des Lebens (l),
und ſie wird dunkel (m), welches ſich auch von ſelbſt nach
dem Tode ereignet (n).
Man findet hin und wieder bei ſehr guten Schrift-
ſtellern, daß ſich in dieſer Gegend etwas Waſſer (o), ohnge-
fehr einen halben Gran ſchwer (p), zwiſchen der Kapſel
der Cryſtallinſe und zwiſchen den Koͤrper, ſonderlich zwi-
ſchen den vordern Theil der Kapſel und zwiſchen der Lin-
ſe ſelbſt befindet (q), und ich habe hin und wieder am
Wolfe eine deutliche, und vor kurzem in einer Ente eine
milchige, und in einer waſſerſichtigen Frau, anſtatt des
Waſſers eine breyartige Feuchtigkeit (r) geſehen, da doch
die Linſe ſelbſten durchſichtig war: Doch habe ich, wofern
ich meinen Augen in etwas trauen darf, hin und wieder
in andern Exempeln, uͤberhaupt gar kein Waͤſſerchen (s)
in der Cryſtallinſe finden koͤnnen. Jch moͤchte daher faſt
glauben, daß dieſes ein Theil von dem, aus dem Linſen-
koͤrper ſelbſt ausduͤnſtenden Waſſer ſei, davon in einem
geſun-
[863]II. Abſchnitt. Das Auge.
geſunden Koͤrper nur wenig vorhanden iſt, nach der Art
des Dampfes in dem Herzbeutel, und daß dieſes Waſſer,
dem Zuſammenhang der Linſe ſelbſt, mit ihrer Kapſel
verhindern kann (t). Wenn man dieſes Waſſer nehm-
lich herauslaufen laͤſt, ſo faͤlt die Cryſtallinſe zuſammen,
ſie wird trokken und opac (u), und haͤngt ſich an ihre
Kapſel an (x). Uebrigens vermehret ſich daſſelbe nach
dem Tode, wenn es durch die Kapſel zwar, doch nicht ſo
hurtig, als in lebendigen Thieren ausduͤnſtet. Es ſchei-
net nehmlich dieſe unſere ganze Linſe, da ſie vom Waſſer
durchdrungen wird, daß ſelbe zugleich aller Orten aus-
zuduͤnſten (y), doch in erwachſenen weniger (z), und ſie
verſchlukkt ſie auch wieder, daſſelbe, durch die Schweiß-
loͤcher der Kapſel (a), wenn man ſie ins Waſſer legt. Es
giebt Exempel daß ſie ſich zu dergleichen Feuchtigkeiten
ganz und gar aufloͤſen laſſen (b).
Jch leſe, daß dieſes Waͤſſerchen, da es von der Art
des Fließwaſſers iſt, von ſauren Saͤften truͤbe gemacht
wird (c). Gefroren zeigt es Luftblaſen (d).
Es iſt dieſer Bau, wegen der ungemeinen Durchſich-
tigkeit der Theile, fuͤr uns ziemlich undeutlich. So viel
laͤſſet ſich leicht ſehen, ſonderlich an Fiſchen (e), aber doch
auch an Schlangen (f), vierfuͤßigen Thieren (g), Voͤgeln
und
[864]Das Geſicht. XVI. Buch.
und am Menſchen (h), daß ihr inwendiger Theil haͤrter
und weicher als der aͤuſſerſte ſei (i), ſo daß man jenen
uͤberhaupt, durch den Namen des Kerns unterſcheiden
kann. Jn dieſer innerſten Gegend aͤuſſert ſich eine groͤſ-
ſere Dichtheit (k), und es faͤngt ſich daſelbſt die erſte gelb-
liche Farbe (l) und die erſte Undurchſichtigkeit (m), Haͤr-
te, und der Staar an (n). Es iſt mehr als zu bekannt,
daß in Fiſchen, welche man kocht, nachdem ſich ihre aͤuſ-
ſere Schaale zu weiſſen Plaͤttchen verwandelt, ein durch-
ſichtiger Kern uͤbrig bleibt (o).
Ferner zerſpringen Linſen die ſich ſelbſt uͤberlaſſen wer-
den, und die man aus der Kapſel gezogen, in einen
Stern von drei oder vier Strahlen (p), oder auch in
mehrere Dreiekke (q), und ich leſe nach einer ſubtilen Un-
terſcheidung, daß dieſe Strahlen im Menſchen vom Ran-
de herkommen, zum Mittelpunkte hinlaufen, in den Thie-
ren aber vom Mittelpunkt entſtehen, und gegen die Raͤn-
der auslaufen ſollen (s). Die Sache gehet gut von ſtat-
ten, wenn man die Linfe ins Waſſer geleget hat.
Kurz darauf, wenn man die Linſe im Weingeiſte oder
Eßig macerirt, ſo zeigen ſich an dieſer Linſe nicht undeut-
lich
[865]II. Abſchnitt. Das Auge.
lich (t), einige concentriſche (u) uͤbereinanderliegende
Platten, die man ſogar, wie die Blaͤtter eines Buches
mit dem Meſſer aufheben kann. Diejenige Platten, wel-
che uns zuerſt zu Geſichte kommen, zerblaͤttern ſich in im-
mer mehrere, und man findet ſie in einer auſſerordent-
lichen Menge, nicht zu hunderten (x), ſondern bis zu zwei
tauſend (y) Platten. Jch leſe, daß ſie an dem Hinter-
theile naͤher aufeinander liegen, und zaͤrter ſind, welches
ich von dem Kern verſtehe (z), der eine gleichmaͤßige Na-
tur hat (z*). Man glaubt daß Stenonius(a), was
den Menſchen (b) die vierfuͤßigen Thiere und die Fiſche
betrift, der Erfinder von der Cryſtallinſe ſey: Er hatte
aber Peter Caſtellus an der Hyaͤne noch vorher (d) die
Linſe dieſes Thieres in drei oder vier Schuppen, die den Stei-
nen der Schnekken aͤhnlich waren, zerſpringen geſehen. Eini-
ge wollen dergleichen im Menſchen nicht zugeben, vielleicht
wenn ſie von den ſeinen Leeuwenhoekkiſchen Bau
reden (e).
Es beſtehet wiederum eine jede von dieſen Platten aus
paralelen Faſern (f), welche durch Querfaͤſerchen oder
H. Phiſiol. 5. B. J i iFaden
(c)
[866]Das Geſicht. XVI. Buch.
Faden vereiniget werden (g), und ſich ungemein artig
kruͤmmen, und welche auſſerdem drei Mittelpunkte haben
(h), die von dem vorigen Sterne Urſache ſind: Biswei-
len kommen nur zwei Mittelpunkte in einigen vierfuͤßigen
Thieren vor (i), ſo wie ich ſelbſt geſehen habe, daß ein
vorderes und hinteres Centrum da war, und daß ſich die
Faſern in dem groͤſten Cirkel endigten: welches auch bei
den Fiſchen geſchieht, in denen ſie die Achſe endigen (i*),
dieſes laͤßt ſich am Menſchen nicht nachahmen (k), und
es zweifelte Elias Camerarius(l) an den Faſern ſelbſt.
Doch ſie ſind in den Thieren augenſcheinlich vorhanden,
und ſie zeigen ſich in keiner Kapſel. Man ſagt, daß ſie an
den Seiten dikker als vorne und hinten ſein ſollen (l*).
Mir ſcheinen ſie ſonderlich vorne deutlich zu ſein.
Auſſer dieſen iſt uns weiter nichts bekannt worden,
und man erwehnet nur wenig von Gefaͤſſen (m), von
denen wir anderswo reden wollen. Die Linſe bekommt
keine Nerven, und ſie laͤſt ſich in den Operationen ohne
Schmerz durchſtechen (n).
Jndeſſen leſen wir doch, daß ein Fadengewebe die
Platten verbinde (o), und daß ſelbige mit einen ſehr zar-
ten Waſſer angefuͤllet ſind, welches an den aͤuſſern Plat-
ten deutlicher iſt (p), wovon die Luftblaſen einen Beweiß
geben, welche von dem Frieren entſtehen: Hingegen ſol-
len die innwendigen Platten kleiner (q), und die Faſern
innwendig dichter ſein (r). Das Fadengewebe habe ich
mit Augen geſehen.
Da die Cry allinſe einen, ihr eigenen und feſten Bau
hat, ſo muß man ſie ſo wenig unter die Feuchtigkeiten
rechnen (r*), als ſie nach dem Verluſte wieder waͤchſt (s).
Sie trokknet leicht aus (t), ſie wird hart (u) in den Ar-
ten des Staares, und nimmt eine knorpliche (x) und ſo
gar knochige (y) und ſteinige Natur (z) an, wie ich ſelbſt
geſehen habe.
Ein beruͤhmter Mann vermuthet, daß in ihren Wee-
ſen Oel und haͤufige Geiſter enchalten ſind (a). Dieſer
fand nach der Berechnung in ſechs Quentchen vierzig
Troppen von einem Geſchmakkloſem Waſſer, zwei Quent-
chen von einem durchdringenden Geiſte, ſo am fluͤchtigen
Salze ſechs bis ſieben Gran, an ſehr ſtinkendem Oele
zwei Skrupel (b), an Kohle zwei Quentchen, welche nach
der Calcinirung am Bodenſazze acht und zwanzig Gran
gab, und kein fires Salz hatte.
Man muß ſich daruͤber wundern, daß Gallen dieſe
Feuchtigkeit, ob ſie ſich gleich zu allererſt den Augen dar-
bietet, dennoch zu allerlezzt gefunden habe (c),(d): und
J i i 2man
[868]Das Geſicht. XVI. Buch.
man koͤnnte ſagen, daß unfere Vorfahren nur die Augen
der Fiſche zergliedert haben (e), worinne man dieſe Feuch-
tigkeit nur ſehr ſparſam antrift, weil die ſehr flache Horn-
haut auf dem Regenbogen aufliegt. Jndeſſen habe ich
doch etwas klebriges (f), wenn ich die Hornhaut wegſchaf-
te, aus allen Fiſchen herausgezogen, und es iſt dieſe
Feuchtigkeit am Hechte, Karpen, und dem Schmerl,
wie auch an den Fohrel ganz deutlich zu ſehen. Und der-
gleichen haben auch die Froͤſche (g).
Hingegen iſt in den Fiſchen (h), in den vierfuͤßigen
Thieren (i), und im Menſchen der ganze Raum, welcher
ſich zwiſchen der hohlen Flaͤche der Hornhaut, zwiſchen
der vordern Flaͤche der Cryſtallinſe und in einigen Raum
zwiſchen dem freien Lager der Strahlen des Sternbaͤnd-
chen und der Traubenhaut befindet, dieſer ganze Raum,
ſage ich, iſt mit einem hoͤchſt klaren Waſſer, und ganz
farbenloſen Waſſer, im geſunden Menſchen angefuͤlt.
Man hat angemerkt, daß es in alten Perſonen undurch-
ſichtiger wird (k). Jndeſſen iſt es doch in der Frucht
einigermaſſen voͤthlich (l), und ich habe es in Menſchen
und in Thieren bisweilen truͤbe (m) oder mit Blut unter-
miſcht gefunden (n). Die Menge dieſer waͤßrigen Feuch-
tigkeit betraͤgt 3½. 4½. (o) 5 und 5½ (p) Grane, und
vier \frac{8}{100} Theil (q), ſie iſt in der Frucht ſehr ſparſam (r),
wie
[869]II. Abſchnitt. Das Auge.
wie auch in den ſterbenden Menſchen (s), und auch in
bejahrten Perſonen ſparſamer anzutrefen, welches eine
von den Urſachen mit iſt, daß ihre Augen einfallen (s*).
Man wird ſich wundern, daß es leichter als Quelwaſſer
ſein ſoll, nehmlich wie 975 zu 1000 und in alten wie 992
zu 1000 (t), da ſich doch in dieſer Feuchtigkeit noch Salz
beigemiſcht findet.
Sie verflieget und verſchwindet ohne etwas zuruͤkkzu-
laſſen beim Feuer (u): ſie laͤſt ſich von keiner Gewalt des
Feuers dahin bringen, daß ſie gerinnen oder truͤbe wer-
den ſolte (x): Doch ſie gerinnet auch nicht vom ſtarken
Weingeiſte, noch von irgend einem ſaurem Geiſte, ob-
gleich einige vorhanden ſind, welche ihre Klarheit auftrie-
ben, als der Salpetergeiſt und das Koͤnigswaſſer (y).
Sie enthaͤlt wie andere Feuchtigkeiten Luft (z), und ein
fires Salz (a), doch nur weniges, und darunter zeiget
ſich auch etwas Meerſalz. Sie wird von ſelbſten faul
und ſtinkend (c). Jn der Schildkroͤte iſt ſie Gallert
artig (d), ſo wie auch in den Fiſchen. Duverney will,
daß ſie klebrig ſei (d*), doch iſt dieſes wenigſtens von den
Voͤgeln und vierfuͤßigen Thieren nicht wahr.
Man weiß aus zuverlaͤßigen Erfahrungen, daß ſich
ihre Feuchtigkeit beſtaͤndig wieder ergaͤnze, und daß ſie
ſich innerhalb einer kurzen Zeit wieder vollkommen her-
ſtellen laſſe. Die Alten wuſten es ſehr wohl, entweder
durch den Zufall, oder durch Verſuche, welchen ſie an
Schwalben (e) und Eiderſen (f) anſtelleten, daß eine
J i i 3Feuch-
(b)
[870]Das Geſicht. XVI. Buch.
Feuchtigkeit heraus flieſſe, wenn man die Hornhaut ver-
wundet, und ſich dieſe Feuchtigkeit, wenn die Wunde
verbunden wurde, auch ſo gar in Menſchen wieder er-
gaͤnze (g).
Es haben einige beruͤhmte Maͤnner unter den Neuern,
die Erſcheinungen bei dergleichen Wunden (h) angemer-
ket. Einige haben, der Heilung wegen die Hornhaut
durchbohret, um einen beſſern Saft als der erſte war
hervorzubringen (h*). Andere, die entweder dem Rufe (i)
oder dem Gewinſte nachgingen, oder die uͤberhaupt die
Wahrheit zu unterſuchen die Abſicht hatten, haben die
Sachen an verſchiedenen Thieren verſuchet (k). Der Er-
folg davon war beſtaͤndig dieſer, daß das Auge einfiel
und welk wurde, daß die Feuchtigkeit herauslief, und
daß die verlezzte Hornhaut, in ſechs (l) und 22 und 24 (m)
oder 36 (n) Stunden wiederzuwuchs, ſich anfuͤllte (o)
und das Auge ſo voller Saͤfte wieder war, wie vorher.
Endlich wenn die glaͤſerne Feuchtigkeit zerſtoͤhret wurde,
ſo
(b)
[871]II. Abſchnitt. Das Auge.
ſo war bisweilen die ganze Hoͤhlung des Auges, weit und
breit mit der waͤßrigen Feuchtigkeit angefuͤllt (p), Burr-
hus hat nach den alten einige aberglaͤubiſche Mittel von
Kraͤutern und dem Chelidonio (q) hiebei angebracht, und
verſpricht von der Cryſtallinſe gar zu viel (r).
Dieſer Verſuch iſt nunmehr ganz bekannt, ſeitdem
man durch den neuern Fleiß, den Staar auf dieſem We-
ge herauszuziehen gelehret, indem ſich dergleichen Augen,
denen man die undurchſichtig gewordene Cryſtallinſe,
und die waͤßrige Feuchtigkeit benommen hat, ſich ſehr
leicht mit dieſer Feuchtigkeit wieder anfuͤllen. Am achten
(r*) zwoͤlften (s), am funfzehnten Tage erzeigte ſich die
Feuchtigkeit wieder (t), welche der Wundarzt, durch ei-
ne Oefnung in die Hornhaut, um die Linſe herauszuneh-
men, herausgelaſſen hatte (u). Jnnerhalb zwoͤlf Mi-
nuten ſtellten ſich 23 Gran ein (x).
Endlich haͤuft ſich dieſe Feuchtigkeit gar zu uͤbermaͤſ-
ſig an, ſie verwandelt ſich in eine Waſſerſucht, und
zwingt die Hornhaut, fehlerhaft hervorzuragen (x*).
Es iſt der gemeine Quell dieſer und anderer Feuch-
tigkeiten, wie ich glaube, von den Schlagadern herzu-
hohlen (y). Es ſind auch die Exempel nicht ſelten, daß
J i i 4Ter-
(o)
[872]Das Geſicht. XVI. Buch
Terpentinoͤl, welches man in die Gefaͤſſe des Auges ſpriz-
zet, in die waͤßrige Feuchtigkeit gedrungen ſei, oder daß
Quekkſilber (z), welches man in die Haut eingerieben,
oder welches durch Gefaͤſſe eingeſprizzet worden (a), oder
auch andere Feuchtigkeiten ſich mit dieſer Feuchtigkeit ver-
miſcht haben.
Es laͤßt ſich nicht eigentlich beſtimmen, was fuͤr
Schlagadern, dieſe Feuchtigkeit hervorbringen. Wahr-
ſcheinlicherweiſe ſind es die ſchwimmenden Gefaͤſſe des
Sternbaͤndchen (b), welche dieſes Fluͤßige aus ihren un-
zaͤhlbaren Muͤndungen abſondern. Einige leiten es von
den vordern Gefaͤſſen des Regenbogens, andere von den
durchſichtigen Gefaͤſſen der Traubenhaut: Wieder an-
dere von den Schlagaͤderchen der vordern Augenkammer
(e) her: Ja es muthmaſſet jemand (f), daß ſie von der
Aderhaut erzeigt werden. Daß ſich etwas von der glaͤ-
fernen Feuchtigkeit (g), durch die Schweißloͤcher der Mem-
bran mit beimiſchen ſollte, ſcheinet der dazwiſchen gela-
gerte Ring des Petits zu verhindern. Daß ſie von dem
Regenbogen entſpringen ſollte, dawider ſcheinet dieſes
zu ſein, daß ſeine Schlagadern nicht offen ſind, da die
Sternhaut den Regenbogen verſchlieſt, und es zeiget ſich
auch hinter dieſer Membran die waͤßrige Feuchtigkeit
in der Frucht: es iſt nach der Verſchieſſung des Regen-
bogens hinter derſelben Feuchtigkeit, vor derſelben kaum
etwas zu bemerken (h), und es fcheinen ferner die Flok-
ken des Sternbandes zum Ausduͤnſten geſchikter zu ſein.
Endlich hat Nukk(i) an dem Fiſche Galeus genannt
einen beſondern Gang, und hierauf auch mehrere geſehen,
welche die dunkle Hornhaut durchbohreten, von den
Schlagadern unterſchieden waren (k), und die Quellen zu
der waͤßrigen Feuchtigkeit waren, dergleichen, ſowohl die
vierfuͤßigen Thiere als die Menſchen haͤtten, und die aus
den Schlagadern herkaͤmen. Er ſagte ferner, daß ſie
ſchwaͤrzlich ausſehen, und ohne Aeſte zu der aͤuſſerſten
Hornhaut hinlaufen, daß ſie alsdenn die Hornhaut durch-
bohren, und einen Zirkel herausbringen, welcher eine
Feuchtigkeit fuͤhre, die wie abgewaſchnes Fleiſchwaſſer
ausſehe. Doch ſind ihm wenige beigetreten (m).
Endlich zeigte Warner Chrouet(n) in einen kleinen
obſchon tuͤchtigen Buche, daß dieſe Quellen die Schlag-
adern ſind (o), daß ſie von den Schlagadern angefuͤllt
werden, und von angelegtem Bande vom Blut aufſchwel-
len (p),(q). Nach der Zeit behauptete Horius(r) und
Heiſter(s), daß es keine beſondern Gaͤnge waͤren. An-
dere (t) und ich habe gezeiget, daß das was Nukk ge-
ſehen habe, wo ich nicht irre, die langen Schlagadern
des Sternbaͤndchens ſind. Man hat auch mit Recht die
Erinnerung gethan, daß hier ungemeine zarte Gefaͤſſe
noͤthig waͤren, um eine hoͤchſt reine Feuchtigkeit, die von
allen undurchſichtigen Partikkeln frey waͤre, durchzu-
laſſen (u*).
So wie ſich dieſe waͤßrige Feuchtigkeit geſchwinde er-
zeigt, ſo iſt es auch noͤthig, daß dieſelbe entweder in die
J i i 5Blut-
(l)
(u)
[874]Das Geſicht. XVI. Buch.
Blutadern aufgenommen wird, oder durch die Hornhaut
ausduͤnſtet. Es ſcheinet beides zu geſchehen: denn es iſt
dieſes die allgemeine Natur der Blutadern, und es min-
dert ſich das Auge eines ſterbenden Menſchen, welches
doch ſehr aufgeſchwollen iſt, ſogleich am Gewichte, es
faͤllt die Hornhaut nieder (x), es verringert ſich die Men-
ge der Feuchtigkeit, und das unter die Hornhaut ausge-
tretene Blut, wird von der waͤßrigen Feuchtigkeit wieder
eingeſogen. Man ſollte glauben, daß Blutadern zuge-
gen ſind, ob man ſie gleich noch nicht genug beſtimmt hat
(y), weil die Augen ungemein auſſchwellen (z), wenn
man die Droſſelader unterbindet. Jndeſſen hat vor kur-
zen ein Wundarzt hierauf geantwortet, daß ſich die waͤßrige
Feuchtigkeit bei Unterbindung der Blutadern, weder ver-
mehre, noch bei Unterbindung der Schlagadern ver-
mindere (a), wir haben aber die Urſachen von dieſer Er-
ſcheinung bereits an einem andern Orte gemeldet (b).
Als zuerſt die Neuern den Sizz des Staares in der
Cryſtallinſe feſtſezzten, ſo nahmen ſie zum vornehmſten
Grunde ſeiner Urſache auch dieſes mit an, daß die meh-
reſten Staare, hinter der Traubenhaut ihre Stelle haͤt-
ten (c). Daß aber hinter der Hornhaut, und vor der
Cryſtallinſe, der Raum ſo klein ſei, daß uͤberhaupt da-
ſelbſt der Staar keinen Plazz faͤnde, hingegen haben die
Gegner, und Verſechter des haͤutigen Staares (d) zwi-
ſchen der Traubenhaut und Linſe einen groſſen Zwiſchen-
raum
[875]II. Abſchnitt. Das Auge.
raum angeſezzt. Um dieſe Streitigkeit zu endigen, hat
man dieſe Sache ſehr genau unterſucht. Beruͤhmte
Maͤnner nennen denjenigen Raum, welcher ſich zwiſchen
der hohen Oberflaͤche der Hornhaut, und zwiſchen dem
Stern und Regenbogen zeiget, Vorderkammer: ſo
wie hingegen die Hinterkammer, zwiſchen der Trau-
benhaut der Cryſtallinſe, und den Fortſaͤzzen der Ader-
haut liegt. Faſt alle neuere behaupten nunmehr, nach
einigen Verſuchen des Dorſtens(f), daß die Vorder-
kammer viel groͤſſer ſei (g), und hierinnen ſtimmen ſie
faſt alle miteinander uͤberein. Doch hat Petit, der ſich
insbeſondere ſehr genauer Erfahrungen dabei bediente (h),
in derſelben 2½ Gran Waſſer, und einen Raum von 12¾,
Linien: Jn der Hinterkammer aber nicht uͤber 1\frac{59}{100} Gran,
und den Raum 6\frac{12}{100} groß (i) gefunden.
Noch genauer haben diejenigen in dieſer Unterſuchung
verfahren wollen, welche nach dem Verſuche des Mer-
vets(k) Augen dem Froſt ausſezzten, damit ſich die in
Eis verwandelte waͤßrige Feuchtigkeit zu denen Verſuchen
beſſer bequemen moͤchte, und man ſie ſowohl meſſen als
waͤgen koͤnnte. Jch habe dieſen Verſuch oͤfters ſelbſt,
doch nicht immer mit einerlei Erfolg verrichtet. Ueber-
haupt kann man glauben, daß die Vorderkammer von
der Kaͤlte groͤſſer werde (l), theils wegen der Natur des
Froſtes, welcher waͤßrige Feuchtigkeiten ausdehnet, und
in der haͤufigen Feuchtigkeit der Vorderkammer, uͤber
das
(e)
[876]Das Geſicht. XVI. Buch.
das wenige Waſſer der Hinterkammer die Oberhand hat:
Theils wegen der Gefrierung der glaͤſernen Feuchtigkeit
(m), welche verduͤnnet wird, und ſonderlich die Hintere-
kammer enger macht. Doch wenn alles gut von ſtatten
gehet, ſo ſiehet man in dem Segment der Kugel der
Vorderkammer eine ziemliche Menge Eis, welches in der
Mitte gegen eine halbe Linie dikk, gegen Zweidritteltheil
aber bis auf eine ganze Linie breit (n), und endlich
bis fuͤnfviertheil einer Linie am Winkel der Hornhaut
in eine Spizze ſich verduͤnnet. Zwiſchen der Trauben-
haut, und dem corpus ciliare legt ſich ein ſubtiler Eisguͤr-
tel dazwiſchen, welcher um deſto enger und weniger dikke
wird, je mehr er nach auſſen zu liegt, er iſt faſt blaͤttrig,
und vermindert ſich endlich in eine Spizze, nachdem er
eine Zeichnung von Furchen, welche die Strahlen des
Sterns verurſachen, an ſich genommen. Bertrandi
machet die Dikke ein drittheil von einer Linſe groß (p).
Petit fand ſie ⅛ ⅙ ſelten aber ¼ von einer Linie, und
endlich bei dem Umfange der Linfe ⅔ und ¾ Linien (q).
Man hat an Ochſenaugen gar nichts von dergleichen
gefunden. Ein beruͤhmter Mann ſchaͤzzet das Verhaͤltniß
zum Eiſe (r), in der Vorderkammer wie 1 zu 2 (s). Jn
der Frucht, befindet ſich, wenn die Sternhaut noch ganz
iſt, hinter derſelben etwas Waſſer (t), welches ein Be-
weis iſt, daß man eine Hinterkammer nicht verwerfen koͤnne.
Die Linſe ſelbſt iſt nahe an der Traubenhaut befind-
lich. An dem eingeſunkenen Auge eines todten Koͤrpers
erblikkt
(o)
[877]II. Abſchnitt. Das Auge.
erblikkt man keinen Zwiſchenraum zwiſchen beiden: Doch
habe ich in gefrornen Augen, etwas Eis dazwiſchen lie-
gen geſehen (t*), welches Petit zwiſchen einviertheil und
½ Theil einer Linie (u) geſchaͤzzet hat. An einem lebendi-
gen Hunde bewegte Bertrandi eine Nadel zwiſchen der
Linſe und Traubenhaut, und es muß nothwendig ein
Zwiſchenraum vorhanden ſein, wenn man nicht will daß
die Linſe von dem ſchwarzen Safte verunreiniget wer-
den ſoll.
Nach dem beruͤhmten Wintringham(y) iſt die
Linſe von der Hornhaut um o. 355 eines Zolles, und
nach dem Helsham noch etwas daruͤber entfernet (y*).
Bisher haben wir von denenjenigen Theilen geredet,
welche das Auge ſelbſt ausmachen: Nun ſolgen die Muſ-
keln welche das Auge regieren. Die Jnſekten allein,
haben unbewegliche Augen bekommen, die meiſten aber
beſizzen eine ſolche Menge Augen, daß ſie nichts deſtowe-
niger viele Koͤrper zugleich erblikken koͤnnen. An den
Krebſen (b), und Schnekken ohne Haͤuſer ſtehen ſie an
einem beweglichen Roͤhrchen vorne her (c). Der Horn-
fiſch (Zygafna maleus) traͤgt ebenfalls an einen beweg-
lichen Hebel, welche noch auſſen auf beiden Seiten des
Kopfs ſich verſchieben laͤſt, ſeine Augen. Jch leſe, daß an
dem Fiſche Angelo das Auge auf eine andere Art beweg-
lich ſein ſoll, indem es nehmlich uͤber dem Sehenerven
ſein Gelenke hat (d).
Die vierfuͤßigen Thiere von kaltem Blute, die Fiſche
(d*) Voͤgel, und vierfuͤßige Thiere vom warmen Blute,
haben uͤberhaupt Muſkeln die einander ziemlich gleich
ſind, und womit ſie ihre Augen regieren (e): Die erſteren,
von denen ich geredet habe, verſtehen das rechte Auge
ohne das linke, und ſo gar nach gegenſeitigen Richtun-
gen zu drehen (e*), indeſſen daß die Voͤgel und Menſchen
gemeiniglich beide Augen zugleich bewegen.
Es entſtehen dieſe Muſkeln nicht von den Knochen,
und man kann hier, wenn man ſich der aͤuſſerſten Stren-
ge bedienen wollte, diejenigen Schriftſteller verbeſſern (f),
welche ſagen, daß ſie vom Keilknochen herkommen. Die
Sache ſelbſt hat Euſtachius geſehen (g), ſo wie Veſa-
rius(h), und noch vor dieſen Jacob Berengarius
Carpenſis(i), und A. M. Valſalva(k) hat es einen
Ring genannt.
Und inſonderheit von dieſen Muſkeln zu reden, ſo
entſpringt der obere Muſkel oder auch der Aufheber,
welchen man auch den Stolzen zu nennen pflegt, und
den man den Bewunderer haͤtte nennen koͤnnen (l),
von
[879]II. Abſchnitt. Das Auge.
von der Scheide des Sehenerven, welche von der har-
ten Gehirnhaut herruͤhrt, etwas mehr nach innen zu,
als der Aufheber des Augenliedes, und zum Theil auch
(m) aus den Knochenhaͤutchen der Augenhoͤhle, indem
ſich die Faſern deſſelben mit dem Abwertsbeugenden Muſ-
kel ein wenig verwirren (n) wie ich mit Gewisheit geſe-
hen habe. Er verwandelt ſich hierauf aus ſehnigen Fa-
ſern, in fleiſchige, ſteigt allmaͤhlig nach dem Augenapfel
hinauf, und haͤngt ſich durch ein haͤufiges Fadengewebe
an denſelben.
Er gehet uͤber den groͤſten Zirkel des Auges weg,
ſteigt von neuen herab, und wird wiederum ſehnig,
indem dieſe Sehne breiter, faſt vierſeitig (o) iſt, und ſich
in die dunkle Hornhaut diſſeits der Hornhaut (p) erſt
loſe, nachgehends aber ſtaͤrker anhaͤngt (p).
Man kann nicht zweifeln, daß er nicht das Auge in
die Hoͤhe heben ſollte, nicht darum, weil ſein Urſprung
hoͤher als die Einlenkung liegt, ſondern weil er ſich um
den Augapfel, als um einen Ruhepunkt herum biegt, und
herunterlaͤuft, um ſein Ende zu erreichen. Er iſt duͤn-
ner und ſchwaͤcher als die uͤbrigen Muſkeln des Auges (q),
indem ihm der Aufheber des Auges noch zu Huͤlfe kommt.
Die drei uͤbrigen graden Muſkeln, nehmlich der inwen-
dige, untere und aͤuſſere (q*) haben einen gemeinſchaft-
lichen Anfang (r), welcher ſich unterhalb unter dem
Sehenerven befindet, ſehnig iſt, und aus eben der har-
ten Gehirnhaut entſtehet, welche den Sehenerven an
dem
[880]Das Geſicht. XVI. Buch.
dem innerſten Theile der Rizze wo ſie rund iſt, und in
einer beſondern Spalte des vierfoͤrmigen Knochens (s)
umwikkelt.
Von dieſem Bande (t) beugt ſich ohngefehr ein jeder
um ſeine Augenachſe herum, verwandelt ſich auf eben ſol-
che Art, wie ich von dem Aufheber geſagt habe, in ein
ſehniges Gewebe, hat die Figur beinahe von einem Vierek,
und wirft ſich jeder mit ſeinem beſondern Punkt in die
Augenkugel.
Sie ſind indeſſen doch von einander unterſchieden,
und es iſt der Herbeizieher oder inwendige dikker
als die uͤbrigen (u), grader und der kuͤrzte (x), da nicht
nur ſein Urſprung, ſondern auch der Sehenerven in dem
innern Theile der Augenhoͤhle liegt. Er iſt in ſeinem An-
fange mit der harten Gehirnhaut, welche den Sehener-
ven umgiebt, zuſamengewachſen (y). Jch habe nebſt
dem Morgagni geſehen (z), daß er etwas naͤher gegen
die Hornhaut inſerirt war.
Der aͤuſſere oder Herabzieher iſt der laͤngſte un-
ter allen graden Muſkeln (a), er kommt aus dem Sehlo-
che, nehmlich aus der innern Gegend der Augenhoͤhle
her, und wirft ſich in den aͤuſſern Theile des Auges hin-
ein. Es ſtammet dieſer Muſkel aus einem doppelten Ur-
ſprunge ab, einem Knochenhaͤutchen des Sehenerven iſt (b),
und endlich noch aus einem Bogen (b*), welchen dieſe
zwei
[881]II. Abſchnitt. Das Auge.
zwei Anfaͤnge, die ſich unter einem Winkel vereinigen,
machen. Eben dieſe Muſkel ſteigt im Fortlaufen nieder-
waͤrts herab (c).
Der untere niederdruͤkkende laͤuft ziemlich grade
nach vorne weg (d), und ſeine mittelſte Faſern entſtehen
aus dem Bande, hingegen die Seitenfaſern aus dem
ſehnigen Stuͤkke des Bandes, welches der aͤuſſere und
innere gemein hat. Er haͤngt ein wenig mit dem in-
wendigen zuſammen.
Daß dieſe Muſkeln ſehr reizzbar ſind, hat Whytt
mittelſt einer Nadel erfahren (e), und ich erinnere mich,
daß da Johann Caylor das Auge mit einem beſondern
Raſtello reizte, in dem ſchwarzen Staare (amavroſi)
dieſe Muſkel in eine heftige und zitternde Bewegung ge-
ſezzt worden.
Jndem die graden Muſkeln des Auges vereinigt
wuͤrken, ſo bringen ſie ſchiefe Bewegungen hervor. Man
darf nehmlich daran nicht zweiflen, wenn ſich zu gleicher
Zeit der obere und inwendige zuſammenzieht, daß ſich
nicht das Auge in der Diagonallinie bewegen ſollte, de-
ren Seiten dieſe zwei Potenzen, in der ſchiefen Richtung
(f) zwiſchen der Aufhebung, und der Herbeiziehung ſind.
Wenn eben dieſe Muſkeln in der Thaͤtigkeit nach der
Ordnung auf einander folgen, ſo dreht ſich das Auge um
(g), und es wird der Stern hinauf (h) und hinab auf aller-
lei Weiſe, und endlich wirklich in einem Kreiß herumge-
zogen.
Es macht Morgagni die Anmerkung, daß ſich der
Sehenerve von den graden Muſkeln, doch aber nur
ein wenig von den ſchiefen biegen laſſe (i).
Wir wollen von der Kraft vermittelſt welcher ſie die
Entfernung der Nezzhaut von der Linſe veraͤndern ſollen,
an einem andern Orte reden. Dieſes haben ſie beſtaͤn-
dig eigen, daß ſich beide Augen in einem geſunden Men-
ſchen auf einerlei Weiſe bewegen, und man kann das ei-
ne Auge nicht nach Belieben in die Hoͤhe richten, wenn
man mit dem andern niederwaͤrts ſieht. Ein blindes Au-
ge folgt dem geſunden in der Bewegung ebenfalls nach (k).
Es iſt dieſer unter den Augenmuſkeln der allerkuͤnſt-
lichſte, laͤngſte und zugleich duͤnſte (l), er entſtehet eben-
falls von der harten Gehirnhaut, und nicht von der Ner-
venſcheide (l*), und zwar etwas mehr nach auſſen zu,
als der inwendige: er laͤuft vorne hin laͤngſt den flachen
Knochen, begleitet den Rand der Augenhoͤhle, und ver-
wandelt ſich in eine flache Sehne (m).
Bei dieſer Sehne hat die Natur einen eigenen und
zierlichen Knorpel gebildet, welcher ſich hinterwaͤrts ab-
kuͤrzt, vorne her geſchwollen iſt, und deſſen beide Enden
breiter ſind: Dieſer Knorpel iſt inwendig glatt und hohl,
und durch ein beſonderes Band, an dem Rande der Au-
genhoͤhle aufgehaͤngt. (n)
Es laͤuft durch dieſe Furche der Rolle, die Sehne
dieſes ſchiefen Muſkels frei und beweglich, und hierauf
durch einen hohlen, membranoͤſen (o) und bandartigen
Kegel fort, welcher in die dunkle Hornhaut inſeriret iſt.
Er laͤuft von dem Ende der Rolle nach auswendig,
und ein wenig ruͤkkwaͤrts fort (p), verwandelt ſich in eine
dreiekkigte Sehne, und inſerirt ſich ganz dichte hinter
dem obern geraden Muſkel (q) ein wenig tiefer in die
dunkle Hornhaut, und etwas weiter nach hinten, als
der Zirkel liegt, der die vordere Halbkugel des Au-
ges von der hintern trennt.
Er ziehet das Auge einwerts und vorwerts gegen die
Naſe (r): und er verurſachet alſo wegen der hintern Jn-
ſertion in den groͤſten Zirkel, daß der Stern (s) und
der inwendige Theil des Auges niederſteigt. Wenn er
mit dem untern ſchiefen zu gleicher Zeit wuͤrkt, ſo haͤlt er
das Auge gleichſam ſchwebend, und ziehet ſolches aus der
Augenhoͤhle hervor (t). Alsdenn iſt blos diejenige Kraft,
nach Zerſtoͤhrung der Seitenkraͤfte uͤbrig, von der das
Auge nach vorne gezogen wird.
Bisweilen iſt ein zweiter Rollmuſkel da geweſen (u),
oder ein Muſkel, der gleichmaͤßigen Urſprung hatte, ſich
aber in die Scheide dieſes ſchiefen inſerirte (x).
Bereits Schneider hat angemerkt, daß in den Voͤ-
geln und Fiſchen keine Rolle zu gegen ſei (y). Der klei-
ne ſchiefe entſpringt aus einer kleinen Grube des innern
Winkels in der unterſten Augenhoͤhle, neben dem aͤuſſern
Theile der Furche des Thraͤnenknochens, von dem Pro-
ceſſu orbitario des obern Kinbakkenknochens. Er ſteigt
auswerts in die Hoͤhe, zwiſchen dem Rande der Augen-
hoͤhle, und zwiſchen dem Unternmuſkel (a) biegt ſich um
den Augapfel herum, und inſerirt ſich zwiſchen dem Sehe-
nerven und der Jnſertion des aͤuſſern Muſkels, etwas
weiter nach hinten zu, und dem obern ſchiefen Muſkeln
gegenuͤber, von welchem er ſo wenig entfernet iſt, daß bei-
de bisweilen zuſammengewachſen ſind (b), indeſſen iſt er
doch dem hinteren Auge des Endes naͤher (c).
Er ziehet das Auge nach auſſen und herab, und auf
dieſe Art drehet ſich der Stern in die Hoͤhe und ein-
werts (d), und folglich iſt er in ſofern von dem groſſen
ſchiefen Muſkel ein Gehuͤlfe, daß er mit dieſem zugleich
die Augen aus der Augenhoͤhle hervorziehet (e).
Der Muſculus bulboſus oculi, welcher denen vier-
fuͤßigen Thieren eigen ſein ſoll, und welchen die Alten (f)
wie auch Veſal(g) hinzugefuͤgt haben, kann weder in
Voͤgeln, noch in Fiſchen oder in Menſchen gefunden wer-
den. Und es hat Fallopius recht (h), daß er ihn ver-
wirft. Er ſcheint zu der aufrechten Stellung zu gehoͤ-
ren. Der Pigmaͤe(i) welcher aufrecht gehet, hat dieſe
Muſkeln ebenfals nicht (k).
Die ungenannte Membran (k*) oder Albugineu(l)
iſt eine aus den vereinigten Sehnen der graden und ſchie-
fen Muſkeln zuſammengeſezzte breite Sehne, ſie iſt kurz,
indem ſie ſich von dem Anhange dieſer Sehnen anfaͤngt,
und in der Hornhaut endiget (m), ſie iſt zuverlaͤßig eine
Fortſezzung der Sehnen, und da ſie ungemein feſte an
die dunkle Hornhaut angewachſen iſt, ſo kann man ſie
nicht eine beſondere Augenhaut nennen (n). Caſſerius
hatte davon vorlaͤngſt richtiger geſchrieben (o).
Das Auge uͤbertrift alle Theile eines menſchlichen
Koͤrpers, an der Menge und Verſchiedenheit der Ner-
ven, und dieſes gilt nicht nur vom Menſchen, ſondern
K k k 3auch
[886]Das Geſicht. XVI. Buch.
auch von allen mir bekannten Thieren. Jn den Fiſchen
gehen neunzehntheil vom Gehirne nach dem Auge hin.
Es macht ſowohl der groͤſſeſte unter den Nerven nehmlich
der Sehenerve die Baſis, und den wirklichen Grund
des Gehirns aus, welches durch die Schreibfeder unter-
ſchieden wird, und in der Baſis des Gehirns oder der
Hirnſchaale zum Ruͤkkenmarke fortlaͤuft: Es kommen
ferner zu dieſer Saͤule zwei in einem Bogen gekruͤmte
deutliche Wurzeln, die aus dem hintern dreifachen Huͤ-
gelchen, und aus den vier verborgenen Huͤgelchens ent-
ſtehen: und endlich theilen die Gehirnkammern, welche
nach Art der Voͤgel eifoͤrmig und hohl ſind, ihr Mark
den Sehnerven mit. Doch findet ſich auch auſſer dieſen
Nerven ein Regenbogennerve, welcher nur einfach doch
groͤſſer iſt, und ein anderer Nerve, welcher die Augen
beweget.
Auch die Jnſekten haben einen vortreflichen und halb-
zirkelfoͤrmigen Brei, an welchen die unzaͤhlige Nerven
ihrer Hornhaͤute aufgepaßt ſind (p).
Billig hat alſo das Auge eine ungemeine ſcharfe Em-
pfindung, und es iſt das einzige, welches Licht empfin-
den kann (p*).
Jm Menſchen gehoͤren viere, nebſt einem Aſte des
fuͤnften hierher.
Das ſogenannte dritte Paar darunter (q) entſpringt
wie ich am andern Orte geſagt habe, durch einen eigenen
Canal der harten Gehirnhaut (r), oberhalb dem obern
Felſenſinus, und oberhalb den Hoͤligen, er iſt von dieſen
durch eine haͤutige Scheidewand abgeſondert (s), er laͤuft
nach dem foramen lacerum, iſt der innerſte unter allen,
gehet
[887]II. Abſchnitt. Das Auge.
gehet aber dennoch mehr nach auſſen, und unterwerts,
als der Sehenerve in die Augenhoͤhle hinein (t).
Der vierte Nerve laͤuft (u) ebenfalls durch einen be-
ſondern Canal der harten Gehirnhaut, die uͤber den
obern Felſenſinus, doch aber mehr nach auſſen zu, als
der dritte, durch das foramen lacerum, quer uͤber den
dritten und Sehenerven in die Augenhoͤhle hin (x).
Der vom fuͤnften entſpringende Sehenerve(y)
oder der erſte Aſt dieſes groſſen Stammes, iſt kleiner als
die uͤbrigen Aeſte dieſes Stammes, wird mit Huͤlfe einer
eigenen Scheidewand (z) von dem hoͤhligen Behaͤltniſſe
abgeſondert, laͤuft gegen das innere des vierten, doch tie-
fer (a) in die rima lacera und in die Augenhoͤhle fort.
Der ſechſte Nerve (b) iſt unter allen der unterſte (c),
und zu gleicher Zeit der aͤuſſerſte, koͤmmt ganz durch ei-
nen Kanal der harten Gehirnhaut in das Behaͤltniß,
wird von zweien Staͤmmchens und mitten von dem Blu-
te der Carotis umgeben (d), laͤuft paralel mit dem erſten
Nerven des fuͤnften Paars wiewol niedriger, und mehr
nach hinten zu, als der Stamm der Carotis, und gehet
durch den aͤuſſerſten Winkel des foraminis laceri, um in
die Augenhoͤhle zu gehen.
Dieſe Nerven haben eine ſehr einfache Natur, indem
der vierte die inwendigen Theile der Augenhoͤhle einnimmt
zum Rollmuſkel allein hingehet (e), ſich in demſelben verlie-
K k k 4ret,
[888]Das Geſicht. XVI. Buch.
ret, und ohne einen andern Aſt zu geben (f) noch mit den
Sehenerven des fuͤnften Paars, einen Zuſammenhang
zu haben (g), oder wie ich in wiederholten Erfahrungen
geſehen habe, ſo giebt er den Aufheber des Augenliedes
(h) keinen Zweig ab (i).
Wenn der ſechſte die aͤuſſere Seite der Augenhoͤhle
ebenfals ohne irgend einen Zuſammenhang mit irgend ei-
nem Nerven, und ohne irgend einen Aſt von ſich zu ſtrek-
ken (k) beſtreichet, ſo geht derſelbe blos nach dem aͤuſſern
Muſkel des Auges hin (l). Und es hat keiner von den
neuen Zergliedern von ihm weder Zweige zu dem Gan-
glion ciliare(m) noch zu dem Sehenerven (n) lauffen
geſehen.
Wenn einige beruͤhmte Maͤnner vor kurzen behauptet
haben, daß der Ribbennerve nicht vom ſechſten Nerven
entſtehe, ſondern zum Auge hinlaufe (o), weil er von dem
Ruͤkkenmarke entſpringt, ſo haben wir die Gruͤnde der-
ſelben an einem andern ORt erwogen. Wenigſtens koͤn-
nen diejenigen Gruͤnde, welche man von einer Augen-
entzuͤndung durch Unterbindung dieſes Nervens hernimmt,
leicht von aͤhnlichen Erſcheinungen aufgeloͤſet werden, die
von Nerven entſpringen, ſo mit Zuverlaͤßigkeit nicht zum
Auge hinlauffen, ſondern die entweder aus einem ge-
meinſchaftlichen und nicht dem Augenſtamm entſpringen,
oder uͤberhaupt gar nicht, als nur ſehr weitlaͤuftig mit
dem Auge verwandt ſind. Dergleichen iſt das Schwin-
den, Truͤbe werden, und die Entzuͤndung der Augen,
wenn der Nerve des achten Paars gebunden wird, und
wovon
[889]II. Abſchnitt. Das Auge.
wovon ein beruͤhmter Mann geſchrieben hat (p), ſo ent-
ſteht von der Verlezzung des zweiten Nervens im fuͤnften
Paare am Kinnbakken eine Fiſtel, eine Verdrehung
des Augenliedes, und der Staar (q). Von der Ver-
lezzung des Augenbraunnervens, wurde das Auge an der
einen Seite blind, und das andere dunkel (r), hingegen
wurde von der Reizzung dieſes Nerven der ſchwarze
Staar geheilet (s).
Es hat ihm Willis(u) dieſen bequemen Namen
gegeben, ob dieſer Nerve gleich auch zu andern Theilen
des menſchlichen Koͤrpers hingeht.
Ob er gleich der kleinſte von den dreien Aeſten iſt,
ſo giebt er doch vorzuͤglich dem Stamm ſeine Richtung (x).
Er entſpringt an der vordern Grenze des Behaͤltniſ-
ſes, doch unterhalb den Sehenerven, und oͤfters ehe er
den Thraͤnenaſt, oder ein andermal mehr nach hinten zu
(y) den Unteraſt von ſich giebt, welcher auf dem drit-
ten Paar aufliegt (z), und an der innern Seite des Sehe-
nervens, quer uͤber denſelben Nerven und den dritten geht.
Eben dieſer hat noch faſt allemal eine lange, und ge-
ſchlanke Wurzel (a), welche vorwerts nach dem Ganglion
K k k 5ciliare
[890]Das Geſicht. XVI. Buch.
ciliare laͤuft. Kurz darauf giebt er einen oder zwei Ner-
ven des Regenbogens von ſich (b).
Er laͤuft durch die Augenhoͤhle, und begleitet den muſ-
culus pathetecus.
Hierauf giebt er den Naſennerven von ſich (c), wel-
cher durch ein beſonderes ſiebfoͤrmiges Loch, vorne her uͤber
den ſiebſoͤrmigen Fache (d) zur Hirnſchaale zuruͤkk kehrt,
mit einem andern Aſte vorwerts laͤuft (d*), und durch
das vordere Loch des Siebbeins (e) nach der Scheide-
wand der Naſe, und nach dem Sternſinus herab ſteigt
(f), und mit einem anderen Aſte durch viele Siebloͤcher
nach der Naſe zu gehet (g).
Jch habe von dieſen Nerven nebſt einem Zweige des
Nervenknoten am Regenbogen, einen beſondern Regen-
bogennerven (nervus ciliaris) entſpringen geſehen.
Er laͤuft ferner mit ſeinem Stamm in dem inwendi-
gen Augenwinkel unter der Rolle (h) zum runden Muſ-
kel des Augenliedes, zur Thraͤnendruͤſe, zum Sakke eben
dieſes Namens, und zu dem hohen Muſkel fort. Er
haͤngt mit dem harten Nerven, und mit dem folgenden
zuſammen (k).
Kurz darauf giebt er mit einer oder zweien Wurzeln
(l), den obern und aͤuſſern Thraͤnennerven(m) von
ſich, welcher durch einen beſondern Canal der harten Ge-
hirnhaut in die Augenhoͤhle tritt. Sogleich trennet ſich
von
(i)
[891]II. Abſchnitt. Das Auge.
von ihm ein Aeſtchen oder auch wohl zwei, welcher durch
das Loch des Wangenknochens (n) aus der Augenhoͤhle,
in die Schlaͤfengrube laufen, ſich mit den Aeſten des zwei-
ten Stamms, vom fuͤnften Paare vereinigen (o), und der-
gleichen Vereinigung auch mit dem dritten ebenfals un-
terhalten (p). Das Thraͤnenſtaͤmmchen ſelbſt iſt aͤſtig, und
laͤuft mit ſeinen Aeſten, welche durch die Zwiſchenraͤume
der gleichnahmigen Druͤſe durchgelaſſen werden, und da-
von einige, doch wie ich glaube, wenige in der Druͤſe
bleiben (q), andere aber nach der gemeinſchaftlichen weiſ-
ſen Augenhaut laufen (r).
Der Stamm des erſten vom fuͤnften Paare, oder
Obereaſt iſt gedoppelt (s), und laͤuft vorne durch
die Augenhoͤhle grade durch (t). Aus der Augenhoͤhle
begiebt er ſich mit einem auswendigen und inwendigen
Aſte. Der aͤuſſere(u) iſt groͤſſer, und wendet ſich durch
eine in die Augenhoͤhle eingeſchlizzte Furche (x) zur Stir-
ne hin. Ein groſſer Zweig deſſelben, laͤuft nach dem
obern Augenliede (y), biegt ſich nach auswendig, gehet
faſt nach der Quere, und verbindet ſich mit einem Ner-
ven aus dem harten Paare (z). Die uͤbrigen Aeſte laufen
weit uͤber die Stirne hinauf, bis zum vordern Haupte,
indem einige unter der Haut kriechen (a), andere tiefer
ftreichen (b), und ſich faſt eben ſo bis zum Hinterkopfe
erſtrekken. Einige welche die allertiefſten ſind, wandern
ſo gar unter der Knochenhaut der Hirnſchaale bis zur
Stirne
[892]Das Geſicht. XVI. Buch.
Stirne fort (c), und dieſe laſſen ſich wenigſtens an die-
ſem Orte ohne Schmerzen verlezzen.
Der inwendige kleinere Aſt befindet ſich zunaͤchſt
an der Rolle (Sehnenring) (d). Seine zwei Aeſte lau-
fen, nach dem Theile der Stirne hin, welcher zwiſchen
den Augenbraunen iſt, und nach dem hohen und Runzel-
muſkel (e).
Ein anderer wendet ſich nach dem Zuſammenhange
der Augenlieder, oberhalb dem kreißrunden Bande. Ein
anderer lauft nach dem obern Augenliede hin (f).
Der Stamm ſteigt entweder durch eine Furche, wel-
che in den Rand der Augenhoͤhle eingeſchlizzt iſt, oder
auch ohne ſolche Furche zur Stirne hinauf, wird vom
Stirnmuſkel bedekkt, und bewegt ſich bis zum vordern
Haupte hin (g).
Er hat einen Zweig, welcher ſich mit den Naſenner-
ven verbindet (h).
Bisweilen koͤmmt noch ein dritter Aſt mit hinzu,
welchen Mekelanaſtomoticus nennt (i), ſich bei der
Stirn, und in der Gegend des Wangenknochens ver-
theilet, und mit dem harten Nerven zuſammen gehet (k).
Es iſt alſo kein Wunder, wenn das obere Augenlied
eine Lehmung erleidet, ſo bald dieſer Nerve verlezzet
worden (l). Da dieſes groſſe Nerven ſind, ſo haben
ihre Wunden bisweilen toͤdtliche Folgen gehabt (m).
Es iſt dieſer auſſer dem Sehenerven der Hauptnerve
des Auges, nicht nur wegen ſeiner Groͤſſe, ſondern weil
er
[893]II. Abſchnitt. Das Auge.
er auch in das innerſte des Auges, Aeſte von ſich ſtrekkt.
Wenn daher dieſer Nerve Kraͤmpfe leidet, ſo wird die
Hornhaut aufwerts und auswerts gedrehet, und das Auge
in die Augenhoͤhle gezogen (n), weil alsdenn der inwendi-
ge und untere Muſkel wirket.
Wenn er ſogleich hierauf in die Hoͤhle des Auges ge-
het (o), ſo giebt er an dem Untertheile des aͤuſſern Sehe-
nerven, den obern kleinen Aſt (p), welcher quer uͤber
den Sehenerven nach dem obern Muſkel des Auges ge-
het, und wo naͤchſt der Aſt nachdem er dieſen Muſkel
durchbohret, nach dem Aufheber des Augenliedes gehet.
Er laͤuft mit ſeinem Stamm unterhalb den Sehe-
nerven fort, und giebt faſt an dieſem Orte drei Aeſte dich-
te beieinander von ſich (q), zum Untermuſkel des Auges
(r): zum ſchiefen Untermuſkel (s): und zum inwendigen
(t): oder auf etwas andere Art theilet er den erſten
Aſt dem Herbeizieher, den zweiten groͤften Aſt dem Nie-
derdruͤkker mit, und er ſelbſt verlaͤngert ſich weit in dem
untern ſchiefen Muſkel mit ſeinem Ende (u).
Der uͤbrige Stamm oder Aſt des ſchiefen untern (x)
iſt die Hauptwurzel, oder die dikke und kurze Wurzel (y)
des Nervenknotens, es laͤuft dieſelbe nach auſſen, und
macht am Nervenknoten unter dem Wegziehen der Muſ-
kel daß ganglion ciliare oder ophthalmicum(z) aus, wel-
ches
[894]Das Geſicht. XVI. Buch.
ches Eirund beſtaͤndig zugegen und ſehr klein iſt. Es
giebt Faͤlle, wo dieſer kleine Nervenknote blos von dem
dritten entſpringt (a). Jch habe niemals gefunden, daß
er gefehlet haͤtte (b), oder daß zwei oder mehrere da ge-
weſen waͤren, wie einige neuere verlangen (c).
Aus dieſem Knoten laufen drei, vier (d), oder meh-
rere (e), und andere aus dem Naſenaſte des fuͤnften (f),
und bisweilen aus dem Stamm des dritten, wie ich ge-
ſehen habe, die inwendigen Nerven des Auges oder
ciliares(g), deren vier oder fuͤnf da ſind, und mit eini-
gen Nerven, von dem Naſenaſte des fuͤnften oft zuſammen
wachſen (h), es beugen ſich dieſe oft um den Sehenerven
herum, durchbohren die dunkle Hornhat, und dieſes
thun ſie zum Theil mit den langen Schlagadern, mit-
ten an der dunklen Hornhaut (i), zum Theil mit eigenen
Loͤchern (k), deren zehn, zwoͤlf (l) bis vierzehn (m) da
ſind, und ſie haben, weder ein Geſchlechte noch einen Zu-
ſammenhang (n).
Andere kleine Zweige die vom ganglio ciliari, nicht
groͤſſer als Spillenfaͤden ſind (o), habe ich den 19ten No-
vember
(z)
[895]II. Abſchnitt. Das Auge.
vember 1741. zu allererſt zu Geſichte bekommen, ſie lau-
fen nach der dunklen Hornhaut, und ſind von meinen
beruͤhmten Zuhoͤrern, nachgehends groſſen Maͤnnern,
vollſtaͤndiger erklaͤret worden (p).
Jn Menſchen und in allen mir bekannten Thieren,
(q), durchbohren die nervi ciliares beide Platten der
dunklen Hornhaut ſchief durch (r), kleben an der Ader-
haut feſte, und laufen uͤber deren aͤuſſern Flaͤche, gleich-
ſam platt gedrukkt (s) herab, und es hat dieſe platte
Figur, ob ſie gleich an kleinen Nerven gar nicht ſelten
vorkommt, dennoch gemacht, daß man ſie hin und wieder
unter den beſondern Namen der Baͤnder(t) beſchrieben
hat. Sie geben der Aderhaut keine deutliche Aeſte (u).
Es iſt ihr Durchmeſſer ungleich (x), und man findet eini-
ge ungleich breiter als andere.
Wenn ſie nun zum orbiculus ciliaris kommen, ſo
theilet ſich ein jeder gemeiniglich in zween Zweige, und
es laufen dieſe Zweige, welche mit dem Fadengewebe die-
ſes ciliaris orbiculi bedekkt ſind, nach der Traubenhaut,
ſie
(y)
[896]Das Geſicht. XVI. Buch.
ſie machen, doch weniger geſtralte Faſern (z), und bis
dahin koͤnnen ſie, wenn man blos die Hornhaut wegge-
nommen, und das uͤbrige in ſeiner Laage bleibt, von
dem Meſſer verfolgt werden.
Sie geben obgleich Manfredus(a) und andere (b)
es ſo beſchrieben haben, den Fortſaͤzzen der Aderhaut
keine Zweige ab (c).
Bisher hat noch niemand an der ruyfiſchen Cryſtal-
linſe, an dem Glaskoͤrper, und der Hornhaut einige
Nerven geſehen,
Beilaͤufig begeben ſich noch einige Nerven zu den Au-
genliedern und deren Muſkeln, nehmlich zu den obern
vom harten Nerven (d) zu dem untern ſowohl vom har-
ten Nerven (e), als dem unter der Augenhoͤhle (f), wel-
ches ein Fortſazz des zweiten Aſtes vom fuͤnften Paare iſt.
Bei dieſen werde ich mich meiner eignen Beobach-
tung bedienen koͤnnen, indem ich viele Arbeit verwandt
habe. Es iſt beſtaͤndig nur eine einzige Schlagader fuͤr
das Auge da, welche man die Augenſchlagader nennt,
nehmlich ein Fortſazz von der inwendigen Carotis, wel-
cher in der Hoͤhle der Hirnſchaale, in dem Behaͤltniſſe
ſelbſten entſpringt, daß an der Seite des Pferdeſattels
liegt (g), Sie entſpringt weder von dem Stamme unter
der Augenhoͤhle (h), noch von der Thraͤnenader (i) noch von
irgend einer andern Schlagader, welche durch die Luͤkke
der
[897]II. Abſchnitt. Das Auge.
der Viſſura lacera koͤmmt. Und bei dieſer Sache kommt
keine dergleichen Mannigfaltigkeit vor, welche J. Phi-
lipp Jngraßias behauptet.
Sie wandert nach ihrem Entſtehen allmaͤhlig uͤber den
Sehenerven einwerts und vorwerts weiter fort (l). Jhre
Aeſte ſind, damit ich mich kurz faſſe, und die Leſer zu ih-
rer weitlaͤuftigen Geſchichte verweiſe (m), die ich an einem
andern Orte geſchrieben habe, an dem kleinen Behaͤlt-
niſſe bei der Hirnhaut bei dem fuͤnften Nerven, bei dem
Anfaͤnger der Augenmuſkeln (n) der Thraͤnenaſt(o),
welcher bisweilen aus der arteria meningea koͤmmt, in
dem Eintritte in die Augenhoͤhle entſpringt, und ſich in
der harten Gehirnhaut (p) und der Thraͤnendruͤſe aus-
breitet (q): Ferner bei der Schlaͤfengrube, durch die
Loͤcher des Wangenknochens (q*), bei den Augenliedern
(r), darunter der obere (s) und untere (t) Knorpelbogen iſt,
und endlich laufen ihre Aeſte noch zu der gemeinſchaftlichen
Augenhaut.
Eben dieſe Schlagader erzeigt noch auſſerdem einige
Adern des Regenbogens(x), deren zwo (y), drei (z),
vier (a) und fuͤnf, weil ihre Zahl ungewiß iſt, und dieſe
wollen wir nach und nach beſchreiben. Es iſt alſo die Mittel-
ader der Nezzhaut(b), die Ader uͤber der Augenhoͤhle
(c), die ſich zu den obern Muſkeln des Auges, und durch
die Furche im Rande der Augenhoͤhle weit uͤber den
Stirnknochen ausbreitet (d). Jhre uͤbrigen Aeſte ſind meh-
ren-
H. Phiſiol. 5. B. L l l
[898]Das Geſicht. XVI. Buch.
rentheils zwei Muſkeladern, eine obere (e) und untere (f):
Zwo Siebadern eine hintere kleine bei den Hinternfaͤchern
bei dem ſinus Sphenoideus und der harten Gehirnhaut (g):
Die vordere iſt ſchon groͤſſer (h), und laͤuft mit dem ruͤk-
laufenden Nerven des erſten Aſts vom fuͤnften Paare nach
der Hirnſchaale zuruͤkk, und ſtreicht durch die harte Ge-
hirnhaut, durch die Sichel, durch den Theil der Hirn-
ſchaale, welcher auf der Augenhoͤhle liegt (i), durch die
Siebfaͤcher (k) und die Scheidewand der Naſe fort (l). Es
entſpringet hernach der untere Augenliederaſt(m) bei
dem Naſenſakke und den Augenliedern, ſo wie bei den
untern Knorpelbogen: Der obere hingegen (n) bei den
Augenbraunen, den obern Knorpelbogen (o) und der ge-
meinſchaftlichen Augenhaut (p): Der Naſenaſt bei dem
Thraͤnenſakke, bei dem Stirnſinus, bei dem Vordertheile
der Naſe, und der Naſe (q), wo er ſich mit dem groſſen
Winkelbogen vereinigt (r), Der Stirnaſt (s) entſpringt
mit einigen tiefen Aeſten, indeſſen daß andere der Ober-
flaͤche naͤher liegen, und ſich weit gegen die Stirne aus-
breiten.
Ob nun gleich in der Ordnung, wie ſie entſprin-
gen einige Verſchiedenheit ſtatt findet, ſo hat doch unſere
Schlagader beſtaͤndig die erwaͤhnte Zweige (s*).
Unter ihnen verdienen die hintern und vordern A-
dern des Regenbogens und die Mittelader der Nezzhaut,
mit einer beſondern Sorgſalt erzaͤhlt zu werden.
Es entſpringen die groͤſſern ciliares(t), welche vor-
laͤngſt bekannt ſind, entweder von dem Augenſtamme,
oder von der untern Muſkelſchlagader (u), oder von der
Ader uͤber der Augenhoͤhle oder von der Thraͤnenader (x),
oder aus der Vereinigung der hintern Siebader mit dem
Aſte der Augenadern (y). Sie ſind groͤſſer oder kleiner,
und wenn ſie groͤſſer ſind, ſo durchbohren ſie die dunkle
Hornhaut mit einer groſſen Menge Zweige deren auch
nur aus einem einzigen Staͤmmchen ſechszehn ſind: Die
kleinern haben zween Zweige (z) und ſchwerlich mehr.
Sie ſpielen auf ihren krummen Gange um den Sehe-
nerven herum, und machen bei deſſen Falte mit der dunk-
len Hornhaut, Aeſte welche ſich in einen Kreiß verſtrik-
ken laſſen (a), und an dieſer Stelle einen Kranz machen,
in welchen ſich auch die Zweige von der Mittelader der
Nezzhaut, und von den kleinen Aeſten der duͤnnen Ge-
hirnhaut, die dem Sehenerven eigen ſind, werfen.
Sie theilen ſich hierauf in eine Menge kleiner Aeſte
(b), deren leichtlich vierzig vorhanden ſind: andere lau-
fen mehr nach hinten, liegen am Eintritte des Sehener-
vens naͤher, und machen zwei und mehr Claſſen aus.
Dieſe laufen gegen die Aderhaut zu, und ſind voll
Blut ſo lange ſie ſich in dieſer Membran aufhalten,
laufen nach vorne, theilen ſich unter ſehr ſpizzen Winkel
(c), und machen daß die Aeſte mit denen Staͤmmen bei-
nah paralel laufen.
So wie ſie allmaͤhlig nach vorne hinlaufen, ſo bedek-
ken ſie ſich mehr und mehr mit dem Fadengewebe, und
weichen von der vordern Flaͤche gegen die hintere (d),
oder gegen die ruyſiſche Flaͤche ab. Einige ſenken ſich
in den Kreiß der Traubenhaut, oder ſie haben mit den
Aeſten der vordern ciliarium einen Zuſammenhang (f).
Jndeſſen ſind die meiſten doch, wenn man ſie unter
dem Vergroͤſſerungsglaſe beſiehet, mit einem wunderns-
wuͤrdigen Nezze von Gefaͤſſen, die ſich in vierekkigte Raͤu-
me verbinden, bedekkt (g) und indem ſie uͤberall Flokken
von Gefaͤſſen von ſich laſſen (h), ſo kommen ſie endlich
zum Sternbaͤndchen, und ſie ſind am Haaſen offenbar,
und auch an dieſer Stelle voller Blut, es laufen mehrere
in ein einziges Staͤmmchen zuſammen (i), und es liegen
je zwei und zwei paralel aneinander (k): Mit ihrem aͤuſſerſten
Ende vereinigen ſie ſich endlich in einen gemachten Bo-
gen, ſo wie ſie vor ihrer Endigung noch andere Zuſam-
menhaͤnge haben (l).
Von dieſen kleinen Staͤmmen trennen ſich uͤberall die
Aeſtchen der Fortſaͤzze der Aderhaut, in ſchwimmende
Flokken. Duverney(l*) behauptete ehedem, daß ſie
ganz und gar aus Gefaͤſſen beſtuͤnden.
Daß ſie der Cryſtallinſe einige Aeſte geben (m), ſchien
auch den B. Zinn wahrſcheinlich zu ſein (n), da insbe-
ſon-
(e)
[901]II. Abſchnitt. Das Auge.
ſondere die vordere Flaͤche der Linſe eben ſowol ohne Ge-
faͤſſe zu ſein ſcheinet, und die hingegen, welche man zur
Zeit geſehen, einzig und allein gegen die Hinterflaͤche lau-
fen. Seit dem ich mich aber davon uͤberzeuget habe, daß
die Strahlen des Sternbaͤndchens an der Cryſtallinſe nicht
anhaͤngen, ſo wage ich es nunmehr nicht, mich auf die Ver-
ſuche zu verlaſſen, als bis ſie weitlaͤuftiger wiederholet
worden. Es waͤre nemlich wenigſtens billig, daß die
Linſe vermittelſt dieſer Gefaͤſſe an dem Sternbaͤndchen
feſthaͤnge. Doch ich habe auch in keinem einzigen Thiere
gefunden, daß die Gefaͤſſe der Aderhaut der Nezzhaut
Zweige geben ſollten (o), da dieſe Haut in allen Thieren
von der Aderhaut auf das vollkommenſte abgeſondert
werden kann. Es werden auch eben ſo wenig bei der
glaͤſernen Feuchtigkeit (p), dergleichen Gefaͤſſe gefunden,
welche wie man ſagt, an dem Auge des Wallfiſches vom
Albin gefunden ſein ſollen, weder am Menſchen (p*),
noch an den kleinern Fiſchen. Andere Gefaͤſſe ſind in
Fiſchen ganz unbeſchaͤdigt entdekkt worden (p**), nur daß
ich ſie nicht in das inwendige laufen geſehen habe. Es
deucht mir, daß ich in einem Geier Gefaͤſſe geſehen habe,
welche von den Glaskoͤrper nach dem Kreiſe der Nezzhaut
liefen. Doch ſind die Gefaͤſſe von denen ich vermuthe,
daß ſie aus dem Cirkel des Glaskoͤrpers nach der vordern
Convexitaͤt der Cryſtallinſe laufen, noch zur Zeit nicht
zuverlaͤßig genug.
Es ſind die langenciliares unter den hintern
Schlagadern dieſes Namens, doch groͤſſer, ſeltner, und
L l l 3gemei-
[902]Das Geſicht. XVI. Buch.
gemeiniglich findet man ihrer zwei (q): Wir haben ge-
ſagt, daß dieſes die Waſſerquellen des Nuks ſind (r).
Sie nehmen allezeit die vordere Gegend der Aderhaut
ein, theilen derſelben einige kleine Zweige mit, gelangen
aber mit ihren Staͤmmen, mit dem orbiculo ciliare be-
dekkt, in derjenigen Gegend an, von welcher die Trau-
benhaut entſpringet.
Hier trennet ſich gemeiniglich eine jede dieſer beiden
in zween Aeſte (s), welche ſich bei dem groͤſten Winkel
hin und her ſtrekken, ſich wieder in andere theilen, und
endlich die vordern arterias ciliares in ſich aufnehmen (t).
Es ſind dieſes die Aeſte der Schlagadern (u), welche
der graden Muſkel nachfolgen, entſpringen von der Au-
genader, deren Staͤmme von dem untern Aſte der Ader
uͤber der Augenhoͤhle, von der obern Augenliedader (x),
und von der Thraͤnenader. Dieſe Aeſte theilen ſich ohn-
gefehr in einem Abſtande einer Linſe vor der Hornhaut,
in drei oder vier Aeſtchen, welche die dunkle Hornhaut
eben ſo durchbohren als die hintere: ich habe von dieſen
Aederchen ſechs bis zehn gezaͤhlt (y). Sie dringen durch
das Fadengewebe in den ciliaris orbiculus ein, breiten
ſich auseinander, und machen nebſt den langen ciliaribus
den Kreiß der Traubenhaut aus (z): Einige gehen auch
ohne Kreiß nach der Traubenhaut, Aderhaut, und de-
ren vordern Theil hin (a).
Endlich kommen einige kleine Schlagadern von den
hintern Aederchen der Aderhaut zu dieſen Cirkel hin (b).
Daher koͤmmt es, daß dieſer Zirkel nicht einfach iſt,
ſondern daß der eine hintere Ring, aus den langen cilia-
ribus,
[903]II. Abſchnitt. Das Auge.
ribus, wie wol unvollkommen geſehen wird, indem er
gleichſam zweien halbe Cirkel macht (c): Der andere vor-
dere Ring beſtehet aus den vordern und langen Adern,
er iſt vollkommner, und bisweilen ebenfals gedoppelt (d).
Es iſt dieſer Kreiß einer der ſchoͤnſten Theile im menſch-
lichen Koͤrper. Jhn hat Nuk(e) zuerſt gleichſam nur
im Vorbeigehen, nach dieſen Ruyſch aus dem Wallfiſche
(f) abgezeichnet: Beſſer aber Hovius beſchrieben, wel-
cher nicht nur ſeinen Urſprung von den langen Gefaͤſſen
herleitet (g), ſondern auch ſeinen gekruͤmmten Gang (h)
und die ſchlangenfoͤrmig gewundene Aeſte beſchreibt, wel-
che zu den Regenbogen hinlaufen (i). Nunmehr kennt
man denſelben mehr als zur Gnuͤge (k), und es hat ihm
ein beruͤhmter Mann, als den Ringmuſkel der Trauben-
haut beſchrieben (l). Jch habe denſelben ſo abzeichnen
laſſen, wie ich ihn in dem menſchlichen Koͤrper zu finden
pflege. Er iſt in vielen Thieren ebenfals, und noch
ſchoͤner vorhanden (l*), und er ſcheint in den Voͤgeln ſehr
artig, wie man an der Aelſter ſehen kann.
Es laufen aus dieſem Kreiſe ferner zahlreiche Gefaͤſſe
nach der Traubenhaut hin, welches von verſchiedenen
Thieren, und inſonderheit von den Fiſchen gilt (l**), ſie
ſind voller Blut, im Menſchen durchſichtig, und ſowol
L l l 4dem
[904]Das Geſicht. XVI. Buch.
dem Ruyſch(m) als dem Vieuſſens(n) bekannt gewe-
ſen. Da der beruͤhmte Ferrenius(o) dieſelbe beſchrieb,
und die Schuͤler dieſes beruͤhmten Mannes dieſes fuͤr eine
merkwuͤrdige Entdekkung hielten (p), als das einzige Exem-
pel von Schlagaͤderchen der kleinen Gattung, ſo haben an
dere die Sachen hingegen fuͤr ſchon bekannt angeſehen (q).
Dieſe Gefaͤſſe ſind ferner (r) durch die Traubenhaut
mit vielen Zotten vorne, hinten aber mit einer ſchwarzen
Mahlerey bedekkt, und laufen gekruͤmmt, untereinander
verbunden, gegen den Augenſtern zu, breiten ſich aus
und vereinigen ſich zu einem zweitem Kreiſe, und erreichen
den Anfang des inneren Kreiſes der Traubenhaut (s).
Jhr Bau iſt nicht beſtaͤndig einerlei, noch der Cirkel al-
lezeit ganz (t), indem die Gefaͤſſe der Sternhaut (u) ohne
einen zweiten Cirkel aus dem Ringe der Traubenhaut
herkommen.
Von dieſem Kreiſe ſtreichen grade Gefaͤſſe, welche
aber allezeit geſtrahlt ſind, zu dem Augenſtern hin (x).
Es ſind dieſes beruͤhmte Gefaͤſſe, welche von dieſen
Schlagaͤderchen entſtehen, deſſen Urſprung ich gemeldet
habe.
[905]II. Abſchnitt. Das Auge.
habe. Es koͤmmt daſſelbe aus der Augenader her, nicht
aber aus der Hirnſchaale (y), ſondern entſtehet in der
Augenhoͤhle, aus dem Stamm dieſer Schlagader, ehe
als die Adern des Sternbaͤndchens (z), oder wenn es ſich
mit ihnen vermiſcht (a) auch von der untern oder innern
Ader des Sternbaͤndchens, oder aus der untern Muſ-
kelſchlagader des Auges.
Es finden ſich auch Faͤlle, wo zwei oder drei derglei-
chen Staͤmme in den Sehenerven laufen (b). Es ſtreicht
auch der vornehmſte derſelben (c) in der Achſe des Sehe-
nerven, und wenn man dieſe nebſt dem Nerven zerſchnei-
det, ſo laͤſſet er eine leere Furche zuruͤkk, welche die Alten
porus nannten (d). Es finden ſich auch in den Thieren
oͤfters mehrere Staͤmme (e), ich ſehe deren acht im Och-
ſen vor mir, und man trift in der Kazze, dem Wolfe,
und andern Thieren drei, vier bis ſechs ſolcher Staͤmm-
chen an (f).
Dieſes einzige Schlagaͤderchen, oder wenn auch viele da
ſind, durchbohret die am andern Orte beſchriebene ſieb-
foͤrmige Platte, durchlaͤuft die inwendige, an die glaͤſerne
Feuchtigkeit angraͤnzende Flaͤche der Nezzhaut, aͤſtig
durch (g), und iſt in den mehreſten vierfuͤßigen Thieren,
ſowol lebendigen (h) als todten deutlich voller Blut (i).
L l l 5Es
[906]Das Geſicht. XVI. Buch.
Es ſind wenige roth (k), und der groͤſſere Theil derſelben,
zeiget ſich entweder bleich oder gar ohne Farbe. Wenn
man ſie zertheilet zeigen ſie nichts ſchoͤnes an ſich, bevor
nicht die Kunſt das ihrige dabei gethan hat. Uebrigens
ſind dieſe Schlagadern auch den alten Schulen bekannt ge-
weſen (l), und es hat an ihnen der beruͤhmte Meiſter der
an den Aeſten, Aeſte und rothe Kuͤgelchen fand, viele
Verſuche gemacht (m). Daß ſie ſchlagen zeiget F. De.
Sauvages(n).
Wenn man aber eine kuͤnſtliche Einſprizzung damit
vornimmt, ſo waͤchſet die Menge dieſer Gefaͤſſe immer
mehr und mehr an (n*), und endlich wird daraus eine
vollſtaͤndige Membran voller Gefaͤſſe, die von auſſen mit
Mark bedekkt iſt.
Endlich endigen ſich dieſe Gefaͤſſe in einigen Thieren
(n**), bei dem vordern Umfange der Nezzhaut mit ei-
nem Kreiſe (o), aus welchem einige Aeſte zur Nezzhaut
zuruͤkkgelaufen, und einige gegen die Linſe zu, zwiſchen
dem Sternbaͤndchen und dem Glaskoͤrper zu gehen ſchei-
nen. Man hat geglaubet, daß dieſe Zweige durch die
Nezzhaut gegen die vordere Seite der Linſe ſtreichen (p).
Jn dieſer Gegend iſt am Karpen und andern Fiſchen
ein deutlicher Cirkel zu gegen, welcher aus zween ent-
ſpringt, die dem vordern Anfang der Nezzhaut umfaſſen,
und von dieſer Mittelader entſpringen, von der ich ſo
gleich reden werde. Doch es laufen die Aeſte dieſes Cir-
kels
(i)
[907]II. Abſchnitt. Das Auge.
kels offenbar in die Haut der glaͤſernen Feuchtigkeit wie-
der zuruͤkke, und der Cirkel ſelbſt befindet ſich vorne.
Andere kleine Aeſte laufen in einigen Thieren von der
Mitte der Nezzhaut, in die glaͤſerne Feuchtigkeit (q),
ſtammen von rothen Gefaͤſſen ab, und ſind bisweilen
ſelbſt roth (r)
Beſonders aber iſt der Aſt der Cryſtallinſe beruͤhmt,
und ich werde denſelben wegen der groſſen Verſchieden-
heit in den Thieren, etwas weitlaͤuftiger beſchreiben.
Es hat der Kamm in den Voͤgeln, oder der Faͤcher
(r*), zweimal ſo viele rothe Gefaͤſſe, die aus den Gefaͤſ-
ſen der Nezzhaut entſpringen, als Falten ſind, und es
ſcheinen endlich dieſe Gefaͤſſe, wenn ſie in dem Schweif
des Kammes laufen, die Linſe zu erreichen, wie wol ich
ſie niemals ſo weit habe verfolgen koͤnnen.
An den Fiſchen iſt der Bau faſt eben ſo wie an den
Voͤgeln, nur noch ſchoͤner als wir beſchrieben haben (s),
nemlich die vordern und hintern Schlagaͤderchen der
Glashaut.
Jn den vierfuͤßigen Thieren, dem Hunde (t), Kalbe
(t*), Schwein und Menſchen (u) dringt eine Schlag-
ader die mit der Schlagader in den Fohren (trocta) ſehr
uͤberein koͤmmt, mitten durch die glaͤſerne Feuchtigkeit,
der ſie Zweige giebt, begiebt ſich nach der hintern Con-
vexitaͤt die Linſenkapſel, gehet durch dieſe Kapſel durch,
und vertheilt ſich endlich in der Linſe ſelbſten (x), und wuͤr-
de
[908]Das Geſicht. XVI. Buch.
de eine der ſchoͤnſten Erfindung des Albins ſein (y) wo-
fern nicht bereits der vortrefliche Duverney ſolches ge-
ſehen haͤtte, als indeſſen poſthumis es wenigſtens beſchrie-
ben wird (y*) Jndeſſen wird dem Albin, welcher dieſes
erſt gezeiget, von dem verdienten Ruhm nichts abgehen.
Doch ich habe auch eben dieſes an einem jungen Hunde,
auch in der Kapſel voller Blut an ſeiner hintern Convexi-
taͤt aͤſtig, und ohngefehr etwas gegen die Seite des Mit-
telpunkts zu, inſeriret geſehen.
Jn einem Schweine gieng dieſe Ader mit zween
Aeſten zur Linſe. G. Hunter fuͤgt hinzu, daß von dieſen
Gefaͤſſen zarte Aeſte zu der vordern Flaͤche ſtreichen, von
da mit einer ſubtilen Bekleidung von der Linſenkapſel Ab-
ſchied nehmen, und ſich an die Sternhaut anhaͤngen (y**).
Wenigſtens beſinne ich mich Gefaͤſſe geſehen zu haben,
welche von der Sternhaut weggingen, und herumſchwe-
beten. Es haben andere beruͤhmte Maͤnner, entweder
eben dieſes Gefaͤſſe (z) wie es ſcheint (a), ohne ſeinen
Stamm zu nennen, oder doch Gefaͤſſe, welche ſich ausſpriz-
zen lieſſen, an der Cryſtallinſe geſehen (b).
Hieraus ergiebet ſich daß die Cryſtallinſe eben ſo
durch Gefaͤſſe ernaͤhret werde, wie die uͤbrigen Theile ei-
nes beſeelten Koͤrpers, daß es alſo nicht noͤthig iſt, der
Analogie zu wieder, blos dieſem Theile eine ſolche Ernaͤh-
rung zu zuſchreiben (c), welche durch Einſaugen geſchieht.
Es iſt aber nicht wahrſcheinlich, daß ſie in geſunden Koͤr-
pern eine rothe Feuchtigkeit leide (d), niemals hat man
in der Linſe Blut geſehen, ob dieſes gleich in der waͤßri-
gen Feuchtigkeit vorkoͤmmt.
Es waͤre auch in der That zu viel, wenn man be-
haupten wollte, daß dieſe Linſe aus Gefaͤſſen beſtuͤnde (e).
Dieſe wollen wir kuͤrzlich beruͤhren. Viele derſelben
giebt die Schlagader unter der Augenhoͤhle,
welche darum aber nicht die vornehmſte Ader des Auges
iſt (f), indem ſie das Auge kaum beruͤhret. Sie giebt
aber dennoch viele Zweige in die Augenhoͤhle (g), in deren
Knochenhaͤutchen in die dunkle Hornhaut, ſo ſich auf al-
lerlei Weiſe mit den Augenadern verbinden, und in den
untern Knorpelbogen ab.
Wenn ſie aber nunmehro in dem Geſichte erſcheint,
ſo giebt ſie von neuen Aeſte dem Unternaugenliede und
deſſen Knorpelbogen, wie auch dem runden Muſkel (h),
darunter der eine Aſt inwendig laͤuft, der andere aber
ſich zum ganzen Augenliede mittheilet (i).
Die tiefe Schlagader der Schlaͤfe ſtrekket durch
das Loch der (k) des Wangenknochens, Zweige zur Thraͤ-
nen-
[910]Das Geſicht. XVI. Buch.
nendruͤſe und zu beiden Knorpelbogen bisweilen aus, die
ſo groß ſind, daß ſie die Stelle eines Stammes vertreten.
Auch der Aſt von der Schlagader in der Oberflaͤche
der Schlaͤfe macht keine geringe Zweige (l), deren zwei
da ſind, und zu den runden Muſkeln des kleinen Augen-
winkels, und zu beiden Knorpelbogen hinlaufen.
Mehr Schlagadern des Auges von Wichtigkeit ken-
ne ich nicht. Jndeſſen iſt doch an dem menſchlichen Au-
ge bei den Schlagadern der glaͤſernen Feuchtigkeit, und
bei den vordern Gefaͤſſen der Cryſtallinſe noch etwas un-
vollſtaͤndiges anzutreffen. Die Hornhaut empfaͤngt die
Gefaͤſſe, die ſie hat von den Zweigen der gemeinſchaftlichen
Augenhaut (m).
Es ſind dieſe Blutadern weniger als die Schlaga-
dern bekannt, und man hat zur Zeit noch keine vollkom-
mene Geſchichte von denſelben, wie wol ich einiges dar-
uͤber, Zinn aber viel mehreres geſchrieben. Doch hat
man von der Blutader des Glaskoͤrpers, der Cryſtallinſe
und des Sternbaͤndchens noch keine hinlaͤngliche Kaͤnnt-
niß.
Der vornehmſte Stamm der Augenblutader hat, ob
er gleich nicht den Namen eines ſinus verdienet (n), den-
noch mit den Sinuſſen der Hirnſchaale einen deutlichen
Zuſammenhang (o).
Jhr hinteres Ende entſtehet alſo aus den Behaͤlt-
niſſen des Pferdeſattels, beinahe an dem Unterntheile deſ-
ſelben (p), doch iſt es bisweilen mit der vornehmſten
Blut-
[911]II. Abſchnitt. Das Auge.
Blutader der harten Gehirnhaut verbunden (q). Ein
andermal koͤmmt ſie aus dem kreißrunden Sinus (r),
oder aus dem obern Felſenſinus (r*) hervor. Sie giebt
die Mittelader der Nezzhaut, in dem Behaͤltniſſe ſelbſt
von ſich.
Sie tritt in die Augenhoͤhle, entweder vollſtaͤndiger,
oder wenn ſie ſich bereits getheilet hat (t), und macht ei-
nen Zweig fuͤr die harte Gehirnhaut (u), und den hin-
tern Siebaſt (x), wie auch den obern ciliaris(y)
Sie ſpaltet ſich hierauf. Jhr oberer Aſt, der ſchon
mehr bekannt iſt, giebt anfangs die Thraͤnen Blutader,
die mit der gleichnamigen Schlagader gleich iſt, nur daß
ſie nach Art der Blutadern, mit den uͤbrigen Aeſten ih-
res Stammes Zuſammenhaͤnge macht (z): und ſie giebet
auch der Ader des Sternbaͤndchens, und einige Muſkel-
aͤſte von ſich.
Der obere Stamm zeraͤſtet ſich auſſer den Muſkel-
aͤſten zum Aufheber des Auges und Augenliedes, zum in-
wendigen und Rollmuſkel, weiter noch in die inwendige
Ader des Sternbaͤndchens (a), in Aeſte fuͤr die Augenlie-
der Stirn und Naſe, und haͤngt ſich quer uͤber der Naſe
mit einer andern Nebenader auf verſchiedene Weiſe zu-
ſammen. Der Stamm, welcher ſich nunmehr aus der
Augenhoͤhle herausbegiebt, endigt ſich mit einem ſehr
deutlichen Zuſammenhange in die Blutader des Win-
kels (b).
Der untere Aſt giebt andere Muſkelzweige (c), die
beſondere Ader des Sternbaͤndchens (d), und Aeſte zur
Aderhaut ab, darunter ſich einige mit den Gefaͤſſen voller
Schluͤn-
[912]Das Geſicht. XVI. Buch.
Schluͤnden zuſammenhaͤngen (e), andere aber mit den
langen Aeſten des Sternbaͤndchens vereiniget ſind.
Sie laͤuft mit dem vornehmſten Aſte aus der Augen-
hoͤhle heraus, und kehret in den Obernſtamm wieder zu-
ruͤkke (f).
Sie vereiniget ſich mit den obern, vermittelſt der
Zuſammenhaͤnge, dergeſtalt, daß gleichſam ein Blut-
aderkreiß das Auge umgiebt (g).
Es durchbohren alſo vier (h), fuͤnfe (i) oder ſechs (k)
kleine Blutadern des Sternbaͤndchens die dunkle Horn-
haut ſchief, und vertheilen ſich in derſelben dergeſtalt, daß
ſie ſo gar mit zwoͤlf kleinen Staͤmmen zur Aderhaut ge-
langen (l), darunter einige klein ſind, und gleichſam den
Anfang zu einigen Schluͤnden machen wollen (vorticoſa,
krauſe Gefaͤſſe) (m), andere ſind groͤſſer und ſteigen nicht
leichtlich uͤber vier, es ſind dieſes die krauſen Gefaͤſſe des
Steno(n), die man mit einem einzigen Worte ausdruͤkt,
und welche faſt mitten in die Aderhaut gehen (o). Die-
ſes ſind erſtlich krumme Staͤmme, zertheilen aber und
verzehren ſich, durch Aeſte, welche ſie nach einer einzigen
Seite, und in einen einzigen Halbzirkel ausſtrekken (p).
Es kehren ſich zwei und zwei Schluͤnde mit ihren Aeſten
gegeneinander (q). Unter dieſen Aeſten laufen einige vor-
werts (r): andere verbinden ſich auf verſchiedene Weiſe
uͤberzwerg mit andern kleinen Gefaͤſſen (s), und endlich
laufen andere wieder ruͤkkwerts (t).
Es ſind keine Schlagadern, ob ſie ſich gleich durch
die Schlagadern ausſprizzen laſſen, und vom Heiſter
(u) und Ruyſch(x), oder andern (y) fuͤr Schlagadern
gehalten werden: Jch (z) und Zinn haben bereits erin-
nert (a), daß es Blutadern ſind.
Von dieſen Schluͤnden laufen grade Gefaͤſſe (b), wel-
che ſich mit ihren langen Aeſten vermiſchen, ſtrahlig zu
dem Regenbogen hin, ohne einen wirklichen Kreiß zu
beſchreiben.
Das zweite Geſchlecht der venarum ciliarium ſind
die langen Adern (c), welche Zinn entdekket hat. Sie
ſehen wie lange Nerven aus, ſind aber klein, gra-
de vorne oder auswendig liegend, gehen nach dem kleinen
Kreiſe des Sternbaͤndchens, zerſcheitlen ſich in demſelben
unter ſehr groſſen Winkeln, wie uͤberhaupt die gleichna-
migen Schlagadern, verſtrikken ſich mit den Zweigen
der Schluͤnde, laufen nach dem Regenbogen hin, und
enthalten Blut (d).
Endlich ſind die vordernvenæ ciliares(e) ebenfals
denen gleichnamigen Schlagadern ſehr aͤhnlich, ſie ent-
ſpringen von den Muſkelaͤſten, vereinigen ſich mit ihres
gleichen zu Bogen, durchbohren die dunkle Hornhaut,
gelangen zum Kreiſe des Sternbaͤndchens, und laufen
theils mit den krauſen Blutadern zuſammen (f), theils ge-
hen ſie grade zu den Regenbogen hin (g).
Jm Ochſen machen ſie (h), und in den Voͤgeln einen
deutlichen Kreiß, aber dieſes thun ſie nicht im Menſchen (i).
Hier von habe ich, und wie ich glaube, zuerſt ge-
ſchrieben (k), und ich habe dieſe Mittelblutader in allen
Geſchlechtern der vierfuͤßigen Thiere angetroffen. Es ſind
nemlich die Aeſte der Schlagader in der Nezzhaut nicht
einfach, ſondern uͤberhaupt doppelt, und es vermiſchen
ſich hier die groſſen Blutadern mit den Schlagadern. Sie
entſpringt im Behaͤltniſſe aus dem Stamm (l) der Augen-
ader, am unterſten Orte unter allen, ſcheinet durch die
Bekleidung des Sehenerven durch, taugt ſich allmaͤhlig
tiefer ein, durchbohret zugleich die Siebplatte (m), und
verbreitet ſich mit groͤſſeren Zweigen durch die Nezzhaut
(n), und ich habe dieſelbe oͤfters in verſchiedenen vierfuͤßi-
gen Thieren, deutlich geſehen. Es ſind aber deswegen
nicht alle rothe Gefaͤſſe der Nezzhaut, Blutadern (o).
Ob gleich der hoͤchſt ſubtile, und ſehr durchſichtige
Bau dieſes Werkzeuges, durchſichtige Gefaͤſſe ſehr ver-
muthen laͤßt, ſo ſind ſelbige doch noch nicht durch die Er-
fahrung beſtaͤtdiget worden. Duverney redet von groſ-
ſen Gefaͤſſen, welche eine waͤßrige Feuchtigkeit zuruͤkkfuͤh-
ren (o*). Valſalva glaubte dergleichen an der Nezz-
haut des Ochſen geſehen zu haben (p), Steno(q) zaͤhlte
ſie an dem Regenbogen und der Aderhaut, und Vieuſ-
ſenius an der Traubenhaut (r), der beruͤhmte Bertrandi
fand an derſelben, und an beiden Platten durchſich-
tige
[915]II. Abſchnitt. Das Auge.
tige Gefaͤſſe ohne Knoten, welche auch in die Nezzhaut
in dem Glaskoͤrper, und gegen die Linſe fortliefen, wie
auch andere knotige (s), weisliche und gekruͤmmte Aeſte.
Jch habe aber in ſo vielen Thieren mit Huͤlfe der Ver-
groͤſſerungsglaͤſer, oͤfters Gefaͤſſe ohne Farbe geſehen, doch
waren ſie allezeit eine deutliche Fortſezzung von den rothen
Staͤmmen (t). Jch habe auch bisweilen an der Siebplatte
Luftblaͤschens haͤngen geſehen, welche man fuͤr dergleichen
Gefaͤſſe halten koͤnnte.
Man muß aus der Naturlehre ſo viel entlehnen als
zur Erklaͤrung des Geſichts nothwendig ſein wird,
die ohnedem langwierige Arbeit, und daß ich in
dieſem Felde keine eigene Entdekkung verſprechen kann, ge-
bieten mir die Kuͤrze, und ich will davor ſorgen, daß ich
gute Schriftſteller hieruͤber zu Rathe ziehe.
Dieſer ſchoͤnſte Theil unter allen Koͤrpern gehoͤret in
ſo fern zu den uͤbrigen Koͤrpern (u), daß er einigermaſſen
der Natur der inmateriellen Dingen naͤher koͤmmt. Es
iſt das Licht nemlich ſo zart, daß man durch ein Nadel-
M m m 2oͤhr
[916]Das Licht. XVI. Buch.
oͤhr den unermeßlichen Tempel des unerkannten Got-
tes halb uͤberſehen kann, und daß die Strahlen von ſo
viel Sonnen (x), die ſo weit von uns entfernet ſind, daß
wir dieſes mit keinen Zahlen ausdruͤkken koͤnnen, und die
ſo unendlich groß ſind, wenn ſie auf unſere Erdkugel fal-
len, ohne alle Unbequemlichkeit, und ohne ſich unterein-
ander zu verwirren, durch ein ſo kleines Loch durchgehen
koͤnnen, welches nicht groͤſſer, als der zehnte Theil einer
Linie iſt.
Wenn ich dieſes oftermals betrachtete, was im Se-
hen vorgeht, ſo blieb ich zwar furchtſam, konnte mich
aber kaum halten zu behaupten, daß nicht das Licht
vom Lichte durchdrungen werde. Man ſezze denn, die
Sache iſt an ſich ſelbſt ſo einfach, daß man dieſelbe ohne
Erweiß annehmen kann, man ſezze ſage ich, in ein Ge-
mach tauſend Spiegel, ſo werden ſich alle gegen uͤberlie-
gende Objecten auf der Oberflaͤche dieſer Spiegel bald
ſo, bald anders abmahlen, nachdem das Auge deſſen, wel-
cher in den Spiegeln ſieht, eine andere Stellung hat.
Dieſe Objecten gelangen in Geſtalt der Pyramiden ins
Auge, deren Spizze die Hornhaut des Zuſchauers, und
die ganze Oberflaͤche des Spiegels, die Baſis iſt. Man
nehme nun, wo man will, und in allen Punkten des
Gemachs, ſehende Augen an, ſo werden alle dieſe ein
Bild ſehen, und ein jedes wird ſeine Pyramide empfan-
gen, welche alſo nothwendigerweiſe ihren Weg durch
die Luft bis zum Auge hin genommen haben muß. Nun
muͤſſen ſich dieſe Pyramiden auf tauſend und tauſenderlei
Art einander durchkreuzzen, ſo daß ſich in dem Zimmer
kein Punkt gedenken laͤſt, durch welchen ſich nicht hun-
dert und wieder hundert, mehr oder weniger breite Py-
ramiden bewegen ſolten. Und dennoch koͤmmt eine jede
ohne Verwirrung, ohne Abweichungen gleich vollſtaͤndig,
gleich
[917]III. Abſchnitt. Die Farben.
gleich lebhaft und gleich getreu in ihr Auge. Und den-
noch mahlen ſich auf eben derſelben Oberflaͤche des Spie-
gels nicht einerlei Object, ſondern bald dieſe, bald jene
Objecten ab, nachdem das Auge grade oder ſchief, das
rechte oder das linke dahin ſieht.
Jndeſſen beweiſen doch einige Eigenſchaften des Lichts,
daß daſſelbe etwas koͤrperliches ſein muͤſſe (y): es zeiget
dieſes den es erſt in einem gewiſſen Zeitraume zuruͤkklegt
(z): Die beſtaͤndige Veraͤnderung, welche es von einem
Mittelweſen leidet, durch welches das Licht gehet: Die
Anziehungskraft an verſchiedenen Koͤrpern (a): Die durch
andere Koͤrper verhinderte Bewegung des Lichts (b): Der
Einfalswinkel, der dem Ruͤkkprallwinkel gleich iſt: Die
groſſe koͤrperliche Kraft, welche das Licht in ſeinem Brenn-
punkte ausuͤbt (c), und wodurch es leichte Koͤrperchen zer-
trennt (d), und elaſtiſche ſchwingend macht: Die ver-
ſchiedene Wirkſamkeiten der holen und der feſten Spiegel,
wodurch ſie das Licht von ſeinem Wege ableiten, in einem
Punkt zuſammendruͤkken, oder im Gegentheil zerſtreuen (e).
Obgleich das Vermehren der Gewichter an Koͤrpern, welche
von dem, in einem Brennpunkt concentrirten Lichte kalciniret
worden (f), den Schein hat, eine Erfahrung zu ſein, ſo
kann ich dergleichen doch bei der ſo groſſen Subtilitaͤt der
Strahlen (g), und bei der augenſcheinlichen Leichtigkeit des
Brennpunktes an dieſen Glaſern (h), da der Brennpunkt
auf die Kohle mit keinem Gewichte ſtoͤſt, zur Zeit noch
nicht gelten laſſen.
Man hat laͤngſt an dieſer Frage gezweifelt, daß hin-
gegen andere behaupteten, daß beides einerlei Element ſei
(i), andere aber einen Unterſchied darunter machten (k).
Es iſt gewiß, daß das Licht in grader Linie nach un-
ſerer Empfindung, das Feuer aber nach allen Richtungen
fortgehe und ſich ſolchergeſtalt verſtaͤrke (l).
Ferner, daß das allerlebhafteſte Licht (m), ohne alle
Waͤrme, ſonderlich in dem Brennpunkt eines Holſpiegels
angetroffen werde, wodurch man die Strahlen des Mon-
des ſammle (n), und daß man hingegen eine brennende
Hizze ohne alles Licht an Metallen antreffe, die dem Gluͤ-
hen nahe ſind (o).
Daß das Licht ſo abpralle, wie der Winkel des Ein-
falls iſt, das Feuer aber nicht reflectirt wird (p).
Daß ſich das Feuer durch das Reiben, das Licht von
der Sonne erwekken laſſe (q).
Daß das Licht nicht eben ſo wie das Feuer alle Koͤr-
per durchdringe (r).
Daß ſich die Theilchen des Feuers einander zuruͤkk-
ſtoſſen (s), nicht aber die Theilchen des Lichts.
Und dennoch giebt es andere deutliche Zeugniſſe,
welche zu beweiſen ſcheinen, daß Feuer und Licht einerlei
Element ſeien, ob das Licht gleich einige beſondere Eigen-
ſchaften hat.
Blos das allerreinſte Sonnenlicht verurſacht in der
Luft, und in allen uns bekannten Koͤrpern Hizze: Und
es waͤchſt die Wuͤrkſamkeit dieſer Hizze (s*), je grader,
reiner, leuchtender und dichter das Licht iſt, bis es endlich in
einer ſolchen Dichtigkeit dergleichen die Holſpiegel machen,
heftiger denn alles Feuer brennt.
Es ſchmelzen nicht nur in einem ſolchen Brennpunkte
alle Metalle (t), und die meiſten Edelſteine (u), ſondern
es verfliegt auch der Demant ſelber (x), den doch
keine Gewalt des Feuers fluͤßig machen kann, dennoch
derſelbe, nachdem er in unvielbare Staubpunkte verrie-
ben worden.
Das Licht leuchtet, und es machet alle Koͤrper, wel-
che von dieſem Elemente gnug in ſich geſogen haben, leuch-
tend: wofern ſie bis auf einen beſtimmten Grad erwaͤr-
met worden (y).
Wenn eine groſſe Menge Seethiere ſowol von den
groſſen als von den meiſten Fiſchen (z), und andere klei-
ne (a) von dem Geſchlechte der Jnſekten (b) leuchten:
Wenn die Pyralides (c), die Johanneskaͤferchen (d), die
Johanneswuͤrmer (e), wenn verſchiedenes Fleiſch (f),
faules Holz, und die Augen der Jnſekten (g), ohne eini-
ge vernehmliche Waͤrme leuchten, ſo ſcheinet dieſes die
Urſache zu ſein, daß eine gewiſſe Dichtigkeit des Lichts er-
fordert wird, wovon es Waͤrme von ſich geben ſoll, und
daß die leuchtende Ausfluͤſſe des Fleiſches gar zu duͤnne
und zart ſind (h).
Jndeſſen ſtimmen beide Elementen doch in ſo ferne
mit einander uͤberein, daß ſich das Licht, eben ſo wie das
Feuer an Koͤrpern anhaͤngt (i), ſich vom Waſſer oder
Schleim
[921]III. Abſchnitt. Die Farben.
Schleim einwikkeln laͤſt (k), worinnen ſich das Licht auf-
haͤlt, und daß es ſich durch einige Kraͤfte des Lebens er-
wekken (l), oder unterdruͤkken laͤſt (m), ſo wie das Leben
eines Thieres zu Ende geht (n). Das Licht gehet ins
Waſſer uͤber (o), und hoͤret ebenfals wie das Feuer in ei-
nen luftleeren Raum auf (p).
Jn der That hat das Element dieſes eigen an ſich,
daß es gar nicht leuchtet, wofern es nicht nach graden Li-
nien (q) von der Kraft der Sonnen, oder der Kraft ei-
nes leuchtenden Koͤrpers in Bewegung geſezzt wird: Und
dennoch eine Waͤrme hervorbringt, ob es gleich in der-
gleichen Linie keine Richtung bekommt. Es iſt auch hier-
bei nicht ungeraͤumt, daß einerlei Element, welches bald
ſo und ſo beſchaffen iſt, verſchiedene Wuͤrkungen von ſich
gaͤbe. Waſſer hat von einem Dampfe ganz verſchiedene
Eigenſchaften, da doch dieſes Waſſer war, und wieder
zu Waſſer wird. Es wird ferner gezeigt werden, wie
viel das Licht an ſich ſelbſt unterſchieden ſei, nachdem es
durch andere Mittelkoͤrper durchgeht.
Endlich ſcheint das Licht um zu leuchten fuͤr ſich ſelbſt
hinlaͤnglich zu ſein, dahingegen ſcheinet eine Hizze nur
alsdenn zu entſtehen, wenn dieſes Licht in feſte Koͤrper
wuͤrkt, und deren Theilchen in eine heftige und ſchwingen-
de Bewegung ſezzt. Ferner, daß ſich im Lichte blos ein
Element von der Sonne befinde, dahingegen dieſes Ele-
ment im Feuer mit einem andern und dunklen Koͤrper ver-
bunden iſt. Es verbindet ſich auch das Licht mit dem
Feuer, wenn in dieſem Koͤrper, ſowol eine Bewegung der
M m m 5aller-
[922]Das Licht. XVI. Buch.
allerkleinſten Theilchen als auch eine lebhafte Reflexion
des Lichts von der Oberflaͤche ſtatt findet.
Es durchwandert auch das Licht die kleinſten Theile
aller Koͤrper (r), nicht blos die Glaͤſer allein, ſondern
uͤberhaupt alle und jede Metalle (s), und in bekannten
Verſuchen, auch die Finger der Menſchen (t), das Sie-
gelwachs, die duͤnnen Platten der dunklen Koͤrper, und
es werden dieſe opakke Koͤrper durchſichtig (u), wenn man
ſie duͤnne ausſtrekkt, es verſchwinden unter dem Vergroͤſ-
ſerungsglaſe die Farben, und es werden ſo gar die duͤn-
nen Schuppen des Goldes durchſichtig (x). Nun werde
ich zwar an einem andern Orte zeigen, warum ein aus
durchſichtigen Platten gemachter Koͤrper opakk wird: in-
deſſen will ich doch das Waſſer und Glaß dieſe durchſich-
tige Koͤrper z. E. nehmen, denn die gar zu dichte Schich-
ten derſelben erſtikken das Licht, und ſie werden dadurch
opakk gemacht.
Es hat das Licht die Art an ſich, daß aus der Sonne
und nach dem Exempel der Sonnen, aus allen leuchtenden
Koͤrpern, grade Linien, nach einem jedem Umkreiſe aus-
laufen, wie aus einem Mittelpunkte (y), und daß dieſe
einander gleich und aͤhnlich mit einerlei Eigenſchaften fort-
laufen, daß in einem und eben demſelben Koͤrper unend-
liche ſtrahlende Punkte vorhanden ſind (z), und daß ſich
die gefaͤrbten Koͤrper ebenfalls in ſtrahlende Punkte ver-
wandeln (a). Doch wir unterſuchen hier noch nicht, ob
aus
[923]III. Abſchnitt. Die Farben.
aus Koͤrpern wirklich Strahlen herausflieſſen, indem ſie
einzig und allein von dem ſtrahlenden Punkte oder von
irgend einer Schwingung befluͤgelt, oder auf eine andere
Weiſe zu einer graden Linie gebogen werden.
Da dieſe Strahlen gerade Linien ſind, und aus ei-
nem Mittelpunkte herkommen, ſo ſiehet man, daß in die-
ſem Mittelpunkte der Lichtſtrom am aller dichteſten ſein
muͤſſe, und daß daher die Dichtigkeit des Lichtes immer
mehr und mehr abnehme, wie die quadrirten Durchmeſ-
ſer der Kugeln groͤſſer werden, welche die Strahlen anfuͤl-
len (b): und daß ſich alſo die Kraft des Lichts im Fortgehen
ſchwaͤche, obgleich das Licht ſelbſt uͤberhaupt nicht ſchwaͤcher
wird (c). Man ſiehet nemlich leicht ein, weil die Strah-
len einander gleich ſind, und alle auf einerlei Art leuchten
(d), daß ſich die Kraft des Lichts wie die Anzahl der
Strahlen verhalten werde. Dieſes iſt folglich die Urſa-
che, warum auch leuchtende Objecte, welche von uns zu
weit entfernet ſind, uns entweder nicht mehr leuchtend ſchei-
nen, wie die Milchſtraſſe und verſchiedene Haufen von Ne-
belſternen, oder daß ſie endlich unſerm Geſichte gar ent-
gehen. Es laͤſt ſich nemlich unſer Auge, welches an
eine gewiſſe Staͤrke des Lichts gewoͤhnet iſt, von einer ge-
ringern Menge Lichtſtrahlen nicht in Bewegung ſezzen.
Dieſe Schwaͤchung des Lichts, wird durch die Undurch-
ſichtigkeit zwiſchenliegender Koͤrper, und dieſe Undurchſich-
tigkeit iſt ſo gar in der Luft nicht geringe, ſehr befoͤrdert.
Es nimmt aber das Licht ab, wenn es durch dunkle Plat-
ten durchgehet, nicht wie die Dichtigkeiten dieſer Plat-
ten, ſondern wie die Logarithmen der Dichtigkeiten (f).
Dieſe Strahlen haben auch, durch Nachſicht der
Mathematikker dieſe Eigenſchaft, daß man ſie fuͤr paralel
haͤlt, wenn ſie von weiten herkommen (g). Man weiß
nehmlich, daß man etwas vor paralel Linien ohne merk-
lichen Jrrthum halten koͤnne, was von einer unendlichen
Diſtanze herkommt. Und man haͤlt noch wiederholter
Vergleichung eine Diſtanze, von den Strahlen herkom-
mend, fuͤr unendlich. Da auſſerdem unſere Augen ſehr
klein ſind, und dennoch die Baſis zu Licht oder Farbe-
ſtrahlen ausmachen, ſo geſchiehet es, daß man Strahlen
die von einer maͤßigen Diſtanze herkommen, dennoch
ohne groſſen Jrrthum fuͤr paralel haͤlt, wenn ſie von 200
(h) oder von 104 (i) oder auch nur 6 Fuß weit herkom-
men (k).
Endlich geſtatten es auch die Matthematikker, daß
Strahlen, welche in der That, durch verſchiedene ſphaͤ-
riſche Flaͤchen, der bald ſo bald anders dichten Athmo-
ſpheraͤ gebogen durchlaufen, und ſich in eine eigene hole Li-
nie buͤgen, dennoch fuͤr grade Strahlen angeſehen werden.
Man hat uͤber dieſe Bewegung viel geſtritten, indem
einige beruͤhmte Maͤnner vom erſten Range, das Licht fuͤr
einen Strohm hielten, welcher aus der Sonne und den
Fixſternen beſtaͤndig ausflieſſen ſoll (l). Sie maſſen auch an
dieſem Strohm die Geſchwindigkeit nach einem Maßſtabe,
wie ihn die Majeſtaͤt der Sache erforderte (m). Man beobach-
tet
[925]III. Abſchnitt. Die Farben.
tet nehmlich daß die Trabanten des Jupiters (n) ihre Um-
laͤufe langſamer verrichten, und ſpaͤter wieder herkommen,
wenn ſie von der Erde weit entfernet ſind, und geſchwin-
der, wenn ſie derſelben naͤher ſind. Von dieſem Ver-
ſuche ruͤhrt es her, daß man, weil einige die Urſache des
Unterſchiedes (o) auf die unregelmaͤßige Obſervation die-
ſer Trabanten warfen, daß man nach der gemeinen Mei-
nung den Schluß gemacht, das Licht komme von der Son-
ne mit einer ſolchen Geſchwindigkeit, daß es von der
Sonne bis zur Erde in acht Minuten und dreizehn Se-
cunden gelange.
Man hat auch gezeiget, daß ſich bei den Fixſternen
einige Unrichtigkeiten befinden (p), welche man auf keine
andere Weiſe deutlicher erklaͤren kann, als von dem We-
ge, den das Licht auf die Erde nicht ploͤzzlich, ſondern in
einem gewiſſen kleinem Zeitraume macht.
Die Geſchwindigkeit des Lichts, welche aus dieſen
Rechnungen folget, iſt unglaublich groß, und es muß
das Licht in einer Secunde 873497531 (q), und nach einer
andern Rechnung 1000, 000 (r) Fuß durchlaufen, und
einer Stuͤkkugel (s) in einem Verhaͤltniße zuvorkommen,
welches 642500 fach (t), dem Schall aber um 500, 000
fach (u) oder 731, 907 fach groͤſſer ſeie (x). Und den-
noch ermuͤden nicht die Fluͤgel des Lichts in einem ſolchen
ſchnel
[926]Das Licht. XVI. Buch.
ſchnellen Fortlaufe, und es geſchieht der Weg des ruͤk-
kehrenden und abprallenden Lichtes gleich geſchwinde, ſo
daß das Licht, welches grades Weges von der Sonne
koͤmmt nicht geſchwinder fortgeht, als das Licht, welches
von den Trabanten des Jupiters zuruͤkkpralt (y)
Jndeſſen giebt es noch andere beruͤhmte Maͤnner,
welche lieber mit dem Carteſius behaupten (z), daß aus
den Fixſternen kein Licht kaͤme, welches nur gar zu ſchnell
auch die aller groͤſten Kugeln verzehren wuͤrde (a), ſon-
dern daß es nur einen Drukk (b) oder Stoß (c) von den
Koͤrpern leide, wodurch das Licht, vermittelſt des Aethers
in Bewegung geſezzt wuͤrde, faſt auf eben die Art, wie
in der Luft die klingenden Schlaͤge von denen ſich wech-
ſelweiſe zuſammengedruͤkkten, und ſich wieder herſtellenden
Koͤrperchen dieſes Mittels erregt werden (d). Daher
wuͤrde wegen der zaͤrtern Beſchaffenheit des elaſtiſchen
Mittelweſens, eine gleich groſſe Geſchwindigkeit des Ae-
thers, ohne Zulaſſung eines Strohms behauptet werden (e).
Es ſcheinet aber dieſer Schlag (f), oder was ſonſt ein
ſtrahlender Koͤrper fuͤr eine Gewalt auf das Licht aus-
uͤben mag, zu verurſachen, daß ſich ein vorher zerſtreu-
tes Licht nunmehr zu paralelen Strahlen verdichtet, und
unſere Augen ruͤhret, es ſei nun das es einzig und allein
die naͤchſten Theilchen des Aethers, an die benachtbarten
Theilchen durch einen Drukk treibt, und dieſe alſo auf
andere weiter fortſtoͤſt, wie bei der Erzeigung des Schalls
geſchicht, oder es mag die Natur auf irgend eine andere Art,
zu ihrem Endzwekk gelangen, indem es unſere Sache nicht
iſt, zwiſchen Newton und Euler einen Ausſpruch zu thun.
So viel zeigt die Erfahrung, daß wenn ſich die Son-
ne entweder von einer vollkommenen Finſterniß, oder von
andern ploͤzzlich entſtandenen Hinderniſſen (g) verbirgt,
das Licht auch ploͤzzlich aufhoͤre, und eben ſo ploͤzzlich wie-
der hergeſtellet wird, nachdem das Hinderniß wieder ge-
hoben worden. Jn der That ſcheinet dieſes anzudeuten,
daß es kein Lichtſtrohm geweſen, was uns die Sonne zu-
geſandt, indem dieſer ſo geſchwinde vom Monde zur Er-
de, zu unſeren Augen nicht haͤtte kommen koͤnnen.
Daß aber uͤberhaupt das Element des Lichts, welches
vorlaͤngſt gegenwaͤrtig geweſen, nun aber erſt vermoͤgend
geworden, das Auge mit einer nothwendigen Empfin-
dung zu ruͤhren. Daß aber die Sonne auf das Licht
einen Stoß oder einen Drukk mache, ſcheinet auch aus
einem einfaͤltigen Verſuche zu erhellen, da einige Thiere
in Finſterniſſen, welche uns vollkommen zu ſein vorkom-
men, dennoch ſehen, und es ſcheinet ihnen nur eine Be-
wegung des Lichts zum Sehen ſchon hinlaͤnglich zu ſein.
Jch werde das Gegentheil davon am Menſchen bei einer
andern Gelegenheit beruͤhren, die nicht anders als in vol-
len Sonnenſchein ſehen koͤnnen.
Die Lichtſtrahlen kommen faſt aus einem unendlichen
Raume zu uns her, ſie haben den allerkleinſten Grad vom
Waͤrme bei ſich (h), und dennoch koͤnnen ſie, wenn man
ſie beilaͤufig in einen engern Raum bringt (i), faſt alle
uns bekannte Koͤrper zerſtoͤhren, wenn man die Kohle
davon ausnimmt (k), die von der ſchwarzen Kohle ihres
ver-
[928]Das Licht. XVI. Buch.
verbrannten Oels beſchuͤzzet wird. Die unvollkommenen
Metalle darf man nur auf einigen unverbrennlichen Er-
den in den Brennpunkt ſtellen (l).
Wenn eben dieſe Lichtſtrahlen zuruͤkprallen, ſo wir-
ken ſie mit gleicher Staͤrke, und man hat nach der Art
des Archimedes (m), und nach einigen Verſuchen der
neuern (n), als des Manfredi, Seitala(o), Gaͤrt-
ners(p), Regnault(p*) und anderer (q), und vor
kurzen durch die Erfahrungen des D. v. Buffon mit
lauter flachen Spiegeln, die man einigermaſſen, zu einer
holen Maſchiene zuſammenſezzte (r), die alten Wunder-
werke der Syracuſaner, nachgemacht.
Auch die vollkommene Gleichheit (s) des Ruͤkpral-
winkels mit dem Einfallswinkel, und ihre unveraͤnder-
liche Natur in allerlei Abprallungen (t) und Brechungen
(u), welche an den zweien Seiten eines einzigen Strahls
verſchieden iſt (x), beweiſen eben dieſe Feſtigkeit in der
Materie des Lichts.
Es hat der ſcharfſinnige Newton die Saͤzze der Al-
ten in dieſem Stuͤkke mit verſchiedenen Erfindungen be-
reichert. Es fand dieſer Gelehrte, daß ſich die Strah-
len vor der Beruͤhrung von den Oberflaͤchen feſter Koͤr-
per anziehen laſſen (y), und daß ſich dieſelben ehe kruͤm-
men, als ſie dergleichen Koͤrper beruͤhren, und daß ſie
ſich an das Glaß anhaͤngen, wenn ſie in den luftleeren
Raum eindringen (z). Daß dieſe Anziehungskraft ſehr
groß, und faſt unendlich groͤſſer ſei, als die Kraft ihres
Gewichts iſt (z*).
Zeiget ferner, daß ſie dieſe feſte Koͤrper nicht beruͤh-
ren, ſondern von der Oberflaͤche der Koͤrper, in einiger
Weite (a), welche mit einem Vermoͤgen zuruͤkk zuſtoſſen,
begabt ſei, unter Abpralswinkeln zuruͤkkgeſtoſſen werde,
die den Winkeln des Einfals gleich ſind.
Er lehret, daß dieſe Kraft, von der ſie zuruͤkkgeworfen
werden, ſich wie diejenige Kraft verhalte, von der ſie ge-
brochen werden (b), ſo daß Strahlen, welche ſich mehr
brechen laſſen, auch mehr angezogen werden, und ſich
naͤher an der Oberflaͤche der Koͤrper umbeugen, derglei-
chen die Violetfarbe thut: Und daß ſie ſich ſchon ſteifer
verhalten, wie die rothen, welche ſich ſchon in einer groͤſ-
ſern Entfernung von dem beugenden Koͤrper kruͤmmen (c).
Es ſcheinet daher, daß die Regel der Reflexion, wel-
che wir hiemit fahren laſſen, mit der Regel der Anzie-
hungskraft einerlei iſt, zu welcher wir uns jezzo wenden
wollen (d).
Es gehoͤrt die Strahlenbrechung zu der Anziehungs-
kraft, welche ein jeder Koͤrper an dem Lichte ausuͤbt: Und
es verhalten ſich die durchſichtigen Koͤrper, beinahe wie
ihre Dichtheiten (e), z. E. der Demant der unter allen
durchſichtigen Koͤrpern, der ſchwerſte iſt, und ebenfals
die groͤſte Kraft, Strahlen zu brechen beſizzet (f): Nur
daß dieſe Koͤrper, welche geſchikkter ſind eine Flamme
zu fangen (g), auch das Licht mit groͤſſerer Staͤrke an
ſich ziehn. Es verhaͤlt ſich die Schwere des Waſſers zum
Weingeiſte wie 1000 zu 927 (h), und dennoch bricht ſich
der Einfalswinkel von 41 Grad, 35 Minuten im Wein-
geiſte von 42 Grad 45 Minuten, unter dem Grade 30
(i). Die Dichtheit des Waſſers zum Terpentingeiſte, iſt
wie 8 zu 7, doch aber die brechende Kraft des Terpentin-
geiſtes, gegen das Waſſer wie 11 zu 10 (k), und die Kraft
der Theilchen des Terpentins, zu der Kraft der Theilchen
des Waſſers wie 5 zu 3. Die groͤſte Kraft zu brechen
beſizzt das Leinoͤhl. Denn ob ſich gleich die Dichtheit des
Waſſers zu der Dichtheit des Oels verhaͤlt, wie 1000 zu
939, ſo verhalten ſich doch die Brechungen, wie 3, 442,
060. und 3, 889, 277 (l). Jm Terpentinoͤl iſt die Bre-
chung groͤſſer als im Weingeiſte (m). Das hier einige
Ausnahmen ſtatt finden, beweiſet der beruͤhmte S’ Gra-
vezande, wie an dem Danziger Alaun und Vitriol, wel-
che beide einerlei Dichtheit haben, und dennoch iſt die
Strah-
[931]III. Abſchnitt. Die Farben.
Strahlenbrechung in dem Vitriol groͤſſer (n). Baumoͤl
wiegt, gegen das Leinoͤl, wie 6 zu 11, und dennoch ſind
die Strahlenbrechungen gleich groß (o). Unter den ver-
brennlichen Koͤrpern refringiren doch diejenigen ſtaͤrker,
welche dichter ſind (p). Von dieſem Geſezze laſſen ſich
uͤberhaupt alle Dinge folgern, welche wir zur Erklaͤrung
der Strahlenbrechungen wiſſen muͤſſen.
Wenn alſo ein Lichtſtrahl aus einem duͤnnern Mittel-
weſen, ſo weniger anziehende Materien beſizzt, ſich der
Oberflaͤche eines dichten Mittelweſens naͤhert, ſo folgt dar-
aus, daß er davon um deſto ſtaͤrker angezogen werden
muß, je mehr das dichtere Mittelweſen die Dichtheit des
duͤnnern Mittelweſens uͤbertrift. Folglich wird ſein Lauf
von dieſer Anziehungskraft beſchleunigt, und der Strahl
ſelbſt gebogen werden: Das erſte darum, weil noch zu
der, dem Strahl eigenen, Geſchwindigkeit, die beſtaͤndig
wachſende Kraft der Anziehung hinzukoͤmmt (q): Das
zweite darum, weil nunmehro die Richtung des Strahls,
aus der vorigen Richtung des Strahls und der Anzie-
hungskraft des Mittelweſens zuſammengeſezzet iſt: Wohl
zu verſtehen, wenn er ſchief ankoͤmmt: Jndem ein Strahl
an der Oberflaͤche eines perpendikulairen Mittelweſens
nicht gebrochen wird.
Es wirkt dieſe Kraft bereits in den noch entfernten,
dennoch nahen Strahl, und ſie zwingt ihn von ſeinem
Wege abzuweichen, und ſich derjenigen Linie mehr zu
naͤhern, welche auf den dichtern Koͤrper ſenkrecht trift.
Selbſt in der Luft naͤhert ſich ein Strahl, der aus einem
luftleeren Raum herkommt, nunmehro der Perpendikul-
linie, und es iſt dieſes ein ſubtiler Verſuch, der nicht al-
len nach Wunſch gerathen will (r)
So wie die Kraft des dichtern Mittelweſens, ſchiefe
Strahlen gegen den Perpendikul zu gehen zwingt, welche
man in Gedanken, auf die Grenze der Oberflaͤche eines
dichtern Mittelweſens zieht, ſo wird von eben dieſer Kraft,
welche die Strahlen anhaͤngt, und die Geſchwindigkeit
(s), womit ein Strahl fortlaͤuft, ſchwaͤchet (t), zu wege
gebracht, daß ſich eben dieſer ſchiefe Strahl, wenn er aus
einem dichtern Mittelweſen in ein duͤnnes faͤhrt, von der
ſenkrechten Linie bricht. Der Gegenſeitige Erfolg hat ei-
nerlei Urſachen und Geſezze (u).
Es mag die ſchiefe Richtung eines Strahls beſchaffen
ſein, wie ſie will, und man mag einen Einfalswinkel an-
nehmen, welchen man will, ſo iſt ſeine brechende Kraft
dennoch immer einerlei, die Strahlen moͤgen ſich in dem
dichten Mittelweſen entweder anhaͤufen, oder von den
duͤnnen zerſtreuen. Es laͤſt ſich nemlich eine jede ſchiefe
Bewegung in zweien andere eintheilen, wie jedermann
weiß, indem ſie von demjenigen Vierekke Seiten ſind,
davon ſie ſelbſt die Diagonallinie iſt. Wenn dieſes nun
in einem erſt wie gebrochenen Strahl vorgeht, ſo werden
in der ſchiefen Richtung des Strahls erſt eine ſenkrechte
Richtung, auf die Oberflaͤche beider Mittelweſen, und
denn eine zweite mit dieſer Oberflaͤche paralele Richtung er-
folgen. Es aͤndert aber die Anziehungskraft des Mittel-
weſens die paralele Richtung nicht, indem auf beiden
Theilen gegenſeitige Kraͤfte des Gegengewicht einander hal-
ten. Es wird aber die ſenkrechte Diſtanz eines Strahls
von derjenigen Linie, nach welcher der Strahl an ſie ge-
zogen wird, geaͤndert, wenn das Mittelweſen dichter iſt,
oder es weicht der Strahl von ihr zuruͤkk, wenn das Mit-
telweſen duͤnne iſt, folglich wird dieſe Diſtanz die ſich in
dem dichten Mittelweſen mindert, hingegen in dem duͤn-
nen vermehret, das Refractionsmaaß ſein. Sie iſt aber
ſenk-
[933]III. Abſchnitt. Die Farben.
ſenkrecht. Folglich wird der Sinus des Refractionswin-
kels ſelbſt, der in einem convergirenden Strahle abnimmt,
in einem auseinanderfahrenden Strahle groͤſſer werden.
Es iſt aber dieſer Sinus in einerlei Mittelweſen beſtaͤn-
dig einerlei, denn er entſtehet von der Dichtheit, oder
dem brennlichen Theile des Mittelweſens, beide aber wer-
den, von der Richtung eines ankommenden Strahls in
nichts geaͤndert. Folglich iſt das Verhaͤltniß des Si-
nus eines Refractionswinkels zum Sinus des Einfalls
beſtaͤndig einerlei (x). Snellius iſt der Erfinder dieſer
Regel, und von dieſem hat es Carteſius erborgt (y).
Endlich moͤgen von den vielen Verſuchen, die in der
Newtoniſchen Tabelle vorkommen, folgende wenige
Punkte zu unſerm Behufe hinlaͤnglich ſein, weil man ſie
auf unſer Auge einigermaſſen verwenden kann.
Es verhalten ſich die Strahlen, welche aus der Luft
ins Waſſer uͤbergehen, oder vielmehr deren Einfallsſinus
zum Sinus der Refraction, wie 4934 zu 7071 (z), oder
wie 4 zu 3 (a), aus der Luft in das Leinoͤl, wie 40 zu 27
(b), aus der Luft ins Glaß, wie 114. 76. (c), wie 8097.
5240 (d), oder wie 17 und 11 (e), oder 31. 20 (f), oder
der Kuͤrze wegen, wie 3 zu 2 (g): Aus dem Waſſer ins
Glaß, wie 51 zu 44 (h), oder wie 9 zu 8 (i).
Es werden Strahlen, die von einer groͤſſern Weite
herkommen, fuͤr paralel gehalten (k). Wenn dergleichen
N n n 3Strah-
[934]Das Licht. XVI. Buch.
Strahlen auf die convexe Oberflaͤche eines dichtern Mit-
telweſens fallen, ſo biegen ſie ſich gegen den Perpendikkel,
und laufen in einen einzigen Punkt zuſammen. Da ſie
nemlich um deſto ſchiefer auffallen, und deſto groͤſſere Win-
kel machen, wenn ſie ſich nach der Perpendikkularlinie
verlaͤngern, je mehr ſie nach auſſen zu ſtreichen, und da
das Verhaͤltniß des Sinus des Refractionswinkels, zum
Winkel des Einfalls beſtaͤndig einerlei iſt, ſo wird daſſelbe
um deſto groͤſſer ſein, je ſchiefer ein Strahl auf eine krum-
me refringirende Linie faͤlt: Es wird nemlich dieſe Kraft,
durch welche ſie nachdem Perpendikkul gebrochen wird,
mit der Diſtanz eines jeden Strahls vom Perpendikkul
wachſen, und endlich wird der Punkt des Zuſammen-
fluſſes der Mittelpunkt der Kugel ſein, in welcher alle
unendliche Strahlen, welche auf die Oberflaͤche auffallen,
zuſammenkommen. Es wird dieſer Punkt der Zuſammen-
kunft, Brennpunkt genannt, welches aber kein matthe-
matiſcher Punkt eben iſt. Es biegen ſich nemlich allein die
naͤchſten Strahlen an der Achſe in den Brennpunkt hin-
ein, indeſſen daß die gar zu entfernten die Achſe jederzeit
in andern Punkten durchſchneiden (l), davon ruͤhrt die
erſte Art der Abweichung her (m). Sie iſt aber dem
Mittelpunkte um ſo viel naͤher, je groͤſſer die brechende
Kraft iſt. An einer glaͤſernen Kugel (n), laufen die durch
die Luft herkommende Strahlen, in der Weite des halben
Halbmeſſers der Kugel zuſammen (o). Jn einer Waſ-
ſerkugel laufen ſie in der Diſtanz des Halbmeſſers ſelbſt
zuſammen.
Wenn es Linſen ſind, welche aus zwei Segmenten,
einer und eben derſelben Kugel, die aneinander appliciret
ſind, entſtehen, oder aus Segmenten zweier ungleichen Ku-
geln, ſo wird die Brechung zwar auch einen Brennpunkt
haben, allein dieſer wird weiter entfernet ſein, weil die
brechende
[935]III. Abſchnitt. Die Farben.
brechende Kraft kleiner, und die Schiefheit der einfallen-
den Strahlen geringer iſt.
Wofern es Segmenten von einerlei Kugeln ſind (q),
ſo nimmt man alsdenn die Diſtanz des Brennpunkts ſo
groß als den Halbdurchmeſſer an, und zwar an der Hin-
terflaͤche, und ſo groß als anderthalb Durchmeſſer an der
vordern Seite der Linſe an. Wenn die Kugeln ungleich
ſind (r), ſo ſtellt man eine Vergleichung an, und man
haͤlt die Diſtanz des Brennpunkts von der Linſe, wenn
derſelbe doppelt ſo groß als der andere Halbdurchmeſſer
iſt, ſo verhalte ſich der andere Halbdurchmeſſer, zu der
Summa der Halbmeſſer. Wofern alle beide voͤllig convex
ſind (s), ſo iſt der Brennpunkt in der Diſtanz der zweien
Radien.
Dieſes iſt nun derjenige Brennpunkt, in welchem ſich,
wenn die Radii darinnen geſammlet werden, auch das
Licht ſo verdichtet, daß es zuͤndet, ſobald die Linſe ein we-
nig groß iſt. Es iſt dieſes eine von alten Zeiten her ſchon
bekannte Sache, denn Theophraſtus berichtet ſchon (t),
daß ſich Feuer durch ein Glaß anzuͤnden laſſe, und es
fuͤhrt bereits vor ihm Ariſtophanes bei Gelegenheit ei-
ner luſtigen Sache (u), die brennende Kraft eines run-
den mit Waſſer erfuͤllten Glaſes an, ſo wie die Alten eine
Cryſtallene Kugel zu einem Brennmittel gebrauchten. Cle-
mens von Alexandrien ſchrieb, daß das Licht, welches
aus der Sonne kaͤme, durch ein mit Waſſer angefuͤltes
glaͤſernes Gefaͤß brenne (x).
Jch muß nur noch dieſes einzige anfuͤhren, daß ſich
die Strahlen aus dem Brennpunkte, gleichſam, als aus
einem Strahlpunkte (y), ſogleich wiederum aus einander-
breiten.
Hierbei kommt juſt das Gegentheil von allen vor (z).
Diejenigen Strahlen, welche paralel mit der ſenkrechten
Linie auf ein hohles Glaß fallen, dieſe weichen von der
ſenkrechten Linie zuruͤkk, fahren auseinander, und be-
ſtimmen ihren Brennpunkt, in der Achſe, oder in dem
Perpendikul, welcher auf die refringirende Linie gezogen
wird, ehe die Strahlen dahin kommen, und ſie laufen
aus dem Hohlglaſe als Radii fort, die aus eben dem
Punkt entſtanden waͤren, aus dem ſie von dem Centro
der Diſtanz herruͤhren, nur daß alles diſſeits der refrin-
girenden Oberflaͤche geſchicht, ſo wie ſie im vorigem Falle
jenſeit deſſelben befindlich waren.
Der Brennpunkt eines flachhohlen Glaſes iſt der
Durchmeſſer derjenigen Kugel, davon eine hohle Flaͤche
ein Stuͤkk iſt, und wofern das Glaß auf beiden Seiten
hohl iſt, ſo iſt der Brennpunkt im Halbdurchmeſſer, der
Oberflaͤche gleich, wofern beide Oberflaͤchen einander gleich
ſind, ſind ſie ſich aber einander ungleich, ſo hat es uͤberhaupt
bei der vorgenannten Formel ſein Bewenden, und daß
der Brennpunkt, diſſeits der Oberflaͤche ſeine Laage be-
koͤmmt (a).
Kein durchſichtiges Mittelweſen nimmt Strahlen an
(b), welche unter einen groͤſſern Winkel auffallen. Jſt
die brechende Kraft groͤſſer, ſo prallen auch die Strahlen
zuruͤkke, welche unter einem kleinern Winkel ankommen,
je groͤſſer die Verſchiedenheit der brechenden Kraͤfte iſt,
daher
[937]III. Abſchnitt. Die Farben.
daher prallen Strahlen, welche aus der Luft in ein Glaß,
oder aus dem Glaſe in die Luft einfallen (c), mehr ab (d),
als diejenigen, welche aus der Luft ins Waſſer fallen (e).
Die Alten hielten das Licht fuͤr ein gleichartiges Ele-
ment, in welchem ein jedes nur erſinnliches Theilchen,
denen uͤbrigen allen gleich ſei, Charteſius(f) und Gri-
malgus nach ihm (g), trugen einige Vermuthungen von
dem Sehen der Lichtſtrahlen vor: Doch blieb es dem
Jſaac Newton(h) zu zeigen vorbehalten, daß ein jeder,
auch der allereinfachſte Lichtſtrahl aus ſieben andern
Strahlen von verſchiedenen Eigenſchaſten zuſammen ge-
ſezzet ſei. Er ließ daher anfaͤnglich in einer vollkomm-
nen dunklen Kammer (i), durch ein kleines Loch einen
Strahl des Lichts durchfallen (k), welchen er mit einem
Prisma auffing, deſſen Achſe mit den einfallenden Strah-
len penpendikulair war. Der Lichtſtrahl gieng durch dieſes
Prisma hindurch, und mahlte an der gegen uͤberliegenden
Wand, das Sonnenbild dergeſtalt ab, daß es laͤnglicht,
ein Paralelogram, und von unten her, mit einem Halb-
zirkel geendiget war.
Damit dieſes Bild nicht alle Farben untereinander
miſchen moͤchte (l), ſo fieng er einen Strahl durch ei-
ne ſehr enge Rizze, und durch eine vollkommne reine
Glaßlinſe, hierauf durch ein eben ſo glattes Prisma auf,
welches vollkommen gradelienig war: Und ſo mahlte ſich an
N n n 5der
[938]Das Licht. XVI. Buch.
der Wand des Zimmers ein ſchmales und langes Geſpenſte
ab, welches ſich durch ſeine Farbegezirkel diſtinguirte.
Die Farben ſind violet, indigblau, himmelblau, gruͤn,
gelb, pomeranzengelb, zinnoberroth, ohne die unendli-
chen Graden eben dieſer Farben (m) anzugeben, ſie wa-
ren aber alle glaͤnzend, und rein, wenn man dabei ſorg-
faͤltig verfuhr (n).
Dieſe Strahlen haben eine unveraͤnderte Natur an
ſich (o), und ſie laſſen ſich durch keinerlei auch nicht die
allergroͤſte wiederholte Refraction, oder Reflexion (p) in
andere Elemente (q), oder Farben verwandeln (r), und
man hat dieſes durch eine unzaͤhlige Menge Verſuche be-
ſtaͤttiget. Es ſcheinen auch alle einfache Strahlen zwo
Seiten von verſchiedener Art zu haben.
Sie ſind ferner untereinander nicht gleich, ſondern laſſen
ſich von einerlei Mitteldingen nach verſchiedenen Graden
brechen. Diejenigen welche darunter roth ſind (s), laſſen
ſich von eben dieſen Urſachen unter allen am allerwenig-
ſten von ihrem Wege verdraͤngen (t), oder brechen (u),
und ſind ſtaͤrker als alle Verſuche (x), auch nach dem Ge-
ſtaͤndniſſe der Augen, und nach dem Beiſpiel der Ochſen,
oder toller Menſchen (y), die von dieſer Farbe boͤſe wer-
den. Daher iſt dasjenige Auge beſſer, welches ein Object
roͤther ſieht (z).
Der Sinus der Brechung des rothen Strahls (a),
welcher aus der Luft in ein Glaß uͤbergeht (b), verhaͤlt ſich
zum Sinus des Einfals, wie 50 zu 77 bis 77⅛. Etwas groͤſ-
ſer iſt die Brechung der Orangenſtrahlen, und eben dieſe
Sinuſſe ſind wie 50 zu 77⅛ und bis 77⅕.
Die Sinuſſe der gruͤnen Strahlen ſind, wie 50 zu
77⅕ bis 77½.
Die Sinuſſe der himmelblauen Strahlen, wie 50 zu
77½ und bis zu 77⅔.
Die Sinuſſe der indigblauen Strahlen, wie 50 zu
77⅔ (b) zu 77\frac{7}{9}.
Die Sinuſſe der violetnen Strahlen, wie 50 zu 77\frac{7}{9}
bis zu 78: Dieſe Strahlen ſind die allerſchwaͤchſten unter
allen, die biegſamſten von allen (c), und ſie werden an
meiſten gebrochen.
Von dieſen verſchiedenen Graden, wie die Strahlen
gebrochen werden, ruͤhrt es her, daß man die Brenn-
punkte ſo ſchwer hereinhalten kann (d), und es laͤſt ſich
ihre Verirrung ſo wenig vermeiden (d*).
Uebrigens ſind dieſe Proportionen der Strahlen, die
hier durch Zahlen ausgedrukkt ſind, nicht ſo einfaͤltig,
daß ſich die Seele uͤber das Vermoͤgen beluſtigen ſolte,
eine Berechnung mit den Verhaͤltnißen anſtellen zu koͤn-
nen. (e).
Alle dieſe Strahlen ſtekken in einem leuchtenden Strah-
le (f), denn ſie entſtehen aus ſeiner Zerſpaltung, und ſie
machen mit ihrer Verbindung einen leuchtenden Glanz
aus,
[940]Das Licht. XVI. Buch.
aus, man mag nun dieſen farbigen Jnhalt, vermittelſt
einer convexen Glaslinie (g), in einen Brennpunkt, oder
die meiſten dieſer Farben ſammlen (h), oder ſie blos durch
eine geſchwinde Umdrehung in eins bringen (i).
Die aus einerlei Brennpunkte zerſtreute Strahlen er-
zeugen Farben vom neuen (k).
Daher ruͤhret das Licht, welches den waſſerſcheuen
Leuten unertraͤglich faͤlt (k*). Daher iſt unter allen Far-
ben die weiſſe die lebhafteſte, dieſe kann von allen Men-
ſchen in der Finſterniß geſehen werden, und ſie wird von
denenjenigen zulezzt erkannt, welche blind werden (l).
Daher ſehen entfernte Koͤrper, welche aus ſchwarz und
weiß gemiſcht ſind, ganz weiß aus (m). Jch habe da-
her geſehen, daß von geweiſten Waͤnden die Blindheit
wenigſtens beſchleuniget worden (n), und es werden die
Augen vom Schnee ſchwach (o), doch es machen auch die
Mahlerfarben (p), welche weder die Reinigkeit des Lich-
tes noch den Glanz deſſelben haben, dennnch wenn man
ſie mit einander vermiſcht, und von ferne betrachtet, eine
weiſſe Farbe aus.
Dieſes alles iſt nach einigen aufgeworfenen Zweifeln,
welche in Frankreich (p*), von den unvollkommnen Glaͤ-
ſern ihren Urſprung hernahmen (q), nunmehr nach dem
F. Haarksbee, J. Theophilus, Deſaguniers,
G. J.
[941]III. Abſchnitt. Die Farben.
G. J. S’ Gravezande, Peter von Muſchenbroͤk,
Zanotti und Algarotti(r), nach dem einfaͤltigen Er-
folge des Verſuchs, von allen angenommen, und in
Frankreich (s) vom gelehrten Kardinal von Poligeac,
und vom P. D. Buffon beſtaͤttiget worden.
Wiewohl endlich vor kurzem der vortrefliche Leon-
hard Euler lehrete, daß die Farben nach der Geſchwin-
digkeit der Schlaͤge unterſchieden waͤren (t), und dieſen
Gedanken hatte bereits Grew(u) und Mariotte(x),
und daß die rothen Strahlen in einer gegebenen Zeit
geſchwindere Schwingungen machen (y), und alſo da-
rinnen mit einem feinen Ton uͤberein kommen (z), daß
die Violetſtrahlen nicht ſo haͤufige Schlaͤge machen
(a): und daß dasjenige einfache Strahlen ſind, deren
Schlaͤge in gleich groſſen Raume untereinander verſchie-
den werden (b), ſo wie das Gegentheil bei den zuſammen-
geſezzten ſtatt faͤnde: ſo gehoͤren dieſe Dinge dennoch viel-
mehr zu der inneren Urſache des Farbenunterſchiedes, und
kehren in den Verſuchen nichts um.
Vorlaͤngſt wie auch vor kurzer Zeit, hat man von
einem geriebenen Auge, den Beweiß fuͤr eine Meinung
hergenommen, welche die Verſchiedenheit der Farben,
von der Schwingung herleiten, wenn man nemlich das
Auge reibet, und Schwingungen hervorbringt, ſo folget
aufeinander, Lichtrothefarbe, gelbe, gruͤne und blaue (d).
So wird auch von einem ſtarken Sonnenglanze das erſte
Bild
[942]Das Licht. XVI. Buch.
Bild leuchtend, und dieſes artet hierauf, in ein rothes,
gelbes, blaues und ſchwarzes Weſen aus (e).
Newton zeigte durch Verſuche, welche er an zarten
Plaͤttchen des Kupfers (f), und an den Seifenblaſen ge-
macht, eine Sache, welche ohnehin aus der Natur der
Dinge ſelbſt folgte, daß dieſe Plaͤttchen vornehmlich ver-
ſchiedene Strahlen reflektiren, nachdem ſie dikker oder ge-
genſeitig dichter (g) ſind, ſich von ſtaͤrkern Strahlen der
Sonne durchdringen laſſen, oder nachdem dieſe Plaͤttchen
ſo zart ſind, daß ſich von ihnen nicht einmal die ſchwachen
Strahlen nicht erflektiren laſſen: daß diejenigen Plaͤttchen
noch zaͤrter ſind, wenn von ihnen kein Licht uͤberhaupt
reflektiret wird, und aus ſolchen beſtehen die ſchwarzen
Koͤrper (h), oder wenigſtens doch die dunkeln violetne
Koͤrper, wovon man an der Tinte, und an dem ſchwar-
zen Tuche ein Exempel hat (i), denn wir nennen dieſe
Dinge ſchwarz, ob ſie gleich eigentlich ſaturirt himmel-
blau ſind.
Folglich waͤren das die dikſten Plaͤttchen (i*), welche
das Licht und die weiſſe Farbe reflektiren: die, welche die
rothen Strahlen zuruͤkk werfen (i**), waͤren Strahlen, die
an Haͤrte einem vollſtaͤndigen Licht am naͤchſten kommen,
und endlich waͤren diejenigen Plaͤttchen am duͤnſten, welche
blos die ſchwaͤchere violetnen Strahlen (k) zuruͤkk zuwer-
fen geſchikkt ſind (l).
Folglich wuͤrde das weiſſe Pappier unter allen das
meiſte Licht zuruͤkk werfen, und auf dieſes folget das rothe,
ſo wie das purpurfarbene und gruͤne, das wenigſte Licht
zuruͤkk wirft (m).
Es werden daher von der Sonne weiſſe Koͤrper we-
nig erwaͤrmet, weil ſie das Licht zuruͤkk werfen, hingegen
ſchwarze Koͤrper ſehr, weil von dieſen alle Strahlen ein-
geſogen werden (n). Jn den Tſchirnhauſiſchen Brenn-
punkten, brennen ſchwarze Koͤrper am erſten, und weiſſe
am lezzten (o).
Es meinet aber Newton, daß Koͤrper eine gewiſſe
Farbe beſizzen, von der man ihnen den Namen giebt (p),
wenn ihre Theilchen ſo beſchaffen ſind, wenn ſie viel Licht-
ſtrahlen von einer ſolchen Farbe reflektiren: indeſſen
daß andere, und anders gefaͤrbte Strahlen entweder
durchfahren, oder ſich in den inwendigen Reflexionen ver-
lieren. Es waͤren aber ſagt er, in allen Koͤrpern einige
Theilchen, die alle Farben reflektirten, doch waͤren die-
jenigen im Ueberfluſſe da, welche ihre gleichartige Farbe
vorzuͤglich reflektiren.
Es mache aber ein einfacher Lichtſtrahl, wofern er auf
einen mit ihm gleichfarbigen Koͤrper faͤlt, an demſelben
eine hellere und lebhaftere Farbe: faͤrbe ihm aber ſchwaͤ-
cher, wofern er auf einem Koͤrper von einer andern Far-
be faͤlt. Wenn daher ein ſchon gefaͤrbtes Licht auf einen
Koͤrper faͤlt, ſo vergehen davon die Farben, und es wer-
den die Zuſchauer bleich, wenn ſie bei der zugemiſchten
blauen Flamme des Weingeiſtes ſtehen. Die gelbe Far-
be eines brennenden Lichts, faͤrbt alle andere Lichter an-
ders (q), und inſonderheit vermiſcht ſich die blaue mit
der gruͤnen dabei.
Dieſer beruͤhmte Mann behauptet ferner, daß alsdenn
zuſammengeſezzte, und mittlere Farben entſtehen, wenn
in einerlei Koͤrpern, Theilchen uͤberfluͤßig vorhanden ſind,
die ſowol die rothe als blaue Farbe zuruͤkk werfen: oder
wenn auſſerdem ſolche Theilchen da ſind, welche gar zu-
ruͤkkweichen, und eine Schwaͤrze zu miſchen. Es laͤſt
ſich aber leichtlich zeigen, daß aus dem ſieben newtoni-
ſchen Farben (r), ohne den Schatten und die Weiſſe,
ſchon hundert und ſieben und zwanzig Farben, und noch
mehr entſtehen koͤnnen, wenn man bedenkt, daß ſie ſich
nicht blos nach gleichen Verhaͤltniſſen verbinden laſſen,
ſondern daß das rothe drei Theile habe, das gelbe einen,
und das auf ſolche Weiſe, bei ſo oder anders eingerichte-
ten Verhaͤltniſſe, eine groſſe Menge zuſammengeſezzter
Farben entſtehen koͤnne, welche ſich durch keine Formel
beſtimmen laͤſt (s). So koͤnnen uͤberhaupt aus rothgelb und
blau,
[945]III. Abſchnitt. Die Farben.
blau, alle Farben (t) auch nach der Erfahrung der Faͤr-
ber zuſammengeſezzt werden.
Es gehe wegen dieſer Verſchiedenheit der kleinen Flaͤ-
chen, die ihre gewiſſe Farbe reflektiren, auch an, daß
einige blinde Perſonen die verſchiedenen Farben, durch das
Gefuͤhl zu unterſcheiden vermoͤgend (u).
Die reflektirende Koͤrper beſizzen ſehr kleine Schweiß-
loͤcher, indeſſen daß ihre Oberflaͤche ſehr zuruͤkk ſtoͤſt, und
ſehr poliret iſt (x).
Endlich ſind Koͤrper opac, wenn ihre inwendige Pori,
mit einer Materie von verſchiedener Dichtheit angefuͤllt
ſind, ſo daß ſich die Reflexionen und Refraxionen (y) ver-
vielfaͤltigen, welche das Licht verſchlingen, indem daſſelbe
weder durchgehen noch zum Auge kommen kann (z), ſon-
dern ſich faſt ganz und gar in dem Koͤrper verzehrt, den
wir opac nennen.
Dahingegen ſind alle diejenigen Koͤrper durchſichtig,
wenn ihre Pori mit einer Materie angefuͤllt ſind, de-
ren Dichtheit und brechende Kraft, von der Dichtheit
oder der brechenden Kraft der Theilchen dieſes Koͤrpers
nicht ſehr unterſchieden ſind. Alsdann geſchehen weder
Brechungen noch Reflexionen. Es geſchehen nemlich
beide ſonderlich, alsdann, wenn ſich zwei Koͤrper von ver-
ſchiedener Dichtheit einander beruͤhren (a). So werden
opake Koͤrper durchſichtig, wenn ſich ihre Pori mit einer
Materie anfuͤllen, die mit dem Koͤrper ſelbſt, eine gleich
groſſe Wirkung auf das Licht thut (b). So iſt das Pap-
pier, deſſen Pori mit Luft erfuͤllet ſind, opac, und es wird
durchſichtig, wenn man ſeine Poros mit Waſſer anfuͤllt (c),
hin-
H. Phiſiol. 5. B. O o o
[946]Das Licht. XVI. Buch.
hingegen wird eine jede vollkommene durchſichtige Fluͤßig-
keit, undurchſichtig, wenn ſie mit Luft angefuͤllt wird.
Das Waſſer iſt durchſichtig, und der Schaum opac (d).
Uebrigens weichet hier, um nicht zuruͤkk zuhalten, der
beruͤhmte Euler von dem Newton inſonderheit ab. Er
laͤugnet nemlich, daß die ſaͤrbende Farbe eines jeden Koͤr-
pers von der Brechung entſtehe (e), und er laͤſt ſie viel-
mehr entſtehen, wenn die Theilchen eines Koͤrpers, die
vom Lichte getroffen worden, innerhalb einer gegebenen
Zeit, eine eben ſo groſſe Anzahl von Schwingungen ma-
chen (f), als einem jeden Strahl eigen ſind: Und es ſei
eigentlich keiner ganz rein, ſondern es herrſche derjenige,
und theile dem Koͤrper den Namen mit, deſſen Theilchen
die herrſchenden ſind. Zu der weiſſen Farbe wuͤrden Span-
nungen von allerlei Art in einem Koͤrper erfordert (g):
Und es muͤſten endlich undurchſichtige Koͤrper von den
reflektirenden unterſchieden werden (h). Dieſe ſonſt un-
durchſichtige Objecten, ſtellen ſich als ſolche dar, deren
Theilchen von den auffallenden Lichtſtrahlen, zu einer ſchwin-
genden Bewegung veranlaſſet werden, welche in dem
durchſichtigen Mittelweſen, ſo ſie umgiebt, Schlaͤge und
ſichtbare Strahlen erwekkt (i): Daß hingegen diejenigen
durchſichtig ſind, welche die Schlaͤge nicht reflektiren, ſon-
dern in das inwendige durchlaſſen (k). Dieſe Sachen
kommen theils mit den vorigen uͤberein, theils koͤnnen ſie
von uns uͤberhaupt, und ſonderlich an dieſem Orte nicht
beurtheilt werden.
Es fallen die Strahlen des Lichts, entweder in einer
graden Richtung von dem ſtrahlenden Koͤrper, oder
durch die Reflexion, auf die Hornhaut dergeſtalt
auf, daß ſie einen ſehr ſpizzen Kegel machen, deſſen Spiz-
ze ſich in dem Strahlpunkte, hingegen die Baſis in der
Oberflaͤche der Hornhaut befindet. Man kann ſie, wenn
ſie aus einer groͤſſern Weite herkommen, fuͤr paralel hal-
ten (l).
Diejenigen Strahlen, welche aus der Luft herkom-
men, unter denen die ſchief ſind, und unter groſſen Win-
keln auf die Hornhaut auffallen, dieſe werden von der Horn-
haut zuruͤkk geworfen, und dringen alſo nicht ins Auge
ein. Der Winkel unter welchen die ankommenden Strah-
len in das Auge einfahren, befindet ſich zwiſchen 40 und
48 Graden (m). Es beſizt nemlich die Hornhaut in der
That eine refringirende Kraft (m*), welche groͤſſer, als
im Waſſer (n), oder einer waͤßrigen Feuchtigkeit iſt, mit
der ſie manche verglichen haben (o). Jch vermuthe auch,
daß ſie die refringirende Kraft der Harnhaut an Staͤrke
uͤbertreffen: Denn ſie iſt viel ſchwerer, und beſteht aus
feſten Theilen, daß ſie nur von ſieben Atmosphaͤren zer-
brochen werden kann.
Sie hat ferner im Menſchen eine groͤſſere Convexitaͤt,
als die vordere Convexitaͤt der Cryſtallinſe iſt, und eine
kleinere als die hintere Convexitaͤt. Sie iſt nemlich ein
Segment von einer Kugel, deren Durchmeſſer ſieben Li-
nien groß iſt (p).
Es iſt aber die vordere Convexitaͤt der Linſe ſo be-
ſchaffen, daß ſie zu einer Kugel gehoͤrt, deren Radius
drei Linien und ein drittel (q) iſt, und folglich iſt ſie
flaͤcher: Hingegen iſt die hintere Convexitaͤt wie an einer
Kugel, deren Radius zwei und eine halbe Linie iſt, und
dieſe iſt convexer (q*). Da alſo die Convexitaͤt der Horn-
haut groͤſſer als jene, und kleiner als dieſe iſt (r), und
mit der Feſtigkeit wenigſtens mit der Linſe uͤbereinkoͤmmt,
ſo wird man ihre refringirende Kraft mit der Linſe nicht
uͤbel vergleichen koͤnnen (s), und man muß ſie in der
Theorie des Sehens nicht verabſaͤumen.
Nun ſind die Kraͤfte der Cryſtallinſe groͤſſer, als im
Waſſer, und kleiner als im Glaſe: Folglich werden ſich
auch die Kraͤfte der Hornhaut zwiſchen dieſen Graͤnzen
befinden (t). Und folglich wird ſie um etwas groͤſſere Strah-
len bekommen, als von vierzig Graden, und kleinere
Strahlen als von acht und vierzig Graden (u). Die
uͤbrigen zuruͤkkgeworfene Strahlen werden das ſoge-
nannte Puppenbild (pupula) erzeigen, welches nicht
von
[949]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
von der Cryſtallinſe, ſondern in der That von der Horn-
haut gebildet wird (x).
Nach eben den Grundſaͤzzen werden die aus der Luft
kommende Strahlen, in der convexen Hornhaut, mehr
als vom Waſſer, und weniger als vom Glaſe gebrochen
werden: Und es wird der Brennpunkt von dieſer Con-
vexitaͤt weiter entfernet ſein, als der halbe Radius der
Kugel (y), davon ſie ein Theil iſt, hingegen naͤher als
der vierte Theil dieſes Radii, und man kann uͤberhaupt
⅜ annehmen. Es iſt aber der Radius der Hornhaut 3½,
folglich der Brennpunkt gegen 2⅛ Linie. Es iſt aber der
Abſtand der Linſe von der Hornhaut (z) 1 Ganzes \frac{5}{12}tel
Linie, folglich faͤlt der Brennpunkt der Hornhaut uͤber die
Convexitaͤt der Linſe weg, und es concurriren die Radii,
indem ſie aus der Hornhaut in die Linſe convergirend wer-
den (a).
Die brechende Kraft der Hornhaut hat auch dieſen
Nuzzen, daß mehrere Strahlen (a*) in den Stern zu-
ſammen kommen, und wenigere, auf den Regenbogen
fallen.
Wir haben geſagt, daß die Hornhaut an den Voͤgeln
erhabener iſt (b), und daß die dunkle Hornhaut derſelben
flaͤcher iſt: An den Fiſchen iſt ſie ſehr flach, und die Linſe
hingegen ſphaͤriſcher (c). Folglich wird es nicht unwahr-
ſcheinlich ſein, daß ſich die Erhabenheiten der Cryſtallinſe,
und der Hornhaut mit einander aufheben: Dieſes giebt uns
P. de la Hire an (d). Es traͤgt auch die Convexitaͤt der
Hornhaut etwas bei, um die Menge des Lichts zu vermeh-
ren, welches ins Auge faͤllt. Denn daſſelbe wird von
O o o 3einer
[950]Das Sehen. XVI. Buch.
einer groͤſſern Oberflaͤche aufgefangen (e), als der flaͤchere
Regenbogen thun koͤnnte.
Von denjenigen Strahlen, welche durch die Horn-
haut eindringen, werden einige ſonderlich die am meiſten
ſeitwaͤrts und ſchief zwiſchen der Traubenhaut, und dem
aͤuſſerſten Stuͤkke der Linſe auffallen, von der ſchwarzen
Mahlerei verſchlungen werden, welche ſich an dieſem Orte
in allen Thieren befindet: Und zwar theils hinter der
Traubenhaut, theils hinter dem Sternbaͤndchen.
Daher kommt es, daß blos diejenigen Strahlen zur
Cryſtallinſe kommen, deren Winkel mit der Hornhaut
nicht uͤber 28 Graden ſind (f). Folglich kommen um et-
was weniger aber ſtaͤrkere und der Perpendikularlinie naͤ-
here Strahlen in die Cryſtallinſe. Wenn wir Dinge auf
das allergenaueſte ſehen wollen, ſo machen wir den Stern
enger (g), und auf ſolche Weiſe werden wiederum die
ſchiefen Strahlen ausgeſchloſſen.
Die durch die waͤßrige Feuchtigkeit durchlaufende
Strahlen, aͤndern ſich wenig, indem ihre brechende Kraft
von der Kraft der Hornhaut nicht eben ſehr unterſchieden
iſt, ſondern vielmehr etwas kleineres, folglich zu derſel-
ben nichts hinzuſezzet.
Sie finden in der Cryſtallinſe eine brechende Kraft,
die ſtaͤrker, als Waſſer, und ſchwaͤcher, als Glaß iſt (h),
deſſen refringirende Kraft nach den beſten Verſuchen ſo
beſchaffen iſt, daß der Sinus des Einfalls zum Sinus
der Brechung, wie 13 zu 12 ohngefehr iſt, wenn die
Strahlen aus dem Waſſer herkommen.
Es ſchlieſſen ſich von dieſer Materie zwei ungleiche
Segmenten eines Zirkels an einander, da der Durchmeſ-
ſer des vordern ½5 tel einer Linie, des hintern aber 5 Li-
nien groß iſt (i).
Folglich werden ſich die Strahlen gegen einander nei-
gen, welche auf die Linſe fallen, und es wuͤrde ihr Brenn-
punk 3 Linien groß ſein, woferne die Linſe unſeres Auges
Glaß waͤre, und die Strahlen aus der Luft paralel an-
kaͤmen (k).
Es iſt aber der Abſtand des hintern Stuͤkkes der Linſe,
von der Nezzhaut im Menſchen gleich ſechs Linien 2617 (l).
Und dennoch faͤllt der Brennpunkt in die Nezzhaut: folg-
lich iſt die brechende Kraft des Auges, um ſo viel ſchwaͤ-
cher, als die brechende Kraft des Glaſes, um ſo viel ent-
fernter von der Linſe, der Brennpunkt ins Auge faͤllt,
als ein von einer Glaslinſe entſtehender Brennpunkt fal-
len wuͤrde. Es wird aber auch die Kraft der Linſe ver-
moͤge einer andern Erſcheinung ſchwaͤcher ſein, denn es
faͤllt nicht der wahre Brennpunkt in einem einzigen Punk-
te auf die Nezzhaut auf, ſondern nur ein ſolcher, der
ſchon einige Breite hat, weil man die rechten und linken
Graͤnzen eines ſichtbaren Objects unterſcheiden kann (m).
Und auf ſolche Art mindert ſich auch die gar zu groſſe
Staͤrke des Lichts.
Der Glaskoͤrper, deſſen Brechung wenig groͤſſer, als
das Waſſer (n), und bisweilen etwas kleiner, als die Linſe
iſt, aͤndert nichts ſonderliches (o) in der Bewegung der-
jenigen Strahlen, welche durch die Linſe herkommen. Doch
O o o 4es
[952]Das Sehen. XVI. Buch.
es entwikkelt dieſer Glaskoͤrper in der That ſeine Kraͤfte,
wenn die Linſe zerſtoͤhret iſt, und er ihre Stelle einnimmt:
Denn alsdenn noͤthigt er ſelbſt die Strahlen ſich in der
Nezzhaut zu verſammlen.
Man wird leicht gewahr, daß die Linſe um ſo viel
kugliger ſie iſt, auch deſto ſtaͤrker die Strahlen brechen
werden, daß alsdenn der Brennpunkt naͤher ſei, und daß
ſich auch die ſchiefen und von der Seite ankommende
Strahlen in den Brennpunkt, oder wenigſtens doch in ei-
ne kleine Linie brechen koͤnnen. Es iſt daher in den Fi-
ſchen, die in einen weniger erleuchteten Elemente leben,
da die Strahlen, die aus dem Waſſer ankommen, und
nicht aus der Luft im Auge weniger gebrochen werden, als
in andern Thieren, die Linſe faſt eine ganze Kugel (p),
in der ſich ein harter Kern befindet (q). Daher ſieht
das Opoſſum, daß eine faſt kugliche Linſe hat, wenn die
Sonne hoch, und alſo viel Licht da iſt, nicht gar zu wohl (r).
Jch weiß nicht, ob nicht Kepler(s), die brechende
Kraft der Cryſtallinſe zu erſt entdekket habe: und ob nicht
Felix Plater die Sache aus ihm erborget habe (t). Nach
ihm hat Scheiner(u) und Emilius Pariſanus(x)
dieſe Natur der Linſe fuͤr eine Neuigkeit ausgegeben.
Doch es gab ſchon zu des Veſals Zeite[n L]eute, welche
das Werkzeug des Sehens in die Nezzhaut ſezzten (y):
Und er beweiſet ſelbſt, wiewol dunkel, er glaube nicht,
daß es in der Cryſtallinſe ſei (z). Es hielten nemlich die
Alten dieſe Linſe fuͤr das Werkzeug des Sehens (a): wel-
ches ſich aber leicht dadurch widerlegen laͤſt, weil auch nach
Zerſtoͤrung der Linſe, vermittelſt des herausgezogenen
Staars,
[953]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
Staars, dennoch das Sehen (b), und zwar nicht ſehr
verſchlimmert (c), uͤbrig iſt. Doch da die Refraction
des Glaskoͤrpers nicht ſo ſtark, als die Brechung des
Cryſtalkoͤrpers iſt, und da der nunmehr convexe Glas-
koͤrper (d), die Stelle der Linſe vertritt, ſo muß man durch
den Gebrauch der convexen Glaslinſe, den ſchwachen con-
vergirenden Kraͤften des Auges zu Huͤlfe kommen (e). Es
iſt nemlich in den Thieren, aus denen die Feuchtigkeiten
ausgefloſſen ſind, und deren Cryſtallinſe nicht wieder her-
geſtellet worden, das Sehen truͤbe, und auch nach der
Wiederherſtellung der waͤßrigen Feuchtigkeit, truͤbe, wo-
fern ſie ja das Geſichte wieder bekommen (f).
Daß aber im Auge keine Brechung vorgehen ſoll (g).
dieſes gilt nur von einem einzigen Strahle, und daß die-
ſes von den uͤbrigen falſch ſei, laͤſt ſich ſowol durch die er-
wieſene brechende Kraͤfte des Auges (h), als durch einen
Verſuch beweiſen, von den wir ſogleich reden wollen.
Es ſcheint der vornehmſte Nuzzen des Glaskoͤrpers
dieſer zuſein, daß er die Nezzhaut ausgeſpannter haͤlt, daß
er das Auge in ſeiner rechtmaͤßigen Groͤſſe erhaͤlt, daß er
die Cryſtallinſe mit Beweglichkeit unterſtuͤzzt, und daß
er, wenn dieſe zu nichte gegangen, ihre Stelle einigermaſſen
erſezzt.
Wenn wir alles zuſammen nehmen, ſo kann der Koͤr-
per, welchen wir ſehen, als eine Linie betrachtet werden,
von welcher die von allen Seiten gezogene Radii, welche
O o o 5in
[954]Das Sehen. XVI. Buch.
in Verbindung der Refractionen der Hornhaut und Cry-
ſtallinſe zu einer einzigen, convergiren, und ſich kurz dar-
auf in einen Brennpunkt zuſammen begeben wollen, durch
den Glaskoͤrper auf die Nezzhaut fallen (i), und auf die-
ſer Haut das Bild des geſehenen Koͤrpers abmahlen.
Daß ſich die Sache uͤberhaupt ſo verhalte, erhellet
aus einem Verſuche, welcher zwar nicht ſehr leicht, aber
doch von vielen angeſtellet iſt (k). Es muſte der Ort da-
zu vollkommen finſter ſein, und das ganze Licht blos auf
die Hornhaut fallen. Hierauf muß man ein Stuͤkkchen
von der Sclerotica, und von der Aderhaut wegnehmen,
und deſſen Stelle mit einem geoͤlten Pappiere, oder der
inwendigen Membran aus der Eiſchaale verſezzen, damit
der Glaskoͤrper nicht herausfallen moͤge. Auf dieſe Wei-
ſe wird es geſchehen, daß ſich in dem Theile der Nezzhaut,
von welchem wir die dunklen Bekleidungen weggenom-
men haben, das Bild des vor die Hornhaut geſtelten
Subjects zum Exempel die Flamme eines Lichts abmahlt.
Es mahlt ſich auch dergleichen Bild in einem kuͤnſt-
lichen Auge ab (l), deſſen Feuchtigkeiten man mit Glaß
und Waſſer nachahmet.
Endlich erſcheinen in dem Auge einer Nachteule (m),
auch wenn ſolches ganz iſt, und man hinein ſieht, die
Ob-
[955]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
Objecte auf der Nezzhaut abgemahlt, weil die dunkle
Hornhaut hinterwaͤrts durchſichtig iſt. Jch habe dieſen
Verſuch ſelbſt nachgemacht. Von einem gewiſſen le Mai-
re lieſet man, daß dieſer vermittelſt eines gewiſſen Ver-
groͤſſerungsglaſes das Bild auf der Nezzhaut in ſeinem
oder fremden Auge gemahlt geſehen habe (n). Folglich
hat man ſchon vorlaͤngſt gewuſt, daß im Auge ein dunk-
les Zimmer ſtatt finde (o), an deſſen weiſſer Wand das
Bild von Koͤrpern ſo auſſerhalb der Kammer liegen, wenn
es durch eine Glaslinſe faͤhrt, abgemahlt wird.
Es befindet ſich dieſes Gemaͤhlde an der aͤuſſeren Sei-
te des eintretenden Sehenervens, da wo die Achſe des Au-
ges die Nezzhaut durchſchneidet, und wo die den Perpen-
dikul naͤchſten Strahlen mit dem Perpendikularſtrahl ſelbſt
zuſammenkommen, und ſehr lebhaft ſind. Man glaubet
auch, daß in dieſer Gegend die Nezzhaut empfindlicher
ſei (p). Wenigſtens wird dieſer Theil der Faſern getrof-
fen, welcher naͤher vom Gehirne abliegt (q), und es laͤſt
ſich durch Verſuche beweiſen, daß an der Nezzhaut ein
einziger wirklich empfindender Punkt, woran die Objecte
ſich mit einem guten Erfolg abmahlen (r).
Es liegt aber der Eintritt des Sehenerven ſelbſt ins
Auge, weder in der Achſe des Auges ſelbſt, noch ſo, daß
er uͤberhaupt geſchikkt ſei, ein Bild aufzunehmen, und
endlich ſehen wir das Bild an dieſer Stelle nicht. Jn
den vierfuͤßigen Thieren iſt dieſer Zugang des Sehenerven
mit einer fadigen Membran bedekkt (s), welche ohne Zwei-
fel,
[956]Das Sehen. XVI. Buch.
fel, wie das uͤbrige Fadengewebe ohne Empfindung iſt.
Jn den Voͤgeln erhebt ſich von der Achſe der Spalte ſelbſt,
die den Sehenerven durchlaͤſt, der ſchwarze Kamm (t).
Jn ſehr vielen Fiſchen wird das runde Ende des Nerven
(u), mit braunen Gefaͤſſen und Haarpinſeln uͤberzogen.
Noch genauer hat man die Sache durch einen ziem-
lich feinen Verſuch gezeiget, und dadurch bewieſen, daß
dieſe Stelle des Sehenerven nicht ſehe. Man pflegt die-
ſen Verſuch den Edmund Mariotte(x) zuzuſchreiben,
doch iſt es nicht blos ein einziger Verſuch. Der erſte
Verſuch dieſes beruͤhmten Mannes, war von der Art.
Er befeſtigte zwei weiſſe Pappiere, beinahe in einerlei Hoͤhe
mit ſeinen Augen, an einer dunklen Wand, ſo daß ſie
zwei Fuß von einander abſtanden, und das eine Pappier
etwas niedriger war. Er ſchloß hierauf ſein linkes Auge
zu: Das rechte aber richtete er auf ein linkes Object, er
gieng ruͤkkwaͤts und ſuchte den Ort, wo das Object genau
mit demjenigen Punkte zuſammen traf, in welchem ſich
die beiden Achſen des Auges durchſchneiden. Er fand
ſolches in einer Weite von neun Fuß, und an dieſem Or-
te verſchwand das Pappier, deſſen Durchmeſſer dennoch
vier Zoll groß war, daß er auſſer der Wand nichts mehr
ſahe. Dieſen Verſuch haben auch andere wiederholet (y),
und Hamberger auf etwas verſchiedene Art (z), bei wel-
chem die Cirkel bei ſechs Zoll verſchwanden, ſo wie bei
dem beruͤhmten Nicolans le Cat bei acht Fuß (a).
Hierauf hat Pikard den Verſuch wieder auf etwas
andere Weiſe wiederholt (b), er machte an der Wand ein
weiſſes Pappier feſte, welches ein bis zwei Zoll breit war,
er machte ſich an der Seite deſſelben zwey Gemaͤrke, die
von
[957]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
vom Pappier zwei Fuß abſtanden. Wenn er die Sache
auf dieſe Art zur Richtigkeit gebracht hatte, ſo ſtellte er
ſich grade uͤber hin, gleichfalls neun Fuß weit davon, und
hielte einen Finger zwiſchen den Augen, welcher dem rech-
ten Auge das linke Gemaͤrk, und dem linken Auge das
rechte verdekken muſte. Er richtete ferner beide Augen
auf den Finger, ſo daß dieſer Finger die zwei Sehachſen
zwiſchen ſich hatte: Und in dieſer Stellung verſchwand
das weiſſe Pappier ganz und gar.
Noch auf eine etwas andere Weiſe ſtellte E. Ma-
riotte eben dieſen Verſuch folgendergeſtalt an (c). Er
beveſtigte zwei weiſſe Pappiere, welche drei Fuß von ein-
ander abſtanden, an der Wand. Er ſelbſt entfernte ſich
zwoͤlf Fuß weit von den Pappieren, und hielte den Dau-
men zwiſchen die Augen, den er aber aufrecht hielte, und
acht Zoll weit davon entfernt hatte. Wenn er nun die
beiden Augen zu dem Daumen hinkehr[t]e, ſo verſchwanden
beide Pappiere.
Jndem der beruͤhmte Stancarius zeigen wolte, daß
der Eintritt des Sehenerven keinesweges blind ſei, und
er den Verſuch des Mariotti wiederholet hatte, ſo zeig-
te derſelbe, daß die blinde Stelle von den Mittelpunkte
des Sehenerven um dreieilftheil, die man zwiſchen dieſen
Mittelpunkt, und dem Mittelpunkt der Cryſtallinſe nimmt
(d), entfernt ſei. Doch es wuͤrde dieſer Verſuch dem Ma-
riotti guͤnſtiger ſein, es liegt nemlich allerdings die blin-
de Stelle von dem Mittelpunkte des Sehenerven gegen
die Naſe zu ab.
Aus allen dieſen Verſuchen, und einem andern noch
ſubtilern Verſuche des Daniel Bernoulli erhellet (e),
daß das Object alsdenn verſchwinde, wenn es dem Ein-
gange des Sehenerven gerade gegen uͤber geſtellt wird,
und
[958]Das Sehen. XVI. Buch.
und daß dieſer Eintritt (f), in einer Breite von den vier-
ten Theil der Linie blind ſei (g): Bernoulli verglich die-
ſe Stelle mit dem ſiebenten Theil dis Diameters des Aug-
apfels (h).
Folglich erhellet daraͤus ſehr leicht, warum die Seh-
achſe nicht dem Eintritte des Sehnerven grade gegen uͤber
liegt. Denn wenn ſich die Sache ſo verhielte, ſo wuͤr-
den wir alle Objecten durchloͤchert ſehen, und dieſes merk-
te bereits Peter Herigonius ehedem, daß es aus der
Jnſertion des zu ſeiner Zeit ſo genannten Pori, und aus
der Blindheit folgen muͤſte. Jch glaube auch eben nicht,
daß ſich am Meerkalbe (i), oder im Stachelſchweine eine
Ausnahme von der Regel finden ſollte, und daß die Jn-
ſertion der Sehnerven mit der Sehachſe zuſammen paſſen
werde.
Es liegt aber der blinde Ort vielmehr nach inwendig
zu, als das Ende der Sehachſe, als daß es mehr auswaͤrts
ſollte geſuchet werden, weil wir gemeiniglich, wenn wir
eine Sache genau beſehen wollen, das Auge einwaͤrts
kehren, wenn wir nemlich leſen, feine Geſchaͤfte verrich-
ten, und uns beider Augen bedienen wollen. Jn dieſer
Verwendung des Auges, verlieren wir das Object nie-
mals, es ſei denn, daß ſich eine Verhinderung, welches
ſich aber ſelten zutraͤgt, an der Naſe zeigt: Denn in allen
andern Faͤllen, ſehen wir wenigſtens mit einem Auge
doch. Es ermuͤdet auch ein Sehnerve viel weniger, wenn
er an einer Stelle einwaͤrts inſerirt iſt, als er ſich ſpan-
nend ermuͤden wuͤrde, wofern er von auſſen inſerirt, der-
jenigen Bewegung folgen muͤſte, wodurch die Sehachſen
vereinigt werden (k).
Es hat ſich dieſer fleißige Mann, ſeinem Verſuch ſo
zu Nuzze zu machen geſucht, daß er uͤberhaupt glaubte,
gezeigt zu haben, nicht die Nezzhaut, ſondern die Aderhaut
ſei das eigentliche Werkzeug des Sehens. Er ſagte nem-
lich, daß blos dieſe Stelle im Auge blind ſei, wo zwar
die Nezzhaut, aber keine Aderhaut vorhanden waͤre.
Dieſer neuen Theorie wiederſezzte ſich Pecguet und
Perralt, der eine, weil die Aderhaut gar zu hart, un-
gleich, und alſo nicht geſchikkt ſei, daß ſich darauf ein
Bild abmahlen ſollte: Der andere (l), weil die Nezzhaut
gemeiniglich alsdenn blind ſei, wenn das Bild den Punkt
ſelbſt trift, aus welchem die Faſern der Nezzhaut ausge-
ſpannet werden (m): und er ſchlug hierauf ebenfalls wie
die Neuern die Schlagadern der Nezzhaut vor (n), wel-
che blind waͤren, und die Strahlen bei dem Eintritte des
Sehnerven auffingen. Er ſagte ferner, es ſei die Ader-
haut in vielen Thieren ſo lebhaft gefaͤrbt, daß ſie Strah-
len zuruͤkk werfen, da die Nezzhaut in allen Thieren weiß,
einfach, und undurchſichtig ſei (o).
Darwider vertheidigte ſich Mariotte tapfer, und er
zeigte ohne Muͤhe, daß die Gefaͤſſe der Nezzhaut gar zu
klein, und zu ſo groſſen in einer geringen Entfernung zu
verſtekkenden Pappieren ungeſchikkt waͤren (p), und daß
diejenigen Objecte kleiner ſind, welche dieſer Aderſtaͤmme
wegen zu verſchwinden ſcheinen (q). Endlich ſei die Ader-
haut an ihrer Oberflaͤche nicht ſo ungleich, und koͤnne
nach Art eines Spiegels die Objecte vollkommen abmah-
len (r).
Es haben unter den neuern Franzoſen viele (s) fuͤr
den Mariotti gedacht, und es bedienet ſich der beruͤhm-
te von S. Yves dieſes Grundes, daß der Regenbogen
von uͤbermaͤßigen Lichte, enger wuͤrde, der Regenbogen
aber ſei nicht ein Fortſazz von der Nezzhaut, ſondern von
der Aderhaut, und es ſei offenbar, daß der Eindrukk des
Lichts auf eben diejenige Membran geſchehe, an welcher
von dieſem Lichte die Bewegung erfolget. Dieſes hat der
beruͤhmte Nicolaus le Cat, vermoͤge ſeiner Hypotheſe ſo
weit getrieben, daß die Nezzhaut, als ein Fortſazz dos
Gehirns ohne Empfindung ſei (t), und als ein durchſich-
tiger Koͤrper die Strahlen durchlaſſen ſollen (u): Hinge-
gen beſizze die Aderhaut eine empfindliche Natur, und ſie
ſei weil ſie ſchwarz iſt, geſchikkt, Strahlen aufzufangen (x).
Andere haben die Nezzhaut dergeſtalt heruntergeſezzt,
daß ſie nur ein Oberhaͤutchen (y) von der Aderhaut ſeie,
und die eingefallene Strahlen des Lichts maͤßigen ſoll.
Es glaubet auch der beruͤhmte S. Yves das Bild in
einem kuͤnſtlichen Auge queer uͤber auf die Aderhaut ge-
worfen geſehen zu haben (z), und es hatte ſchon Sturm
erwehnet, daß das Bild queer uͤber dieſe Wand wegfal-
le, wofern die Wand durchſichtig iſt, auf der ſich das
Bild der Camera obſcura mahlt (a).
Hierauf haben verſchiedene verſchiedenes geantwortet
(b): Es ſei die Nezzhaut in verſchiedenen Thieren halb
opac (c), oder wenigſtens halb durchſichtig (d): Es ver-
laͤngere
[961]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
laͤngere ſich das Mark des Sehnerven (e) nicht in die Ader-
haut, ſondern in die Nezzhaut, und es ſtreite wider alle
Verſuche, wenn man die Nezzhaut fuͤr ein Oberhaͤutchen
ausgeben wollte: Es ſei dieſe Haut in allen Thieren einer-
lei (e*), etwas grau (f), und verhalte ſich gegen alle Far-
ben gleichguͤltig: Die Aderhaut wuͤrde als ein farbiges
Weſen gefaͤrbte Strahlen wegen ihrer eigenen Farbe an-
ders und ſchlecht auffangen, ſie reflectire ferner in den
meiſten vierfuͤßigen Thieren das Licht, habe wenige
Nerven, und eine groſſe Menge Gefaͤſſe, die doch Em-
pfindungslos werden, und ſonderlich bekommen ſie bei ih-
rem Anfange, kaum einige Nerven, und dennoch muͤſte
ſich auf dieſem Anfange das Bild des Objects abmahlen.
Es haͤtte ein Kind mit einer rothen Aderhaut dennoch ſe-
hen koͤnnen (g), es koͤnnten Caninchen mit einer rothen
Aderhaut ſehen (h), und es haͤtte ein anderer Menſch,
bei dem dieſe Haut ihre Schwaͤrze verlohren hatte, vom
Lichte Empfindung gehabt. Es ſei der Regenbogen die-
ſer Fortſazz der Aderhaut, nicht reizzbar (i), wenig em-
pfindlich (k), und es werde deſſen Bewegung, wenn er
gleich keinen eigenen Fehler an ſich hat, zerſtoͤret, wo-
fern man den Sehnerven druͤkkte, mit dem er doch nir-
gends zuſammenhinge: Man koͤnne ferner nicht behaup-
ten, daß die Aderhaut vom Regenbogen entſtehen ſollte
(l). Es ſei die Stelle des Sehnervens, welche blind ſei,
hohl, damit nicht das Licht auf die Faſern fallen koͤnne
(m): Oder es ſei die Nezzhaut daſelbſt calloͤſe und hart (n).
Wir haben aber ſtaͤrkere Gruͤnde, welche uns zum
Beifall zwingen. Erſtlich thut der ganze Verſuch des
Ma-
H. Phiſiol. 5. B. P p p
[962]Das Sehen. XVI. Buch.
Mariotti nichts zur Sache. Denn es befindet ſich an
der blinden Stelle, oder im Eintritte des Sehnervens kei-
ne Nezzhaut (o): Sondern es iſt, wie ich bereits vor
zwanzig Jahren erinnert habe (p), eine weiſſe, ſaͤchrige
und poroͤſe Membran, und wenn man dieſe nur betrach-
tet, ſo wird man der Nezzhaut ſchon ihre Untauglichkeit
nicht zuſchulden kommen laſſen.
Ferner iſt das Argument ganz zu verlaͤßig, wenn
man zeigt, daß die Lichtſtrahlen in den meiſten Thieren
uͤberhaupt zur Aderhaut nicht hinkommen. Jch habe nicht
nur im Menſchen, ſondern auch in Voͤgeln, wie im Rei-
her, ſonderlich aber in den Fiſchen geſehen, daß die ganze
inwendige Flaͤche der Aderhaut mit einem ſehr ſchwarzen
Schleim angeſtrichen iſt, welcher in einem recht preparir-
ten Auge, eine halbkuglige Ruͤnde (r) macht, womit die
Nezzhaut dergeſtalt uͤberzogen iſt, daß man glauben ſollte,
ſie waͤre mit einer ſchwarzen Membran uͤberkleidet (s),
und es verſtattet dieſer Schleim denen Strahlen keine Ge-
meinſchaft mit der ruyſiſchen Platte der Aderhaut.
Wenn ja das Licht die Oberhand bekaͤme, dieſes kann
es aber uͤberhaupt nicht thun, ſo wuͤrde doch dieſe Ver-
ſchanzung, auf die braune, zottige und lederartige Ober-
flaͤche der ruyſiſchen Haut, und unter derſelben auf ei-
ne unglaubliche Menge Gefaͤſſe, aber auf keine oder ſehr
wenig Nerven treffen, welche nirgendwo eine zuſammen-
haͤngende Breite machen koͤnnten, die ein Bild aufzu-
fangen geſchikkt waͤre. Es bedekkt auch in den meiſten
wilden Thieren dieſe Tapete, den naͤchſten auswendigen
Theil des Sehnervens, welcher wirklich ſiehet von allen
Sei-
[963]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
Seiten, und dieſer reflectirt in der That die Strahlen,
ohne ſie zu verſchlingen (s*).
Da uͤbrigens das Object vielmehr verſchwindet, als
daß es ſchwarz ausſehen ſollte, ſo finden wir hievon ein
Exempel, woraus erhellet, daß die Eindruͤkke der aͤuſſer-
lichen Objecte nicht dieſen Punkt einzig und allein in Be-
wegung ſezzen, welchen ſie treffen: ſondern daß auch hie
und da eins der allernaͤchſten Theilchens mit getroffen
werde, daß man alſo durch dieſe Stelle der Nezzhaut
glaubt, eine weiſſe oder ſchwarze Wand zu ſehen, da ſie
doch nichts ſieht, ſondern weil ſie nur klein iſt, mit dem
benachtbarten Bilde (t), und gleichſam mit deſſen Halb-
ſchatten ausgefuͤllt wird.
Es faͤlt aber das Bild auf die faſrige Membran der
Nezzhaut, nicht aber auf die markige, wie es wohl das
Anſehen hat. Man weiß nemlich von der faſrigen Haut
mit Gewißheit, daß ſie die erſten Lichtſtrahlen bekoͤmmt:
Jch glaube aber nicht, daß ſie durch dieſelbe durchfahren
ſollte, theils weil dieſe Faſern in vielen Fiſchen weiß (u),
und nicht durchſichtig ſind: Um ſo viel mehr, weil ſie neben
dem Eingange des Sehnervens dichter aufeinanderliegen:
Jm Menſchen aber die rothen Gefaͤſſe der Nezzhaut, ein gu-
tes Stuͤkk von dieſer Membran bedekken: theils weil die Fa-
ſern aus dem Mittelpunkte des Sehnervens ſelbſt herkom-
men (x), theils weil eine accurate Diſtinction an einer
Faſer leichter zu machen ſcheint, als an einem weichen
Marke. Jndeſſen geſtehe ich es gern, daß dieſes alles
nur Muthmaſſungen ſind.
Wenn das Bild vermoͤge des Baues im Auge, auf
dem Grunde der Nezzhaut abgemahlet iſt, ſo hat daſſelbe
P p p 2ſeine
[964]Das Sehen. XVI. Buch.
ſeine Verrichtung gethan, und die Verſuche lehren nichts
weiter darauf. Dieſes Bildniß ſtellt ſich der Seele, es ſei
auf welche Art es wolle, nicht durch einen Anblikk dar (y),
denn es verlangt das Licht einen freien Weg ins Gehirn
zu haben, wofern es etwas im Gehirn in Bewegung ſez-
zen ſoll (z). Man muß indeſſen bei Betrachtung dieſes
Bildes mit Genauigkeit verfahren. Und zwar hat man
erſt ſeine Groͤſſe zu betrachten. Man ſiehet leicht ein, daß
dieſes Bild klein ſein werde, es iſt indeſſen aber doch kein
wirklicher Punkt, als in welchem ſich keine Theile geden-
ken laſſen (z*). Es wird ſich aber daſſelbe, weil der klei-
ne Bogen der Nezzhaut fuͤr eine Chorde angeſehen werden
kann, wie die wahre Groͤſſe des geſehenen Objects verhalten,
welche man nach der Laͤnge der Augenachſe fortziehet, und
die Diſtanz von Object theilt (a). Wenn dieſe Bilder
unter einander verglichen werden, ſo nimmt man gemei-
niglich die Diſtanzen verkehrt fuͤr das Maaß, da die Laͤn-
ge des Auges nur von kleiner Bedeutung iſt (b). Dieſer
giebt man den Sehwinkel zum Maaſſe, welchen beide En-
den des Objects, mit dem ſehenden Punkte der Nezzhaut
machen (c).
Folglich werden diejenigen, die ſehr weit entfernet
ſind, einen ſchwachen Eindrukk verurſachen, weil ſich in
dem engen Winkel wenig Licht enthalten laͤſt (d), es haben
auch beruͤhmte Maͤnner angefangen, die Graͤnzen der
Diſtanzen zu beſtimmen, wie weit man deutlich ſehen koͤn-
ne.
[965]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
ne. Smith ſezzet, daß man ſeinen Diameter nicht uͤber
5156 mal (e), und andere uͤber 3436mal ſehen koͤnne (f).
Man verlanget aber hierbei ſonderlich daß man eine
Graͤnze fuͤr das kleinſte Object ſezze, welches geſehen wer-
den koͤnne, und woraus ſich auch von dem kleinſten moͤg-
lichſten Bilde muthmaſſen laſſe. Es fand ſchon vorlaͤngſt
Robert Hooke, daß diejenige Perſonen ſelten ſind, die ein
Object unterſcheiden, welches unter einem kleinerm Win-
kel, als der Winkel einer Minute iſt, erſcheinet, ob es
gleich Leute giebet, welche ſchaͤrfer, und unter einem Win-
kel von zwanzig Secunden ſehen (h). R. Smith
behauptet, daß ein Object unter einem kleinern Winkel,
als vierzig Secunden ſind (i), geſehen werden koͤnne.
Entfernte und nicht leuchtende Koͤrper, welche alſo
ſchwach erſcheinen, koͤnnen kaum geſehen werden, welche
einen kleinern Winkel als ſechszig (k), vierzig (l), dreißig
(m), zwanzig (n), Secunden machen.
Andere ſagen, daß man den drei hunderten Theil ei-
nes Zolles unterſcheiden koͤnne, und davon entſtehe ein
Bild, welches nicht groͤſſer ſei als \frac{1}{1800}tel Zoll (n*).
Die naͤchſten Dinge koͤnnen, weil ſie wirkſamer ſind,
ſonderlich wenn ſie auſſerdem noch leuchten, und in einer
Diſtanz eines deutlichen Sehens liegen, unter dem Win-
kel drei und ½ und zwei ⅓ tel (o) Secunden geſehen
werden: Und endlich unter einem Winkel der entweder
nicht groͤſſer oder nicht kleiner als eine Secunde iſt, wo-
P p p 3ferne
[966]Das Sehen. XVI. Buch.
ferne ſie ſowol leuchten, als paralele Strahlen durch ein
langes Rohr ſchikken (p), es kann nemlich ein Seiden-
faden, der \frac{1}{1948} tel Linie dikk iſt, dennoch vierzig Zoll
weit vom Auge geſehen werden, da er einen Winkel von
drittehalb Secunden zieht.
Es ſcheinen mir auch Dinge, die noch kleiner ſind, deut-
licher zu ſein, denn wir ſehen den Durchſchnitt eines ver-
goldeten Silberfadens deutlich, und wir unterſcheiden das
Gold vom Silber, wenn die Dikke des Goldes \frac{1}{11050100}
Theil einer Linie iſt, nemlich eine um vier und funfzig mal
kuͤrzere Linie (q), als diejenige, von welcher Jurinus
ſagt.
Wenn man nun nach den obigen Regeln die Groͤſſe
und Diſtanz des Objects in eine Formel bringt, ſo wird
die Kleinigkeit des Bildes auf der Nezzhaut, um deſto
anſehnlicher werden, je kleiner der Winkel iſt, unter wel-
chen man annimmt daß dieſer Koͤrper geſehen werde. P.
de la Hire brachte aus einem ſechsfuͤßigen Muͤhlenfluͤgel,
welche man vier tauſend Klaftern weit ſahe, ſeine Groͤſſe
ſo heraus, daß ſie gleich \frac{1}{8000} Zoll war (r), und andere
haben dieſes Maaß beibehalten (s). Es fand der ber. Por-
terfield das Bild kleiner, wenn er einen kleinern Win-
kel machte, und es war gleich \frac{1}{7200} Zoll (t), und end-
lich \frac{1}{32400} eines Haars oder \frac{1}{3888000} Theil eines Zol-
les gleich, wenn man zehen Kopfhaare fuͤr eine einzige
Linie rechnet (u). Er fand dieſe Groͤſſe, wenn dieſer
vorgeſpannte Winkel, ein Drittheil von einer Minute
macht, und in keinen Thieren, wegen den kleinen Durch-
meſſer des Auges gleich \frac{1}{1166400} eines Haares, und
\frac{1}{1281968101010} Zoll.
Wenn Jurinus aus der erblikkten Groͤſſe eines Sil-
berdrathes, der gegen \frac{1}{1948} eines Zolles dikker und zehn
Fuß
[967]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
Fuß weit unter einem Winkel von drittehalb Secunden
geſehen wird, weitere Folgerungen zieht, ſo findet er,
was den Menſchen betrift \frac{1}{144000} Theil eines Zolles (x).
Endlich folgt aus unſerer Beobachtung eine Subtilitaͤt,
welche alles vorige uͤbertrift.
Beruͤhmte Maͤnner glauben (y), daß eben dieſes auch
die Kleinheit einer Faſer in der Nezzhaut ſei, weil es ih-
nen bequem deucht, daß ein einziger und ganzer Ner-
venfaden auch von einem einzigen Bilde eingenommen
werde. Sie reden dahero von einem ſo unſichtbaren Fa-
den, welcher blos durch den Verſtand ausgemeſſen wer-
den kann: Denn es ſind die Faͤden der Nezzhaut groß,
deutlich zu ſehen, und doch nicht eben ſehr viel kleiner
als ein Kopf war, im Schleien ſehr dikk, und im Haa-
ſen ſehr zart.
Da die, aus dem Ende eines ſichtbaren Objects ge-
zogene Linien convergiren, und ſich in eine ganz kleine Li-
nie vereinigen muͤſſen (z), ſo kann man nicht vermeiden,
daß nicht der mittlere Strahl, welcher die Sehachſe ge-
nennet wird, von dem rechten Ende gegen das linke En-
de des Bildes, und derjenige, welcher von dem linken
Ende dieſes Objects koͤmmt, nach dem rechten laufen ſolte
(a). Daher mahlt ſich auch in dem kuͤnſtlich nachgemach-
ten Auge (b), oder in dem Auge eines jeden Thieres (b*),
P p p 4wie
[968]Das Sehen. XVI. Buch.
wie auch der Nachteule (c), das Bild auf der Nezzhaut
verkehrt ab. Es ruͤhrt auch dieſe Umkehrung nicht von
der Cryſtallinſe her (d): Denn ob dieſelbe gleich in der
That wie leicht zu erweiſen iſt, verkehrt mahlt, nach Art
der Vergroͤſſerungsglaͤſer (e), ſo aͤndert ſich doch im Au-
ge, wenn man die Linſe heraus nimmt (f), und den Glaß-
koͤrper allein behaͤlt, nichts in der Laage der Gegenſtaͤn-
de, und es kehren ſich die Objecte eben ſowol um.
Man hat vorlaͤngſt ſchon die Frage aufgeworfen, wie
die Seele in dieſem Falle den in dem Werkzeuge des Koͤr-
pers eingewurzelten Jrrthum verbeſſere. Einige wollen,
daß der Betrug des Auges von dem Verſuche des Fuͤh-
lens verbeſſert werde (g), und gemeiniglich lehrt man die-
ſes heut zu Tage ſo.
Andere wollen lieber, daß man nach einem gegebenen
Geſezze (h), Dinge recht ſehe, weil die Seele die Objecte
nicht auf der Nezzhaut (i), ſondern in derjenigen Stelle
und Laage ſieht, von der die Strahlen herkommen (k).
Jn dieſem Verſtande erklaͤret George Berkley die Sache,
aus einerlei Gruͤnden: Es ſeie die ſichtbare Erde, und
die fuͤhlbare Erde zwei verſchiedene Dinge: Man ſehe die-
ſe niedriger liegen, weil der Kopf eines aufrechtſtehenden
Menſchens, von derſelben aufs weitſte entfernt ſei (l), es
waͤren
[969]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
waͤren ihr die Fuͤſſe am naͤchſten, ſowol an der wirklichen
Erde, und wirklichen Menſchen, als an der ſichtbaren
Erde und den ſichtbaren Menſchen, die ſich im Auge ab-
mahleten. Es erſcheinen die obern Punkte eines Objects
in der That auf dem unterſten Theile des Auges, abge-
mahlt, aber doch deutlich, wenn man das Auge in die
Hoͤhe hebt, und die untern Punkte, wenn man herab
ſieht (m), da dieſelben an dem obern Theile des Auges
gemahlt ſind. Wir nennen aber den Menſchen aufrecht,
deſſen Kopf von der Erde den weiteſten Abſtand machet,
und deſſen Fuͤſſe der Erde am naͤchſten ſind.
Dieſen Saͤzzen zuwider, glaubt Nicolaus le Cat, es
durch einen Verſuch zeigen zu koͤnnen, daß die Seele al-
lerdings Sachen verkehrt ſieht. Denn wenn man mit
einem einzigen Auge ohne alle Aufmerkſamkeit und An-
ſtrengung einen nichten Punkt betrachtet, und den Fin-
ger, welchen man an der rechten Seite des offenen Au-
ges haͤlt, gegen die linke Hand bewegt, ſo ſcheine alsdann
uͤberhaupt der Finger (n), von der linken Seite gegen
die rechte zu fahren, und ſo umgekehrt: und es zeige ſich
in einem andern Verſuche eine kleine Nadel, welche man
durch ein kleines Loch ſehe (o), wirklich verkehrt, uͤbri-
gens ſehe die Seele im Auge und nicht an der wahren
Stelle, ſo wie ſie es mit den Finger beruͤhrt (p).
Es macht dieſe Sache Schwierigkeiten, weil wir in
einigen Exempeln grade ſehen, in andern verkehrt: Und
weil wir durch eine leichte Verdrehung des Auges, Dinge
convex ſehen, welche an Siegeln hohl ſind, und im Gegen-
theil, wenn man grade ſiehet, ſo wie gemeiniglich das
Vergroͤſſerungsglaß, bauchige Dinge hohl erſcheinen laͤſt
(q), indem wir die Convexitaͤt von der Coneavitaͤt, blos
durch die Laage des Schattens, auf der linken oder rech-
P p p 5ten
[970]Das Sehen. XVI. Buch.
ten Seite des Objects unterſcheiden. Jndeſſen ſcheint
es doch ganz zuverlaͤßig zu ſein, daß dieſes nicht von der
Gewohnheit herkomme, indem vor kurzen aus dem Ei
gekrochene Huͤner, gradesweges zu der Speiſe hineilen,
welche ſie auf der wirklichen fuͤhlbaren Erde ſuchen, und
nicht auf der ſichtbaren Erde, die in der Luft ſein wuͤrde.
Doch es fliehet auch eine Gans grade auf die Dinge zu,
die ſie ſucht, und es ſehen blindgebohrne Menſchen die
Objecte nicht verkehrt (r), wenn man ihnen eben den
Staar ſticht.
Wir muͤſſen die Erklaͤrung dieſer Erſcheinung in
mehrere Fragen zergliedern.
Erſtlich iſt es an ſich gewiß, daß wir nur ein ſehr ge-
ringes Theilchen zu einerlei Zeit und deutlich ſehen,
ſo wie dasjenige groͤſſer iſt, als was wir undeutlich ſehen.
Es wird daher uͤberhaupt das Bild vieler Koͤrper zu ei-
nerlei Zeit im Auge abgemahlt: Die Seele aber empfin-
det nur einen einzigen Koͤrper deutlich (s). Die Sache
iſt bei den Leſen der Buͤcher augenſcheinlich zu bemerken.
Wir ſehen zwar mit Verwirrung das ganze Buch, um
aber deutlich die Fehler eines Buchſtabens zu bemerken
(t), ſo ſehen wir nur einen einzigen Buchſtaben: Und
endlich an dieſem Buchſtaben nur einen einzigen Flekk:
Es
[971]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
Es folgt alſo derjenige uͤberhaupt, welcher lieſt, in der
Stille mit ſeinem Auge der Reihe der Buchſtaben nach,
und ſpricht einen nach dem andern aus. Es iſt zu ver-
muthen, daß ſich derjenige Punkt, welchen wir auf das
allerdeutlichſte ſehen wollen, gegen das Ende der Seh-
achſe zu drehe, wo uͤberhaupt die ſtaͤrkſten und ſenkrechte
Strahlen auf die Nezzhaut fallen (u). Wenn wir uns
ja uͤberreden, viele Dinge und dennoch deutlich zu ſehen
(x), ſo iſt dieſes ein Jrrthum, welcher aus der Dauer
des Eindruks entſtehet, den unſer Auge empfunden hat.
Es vergehet nemlich nicht ploͤzzlich, und ohne einen klei-
nen Zwiſchenraum von Zeit, ſo wie ſich der erblikkte Koͤr-
per entfernt, auch zugleich das Bild deſſelben mit: ſon-
dern es bleibt noch daſſelbe zuruͤkke, und zwar um deſto
laͤnger, je lebhafter es war. Es iſt nichts bekannter als
ein Stab, an deſſen Ende blos die gluͤhende Kohle leuch-
tet (y). Wenn man dieſen Stab etwas ſchneller herum
ſchwingt, ſo ſieht man ſein Bild nicht unter der Geſtalt
eines Stabes, ſondern eines feurigen Kreiſes: welches ein
offenbarer Beweiß iſt, daß der Eindrukk des Stabes
ſo lange fortgedauret habe, bis deſſen Spizze nach Vol-
lendung des Cirkels an eben dem Punkt wieder zuruͤkke
gekommen, aus welchem man ihn das erſtemal erblikkte.
Auf eben dieſe Weiſe machen auch gefaͤrbte Radii, wenn
ſie wie ein Rad umgedrehet werden, einen weiſſen Schein
aus (z). Man hat dieſe Zeit wie lange das Bild dauern
ſoll, auf eine Secunde geſchaͤzzt (a).
Auf ſolche Weiſe ſchwebt uns ein von der Sonne oder
an einem uͤbermaͤßig hellen Koͤrper betrachteter leuchtende
Flek-
[972]Das Sehen. XVI. Buch.
Flekke, ſehr lange vor den Augen (b), und es werden
die Farben allmaͤhlig dunkler, indem ſie nach der Reihe
der abnehmenden Staͤrke einer jeden Farbe, alſo auf ein-
ander folgen, daß erſtlich ein leichter Schein, hierauf
ein gelber Flekken, alsdenn die gruͤnen, hiernaͤchſt die
blauen, und endlich die violetne Flekken kommen: Und
zwar in eben der Ordnung, wie die Farben an einem ge-
riebenen Auge (c), oder an aufgehaͤngten Perſonen auf
einander fogen (d).
Einige Menſchen koͤnnen verſchiedene Bilder (e), wie
auch die Scheiben der Fenſter mit ihren Blei eine Zeitlang
vor Augen ſchwebend erhalten, daß ſie ſelbige ſo gar zu
zaͤhlen vermoͤgen.
Wenn wir daher unſer Auge geſchwind herum wen-
den, ſo glauben wir viele Objecte zugleich deutlich geſehen
zu haben: Denn es iſt noch nicht das Bild der erſteren
Dinge, aus der Gegenwart unſerer Seele verdraͤngt wor-
den, wenn ſich ſchon das lezzte einſtellt (f).
So wie wir einen einzigen Punct des Objects deut-
lich ſehen, ſo bedienen wir uns gemeiniglich, wenn wir
deutlich ſehen wollen, nur eines einzigen Auges (g). Es
iſt
[973]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
iſt dieſes ein Verſuch der Mahler, welche durch Erfah-
rung gelernet haben, daß ſie das Sehen nicht vollkom-
men nachahmen, noch auf ihrer gemahlten Tafel in den
Auge eben dieſelbe Empfindung hervor bringen, welche
durch die Koͤrper ſelbſt hervorgebracht wuͤrden, woferne
ſie die Schatten, die helle Stellen, und die Anblikke von
der Seite nicht auf eben ſolche Weiſe vertheilten, wie ſie
ſich vertheilen, wenn wir ſie mit einem einzigen Auge an-
ſehen (h). Es pflegt dieſes Auge, wie ich davor halte, wegen
Bequemlichkeit der rechten Hand, auch das rechte Auge
zu ſehen (i), welches deswegen auch in mir, und wie ich
vermuthe in andern Menſchen von dem vielen Gebrauche
ſtumpf iſt. Man hat auch Verſuche vorgetragen, wor-
aus erhellet, daß man mit einem Auge viel deutlicher ſe-
hen koͤnne, als mit zweien (k): Und dergleichen Verſuche
haben vorlaͤngſt Jaͤger und andere Leute gemacht, welche
den Sehpunkt auf das genaueſte wiſſen wollen. Jndem
dieſe nemlich blind ſind, ſo bedienen ſie ſich nur eines
Auges. Man behauptet auch, daß die Augen niemals
gegen einander convergiren (l), und man will, daß die
Sehachſen paralel fortlaufen, und ſich zu gleicher Zeit bei-
de Augen, entweder auf die rechte oder linke Seite dre-
hen. Es wuſte jemand nicht, daß er den Staar hatte,
bis er zu weilen das geſunde Auge zu machte, und ſich
ploͤzlich in der Finſterniß befand (m). Es ſahe jemand
nur mit einem Auge, und dieſen fuͤhrt le Clerc an (n):
ſo ſehen mit einem, und beſſern Auge diejenigen deren Au-
gen ungleich gut ſind (o), und die Einaͤugigen (p). Jch
habe
[974]Das Sehen. XVI. Buch.
habe auch die Probe gemacht, und bin dadurch uͤberzeu-
get worden, daß ich mich nur eines Auges bediene, ob
ich ſie gleich beide offen habe. Jch halte mir eine Nadel
vor das rechte Auge, ich ſchlieſſe dieſes zu, und ich ſehe
dieſe Nadel mit dem linken Auge. Ploͤzzlich mache ich
das linke Auge zu, und oͤfne das rechte, ſo verrichtet die
Nadel einen deutlichen Sprung auf die linke Hand. Jch
oͤfne hierauf beide Augen wieder, ſo aͤndert ſich die Laage
der Nadel nicht im geringſten, und dieſe Laage muͤſte
doch, in den Raum mitten zwiſchen den Augen uͤberge-
gangen ſein, wofern ich mich der beiden convergirenden
Achſen der Augen zum Sehen bediente.
Darum aber ſehen wir doch niemals (q) mit beiden
Augen, denn wir ſehen mit dem linken Auge dasjenige
(r), was das rechte Auge nicht ſehen kann, und folglich
nehmen wir mit beiden Augen, wie man ſagt, ein groͤſſe-
res Feld ein, wir entdekken an einerlei Object mehrere
Theile und mehrere Objecte, wir urtheilen von der Di-
ſtanz beſſer (s), und ſehen endlich zwar nicht doppelt ſo
hell (t), aber doch etwas heller (u). Daher ſagen einige
beruͤhmte Maͤnner unſerer Zeit, daß ſie ſich beider Au-
gen zum Sehen bedienen (x).
Was mich betrift ſo bediene ich mich offenbar eines
einzigen Auges zum Leſen, Schreiben, oder zu den Ver-
groͤſſerungsglaͤſern, und ich koͤnnte mich nicht des linken
bedienen, indem daſſelbe von der alten Ruhe ſo weichlich
geworden, daß es von der geringſten Arbeit angegriffen
wird.
[975]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
wird. Nothwendig muͤſſen die Voͤgel (y) nur mit einem
Auge ſehen, indem ihre Augen ſo ſeitwaͤrts liegen, daß
ſich ihre Achſen nicht vereinigen koͤnnen, und eben dieſe
Beſchaffenheit hat es auch mit vielen Fiſchen (z). Es
haben auch Menſchen ſehen koͤnnen, da doch keine Ver-
muthung geweſen, daß in ihnen auf irgend eine Weiſe
beide Augen zugleich Empfindungen haben koͤnnen. Von
dergleichen Art waren diejenigen Menſchen, die durch
verſchiedene Zufaͤlle, kein ander Geſicht als durch die Na-
ſe gehabt (a), dergleichen derjenige war, welcher blos
durch die linke Naſe ſehen konnte, weil ſeine Augenlieder
verkehrt waren (b). Ein anderer ſahe mit aufrechten
haͤngendem Auge (c), und ein anderer, deſſen Stern ſo
einwerts gezogen war, daß dieſer Stern faſt den inwen-
digen Augenwinkel beruͤhrte (d). Es ſind auch die Exem-
pel nicht ſelten, daß ein Geſchwulſt, das eine Auge aus
der Augenhoͤhle heraus treibet, und dennoch ſehen dieſe
Leute nicht gedoppelt (d*). Alle dieſe wuͤrden gewiß
doppelt geſehen haben muͤſſen, wofern nicht ein Auge al-
lein ſieht.
Ob wir gleich mit beiden Augen nicht deutlich ſe-
hen, ſo ſehen wir doch mit beiden, und es mahlen ſich
alſo zwei Bilder des geſehenen Koͤrpers ab. Man hat
die Frage aufgeworfen, warum daraus in der Seele nur
eine
[976]Das Sehen. XVI. Buch.
eine einzige Empfindung und eine einfache Vorſtellung
dieſes Koͤrpers entſtehe.
Die Alten bedienten ſich (e) um dieſe Erſcheinung zu
erklaͤren der beiden Sehnerven.
Andere meinen, daß ein einziges entſtehe, weil wir
uͤberhaupt nur mit einem Auge ſehen (f), und alles dop-
pelt ſehen wuͤrden, wofern wir beide Augen brauchten.
Andere ſagen, weil die Seele das Object ſehe, in dem
Zwiſchendurchſchnitte der Achſe (f*) beider Augen.
Andere, weil die Faſern der Nezzhaut auf verſchiede-
ne Weiſe geſpannt, und die aͤuſſerſten Faſern des rechten
Auges mit der aͤuſſerſten des linken, ſo wie die innerſten
mit den innerſten, und die uͤbrigen mit ihren gleicharti-
gen geſpannt ſind. Wenn daher an dem rechten und
linken Auge, harmoniſche Seiten (g) von den Strahlen
des ſichtbaren Objects getroffen werden, ſo entſtehet nur
eine einzige Empfindung: Hingegen werden alle Dinge
doppelt, wenn am rechten Auge andere, und am linken
wieder andere Faſern getroffen werden. Die Neuern
wißen dieſes ſo zu deuten, daß ſie die Faſern weglaſſen,
und correſpondirende Punkte an der Nezzhaut annehmen
(h), welche in beiden Augen von gefaͤrbten Strahlen ge-
troffen werden, und ſie glauben, daß ſie Dinge doppelt
ſehen, wenn ſich das Bild nicht in gleichartigen Punkte
beider Augen abmahlet (i).
Andere laͤugnen uͤberhaupt, daß man im Auge das
Sehen verrichten koͤnne, oder auſſer den Augen, ſondern
es
[977]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
es ſoll daſſelbe vielmehr inwendig in der Wohnung der
Seele geſchehen (k), welche nicht gedoppelt ſei.
Andere ſagen, man koͤnne uͤberhaupt ſehr aͤhnliche
Empfindungen nicht von einander unterſcheiden, und es
wuͤrden beide Augen auf gleiche Art geruͤhret (l).
Andere wollen endlich, daß wir Dinge gedoppelt ſe-
hen, daß wir aber durch Erfahrungen, den Fehler
des Auges verbeſſern (m). Es geſchehe auch blos aus
Gewohnheit (n), daß wir die Sehachſe auf einen einzi-
gen Punkt richten lernen.
Hiezu ſezze man noch, daß manche einige von dieſen
Bedingungen mit einander verbunden haben.
Wenn ich fuͤr meine Perſon die Krankheiten erwehne,
ſo finde ich, daß auch ein einziges Auge, ein doppeltes
und vielfaches Sehen haben koͤnne. Jch ſehe einen vor-
nehmen Mann vor mir, an deſſen Hornhaut, wegen des
ausgezogenen Staares (o), die Narbe glaͤnzend iſt. Die-
ſer ſiehet die Fakkeln doppelt, ſo wie man ſie durch ein
vielſeitiges Glaß ſieht (p). Und wenn ſie noch weiter
entfernt, ſo erſcheinen ſie ihm gar vierfach, welches aber
nicht mit den uͤbrigen Objecten eben ſo zugehet. Eben ſo
geſchieht es auch, wenn man durch zwei oder drei ſehr
nahe Loͤcher ein Object beſieht, welches in dem deutlichen
Sehungspunkt ſich befindet, ſo erſcheinet daſſelbe einfach
(q), vielfach aber, wenn es ſich auſſerhalb dieſem Punkte
befindet (r). Denn es fallen nunmehr die Bilder auf
die
H. Phiſiol. 5. B. Q q q
[978]Das Sehen. XVI. Buch.
die verſchiedenen Punkte der beiden Nezzhaͤute. Man
hat auch noch andere Exempel von einem doppelten
Sehen, wovon die Urſache in einem widernatuͤrlichen
Stern (s), in ſchwankenden Sternen (t), und in einer
aus ihrem Lager verruͤkkten Cryſtallinſe (u), die an der
Traubenhaut angewachſen (x) geſtekkt haben muß: End-
lich iſt auch dieſer Fehler von dem heftig leuchtenden Bil-
de des Mondes entſtanden, und dieſer ſcheint die Nezz-
haut des einen Auges ſo ſtark getroffen zu haben, daß es
viel zaͤrter und ſchwaͤcher als das andere geworden, und
eine andere Empfindung angenommen (y).
Es iſt ferner ein anderer Fehler, wenn bei einem ein-
zigen Auge das Object einfach, und bei zweien doppelt er-
ſcheinet (z). Es geſchiehet, ſo oft die Augen, es geſchehe
aus welcher Urſache es wolle, ſich nicht ſo wenden, oder
convergiren koͤnnen, daß die Sehachſen zuſammenfallen,
und folglich die Bilder auf aͤhnliche Punkte der Nezzhaͤu-
te beider Augen fallen, und dennoch der Menſch mit beiden
Augen ſehen will (a). Es geſchiehet dieſes durch eine willkuͤhr-
liche Verdrehung, und es kann dieſes ein jeder an ſich erfah-
ren: Oder wenn man es mit den Finger macht (b), oder
durch Krankheiten (c), wenn die Pupille verdrehet worden
(d), oder wenn die eine Pupille hinauf, die andere hin-
gegen herabgebogen iſt (e): Oder von einer Exoſtoſis (e*),
oder
[979]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
oder von Schlagadern, welche auf die Sehnerven klopfen
(f), wohin vielleicht, aber auch zu der weniger veſten Umbeu-
gung der Muſkeln in einem einzigen Punkt, die doppelten
Bilder der trunkenen und furchtſamen Leuten, indem die-
jenigen, welche die Daͤcher hoher Thuͤrmer ausbeſſern,
gemeiniglich ſogleich ſchwindlich herunterfallen, wenn ſie
Dinge doppelt zu ſehen anfangen. Eben ſo iſt auch das
doppelte Sehen beſchaffen, woran der Fehler eines Muſ-
kels ſchuld iſt, der ſeine Bewegung verlohren hat (g).
Es beziehet ſich alles dieſes darauf, daß wir ein ein-
ziges Object ſehen, ſo oft die Empfindungen einander
aͤhnlich ſind, doppelt aber, wenn dieſelbe unaͤhnlich ſind,
und dieſes geſchiehet ebenfalls, es moͤgen unaͤhnliche Em-
pfindungen in einem Auge entſtehen oder in zweien. Es
entſtehet aber eine andere Empfindung, wenn entweder in
einerlei Auge die Bilder auf zwei verſchiedene Punkte der
Nezzhaut auffallen, oder wenn in beiden Augen die
Sehwinkel einander ungleich ſind, und folglich unter
Bildern ein Unterſchied iſt (i). Es erhellet auch, daß
das Auge nicht eine andere beſondere Natur habe, da wir
auch mit zwei Naſeloͤchern einen einzigen Geruch, und mit
zwei Ohren einen Schall vernehmen.
Es thut hier die Vereinigung der Nerven nichts, da
dergleichen in Gehoͤrnerven nicht ſtatt findet (k), noch
dieſes bei den Augen der Raupen (l), oder anderer Jnſek-
ten vorkoͤmmt: Noch hierdurch nach Gewohnheit gehandelt
wird, indem die neulich ausgekrochene Biene mit ihren
tauſend Augen eben ſo genau nach dem verlangten Bie-
nenkorbe flieht, als ſie nach langer Erfahrung fliegen
wuͤrde. Und es haben auch diejenigen nicht doppelt geſe-
hen, die mit einem Staare gebohren waren, und ihr
Geſichte ploͤzzlich wieder bekommen. Wenn einige ſchie-
Q q q 2lende
[980]Das Sehen. XVI. Buch.
lende nach einen doppelten Geſichte ein einfaches erlangt
hatten (m), ſo iſt es glaublich, daß ſie wegen eines feh-
lerhaften Muſkels, Dinge doppelt geſehen, und dieſen
Fehler durch eine gegenſeitige Bemuͤhung, ſo wie ſie ſich
gemeiniglich ſelbſt verbeſſern koͤnnen.
Das einfache Sehen der Jnſekten laͤſt ſich ſchwer er-
klaͤren: Denn da ſowol die gegitterten Augen (n), als
die glatten wirkliche Augen ſind (o): Da ein einziges Au-
ge ſehr zahlreiche Hornhaͤute hat (p), darunter eine jede
die Faͤhigkeit beſizzet, ein Bild aufzufangen (q): und da
dieſe Hornhaͤute nach Art einer Halbkugel gegen alle Thei-
le gelagert ſind, ſo kann es unmoͤglich geſchehen (r), daß
die Sehachſen zuſammentreffen ſollten, und es koͤnnen die
Ruͤhrungen, die der geſehene Koͤrper verurſachet, nicht
in einem und eben demſelben Nerven vereinigt werden.
Und da ferner in der Weidenraupe (s), und der Waſſer-
ſchnekke (s*), der Sehnerve offenbar nach Art eines zwei-
ten Nervens, ſechs Aeſte zu ſechs Augen ſendet, und auſ-
ſerdem noch Zweige zu den uͤbrigen Theilen des Koͤrpers
abgiebt, ſo wird man das obige wahr befinden.
Es haben beruͤhmte Maͤnner ſich gewaget, dieſen Kno-
ten damit aufzuloͤſen, daß die Fliege bei ihren unzaͤhligen
Augen dennoch nur mit wenigen ſehe, und daß ſie das
eine grade gegen die Sache hin richte, und mit den zwei
oder drei naͤchſten dahin ſchiele (t). Sie glauben auch,
daß
[981]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
daß dieſe Menge Augen die vollkommene Unbeweglichkeit
der Augen und des Kopfes ſelbſt erſezzen (u).
Auf der Nezzhaut mahlet ſich niemals ein Bild ab
(x), welches nicht ohne alle Verwirrung ſein ſollte. Es
bricht nemlich eine jede ſphaͤriſche Linſe die Strahlen un-
gleich, weil die Seitenſtrahlen mit einer gar zu groſſen
Kraft, auf eben den Punkt getrieben werden muͤſſen, auf
welchen die mittlern Strahlen zuſammen kommen, welche
ſonſt von dem Perpendikul wenig abweichen. Es bricht
ſich ferner nach einem andern Geſezze, der rothe Strahl
nach einen andern der violetne, und es waͤre alſo die Kraft
der Linſe, die einen violetnen Strahl zu den beſtimm-
ten Punkte der Achſe biegt, nicht hinlaͤnglich den rothen
Strahl auf eben dieſen Punkt hinzubiegen.
Jndeſſen kommen doch hier, und im Auge ſowol, als
auſſer dem Auge, Bedingungen vor, welche machen, daß
ſich ein deutliches oder verworrenes Bild auf der Nezz-
haut abmahle.
Hiezu gehoͤren nun vollkommene, und vollkommen
reine und hoͤchſt durchſichtige Feuchtigkeiten, und wenn
dieſe nur ein wenig truͤbe ſind, ſo verurſachen ſie ein bloͤ-
des Geſichte: Jch zaͤhle aber zu dieſen Feuchtigkeiten die
Hornhaut mit. Nun finden ſich dergleichen Feuchtigkei-
ten, in einem erwachſenen Menſchen niemals, da die Cry-
ſtallinſe von ſelbſt gelbe wird, und endlich in alten Per-
ſonen ziemlich gelbe iſt (z). Wir ſehen aber darum Din-
Q q q 3ge
[982]Das Sehen. XVI. Buch.
ge nicht gelbe, wie auch gelbſuͤchtige Perſonen (a), die
Objecte nicht gelb ſehen: Woferne jemals die Hornhaut
an gelbſuͤchtigen wirklich gelbe geweſen iſt. Sie iſt an
vielen Fiſchen gelblich, und gemeiniglich an neugebohrnen
Thieren roͤthlich. Jndeſſen laͤſt ſich doch zweifeln, daß
ſie alles durch eine gelbe Linſe, blas und die Farben un-
rein ſehen ſollten, ſo wie alte Perſonen (b) allezeit die
Farben der Dinge ſchwaͤcher, und alle Dinge uͤberhaupt
verworrener finden.
Es gehoͤret ferner eine vollkommene Camera obſcura
dazu, wenn keine andere Strahlen ausgenommen auf den
Boden der Nezzhaut auswendig bei dem Eintritte des
Sehnervens fallen ſollen. Wenigſtens hat die Natur im
Menſchen, in den Voͤgeln (c), Fiſchen, im Schwein und
Haaſen unter den vierfuͤßigen Thieren, alle Grenzen der
Seitencryſtallinſe mit groſſem Fleiſſe, mit einer ſchwarzen
Farbe ausgefuͤlt, und die ganze inwendige Flaͤche der ruy-
ſiſchen Haut betuſcht (c*), damit nicht einige Strahlen
die
[983]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
die von dieſer Haut zuruͤkkprallen, die rechtmaͤßigen aus-
genommen, ins Auge fallen moͤchten.
Vielleicht ſind ſie darum auch klebrig, damit die ſchwar-
zen Theilchen vom Blute geſchieden wuͤrden (d), und ſich
im Auge reinere Feuchtigkeiten blikken laſſen.
Jn andern vierfuͤßigen Thieren, welche des Nachts
auf Raub ausgehen (e), oder weiden (f), iſt die Ader-
haut in der That glaͤnzend oder leuchtend (g), daß aus
dem Auge der Kazzen ſogar der Glanz hervorzudringen
ſcheint, welches auch vom Wolfe (h) und in einigen Jn-
ſekten (i) anzutreffen iſt. Jn dieſen Thieren koͤnnen ſich
die Bilder auf der Nezzhaut nicht voͤllig rein abmahlen
(k), weil die Strahlen, welche auf den leuchtenden Theil
der Tapete auffallen, vermoͤge der Refraktion auf einen
fremden Theil der Nezzhaut geworfen waͤren. Der Glanz
von dem einigen Menſchen geglaubet, daß er aus ihren
Augen (l) nach Art dieſer Thiere gefloſſen, und welchem
ſich nach dem Gedanken des Auguſtus, das Auge des
Zuſchauers unterwerfen muß, ruͤhret einzig und allein von
dem ſehr reinen und geſpannten Bilde her, welches von
der Hornhaut abpralt. Es zeigt ſich nemlich im Men-
ſchen keine Tapete, und er hat im Auge nichts farbiges| (m):
er ſiehet auch weniger, als andere Thiere bei Nacht, und
es leitet das Pferd den Reuter beſſer, als der Reuter das
Pferd. Es muſte aber der Menſch auch die kleinſten
Q q q 4Din-
[984]Das Sehen. XVI. Buch.
Dinge genau ſehen, und er hat die Vernunft und das Feuer
in ſeiner Gewalt, um ſich des Nachts Licht zu verſchaffen.
Doch wir nikken auch mit den Augenliedern, und ver-
aͤndern den Stern (n), um die unnuͤzzen Strahlen aus-
zuſchieſſen, und man hat die Beobachtung gemacht, daß
die tief liegenden Augen, welche hohl ſind, und ſehr im
Schatten liegen, die beſten ſind (o), ſo daß es auch einige
gegeben hat, welche bei Tage die Sterne ſehen koͤnnen, und
zwar blos durch Huͤlfe dieſes Vortheils (p).
Es muß auſſerdem die Empfindlichkeit der Nezzhaut
ihre beſtimmte Grenze haben: Dieſe muß nicht zu reiz-
zend noch zu calloͤſe ſein, und ſie muß ſich zu jedem Thiere,
beſonders zu deſſen Lebensart proportioniren. Es iſt nicht
moͤglich, daß einerlei Auge ſowol zu groſſen, als zu ganz
kleinen, oder allein zu den violetnen Strahlen, und zu
den rothen gleich geſchikkt ſein ſollte (q).
Wenn die Nezzhaut gar zu wenig Empfindlichkeit hat,
als in alten Perſonen und in Thieren (r), alsdenn iſt
das Sehen nur bei groſſem Lichte verwirrt und ſchwach.
Dieſes Uebel koͤmmt nicht ſelten vor, und alsdenn koͤnnen
Menſchen nur, beim Sonnenglanze ſehen, indeſſen daß
ſie bei der Daͤmmerung ſelbſt, und beim brennendem Lichte
voͤllig blind ſind (s). Man ſagt, daß dieſes Uebel in Chi-
na
[985]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
na (t), ferner auf Barbades (u) bei den Maldivern (x),
und auf den Molukkiſchen Jnſuln (y), bei Moſambik (z)
in Braſielien (a), und auch in Pohlen (a*) haͤufig vor-
kommen ſoll. Dieſes wiederfaͤhret auch den Alten (b),
und es iſt ein Zufall bei einigen Krankheiten (b*), man
heilet daher die Uebel durch Reizungen, und Blaſen zie-
hende Mittel (b**), ſo daß man uͤberhaupt durch dieſe
Huͤlfe (b†), den in Nerven ſtekkenden ſchwarzzen Staar cu-
riert, und dieſes verſucht auch Taylor mit einem gereizz-
ten Auge zu thun. Von dieſer Art muͤſſen auch die Augen
der Brachmanen ſein (c), welche den ganzen Tag uͤber
in die volle Sonne unbeweglich ſehen.
Es ſcheint die gemeine Urſache dieſe zu ſein, daß Au-
gen, welche von der ſtrahlenden Sonne beſtaͤndig beſchie-
nen werden, ein geringeres Licht nicht achten (d), und
eben dieſes iſt auch die Urſache, warum ein jeder, der aus
einem hellen Orte in einen weniger erleuchteten koͤmmt (e),
nicht gut ſehen kann. Jemand der den Mond beſchauet, die-
ſem koͤmmt das weiſſe Pappier dunkel vor (g). Sieht man in
die Sonne, ſo folgt darauf ein ſtumpfes Geſicht (i), Wolken
(k) und ſchwarze Punkte (k*). Jn Egyten giebt es viel
Blinde (l). Von dem Glanze des Schnees haben viele Sol-
daten ihr Geſicht verlohren (m). Eine Nacht in der es
Q q q 5ſehr
[986]Das Sehen. XVI. Buch.
ſehr blizzte, brachte eine faſt epidemiſche Augenentzuͤndung
hervor (n). Es iſt auch das Nachtlicht viel ſchwaͤcher
(n*). Es konnte zwar Johann Swammerdam(o),
weil er mit Vergroͤſſerungsglaͤſern viel zu thun gehabt, in
der Mittagsſonne ſehen, nachher aber fand er in der Hel-
ligkeit des Tages nicht Licht genug zum Sehen. Warum
aber moͤgen die Huͤner des Nachts beſſer ſehen koͤnnen
als am Tage (o*)?
Eine andere Urſache kommt auf einen engen Stern
an, der wenig Licht durchlaͤſt (p), und wenig beweglich
iſt (q).
Dieſe Ungeſchikklichkeit bei wenigem Lichte zu ſehen,
(nyctalopia) erwehnen Antonius Maitreiean(r), und
Jacob Goillemeau(s), und unter den alten Oriba-
ſius(t), und Alexander Trallianus(u). Es nennen
nemlich andere dieſes Uebel (u*) Kazzenaugen (hemeralopia)
(x), und vormals haben ſich Hippokrates(y), Prißia-
nus(z), Janus von Damaſkus (a) und Gallenus(b)
dieſes Wortes in ihren verſchiedenen Werken auch ver-
ſchiedentlich bedient (b).
Eine dieſer ganz entgegen geſezzte Krankheit, verur-
ſacht eine gleichſam zukkende, oder uͤbermaͤßig empfindliche
Nezzhaut (c), und dieſes nennet man Kazzenaugen, wenn
wir nemlich bei Tage nicht gar zu wohl, beſſer aber bei
Nacht
[987]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
Nachte ſehen (hemeralopia). Es iſt dieſe Krankheit ei-
nigen Thieren angebohren, die bei Nacht jagen, und an
denen die Nezzhaut ohne Zweifel empfindlich, ſehr weit, und
die Hornhaut erhaben (d), der Stern groß (e), die Feuch-
tigkeiten ſehr durchſichtig (f), die Cryſtallinſe groß (g),
und dieſe Dinge alle beiſammen, oder doch wenigſtens
einige ſolche Eigenſchaften beiſammen ſind. Bei Nacht
ſehen die Jnſekkten, weil ſie keinen Regenbogen haben (h),
und die Lichtſtrahlen ohne allen Anſtoß, inwendig in das
Auge fallen koͤnnen. Es hat der nur bei Tage ſehende
Kefer einen groſſen Sehnerven (i). Es ſiehet das Opoſ-
ſum mit ſeiner kuglichen Linſe des Mittags ſchlecht (k),
und es giebt ein bloͤdes Geſicht im Mittage (k*).
Es giebt ſo gar ganze Voͤlker, welche nur bei Nacht
ſehen koͤnnen, und deren Aderhaut wie auch Regenbogen
roſenfarben ſind, und bei denen alſo nicht das mindeſte
vom Lichte verſchlungen wird. Dergleichen ſind die weiſſen
Neger (l) unter den Afrikanern (m), Amerikanern (n)
und Aſiaten (o): Jndem ihre Augen den ganzen Tag uͤber
tranen, und nur bei Nacht recht ſehen. Wahrſchein-
lichermaaſſen ſind die Kaninchen mit rother Aderhaut,
dergleichen Sonnenſcheue Thiere (p).
Man weiß auch hin und wieder von andern Menſchen
zu ſagen, welche des Nachts beſſer ſehen koͤnnen (q), und
darunter giebt es einige, bei denen die Entzuͤndung daran
Urſach iſt (r), ja man hat dieſelbe wieder geheilet, ſobald
man die Entzuͤndung vertrieben (s). So konnte ein
Menſch, wenn er vom Wein erhizzt war, des Nachts Brie-
fe leſen (t): und jemand der kleine Dinge nicht wohl ſehen
konnte, konnte ſie hernach mit einem entzuͤndeten Auge
gut ſehen (u). Dieſes Uebel, und daß man das Licht
nicht vertragen kann, entſtehet aus einer Empfindlichkeit,
welche durch langwierige Finſterniß verurſacht worden (x),
oder von einem breiten (y) oder unbeweglichen Stern (z).
Bisweilen iſt dieſes Uebel blos von weiſſen Augen-
wimpern entſtanden, und es konnte jemand beſſer ſehen,
ſobald er ſich dieſe Haare ſchwarz mahlte, wenn man die-
ſem Berichte trauen darf (a).
Wenn Thiere und Menſchen bei Tage, aber auch zu-
gleich bei Nacht ſehen koͤnnen, ſo muß ihre Nezzhaut im
geringern Grade, aber doch noch zu ſehr empfindlich ſein.
Von Menſchen hat man viele Exempel aufzuzeigen.
Es ſoll Tiberius bei Nacht haben ſehen koͤnnen, wenn
er aufgewacht: Und dieſen Vorzug ſollen auch viele ge-
lehrte Maͤnner gehabt haben, als Asclepiodorus(c),
Ska-
[989]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
Skaliger Vater und Sohn (d), Cardanus(e), Ca-
lius Rhodigius, J. Baptiſta Porta, Sabelli-
cus(f), S. Petit, Takkus(g), D. von Mairan(h)
und andere unbekannte Maͤnner mehr (i), darunter eini-
ge funfzehn Minuten (k) und ganze Stunden, bei Nacht-
zeit geleſen haben ſollen.
Vermuthlich muͤſſen dergleichen Leute bei einer em-
pfindlichen Nezzhaut kurzſichtig geweſen ſein, und es muß
ihre convexere Hornhaut (l), bei einerlei Lichte mehr
Strahlen aufgefangen haben (m): Und dennoch muͤſſen
ſie einen beweglichen Stern gehabt haben, um ſich vor
dem Tageslichte in Acht nehmen zu koͤnnen. Denn es
ſchuͤzzt der Stern, welcher ſich aus ſeiner Rundung in die
Figur einer engen Spalte (n) zuſammenzieht, das Auge
der Kazzen bei Tage, und dennoch faͤngt derſelbe, wenn
er ſich des Nachts von der Spalte zu ſeiner Rundung er-
weitert, ſo viel Licht auf, als gnug iſt. Jndeſſen iſt es
doch nicht nothwendig, daß ſich der Stern zu einer ſol-
chen Rizze zuſammenziehe (o), weil bei Eulen ſchon das
dritte Augenlied dazu hinlaͤnglich iſt. Man glaubt, daß
die glaͤnzende Aderhaut in einigen Thieren etwas dazu
beitragen ſoll (p).
Haͤtten Leute, welche aus der Finſterniß ans Licht
treten, dieſe Huͤlfe nicht, ſo wuͤrden ſie auf der Stelle
blind
[990]Das Sehen. XVI. Buch.
blind (q), oder wenigſtens doch wie vom Blizze geruͤhret,
getroffen werden (r), oder in Ohnmacht ſinkken (s), und
heftige Schmerzen leiden (t). Unter den Torturen, des
wachſamen Tyrannen Dionyſius (u), war auch dieſes eine
Marter mit, daß er die Leute in ein ſehr dunkles Gefaͤng-
niß werfen, und nachgehends mit einmal an das Licht
ſtellen ließ. Es kann ſich nemlich der Stern, welcher
ſich im dunklen ſehr erweitert, nicht ſo geſchwinde wieder
enger machen, und es verbrennt ein Licht, welches ploͤzzlich
auf die hoͤchſt empfindliche Nezzhaut auffaͤlt, ſo zu reden,
den zarten Nervenmark. Dahero muͤſſen auch diejenigen,
deren innwendiges Auge, nach Wegraͤumung des Staa-
res nunmehr das Licht zulaͤſt, nothwendig Huͤllen vor den
Augen haben, oder ſich einige Zeitlang die Augen ver-
binden laſſen (x): Jndem auf ein gutes Auge, welches
man zuhaͤlt, gleichſam den Blizz eines Demanten ſieht
(y), wenn man es oͤfnet.
Es erweitert ſich nemlich der Augenſtern im Menſchen
in vollkommener Dunkelheit bis dahin, daß jener Mann
beim Boyle in ſeinem Gefaͤngniſſe unter der Erde (z),
ſogar Maͤuſe unterſcheiden konnte, deren Farbe doch ſchon
an ſich finſter iſt. Und daher gehoͤret auch zu den naͤcht-
lichen Beobachtungen mit den Sehroͤhren weniger Licht
(a). Einem Auge, welches relaxirt geworden, ſcheint ein
Object netter zu ſein, als durch ein Teleskop (b), und
dieſes iſt der Grund, warum wir beſſer ſehen koͤnnen,
wenn wir aus dem Dunklen ins Licht ſehen, als wenn wir
aus
[991]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
aus dem Licht ins Dunkle blikken: weil unſer Stern im
dunkeln weit, und an einem lichten Orte enger iſt. Wer
aus einer Gruft in die Hoͤhe ſieht, glaubt das Tageslicht
auf ſich herabblizzen zu ſehen (c).
Wir leſen auch, daß oft beide Augen eine ſehr un-
gleiche Staͤrke haben, und man mit dem einem das Gel-
be, anders als mit dem andern, oder das Gruͤne blau
ſehen ſoll: Mit dem andern will man hingegen, vielleicht
weil es empfindlicher war, Sachen roͤther geſehen haben
(d). Hier war vielleicht das rechte Auge calloͤſer (e).
Es koͤmmt die Vollkommenheit im Sehen darauf an,
daß das Bild recht groß ſei, um daran viele Theile un-
terſcheiden zu koͤnnen, daß es aber dennoch ſehr deutlich
ſei, damit wir uns die Eigenſchaften, die ein jeder Theil
dieſes Bildes an ſich hat, bekannt machen, daß ferner
dieſes Bild ſehr lebhaft ſei, um die Seele ſo viel als moͤg-
lich iſt, auf das ſtaͤrkſte zu ruͤhren, und dennoch muß
das Auge davon nicht verlezzt werden.
Endlich wird zu einem guten Geſichte noch erfordert,
daß derjenige Koͤrper, deſſen Bild ſich auf der Nezzhaut
mahlen ſoll, vom Auge ſo weit abſtehen ſoll, daß die
brechende Kraͤfte des Auges zuſammengenommen, den
Brennpunkt der Strahlen, die von dieſem Koͤrper her-
kommen, auf die empfindende Stelle der Nezzhaut, nem-
lich auf die Achſe, und auf die zu naͤchſt angrenzende Stel-
le des Auges werfen.
Man erſiehet nemlich aus den obigen ſehr leicht, daß
Strahlen je weiter ſie herkommen, deſto peraleler unter ſich
fortlaufen: daß ſie alſo um deſto weniger von der Achſe ab-
weichen, und von deſto weniger Kraͤften der Hornhaut und
der
[992]Das Sehen. XVI. Buch.
der Cryſtallinſe, in einen Brennpunkt gebracht werden:
Denn je weiter ein Koͤrper abſteht, unter deſto kleinern
Winkel kommen die Strahlen her. (f).
Jſt hingegen der ſichtbare Koͤrper ſehr nahe, ſo wird
der Winkel, der von ihm herruͤhrenden Strahlen groͤſſer,
und folglich fahren ſie weiter auseinander, um ins Auge
zu fallen, und ſie brauchen groͤſſere Kraͤfte zum Brechen,
eine convexere Hornhaut, eine rundere Cryſtallinſe, und
es muß dieſes alles ſchon dichter ſein.
Nun iſt die Diſtanz der Lichtſtrahlen, die von ſicht-
baren Koͤrpern zu uns kommen, bei jedem Menſchen ſo
beſchaffen, daß ſie, wenn ſie ins Auge dringen, auf der
Nezzhaut ihren Brennpunkt machen. Man nennet die-
ſes den deutlichen Geſichtspunkt.
Wer dieſes in Betrachtung ziehet, wird bemerken,
daß wenn ein Koͤrper weiter abliegt, als dieſer Punkt,
mehr paralele Strahlen eher in einen Brennpunkt zuſam-
men lauffen, als ſie die Nezzhaut erreichen, und daß ſich
ſolchergeſtalt die Strahlen hinter dem Brennpunkte wie-
der auseinanderbreiten: es kommen alſo die Strahlen zer-
ſtreut auf die Nezzhaut, und werden einen Flekken, nicht
aber einen Brennpunkt machen. Und davon ruͤhrt ein
verweitertes Sehen her (g).
Jſt hingegen der Koͤrper, welchen wir ſehen, gar zu
nahe, ſo werden von ihm gar zu divergirende Strahlen
herkommen, indeſſen daß die Kraͤfte des Auges nicht hin-
laͤnglich ſind, ſie in einen einzigen Punkt zuſammen zu
bringen, folglich wird der Brennpunkt hinter die Nezz-
haut fallen, und es werden auf dieſe Nezzhaut Strahlen
fallen, die noch nicht geſammlet ſind. Niemand ſieht
die ganz nahen Dinge deutlich, noch dasjenige was das
Auge beruͤhrt (h).
Nun iſt dieſer Punkt ſowol in verſchiedenen Menſchen,
als auch oͤfters in einem Menſchen (i) verſchieden, indem
zwei Augen verſchiedene Kraͤfte haben, und das eine die
entfernte Dinge, das andere die nahen beſſer ſiehet. Man
kann ſich auf Schriftſteller verlaſſen, welche berichten,
daß das eine Auge ſieben, das andere dreizehen Zoll (k)
zur Diſtanz dieſes Punkts gehabt, und daß in einem an-
dern Exempel dieſe Diſtanzen zwoͤlf, und drei Zoll gewe-
ſen (l). Jn den ſchielenden iſt dieſe Verſchiedenheit von
zwanzig Zoll, bis drei Fuß (m), und von vier Fuß bis
zwoͤlf.
Auf fuͤnf dreiviertel Linie (n), ſechs (o) und ein halb,
und ſieben (p), ſieben und ein halb, und acht Zoll(q), ſezzt man
an einem guten Auge den Punkt des deutlichen Sehens,
und an jungen Leuten auf fuͤnf (r). Jurin ſezzt ihn auf
fuͤnf bis ſieben Zoll (s), und la Hire auf einen Fuß (t).
Da aber kleine Dinge auf andere Art beſſer, und
groſſe Dinge wieder anders geſehen werden, und man
kleine Dinge weiter, groſſe aber naͤher ſtellen muß, ſo
giebt es in einerlei Menſchen einige Breite in dem deutli-
chen Sehen (u). Von neun Zoll bis fuͤnf, ſahe der beruͤhmte
Porterfield(x), andere ſezzen dieſes von acht bis zwan-
zig
H. Phiſiol. 5. B. R r r
[994]Das Sehen. XVI. Buch.
zig Zoll (y), zwiſchen einem Fuß und druͤber, und einem
halben Fuß ſchraͤnkt es S. Yves ein. Wenn die Ob-
jecten ſehr erhellet ſind, konnte Jurinus auf vierzehn
Fuß und fuͤnf Zoll weit ſehen (z).
Es wuͤrde in dem menſchlichen Leben viel Nuzzen ſtif-
ten, wenn man gleiche Augen, und zugleich eine ſehr
groſſe Breite zwiſchen denen verſchiedenen Punkten des
deutlichen Sehens haͤtte (z*).
Diejenigen Perſonen bei denen der Punkt des deut-
lichen Sehens vom Auge wenig entfernt iſt, heiſſen my-
opes(a), weil ſie mit den Augen plinken: indem nemlich
ihre Hornhaut groß, und der Stern breit iſt, und viel
Licht auf ihre Nezzhaut faͤlt, ſo pflegen ſie ſich mit den
Augenliedern, und Augenbraunen, vor den uͤbermaͤßigen
Lichte zu beſchuͤzzen. Wie ich glaube ſo iſt Aetius, der
erſte, welcher die Kurzſichtigen mit Grunde ſo erklaͤret,
daß es Leute ſind, welche kleine, und mehr an die Augen
gehaltene Dinge ſehen (b), es iſt der Punkt ihres deut-
lichen Sehens, von dem Beruͤhren der Naſe gegen vier
Zoll.
Denen Kurzſichtigen ſcheinen alle diejenigen Dinge
groͤſſer zu ſein, welche das Licht auffangen, und brechen:
und es iſt ihre Hornhaut viel erhabner (c), wie ich mich
erinnere, am ganzen Haͤuſern von Kurzſichtigen, dieſen
Fehler ſchon mit bloſſen Auge entdekkt zu haben.
Welche vorragende Augen haben, koͤnnen nicht weit
ſehen (d), Kinder ſind, wegen ihrer convexen Hornhaut
kurzſichtig (e).
Es traͤgt ferner zu einem kurzen Geſichte, eine con-
vexere Cryſtallinſe (f), deren Convexitaͤten, Theile von
einer kleinern Kugel ſind, ferner wenn dieſe Linſe dichter
iſt, und vielleicht auch die uͤbrigen Feuchtigkeiten, wenn
ſie dichter ſind (g), das ihrige mit bei. Beide Urſachen
koͤnnen auch mit einander verbunden ſein (h).
Endlich wird das Auge (i) von der aufliegenden Laſt
der Feuchtigkeit, und von der Anhaͤufung des Bluts auf
die Augen (k) laͤnger, und zu dieſen Fehler hilft es viel,
und iſt vielleicht die Urſache, warum Kuͤnſtler die mit
feinen Sachen zu thun haben (k*), als die Petſchierſte-
cher, und Leute die viel leſen (l), gemeiniglich kurzſichtig
ſind. Und vielleicht iſt auch dieſes die Urſach, warum
unter wohlgeſitteten und gelehrten Voͤlkern (m), mehr
Leute kurzſichtig ſind, als in Nationen, welche von der
Jagd leben, Gebirge bewohnen, oder unter den Natio-
nalamerikanern (m*). Daher werden einige Menſchen
erſt gegen das fuͤnf und zwanzigſte Jahr kurzſichtig (n),
R r r 2weil
[996]Das Sehen. XVI. Buch.
weil ihr Auge von dieſen Urſachen allmaͤhlig laͤnger ge-
worden.
Jch bin auch nicht darwider, daß man von der
Menge der glaͤſſernen Feuchtigkeit, welche die Nezzhaut
von der Cryſtallinſe trennet, kurzſichtig werden koͤnne (o).
Gemeiniglich haben ſolche Leute auch einen breiten
Stern (p), indem die Menge der Feuchtigkeiten, den
Stern erweitern, und ihre Wenigkeit verengern hilft (q).
Von allen dieſen Urſachen ruͤhrt es her, daß ſie ent-
fernte Dinge dunkel, und ganz nahe deutlich ſehen: Jn-
dem ihr Bild, welches faſt von paralelen Strahlen ge-
mahlt wird (r), von einem geſunden Auge auf die Nezz-
haut getrieben werden muͤſte: ſo hat nun das Auge eines
Kurzſichtigen, mehr brechende Kraͤfte, und eine groͤſſere
Convexitaͤt und Dichtigkeit in ſich: und folglich zeichnet
ſich das Bild oder der Brennpunkt eher ab, als die
Strahlen die Nezzhaut erreichen koͤnnen, und dennoch
zerſtreuen ſich, die in den Brennpunkte verſammlete
Strahlen von neuen wieder, und daher ſehen ſie entfernte
Dinge undeutlich.
Dieſe Leute ſehen hingegen ganz nahe Dinge ſehr
wohl und auf das deutlichſte, weil der Winkel der nahen
Dinge, unter welchen die Strahlen ins Auge fallen, groß
iſt, und dieſe Strahlen ſehr divergiren, zu deren Wie-
dervereinigung, der Kurzſichtige, die uͤbermaͤßigen Kraͤf-
te ſeines Auges mit Nuzzen verwendet. Jch ſehe ganz
nahe Dinge auf das ſubtilſte, und habe dieſen Verſuch
mit andern oͤfters wiederholet.
Dergleichen Leute ſollen Dinge groͤſſer ſehen (s), und
man kann dieſes glauben, weil ihre Hornhaut convex iſt
(t): und dieſes iſt die zweite Urſache, warum ſie ſchaͤrfer
ſehen. Es laſſen ſich an einem groͤſſern Bilde mehr Thei-
le unterſcheiden.
Sie haben nur ein geringeres Licht noͤthig (u), weil
in ihnen wegen eben dieſer Weite der Hornhaut und des
Sterns, mehr Strahlen in das inwendige des Auges
fallen, und hiezu koͤmmt noch die ſchaͤrfere Empfindlich-
keit der Nezzhaut. Die Einwohner von Neuholland
ſind kurzſichtig, weil ſie wegen der groſſen Menge Fliegen
beſtaͤndig mit den Augenliedern plinken, und dadurch
erhaͤlt ſich ihre Nezzhaut zaͤrter (x).
Weil dieſe Krankheit ſehr gemein iſt, ſo wird man
mir erlauben, daß ich mich bey dieſen Betrachtungen
noch ein wenig aufhalten darf, die vielleicht nicht phyſio-
logiſch gnug ſind.
Das erſte Mittel iſt dasjenige, welches man von dem
Alter ſelbſten zu hoffen hat, wofern das Uebel von einer
gar zu convexen Cryſtallinſe oder Hornhaut entſtanden iſt.
Da nemlich mit dem Alter alle feſte Theile eines thie-
riſchen Koͤrpers hart, die fluͤßigen aber vermindert wer-
den, weil ſich allmaͤhlig die waͤßrige Feuchtigkeit vermin-
dert, und der waͤßrige Theil der glaͤſernen Feuchtigkeit
abnimmt, ſo wird ſich auch die Feuchtigkeit der Cryſtal-
linſe mindern, und ſich die feſte Faſern der Hornhaut,
welche vor dem groͤſſere Bogen machten, nunmehro in
R r r 3kuͤr-
[998]Das Sehen. XVI. Buch.
kuͤrzere Bogen verwandeln, die nicht ſo convex ſind,
und folglich wird ſowol die Hornhaut, als Cryſtallinſe
flaͤcher werden. Daher koͤmmt es, daß Kinder die kurz-
ſichtig ſind, wenn ſie zu erwachſenen Jahren kommen,
allmaͤhlig entfernte Dinge ſehen lernen (y).
Es iſt dieſe Kur freilich nicht ſo vollkommen, daß eine
Perſon, welche in der Jugend kurzſichtig geweſen, leicht
zu einem mittelmaͤßigen Geſichte gelangen ſollte (a), oder
gar weitſichtig werden koͤnnte: Denn da hier durch einer-
lei Urſachen Fluͤßigkeiten und Membranen verdichtet wer-
den, und ſie ſich wie die Dichtigkeiten verhalten, ſo koͤn-
nen die brechende Kraͤfte der Koͤrper, und ſo kann einer-
lei Alter, welches einen Theil der Krankheit mindert,
den andern Theil der Krankheit hingegen vergroͤſſern. Es
iſt auch hiebei ſchaͤdlich, daß der Stern uunmehr weniger
beweglich iſt, ein gar zu haͤufiges Licht durchlaͤſt, und
ſchwach iſt (b), um undeutlich zuſehen: und ſchaden thut
es auch, daß die Nezzhaut calloͤſer geworden (b*). Da-
her ſind das beſſere Kurzſichtige, die einen kleinen Stern
haben (c). So viel aber laͤſt ſich dennoch erhalten, daß
das Uebel nicht groͤßer wird. Dahero hat ſchon Con-
rad Gesner(d) die Augen der Kurzſichtigen fuͤr unver-
beſſerlich erklaͤrt. Wenigſtens ſind meine Augen durch
den haͤufigen Gebrauch der Vergroͤſſerungsglaͤſer, bei
hellem Sonnenſcheine, und nach dem haͤufigen Leſen und
Schreiben, nicht im mindeſten ſchlechter geworden, als
ſie in der Jugend waren.
Dem Kurzſichtigen hilft es ferner, wenn ſie ſich von
nahen kuͤnſtlichen Arbeiten enthalten, und verſchaffen, daß
ſie recht paralele Strahlen ins Auge bekommen. Wenn
dem-
(z)
[999]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
demnach das Auge nur noch einige Kraͤfte hat, die es
kuͤrzer machen koͤnnen, ſo werden ſie es nach und nach
kuͤrzer machen, und es wird das Uebel nicht zu, ſondern
mit der Zeit abnehmen. Dieſes erhaͤlt man aber, wenn
man durch ſchwarze Roͤhre (e), welche leer und ohne
Glaß ſind, oder ohne Roͤhren mit Aufmerkſamkeit auf
entfernte Koͤrper ſieht, und eine ſolche Lebensart waͤhlt,
daß man weit entfernte Dinge betrachtet, oder wenigſtens
was man ſieht, auf die aͤuſſerſte Graͤnze ſeines deutlichen
Geſichtpunkts ſtelt (f).
Es ſind auch hiezu alle diejenigen Dinge zutraͤglich,
die ein Auge flaͤcher machen, wozu ſo gar der Finger ge-
hoͤret (g): ſonderlich aber, wenn man die Cryſtallinſe
herausnehmen oder niederdruͤkken laͤſt (h), daher koͤmmt
es, daß ſich die Kraͤfte, von denen die Strahlen ins Au-
ge getrieben werden, um ein groſſes vermindern.
Man hat eine ziemliche Erleichterung, wenn man
durch ein kleines Loch ſieht (i). Auf ſolche Art ſiehet man
freilich ganz nahe bei, wie man gewohnt iſt, aber dennoch
ſiehet man auch deutlicher, weil man nun mehr weniger
Strahlen bekoͤmmt, die dergleichen Loch durchlaſſen kann.
Man hat ſich ſchon lange her (k), wegen eines beſ-
ſern Mittels umgeſehen, doch hebt dieſes die Krankheit
nicht, ſondern es verdirbt vielmehr das Auge, wofern es
nicht vorſichtig gebraucht wird: es macht aber doch auch,
daß Kurzſichtige entfernte Koͤrper nicht ſo undeutlich ſe-
hen, und daher Pflanzen aufſuchen, und Menſchen die
ihnen begegnen erkennen koͤnnen, und was dergleichen
R r r 4mehr
[1000]Das Sehen. XVI. Buch.
mehr iſt. Denn da hohle Glaͤſer Strahlen zerſtreuen,
und auswerts divergirend machen, ſo verurſachen ſie, daß
der aͤuſſere Winkel des Objects mit dem Auge groͤſſer iſt,
als der inwendige Winkel, welcher ohne den Gebrauch
der Hohllinſe entſtehen wuͤrde (l): ſie machen alſo daß ſie
von entfernten Koͤrpern eben ſo ankommen, als ſie von
den naͤchſten abprallen, und verurſachen alſo allezeit mit
der Hornhaut groſſe Winkel: und daher verzehren ſie die
groſſe und uͤbermaͤßige brechende Kraͤfte des kurzſichtigen
Auges, und es trift nunmehr der Brennpunkt in einer
groͤſſern Entfernung (m) auf der Nezzhaut auf. Jn die-
ſem Fall iſt das Gemaͤhlde kleiner und weniger helle, da
der zerſtreuete Theil der Strahlen verlohren gehet (n),
uͤbrigens aber bis zum Bezaubern nett. Jch haͤtte
niemals zehen Baͤume nennen gelernt, wenn ich dieſes
Huͤlfsmittel nicht gehabt haͤtte: vermittelſt deſſelben aber,
habe ich nicht nur die kleinſten Stauden, ſondern auch
Mos und Schwaͤmme die kaum zu ſehen ſind, entdekket.
Es ſchmerzen aber die Augen von dem Gebrauche
dieſer Glaͤſer, und werden allmaͤhlig calloͤſe, weil dieſer
kleine Brennpunkt dennoch lebhaft iſt, weil Strahlen
die in einen Flekken zuſammen kommen, nunmehr in
einen Punkt zuſammenflieſſen. Man muß ſich daher vor
gar zu hohle Glaͤſer in Acht nehmen, indem dieſe die
Krankheit vergroͤſſern (o), daß ſie die Empfindung der
Nezzhaut ſchwaͤchen. Je weniger nemlich die Nezzhaut
empfindt, einen deſto ſpizzern Strahlpinſel bedarf ſie, wenn
ihre Nerven mit Nachdrukk bewegt werden ſollen. Kuͤnſt-
ler, welche ſich mit den feinſten Koͤrpern abgeben, bedie-
nen ſich der convexen Glaͤſer mit langen Brennpunkten,
und ſie glauben, daß dadurch die Augen geſchont werden (p).
So wie dieſe ganze Theorie von der Sorgfalt der Ge-
lehrten, ihre Vollkommenheit bekommen hat, ſo wiſſen
wir auch das Maaß von der Kugel genau, davon das
Glaß ein Theil ſein muß, womit ein jeder Kurzſichtiger
auf das deutlichſte ſehen ſoll. Wenn nemlich alle beide
Flaͤchen hohl ſind, ſo muß der Radius gleich ſein, der
Diſtanz des deutlichen Sehens, und er muß doppelt ſo groß
als dieſelbe ſein (q), wenn die eine Flaͤche platt, die andere
hohl iſt. Eine andere laͤngere Formel iſt folgende, nemlich
die Diſtanz des deutlichen Sehens fuͤr ein gewafnetes Au-
ge, wird dividiret durch die Differenz beider Diſtanzen,
die fuͤr ein bewafnetes und unbewafnetes Auge dienlich
ſind (r).
Man erforſcht endlich die Kraͤfte der Augen zweier
Menſchen oder eines Menſchen, zu den verſchiedenen Zei-
ten ſeines Lebens, wenn man ein Object, ſo wenigſtens
ſechs Fuß weit entfernt iſt, beſiehet, und dieſes waͤre die
naͤchſte Diſtanz, woher die Strahlen einigermaſſen pa-
ralel ankommen, und wenn man die Augen durch zwei
kleine Loͤcher eines Papiers leitet. Solchergeſtalt muß
man erfahren, ob man mit dem bloſſen Auge einerlei
Koͤrper einfach ſieht: ob man mit einem convexen oder
hohlen Glaſe ſehen muͤſſe, um den Koͤrper einfach zu
ſehen, und von was fuͤr einem Radius man dieſes Glaß
zu erwaͤhlen noͤthig habe. Auf ſolche Art wird der Weit-
ſichtige aus dem Radio des convexen Glaſes, welches er
noͤthig haben wird, den Fehler ſeiner Augen, ſo wie der
Kurzſichtige, aus dem Radio des Hohlglaſes abmeſſen
koͤnnen: und es werden ſich die verglichenen Kraͤfte ihrer
Augen, verkehrt wie ihre Radii verhalten (s).
Es iſt bejahrten Perſonen, wenn ſie nicht ehedem
kurzſichtig geweſen ſind, dieſer Fehler gemein, daß ſie
weit entfernte Koͤrper gut ſehen, die naͤchſten aber nicht
wohl unterſcheiden koͤnnen. Man ſagt, ich weiß aber
nicht, ob es der Erfahrung gemaͤß, das kuͤnſtliche Arbei-
ten an entfernten Objecten dieſen Fehler hervorbringen
ſollen (t). An dieſen Menſchen ſind die Augen platt,
die Hornhaut wenig erhaben (u), die Cryſtallinſe flaͤcher
(x), und das Auge ſo kurz (y), daß der Boden der Nezz-
haut an die Hornhaut angrenzt. Man nennet aber den-
jenigen weitſichtig, wenn der Punkt ſeines deutlichen Se-
hens einen Fuß weit abliegt: an einigen entfernt er ſich
auf zwei (z) und drei Fuß (a) und daruͤber (b).
Die Urſache dieſes Uebels iſt grade aus dem Gegen-
theil des obigen deutlich zu erſehen. Es ſind an einem fla-
chen Auge, die brechenden Kraͤfte kleiner, weil es ein
Stuͤkk von einer groͤſſern Kugel iſt (c), deren Brenn-
punkt eine laͤngere Diſtanz macht. Dieſe geringe Kraͤfte
ſind
[1003]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
ſind hinlaͤnglich, wenn die Strahlen von weitem herkom-
men, daß man ſie alſo fuͤr paralel halten kann (d), folg-
lich laſſen ſie ſich von einer geringen Kraft vereinigen.
Von den naͤchſten Koͤrpern kommen die Strahlen un-
ter einem groͤſſern Winkel an, und fahren weiter aus-
einander: folglich iſt der Brennpunkt der Nezzhaut, in
welchem ſie ſich vereinigen, weiter entfernt, und da das
Auge auſſerdem kuͤrzer iſt, ſo faͤlt dieſer Brennpunkt hin-
ter die Nezzhaut weg, und es treffen die Radii dieſe Nezz-
haut eher, als ſie ſich zu einem Strahlbuͤſchel vereinigen
(e). Auch in einer Camera obſcura erfordern flaͤchere
Glaͤſer, eine groͤſſere Diſtanz des Pappieres (f).
Bei alten Leuten pflegt auſſerdem wegen Mangel der
Feuchtigkeiten (f*), der Stern enger zu ſein (g), und
ſolchergeſtalt ſehen ſie die Helle der Dinge weniger, ſo wie
der Eindrukk des Sterns, wegen der Verengerung klei-
ner iſt (h). So wie die Oefnung in optiſchen Jnſtru-
menten kleiner wird, ſo entfernt ſich der Brennpunkt
weiter (h*).
Doch es iſt auch bei ihnen die Linſe undurchſichtig (i),
und gefaͤrbt, daß alſo ihr Sehen ſchwaͤcher ſein, und das
Licht muͤhſamer eindringen muß.
Endlich iſt auch nach der Natur des Alters ſelbſt die
Empfindung der Nezzhaut nicht ſcharf gnug: und ſo ſehen
ſie wieder undeutlicher, weil noch nicht geſammlete Strah-
len auf die Nezzhaut fallen, welche ſie ſchwaͤcher beruͤh-
ren, und dieſe Haut ſelbſt auſſerdem weniger empfindlich
iſt
[1004]Das Sehen. XVI. Buch.
iſt (k). Daher hat man vielleicht die Presbyopie, durch
Blaſen ziehende Umſchlaͤge geheilet (l).
Wiederum waͤchſet dieſes Uebel mit dem Alter, weil
die Plaͤttchen der Cryſtallinſe und Hornhaut ſtaͤrker wer-
den, als die ausdehnende Kraft der Gefaͤſſe und Fluͤßig-
keiten, davon ohnedem eine Portion ſchon verſchwunden
iſt, und ſo ziehen ſich dieſe Haͤute von der Convexitaͤt in
eine platte Figur zuſammen (m).
Jurin vermuthet auch, daß das Sternbaͤndchen,
durch die Gewohnheit in die Ferne zu ſehen ſtaͤrker, und
die Linſe flaͤcher werde, wovon dieſes Uebel in der That
zunehmen muß (n).
Dahingegen verſpaͤtet ſich auch der Fortgang dieſes
Uebels, Kraft ſeiner eigenen Urſache von ſelbſt, weil die
Dichtigkeit der Haͤute und der Linſe ſelbſt, ſo wie ihre
Brechungskraft durch eben dieſe aͤlternde Trokkenheit ver-
mehret wird. Vielleicht iſt es auch von dergleichen Ver-
beſſerung geſchehen, daß weitſichtige Perſonen, oͤfters von
ſelbſt wieder geſund geworden. Nicht ſelten ſieht man,
daß Leute convexe Glaͤſer entbehren koͤnnen, die ſie in der
Jugend nicht miſſen konnten. Jch kenne einen Mann,
der in vornehmen Amte ſtehet, und welcher in ſeinem
drei und neunzigſten Jahre ohne ein erhaben geſchliffenes
Glaß leſen kann.
Auch hier iſt nicht ohne Nuzzen, wenn man durch
ſchwarze, leere, und convergirende Roͤhren ſieht (o): denn
auf ſolche Weiſe gewoͤhnt ſich die Nezzhaut an ein kleine-
res Licht, und bleibt zart.
Doch man hat ſchon lange her eine Erleichterung bei
dieſem Uebel, in den convexen Glaͤſern und Brillen ge-
ſucht, es mag nun dieſes eine Erfindung des Rogevii
Bacon(p) ſein, oder es mag es dieſer (q) vom Alhace-
nius(r) her haben, oder es ſei auch eine Entdekkung des
Aleſſandri(s)Spina der ſolches im Jahr 1313 durch
die Kunſt eines zu Florenz verſtorbenen erfunden, oder
es mag ſolches Salvinus Deglie Armati(t), oder
M. Geraldus erfunden haben, welcher die feinſten
Schriften vermittelſt eines convexen Glaſes leſen konnte
(u). Es iſt auch dieſe Kunſt den Alten nicht gaͤnzlich
unbekannt geweſen. Denn obgleich das Conſpicillum
des Plautus(x) eine Fabel iſt (y), ſo ſchrieb doch ſchon
Seneca (z), daß ſich Buchſtaben durch eine Kugel voller
Waſſer vergroͤſſern laſſen.
Jn der That vergroͤſſern convexe Glaͤſer eigentlich
nicht, ſondern ſie machen blos (a), daß das Auge in einer
ſehr kleinen Entfernung deutlich ſehen kann, wo es ohne
dieſes Glaß nur verworren ſehen wuͤrde. Denn da die
naͤchſten Objecte ſehr auseinander fahrende Strahlen auf
die Nezzhaut werfen, ſo ſind Kraͤfte des Auges, wel-
che zu einem ſechs Zoll weit abliegenden Punkte des deut-
lichen Sehens, tauglich ſind, nicht hinlaͤnglich, Strah-
len in eins zu bringen, die von zwei Zoll weit, herkom-
men, und alſo ſehr divergiren, und folglich findet der
Buͤſchel des Lichts erſt hinter der Nezzhaut ſeinen Brenn-
punkt.
Nun bringen convexe Glaͤſer die Strahlen zuſammen,
um ſo viel ſtaͤrker, je convexer ſie ſind, folglich dienen ſie
einem Auge, daß zu ganz nahen Objecten untauglich iſt (b).
Folglich empfangen dieſe Glaͤſer, weil ſie convex ſind,
aus einem groͤſſern Raume Strahlen (c), ſie treiben die-
ſelben in einen lichtern Brennpunkt zuſammen, vermeh-
ren alſo das Licht, und machen das Sehen heller, ſo daß
man vermittelſt einer Linſe uͤberhaupt bei Nachtzeit leſen
kann, wenn man ohne Linſe nicht zu leſen vermag (d), es
bedarf auch die calloͤſe gewordene Nezzhaut der Alten ei-
nes mehreren Lichtes.
Da man endlich von der Groͤſſe des optiſchen Win-
kels, das Maaß der Groͤſſe zu nennen pflegt, nemlich
von demjenigen Winkel, welchen die zwei Graͤnzen, eines
ſichtbaren Koͤrpers (e), mit dem ſehenden Punkte des
Auges machen, ſo erhellet leicht aus dem Gegenſazz des
obigen, daß dieſer Winkel bei dem ganz nahen Dingen
ſo groß iſt, als er bei entfernten Dingen klein iſt (f).
Es begreift ein jeder naͤherer Winkel nemlich, den ent-
ferntern in ſich (g). Nun machen die convexen Glaͤſer,
daß wir nahe Dinge dennoch deutlich ſehen, und daß
folglich diejenigen Dinge, welche ſich unter einen groſſen
Winkel abmahlen, deutlich werden. Solchergeſtalt ge-
ſchiehet es, daß man glaubt, daß dieſe convexe Glaͤſer,
die ſcheinbare Groͤſſe der Dinge vermehren, ob ſie ſelbige
gleich nicht im geringſten groͤſſer machen, als ein bloſſes
Auge, welchen eben dieſer Koͤrper ganz dichte vorgehalten
wird (h).
Es iſt alſo die Eigenſchaft einer convexen Linſe, die
fuͤr weitſichtige Perſonen tauglich iſt, gleich der Diſtanz,
des deutlichen Sehens, eines bloſſen Auges, die auf eben
dieſer Diſtanz eines gewafneten Auges geſezzt, und durch
die Differenz beider Diſtanzen dividiret wird, vollkom-
men ſo, wie wir von der hohlen Linſe geredet haben (i),
und
[1007]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
und alſo folglich um ſo viel platter, je weniger das Auge
weitſichtig iſt.
Man muß ſich auch huͤten, nicht gar zu convexe Lin-
ſen zu gebrauchen, weil ſonſt das Auge eben ſo wie in
dem vorigen Exempel, von einen ſehr ſpizzen Lichtbuͤſchel
getroffen und calloͤſe wird (k).
Bei ganz nahen Dingen ſind wir alle weitſichtig (l),
und ſelbſt kurzſichtige Augen ſehen dieſelbe undeutlich, wie
jedermann an den Buchſtaben eines Buches bemerken kann,
welches er ſich dichte an das Auge haͤlt, endlich verſchwin-
den uns gar zu nahe Dinge voͤllig, wie ſolches Boerhaa-
ve an einer Nadel verſucht hat (m). Um aber die ganz
nahen Dinge zu ſehen, bedienen wir uns der ſehr con-
vexen Linſen, von Luft oder Waſſer (n), und damit ſie
dauerhafter, und zum Gebrauche tauglicher werden, der
Glaßlinſen. Es ſchreiben einige die Erfindung der Mi-
kroſkopien, den Cornelius Drebbel zu, indeſſen hatte
doch ſchon Rogerius Bacon geſchrieben, wie es moͤglich
ſei, daß ganz kleine Dinge, recht groß ausſehen koͤnnen,
welches doch auf keine andere Weiſe angeht.
Hier beziehen wir uns wieder auf eben dasjenige, wel-
ches wir bereits oben erinnert haben. Dieſe Kuͤgelchen
vermehren nicht die Groͤſſe derjenigen Dinge, welche wir
damit betrachten (o), ſondern ſie machen nur, daß wir
ganz nahe Dinge dennoch deutlich ſehen. Es koͤnnte auſ-
ſer dem allerkleinſten Lichte ein jedes Loch die Stelle eines
Mikroſkops vertreten, wenn man durch daſſelbe ſieht,
und
[1008]Das Sehen. XVI. Buch.
und es werden dadurch Objecte mit leichter Huͤlfe, eben
ſo groß erſcheinen, nur daß ſie nicht ſo helle ſind (p).
Denn die Convexitaͤt vermehret in der That die Ge-
walt des Lichts. Um dieſen Beweiß zu ſchaͤzzen, ſo muß
man wiederholen, daß der Brennpunkt der convexen
glaͤſernen Kugeln, den vierten Theil des Radius zur Di-
ſtanz hat (q). Sind dieſe Kugeln nun ſehr klein, ſo
wird ihr Brennpunkt, die allerkleinſte Diſtanz, von ei-
ner Linie, von einer halben Linie, und weniger, und end-
lich die allerkleinſte Diſtanz \frac{1}{15} einer Linie betragen.
Daher wird es kommen, daß je naͤher ein jeder
Brennpunkt iſt, Koͤrper durch ein Mikroſkopium deſto
ſtaͤrker vergroͤſſert werden.
Und ſo erwaͤchſt daraus eine ganz einfaͤltige Regel,
nach welcher man die Kraft eines Mikroſkopii in ſeiner
Vergroͤſſerung zu ſchaͤzzen hat. Wie ſich nemlich die Diſtanz
des deutlichen Sehepunkts, zu der Laͤnge des Brenn-
punkts d. i. zu der Diſtanz des Objects ſo durch das Mikro-
ſkopium geſehen wird, verhaͤlt, ſo verhaͤlt ſich der Durch-
meſſer des Objects, welches man durch das Vergroͤſſe-
rungsglaß ſiehet, zu dem Durchmeſſer des mit bloſſen
Augen betrachteten Koͤrpers (r): Und es gilt dieſes von
dem Cubo des Diameters (s), wofern von der ganzen
Groͤſſe die Rede iſt. Wenn alſo der Punkt des deutli-
chen Sehens acht Zoll weit entfernet iſt, und wenn der
Brennpunkt, des durch ein Vergroͤſſerungsglaß erblikkten
Objects, von dieſer Linſe, um den zehnten Theil eines
Zolles entfernt iſt, ſo verhaͤlt ſich die mit einen bewafne-
tem Auge erblikkte Groͤſſe, und die durch ein bloſſes Au-
ge ſcheinbare Groͤſſe, wie 80.3 1.3 Wie 512000. 1.
Leeuwenhoͤkk(u) bediente ſich einfacher Glaͤſer,
welche nur maͤßig vergroͤſſerten. Unter ſeinem Vorrathe
hatte die groͤſte Linſe einen Brennpunkt von \frac{1}{20} Zoll, ſie
vergroͤſſerte aber den Durchmeſſer um ein hundert ſechs-
zig mal (x). Die engliſchen Vergroͤſſerungsglaͤſer, haben
zum Brennpunkte gegen \frac{1}{40} Linie, \frac{1}{50} Linie, bis ſie den
Diameter um drei huntert zwanzigmal (y), und vier hun-
dert mal (z), oder gegen \frac{1}{80} Theil, daß ſie ſelbigen um
ſechs hundert vierzigmal (a), oder im Brennpunkte \frac{1}{100}
Theil, dadurch der Durchmeſſer um acht hundertmal
mehr vergroͤſſert wird (b).
Endlich hat G. A. Turre mit Glaͤſern die keinen
laͤngeren Brennpunkt hatten, als ⅒ tel einer Linie oder
ein \frac{1}{15} tel, eine Vergroͤſſerung erhalten, die 1280 und
1920 mal groͤſſer war (c).
Man wendet aber dergleichen Glaͤſer, wegen der Be-
ſchwerlichkeit des Lichts ſelten an (c*), und man muß von
ihrer gar zu groſſen Kraft etwas abziehen, weil acht Li-
nien (d) fuͤr den Punkt des deutlichen Sehens zu groß
ſind (e). Nach dieſer Betrachtung werden alle Kraͤfte
um drei achtel abnehmen, und die turganiſchen Vergroͤſ-
ſerungen, welches die groͤſten ſind, werden auf tauſend
reduciret werden. Ein ſehr erfahrner Mann fuͤgt hinzu,
daß es was ſeltenes ſei, wenn Glaͤſer uͤber ſechs und acht-
zig mal groͤſſer machen (f).
Staͤrker vergroͤſſert, das vom Lieberkuͤhn erfundene
Sonnenmikroſkop (g). Jch habe dadurch Blutkuͤgel-
chen von der Groͤſſe der Erbſen geſehen, nur daß es am
Regenbogen machen, und nicht hell gnug ſtrahlenden
Umfange einen Fehler hat.
Wie klein uͤbrigens Dinge ſind, welche man mit Huͤl-
fe eines Mikroſkops unterſcheiden kann, laͤſt ſich ſchon
aus eben dieſen Kraͤften ſchaͤzzen, welche um eine Million
mal vergroͤſſern (h), und da wir mit einem bloſſen Auge
Koͤrper ſehen koͤnnen, die nicht laͤnger als \frac{1}{2700}(i) eines
Zolles lang ſind, ſo werden wir durch ein Vergroͤſſerungs-
glaß, Koͤrper ſehen, die nicht laͤnger ſind, als \frac{1}{720000}
eben deſſelben Zolles, oder eine Oberflaͤche ſehen, die
gleich iſt 1. 584. 000 000 000 000 Theils eines Qua-
drat-Fuſſes (k). Doch es laſſen ſich durch ein Lieber-
kuͤhnſches Mikroſkop, noch viel kleinere Koͤrper deutlich
machen, ob ich gleich das Maaß derſelben nicht mit hin-
zu fuͤge.
Die meiſten Phiſiologiſten, und beſonders diejenigen,
welche auſſerdem noch in der Matheſie unterrichtet wa-
ren, glauben, die Natur habe einigermaſſen ein Mittel
dem Auge ſelbſt anerſchaffen, wodurch man dem weiten
und kurzen Geſichte zu Huͤlfe kommen koͤnne. Sie habe
nemlich in Menſchen, in den vierfuͤßigen Thieren, und
in den Fiſchen die Augen dergeſtalt geſchaffen, daß ſie ſich
durch ihre eigene angebohrne Kraͤfte, ſo veraͤndern laſſen
koͤnnten, daß ſich dergleichen Auge ſowol zum deutlichen
Beſchauen der nahen, als der entfernten Dinge, beque-
men koͤnne.
Ueberhaupt waͤre das Sehen ohne dergleichen Kraͤfte
nimmermehr vollkommen geworden (l). Es muß nem-
lich ſowol in der Camera obſcura (m), als an dem kuͤnſt-
lichen Auge (n), die Nezzhaut, wofern das Bild auf
ſie fallen ſoll, beweglich ſein, damit ſie ſich der Linſe naͤhe-
re, wenn man entfernte Dinge zu ſehen hat, und hinge-
gen davon abgeruͤkkt werde, wenn man nahe Dinge be-
ſieht, und daß an einem dergleichen Auge, eine groͤſſere
Veraͤnderung, als an einem lebendigen Auge erfordert
werde. Wenigſtens muͤſſe man eine Linſe gebrauchen,
wofern man das Object zuruͤkk ruͤkkte, wenn man nicht
wollte, daß das Bild ſich verwirren ſollte (o). So gehe
es nicht einmal am menſchlichen Auge an, daß einerlei
Auge ſowol nahe, als entfernte Dinge deutlich ſehen ſoll-
te (o*), wofern es ſich nicht veraͤndern lieſſe, weil es auf
keinerlei Weiſe moͤglich ſei, daß Strahlen von entfern-
ten Koͤrpern, welche von drei Fuß herkaͤmen, den
Brennpunkt auf eben den Punkt der Nezzhaut fallen
laſſen ſollten, auf welchen der Brennpunkt naher Koͤrper,
die nur drei Zoll weit abſtehen, faͤllt (p). Nothwendig
muͤſſe jener naͤher, dieſer aber von der Hornhaut entfern-
ter ſein.
Nun ſehen aber Menſchen, dem ohngeachtet doch,
wie jedermann weiß, ſowol nahe, als entfernte Dinge
deutlich (q). Selbſt die Kurzſichtige, koͤnnen feine Schrif-
ten in Entfernungen leſen, da eine doppelt ſo weit als die
andere abſtehet, und folglich koͤnnen ſich auch die Augen
S s s 2die-
[1012]Das Sehen. XVI. Buch.
dieſer Leute ſich noch zu naͤheren Dingen bequemen (r).
Ein eiſerner Drath, dem man einem entfernten Thurm
gegen uͤber hielte, wurde mit einem Auge deutlich, und
der Thurm undeutlich erblikkt, und ſo ſahe dagegen der
Thurm deutlich, und der Drath nur wie ein Schatten-
ſtrich aus, woraus man offenbar erſehen koͤnne, daß ſich
das Auge aͤndern laſſe (s), und ſich bald bequeme ganz
nahe, bald aber wieder weite Dinge zu ſehen, und daß
es folglich nicht geſchikkt ſei, beiderlei Dinge mit einmal
zu ſehen.
Folglich muͤſſe ſich das Auge, um ganz nahe Dinge
vollkommen zu ſehen, in das Auge eines Kurzſichtigen
verwandeln, und ſich folglich lang machen (t), ſo wie die
Cryſtallinſe convex (u), und die Hornhaut ebenfals con-
vex werden muß: Hingegen muß es bei entfernten Din-
gen weitſehend, folglich kurz, und einerlei Linſe und Horn-
haut flaͤcher gemacht werden. Daher geſchehe es, wenn
man nahe Dinge betrachtet, deren Brennpunkt alſo in
dieſem Falle von der Hornhaut weiter abſtehe, daß nach
dem obigen, dieſer Brennpunkt dennoch auf die Nezzhaut
faͤlt. Es wird aber dieſes geſchehen, entweder wenn die
Strahlen brechende Kraͤfte einen naͤheren Brennpunkt ma-
chen, oder wenn die veraͤnderte Figur des Auges, die
Nezzhaut von der Hornhaut weiter entfernt, oder wenn
man beide Kraͤfte miteinander verbindet.
Dahingegen begebe ſich, wenn man entfernte Dinge
ſehen will (x), deren Brennpunkt diſſeits der Nezzhaut
faͤlt, an dem kuͤrzer gewordenen Auge, die Nezzhaut in
die Gegend des Brennpunkts, indeſſen daß ſich zu glei-
cher Zeit die Figur des Auges aͤndert, weil die ſchwaͤche-
ren
[1013]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
ren Brechungskraͤfte, dieſes nunmehr flaͤchern Auges,
den Brennpunkt von der Hornhaut weiter abruͤkken.
Man finde auch faſt in allen Thieren dergleichen
Wechſel (y), in einigen koͤnne man ſo gar dieſe Bewe-
gung ſelbſt wahrnehmen (z), und es habe, eine Libelle (Waſ-
ſerjungfer) ihre Augen aufgeblaſen, damit ſie convex wer-
den moͤchten (a). Dahingegen koͤnnten Jnſekten, deren
Augen unbeweglich ſind, blos entfernte Dinge ſehen (b),
und ſie bedienen ſich zu den nahen Dingen ihrer Fuͤhl-
hoͤrner: indeſſen nehme man doch einige Fliegen aus, in-
dem dieſen ihre drei glatten Augen zu entfernten Dingen,
die groſſen convexe und gegitterte Augenkugeln aber, zu
den nahen Dingen dienen ſollen (c).
Man pflegt dieſes gemeiniglich, und einſtimmig an-
zunehmen, wie wohl die Autores, in der Art, und der
Urſache dieſes Augenwechſels von einander abgehen.
Es hat der Zuſammenhang dieſes ſehr artigen Koͤr-
perchens mit der Cryſtallinſe dem Kepler zuerſt bewogen
(d), daß er ſich deſſelben, vorzuͤglich bediente, um die
S s s 3Er-
[1014]Das Sehen. XVI. Buch.
Erſcheinungen des Sehens zu erklaͤren, und es ſind die-
ſem Manne, der durch ſo viele andere Erfindungen be-
ruͤhmt geworden, viele groſſe Maͤnner, einige aber dar-
unter doch auf andere Weiſe nachgefolgt. Es glaubte
alſo Kepler, daß dieſes Sternbaͤndchen, als ein beweg-
licher, und auf der Cryſtallinſe liegender Muſkel das Au-
ge laͤnger mache, wenn die Linſe, nach Zuruͤkkſtoſſung
der glaͤſernen Feuchtigkeit vorſpraͤnge. Zinn beſtaͤtiget
dieſes in ſo fern (e), daß die Radii des Sternbaͤndchens,
wenn ſie von der Feuchtigkeit aufſchwellen, den Glaßkoͤr-
per zuruͤkkſtoſſen, und die Linſe vorwaͤrts trieben. Dieſe
Hipotheſe erweiterte Porterfield dahin, daß der natuͤr-
liche Zuſtand des Auges in einer Erſchlaffung dieſes Baͤnd-
chens beſtehe, wobei zugleich das Auge kuͤrzer, und weite
Dinge zu ſehen geſchikkter werden ſoll: Dahingegen ſollen
wir nahe Dinge nur mit Muͤhe und Ermuͤdung unter-
ſcheiden koͤnnen (f), weil wir zu dieſen Objecten, die Huͤl-
fe des Sternbaͤndchens noͤthig haben: und es ſtraͤnge ſich
hier die Seele an, das Auge auf entfernte und nahe Din-
ge zu richten (g).
Andere haben dieſer Sache eine ſolche Wendung ge-
geben, daß das Sternbaͤndchen vielmehr die Linſe ruͤkk-
waͤrts ziehen, und die Diſtanz von der Nezzhaut vermin-
dern ſoll, damit das Auge von dieſer Action kuͤrzer wer-
den moͤge (h).
Wenn eben dieſe Sternbaͤnder gelaͤhmt oder geſund
ſind, ſo leitet er das Schielen daher (i), und er behaup-
tet, daß dieſes Baͤndchen ein Muſkel ſei, ob es gleich
keine Farbe habe (k).
Dahingegen will der beruͤhmte Moulins, daß die
Cryſtallinſe von ihren Baͤndern gegen die Linſe gezogen
werde, und daß auf ſolche Art, der Buͤſchel der Strah-
len kuͤrzer werde (l).
Sie ſagen, daß der Kamm in den Voͤgeln (m), wel-
cher im Glaßkoͤrper verborgen liegt, offenbar die Linſe ge-
gen die Nezzhaut herbei ziehe, und daß er ſie zugleich ein-
waͤrts ziehe (n), wenn das Thier auf der Seite ſiehet,
damit das Auge die grade vor ſich liegende Gegenſtaͤnde
beſſer ſehen moͤge: es ſei dieſes endlich ein wuͤrklicher Muſ-
kel (o), und ſie behaupten ihn auch als einen ſolchen.
Scheiner(p) und Cartheſius(q) haben wieder eine
andere Theorie davon gehabt. Sie wollen nemlich, daß
das Auge, wenn ſich das Sternbaͤndchen zuſammen zieht,
geſchikkter gemacht werde, nahe Dinge zu ſehen: Doch
aber ſo, daß die Cryſtallinſe convexer wuͤrde, und dieſe
Veraͤnderung hat auch Scheiner durch einen Verſuch
beſtaͤtiget, und viele Nachfolger gehabt (r): ſo daß uͤber-
haupt Bidloo(s) verſichert, daß man dieſe Veraͤnde-
rung in der Figur, an den Voͤgeln, ſo gar mit Augen
ſehen koͤnne.
Hier haben wieder andere grade das Gegentheil be-
hauptet, und ſie laſſen die Linſe lieber von eben dieſen Fort-
ſaͤzzen flaͤcher gemacht werden, und dieſes war die Hipo-
theſe des P. A. Molinetti(u), anderer und vor kurzem
des Santoriers Meinung, welcher ſo gar die Spuren
S s s 4der
[1016]Das Sehen. XVI. Buch.
der eingedruͤkkten Radien des Sternbaͤndchen an der Linſe
geſehen, als jemand blind geworden war. Hieher gehoͤ-
ret auch die Meinung des Jurins(x), welcher will, daß
die Cryſtallinſe, um entfernte Dinge zu ſehen, von den
Baͤndern in der Mitte niedergedruͤkkt, und auf den Sei-
ten erhoben werde, ſich aber hernach durch ihre Feder-
kraft wieder herzuſtellen vermoͤge.
Der beruͤhmte Pemberton, behauptet in der Cry-
ſtallinſe ſelbſt, Muſkelfaſern (y), welche die Figur dieſer
Linſe ſo veraͤndern koͤnnten, daß ihr vorderer Durchmeſ-
ſer kleiner, und der hintere groͤſſer werde (z), und daß
davon ein kurzes Geſicht entſtehe, wenn ſich dieſes vor-
nehmſte Werkzeug, vermoͤge der verminderten Zuſam-
menziehung der Linſenfaſern, zu den verſchiedenen Weiten
nicht bequemen kann (a). Man hat ſelbſt in dem Kanal
des Petits (b), einige Huͤlfe bei der Veraͤnderung der
Figur der Cryſtallinſe geſucht: indem dieſer Kanal von
einer elektriſchen Fluͤßigkeit aufſchwellen ſoll, ſo bald wir
etwas mit Fleiß betrachten (c).
Andere Schriftſteller uͤbergehen die Kraͤfte, von de-
nen das anatomiſche Meſſer keine Nachweiſung geben kann,
und bedienen ſich dagegen bei der Veraͤnderung des Au-
ges, der wirklich ſichtbaren Augenmuſkeln.
So hat Molinetti(d) nebſt ſeinen Anhaͤngern be-
hauptet, daß die vier graden Muſkeln mit ihren vereinig-
ten Kraͤften, den vordern Theil des Auges gegen das
hintere ziehen, und das ganze Auge kuͤrzer und die Horn-
haut
[1017]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
haut flaͤcher machen. Und auf ſolche Art bequeme ſich
das Auge entfernte Dinge zu ſehen. Sie ſagen noch,
daß die Aderhaut in den Fiſchen einen Muſkel habe (e),
welcher das Auge kuͤrzer macht, und dieſes geſchehe im
Stoͤr, bis auf zwei Zoll (f).
Grade das Gegentheil davon, lehren andere wieder,
es ziehe ſich nemlich die dunkle Hornhaut zuruͤkk, damit
die Hornhaut vorſpringe, und das Auge laͤnger werden
moͤge. So dachte Bohmius(g)Boerhaave(h) und
andere.
Viele behaupten hingegen, daß das Auge von der
vereinigten Kraft, einiger Muſkeln laͤnger werde (k), auf-
ſchwelle, und die Linſe von der Nezzhaut, abgezogen wer-
de, ſo daß auch unter den Urſachen eines kurzen Geſichts,
das krampfige Zuſammenziehen, dieſer Muſkeln mit vor-
komme (k*).
Doch es iſt dieſe Meinung nicht ohne ein Gegentheil
geblieben: Denn Cheſelden will (l), daß die ſchiefen Muſ-
keln, die Linſe gegen die Nezzhaut ziehe, und die Linſe
flaͤcher machen ſollen.
Endlich hat ſich Jurin an der Traubenhaut einen
eigenen Muſkel ausgedacht, nachdem er gezeigt, daß die
S s s 5Ver-
[1018]Das Sehen. XVI. Buch.
Veraͤnderungen an der Cryſtallinſe, wie man ſie gewoͤhn-
lich vortraͤgt, nicht hinlaͤnglich waͤren, die Erſcheinungen
und groſſe Verſchiedenheit des deutlichen Sehpunkts zu
erklaͤren (m). Es glaubt dieſer beruͤhmte Mann, daß
ſich dieſer Schließmuſkel zuſammen ziehe, und die Horn-
haut, um nahe Dinge zu ſehen, convex mache, ſo wie
dieſe Kraft ſchon hinlaͤnglich ſei, daß die Diſtanz des
deutlichen Sehens von ſieben Zoll auf funfzehn wachſen
koͤnne (n). Es waͤre aber ſchon gnug, wenn nur die
Hornhaut um \frac{3}{100} convexer gemacht werde (o). Moulins
glaubte, daß die Hornhaut von ihren Baͤndern, welche
in die Hornhaut inſerirt werden (und dieſes ſind Nerven)
aufſchwelle, indeſſen daß dieſelben die waͤßrige Feuchtig-
keit nach vorne treiben (p). Er glaubte, daß ſie auch
zugleich den Stern erweiterten (q).
Jurin fuͤgte noch hinzu, wenn nunmehr keine Noth-
wendigkeit vorhanden waͤre, ſo lieſſe der Schließmuſkel
die Hornhaut fahren, und dieſe ſpringe, vermoͤge ihrer
eigenen Federkraft zuruͤkk, und werde flach (r),
Wir haben bereits oben gezeiget, und es wird kein
Menſch die Sache laͤugnen, daß ſich nemlich die Pupille,
wenn wir nahe Dinge beſehen wollen verengere, und bei
den entfernten Dingen weiter macht.
Ohngefehr wird bei dieſer Verengerung des Sterns
(s), dasjenige geſchehen, was bei dem Sehen durch ein
kleines Loch geſchicht (t), es wird ſich nemlich das undeut-
liche
[1019]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
liche Bild verbeſſern, wie in einer Camera obſcura, die
Verengerung des Lochs, wodurch das Licht herkoͤmmt,
ſchon hinlaͤnglich iſt, nahe Objecte nett abzumahlen (u).
Auf ſolche Art vermindert ſich die Menge der Strah-
len, und ihre Gewalt, auf die Menge der Nezzhaut: es
werden die Seitenſtrahlen dadurch weggelenket (x), zu de-
ren Convergirung auf der Nezzhaut, die Kraͤfte des Au-
ges nicht hinlaͤnglich ſind, und blos diejenigen Strahlen
zugelaſſen, die der Augenachſe am naͤchſten ſind, und
die folglich eine geringe Kraft, in die Achſe einfallen laſ-
ſen wird
Wenn hingegen der Stern erweitert iſt (y), und viel
Licht durchlaͤſt, ſo wird dadurch der nothwendigen Bleich-
heit des Subjects abgeholfen, welche an entfernten Ob-
jecten, aus der Kleinheit des Sehwinkels, und folglich
aus den wenigen Strahlen entſtehet.
Wenn daher der Stern in Krankheiten bei einigen zu-
ſammen waͤchſt, ſo bekommen dieſe das Vermoͤgen, in
verſchiedenen Weiten deutlich zu ſehen, durch eine geoͤfne-
te Pupille wieder. Es haben dieſes einige dergeſtalt mit
der Veraͤnderung der Augenfigur verbunden, daß ſie
glauben, das Auge wuͤrde von einem zuſammengezogenen
Stern laͤnger gemacht (a), Bourdelot muthmaſſet, daß
wenn man den Stern, um nahe Objecte zu ſehen veren-
gere, ſo werde davon die Cryſtallinſe in der Mitte erha-
bener (a*).
Was die Kraͤfte der kleinen Flokkenſtrahlen des Nezz-
baͤndchens, auf die Veraͤnderung der Cryſtallinſe betrift,
ſo
(z)
[1020]Das Sehen. XVI. Buch.
ſo zweifeln wir ſehr daran, ob ſich dieſelbigen gleich an
dieſe Linſe anhaͤngen laſſen (b).
Jn allen Arten von Thieren, ſind dieſe Fortſaͤzze der
Aderhaut ganz und gar nicht muſkelhaft, ſondern beſte-
hen blos aus Gefaͤſſen, welche von ſchlangenfoͤrmig ge-
wundenen Gefaͤſſen durchlaufen werden, und aus einer
welchen Membran beſtehen (c). Jhr Anhaͤngen an der
Kapſel der Cryſtallinſe hat nicht viel zu ſagen, und koͤmmt
blos auf einen Schein an (d), welcher ſich leicht verzer-
ren laſſen wuͤrde, wenn man ſie auseinander zoͤge, wo-
durch die Dauer der Linſe unfehlbar vernichtet werden
muͤſte. Die wuͤrkliche Jnſerirung der Radien an einigen
Thieren, als am Haaſen, geſchicht offenbar in die Trau-
benhaut.
Koͤnnten gleich dieſe Fortſaͤzze etwas ausrichten, ſo
wuͤrden ſie doch ſchwerlich die Figur der Linſe veraͤndern
(e), und die elaſtiſche Kapſel der Cryſtallinſe ſchwerlich
niederdruͤkken (f): wenn hingegen an ihnen eine Wir-
kung von Gefaͤſſen angenommen werden koͤnnte, ſo wuͤr-
de dieſe Folge davon grade das Gegentheil ſein, was
man haben will. Es wuͤrde nemlich von dem aufgenom-
menen Blute, dieſe Gefaͤſſe aufſchwellen, und weil ſie
ſich in engen Kruͤmmen verwikkeln, die Linſenkapſel aus-
dehnen, und flach machen. Nun aber ſtrengen wir uns,
wofern wir gar im Sehen eine Anſtrengung verrichten, in
einer genauern Aufmerkſamkeit auf die nahen Dinge an (g).
Hierzu koͤmmt noch, daß die Fiſche kein Sternbaͤnd-
chen haben (h), und ſich dennoch in eben ſolche Nothwen-
digkeit
[1021]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
digkeit geſezzt ſehen, in verſchiedenen Weiten zu ſehen.
Man kann ferner, wenn die Linſe des Staares wegen
entweder herausgenommen oder niedergedruͤkket worden,
dennoch in verſchiedenen Entfernungen ſehen, wie ich an
einem vornehmen Mann bemerkte, ohne daß derſelbe,
eine andere Beihuͤlfe noͤthig gehabt, dieſe Faͤhigkeit wie-
der zu erlangen (i). Denn obgleich alsdenn der Kranke
(k), wegen der geſchwaͤchten Kraͤfte, eine Glaßlinſe noͤthig
hatte, ſo iſt ihm doch dieſes und eben daſſelbe Glas zu al-
len verſchiedenen Weiten hinlaͤnglich.
Es haben auch die Mathematikker gezeiget, daß we-
der eine veraͤnderte Laage (l), noch eine andere Figur der
Cryſtallinſe (m), zu einerlei Veraͤnderung, des deutlichen
Sehpunkts hinreichend iſt, dergleichen man von einem
geſunden Menſchen erwarten koͤnne.
Folglich iſt daß Sternbaͤndchen, von dem Anſpruche,
ein Haupt-Jnſtrument bei Veraͤnderung des Auges zu
ſein (n), ſo weit entfernt, daß es uͤberhaupt dabei gar nichts
zu thun hat, und es ſcheinet blos die Linſe zu halten (o):
indeſſen daß die Traubenhaut in den Fiſchen eben dieſe
Verrichtung auf ſich nimmt.
Ueberhaupt treffe ich weder an der Cryſtallinſe, noch
auſſerhalb derſelben irgend einige Kraͤfte an, welche ihre
Figur aͤndern koͤnnten. An den Fiſchen ſollte man glau-
ben, daß die kleine Glokke (p), welche in die Linſe inſe-
rirt iſt, dieſe Linſe nach der inwendigen Seite ziehen koͤnn-
te, wofern ſie muſkelhaft waͤre. Doch es kann dieſe Be-
wegung keinen Plazz haben, weil die Traubenhaut an
der glaͤſernen angewachſen iſt, und die glaͤſerne an der
Linſe
[1022]Das Sehen. XVI. Buch.
Linſe wieder feſt iſt, ja es koͤnnte ſich die Linſe nicht auf
die Seite ziehen laſſen, daß ſich nicht zugleich die glaͤſerne
Haut ſehr verzerren ſollte, und wenn die Natur die Linſe
haͤtte beweglich machen wollen, ſo haͤtte ſie ſolche nicht
mit der Glaßhaut verbunden.
Der Kamm in den Voͤgeln, den ich wohl tauſendmal
betrachtet habe, iſt weiter nichts als eine Haut, und
nicht im geringſten haͤrter oder muſkuloͤſer, als das Stern-
baͤndchen (q), wie ich an einer Elſter vor mir ſehe.
Es iſt ſchwerlich zu glauben, daß ſich die inwendige
Figur der Augen von den umliegenden Muſkeln veraͤn-
dern laſſe: Wenigſtens laͤſt ſich an Fiſchen und Voͤgeln
(r) nicht das geringſte veraͤndern, denn in dieſen iſt die
dunkle Hornhaut, und ſo gar vorne, und um die Trau-
benhaut herum knorplich und knochig.
Doch es laͤſt ſich auch nicht vom Menſchen gedenken, daß
die graden Muſkeln ſeine dunkle Hornhaut zuruͤkkziehen
koͤnnten, daß nicht zugleich die ſo feſt damit verbundene
Hornhaut folgen ſollte (s).
Wenn man nemlich unter zwei verbundenen Koͤrpern
nur den einen in Bewegung ſezzen will, ſo muͤſſen ſie der-
geſtalt mit einander verbunden ſein, daß die Bewegbar-
keit, an der Stelle ihrer Vereinigung anzutreffen ſei.
Dergleichen iſt aber hier gar nicht.
So koͤnnen auch nicht die ſchiefen Muſkeln den vor-
dern Theil der Sclerotica von dem hintern Theile abzie-
hen: weil ihre Sehnen beinahe uͤber zwerg liegen.
Die Mathematiker haben die Erinnerung gethan, es
wuͤrden von ſo groſſen Kraͤften nur grobe Bewegungen
entſtehen, wodurch das aͤuſſerſtzarte Sehen, in Verwir-
rung gebracht werden muͤſte (t), und es ſei die veraͤn-
derte Laͤnge des Auges nicht hinlaͤnglich, wofern es ſich
nicht um den zehnten Theil veraͤndern lieſſe (u). Einige
Perſonen haben auch mit einem unbewegtem Auge voll-
kommen geſehen (x).
An den Fiſchen ſcheint, der Muſkel der Aderhaut
das Auge wirklich kuͤrzer zu machen (y): Denn dieſe
Thiere haben einen unbeweglichen Stern, und vermiſſen
alſo denjenigen Vortheil, den die Natur den uͤbrigen
Thierclaſſen angewieſen hat (z).
Jn der That iſt der Kreiß der Traubenhaut an den
Voͤgeln bald knorplich und knochig, bald beſtehet er aus
Gefaͤſſen, es laͤſt ſich aber von dieſem Kreiſe keine Wir-
kung auf die Hornhaut, welches eine ſo harte Membran
iſt, erwarten, und es iſt uns auf keinerlei Weiſe erlaubt,
Bauarten zum Behufe einer zum Grund gelegten Noth-
wendigkeit zu erdichten.
Daß man alle dieſe Hipotheſen erfunden, daran war
dieſes Urſach, daß die Phyſiologiſten glaubten, ein Menſch
ſehe in den ſehr verſchiedenen Weiten dennoch deutlich,
und folglich werde eine Veraͤnderung in den brechenden
Kraͤften dazu erfordert.
Nun iſt dieſes alles geringer, als es gemeiniglich ge-
ſchicht, da ich mich wohl hundertmal der Camera obſcura
bedien-
[1024]Das Sehen. XVI. Buch.
bediente, um, wie ich damals vorhatte, einen Garten
und Akker bei Goͤttingen abzuzeichnen, ſo habe ich immer
mit einerlei Glaſe ſowol entfernte als nahe Dinge ſehr
ſchoͤn und deutlich geſehen, welche durch die Kunſt eines
Mahlerpinſels in dem Stuͤkke auf verſchiedene Art abge-
mahlt werden (a), daß entfernte Dinge naͤher bei den
nahen liegen, und die ganze Flaͤche vom Horizont bis
zum Auge eine ſehr kurze Breite hat. Doch es ſiehet auch
das Auge entfernte und nahe Dinge zugleich, ob ſich
gleich die Grade der Unterſcheidung hinter dem Punkte
des deutlichen Sehens beſtaͤndig vermindern (b).
Ferner bequeme ſich uͤberhaupt das Auge nicht zu
den verſchiedenen Entfernungen: Denn ein jeder gehe
entweder naͤher zum Object, oder von demſelben weiter
zuruͤkk, oder ziehe daſſelbe naͤher gegen das Auge, und
ſuche auf ſolche Art den deutlichen Sehpunkt, ſo oft wir
ein Object nicht recht genau unterſcheiden koͤnnen (c).
Wir wuͤrden uns aber der Veraͤnderung des Auges zur
Veraͤnderung dieſer Arbeit bedienen, wofern dieſe Arbeit
in unſerer Gewalt ſtuͤnde.
Es iſt ferner gewiß, daß wir durch ein Pappier, wel-
ches mit zwei Loͤchern durchſtochen worden, das Object in
den Punkt des deutlichen Sehens einfach, in allen andern
Punkten aber doppelt ſehen (d), zum offenbaren Beweiſe,
daß der Zuſtand des Auges, gewiß und beſtimmt ſei, um
auf eine gewiſſe Weite deutlich ſehen zu koͤnnen, daß ſich
aber dieſer Zuſtand nicht aͤndern laſſe, um auch in einer
andern Weite deutlich zu ſehen.
Jch leſe, daß ſich der beruͤhmte Porterfield mit fol-
gender Ausflucht entſchuldigt (e). Die weiſe Seele aͤn-
dere ihr Auge nicht, ſo bald ſie ohne dem deutlich ſieht,
deutlich aber ſehe ſie durch ein kleines Loch.
Jch leſe ebenfals, was der beruͤhmte Smith(f),
von den Strahlen geſchrieben, die durch ein kleines Loch
nach auswendig gebogen wuͤrden, und alſo von einem naͤ-
heren Koͤrper herzukommen ſcheinen. Doch ich glaube
uͤberhaupt, aus den Figuren dieſes beruͤhmten Mannes
ſelbſt erſehen zu koͤnnen, daß ſeiner Hipotheſe zuwider, die
Vorſtellung von einem entfernten Koͤrper einfach, von ei-
nem nahen aber doppelt geſchehen muͤſſe.
Wenn man nun, wie oben gezeiget worden, bedenkt,
daß keine Kraͤfte da ſind (g), die Figur oder Kruͤmmung
der Linſe zu veraͤndern: und daß keine gewiſſe Bewegung
im Auge vorgehe, ausgenommen die Verengerung des
Sterns: wenn man noch bedenkt, daß auch in der Ca-
mera obſcura, die Verengerung der Pupille (h), oder
des Loches, durch welches das Licht einfaͤlt, macht, daß
nahe Objecte deutlich erſcheinen, ſo wird man mit mir
wahrſcheinlich finden, daß die Verengerung der Pupille
dazu hinreichend ſei, ſo wie ſie in den Menſchen ſtatt fin-
det, und ſich zu dem Phaͤnomenon paſſet (i). Warum
man aber hin und wieder die Veraͤnderung an der Linſe,
oder an dem inwendigen Auge (k) fuͤr nothwendig ange-
ſehen, davon ſcheint die Urſache in der gar zu groſſen
Breite des deutlichen Sehpunkts zu ſtekken, wie ſie be-
ruͤhmte Maͤnner angenommen haben. Wer ein Buch
von kleinen Schriften lieſet, wird leicht befinden, daß
eine geringe Diſtanz unſchaͤdlich ſei, wenn man dieſes
Buch naͤher oder weiter vom Auge halten darf, ohne
daß
H. Phiſiol. 5. B. T t t
[1026]Das Sehen. XVI. Buch.
daß dadurch das deutliche Sehen einen Abgang leiden
ſolte. Fuͤr mein Auge iſt dieſe Diſtanz nicht einmal ein
Zoll. Um aber die Vorſtellung von einem gedoppelten
Object hervorzubringen, ſo ſcheint dazu eine groͤſſere Di-
ſtanz erfordert zu werden (l).
Endlich geſteht es der beruͤhmte Jurin ſelbſt, daß
ſchon die Verengerung des Sterns allein bisweilen zu ei-
nem deutlichen Sehen ſchon hinlaͤnglich ſei, weil ein gar
zu haͤufiges Licht das Sehen oͤfters verwirrt macht (n).
Doch wir koͤnnen es auch nicht dabei bewenden laſſen,
was der beruͤhmte Daviel, vor Kurzem behauptet, daß
Menſchen mit einem unbeweglichen Regenbogen, der we-
gen des anhaͤngenden Staars verlezzet oder zerriſſen wor-
den (n*), gut ſehen koͤnnen. Vielleicht hat dieſer gute
Freund von einem Geſichte geredet, welches zu den Ge-
ſchaͤften des Lebens zureichend iſt, und ſich uͤbrigens nicht
um ein Geſicht bekuͤmmert, welches auf verſchiedene Wei-
ten anzuwenden iſt.
Bisher haben wir nur dasjenige Bild in Betrach-
tung gezogen, welches uns die umliegenden Koͤrper auf
der Nezzhaut abmahlt. Doch es iſt uͤberhaupt dieſes Bild
nicht das, was ſich die Seele vorſtellet, wie man leicht
aus der Betrachtung des Bildes, oder aus den Erfah-
rungen dererjenigen Menſchen erkennet, die blind ge-
bohren worden, und denen man mit einmal den Gebrauch
der Augen giebt.
An dieſem Bilde druͤkkt die Groͤſſe nichts (o) von der
wahren Groͤſſe des Objects aus, und es iſt eine Nadel (p),
welche man gegen einen entfernten Thurm haͤlt, eben ſo
groß als dieſer Thurm. Doch es befindet ſich auch an
dieſem Bilde kein Unterſchied in den verſchiedenen Wei-
ten (q), indem ſich alles gleich nahe, auf einerlei Flaͤche,
die unglaublich duͤnne iſt, abmahlt. Bei dem Bilde be-
findet ſich auch weder Convexitaͤt noch Concavitaͤt, ſon-
dern man bemerkt nur lichte und ſchattigte Stellen auf die-
ſer vollkommnen Ebene, ja die Ebene wird nicht einmal
durchs Geſicht unterſchieden, indem daſſelbe der Seele
nichts als Farben vorhaͤlt (r). Diejenigen, welche die
Sache auf eine feine Art unterſuchen, wollen nicht ein-
mal, daß ſich Figuren (s) in dem Bilde der Nezzhaut
dergeſtalt ausdruͤkken, daß der Unterſchied eines Wuͤrfels
von einer Kugel, und der Unterſchied dieſer von einer
Pyramide, durch gefaͤrbte Strahlen beſtimmt werde (t),
wie es doch in der That gewiß iſt, und daß ſich kein feſter
Koͤrper jemals ganz abmahlen laſſe, daß ſich an einem
Wuͤrfel aus den vordern Linien, nichts auf die hintern
verborgenen Linien unterſcheiden laſſe, oder daß man et-
was aus dem Bilde, auf die gleiche Zwiſchenraͤume ſchlieſ-
ſen laſſe. Doch es druͤkkt auch eine ſichtbare Bewegung,
keine fuͤhlbare Bewegung zugleich aus (u).
So glaubte ein Blinder, der es von der Geburt her
war (x), als man ihm nach niedergedruͤkktem Staare die
T t t 2Kraft
[1028]Das Sehen. XVI. Buch.
Kraft zu ſehen mittheilte, daß alle Koͤrper auf ſeinen Au-
gen laͤgen (y), er hatte keinen Begrif von der Diſtanz, er
erkannte keine Koͤrper des Geſichts, deren Figur er ſich
ſchon durch das Gefuͤhl bekannt gemacht hatte (z), er
vermuthete nicht, daß dieſe Figuren in den Mahlereien feſte
Koͤrper vorſtellen (a), und er verwunderte ſich, wie die
Aehnlichkeit eines Menſchen vom Mahler auf ein ſchma-
les Tuch gebracht werden koͤnne (b), und er konnte nicht
begreifen, daß etwas groͤſſer als diejenige Kammer ſein
koͤnnte, welche er vor ſich ſahe (c).
Doch es ſcheint auch gar nicht zweifelhaft zu ſein, daß
wenn unſere Augenſaͤfte, die Kruͤmmung der Linſe und
Hornhaut anders waͤre, und die brechende Feuchtigkeiten
auf verſchiedene Weiſe braͤchen, und das Auge andere
hole oder prismatiſche Figuren bekaͤme, und die brechen-
de oder abprallende Kraͤfte der Strahlen veraͤndert wuͤr-
den, und die Zartheit der Nezzhaut anders beſchaffen
waͤre, und was dergleichen mehr iſt, ſo wuͤrden auch an-
dere Bilder und andere Urtheile der Seele von den aͤuſ-
ſerlichen Objecten entſtehen, und es wuͤrde bei einigen
Thieren dasjenige ein groſſes Licht ſein, was fuͤr andere
eine dikke Finſterniß bliebe.
Ueberhaupt kann man alſo den George Berkley die
ſcheinbare Ausſchweifung nicht eben fuͤr uͤbel halten, wenn
er das ganze Geſchaͤfte des Sehens fuͤr ein willkuͤhrliches
Geſpraͤche zwiſchen Gott und der Creatur haͤlt (d), und
die Creatur von den Dingen nichts wahrnehme und em-
pfinde, als was Gott will, daß ſie wahrnehme und em-
pfinden
[1029]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
finden ſoll, damit der Menſch durch dieſe Zeichen, wie
durch die Hand Gottes zur Erhaltung ſeiner ſelbſt gelei-
tet werde (e). Es laͤge alſo in den Sachen ſelbſt kein
nothwendiges Principium, warum wir uns von den koͤr-
perlichen Dingen, dieſe und keine andere Vorſtellung
machen. Zu dieſer Meinung bequemte ſich auch der P.
Malebranche und Boerhaave.
Folglich hat man, ſo wie die Blinden durchs Tappen
(f), die Eigenſchaften der Koͤrper zu erkennen, ſich all-
maͤhlig des Geſichts bedienen gelernt, und zwar jener
Mann beim Akrell, geſchwinde, ſo wie der beim Che-
ſelden langſamer, indem dieſer kaum nach einem oder
dem andern Monathe erſt die Betruͤgereien der Mahler-
kunſt entdekken gelernt. Folglich wird in der That vermittelſt
des Gefuͤhls eine Harmome zwiſchen den Eigenſchaften
der Koͤrper, und zwiſchen dem auf der Nezzhaut abge-
mahlten Bilde, erweislich gemacht.
Ueberhaupt wird die Groͤſſe von einem einzigen Auge
geſchaͤzt, und damit wir uns einfaͤltiger erklaͤren moͤgen,
vermittelft desjenigen Winkels, welchen zwei Enden des
gegen uͤberliegenden Koͤrpers, mit dem ſehendem Punkte
der Nezzhaut machen (g). Man koͤnnte ſie auch nach der
Groͤſſe des Bildes ſchaͤzzen, welches ſich auf der Nezzhaut
abmahlt (h), indem daſſelbe einerlei Verhaͤltniſſe, als
gedachter Winkel hat. Folglich findet ſich bei dieſen Ur-
theile nicht das mindeſte wahre (i), wofern nicht zwei Ob-
jecte, die man mit einander vergleicht, gleich leuchtend
T t t 3ſind,
[1030]Das Sehen. XVI. Buch.
ſind, und in einerlei Diſtanz vom Auge geſtelt werden,
denn es beweiſet die gleiche Groͤſſe dieſes Winkels alsdann,
daß die Koͤrper gleich groß ſind: waͤre er groͤſſer, ſo wuͤr-
de auch das Object groͤſſer ſein, und ſo wuͤrde das Object
im Gegentheil kleiner ſein, welches unter einem kleinern
Winkel erſcheinet. Jch ſage aber darum nicht, die See-
le meſſe dieſe Winkel aus, denn ſie kennet dieſelben nicht
(k): ich will nur ſo viel ſagen, daß die Jdee der Groͤſſe,
Kraft des ewigen Geſezzes von Gott, mit dieſem Winkel
verbunden ſei.
Nun irren wir, wenn wir blos aus dieſem Winkel
urtheilen wollen, und wir irren hiebei auf eine vielfache
Art: erſtlich wenn dieſe Koͤrper auf verſchiedene Weiſe
leuchten. Denn da der Sehwinkel mit dem Maaß der
Strahlenwinkel einerlei iſt, die beide Koͤrper von ſich laſ-
ſen, ſo geſchicht es, daß uns aus gleichem Grunde, auch
diejenigen Koͤrper groͤſſer zu ſein ſcheinen (l), welche hel-
ler ſind, und hievon geben uns die Fakkeln und Lichter
ein Exempel. Wir irren aber um ſo viel mehr, je ent-
fernter dieſe leuchtende Koͤrper von uns ſind. Denn da
uns entfernte Dinge gemeiniglich dunkel vorkommen, und
uns wenig ruͤhren, ſo urtheilen wir, daß ſie ſehr groß
ſein muͤſſen, weil ſie weit von uns und dennoch helle ſind.
Jch habe oͤfters bemerket, wenn ich ſpazzieren gegangen,
daß mir die Flamme einer Wachskerze um deſto groͤſſer
vorgekommen, je weiter ich davon zuruͤkk getreten, und
ſie wurde immer kleiner, je naͤher ich ihr kam. Eden ſo
erinnere ich mich, bei der Feuersbrunſt entfernter Doͤr-
fer, daß mir die Leute dabei faſt von Rieſen Groͤſſe ge-
ſchienen.
Wir irren auf eine andere Weiſe wieder, ſobald Koͤr-
per von deren Groͤſſe wir urtheilen, nicht gleich weit ab-
ſtehen. Denn da der Winkel, nach welchen wir die Groͤſſe
meſſen,
[1031]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
meſſen, beſtaͤndig um ſo viel abnimmt (m), als ſich das
Object vom Auge zuruͤkkdruͤkkt, ſo ſcheinen uns Koͤr-
per, welche weit abliegen, wenn alles uͤbrige gleich iſt,
allezeit kleiner zu ſein, bis ſie uns endlich aus den Augen
verſchwinden (n). Folglich muß man allemal, wenn
man von der Groͤſſe urtheilen will, die Diſtanz mit in
Rechnung bringen (o).
Unter gleich weit entfernten Dingen, erblikken wir
einen hohen Koͤrper, z. E. einen Thurm nicht ſo gut, als
wenn eben dieſer Koͤrper auf eine Ebene gelegt wird (p).
Wir urtheilen ſchlecht von dem Unterſchiede entfern-
ter Koͤrper, was ihre Groͤſſe betrift (q), daß dasjenige
klein ſei, wodurch ſich die ſo kleine Bilder unterſcheiden.
Es ſcheint auch die Seele von der groͤſſern Empfin-
dung der Nezzhaut, auf die Groͤſſe des erblikkten Koͤrpers
zu ſchlieſſen: Daher ſehen diejenigen, denen vor kurzen
der Staar geſtochen, und das Geſichte wiedergegeben
worden, Dinge groͤſſer (r). Es ſahe auch ein Epilepti-
ſcher, die Objecte groͤſſer (s). Dieſe eingebildete Groͤſſe
mindert ſich, wenn man die Empfindungen wiederholet.
Die uͤbrigen Urſachen, warum die Seele von der
Groͤſſe der Dinge bald ſo, bald anders urtheilet, ſcheinen mir
entweder zu ſubtil, oder auch nicht wahr zu ſein. Da
uͤberhaupt die Groͤſſe des auf der Nezzhaut abgemahlten
Bildes, wenn alles uͤbrige gleich iſt, wie der Sehwinkel
und wie das Maaß der Groͤſſe beſchaffen iſt, ſo hat man
ſich auf eine ſubtile Art ausgedacht, es muͤſſe ſich alles in
T t t 4einem
[1032]Das Sehen. XVI. Buch.
einem kleinern Auge auch kleiner abmahlen, und folglich
muͤſten die Kinder, und die kleinen Thiere, Dinge kleiner
ſehen (t): Dahingegen glaubte der beruͤhmte Cheyne
(u), daß ſich die Empfindung von den ſichtbaren Groͤſſen
verkehrt, wie die Groͤſſe des Koͤrpers verhalte, ſo daß
eine Maus alſo die Dinge um ſo viel groͤſſer ſehen muͤſte,
als ſie gegen Elephanten kleiner iſt.
Jch wuͤrde leicht glauben, daß ein jeder Menſch die
Einheit ſeiner Groͤſſe von ſich ſelbſt hernimmt, und daß
er alle Koͤrper mit den ſeinigen vergleicht: Daher ſcheinen
uns diejenigen Dinge groͤſſer, welche groͤſſer, als unſer
Koͤrper ſind. Jch erinnere mich ſehr wohl, daß mir die
Baͤume, Haͤuſer, Staͤdte und Berge groͤſſer vorgekom-
men, als ich noch ein Kind war, und vor Kurzem ſchie-
nen ſie mir alle kleiner geworden zu ſein, da ich nach ei-
ner langen Zwiſchenzeit von ſo vielen Jahren, mein Va-
terland das erſtemal wieder ſahe.
Jch gebe es leicht zu, daß verſchiedene Menſchen auch
verſchiedene Groͤſſe ſehen (x).
Jch glaube auch nicht, daß uns Dinge groß ſcheinen
ſolten, die man undeutlich ſieht (y): Auch ſehen unſere
Augen nicht in der Kaͤlte Dinge kleiner (z): oder daß die
veraͤnderte Weite des Sterns (a), die Vorſtellung von
der Groͤſſe veraͤndern ſollte, indem ſich dieſe Erſcheinung
ſehr leicht beurtheilen laͤſt (b): Es koͤnnen uns auch nicht
diejenigen Dinge kleiner vorkommen, welche wir mit Auf-
merkſamkeit betrachten, ſo wenig als die Kurzſichtigen,
Objecte kleiner ſehen werden (c). Von allen dieſen habe
ich nichts durch die Erfahrung bemerken koͤnnen. Doch
es
[1033]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
es aͤndert auch nicht einmal das enge Loch, durch welches
man ſiehet (e), unſer Urtheil von der Groͤſſe.
Es befindet ſich der Ort eines erblikkten Objects, wel-
ches wir mit einem einzigen Auge anſchauen, in derjenigen
Linie, die zwiſchen denen zwo geraden Linien iſt, welche
man von dem empfindendem Theile der Nezzhaut an, bis
zu den Graͤnzen dieſes Objects zieht (f).
Wenn wir mit zweien Augen ſehen, und vielleicht ge-
ſchicht dieſes niemals, als dann iſt der Ort am Ende der
Sehachſen, oder in dem Punkte, wo ſich beide Linien
durchſchneiden, die man von dem empfundenen Punkte
der Nezzhaut auf das Object zieht. Folglich wird uns
ein Object doppelt vorkommen, wenn ſich dieſe Punkte
einander nirgends durchſchneiden.
Es iſt der Verſuch leicht zu machen. Jch fange blos
mit dem linken Auge zu ſehen an, ich bemerke den Punkt,
in welchem das Object erblikkt wird. Wenn ich nun das
linke Auge ſchlieſſe, und blos das rechte gebrauche, ſo
huͤpft das Bild, und es wendet ſich linker Hand hin. Es
muß aber der Koͤrper nicht gar zu groß ſein.
Man glaubt, daß die Seele auch hier durch die Er-
fahrung, den Effect des Auges verbeſſere (g). Wenn
daher ein Object unbeweglich iſt, ſich aber die Nezzhaut
bewegt (h), ſo werden ſich die Objecte zu bewegen, und
ruͤkkwaͤrts zu laufen ſcheinen, wenn wir geſchwinde vor
demſelben vorbei fahren, wie man an den Fluͤſſen ſiehet
(i), deren Ufer zuruͤkk fliehen, und wenn wir uns ſelbſt
in die Runde umdrehen, ſo ſcheinen die Objecte nach ei-
T t t 5ner
[1034]Das Sehen. XVI. Buch.
ner gegenſeitigen Richtung, in Kreiſe zu laufen (k): ſo
wie wir glauben, daß ſich der Mond gleich mit uns be-
wege, weil ſich das Bild deſſelben, in unſerm Auge nicht
veraͤndert (l).
Koͤrper die in unſern Augen ſelbſt zu gegen ſind, glau-
ben wir alle auſſerhalb unſerm Auge zu ſehen, z. E. die
Kuͤgelchen, und durchſichtige Linien, denn dieſes ſind die
Kuͤgelchen und Gefaͤſſe der Nezzhaut (m): man ſollte
glauben, daß dieſelben in dem kleinen Loche, durch wel-
ches das Licht koͤmmt, genau liegen muͤſten. Daß ſie zwi-
ſchen der Nezzhaut und der glaͤſernen Feuchtigkeit ihre
wahre Stelle haben, behauptet Smith(n), und wie es
ſcheint auch Meiſter. Wir haben aber an der Nezz-
haut zuverlaͤßig rothe Schlagadern, die man an dem
Glaßkoͤrper noch nicht erwieſen hat, und es entſtehen der-
gleichen Flekke, wenn man ein ſehr ſtarkes Licht anſieht
(o). Dieſer Anblikk ruͤhrt die Nezzhaut, wo der Brenn-
punkt iſt, und nicht den glaͤſernen Koͤrper, es hat ſchon
Pecquet laͤngſt (p), und ohnlaͤngſt der beruͤhmte Por-
terfield(q), dieſe Geſchwuͤlſte an der Nezzhaut abge-
zeichnet.
An dem Bilde ſelbſt zeigt ſich keine Verſchiedenheit
der Diſtanz, daher konnte ſich jener Blinde beim Che-
ſelden, auf keinerlei Art aus dem Jrrthum heraus fin-
den (r), und es glauben die Kinder, daß alle entfernte
Dinge
[1035]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
Dinge klein ſind (s). Doch auch wir ſehen in der That
entfernte Dinge klein (t). Die Seele wird durch den
langen Gebrauch der Dinge kluͤger (u), bleibt aber den-
noch allezeit noch unvollkommen unterrichtet, wenn ſie
von dem Unterſchiede der Diſtanzen urtheilen lernt (x).
Carteſius glaubte, die Seele beurtheile die Diſtanz
nach der Art eines Blinden, nemlich aus der Groͤſſe des
Winkels (y), den die im Objecte zuſammenkommende
Sehachſen machen: Es iſt aber dieſer Winkel allezeit
groͤſſer, je naͤher das Object, und kleiner, je entfernter
das Object iſt.
Dieſen Winkel koͤnnen weder Voͤgel noch Fiſche (z),
noch einaͤugigte Perſonen, wie auch diejenigen nicht haben,
welche mit einem einzigen Auge ſehen. Deswegen bedienen
ſie ſich entweder des Winkels, der vom ſtrahlendem Punkte
auf die Graͤnzen der Hornhaut gezogen wird (a), oder
desjenigen Winkels, den die Enden eines ſichtbaren Ob-
jects, mit dem empfindenden Punkte der Nezzhaut ma-
chen, weil beide Winkel um ſo viel groͤſſer ſind, je naͤher
das Object, und ſo im Gegentheil.
Jndeſſen kennet die Seele doch dieſe Winkel wirklich
nicht (b), und es gehoͤret das Urtheil, welches man dem
Winkel zuſchreibet, einzig und allein zu der Empfindung
von der Groͤſſe, von der eben dieſer Winkel das Maaß
iſt (c). Wir bedienen uns uͤberhaupt der Regel, daß die
Diſtanzen verkehrt, wie die ſichtbare Groͤſſen ſind (d), ob
wir gleich nicht genan in einer gedoppelten Entfernung,
Dinge
[1036]Das Sehen. XVI. Buch.
Dinge gedoppelt kleiner ſehen (e). Wir haben nemlich
gelernt, daß ein gleich groſſer Menſch, der uns nahe iſt,
viel kleiner zu ſein ſcheine, wenn er ſich auf hundert Fuß
weit von uns entfernt, und daß er wieder kleiner ausſieht,
ſo bald die Diſtanz tauſend Fuß betraͤgt. Wenn wir al-
ſo eine Groͤſſe wiſſen, ſo bedienen wir uns derſelben als
einer bekannten Quantitaͤt, welche wir vergleichen, um
die Diſtanz herauszubringen. Wir irren alſo, ſo oft wir
die wirkliche Groͤſſe nicht wiſſen (f). Die Niederkeit
hoher Koͤrper traͤgt zur Diſtanz etwas mit bei. Jch glau-
be nicht, daß einaͤugige Perſonen Diſtanzen unrichtig
ſchaͤzzen ſollten (g), da man Voͤgel die ſo genau auf ihre
beſtimmte Beute zu fliegen, wegen ihrer ſeitwaͤrts gela-
gerten Augen, fuͤr einaͤugig halten kann, und da Jaͤger
nur ein einziges Auge gebrauchen, ob es ihnen gleich dar-
an gelegen iſt, die Weite genau zu wiſſen.
Es gehoͤren alſo auch in das Urtheil uͤber die Diſtan-
zen andere von der Erfahrung hergenommene Groͤſſen.
Die Erfahrung lehrt, daß alles bleich und undeutlich
wird, je weiter eine Sache abliegt. Die Bleichheit iſt
gedoppelt, eine, welche von den wenigen Strahlen her-
ruͤhret, die von entfernten Objecten kommen (h), welche
beſtaͤndig iſt, und Urſache wird, daß lebhaft gefaͤrbte
Objecte naͤher erſcheinen (i).
Die andere Blasheit, entſtehet von der blaͤuligen da-
zwiſchenliegenden Farbe der Luft (k), deren Wirkung
um ſo viel groͤſſer iſt, je tiefer die Luftſaͤule zwiſchen uns
und zwiſchen dem Objecte liegt. Daher ſehen uns die
Berge blau aus.
Es laſſen ſich auch die Theile eines entfernten Koͤrpers
nicht recht unterſcheiden (l), theils weil ihr Bild nicht
recht klar iſt, theils weil dieſe Theile gar zu klein erſchei-
nen, und einen Winkel machen (m), welcher kleiner iſt
als derjenige, unter welchen wir deutlich ſehen. Daher
ſcheinen uns Berge nach dem Regen nahe, und bei ſchwu-
lem Himmel entfernt zu ſein, weil wir durch die gereinig-
te Luft, Baͤume und andere Koͤrper gut unterſcheiden,
hingegen durch einen ſchwulen, und mit Daͤmpfen uͤber-
ladenen Himmel weniger Dinge erkennen koͤnnen.
Hiezu koͤnnte man noch ſezzen, daß unſer Auge die
Diſtanzen der Koͤrper weniger bemerken koͤnne, von de-
ren Diſtanz wir gewiß wiſſen, daß ſie groß ſei, und als-
dann uͤberzeuget uns dieſelbe, daß ſolche Objecte entfernt
ſind, wenn ſie uns gleich wirklich nahe zu ſein ſcheinen.
So ſehen wir daß Alleen zwiſchen Paralellinien (n) ſich
von uns weit entfernen, weil die Diſtanz der beiden lezz-
ten Baͤume, von der wir wiſſen, daß ſie groß iſt, uns
nur klein vorkoͤmmt.
Dieſer Huͤlfsmittel bedienet ſich die Seele: Und ver-
mittelſt derſelben druͤkken Mahler die Entfernungen der
Dinge richtig, durch eine kleinere und bleiche Figur, durch
Beimiſchung blauer Daͤmpfe, durch ſchwache und ver-
worrene Umriſſe, und dadurch aus, daß ſie die Diſtan-
zen groſſer Dinge vermindern:
Einigermaſſen bedienen wir uns auch dabei einer
Menge von zwiſchenliegenden Koͤrpern: Denn dieſe deu-
ten uns eine groͤſſere Diſtanz an (o),(p). Daher ſchei-
nen uns Teiche viel ſchmaͤler zu ſein. Hiemit verbindet
die Seele, Kraft ihrer wiederholten Erfahrung das Still-
liegen
[1038]Das Sehen. XVI. Buch.
liegen der Koͤrper, wenn wir wiſſen, daß dieſe Koͤrper
groß ſind, und uns ſtille zu liegen ſcheinen, und andere
von der Erfahrung hergenommene Sachen.
Die uͤbrigen Huͤlfsmittel, z. E. das Beſtreben, wo-
durch wir uns Muͤhe geben, unſer Auge zu aͤndern, wenn
wir die Laage, oder Convexitaͤt der Cryſtallinſe aͤndern
(q), oder die Sehachſe anders ſtellen (r), darf ich, weil
ſie ſich auf eine Hypotheſe gruͤnden, nicht gelten laſſen (s).
Ob es endlich gleich wahr iſt, daß alles je naͤher es
uns liegt, diſſeits der Diſtanz des deutlichen Sehens al-
les in der That verwirrter erſcheint (t), ſo habe ich doch
niemals erfahren, daß die Seele daraus urtheilt, das
Object ſei uns naͤher. Wir pflegen niemals in gemeinen
Leben gar zu nahe Objecte zu beſchauen: Wie wir oͤfters
aus Noth nach gar zu entfernten Koͤrpern ſehen muͤſſen,
und wir lernen aus dem Gebrauch, auf was vor Art ſie
ſich im Auge vorſtellig machen.
Wir urtheilen, daß ſich ein Koͤrper bewege, wenn
man ihn, den Augenblikk bald in dieſem bald in einem an-
dern Punkte durch die Sehachſe erblikken. Folglich kann
ſich viel verfuͤhreriſches hiermit einmiſchen. Alles ſcheint
zu ruhen, was in einer gegebenen Zeit einen ſehr kleinen
Raum durchlaͤuft, ſo daß der Zwiſchenraum des zweiten
Punkts, unter welchem wir es ſehen, vom erſten, mit ei-
nem gar zu kleinem Winkel gemeſſen wird. So ſcheint
uns das Sper an einer Uhr ſtille zu ſtehen, ſo wie das
Blut in den Blutadern eines lebendigen Froſches, und
die Thierchen im Saamen. Wenn man ein Vergroͤſſe-
rungs-
[1039]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
rungsglas gebraucht (u), damit die Diſtanz, welche dieſe
Koͤrper durchlaufen, groͤſſer werden moͤge, ſo ſehen wir,
daß ſich Dinge, welche ſtille lagen, geſchwinde genug be-
wegen. Daher ſcheinen ſich auch entfernte Koͤrper nicht
zu bewegen (x), weil wegen des zu kleinen Winkels, den
ſie machen, die Diſtanz des erſten und zweiten Orts nicht
diſtinguirt werden kann. Dieſes beſtimmt G. Porter-
field genauer, nemlich wenn der Raum, den ein beweg-
ter Koͤrper in einer Secunde durchlaͤuft, ſich zur Diſtanz
vom Auge, wie 1. zu 1400. verhaͤlt (x*).
Es iſt dieſes Urtheil ſehr willkuͤhrlich und betruͤglich.
Es hat uns die Erfahrung gelehrt, ein Koͤrper ſei uͤber-
haupt hohl, wenn er ſeinen Schatten auf der mit unſerer
rechten Hand uͤbereinſtimmigen Seite, und convex, wenn
er ſeinen Schatten auf derjenigen Seite hat, die unſerer
linken Hand gegen uͤber liegt.
Selbſt unſere bloſſe Augen verfuͤhren uns nicht ſehr,
wofern wir ſie nicht verdrehen. Denn wenn man ſich
dieſe Muͤhe giebt, und das Auge umdreht, und dieſes
iſt mir jezzo, ob ich es gleich oft wiederholet habe, doch
zum Behuf meiner Beſchreibung nicht moͤglich, ſo ver-
kehren ſich ſo gleich bei mir die Convexitaͤten, und es
ſcheinen mir die Graben, und z. E. am Siegel alles er-
haben zu ſein, was doch wirklich tief iſt.
Hier verfuͤhret auch das Vergroͤſſerungsglas ſehr (y),
und uͤberhaupt macht es Dinge flache die convex ſind, je
ſtaͤrker es vergroͤſſert (z), und dieſes iſt die Urſache, war-
um maͤßig vergroͤſſernde Glaslinſen, Blutkuͤgelchen con-
vex,
[1040]Das Sehen. XVI. Buch.
vex, gar zu feine Glaͤſer aber ſelbige flach vorſtellen. Doch
ſie zeigen auch bisweilen Dinge convex (a), die hohl ſind,
ſo daß nicht nur verſchiedene Menſchen, davon verſchie-
dentlich urtheilen, ſondern auch einerlei Menſch der ſich
in einer andern Laage befindet, ein ander Urtheil faͤllet.
Ob die Natur gleich das Auge beſtimmt hat, Farben
zu unterſcheiden, ſo erſcheinen dieſe darum doch nicht im-
mer auf einfoͤrmige und beſtaͤndige Art. Man erlaube
uns, weil es die Sache wohl verdienet, das gemeine, fuͤr
einen Beobachter aber wichtig werdende Phaͤnomenon
anzufuͤhren, Kraft deſſen geſtoſſene (b), geriebene Augen
(c), die krampficht ſind (d), oder vom Schwindel (e), Hu-
ſten (f), Erbrechen (g), oder von der Bearbeitung klei-
ner Koͤrper (h) gereizzet worden, oder wenn man des
Nachts von ſelbſt erwacht (i), wirkliche Funken ſehen,
die bis zwei Secunden lang oder beſtaͤndig dauren (k), und
die nicht weniger lebhaft zu ſein ſcheinen, als ſie ſind, welche
Stahl und Cryſtall von ſich geben, wenn man Feuer an-
ſchlaͤgt. So gar haben einige Menſchen bei dieſen ein-
gebil-
[1041]IV. Abſchnitt. Das Sehen.
gebildeten Funken des Nachts Objecte ziemlich unterſchei-
den koͤnnen (l), wofern dieſes Stuͤkk der Geſchichte
wahr iſt.
Es laſſen ſich dieſe Lichter in ſo viel Kreiſe verwan-
deln (m), als Punkte des Auges gedruͤkkt werden, und
ſie leuchten um ſo viel lebhafter, je tiefer man das Auge
mit den Finger druͤkkt, und erſcheinen um ſo viel kleiner,
je kleiner der Koͤrper iſt, mit welchem man den Drukk
verrichten laͤſt (n). Dieſe Lichtpunkte verwandeln ſich zu
Kreiſen, weil die lebhafte Empfindungen nicht gleich wieder
verſchwinden. Jch glaube faſt, daß dieſes von der ge-
drukkten Nezzhaut herruͤhre (o), weil dieſe ganz allein
vom Lichte oder Farben Empfindungen hat, und daß da-
zu ein guter und kein gelaͤhmter Sehenerve (o*) dazu er-
fordert werde. Es iſt aber dieſes eine ſonderbare und
nuͤzzliche Lehre, daß unſere Seele gleiche Empfindungen
mit einander verwirrt, oder daß ſie die Folgen einer
unbekannten Urſache, einer beſſer bekannten Urſache zu-
ſchreibt, ſo oft bei Wirkungen eine Gleichheit ſtatt fin-
det. Daher iſt uns der Drukk auf die Nezzhaut, wel-
cher von dem aͤuſſern Lichte entſtehet bekannter, als der
Drukk, welcher von einem harten aber nicht leuchtenden
Koͤrper herruͤhret: da doch Drukk und Drukk in der Art
uͤbereinkommen, ſo glaubt doch die Seele von der gedruͤk-
ten Nezzhaut ein Licht zu bekommen, wie wol dieſer
Drukk von einem andern Koͤrper herruͤhret.
Die Farben ſtellen ſich eben ſo wie das Licht, ohne
eine aͤuſſerliche Urſache dem Auge vor: bisweilen geſchiehet
dieſes
H. Phiſiol. 5. B. U u u
[1042]Das Sehen. XVI. Buch.
dieſes von einer inwendigen Urſache, von Fiebern (p),
von Augen, die in Finſtern gerieben werden (q), und von
Ohnmachten (r): Dieſe Farben verwandeln ſich ebenfals
in Kreiſe (r*), man muß hier nicht vergeſſen, daß man
aus dieſen Pfauenfarben ſehen koͤnne, wie ein ſtarkes
Reiben unſer Auge auf eben die Art ruͤhre, als das Licht
oder die rothe Farbe, endlich folgen ſo wie die Empfindung
vom Reiben abnimmt, nach und nach immer ſchwaͤchere
Farben, bis endlich keine mehr uͤbrig iſt, wie ſolches auch
vom Sonnenbilde zu geſchehen pfleget (s), und daß folg-
lich der kleinſte Drukk der Nezzhaut von der Seele fuͤr
eine Violetfarbe, und der groͤſte Drukk fuͤr Licht angeſe-
hen wird.
Da alſo ein zartes Auge von einerlei Urſache mehr
angegriffen wird, als ein calloͤſes, ſo glaube ich, daß
nicht alle Menſchen einerlei Farbe ſehen (t).
Von neuem muͤſſen wir uns hier in die Hipotheſen
und Muthmaſſungen einlaſſen. Es koͤnnte uns
aber wunderbar vorkommen, daß uns das naͤch-
ſte Geſchaͤfte der Seele ſo wenig bekannt ſei, und da wir
die Bewegungen des Himmels ſelbſt beſſer verſtehen, ſo
ſind wir in der Erkenntniß unſrer eignen Seelen, d. i.
unſrer ſelbſt, und deren Arbeit, wenn ſie empfindet, und
ſich erinnert, voͤllig unwiſſend. Wir ſcheinen ſo geſchaf-
fen zu ſein, daß wir unſre Sinnen zur Erkenntniß der
Welt, gebrauchen ſollen: und nicht, daß ſich unſre See-
le ſelbſt beſchauen, und ihre Haushaltung und Leben er-
lernen ſoll. Was wir von ihr mit Gewisheit wiſſen, iſt
gewis nur was weniges, ein groſſer Theil iſt uns verbor-
gen, und ein nicht geringer Theil, wird uns in Ewigkeit
verborgen bleiben, wenn es uns von dem kuͤnftigen Wachs-
thume in der Erkenntnis darnach zu urtheilen erlaubt iſt,
was die verfloſſnen Jahrhunderte geliefert haben. Jn-
deſſen glaube ich doch, daß uns ein groſſes Licht hierinnen
aufgehen wuͤrde, wenn wir uns der Gelegenheit naͤrri-
ſche Menſchen, tolle und ſolche zu oͤfnen, die ihr Gedaͤcht-
nis verlohren haben, fleißiger bedienen wollten: wenn wir
das Gehirn derjenigen Thiere, deren Sitten und Ge-
ſchikklichkeiten uns bekannt ſind, mit dem menſchlichen
Gehirne genau vergleichen: und wenn endlich der kluͤge-
re, und zu Ueberlegungen geſchikktere Menſch, das Leben
und die Verrichtungen ſeiner Seele in einer langen Reihe
U u u 2von
[1044]Der Verſtand. XVII. Buch.
von Jahren, und von Jugend auf, ohne Hipotheſe be-
trachten, und genau und offenherzig eine Geſchichte von
ſeiner eignen Seele ſchreiben wollte.
Alle die uns bekannte fuͤnf Sinnen, ſtimmen darin-
nen mit einander uͤberein (a), daß ihr aͤuſſerſter Nerve,
in dem Werkzeuge eines jeden Sinnes, von einem fuͤhl-
baren Koͤrper beruͤhrt wird: und dieſes laͤſſet ſich vornaͤm-
lich durch das deutliche Exempel des Sehens, vermittelſt
eines auf der Nezzhaut gezeichneten Gemaͤhldes beſtaͤtigen.
Es mus aber dieſe Beruͤhrung des empfindenden Nervens
ihre Wirkung dergeſtalt, dem Gehirn mittheilen (b), daß
die Seele von dieſem aͤuſſern Objecte geruͤhret werde. Es
iſt naͤmlich gezeiget worden, daß die Seele blind ſein koͤn-
ne, wenn das Auge gleich an ſich gut iſt (c), wofern der
Weg vom Auge ins Gehirn gehindert, oder die Gegend
des Gehirns uͤbel beſchaffen iſt, zu der ſich der Sehnerve
hin begiebt.
Darum koͤmmt aber nicht, das auf der Nezzhaut ab-
gezeichnete Bild, oder die inwendig im Ohre hervorge-
brachte Bebung des Schalls, oder der Geſchmakk, der
die Zunge ruͤhret, ins Gehirn. Die Sache iſt im Se-
hen am deutlichſten, denn es kann das Bild durch den
langen und dunklen Weg zum Gehirne nicht durchgefuͤh-
ret werden, und es wuͤrde gleich hinter der Nezzhaut
ſchon ganz verworren gezeichnet werden (d), wenn gleich
der Sehnerve von allen Seiten durchſichtig waͤre.
Was wird alſo, und wie wird es ins Gehirn uͤber-
getragen? Wenn wir von den uns bekannten Empfindun-
gen
[1045]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
gen dasjenige abſondern, was ſie beſonders an ſich haben,
und blos dasjenige uͤbrig behalten, was ſie unter ſich ge-
mein haben, ſo wird dieſes ein Eindrukk in einen weichen
Nerven ſein (e). Man ſollte ſo gar glauben, daß dieſe
Bewegung bis zum Gehirne fortlaufe, wenn im Gehirn
vom Krachen des groben Geſchuͤzzes (f), ſo deutliche und
heftige Erſchuͤtterungen geſchehen: die denjenigen Erſchuͤtte-
rungen aͤhnlich ſind, die auf wirkliche Schlaͤge auf den Kopf
zu erfolgen pflegen. Dieſes laͤſſet ſich wiederum durch das
Exempel eines ſehr aͤhnlichen Funkens (g), von dem wirk-
lichen Zuſammenſchlagen des Feuerſteins und Stahles,
und eines andern eingebildeten Funkens der vom Reiben
des Auges, oder ohne einen Fehler am Auge, im ſchwe-
ren Gebrechen, und den Kraͤmpfen hervorgebracht wird,
bekraͤftigen. Hier iſt uͤberall nichts, als eine Bewegung
da, welche ſowol die Seele im Gehirn, als in der Em-
pfindung des aͤuſſerlichen Objects, den empfindenden
Nerven ruͤhrt.
Es koͤnnte die Bewegung vermittelſt der Schwingun-
gen der feſten Faſerchen des Sehnervens (h) ins Gehirn
gebracht werden: ſie kann aber auch durch die ſchnelle
Bewegung des, in dieſem Nerven enthaltnen Fluͤßigen,
davon wir an einem andern Orte reden wollen, verrichtet
werden: wir haben aber erwieſen, daß bei den Nerven
keine Schwingungen vorgehen; und folglich geſchehen die
Eindruͤkke der Sinnen, vermittelſt des fluͤßigen Elements
(i), und dieſe Eindruͤkke gelangen bis zu dem Orte, wo
ſie ſich der Seele darſtellen. Und dieſe Stelle iſt im Mar-
ke des groſſen, und des kleinen Gehirns (k).
Dieſes Mark beſteht aus Faſern (l): und es ſind die-
ſe Faſern weich (m). Folglich kann zulezzt das Fluͤßige
U u u 3der
[1046]Der Verſtand. XVII. Buch.
der Geiſter in die Faſern des Gehirnmarkes eindringen,
ſolche kruͤmmen, oder zuſammendruͤkken, denn hiervon
wiſſen wir nichts gewiſſes, und es laͤſt ſich auſſer dieſem
weiter nichts, nicht einmal durch Vermuthungen (m*)
heraus bringen.
Es iſt dieſe Betrachtung ſehr merkwuͤrdig, und ſie
laͤſſet ſich in eine tiefe Erkenntnis der menſchlichen Seele
ein. Die Sache iſt an ſich gewis, und man hat ſie ſchon
vorlaͤngſt angemerkt (n). Man mus aber genau dabei
unterſcheiden, und zeigen, daß ſich weder die Bilder von
den Dingen im Gehirn, noch in der Seele vorſtellig ma-
chen laſſen koͤnnen. Jm Sehen fallen die gefaͤrbte, und
unter gewiſſem Grade, und auf gewiſſe Art gebrochne
Lichtſtrahlen, auf die Faſern der Nezzhaut, und ſezzen
ſelbige in Bewegung. Jn unſerm Gehirn entſtehet nichts
als eine Bewegung (o). Ein wizziger Mann behauptete,
daß das Bild, zum Exempel, von einem Vierekke durch
zuſammenhaͤngende Faͤden auf die Art ins Gehirn ge-
bracht werde, daß zu beiden Seiten im Auge und im
Gehirn eine gleichmaͤßige Neigung der kleinen Linien
beobachtet wuͤrde; und ſo zeichne ſich das Gemaͤhlde in
das Gehirn ein (o*). Es nimmt aber dieſer beruͤhmte
Mann an, daß ſich dieſe Bewegung durch feſte Faſern
fort-
[1047]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
fortpflanze, da wir doch gezeiget haben, daß ſolche durch
dieſe Faſern nicht fortgefuͤhrt werden kann. Folglich iſt
die Bewegung, welche wie wir geſagt haben, von der
Nezzhaut fortgepflanzt wird, und im Gehirn entſteht, nicht
das Bild des geſehenen Koͤrpers (p), wie bereits gezeigt
worden: ſondern es iſt vielmehr, ſo viel wir einſehen, die
im Gehirn verurſachte und von derjenigen Bewegung her-
vorgebrachte Bewegung, welche der erblikkte aͤuſſerliche
Koͤrper in dem Auge erregt hat.
Nun iſt dieſe in den Faͤſerchen des Gehirns hervorge-
brachte Bewegung, bald ſo, bald anders beſchaffen, wenn
gleich die Gegenſtaͤnde, und das Licht einerlei iſt, nachdem
unſer Auge mehr, oder weniger erhaben, mehr oder we-
niger zart, mehr oder weniger gefaͤrbt iſt, und was ſonſt
bei dem Werkzeuge des Sehens mehr vor Bedingungen
ſind (q). Folglich findet zwiſchen den aͤuſſerlichen Koͤr-
pern, und zwiſchem dem, was im Gehirn durch ihren
Eindrukk vorgeht, zwar ein gewiſſes Verhaͤltnis, aber
kein Bild, noch Maas oder Modell ſtatt.
Es iſt ferner bei dem Geſchmakke des Meerſalzes (r)
eine kubiſche Figur, und eine priſmatiſche bei dem Ge-
ſchmakke des Salpeters zu gegen. Zwar behaupte ich
nicht, daß aus der Verſchiedenheit dieſer Figuren, auch
die Verſchiedenheit in ihrem Geſchmakke einzig und allein
gefolgert werden muͤſſe (r*); allein das wird doch Nie-
mand laͤugnen, daß der Unterſchied in der Figur der
Theile, auch einigen Einflus auf den Geſchmakk ſelbſt
habe (s). Nun legen ſich alſo auf die Zunge, wenn ſie
ſchmekkt, vierekkige oder runde Koͤrperchen, an die Zun-
genwaͤrzchen an, und es wird dadurch der Nervenbrei,
von einer gewiſſen Bewegung geruͤhrt, welche nur die
Zunge allein zu leiden geſchikkt iſt; indem ſich dieſe Ver-
U u u 4ſchie-
[1048]Der Verſtand. XVII. Buch.
ſchiedenheiten der Vierekken und Dreiekken an den ge-
ſchmakkmachenden Theilchen, von der naͤchſten Haut nicht
unterſcheiden laſſen. Wenn die Haut, wenn die von dem
Zungenuͤberzuge entbloͤſte Nerven keinen Geſchmakk koſten
oder unterſcheiden (t), ſo kann auch das Gehirn eben ſo
wenig auf dieſe Art durch ein fortgehendes Siſtem von
Nerven geruͤhrt werden, daß es vier und dreiekkige Figu-
ren empfinden ſollte: und es wird wiederum, wenn man
die Bekleidungen der Zunge, und die Beſchaffenheit
des Speichels aͤndert, bald dieſer, bald jener Geſchmakk
von einem und eben demſelben Objecte im Gehirn empfun-
den werden (u).
Vielweniger empfindet unſre Seele die Bilder und
Spuren der aͤuſſerlichen Objecte, wenn ſie wirklich empfin-
det. Es empfaͤngt das Gehirn, wenn wir ſehen, einige
Bewegung (x), unſre Seele aber empfaͤngt nicht ein-
mal dieſe Bewegung, viel weniger die Entfernungen,
die Groͤſſen, und andre Dinge, welche wirklich an den
Koͤrpern, die wir ſehen, vorhanden ſind. So ſiehet das
Nothe, aber nicht die Plaͤttchen der Koͤrper, welche rothe
Strahlen reflektiren (y), nicht andre verſchlukkende Strah-
len, nicht die vom Koͤrper zuruͤkkgeworfne rothe Lichtſtrah-
len (z): viel weniger die ſchwingende (a), und mit einer
gewiſſen Geſchwindigkeit bebende Plaͤttchen. Sie ſiehet
das Blaue, und kleine ſchwache Strahlen (b), die ſich
mehr als die rothen brechen laſſen, oder duͤnne zuruͤkkbeu-
gende Plaͤttchen (c); ſondern etwas, was ihr helle deucht,
und was ſie leicht vom Rothen unterſcheiden kann, ohne
dabei weder die Bauart des blauen Koͤrpers, noch etwas
von den Strahlen, die davon zuruͤkkſtrahlen zu bemerken.
Sie ſiehet eine Kugel: aber nicht ihre Convexitaͤt, welche
man
[1049]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
man mit Fingern miſſet, ſondern nur den auf gewiſſe Art
an ihr vertheilten Schatten (d).
Wenn alſo unſer Ohr Muſik hoͤret, ſo ſcheinet zwar
das Gehirn einige Erſchuͤtterungen zu leiden, welche von
der elaſtiſchen Luft, welche Bebungen macht, demſelben
beigebracht werden (e): und dieſe Erſchuͤtterungen ſind an
Geſchwindigkeit und an Lebhaftigkeit unterſchieden (f).
Und doch weis unſere Seele, ſonderlich wenn man in der
Muſik unerfahren iſt, nicht, daß es Zitterungen gebe,
und ſie weis noch viel weniger, daß die Anzahl dieſer Zit-
terungen den Unterſcheid unter den Toͤnen verurſache,
ſondern ſie empfindet blos die angenehm oder unange-
nehm aufeinander folgende Reihen der Toͤne.
Und dieſes mag von den ſecundis qualitatibus,
der Koͤrper genug ſein, welche wir, wie alle geſtehen (g),
auf eine ſich beziehende Weiſe empfinden. Sie bemer-
ken mit dieſem Nahmen die Farben, Toͤne, den Ge-
ſchmakk, deren Verſchiedenheiten von der Figur, dem Ge-
webe, und der Bewegung der unmerklich kleinen Theil-
chen der Koͤrper vielleicht herruͤhren koͤnnen (h).
Doch es empfindet auch unſre Seele die erſten Eigen-
ſchaften eben ſo wenig, es nennen aber die Metaphiſici
erſte Qualitaͤten, welche man in empfindbaren Dingen
wirklich befindlich zu ſein glaubt, als die Groͤſſe, die Haͤr-
te und Figur (i). Wir haben gezeiget, wie verſchieden
die Groͤſſe des Bildes im Gehirn, von der wirklichen
Groͤſſe des geſehenen Koͤrpers ſei, und ſo ſiehet auch, bei
dieſem Exempel nicht die Groͤſſe des im Auge abgemahl-
ten Bildes, ſondern etwas viel groͤſſeres, und welches
groͤſſer, als das ganze Auge iſt. Und ſo wie auch die
Bewegung vom Gehirn auf keine gewiſſe und feſte Art
empfunden wird, ſo wird ſie noch viel weniger von der
U u u 5Seele
[1050]Der Verſtand. XVII. Buch.
Seele empfunden, welche nicht einmal von der Bewegung
eine Jdee hat, ſondern blos die Wirkung von dem erſt
hie, und denn dort befindlichen Koͤrper ſich vorſtellt.
Daher koͤmmt es ferner, daß die Sinne hin und wie-
der unter einander unterſchieden zu ſein ſcheinen, und das
Auge auf andere Art, das Ohr wieder auf andere Art,
hingegen der Finger anders von eben demſelben Koͤrper
zu einerlei Zeit geruͤhret wird: ja es verbindet ſchon eine
oft wiederholte Erfahrung allein, fuͤhlbare Eigenſchaften
der Koͤrper, mit den ſichtbaren (k). So beſchrieb ein
Blinder, als er hoͤrete, daß der Scharlach vor andern
eine brennende Farbe habe, dieſe Lebhaftigkeit durch den
Schall einer Trompete (l).
Und dadurch geſchieht es endlich, daß in uns bald
dieſe, bald andre Jdeen entſtehen wuͤrden, wenn uns die
Natur andre Empfindungswerkzeuge verliehen haͤtte. Es
lieget naͤmlich in den Dingen ſelbſt gar keine Nothwendig-
keit, daß ſolche nicht anders, als durch dieſe Sinne er-
kannt werden koͤnnten, und ich zweifle nicht im geringſten,
daß wir nicht mit andern Sinnen (m), das magnetiſche
und elektriſche Fluͤßige, und den Aether eben ſo deutlich
empfinden koͤnnen ſollten, als wir Baͤche Waſſer, oder
die blizzende Stachel des Feuers erkennen. Wenigſtens
muͤſſen andre Seelen dieſe fuͤr unſre Sinne zu zarte Ele-
mente, mit gewiſſen Sinnen eben ſo leicht empfinden koͤn-
nen (n). So wuͤrde das ganze Reich des Lichtes, und der
Farben fuͤr uns ſo gut, als nichts ſein, wofern uns die
Natur alle blind gemacht haͤtte: und was wuͤrde der gan-
ze Umfang des Schalls uns helfen, wenn wir taub waͤren.
Schon lange haben manche geurtheilt, daß es mehr Sinne,
als
[1051]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
als unſre geben koͤnne, ob es uns gleich auf keinerlei Art
moͤglich iſt, von dem Bau der Werkzeuge, oder der Natur
eines ſolchen Sinnes einige Begriffe zu haben. Und es
iſt ein bloſſer Scherz, was einige von einem beſondern
Sinne der Verliebten getraͤumet haben (o).
Folglich kommen dieſe verſchiedene Sachen, erſtlich
auf die aͤuſſerlichen Gegenſtaͤnde, nebſt deren wirklichen
Eigenſchaften (p): zweitens auf ihren Eindrukk auf die
Werkzeuge der Sinnen (q): drittens auf die koͤrperliche
Wirkung dieſer Eindruͤkke, welche in das Gehirn uͤber-
getragen werden (r): viertens auf die Vorſtellung dieſer
Wirkung in der Seele (s) an. Und hier wird es wie-
derum wahrſcheinlich, daß beruͤhmte Maͤnner mit Recht
geſchloſſen (t), daß alles willkuͤrlich ſei, was uns Gott von
der Welt zu erkennen verſtattet, und nicht nothwendig.
Es koͤnnte ſich die rothe Farbe im Auge auf eine andere
Weiſe abmahlen, in das Gehirn einen andern Eindrukk
machen, und in der Seele eine andere Jdee hervorbringen.
Jndeſſen werden wir darum doch nicht hintergangen
werden, ob wir gleich nur die Merkmaale, und nicht
die Sachen ſelbſt empfinden: wenn nur dieſe Empfindung
der Merkmaale ſo beſtaͤndig iſt, daß von einerlei Urſachen
allezeit aͤhnliche Vorſtellungen, und in jedem Menſchen
und in allen Menſchen erzeuget werden: ich ſage aͤhnliche,
nicht aber eben dieſelben: und wenn nur bei dieſen Merk-
maalen der Dinge, zur Regel fuͤr das menſchliche Leben,
zu unſerm Schuzze und Gluͤkke, ſichere Vorſchriften ge-
geben werden koͤnnen. So verſichern uns die Pappire,
auf
[1052]Der Verſtand. XVII. Buch.
auf denen unter oͤffentlicher Beglaͤubigung, der Werth
von Gold oder Silber aufgedruͤkkl iſt, eines eben ſo wirk-
lichen Reichthums, als das Gold ſelbſt, oder Waaren die
mit dem Golde einerlei Preis haben.
Nun ſtellt ſich unſre Seele die Empfindung vor, es
entſtehet naͤmlich in derſelben ein neuer Zuſtand, welcher
vorher nicht vorhanden war, und in dieſem Zuſtande ſtel-
let ſich, ſo lange derſelbe waͤhret, etwas der Seele vor,
was in der Welt vorgeht: nicht das was vorgeht, denn
es mus daſſelbe oft wiederholt werden, ſondern etwas,
dem Vorgegangenen aͤhnliches (u), welches durch ein be-
ſtaͤndiges, doch willkuͤrliches Geſezze damit verbunden iſt
(x). Es iſt dieſes, ſo vorgehet, in unſerm Koͤrper eine
Beruͤhrung eines Nervens: und auſſerhalb unſers Koͤrpers
iſt es irgend eine Erſcheinung, die mittelſt eines, unſrer
fuͤnf Sinnen in der Seele die gegebne Veraͤnderung her-
vorbringen kann.
Hier fangen wir an, die Seele vom Koͤrper zu unter-
ſcheiden; denn was im Gehirn geſchicht, iſt die Bewe-
gung einer markigen Faſer; und was in der Seele vor-
geht, iſt eine, von dieſer Bewegung hoͤchſt verſchiedene
Jdee. Dieſe Jdee ſchwebt der Seele vor Augen, ſie
ſtellt ſich ſelbige vor, und ſie iſt ſich bewuſt, daß ſie ſich
dieſelbe vorſtellt; uͤbrigens iſt ihr alle Bewegung, ſo im
Gehirn, oder Nerven vorgefallen, voͤllig unbekannt (y),
ſo wie ein Kind, eben ſo gut neben mir hoͤrt, und Farben
ſieht, ohne daß es weis, daß es inwendig im Ohre hoͤret,
oder die Farben ſieht, wenn es ſolches nicht durch Ver-
nunftſchluͤſſe erlernt hat. Folglich iſt die Seele etwas
ganz anders, als der Koͤrper. Waͤre ſie ein Koͤrper,
und koͤnnte ſie ſich demohngeachtet Vorſtellungen machen,
ſo wuͤrde ſie in der That eine Bewegung im Gehirnmar-
ke, welche doch ganz allein im Koͤrper geſchicht, ſich vor-
ſtel-
[1053]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
ſtellen: ſo empfindet ſie aber dieſe nicht, ſondern die Far-
be, welche ſich dennoch nicht im Gehirne abdruͤkkt.
Es ſcheinet, daß ſich die Seele nicht alle Jdeen vor-
ſtellet (z), ſondern nur diejenigen, welche etwas lebhafter,
und uns nicht gar zu gewoͤhnlich oder bekannt ſind. Wir
ſcheinen nicht bei den gewoͤhnlichen Faͤllen des menſchlichen
Lebens, die Bewegungen im Athemholen, ob ſie gleich nach
Belieben geſchehen, und leicht zu empfinden ſind, ſobald
wir ſie empfinden wollen, zu empfinden. Wir empfinden
nicht diejenige ſchwache Unbequemlichkeiten, die von einem
ſtaͤrkern Lichte, oder anderswoher entſtehen, und die uns,
die Augenlieder zu verſchlieſſen noͤthigen, nicht die Toͤne,
nicht das Reiben der Kleider an unſrer Haut, und die-
ſes alles empfinden wir doch, ſo bald wir wollen: folglich
ſtellet ſich dieſes der Seele dergeſtalt dar, daß dadurch
ihr Zuſtand nicht bis auf den Grad geaͤndert wird, als
er geaͤndert werden mus, wenn wir uns dieſer Veraͤnde-
rung bewuſt ſein ſollen.
Bishieher ſcheine ich den Stahlianern zu viel ein-
zuraͤumen, welche die Unwiſſenheit unſrer Seele uͤber den
Bau unſrer Werkzeuge des Lebens, dem Mangel oder
der Schwaͤche dieſer Vorſtellung zuſchreiben, und ſie nen-
nen ſenſus vitalis(b), die Empfindung des eignen Koͤr-
pers, deſſen Zuſtand die Seele durch die nach allen Sei-
ten vertheilte Nervchen dergeſtalt empfindet, daß ſie ſich
derſelben nicht bewuſt iſt. Allein ich weiche doch von die-
ſen beruͤhmten Maͤnnern darinnen ab, daß unſre Seele
unſre dunkle Vorſtellungen empfinden kann, ſo oft es ihr
beliebt; da ſie doch im Gegentheil den Zuſtand der Leber,
oder der Gedaͤrme, wenn alles geſund iſt, und ſie gleich
noch ſo ſehr will, ſich nicht vorſtellen kann. Jn dieſem
Falle ſcheint die Vorſtellung ſchwach, und ohne Spuren,
hingegen im Fall der Stahlianer gar keine zu ſein.
Wir haben gezeiget, daß die Eindruͤkke der Sinnen
nicht ſo gleich wieder verſchwinden, ſondern einige Zeit
lang in der Seele gegenwaͤrtig bleiben, wenn auch ſchon
die koͤrperliche Urſache dieſer Eindruͤkke weggeraͤumt wor-
den, wovon der leuchtende Zirkel ein Exempel iſt, der
aus den Funken eines umgedrehten, und am aͤuſſerſten
Ende gluͤhenden Stabes, gebildet wird (c). Jn der That
gewinnt durch dieſe Fortdauer die Seele Zeit, die Vor-
ſtellung von koͤrperlichen Dingen eine laͤngere Zeit als ge-
genwaͤrtig zu behalten. Es kann aber die Seele, nach
Belieben (d), die Vorſtellung, oder wenigſtens doch die
Zeichen davon, noch uͤber dieſe Zeit hinausſezzen, behal-
ten, und ſich als gegenwaͤrtig vorſtellen. Es iſt Auf-
merkſamkeit, wenn die Seele, die ganze Zeit uͤber, als
die Vorſtellung dauert, blos auf dieſe Vorſtellung ihre
Aufmerkſamkeit richtet, und indeſſen alle andre Vorſtel-
lungen bei Seite ſezzt (e), denn dieſes kann die Seele
thun. Mit Huͤlfe dieſer Aufmerkſamkeit werden nun ei-
nige Zeichen der Vorſtellung dergeſtalt erhalten (f), daß
ſie im Menſchen lange und vollkommen uͤbrig bleiben, ich
ſage Zeichen, denn es bleiben die fuͤhlbare, Geſchmakk er-
regende, und von Koͤrpern refringirte Eindruͤkke (g), meh-
rentheils nicht ſo uͤbrig, wie wir ſie empfangen haben;
und ſo erhalten ſich die gehoͤrten Toͤne einiger maaſſen,
damit auch die Voͤgel, einen mit Aufmerkſamkeit angehoͤr-
ten Geſang wiederholen koͤnnen (h), ob wir uns gleich
den Ton ſelbſt, wenn wir gleich wollen, muͤhſamer, und
nur
[1055]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
nur die Zeichen vorſtellen, die wir doch ſelbſt durch das
Geſicht gelernt haben. Jndeſſen behalten wir am deut-
lichſten, und dauerhafteſten diejenigen Empfindungen,
welche in uns durch das Geſicht entſtehen (i). Wir traͤu-
men (k) zwar auch von Toͤnen, doch aber am meiſten
von Objecten, die uns durch das Geſicht oͤfters vorgeſtellt
werden. Die Einbildungskraft beſchaͤftigt ſich faſt einzig
und allein mit ſichtbaren Dingen. Wer dieſe Faͤhigkeit
beſizzet, kann ſich einen abweſenden Freund, Haus und
Baͤume dergeſtalt vormahlen, daß er ſie in ſeiner Seele
als gegenwaͤrtig ſieht, er kann die Sache nach dieſer Jdee
mit dem Pinſel abſchildern (k*), nicht ohne ausdruͤkkliche
Aehnlichkeit, und mit Worten dergeſtalt beſchreiben, daß
man ſie erkennen kann. Ohne dieſe Faͤhigkeit koͤnnen kei-
ne Dichter ſein. Cardan konnte wachend alles ſehen,
was er wollte, wobei doch die Bilder davon vor den Au-
gen auf und niederſtiegen (l). Ein dergleichen Beiſpiel
giebt der vortrefliche Bonnet(m). Es ſcheint aber das
Geſichte an den deutlichſten und kleinſten Bildern einen
Vorzug zu haben (n), indem dasjenige ein ſehr kleines
Theilchen vom Nerven iſt, das von den geſehenen Bil-
dern getroffen wird, und es liegen die Theilchen dieſes
Bildes in einer gewiſſen Ordnung, dergleichen in andern
Sinnen nicht vorkommt. Man haͤlt die Empfindungen
des Gehoͤrs fuͤr verwirrter, weil ſich viele Toͤne in einen
einzigen vereinigen (o).
Folglich erhalten ſich im Menſchen, Begriffe, welche
er mit Aufmerkſamkeit angeſehen: und welche ihn heftig
ruͤhren
[1056]Der Verſtand. XVII. Buch.
ruͤhren (p), als Feuersbruͤnſte, groſſe Schmerzen, und
ungewoͤhnliche Thiere (q) und ein groſſer Lerm. Ja man
hat auch in Schulen angemerket (r), daß diejenigen Kin-
der beſſer lernen, welche ihr Aufgegebenes laut ableſen.
Jn der Kunſt, welche lehret das Gedaͤchtnis wohl zu ge-
brauchen, verlangt man, daß diejenigen Bilder, welche
man behalten will, ruͤhren ſollen (s). Man kann glau-
ben, daß ſich dasjenige tiefer eindruͤkkt, was lebhafter
empfunden wird.
Jch ſage mit Fleis, im Menſchen, denn man ſtreitet
noch daruͤber, ob dieſe Erhaltung der Bilder im Gehirn,
oder vielmehr in der Seele geſchicht (t). Jndeſſen laͤſt
ſich doch kaum laͤugnen, daß nicht dieſe Spuren von den
Empfindungen im Gehirne ihren Sizz haben, wenn man
bedenkt, was blos eine Veraͤnderung in dem koͤrperlichen
Bau, auf dieſe hinterlaſſene Spuren fuͤr einen Einflus
hat (u).
Der Menſch wird mit einem ſehr beweglichen Ner-
venſiſteme auf die Welt gebracht, es geſchehen die Ein-
druͤkke ſeiner Sinne ſehr lebhaft, und ſie brechen ſo gleich
in Thraͤnen, und Kraͤmpfe aus. Es iſt aber in dieſem
Alter das Gehirn ungemein beweglich, und von einem
fluͤßigen Brei uͤberhaupt wenig unterſchieden: es ſcheinet
daß in ein ſolches hinfaͤlliges Element nichts eingezeichnet
werden koͤnne: und es verſchwinden uͤberhaupt die Spu-
ren von ſo heftigen Empfindungen den Augenblikk wieder.
Mit den Jahren wird eben dieſes Gehirn immer feſter,
und einigermaſſen hart. Und alsdann iſt die Wirkung
der Empfindungen weniger ſchnell, und weniger ſtark,
es bleiben im Gegentheil die Spuren der Dinge zuruͤkke,
und es iſt nun diejenige Faͤhigkeit der Seele, welche man
Gedaͤchtnis nennt, gemeiniglich ſeit dem achten Jahre,
und bisweilen noch fruͤher, im vollkommnen Stande da.
Endlich wird das Gehirn gegen das funfzigſte Jahr
immer haͤrter und haͤrter, ſo daß man dieſe Feſtigkeit bis-
weilen mit den Fingern, angehaͤngten Gewichtern, und
dem Meſſer beweiſen kann (x). Alsdann laſſen ſich die Spu-
ren der neuen Empfindungen, wie in eine harte Materie
muͤhſamer eindruͤkken (y); und ſie bleiben darinnen we-
nig haͤngen. Dahingegen bleibt das Andenken von alten
Dingen, als ob es zugleich mit dem Gehirne verhaͤrtet
worden, viel dauerhafter noch uͤbrig. Wenn daher das
Gedaͤchtnis, von einem Stoſſe an den Hinterkopfe ver-
ſchwunden, ſo koͤmmt daſſelbe, mit der wieder erlangten
Geſundheit, von neuem wieder, und man erinnert ſich der
laͤngſt vergangenen Dinge, nicht aber derjenigen wieder,
welche zu naͤchſt vor denſelben vorgefallen ſind.
Endlich wenn das Gehirn abnimmt, und wie der
ganze Koͤrper nach meiner Vermuthung, wegen der ſchar-
fen Saͤfte, und traͤgen Auswuͤrfe, zu einer Faͤulnis ſich
neiget (z), ſo ſtellt ſich dasjenige Alter ein, darinnen we-
der neue Empfindungen, noch alte mit einiger Dauer der
Seele vorgeſtellt werden, ſondern der Greis, wird wie ein
Kind, bei den kleinſten Dingen geruͤhrt, wenn man ihm
nicht Recht giebt, weinet er, und vergißt gleich darauf die
Urſache des Weinens (a) wieder. Wir leſen von einem
Greiſe,
H. Phiſiol. 5. B. X x x
[1058]Der Verſtand. XVII. Buch.
Greiſe, welcher ohne Gedaͤchtnis, und ohne Empfindung
lebte, daß er nicht einmal nach Speiſe fragte, noch irgend et-
was begehrte (b). Folglich ſcheinet ſich das Gedaͤchtnis nach
der koͤrperlichen Beſchaffenheit des Gehirns zu richten,
und mit demſelben zu wachſen, und abzunehmen.
Es gehoͤren ferner hieher, die von uns angefuͤhrte
Exempel von Menſchen, welche durch Krankheiten und
Verlezzungen des Kopfes, das Gedaͤchtnis verlohren, oder
doch einen anſehnlichen Verluſt daran erlitten haben. Je-
mand, welcher ein vortrefliches Gedaͤchtnis beſas, und
ſich bis ins dreißigſte Jahr vom Weine enthalten hatte,
verlohr ein ziemliches von ſeinem Gedaͤchtniſſe, da er den
Wein wieder zu trinken anfing (b†). Durch ein Flußfieber
haben auch vortrefliche Koͤpfe ihr Gedaͤchtnis verlohren (b*).
Jn der Peſt zu Athen buͤſten viele ihr Gedaͤchtnis ein
(b**). Nach einer hizzigen Krankheit verlohr ſich das
Gedaͤchtnis (c), und es wurde ſo ſchwach, daß man von
neuem Menſa dekliniren lernen muſte, welches dem be-
ruͤhmten Hanow begegnete (d). Nach einem ſtarken
Kopfweh wurde ein anderer wieder beſſer, welcher ſich
ſeines Vaterlandes und ſeiner Verwandten nicht mehr erin-
nern konnte (e). Von einer hizzigen Krankheit, dabei ſich
einige kleine Knochen zwiſchen den Platten der Sichel zeig-
ten, verging das Gedaͤchtnis (f). Von einem Aufhaͤn-
gen (g), und nach dem Schlage verlohr ſich faſt das gan-
ze Gedaͤchtnis, daß jemand die Buchſtaben nicht mehr
leſen konnte (h), und gemeiniglich leidet, oder vergehet,
das Gedaͤchtnis (i) nach dem Schlage. Von einem Lie-
bes-
[1059]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
bestranke (k), vom Saamen Canſie (l) und der Selbſt-
beflekkung (m), verging das voͤllige Gedaͤchtnis. Die-
ſes geſchahe auch von uͤbermaͤßiger Sonnenhizze (n). Von
einer Pinte Waſſer. Zwiſchen den Gehirnhaͤutchen, wurde
jemand vergeslich (o), wie auch von Waſſerblaͤschen im
Gehirne (p). Man vergaß durch einen Herabfall die
Buchſtaben, die Mutter und die Anverwandten (q). Ein
groſſer Stein in der Zirbeldruͤſe hatte den Verluſt des
Gedaͤchtniſſes zur Folge (r).
Wenn daher dieſer Fehler im Koͤrper gehoben wor-
den, ſo ſtellet ſich auch das Gedaͤchtnis wieder ein. Leute,
welche vergeslich geworden waren, wurden wieder herge-
ſtellt, als ihnen die Fuͤſſe zu ſchwellen anfingen (s), weil
die Feuchtigkeit, die das Gehirn uͤberſchwemmet hatte,
ſich herab zog. Ein andrer bekam nach einem Durchfalle (t),
ſein Gedaͤchtnis wieder. Jemand der vom Dache gefal-
len war, und ſich gequetſcht hatte, wurde geſund, und
bekam ſein geſchwaͤchtes Gedaͤchtnis wieder (u). Der
Schlag, und die Vergeslichkeit wurden nach ſechs Mo-
naten mit Schroͤpfkoͤpfen und Feuer (x) geheilet. Bei
mittlerer Sonnenhizze (y) fand ſich das Gedaͤchtnis (z), ſo
wie bei denen wieder ein, welche es von einer boͤsartigen
Krankheit verlohren, oder nach Wiedereroͤfnung geſchloß-
ner Wunden (a).
Es hat das Anſehn, daß ſich Dinge behalten laſſen,
welche tiefer eingedruͤkkt worden, indeſſen daß die uͤbrigen
Bilder zerſtoͤrt werden. Ein Menſch, welcher durch
X x x 2eine
[1060]Der Verſtand. XVII. Buch.
eine Krankheit, das Andenken der Worte und Sprachen
verlohren hatte, behielt dennoch ſeine Kenntnis von der
Tonkunſt noch uͤbrig (b). Das erſte, was man vergiſt,
ſind die ſubſtantiva(c) und die Namen der Dinge; wenn
das Uebel groͤſſer iſt, ſo gehen auch die erlernte Kuͤnſte,
und die eignen Arbeiten aus dem Gedaͤchtniſſe verlohren.
Wir leſen von einem Dichter, mit dem es ſo weit kam,
daß ein andrer, bei ſeinen Lebzeiten ſeine Gedichte (d) her-
ausgab, ohne daß es derſelbe merken konnte. Hermo-
genes, Artemidorus(e), Meſſala, Corvinus, Or-
bilius, George von Trapezunt(f), Julius Librius
(g), Liceticurio, der Vater (h), alles gelehrte Maͤn-
ner, vergaſſen alle ihre erlernte Wiſſenſchaften. Johann
Calculator verſtand, wie er alt wurde, ſeine eigene Er-
findung nicht mehr (i). Andre vergeſſen ihre Kuͤnſte (k),
und uͤberhaupt das Vermoͤgen zu leſen (l), oder ſo gar
ihren eignen Nahmen (n); andre konnten eine Periode
nicht zu Ende bringen (o), weil ihnen der Anfang der
Rede eher verging, als ſie das Ende zufuͤgen konnten. Ein
andrer vergas die ihm ſehr gemeine Namen dergeſtalt,
daß er den Stiel fuͤr den holen Theil des Loͤffels, und
Pappier fuͤr ein Bruſttuch hielt (p). Ein andrer verlernte
das Angeben der Toͤne, und das Vermoͤgen zu reden (q).
An-
[1061]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
Andre empfanden uͤberhaupt nichts vom Hunger und
Durſt (r).
Da alſo in den verſchiednen Beſchaffenheiten des Koͤr-
pers, das Gedaͤchtnis waͤchſet, oder abnimmt, verſchwin-
det, wiederhergeſtellt wird, und es nicht wahrſcheinlich
iſt, daß die Seele von dem Stoſſe eines Dachziegels Em-
pfindungen habe, oder den Drukk eines ausgetretnen
Blutes fuͤhle; ſo mus folglich in dem koͤrperlichen Gehirne
der Sizz der Spuren angetroffen werden, welche die
Empfindungen hinter ſich gelaſſen haben, beſonders aber
muͤſſen darinnen die Merkmaale der Zeichen anzutreffen ſein,
welche unſre Seele mit den Empfindungen zu verbinden
gelernt hat. Und dieſes iſt der erſte Grund von der
wechſelweiſen Wirkung des Koͤrpers in der Seele bei Em-
pfindungen, und der Herrſchaft der Seele uͤber den Koͤr-
per, indem ſie die Merkmaale, welche niemals ohne die
Seele entſtehen wuͤrden, in das Gehirn eindruͤkkt.
Jch glaube gezeiget zu haben, daß das Gedaͤchtnis
im Gehirne ſeinen Wohnſizz habe, es ſtekken aber in die-
ſer Sache viele Wunder, deren Wahrheit ſich zum Theil
erweislich machen laͤſt, ob gleich niemand im Stande iſt,
die Art und Weiſe ſelbſt zu erklaͤren (s).
Jch glaube erſtlich, daß man nicht entdekken werde,
was die Sachen fuͤr Spuren von ſich hinterlaſſen. Dieſe
Spuren ſind keine Bilder (u), denn dieſes Wort druͤk-
ket blos den einen Sinn aus, und man kann es, ohne zu
irren, nicht auf die Spuren der Toͤne anwenden. Es
ſind ferner nicht etwa Bewegungen, ob ſie gleich aus der
X x x 3Be-
[1062]Der Verſtand. XVII. Buch.
Bewegung entſtehen, und vor kurzem (x) kleine Schwin-
gungen genannt worden. Es laͤſt ſich naͤmlich auf keiner-
lei Art begreiflich machen, wie in einem weichen Gehirne,
nach dem funfzigſten Jahre, von der im Kinde ein ein-
zigesmal entſtandner Bewegung, eine Schwingung uͤbrig
bleiben koͤnne, und daß dieſe Bewegung niemals ruhig
geweſen. Folglich hinterlaſſen die Empfindungen Spu-
ren nach ſich, es moͤgen dieſelben nun, auf welche Art
man wolle, im Gehirne haͤngen bleiben.
Die Natur dieſer Spuren iſt ſo beſchaffen, daß ſich
die Seele, ſo oft ſie will, auf dieſelbe wieder beſinnen
kann, ſo lange ſie noch vollſtaͤndig, oder unverſtuͤmmelt
und lebhaft ſind. Aſien macht ſich an den fuͤnf Buch-
ſtaben kenntlich. Jch verlange den Nahmen von dem
groͤſten Theile unſrer Erdkugel zu wiſſen; ſo gleich faͤllt
mir der Nahme Aſien willig ein. Jch will ſeine Theile,
Grenzen, Meere, Reiche und Kaiſerthuͤmer wiſſen: und
ich kann mir eine unvollkommne, aber ſich doch ziemlich
aͤhnliche Landkarte von Aſien vorſtellen, und zu wege brin-
gen, daß ſich die Seele dieſelbe zu erklaͤren ſcheint. Auf
ſolche Art habe ich mir bei den Nahmen das Merkmaal,
und bei der eingebildeten Landkarte, nach Belieben die Em-
pfindung wieder ins Gedaͤchtnis gerufen. Gemeiniglich
iſt ſich die Seele bei dieſem Geſchaͤfte bewuſt, daß ſie ſich
dieſer Jdeen vermoͤge ihres Gedaͤchtniſſes erinnert habe,
daß ſie ſie ehedem ſinnlich empfunden (y); ich ſage, ge-
meiniglich, denn mit den Jahren werden dieſe ruͤkkehrende
Spuren ſehr ſchwach, und man erinnert ſich nicht dabei,
daß man ſie lange Zeit im Gedaͤchtniſſe aufbehalten habe.
Oft dringen ſich, ſo zu reden auch die Spuren der
Dinge uns von ſelbſt auf (z), und es geſchicht nicht ſel-
ten, daß uns ſtarke Jdeen, wenigſtens eine Zeit lang,
zur Unzeit auf dem Fuſſe verfolgen, und von unſrer Seele
Auf-
[1063]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
Aufmerkſamkeit verlangen. Die zuruͤkk gebliebene Jdee von
einer geliebten Gemahlin (a), herrſchet in einem Ehemanne
von guten Eigenſchaften lange Zeit, und ſie ſchwebet dem-
ſelben taͤglich vor Augen. So wird ein jeder erlittner
Verluſt, als das Andenken einer Feuersbrunſt, und der
Unwille wegen einer abſchlaͤgigen Antwort, gleichſam mit
der Seele zugleich alt. Doch es muͤſſen ſolche Jdeen,
welche wider unſern Willen uns vor Augen ſchweben,
von den ſtaͤrkſten welche ſein.
Dieſe Spuren moͤgen nun von ſich ſelbſt, oder auf Ver-
langen der Seele in unſrem Gedaͤchtniſſe wieder erwachen,
ſo nennt man es Gedaͤchtnis, wenn man ſich auf dieſe
Zeichen wieder beſinnet, und Einbildung, wenn die
Empfindungen ſelbſt wieder rege werden. Es ſind dieſes
abgeſonderte Faͤhigkeiten: denn manche Menſchen beſizzen
eine Staͤrke in der Wiedererinnerung der Zeichen, und ſie
koͤnnen ſich bis zum Bewundern auf Namen beſinnen:
bei andern iſt dagegen die Einbildungskraft ſehr lebhaft,
und ſie koͤnnen ſich alte Empfindungen faſt eben ſo ſinnlich
vorſtellen, als ſie waren, da ſie ſich zum erſtenmale in
dem Organo der Sinnlichkeit abbildeten. Jene Kraft
macht Gelehrte, dieſe Poeten (b). Es iſt aber die Vor-
ſtellung der Zeichen ſchwaͤcher und weniger wirkſam, als
die Vorſtellung der Bilder (c). So iſt auch die Vor-
ſtellung, die vom Gedaͤchtniſſe hervorgebracht wird, in
geſunden Menſchen ſchwaͤcher, als die Empfindung, wel-
che jezzo von einem Koͤrper in unſren Sinnen entſteht (d).
Es kann ſich aber die Einbildungskraft, Empfindun-
gen ſo lebhaft vormahlen, daß man ſie von dem gegen-
waͤrtigen Eindrukke eines Koͤrpers nicht unterſcheiden kann.
Man hat an den Toͤnen ein Exempel, da man den lange
Zeit gehoͤrten Klang einer Glokke, ſchwerlich aus den
X x x 4Ohren
[1064]Der Verſtand. XVII. Buch.
Ohren bringen kann, und es faͤllt uns ſchwer zu unter-
ſcheiden, ob man wirklich Glokken hoͤre, oder ob die hin-
terlaſſne Spuren im Gehirne eben dieſen Ton nachklingen.
Wenn uͤberhaupt eine Empfindung eine ſehr lebhafte
Spur von ſich hinterlaͤſt, ſo kann dieſe ſo ſtark, als eine
neue Empfindung (e), und eben ſo ſinnlich (f) werden,
man kann ſie ebenfalls fuͤr einen ſo wirklichen Eindrukk
eines aͤuſſerlichen Objects halten, als man einen durch die
Sinne eingedrungenen Eindrukk fuͤr was wirkliches haͤlt.
Hieher ſind die Geſichte zu rechnen. Dahin gehoͤren die
Flammen, welche in fieberhaften Perſonen der Seele vor
Geſichte ſchweben; hieher gehoͤret der Schwindel, da
man gleichſam fallen will; und hieher ſind die truͤglichen
Jdeen der Schwermuͤthigen (g) zu ziehen, die ſie, wenn
ſie gleich ihres Jrrthums bewuſt ſind, dennoch nicht los
werden koͤnnen. Hieher gehoͤren auch noch die Bilder,
die wir in den Traͤumen ſehen, und denen wir gemeinig-
lich unſren Beifall nicht verſagen koͤnnen.
Dergleichen Lebhaftigkeit ruͤhret aber ſonderlich von der
Wiederholung her (h). Kinder lernen (i) ihre Lektionen
auswendig herſagen, wenn ſie ſelbige oft uͤberleſen. Wir
erkennen Menſchen, die wir oft anſehen. Es ſcheinet
eine jegliche Empfindung, die erſte Spur gleichſam immer
etwas tiefer einzudruͤkken, doch ich verſtehe durch dieſe
Worte nicht eine wirkliche Furche und einige Einſchnitte,
ſondern eine unbekannte auf das Gehirn gemachte Ope-
ration, wodurch die Empfindung lebhafter, und dauer-
hafter wird. Dieſes iſt aber einerlei, es mag ſich die
Seele auf eine Empfindung wieder beſinnen, oder ſie mag
von
[1065]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
von einem Objecte der koͤrperlichen Welt auſſer uns her-
vorgebracht werden.
Jdee nennen wir diejenige Veraͤnderung in der See-
le, welche entweder aus einer gegenwaͤrtigen Empfindung,
oder aus der Erneuerung der Spur einer Empfindung,
oder aus einer Verbindung beider, ſo die Seele macht,
entſteht. Vorſtellung heiſt die Handlung der Seele, da
ſie dieſe Jdee auffaͤngt. Dergleichen Jdee iſt entweder
einfach, wobei nichts unaͤhnliches vorkoͤmmt, als die Jdee
vom Weiſſen, von der rothen Farbe, von dem Schalle
einer Trompete: oder ſie iſt zuſammen geſezzt, wenn die-
ſe Jdee gleichſam einander unaͤhnliche Theile zu Jngre-
dienzen hat, z. E. die Jdee von einem Menſchen, an dem
ſich Geſichte, Bruſt und Fuͤſſe oder Haͤnde unterſcheiden
laſſen.
Nun verdienet es an dem Gedaͤchtniſſe hoͤchſt bewun-
dert zu werden, daß die Spuren, ohne alle Sorgfalt der
Seele, in gewiſſe Klaſſen abgeſondert ſind, und allen
verwandten Jdeen gleichſam ihre Bezirke im Gehirn ange-
wieſen worden. Neue Empfindungen, oder ihre Zeichen
geſellen ſich ſo gleich, ohne unſere Bemuͤhung, zu denje-
nigen Jdeen, welche von eben der Art ſind. Dieſes ver-
haͤlt ſich in der That ſo, und wenn die Seele ſich darauf
beſinnet, ſo erkundigt ſie ſich gemeiniglich bei der Klaſſe
ſelbſt, oder ſie laͤſſet ſich wenigſtens doch durch eine, mit
dieſer Klaſſe verwandte Jdee, wie von einem Faden auf
diejenige leiten, welche ſie aufzuſuchen willens iſt. Wenn
wir alſo den Namen Eiche ſuchen, ſo ſtellet ſich der Seele
der Name des Baums vor, welches die Klaſſe iſt, wenn
uns nun nicht gleich die Eiche beifaͤllt, ſondern Buͤche,
Kaſtanienbaum, Tanne und andre Baͤume, ſo ſuchen
wir ſo lange, bis ſich die Eiche zeigt, und dann erkennt
X x x 5die
[1066]Der Verſtand. XVII. Buch.
die Seele ſo gleich, daß es eben die Jdee iſt, welche ſie
ſuche. Bonnet nennt dieſes Erkennen Wiedererinnern (k).
Bei Gelegenheit der Farben, ſtellen ſich Farben vor
dem Auge der Seele ein, und Toͤne erinnern uns an
Toͤne; die Erwaͤhnung von einem Geſchmakke bringt uns
aber nicht die Zeichen der Farben ins Gedaͤchtnis. Folg-
lich iſt unſer Gehirn, der Erfahrung gemaͤs, eine unge-
heuere Bibliothek (l) in der Zeichen und Bilder, gleichſam
als Buͤcher, nach ihren Klaſſen und Verwandſchaften auf-
geſtellt ſind. Doch es iſt im Gehirn noch mehr, als in
einer Bibliothek vorhanden; denn in dieſer ſind die Buͤcher
durch kein Band unter einander verbunden, hingegen
ſtehen die Spuren der Zeichen und Bilder in einem Zu-
ſammenhange, und ob wir gleich ſolches nicht begreifen
koͤnnen, ſo ſind ſie dennoch unter ſich dergeſtalt verbun-
den, daß die Erinnerung des einen, das andere nach
ſich zieht.
Sie ſind aber in der Ordnung unter ſich verbunden,
wie ſie dem Gehirn beigebracht werden. Wenn man
ein Kind um den Namen eines nicht ſehr bekannten Bau-
mes, als des Kaſtanienbaums befraͤgt, ſo darf kaum der
Lehrmeiſter die Silbe Ka ausſprechen, ſo folgen die uͤbri-
gen Buchſtaben ſo gleich nach.
Sie ſind auch vermittelſt ihrer Erklaͤrung unter ſich
verbunden. Man will einen gerechten und frommen Fuͤr-
ſten wiſſen, ſo gleich faͤllt uns T. Antonius, M. Au-
relius ein; und es faͤllt uns der verehrungswuͤrdige
Name George des Dritten ein. Fraͤgt man nach kriegeri-
ſchen Koͤnigen, ſo bietet ſich von ſelbſt die Jdee Alexan-
ders, Caͤſars, und Friederichs an. Der Durſt,
welchen wir empfinden, erinnert uns an die Jdee der
Quelle, und an das ſanfte Murmeln kuͤhler Gewaͤſſer (m).
Sie ſind auch den Zeiten nach unter ſich verwandt,
und Jdeen, welche zu einerlei Zeit entſtanden, bringen
einander wechſelweiſe wieder ins Gedaͤchtnis. So macht
das Fuͤhlen, wenn man einen runden Koͤrper auf gewiſſe
Weiſe empfindet, und es mit dem Geſichte, ſo gewiſſe
Gegenden des Schattens entdekkt, uͤbereinſtimmig iſt,
daß ſich mit dieſen Schatten die Jdee von einer fuͤhlbaren
Rundung verbindet (n). Die Jdee des Fruͤhlings bringt
uns gruͤne Blaͤtter, neue Baumbluͤhte, und den Scherz
der Natur ins Gedaͤchtnis. Es wurde jemand, wovon
Boerhaave ein Exempel giebt, bei einer alten Eiche
beraubt. Derſelbe wird auch nach zwanzig Jahren noch,
dieſe Eiche niemals wieder zu Geſichte bekommen, daß er
ſich nicht dabei des Raͤubers, der Gefahr, und der ganzen
tragiſchen Geſchichte erinnern ſollte. Er hat einen Rei-
ter geſehen; dieſer wird nicht zu Fuſſe ihm vor die Augen
kommen, ſondern es wird das Pferd den Mann, und den
Mann der Reiter begleiten.
Auf dieſe Art ſind nun die Zeichen entſtanden, naͤm-
lich die erſten Zeichen, die den Schall, den Baum, und
den Menſchen beſtimmen, wobei zugleich das Bild des
Baumes oder Menſchens ausgeſprochen wurde: und die
zweite Zeichen von einem geſchriebnen Buchſtaben, die
mit der Ausſprache der Namen ſich verbanden, und wor-
aus wir Baͤume oder Menſchen erkennen. Und dieſe
zweite Zeichen ziehen die erſte nach ſich, ſo daß die Figu-
ren den Schall, und der Schall das Bild ins Gedaͤcht-
nis bringt.
Da endlich die mehreſten Jdeen mit einander verbun-
den ſind, ſo haben die Menſchen den groſſen Vortheil
davon, daß das ganze Siſtem der beſondern Begriffe (o),
die eine einzige Totalidee ausmachen, mit einander in Ver-
bindung ſteht, und alle zugleich wieder ins Gedaͤchtnis
bringt
[1068]Der Verſtand. XVII. Buch.
bringt (p). Jch nenne London, ſo faͤllt mir ſo gleich die
Jdee der Paulskirche, das Schloß Whitehall, der bei-
den Bruͤkken, des Tours, der Temſe, und alles deſſen
ein, deſſen wir uns von London erinnern. Man nennt
einen Zirkel, ſo koͤmmt mir die Definition, die Eigen-
ſchaften, und Aequation, die des Zirkels Charakter iſt,
der Diameter, Radius, und andre Dinge in die Gedan-
ken, die zum Weſen des Zirkels gehoͤren. Dieſes aber
geſchicht von ſelbſt, ohne Anſtrengung der Seele, und
es werden die Spuren von dem Sinne, ohne den Wil-
len der Seele (q), und noch lebhafter wieder erneuert.
Dieſes findet bei den Thieren eben ſowol ſtatt (r).
Sie empfinden Zeichen, naͤmlich gewiſſe Worte, und die
Verbindung des Stokkes mit ihrem Schmerzen.
Endlich erinnert man ſich, wider ſeinen Willen, und
ſo lebhaft, der Spuren bei aͤhnlichen Zeichen, daß ſolche
ſo gar in Bewegung ausbrechen. So erregen die Namen,
der Geruch, oder das, worinnen man ekelhafte Arzeneien
eingenommen, Ekel und faſt Erbrechen (s), es zwingt
uns ſolches allerdings zum Erbrechen (t), oder zum Stuhl-
gehen (u), und ſo gar haftet der Ekel an demjenigen Orte,
wo derſelbe das erſtemal von dem garſtigen Anblikke ent-
ſtanden iſt (u*). So ſtellet ſich ein Krampf, der vom
Kizzeln entſtanden, ein, wenn man das Kizzeln wieder
erwaͤhnt (x), wiewol man dieſes bisweilen zu weit aus-
dehnt (y).
Die Seele beſizzet auch ein Vermoͤgen, Dinge mit ein-
ander zu vereinigen, welche natuͤrlicher Weiſe nicht verbun-
den ſind. Dieſes beruhet gemeiniglich auf folgender Beobach-
tung. Die Seele vereinigt mit dem Namen der Menſchen,
die ſie behalten muſte, gewiſſe Haͤuſer und Theile von Haͤu-
ſern (z), als Fenſter und Saͤulen. Da die Theile dieſer Haͤu-
ſer gros ſind, ſo druͤkken ſie ſich nicht nur gut ins Gehirn ein,
ſondern ſie laſſen ſich auch leichter behalten, und bringen
uns die damit verbundne Namen der Menſchen zugleich
mit ins Gedaͤchtnis. Hierinnen beſtand die Gedaͤchtnis-
kunſt einiger Lehrer.
Nun kann die Anatomie nichts aufweiſen, woraus
dieſe Verwandſchaft der aͤhnlichen Spuren erklaͤrt werden
koͤnnte. Wir haben gezeigt, daß ſich nicht einmal aus
der Anatomie richtig genung erweiſen laſſe, daß es gewiſ-
ſe Bezirke gebe (a), worinnen Jdeen, die von gewiſſen
Nerven aufgenommen, ihren Sizz haͤtten, weil die Ner-
ven eines und eben deſſelben Sinns wegen ihrer zertheil-
ten Wurzeln, aus hoͤchſt verſchiednen Orten ihrem Ur-
ſprung bekommen, wie man an dem Geruchnerven, im
Menſchen (b), und in den Fiſchen ein Exempel hat, wo
derſelbe uͤberhaupt aus drei Huͤgelchen, dem obern, un-
tern und einer der Schleimdruͤſe aͤhnlichen Druͤſe hervor-
koͤmmt. Doch es theilet eben dieſes Huͤgelchen verſchied-
nen Nerven ſein Mark mit, wie am Menſchen die Ge-
ſchmakkaͤſte des fuͤnften Paares (c), und die Geruchsaͤſte
ſind (d), und die blos fuͤhlende. Folglich liegt in einem
Nerven keine beſondere Natur (e), warum derſelbe nur
zu einer einzigen Art von Empfindungen geſchikkt ſein ſollte.
Denn es haben einige Jnſekten, aus dem Sehnerven
ſelbſt, der in andern hoͤchſt einfach iſt, Aeſte, welche nach
andern Theilen des Kopfes hingehen (f), und nicht ſehen;
andre
[1070]Der Verſtand. XVII. Buch.
andre ſehen ohne Augen, mit eben den Werkzeugen, wo-
mit ſie Dinge betaſten (g). Folglich iſt ein Theil eines
und eben deſſelben Nervens zu Bewegungen, und der an-
dre auch zu verſchiednen Sinnen geſchikkt.
Da ferner die markige und nervige Faſern, ſo weit
das Vergroͤſſerungsglas zureicht, vom oͤberſten bis zum
unterſten unterſchieden (h), und blos durch die Baͤnder-
chen des Fadengewebes zuſammengehaͤngt ſind; und oh-
ne dieſem Bau die Art nicht verſtanden werden kann, wie
ſich die genauen Unterſchiede der an den kleinſten Theil-
chen geſchehenen Empfindungen, z. E. an den Augen,
ohne Verwirrung der Seele vorſtellen laſſen; ſo wuͤrden
wir unrecht thun, zu behaupten, daß ſich die Nervenfa-
ſern oder Markfaſern irgendwo anhingen.
Aus dieſem Grunde gebe ich alle Hoffnung zu einer
mechaniſchen Erklaͤrung auf, und verlaſſe mich nur auf
die Wahrheit der Erſcheinungen (i). Findet man ein
Belieben daran, wizzige Hipotheſen zu leſen, ſo beſehe
man die Hookiſche(k), die Hartleyiſche(l) und die
zierliche Hipotheſe des beruͤhmten Bonnets(m).
Auch hierbei treffen wir einen reichen und unermesli-
chen Vorrath von den Spuren an (n). Diejenigen, wel-
che daruͤber Berechnungen anſtellen wollen, haben kaum
Zahlen, die hinreichend waͤren, finden koͤnnen (o). R.
Hooke nimmt an, daß ſich innerhalb einer Secunde (p),
eine Jdee formiren koͤnne. Allein dieſes gehet innerhalb
vier-
[1071]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
vierzig, dreißig, und zwanzig Terzen an (q). Folglich
wird ein Menſch, wenn man zwanzig Terzen auf die Er-
zeugung einer Jdee rechnet, in hundert Jahren 9, 467,
280, 000 Spuren ſammlen, welches aber des Schlafes
wegen zu viel waͤre; man koͤnnte ſolches aber auf den drit-
ten Theil reduciren, und ſo waͤren 3, 155, 760, 000
Spuren, oder Abdruͤkke (r).
Wenn ich auch den Umfang meines nur gemeinen
Gedaͤchtniſſes uͤberſehe, und die Namen und Bilder der
Pflanzen, und ihrer Theile; die Namen der anatomi-
ſchen Theile in den verſchiednen Thieren und im Men-
ſchen. Die geographiſche Lage der Oerter, Fluͤſſe und
Staͤdte; die Geſchichte der Begebenheiten, die Verdol-
metſchung der Woͤrter und Redensarten in verſchiednen
Sprachen, und die Auftritte meines eignen Lebens, bei
meinem nur mittelmaͤßigen Gedaͤchtniſſe, mir vorſtelle, ſo
finde ich doch eine ſolche Menge von Zeichen und Bildern,
die man, wenn man ſie mit dem Gehirne vergleichen will,
gros nennen kann. Folglich werden nach der Rechnung
des Hooks, wenn man das Gehirn vier Pfunde ſchwer
macht, und ein Pfund fuͤr die Gefaͤſſe und das Blut,
und noch eins fuͤr die Rinde abzieht, in einem Theilchen
Mark, das ein Gran ſchwer wiegt, 205452 Spuren an-
zutreffen ſein (s).
Und dennoch hat es Leute von einem unendlich beſ-
ſern, reichern und beſtaͤndigerm Gedaͤchtniſſe gegeben.
Eine Probe von einem geſchwinden Gedaͤchtnis, vie-
ler und auf keine Art zuſammenhaͤngender Dinge, gab
ein Schuͤler des Schenkels(t), welcher 240 Senten-
zen, und 300 Woͤrter, in eben der Ordnung, wie ſie
vorgeſagt wurden, wiederholen konnte. So war auch
das
[1072]Der Verſtand. XVII. Buch.
das Gedaͤchtnis des Peter Ravennatis bewunderns-
wuͤrdig. Beiſpiele von Perſonen, welche eine lange Re-
de ganz wieder herſagen koͤnnen, ſind nichts Seltenes (u).
Jn Paris lebte ein Menſch, welcher die abgeleſene Na-
men eines ganzen Bataillons (x) behalten konnte, und
dreißig arithmetiſche Figuren in der Ordnung vor ſich hat-
te, daß er damit die gewoͤhnliche Operationen vornahm,
ſo wie wir ſie an vorgezeichneten Figuren ausfuͤhren. Jo-
hann Wallis(y) zog im Finſtern eine Quadratwurzel
von 53 Zahlen aus. Ein anderer konnte verſchiedne, und
ſehr viele fremde Namen, in eben der Ordnung wieder-
holen, wie man ſie ausgeſprochen hatte (z). Heidegger,
welcher in Englang lange Zeit oͤffentlich die Ergoͤzzlichkei-
ten lehrte, ſoll von einem, einmal durchwanderten Dorfe,
ſo wenigſtens eine halbe Meile lang war, alle Zeichen, die
doch ſo wenig einen Zuſammenhang unter ſich hatten, ge-
gen ein niedergelegtes Pfand wieder hergenannt haben.
Zwei tauſend Namen, welche ihm vorgeleſen worden,
konnte J. Picus von Mirandola wiederholen (a). Der
beruͤhmte Bonnet behaͤlt 25 bis 30 Seiten, und 45 Pa-
ragraphen in ſeinem Buche auswendig (b). Wir leſen,
daß Joſ. Skaliger(c) in 21 Tagen den Homerus aus-
wendig gelernt, und innerhalb vier Monaten alle grichi-
ſche Poeten behalten habe.
Nunmehro komme ich auf ein auſſerordentliches Ge-
daͤchtnis. Es ſoll jezziger Zeit ein Mann zu Leipzig, mit
Namen Muͤller leben, welcher nicht ſechs oder ſieben
Sprachen (d), ſondern zwanzig und daruͤber in ſeiner
Gewalt haben ſoll.
Eine uͤbermaͤßige Kenntnis faſt von allen Kuͤnſten
beſas ehedem Sarpius(e)Leibniz, und in einer an-
dern Art Magliabeccchi(f), welcher ganze, verlohren
gegangne Buͤcher andren in die Feder diktiren konnte.
Zu einem dauerhaften Gedaͤchtniſſe, gehoͤren die Exem-
pel dererjenigen Perſonen, welche nichts von alle demje-
nigen vergeſſen haben ſollen, was ſie wuſten, als Sar-
pius(g) Lorenz Bonincontrins(h) und Blaſius Paſ-
kal, welches ich in dem Verſtande nehme, daß man
darunter Dinge verſtehe, welche werth ſind, behalten zu
werden.
Es iſt gewis, daß die Kunſt und Ordnung (i) hierzu
viel beitragen kann: nicht diejenige uͤbertriebne Kunſt,
welche P Ravenna, oder Paepius oder andre lehren;
ſondern dieſes kann mit Huͤlfe der Zeichen, der Uebung
(k), und der Wiederholung geſchehen. Mein Vortheil
beſtand von der erſten Jugend an darinnen, daß ich merk-
wuͤrdige Dinge, wenn ich ſie las, auf Pappier ſchrieb,
und dieſe oͤfters in eine Ordnung, Klaſſen und Arten ein-
theilte: nachgehens, wenn ich mich derſelben bedienen woll-
te, auf das genauſte bei einem jedweden Theile meiner
Arbeit anbrachte. Dadurch habe ich zwar nicht erhalten,
daß mein Gedaͤchtnis vortreflich geworden, aber doch ſo
viel, daß ich weniger davon, was ich gelernt hatte, ver-
geſſen.
Diejenigen haben ein ſchlechtes Gedaͤchtnis, welche
die Zeichen auſſer Acht laſſen. Ein zehnjaͤhriger Knabe,
welcher unter den Baͤren erzogen war, hatte gar kein Ge-
daͤchtnis (l). Ein Maͤdchen, welches man in einer Ein-
oͤde
H. Phiſiol. 5. B. Y y y
[1074]Der Verſtand. XVII. Buch.
oͤde in Frankreich antraf, und der Polniſche Knabe (m),
konnten, als man ſie durch einen gluͤkklichen Zufall wie-
der zu der Geſellſchaft brachte, nichts von ihrem Vater-
lande, Eltern oder Wege erzaͤhlen. Daher beſizzen die-
jenigen Thiere ein ſchlechteres Gedaͤchtnis, die wenig Zei-
chen wiſſen.
Doch es vorſchwinden, ſowol in den Perſonen von
einem gluͤkklichen Gedaͤchtniſſe, als in denen von gewoͤhn-
lichem Gedaͤchtniſſe die Spuren noch geſchwinder aus
dem Gehirne (m*); ſo daß ſie anfaͤnglich ſchwaͤcher wer-
den, und alsdann kann man ſich nur durch andre damit
zuſammenhaͤngende Spuren, wieder darauf beſinnen;
endlich verſchwinden ſie ganz und gar, ſo daß ſie in Ab-
ſicht auf uns ſo wenig uͤbrig bleiben, als ob ſie niemals
uns angehoͤrt haͤtten. Doch wenn noch etwas davon
uͤbrig iſt, ſo kann eine neue Empfindung, oder eine neue
Vorſtellung in der Seele, dieſe erloſchene Spuren gleich-
ſam wieder auffriſchen.
Jndeſſen koͤnnen doch auch dieſe Spuren gleichſam
in uns einſchlafen, und dieſes begegnet dem Menſchen
ſonderlich in Krankheiten, doch aber auch wenn derſelbe
geſund iſt (n), daß bisweilen von ergoſſnem Blute, Eiter
oder von andern dunklen Urſachen im Gehirne, entweder
alle, oder doch einige Spuren, lange Zeit verborgen bleiben,
daß ſich die Seele darauf, wenn ſie ſich gleich ſo anſtrengt,
ganz und gar nicht beſinnen kann; wenn aber eben dieſe
Urſache in unſerm Koͤrper wieder gehoben worden, ſo
werden dieſe Jdeen wieder lebendig, und ſtellen ſich der
Seele von ſelbſt dar. Jch leſe von einem Menſchen, der
das Gedaͤchtnis in wechſelweiſen, wiewol ungewiſſen
Paroxiſmis verlohr, und wieder bekam (n*), und ich
habe
[1075]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
habe eine Jungfer vor mir, welche dieſem Uebel faſt bei
jeder Reinigung periodiſch unterworfen iſt.
Bisweilen ſcheinen ſich die Spuren ſchon durch ihre
Menge einander zu verdrengen, und dieſes gilt ſowol von
Menſchen, die gar zu viel leſen, als von Thieren (o) die
gar zu vielerlei lernen. Und dennoch beſizzen kleine Men-
ſchen von kleinem Gehirn, und Kinder oft ein vortrefli-
ches Gedaͤchtnis. Man hat auch wizzige (p) ſchalkhafte
Zwerge, wovon Eſop ein Exempel giebt. Folglich ſchei-
net hier die Menge nicht ſo viel Schaden zu thun, als
von einer langſamen Bewegung des circulirenden Blutes,
und der ſo oder anders von den Speiſen mittelſt der Er-
naͤhrung, nach der Partikel des empfindenden Markes
erſezzten Materie, geſchicht, dadurch die Spuren gleich-
ſam allmaͤlich wieder erneuret werden; ſo wie ſie geſchwin-
de zerſtoͤrt werden, wenn der Drukk, von einer heiſſen
Luft, von boͤsartigen Krankheiten, und von dem, im
Schlagfluſſe ausgetretenem Blute zunimmt (p*). Es ver-
ſchwinden aber die erſten Spuren, welche ohne Aufmerk-
ſamkeit, ohne Affekt, gemein, ſchwach und mit andern
Jdeen nicht verknuͤpft ſind; und endlich wuͤrden in allen
Menſchen, alle Spuren voͤllig verſchwinden, wenn das
hohe Alter weit genug hinausgeſezzt waͤre (p**).
Dieſes war der Vorrath von Spuren, wodurch die
Seele ihre Faͤhigkeiten in Ausuͤbung bringt. Wir be-
nennen damit ein Weſen, welches mit unſerm Koͤrper in
Verbindung ſteht, welches denket, urtheilt, will, ſich
ſeiner bewuſt iſt, ſeine Jdeen erkennt, und die ſie ehedem
Y y y 2gewuſt,
[1076]Der Verſtand. XVII. Buch.
gewuſt, wenn ſie wieder aufgefriſcht werden, fuͤr die ih-
rige erkennt, ſo wie ihr diejenige angehoͤren, welche durch
Empfindungen, oder Gedanken eben jezzo in ihr entſtehen.
Daß dieſes Weſen nichts Koͤrperliches ſei, kann man
aus vielen Gruͤnden ſchlieſſen, welche wir kuͤrzlich beruͤh-
ren wollen. So iſt gezeigt worden, daß ein jeder Koͤr-
per ſeiner Richtung unveraͤndert folge (q), ſo lange bis er
durch eine andre Kraft von ſeinem Wege abgeleitet wird.
Hingegen aͤndert die Seele nach Belieben den Faden
ihrer Gedanken, ſie geht von dieſen zu andern uͤber, und
es ſtekkt in dieſen Gedanken keine Urſache, warum ſie ei-
nen neuen aufſuchen ſoll.
Es ſtellt ſich ferner die Seele nicht eine einzige Jdee,
ſondern unendlich viele vor, die ſie die ihrige nennt, und
mit ſich ſelbſt vereinigt. Wenn nun der Vorrath des
Gedaͤchtniſſes (r) keine Seele haͤtte, die ſich dieſe Spuren
eigen machte, ſo ſcheinet es zu geſchehen, daß unter den
Arten der Dinge, welche ſich in dieſem Vorrathshauſe
befinden, eine jede einzeln fuͤr ſich bleiben muͤſte, und es
wuͤrde unſer ganzes Gedaͤchtnis gleichſam eine Landkarte
vorſtellen, auf welcher kein Dorf zum andern gehoͤrte.
Man kann ſich auch nicht vorſtellen, wie ein Koͤrper ein
einziges Ding, und ſich ſeiner Einfachheit und Perſon
bewuſt ſein koͤnne, und ſich dennoch ſo viel verſchiedne Ar-
ten von Dingen weſentlich machen werde. Nun iſt die
Seele weder eine einzige Empfindung, noch alle, ſondern
dasjenige Ding, welches ſich dieſe alle zu eigen macht.
Doch es ſcheinet auch nicht die Urtheilskraft (s) dem
Koͤrper anzugehoͤren. Es lieget die blaue Farbe neben
der
[1077]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
der rothen, ſie iſt davon verſchieden, und es ſind die Ar-
ten von beiden in dem Gehirn verſchieden; keine von bei-
den Farben aber koͤnnen ſagen, ich rothe Farbe bin von
der blauen unterſchieden. Folglich mus ein Weſen in
uns ſein, das von der rothen, und blauen Farbe ver-
ſchieden iſt, und welches beide mit einander vergleicht, und
beide unterſcheidet.
Auſſerdem entdekken wir in einigen unſrer Wuͤnſche
etwas, welches die Religionsſpoͤtter unſers Jahrhunderts
vergebens zu den koͤrperlichen Wolluͤſten (t) rechnen wol-
len. Das Verlangen z. E. nach Ruhm, auch nach un-
ſerm Ableben, nach Ehre, die man ſich durch Schmerzen,
durch den Tod erwirbt, und welche doch zu keinen koͤr-
perlichen Wolluͤſten fuͤhret: ſo wie weder die Begierde
zum Verſtande in gelehrten Leuten, noch die Standhaf-
tigkeit in rechtſchaffenen Maͤnnern, noch die Kuͤhnheit
des Regulus, welcher einem grauſamen Tode drozzte,
oder der toͤdtliche Sprung des Kurtius irgend ein koͤrperli-
ches Vergnuͤgen verſchaffen koͤnnen.
Endlich obgleich ein groſſer Theil der Seelengeſchaͤfte
von den Krankheiten des Koͤrpers leidet, ſo iſt es dennoch
gewis, daß die Seele oͤfters in der groͤſten Schwaͤche des
Leibes, die kurz vor dem Tode vorhergeht, auf eine be-
wundernswuͤrdige Weiſe mit groſſer Lebhaftigkeit (u) denkt,
empfindet und redet. Von allem dieſem habe ich viele
Zeugniſſe mit angeſehen. Doch ich rede nur kuͤrzlich da-
von: weil ich leicht einſehe, daß es vielen Aerzten einerlei
ſei, von welcher Natur die Seele iſt, da ſie ſich immer
unbekannt bleibt, wenn ſie nur ihre Geſchaͤfte verſtehen.
Hier koͤnnte man, von der obigen Erinnerung (u*) et-
was noch hinzufuͤgen.
Karteſius hat von dem Denken (x) das Weſen der
Seele hergeleitet. Andre laͤugnen, daß die Seele beſtaͤn-
dig daͤchte, ob ſie gleich geſtehen, daß ſie gemeiniglich (y)
denkt. Sie fuͤhren dabei die Ohnmachten, den tiefen
Schlaf, die Schlagfluͤſſe, davon jemand innerhalb ſechs
Monaten unfaͤhig war zu denken (z), worauf die Seele,
als ob indeſſen nicht das mindeſte mit ihr vorgegangen,
noch eine Zwiſchenzeit da geweſen, wieder erwachte; man
beziehet ſich ferner auf das Exempel einer kataleptiſchen
Frauensperſon, welche ein Geſpraͤche, ſo ſie in dem An-
falle der Krankheit abbrach, an der gehoͤrigen Stelle wei-
ter fortſezzte, wo man es abgebrochen hatte (a). Mar-
quet, welcher ein und zwanzig Tage lang im Wahnwizze
zu gebracht hatte, und nun wieder geſund wurde, konnte
ſich kaum uͤberreden laſſen, daß die Krankheit 24 Stun-
den gewaͤret haͤtte, denn es hatte die Krankheit die uͤbri-
ge Spuren ausgeloͤſcht (b).
Doch es iſt nicht glaublich, daß die Seele nicht im
Schlafe denken ſollte. Sie beunruhigt ſich gemeiniglich
im Menſchen und in Thieren mit Traͤumen, und wenn es
ſcheint, daß dieſe mangeln, ſo koͤnnen doch ſanftere Traͤu-
me vorhanden ſein, die keine Spuren von ſich zuruͤkke
laſſen. Wenigſtens werden wir zeigen, daß wir durch
eine Demmerung von Wahnwizze (Phantaſie) zum Schla-
fe uͤbergehen; und dieſes iſt kein Zuſtand einer unwirkſa-
men traͤgen Seele. Doch es ſind auch Frauensperſonen
in ihren Ohnmachten (c) nicht ohne Gedanken, und wenn
ich ſie befragte, ſo erzaͤhlten ſie mir oͤfters, daß ſie gehoͤ-
ret, und gleichſam von weiten unter einander redende
Freunde
[1079]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
Freunde gehoͤrt haͤtten, und dergleichen geſchicht auch an
ſterbenden Perſonen (c*). Endlich iſt gewis, daß das An-
denken willkuͤrlich verrichteter Dinge verſchwinden kann,
da ſich doch die Seele, zu der Zeit, da ſie dieſe Geſchaͤfte
befahl, dieſer Handlung bewuſt war. Man ſiehet dieſes
an dem Exempel der Nachtwandrer, welche von alle dem
nichts im Gedaͤchtniſſe behalten, was ſie unterdeſſen ge-
than haben (d).
Das Denken koͤmmt in uns Erwachſenen gemeiniglich
darauf an, daß wir auf die Reihe der Zeichen, und die
Reihe der Empfindungen aufmerkſam werden, und gleich-
ſam die Scene mit anhoͤren, welche die Arten der Dinge,
die entweder durch die Sinne uns mitgetheilt werden, oder
durch das Gedaͤchtnis ſich abmahlen, gleichſam ſpielen,
und von welchen Auftritten die Seele gleichſam der Zu-
ſchauer iſt. Es iſt aber nothwendig, daß ein Gewar-
nehmen dazu komme, damit wir gewis werden, daß die-
ſes unſre Bilder ſind, und dieſes nennen wir, ſich ſeiner,
und ſeines Gedankens bewuſt ſein.
Aufmerkſamkeit iſt, wenn nach dem Willen der
Seele, eine von dieſen Arten der Dinge, oder auch eine
einzige allein, die betrachtende Seele beſchaͤftigt, oder we-
nigſtens doch deutlicher (e) und lebhafter, als die uͤbrigen
derſelben vorgeſtellet wird. Wofern hierinnen eine Frei-
heit ſtatt findet, ſo beruhet ſie darinnen, daß die Seele
ihre Aufmerkſamkeit, entweder auf dieſe oder eine andere
Jdee richten, oder gegentheils davon weg wenden kann
(f). Gemeiniglich liegt die Urſache von dieſer Wahl,
wie hernach erklaͤrt werden ſoll, in dem naͤhern Zuſam-
menhange dieſer Jdee mit unſrer Gluͤkkſeligkeit, daß es
uns alſo mehr daran gelegen iſt, ſie gegenwaͤrtig zu haben,
Y y y 4als
[1080]Der Verſtand. XVII. Buch.
als irgend eine andre. Studirt man, ſagt Sancto-
rius, ohne Affekt, ſo dauret ſolches kaum eine Stunde;
mit Affekt, aber viele Stunden; und mit verwechſelten
Affekten Tag und Nacht (g).
Nun iſt die Aufmerkſamkeit die Mutter von allen
Wiſſenſchaften (g*). Unſre Seele kann als ein endliches
Weſen, und faſt nach Art des Auges, vieles verworren,
deutlich aber nur ein einziges Object (h) erkennen. Wel-
che ſagen, daß wir mehr erkennen (i), und ſonſten kein
Wille (k), noch Wiedererinnern (l), noch die eigene Perſoͤn-
lichkeit (m), noch Urtheilskraft (n), noch Vergleichung (o)
ſtatt finden koͤnnte, ſo ſcheinen dieſe beruͤhmten Maͤnner,
theils nicht die aͤuſſerſte Geſchwindigkeit, mit welcher die
Seele von Jdee zu Jdee uͤbergeht, in Betrachtung gezo-
gen zu haben, theils haben ſie nicht, wie am Auge, eine
dunkle Empfindung von einer ſehr klaren unterſchieden.
Jch kann mir auf einmal einen Triangel einbilden, damit
aber eine vollſtaͤndige Jdee davon entſtehe, ſo betrachte
ich entweder blos den Cathetus allein, oder die Hipothe-
nuſe, und ich ſtelle mir niemals die deutliche Jdee von ei-
nem ganzen Triangel in einem einzigen Zeitpunkte vor,
wenigſtens ich nicht, weil ich merke, wie ſich geſchwinde
Seite an Seite, doch nach einiger Ordnung in meiner
Einbildung an einander fuͤgt. Die Seele denket ferner
durch Woͤrter, die ſie ausſpricht, es iſt aber unmoͤglich,
ein ganzes Wort zugleich zu gedenken, und es mus ein
Buchſtabe nach dem andern in der gedenkenden Seele
gleichſam herſillabirt werden. Wenn ich nicht irre, ſo
iſt das, was ſie von der Urtheilskraft, und dem Wil-
len einwenden, von eben dieſer Art. Es dauret eine im
Ge-
[1081]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
Gehirn entſtandene Jdee, wie ein vor den Augen ſchwe-
bendes Bild (p), eine ob wol ſehr kurze Zeit lang, und
ſie hinterlaͤſt eine ſchwaͤchere Empfindung von ſich uͤbrig,
wenn eine neue auftritt, welche nun die Seele mit aller
Lebhaftigkeit beſchaͤftigt. Nach dieſem erſtern ſchwaͤchern
Bilde, und dem gegenwaͤrtigen ſtarken, urtheilt die Seele
durch Vergleichungen: endlich ſcheinet die Empfindung
einer Jdee, die vormals unſer war, und die nicht eben
jezzt entſtanden iſt, wovon die Empfindung der eignen
Perſoͤnlichkeit abhaͤngt (q), gar nicht unterſchieden zu ſein,
von einer Jdee ſelbſt (r), welche erneuret wird; ſondern
daß uͤberhaupt eine wieder erneuerte Jdee anders, eine
neue anders empfunden werde, und daß die Seele nach
Bemerckung dieſes Unterſcheides, wie bei andern Urthei-
len, empfinde, ſie habe jene lange ſchon gekannt, und
dieſe kenne ſie nur ſeit kurzen. Jn den mathematiſchen
Beweiſen ziehen wir alles vorhin erklaͤrte, in einen einzi-
gen Sazz zuſammen, den wir als ein Axioma betrachten,
und dieſes beziehet ſich auf das Exempel zwoer Jdeen, wel-
che wir vergleichen. Es hat auch zwiſchen dem Beruͤh-
ren und Empfinden: zwiſchen dem Willen und der im
Koͤrper dadurch entſtandenen Bewegung, der beruͤhmte
Eberhard eine kleine Zeitfolge erfunden (s). Noch un-
terdruͤkkt eine groͤſſere Empfindung die kleinere (t); und
ſie wuͤrde ſolches nicht thun, wenn beide Plazz haͤtten.
Welche der Seele viel zuſchreiben, uͤberſteigen doch
nicht (u) die Zahl der fuͤnf oder ſechs Jdeen, welche ſich
die Seele zu gleicher Zeit vorſtellt. Wollten ſie aber die
Probe mit ſich ſelbſt machen, ſo wuͤrden ſie, wie ich da-
vor halte, finden, daß eine darunter die herrſchende un-
ter den uͤbrigen ſei, und die andren an Lebhaftigkeit uͤber-
treffe.
Wenn nun die Schranken der Seele ſo enge ſind,
daß ſie eine einzige Art von Dingen deutlich und klar em-
pfinden kann; ſo folget daraus, daß ſie ſich, wenn ſie
zugleich mehrere ſich vorſtellen will, keine einzige vollſtaͤn-
dig, und lebhaft vorſtellen kann. Folglich iſt dazu eine
Aufmerkſamkeit nothwendig, wenn eine Jdee eine Zeit-
lang der Seele gegenwaͤrtig, ganz allein, und lebhaft
ihr Bild der Seele vorhalten ſoll. Und es wird eine
Aufmerkſamkeit um deſto nothwendiger ſein, wenn eine
Jdee, die aus vielen Theilen beſteht, vollſtaͤndig ſein ſoll.
Dergleichen Begriff wird niemals vollkommen empfunden
werden, wofern nicht dieſe Theile alle, und einzeln der
Seele klar bekannt ſind: folglich gehoͤrt dazu eine Auf-
merkſamkeit, oder eine Entfernung aller fremden Jdeen.
Davon kam es, daß Walliſius(x), im Dunkeln die
bewundernswuͤrdige Rechnungen, und bei ruhigen Augen
die groſſe Geſchaͤfte des Gedaͤchtniſſes Bonnet zu ver-
richten vermochte (y). Und daher wirken bei denen, wel-
chen es an einem Sinne fehlt, die uͤbrigen Sinne deſto
ſtaͤrker. Blinde lernen oͤfters ſingen (z), und die Laute
ſpielen, ſchnizzen, daß ſie auch Bilder nach dem Gefuͤhl
aͤhnlich verfertigen (z*): andre konnten mahlen (z**), und
andre alle Geſchaͤfte des Lebens mit Ruhm verrichten (a),
ſo wie einige ſich die Gelehrſamkeit erwarben (a*), und
Saunderſon ein Blinder die Mathematik lehren konnte.
Sie befinden ſich naͤmlich in beſtaͤndigen Finſterniſſen, und
werden von keinem Geſichte zerſtreut. Ein Taub- und
Stumm-
[1083]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
Stummgebohrner, lernte dennoch einige Rechnungen
machen (b).
Es iſt aber dieſe Aufmerkſamkeit beſchwerlich, und
wir koͤnnen uns kaum fuͤr die Spuren von Dingen in acht
nehmen, welche von unbekannten Urſachen in uns hervor-
gebracht werden, und ſich wider unſern Willen, und
zum Verdruſſe uns aufbuͤrden. Daher iſt die Morgen-
roͤthe den Studirenden guͤnſtig, und die Dichter begeben
ſich in Waͤlder, naͤmlich in die Einſamkeit, wo ſie von
keinen fremden Objecten geſtoͤrt werden. Diejenigen, wel-
che ſchwere Rechnungen aufloͤſen wollen, unterſtehen ſich
kaum Athem zu holen, und verhindern, daß keine fremde
Empfindung die Dauer ihrer Jdee unterbrechen moͤge.
Vieta hat ganzer drei Tage lang weder gegeſſen, noch
getrunken, noch was anders gehoͤret, wenn er geheime
Zeichen dechiffrirte (c).
Daher ſind Poeten und Entdekker von melancholi-
ſchem Geiſte, deſſen Eigenſchaft eine ſtaͤrkere Aufmerkſam-
keit iſt. Und dahin gehoͤrte Taſſus, der mehr als ein-
mal wahnwizzig war, Hugenius(d) und Swam-
merdamm.
Es ſcheint die Starrſucht ein Exempel von einer ti-
ranniſchen Jdee zu ſein, welche ſich ganz allein zur herr-
ſchenden macht, und alle andre Sinne (e), oder den Wil-
len (e*) um Bewegungen hervorzubringen, hindert, da-
durch der Kranke gleichſam in eine Bildſaͤule verwandelt
wird, und jede Lage, in welche man ihn bringt (e**)
bei-
[1084]Der Verſtand. XVII. Buch.
beibehaͤlt, indeſſen zu gleicher Zeit alle Sinne ruhen und
aufhoͤren (e***). Der Urſprung ſtekkt davon gemeinig-
lich in der Liebe (e†), oder in andren Anſtrengungen (e††),
und in der Devotion (e†††), die gemeiniglich ein Werk
des Aberglaubens iſt.
Es zeiget die Vergleichung zwoer Jdeen (f), entweder
daß ſie einerlei, oder daß ſie verſchieden ſind. So oft
alſo die Jdeen complex ſind, ſo mus man ſie nach ihren
einzelnen einfachen Notionen vergleichen, und es kann
dieſe Operation uͤberhaupt ſubtil ſein, wenn man entwe-
der viele beſondre Notionen unterſuchen, oder wahrſchein-
liche Begriffe abwaͤgen mus. Wahrſcheinlich nennen wir
aber diejenigen, welche einige Merkmaale von Wahrheit,
doch in ſo fern an ſich haben, daß man noch andre ver-
langt, von denen es nicht bekannt iſt.
Da aber der Jrrthum gemeiniglich darinnen ſtekkt,
daß wir zwo Jdeen fuͤr einerlei annehmen, welche aber
doch wirklich von einander unterſchieden ſind, ſo erhellet,
daß das, was wir Urtheilskraft nennen, eine langſame,
ſchwere Sache von groſſer Aufmerkſamkeit, und von viel-
facher Erkenntnis, den einzeln Stuͤkken nach ſei. Jhre
Vollkommenheit beruhet auf einer genauen Vergleichung
der beſondern Begriffe, woraus der ganze Begriff zuſam-
men geſezzt iſt. Daher gebuͤhrt der langſamen Beurthei-
lungskraft vielmehr, als dem geſchwinden Wizze der
Ruhm (f*), indem die erſtere beide Jdeen nach ihren ein-
zelnen Theilchen unterſucht.
Der Vernunftſchluß iſt eine Reihe von Urtheilen.
Die Beurtheilungskraft beſchaͤftiget ſich, Jdeen von
einander zu unterſcheiden, und der Wizz verbindet ſie.
Es findet naͤmlich dieſe Faͤhigkeit der Seele an den ver-
glichenen Jdeen Gleichheiten, welche einen deſto groͤſſern
Wizz erfordern, je verſtekkter ſie ſind, und je tiefer ſie in
der Natur beider Jdeen verborgen liegen. Wenn ſich
Leibniz uͤber die vergebliche Bemuͤhungen in Verglei-
chung der Rechnung des Unendlichen, des Virgiliſchen
Verſes bedient:
Koͤmmt es aber zu den vulkaniſchen Waffen;
ſo zerſpringt dagegen das Schwerdt der Sterblichen,
wie ein nichtswuͤrdiges Stuͤkk Eis,
ſo findet er hier auf eine wizzige Art diejenige Gleichheit,
die ſich zwiſchen den gemeinen Zahlen, ſo ſich durch
den gemeinen Algorithmus entwikkeln laſſen, und zwiſchen
den ſubtilen und verborgnen Berechnungen zeiget, welche
ſich blos durch die Rechnung des Unendlichen aufloͤſen
laſſen: dieſe vergleicht er mit einem Goͤtterſchwerdte, wel-
ches alles zerſchneidet, jene Zahlen aber mit einem ſchwa-
chen und zerbrechlichen Jnſtrumente. Wenn Newton
aus dem Falle eines Apfels vom Baume, auf die Schwe-
re, als das vornehmſte Geſezz der ganzen Welt ſchlos,
ſo entdekkte ſein Geiſt eine ſehr verſtekkte Aehnlichkeit (g).
Es erhellet hieraus, warum der Wizz ſchnell wirke,
denn es darf nur in einem einzigen Begriffe eine gewiſſe
beſondere Aehnlichkeit vorhanden ſein, und warum es oft
den wizzigen Koͤpfen an Beurtheilung fehle. Es beruhen
naͤmlich die Erfindungen auf irgend einer Aehnlichkeit,
und man erwaͤget nicht alle beſondere Begriffe in einer
langſamen Unterſuchung, um ihre Unterſchiede zu finden.
Da das Gedaͤchtnis in dem Koͤrper ſeinen Sizz hat,
und Beurtheilung und Wizz, Wirkungen der Seele ſind,
ſo kann es geſchehen, daß dieſe drei Kraͤfte von einander
abgeſondert ſind, und ſelten ſind ſie alle beiſammen. Jn-
deſſen bin ich nicht dawider, daß ſie nicht auch beiſam-
men ſein ſollten (h).
Jch ſehe, daß einige den Wizz ebenfalls vom Koͤrper
abhaͤngen laſſen, und daß gewiſſe Laͤnder, die zwiſchen
dem 30 und 45 ſten Grade liegen, von jeher eine Menge
wizziger Menſchen hervorgebracht haben. Daß die Athe-
nienſer (i) ſowol ehedem, als auch jezzt durch ihren gluͤkk-
lichen Wizz beruͤhmt ſind: daß ein gewiſſer Grad des
Weins eine gewiſſe, doch nicht uͤbermaͤßige Geſchwindig-
keit in den Saͤften des Gehirns erwekkt; daß eine der-
gleichen Doſe Wein den Wizz ſchaͤrfe, und Verſe ein-
floͤſſe: daß auch ein maͤßiges Fieber dergleichen thue, und
fruchtbare und beredte Jdeen (k) erzeuge, welches mir
ſelbſt mehr als einmal wiederfahren iſt, daß es mir ganz
leicht wurde, Verſe auszuſchuͤtten (l). Paul der Zwee-
te erlangte waͤhrend der Fieberhizze, eine bewunderns-
wuͤrdige und dauerhafte Beredſamkeit (m); ich leſe, daß
Mabillon(n) durch eine Krankheit wizzig geworden:
daß ein Menſch, der ſo lange er geſund war, ohne Wizz
war, durch einen am Kopfe empfangnen Schlag, wizzig
geworden (o): und daß dergleichen in einer hiſteriſchen
Krankheit, von einer Veraͤnderung an einer Nervenfaſer
gleich-
[1087]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
gleichfalls erfolgt ſei (p). Ueberhaupt zeiget ſich an dem
Exempel des Popen, Virgils, Paſkals, Barat-
terius, daß bei ſchwaͤchlicher Geſundheit (q), ein guter
Wizz gegenwaͤrtig ſein koͤnne (r).
Ferner ſollen dergleichen Menſchen, die durch Krank-
heit oder Wein wizzig geworden, wieder in die erſte Mit-
telmaͤßigkeit zuruͤkke fallen (s), wenn die Kraft der Krank-
heit oder des Weins ausgetobet hat; und von dem Ge-
brauche einiger Apothekerdinge, ſonderlich des Opii (t),
und des Jndianiſchen Hanfſaamens nach und nach wie-
der kindiſch werden, ſich aller Sorgen entſchlagen, und
kaum ein Verlangen nach dem Gegenwaͤrtigen aͤuſſern
(t†). Man lieſet ein Exempel, daß nach einer lebhaften
Freude von dem Weine Champagniens, den folgenden Tag
eine Dummheit und der Todt erfolgt iſt (t*).
Ferner wuͤrden auch die Kinder alle ohne Wizz geboh-
ren, dieſer Wizz nehme mit einer mittelmaͤßigen Feſtig-
keit des Gehirns allmaͤhlig zu, und er bilde ſich vom
zehnten, bis zum vierzigſten Jahre immer vollkommner
aus; endlich vertrokkne die fruchtbare Ader des Wizzes
nach und nach, und endlich verſchwindet in dem hoͤchſten
Alter, wie vom Gedaͤchtniſſe geſagt worden, der Wizz
gleichfalls, und es ſei dieſer bewundernswuͤrdige Erfinder
der vorborgnen Aehnlichkeiten, Swift endlich zu einem
laͤppiſchen und ungereimten Greiſe geworden.
Folglich haͤnge die Vollkommenheit des Wizzes, ſo
wie des Gedaͤchtniſſes, von der Beſchaffenheit des Koͤr-
pers ab.
Mir deucht, daß man auf dieſe Einwuͤrfe gruͤndlich
antworten koͤnne. Es erlangt der Wizz eine groͤſſere Ge-
ſchwindigkeit, in den Jdeen, welche der Seele gegenwaͤr-
tig ſind (u). Solchergeſtalt kann die Seele, da ihr in-
nerhalb einerlei Zeit mehr beſondre Begriffe vor Augen
ſchweben, die Aehnlichkeiten entdekken (x), welche andre
viel langſamer erreichen, weil gleichſam das Raͤderwerk
der Jdeen in ihnen traͤger umlaͤuft. Caͤſar beſas einen
ungemeinen Wizz (y), weil er vier Schreibern Briefe
diktirte, und ſo gar ſieben, ſo oft er von allen andern Ar-
beiten frei war. Dieſes iſt aber ein Werk der Geſchwin-
digkeit, indem er nicht ſieben Geſchaͤfte ausrichtete, ſon-
dern von einem zum andern geſchwinde uͤbergieng.
Es wird ferner zum Wizze eine groͤſſere Empfindba-
keit, als in einem mittelmaͤßigen Menſchen erfordert, da-
mit uns dieſe Aehnlichkeit ſtark und lebhaft ruͤhren moͤge,
welche ſonſt einen Dummen nicht in Bewegung ſezzen wuͤrde.
Beides aber geſchiehet von denjenigen Urſachen, von
denen der Wizz, wie wir geſagt haben, vergroͤſſert wird.
Jn den Fiebern und in der Gehirnentzuͤndung, empfin-
det man (z) eine unertraͤgliche Empfindung (a), ein Zit-
tern (b) bei dem Tone einer gemeinen Stimme, die Au-
genſchmerzen beim Lichte (c), und wir riechen und ſchmek-
ken ſchaͤrfer, wenn wir gleich wieder geſund werden. So
giebt es Wahnwizzige, welche, wenn ſie ſich beſſer befinden,
die
[1089]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
die gelbe und rothe Farbe, und ſtarke Toͤne nicht ohne
Erſchuͤtterung vertragen koͤnnen (c*). So faͤllt den waſ-
ſerſcheuen Perſonen das Licht (d), eine lebhafte Farbe und
Schall (d*), die Luft (d**) und das Kizzeln (e) von
einer jedweden Beruͤhrung, unertraͤglich. Folglich gren-
zet dieſe Empfindlichkeit zu naͤchſt am Wahnwizze, und
der Wuth (f). Die Empfindung iſt an einem Hipochon-
driſten ſo ſcharf, daß der Kranke faſt beſtaͤndig eine kalte
Luft empfindet (g). Hieher gehoͤrt der vor dem Regen,
und in einer nebligen Luft ſcharf empfindende Melancholi-
kus (h). So eniſtehen in den heiſſen Himmelsſtrichen,
als auf den Jnſeln Bourbon (h*) und Barbados (i),
von der geringſten Wunde durch den ganzen Koͤrper Ner-
venſpannungen.
Nun ſind die Jdeen in ſo warmen Laͤndereien, oder
vom Wein und in Fiebern, nicht nur geſchwinder, ſon-
dern auch lebhafter, und in ſo fern haͤngt der Wizz vom
Koͤrper ab. Doch iſt es allezeit die Seele, welche Jdeen
vergleicht.
Die Zeichen entſtehen blos aus der Adſociation der
Jdeen, und druͤkken ſich durch Widerholungen ins Ge-
daͤchtnis ein. Zuerſt entſtand die Rede, welche wir bei-
nahe
H. Phiſiol. 5. B. Z z z
[1090]Der Verſtand. XVII. Buch.
nahe mit den Thieren gemein haben, und die allen in
Geſellſchaft lebenden Menſchen ebenfalls eigen iſt: indem
Menſchen, welche auſſerhalb der Geſellſchaft erzogen wer-
den (k), nicht reden koͤnnen. Man nennt daher einem
Kinde den Namen Mutter, indem es zu gleicher Zeit ſei-
ne Augen, Finger und Mund auf dieſelbe richtet. Sol-
chergeſtalt lern es, der Mutter nachreden, die es Mama
nennt (l), und dieſen Ton mit der, durch ſo viele Wohl-
thaten, und ſo viele Zaͤrtlichkeiten ihm bekannt gewordnen
Mutter verbinden, daß dieſes Band durch eine oft wie-
derholte Abſchilderung endlich unaufloͤsbar wird. Es iſt
dem Menſchen der Gebrauch der Sprache ſo angebohren,
daß unter wenig, beiſammen erzogenen Kindern eine be-
ſondre Sprache entſtanden iſt.
Hierbei ſind die ungeſitteten Hordenvoͤlker, die von
keinen Staͤdten wuſten, und nur von der Jagd und dem
Fiſchfange lebten, beſtehen geblieben. Hingegen gingen
die, welche Aekker bauten, und Staͤdte bewohnten, meh-
rentheils weiter; ſie geriethen naͤmlich auf die zweete Zei-
chen, die den Ton der erſten Zeichen durch ſichtbare und
beſtimmte Figuren ausdruͤkken. Die aͤlteſten unter dieſen
Zeichen (l*), druͤkkten die Aehnlichkeiten derjenigen Dinge
aus, die ſie nicht zu bezeichnen verſtanden. Sie lernten
das Bildnis der Sonne mit einem Zirkel nachmachen.
Auf ſolche Weiſe entſtand das zweete Zeichen, welches ſo-
wol das Urbild, naͤmlich die Sonne wieder ins Ge-
daͤchtnis brachte, als auch mit dem erſten Zeichen, dem
angenommnen Namen der Sonne, nach und nach durch
die Gewohnheit eins wurde.
Hierbei |bleibt die Sorgfalt noch nicht ſtehen; denn
weil die Mahlerei Schwierigkeiten machte, ſo erfanden
die Voͤlkerſchaften, ſonderlich die, welche ſich eines ge-
ſellſchaftlichen Lebens bedienten, in den alleraͤlteſten Zei-
ten die Bilderſchriften (hieroglypha) naͤmlich willkuͤr-
lich erdachte Zuͤge, welche einen ganzen Begrif ausdruͤk-
ken (l**). Doch da auch dieſe Characters groſſe Schwie-
rigkeiten machten, und die Anzahl der Begriffe zugleich
mit den Kuͤnſten zu ſehr anwuchs, ſo entſtand die gewis
wunderbare Erfindung der Phoͤnicier, welche bewegli-
che, wenige und leichte Characters erfanden, aus deren
Zuſammenſezzung unendliche Namen gemacht werden
konnten, die zwar den Sachen ganz und gar nicht aͤhnlich
ſind, die aber dennoch der Gebrauch und die wiederholte
Verbindung mit den Sachen vereinigte. Solchergeſtalt
druͤkkten ſie mit den Buchſtaben (Schim und M) die
Sonne ſelbſt, und den Ton des Wortes Schemeſch aus.
Dieſes in der That groſſe Kunſtſtuͤkk, wurde nach Euro-
pa gebracht, und blieb bei deſſen Einwohnern.
Durch dieſe Huͤlfsmittel erweitern ſich die Kraͤfte der
Seele auf eine wunderbare Weiſe. Man behaͤlt die er-
ſtere Zeichen, die man durch das Gehoͤr lernt, oder die
Namen der Dinge, im Gedaͤchtnis viel leichter, als die
Bilder, weil ſie einfaͤltiger ſind, noch die Mahlerarbeit
noͤthig haben, welche ſehr beſchwerlich ſein wuͤrde, wenn
man ſich das Bild eines Freundes ins Gedaͤchtnis brin-
gen wollte. Der Polniſche Knabe, und das Franzoͤſiſche
Maͤdchen, konnten, weil ſie keine Zeichen zu gebrauchen
wuſten, auch nicht erzaͤhlen, wie es ihnen vormals gegan-
gen war (l†). Die Seele hat ſich dergeſtalt an die Zei-
chen gewoͤhnt, daß ſie blos durch Zeichen denkt, und blos
die Spuren der Toͤne, die Abbildungen aller Dinge der
Seele vormahlen, ſeltene Exempel ausgenommen, wenn
irgend ein Affekt der Seele, das Bild ſelbſt ins Gedaͤcht-
Z z z 2nis
[1092]Der Verſtand. XVII. Buch.
nis bringt. Die Zeichen koͤnnen aber viele Eigenſchaften
der Dinge ausdruͤkken, die kein Bild kann, als das, was
Dingen gemeinſchaftlich iſt, die Folgen auf einander, und
die Begriffe des Verſtandes. Doch es haben auch die
zweete Zeichen den Nuzzen, daß ſie dauerhaft ſind; daß
Jdeen, welche ſie ausdruͤkken, ſo oft man will, wieder-
holt, verglichen, getheilt, und in kleinere Begriffe re-
ſolvirt werden, und unſere Jdeen endlich mehren, und
auch abweſenden und nach unſrem Tode lebenden Perſo-
nen mitgetheilt werden koͤnnen.
Folglich hat die Seele vornaͤmlich durch Huͤlfe der
Zeichen abſtrahiren gelernet. Dieſes heiſt, wenn wir
von vielen Jdeen dasjenige ſammeln, was ſie unter ſich
gemein haben: ſo abſtrahirt man vom Hunde und Pferde
oder Ochſen, ein lebendiges oder vierfuͤßiges Thier; von
dem Rothen, Weiſſen und Blauen, den Begriff Farbe.
Es geſchicht ſolches durch eine beſtimmte Operation der
Seele, denn ob das Rothe, Weiſe und Blaue gleich durch
die Lichtſtrahlen vorgeſtellt wird, ſo uͤbernimmt es den-
noch blos der Wille auf die Aehnlichkeit der drei Farben
und ihren Unterſchied acht zu geben, das lezztere zu ver-
werfen, und blos die Aehnlichkeit uͤbrig zu behalten. Es
bekoͤmmt aber die Seele Huͤlfe von den Zeichen, weil es
viel leichter iſt, auf gegenwaͤrtige und fortwaͤrende Din-
ge ſeine Aufmerkſamkeit zu richten, als eine Menge Jdeen
zu behalten, ſie der Seele wieder erneuert vorzuſtellen,
und auf ſelbige von allen Seiten mit Aufmerkſamkeit um-
zublikken.
Es kann auch von einer zuſammengeſezzten Jdee der
groͤſte Theil weggenommen werden, ſo daß nur ein gerin-
ger Theil noch uͤbrig bleibt; und daß man von einem
Menſchen nichts mehr uͤbrig behaͤlt, als die ſchwarze Far-
be, die einen zum Mohren macht.
Auf eben ſolche Weiſe abſtrahiren wir auch die Ver-
haͤltniſſe, z. E. zwiſchen Urſache und Wirkung, Vater
und Sohn, und unzaͤhlich andre Dinge mehr, die von
wenig
[1093]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
wenig geuͤbten Menſchen ſelten, von ſolchen, die auſſer
der Geſellſchaft leben, vielleicht niemals, ſo wenig als von
Kindern, oder Thieren abſtrahirt werden, und welches
ein Vorzug der ausgebildeten Menſchenſeele iſt.
Man nennt Jdeen, die aus Abſtraktion entſtehen,
notiones(m). Alle entſtehen einigermaſſen aus Empfin-
dungen, und bilden ſich ſelbſt durch Zeichen in unſrer
Seele ab; doch ſind ſie ein Werk der Seele; und die
Thiere kennen dieſe Begriffe nicht (n). Auſſerdem zeiget
ſich in der Seele noch, eine aus den Abſtraktionen, und
Begriffen, entſtandne gewiſſe Macht der Ordnung, wo-
von die Thiere ebenfalls nichts wiſſen (o).
Man erlaube mir hier, dasjenige mit kurzen Worten
zu beruͤhren, was zum Theil die Aerzte, zum Theil alle
Menſchen angeht.
Wahrheiten wiſſen, nennt man, wenn unſre Jdeen
mit den Sachen ſelbſt uͤbereinſtimmen, aus deren Vorſtel-
lung ſie entſtanden ſind. Wir irren, wenn unſre Jdeen
von den Sachen ſelbſt verſchieden ſind.
Wir beruͤhren hier nicht die Jrrthuͤmer der Sinnen,
die wir bei dem Sehen weitlaͤuftig erzaͤhlt haben. Wir
geben auch leicht zu, daß uns das Gefuͤhl betruͤgen koͤnne
(p), und wenigſtens von der willkuͤrlichen Dikke der un-
empfindlichen Bekleidungen abhaͤnge.
Wir reden hier alſo uͤberhaupt von den Jrrthuͤmern
unſrer Seele. Wir irren bei den einfachen Jdeen ſeltner:
und gemeiniglich darum, daß wir uns die Theile der zu-
ſammengeſezzten Begriffe nicht alle nach der Ordnung
vorſtellen, dennoch aber von den wenigen, die uns bekannt
geworden, auf alle ſchlieſſen. Dieſes iſt der Betrug bei
den Hipotheſen, ſo oft in einem zuſammengeſezzten Be-
griffe einige Dinge mit der Sache ſelbſt uͤbereinſtimmen,
und wir daraus ſchlieſſen, daß auch das uͤbrige damit
uͤbereinſtimmen werde. Es iſt dieſes, wie man leicht ſieht,
ein Jrrthum unſers Willens, welcher theils von der
Traͤgheit, die Arbeit weiter fortzuſezzen, um ſich alle beſon-
dre Jdeen, die den zuſammengeſezzten Begriff ausmachen,
gehoͤrig bekannt zu machen; theils von der Eitelkeit her-
ruͤhrt, welche ſich zu beſtimmen, und zu lehren anmaſt,
was ſie ſelbſt nicht erſt gelernt hat.
Gemeiniglich ſtekkt der Jrrthum bei phiſiologiſchen
Dingen darinnen, daß wir in dem Bau einen Theil,
als bekannt und zuverlaͤßig annehmen, welcher weder be-
kannt, noch gewis iſt: hierauf aber mechaniſche, hidrau-
liſche oder andre Regeln appliciren, um die Erſcheinung
zu erklaͤren, welche wahr und gewis waͤren, woſern es
mit der Erſcheinung ſelbſt ſeine Richtigkeit haͤtte. Hier-
von haben wir bei dem Schlagen des Herzens, und der
Bewegung der Muſkeln Exempel gegeben.
Auch daher haben ſich unendlich viele Jrrthuͤmer in
die Arzeneikunſt und Phiſiologie eingeſchlichen, daß man
einmal geſehene Phaͤnomena, fuͤr beſtaͤndig gehalten. So
hat man die periſtaltiſche Bewegung der Gedaͤrme gelaͤug-
net, und ſo hat man die vom Athemholen zunehmende
Bewegung des Gehirns widerlegt: und dieſes haben
Maͤnner unternommen, die nicht den mindeſten Zweifel
erregen wuͤrden, wenn es ihnen nur beliebet haͤtte, beide
Phaͤnomena oft und zu wiederholtenmalen in Augenſchein
zu nehmen.
Ein andrer Quell der Jrrthuͤmer iſt eben ſo willkuͤr-
lich, naͤmlich der ſich auf das Anſehn andrer verlaͤſt.
Dieſes Vergehen iſt heut zu Tage nicht mehr ſo herrſchend,
als ehedem, allein doch noch nicht voͤllig auſſer Mode ge-
kommen. Boerhaave, den ſie verehren, ſagt ſo und
ſo; folglich iſt es wahr. Sie thun daran Recht, daß ſie
dieſen Mann lieb haben, indem niemals ein Lehrer mehr
verdient hat, ſeinen Schuͤlern werth zu ſein, als dieſer:
er war aber ein Menſch, und man mus ſeinen guͤldnen
Mund nicht hoͤren, ſondern es verlangt derſelbe blos von
uns den Beifall. Sie haſſen den Stahl einen hizzigen
Mann, der ſich weder durch ſeinen Vortrag, noch durch
die beſtaͤndige Verachtung aller derer beliebt zu machen
weis, welche er anfuͤhrt, und denen er ſich ganz allein
entgegen ſtellt. Und dennoch ſagt Stahl nicht ſelten die
Wahrheit, und oft ſehr nuͤzzliche Wahrheiten.
Auf ſolche Art entſtehen oft aus dem Obigen ſchlim-
me Partheien, und dieſe finden endlich eine Fortdauer in
der Folge der Zeit.
Wir irren im geſunden Zuſtande, weil wir betrogen
ſein wollen. Allein, wenn der Koͤrper von anderer Be-
ſchaffenheit iſt, ſo iſt es unvermeidlich, auf die ſchreklich-
ſte Jrrthuͤmer zu gerathen: und hiervon mus ich eine kurze
Erwaͤhnung thun.
Hieran iſt nun gemeiniglich eine ſchnelle Bewegung
des Blutes nach dem Gehirn Schuld (q), es mag ſolches
vom ſtarken Weingeiſte (r), und dieſes iſt der gewoͤhn-
lichſte Fall, oder von den Walddaͤmpfen der Spaawaſ-
ſer (s); oder von hizzigen Arzneimitteln (t); von reinem
Z z z 4oder
[1096]Der Verſtand. XVII. Buch.
oder durch einige Gewuͤrze verſezztem Opio; von giftigen
Pflanzen, als der Belladonna (t*), Bilſenkraute (t**),
der Datura (t***), den Schwaͤmmen (t†), oder vom
Fieber, von Affekten, von der Furcht (u), oder von
uͤbermaͤßiger Kaͤlte (x), von verſtopfter guͤldner Ader (y);
oder von heiſſer Witterung (z), von Schmerzen (z*),
von Wuͤrmern (a): von verſchiednen Uebeln des Haup-
tes (b) herruͤhren. So verfielen auch durch Enthaltung
vom Schlafe (b*), diejenigen elende Einwohner Frank-
reichs, welche unter einer gedruͤkkten Kirche lebten, in
Raſerei; und ſo macht man auch die Jagdfalken (c) durch
eben dieſes Mittel ſo verruͤkkt, daß ſie ſich blindlings in
Gefahr, und auf den Reiher herabſtuͤrzen. Hier koͤnnte
die Geſchichte von einem Kranken zu einem wichtigen
Exempel dienen, welcher wechſelweiſe wahnwizzig und ge-
ſund wurde, nachdem er mehr auf dem Ruͤkken, oder
gerade lag (c*).
Dieſe gar zu lebhafte Action im Gehirn, fuͤhret durch
viele Grade von einem dichteriſchen Genie (d), bis zu der
gefaͤhrlichen Art von Tollheit, dergleichen ich einigemale
mit
[1097]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
mit angeſehen, und wobei kein Jrrthum uͤberhaupt zu
gegen war; aber doch die zu groſſe Munterkeit der Jdeen,
wilde und grauſame Handlungen veranlaſte, von welcher
Art ich jezzo eine Perſon im Gefaͤngniſſe habe, die aus
Begierde zur Rache wuͤthend iſt (e).
Dennoch iſt auch in dieſer Klaſſe uͤberhaupt der noth-
wendige Zuſammenhang der Jdeen unterbrochen, und
man kann ſolches in den erbaͤrmlichen Graͤbern gewahr
werden, wo man lebendige Menſchen einſchlieſt, die ih-
ren Verſtand verlohren, oder von Sinnen gekommen.
Man ſiehet wie dieſe von einer Jdee, auf eine andre hoͤchſt
ungereimte (f) verfallen, die mit der erſten in gar keiner
Verbindung ſteht, und keine Vergleichung leidet, folg-
lich wo gar keine Beurtheilung, kein Vernunftſchluß,
und keine Verbindung des Kuͤnftigen mit dem Gegen-
waͤrtigen ſtatt findet.
Eine andre Art von Tollen, legt ſich einen falſchen
Sazz zum Grunde, und leitet daraus uͤberhaupt Schluͤſſe
her, die natuͤrlich daraus folgen wuͤrden, aber zugleich
mit ihrem Grundſazze nichtig ſind. Es koͤmmt dieſe Art
haͤufig vor, und ſolche Leute ſind durch eine, in den Aber-
glauben ausgeartete Andacht, durch eine uͤbermaͤßige
furchtſame Begierde nach einem andern Leben (f*), durch
eine ungluͤkkliche Liebe, durch ein Schikkſal, welches ſich
nicht nach ihrem Ehrgeize bequemen will, durch eine ver-
gebliche Rachgierde, durch unzeitige Meditationen, an
irgend eine Jdee (g) ſo gebunden, daß dieſelbe immer wie-
der aufſteigt, und ſich dergeſtalt in die Seele einſchleicht,
daß die Seele dieſelbe mit Gewalt glauben mus (h), als
Z z z 5ſonſt
[1098]Der Verſtand. XVII. Buch.
ſonſt geſchehen wuͤrde, wenn dieſe Jdee durch die koͤrper-
liche Objecte wirklich erregt wuͤrde. Es ſind aber ſolche
Menſchen, eine einzige Jdee zu behalten ſo geſchikkt, daß
einer auf einer, mit Kohlen gezogenen Linie einen Seil-
taͤnzer agirt (i); der andere, deſſen ich mich wohl erinne-
re, viele Jahre darauf verwandte, daß er in ſeinem Ge-
faͤngniſſe auf ein Brett ſprang, welches ein wenig an der
Wand vorragte, und ſich ſo gleich auf den Kopf ſtuͤrzte.
Jch habe welche geſehen, die ſich fuͤr Prinzen (k) hiel-
ten (l), und alle, auch die uͤber ſie zu befehlen hatten, fuͤr
ihre Unterthanen anſahen. Weiter waren ſchon diejeni-
gen in ihrer Tollheit gekommen, welche ſich fuͤr Goͤtter
ausgaben (m). Derjenige, von dem Trallianus(n)
und Galen(n*) reden, glaubte, daß er den Himmel
truͤge. Ein andrer wollte Gott hoͤren (o).
Es giebt auch luſtige Arten von Tollen, welche ſich
einbildeten, muſikaliſche Geſaͤnge zu hoͤren (p), und welche
ſich mit vieler Entzuͤkkung uͤberredeten, daß alle Schiffe,
welche in den Hafen Piraͤum einliefen, ihnen angehoͤr-
ten (q).
Andre blieben beſtaͤndig traurig, und weil ſie glaub-
ten, die Haͤſcher waͤren da, um ſie zur Lebensſtrafe zu
fuͤhren (r), ſo unterſtanden ſie ſich nicht aus der Stube zu
gehen (s). Andre fuͤrchteten ſich, vergiftet zu werden (t).
Andre
[1099]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
Andre, welche reich waren, ſtanden in beſtaͤndiger Furcht,
arm und elend zu werden (u)
Ja man kann ſich nichts ſo unſinniges und laͤcherliches
erdenken, welches einem oder dem andern dieſer Ungluͤkk-
lichen nicht in den Sinn gekommen waͤre.
Einer glaubte, er ſei zum Glaſe geworden (x), und
daher war er nicht aus der Stelle zu bringen, damit man
ihn nicht zerbrechen moͤchte.
Boerhaave erzaͤhlte von jemanden, welcher ſich ein-
bildete Beine von Stroh zu haben (y), ein andrer hatte,
ſeinen Gedanken nach, biegſame Knochen (z), oder keine
Waden (a): oder doch wenigſtens lahme Fuͤſſe (b), oder
einen abgehaunen Kopf (c), ſo wie ein andrer ſich die
Vorſtellung machte, er koͤnnte von keinem Feuer warm
werden (d). Ein andrer glaubte, man habe ihm die ver-
nuͤnftige Seele genommen, und er behauptete mit aͤuſſer-
ſter Hizze, daß er todt ſei (e). Ein andrer wollte in ein
hoͤlzernes Pferd (f), in ein irdenes (g), in eine Gans
(h), Vogel (i) verwandelt ſein, und daß ſeine Lebensgei-
ſter in die Geſtalt der Voͤgel, oder der Fliegen verwan-
delt worden (k). Ein anderer bildete ſich ein, er ſei blind
(l) und unvermoͤgend (m) geworden: ein anderer, er habe
ein
[1100]Der Verſtand. XVII. Buch.
ein Geſchwuͤr in der Seite (n), einen Abceß in der Leber
(o), oder ein Mondkalb (p), ein verfaultes Gehirn (q).
Ein andrer wollte nicht, weil ſein Gedaͤrme zerriſſen (r),
Speiſe zu ſich nehmen, oder trinken, weil er ſich vor
Kot hielt (s), und glaubte einen Nagel verſchlungen zu
haben (t), oder in eine Roͤhre eingeſchloſſen zu ſein (u).
Viele glaubten, Wuͤrmer (x), Kaͤfer (y), Froͤſche (z),
Maͤuſe (a), Kaninchen (b), Fliegen (c), eine Frucht (d)
oder ſehr lange Naſe (e) zu haben, oder Geſpenſter zu
ſehen, dergleichen ich ebenfalls geſehen (f), andre hatten
mit Teufeln zu thun (g), oder mit andern ſolchen Din-
gen (h).
Boerhaave hatte eine wunderliche Empfindung von
einer unermaͤslichen, ſehr weichen Ausdehnung, und ei-
ner ins Unendliche anwachſenden Pflaumfeder, in ſich,
vor dem Anfalle der Kraͤmpfe (i).
Es geſchieht bei Leuten, welche bei einer einzigen Jdee
phantaſtren, gemeiniglich daß ſie blos in dieſem einzigen
Stuͤkke raſen, uͤbrigens aber klug ſind (k), und ihre
Kuͤnſte verſtehen, wie Aretaͤus(l) von ſeinem Baumei-
ſter
[1101]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
ſter erzaͤhlt, und aus dem Exempel des Jeſuiten Spam-
bati, oder eines andern erhellt, der die Evangelien wie-
derholte (m).
Andre bezeugten ſich gegen alles andere, gegen die
natuͤrlichen Reize des Hungers, oder Durſtes unempfind-
lich, ſie hatten keine Empfindung von Kaͤlte (n), und
einen verſchloſſnen oder harten Leib (o), daß man einer
unſinnigen Frauensperſon neun (p) bis zwoͤlf (q) Gran
vom Merkurius vitaͤ ohne Gefahr geben konnte; oͤfters
wiſſen ſie von keinem Schlafe (r). Endlich aͤuſſern einige
faſt uͤbermenſchliche Kraͤfte (s). Wir haben an einem an-
derm Orte von Jemanden geredet, der in einer Gehirn-
entzuͤndung eiſerne Gitterſtaͤbe zerbrach (s*).
Die Raſenden und Wuͤthende von fluͤchtiger Dauer,
werden gemeiniglich durch ſolche Kuren geheilt, welche die
uͤbermaͤßige Lebenskraͤfte mindern (s**), durch Aderlaſ-
ſen (s***), Oeffnung der Schlagader (t), durch eine
groſſe Menge Waſſer, worinnen man purgirende (u) Ar-
zeneien eingeruͤhrt, und dieſe Heilungsart habe ich einige
male von gutem Erfolge befunden, ſo wie ſie die Natur
bisweilen ſelbſt anwendet (u*); oder durch Bezwingung
der Kraͤfte, oder wenn man ſolchen Perſonen durch Schlaͤ-
ge Schrekken einjagt (x), und dieſes iſt die gewoͤhnliche
Kur (y), tolle Leute zu heilen; endlich durch Untertauchen
in
[1102]Der Verſtand. XVII. Buch.
in Waſſer (z), wodurch man auch die Trunkenheit ploͤzzlich
heben kann (a). Andre haben durch harte und taͤgliche Arbeit
(b) die Geſundheit des Gemuͤths wieder erlangt. Nicht
ſelten werden Kranke vor dem Tode geſund, und ſie er-
langen ihr Gedaͤchtnis und geſunden Verſtand wieder (c),
vielleicht durch diejenige Schwachheit, welche in der gan-
zen Maſchine uͤberhand nimmt. Selbſt die Beizfalken,
verlieren, wenn ſie friſche Federn bekommen, aus Schwach-
heit, ihre Raſerei, und wollen nun keine Reiher mehr
verfolgen (d).
Welche wegen einer falſchen Jdee, die ſie fuͤr wahr
annehmen, wahnwizzig ſind, laſſen ſich durch keine Ver-
nunftſchluͤſſe beſſern. Es kann die Empfindung nie durch
Zeichen uͤberwaͤltigt werden, ſo wenig als die Jdee, wel-
che eben ſo ſtark, als die Empfindung iſt. Jch erinnere
mich noch, da ich ein ſchlimmes Frieſelfieber hatte, daß
ich in Phantaſien verfallen, wenn man mir ein warmes
Dekokt zu trinken gab, und ich bildete mir dann ein, wie
ich mich noch wohl erinnere, daß es bei hellem Tage fin-
ſter ſei, und ich mich in dieſer Finſternis befaͤnde. Jch
ſezzte mich kraft der noch ruͤkkſtaͤndigen Vernunft, wider
dieſen Jrrthum, und befahl Lichter anzuzuͤnden, doch konn-
te ich mir nicht dieſe Jdee von Dunkelheit aus dem Sinne
ſchlagen, ob ich gleich uͤbrigens ohne Phantaſie war.
Eben ſo kann die Seele oͤfters nicht das Ohrenklingen von
dem wirklichen Klange der Glokken unterſcheiden.
Die Unſinnigen, und in einem einzigen Stuͤkke, Wahn-
wizzigen, werden oft mit einmal wieder geſund, wenn ſie
durch eine augenſcheinliche Empfindung entweder wirklich
von ihrem Jrrthum uͤberzeugt werden, oder wenn ihnen we-
nigſtens doch eine neue Jdee, die eben ſo ſtark iſt, beigebracht
wird,
[1103]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
wird, die die irrige Jdee verdrengen kann. Man hat
eine Menge von dergleichen Exempeln aufzuweiſen. Der,
welcher keine Waden zu haben glaubte, wurde geſund,
als man ihn darauf ſchlug (e); der nicht warm werden
konnte, wurde klug, als man den Brandtwein anzuͤn-
dete, womit man ſeine Kleider benezzt hatte (f); der kei-
nen Kopf zu haben vorgab, wurde geheilt, als man ihm
einen bleiernen Hut aufſezzte (g); und der mit Gewalt
ein Vogel ſein wollte, als er zur Flucht Fluͤgel zu haben
verlangte (h).
Andre hat man durch Betruͤgereien wieder vernuͤnf-
tig gemacht, da man unter ihren Kot Froͤſche (i), Kaͤfer
(k), Naͤgel (l), Schlangen (m) miſchte; Fliegen aus
dem Ohre zog (n), in den Unterleib gelinde ſchnitt (p),
oder die Naſe verwundete (q); einen Schwamm aus dem
Schlunde zog (r), ein waͤchſern Bild zum Vorſchein brach-
te, dem man den Poſſen zuſchrieb (s), oder andre aber-
glaͤubiſche Mittel erdachte, worauf der Kranke allein ſein
Vertrauen ſezzte (t).
Jn der Tollheit iſt die Bewegung durch das Gehirn
zu heftig, und das Mark viel zu empfindlich. Jn dieſem
Zuſtande der Dummheit koͤmmt das Gegentheil von dem
Obigen vor (t*), es iſt der Umlauf der Saͤfte zu ſchwach,
und
[1104]Der Verſtand. XVII. Buch.
und die Werkzeuge der Empfindung ſind zu wenig em-
pfindlich.
Es leben viele ſolche Albernen in dem an uns angren-
zenden Walliſerlande, welche man Kretin zu nennen
pflegt, ſowol auf den Ebenen, als zwiſchen den Bergen,
und welche nach Proportion der Geſunden, faſt unzaͤhl-
bar, und von geſunden Eltern gebohren ſind. Jhr Ge-
ſicht iſt kaum menſchlich, ihr Mund weit, voller Spei-
chel, und oft haben ſie Kroͤpfe; ihre Stimme klingt laͤp-
piſch, und ihre Vernunft taugt zu keinen Geſchaͤften des
Lebens. Andre, die eben ſo zahlreich ſind, bringen ihr
ganzes Leben im Bette zu, und ſind zu allen koͤrperlichen
Bewegungen ungeſchikkt (u). Uebrigens leben ſie lange
(x), ſind nicht viel beſſer, als das unvernuͤnftige Vieh,
und wiſſen ſich noch weniger, aus eigner Vernunft, den
Unterhalt zu verſchaffen. Sie ſind aber ſo ſtumpf an
Empfindungen, daß ohnlaͤngſt jemand wegen angehaͤuf-
ten Kotes ſtarb, von welchem er ſo wenig Reiz fuͤhlte,
bis ſein Maſtdarm anderthalb Fus weit davon aufgetrie-
ben wurde.
Dieſen folgen Menſchen mit Waſſerkoͤpfen zu naͤchſt,
wenigſtens die mehreſten Waſſerkoͤpfigen. Andre lei-
den dergleichen Gemuͤthsſchwaͤche, von vorangegangnem
Schlage (y), vom ſchweren Gebrechen (z), von krampfi-
gen Zufaͤllen (a), welche ſich bei dem Gebrauche des Horn-
roggens (ſecale corniculatum) aͤuſſern. Bisweilen ent-
ſteht dieſes Uebel auch aus andern Krankheiten, und mo-
raliſchen Urſachen. Auch tolle Leute werden oft durch
Pruͤgel
[1105]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
Pruͤgel (b), Furcht, und haͤufiges Aderlaſſen (c) albern:
ſo wie Weiber, die im Kindbette (d) viel Gebluͤte verloh-
ren haben; endlich auch gelehrte Maͤnner (e), die ſich
durch uͤbermaͤßiges Arbeiten entkraͤften, und deren Gehirn
voͤllig untauglich wird, Jdeen zu behalten. Jch leſe, daß
jemand, von einer zwoͤlfjaͤhrigen gezwungenen Ruhe, ganz
dumm und hirnlos geworden (f), daß er wie ein Hund
endlich as; dergleichen berichtet auch Boerhaave von
uͤbermaͤßigen affektirten Schlafe (g).
Endlich bringt ein hohes Alter dieſe Krankheit zuwege
(h). Der durch ſeine Siege beruͤhmt gewordne Marl-
borough weinte vor ſeinem Tode, wie ein Kind (i).
Daß dieſes Uebel aber von einer zu traͤgen Empfin-
dung des empfindenden Siſtems herruͤhret, erhellet auch
ſchon daraus, daß man es gemeiniglich durch Reizmittel,
als Wein (k), Luſtbarkeiten (l), und nach des beruͤhmten
Muzells merkwuͤrdiger Erfindung (m), durch Jnokuli-
rung der ſcharfen Materie heilt, welche die Kraͤzze verur-
ſacht. Daß aber, obgleich ſo zu reden, das thieriſche
Siſtem gehemmt worden, dennoch das Lebensgeſchaͤfte
zu wirken fortfaͤhrt, koͤnnte man der groͤſſern Reizzbarkeit
dieſer Werkzeuge zuſchreiben (n).
Da ich endlich glaubte, aus der Erkenntnis der koͤr-
perlichen Urſachen beider Uebel im Gehirn, vieles zur Er-
kenntnis der Abſichten und Dienſte der Gehirntheile, mit
Nuzzen folgern zu koͤnnen, ſo habe ich es gewagt, das zu
ſammlen, was ich von den Urſachen der Raſerei und
Dummheit gefunden. Jch habe aber wenig Fortgang
gemacht, weil ich auſſer den neuſten Berichten, welche
wir dem vortreflichen Morgagni zu danken haben, we-
nig Berichte ausfindig machen koͤnnen, und es mir an
Gelegenheit gefehlt, die Sache ſelbſt zu unterſuchen.
Man fand in einer Fieberraſerei, die Gefaͤſſe der
duͤnnen Gehirnhaut voller Blut (n*), ein verhaͤrteter
Gallert zeigte ſich unter der Gehirnhaut (n**), es war
das Gehirn hart (n***), die Roſe hatte ſich ins Gehirn
und Gehirnhaut gezogen, die Gehirnrinde war roth und
entzuͤndet (n****), und es hatten ſich knochige Schup-
pen ins Gehirn geſenkt (n†). Jn einem Trunknen, denn
die Trunkenheit iſt eine Art vom Phantaſiren, fand man
die Blutgefaͤſſe des Sehnervens, und der Nezzhaut ſo
beſchaffen, daß man ſie mit bloſſen Augen ſehen konnte
(n††). An einem Waſſerſcheuen, einer damit verwand-
ten Krankheit, war das Gehirn trokken (n†††), und
das Blut wie geronnen; ſo wie die Gefaͤſſe der Gehirn-
haͤute voller Blut (n††††).
Oft ſchien die Gehirnentzuͤndung, von einer Entzuͤn-
dung der duͤnnen Gehirnhaut (o), des Gehirns (p), des
kleinen
[1107]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
kleinen Gehirns (q) von ausgetretnen Waſſer darinnen
(r), von angehaͤuften Blute im Gehirn und deſſen Haͤu-
ten (s), von einem Abceß des Gehirns (t) entſtanden
zu ſein.
Jn einer Tollheit war das Gehirn trokken (x), hart
(x*), zerreiblich, man fand in den Gehirnhaͤuten Blut,
oder auch im Gehirn ſelbſt (y): es hatte ſich ein Theil des
Gehirns verzert, das uͤbrige war weich und macerirt (z):
im Adergeflechte waren Druͤſen (z*), die Carotides waren
knochig geworden (a), und man entdekkte im Gehirn
Wuͤrmer (b).
Bei Hipochondriſten war das Gehirn hart (c) trok-
ken; Blut in Sichelſinus geronnen; pechartiges Gebluͤte
in der duͤnnen Gehirnhaut (d); man ſahe die Gehirnge-
faͤſſe angeſchwollen (e), in den Gehirnkammern Waſſer
(f). Jn der Noſtalgie einer Art von Melancholie, waren
die Gefaͤſſe des groſſen und kleinen Gehirns ungemein
aufgetrieben (f*).
Man hat an tollen Perſonen ferner, eine unfoͤrmliche
Figur des Kopfes (g), eine zuſammengedruͤkkte Hirnſchale
(h), die harte Gehirnhaut blauangelaufen, verfault, oder
entzuͤndet (i); das Gehirn ungemein trokken; das Ge-
A a a a 2hirn
[1108]Der Verſtand. XVII. Buch.
hirn uͤbel gebildet (l), angehaͤuftes Blut im Gehirn (m);
das Gehirn weich (n), oder aber hart (n*); einen ſcirr-
hoͤſen Geſchwulſt uͤber der Hirnſchwiele (o) oder anderswo,
wovon das Gehirn ebenfalls gedruͤkkt wurde (p); Blaſen
an der Hirnſchwiele (q); Scirrhos am Adergeflechte (r);
ein zu kleines Gehirn (s); ein entzuͤndetes, und angefreſ-
ſenes Gehirn (t); eine Menge Waſſer im Gehirn (u);
einen Waſſerkopf (u*); einen Stein in der Gehirnkam-
mer (x), in der Sichel (y); Steine in der Zirbeldruͤſe (z),
einen Scirrhus (a) an dieſer Druͤſe, und ein knochiges
Weſen (b); ingleichen allerlei Krankheiten am Gehirn,
Druͤſengeſchwuͤlſte u. ſ. f. angetroffen (c).
Einige Faͤlle uͤbergehe ich, als da die Nervenpaare
nicht parallel waren (d), welches auch an geſunden Per-
ſonen oͤfters vorkoͤmmt (e).
Dieſes wenige, haben wir groͤſtentheils dem Mor-
gagni zu danken. Doch unterſtehe ich mich daraus we-
nig
[1109]I. Abſchnitt. Der Verſtand.
nig zu folgern, weil man auſſerdem in den Koͤrpern der
Unſinnigen oft nicht den mindeſten Fehler antrift, ſo wie
auch in den Unempfindlichen (f); ferner, weil keine ge-
wiſſe Verbindung zwiſchen einer Krankheit der Seele,
und der Krankheit eines beſtimmten Theils des Gehirns
zu entdekken iſt; weil endlich die Merkmaale entgegen ge-
ſezzter Krankheiten in den Kranken, als in der Hirnwuth
und Dummheit gemeinſchaftlich anzutreffen ſind: doch
lieſſe ſich dieſer Einwurf der Neuern mit den Erſcheinungen
bei der Trunkenheit, und der Gehirnentzuͤndung entſchul-
digen, denn in dieſen entſteht aus einerlei Urſache erſtlich
ein Wahnwizz, denn bei wachſender Krankheit eine Schlaͤf-
rigkeit und eine Fuͤhlloſigkeit. So viel ſieht man wol,
daß das Gehirn gemeiniglich in den Krankheiten des Ge-
muͤths leide; und wenn dieſes bisweilen, in ſeltnen Faͤl-
len nicht zu leiden geſchienen, ſo konnte das Uebel in den
kleinern Elementen geſtekkt, oder es dem Zergliedrer an
Gedult gefehlt haben. Der vortrefliche Morgagni
fuͤgt noch dieſem bei (f*), daß das Gehirn in allen Sinn-
loſen, oder doch das Mark, nach einer beſondern Regel,
haͤrter, als gewoͤhnlich befunden werde.
Man koͤnnte den Verſtand mit dem Lichte, den Wil-
len mit dem Feuer in Vergleichung ſtellen. Je-
ner wirkt auf eine ſanfte Art; hingegen der Wil-
le mit groſſer Heftigkeit. Die den Thieren anerſchaffne
Natur beruht auf der Empfindung, und dem Wollen (g).
Es iſt der Wille eine Handlung der Seele, vermoͤge
welcher ſie ihren Zuſtand, einem andern Zuſtande vor-
zieht (h). Und gut iſt dasjenige, was wir bei uns zu ſein,
und uͤbel, was wir von uns entfernt zu ſein wuͤnſchen.
Jn koͤrperlichen Dingen iſt der Schmerz das groͤſte
und wirkliche Uebel, welches wir zu meiden ſuchen; indeſ-
ſen fallen uns doch auch andre Dinge noch beſchwerlich.
Es iſt aber der Schmerz, eine jede, ſo ſtarke Empfin-
dung (i), daß die Seele veranlaſt wird, dieſelbe weit
von ſich weg zu wuͤnſchen. Man wird ſagen, ich circulire
mit meinen Erklaͤrungen; wir haben aber keinen andern
Terminus.
Jn Schmerz verwandelt ſich ein uͤbermaͤßiges Licht,
ein ſcharfer Geſchmakk, ein ſtarkes Reiben der Haut.
Die von ihrem Oberhaͤutchen entbloͤſte Haut ſchmerzt,
wenn man ſie gleicht mit einem noch ſo weichen Tuche zu-
dekkt. Es verurſacht das Licht, die Luft, und die lebhaf-
te Farbe bei waſſerſcheuen Perſonen Schmerzen, weil ihre
Nerven empfindlicher ſind (i*).
Viele beſtimmen dieſen Zuſtand des Schmerzens ſo,
daß darinnen die Nerven entweder zerriſſen (k), oder doch
dem Zerreiſſen (l) ganz nahe ſind. Es ſcheinet dieſe De-
finition aus der Tortur hergenommen zu ſein, wo die aus-
geſpannten Gliedmaſſen (m), und zugleich die Nerven un-
gemeine Schmerzen ausſtehen, und kurz darauf zerreiſſen.
Doch es ſind am Popen, welcher alle Tage, funfzig Jahre
lang, Kopfſchmerzen an der halben Kopfſeite litte, dieſelben
weder zerriſſen, noch haben ſie den lezzten Tag ſtaͤrker oder
weniger geſchmerzt, als den erſten Tag: und ſie wuͤrden
nun ſtaͤrker geſchmerzt haben, wenn die Faſern mehr ge-
ſpannt, und weniger, wenn ſie zerriſſen geweſen waͤren (n).
Jn der That zehrt ein groſſer und beſtaͤndiger Schmerz
den Koͤrper aus (o), und wenn derſelbe ſehr heftig iſt, ſo
raubt er ploͤzzlich die Kraͤfte (p), noͤthigt geſchwinde zum
Stuhlgehen (q) und Harnlaſſen, wie ich an den Elenden
ſehe, bei deren Tortur ich Amtswegen, den Vorſizz ha-
be; und endlich toͤdten die Schmerzen, wie (r) bei einer
heftigen Beugung des Schienbeins zu geſchehen pflegt.
Es ſtarben die Hunde, denen ich die Nerven unterband,
bis auf einen einzigen, alle, ob dieſes gleich nur Nerven
der Haut waren, und dieſe Thiere ihren heilenden Spei-
chel dabei anbringen konnten.
Gott hat uns Menſchen an dem Schmerz, einen ge-
treuen Waͤchter (s) zu gegeben, welcher uns wegen der
A a a a 4zer-
[1112]Der Wille. XVII. Buch.
zerſtoͤrenden Urſache Erinnerungen thut. Es ſcheinet
dieſes was geringes zu ſein; es hat aber allerdings viel zu
ſagen. Wuͤrde uns der Schmerz in Krankheiten nicht
warnen, den Koͤrper zu wenden, damit wir nicht die Laſt
des ganzen Koͤrpers beſtaͤndig auf eine Stelle druͤkken
lieſſen, ſo wuͤrde gewis in jeder Krankheit, der heiſſe Brand,
weil die Bewegung des Blutes, und Nervenſaftes an der
gedruͤkkten Hautſtelle gehemmt wird, entſtehen und den-
noch iſt dieſes Uebel ſelten genung. Es iſt der ganze
Koͤrper mit einer ſehr empfindlichen Bekleidung umgeben,
damit wir uns auf allen Seiten fuͤr das Stoſſen an harte
Koͤrper, fuͤr verwundende Schneiden, fuͤr dem Gerinnen
des Blutes im Froſte, fuͤr das Brennen des Feuers huͤten
moͤgen. Die inwendigen Theile, die den aͤuſſerlichen Be-
ſchaͤdigungen ſchon nicht ſo ausgeſezzt ſind, ſchmerzen auch,
z. E. wie die Eingeweide, ſchon weniger.
Zum Schmerz koͤnnte man auch, ob es gleich kleine
wirkliche Schmerzen voriger Art ſind, dennoch den Hun-
ger, welcher endlich zu einem wahren Schmerze werden
wuͤrde, den Durſt, die Aengſtlichkeit (s*), welche von
dem Blute herruͤhrt, ſo durch die Lunge zu laufen unver-
moͤgend iſt, die Muͤdigkeit von den bewegten Muſkeln,
das Jukken und Kizzeln, noch rechnen, indem das erſte,
wie es ſcheint, ein gelindes Zeichen des entbloͤſten Nerven,
dieſes aber ſchon ein heftiges Reizzen iſt, welches ſich end-
lich in einen Krampf verwandelt: wozu man noch die un-
angenehme Geruͤche, Geſchmakke und Toͤne ſezzen koͤnnte.
Denn wir wuͤnſchen, alle dieſe koͤrperliche Beſchaffenhei-
ten weit von uns.
Sie iſt derjenige Zuſtand des Koͤrpers, den man ſich
wuͤnſcht. Es laͤſt ſich nicht leicht ſagen, was uns in den
Nerven Wolluſt macht. Das ſehen wir, daß ſie eine
ſanftere
[1113]II. Abſchnitt. Der Wille.
ſanftere Bewegung als im Schmerz, und eine ſtaͤrkere,
als in dem Zuſtande der Unempfindlichkeit iſt. Allein
wir koͤnnen doch nicht beſtimmen, warum uns die Farben
eines Regenbogens ſchoͤn beduͤnken (s**), warum uns ge-
wiſſe auf einander folgende Toͤne angenehm ſind, warum
uns der Geruch der Roſe beſſer, als der Geruch der
Neſſeln, und der Geſchmakk des Weins beſſer, als der
eines andern ſtarken Getraͤnkes gefaͤllt. Doch man kann
auch nicht mit Grunde ſagen, daß das eine geringe Wol-
luſt iſt, wobei die Bewegung in dem empfindenden Ner-
ven ſanfter geſchicht, und eine groſſe, wobei ſie heftig iſt;
indem das ſanfte Wehen der Luft in der Hizze, oder ein
Trunk fuͤr einen durſtenden Menſchen, keine heftig ruͤh-
rende Sache iſt. Man findet ein groſſes Vergnuͤgen,
ſich beim Jukken zu krazzen, und dennoch ſchmerzet es nach
dem Krazzen noch mehr (t). Doch es laͤſt ſich auch hier
nicht ſagen, warum die Wolluſt der Verliebten, bei der
ganze Glieder zittern und in Krampf geſezzt werden, mit
dem Vergnuͤgen verbunden iſt; indem alles andre Zittern,
und jeder andre Krampf nichts angenehmes bei ſich
hat (u).
Eine kleine Wolluſt iſt unſerm Koͤrper zutraͤglich, eine
groſſe zerſtoͤrt hingegen denſelben. So ſterben faſt alle
maͤnnliche Jnſekten nach der Begattung, und es ſind
auch einige Menſchen in dieſem Zuſtande umgekommen,
ſo wie die mehreſten eine Zeitlang traͤge werden, und es
auf keinerlei Weiſe ertragen wuͤrden, wenn ſie ſolches laͤn-
ger fortſezzen wollten.
Hier hat die Wolluſt, mit den uͤbrigen Kraͤmpfen,
gleiche Folge.
Wir haben geſagt, daß ein gelinder Schmerz beſtaͤn-
dig, und die Wolluſt ſeltener, dennoch aber haͤufiger ſei,
als ein beſchwerlicher Schmerz. Jch kann nicht ſagen,
ob bei der Empfindung unſrer Exſiſtenz (x), einige Wolluſt
ſtatt finde. Doch iſt ſie beim Eſſen, und Trinken; und
ſo oft wir dem Verlangen unſrer Natur ein Genuͤgen lei-
ſten, z. E. wenn wir friſche Luft athmen, oder auf ſchwe-
re Arbeiten ruhen.
Doch finde ich nicht, daß bei allen Empfindungen
(y), entweder Wolluſt, oder Schmerz gegenwaͤrtig iſt.
Ein Dreiekk, welches ich betrachte, erregt keines von bei-
den in mir (z).
Jch finde im Schmerz und dem Vergnuͤgen, deutliche
Spuren von der goͤttlichen Weisheit. Der Schmerz er-
innert uns, Krankheiten zu meiden, und Verwundungen
zu verhuͤten. Das Vergnuͤgen iſt uns von der Liebe des
Schoͤpfers zu ſolchen Geſchaͤften geſchenkt worden, die
uns entweder ſelbſt zutraͤglich ſind, als im Eſſen und
Trinken geſchicht, oder die das menſchliche Geſchlecht er-
halten helfen, als in der Begattung. Der Schoͤpfer hat
es ſtaͤrker, und in den maͤnnlichen Geſchoͤpfen faſt unbe-
zwingbar gemacht, damit ſie die weiblichen Gegenſtaͤnde
uͤberreden, oder zwingen ſollen. Nur mit dem Unter-
ſchiede, da die meiſten Thiere in der Ehe nicht dauren,
und die Erziehung der Jungen in kurzer Zeit geendigt iſt,
ſo hat der Schoͤpfer den unvernuͤnftigen Thieren zu die-
ſer Begierde gewiſſe Zeiten im Jahre zugelaſſen, doch dem
Menſchen keine vorgeſchrieben, weil dieſer fuͤr die Ehe ge-
macht, unter allen Thieren am laͤngſten ein Kind, und
fremder Huͤlfe beduͤrftig iſt. Daher findet man, ſo viel
man aus allen Reiſebeſchreibungen ſehen kann, keine ein-
zige
[1115]II. Abſchnitt. Der Wille.
zige Nation, die ohne Ehe waͤre; deren beſtaͤndiges Band
zugleich eine beſtaͤndige Ergoͤzzung iſt. Nun ſcheinet kein
ſicherer Beweis der Weisheit, als die Reizze zu ſein, wel-
che uns dasjenige hoͤchſt angenehm machen, was uns zu
thun nothwendig iſt.
Es hat der Schmerz viele Dinge mit dem Vergnuͤgen
gemein, beides ſind ſtarke Empfindungen, in beiden flieſt
das Blut nach dem Theile ſtaͤrker hin, der das Vergnuͤ-
gen oder den Schmerz leidet: dieſes laͤſſet ſich durch die
Werkzeuge, die den Beiſchlaf verrichten, durch die ge-
riebne Augen, und das Reiben der Haut, erlaͤutern.
Aus dieſen Reizzen beſtehet gemeiniglich das Leben der
Thiere. Sie ſind von der Natur beſtimmt, eine Zeit-
lang, und gewiſſe Jahre uͤber, ihren Theil an Futter von
Kraͤutern, oder thieriſchen Materien zu verzehren, und
ihre Art zu erhalten. Zu dieſem Geſchaͤfte werden ſie
vom Schmerz, Hunger, Durſte, und der Wolluſt an-
getrieben.
Der Menſch hat dieſes nicht allein mit den Thieren
gemein, ſondern er iſt auch noch zu andern Dingen be-
ſtimmt, und folglich wird er auch durch andre Reizze be-
lebt. Der vornehmſte iſt, wodurch er ſich unterſcheidet,
die Hoffnung, und die Betrachtung einer entfernten und
kuͤnftigen Folge. Stellet man uns die Ameiſen, und
Bienen; die zimmernde Biber, die Bergmaͤuſe, die
Hamſter mit ihren vollen Bakken, entgegen, ſo ſiehet
man, daß ihr ganzer geſammelter Vorrath, nur zur Nah-
rung und Fortpflanzung ihrer Art dienen ſoll, wofern die-
ſes Hoffen iſt, und wofern dieſe Thiere bei ihrer Ar-
beit auf das Kuͤnftige ſehen.
Dahingegen ſchlieſt der Menſch nach Gruͤnden, von
der gegenwaͤrtigen Urſache auf die entfernte Folgen, auf
dieſe
[1116]Der Wille. XVII. Buch.
dieſe dehnt er ſeine Hoffnungen aus, und dieſe zieht er
dem Gegenwaͤrtigen vor. Wir arbeiten alle, wie Horaz
laͤngſt erinnert hat, nicht damit es uns jezzo, ſondern
kuͤnftig wohlgehe, damit auch unſre Kinder, Nachkom-
men, Nebenbuͤrger, und das Vaterland Nuzzen daraus
ziehen moͤge, zu welchem der Schoͤpfer einigen Voͤlkern
eine bewundernswuͤrdige Zuneigung eingefloͤſt hat. Eben
dieſe Hoffnung iſt der Grund der ganzen Religion, und
Religionen, und ſie befiehlt uns die gegenwaͤrtige Luͤſte zu
bezaͤhmen, damit ſie uns nicht in ein kuͤnftiges Elend
ſtuͤrzen moͤgen. Man ſiehet aber auch leicht ein, daß man
dieſe Hoffnung durch Aufmerkſamkeit und oͤftere Betrach-
tungen derjenigen Begriffe unterhalten muͤſſe, worauf ſie
ſich gruͤndet. Wenn dieſes unterlaſſen wird, ſo verfallen
wir wieder unter die Herrſchaft der gegenwaͤrtigen Wol-
luſt, wodurch die Hoffnung des Kuͤnftigen traͤge gemacht
wird. Dies iſt das: ich ſehe das Beſſere vor mir, und
gebe ihm meinen Beifall; und dennoch folge ich dem
Schlechtern.
Der zweete Jnſtinkt, wovon wir bei den Thieren we-
nige, im Hunde aber einige Spuren antreffen, iſt die
Neugierde, oder die Begierde etwas Neues zu lernen,
und dieſe ſezzt auch den Menſchen auſſer ſich, daß er ſein
Vaterland vergieſt und auf unwegſamen Meeren und durch
tauſend Gefahren ſeine Neugierde zu ſtillen ſucht. Die-
ſes iſt ebenfalls ein ſtarker Beweis von der goͤttlichen Weis-
heit. Da die Thiere auf wenig Pflanzen und etliche an-
dre Thiere, um dieſe zu zerreiſſen, eingeſchraͤnkt ſind, und
da der Schauplazz der Natur nicht ohne Zuſchauer ſein
ſollte, ſo iſt der Menſch allein uͤbrig, die Wunder der
koͤrperlichen Welt zu beſchauen. Jhn hat alſo Gott zu
dieſer Verrichtung mit dieſem Jnſtinkte verſehen, den die
Europaͤer vor andren Voͤlkern in ſtaͤrkerem Grade beſiz-
zen. Man koͤnnte zwar den Urſprung deſſelben in dem
Verdruſſe uͤber den gegenwaͤrtigen Zuſtand, und in der
Ermuͤdung der Faſer von einerlei fortgeſezzten Biegung
ſuchen
[1117]II. Abſchnitt. Der Wille.
ſuchen (a); es wuͤrde aber daraus eine andre Unruhe, als
die Neugierde erfolgen. Denn man ſiehet haͤufig unru-
hige Menſchen, die aber deswegen von keiner wirklichen
Neugierde angetrieben werden.
Die dritte iſt der Trieb zur Ehre, und dieſer iſt dem
Menſchen wiederum eigen, und findet in der koͤrperlichen
Wolluſt keine Nahrung. Sich alſo unter ſeines gleichen
hervorzuthun, unter den Europaͤern, und unter den
Nachkommen, iſt eine Begierde, wodurch Gott ſelbſt die
Menſchen ermuntert, die ſchwere Aemter des buͤrgerlichen
Lebens zu verwalten. Und da die Talente uͤberhaupt ver-
ſchieden ſind, wodurch ſich Menſchen hervorthun, ſo be-
geiſtert eben dieſer Jnſtinkt Leute, ſich auf gelehrte Wiſ-
ſenſchaften zu legen, das Vaterland im Kriege zu verthei-
digen, alle Arten von Kuͤnſten zu treiben, und uͤberhaupt
alle Tugenden eines buͤrgerlichen Lebens auszuuͤben.
Alle dieſe Reizze vereinigen ſich endlich in dem einzigen,
naͤmlich in dem Verlangen nach unſrer Wohlfahrt, oder
in der Eigenliebe, welches der Endzwekk aller unſrer Em-
pfindungen, und der Quell aller unſrer Handlungen
iſt (b).
Gut ſind demnach, die koͤrperliche Wolluſt (c) im
Koͤrper. Denn man empfindet das Gute der Geſundheit
nicht ehe, als bis man Krankheiten ausgeſtanden, und
was die Seele betrift, die Hoffnung eines kuͤnftigen Gu-
ten, die Ehre, und die Erlangung neuer Jdeen; ſo wie
das Gegentheil davon Uebel heiſt, naͤmlich Verzweiflung
an den begehrten Guͤtern, Schaam uͤber boͤſe Thaten,
und das groͤſte unter allen Uebeln, welches nur die Deut-
ſchen mit Recht lange Weile nennen, und dieſes iſt eine
Ab-
[1118]Der Wille. XVII. Buch.
Abweſenheit gefaͤlliger Jdeen in der Seele. Jene Guͤter
zu ſuchen, dieſes Uebel zu meiden, beſchaͤftigt ſich der
Wille. Das Verlangen nach Guͤtern iſt eine Verab-
ſcheuung der Uebel. Es gruͤnden ſich aber darum dieſe
Guͤter oder Uebel nicht einzig und allein, wie man vor Kur-
zem hie und da behaupten wollte, auf die Empfindung;
ſondern ſie entſtehen zugleich auch aus abſtrakten Begrif-
fen, dergleichen die Hoffnung eines ewigen Lebens, und
die Liebe oder Furcht Gottes iſt. Es hat die Ehre naͤm-
lich nichts mit dieſen Sinnen gemein, wie ſich Helvetius
zu uͤberreden bemuͤht; indem die alten Roͤmer weder von
der Hoffnung der Verliebten, noch der Speiſe gereizt
wurden, noch einige koͤrperliche Wolluſt ſuchten, wenn
ſie ſich den Martern der Kartaginenſer unterwarfen, oder
in Hoͤlen ſtuͤrzten, aus welchen ein Schwefelgeſtank daͤmpf-
te, wie Curtius. Doch es wurden auch nicht die chriſt-
liche Anachoreten (Einſiedler) von der Liebe zur Wolluſt
getrieben, um bei einer ſehr elenden Nahrung, von allem
weiblichen Umgange frei, in Schmerzen und den bloſſen
Sonnenſtrahlen ihr Leben zu zubringen. Die Nothwen-
digkeit der Urſache hat ohnlaͤngſt die Philoſophen veran-
laſt, ſubtil zu werden, und es iſt ihnen daran viel gele-
gen, daß in uns nichts, als koͤrperliche Eigenſchaften ſtatt
finden.
Die Vermengung der Empfindungen mit den Be-
griffen, macht dieſen Streit zwiſchen zweierlei Willen (c*),
den Streit des gegenwaͤrtigen Reizzes, und des zuvor ge-
ſehenen kuͤnftigen Uebels, und bringt den Begrif eines
moraliſchen Uebels hervor.: daher entſtehen die gegenſei-
tigen Triebe, oder Willen der Waſſerſcheuen zu beiſſen,
theils aus der gegenwaͤrtigen Wuth, theils ſich davon zu
enthalten, aus den Begriffen des Wahren und Billigen,
die in ihrem Gemuͤthe vorlaͤngſt Wurzel gefaſt haben; ſie
warnen ihre Freunde, ſich ihnen nicht zu naͤhern, weil
ſie
[1119]II. Abſchnitt. Der Wille.
ſie ſie wider ihren Willen beiſſen muͤſten (d). Jn der
That vermag ein eigenſinniger Wille viel auszurichten,
wenn derſelbe von Begriffen angeſpornt wird. Den an-
gebohrnen Fehler, da jemand, wenn er Blut ſahe, in
Ohnmacht fiel, uͤberwand der Arzt, durch das Gegen-
theil des Willens (e). Ein andrer bezwang die Selbſt-
beflekkungen durch den Rath zu wachen, damit ſich die
Einbildungskraft erhizzen konnte (f).
Es erregen alſo die Jdeen des Guten, nach deſſen
Erlangung und Dauer, und ſo auch die Jdeen des Uebels,
nach deſſen Abwendung und Fortraͤumung wir begierig
ſind, in der Seele diejenige Bewegungen, welche man
Affekten nennt; und alle dieſe Affekten ſind gleichſam hef-
tige in Bewegung gebrachte Wellen der Seele, wodurch
dieſe angereizt wird, ihre Abſichten zu erreichen.
Der erſte Affekt, der vom Beſizze eines Gutes ent-
ſteht, iſt die Froͤhlichkeit, welche dadurch in eine wirkli-
che Freude ausbricht, wenn das Gut gros iſt, und uns
wider unſer Vermuthen wiederfaͤhrt.
Hoffnung iſt die Erwartung eines kuͤnftigen Gutes,
und gemeiniglich von ſo ſchwacher Art, daß man ſie un-
ter die Affekten nicht zaͤhlen kann, weil Begriffe in Ruͤh-
tung der Nerven, keine ſolche Gewalt haben, als die
Empfindungen.
Ueberhaupt beſteht die Liebe in einem Verlangen,
ein Gut zu erlangen ob wir gleich durch dieſes Wort in
eigentlichem Verſtande, das beiderſeitige Verlangen der
beiden
[1120]Der Wille. XVII. Buch.
beiden Geſchlechter, ſich zu vermiſchen, ausdruͤkken. Die-
ſes Verlangen iſt einer der lebhafteſten Affekten, und er
macht uns bei unſerm Zuſtande ſo ungedaldig, daß wir
lieber den Tod wuͤnſchen, um nur dieſen Zuſtand der oh-
ne Genuß iſt, zu aͤndern, und eben ſo ſtark iſt auch das
Verlangen nach Ehre.
Die Gegenwart eines mittelmaͤßigen und langen Ue-
bels, bringt die Traurigkeit, die Jdee eines heftigen
und ploͤzzlich einbrechenden Uebels, das Schrekken her-
vor, welches ebenfalls ein ſehr wirkſamer Affekt iſt. Das
Erwarten eines Uebels, wobei ein Unvermoͤgen iſt, daſſel-
be abzuwenden, jagt uns Furcht ein; die Verabſcheuung
eines Uebels, mit einem Beſtreben, daſſelbe abzuwenden,
erregt in uns Zorn: Schaam iſt das Bewuſtſein einer
begangnen Schuld: und Mitleiden eine traurige Empfin-
dung, welche in dem Elende eines andern ihren Grund hat.
Endlich iſt die Verzweiflung die Vorſtellung eines ſehr
groſſen Uebels, wider welches man kein Mittel weis,
und kein Affekt iſt ſo wuͤthend als dieſer, und ſo geneigt
den Menſchen zu zernichten; er verdient am meiſten, mit
dem Feuer der heiligen Schrift verglichen zu werden.
Dieſe Betrachtung gehet vornaͤmlich die Aerzte an.
Es erfolgen naͤmlich auf die Leidenſchaften der Seele ge-
wiſſe merkwuͤrdige und gewaltſame Bewegungen im Koͤr-
per. Wie uͤbergehen hier diejenigen, deren ſich der Wille
zur Erreichung ſeines Endzwekkes bedient, wir erklaͤren
hier nicht den Streit, oder die Liebkoſungen, wodurch
wir uns einer beſtimmten Liebe zu bemaͤchtigen ſuchen. Es
ſind vielmehr andre Bewegungen, die man hier in Er-
waͤhnung ziehen mus, und die aus der Leidenſchaft der
Seele im Herzen, in der Bewegung des Blutes, den
Nerven, Muſkeln, und im ganzen Koͤrper mit groſſer
Lebhaf-
[1121]II. Abſchnitt. Der Wille.
Lebhaftigkeit vorgehen, ohne daß wir es wollen, oder,
ohne daß wir uns unſrer dabei bewuſt ſind.
Es iſt demnach die Folge der Freude, deſto heilſamer,
je mehr dieſelbe gemaͤßigt, und je reiner dieſelbe zugleich
iſt. Sie iſt es naͤmlich, welche alle Bewegungen des Le-
bens ermuntert, die Ausduͤnſtung vermehrt (g), und in
Krankheiten die Geneſung befoͤrdert (h), indem ſie dem
Herzen gleichſam neue Kraͤfte ertheilt. Von der Freude
haͤngt vornaͤmlich ein langes Leben ab, und dahin rechne
ich vorzuͤglich das hohe Alter der Mitglieder von der Pari-
ſerakademie (i): ſonderlich des alten Greiſes Fontenelle,
welcher ſich aller heftigen Begierden entſchlug, und den
weder der Zorn uͤberwaͤltigen, noch die Begierde aus der
Gemuͤthsruhe ſezzen konnte.
Der Affekt der Freude iſt ſchon heftiger. Jndeſſen
verurſacht ſie doch ein maͤßiges Herzklopfen (k), eine Roͤ-
the im Geſichte, eine Hizze (l), eine ſtaͤrkere Ausduͤn-
ſtung (m), Thraͤnen mit einer wunderlichen Empfindung
von einem hoͤchſt zarten beigemiſchten und erwuͤnſchten
Schmerze, ein hizziges Fieber (n), wofern ſie gros und
ploͤzlich iſt, Ohnmachten, und endlich ploͤzliche Todes-
faͤlle (o); dergleichen eraͤugnet ſich, bei wieder erlangter
Freiheit (p), bei einer wieder erlangten Geliebten (q),
wenn man Soͤhne oder Toͤchter, die man vor todt gehal-
ten,
H. Phiſiol. 5. B. B b b b
[1122]Der Wille. XVII. Buch.
ten, wieder bekoͤmmt (r), oder unverhoft Erbſchaften er-
langt (s). Wir begreiffen nicht recht, woher dieſes kom-
me. Jch weis, daß man dieſe Bewegungen von der
vermehrten Ausduͤnſtung (t), von dem, gegen die aͤuſ-
ſerſten Enden des Koͤrpers getriebnen, und nicht zum
Herzen wieder ruͤkkehrenden Blute (u) zu erklaͤren ſucht.
Allein es fehlt uns an Erfahrungen. Man ſollte viel-
mehr Schlagfluͤſſe vermuthen, weil das Blut ſtark nach
dem Gehirn getrieben wird. Und dazu giebt die Roͤthe,
die Hizze, und die Ohnmacht Anlaß.
Die Liebe ſpornet ebenfalls das Blut an, und beſchleu-
nigt den Pulß, mit einem ungleichen Schlage, welchen
man der beigemiſchten Furcht zuſchreiben kann. We-
nigſtens lieſet man, daß Struthius, und vormals die
Liebe des Antiochus aus dem Pulſe entdekkt worden (x).
Eine heftige Liebe, die dem Beſizze nahe iſt, verurſacht
eine groſſe Hizze, Herzklopfen, Roͤthe, eine Staͤrke, mit
Zittern, und gleichſam eine Empfindung von einem durch
die Gefaͤſſe der Gliedmaſſen laufenden Feuer, um von
den Geburtsgliedern zu ſchweigen. Jch weis, daß da-
von die Monatliche Reinigung vor der rechten Zeit be-
foͤrdert worden (y).
Das Bemuͤhen hat mit der Liebe einige Stuͤkke ge-
mein, es verſtaͤrkt den Umlauf des Blutes, erregt den
Schweis, heilte ſo gar ein Fieber (z), und minderte (a)
oder heilte eine Laͤhmung (b). Das Erwarten verzoͤgerte
ſo
[1123]II. Abſchnitt. Der Wille.
ſo gar den Tod ſelbſt (c). Zu dem Bemuͤhen koͤnnte
man des Philipp Neri Pulsaderſakk an der Aorte, wo-
bei einige Ribben zerbrochen waren, rechnen, da dieſer
Mann ſonderlich von Betrachtungen geiſtlicher Dinge,
ein Herzklopfen bekam (d). Es macht an einem ſchwachen
Gehirne uͤbermaͤßige Bewegungen, und zieht ſo gar das
ſchwere Gebrechen nach ſich (d*).
Die Schaam ſcheint auch an einigen Thieren vor-
zukommen. Sie macht am Menſchen in dem Geſichte
eine beſondre Roͤthe, und nicht nur an den Wangen,
ſondern auch wie ich an einem Maͤdchen geſehen, an dem
ganzen Angeſichte, der Bruſt, und vielleicht auch am
ganzen Leibe, denn man lieſet, daß die monatliche Reini-
gung von der Schaam ſtehen geblieben (e). Man ſollte
glauben, daß dieſes von dem verhmderten Ruͤkklaufe des
Blutaderblutes herruͤhre (f), weil man lieſet, daß die
Blutadern davon zerriſſen ſind (g).
Man koͤnnte das Mitleiden fuͤr eine Tr[au]rigkeit
halten, allein es iſt davon unterſchieden. Es bewegt die
Seele viel ſtaͤrker, und gleichſam tiefer, bewegt die Ein-
geweide, und erwekkt Thraͤnen, ſo gar auch bei denen,
die durch ihre eigene Ungluͤkksfaͤlle niemals dazu gebracht
werden koͤnnen, daß ſie weinen ſollten.
Es geſellet ſich zu der Traurigkeit die Liebe. Dieſer
Affekt iſt beinahe dem Menſchen eigen. Jndeſſen ſehe ich
doch einige Thiere, wenn eins von ihres gleichen leidet,
zuſammen laufen, und mit klaͤglicher Stimme gleichſam
ihr Beileid bezeugen, ob ſie gleich keine Huͤlfe leiſten.
Der Kummer oder die Traurigkeit unterbricht
das Schlagen des Herzens, daß wir uns genoͤthigt ſehen,
durch Seufzer den Durchgang durch die Lunge zu erleich-
tern; ſie ſchlaͤgt den Appetit nieder (h), und ſchwaͤcht
Kraͤfte, und Ausduͤnſtung (i), wie auch die monatliche
Reinigung (k); Sie eroͤffnet die Schweisloͤcher, um
das Gift der Peſt in ſich zu nehmen (k*), ſie macht blaſ-
ſe Farbe, und ſchleinige Waſſergeſchwuͤlſte; ſie verſchlim-
mert die Scirrhos und den Krebs (l), und iſt die Ur-
ſache des Scorbuts, und der boͤsartigen Krankheiten in
belagerten Staͤdten (m).
Eine groͤſſere Traurigkeit verurſacht Herzklopfen (n),
einen ungleichen Pulß, der an beiden Aermen verſchieden
iſt (n*), den heiſſen Brand an Wunden (o), und ſchwar-
zen Staar (p); endlich toͤdtet ſie entweder im Kurzen,
oder bisweilen ploͤzzlich (q). Sie haͤngt der Seele ſo
hartnaͤkkig an, daß ſie ſich nicht einmal vom Opio bezwin-
gen laͤſt (r).
Das Heimweh iſt eine Art von Kummer (s), welches
bei den Unterthanen meiner Republik, und auch den
Buͤrgern gemein iſt, und aus einem Verlangen nach den
Seinigen entſteht. Dieſes Uebel verzehrt allmaͤhlich die
Kranken, und toͤdtet ſie (t), bisweilen verwandelt es ſich
in eine Erſtarrung (t*) und Tollheit, ſonſten aber in
lang-
[1125]II. Abſchnitt. Der Wille.
langſame Fieber. Die Hoffnung heilt dieſes Uebel (x).
Auch Thiere, die eines engern Umganges und des geſelli-
gen Lebens gewohnt ſind, ſehnen ſich darnach, und ſterben,
wie die Meerotter von Kamkhatka, wenn man ihr die
Jungen raubt. So folgt auf eine verachtete Liebe, eine
unheilbare langſame Auszehrung, welche die Englaͤnder
das Verderben nennen (y).
Die Furcht hat viel von dem Kummer an ſich (z):
ſie ſchwaͤcht die Kraͤfte des Herzens, machet den Pulß
ungewis (a), erwekkt eine bleiche Farbe (b) und Schauern,
wie von einer Kaͤlte (c), Ohnmachten (d), bei einigen
ein geſchwindes Grau werden (e): und ſie verzoͤgert den
Umlauf des Blutes dergeſtalt, daß es aus der Blutader
nicht heraus flieſſen kann; die Furcht hemmt das Bluten
(f), die monatliche Reinigung (g), Milch (h) und das
Ausduͤnſten (i), ſie ſchlaͤgt die zum Beiſchlafe noͤthige
Kraͤfte darnieder (k): ſie oͤffnet die Schweisloͤcher der
Haut, oder doch der Lunge, um das Gift der Peſt ein-
zuſchlukken, oder das Gift andrer Krankheiten (l); ſie
B b b b 3erregt
[1126]Der Wille. XVII. Buch.
erregt Schweis (m), oͤffnet den Leib, und bringt die gel-
be Sucht (n) oder auch ploͤzzliche Scirrhos hervor (o),
wie ich glaube, von verhaltner und geronnener Milch;
und macht den heiſſen Brand (p); die Wunden werden
toͤdtlich (q), und die Krankheiten hoͤchſt gefaͤhrlich (r). Sie
ſchwaͤchet auch die Kraͤfte des Magens und der Daͤrme,
macht Blaͤhungen, und Aufftoſſen (s).
Jch leſe, daß ſich der Saamen in der Furcht ergoſ-
ſen (t), ich halte dieſes aber fuͤr eine Wirkung des Schrek-
kens. Endlich zerſtoͤrt ſie die Bewegung der Muſkeln,
ſo daß man vor Furcht nicht fliehen, noch ſich wehren
kann. Davon entſtand ein Zittern (u), welches ſo gar
in zwanzig Jahren nicht weichen wollte (u*), eine Laͤh-
mung (x), Blindheit (y), Sprachloſigkeit (z), eine an-
haltende Schwermuth (a), ein langwieriger Unſinn (c), und
das ſchwere Gebrechen (d).
Endlich zieht eine groſſe Furcht bisweilen den Tod
nach ſich. Es ſtarb jemand, an eben dem Tage, an
welchem man ihn den Tod geweiſſagt hatte, daß hier al-
ſo die Furcht die Stelle einer Krankheit vertrat (e). Ein
andrer
[1127]II. Abſchnitt. Der Wille.
andrer ſtarb, dem man das Todesurtheil ankuͤndigte (f),
dem ein Fus in einem Grabe ſtekken geblieben (g), der
ſeine durchſchnittene Sehnen beſchaute (h), der an ſich
die Merkmaale der Blattern gewahr wurde (i), und an-
dre von andern Urſachen (i*). Ja es ſtarb ein Hund,
als man ein Stuͤkk loͤſete (k).
Jn dergleichen Faͤllen findet man im Herzen ange-
haͤuftes Blut (l), Herzgewaͤchſe (m), und im Gehirn
angehaͤuftes und geronnenes Blut (n).
Noch hemmt die Furcht andre traurige Empfindungen,
den Schmerz, Tollheit (o). Die Zahnaͤrzte finden bis-
weilen, wenn ſie ihr Jnſtrument herauslangen, ſchon den
Kranken halb geheilt und ohne Schmerzen (o*).
Jch trenne das Schrekken von der Furcht (p);
denn in ſelbigem zeigen ſich die Kraͤfte der Natur ſtaͤrker,
und nicht weniger, als im Zorn. Davon entſtehen im
ganzen Koͤrper, und ſelbſt am Herzen (q) die lebhafteſte
B b b b 4Be-
[1128]Der Wille. XVII. Buch.
Bewegungen, ſo gar daß Stumme den Gebrauch der
Rede wieder erlangen (r), Sterbende wieder geſund wer-
den (s); gelaͤhmte Glieder geſund werden (t), Schlag-
adern ſich mit ſtarken Blute oͤffnen (u), gehemte monat-
liche Reinigung wieder hergeſtellt wird (x), das Podagra
ploͤzlich verſchwindet (y), das Reiſſen in den Gliedern (z),
das Wechſelfieber (a), Wahnwizz (b) und der Durchlauf
(b*) vom Schrekken vergehen. Dagegen erzeugt ſich
vom Schrekken das ſchwere Gebrechen (b**).
Der Zorn hat beinahe eben ſolche Zufaͤlle, als das
Schrekken: der Pulß iſt geſchwinder (c), es zeigt ſich
Roͤthe, Hizze, Zittern, Stammeln, ſtarke Leibeskraft
(d), das Blut tritt in fremde Wege uͤber, es erfolgen
Blutungen (e), Schlagfluͤſſe (f), das Herz dehnt ſich ge-
waltig
[1129]II. Abſchnitt. Der Wille.
waltig aus (g), die Narben ſpringen auf (h), es erzeu-
gen ſich Entzuͤndungen (i), die Ausduͤnſtung nimmt zu
(k), die Galle bewegt ſich ploͤzzlich (l), und davon ruͤhrt
das Erbrechen (m) und der Bauchfluß her (n).
Daher lieſet man, daß vom Zorn, wie vom Schrek-
ken, die Stummheit (o), das Gliederreiſſen (p), die
Laͤhmung (q), das Podagra (r) vergangen, der Tod
verzoͤgert (s) worden ganzer ſieben Tage lang; und daß
von eben dieſem Affekten das ſchwere Gebrechen (t), eine
toͤdtliche Darmgicht (u), ein heftiges Fieber (x), ein ſchnel-
ler Todt (y) erfolgt iſt.
Noch gehoͤren zu einem geſchwinden Blutumlaufe,
die feineren Ergieſungen des Blutes, Blutflekken (z), ein
ſchnell auffahrender brauner Flekken am Fuſſe, und davon
(a) der heiſſe Brand. Flekken und toͤdtliche Streifen (b),
oder ſchwarze Stellen vom Fuſſe bis zum Knie (c). Mit
dieſem Erfolge vergleiche ich die Roͤthe am Halſe der Ka-
lekutiſchen Haͤhne, welche der Zorn veranlaſſet, und die
Phaͤnomena an der Haut des Kamoͤleons: indem dieſel-
B b b b 5ben,
(f)
[1130]Der Wille. XVII. Buch.
ben, das Wunder bei Seite geſezzt, darauf ankommen,
daß ſich die Farbe der Haut aus der ſchwarzen Mausfar-
be, die ein ordinairer hat (c*), bleich und gelbe verwan-
delt (d), und der ganze Koͤrper welk wird, und zuſam-
men faͤllt. Dieſes eraͤugnet ſich, wenn er die Luft in ſich
verhaͤlt, und die Lunge aufblaͤſet (e), die durch Anhaͤng-
ſel unterſchieden iſt, oder weil er auch vielleicht Luft unter
die Haut laͤſt, dieſe Bekleidung ausſpannt, ihre gegit-
terte Falten (f) verdrengt, und die nun glatte Haut das
Licht anders reflektirt; bald aber wieder die Lunge fallen
laͤſt, und die Luft aus der ſchlafen Lunge tritt, wobei das
Thier den bleichen Theil der welken faltigen Haut praͤſen-
tirt (g).
Haß und Abſcheu, erregen ſonderlich ein Erbrechen
(h), eine Diarrhoe (i), bisweilen auch ſtarke Ohnmach-
ten, daß der Speichel aus dem Munde flieſt (k), und an-
dre groſſe Uebel erfolgen (l).
Die erzaͤhlten Dinge ſind jedermann bekannte Sachen;
allein man koͤnnte uns fragen, wie und durch was fuͤr
Organa geſchehen, bei Gelegenheit eines ſolchen in der
Seele aufſteigenden Affekts, dergleichen Bewegungen im
Gehirn, wie wir geſagt haben. Hier antwortet der
Stahlianer ohne Verzug (m), es geſchieht auf Befehl
der Seele, denn dieſe will ſich von dieſem Uebel losmachen,
und
[1131]II. Abſchnitt. Der Wille.
und dem Guten zu eilen. Doch ſtimmt dieſes keines weges
mit den Erſcheinungen uͤberein. Wollte man in der Furcht,
um einem bevorſtehenden Uebel zu entweichen, die Selbſter-
haltung zum Endzwekke dieſer Bewegungen machen, ſo
iſt ja nichts ungereimter, als daß ſie die Kniee zittern
laͤſt, und eine Schwachheit hervorbringt. Was iſt beim
Zorn an der in Bewegung gebrachten Galle, und dem
Bauchfluſſe vor ein Vortheil, um ſich am Feinde zu raͤ-
chen, oder was traͤgt dazu die Epilepſie bei?
Ueberhaupt bringen mich die Phaͤnomena der Furcht,
die auch an Thieren vorkommen, welche ſich gemeiniglich
ihrem Schikkſale nicht entgegen ſezzen, wenn ſie es mit
einem ſtaͤrkern Feinde zu thun haben, auf den Gedanken,
der Schoͤpfer habe dieſe Abnahme der Kraͤfte, die bei der
Furcht zugegen iſt, nicht zur Selbſterhaltung des fuͤrch-
tenden Jndividui, ſondern zu deſſen leichterer Zerſtoͤrung,
beſtimmt. Dem Gleichgewichte der Kreatur zum Beſten,
muͤſſen fruchtbare Thiere, von weniger fruchtbaren auf-
gerieben werden; folglich muͤſſen ſich diejenigen nicht zu
leicht wehren koͤnnen, die ein Opfer des Raubes ſein ſol-
len. Folglich huͤlft die Furcht derjenigen Arten, die dem
Raͤuber beſtimmt ſind, den Sieg der fleiſchfraͤßigen Arten
erleichtern. Dahingegen gehoͤrt der Zorn, die Liebe, und
auch das Schrekken zur Selbſterhaltung der Kreatur.
Doch dieſes iſt noch kein Mechaniſmus. Dieſen ſezzte
ehedem Willis(n) und Vieuſſens(o) in die Nerven-
ſtrikke, welche ſich um die Schlagadern (p) oder Blut-
adern herumlegen, und welche durch ein Zuſammenſchnuͤ-
ren, das Blut in den Blutadern in einem Theile zuruͤkk-
halten, z. E. in der Schaamhaftigkeit (q), und dem Steif-
werden in der Begattung; oder durch ein Verſchinren
der
[1132]Der Wille. XVII. Buch.
der Schlagader, das Blut von einem Theile abhalten (r),
wie im verhinderten Harn des Hundes (s); oder endlich
dieſes Blut, z. E. in der blaſſen Farbe bei einigen Affek-
ten, zum Herzen zuruͤkktreiben (t): oder dagegen durch
Erweiterung dem Harn Plazz machen, und dem Safte
des Gedaͤrms Freiheit laſſen, oder wenn ſie, ohne alles
wechſelweiſe Erſchlaffen, ſtark verſchnuͤrt worden, das
Vlut durch die Schlagader in einigen Theilen haͤufig ſam-
meln (u).
Doch es haben beruͤhmte Maͤnner gegen dieſe Strik-
ke allerlei eingewendet (x), und ich habe dieſe Hipotheſe
laͤngſt verrufen.
Die Sache ſelbſt iſt nicht ſo leicht. Freilich wird
dieſes Vermoͤgen durch die Nerven ausgeuͤbt, und dieſe
bedienen die Seele ganz allein; man beweiſet durch dieſes
Exempel, daß die Nerven auf die Organa des Lebens ei-
nige Gewalt haben, z. E. auf das Herz, das Gedaͤrme,
den Magen, und die kleinſte Schliesfaſern der Haut, und
der Darmzotten; wie auch auf einzelne Theile (y), indeſ-
ſen daß die uͤbrigen wenig geaͤndert werden, als in der
verliebten Steifheit, und im Erbrechen beim Anblikke haͤs-
licher Dinge; daß alſo in den Affekten die Nerven einige
Gewalt aͤuſſern, dergleichen der Wille ganz und gar nicht
hat. Jndeſſen beweiſen ſich doch die Affekten fonderlich
auf das Herz wirkſam, ſie veraͤndern das Klopfen deſſel-
ben, und man kann ſie faſt auf zweierlei Arten bringen,
indem einige den Kreislauf des Blutes ſchwaͤchen, andre
aber vermehren. Zu jenen gehoͤrt der Gram und die
Furcht, zu dieſen der Zorn, die Freude, Liebe, und das
Schrekken (z).
Daß ſich aber an den kleinſten Gefaͤſſen etwas zeige,
welches wenigſtens in der Thaͤtigkeit, mit den Nerven-
ſtrikken eine Aehnlichkeit hat, erhellet aus der Hemmung
des Blutaderblutes, die eben ſolche Folge als die Unter-
bindung hat, ferner aus den Huͤgelchen der Haut, die
ſowol vom Schrekken, als von der Kaͤlte herruͤhren koͤnnen.
Wir nehmen wahr, daß die Nervenkraft, welche Muſ-
keln beherrſcht, im Magen und dem Gedaͤrme, ſtaͤrker
oder ſchwaͤcher gemacht werden kann; darum ruͤhren aber
die Affekten (a) nicht vom Magen her.
Gott, der Stifter aller Geſellſchaften, hat gewollt,
daß ſich die Affekten in der Stimme ſelbſt, durch die Ge-
berden, und vornaͤmlich am Angeſichte kenntlich machen
ſollen, und daß alſo ein Menſch dem andern, ſeine Liebe,
und Zorn, und die uͤbrige Leidenſchaften in einer untruͤg-
lichen Sprache, die alle verſtehen, entdekken ſoll. Doch
es verſtehen auch unvernuͤnftige Thiere dergleichen Spra-
che, um damit ihre Liebe, geſellige Freundſchaft, muͤtter-
liche Zaͤrtlichkeit, Zorn, Schmerz, Furcht, welches die
vornehmſten Affekten ſind auszudruͤkken. Dieſe Sprache
(b) iſt allen vierfuͤßigen Thieren und Voͤgeln gemein, ſie
verſtehen ſich einander, und den Menſchen, ſo wie ſie
von dieſem wieder verſtanden werden. Der Hund lieſet
naͤmlich dem Menſchen aus ſeinem Geſichte, wenn derſel-
be zornig iſt, er ſchlieſt es aus ſeinen Worten; und der
Menſch erkennt den Grimm eines Stieres aus deſſen
Bruͤllen, ſo wie ſich alle vierfuͤßige Thiere vor dem Bruͤl-
len des Loͤwen fuͤrchten.
Jch werde mich, was die Toͤne anbelangt, kurz faſ-
ſen, da es doch gewis iſt, daß jeder Affekt ſeine gewiſſe
Toͤne
[1134]Der Wille. XVII. Buch.
Toͤne hat. Hingegen aͤuſſern ſich ſonderlich im Angeſich-
te die Kennzeichen der Affekten, die ſich ſo leicht leſen
laſſen, daß die Mahler alle Gemuͤthsbewegungen blos
durch das Geſicht, und wenn man dieſes von der Seite
anſieht, ſehr wohl auszudruͤkken verſtehen. Dieſe Spe-
culation iſt artig, und wir wollen ihre erſte Grundſtriche
zeichnen.
Die Liebe, und Bewunderung giebt ſich durch eine in
die Hoͤhe gezogne ausgedehnte Stirn, und durch Augen,
welche wie die Augenlieder, in die Hoͤhe ſteigen, zu er-
kennen. Hier wirket der Muſkel des Hinterkopfes, und
der gerade obere Augenmuſkel, wie auch der Hebemuſkel
des Augenliedes (c). Die Neugierde und Bewunderung
eines Redners, oͤffnet zugleich den Mund, damit die klin-
gende Luft zur Trompete gelangen moͤge (c*).
Die Freude, und das Lachen (d), verſchlieſt faſt die
Augen, es wird der Mundwinkel in die Hoͤhe gezogen,
man runzelt die Haut der Naſe, und der Mund wird
durch den Trompeter und Lachmuſkel verzerrt. An vie-
len Perſonen entſteht alsdann eine Grube an der Wange,
und vermehrt die Anmuth, indem dieſes, wie ich davor
halte, zwiſchen den ſchwellenden Jochmuſkeln vorgeht.
Jm Weinen (e), und trauriger Leidenſchaft, ziehet ſich
die Unterleffze herab, daß das Geſicht laͤnger zu werden
ſcheint, es verzerren ſich die Leffzenwinkel vermittelſt der
dreiekkigen Muſkel; es iſt das Auge geſchloſſen, und es
verbirgt ſich der Augenſtern unter das obere Augenlied.
Jm Zorn und Haſſe, erregt ſich die Unterleffze uͤber
die Oberlippe; die Stirn ſenkt ſich herab, und bezieht ſich
mit Runzeln.
Die Verachtung macht ein ungleiches Geſicht, indem
ſich das eine Auge faſt ſchlieſt, und das andre ſpoͤttiſch
herabſieht (e*)
Jm Schrekken oͤffnen die Muſkeln den Mund und
die Augen mit Gewalt, und die Haͤnde werden aufge-
hoben (f).
Es iſt nicht gar zu lange, daß man mit Recht einge-
ſehen, wie ſich die meiſten herrſchende Affekten aus dem
Anblikke eines Geſichtes leſen laſſen, daß man einen freu-
digen und ſcherzhaften, einen traurigen und ernſthaften,
einen ſtolzen, ſanftmuͤthigen und gutartigen, einen neidi-
ſchen, unſchuldigen und ſchamhaften Menſchen, und kurz,
faſt alle auch gemiſchte Affekten, oder angewoͤhnte Laſter,
oder Tugenden, durch deutliche Merkmaale am Geſichte
und ganzen Koͤrper, ſehr leicht unterſcheiden kann. Es
koͤmmt dieſes daher, weil Muſkeln (g), die einem gewiſſen
Affekte zugeordnet ſind, in einem Menſchen, bei dem die-
ſer Affekt zur herrſchenden Natur geworden, oͤfters wir-
ken oder gebraucht werden, und es muͤſſen ſich alſo an
jachzornigen Menſchen die Muſkeln des Grimms oͤfters
zuſammen ziehen. Von dieſem oft wiederholten Gebrau-
che geſchicht es nun, daß dieſe Muſkeln ſtaͤrker wachſen,
und ſich uͤber die andern, gleichſam ſchlafende Muſkeln
des Temperaments einen Vorzug heraus nehmen, und
wenn der Affekt gleich nachgelaſſen, dennoch eine Spur
von dem herrſchenden Affekte im Geſichte uͤbrig bleibt.
Dahin kann man rechnen, was Lanciſius fuͤr die
Chiromantie geſchrieben, da er naͤmlich will, daß die groſ-
ſen Falten in der Haut Staͤrke, und gute Geſundheit der
Frucht, und des Menſchen, kleine oder gar keine Falten
dagegen eine Schwaͤche anzeigen ſollen.
Folglich iſt es nicht noͤthig, zu der Seele als einer
Baumeiſterin die Zuflucht zu nehmen (h), und zu glau-
ben,
[1136]Der Wille. XVII. Buch.
ben, wenn ſie ihren Koͤrper bildet, daß ſie ohngefehr ih-
res gleichen erbaut, und daß ſie ein Geſicht eines unver-
nuͤnftigen Thieres modeln wuͤrde, wenn ſie dumm waͤre.
Dem Menſchen iſt eine Leichtigkeit oder Neigung zu
Nachahmungen angebohren, die ohne Zweifel aus der
Zueignung der Jdeen entſteht. Gaͤhnt jemand, ſo gaͤh-
net, wie ganz bekannt iſt, der ganze Haufe der Geſell-
ſchaft mit. Menſchen, ſonderlich wenn ſie jung und zaͤrt-
lich ſind, weinen, wenn ſie andre weinen ſehen (i). Se-
nak hat von der bloſſen Erzaͤhlung eines ſchauderden
Dinges Kraͤmpfe (k), Ohnmachten, und den Tod ſelbſt
beobachtet (l). Ja man weis, daß auf den Anblikk der
Kraͤmpfe, und der Epilepſie aͤhnliche (l*) Uebel (l**)
erfolgt ſind.
Es iſt dieſes der Grund, Affekten durch das Leſen,
durch die Muſik, und ſelbſt durch die Geberden zu er-
wekken; denn es hat Quintilian Komoͤdianten, wenn
ſie Trauerſpiele vorgeſtellt, weinend den Schauplazz ver-
laſſen geſehen. Ein Tragoͤdienſpieler ſtarb auf der Schau-
buͤhne (m).
Daher koͤmmt es, daß die Muſkel in Erwekkung
und Beſaͤnftigung der Leidenſchaften eine groſſe Gewalt
hat. Sie erinnert uns an diejenigen Perſonen, deren
Karakter man mit der Stimme oder dem Jnſtrumente
vorſtellt (n).
Bisher haben wir die wachende Seele, oder doch den-
jenigen Zuſtand eines Menſchen beſchrieben, da
ſich die Veraͤnderungen, die von den umliegenden
Koͤrpern in den Organis der Empfindung hervorgebracht
werden, der Seele vorſtellen, und von derſelben begriffen
werden. Doch nimmt dieſer Zuſtand nicht viel uͤber die
Helfte unſers Lebens ein; die andre Helfte gehoͤrt fuͤr den
Schlaf. Wie es ſcheint, ſo ſchlaͤft die Frucht (o): es
ſchlaͤft das Huͤhnchen im Ei (p): und fruͤhzeitiggebohrne
Kmder ſchlafen faſt in eins fort. Kinder ſchlafen viel;
und abgelebte Greiſe ſchlafen ebenfalls oft. Es kam mit
dem vortreflichen Mathematiker A. le Moivre dahin (q),
daß er von vier und zwanzig Stunden nicht mehr, als
vier Stunden wachend zubrachte. Man verſchlaͤft im
mittlern Alter den dritten Theil, und daruͤber vom Tage.
Die meiſten unvernuͤnftigen Thiere, welche nicht des
Nachts auf Beute ausgehen, ſchlafen ſo lange, als ſie
wachen: ſie wenden naͤmlich die ganze Zeit, ſo lange es
finſter iſt, auf den Schlaf, und ſie wachen ſo lange, als
die Sonne uͤber dem Horizonte iſt. Einige Thiere ſchla-
fen auch in ihren Winterquartiren noch viel laͤnger. Den
Winter uͤber ſchlaͤft das Murmelthier, und wenn es ſich
endlich erwekken laͤſt, ſchlaͤft es doch gleich wieder ein (r); ſo
ſchlaͤft
H. Phiſiol. 5. B. C c c c
[1138]Der Schlaf. XVII. Buch.
ſchlaͤft das Zobelthier (s), die Spizzmaus (t), die karpa-
tiſche Maus (u), die Ratte (x), Fledermaus (y), der
Jgel (y*) und der Dachs (z). Die Baͤren liegen faſt
vierzig Tage verborgen (z*), und in Schweden von der
Mitte des Novembers bis in die Mitte des Aprilmonats
(a). Jn Groͤnland verſchwanden ſie mit der Sonne den
dritten November, und erſchienen wieder, da die Sonne
aufgieng (a*). Doch es ſchlafen auch die Jnſekten lange
(b), wofern man nach dem Auſſenbleiben der Empfindung
und der willkuͤrlichen Bewegung ſchlieſſen darf, daß ſie
wirklich ſchlafen. Raupen ſchlafen einige male (c), bevor
ſie ſich haͤuten; und es iſt das Leben einer Raupenpuppe
nichts, als ein Schlaf (d). Man glaubt, daß auch die Fi-
ſche ſchlafen (e), ſonderlich nach den neuern Erfahrungen
(f), und es verfallen einige in einen tiefen Schlaf (g),
wo-
[1139]III. Abſchnitt. Der Schlaf.
wovon ſie ploͤzzlich erwachen, und erſchrokken die Flucht
nehmen (h). Jndeſſen haben doch bisweilen Fiſche ein
ſchnelles Schiff, ſieben ganzer Tage lang verfolgt (i).
Die Froͤſche ſchlummern in der Kaͤlte, und leben ohne
Speiſe und Bewegung (k), nicht aber ſo in einer Waͤr-
me (l). Die Schleichen verbergen ſich im Schlamme (m).
Eben dieſes erzaͤhlt man auch von den Schwalben (n).
Endlich ſo ſchlaͤft, wenn man genau rechnen will, der
Keim der menſchlichen Frucht, die laͤngſte Zeit uͤber, bis
derſelbe in der Befruchtung wach wird.
Es ſcheint alſo der Zuſtand aller Thiere dieſer zu ſein,
daß ſie einen Theil ihres Lebens in Traͤgheit und Schlaf
zubringen. Jndeſſen theilt die Natur doch dieſen Theil
ſehr ungleich unter ſich aus, indem das Pferd kaum drei
oder vier Stunden lang ſchlaͤft, und ſich einige Pferde (o)
gar nicht niederlegen (p).
Es iſt uns derjenige Schlaf der natuͤrlichſte, welcher
uns nach ausgeſtandner Tagesarbeit, und auf ein gutes
Abendeſſen uͤberfaͤllt. Man kann die Zufaͤlle dabei nicht
ſo leicht beobachten, weil der Beobachter zugleich mit ein-
ſchlaͤft; indeſſen bin ich doch oͤfters auf mich ſelbſt auf-
merckſam geweſen. Demnach erwekkt das Blut des
Abends, wenn es durch ſeine viele Bewegungen, die
durch zufaͤllige Urſachen hervorgebracht worden, in einen
C c c c 2hefti-
[1140]Der Schlaf. XVII. Buch.
heftigen Umlauf gerathen, gleichſam ein kleines Fieber (q),
es ſchmerzen die ermuͤdete Muſkeln, und beſonders ermat-
ten die langen. Hierauf aͤuſſert ſich eine unangenehme
Betaͤubung an den Knieen. Dazwiſchen noͤthigt uns die
Natur einmal uͤber das andere zu gaͤhnen, es ſchlaͤgt der
Puls langſamer (r) und ſchwaͤcher, und bleibt in Kindern
aus (s). Hierauf werden die Geſchaͤfte des Kopfes hin-
faͤllig, es vergeht die Wißbegierde, die Sorge verlaͤßt uns,
wir ſind nicht mehr zu denken aufgelegt, und Leib und
Seele fuͤhlen eine Neigung zur Ruhe. Es werden die
Eindruͤkke aller aͤuſſerlichen Sinne matt, die Augen ſehen
und leſen nicht wohl, und die Seele ſtellt ſich, die vom
Gedaͤchtniſſe entſpringende Empfindungen, weder mit ei-
niger Lebhaftigkeit, noch ordentlich mehr vor. Hingegen
laͤſt ſich ein ſanfter Zug, der unwiderſtehlich iſt, zum
Schlafe verſpuͤhren, wobei an der zuſammenfuͤgenden
Haut der Augenlieder, nicht weit vom groſſen Winkel
einiges Brennen vermerkt wird; man kann die Augen
nicht mehr mit Bequemlichkeit offen halten (t), ſie ſchlieſ-
ſen ſich wider unſern Willen, und es verbirgt ſich die in
die Hoͤhe gezogne Pupille (u). Zugleicher Zeit ſinkt der
Kopf vorwerts nieder, er nikkt einmal uͤber das andere,
der Kinnbakken oͤffnet ſich, und es wuͤrde der ganze Koͤr-
per fallen, wenn man ſtehen bleiben wollte. Jndeſſen
wacht und lauſcht noch lange Zeit das Ohr (x), man
hoͤrt die Stimme der nahe ſtehenden Perſonen, man ver-
ſteht ſie, wenn bereits die Kraft der Augen gleichſam
gebrochen iſt. Und nunmehr trennen ſich die Jdeen von
einander, die Seele phantaſirt einiger maaſſen, und es
ſind alsdann die innerlichen Empfindungen, die das Ge-
daͤcht-
[1141]III. Abſchnitt. Der Schlaf.
daͤchtnis liefert, ſtaͤrker, bis endlich die im Archive des
Gehirns aufbehaltnen Bilder der Seele vor den Augen
ſchweben, und blos an dieſem Merkmaale pflege ich zu er-
kennen, daß ich ſo gleich einſchlafen werde; denn weiter
iſt mir nicht verſtattet, mich ſelbſt zu beobachten.
Wenn wir die Erſcheinungen eines voͤlligen Schlafes
wiſſen wollen, muͤſſen wir auf andere Menſchen acht geben.
Jn dieſem Zuſtande bewegt ſich der Koͤrper um deſto weni-
ger, je vollkommner der Schlaf iſt (y); man empfinder keine
Reizze der Sinnen, keinen Schall (z), kein Kizzeln (a),
wenn dieſes alles nicht lebhaft iſt (b); ja es werden auch
die innern Reizze ſchwach, als der Durſt (b*), oder der
Huſten, und der Schlaf ſchlaͤfert beide Uebel ein, wofern
dieſe nicht zu uͤbermaͤßig gros ſind; man hat eine gerin-
gere Empfindung vom verhaltnen Harn; ſelbſt die peri-
ſtaltiſche Bewegung des Magens und der Daͤrme werden
ſchwaͤcher, daß man uͤberhaupt recht lange Zeit (c), den
C c c c 3Hunger
[1142]Der Schlaf. XVII. Buch.
Hunger nicht verſpuͤhrt, ſo lange man ſchlaͤft, und zwar
ganze Winter durch. Ein Menſch kann eben ſo leicht (d)
funfzehn Stunden vom Abendeſſen bis zur Mittagsmahl-
zeit aushalten, und ſieben Stunden vom Mittags bis
zum Abendeſſen. Auch der Koth des Gedaͤrmes wird oh-
ne Empfindung weiter getrieben, er haͤuft ſich an, und
er wuͤrde in geſunden Menſchen, in der erſten Stunde
nach dem Erwachen unertraͤglich werden, wenn man gleich
das Bette fruͤhe des Morgens verlaſſen wollte. Daher
wirken Purgirpillen erſt den andern Tag (e). Ein Menſch,
welcher ſiebzig Tage lang ſchlief, harnete innerhalb zwei
und vierzig Tage nur einmal, und hatte keinen Stuhl-
gang (f).
Man iſt noch wegen des Herzſchlages ungewis, weil
beruͤhmte Maͤnner in ihren Meinungen daruͤbex nicht eins
ſind. Hippokrates ſchrieb ſchon (g), daß das Jnwen-
dige im Schlaf waͤrmer ſei. Nach ihm ſagte Sancto-
rius(h), daß im Schlafe die thieriſche Kraͤfte, und im
Wachen die Kraͤfte des Lebens, mit den thieriſchen Kraͤf-
ten matt werden. Die Neuern fuͤgen noch hinzu, der
Puls ſei im Schlafenden haͤufiger, und es wachſe derſelbe
von 70 und 80 bis 80 und 96 (i), und von 70. 86 bis
80. und 96 in einerlei Zeit an (k); es ſei auch der Puls
groͤſſer, und das Athemholen oſſenbar ſtaͤrker (l), daß
man an dieſem Zeichen einen ſchlafenden Menſchen erken-
nen koͤnnte. Es gehe auch die Verdauung der Speiſen
(m) im Schlafe beſſer von ſtatten; die Ausduͤnſtung ſei
noch
[1143]III. Abſchnitt. Der Schlaf.
noch einmal ſo gros (n); der Schweis (o) und die Wun-
den waͤren heiſſer (p), ſie ſchwellen, die ſchlafende Kinder
haͤtten in ſanftem Schlafe, wie Roſen bluͤhende Wangen,
und die feuchte Haut duͤnſte ſehr aus. So waͤren auch
Menſchen, wie ich oft ſelbſt geſehen, wenn ſie am Fieber
laͤgen und ſchliefen, heis, und befaͤnden ſich, wenn ſie
erwachten, ſchlechter.
Dahingegen wollen andre, Galen(q) und vornaͤm-
lich der vortrefliche Johann von Gorter(r), das Herz
aͤuſſere im Schlafe weniger Kraͤfte, es geſchehe der Puls
langſamer (s), nicht ſo oft, es ſei die Ausduͤnſtung klei-
ner (t), und wie 2 zu 3, oder wie 2 zu 4 (u), das Athem-
holen ſchwaͤcher (x), und die Ruͤkkehr des Blutaderblutes
beſchwerlicher (y), es empfindet ein Schlafender Froſt,
wenn er ſich nur eben ſo wie im Wachen bedekkt haͤlt, wel-
ches ich ſelbſt erfahren habe (z).
Doch es ſoll auch das Blut aus der Blutader eines
Menſchen, welcher ſchlaͤft (a), mit groͤſſrer Schwierigkeit
C c c c 4flieſſen,
[1144]Der Schlaf. XVII. Buch.
flieſſen, die Wunden und Geſchwuͤre nicht ſchmerzen (b),
und der Eiter beſſer, naͤmlich dikker flieſſen (c). Daher
ſollen duͤnne Saͤfte faſt ſtokken (d), die Abſonderungen
ſparſamer geſchehen (e), ſich das Fett ſammeln, und ſelbſt
Thiere im Schlafe fett werden (f). Es ſei dieſes die Zeit
der Reſorbtion, daß der Durchlauf, ſo fluͤßig er iſt, dik-
ker wird (g); und es ſind alsdann die ſchaͤdlichen Aus-
fluͤſſe der Suͤmpfe (h) gefaͤhrlicher.
Jch habe mir von allen Seiten Muͤhe gegeben, dieſe
Zweifel aufzuloͤſen. Es ſcheinen uͤberhaupt im Wachen
mehr Urſachen zuſammen zu kommen, die den Umlauf
des Gebluͤtes beſchleinigen, und die im Schlafe nicht zu-
gegen ſind. Jm Schlafe iſt allein das Herz thaͤtig: im
Wachen das Herz (i), das Muſkelſiſtem, und die ganze
Sinnlichkeit zugleich, die uns allerdings ſtark in Bewe-
gung ſezzen, und hierzu gehoͤren noch die Affekten, und
das Bemuͤhen. Es ſcheint alſo auf keinerlei Weiſe geſche-
hen zu koͤnnen, daß die Bewegung des Herzens im Schla-
fe, da die Urſachen geringer ſind, groͤſſer ſein ſollte. Da-
her geht der Puls zur Abendzeit geſchwinder (k), er nimmt
im Schlafe allmaͤhlig ab, und er iſt des Morgens fruͤhe
am ſchlaͤfrigſten (l). Lebt man unter einem ſolchen Him-
melsſtriche, wo das Quekſilber des Thermometers auf
120 Farenheitſche Grade, und daruͤber unterhalb den
Grad faͤllt, bei welchem das Waſſer gefriert, wie in der
Stadt Jeniſeisk geſchieht, welche durch den fuͤrchterlich-
ſten Winter beruͤhmt iſt. Dahingegen mus ein ſolcher
um-
[1145]III. Abſchnitt. Der Schlaf.
umkommen, und ohnfehlbar umkommen, welcher in ei-
ner Luft ſchlaͤft, die um zwanzig Grade kaͤlter iſt, als die
Kaͤlte, welche Waſſer zum Gefrieren bringt. Hieraus
erhellet, daß der Schlaf zur Kaͤlte geneigt ſei, und daß
ein Menſch, welcher bei Leibesuͤbungen die kalte Luft leicht
ertraͤgt (m), umkommen muͤſſe, wenn er in ſelbiger Luft
ſchlaͤft, weil das Blut geliefert und dikk wird (n), wel-
ches die Bewegung des Wachenden fluͤßig erhalten haͤtte.
Daher haben Thiere, die in ihren Winterherbergen ſchla-
fen, kaum einen Puls (o), und frieren voͤllig (p). Doch
es iſt das Schlagen des Herzens und das Athemholen
faſt in gleichem Grade thaͤtig. Selbſt die Bewegung der
Daͤrme wird, wenn man wacht, von der Speiſe, Trank,
von der Bewegung der Muſkeln des Unterleibes, von
der Arbeit der Seele, erwekkt und unterhalten (p*); im
Schlafe aber iſt keine ſolche ermekkende Urſache vorhan-
den. Daher ſehe man die ſichere Merkmaale von einer
langſamern periſtaltiſchen Bewegung. Vergleiche man
den ſchlaͤfrigen Hund einer Frau, mit dem Jagdhunde,
der mit dem erſten von einem Wurfe iſt, ſo ſehe man
deutlich, wie die Fettigkeit des erſtern vom Schlafe ent-
ſtanden ſei. Ein langwieriger Schlaf vermehre den Um-
lauf des Blutes ſo wenig, daß vielmehr die Ausduͤnſtung
abnimmt (r), der ganze Koͤrper friert (s), die ſtokkende
Saͤfte dikk werden (t), und durch den Schlaf eine Ver-
anlaſſung zum Schlafe, auch in geſunden Menſchen her-
vorgebracht wird, die ſich gemeiniglich in eine Schlaf-
C c c c 5ſucht
[1146]Der Schlaf. XVII. Buch.
ſucht (u), Erſtarrung (x), und Dummheit (y) verwandelt,
und wodurch faſt alle Empfindung zerſtoͤrt wird (z). Aus
dieſen erzaͤhlten Stuͤkken koͤnnte man ſchlieſſen, daß alle
Bewegung einer thieriſchen Maſchine durch den Schlaf
vermindert wird.
Und daher ſchreibe ich die groͤſſere Waͤrme, den groͤſ-
ſern Puls, und das Hauchen im Schlafe (a), vornaͤm-
lich den Dekken, und der waͤrmern Luft zu, die ſich um
die Haut ſammelt, wodurch die Gefaͤſſe der Haut erwei-
tert werden, das Blut in dieſelbe dringt, und vornaͤm-
lich gegen das Ende des Schlafes (b); zum Theil iſt dar-
an eine ziemlich ſtarke Abendmahlzeit Schuld, die bei mir
eine groſſe Hizze mit Schweis hervorzubringen pflegt, und
die ſtarke Sanktorianiſche Ausduͤnſtung verurſacht (c).
Doch es iſt auch das Liegen zum Athmen unbequem, weil
die gleich hohen Eingeweide des Unterleibes dem Zwerch-
felle ſtaͤrker widerſtehen. Endlich koͤnnen uns Traͤume
(d), die von Affekten begleidet wurden, in groſſe Hizze ver-
ſezzen, Schweis machen, und dieſes um ſo viel mehr,
weil die Traͤume groͤſſere Kraͤfte, den Koͤrper zu veraͤn-
dern, als im Wachen die Empfindungen haben, wie ich
weiter zeigen werde.
Nach dem Naturgeſezze bringt die Arbeit, welche
wachende Perſonen verrichten, den Schlaf hervor, und
es verhaͤlt ſich beinahe die Nothwendigkeit zu ſchlafen, wie
die Geſchaͤftigkeit am Tage. Daher fliehet dieſer ſuͤſſe
Palſam die Pallaͤſte der muͤßigen Groſſen, und bethauet
die Huͤtte der Landleute. Daher genieſſen Kinder, die
immer munter ſind, eine leichte und ſanfte Ruhe. Und
davon ruͤhrt der unwiderſtehliche Trieb zum Schlafe her,
indem dieſes eine der vornehmſten Urſachen mit war, wa-
rum die tapfern Englaͤnder, die man in eins weg allar-
mirte, das Fort S. Philipp nicht laͤnger beſchuͤzzen konn-
ten (d*), da ſie kaum mehr das Gewehr halten konnten,
Saldaten unter dem Donner des ſchweren Geſchuͤzzes (e)
ſchlaͤfrig werden, und die Elenden, welche die Officiers
vom Schlafe abhielten (f), nachdem ſie lange, einmal wie-
der zu ſchlafen, Verlangen getragen, endlich mitten un-
ter den Schlaͤgen einſchliefen. Auf ein dreitaͤgiges Tan-
zen folgte ein Schlaf von vier Tagen (g). Ein verloh-
ren gegangenes Maͤdchen, welches man ſieben Tage dar-
auf wieder fand, hatte die ganze Zeit uͤber geſchlafen, wie
ich glaube vor Ermuͤdung (h). Vom langen Wachen er-
folgte eine Schlafſucht (i). Unter die ſtaͤrkſten Entkraͤf-
tungen gehoͤrt der Schlaf auf die Tortur (k), welcher
faſt toͤdtlich iſt (l).
Die zwote Urſache zum Schlafe, die aber etwas we-
niger wirkſam iſt, aber doch das ganze thieriſche Reich
angeht (m), iſt das Eſſen, indem ein wohlgefuͤtterter
Polipe
[1148]Der Schlaf. XVII. Buch.
Polipe matt wird, ſo lange ſein Magen den Raub ver-
zehrt, und er die ausgeſogne Haut durch den Mund
auswirft (n).
Beruͤhmte Maͤnner unter den Neuern ſchreiben dieſe
Zunoͤthigung zum Schlafe, welche von der genoſſnen
Speiſe herruͤhrt, der von ausgedehnten Magen, gedruͤkk-
ten Aorte (o), oder denen Aeſten dieſer Schlagader (o*)
zu, vermoͤge deren das Blut nicht nach den untern Thei-
len kommen koͤnne, und alſo nach dem Kopfe ſteige, da
denn der anwachſende Drukk, den Schlaf verurſache, und
das Alpdruͤkken erzeuge, wenn harte und ſchwer zu ver-
dauende Speiſen den Magen beſchweren.
Es iſt mir dieſe Erklaͤrung laͤngſt als verdaͤchtig vor-
gekommen (p). Es ſchien mir mit der weiſen Natur ſich
ſchlecht zuſammen zu reimen, wenn zu der Zeit, da die
Abſonderungen im Unterleibe groͤſſer ſein muͤſſen, das
Blut den Unterleib verlaſſen ſollte. Wenigſtens braucht
der Magen, der die Speiſe kochen ſoll, und das Gedaͤrm
eine reichliche Abſonderung, fuͤr den Magenſaft, den
Darmſaft, das Gekroͤſe und die Galle.
Ferner erfolgt der Schlaf an vielen Thieren nach dem
Futter, da doch ihr Bau nicht ſo beſchaffen iſt, daß ſich
die Aorte ſehr druͤkken laſſen, oder deren Drukk den
Schlaf hervorbringen ſollte. So ſchlafen Schlangen (q)
nach dem Futter ein, da doch ihr Magen die Haut fehr
leicht ausdehnet, und in dieſelbe vorragt; und der Polipe
hat keine Aorte, ſo wie andre Jnſekkten mehr.
Doch es kann auch der Drukk des Magens, am
ſtehenden oder ſizzenden Menſchen, auf die Aorte nicht ſon-
derlich gros ſein. Denn es aͤndert der Magen im Men-
ſchen offenbar ſeine Lage, und haͤngt mit ſeinem groͤſſern
Bogen gegen das Darmfell, ſo daß er ſich vom Ruͤkkrad
weit zuruͤkke begiebt, und blos die Aorte (r) mit ſeinen
zwo Muͤndungen zwiſchen ſich nimmt, in denen doch keine
Speiſe befindlich iſt. So urtheilt, wie ich jezzo wahr-
nehme, ſchon Philipp Hecquet(s) und A. Stuart nach
guten Gruͤnden (t).
Es wuͤrde auch der Schlaf zu einer Krankheit wer-
den, wenn die Aorte in ſolchem Grade gedruͤkkt werden
ſollte, daß ſie uns emſchlaͤferte. Nun iſt aber ein Schlaf
auf eine geſunde Mahlzeit, eine angenehme Sache (u). Da-
her kann ich die freilich in etwas gehemmte Bewegung
des Zwerchfelles (x), nicht hieher ziehen, denn dieſes wuͤr-
de nur eine Aengſtlichkeit verurſachen, weil dieſe auf Hin-
terniſſe folgt, die das Blut in der Lunge aufhalten.
Doch man kann auch in keinem natuͤrlichen Schlafe,
die Theilchen der Speiſe dem Umlaufe des Blutes, als
hinderlich betrachten (y), ob ſie gleich ſchlaͤfrig machen
koͤnnten, nun aber bei einer maͤßigen Mahlzeit nicht ſtatt
finden.
Oder will man das Vergnuͤgen, und den ſchlafenden
Reizz zur Urſache machen (z); oder ſagen, daß das Gehirn
nun von dem auf den Unterleib ſinkenden Blute frei gemacht
worden, dergleichen auf das Fuswaſchen erfolgt. Denn es
befindet ſich nach dem Eſſen im Unterleibe mehr Blut, es
bezeigt einen Trieb zu ſtaͤrkern Abſonderungen (a), und
folglich wendet ſich das Blut alsdann vom Gehirn weg.
Zur dritten Urſache des Schlafes giebt uns der Stah-
lianer, den Willen, an die Hand (b). Die Seele,
welche nun uͤber ihre Geſchaͤfte und Empfindungen verdruͤs-
lich und ungeduldig geworden, laͤſt von freien Stuͤkken
die Anſtrengung der Sinne fahren, weil ſie dieſen nuͤzz-
lichen Schlus in der Abſicht faſſet, um ihre Kraͤfte zu
ergaͤnzen, welche ſie durch die Arbeit verlohren hat.
Man kann die ungemeine Annehmlichkeit hieher zie-
hen, welche wir durch den Schlaf gemeſſen, ſo oft wir
deſſelben beduͤrftig ſind: die Schlaͤfrigkeit, die uns bei
ſchlimmen Gedichten, und langen Erzaͤhlungen uͤberfaͤllt.
Den Abtritt zu den Betten, und Hoͤhlen, wornach ſich
Thiere und Menſchen ſehnen: und das Erwachen bei ge-
wiſſen Stunden, die man ſich vorgeſezzt hat.
Und dennoch habe ich allezeit gemerkt, daß dieſes Ver-
gnuͤgen, wenn ich oft nach dem Eſſen zur Sommerszeit
und in der Waͤrme darauf acht gab, nicht in meinem
Willkuͤhr ſtand, ſondern ſich meiner mit Gewalt bemei-
ſterte; und es iſt ſonderlich bei Perſonen von zunehmen-
den Alter nichts gemeiner, als daß ſie dem Schlafe wi-
derſtehen wollen, und ihn zuruͤkke zu weiſen ſuchen, die-
ſen Verſuch habe ich den ganzen Sommer uͤber gemacht,
wenn ſich der Schlaf des Mittags bei mir einſtellte, und
ich nicht ſo viel vom Tage muͤßig zubringen wollte. End-
lich habe ich dieſe Zunoͤthigung der Natur voͤllig bezwun-
gen, daß ich nun ſeit vielen Jahren nichts mehr davon
weis; und folglich uͤberfaͤllt uns der Schlaf nicht mit un-
ſern Willen: ſondern wider denſelben: und wenn der
Wille denſelben meiden will, ſo kann er es doch nicht
allemal.
Alles, was die Bewegung des Blutes und der Gei-
ſter maͤßigt, befoͤrdert auch den Schlaf. So thut dieſes,
was das Empfindungsſiſtem betrift, der Mangel aller
Reizze, des ſtarken Geraͤuſches, des Lichtes, der Sorge
und Bekuͤmmerniſſe, der ſanfte Lerm der rauſchenden Waſ-
ſer, die ſanfte Empfindung einer kuͤhlen Luft im Sommer,
und der Waͤrme im Winter, oder das Leſen ſolcher Dinge,
welche in der Seele keine Bewegungen verurſachen.
Jn dem Bewegungsſiſteme befoͤrdert den Schlaf die
Ruhe, das Liegen, wobei nur wenig Muſkeln zu arbeiten
haben, das Fuswaſchen, weil dieſes das Blut auf die
Fuͤſſe und deren leicht zu erweiternde Blutadern, und
vom Kopfe herabzieht. Hierzu ſind ebenfalls die Emul-
ſionen der oͤligen geſchmakkloſen Saamen behuͤlflich, weil
ſie alle Bewegung im Blute maͤßigen: die friſche Mohn-
milch, die noch nicht bitter geworden; und alle ſchwaͤchen-
de Dinge, als ſtarkes Purgiren (c), ein vorangegangnes
Fieber, welches die Kraͤfte erſchoͤpft hat, und der Ver-
luſt des Blutes von Wunden, und dem Aderlaſſen (d).
Alle dieſe Urſachen, ſonderlich aber die Erſchoͤpfung
der Kraͤfte von hizzigen Fiebern, und ein ſtarker Blut-
verluſt, erregen einen ſehr ſanften und erwuͤnſchten Schlaf
ohne Traͤume.
Jn der Theorie des Schlafes macht dieſes eine groſſe
Schwierigkeit, daß derſelbe von ſo widrigen Urſachen be-
foͤrdert
[1152]Der Schlaf. XVII. Buch.
foͤrdert wird. Wir haben gezeigt, wie derſelbe von Din-
gen verurſacht wird, welche die Bewegung des Bluts und
der Geiſter mindern; nun ſollen die gegenſeitige Urſachen
folgen.
Zwiſchen beiden iſt die Kaͤlte das Mittelding, und die
Haupturſache (d†), warum Thiere im Winter einſchlafen
(d*), da die meiſten, wenigſtens im Winter keine Noth-
wendigkeit zu ſchlafen, fuͤhlen, wenn man ſie bei ſich er-
haͤlt. Ueberhaupt mindert die Kaͤlte den Umlauf
des Blutes, und ſie hemmt denſelben voͤllig wenn es
voͤllig zum Gerinnen und Gefrieren koͤmmt. Es kann
aber auch der Froſt auf andre Weiſe einen unwiderſteh-
lichen Schlaf machen. Er treibt naͤmlich offenbar alle
Feuchtigkeiten von der Haut (e), und den aͤuſſerſten Thei-
len gegen die inwendigen zuruͤkke, daß die Finger unem-
pfindlich, unbeweglich werden, nicht ausduͤnſten, und
endlich weis und von heiſſen Brande angegriffen werden.
Da alſo das Blut nach einwerts zu getrieben wird, ſo
ſteigt es nach dem Gehirn, die Schlagadern deſſelben be-
kommen den ſtaͤrkſten Zufluß davon, die verengerte Blut-
adern fuͤhren wenig zuruͤkke, da es doch hier immer warm iſt,
weil der Kopf von den knochigten Dekken gegen die Wit-
terungen beſchuͤzzt wird. Davon entſteht eine ſanfte Ein-
ladung zum Schlafe, und wenn man ſich dieſen uͤberlaͤſt,
ſo erfolgt ein vollſtaͤndiger Schlaf, worinnen man, weil
in dieſem Zuſtande die Lebenskraͤfte abnehmen, gewis den
Tod findet (f): weil das Blut endlich gerinnet, und die-
ſes iſt ein Uebel, welches unſern Alpenbewohnern oͤfters
begegnet, wenn ſie durch abgelegne Fusſteige, die mit
uͤbermaͤßigem Schnee bedekkt ſind, wandern. Man haͤtte
ſie
[1153]III. Abſchnitt. Der Schlaf.
ſie erhalten koͤnnen, wenn man ſie aufgewekkt, und ge-
noͤthigt haͤtte, die Muſkeln anzuſtrengen, um wieder warm
zu werden.
Von dieſer Art iſt auch derjenige Schlaf, welcher ſich
einſtellt, wenn man eine Schnur um die Droſſelblutader
legt. Ein Menſch der vom Strikke gerettet wurde, er-
zaͤhlte, daß er eingeſchlummert geweſen (g), unempfind-
lich geworden (g*), und wie ſeine Worte mehr waren.
Dieſes iſt auch das Schikkſal gar zu fetter Perſonen.
Denn bei dieſen iſt der Ruͤkklauf des Blutes vom Kopfe
ſchwer, weil die Blutadern (h) vom Blute gedruͤkkt wer-
den. Folglich werden ſie ſchlaͤfrig, wie ich an einem Pro-
feſſor geſehen, welcher aus dieſer Urſache lange vor ſeinem
Tode beſtaͤndig einſchlief. Jch habe dieſes Uebel an einem
andern dadurch gemindert, daß ich ihm Seife und purgi-
rende Arzeneien vorgeſchrieben, wodurch ſich die Fettig-
keit etwas legte (i). Jener Tirann von Heraklea Dio-
niſius war ſo verſchlafen, daß man ihn mit Nadeln durch
das Fett ſtechen, und alſo aufwekken muſte (k).
Dieſes Brennbare ſchwebt (l) in der Luft unter allerlei
Geſtalt, und in allen uns bekannten Koͤrpern umher.
Es mag nun ſelbiges herkommen, wo es will, ſo bringt
doch eine gewiſſe Menge den Schlaf hervor, welcher aber
tief und dummwachend iſt. Dieſes thut der Dampf von
Koh-
H. Phiſiol. 5. B. D d d d
[1154]Der Schlaf. XVII. Buch.
Kohlen (m), und der Dunſt der mineraliſchen Waſſer (n).
Der Dampf von der Schwefelleber, wenn man dieſe cal-
cinirt, iſt berauſchend (o).
Jn einigen Thieren ſtekkt ein aͤhnliches Gift. Der
Biß von einer Schlange aus dem Nattergeſchlechte,
ziehet einen toͤdtlichen Schlaf nach ſich (p); und dieſes
war die Folge von dem Biſſe der Aſpis, deren ſich die
Kleopatra, um dem Schimpfe eines Triumpfs zu ent-
gehen, bediente. Wenn ſich das Gift einer Perſiſchen
Spinne, Enkurek genannt, uͤber die Haut ergieſt, ſo
verfaͤllt man in einen toͤdtlichen Schlaf (q).
Dieſes Schlafmittel koͤmmt unter den Vegetabilien
oͤfter vor, und es haben die meiſten Raͤuchereien, wenn
man ſie ſtark einzieht, eine Neigung dazu. So gar ha-
ben geoͤffnete Kiſten mit Nelken und Muſkatenbluͤhten (r),
die Traͤger eingeſchlaͤfert. Drei Matroſen ſtarben vom
Gewuͤrzdampfe auf einem hollaͤndiſchen Schiffe (s). Man
ſagt eben dieſes vom Safran (t), und ich leſe, daß auch
durch Muͤzzen, ſo man in Safran liegen gehabt, und
hernach auf den Kopf geſezzt, der Schlaf befoͤrdert wor-
den (u).
Der richende Dunſt, der vom gaͤrenden Weine haͤu-
fig ausdaͤmpft, berauſcht, ſchlaͤfert ein, macht dumm und
toͤdtet ebenfalls; und eben dieſes erfolgt auch, wenn man
den ſchon vollkommnen Wein, der voller Alkohol iſt, oder
auch den vom Weine geſchiedenen Alkohol trinkt. Davon
entſteht eine groſſe Schlaͤfrigkeit (x), und die Schlafſucht.
Die vorgemeldte Raͤuchereien, wiſſen ſich gefaͤllig zu
machen. Die folgende ſtinken, und erregen, in kleinern
Doſen genommen, Schlaf. Es iſt auch allen gemein,
daß ſie die Empfindung mindern, indem ſie den Schlaf
erregen. Einige ſind darunter bitter, andre ohne Ge-
ſchmakk. Dahin gehoͤrt alſo die Waldlaktuk vom Geruche
des Opii(y), der Hanf (z), die Wurmabtreibende Mit-
tel (z*), ſonderlich aber das Geſchlecht des Solanum:
das Solanum ſelbſt (a), die Belladona, die Alraunwur-
zel (mandragora) (b) in heiſſen Laͤndern, ob ſie gleich in
kalten Himmelſtrichen nicht ſo ſchaͤdlich iſt, das Stramo-
nium, und das ſehr wirkſame Bilſenkraut (hyoſcyamus) (c).
Bei allen dieſen miſchet ſich der Schlaf unter den
Wahnwizz, und die heftige Wallungen der Lebensgeiſter.
Wir wollen aber die uͤbrige fahren laſſen, und nur
das Opium, als den Chef des ganzen Geſchlechtes vor
uns nehmen. Es iſt dieſes der Saft vom weiſſen oder
ſchwarzen Gartenmohne, welcher aus den gerizzten Mohn-
koͤpfen, fonderlich aus der Rinde (c*), milchig und ſuͤs
flieſſet (d), an der Sonne aber ſchwarz, zu einer Art von
D d d d 2Gummi
[1156]Der Schlaf. XVII. Buch.
Gummi oder Extrakt, bitter und fuͤr hizzig gehalten wird
(d*). Der deutſche Mohn, hat mir, ſo gut als der Mohn
in Aſien (e) oder China ein eben ſo vollkommnes Opium
zu den Verſuchen geliefert (f).
Von auſſen thut es, wenn man die Nerven damit
begieſſet, nichts: nimmt man es aber durch den Mund,
oder durch ein Kliſtir (g) zu ſich, bringt man es an die
Haut (h), oder zieht man es durch die Naſe ein (i), oder
wird es in das Fadengewebe geſprizzt (k), oder in den
Unterleib (l), ſo ſchlaͤfert es eben ſo ein; ergieſſet es ſich
ins Gebluͤte (m), oder zieht man den Dunſt in den
Mund (n), ſo geſchicht eben daſſelbe. Gelangt es in
den Magen (o), ſo wirkt es, daß ſich kaum ſeine Schwe-
re mindert, woraus man ſieht, daß die einſchlaͤfrende
Kraft auf ein ſo zartes Element ankoͤmmt (p). Das ſo
genannte Banque (p*) bringt ſchon dergleichen blos durch
den Rauch, nach Art des Tabaks hervor.
Es ſtekkt in dieſem Safte eine gedoppelte ſehr wirk-
ſame Kraft. Er ſchwaͤcht alſo unſer empfindendes Weſen,
und ſchlaͤſret es ein (q). Dieſes habe ich durch meine und
des Sproͤgels Verſuche erfahren. Das Opium macht,
daß der Regenbogen, ſeine Kraft ſich zuſammen zu ziehen
verliert, und bei dem nahen Glanze eines brennenden
Lichtes unbeweglich bleibt (r). Es machte Blindheit (s),
und heilte eine Kolik (s*). Auch die Theile, welche vom
Herzen weit weg liegen, werden davon taub.
Es mindert ferner die Reizzbarkeit, und zerſtoͤrt ſel-
bige bisweilen gar, an verſchiednen Muſkeln (t), am Ma-
gen (u), den Gedaͤrmen (x), an der Harnblaſe (y), und
der Gallenblaſe (z). Daher erfolgt am Magen, von ge-
noſſnem Opio, eine ſtarke Aufblehung (a), der Koth wird
unverdaut ſauer (b) oder faul, und an Pferden (c) und
Menſchen (d) nimmt der Appetit ab. Es ſoll auch das
Opium an thieriſchen Theilen, die man aus dem Koͤrper
herausgeriſſen, die Reizzbarkeit erſtikkt haben (e). Daher
iſt es bisweilen nuͤzzlich, wenn man, Kraͤmpfe lindern,
und die uͤbermaͤßige Reizzbarkeit baͤndigen mus. Jm Hun-
deskrampfe hat man eine groſſe Menge deſſelben ohne uͤble
Folgen eingegeben (f). Es that bei krampfigen Kinn-
D d d d 3bakken,
[1158]Der Schlaf. XVII. Buch.
bakken, und verſchloſſnem Munde gute Dienſte (f*) Doch
alle dieſe Erfolge geſchehen nicht allemal (g).
Man hat die Frage aufgeworfen, ob es auch die Reiz-
barkeit des Herzens zerſtoͤre. Schon ehedem ſchrieb man
(h), der Puls mindere ſich vom haͤufigen Gebrauche des
Opii (i), das Blut verliehre ſeine geſammte Geſchwindig-
keit (l), und man koͤnnte dieſes an Froͤſchen durch Ver-
groͤſſerungsglaͤſer beweiſen (m). So hat Opium Fie-
ber kurirt (m*).
Dieſe Erfahrung hat auch Robert Whytt auf vie-
lerlei Weiſe wiederholt. Er fande, daß das Opium verur-
ſacht, daß das Schlagen der Schlagadern an einem Hun-
de, von 150 Schlaͤgen auf 76, und von 165 auf 70 her-
abgeſezzt wurden (n), in einem andern Exempel geſchahe
dieſes auf 74 (o). Wenn man Froͤſche, nach Zerſtoͤrung
ihres Ruͤkkenmarkes, in eine Opiumaufloͤſung wirft, ſo
ſchlaͤgt das Herz langſam (p), ſo daß der Puls auf 30.
26. 20. 18. 16. (r) und 21. 14 (s), oder auf 8. 15. 14. 13.
(t) reducirt wurde, welches die hoͤchſte Traͤgheit war; das
Herz bliebt eine kurze Zeit uͤber unbeweglich (u); und da
man es aus dem Leibe riß, und in eine Solution des
Opii warf, ſo hatte es nach dieſem Schriftſteller 9 und
7 (y) 6. 9. und 2 (z), 9 und 6 (a), 10 und 11 Schlaͤge
(b), und da man es in den Magen ſprizzte, ſo machte
es
[1159]III. Abſchnitt. Der Schlaf.
es ſtatt 60 und 70 ſiebzehn Schlaͤge (c). Folglich wurde
er uͤberhaupt uͤberfuͤhrt, daß Opium die Reizzbarkeit des
Herzens (d), und noch geſchwinder, als die Zerſtoͤrung
des Markes, und das Abſchneiden des Kopfes (e) zer-
ſtoͤre; und das Opium endlich geſchwinder toͤdte, und
den Herzſchlag zernichte, wenn das Gehirn noch in gutem
Stande iſt, langſamer aber, wenn ſolches zerſtoͤrt iſt (f).
Dieſer Mann erfuhr ferner, daß auch das Athem-
holen dergeſtalt abnehme, daß man in einer Minute nur
einmal Athem hole (g). Auch nachdem das Herz zerſtoͤrt
war, und das Opium nun ins Blut nicht wirken konnte,
ſo wurde doch die Reizzbarkeit aufgehoben (h). Folglich
wirke das Opium auf die Nerven, und verurſache dadurch
den Schlaf, weil das Thier dadurch zu allen Reizen un-
empfindlich gemacht wird (i). Es zerſtoͤrt aber ſowol die
Kraft der Nerven, als der Muſkeln (k), und zeigt ſich
eben ſo durch die aͤuſſerliche Beruͤhrung wirkſam (l).
Dieſe Verſuche ſcheinen nicht von der Art zu ſein,
daß ſie etwas gewiſſes beweiſen. Ein Thier, welches dem
Tode nahe iſt, verrichtet allerdings wenige, und ausblei-
bende Pulsſchlaͤge (m), und dergleichen waren diejenigen
Froͤſche, denen Whytt die Koͤpfe abſchnitt, und den Ruͤk-
kenmark nahm, da ſie alſo in Umſtaͤnde geſezzt waren,
daß ſie auch ohne Opium umkommen muſten. Und den-
noch lebte ein ſolches elendes Thier, welches man bei auf-
geſchlizzten Bauche in Opium warf, zwo ganzer Stunden,
zwo Stunden und ein und dreißig Minuten (n), fuͤnf Stun-
den (o),(o*), und ein Hund nach Zerſtoͤrung und Ab-
ſchlagung des Kopfes lebte laͤnger, als funfzig Minuten (p);
D d d d 4ein
[1160]Der Schlaf. XVII. Buch.
ein Froſch aber zwoͤlf Stunden (q), und nach durchſchnitt-
nem Ruͤkkenmarke ſechs Stunden (r), ſo wie das ausge-
riſſene Herz 35 Minuten lang fortklopfte (s). Auſſerdem
zeigte der beruͤhmte Fontana, daß das von auſſen ap-
plicirte Opium, wie es Whytt in ſeinen Verſuchen meh-
rentheils brauchte, keine Veraͤnderung habe hervorbrin-
gen koͤnnen (t). Ja es ſchlug in einem andern Verſuche
des Andreas das Herz eines Hundes von beigebrachten
Opio noch ſtaͤrker (u).
Doch auch bei mir hat nie ein Thier vom Gebrauche
des Opiums ſterben wollen, und folglich wurde in dieſen
Exempeln, und bei dieſer Doſe, die Reizzbarkeit des Her-
zens nicht aufgehoben.
Weit gefehlt, daß dieſes alſo die Folge ſein ſollte, ſo
macht vielmehr das Opium nach den faſt einſtimmigen Be-
richten aller Schriftſteller (x), das Gebluͤte duͤnne (y), es
dehnt den Puls aus (z), es beſchleunigt (a) die Bewe-
gung des Herzens, es erhizzt (b), erregt Schweis (c),
und die Luſt zum Beiſchlafe (d), treibt das Blut nach
dem Kopfe hin (e), und erweitert die Gefaͤſſe deſſelben (f).
Ein Hund, in deſſen Blutadern Alſton Opium ſprizzte,
bekam einen geſchwindern Puls (g). Ein Schwindſuͤch-
tiger wurde nach dem Gebrauche des Opii von einer toͤdt-
lichen Verblutung hingeraft (h), bei der Tollheit nahm
die Wuth davon zu (i), es thut in hizzigen Fiebern und
in
[1161]III. Abſchnitt. Der Schlaf.
in Blutſtuͤrzungen Schaden (k), weil es die Bewegung
des Blutes vergroͤſſert. So gar ſind die Gefaͤſſe davon
zerſprengt worden (l). Von einem Skrupel Opium be-
kam ein Hund eine Entzuͤndung am Auge, Gaumen (m),
ſein Blut war roth, ſchoͤn, ſehr fluͤßig (n), ſo daß es
kaum gerinnen wollte (o). Von eben dieſem Gifte fand
man eine Menge Blut in den Gefaͤſſen des Gehirns (p),
Dreiviertheil Bluts vor aus den Sinuſſen ausgetreten (q),
und am Grunde des Gehirns fand man ausgetretnes Ge-
bluͤte (r). An einem Hunde waren die Sinuſſe voller
ſchwarzen Blutes (s).
Mit einem Worte, Opium wirkt, eben auf die Art,
als Wein (t). Die ſich daher an das Opium gewoͤhnen,
befinden ſich ohne daſſelbe matt (u), und ſie wuͤrden um-
kommen, wenn ſie deſſelben laͤnger entbehren wollten,
und ſie erquikken ſich ſchon durch Wein wieder, welcher
die Stelle des Opiums vertritt (x).
Man kann auch keine andre Wirkungen von einem
hizzigen, bittern Opio erwarten, welches einen ſehr durch-
dringenden, und ſehr ſtinkenden Dunſt in ſich hat (y). Aus
ſechs Unzen bekam man durch die Diſtillirung zwo Unzen
von einem ſo fluͤchtigen Geiſte, als das Hirſchhorn giebt
(z), an ſtinkenden Oele fuͤnf Quentchen, ſechs und dreiſ-
ſig Gran, an Kohle, die ohne Salz war, zwo Unzen,
D d d d 5zwei
[1162]Der Schlaf. XVII. Buch.
zwei Quentchen, und vier und zwanzig Gran (a). Jn
einem andern Verſuche gaben ſechszehn Unzen Opii, im
Diſtilliren an etwas ſaͤuerlichem Phlegma zehn Quentchen,
an Geiſte vier Unzen, und zwei Quentchen, an ſtinken-
den Oele zwo Unzen, an fluͤchtigen Laugenſalze vier Gran,
an Todtenkopfe ſechs Unzen, worinnen 105 Gran Erde,
und ein unfixes Salz ſtak (b). Wie ſollte nun Opium
bei einer ſolchen Menge von hizzigem Oele und fluͤchtigen
Salze nicht reizzen, erhizzen, und das Schlagen des Her-
zens vermehren? Es iſt aber die Reſina viel wirkſamer,
als das Extrakt, und kann mit wenig Gran toͤdten (b*).
Das waͤſſrige Extrakt iſt faſt ohne Wirkung (b**). Eben
dieſes iſt, wie ich nicht ohne Nuzzen hinzufuͤge, die Ur-
ſache, warum der vortrefliche Stork die Extrakte von
Bilſamkraut und Stramonio ohne Gefahr verſchrieben;
weil die vornehmſte Kraft davon raucht (b***). Ge-
kochtes und wieder getrokknetes Opium iſt unkraͤftig (b†).
Die dritte Folge des Opii iſt dieſe, daß es auf das
Gehirn einen Einfluß hat. Es verurſacht naͤmlich eine
geringe Quantitaͤt Wein, oder Opii, eine Betaͤubung
des Schmerzens, eine Ruhe (c), eine aufgewekkte Seele
(d), Froͤhlichkeit, einen Taumel (e), ſchnelle Gedanken,
mit ſonderbarer Wolluſt (f), Schlaf und Geſichter (g),
und Luſt zum Beiſchlafe (h).
Eine groͤſſere Portion bringt gemeiniglich einen ſtar-
ken Schlaf (i), der unruhig iſt (k), Saamenergieſſungen
(l), auch einen ſehr langen Schlummer (m) hervor, wie
ich an einem Maͤdchen geſehen zu haben, mich erinnere.
Bei dem Schlafe, oder auch ohne demſelben, oder
nach dem Schlafe aͤuſſert ſich vom Opio ein Taumel (n),
Schwindel, Traurigkeit (o), eine Schwaͤche der Nerven,
Fuͤhlloſigkeit (p), Mangel des Appetits, Gelbeſucht (q),
Magerkeit (r) Unfaͤhigkeit zum Beiſchlafe (s), eine Ab-
nahme des Gedaͤchtniſſes (t), die Kraͤfte der Seelen ſchla-
fen, ſo zu ſagen ein (t*), und es aͤuſſert ſich allerlei Narr-
heit (u), eine Laͤhmung (x), und endlich folgt nicht lange
darauf der Tod ſelbſt (y).
Nimmt man Opium im Ueberfluſſe zu ſich, ſo macht
es uͤberhaupt Fuͤhlloſigkeit, Wahnwizz (y*), Unempfind-
lichkeit (z), Kraͤmpfe (a), Laͤhmung (b), und endlich toͤd-
tet es (c). Man weis es nicht eigentlich, welche Doſe
das
[1164]Der Schlaf. XVII. Buch.
das Leben raubt. Es ſind einige von vier Gran (d), von
ſieben (e), von 60 Gran Tinktur (f) geſtorben, wenn ſie
ſtark geweſen. Von zwoͤlf Gran Opii (g), von zwanzig
(h), von zwei und zwanzig (i), und von einem Quentchen
erfolgte der Tod (k). Die ſich gar nicht daran gewoͤhnt,
koͤnnen nur wenig davon vertragen.
Doch finden ſich Leute, welche einen Skrupel (k*), 24
Gran (k**), ein halbes (l) und ganzes Quentchen (m),
34 Gran (n) zwei Quentchen und daruͤber, drei (p) vier
(q) fuͤnf (r) acht (s) ſechszehn (t) vier und zwanzig (u)
Quentchen vertragen gekonnt. Ein Menſch erbot ſich,
zwei und dreißig Quentchen (x) einzunehmen.
Hunde koͤnnen viel vom Opio vertragen (y). Bei
mir iſt kein einziger umgekommen, denen ich daſſelbe ein-
gezwungen habe. Doch ſtarb ein Hund des Mead von
zwei Quentchen (z). Fuͤnf Quentchen aufgeloͤſtes und
in
[1165]III. Abſchnitt. Der Schlaf.
in die Blutadern geſprizztes (a), oder in das Fadenge-
webe gegoſſnes Opium (b), richteten das Thier hin. Von
der Reſina, und wenig Granen krepiren Hunde leichtlich
(b*). Froͤſche ſterben leicht, ſowol wenn man ihnen ge-
gen zehn Gran Opii (c) in die Kehle ſtekkt, als wenn
man ſie in aufgeloͤſtes Opium wirft (d).
Um endlich die naͤchſte Urſache des Schlafes zu erfor-
ſchen, ſo haben wir aus den todten Koͤrpern diejenige
Veraͤnderungen im Bau der Gehirnmaſſe geſammelt, die
man in der Schlafſucht und uͤbermaͤßigem Schlafe bemer-
ken koͤnnen, und welche man aus wahrſcheinlichen Gruͤn-
den, fuͤr denjenigen Zuſtand des Gehirns halten kann,
welcher den Schlaf verurſacht.
Wird das Gehirn einiger maaſſen gedruͤkkt, ſo er-
folgt ein Schlaf mit Schnarchen untermengt. Jch habe
dieſes oͤfters an Hunden geſehen, und dieſes ſcheint Anna
Karl Lorry ebenfalls beobachtet zu haben (e), ob er gleich
dieſe Folge blos auf das kleine Gehirn einſchraͤnkt.
So erfolgte auch an einem Menſchen, deſſen karioͤſes
Gehirn entbloͤſt lag, der Schlaf auf das Druͤkken (f).
Auf gleiche Weiſe erfolgt auch ein toͤdtlicher Schlaf,
von verſchiednen Zuſammendruͤkkungen des Gehirns (g),
vom Gebluͤte, welches ſich uͤber die harte Hirnhaut (h),
vermittelſt einer Wunde ergoſſen; von einem Geſchwulſte,
ſo
[1166]Der Schlaf. XVII. Buch.
ſo auf das Gehirn druͤkkt (i), oder von einem Scirrhus
(k), von Suͤkken der Hirnſchale, die auf das Gehirn
druͤkken (l).
So erfolgte bei entzuͤndeten Gehirnhaͤuten, und die
voller Blut waren (m), ein Schlaf: wie auch nach boͤs-
artigen Fiebern (n), als einer gewiſſen Peſt (o), nach
einer Hirnentzuͤndung, und nach uͤbelgeheilten Fiebern (p).
Gemeiniglich erſcheinen die Gefaͤſſe des Gehirns voll Blut,
und rothe Flekken an den Haͤutchen des Gehirns, an der-
gleichen todten Koͤrpern. Es iſt unter den Mauren, die
die heiſſeſte Laͤnder bewohnen, die Schlafſucht ſehr ge-
mein (q).
Hierzu rechne ich, wenn man Baumoͤl in die Blutadern
eines Hundes ſprizzt, wovon derſelbe in einen toͤdtlichen
Schlaf verfaͤllt (r).
So uͤberfaͤllt einen vom Eiter, ſo ſich in die Gehirn-
kammer ergoſſen (s), von einem Abceß im Gehirn (t),
oder im kleinen Gehirne (u), vom heiſſen Brande des
Gehirns (u*), und vom ziemlich deſtruirtem Gehirne (x),
ein eiſerner Schlaf (y).
Doch iſt die Urſache gemeiner, wenn das Gehirn
mit Waſſer uͤberſchwemmt, und die holen Stellen (z),
die Kammern (a), die Theile zwiſchen den Hirnhaͤuten (b)
damit erfuͤllt, oder die Waſſerblaͤſgen zugegen ſind (c).
Ueberhaupt verbindet ſich mit einem Waſſerkopfe Fuͤhllo-
ſigkeit, und eine Neigung zum Schlafe (d).
Damit man durch die gegenſeitige Urſachen der wahren
Urſache des Schlafes naͤher kommen moͤge, ſo muͤſſen wir auch
deiſelben in Betrachtung ziehen, wie ſie den Schlaf hindern.
Es ſchlafen diejenigen nicht lange, und nicht leicht
oder ſanft genung ein, die den Koͤrper wenig Bewegung
geben. Greiſe wachen fruͤhe auf (d*).
Diejenigen ſchlafen uͤberhaupt nicht, denen es an
Speiſe mangelt (e), wie man viel Exempel davon auf-
zeigen kann (e*).
Eben ſo wenig koͤnnen diejenigen ſchlafen, in denen
eine Urſache zu irgend einer beſtaͤndigen Bewegung vor-
handen iſt. So koͤnnen die nicht ſchlafen, welche die
Speiſen ſchlecht verdauen. Da ich in den Jahren 1749.
und 1750. ſehr oft ganze Naͤchte ſchlaflos zugebracht, ſo
habe ich nichts anders in mir empfunden, als eine immer-
waͤhrende Periſtaltiſche Bewegung, mit kleinen aber den-
noch lermenden, doch nicht ſchmerzhaften Blaͤhungen.
Jch habe dieſes Uebel mit Ausſezzung des Fleiſches und
des
[1168]Der Schlaf. XVII. Buch.
des Fettes, mit einer groſſen Menge chemiſcher Saͤure,
die ich zu mir nahm, mit einem maͤßigen Gebrauche des
warmen Weines, und der Enthaltung vom uͤbermaͤßigen
Studiren, gehoben.
Diejenigen koͤnnen nicht ſchlafen, denen ein Theil
friert, wenn indeſſen der Kopf warm iſt. Daraus ent-
ſteht ein ungleicher Blutumlauf, eine Anhaͤufung im Ge-
hirn, und die Ruhe wird dadurch gehindert.
Auch ſolche ſchlafen, wenigſtens nicht lange, denen
ein groſſes Getoͤſe, oder andre Dinge beſchwerlich fallen,
wodurch die Sinne ſehr geruͤhrt werden. So erfand man
in Frankreich, bei denen im Jahr 1685 angebrachten Mar-
tern, wodurch man die Elenden entweder dem Willen des
Koͤniges zu gehorchen, oder die Sinnen zu verlieren
zwang, auch das Trommeln.
Diejenigen ſchlafen nicht, die ihr Gemuͤthe mit
Sorgen und groſſer Anſtrengung beſchaͤftigen, wie wir
vom Franz Vieta leſen. So verſtatten alle ſchwere Sor-
gen keine Ruhe. Diejenigen elenden Frauensperſonen,
welche in einem engen Schlafzimmer unter einer Menge
Schnee, ganzer ſieben und dreißig Tage lang, vergraben
lagen (f), konnten wenig ſchlafen. Eine Schwangre blieb
fuͤnf und vierzig Tage ſchlaflos (g). Eine Melancholi-
ſche ſechs Wochen (h). Tolle Leute koͤnnen oft nicht ſchla-
fen, und einige derſelben ſchlafen niemals (i). Eine
hiſteriſche Frau blieb drei Monate wachend, und es half
bei ihr nicht einmal Opium (k). Eine hat niemals ge-
ſchlafen (l), allein dieſes iſt nicht glaublich.
Der beruͤhmte Home blieb, wie er glaubte, von
einer Entzuͤndung des Gehirns mit einer uͤbermaͤßigen
Empfindung, aller Koͤrper, und ſo gar des Lichtes,
ſchlaf-
[1169]III. Abſchnitt. Der Schlaf.
ſchlaflos (m). Eine traurige Nachricht uͤberwaͤltigte alle
Wirkſamkeit des Opii (n): Jener elende Gardelle, der
ſeinen Gaſt umgebracht hatte, konnte ganzer vierzehn
Naͤchte nicht ſchlafen, nachdem er vierzig Gran Opium
eingenommen hatte (o).
Eben dieſe Kraft aͤuſſert auch der koͤrperliche Schmerz,
wie Boerhaave bei dem Gliederreiſſen erfuhr, und Pech-
lin berichtet von einem achtmonatlichen Wachen. Wegen
eines kleinen Fiebers konnte Maecenas(p) drei Jahre
nicht ſchlafen. Dergleichen lieſet man von dem verſtekk-
ten Gifte, von dem Biſſe eines tollen Hundes (p*). Auch
ſcharfe Fieber (q) benehmen den Schlaf, bis die Sache
zum Tode ausbricht, oder Hoffnung zur Geneſung ſich
zeigt. Thiere ſchlafen nicht in ihren Winterhoͤlen, wenn
man die aͤuſſerliche Kaͤlte von ihnen abhaͤlt; weil ihre
Saͤfte von der Waͤrme in Bewegung geraden (r).
Den Schlaf vertreibt ein warmer Trunk, der bald
ins Blut geht, und dieſes ſoll die Urſache geweſen ſein (s),
den Thee zu erfinden (t). Dieſe Kraft, hat der bekannte
Kaffee (u), und noch beſſer. Sechs Tage lang erwehrte
ſich Alexander von Rhodes(x) des Schlafes.
Man findet nach langen Wachen das Gehirn ange-
griffen, weich, voller Waſſer, macerirt, und zum Theil
verzehrt (y). Daher entſteht vom langen Wachen Un-
ſinnigkeit (z).
Wenn man dieſes alles mit einander vergleicht, ſo
koͤmmt man der Urſache des Schlafes um etwas naͤher.
Es ruͤhrt ſelbige entweder von der ſehr geminderten
(a), oder ſehr vermehrten Bewegung des Blutes nach dem
Gehirn her (b), wobei es auſſerdem keinen leichten Um-
lauf hat, wie man an den Nachtwachen ſieht, die von
warmen duͤnnen Getraͤnke verurſacht werden, welches ſich
leicht unter das Blut miſcht (c).
Der Schlaf entſteht auch, wenn alle aͤuſſerliche (d),
oder innerliche Bewegung (e) gehemmt wird, ſo daß auch
die Periſtaltiſche Bewegung traͤge wird (f), und dieſes
iſt eine Urſache mit, warum das Opium einſchlaͤfert.
Jch habe unterſucht, was dieſe Urſachen, welche ein-
ander ſo widrig zu ſein ſcheinen, mit einander gemein ha-
ben. Es ſcheint mir dieſes, die etwas gezwungne Bewe-
gung der Nervengeiſter im Gehirn zu ſein (g), es ſei nun,
daß ſolches von dem Mangel dieſer Geiſter, wie nach der
Arbeit (h), oder nach der geminderten Geſchwindigkeit
derſelben (i) erfolge, oder es mag das Gehirn etwa ge-
druͤkkt werden; ſonderlich aber erfolgt der Schlaf von ei-
ner langſamen (k), und nach und nach angehaͤuften Urſache,
weil ein geſchwindes Druͤkken den Tod hervorbringt.
Dahingegen ſtellet ſich das Wachen wieder ein, wenn
die Geiſter ihre Bewegung, durch Reizze (l), durch ihre
friſche Ergaͤnzung (m), und durch ein Gehirn wieder be-
kommen, daß von allem unnatuͤrlichen Drukke frei wird.
Bei
[1171]III. Abſchnitt. Der Schlaf.
Bei dieſer Sache mus man Grade feſtſezzen (n), und es
wird die geringſte Geſchwindigkeit des, zum Gehirn ge-
henden, Blutes den Schlaf eine mittelmaͤßige, das Nacht-
wachen, und ein groͤſſerer Wahnwizz, die groͤſte Schlaͤf-
rigkeit machen, wie man an der Trunkenheit deutlich ſieht.
Dahingegen macht ein geſchwinder und hurtiger Umlauf
der Geiſter, das Wachen, ein langſamerer, den Schlaf,
ein ſtarker; doch mit Beſchwerlichkeit und Widerſtreben
verbundner Umlauf derſelben, einen unruhigen Schlaf
voller Bilder.
Daher koͤnnen das Zuſammenfallen der Geiſterroͤhr-
chen (o) im Schlafe, die Erſchlaffung der Faſern im Ge-
hirn (p),(q), das Sinken der Gehirnkammern (r), der
Mangel der Geiſter (s), oder die verminderte Abſonde-
rung (t), die Verſtopfung der geiſtigen Roͤhrchen (u), und
was ſonſt die Autores fuͤr Urſachen des Schlafes mehr an-
geben, theils die Urſachen nicht vollſtaͤndig machen, theils
nichts, als Muthmaſſungen heiſſen.
Folglich mildert der Schlaf diejenige Zerſtoͤrung der
menſchlichen Maſchine, welche von der Bewegung der
Seele, und des Leibes hervorgebracht wird, und beide
Bewegungen macht der Schlaf ſchwaͤcher, oder er hebt
ſie ſo gar auf. Blos das Herz ſchlaͤgt noch, und ſpornet
das Blut an, welches im Wachen Muſkeln und Nerven
E e e e 2auſſer-
[1172]Der Schlaf. XVII. Buch.
auſſerdem noch thaten. Folglich unterhaͤlt der Schlaf
das Leben, welches ſo gewis geſchicht, daß man ſchon durch
bloſſe Kaͤlte die Entwikkelung einer Raupenpuppe (x), faſt
nach Belieben verſpaͤten, folglich das Leben einer Raupe
auf einige Monate verlaͤngern (y) kann, welches fuͤr die-
ſes Thierchen mehr, als fuͤr uns ganze Luſtra, zu bedeu-
ten hat. Der Holzwurm, der Kaͤfer bleibet ganze Jahre
unter der Erde, und er wuͤrde bei einer guͤnſtigen Jahrs-
zeit lebendig werden (z).
Es verwandelt alſo der Schlaf die Bewegung des
Blutes, von dem Abendfieber zu derjenigen ſanften tem-
perirten Bewegung, mit welcher wir des Morgens er-
wachen (a).
Daher empfinden Perſonen, welchen der Schlaf fehlt,
wie ich ſolches gar zu wohl an mir ſelbſt erfahren habe,
ein Fieber, ſie koͤnnen nicht Kaͤlte ertragen (b), und wenn
das Uebel lange waͤhrt, verfallen ſie leicht in Unſinn, in
Tollheit (c), Kraͤmpfe, und ſterben (d). Man macht
Falken durch langes Wachen ſinnlos (e), und ſo unbe-
dachtſam, daß ſie ſich, der Gefahr unbewuſt, uͤber die
Reiher her werfen.
Wenn die Bewegung im Blute kleiner iſt, und ſich
die Feuchtigkeiten langſamer bewegen, ſo ſtokken die zar-
ten theils, wie vom Fette bekannt iſt, und theils haͤngen
ſie ſich an die feſten Theile des Koͤrpers an, und dieſes iſt
die Ernaͤhrung (f). Daher ſchlafen Kinder viel, ſie neh-
men zuſehends zu, und wachſen geſchwinde.
Wenn die periſtaltiſche Bewegung abnimmt (g), ſo
halten ſich die Speiſen laͤnger an ihrem Orte auf, und
geben Gelegenheit, reſorbirt zu werden.
Auch alle andre Saͤfte werden ſtaͤrker wieder eingeſo-
gen, wenn man ſchlaͤft, und dieſe Ruhe entwendet ſie
nicht den Blutadern. Daher wird der Schleim in der
Lunge ſo dikke, daß er ſich darinnen anhaͤuft.
Die Muſkeln finden an der Ruhe, und dem Schlafe
eine Erleichterung von ihrer ſchmerzhaften und beſtaͤndi-
gen Anſtrengung und Nachlaſſung.
Jn dem Nervenſiſteme wird ſo viel geiſtiges Element
(h) wieder ergaͤnzt, als noͤthig iſt, daß die dem Willen
unterworfne Muſkeln und Sinne ihr Geſchaͤfte verrichten
koͤnnen. Zu gleich ſtellet ſich die Munterkeit wieder ein, und
wir fuͤhlen uns zu allen Arbeiten der Seele und des Leibes,
gleichſam von neuem belebt:
Daher ſcheint auch das Erwachen eine Wirkung des
Schlafes zu ſein. Boerhaave zweifelte, wenn kein
Reizz von auſſen dazu kaͤme, ob wir jemals wieder von
ſelbſt aufwachen wuͤrden. Er gruͤndet ſich auf Erfahrun-
gen, da ein auſſerordentlicher langwieriger Schlaf, den-
noch wieder ſchlaͤfrig gemacht, und den Schlaf von neuem
nothwendig gemacht hat. Man findet auch Exempel, die
nicht ſehr ſelten ſind, von Menſchen, welche aus unge-
wiſſen Urſachen, ſehr lange geſchlafen haben. Man weis
von jemanden, der vom 29. Junius, bis zum 13. Julius
fortgeſchlafen, nachher noch ſechs Monate lang geſchlafen,
und nach kurzem Erwachen vom zwoͤlften Jenner zum 22
Februar und laͤnger ſchlafen koͤnnen (i). Ein Langſchlaͤ-
fer brachte ſiebzig Tage ſchlafend zu, nahm aber dazwi-
ſchen oͤfters Speiſe zu ſich. Da ein andrer in der ſieb-
zehnten Woche aufgewekkt wurde, ſo wurde er geſund (k).
E e e e 3So
[1174]Der Schlaf. XVII. Buch.
So endigte ſich ein Schlaf von vier Monaten und dar-
uͤber, der wenig unterbrochen war, mit der Geneſung (l).
Ein vierjaͤhriger Schlaf von kleinen Pauſen (m). Jch
uͤbergehe den Schlaf von vier (n), ſieben (o), acht (p),
dreizehn (q) und vierzehn Tagen (r).
Unſer hochverdiente Lehrer (s) wollte, daß wir durch
Reizze aufgewekkt werden, es ſei dieſes von dem Kothe,
Harn, oder vom Hunger, Schall, Lichte, oder wenn
man uns anruͤhre (t).
Da uns dieſe Reizze allezeit begleiten, ſo laſſen ſich
keine Verſuche anſtellen, um zu beſtaͤtigen, daß ſchon die
bloſſe Ergaͤnzung der Geiſter dazu hinlaͤnglich ſei. Doch
lieſſe ſich ſolches faſt nach der Analogie vermuthen, indem
man von dem gedruͤkkten Gehirn ſchlaͤfrig gemacht wird.
Solche Leute wachen aber, ſobald ihr Gehirn wieder frei
iſt, ohne daß ein andrer Reizz hinzukommen darf, ſo gleich
auf, daß man glauben ſollte, man gerathe in den Zuſtand,
des Wachens, ſo bald das geiſtige Element frei, und in
gehoͤriger Menge durch die Nerven umlaͤuft.
Gemeiniglich pflegen ſolche Leute die Augen zu eroͤff-
nen, und mit den Fingern auszuwiſchen. Hierauf deh-
nen ſie alle Gliedmaaſſen, nicht ohne Gefahr des Kram-
pfes aus, wofern dieſes Ausſtrekken gar zu geſchwinde
geſchieht. Sie machen ferner an den Aermen und Bei-
nen einige wechſelweiſe Bewegungen, von Biegen und
Aus-
[1175]III. Abſchnitt. Der Schlaf.
Ausſtrekken: bisweilen gaͤhnen ſie, viele nieſen, huſten
und leeren den Schleim aus. Sie harnen und leeren
den Leib aus. Und ſo ſtellt ſich in wenig Minuten der
voͤllige Gebrauch der Vernunft, und der, dem Willen
untergeordnete Muſkel wieder ein.
Menſchen und Thiere dehnen ſich alsdann, weil ſie
gemeiniglich mit gebognen Gliedern ſchlafen, und aus die-
ſer beſtaͤndigen Lage an den Muſkeln eine Unbequemlich-
keit erwaͤchſt, die ſie durch das Ausſtrekken heben.
Sie gaͤhnen (u), um dem Blute, welches Kraft des
Schlafes etwas langſamer durch die Lunge geht, den Weg
zu erleichtern.
Sie nieſen, und werfen die uͤbrigen Faeces aus, wel-
che ſie die Nacht uͤber geſammelt haben, und mit ihrer
Menge, Dichtheit, einige auch mit ihrer Schaͤrfe be-
ſchwerlich fallen.
Bisher haben wir einen vollkommnen Schlaf beſchrie-
ben, wobei ſich die Seele entweder aller Empfindungen
enthaͤlt (x), oder ſich doch dieſer Empfindungen nicht er-
innert, daß man alſo ſagen ſollte, ſie haͤtte dieſelben ganz
und gar nicht (x*). Dergleichen Schlaf koͤnnte in einer
ganz ſanften Ruhe (y), des Leibes und der Seele beſtehen,
die uns nach einem groſſen Verluſte der Kraͤfte ankoͤmmt.
Vielleicht iſt dieſes auch der Zuſtand in den erſten Stun-
den des Schlafes (z), ich ſage vielleicht, weil die Erfah-
rung hier ſchwer zu machen iſt und wir auch an den un-
E e e e 4ver-
[1176]Der Schlaf. XVII. Buch.
vernuͤnftigen Thieren offenbare Exempel haben (a), daß
ſie traͤumen.
Es moͤgen nun Traͤume beſtaͤndig ſein, oder doch oͤf-
ters vorkommen, ſo iſt es doch an ſich gewis, daß die
Seele oftmals im Schlafe nicht muͤßig iſt, ſondern eben
ſo, wie im Wachen, ein Schauſpiel auf einanderfolgen-
der Empfindungen und Begriffe vor Augen hat, und ſich
im Slafe (b) Reihen von Bildern vorſtellt, welche aus
den hinterlaſſnen Spuren der vorigen Empfindungen, die
dem Gehirn eingedruͤkkt worden, ihren Urſprung bekom-
men. Bei dieſer Vorſtellung der Bilder iſt ſich die See-
le ihrer ſelbſt bewuſt, ſie urtheilt, und ſchlieſt (c), ſie ge-
braucht ſich ihres Willens, ſie leidet alle Affekten, die
viel lebhafter, als im Wachen ſind, und ſie ſieht ſich bald
in die aͤuſſerſte Kuͤmmerniſſe und Aengſtlichkeit, oder in
ein heftiges Schrekken, und uͤbermaͤßige Freude verſezzt.
Jch werde kuͤrzlich erzaͤhlen, was ich an den Traͤu-
men beobachtet habe; denn ich habe von meiner Jugend
an, auf mich, wenn ich traͤumte, acht gegeben, und den
Betrug der Phantaſie wahrgenommen, die uns uͤberre-
den wollen, daß ſie auſſer uns anzutreffen ſei. Jndeſſen
konnte ich mich doch ein andermal, wenn ich verſtor-
bene Freunde ſah, mich nicht von dem Jrrthum uͤberzeu-
gen, und war dennoch nicht uͤber ihren unverhoften An-
blikk erſchrokken (d). So erwachte derjenige, welcher,
wie wir gemeldet haben, den ſteifen Vorſazz hatte, die
Nachtbeflekkungen zu meiden, ſobald er eine Empfindung
von dem luͤſternen Bilde zu bekommen anfieng (e).
Bisweilen entſtehen Traͤume aus einer gegenwaͤrtigen
Empfindung (f), oͤfters aber aus einer vergangnen: Aus
einer
[1177]III. Abſchnitt. Der Schlaf.
einer gegenwaͤrtigen Empfindung entſteht der bekannte
Alp (incubus), wenn man von dem gehemmten Umlaufe
des Blutes Aengſtlichkeit fuͤhlet (g), ſonderlich wenn man
auf dem Ruͤkken liegt, da ſich das Blut ſchneller nach
dem Gehirn bewegt, und muͤhſamer vom Gehirn zuruͤkke
koͤmmt (h), wiewol ich von dieſem Dinge keine Erfahrung
an mir habe: doch nehmen deſſen Stelle aͤngſtliche Traͤume
ein, von Haͤuſern, die durch tauſend krumme Gaͤnge, kei-
nen Ausgang vorſtatten; oder von unterirdiſchen Reiſen,
unter Gewoͤlbern, die immer niedriger werden. Doch es
erregen auch gegenwaͤrtige Empfindungen Traͤume. Da-
her entſtehen aus dem Ueberfluſſe eines haͤufigen geſam-
melten Saamens, verliebte Traͤume, Saamenergieſſun-
gen, auch in Juͤnglingen, die von dem Beiſchlafe nichts
wiſſen, daß alſo hier keine ehemalige Spuren etwas dazu
beitragen koͤnnen. Von dieſen Empfindungen laſſen ſich
unendlich verſchiedne erdenken, als ein Toben im Gedaͤr-
me (i) von ſtarken Mahlzeiten, das Aufblaͤhen des Ma-
gens von Blaͤhungen (k), eine Fieberhizze; eine uͤber-
maͤßige Bettwaͤrme, ein hartes Lager, woran man nicht
gewoͤhnt iſt (l), das Liegen auf dem Ruͤkken, ein ſchlecht
bedekkter Theil, jeder Schmerz, jede Ungemaͤchlichkeit,
wie auch eine luſtige Vorſtellung von ſeiner eignen Ge-
ſundheit.
Die Regeln der Traͤume, welche aus Empfindungen
hervor gebracht werden, ſind dieſe: es iſt der Traum ſtaͤr-
ker, als die Empfindung (m), und er ruͤhrt die Seele
E e e e 5lebhaf-
[1178]Der Schlaf. XVII. Buch.
lebhafter. Man mus dieſes auf die Einſamkeit, auf die
Ruhe, und die Aufmerkſamkeit auf ein einziges Objekt
ſchieben. Schwerlich wird ein geſunder Menſch jemals
bei noch ſo wohlluͤſtigen Gedanken den Saamen von ſich
laſſen. Und dieſes geſchicht dennoch im Traume, in ei-
nem gewiſſen Alter, und nicht leichtlich im hohen Alter, hin-
gegen leicht an jungen Leuten: ſelbſt die Muſkeln, welche
ihn heraustreiben, wirken ſtaͤrker, als im Wachen ſelbſt
(n). Dieſe Lebhaftigkeit der Traͤume iſt daher ſo uͤberre-
dend, daß wir ſie glauben muͤſſen.
Doch es ſtellt ſich die Empfindung, die am Traume
Schuld iſt, weder ganz allein, noch ungemiſcht der Seele
dar (o). Es bildet ſich nach dem Geſezze aͤhnlicher Verbin-
dungen in den Jdeen, bei Gelegenheit eines einfachen Rei-
zes, die Jdee einer|ſchoͤnen, und geliebten Frauensperſon,
in der Seele ab, um welche man ſich bewirbt, und welche
willig iſt: die Seele ſucht ſich ein Lager der Liebe, und ſie
ſchaffet alles zu der Eroberung gehoͤrige bald herbei. Nach
und nach naͤhert ſich auf das erſte Geſpraͤche die gehofte
Wohlluſt mehr und mehr (p), ſo wie die Bilderſprache der
Aengſtlichkeit der Seele nach und nach, und ſchrittweiſe
immer beſchwerlicher wird. So ſahe ich im Fieber, da ich
uͤbermaͤßige Hizze ausſtehen muſte, ein Feuerreich vor
mir, und vom ganzen Horizonte hergewaͤlzte Flammen
uͤber mich ſchlagen. Der Durſt ſtellt uns (q) Spring-
brunnen, und uͤberhaͤngende Waͤlder auf das allerlebhaf-
teſte vor.
Eine voͤllige Geſundheit mahlt ſich bei mir unter dem
Bilde des Fluges ab, und ich wundre mich, daß ich mich
mit den Fuͤſſen uͤber die Erde erheben, und ohne ſie zu be-
ruͤhren, durch die Luft ſtreichen kann.
Die Ordnung des Traums iſt ſo, wie ſie die Aehn-
lichkeit der Jdeen ſchaffet, und es haben dieſe Veraͤnde-
rungen ihren zureichenden Grund (r) in ſich.
Oft ſind die Traͤume ſehr zuſammenhaͤngend, wie
Jdeen, welche das Gedaͤchtnis liefert. Jch leſe oft Buͤ-
cher (s), auch gedrukkte Gedichte, Reiſebeſchreibungen,
und dergleichen, ich beſehe Pflanzen aus entfernten Laͤn-
dern, die ſich fuͤr ſolche Laͤnder ſchikken.
Andre ſchreiben, wie ſie Aufgaben im Traume aufge-
loͤſt (t), Verſe gemacht (u), welches mir ebenfalls begeg-
net, wie ſie Sachen auswendig gelernt (x), und alles
dieſes ſezzt eine beobachtete Ordnung zum Grunde.
Wenn ſich gemeiniglich die Bilder der Traͤume ver-
worren durch einander mengen, ſo kann ſolches geſchehen,
weil ſich in das, aus der erſten Empfindung entſtandne
Syſtem der Jdeen, andre fremde Jdeen miſchen, die zu
dem Siſteme einer andern Empfindung gehoͤren. So
kann der erſte Traum von der Hizze entſtehen, und ein
andrer von der abgeworfnen Dekke, alſo von der Erkaͤl-
tung, dazu kommen (y).
Jch habe geſagt, daß die meiſten Traͤume von den
im Gehirn aufgefangnen Spuren (z) ihren Urſprung be-
kommen. Meine meiſten Traͤume beſchaͤftigen ſich mit
allerlei Sorgen, die des Nachts lebhafter werden. So
ſieht man im Traume ſeinen verlohrnen Freund, ſein ver-
lohrnes
[1180]Der Schlaf. XVII. Buch.
lohrnes Hausgeraͤthe wieder; ſo verfolgt uns das verhaſte
Bild eines Feindes im Traume; und es verleitet mich
die Liebe zu den Pflanzen in unwegſame Gegenden. Da-
her koͤmmt es, daß uns die Traͤume gemeiniglich nur an
die ſichtbaren Bilder (a), und die Geſpraͤche, ſelten aber
an Speiſe und Trank, oder die nothwendige Ausleerung
der Unreinigkeiten, es ſei denn bei einer gegenwaͤrtigen
Empfindung erinnern; indem uns die Einbildungskraft
auch im wachenden Zuſtande gemeiniglich Bilder und Toͤ-
ne vorſtellt.
Die durch die Einbildung aufgefriſchte Spuren der
Dinge, bringen uns ebenfalls, Kraft der Aehnlichkeit ver-
wandter Jdeen, alle dahin einſchlagende Jdeen wieder
ins Gedaͤchtnis; und wir erinnern uns an die Kleidun-
gen des Freundes, an die mit ihm zugebrachten Tage,
an die Spiele, an die Kartenſpiele, Wieſen, Landguͤter,
Gerichtshoͤfe, und obrigkeitliche Geſchaͤfte, die wir mit
ihm verwaltet haben.
Wenn man nun nach der mechaniſchen Urſache der
Traͤume fraͤgt, ſo pflegt man uns zu antworten, es ſei
dieſes (b) ein aus Schlaf und Wachen gemiſchter Zuſtand,
und es gehoͤret dazu, daß in dem uͤbrigens ruhigen Ge-
hirne, nur einerlei Art von Lebensgeiſtern ergaͤnzt werden
(c), und daß ein Theil des Gehirns fuͤr ſelbige offen blei-
be, da das uͤbrige Gehirn voͤllige Ruhe genieſſet (d), und
die Lebensgeiſter darinnen keinen Umlauf verrichten.
Man wird leicht gewahr, daß Traͤume entſtehen muͤſ-
ſen, ſo oft irgend ein gegenwaͤrtiger Reizz, oder die Spur
von einer vorigen Empfindung, ſo lebhaft wird, daß
ſie die Ruhe der Seele ſtoͤren, und derſelben ihre Vor-
ſtellung
[1181]III. Abſchnitt. Der Schlaf.
ſtellung mit Gewalt aufbuͤrden kann. Wir haben an
einem andern Orte (e) geſagt, daß die Seele im Schlafe
die geringern Reizze nicht wahrnehme. Es iſt aber hier
die Mittelmaͤßigkeit der Staͤrke dennoch einigermaaſſen
noch da, weil eine ſtaͤrkere Empfindung den Menſchen zu
erwachen noͤthigt. So hebt eine Aengſtlichkeit, wenn ſie
die Seele durch viele Jrrgaͤnge der Traͤume verfolgt hat,
endlich, ſobald ſie auf das hoͤchſte geſtiegen, den Schlaf
auf, und wir erwachen. Eben dieſes thut die verliebte
Luſt bisweilen, wenn ſie eben ihren groͤſten Grad errei-
chen will.
Jn den Traͤumen treffen wir noch einige Empfindun-
gen und Gedanken an: aber auch in dem wirklichen Schla-
fe iſt die Ruhe nicht ſo gros, daß nicht ein groſſer Theil
des menſchlichen Koͤrpers noch ſeine Bewegungen fortſez-
zen ſollte.
So ſchlaͤgt das Herz im Schlafe noch (f), wie wir
anders wo gezeigt haben: wir holen Athem (g), es hat,
wenigſtens oft die periſtaltiſche Bewegung ihren Fortgang:
und es hoͤret die Bewegung des Blutes, des Chili, und
der duͤnnern Saͤfte, ob dieſes gleich langſamer geſchicht
(h), dennoch nicht auf. Doch es geſchehen auch einige
willkuͤrliche Bewegungen, und man ſieht Geberden, wo-
durch ſich die Affekten ausdruͤkken, und Menſchen und
Thiere eſſen, ja ſo gar aͤuſſern dieſes manche Menſchen
noch heftiger.
Einige Pferde ſchlafen ſtehend (h*), und die Kinn-
bakken ruhen bei uns im Schlaafe (h**). Wenn man
ſchla-
[1182]Der Schlaf. XVII. Buch.
ſchlafende Menſchen reizzet, ſo wenden ſie oft die Hand
dahin, wo ſie ſich gereizzt befinden (i). Kinder, denen
man im Schlafe das Nachtgefaͤſſe unterhaͤlt, gehorchen
(k) dem Triebe, den ſie fuͤhlen, und ſtrengen ihre Muſ-
keln, den Harn fortzutreiben, an. Es verlezzte jemand
ſeinen Freund mit einem Dolche, da er ſeinen Feind zu
erſtechen glaubte (l). Oft hoͤret man Leute im Schlafe
klaͤglich ſeufzen und weinen; und auch Redende, welche
alle ihre Heimlichkeiten offenbaren.
Vom dem Zuſtande dieſer Menſchen ſind die Nacht-
wandrer nur um wenig Grade unterſchieden, eine Art
der Krankheit die oft vorkoͤmmt (m). Es verrichten dieſe
Leute nach Proportion der Traͤume, womit ſich die Seele
alsdann zu thun macht, ſolche willkuͤrliche Bewegungen,
als die Spuren, ſo die Seele beſchaͤftigen, erfordern. Die
Geſchichten ſind ohne Ende; aber darinnen kommen alle
mit einander uͤberein, daß ſie mit geſchloſſnen Augen aus
dem Bette aufſtehen, und tief ſchlafend, in ihren Schlaf-
zimmern, und in ihren Haͤuſern herum gehen, nicht leicht
auf ihrem Wege verirren (n), oder anſtoſſen, und auch
durch gefaͤhrliche Fenſter ſteigen (o), und auf Daͤchern
reiten. Doch ſie unternehmen auch noch ſchwerere Dinge
Sie ziehen ſich Kleider an, gehen aus den Haͤuſern (p),
zuͤnden Lichter an (q), ſteigen mit ausgezognen Kleidern
in Baͤder (q*), pruͤgeln (r), zaͤumen Pferde auf, machen
ſich
[1183]III. Abſchnitt. Der Schlaf.
ſich auf die Reiſe (s), ſchreiben, machen Verſe (t),(u),
verrichten ordentlich allerlei Geſchaͤftte, die im menſchlichen
Leben vorkommen (x), und beweiſen darinnen eine Scharf-
ſinnigkeit (y).
Unterdeſſen ſchlafen ſie feſte, entweder mit geſchloſſnen,
oder doch mit offnen Augen, womit ſie aber nicht ſehen,
ihr Regenbogen (y*) iſt richt reizzbar, der Puls ſchlaͤgt (z),
wie im Schlafe, ſchwaͤcher, und es hoͤren alle Sinne auf
(a). Sie laſſen ſich auch nicht leicht erwekken, und nicht
einmal vom Tabak, oder in die Naſe geſtekkte Federn,
noch durch Slaͤge (b).
Wenn ſie erwachen, ſo mus man ſich wundern, daß
ſie von dem Geſchehenen nichts wiſſen (c), da wir doch
Traͤume ſo gut behalten koͤnnen, daß Epiktet, nnter
ſeinen Klugheitsregeln auch dieſe mit ſezzt, daß man ſeine
Traͤume kemen wieder erzaͤhlen muͤſſe.
Es koͤmmt hierbei nichts unglaubliches vor, und man
trift nur mehr willkuͤhrliche Bewegungen, als gewoͤhn-
lich ſind, im Schlafe an; theils weil dergleichen Men-
ſchen, uͤberhaupt, vermoͤge ihres Temperamentes, ſolche
Affekten in ſtaͤrkern Grade empfinden, theils weil zu ſol-
cher Zeit dieſer Affekt kraͤftiger wirkt, und dennoch die
Urſache zu ſchlafen ſo bindend iſt, daß dieſer Affekt den
Menſchen nicht aufzuwekken vermag. Es mus, mit einem
Worte, in einem Theile des Gehirns, eine lebhafte Be-
wegung vorgehen, da der ganze uͤbrige Theil in Ruhe iſt.
Und auf ſolche Art muͤſſen, Kraft des lebhaften Willens,
Bewe-
[1184]Der Schlaf. XVII. Buch.
Bewegungen erfolgen, die dieſer Kraft unter geordnet
ſind, wobei dennoch der Schlaf fortdauren kann. Sie
helfen ſich uͤbrigens auf ihren Wanderungen mit dem Fuͤh-
len, und kennen bereits die Winkel ihrer Stuben, ſo wie
wir im Wachen durch finſtre Oerter zu gehen pflegen.
Jndeſſen hat doch dieſe Krankheit, wegen des ſehr
heftigen Affekts, und weil in einem Theile des Gehirns
ſolche gewaltfame Bewegungen vorgehen, vieles mit dem
Wahnwizz gemein, ſie ſchlaͤgt leichtlich in eine wirkliche
Tollheit aus (d), und man bezwinget ſie eben ſowol durch
Schlaͤge, oder ſtarke Furcht, welche dieſen ſonderbaren
Affekt baͤndigen kann (e).
Ende des fuͤnften Bandes.
An tollen Perſonen iſt das Gehirn oft harte Mor-
gagn. ſed cauſ. I. pag. 55. 58. 159. dieſes befand
ſich auch an einem von beruͤhmten Pringle geoͤffne-
ten Menſchen, davon er mir die Geſchichte freund-
ſchaftlich mitgetheilt.
An tollen Leuten ſind oft die Gefaͤſſe der duͤnnen
Gehirnhaut der Rinde des Markes voller Blut
Sau-
[[1229]]zu dieſem Bande.
Sauvages noſol. Tom. II. P. 2. pag. 372. Bader
obſ. 26. Morgagn. l. c. I. pag 56. Nicht ſelten
findet man in der Zirbeldruͤſe Steine. Mekel Mem.
de Berlin Tom. X. doch nicht beſtaͤndig Morgagn.
l. c. II. pag. 406. Sonſt im Gehirn geſchwollne
Druͤſen. Ebendaſ. pag. 54. An Waſſerſcheuen
ſind auch die Gehirngefaͤſſe voller Blut. Mead
Morgag. ſed cauſ. I. pag. 63.
Opium macht die Muſkeln ſchlaff, und man konnte
bei deſſen Gebrauche eine eingetriebne Bleykugel her-
ausziehen. Martini Streitſchrift pag. 28. es er-
ſchlaft den ganzen Koͤrper Awiſter pag. 57. Da-
her
[[1230]]Zuſaͤzze zu dieſem Bande.
her giebt man es im tetano. Und doch macht Opium
im Magen Hitze, p. 22. entzuͤndet denſelben p. 27.
und ſeine Kraft koͤmmt auf ein corroſives Oel an,
und auf ein fluͤchtiges Salz, pag. 31.
Von zu haͤufigen Gebrauche des Opium wurde der
Puls ſtaͤrker; med. muſ. I. n. 1. der Puls ge-
ſchwinder, Tralles inſit. variol. pag. 276 und zu-
nehmend, obgleich der ganze Koͤrper fror, und oh-
ne Pulsſchlag war. Idem pag. 277. erhizzt uͤber-
haupt epiſt. apologet. Von einer ſtarken Doſe
Opium ein tiefer Schlaf, und doch ein groſſer und
ſchneller Puls G Smellie caſ. III. pag 539. End-
lich geſtehet der beruͤhmte Whytt daß ein maͤßiger
Gebrauch des Opii Hizze, und einen vollern Puls
macht pag. 284.