NUnmehr will ich euch, mein wertheſter
Freund, meine Gedancken von der Spra-
che und der Gelehrſamkeit der Deutſchen
in den ſchoͤnen Wiſſenſchaften offenhertzig erklaͤ-
ren. Werdet ihr mir nicht Danck davor wiſ-
ſen? Oder ſeyd ihr uͤber dieſe Stuͤcke ſo ſchwie-
rig, als eure Landsleute insgemeine ſind? Jch
fuͤrchte ſchier, ja. Jch kan mir ſchon vorſtellen,
daß ihr mir den Verweis gebet, den ein junger
Sclave beym Petronius einem frechen jungen
Menſchen gegeben hat: Tu lacticuloſus nec
mu nec ma arguͤtas! Was wollet ihr ſagen,
ihr koͤnnet mit groſſer Muͤhe zwey Worte in dem
Deutſchen plappern, und ihr wollet euch zum
Richter in dieſer Sprache aufwerffen? So
uͤbel gegruͤndet dieſer Verweis waͤre, wuͤrde er
mich doch nicht ſonderlich befremden.(a) Schier
alle Deutſchen geben dieſe rechtliche Antwort de-
A 3nen
[6]Mauvillons Brief
nen Auslaͤndern, die uͤber ihre Sprache urthei-
len wollen. Sie werffen euch gleich vor, ihr
verſtehet ſie ja nicht. Wuͤrdet ihr ſie beſſer re-
den, als Cicero Latein geredet hat, ſo verſteher
ihr ſie nicht, wenn ihr ſie nicht erhebet.
Aber nur ein wenig Geduld, ſo will ich euch
uͤberzeugen, daß ich dieſen Filtz nicht verdiene.
Jch bekenne, es ſind viel Auslaͤnder, und vor-
nehmlich viel Franzoſen, welche kein deutſches
Wort verſtehen, und doch von dieſer Sprache
nach ihrem Kopfe reden. Sie ſagen nie was
gutes von ihr, und wenn man nachſinnet, wo-
her das komme, ſieht man bald, daß ſie aus
anderer Leute Munde reden, oder daß ſie dieſe
Sprache nur aus Verdruſſe verachten, weil ſie
dieſelbe nicht haben lernen koͤnnen. Da ich mir
eine Ehre darinnen ſuche, daß ich nichts ohne
Beweis vorbringe, ſo will ich auch meine Ur-
theile auf weit feſtere Gruͤnde ſetzen. Jhr ſollet
mir zum wenigſten zugeſtehen, daß ich keinen
Schluß auf die ungewiſſen Vorurtheile des Poͤ-
bels ſetze, ſondern einige Einſicht in die Natur
der Sache ſelbſt zum Grund lege.
Die meiſten Deutſchen, nemlich ſolche, die
es in den Wiſſenſchaften nicht hoch gebracht ha-
ben, wollen behaupten, b daß ihre Sprache
ſo alt ſey, als die lateiniſche. Andere, die mehr
Einſicht haben, geſtehen, daß man allererſt um
das Jahr 1350. angefangen, die deutſche Spra-
che mit einiger Richtigkeit zu reden; daß ſie
zuvor nur ein wuͤſter u. rauher Miſchmaſch gewe-
ſen ſey, unzaͤhlige Mundarten ſeyn durch einan-
der vermiſcht worden, vornehme Leute haben
ſie nicht geredet, ſie ſey auch aus den oͤffentlichen
Urkunden verbannet geweſen. Noch andere glau-
ben, man habe ſchon im Jahr 1235. oder 1236.
angefangen, ſie auf den Reichstagen, in den
Reichskammern, und der Reichscantzley zu ge-
A 4brau-
[8]Mauvillons Brief
brauchen. Man fuͤhrt zum Beweiſe die Con-
ſtitution von Mainz an, welche in Goldaſts
Sammlung deutſcher Urkunden enthalten iſt.
Allein die Authenticitaͤt derer Stuͤcke, wel-
che dieſer Sammler zuſammengeleſen hat, ſcheint
mir um etwas verdaͤchtig, (c) und man thut
wohl, wenn man ſich nicht allzu ſtarck darauf
verlaͤßt. Nichtsdeſtoweniger iſt die deutſche
Sprache unter allen Europaͤiſchen Sprachen, ſo
fern ſie nach ihrem gegenwaͤrtigen Zuſtande be-
trachtet werden, die aͤlteſte. Sie iſt die aͤlteſte,
ſagt Gracian, aber auch die roheſte. Gracian
hat nicht unrecht, mein Freund, welches ich euch
aber ins Ohr ſage. Die Barbarey einer Spra-
che beſteht eigentlich in der Haͤrtigkeit ihrer Woͤr-
ter und der beſchwerlichen Ausſprache. Der erſte
von dieſen beyden Maͤngeln bezieht ſich auf die
Ohren, der andere auf die Lungen. Jch bin
nunmehr eine ziemlich lange Zeit in Deutſchland,
und dennoch habe ich meine Ohren noch nicht ſo
ſteif und gefroren machen koͤnnen, daß ſie nicht
auf Anhoͤren der meiſten deutſchen Woͤrter ein
Schauer uͤberfalle; und meine Lungen ſind von
euren K und H erſchrecklich aufgetrucknet wor-
den.
Man wirfft mir ein: (d)
„Dieſe Woͤrter
„ſcheinen euch nur darum hart, weil ihr ge-
„wohnt ſeyd, andere, die euch ſanfter duͤncken,
„zu hoͤren; fuͤr einen Deutſchen aber ſind jene
„ſo wenig anſtoͤſſig, als dieſe.„
Wenn dem
alſo iſt, ſo bleibt mir nichts weiter uͤbrig zu ſa-
gen, als daß die Deutſchen nothwendig ſchuß-
freye Ohren haben muͤſſen; denn ihr werdet
mich zu keinen Zeiten uͤberreden, daß Woͤrter,
die in ſtrif, ſtraf, miſch, maſch, tiſch, taſch,
ruft, luft, kinn, kan, kom, brick, brack,
ausgehen, ſonderlich ſanft klingen, und daß ei-
ne Sprache, in welcher dergleichen Endungen
gantz haͤufig angetroffen werden, den Ohren an-
ſtaͤndig ſey, wofern ſie nicht mit einem Pantzer
angethan ſind.
Man ſagt, in Leipzig ſey eine Geſellſchaft ge-
lehrter Leute, welche unaufhoͤrlich bemuͤht ſeyn,
(e) die deutſche Sprache vollkommener zu ma-
A 5chen.
[10]Mauvillons Brief
chen. Jch will glauben, daß ſie ſelbige reicher
machen werden, aber ich zweifle ſehr, daß ſie
ihre Natur aͤndern werder, die darinnen beſteht,
daß ſie rauh und barbariſch iſt. Sonſt fraget es
ſich, mit was vor Recht dieſe Herrn ihre Aus-
ſpruͤche vor Geſetze aufdringen wollen. Wer hat
ſie zu Richtern uͤber die deutſche Sprache geſetzet?
Niemand als ſie ſelber. Auf was vor einen
Grund verlangen ſie, daß man es auf ihre Ent-
ſcheidung ankommen laſſe? Vielleicht wegen ih-
rer Geſchicklichkeit, und weil ſie uns ſagen, daß
man in Sachſen beſſer (f) Deutſch redet, als
an andern Orten des deutſchen Reiches? Aber
die
8
[11]von der deutſchen Sprache.
die Oeſterreicher raͤumen ihnen dieſes nicht ein.
(g) Sie behaupten hingegen, daß man die rei-
ne Sprache bey ihnen antreffe, und (h) daß
man unter ihnen gelehrte Maͤnner kenne, die das
Rich-
11
[12]Mauvillons Brief
Richteramt in dieſer Streitſache ſchon vertreten
koͤnnen. Die Bayern, die Brandenburger, ja
die Schweitzer (i) ſelber haben eine rechtmaſſige
Anſprache auf dieſes Vorrecht. Es geht ſchwer
zu, daß eine Nation, die ſo viel Provinzen, die
einan-
13
[13]von der deutſchen Sprache.
einander nichts zu befehlen haben, in ſich enthaͤlt,
ſich den Ausſpruͤchen etlicher weniger Gelehrten
unterziehe. Da die Deutſchen ſich in ihren
Staatsangelegenheiten ſo ſchlecht mit einander
verſtehen, werden ſie uͤber grammatiſche Schwie-
rigkeiten noch ſtaͤrcker mit einander uneins wer-
den. Mit den Franzoſen hat es desfalls eine
an-
14
[14]Mauvillons Brief
andere Beſchaffenheit, ſie machen nur eine Na-
tion aus, ſo groß ihr Reich gleich ſeyn mag;
und die franzoͤſiſche Academie iſt von dem Lan-
desherrn dazu bevollmaͤchtiget, daß ſie dem
Gebrauche der Sprache Schrancken ſetze. Man
muß ihren Ausſpruͤchen Folge leiſten, oder in der
ſranzoͤſiſchen Sprache unerfahren heiſſen.
Die Muͤhe, welche alle Nationen haben, das
Deutſche zu lernen, (k) iſt ein ſtarcker Beweis
ſeiner Barbarie. Jch kenne Franzoſen, welche
mehr
16
[15]von der deutſchen Sprache.
mehr als vierzig Jahre in dieſem Lande ſind,
und doch nicht drey Worte auf Deutſch ſagen
koͤnnen. Wer iſt Schuld daran? Sie oder die
Sprache? Sie nicht, denn wer will ſich ein-
bilden, daß ſich nicht unter einer ſolchen Menge
Leute einige finden, welche nicht eine ſo gelen-
kige Zunge und einen ſo lebhaften Kopf haben,
daß ſie eine Sprache reden lernen, wofern ſol-
che geredet werden kan? Jch vor mein Theil
bekenne, daß ich ungemeine Muͤhe gehabt habe,
in eurer Sprache ſchnattern zu lernen. Dero-
wegen muß man nur dieſelbe dieſer beſchwerli-
chen Arbeit anklagen. Jezo will ich noch ande-
re Beweisthuͤmer bringen.
Neben der rauhen Ausſprache giebt denjeni-
gen, die ſich auf die deutſche Sprache legen, nur
damit ſie die Buͤcher verſtehen, ohne daß ſie
eben darinnen reden lernen, die ſchwere Zuſam-
menſetzung viel zu ſchaffen. Dieſe Beſchwerde
iſt ſo groß, daß weder das Griechiſche noch das
Hebraͤiſche dem menſchlichen Verſtand etwas ſo
ſchweres zumuthet. Man zeige mir in dieſen
beyden Sprachen eine Schwierigkeit, welche
derjenigen zu vergleichen ſey, die man mit euren
Vorſetzwoͤrtern an, zu, auf, durch, aus, und
andern hat, die ſich von dem Zeitworte tren-
nen laſſen, und ſich zwar ſo weit von ihm tren-
nen
17
[16]Mauvillons Brief
nen laſſen, daß man ſie oft zu Ende einer Seite
ſuchen muß, ehe man den Verſtand in der Rede
finden kan. Andremahl ſetzet man ſie mitten in
einem Satze der Rede, oft vorne am Zeitwort,
dem ſie zukommen, ohne daß man deßwegen ei-
ne ſichere (l) und allgemeine Regel habe, wie
man damit verfahren ſolle. Bald bedeuten ſie
etwas, bald was anders. Zum Exempel, Ver
giebt den Zeitwoͤrtern, zu welchen es geſetzet
wird, ich weiß nicht wie vielerley Bedeutungen.
Setzet es zu ſaufen, ſo wird es bedeuten ſich zu
Tode ſaufen. Greifen heißt ſo viel als nehmen,
ſaget vergreifen, ſo iſt das ſo viel, als eine
Sache nicht am rechten Orte noch mit Recht neh-
men. Ver zu geben geſezt, vergeben, heißt ver-
zeihen. Jhr ſehet, wie viel verſchiedene Be-
deutungen dieſes Vorſetzwort den Zeitwoͤrtern
giebt, zu denen es geſtellt wird: Bald macht
es, daß ſie mehr, bald daß ſie das Gegentheil
von dem ſagen, was ſie ſonſt ordentlich ſagen.
Jm Franzoͤſiſchen iſt es anders, das Vorſetz-
wort Des heißt allemahl das Gegentheil, und
niemahls was anders, apprendre, deſappren-
dre; unir, deſunir, \&c.
Die Deutſchen ſuchen einen Ruhm darinnen,
daß ſie ihre Sprache mit fremden Woͤrtern nicht
vermiſchen. Vor etlichen Jahren ſagte man
nicht vier Worte im Deutſchen, daß man nicht
zwey franzoͤſiſche haͤtte mitlauffen laſſen. Das
war damahls die herrſchende Mode. Die Ge-
lehrten verwarffen dieſen Mißbrauch, eine un-
endliche Menge platter Narrenpoſſen kam zum
Vorſchem, womit man ihn laͤcherlich machen
wollte. Ein groſſer Herr machte ein Staats-
geſchaͤfte daraus, (ll) und verbot bey einer ſtar-
ken Geldſtraffe, daß franzoͤſiſche Woͤrter unter
Bdie
[Crit. Sam̃l. V. St.]
[18]Mauvillons Brief
die deutſchen gemiſcht wuͤrden. Was entſtuhnd
daher? Man mußte fuͤr die ausgemerzten Woͤr-
ter neue erfinden, (m) man vermehrte die
Schwierigkeiten und Undeutlichkeiten, weil die-
ſe neugepraͤgten Woͤrter aus vielen andern zu-
ſammengeſezt ſind, die ſo zuſammengeſezt nur
eine fluͤchtige und allgemeine Bedeutung formie-
ren. Zum Exempel, die Deutſchen brauchten
vor dieſem unſer Wort Lakey, einen Hausge-
noſſen zu bezeichnen, der ſeinem Herrn folget,
wenn er ausgehet: izt ſagen ſie Nachtreter. Jſt
etwas
[19]von der deutſchen Sprache.
etwas weniger beſtimmtes auf der Welt? Fragt
man nach der Urſache dieſer Ausmerzung, ſo
ſagen ſie uns: Unſre Sprache hat einen ſolchen
Ueberfluß an eigenen Woͤrtern, daß ſie des Bey-
ſtandes anderer Sprachen nicht noͤthig hat. Das
iſt falſch. Die deutſche Sprache iſt bey allem
ihrem Ueberfluſſe gantz arm. Wie reimt ſich
das zuſammen? Jch will es ſagen. Es giebt in
dieſer Sprache viele Woͤrter, die nur eine Sache
bedeuten; hingegen giebt es unzaͤhlige Sachen,
die im Deutſchen keinen Nahmen haben, und
die man mit fremden Woͤrtern benennen muß,
oder doch mit Umſchreibungen (n) oder zuſam-
B 2ſam-
22
[20]Mauvillons Brief
mengeſezten Woͤrtern. Was die Deutſchen
vermag, die auslaͤndiſchen Woͤrter zu verwerf-
fen, iſt nichts anders, als daß die deutſche En-
dung etwas ſo ſonderbares hat, daß ſie mit den
Endungen der fremden Woͤrter nicht zurechte
kommen kan. Jm Franzoͤſiſchen findet man die
fremden Endungen zu ſeinem Gebrauche ſehr be-
quem, man macht nur eine kleine Aenderung
daran; kurtz man giebt ihnen ein franzoͤſiſches
Ausſehen, daß es ſchwer faͤllt, ihren Urſprung
zu erkennen. Da nun die franzoͤſiſche Sprache
viele ſanfte und leichte Endungen hat, ſo kan
ſie ſich die Woͤrter anderer Sprachen eigen ma-
chen, und ſie ſo geſchickt naturaliſieren, daß man
daͤchte, ſie haͤtten ihr von Alters her zugehoͤret.
Mit dem Deutſchen hat es eine andere Bewandt-
niß. Die Endungen darinnen ſind in ſehr klei-
ner Anzahl, und ſind daneben ſo wild, daß man
unmoͤglich fremde Woͤrter darauf pfropfen kan.
Alle deutſchen Zeitwoͤrter, nicht ein einziges aus-
genommen, enden auf en, die meiſten Haupt-
woͤrter auf aft, und die Beywoͤrter auf lich.
Jn Anſehung der erſten helffen ſie ſich ziemlich
gut,
23
[21]von der deutſchen Sprache.
gut, indem ſie nur iren hinten an alle fremden
Zeitwoͤrter ſetzen; allein dieſe iren kommen ſo
haͤufig wieder, daß ſie eine ſehr widerliche Gleich-
heit im Tone verurſachen. Was die Haupt-
woͤrter und Beywoͤrter belangt, ſo ſie aus den
fremden Sprachen nehmen, ſo haben ſie im
Deutſchen keine angenehmere Wuͤrckung, weil
man genoͤthiget iſt, ihnen ihre eigene Endung
zu laſſen, welches einen laͤcherlichen Uebelton
verurſachet.
Jrre ich nicht, ſo iſt dieſes die wahre Urſache,
daß die Deutſchen den auslaͤndiſchen Woͤrtern
keinen Platz in ihrer Sprache einraͤumen wollen,
wenn dieſe ihnen gleich anſtaͤndig genug ſind.
Es iſt ein bloſſer Eigenruhm, daß die deutſche
Sprache ſo reich ſey, daß ſie nicht (o) noͤthig
habe, etwas von fremden zu entlehnen. Die
B 3reich-
[22]Mauvillons Brief
reichſten Sprachen ſind voll fremder Ausdruͤcke,
die griechiſche Sprache ſelbſt iſt davon nicht ge-
ſaͤubert. Ein vornehmer Verſtaͤndiger in der-
ſelben, der Hr. Dacier, ſagt es; und wenn
man die Muͤhe nehmen will, ſich in der deutſchen
Sprache umzuſehen, ſo wird man bald wahr-
nehmen, daß viele Woͤrter darinnen, die man
ihr ohne Bedencken als ihr eigen zuſpricht, von
dem Lateiniſchen entſpringen. Es iſt offenbar,
daß
25
[23]von der deutſchen Sprache.
daß Schreiben von Scribere;Leſen von Lege-
re;Arm von Armus;Spatzieren von Spatiari,
kommen: Und ſo iſt es mit noch unzaͤhligen be-
ſchaffen.
Jch wuͤrde euch zu verdruͤßlich fallen, wenn
ich mich weiter uͤber dieſe Materie einlaſſen woll-
te. Ehe ich aber ſchlieſſe, muß ich euch ein Paar
Worte von den Schoͤnheiten der deutſchen Spra-
B 4che
26
[24]Mauvillons Brief
che ſagen; denn es ſind nicht alles Maͤngel in
derſelben. (p) Das Deutſche hat die Freyheit,
wie das Lateiniſche, daß es ſeine Wortfuͤgun-
gen aͤndern kan. Jch habe davon in meinem
Briefe von der franzoͤſiſchen Sprache ein Paar
Worte 28 geſagt.
Neben dieſem Vortheil hat die deutſche Spra-
che noch dieſen, daß ſie reicher iſt, ungeachtet ſie
nicht gleich ſo viel Sachen mit eigenen Nahmen
geben kan. Ferner hat ſie das Privilegium,
daß ſie ſich nicht an gewiſſe Ausdruͤcke vor andern
binden darf. Zum Exempel wenn man ſagen
B 5will:
29,(pp)
[26]Mauvillons Brief
will: Man hat ihn getoͤdet, ſo kan man wohl
ſagen, man hat ihn abgethan. Die Lateiner
ſagten: Man hat ihn kalt gemachet; und im
Deutſchen bedient man ſich dieſes Ausdruckes
ebenfalls, und noch vieler andern, die eben daſ-
ſelbe ſagen. Was der Deutſche ausdruͤcken kan,
das druͤckt er auf verſchiedene Weiſe aus, und
darf weder die Puriſten noch die ſpitzfuͤndigen
Koͤpfe fuͤrchten, die nichts als tadeln koͤnnen,
und mehr auf dem halten, was in der Sprache
neu, als auf dem, was darinnen bequem und
brauchbar iſt. Die Deutſchen koͤnnen in ihrer
Sprache ma Sororité ſagen, wenn ſie alle ihre
Bruͤder und Schweſtern andeuten wollen; ma
Valetterie, wenn ſie ſagen wollen, alle meine
Knechte. Nichts ſteht ihnen im Wege, daß ſie
in dem gemeinen Umgange Woͤrter ſchmieden,
und niemand widerſezt ſich ihnen, ſtatt daß un-
ter unſren Franzoſen allemahl irgend ein kleiner
Hofmeiſter iſt, der euch bey allen Redensarten
ins Wort faͤllt, euch zu erinnern, daß dieſes
und jenes Wort dem herrſchenden Gebrauche zu-
wider laͤuft.
Jn der deutſchen Sprache geht es auch an,
ſo wohl als in der griechiſchen, daß man ein
Wort aus viel andern zuſammenſetzen, und die-
ſe zuſammengeſezten Woͤrter ohne Ende vermeh-
ren kan. Sie iſt voller verkleinernder Woͤrter,
und es iſt kaum ein Wort, aus welchem ſie mit-
telſt Zuſetzung der Sylbe gen, oder lein, nicht
ein verkleinerndes machen koͤnne. Waͤre ſie
bey allen dieſen Vortheilen ſo ſanft, ſo zierlich,
und
[27]von der deutſchen Sprache.
und ſo praͤchtig, als die franzoͤſiſche, ſo koͤnnte
ſie der griechiſchen und der lateiniſchen beykom-
men. Aber weit gefehlt, daß ihr dieſe Eigen-
ſchaften zukommen. Jhre verkleinernden Woͤr-
ter ſind oͤfters harter, als die urſpruͤnglichen;
und es iſt etwas widerliches, daß man auf eine
ungemeine Weiſe mit der Bruſt arbeiten muß,
die meiſten deutſchen Woͤrter auszuſprechen, es
ſey denn, daß man ein gebohrner Deutſcher ſey.
Die Gewohnheit eurer Deutſchen, die Auslaͤn-
der, die ihre Sprache reden wollen, ins Ange-
ſicht auszulachen, iſt auch nicht das rechte Mit-
tel ihnen einen Muth zu machen.
Jch habe Deutſche geſehen, die ſich ſehr breit
damit macheten, daß es andern Nationen ſo
ſauer wird, ihre Sprache zu reden; und die aus
Furcht, daß ſie keine wuͤrcklichen Schoͤnheiten
darinnen finden moͤgten, ſich damit behalffen,
daß ſie dieſen Fehler als etwas ſchoͤnes anprie-
ſen. Viel deutſche Gelehrte haben mir gantz
dreuſte geſagt, die franzoͤſiſche Sprache verdien-
te nicht, daß man ſie lernete, weil ſie ſo gar
leicht waͤre. Sonſt hatte ich allezeit geglaubt,
die allzu ſchweren und muͤhſamen Sprachen ver-
dienten nicht, daß man ſich bemuͤhete, ſie zu
lernen.
Der Fuͤrſt von … ſagte eines Tages zu mir,
es verdroͤſſe ihn, daß er Franzoͤſiſch gelernt haͤtte,
weil es allzu gemein worden waͤre. Demnach
muͤßte man im Gegentheil nur die unbekannten
Sprachen lernen, und alſo haͤtte dieſer Herr
das Bas-Breton lernen ſollen. Jhre Hoheit
war
[28]Mauvillons Brief
war weit nicht der Meinung derjenigen Gelehr-
ten, welche ſich bemuͤheten, eine Sprache zu er-
finden, die aus ſehr wenig leichten Woͤrtern be-
ſtuͤhnde, damit alle Nationen ohne Dollmetſchen
mit einander handeln koͤnnten. Zu dem Ende
haͤtte man gegen alle vier Winde Leute ausſchi-
ken muͤſſen, welche dieſe Sprache vollkomment-
lich beſeſſen, damit ſie in ſelbiger die Leute unter-
richteten, die zur Kaufmannſchaft gewidmet wa-
ren, oder auf Geſandtſchaften ſollten gebraucht
werden. Waͤre dieſes Vorhaben ausgefuͤhrt wor-
den, ſo duͤrfte der Wieneriſche Hof nicht junge
Leute nach Conſtantinopel ſchicken, die tuͤrckiſche
Sprache zu lernen. Der groſſe Herr, von dem
ich geredet habe, haͤtte vermuthlich dieſes Vor-
nehmen und dieſe Sprache mit noch groͤſſerer
Hitze verworffen, weil ſie zweifelsfrey noch weit
gemeiner worden waͤre, als die franzoͤſiſche
Sprache.
Man kan nicht leugnen, daß die ernſthaften
Sprachen, wie die deutſche von dieſer Art iſt,
nicht ſollten langſam und deutlich geredet wer-
den. Jndeſſen reden die Sachſen mit einer ge-
ſchwinden Ueberweltzung (q) der Woͤrter, wel-
che etwas ſtammelndes mit ſich fuͤhrt; und alle
andere
[29]von der deutſchen Sprache.
andere Deutſchen koͤnnen ſie nicht verſtehen.
Sie thun dieſes, damit ſie ihrer Sprache etwas
ſanftes mittheilen, das ihr nicht eigen iſt, und
ſie verderbt. Man muß den Franzoſen und den
Jtalienern das Lebhafte und das Sanftflieſſende
in der Sprache laſſen; aber das Deutſche und
das Spaniſche muß man mit Ernſt und Hoheit
reden, wenn man ſie nach ſeiner Wuͤrde reden
will; ſonſt bekommen ſie durch eine Fluͤſſigkeit
der Ausſprache, die ihnen nicht natuͤrlich iſt,
ein gantz laͤcherliches Ausſehen.
EUre Nachbarn haben ſich bisdahin einge-
bildet, eure Sprache waͤre Schuld dar-
an, daß ihr keine guten Poeten haͤttet.
Jn dieſen Gedancken ſteht der Urheber der Juͤ-
diſchen Briefe, der, wiewohl er ſonſt viel gu-
tes hat, ſich in dieſem, wie in viel andern Din-
gen, betrogen hat. Giebt es denn eine Spra-
che in der Welt, die einen treflichen Poeten aus
einem Menſchen machen koͤnne, der von Natur
kein Geſchicke dazu hat? Man muͤßte thoͤrigt
ſeyn, wenn man dieſes nur gedencken wollte.
Und wie kan man begreiffen, daß eine Sprache
ſey, die erhabenen Geiſtern im Wege ſtehe,
und ſie hindere, daß ſie ſich nicht emporſchwin-
gen koͤnnen? Demnach muͤſſen es eure Poe-
ten nicht der deutſchen Sprache zur Laſt legen,
daß ſie in einem ſo ſchlechten Anſehen ſtehen. Es
fehlt ihr weder an Nachdruck noch an Ausdruͤ-
kungen. Sie klingt zwar nicht lieblich in den
Ohren; aber was thut das dem ſchoͤnen Gedan-
ken, und der geſchickten Ausbildung derſelben?
Beſteht etwann die Schoͤnheit der Poeſie uͤber-
haupt nur in der Lieblichkeit der Sprache; und
nicht vielmehr in gruͤndlichen Gedancken, in arti-
gen und geſchickten Ausbildungen? Wer darf
nun behaupten, daß die deutſche Sprache ſich
zu dieſen Sachen nicht ſchicke? Hat ſie denn
eine
[31]von den deutſchen Poeten.
eine Abneigung dagegen? Und woher koͤmmt
dieſe?
Was fehlt Deutſchland denn, daß es keine
groſſen Poeten hervorbringt? Nichts als Geiſt.
(A) Haltet mir es zu gut, was ich zum Beweiſe
deſſen ſagen muß. Die Deutſchen ſind anſehn-
liche
[32]Mauvillons Brief
liche Maͤnner, ſie ſind groß, wohlgeſtaltet, und
von ſtarcken Gliedmaſſen; aber mit ihrer Ver-
guͤnſtiguug zu ſagen, das Spruͤchwort luͤget ſie
noch nicht an, homo longus, raro ſapiens.
Die Natur hat ſie mit den Vortheilen des Coͤr-
pers zum Ueberfluſſe begabet, es waͤre zuviel ge-
weſen, wenn ſie ihnen auch noch Witz und Geiſt
eben ſo reichlich zugetheilt haͤtte. Sie iſt zu klug,
als daß ſie ſo viele treffliche Sachen zuſammen
nur bey einer Nation anwende, welche ohne das
zum Hochmuth gar zuſehr geneigt iſt.
Ruͤhmet die Geſtalt der Deutſchen, ihre Staͤr-
ke, ihre Leibeskraͤfte; ich will euch das alles ein-
raͤumen: Aber ſaget mir nicht, daß ſie Geiſt
und Witz haben, wenn ich mit euch eins werden
ſoll. Mithin muͤſſet ihr euch auch nicht einbil-
den, daß nur die Franzoſen auf dieſe Weiſe von
euren Nation urtheilen. Das eben angefuͤhrte
lateiniſche Spruͤchwort iſt aus einem ſpaniſchen
Scribenten hergenommen, der es bey einer glei-
chen Gelegenheit angezogen hat. Wollet ihr es
lieber auf das Zeugniß eines Engellaͤnders an-
kommen laſſen, ſo vernehmet, was der Ver-
faſſer des Maͤhrgens von der Tonne, der bey je-
dermann ſo viel gilt, dazu ſagt: (B)
„Die
„ſchoͤnſten Erfindungen ſind in denen Zeiten ge-
„macht worden, da die Unwiſſenheit auf das
„hoͤchſte geſtiegen geweſen, zum Exempel der
„Compaß, das Schießpulver, die Buchdru-
„kerey, und dieſe hat die dummeſte Nation,
„nemlich die D. … aus der Finſterniß an
„den Tag hervorgezogen.„
Jch habe nicht einen Buchſtaben aus dem
meinigen hinzugeſetzet; indeſſen ſehet ihr wohl,
daß man nicht deutlicher reden kan. Aber wa-
rum haben die Deutſchen nicht ſo viel Witz, als
andere Nationen? Jſt der Himmelsſtrich
Schuld? Traͤgt dieſer etwas dazu bey? Oder
ihr gewoͤhnlicher Tranck? Nein, denn wie viel
Deutſche giebt es nicht, die nur Wein aus
Champagne trincken, und die doch deßwegen
nicht eine Unze mehr Witzes haben. Der beſte
Grund, den man hievon geben kan, wird wohl
dieſer ſeyn, daß es nicht der Geſchmack der
Deutſchen ſey, (C) Geiſt zu haben, daher die-
jenigen
37
[35]von den deutſchen Poeten.
jenigen unter ihnen, welche Geiſt haben, denſel-
ben verabſaͤumen, und gemeiniglich verderben,
indem ſie ſich auf eitele Wiſſenſchaften von elen-
C 2dem
38
[36]Mauvillons Brief
dem Geſchmacke legen. (D) Eure meiſten Ge-
lehrten beſchaͤftigen ſich Anagrammata, oder,
was noch kindiſcher iſt, Chronogrammata zu ver-
fertigen. Eure arbeitſamen deutſchen Koͤpfe
wer-
40
[37]von den deutſchen Poeten.
werden ein Woͤrterbuch gantz durchblaͤtern, da-
mit ſie eine ſolche ſcharfſinnige Ueberſchrift her-
ausbringen. Man daͤchte, ſie ſuchten eine ge-
ſchickte, gut lateiniſche Ausdruͤckung, aber an
ſtatt deſſen ſehen ſie ſich nach einem Worte um,
darinnen ein L ein M oder ein D iſt. Wenn
wir demnach irgend eine ſolche Aufſchrift antref-
fen, muͤſſen wir in derſelben vielmehr das Jahr
des Herrn, als den Gedancken ſuchen.
Einer von euren Scribenten (E) hat das Hertz
gehabt dieſe Chronogrammata, die er gelehrte
Sinngebuhrten nennet, zu vertheidigen. Er
C 3klagt
42
[38]Mauvillons Brief
klagt ſich, daß gewiſſe Leute ſo unvernuͤnftig
ſeyn, und dieſe ſchoͤnen Erfindungen Lappereyen
heiſſen; und er behauptet gegen jedermann, daß
ſie, wenn ſie kurtz ſind, und ſich vor die Sache
gut ſchicken, ihren gewiſſen Werth haben. Er
fuͤhrt zum Beweiſe deſſen das Chronogramma
an, das im vergangenen Jahr auf den Herzog
von
43
[39]von den deutſchen Poeten.
von Lothringen und Großherzog von Toſcana
gemacht worden, der die kaiſerlichen Voͤlcker
in Ungarn als oberſter General angefuͤhrt hatte,
VIVat CæſarIs ſVpreMVs bellI DVX. Jn
welchen Worten die Jahrzahl von 1737. enthal-
ten iſt, da der Herzog in Ungarn hatte comman-
dieren ſollen. Trutz ſey euch gebothen, daß ihr
in dieſem Chronogramma was weiters, als das
Jahr des Herrn finden werdet. Jndeſſen hat
der hamburgiſche Zeitungsſchreiber es vor einen
unwiderſprechlichen Beweiß gegen diejenigen an-
gefuͤhrt, welche dieſe abgeſchmackten Erfindun-
gen verlachen. Saget mir doch, ob man eben
viel Witzes vonnoͤthen habe, wenn man eine
arithmetiſche Zahl in viel verſchiedenen Woͤrtern,
die aus allerley Buchſtaben beſtehen, heraus-
C 4brin-
44
[40]Mauvillons Brief
bringen ſoll, und ob dergleichen Entdeckungen
der menſchlichen Geſellſchaft groſſen Nutzen brin-
gen. Jſt das ein groſſes Lob vor einen Feld-
herrn, daß man in etlichen Woͤrtern, welche
wenig oder nichts von ſeinen Heldenthaten mel-
den, das Jahr ausfindet, in welchem er den
Generalſtab gefuͤhrt hat? Man muß kein groſ-
ſer Kuͤnſtler ſeyn, eine ſolche herrliche Geburt
auf die Welt zu bringen; es braucht weiter nichts,
als ein wenig Geduld, Woͤrter auszuklauben,
und man wird mehr als genug herausbringen,
ſofern man nur die Sprache verſteht, in wel-
cher man reden will.
Allein ihr werdet einwenden, nicht alle Deut-
ſchen geben ſich Muͤhe mit dieſem abgeſchmack-
ten Zeuge. Gut: Aber ich behaupte hingegen,
daß es ihnen in allen Arten der zierlichen Gelehrt-
heit an Geſchmack, oder, wenn ich es heraus-
ſagen ſoll, an Witz mangelt. Ehe ich dieſes
beweiſe, muß ich euch bitten, folgendes anzu-
mercken. Es iſt kein Wunder, daß eure Lands-
leute nicht geiſtreich ſeyn. Man haͤlt in dieſem
Lande ſehr wenig auf Geiſt, und dieſes iſt eben
kein Mittel, den Witz in Schwang zu bringen.
Jn Deutſchland ſind ein geiſtreicher Kopf und
ein Clausnarre eines, was das andere. (F) Der
Pedant und der wahre Gelehrte werden hier all-
zu gerne mit einander vermiſcht. Eure Gedan-
ken ſeyn die ſchoͤnſten auf der Welt, ſie ſeyn auf
das geiſtreichſte ausgebildet; wofern ihr nicht
ſechs Woͤrter im Lateiniſchen, vier im Griechi-
ſchen, und vier im Hebraͤiſchen plappert, ſo
wird man meinen, man thue euch viel Ehre an,
wenn man euch einen artigen Pantalon heißt.
Jn dieſem Lande ſteigt niemand empor, als
die Hofnarren. Die Begierde dergleichen zu
haben, iſt etwas recht auſſerordentliches. Ein
jeder Fuͤrſt hat zween oder drey in ſeinen Dien-
C 5ſten.
[42]Mauvillons Brief
ſten. Bey einigen von den groͤſſeſten iſt es eine
recht eintraͤgliche Bedienung, der foͤderſte Hof-
narre, wie im tuͤrckiſchen Serraglio das Haupt
der Verſchnittenen zu ſeyn. Die Freyherrn und
die bloſſen Edelleute in dieſem Lande haben ins-
gemeine einen Lakey, der bey ihnen die Stelle
eines Hofnarren vertritt, wiewohl er eben die-
ſen Titel nicht fuͤhrt; denn die herrſchenden Fuͤr-
ſten behalten das Recht vor ſich, Patenten fuͤr
einen Hofnarren zu ertheilen.
Auf was vor hohe Gedancken koͤnnen Leute
von dieſem Schrote, die nicht wiſſen, was den-
ken iſt, die in den Tag hinein plaudern, und
mit lauter Salbadereyen angeſtochen kommen,
vornehme Herren fuͤhren? Werden ſie dieſel-
ben lehren, wie man gerecht, großmuͤthig, mil-
de, nuͤchtern, ſittſam, ſeyn ſoll? Ach nein. Sie
wiſſen von dieſen Eigenſchaften allzu wenig, als
daß ſie ſich eine Ehre darinnen ſuchen ſollten, je-
manden dazu anzufuͤhren.
Ein geiſtreicher Mann iſt in Deutſchland ein
Menſch, der zu einem Hofnarren gebohren iſt;
und ein Hofnarre iſt ein Thier, das mehr Stock-
ſchlaͤge kriegt, als ein Hund, den man zu klei-
nen Kuͤnſten abrichten will. Das iſt izo die Nei-
gung der deutſchen Herren, ſie brauchen den
Stock gerne, und man muß bekennen, daß ſie
geſchickt damit umzugehen wiſſen. ‒ ‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Hiervon nimmt nun der Verfaſſer Anlaß, mit etlichen E-
rempeln zu beweiſen, daß die deutſchen Fuͤrſten eine rechte
Freude daran haben, die Leute bis auf den Tod zu pruͤgeln.
Jhr ſehet alſo, zu was vor Poſten man geiſtrei-
che Koͤpfe in Deutſchland tuͤchtig haͤlt, wiewohl
diejenige, die auf dieſen Poſten ſtehen, nicht
allemahl geiſtreiche Koͤpfe ſind. Man muß es
bekennen, es giebt in Deutſchland mehr Ge-
lehrte, als in vielen andern Laͤndern; aber geiſt-
reich zu ſeyn iſt ihnen verboten, falls ſie nicht
vor Narren angeſehen ſeyn wollen. Ein geſchick-
ter Profeſſor, der in der gelehrten Welt wohl-
bekannt iſt, wollte einmahl zeigen, daß er Geiſt
haͤtte. Sogleich foderte man von ihm, daß er
Hofnarr wuͤrde, und der Fuͤrſt noͤthigte ihn mit
Gewalt dazu. Einer von meinen Freunden hat-
te Gedancken bey dieſer Gelegenheit eine Comoͤ-
die zu ſchreiben, die den Titel fuͤhren ſollte: Der
Hofnarre wider ſeinen Willen. Jch hintertrieb
es mit allen erſinnlichen Vorſtellungen der Klug-
heit. Es iſt hier nichts neues, daß ein Hofnarre,
der den Titel eines ſolchen fuͤhret, zugleich Pro-
feſſor in der Philoſophie, oder in der Beredt-
ſamkeit iſt. Da die Wiſſenſchaften auf dieſe
Weiſe entweihet und verhudelt werden, ſo iſt
es nicht moͤglich, daß das Naturell keinen Scha-
den davon empfange, und daß man nicht mit
der Muttermilch eine unuͤberwindliche Abneigung
gegen die Wiſſenſchaften, und alles, was geiſt-
reich iſt, in ſich ſauge.
Jn Franckreich hat man dieſes nicht zu befuͤrch-
ten. Daſelbſt haͤlt man den Geiſt hoch, wenn
er gleich der Gelehrſamkeit beraubet iſt. Lude-
wig der vierzehnte war ein ſo groſſer Feind der
Zotenreiſſer, und Luſtigmacher, als er hinge-
gen
[44]Mauvillons Brief
gen ein bekannter Beſchuͤtzer aller geiſtreichen
Maͤnner war, die er auch von den Pritſchmei-
ſtern wohl zu unterſcheiden wußte. Aber der
Geſchmack der Deutſchen Fuͤrſten iſt uͤberhaupt
ſo beſchaffen, daß ſie zwey Dinge, die an Art
ſo verſchieden ſind, mit einander vermiſchen,
und ſich nur das ſchmecken laſſen, was unter den
Wercken des Geiſtes am ungeſaltzenſten und mat-
teſten iſt.
Jn Franckreich liebet man das, was der Witz
feines und leckeres hat; nur dadurch kan man
ſich hervorthun. Wer nur Geiſt hat, iſt bey al-
len Franzoſen willkommen, und kan ſie nur vor
ſeine Goͤnner anſehen. Er hat keinen andern
Titel noͤthig, als daß er ein geiſtreicher Kopf
ſey, ſo wird ihm jedermann wohlgewogen wer-
den. Das iſt der Geſchmack der franzoͤſiſchen
Nation uͤberhaupt; und niemand wird meines
Bedunckens ſo unvernuͤnftig ſeyn, und ihm nicht
den Vorzug vor dem Geſchmacke der Deutſchen
geben; denn es iſt gewiß, daß man nichts ge-
ſchicktes ausrichten kan, wenn man es ohne
Geiſt vornimmt. Die gelehrteſten Wercke tau-
gen nichts, wenn ſie nicht mit Witze verfertiget
ſind; und der groͤſte Lehrer wird nur ein verdruͤß-
licher Schmierer ſeyn, wenn er ſeine Beleſen-
heit ohne Geiſt auskramet; ſo wie der groͤſſeſte
Weltweiſe nur ein langweiliger Schwatzer ſeyn
wird, wenn er ſeine Schlußreden nicht mit Geiſt
wuͤrtzet, ob ſie gleich ſonſt buͤndig ſind. Der
Geiſt iſt das Vermoͤgen des Verſtandes, das
macht, daß wir das, was wir ſagen, mit An-
muth
[45]von den deutſchen Poeten.
muth ſagen, und das, was wir thun, mit gu-
ter Art thun. Es iſt die geſchickte Wahl, das
feine Weſen, das ſcharfſinnige Urtheil, kurtz
etwas nicht genug beſtimmtes, das unſren Ge-
dancken und Begriffen eine gewiſſe Zierlichkeit
mittheilet; das auszieret, was die Vernunft
erfindet, und ausſchmuͤcket, was der Verſtand
hervorbringt.
Aber es iſt nicht genug, daß man erklaͤre,
was Geiſt ſey, es giebt verſchiedene Arten die-
ſes Geiſtes, welche man von einander, oder
beſſer zu ſagen, von etwas, das ihm aͤhnlich iſt,
unterſcheiden muß. Es iſt eine Art rauhes Gei-
ſtes, von welchem die platten und eckelhaften
Poſſen und Zoten entſtehen, die doch auch ge-
wiſſen Leuten angenehm ſind, welche ſelbſt nur
dieſe Geiſtesart beſitzen. Dieſe iſt derjenigen
gantz ungleich, welche die Franzoſen haben wol-
len, und die ich oben erklaͤrt habe.
Unter dem rauhen und dem feinen Geiſt herr-
ſchet der Unterſchied, daß jener die Miltze, und
dieſer das Hertz ruͤhret; jener das wilde Gelaͤch-
ter, dieſer die Verwunderung erwecket; der
erſte einen Augenblick Luſt machet, hernach Ver-
druß verurſachet, da hingegen der andere ein
reines und deſto gruͤndlicheres Ergetzen mit ſich
fuͤhret. Da nun die groſſen Herren in Deutſch-
land auf dieſe lezte Eigenſchaft nicht viel hal-
ten, ſo erforſchet auch niemand ſich ſelber, ob
er nicht etwa dieſelbe von der guͤtigen Natur em-
pfangen habe; man ſtreitet nur um den Vor-
zug, wer die platteſten Pritſchmeiſterpoſſen ſa-
gen
[46]Mauvillons Brief
gen kan. Wie oft hoͤret man dieſe vornehmen
Deutſchen uͤber den ungeheureſten Einfall eines
elenden Luſtigmachers in ein erſchreckliches Ge-
laͤchter ausbrechen? Das iſt ihr Geſchmack,
und wer ihr Freund ſeyn will, muß mitmachen.
Deßwegen wundert mich nicht mehr, daß in
euren Poeten ſolche Jedermannsgedancken, und
ſo grobe Ausdruͤcke ſind. Guͤnther, (G) einer
der geſchaͤtzteſten iſt damit angefuͤllet. Leſet ſeine
Ode auf das Gluͤcke, die vor eines ſeiner beſten
Stuͤ-
[47]von den deutſchen Poeten.
Stuͤcke gehalten wird; ihr werdet darinnen ei-
nen Beweis meiner Meinung finden. Jch wer-
de die lezte Strophe dieſer Ode nie vergeſſen;
ſie hat etwas allzu ſonderbares, daß ich ſie hier
nicht anfuͤhren ſollte; Vielleicht habet ihr nie-
mahls Zeit gehabt, ſie genau zu betrachten. Jch
bitte nur die Frauensperſonen, denen ihr etwa
meinen Brief zeigen moͤgtet, daß ſie ſich an gewiſſen
purſch-
48
[48]Mauvillons Brief
purſchmaͤſſigen Worten nicht aͤrgern, die ich
mich genoͤthiget ſehe, zu brauchen, wenn ich
des Poeten Meinung ausdruͤcken ſoll. Sie
muͤſſen ſich erinnern, daß ich aus dem Deutſchen
uͤberſetze, nun wiſſen ſie wohl, daß in dieſer
Sprache dergleichen Zeug nichts neues iſt. Nach-
dem Guͤnther zuerſt auf eine ziemlich froſtige
Weiſe auf das Gluͤcke geſtichelt, uͤberlaͤuft ihm
die Galle, und er bricht gantz entruͤſtet in dieſe
Worte aus: Tiens, ſagt er zu ihm, voicy tes
plus beaux titres. Tu n’es qu’une girouette,
une femmellette aveugle, une voie de per-
dition, une garce à laquais, une ſorcière, la
ſœur de la folie, une hableuſe, une trom-
peuſe: \& qui eſt ce qui me punira comme
Athée, par ce que je te blasphême! Jch
weiß wohl, daß der arme Guͤnther keine Urſache
gehabt, mit dem Gluͤcke wohlzufrieden zu ſeyn;
und daß er dem Colletet gleich war, von dem
man ſagt, er ſey von einer Kuͤche in die andere
gegangen, einen Biſſen Brod zu betteln; allein
ich kan ihm, die Wahrheit zu bekennen, ſeine
poͤbelhaften Ausdruͤcke nicht verzeihen, und ich
moͤgte ihn wohl fragen, in welchem Lumpenhau-
ſe er dieſe Schreibart an ſich genommen habe.
Was vor eine Ungleichheit zwiſchen Guͤnthers
Verſen, und denen, welche Rouſſau auf eben
dieſes Gluͤcke geſchrieben hat!
„Der Poͤbel
„betet in deinem ſchlechteſten Wercke das
„Wohlergehen an, er nennt dich Großmuth,
„Dapferkeit, Klugheit, Standhaftigkeit: Er
„beraubet die Tugend ihrer eigenſten Titel, und
„leget
[49]von den deutſchen Poeten.
„leget ſie einem Laſter, das dir angenehm iſt,
„bey. Jn ſeinen falſchen Lehrſaͤtzen machet er
„allemahl vortreffliche Helden aus deinen ſtraf-
„wuͤrdigſten Lieblingen.„
Die franzoͤſiſche Sprache iſt zu ſittſam, als
daß ſie ſolche Ausdruͤcke, wie Guͤnthers ſind,
vertragen koͤnnte, am allerwenigſten kan ſie die-
ſes in einer ernſthaften und erhabenen Ode.
Wenn wir von luſtigen Sachen ſchreiben wollen,
ſo haben wir eine abſonderliche Sprache vor die-
ſelben, (H) nemlich des Marots ſeine: Aber
im Deutſchen laͤuft alles unter einander, das
DErnſt-
[Crit. Sam̃l. V. St.]
[50]Mauvillons Brief
Ernſtliche mit dem Poſſierlichen; das Hohe mit
dem Kriechenden, und das Praͤchtige mit dem
Luſti-
50
[51]von den deutſchen Poeten.
Luſtigen. Alle Ausdruͤcke ſind da gleich gut, und
man macht da keinen Unterſchied zwiſchen proſai-
D 2ſchen
51
[52]Mauvillons Brief
ſchen und poetiſchen Redensarten. (I) Man fin-
det oft unter einem Dutzend Verſe, die ſo ſchwul-
ſtig ſind, als des Pindarus, ein poͤbelhaftes
Spruͤch-
53
[53]von den deutſchen Poeten.
Spruͤchwort. Die Sprache iſt nicht Schuld
daran, ſondern diejenigen, welche ſolches ohne
D 3Ge-
54
[54]Mauvillons Brief
Geſchmack und ohne Urtheilskraft anbringen.
Und wenn die deutſche Welt ſie deßwegen nicht
beſtraf-
55
[55]von den deutſchen Poeten.
beſtraffet, (K) ſo ruͤhrt dieſes daher, daß die
Leſer eben ſo wenig Scharfſinnigkeit haben, als
die Poeten, und, giebt man ihnen nur ein Blat
voll Reimen mit abentheurlichen und platten Aus-
druͤcken zuſammengekuppelt, daß ſie daruͤber
lachen muͤſſen, ſich im geringſten nichts um das
bekuͤmmern, was wir geſchickte Formeln und
Redensarten, auserleſene Ausdruͤcke, feine
Wahl, u. ſ. w. heiſſen Jch will mithin nicht
leugnen, daß man in euren Poeten nicht hier
D 4und
57
[56]Mauvillons Brief
und da etliche treffliche Stellen antreffe, doch ſind
ſolche ſehr duͤnne geſaͤet. Eine Strophe in Guͤn-
thers Ode auf Gott hat mir ſo wohl gefallen, daß
mich die Luſt angekommen, ſie in franzoͤſiſche
Verſe zu uͤberſetzen. Vielleicht iſt es euch nicht
zuwider, daß ich euch dieſe Ueberſetzung zeige.
Hier iſt ſie, und damit ihr deſto leichter urthei-
len koͤnnet, ob ſie der Urkunde gemaͤß ſey, ſo
will ich mit eurer Erlaubniß ſelbige beyfuͤgen.
Vielleicht hat kein Franzoſe noch den Einfall ge-
habt, deutſche Verſe in franzoͤſiſche zu uͤberſetzen.
Nun bin ich zwar nicht ſo ſtoltz, daß ich mich vor
einen Poeten halte, doch iſt mir lieb, euch da-
mit zu zeigen, daß ich kein Vorurtheil wider
eure Poeten hege, ſondern als gut erkenne und
anpreiſe, was mir ſo vorkoͤmmt, wie ich es hin-
gegen offenhertzig ſage, wenn mir etwas ſchlecht
zu ſeyn duͤncket.
Jch erinnere mich bey dieſer Gelegenheit, daß
der Verfaſſer der juͤdiſchen Briefe etwas ange-
mercket hat, das ein ziemlich billiges Vorurtheil
wider den deutſchen Parnaß erwecken muß. Er
ſagt, daß eure Poeten kein groſſes Anſehn ver-
D 5die-
60
[58]Mauvillons Brief
dienen, ſcheine ihm vornehmlich daher glaub-
wuͤrdig, (M) weil nicht einer von ihnen weder
ins Franzoͤſiſche, noch ins Jtalieniſche, noch ins
Engliſche, noch ins Spaniſche, noch in ſonſt
eine Sprache uͤberſezt ſey; da hingegen Milton,
Boileau, Pope, Racine, Taſſo, Moliere,
und ſchier alle angeſehene Poeten in die meiſten
Europeiſchen Sprachen uͤberſetzet worden. Ja,
man hat eure Geſchichtſchreiber und Rechtsge-
lahrten, die deſſen werth waren, uͤberſetzet,
wiewohl dieſes eben nicht beweiſet, daß alle die,
ſo uͤberſetzet worden, gleich trefflich ſeyn, weil
in Wahrheit nur allzu viele Federn ſind, die
ſchlimme Wercke ums Lohn uͤberſetzen. Was
aber eure Poeten anlangt, ſo iſt es keine ſo
leichte Arbeit, ſie zu uͤberſetzen, weil ſie ſelber
ſich ſchier alleine mit Ueberſetzen behelffen. Sie
ſind meiſtens ſelbſt Ueberſetzer: Zeiget mir ei-
nen
[59]von den deutſchen Poeten.
nen Schoͤpfer (N) auf eurem Parnaſſe; ich
will ſagen, zeiget mir einen deutſchen Poeten,
der
[60]Mauvillons Brief
der ein vortreffliches Werck, das ein Aufſehen
in der Welt gemacht, aus ſeinem Eigenthum
her-
63
[61]von den deutſchen Poeten.
hervorgebracht habe. Jch fodere euch darauf
heraus.
Man wird vielleicht glauben, weil eure Poe-
ten ſind gantz und gar auf das Ueberſetzen gele-
get
65
[63]von den deutſchen Poeten.
get haben, daß ſie in dieſem Stuͤcke Wunder
gethan
66
[64]Mauvillons Brief
gethan haͤtten. Jm geringſten nicht. (O) Sie
haben die beſten Franzoͤſiſchen, Engliſchen und
Jtaliaͤniſchen Originale verderbt. Unſre dra-
matiſche Gedichte beweiſen dieſes nur allzu merck-
lich; man kennet ſie in eurer Sprache nicht mehr.
Es ſind ungefehr dieſelben Begriffe, aber un-
gemein matt ausgedruͤcket.
Allein ihr wuͤrdet mich einer Uebereilung be-
zuͤchtigen, wenn ich nicht ein Exempel davon
anfuͤhrete. Derowegen muß ich euch zeigen,
daß ich ohne Hitze ſchreibe, und euch meinen
Satz beweiſen. Jch will euch aber nur ein ein-
ziges Muſter vor Augen legen, denn ich habe
keine Luſt mich hieruͤber weitlaͤuftig einzulaſſen,
Ewel-
69
[Crit. Sam̃l. V. St.]
[66]Mauvillons Brief
welches nur euch und auch mir beſchwerlich ſeyn
wuͤrde. Jch will den angeſehnſten von allen eu-
ren Ueberſetzern ausleſen. Unter dieſen Herren
gehoͤrt Neukirchen ohne Zweifel der erſte Rang;
(P) ſeine Ueberſetzung des Telemachs hat ihm ei-
nen groſſen Nahmen gemachet. Dieſer Poet
war
71
[67]von den deutſchen Poeten.
war bey einem jungen Printzen Hofmeiſter ge-
weſen, dem zu gefallen er dieſe Arbeit uͤber ſich
genommen, und mit hiſtoriſchen und morali-
ſchen Anmerckungen bereichert hat. Er mochte
ſie nicht vollends zum Stande bringen, (Q) er
war noch nicht weit uͤber die Helfte, als er im
Kopf verruͤcket ward. So unvollendet ſie iſt,
wird ſie doch von den Deutſchen ungemein ge-
prieſen, und vor ein Meiſterſtuͤcke angeſehen.
Jch will eurer Nation ihr Urtheil nicht wieder-
ſprechen; ſondern glauben, daß Neukirch die-
ſes Lob verdiene, allermaſſen man hier nicht ge-
wohnt iſt, beſſere Ueberſetzungen zu ſehen, als
die ſeine iſt. Aber ich kan mich nicht enthalten
zu ſagen, daß des Herrn von Fenelon Werck
in dieſer Ueberſetzung viel verlohren (R), und
E 2Hr.
74
[68]Mauvillons Brief
Hr. Neukirch ihm oͤfters ſolche Linien geliehen
hat, welche wahrhaftig ſeinen Werth nicht er-
heben. Jch finde eine ſolche Stelle im erſten
B. wo Calypſo den Sohn Ulyſſes inſtaͤndig er-
ſucht, daß er ihr ſeine Begebenheiten erzehlete.
Der junge Fuͤrſt will ihr ungeduldiges Verlan-
gen ſtillen, und faͤngt die Erzehlung ſeiner Ge-
ſchichte mit dieſen Worten an. ꝛc. Dieſes alles
wird von dem Herrn von Fenelon ſo geſchickt
vorgeſtellet, daß man ſich einbildet, man hoͤre
Telemachen ſelber reden. Jm Neukirch ſehen
wir nichts dergleichen. Man daͤchte er haͤtte
dieſe Stelle verdrehen wollen, damit ſie poſſier-
lich herauskaͤme. Seine Worte lauten auf
franzoͤſiſch: ‒ ‒ ‒ Mes malheurs, repon-
dit Telemaque à la Deeſſe, ſont trop longs
\& trop pleins de lamentations, pour meri-
ter votre curioſité. Non non, reprit-elle,
avec flatterie, je meurs d’envie de les enten-
dre. Elie le preſſa encore longtems avant
que de pouvoir le faire parler, tant il avoit
le cœur ſerré: Mais enfin il ſe laiſſa perſua-
der; ET A CE QU’ON DIT ET QU’ON
CROIT, IL PARLA DE LA SORTE.
Ha, wie zierlich iſt dieſes! Es hat etwas ſo poſ-
ſierliches in ſich, das mich aus mich ſelber ſetzt.
Es gehoͤrt ein gluͤckliches Naturell dazu, wenn
man das Poſſierliche mit dem Erhabenen geſchickt
vermiſchen ſoll; und eben in dieſem Stuͤcke ſind
die deutſchen Poeten vortrefflich. Wenn ich die-
ſe Worte Neukirchs leſe, ſo duͤnckt es mich, ich
leſe ein Maͤhrgen im La Fontaine, in welchem
nicht viel uͤbrige Wahrſcheinlichkeit iſt; und
wo dieſer ſcharfſinnige Verfaſſer mir ſagt, daß
er vor die Geſchichte nicht gut ſtehen wolle, wel-
ches er in ſeiner marotiſchen Schreibart ſo vor-
traͤgt, er gebe ſie, wie er ſie eingenommen
habe. Das Mißtrauen, welches La Fontaine
dadurch bey dem Leſer erwecket, beluſtiget ihn
eben ſo ſehr, als die Geſchichte ſelbſt. Aber
was in einem Maͤhrgen artig iſt, das iſt in ei-
nem heroiſchen und ernſtlichen Gedichte, wie
Neukirchs ſeines iſt, etwas recht ſcheußliches.
Jch wuͤrde niemahls fertig werden, werthe-
ſter Freund, wenn ich alle die platten Stellen
ausſetzen ſollte, die ich in euren beruͤhmteſten
Poeten geleſen habe. Jch weis deren noch eine
Menge im Neukirchen, im Opitzen (S), im
Gottſcheden, im Kahnitzen; Brocks ſelbſt iſt
E 3davon
[70]Mauvillons Brief
davon nicht gereiniget, ungeachtet er vielleicht de-
ren am wenigſten hat, indem er ſich den Geſchmack
an die frantzoͤſiſchen und engliſchen Poeten ge-
woͤhnt hat: Und ich kan ihm die Stelle nicht
ver-
77
[71]von den deutſchen Poeten.
verzeihen, wo er den milden Ueberfluß eines ge-
wiſſen Jahres damit in ein hohes Licht ſetzen wol-
len, daß er angezeiget hat, man habe das paar
Lerchen um zween Dreyer bekommen koͤnnen.
Aber wie koͤmmts daß eure Nation nicht ein
eintziges theatraliſches Stuͤcke, (T) das nur
einigen Werth habe, aus ihrem Eigenthum an
den Tag bringen kan? Wo wollte ſie es herneh-
men? Eure Poeten legen ſich ſchier allein auf
kleine Gedichte, und oͤfters auf elendes Zeug.
(V) Die Gedichte, die Brockes geſchrieben,
gehoͤ-
81
[73]von den deutſchen Poeten.
gehoͤren zu der liriſchen Art; ſeine Vorgaͤnger
haben kaum was anders gemachet, als Hoch-
zeitgedichte, etliche falſchgenannte Oden, etliche
Weihnachts- und andre Geſaͤnge; dazu kommen
dann noch die Arien, und hoͤher haben es die deut-
ſchen Muſen mit allem ihrem Beſtreben nicht brin-
gen moͤgen; nemlich, was Originale anlangt.
Jch weis kein Land, wo die Schwoͤſtern des Apol-
lo ſich ſo unverſchaͤmt feil bieten, als in dieſem.
Kein Schuſter haͤlt Hochzeit, der nicht ſein Hoch-
zeitgedichte nett und zierlich gedruͤckt bekomme.
Jn Franckreich iſt der Druck die Klippe, woran
die mittelmaͤſſigen Poeten gemeiniglich ſcheitern.
Hier iſt es anderſt. Da man hier ohne Ge-
ſchmack lieſt, ſo laͤuft niemand in Gefahr, der
etwas in den Druck giebt. Darum iſt auch
keine Nation, die eine ſo groſſe Anzahl Poeten
und Redner aufweiſen koͤnne, wie dieſe.
Die Redner erinnern mich hier an die laͤcher-
liche Gewohnheit, die allhier herrſchet, auf je-
des Begraͤbniß eine Leichrede zu halten, auf
das Abſterben eines Hufſchmieds ſowohl, als
eines Generals. Geſtern gieng ich in eine Kir-
che hinein, in der Hoffnung daß ich uͤber einen
moraliſchen Lehrſatz wuͤrde predigen hoͤren. Aber
ich fand mich uͤbel betrogen. Man hielt eine
E 5Leich-
82
[74]Mauvillons Brief
Leichrede auf ein Bauerweib, das vor zween
Tagen geſtorben war. Der Redner lobete ih-
re Treue gegen ihren Ehmann, ihre Haͤuslich-
keit und ſ. w. Ach, ſagte er, wie geſchickt
wußte ſie nicht die Kuͤhe zu melken! Jhre Haͤn-
de, die doch von vielem Arbeiten gantz hart
waren, verurſachten dieſen armen Thieren nicht
den geringſten Schmertzen. Sie war auch ſo
reinlich, daß man niemahls das kleinſte Staͤub-
gen in der Milch gefunden, welche man bey
ihr gekaufet hatte. Jhr muͤſſet mir doch geſte-
hen, mein wertheſter Herr, daß die Poeſie und
die Beredtſamkeit, ſo ſie zu dieſem Gebrauche
angewendet werden, nothwendig vieles von ih-
rer Wuͤrde verliehren muͤſſen; und daß den Poe-
ten, ſowohl als den Rednern, nothwendig etwas
von der Niedertraͤchtigkeit ihrer Materien an-
kleben muß, da denn die groben und poͤbelhaf-
ten Gedancken, welche ſie damit an ſich genom-
men haben, ſich hernach auch in hoͤhern Mate-
rien einſchleichen werden.
Warum finden denn die Deutſchen nicht ſo
viel Geſchmack an den Wiſſenſchaften, als an
der Kriegeskunſt? Glauben ſie, es ſey genug,
daß eine Nation kriegeriſch ſey, wenn ſie von
der andern geehret, und von der Nachwelt ge-
lobet werden ſolle? Oder bilden ſie ſich ein,
wie die alten Gothen, daß ein Volck, welches
den Kuͤnſten und Wiſſenſchaften ergeben iſt, kei-
ne guten Soldaten haben koͤnne? Und daß
alle diejenige, welche ſich in ihrer Kindheit vor
der Ruthe gefuͤrchtet haben, in ihrem maͤnnli-
chen
[75]von den deutſchen Poeten.
chen Alter den Muth niemahls haben werden,
einen gezuͤckten Degen zu trotzen? Jch halte ſie
vor vernuͤnftiger; denn ſie wiſſen wohl, daß
keine Nation den Griechen und den Roͤmern an
kriegeriſchem Muth und Kunſt gleich gekommen,
und daß dennoch keine Nation die Wiſſenſchaf-
ten mehr geliebet hat, als dieſe beyden. Was
ſoll man indeſſen davon dencken, daß man hier
ſo wenig Gelegenheit hat, ſich in den Kuͤnſten
vollkommen zu machen, und daß man ſo nachlaͤſſig
iſt die geſchickten Koͤpfe zu einem edeln Eifer an-
zureitzen? Und was ſoll ich von der Verach-
tung ſagen, welche gewiſſe vornehme Herren
gegen die Gelehrten haben, von den verhaßten
Nahmen, womit ſie dieſelben belegen, und dem
Schimpfe, den ſie ihnen damit erweiſen, daß
ſie dieſelben mit ihren Hofnarren in eine Linie
ſetzen?
Jn Franckreich pflegt man gewiſſe Preiſe auf-
zuſetzen, die Gelehrten zu einem ruͤhmlichen Wett-
ſtreit aufzumuntern; und vielleicht muntert ſie
nichts ſo ſehr auf, als die Hochachtung, in der
ſie bey der gantzen Nation ſtehen, und die Ehr-
beweiſungen, ſo ſie von den Groſſen insbeſon-
dere empfangen.
Zeiget mir in Deutſchland eine einzige Stif-
tung, wie diejenigen ſind, die wir in Franck-
reich zum Aufnehmen der Wiſſenſchaften haben.
Zeiget mir in dieſer groſſen Anzahl von fuͤrſtli-
chen Landesherren im Roͤmiſch deutſchen Reiche
drey oder vier, welche die Wiſſenſchaften oͤffent-
lich in Schutz nehmen, und mit ihrer Freyge-
big-
[76]Mauvillons Brief
bigkeit diejenigen aufmuntern, die ſich vor an-
dern hervorthun. Jch bin es zufrieden, daß
die Fuͤrſten den Krieg lieben; daß ſie ihre Trup-
pen fleiſſig muſtern, daß ſie dieſelben ſorgfaͤltig
kleiden, ſorgfaͤltig exercieren, ſorgfaͤltig un-
terhalten, ich habe nichts dagegen: Aber man
entweihe die Wiſſenſchaften nicht, man beſchim-
pfe ſie nicht in ſo weit, daß man Hofnarren auf
Profeſſorcathedern ſtelle. Die regierenden Fuͤr-
ſten, und vornehmlich die, welche Helden heiſ-
ſen wollen, muͤſſen niemahls vergeſſen, was
Horatz ſagt: Vor Agamemnon haben dapfere
Maͤnner gelebet, derer Nahmen doch mit ih-
nen untergangen ſeyn, weil kein Scribent ſie
der Nachwelt bekannt gemachet hat. Ein Fuͤrſt
muß die Gelehrten werth halten, ſie ſchuͤtzen,
und, wenn ich es ſagen darf, ehren, wo nicht
aus Zuneigung, doch aus Politick; denn ſie
muͤſſen ihn mit der kuͤnftigen Welt bekannt ma-
chen, und ihnen iſt ihr Ruhm und ihr Nahme
anvertraut.
Jch wuͤrde zuweit verfaͤllen, wenn ich allen
denen Betrachtungen, ſo mir uͤber dieſe Ma-
terie in den Sinn kommen, Platz geben wollte.
Jch fuͤhle und empfinde noch viele Wahrheiten,
die ich bey mir ſelbſt behalten muß, ein kuͤhne-
rer Menſch, als ich bin, mag ſie zu Papier
bringen.
JCh habe euer Schreiben dieſen Augen-
blick empfangen, und ich beantworte es
ohne einigen Anſtand, um ſo viel lieber,
weil der Medicus mir wegen einer kleinen Un-
paͤßlichkeit, die mich geſtern Abends angeſtoſ-
ſen, das Leſen und ſtarcke Nachdencken verbo-
ten hat.
Jch konnte wohl vorherſehen, daß ihr mit
demjenigen, was ich von euren Poeten geſchrie-
ben habe, nicht gar wohl zufrieden ſeyn wuͤrdet;
indeſſen glaubte ich nicht, damit ich offenhertzig
mit euch rede, daß ihr die Muͤhe nehmen wuͤr-
det, ſie zu vertheidigen. Jhr meinet, ihr ha-
bet mich rechtſchaffen widerleget, daß ihr in ei-
ner Gegenbeſchuldigung die franzoͤſiſchen Poeten
deſſen bezuͤchtiget, (W) was ich von den Deut-
ſchen geſagt habe, nemlich daß ſie bloſſe Ueber-
ſetzer waͤren. Jhr ſaget, unſre Poeten ſeyn
nichts anders, nur mit dem Unterſchiede, daß
ſie die Alten uͤberſetzet haben, anſtatt daß die
Deutſchen nur die Neuern uͤberſetzen.
Wenn ihr nicht ein guter Freund, ſondern
ein Widerſacher waͤret, ſo wuͤrde ich euch mit
aller Aufrichtigkeit ſagen, daß die deutſche Na-
tion, wofern ſie keinen beſſern Verfechter hat,
als euch, zum wenigſten was die Feder anlangt,
in groſſer Gefahr ſteht, den Proceß zu verlieh-
ren. Jſt es moͤglich, daß ihr nicht begriffen
habet, daß den Geſchmack der Alten wieder zu
eineuern, und ſie einigemahl nachzuahmen, gantz
was anders iſt, als ſie zu uͤberſetzen? Wenn
ihr den Telemach anfuͤhret, als eine Ueberſetzung
der Odyſſee, und damit den Neukirch retten
wollet, ſo muß ich mit eurer Verguͤnſtigung
zweifeln, daß ihr jemahls den Homer geleſen
habet. Dieſer griechiſche Poet hat dem Hr.
von Fenelon nichts weiter geliehen, als den
Stof zu ſeinem Wercke. Etliche Linien, die
im Homer hier und da zerſtreut ſind, waren die
Grundfeſte, worauf dieſer gelehrte Prelat ſeinen
ſchoͤnen Roman gebauet hat, welchen man alle-
zeit bewundern wird, es mag Voltairen noch
ſo ſehr verdrieſſen. Die Proſa in demſelben
gleicht ſchier der Pracht und Majeſtaͤt der Poeſie.
Jch ſage es noch einmahl, Homer hat dem Ertz-
biſchof von Cambrai nur die Nahmen und Cha-
racter derjenigen geliehen, welche er in ſeinem
Werck aufgefuͤhrt; denn er hat uͤbrigens in den
meiſten Handlungen, die er von ihnen erzehlt,
nichts mit dem griechiſchen Poeten gemein.
Aber wozu dienet es, daß ich mich hieruͤber
aufhalte? Jſt dieſes jemanden verborgen? Und
kan man es leugnen, wofern man nicht frey-
willig
[79]von der deutſchen Philoſophie.
willig taub ſeyn will? Jch ſage euch ohne Um-
weg, entweder widerleget mich beſſer, oder
menget euch nicht ins Widerlegen; denn ich
ſchaͤme mich wahrhaftig fuͤr euch, daß ihr ſo
ſchlechte Gruͤnde vorbringet. Folget mir, und
uͤberlaſſet euren Poeten die Sorge, ſich ſelber
zu vertheidigen. Sind ihre Wercke gut, ſo
wird alles, was ich von ihnen geſagt habe, und
noch weiter ſagen koͤnnte, ihnen nicht den ge-
ringſten Nachtheil bringen: Aber wenn ſie nichts
taugen, ſo werde ich trutz allen denen recht be-
halten, welche gerne das Gegentheil behaupten
wollten. Niemahls wird die boshafte Neigung
eines Kunſtrichters dem Ruhm eines geſchickten
Werckes im Lichte ſtehen; die Welt wird es
ſchon gegen die Ungerechtigkeit eines Zoilus zu
raͤchen wiſſen. Aber wenn ein Werck elend iſt,
ſo wird es kein Cicero mit aller ſeiner Wohlre-
denheit gegen den mittelmaͤſſigſten heutigen Ari-
ſtarch ſchuͤtzen. Aber wir wollen die Poeten
gehen laſſen, und von euren Weltweiſen re-
den. ꝛc. ꝛc.
DJe Dichtung hat nicht allein Platz in der
gebundenen Schreibart: auch die unge-
bundene kan reich an Dichtungen ſeyn;
und es giebt eine Poeſie in der proſaiſchen Rede.
Ein munterer Scribent bildet nicht allein die
reichen Wercke, welche ihm die Natur vor Au-
gen leget, mit ſeiner Feder nach: Seinem ſtol-
zen Sinn iſt auch der weite Umkreis der Natur
viel zu enge: Er ſucht ſich neue Spuren,
Als der groſſe Alexander durch ſeine ſieghafte
Waffen die gantze Erden bezwungen, beklagte
er mit Thraͤnen, daß nicht mehr Welten waͤren,
an deren Beſiegung er ſeinen groſſen Muth und
ſeine unuͤberwindliche Macht ferner verſuchen
koͤnnte. Aber ein lebhafter Kopf bauet ſich ſelbſt
in ſeiner erhizten Phantaſie neue Welten, die
er mit neuen Einwohnern bevoͤlckert, welche von
einer fremden Natur ſind, und eigenen Geſetzen
folgen. Er dichtet ſich neue Perſonen und neue
Begegniſſen: Bald giebt er den Todten das
Leben wieder, und verbindet ſie in allerley Un-
ter-
[81]Von den Dichtungen.
terredungen; bald ſchencket er den leb- und
vernunftloſen Geſchoͤpfen die Rede; bald fuͤhret
er die menſchlichen Neigungen und Zufaͤlle, als
ſo viele Individua und Perſonen, vor uns auf;
bald giebt er den Fabeln und Maͤhrchen einen
groſſen Schein der Wahrheit; bald faͤllt er in
eine Entzuͤckung, und mahlet uns die ſeltſamſten
Erſcheinungen vor das Geſicht, ꝛc. Alle dieſe
und andere dergleichen Arten von Dichtungen
ſind nun allein erfunden worden, gemeine und be-
kannte Gedancken, auf eine ungemeine, neue und
ergetzende Art auszudruͤcken u. vorzubilden. Aber
dieſe Freyheit der Dichtung iſt nicht ohne Geſetze;
denn ſonſt muͤßte man alle Traͤumereyen und Aus-
ſchweifungen verruͤckter Sinnen vor geiſtreich und
ſcharfſinnig erklaͤren. Jch wuͤrde mich von mei-
nem gegenwaͤrtigen Vorhaben allzuweit verſtei-
gen, wenn ich hier alle Grundregeln der Dichtung
in ihrer ordentlichen Verknuͤpfung, wie ſie aus
einander hergeleitet werden, anfuͤhren wollte: ich
verſpare dieſe Unterſuchung in mein vorgenomme-
nes groſſes Werck. Zu meinem gegenwaͤrtigen
Zweck wird es genug ſeyn, daß ich bloß die allerer-
ſten Grundregeln einer guten Dichtung hier aus-
ſetze, und hernach mit einigen Exempeln erlaͤutere.
An dergleichen regelmaͤſſigen Dichtungen kan
ein Autor die Kraͤfte ſeines Geiſtes am beſten pruͤf-
fen: Und der muß in der ſcharfſinnigen Schreib-
art geuͤbte Sinne haben, der in dergleichen Dich-
tungen gluͤcklich ſeyn, und Leuten von gutem
Geſchmack gefallen will.
Wie ſich der Hamburgiſche Patriot nicht ge-
ringer, als einer von den groͤſten Geiſtern Deutſch-
lands zu ſeyn beduͤnckt; alſo hat er auch die Kuͤhn-
heit gehabt, ſeine Scharfſinnigkeit in dieſer Art
Schriften zu verſuchen; aber er hat auch in die-
ſem Stuͤcke ſeine Schwaͤche aufgedeckt, und ſich
un-
[83]von den Dichtungen.
ungluͤcklich verrathen, daß er zu ſo hohen Dingen
nicht abgerichtet ſey. Wir wollen zum Beweiſe
deſſen das allegoriſche Raritaͤten,-Cabinet deſſel-
ben, wovon er im CLIII. St. unter dieſem Nah-
men Meldung thut, mit aufmerckſamen Augen
betrachten. Jn demſelben befinden ſich verſchie-
dene allegoriſche Jnſtrumente u. Maſchinen, die
nach des Patrioten Vorgeben groͤſtentheils eine
Erfindung der Sineſen und Jndianer ſind, von
denen ſie ihm geſchenckt worden. Nach dem Jn-
ventario, welches im LXXXVII. St. befindlich
iſt, ſind die merckwuͤrdigſten darunter folgende:
Ein Wetterglas, den guten und ſchlechten Ge-
ſchmack aller Scribenten und anderer vorkom-
menden Perſonen zu erkennen; eine philoſophi-
ſche Uhr, welche von der Laͤnge oder Kuͤrtze des
menſchlichen Lebens die eigentlichſte Rechnung
giebt; ein Pe-kad-en-noſch, die Aufrichtigkeit
des Hertzens zu pruͤffen; und ein blaues Waſſer,
das den Unterſchied der menſchlichen Leidenſchaf-
ten auf eine verwundernswuͤrdige Art anzeiget.
Dazu koͤmmt dann ferners das im CLIII. St.
angezogene Traumkuͤſſen, und der im LXXXVII.
St. geruͤhmte Univerſal-Schnupftoback fuͤr das
Gedaͤchtniß, ꝛc. ꝛc. Man beliebe erſtlich uͤber-
haupt anzumercken, daß alle dieſe Erfindungen
ſelbſt nach der Abſicht des Erfinders keinen andern
Nutzen haben koͤnnen, als die Entdeckungen des
Patrioten uͤber den moraliſchen Zuſtand des Men-
ſchen wahrſcheinlich zu machen; nun ſind aber
ſeine Entdeckungen ſo beſchaffen, daß niemandem
in den Sinn kommen wird, die Moͤglichkeit der-
F 2ſelben
[84]Abhandlung
ſelben von einer uͤbernatuͤrlichen oder magiſchen
Wunderkraft herzuleiten; angeſehen ein jeder
anderer gemeiner Menſch mittelſt ſeiner fuͤnf Sin-
nen u. einer kleinen Gabe natuͤrliches Verſtands,
ohne die Huͤlfe dieſer oder anderer dergleichen
Zauber-Maſchinen, eben dieſelbigen und noch
wichtigere Entdeckungen machen koͤnnte. Folg-
lich haben dieſe ſeltſamen Erfindungen nicht mehr
Grund ihrer Nothwendigkeit, als wenn einer ei-
nen Haſen mit einer Hellparten erſtechen, oder
eine Laſt von wenigen Pfunden mit einem groſſen
Hebzeuge bewegen wollte. Mithin iſt es auch
fuͤr den Character eines ernſthaften Patrioten
hoͤchſtungeziemend, daß er ſich durch dergleichen
angemaßte verborgene Kuͤnſte bey dem aberglaͤu-
bigen Poͤbel ſuche ein Anſehen zu machen; und
dergleichen unnoͤthige Erfindungen koͤnnen oͤfters
mit Recht den Verdacht erwecken, daß ein ſolcher
moraliſcher Taſchenſpieler an wahrer Einſicht und
Kundſchaft des menſchlichen Hertzens groſſen Ab-
gang leide, weil er gemuͤſſiget iſt, ſeine, obgleich
ziemlich kahlen und fluͤchtigen, Entdeckungen mit
dergleichen auſſerordentlichen und zauberiſchen
Erfindungen zu beglaubigen. Allein nach dieſer
allgemeinen Anmerckung uͤber die relatife Noth-
wendigkeit und den Nutzen dieſer Erfindungen
wollen wir dieſe Wunder-Maſchinen abſonder-
lich pruͤffen, und den Grund ihrer innerlichen
Wahrſcheinlichkeit unterſuchen. Die erſte von
dieſen wunderbaren Maſchinen iſt das philoſo-
phiſche Thermometer, oder das Wetterglas des
Verſtandes, welches die Hitze und Kaͤlte deſſel-
ben
[85]von den Dichtungen.
ben nach ihren verſchiedenen Graden aufs genaue-
ſte anzeigen ſoll: Deſſen Erfindung u. Zuruͤſtung
wird im XXXIV. St. weitlaͤuftig beſchrieben:
Und man darf ſich nur ein gewoͤhnliches Thermo-
meter, deſſen Roͤhre mit einem him̃elblauen Saft
angefuͤllet iſt, in ſeinem Sinne vorſtellen, ſo wird
man mich der Muͤhe einer weitlaͤuftigen Beſchrei-
bung gerne uͤberheben. Der Unterſchied lieget in
der ſeltſamen Wuͤrckung, maſſen der himmelblaue
Saft in dieſem Thermometer nach dem Grade
ſteiget oder faͤllt, nach dem die Scribenten oder
auch die Redenden in ihrem Vortrage die Staͤr-
ke eines geſunden Verſtandes mehr oder weniger
zeigen und beweiſen. So ſtieg in dem Verſuch,
welchen der Vetter des Patrioten angeſtellt, der
blaue Saft bey Leſung Virgils um einige Grade
empor; hergegen ſanck er ziemlich tief in der Roͤh-
re, ſo bald derſelbe anſtatt Virgils eine alte Logick
zur Hand nahm. Eine froſtige und recht aben-
theurliche Dichtung, die niemand zweifeln laͤßt,
daß nicht der Erfinder derſelben, aus Mangel ei-
nes geſunden Witzes, einer durch Kunſt zubereite-
ten Maſchine beduͤrfte, den guten und ſchlimmen
Geſchmack zu unterſcheiden! Jch habe nicht ein-
mahl noͤthig zu erinnern, daß dieſe abentheurliche
Maſchine in Abſicht auf ihre Wuͤrckung gegen alle
Wahrſcheinlichkeit anlaͤuft. Doch ich will aus
Freygebigkeit zugeben, daß die Verfertigung ei-
ner ſolchen nicht allerdings unmoͤglich waͤre; was
wuͤrde eine ſolche zur Verbeſſerung des Geſchmaks
vor Dienſte thun? Wo iſt immer ein Menſch ſo
gar dumm und ohne Geſchmack, der nicht eben
F 3ſo
[86]Abhandlung
ſo gut, als eine Maſchine, den mechaniſchen Aus-
ſpruch zu thun wiſſe, das iſt gut, ſchlimm, mun-
ter, matt, froſtig, ſeichte, ꝛc. Aber ſeine Ur-
theile mit Gruͤnden zu befeſtigen, und die Gruͤn-
de deſſen anzuzeigen, was nothwendig gefal-
len muß, und warum es gefallen muß, das iſt
eine Verrichtung, wozu etwas mehr als eine bloſſe
Maſchine erfodert wird. Eine gute Logick iſt das
rechte Thermometer des Verſtandes, dieſe raͤu-
met den Kopf auf, daß man von der Schoͤnheit ei-
nes Vortrags mit Vernunft u. gruͤndlicher Ein-
ſicht urtheilen kan; ohne dieſelbe ſind alle unſre
Urtheile nicht vernuͤnftiger, als des patriotiſchen
Wetterglaſes. Und wie kindiſch iſt die Dichtung
von dergleichen zauberiſchen Jnſtrumenten, wo
man nicht einmahl die Faͤhigkeit hat, ihren Nu-
zen durch die Anwendung und die Wuͤrckung ſelbſt
wahrſcheinlich zu machen! Was hat denn der
Patriot durch Beyhuͤlfe dieſes Thermometers vor
wichtige Endeckungen gemachet? Jch finde da-
von auſſer ruhmraͤthigen Großſprechereyen nicht
das wenigſte; und es gilt auch diesfalls, was
Horatz von den Maſchinen in den Trauerſpielen
lehret: Nec Deus interſit, niſi dignus vindi-
ce nodus inciderit. Wenn wir inzwiſchen unſ-
re Gedancken auf den allegoriſchen u. verdeckten
Sinn dieſer Dichtung richten, ſo finden wir, daß
dieſelbe auch in dieſer Abſicht nicht genug Wahr-
ſcheinlichkeit hat: zumahlen da dieſe gantze Dich-
tung nichts mehrers ſagen will, als, der Patriot
beſitze eine gute Beurtheilungskraft, und eine Fer-
tigkeit in Unterſcheidung guter und ſchlimmer Ge-
dan-
[87]von den Dichtungen.
dancken, d. i. einen feinen Geſchmack: Ein Satz,
der nicht durch eine gezwungene und unnatuͤrliche
Erfindung und Vorſtellung, ſondern durch wuͤrck-
liche Proben ſeine Glaubwuͤrdigkeit erhaͤlt! Da
nun dieſe mangeln, ſo wird die bloſſe großſpreche-
riſche Wiederholung deſſelben unter einer unna-
tuͤrlichen Allegorie von ſchlechter Kraft ſeyn; zu
geſchweigen daß darinnen der groͤſte Theil von
dem Zuſammenhange der hiſtoriſchen Umſtaͤnde
gantz muͤſſig iſt, und keinen myſtiſchen Sinn er-
tragen kan. Damit ich nur einen einzigen beruͤh-
re, ſo kan ich nicht errathen, was dieſe Worte
fuͤr eine geheime Bedeutung haben: Jch habe
mir von eben der Art und Groͤſſe ein Gehaͤuſe
und Glas machen laſſen, man kan es ſehr ge-
maͤchlich in der Taſche tragen, und in einem
dazu verfertigten ſchildkroͤtenen Futteral mit
ſich fuͤhren. Jch weiß nicht, was das figuͤrliche
ſchildkroͤtene Futteral des guten Geſchmacks,
noch auch was die figuͤrliche Taſche ſey, darinnen
man denſelben gemaͤchlich tragen kan. Mithin
hat mich die folgende Anmerckung merckwuͤrdig
beduͤnckt: Wie alle groſſe Erfindungen von un-
gefehr ihren Urſprung haben; ſo habe ich auch
hierdurch bloß von ungefehr eine Maſchine zu
Stande gebracht, die mit Recht ein Probier-
ſtein der geſunden Vernunft iſt, welche man zu
dieſen Zeiten mehrentheils nur vergebens ſuchet.
Jch meines Orts koͤñte ihm desfalls keinen Glau-
ben zuſtellen, wenn er es gleich mit einem Eyde
erhaͤrten wollte, daß er dieſe Erfindung von un-
gefehr gemachet, weil mir der Ort bekannt iſt,
F 4wo
[88]Abhandlung
wo ſich das Original von dieſer gluͤcklichen Co-
pie findet. Addiſſon beſchreibet im 281ſten Bl. des
Zuſehers in einem Traume die Anatomie des
Hertzens einer Verbuhlten; daſelbſt findet ſich
dieſe Stelle:
Es weis ein jeder Anfaͤnger in der Zerglieder-
kunſt/ daß das Pericardium oder der Hertzbeu-
tel einen duͤnnen roͤthlichen Saft in ſich enthaͤlt/
der von den Ausduͤnſtungen des Hertzens ent-
ſtehen ſoll/ welche ſich hier/ indem ſie nicht
weiter koͤnnen, in dieſe Feuchtigkeit verwandeln.
Als wir nun dieſen Saft unterſuchten/ ſo fan-
den wir/ daß er alle die Eigenſchaften desje-
nigen Weingeiſtes an ſich hatte, der zu den
Wetterglaͤſern gebraucht wird/ um die Ver-
aͤnderungen des Wetters anzuzeigen.
Jch muß hier einen gewiſſen Verſuch nicht
uͤbergehen/ welchen einer aus der Geſellſchaft
uns mit dieſem Safte gemacht zu haben ver-
ſicherte/ indem er eine groſſe Menge deſſelben
bey dem Hertzen einer vordem zergliederten Buh-
lerinn gefunden haͤtte. Er verſicherte uns/ daß
er ihn noch die Stunde in einer duͤnnen glaͤſer-
nen Roͤhre/ welche nach Art eines Wettergla-
ſes gemacht waͤre, eingeſchloſſen haͤtte: Allein
an ſtatt daß er daraus die Veraͤnderungen des
Wetters ſehen ſollte; ſo zeigte er ihm nur den
Zuſtand derer Perſonen an/ welche in das Zim-
mer traͤten/ allwo dieſe Roͤhre hienge. Er ver-
ſicherte zugleich/ daß er bey Herannahung eines
Federhutes/ eines geſtickten Kleides/ und eines
Paares Handſchuh mit goldenen Franſen merck-
lich ſtiege: Sobald hingegen eine verzauſete Per-
ruͤke/
[89]von den Dichtungen.
ruͤke/ ein Paar ſchmutzige Schuhe/ oder ein alt-
fraͤnckiſches Kleid hinein kaͤme/ ſo fiele ſelbiger.
Ja/ er gieng ſo weit/ daß er uns ſagte: Wenn
er daneben ſtuͤhnde/ und laut zu lachen anfienge/
ſogleich ſtiege der Saft in die Hoͤhe/ ſaͤncke aber
den Augenblick nieder, ſobald er wieder ernſthaft
ausſaͤhe. Kurtz er ſagte uns/ er koͤnnte es vermit-
telſt dieſer Erfindung ſehr wohl wiſſen/ ob er ei-
nen klugen Mann oder einen Gecken bey ſich im
Zimmer haͤtte.
Dieſes laͤßt ſich der Zuſchauer in einem Traume
erzehlen, und jedermann muß mir zugeben, daß es
eine Coquette trefflich characteriſirt; aber der Pa-
triot nimmt ſich mehrere Freyheit heraus, er thut
wachend, was jener kaum unter der Dichtung ei-
nes Traumes hat vorbringen duͤrffeu. Jch bitte
nun meine Leſer, daß ſie die Muͤhe nehmen, und
dieſe Stelle mit der 34. No. des Patrioten verglei-
chen: ſie ſind einander ſo aͤhnlich, als die beyden
Soſier in dem Amphitruo, und ich waͤre bald auf
die Gedancken gerathen, die Erzehlung des Zu-
ſchauers muͤſſe prophetiſch von dem Patrioten ver-
ſtanden werden. Jndeſſen wenn ſie vorwitzig ſind
zu wiſſen, ob er ſich etwas auf dieſe Erfindung ein-
bilde, ſo duͤrffen ſie nur die 52ſte No. einſehen, in
welcher uns die zweyte von dieſen Maſchinen be-
ſchrieben wird, die genau zeiget, wer am meiſten
nach der geſunden Vernunft und der Vorſchrift
eines guten Gewiſſens lebe. Er nennet ſie die
Philoſophiſche Uhr. Sie iſt einer gemeinen Ta-
ſchenuhrnicht ungleich: ſie hat ein Zieferblat mit
zween ſtaͤhlernen Zeigern: der aͤuſſere Cirkel iſt
in 360. Grade vertheilet; dreyſſig machen einen
F 5philo-
[90]Abhandlung
philoſophiſchen Monath/ und jeder Grad einen
philoſophiſchen Tag. Der innere Cirkel/ der ei-
nen gantzen philoſophiſchen Tag anweiſet/ iſt in
24. Stunden eingetheilt. Der Gebrauch derſel-
ben iſt folgender: Man bringt ſie demjenigen/
deſſen Leben man unterſuchen will/ ſo nahe/ daß
ſeine Ausduͤnſtungen dieſelbe erreichen/ und von
demſelben Augenblick an giebt ſie die philoſophi-
ſche Nachricht/ wie lange derſelbe Menſch ge-
lebet. Ein muͤſſiges Leben deutet ſie an durch ihre
Unbeweglichkeit: Ein boͤſes offenbaret ſich durch
das Zuruͤcklauffen des Zeigers: Ein tugendhaf-
tes kan man daraus erkennen/ wenn ſich der
Zeiger von Stunden zu Stunden ꝛc. vorwaͤrts
beweget/ nach dem Maaſſe/ als einer in der
Tugend alt geworden. Wundert euch, wo
man dergleichen ſeltſame Uhren verfertige, ſo kan
ich euch ſagen, daß der Patriot ſeine in Mecca
gekauft hat; der Meiſter davon heiſſet Joaphat
Ebn Jophzdhail. Dieſe Dichtung iſt von dem-
ſelben Schrot und Korn, wie die vorhergehende:
Und der Patriot iſt gegen ſeinen Schoͤpfer unge-
recht, daß er ſeine Vernunft, die ein zulaͤngliches
Mittel iſt, das Gute und Boͤſe in moraliſchen
Handlungen zu unterſcheiden, gegen eine mecha-
niſch-philoſophiſche Sackuhr vertauſchen will,
die ihm dieſen Unterſchied ohne ſein Nachdencken
zeigen ſoll. Er machet ſich auch recht laͤcherlich, weñ
er die Urſachen dieſer mechaniſchen Wuͤrckungen
entdecken und wahrſcheinlich machen will. Wie
muß es hergehen, daß die Ausduͤnſtungen auf ei-
ner Uhr durch den Eindruck einer gemeſſenen Be-
wegung nicht allein den Unterſchied laſterhafter,
muͤſſi-
[91]von den Dichtungen.
muͤſſiger und tugendhafter Leute zeigen, ſondern
auch die Grade des einen und des andern bemer-
ken. Jch moͤgte wohl auch den Unterſchied tu-
gendhafter und laſterhafter Ausduͤnſtungen ken-
nen; Aber wann der Patriot den aͤchten Meiſter
dieſer Uhr entdecken will, ſo muß er Mecca in
Hamburg verwandeln, und er wird der Joaphat
Ebn Jophzdhail leibhaftig ſeyn. Die Gedancken
zu dieſer Erfindung mag er wohl den Schweitze-
riſchen Zuſehern abgekauft haben; ich finde in
einem Blatte derſelben folgende Stelle: Geſezt
aber/ daß du dein Leben bringeſt bis auf 70.
Jahre/ wie kurtz wird dieſer Periodus ſeyn/
wenn du diejenige Zeit/ welche du nur zur Un-
terhaltung deines Lebens aufgewendet haſt/ ab-
rechneſt. Ziehe die folgenden Jahre von der
Summe deines Lebens ab/ ſo werden dir nur
etliche wenige uͤberbleiben:
Und ich koͤnnte ſehr klar zeigen, daß die gantze
52ſte No. aus zween Diſcurſen der Schweitzer zu-
ſammengeſchmelzt iſt. No. 74. koͤmmt eine neue
magiſche Maſchine zum Vorſchein, durch deren
Mittel er entdecken kan, ob die Worte und Mei-
nungen, oder der Mund und das Hertz mit ein-
ander uͤbereinſtimmen. Dieſe Maſchine heiſſet
Pe-kad-en-noſch oder die Gemuͤthesproͤbe;
ſie iſt ihm von einem Chineſiſchen Philoſophen,
Nahmens Bramin-quam-bo-ni verehrt wor-
den.
[92]Abhandlung
den. Jch will mich nicht mit derſelben Beſchrei-
bung verweilen; denn ich gedencke, daß man mei-
ne Gedancken von der Art dieſer Dichtung aus
dem was ich bisher erinnert habe, ſchon errathen
koͤnne. Nur kan ich nicht unangemerckt laſſen,
daß mir das Bekaͤnntniß des Patrioten, da er ge-
ſtehet, daß er ein magiſches Jnſtrument beduͤrffe,
um zu wiſſen, ob er ſelbſt rede, was er dencket,
oder ob Mund und Hertz mit einander uͤberein-
ſtimme, recht albern vorkoͤmmt. Das vierte
magiſche Geheimniß iſt ein himmelblaues Waſ-
ſer, wovon er im V. St. folgendes erzehlet:
Jm Jahre 1722. den 6ten May empfieng ich
durch einen Schiffer/ von einem meiner ver-
trauten Freunde in China/ einem groſſen Chy-
miſten/ Nahmens Miram Tanſi/ ein Schrei-
ben/ nebſt einer kleinen Flaſche mit himmel-
blauem Waſſer: daſſelbe ſtaͤrcket das Geſicht
auf ſolche Weiſe/ daß man eine beſtaͤndige Aus-
duͤnſtung aus dem Gehirne der Menſchen/ und
in derſelben die Leidenſchaften des Gemuͤthes/
figuͤrlich ſehen/ auch verſchiedene Creaturen
in der Luft/ welche darinn/ wie Fiſche im
Waſſer/ ſchwimmen/ auf das kenntbareſte
entdecken koͤnne. Und wenn der Herr Patriot
dieſes Waſſer aus Nova-Zembla haͤtte her-
kommen laſſen, wo ſonſt die ſchwartzen Kuͤnſte
zur groͤſten Vollkommenheit gebracht ſind; ſo
muß er doch nicht glauben, daß die Deutſchen
ſo dumm ſeyn, daß ſie dergleichen abentheurli-
che Erzehlungen im Ernſte aufnehmen. Er
wird wohl der erſte ſeyn, der vorgiebt, daß
die
[93]von den Dichtungen.
die Leidenſchaften des Gemuͤthes figuͤrlicher
Weiſe aus dem Gehirne ausdaͤmpfen. Den
dritten Tag, nachdem er bemeldetes Wunder-
Waſſer empfangen, that er damit die erſte Pro-
be bey einer Sechswoͤchnerinn; davon er uns die
Wuͤrckungen in ſelbiger No. alſo beſchreibet: Hier
ward ich mit groſſer Verwunderung gewahr/
daß in dem Zimmer die Luft voll haͤßlicher
Thiere/ wovon einige wie Baſilisken/ andere
wie Chimaͤren/ und die dritte Sorte wie
laͤngliche feurige Schlangen/ gebildet waren.
Jch bin ſicher, daß niemand ſo leicht errathen
haͤtte, welche Gemuͤthes-Leidenſchaften hierun-
ter ſollen vorgebildet ſeyn; wenn der Patriot
nicht ſorgfaͤltig geweſen waͤre, No. 8. uns zu un-
terrichten, daß dieſes Ungeziefer den Neid, die
Eitelkeit, und die Schmaͤhſucht vorſtellen ſollte.
Durch die Augen der meiſten Anweſenden ka-
men ploͤtzlich aus dem Gehirne einige ſehr uͤbel-
gebildete Figuren mit dicken Koͤpfen und langen
Ohren zum Vorſchein. Jhr werdet euch uͤber
die verborgene Aehnlichkeit verwundern, wenn
ich euch aus No. 8. lehre, daß die Unwiſſenheit
unter dieſem dickkoͤpfigten Bilde mit Eſels-
Ohren, welches durch die Augen aus dem Ge-
hirne hervorgekommen, abgemahlet iſt. Dieſe
winckten dem herumfliegenden Ungeziefer/ wo-
rauf die kleinen Baſilisken in die Augen/ die
Chimaͤren in die Ohren/ und die Schlangen
in den Mund/ ihren Einzug hielten/ ꝛc.
Dieſes Hieroglyphicum ſoll euch zu verſtehen
geben, daß der Neid, die Eitelkeit und die
Schmaͤh-
[94]Abhandlung
Schmaͤhſucht von der Unwiſſenheit ernehret wer-
den. Aber ihr werdet es izo noch kaum verſte-
hen, nachdem ich euch den myſtiſchen Sinn
dieſer Dichtung allbereit erklaͤret habe. Zu die-
ſen ſeltſamen Erfindungen gehoͤret auch das im
CLIII. St. gemeldete Japaniſche in reicher Sei-
de mit Gold bordirte Kraͤuterkuͤſſen, welches
die wunderbare Wuͤrckung hat, daß es, wenn
man es beym Schlaffengehen unter das Haupt-
kuͤſſen leget, die wichtigſten Betrachtungen des
Tages dem Gemuͤthe in einem lehrreichen Nacht-
geſichte vorſtellet; und von welchem der Pa-
triot ruͤhmet, daß alle die ſinnreichen Traͤume
und Geſichter, die in ſeinen Blaͤttern vorkom-
men, Proben von der geſegneten Wuͤrckung
dieſes Traumkuͤſſens ſeyn. Wer dieſen groſſen
Vorrath von ſo vielen zauberiſchen Maſchinen
anſiehet, der wuͤrde den Patrioten eher vor ei-
nen kleinen Hexenmeiſter, als vor einen Patrio-
ten halten, und ſich bereden, daß er bey dem
Gebrauche aller dieſer Jnſtrumente zu weit ſelt-
ſamern Entdeckungen, als in ſeinen Blaͤttern
zu finden ſind, eben keiner Vernunft vonnoͤthen
habe: zumahlen da dieſe Maſchinen ihm eben
denjenigen Dienſt leiſten muͤſſen, den andere
Menſchen von ihrer Vernunft empfangen, ſo
daß wer ſeinem vornehmen Exempel folgen will,
alle ſeine Sorge darauf wenden muß, daß er
ohne Vernunft vernunftmaͤſſig handeln lerne.
Endlich muß ich des Univerſal-Schnupftobacks
fuͤr das Gedaͤchtniß nicht vergeſſen, welcher fuͤr
eine
[95]von den Dichtungen.
eine Europaͤiſche Erfindung des Polymnemons
ausgegeben und im LXXXVII. St. beſchrieben
wird. Dieſem wird die Kraft beygeleget, das
moraliſche Gedaͤchtniß zu ſtaͤrcken, und vor dem
Uebel einer muthwilligen Vergeſſenheit zu be-
wahren. Polymnemon bedienet ſich dieſer Er-
findung allein durch eine geſchickte Beſchreibung
der damit verrichteten moraliſchen Wundercu-
ren, die muthwillige Vergeſſenheit ſeines vori-
gen Standes, ſeiner Zuſagen und Verbindlich-
keiten auf eine lebhafte Weiſe laͤcherlich zu ma-
chen: Jn welcher Abſicht ich auch dieſe Erfin-
dung nicht mißbilligenkan, und iſt uͤberhaupt der
gantze Brief davon nicht uͤbel abgefaſſet.
E N D E.
„Sie ſchmeicheln ſich nicht,
„daß ſie dadurch die Ueberbleibſele des altfranckiſchen Ge-
„ſchmacks gaͤntzlich und auf einmahl ausrotten werden:
„Sie wollen nur nach dem Maaſſe ihres Vermoͤgens auch
„etwas dazu beytragen. ‒ ‒ ‒ ‒ Man wird das
„allmaͤhlige Wachsthum der deutſchen Sprache, den Fleiß
„unſrer Landesleute dieſelbe zu beſſern, die Vollkom-
„menheit, ſo ſie ſchon erlanget, die Fehler, ſo einige von
„ihnen begangen, und die Mittel, ſelbige zu vermeiden,
„als in einem kurtzen Begriff beyſammen antreffen.„
„Ehe noch einige Geſellſchaf-
„ten in unſrem Vaterlande ſich hervorthaten, hatten ſchon
„viele einzele gelehrte Leute manches zur Aufnahm und
„Erklaͤrung unſrer Sprache beygetragen, ob es gleich
„nur Stuͤckwerck zu nennen iſt. Man kan den Schwei-
„zern, den Schwaben, und den Rheinlaͤndern den
„Ruhm nicht abſtreiten, daß ſie die erſten geweſen, die
„hierinne einen Verſuch gewaget haben. Wer nur eini-
„germaſſen weiß, was in Zuͤrch und Tuͤbingen, in Aug-
„ſpurg und Franckfurt von ſolcher Art Buͤchern, ſchon
„in der Mitte und zu Ende des ſechszehnten Jahrhunderts,
„zum Vorſchein gekommen iſt, der wird mir ſeine Bey-
„ſtimmung in dieſem Stuͤcke ſchwerlich verſagen. Der
„gelehrte Conrad Geßner allein ſchrieb ſchon damahls ſo
„viel zur Erlaͤuterung unſrer Mutterſprache, daß wir es
„ihm nicht genug verdancken koͤnnen. ꝛc.„
„iſt mir ein kleiner Geiſt, der um orthographiſcher Fehler
„willen ein Ungewitter erreget, ſonderlich in der deutſchen
„Sprache, da wir eben kein unwiderſprechliches Modell
„haben, wie hergegen in der lateiniſchen und griechiſchen;
„und da noch kein Papſt eroͤrtert hat, ob das Meißniſche,
„Hollſteiniſche oder Alplaͤndiſche Deutſch das beſte ſey,
„wenn ſolche Nationen daruͤber diſputieren wollten, wie
„ſie denn koͤnnten, eine ſo wohl, als die andere. Alſo
„wenn um der beliebten Kuͤrtze willen etwa ein zuſammen-
„geſeztes Wort, welches eben in keinem Opitz oder Schot-
„tel ꝛc. zu finden iſt, vorkoͤmmt, oder wenn ein bekanntes
„franzoͤſiſches oder lateiniſches, ſo man mit drey deutſchen
„oder einem dunckeln deutſchen haͤtte geben, und ſich da-
„ruͤber eine halbe Viertelſtunde beſinnen ſollen ꝛc. ſo
„wuͤrde mir der wiederum ein muͤſſiger Criticus ſeyn, der
„Weile haͤtte, einen Proceß daruͤber zu fuͤhren, und koͤnn-
„te ich nicht ſehen, was er gewinnen wuͤrde. Z. Ex.
„Wenn ich ſage Object, nicht aber mit etlichen Neulingen
„Vorwurff, ſo rede ich hier um ein nahmhaftes deutli-
„cher, als ſie; denn es muß einer erſt wiſſen, was
„Object iſt, bevor er wiſſen kan, was ich durch Vorwurff
„verſtehe: Sonſt doͤrfte er wohl, wie jener, den Satz:
„Der Verdienſt Chriſti iſt der Vorwurff des Glaubens,
„uͤberſetzen: Exprobratio fidei eſt meritum Chriſti. Der-
„gleichen giebt es unzaͤhlig viel, wodurch die deutſche
„Sprache bisher nicht verſchoͤnert, ſondern wohl verdun-
„kelt, und halb arabiſch gemachet worden iſt. Wer
„des Herrn von Stuben erg, Harsdoͤrfers ꝛc. Ueber-
„ſetzungen lieſt, der iſt oͤfters genoͤthiget uͤber die lateini-
„ſche, italieniſche ꝛc. Originale zu gehen, damit er die
„Ueberſetzung daraus verſtehen lerne. Genug hiervon.„
„er auch zwanzig Jahre Plattdeutſch lernte, doch weder
„im Reden noch Schreiben gantz ohne Tadel ſeyn wuͤrde.
„Wenn dem ſo iſt, ſo zeiget dieſes wohl die Schwie-
„rigkeiten der Mundart an, allein die Schoͤnheit wird
„memand daraus wahrnehmen.
„Wenn auch Attila, ſagt er, ſeine unſtrei-
„tig barbariſche Sprache ſo geliebet, daß er ſie auszu-
„breiten und ſeinen Ueberwundenen anfzudringen geſucht;
„um wie viel iſt dieſer wilde Sieger nicht einigen Printzen
„uͤberlegen, die ihre Mutterſprache eher ausrotten, als
„ausbreiten; lieber ſelbſt verachten und vergeſſen, als
„andern anzupreiſen und ſie fortzupflantzen ſuchen?
„Wie ſchlecht muß man nicht von ſeinem Vaterlande ur-
„theilen, wenn man auch nur in dieſem Stuͤcke ein Feind
„deſſelben ſeyn, und die Sprache einer Handvoll armſe-
„liger Fluͤchtlinge, die bey uns Brodt und Schutz geſu-
„chet haben, ſeiner eigenen vorziehen kan: Da doch
„Barbarn auch die Sprache des Landes, welches ſie ver-
„laſſen hatten, noch beybehalten und beliebet haben.„
„Dabey iſt die billige Behutſamkeit
„zu gebrauchen, daß man 1.) alle fremde Worte, wenn
„ſie mit gleichem Nachdruck nicht koͤnnen gegeben wer-
„den, inſonderheit die Kunſtworte nicht eigenſinnig ver-
„banne, wie ſich einige der Fruchtbringenden Geſellſchaft
„zum Nachtheil des erſten guten Abſehens mit Auswechs-
„lung des Worts Ueberſetzer fuͤr einen Circkel, Tagleuch-
„ter fuͤr ein Fenſter ꝛc. laͤcherlich gemacht. Sondern die-
„ſelben vielmehr nach dem Beyſpiel aller andern Voͤlcker,
„mit Verleihung des Buͤrgerrechts in die deutſche Spra-
„che aufnehme, und mit deutſchen Buchſtaben gleichſam
„in einer gleichen Tracht mit andern ununterbrochenen Zei-
„len auffuͤhre.„
„Wie gute
„Aerzte nicht allezeit die gelindeſten Wege in ihren Curen
„gehen; ſondern auch zuweilen mit Feuer und Eiſen dem
„Uebel ſteuren muͤſſen: So muß auch ein tiefgewurzeltes
„Uebel in der Schreibart, Poeſie, und Beredſamkeit oft-
„mahls durch eine ſatiriſche Lauge angegriffen, und da-
„durch auf das nachdruͤcklichſte ausgerottet werden. ‒ ‒ ‒
„Und wie ſehr waͤre es zu wuͤnſchen, daß ſchon unſre
„Vorfahren uns dergeſtalt aufgeraͤumt haͤtten.„
„Es iſt genug, daß wir verſi-
„chert ſind, ſie wuͤrden uns unſre duͤrftige Erfindungs-
„kraft nicht ſo vielmahls erzehlen koͤnnen, wenn ſie nicht
„von uns gelernet haͤtten, uns einerley Sache auf tau-
„ſend Bogen kund zu thun; ſo daß alſo ihr Vorwurff,
„wenn er gedruckt wird, zugleich innerlich ſeine Widerle-
„gung allezeit mit ſich fuͤhret.„ Mit eben dieſer Vorſtel-
lung hat Hr. Prof. Gottſched in ſeiner Anmerck. zu dem Art.
Bouhours den Unglaubigen den deutſchen Witz ſichtbar ma-
chen wollen: „Die Deutſchen, ſagt er, haben an dem
„Schießpulver und Geſchuͤtze, an der Buchdruckerey, an
„dem Kupferſtechen, an den Fernglaͤſern, an dem Por-
„cellan, u. a. m. ſolche Proben ihres Witzes abgeleget,
„daß keine andere Nation ihnen eben ſo viel und eben ſo
„witzige Entdeckungen aufweiſen kan. ꝛc.„
„Der gute Geſchmack iſt bey
„uns Deutſchen noch nicht ſo allgemein, daß man ſich fer-
„ner keine Muͤhe geben duͤrfte, ihn mehr und mehr em-
„por zu bringen. Wir wollen nur unſre Poeſie anſehen.
„Was fuͤr wunderlich Zeug koͤmmt nicht darinnen noch
„taͤglich zum Vorſchein? Und wer ſiehet nicht, daß die-
„ſes die Ueberbleibſel des altfraͤnckiſchen Geſchmacks ſind?
„Woher ruͤhret aber ſolches? Von nichts anders, als
„weil unter den Schriften unſrer Dichter, die wir Anfaͤn-
„gern als Muſter anpreiſen, noch viel rauſchendes Flit-
„tergold anzutreffen iſt.„
„Woher
„koͤmmt es, daß die deutſche Nation, die bey Canitzens
„und bey Guͤnthers Gedichten ſo eifrig geweſen, ſie zu
„kauffen und zu leſen, und andern anzupreiſen, daß man
„in kurtzer Zeit ſo viele Auflagen machen muͤſſen, nur im
„Abſehen auf das eintzige Paradies Milrons ſo phlegma-
„tiſch geworden?„
„Seine Kenntniß
„in den wahren Regeln der Dichtkuuſt war ſehr mittel-
„maͤſſig, ſeine Beurtheilungskraft ſehr ſeicht und unfaͤhig,
„das wilde Feuer der Fantaſie zu maͤſſigen.„ Und auf
der 188ſten Seite: „Was die Gedichte ſelbſt anlanget,
„ſo haben ſie faſt durchgehends ein ſehr flieſſendes We-
„ſen, ein richtiges Sylbenmaaß, und eine richtigere, re-
„gelmaͤſſigere Sprache, als man in vielen unſrer Dich-
„ter anmercket. Allein was das innere anlanget, ſo ſind
„viele, ja die meiſten Stuͤcke einem Quodlibet aͤhnlicher,
„als einem ordentlichen und vernuͤnftig zuſammenhangen-
„den Wercke. Oft ſcheint der Reim, und nicht der Poet
„den Vers gemacht zu haben: Jndem er nicht anders
„ausſieht, als ob er lauter Bouts-rimez gemachet, oder
„die Einfaͤlle im huͤbneriſchen Reimregiſter geſuchet haͤtte.
„‒ ‒ ‒ ‒ Ja auch in ſeinen Todesgedancken hat er
„das geiſtliche mit dem weltlichen, die Bibel mit den Fa-
„beln der Heiden ſo durch einander gemenget, daß man
„nicht wiſſen kan, ob er als ein Heide oder als ein Chriſt
„habe ſterben wollen. Hernach weiß er ſelbſt in den er-
„habenſten Oden nicht den Wohlſtand, und das ſo ge-
„nannte πρέπον zu beobachten.„ Jn dem XXIV. St.
derſelben Critiſchen Beytraͤge, in den Anmerckungen uͤber
Clercs Gedancken von der Poeſie Bl. 589. ſtehet: „Was
„ich von Hofmannswaldau ſage, das gilt auch von eini-
„gen neuern, als Amthorn, Guͤnthern, und ein Paar
„noch lebenden Dichtern [vielleicht Triller und Gottſched]
„theils von ſchwuͤlſtiger, theils von niedriger Schreibart.
„Wohl dem, der von Jugend auf auf gute Muſter ver-
„fallen iſt. z. E. auf den Virgil, Horatz, Opitz, Canitz.„
„Jch
„wollte dieſe Schreibart die Sprache der Freundſchaft,
„zur Nachahmung der Sprache des Schertzes, nennen;
„welche ein gewiſſer neuer Briefſchreiber an ſeinen Lands-
„leuten gantz beſonders erhebt, und es den Deutſchen
„als einen groſſen Fehler vorwirft, daß ſie dergleichen
„nicht haͤtten. Die Deutſchen, ſagt er, ſchreiben die
„ernſthafteſten Oden, und die luſtigſten Gedichte, in ei-
„nerley Versart. Wir aber haben eine beſondere maro-
„tiſche Schreibart, in welcher wir nur ſchertzen. Wenn
„ſie, mein Herr, etwa dieſe Sprache noch nicht kennen,
„ſo will ich ſie ihnen doch ὡς ἐν παρόδω, ut φιλέλληνες lo-
„quuntur, erklaͤren. Stellen ſie ſich eine Sammlung alt-
„fraͤnckiſcher, poͤbelhafter, und wider die Grammatick
„verſtoſſender Woͤrter und Redensarten vor. Sie ſey
„alſo noch ein Grad ſchlechter, als dasjenige, was wir
„im Deutſchen die Hans-Sachſen-Schreibart nennen,
„welcher wir uns bisweilen zum Lachen bedienen; allein
„die ein Dichter alsdann ſtarck gebrauchen muͤßte, wenn
„er das ſicherſte Mittel haben wollte, uns unertraͤglich zu
„werden. Wenn Sie ſich dieſe Schreibart einbilden, mein
„Herr, ſo haben ſie dasjenige, was die Groͤſſe gewiſſer
„auslaͤndiſcher Dichter, und einen Theil von dem Ruhme
„ihrer Nation ausmachet. Jch weiß nicht, ob nach dem Ur-
„theile der gantzen Nation, oder nur bloß nach dem Aus-
„ſpruche des groſſen Kunſtrichters, der vielleicht auch den
„Homer und Deſpreaux tadelt, daß ſie die Batrachomyo-
„machie und das Pult nicht in marotiſchen Verſen geſchrie-
„ben haben. ꝛc.„
„erfindſamen Franzoſen betrifft, ſo werden ihrer, wenn man
„die Benennung in ihrem eigentlichen Verſtande nimmt,
„wohl eben keine groͤſſere Anzahl ſeyn, als unter unſren
„Landesleuten. Jhr beruͤhmteſter Satirenſchreiber Boi-
„leau hat die Gedancken des Horatz und Juvenals ſo gut
„zu uͤberſetzen, und fuͤr ſeine eigene auszugeben gewußt,
„als es unſer geſchickte Satirenſchreiber Rachel gekonnt hat;
„ihr beſter Fabeldichter, la Fontaine, hat nicht mehr eige-
„nes, als unſer Herr von Hagedorn; und ihr groſſer
„Corneille hat noch weniger Antheil an ſeinem ſchoͤnen
„Trauerſpiele, Cid, als ſich unſer groſſe Befoͤrderer der
„deutſchen Schaubuͤhne von ſeinem ſterbenden Cato aus
„Beſcheidenheit zugeeignet. Was fuͤr eine Pralerey iſt es
„denn nicht, wenn man ſich mit ſeinem erfindungsreichen
„Geiſte in der Dichtkunſt ſo viel weiß? Man darf nur
„einmahl ein wenig unterſuchen, was fuͤr eigenthuͤmliche
„Fruͤchte die franzoͤſiſche Dichtkunſt getragen hat, und
„was fuͤr Arten von Gedichten als eingebohrne bey ihnen
„anzuſehen ſind. Sollte es nicht gewiſſermaſſen der Ab-
„ſchaum des Witzes ſeyn? Denn was iſt es wohl anders,
„das ſie in der Poeſie erſonnen haben, als Endreime,
„ein Rondeau, ein Virelay? Wahrhaftig dieſes ſind
„recht beneidenswuͤrdige Erfindungen des franzoͤſiſchen
„Witzes! Welcher vernuͤnftige Deutſche wollte ihnen die-
„ſe Vorzuͤge nicht gern alleine laſſen? Wer wollte ihnen
„nicht gern die Ehre goͤnnen, noch mehr dergleichen Schoͤn-
„heiten und Seltſamkeiten auszuſinnen?„ Jch muß
„g weſen, den Auslaͤndern die Ehre der Erfindung zu-
„zuſchreiben.„ Und in der Vorrede zu dem erſten St.
der Crit. Beytraͤge wird folgendes Bekenntniß abgeleget:
„So weit es unſre Nation in Vertilgung der alten Bar-
„barey, und in Abſchaffung des vormahligen ſcythiſchen
„und gothiſchen Geſchmackes in allerley Dingen gebracht:
„So wenig kan ſich dieſelbe ruͤhmen, daß ſie es darinnen
„ihren ſuͤdlichen und weſtlichen Nachbarn, ich meine
den
„den Jtalienern, Franzoſen, Hollaͤndern, und Engel-
„laͤndern, alldereit gleich gethan haͤtte. Und dieſes iſt
„gar kein Wunder. Es gehoͤrt mehr als ein Jahrhun-
„dert dazu, wenn ein gantzes Volck aus ſeiner natuͤrli-
„chen Rauhigkeit nnd Barbarey geriſſen werden ſoll. ‒ ‒
„Franckreich iſt ſpaͤter, als die Jtaliener, zu demjeni-
„gen Grade der Vollkommenheit gelanget, den wir
„bisher dieſem Volck haben zugeſtehen muͤſſen. ‒ ‒ ‒ ‒
„Wir Deutſchen haben uns hundert Jahre ſpaͤter beſon-
„nen, ſeit dem nemlich der unſterbliche Opitz ‒ ‒ ‒ ei-
„nen gantz andern Geſchmack eingefuͤhret hat. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
„Doch Opitz iſt noch nicht hundert Jahre todt, und es
„fehlt noch viel daran, daß wir uns andern benachbar-
„ten Voͤlckern an die Seite ſetzen koͤnnten. Die Anzahl
„ſchoͤner Schriften in unſrer Mutterſprache iſt noch ſehr
„klein. Die Meiſterſtuͤcke unſrer Poeten erſtrecken ſich
„nur erſt bis auf die kleinern Gattungen der Gedichte,
„ja auch darinn ſind die regelmaͤſſigen und untadelichen
„noch nicht ſehr haͤufig zu haben. Die Beredſamkeit
„hat gleichfalls kaum die Kinderſchuhe vertreten, muß
„auch noch etwa ein halbes Jahrhundert Zeit haben, ehe
„ſie zu einem maͤnnlichen Alter gelangen wird. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
„Seichte Geiſter ſehen alle unſre Scherben vor Edelge-
„ſteine an; Wer aber die wahren Vollkommenheiten
„der Auslaͤnder nach den Regeln der Vernunft und Kunſt
„kennen gelernet, der kan ſich nicht enthalten, unſren
„Eigenduͤnckel mit Erbarmen, und die daher entſtehen-
„de Nachlaͤſſigkeit mit einigem Unwillen anzuſehen.„
Und in eben dieſem erſten St. auf der 137ſten Seite ſtehet
folgendes Zeugniß: „So ſchmeichelhaft es unſrer Ei-
„genliebe klinget, wenn wir es unſrem Vaterlande in
„dem iztlaufenden Jahrhundert zum Lobe nachſagen, daß
„darinnen alle Kuͤnſte und Wiſſenſchaften auf den hoͤch-
„ſten
„ſten Gipfel der Vollkommenheit gebracht worden: So
„wenig kan man dieſes glauben, wenn man dieſelben ſtuͤck-
„weiſe durchgehet, und die vermeinten Meiſterſtuͤcke,
„die daſſelbe hervorgebracht, mit critiſchen Augen betrach-
„tet. Wer ſollte es z. Ex. nicht dencken, daß wir in
„der Poeſie, nach einer ſolchen Menge von Poeten, als
„Deutſchland aufweiſen kan, einen groſſen Vorrath ſchoͤ-
„ner Muſter haͤtten, die wir in allen Gattungen der
„Gedichte zeigen koͤnnten? Gleichwohl fehlt es uns in
„den allerwichtigſten Theilen derſelben, ich will nicht ſa-
„gen an vollkommenen, ſondern nur an ertraͤglichen
„Proben. Jn Heldengedichten haben wir noch nichts,
„als den Wittekind; wieviel aber von demſelben zu hal-
„ten ſey, wollen wir mit eheſtem in einem eigenen Ar-
„tickel anzeigen. Jn Tragoͤdien haben wir noch nichts
„in oͤffentlichem Drucke, als Lohenſteins und des aͤltern
„Gryphii Stuͤcke: die wir auch bey Gelegenheit nach
„den Regeln unterſuchen wollen. Jn Comoͤdien haben
„wir auſſer ein Par Stuͤcken von gedachtem Gryphius,
„nichts als Riemers und Weiſens Comoͤdien, ſo in eini-
„gen Ruhm gekommen ſind. Gleichwohl ſind auch dieſe
„ſo ſchlecht nach den theatraliſchen Regeln eingerichtet,
„daß man ſich wundern muß, wie ſie ſich ſo lange in der ein-
„mahl erlangten Hochachtung erhalten koͤnnen. Alle
„dieſe Stuͤcke aber ſind in dem vorigen Jahrhundert ver-
„fertiget worden, und da wir in den 30. Jahren des
„itzigen, anſtatt dieſer unvollkommenen Verſuche was beſ-
„ſers ſollten geliefert haben; ſo haben wir nichts als etliche
„Schocke Opern aufzuweiſen; eine poetiſche Mißgeburt ꝛc.„
Will aber jemand ein neueres Zeugniß, ſo kan ich aus
dem XXII. St. der Beytraͤge eins anfuͤhren: Es heißt
daſelbſt auf der 466ſten Seite: „Jch weiß es nicht zu
„ſagen, wie mir meine Landsleute, die Deutſchen, in
„An-
„Anſehung ihres Geſchmacks vorkommen. Sie bezeigen
„eine Neigung zu allen Arten des Sinnreichen, eben ſo
„wohl als ihre Vorgaͤnger die Alten, und ihre Nachbarn,
„die uͤbrigen Europeer: Aber hierinnen finde ich einen
„groſſen Unterſchied, daß jene allemahl ſelbſt gearbeitet,
„und ſich dabey keine Regeln vorgeſchrieben, als ſolche,
„die theils die geſunde Vernunft, und die Bequemlich-
„keit in der Ausarbeitung, theils der Wohlſtand in der
„Ausuͤbung, erfoderten. Dieſe aber ſcheinen ſich faſt
„vor eigenen Arbeiten zu fuͤrchten, und laſſen ſich an
„ſclaviſchen Nachahmungen und Ueberſetzungen begnuͤ-
„gen; legen ſich aber dabey ſo ſchwere und faſt nicht zu
„uͤberſteigende Regeln auf, daß ſie mit Widerwillen ar-
„beiten, ſchwer und unverſtaͤndlich werden, endlich auch
„der Natur Gewalt thun.„
„Der ſel. Hr. Neukirch hat auf
„dem deutſchen Parnaß ſchon vorlaͤngſt einen ſolchen Rang
„erhalten, daß man alles, was aus ſeiner Feder gefloͤſſen
„iſt, nicht ohne Beyfall und Ergetzung zu leſen pfleget.„
Und im XIII. St. Bl. 125. „Daß Neukirch einer von
„unſren ſtaͤrckſten Poeten geweſen, das iſt einem jeden
„Liebhaber deutſcher Gedichte bekannt. ‒ ‒ ‒ Denn
„ſeitdem er in Berlin, nach dem Exempel des groſſen
„Canitz, die Natur zur Fuͤhrerinn genommen, hat er al-
„len alten Kuͤnſten gute Nacht gegeben, und die Exem-
„pel der beſten franzoͤſiſchen Poeten ſo gluͤcklich nachgeah-
„met, daß er ſie in vielen Stuͤcken uͤbertroffen.„
„Allein es ſind darinn
„ſo viel matte Ausdruͤcke, langgedehnte Perioden, und
„ſolche Unrichtigkeiten im Sylbenmaaſſe, daß wir mit
„Recht wuͤnſchen koͤnnen, daß Neukirch die Arbeit 20.
„Jahre eher angefangen haben moͤchte.„
„Der treffliche Opitz, ſo bey uns, wie Virgil bey den
„Roͤmern, der erſte und lezte ſeines Schrots und Korns
„geweſen.„
„Der
„unſterbliche Opitz hat in allem, was unſre Sprache,
„und die edelſten unter allen freyen Kuͤnſten angehet,
„einen gantz andern Geſchmack eingefuͤhret. Er ſahe
„damahls die Muſter der Franzoſen und Niederlaͤnder
„ſchon in groſſer Vollkommenheit vor Augen, und da er
„mit den alten Griechen und Roͤmern durch ihre Schrif-
„ten ſo viel Bekanntſchaft hatte, ſo ſchmerzte es ihn, die
„Schriften ſeiner Nation noch in ſo unfoͤrmlicher Geſtalt,
„und ſeine Mutterſprache in ſolcher Rauhigkeit zu ſehen.
„Er gieng daher einen zu ſeiner Zeit in Deutſchland gantz
„neuen Weg, und brach allen ſeinen Nachfolgern ſo
„gluͤcklich die Bahn, daß wir die groſſe Veraͤnderung, ſo
„dadurch entſtanden, nicht genugſam bewundern koͤn-
„nen. Doch Opitz iſt noch nicht 100. Jahre todt, und
„wir ſind mit der Ausfuͤhrung eines ſo groſſen Werckes,
„als die Verbeſſerung des Geſchmacks der Deutſchen iſt,
„kaum bis auf die Helfte gekommen.„
„Es iſt Hrn. Gott-
„ſched nichts weniger in Sinn gekommen, als die heuti-
„ge deutſche Schaubuͤhne mit allen ihren Staatsactio-
„nen und Poſſenſpielen zu vertheidigen. Die gute Tra-
„goͤdie und Comoͤdie iſt noch zur Zeit in Deutſchland nicht
„recht zu Hauſe. Was fuͤr elendes Zeug wird nicht von
„den gemeinen Comoͤdianten uͤberall aufgefuͤhret? Und
„wer kan es leugnen, daß oft noch weniger Verſtand
„und Ordnung, Geſchmack und gute Sitten darinnen
„herrſchen, als in den heutigen Opern? ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
„Dieſe Art Schauſpiele iſt noch ſo gemein in Deutſchland
„nicht, daß man ſie NB. unſre deutſche Schaubuͤhne nen-
„nen koͤnnte. Sie iſt noch gleichſam als ein Gaſt auf
„fremdem Boden anzuſehen; ſo lange wir uns mit lau-
„ter Ueberſetzungen fremder Stuͤcke behelffen muͤſſen.
„Denn der deutſchen Originale giebt es leider! noch ſo
„wenige, daß man kaum eine Woche lang gute deutſche
„Stuͤcke wuͤrde ſpielen koͤnnen.„
„Was diejenigen betrifft, die ſich auf. die Dichtkunſt le-
„gen
„gen; ſo iſt es freylich eine lange Zeit her in Deutſch-
„land dabey geblieben, daß man ſich bey den Reimarten,
„dem Sylbenmaſſe, dem Wohlklang, der Wortfuͤgung,
„und kurtz um die aͤuſſerliche Geſtalt der Verſe Muͤhe ge-
„geben.„ Sonſt kan man nachſehen in der Anm. (N).