Um ein kleines Buch nicht mit einer groſſen
Vorrede zu belaͤſtigen, thue ich wol am be-
ſten, wenn ich dieſes Jdeal und dieſe Summa-
rien einer Univerſalhiſtorie, die nicht nach der
Engliſchen Welthiſtorie geformt ſind, mit einer
hier verzeihlichen Nachlaͤſſigkeit ihrem Schick-
ſale uͤberlaſſe, und alle die Einwuͤrfe, die mir
theils bereits gemacht worden ſind (denn die 6
erſten Bogen ſind ſchon ſeit dem Junius 1771
im Publico), theils wahrſcheinlich noch gemacht
werden duͤrften, beſonders was die Moͤglichkeit
meines Plans, die Brauchbarkeit deſſelben in
Anſehung unſrer zeitigen Litteratur, und den Ge-
brauch runder Zahlen ſtatt der wahren, betrifft,
vors erſte gaͤnzlich uneroͤrtert laſſe; jedoch mit
Beziehung auf dasjenige, was ſchon im Buche
ſelbſt an mehreren Orten als Antwort auf vorher-
geſehene Einwuͤrfe vorkoͤmmt.
Die Beſtimmung dieſer Bogen wird uͤbri-
gens, hoffe ich, niemand verkennen wollen.
Sie ſind ſo wenig eine Univerſalhiſtorie, als eine
hiſtoriſche Geſetzgebung: ſie ſind blos eine Vor-
ſtellung meiner Univerſalhiſtorie, das iſt, eine
mit Beweiſen belegte Vorſtellung des Plans, der
Ordnung, und des zwar etwas erweiterten, mir
aber immer noch zu engen Umfangs, wornach
ich dieſe Wiſſenſchaft in halbjaͤhrigen Vorle-
ſungen noch zur Zeit vorzutragen im Stande bin.
Sie ſind ein Leitfaden fuͤr meine Zuhoͤrer, de-
nen ich dadurch ein paar Wochen Prolegomenen
erſpare, die Muͤhe des Nachſchreibens vermin-
dere, und die beſtaͤndige Ueberſchauung des Gan-
zen erleichtere. Sie ſind hoͤchſtens eine Anfrage
an einige Gelehrte, die mir die Ehre erwieſen
haben, eine concentrirte und dennoch etwas
ausfuͤhrliche Weltgeſchichte von mir zu verlan-
gen, mit denen ich mich aber noch vorher uͤber
die Materie und Form eines ſolchen Buches oͤf-
fentlich beſprechen wollte.
Goͤttingen
den 4 Jan. 1772.
Schloͤzer.
Wir wollen die Revolutionen des
Erdbodens, den wir bewohnen,
und des menſchlichen Geſchlech-
tes, dem wir angehoͤren, im Ganzen uͤber-
ſehen, um den heutigen Zuſtand von bei-
den aus Gruͤnden zu erkennen. Wir wol-
len der Geſchichte der Menſchheit in Oſten
und Weſten und dies- und jenſeits der Linie,
ihrer ſucceßiven Entſtehung, Veredlung
Aund
[2]Kap. I. §. 1
und Verſchlimmerung auf allen ihren We-
gen, von Laͤndern zu Laͤndern, von Volke
zu Volke, von Zeitalter zu Zeitalter, nach
ihren Urſachen und Wirkungen, nach-
ſpuͤren; und in dieſer Abſicht die groſſen
Weltbegebenheiten im Zuſammenhan-
ge durchdenken. Mit einem Worte: wir
wollen Univerſalhiſtorie ſtudiren.
Jedes deutſche Land, faſt jede deut-
ſche Stadt, hat ihre Jndividual-Geſchich-
te. Aus der Verbindung aller derſelben,
und Bemerkung deſſen, was in allen ein-
zelnen Theilen Deutſchlands fuͤr das Gan-
ze wichtig iſt, entſtehet die allgemeine
deutſche Geſchichte, die die Frage beant-
wortet: wie ward Deutſchland? — Jedes
Volk unſers Welttheils hat ſeine Special-
Geſchichte; die Summe von allen, in ein
Syſtem geordnet, giebt eine allgemeine
Europaͤiſche Geſchichte, die der philoſo-
phiſchen Neugier die Fragen aufloͤßt: wie iſt
Europa worden, wodurch iſt es zu einem
ſo
[3]Begriff der Univerſalhiſtorie.
ſo hohen Grade von Cultur gelangt, wie
hat ſich dieſer kleinſte der Welttheile durch
Aufklaͤrung, Sitten, und Macht uͤber die
andern ſo empor geſchwungen? — Noch
weiter breitet ſich die Univerſalhiſtorie
aus, noch hoͤher abſtrahiret ſie; ſie umfaſſet
alle Welttheile und Zeitalter, und ſammlet
alle Voͤlker in allen Laͤndern zuſammen. Jhr
Gegenſtand iſt die Welt und das menſch-
liche Geſchlecht: im zweiten Falle war ſol-
cher nur Europa und das Europaͤiſche
Menſchengeſchlecht: im erſten bloß Deutſch-
land und die deutſche Nation.
So war die Welt von Anfang nicht,
wie ſie itzo iſt; und ſo wie ſie itzo an dem
einen Ende ausſieht, finden wir ſie an dem
andern nicht. Erd- und Reiſebeſchreiber
und Statiſtiker ſchildern uns theilweiſe, wie
ſie itzo iſt. Denkmaͤler, Annalen, und
Specialgeſchichten lehren uns theilweiſe, wie
ſie vordem war. Fabeln, Romane, und
A 2Voltai-
[4]Kap. I. §. 3.
Voltaires zeigen, wie ſie haͤtte ſeyn koͤnnen.
Sittenlehrer, Politiker, und Naturkenner
beſtimmen, wie ſie ſeyn ſollte. Die Uni-
verſalhiſtorie muß uns zeigen, wie ſie das
im Ganzen und in ihren Theilen ward,
was ſie vordem war und itzo iſt: ſie ſoll die
vergangene Welt an die heutige anſchlieſſen,
und das Verhaͤltniß beider gegen einander
lehren.
Das menſchliche Geſchlecht hat
Revolutionen erlitten. Es iſt nicht mehr,
wie es vordem war; es iſt in Moſkau nicht,
wie es in Sicilien, Japan, und Kanada
iſt.
Alle Menſchen ſind Geſchoͤpfe von einer
Art. Der Neger am Senegal, der Kal-
muͤcke am Altaj, der Jroke in Nordamerica,
und ſelbſt der Kakurlacke auf Java, haben
mit dem Deutſchen, Franzoſen, und Britten
einen Stammvater: dies iſt ein Satz, den
Moſe aus der Offenbarung, und Buffon
aus
[5]Begriff der Univerſalhiſtorie.
aus der Naturkunde, behaupten. Aber wel-
che aͤuſſere und innere Verſchiedenheiten fin-
den ſich unter allen dieſen Menſchenkindern:
und wie maͤchtig muͤſſen die Revolutionen
ſeyn, die dieſe Soͤhne Eines Vaters, in
dem Wechſel der Zeiten, ſich einander an
Koͤrper und Geiſte, an Macht und Sitten,
ſo unaͤhnlich gemacht haben!
Man denke ſich zwei gleichzeitige Voͤl-
ker, aber in verſchiedenen Laͤndern; etwa
Hottentotten am Cap, und Britten an der
Thames. Noch mehr, man ſtelle ſich einer-
lei Volk in einerlei Lande, aber in verſchie-
denen Zeitaltern, vor: und halte z. Ex. die
alten Unterthanen der Pharaonen und Pto-
lemaͤer, gegen die heutigen Sklaven der Os-
maner am Nil; die jetzigen Moͤnche, Ka-
ſtraten und Saͤngerinnen Jtaliens, gegen die
alten Weltſtuͤrmer, auf deren Graͤbern ſie
wohnen, und nach deren Namen ſie ſich
noch immer Roͤmer nennen; uns weichliche
verfeinerte Deutſche des 18ten Jahrhunderts
A 3gegen
[6]Kap I. §. 3.
gegen die rohen Scharen Arioviſts und Her-
manns. Kaum ſollte man glauben, daß
dieſe — ausgeartete oder veredelte? — Voͤl-
ker zunaͤchſt aus Einem Stamme ſproſſen,
und Enkel Eines Anherrn ſind.
Der Menſch iſt von Natur nichts,
und kann durch Conjuncturen alles werden:
die Unbeſtimmtheit macht den zweiten
Theil ſeines Weſens aus. Tauſend Kraͤfte
ſchlummern in ihm, und werden ewig ſchlum-
mern, wenn nicht Anlaͤſſe ſie vom bloſſen
Koͤnnen zum Wirken rufen. Kommt er in
Wildniſſe, und waͤchſt unter Schaafen auf:
ſo wird er ein Schaaf, frißt Schaafkraͤu-
ter, und bloͤket wie ein Schaaf. Kommt
er in Situationen, wo ſeine Vernunft er-
wacht: ſo ruckt er von der Stufe weg, auf
der er bisher neben dem Thiere ſtund, und
ſteigt entweder aufwaͤrts, und veredelt ſich,
und wird ein Sokrates, ein Antonin, ein
Montesquieu; oder er ſinkt niederwaͤrts,
und verſchlimmert ſich, und wird ein Kan-
nibal, ein Nero, ein Pizarro.
Welchen Zirkel von Veraͤnderungen
haben die Bewohner des Erdbodens durch-
laufen muͤſſen, ehe ſie die ihnen eigene
Stufe der Cultur erreichten! Warum
ſchwangen ſich einige fruͤher und hoͤher, wa-
rum andre ſpaͤter oder gar niemals empor,
warum ſanken noch andre durch raffinirte
Laſter ſogar unter das Thier herunter? Wo-
her der Fortgang des einen, der Stillſtand
des andern, der Ruͤckfall des dritten Vol-
kes? Jch kenne Barbaren, die vormals
aufgeklaͤrte und emſige Nationen waren:
ich kenne hoͤchſt verfeinerte Voͤlker, die vor-
mals Wilde waren: ich kenne Barbaren
und Wilde, die es noch itzo ſind, und ver-
muthlich immer waren. Welche Vorfaͤlle,
welcher Zuſammenfluß oder welcher Man-
gel von Vorfaͤllen, befoͤrderte den Fortgang
der Menſchheit bei dem einen Volke, hin-
terte ihn bei dem zweiten, modificirte ihn
bei dem dritten und vierten auf dieſe und
jene Weiſe? — die Univerſalhiſtorie, oder
A 4die
[8]Kap. I. §. 4. 5.
die Betrachtung der groſſen Weltbegeben-
heiten im Zuſammenhange, wird dieſe Fra-
gen loͤſen.
Der Erdboden hat Revolutionen
erlitten. Er iſt nicht mehr, wie er aus
der Hand des Schoͤpfers kam. Er aͤndert,
verſchoͤnert, verſchlimmert ſich, wie das
Menſchengeſchlecht, das ihn bewohnt: manch-
mal durch die Natur; noch oͤfters durch
Menſchenhaͤnde, je nachdem ſolche durch
Uebermacht, Meinungen, und Tempera-
ment, von Eroberern, Geſetzgebern, Reli-
gionsſtiftern, und Klima, allgewaltig gelei-
tet werden.
Die Natur hat noch in neuern Zei-
ten den Zugang zum alten Groͤnland durch
Eisberge verrammelt. Sie hat Herculaneum,
Pluͤrs, Lima, und viele andere Staͤdte und
Gegenden verſchuͤttet; und dafuͤr im Archi-
pelagus eine neue Jnſel gebohren. Sie
ſpielet
[9]Begriff der Univerſalhiſtorie.
ſpielet mit den Graͤnzen zwiſchen Erdreich
und Gewaͤſſer: dort fliehet die See von
ihren Ufern weg, und entbloͤſſet den Ab-
grund; hier dringt ſie uͤber ihr altes Geſtade
ein, und uͤberſchwemmt feſtes Land. Der
Aetna hat Sicilien, die Verſandungen des
Nils haben Aegypten, um einen groſſen
Theil ſeiner vormaligen Fruchtbarkeit ge-
bracht; ſo wie die Norwegiſchen Gebirge
durch Sturmwinde kahl und gaͤnzlich oͤde
geworden.
Schon in fruͤheren Zeiten hat die Na-
tur das ganze Aegyptiſche Delta aus dem
Schlamme des Nils, und das Todte- viel-
leicht auch das Kaſpiſche Meer, durch un-
terirrdiſchen Brand geſchaffen. Vielleicht
hat ſie durch Erdbeben Ceylon von Koro-
mandel, Sumatra von Malacka, Cypern
von Syrien, Thracien von Phrygien, Eu-
boͤa von Attica, Africa von Spanien, Si-
cilien von Neapel, England von Frank-
reich, und Daͤnemark von Juͤtland, ge-
A 5ſpal-
[10]Kap. I. §. 6.
ſpalten. Vielleicht war eine Zeit, wo we-
der das ſchwarze Meer durch den Helleſpont,
noch der Ocean durch die Straſſe, noch die
Oſtſee durch die Belte, ſtroͤmte. Vielleicht
fuͤllte eine groſſe Jnſel, Atlantis genannt,
den weiten Raum zwiſchen Spanien und
Suͤd-America aus. — Doch dies ſind Be-
gebenheiten, die ſich vor dem Anfang der
Geſchichte ereignet haben muͤßen, und die
der Naturforſcher bloß aus der Anſchau-
ung der Natur erraͤth. Dieſem alſo uͤber-
laͤßt die Geſchichtkunde die Erzaͤhlung der-
ſelben, und borget ihm hoͤchſtens alte Sagen
als Nebenbeweiſe dazu.
Aber Revolutionen des Erdbodens,
die ihm der Menſch ſein Bewohner zuge-
zogen, ſind ein Eigenthum der Weltge-
ſchichte. Dieſer maͤchtige Untergott ſchafft
ſeine Wohnung um, raͤumt Felſen aus der
Bahn, graͤbt Seen ab, und pfluͤget, wo
man ſonſten ſchiffte. Durch Kanaͤle trennt
er
[11]Begriff der Univerſalhiſtorie.
er Welttheile und Provinzen von einander,
leitet Stroͤme zuſammen, und fuͤhret ſie in
Sandwuͤſten hin, die er dadurch in lachende
Fluren verwandelt. Er pluͤndert dreien
Welttheilen ihre Producte ab, und verſetzet
ſie in den vierten. Selbſt Klima, Luft und
Witterung gehorchen ſeiner Macht: indem
er Waͤlder ausreutet, und Suͤmpfe aus-
trocknet; ſo wird ein heiterer Himmel uͤber
ihm, Naͤſſe und Nebel verlieren ſich, die
Winter werden ſanfter und kuͤrzer, und die
Fluͤſſe frieren nicht mehr zu. Nun fliehen
Auerochſen und Rennthiere von den Ufern
des Rheins in den ferneren Norden hinauf,
und ihre Stellen nehmen andere Thiere, ur-
ſpruͤngliche Bewohner vom milderen Aſien
und Africa, ein. Nun bluͤhen Kirſchen in
Germanien und Britannien, die vor dem
Lucull nur der Pontiſche Boden trug; und
Reben und Oelbaͤume, von fluͤchtigen Pho-
caͤern aus Klein-Aſien hergetragen, gedei-
hen in Galliſcher Erde. Aber ziehet der
Menſch
[12]Kap. I. §. 6.
Menſch ſeine emſige Hand von der umge-
ſchaffnen Erde ab, und verwildert: ſo ver-
wildert mit ihm das Land, und Auen wer-
den wieder Wuͤſten. Aegypten nimmt die
Barbarey Hoſaibs, ſeines Unterdruͤckers,
an: die Felſen Kanaans, vormals mit Erd-
reich und Weinſtoͤcken bekleidet, ſtehen zum
Theil nackend da, ſeitdem ihnen Veſpaſian,
Adrian, und Juſtinian ihre Pfleger genom-
men: und Spaniens Ackerfelder ſind zu
Schaafweiden worden, ſeitdem ſie kein ge-
ſchaͤftiger Araber mehr durch Kanaͤle traͤnkt.
Wie hat die Religion Mohaͤmmeds,
und das Schwerdt der Osmaner, den Orient
verwuͤſtet! Die bluͤhenden Staten Solons
und Lykurgs ſind Doͤrfer, das maͤchtige
Cypern iſt eine Einoͤde, die lieblichen Ge-
filde um Babylon und Bagdad ſind ſchreck-
liche Wuͤſteneien worden. Wie hat die
Lehre Jeſu, das Schwerdt der Franken,
und die Herrſchſucht des hierarchiſchen
Roms, unſern Welttheil verſchoͤnert!
Nie-
[13]Begriff der Univerſalhiſtorie.
Niemand erkennt mehr Deutſchland an der
Beſchreibung des Tacitus; niemand begreift
mehr, daß Auguſt das gluͤckliche Britan-
nien keiner Eroberung werth ſchaͤtzte. Jn
unwohnbaren Suͤmpfen, an den Ausfluͤſſen
des Rheins, hat ſich die Freiheit und Jndu-
ſtrie, nicht bloß Wohnungen, ſondern Thro-
nen, gebaut. Und Spanier und Britten
haben dieſe Europaͤiſchen Kuͤnſte, den Erd-
kreis zu verſchoͤnern, uͤber Meer in neue
Welten getragen: in dem Laufe von Jahr-
tauſenden wird Kanada werden, was itzo
Deutſchland iſt.
Solche groſſe Weltbegebenheiten, ſol-
che Revolutionen des menſchlichen Ge-
ſchlechts und des Erdbodens, machen die
Materie der Weltgeſchichte aus.
Der Univerſalhiſtoricus hebt ſie aus
dem bereits vorgearbeiteten Stoffe unzaͤhli-
cher Specialgeſchichten heraus, ſammlet ſie
vollſtaͤndig, waͤhlt ſie zweckmaͤßig aus, und
ordnet
[14]Kap. I. §. 8.
ordnet jede Geſchichte in ein Verhaͤltniß zu
den uͤbrigen Theilen und zum ganzen Plan:
dies giebt ihnen die Form.
Dieſe Form, die in der Auswahl ſo-
wohl als der Verbindungsart der Begeben-
heiten liegt, wird zwar uͤberhaupt durch
die Abſicht (§. 1. 2) der Weltgeſchichte
beſtimmt: allein ſie fodert noch eine naͤhere
Unterſuchung.
Man kann ſich die Weltgeſchichte aus
einem doppelten Geſichtspunete vorſtellen:
entweder als ein Aggregat aller Special-
hiſtorien, deren Sammlung, falls ſie nur
vollſtaͤndig iſt, deren bloſſe Nebeneinander-
ſtellung, auch ſchon in ſeiner Art ein Gan-
zes ausmacht; oder als ein Syſtem, in
welchem Welt und Menſchheit die Einheit
iſt, und aus allen Theilen des Aggregats
einige, in Beziehung auf dieſen Gegenſtand,
vorzuͤglich ausgewaͤhlt, und zweckmaͤßig ge-
ordnet werden.
Ein Aggregat der Weltgeſchichte ent-
ſtehet, wenn das ganze menſchliche Geſchlecht
in Theile zerlegt, alle dieſe Theile vollſtaͤn-
dig enumerirt, und die von einem jeden ein-
zelnen Theile vorhandene Nachrichten richtig
angegeben werden.
Die Vertheilung iſt willkuͤhrlich: ſie
kann nach der Lage der Laͤnder, die ſich die
Menſchen zu ihren Wohnſitzen erkohren;
ſie kann nach ihrer natuͤrlichen Abkunft, in
ſo ferne ſolche noch aus den Sprachen zu er-
rathen iſt: ſie kann nach ihrer politiſchen
Verbindung geſchehen, durch die ſie zugleich
gemeinſchaftlich agiret, und gemeinſchaftli-
che Schickſale gehabt. Der letzte Theilungs-
grund iſt fuͤr das Syſtem der Weltgeſchich-
te bei weitem der brauchbarſte. Die politi-
ſche Verbindung iſt die Mutter der Menſch-
heit; und auſſer dem Stat wuͤrden Men-
ſchen nie Menſchen geworden ſeyn.
Das menſchliche Geſchlecht war ur-
ſpruͤnglich Eine Familie. Nach ſeinem An-
wachſe vertheilte und verlief es ſich in alle
Gegenden. Handel, Reiſen, und Zufaͤlle
machten dieſe zerſtreuten Haufen einander
wieder bekannt; die Eroberer zwangen meh-
rere wieder in eine Verbindung zuſammen:
aber eine allgemeine Vereinigung hat, ſeit
der Schoͤpfung, weder der Jaͤger Nimrod,
noch der Papſt Hildebrand, noch der Koͤ-
nig Heinrich IV, noch der Abt St. Pierre,
bewirken koͤnnen. Jndeſſen die Zerſtreuung
machte keine Einſiedler; der Trieb der Ge-
ſelligkeit, durch das Beduͤrfniß rege gemacht,
hielt doch einzelne Haufen zuſammen, die
ewige Geſellſchaften, Horden, Gauen, Re-
publiken, Koͤnigreiche, Kaiſerthuͤmer, oder
Staten errichteten. Dieſe Horden oder Sta-
ten entſtanden, wuchſen aus ſich ſelber an,
verbanden ſich mit mehreren Horden, trenn-
ten ſich wie Polypen, und lebten beide fort,
oder wurden ſchwach und ſtarben, wie ein-
zelne
[17]Begriff der Univerſalhiſtorie.
zelne Menſchen ſterben. Jede dieſer Hor-
den, vereinigt unter ſich, aber keiner andern
unterthan, macht einen eignen Theil des
menſchlichen Geſchlechtes aus, und fodert
ihre eigene Beſchreibung. Nicht der Um-
fang ihrer Laͤnder, nicht die Groͤſſe ihrer
Macht, nicht die Weisheit ihrer Regierung,
nicht die Laͤnge ihrer Dauer, ſondern bloß
Verbindung und Unabhaͤngigkeit, characte-
riſiren ſie. Folglich muͤſſen Sicyon und
Gerſau wie Jndoſtan, Trebiſonde und Yve-
tot wie Rußland, in der aggregirten Welt-
geſchichte ihre eigene Numern haben.
Es ſei mir erlaubt, dieſes Aggregat
von Weltgeſchichte in moͤglichſter und kaum
jemals zu erwartender Vollkommenheit zu
denken. Gerne will ich alle die Staten ab-
rechnen, die ſich aus der Welt und der Ge-
ſchichte auf immer verloren haben. Aber ich
ſetze, die noch vorhandenen waͤren alle ein-
zeln beſchrieben; ihr Anfang, ihr Ende,
und alle ihre Schickſale waͤren vollſtaͤndig
Bund
[18]Kap. I. §. 10.
und ununterbrochen durch Jahrhunderte
oder Jahrtauſende fort verzeichnet; auch ihr
Einfluß, den ſie durch Erfindungen, Han-
del, und Kriege in andere Staten, vielleicht
in das menſchliche Geſchlecht, gehabt, waͤre
ſorgfaͤltig bemerkt. Nun ſtelle ich alle die-
ſe Theile neben einander, und der Annah-
me nach fehlte kein einziger Theil, der moͤg-
lich waͤre: alle Theile wuͤrden ein Ganzes,
alle Specialgeſchichten wuͤrden eine Univer-
ſalgeſchichte ausmachen. Aber es wuͤrde
nur ein Aggregat, kein Syſtem von Welt-
geſchichte ſeyn: der Leſer wuͤrde nur Sicyo-
ner, Gerſauer, und Jndoſtaner, nicht die
Welt, nicht das menſchliche Geſchlecht,
kennen lernen. Ein Bild in Theile zer-
ſchnitten, und aufmerkſam nach dieſen ab-
geſonderten Theilen betrachtet, giebt noch
keine lebendige Vorſtellung des Ganzen.
Noch fehlet der allgemeine Blick,
der das Ganze umfaſſet: dieſer maͤchtige
Blick
[19]Begriff der Univerſalhiſtorie.
Blick ſchafft das Aggregat zum Syſtem
um, bringt alle Staten des Erdkreiſes auf
eine Einheit, das menſchliche Geſchlecht,
zuruͤck, und ſchaͤtzet die Voͤlker bloß nach
ihrem Verhaͤltniſſe zu den groſſen Revolutio-
nen der Welt.
Zu dieſem Blicke bereitet ſich die Seele
etwa eben ſo, wie zum Genuſſe des Ver-
gnuͤgens, nach Mendelsſohns Lehre, vor.
„Sie betrachtet ihren Gegenſtand, ſie uͤber-
denkt alle ſeine Theile, und beſtrebet ſich,
ſie deutlich zu faſſen. Alsdenn richtet ſie
ihre Achtſamkeit auf ihre allgemeine Be-
ziehung; ſie ſchwingt ſich von den Theilen
zum Ganzen. Die beſonderen deutlichen
Begriffe weichen gleichſam in eine dunkele
Ferne zuruͤck. Sie wirken alle auf ſie; aber
ſie wirken in einem ſolchen Ebenmaſſe und
Verhaͤltniß gegen einander, daß nur das
Ganze aus ihnen gleichſam hervorſtrahlt:
und ihr Ueberdenken hat ihr die Mannichfal-
tigkeit nur faßlicher gemacht.„
Dem zu Folge I. waͤhlet ſie, aus dem
ganzen Haufen des Aggregats (§. 9.), nur
diejenigen Voͤlker aus, die in der groſſen
Geſellſchaft ſo zu ſagen den Ton gegeben,
und verſchmaͤhet die uͤbrigen. Sie waͤhlet
ſie nicht nach dem Rufe ihrer Thaten, nicht
nach dem Reichthum ihrer Geſchichte, nicht
nach ihrem Verhaͤltniſſe zu unſerer Religion,
zu unſerer Regierungsform, zu unſerer zei-
tigen Litteratur; ſondern bloß allein nach
ihrem Einfluſſe in das Ganze oder in groſſe
Theile der Welt. Folglich erobernde
Voͤlker, die den Erdkreis verwuͤſtet haben;
wie Perſer, Tataren, und Mogolen: wich-
tige Voͤlker, die ihn ohne groſſe Eroberun-
gen verſchoͤnert haben; wie Aegyptier, Phoͤ-
nicier, Hebraͤer, Griechen, und neuere Sy-
rer: endlich Haupt-Voͤlker, die beides zu-
gleich gethan haben; wie Aſſyrer, Macedonier,
Roͤmer, Franken, Araber, Spanier, Britten,
und Ruſſen. Zwar jeder neuentſtehende oder
aus der Geſchichte wegſterbende Stat iſt
eine
[21]Begriff der Univerſalhiſtorie.
eine merkwuͤrdige Erſcheinung fuͤr das Gan-
ze, und folglich einer Verzeichnung werth:
aber wenn ſie gaͤnzlich leer an groſſen Welt-
begebenheiten ſind, ſo ſtehen ihre Namen
nebſt der Anzeige ihrer Geburts- und Ster-
bensjahre in der Weltgeſchichte, bloß wie
die Namen gekroͤnter Taugenichtſe in der
Specialgeſchichte, bloß wie chronologiſche
Beſtimmungen, da.
II. So ſorgfaͤltig ſie in der Wahl der
Voͤlker iſt, die ſie vorzuͤglich ihrer Beſchrei-
bung wuͤrdiget: eben ſo zaͤrtlich und abſicht-
lich verfaͤhrt ſie auch in dem Detail dieſer
Beſchreibungen. Aus dem Wuſte von
Nachrichten, unter denen oft die Geſchichte
eines wichtigen Volks begraben iſt, ſondert
ſie nur diejenige ab, die es characteriſch
kennen lehren; nur wirklich groſſe Hand-
lungen, nebſt den Triebfedern derſelben,
die theils in der Beſchaffenheit ſeines Lan-
des, und der Menge ſeiner Buͤrger, theils
in ſeiner Statsverfaſſung, in ſeiner Geſetz-
B 3gebung
[22]Kap. I. §. 10.
gebung nach allen Zweigen der Politik, in
ſeiner Cultur in Sitten, Religion, und
Wiſſenſchaften, und in ſeiner Jnduſtrie im
Landbau, Handel, und Manufacturen, lie-
gen. Alles uͤbrige iſt Schlacke fuͤr ſie: der
Specialgeſchichtſchreiber mag es zu ander-
weitigem Gebrauche, und der Kritikus zu
kuͤnftigem Ausbrennen, aufbewahren.
III. Nun ziehet ſie dieſe Haupttheile,
die bereits mit Nebentheilen durchflochten
ſind, enger zuſammen, bringt ſie unter Ei-
nen Geſichtspunct, verbindet Voͤlker, die
vorher keine oder keine ſichtbare Verbindung
hatten, und erſchaffet ein Syſtem, vermit-
telſt deſſen ſich die Mannichfaltigkeit auf ein-
mal faſſen laͤßt. Dort fuͤhrte ſie die einzel-
nen Hauptvoͤlker, von ihrer Entſtehung bis
zu ihrem Tode, durch mehrere oder alle
Zeitraͤume hindurch: hier ſammlet ſie in ein-
zelne gemeſſene Zeitalter alle Voͤlker des Erd-
bodens zuſammen. Dort war ſie Ethnogra-
phie, hier Chronographie. Dort ließ ſie
ihren
[23]Begriff der Univerſalhiſtorie.
ihren Schuͤler das Buch der Schickſale der
Welt nach der Laͤnge, hier nach der Breite,
leſen.
Mir iſt von neuern Schriftſtellern
niemand bekannt, der dieſen allgemeinen
Blick, der das Ganze umfaſſet, zum Cha-
racter der Weltgeſchichte gemacht, und ſol-
chergeſtalt Syſtem von Aggregat unterſchie-
den haͤtte. Aber Polybius, der etwa 150
Jahr vor Chriſto ſchrieb, und deſſen Welt-
geſchichte, nach den Umſtaͤnden ſeines Zeit-
alters, in der Materie noch nicht anders als
ſehr armſelig ſeyn mußte, dachte ſich gleich-
wol ſchon eben dieſe Form derſelben.
”Einzelne Revolutionen, ſagt er, ſind
vor meiner Zeit viele vorgegangen, und von
vielen einzeln beſchrieben worden: aber die
groͤßte aller Revolutionen, die befeſtigte Ue-
bermacht der Roͤmer uͤber alle Voͤlker des
(damals bekannten) Erdkreiſes, iſt aus
bloſſen Specialhiſtorien unbegreiflich —
B 4ἑπεϱ
[24]Kap. I. §. 11.
ἑπερ ᾽εκ μεν των κατα μεϱος γραφοντων τας
ἱςοριας οὐχ ὁιον τε συνιδειν[;·] εἰ μη και τας ἐπι-
φανεςατας πολεις τις κατα μιαν ἑκαςην ἐπελ-
ϑων, ἠ και νη Δια γεγραμμενας χωρις ἀλλη-
λων ϑεασαμενος, ἐυϑεως ὑπολαβοι κατανενοη-
κεναι και το της ὀικουμενῃς σχημα, και την
συμνπασαν ἀυτης ϑεσιν και ταξιν[;·] ὁπερ ἐςιν οὐ-
δαμως εἰκος. Er faͤhrt fort: καϑολου μεν γαρ
ἐμοι γε δοκουσιν ὁι πεπεισμενοι δια της κα-
τα μερος ἱςοριας μετριως συνοψεσεαι τα ὁλα,
παραπλησιον τι παχυιν, ὠς ἀν εἰ τινες ἐμψυ-
χου και καλου σωματος γεγονοτος διερριμμενα τα
μερη ϑεωμενοι, νομιζοιεν ἱκανως ἀυτοπται γι-
γνεσϑαι της ἐνεργειας ἀυτου του ζωου και καλλο-
νης. Ει γαρ τις ἀυτικα μαλα συνϑεις, και τε-
λειον ἀυϑις ἀπεργασαμενς το ζωον τῳ τε ἐιδει
και τη της ψυχης ἐυπρεπειᾳ, κᾀπειτα παλιν
ἐπιδεικνυοι τοις ἀυτοις ἐκεινοις [·] ταχεως ἀν ὀι-
μαι παντας ἀυτους ὁμολογησειν, διοτι και λιαν
πολυ τι της ἀληϑειας ἀπελειποντο προσεεν, και
παραπλησιοι τοις ὀνειρωττουσιν ἠσαν. Ἐννοιαν
μεν γαρ λαβειν ἀπο μερους των ὁλων δυνατου,
οὐπιςημην δε και γνωμην ἀτρεκη ἐχειν ἀδυ-
νατον. Und ſchließt endlich: διο παντελως
βραχυ τι νομιςεον συμβαλλεσεαι την κατα με-
ρος ἱςοριαν προς την των ὁλων ἐμπειριαν και
πιςτιν.
[25]Begriff der Univerſalhiſtorie.
πιςιν. Εκ μεν τοιγε της ἁπαντων προς ἀλ-
ληλα συμπλοκης και παραϑεσεως, ἐτι δ᾽ὁ-
μοιοτητος και διαφορας, μονως ἀν τις ἐφικοιτο
και δυνηϑειη κατοπτευσας, ἁμα και το χρησι-
μον και το τερπνον ἐκ της ἱςοριας λαβειν.„
Eine Univerſalhiſtorie, nach dieſem
Jdeal des alten Arkadiers, enthaͤlt eine
andere, und ſowol in der Materie als in der
Form verſchiedene Einrichtung, als ſie bis-
her in den gewoͤhnlichen Handbuͤchern ge-
habt. Sie wird aͤrmer, reicher, und
brauchbarer.
Sie wird aͤrmer.
I. Keine Kritik, weder kleine noch
groſſe. Sie giebt die Saͤtze hin, verſteht
ſichs wahre Saͤtze; aber ſie beweiſt ſie ein-
zeln nicht. Sie zaͤhlet die Reſultate tiefer
Unterſuchungen zu, und unterdruͤckt das
ganze Geſchleppe vorhergegangner Soriten,
die das einzige Reſultat gebohren haben.
Die bloſſen Facta, von kritiſchem Schweiſe
B 5geſaͤu-
[26]Kap. I. §. 13.
geſaͤubert, den ſie ihren Entdecker geko-
ſtet, und von allem gelehrten Putze entklei-
det, in den ſie eine ausgebreitete Beleſenheit
verſteckt hatte, faſſet ſie rein auf, und ver-
laͤugnet großmuͤthig allen Schein von Ar-
beitſamkeit und Recherchen.
II. Keine Raiſonnemens, keine
Schilderungen, keine homiletiſche Betrach-
tungen. Nur Facta, aber zweckmaͤßig ge-
waͤhlte, und ſo neben einander geſtellte
Facta, daß der Leſer von ſelbſt das Urtheil
hinzudenken muß. Sie vermeidet die Mine,
pragmatiſch zu ſeyn: aber ſie inſtruiret den
Leſer, es auf eigne Koſten zu werden. Sie
ſammlet, ordnet, und erzaͤhlet nur; und
verleitet dadurch einen jungen Recenſenten,
ihren Verfaſſer aus der Rodel hiſtoriſcher
Denker auszuſtreichen, und ihn fuͤr nichts
als einen fleißigen Sammler zu halten.
III. Keine aͤngſtliche Chronologie.
Zeitalter muß ſie meſſen, und Jahrhunderte
darf ſie nicht verwirren: aber Zahlen von
Jah-
[27]Begriff der Univerſalhiſtorie.
Jahren, Monaten, und Tagen, dringt ſie
dem Gedaͤchtniße nur ſelten auf, und errei-
chet gleichwol ihre Abſichten.
IV. Keine vollſtaͤndige Reihen von
Koͤnigen. Jeder Koͤnig, jeder Kazike im
alten Griechenlande und neuen America,
mag fuͤr die Specialgeſchichte ſeines Stats
eine Wichtigkeit, wenigſtens als Epoche,
ſeyn: allein es giebt unzaͤhlige Koͤnige, die
theils aus Ohnmacht, theils aus Phlegma,
fuͤr die Welt nichts, weder Gutes noch
Boͤſes, gethan haben, und folglich nur
chronologiſche, keine univerſalhiſtoriſche
Menſchen ſind; die
V. Ueberhaupt keine Kleinigkeiten.
Nicht Eſaus Linſengericht, nicht Schar-
muͤtzel des Meſſeniſchen und Peloponneſi-
ſchen Kriegs u. ſ. w. Was haben dieſe
Begebenheiten fuͤr Einfluß in die Welt
gehabt?
Sie wird reicher. Als Weltge-
ſchichte umfaſſet ſie
Sie wird brauchbarer.
1. Sie wird im Grunde eine Ge-
ſchichte der Menſchheit: eine neue Art
von Geſchichte, die bisher meiſt von Philo-
ſophen bearbeitet worden, da ſie ein Eigen-
tum des Hiſtorikers iſt; eine Sammlung
von Begebenheiten, die nicht einzelne Na-
tionen oder einzelne Klaſſen des menſchlichen
Geſchlechts intereßiren, ſondern fuͤr den
Welt-
[31]Begriff der Univerſalhiſtorie.
Weltbuͤrger, den Menſchen uͤberhaupt,
wichtig ſind; eine Wiſſenſchaft, die von
ausgebreitetem Nutzen und ſichtbarem Ein-
fluß in die Pſychologie, Politik, Naturkun-
de und andere Wiſſenſchaften iſt, denen ſie
zur Grundlage dienet; eine Geſchichte der
Erfindungen — wie ſehr iſt dieſer Theil der
Geſchichtkunde, der lehrreichſte und amuſant-
ſte von allen, bisher verwahrloſet, worden!
2. Bei alle dem bleibt ſie dennoch,
was ſie bisher war, oder ſie wird vielmehr,
was ſie ſeyn ſollte: eine allgemeine hiſtori-
ſche Encyclopaͤdie, oder ein vollſtaͤndi-
ges Fundamentale der ganzen Geſchichtkun-
de in ihrem unermeßlichen Umfange (nur
mit Ausſchluſſe der Hiſtoriographie, und der
ihr untergeordneten Wiſſenſchaften). Kei-
ne Specialgeſchichte, von welcher Art ſie
auch waͤre, muß ſich denken laſſen, deren
Elemente nicht in dieſer allgemeinen Ge-
ſchichte laͤgen.
3. Dieſe Vollſtaͤndigkeit hat einen
erheblichen Neben-Nutzen. Sie gewoͤhnet
den Geiſt an richtigere und wuͤrdigere Be-
griffe von der Groͤſſe der Welt, von den
Triebfedern, die ſolche in Bewegung ſetzen,
und von der Weite der Geſchichtswiſſen-
ſchaft: ſie ziehet ihn von der blinden Be-
wunderung einzelner Theile des Erdbodens,
einzelner Voͤlker deſſelben, und einzelner
Klaſſen von Begebenheiten, ab. Man wird
in der alten Welt nicht mehr bloß Griechen
und Roͤmer anſtaunen; oder ſich in der neu-
en bloß unſer kleines Europa, oder wohl
gar nur die ſuͤdliche Haͤlfte deſſelben, den-
ken: man wird auch Phoͤnicier und Aegyp-
tier ſtudiren, man wird auch Aſien und den
tiefen Norden als Schauplaͤtze denkwuͤrdi-
ger Thaten finden, ſo gar ſolcher Thaten,
ohne die die Vorfaͤlle des Europaͤiſchen Suͤ-
dens unerklaͤrlich ſind. Man wird von
dem verderblichen Geſchmack an Mordge-
ſchichten zuruͤckekommen, und einleuchtend
er-
[33]Begriff der Univerſalhiſtorie.
erkennen, daß die ſtille Muſe eines Genies,
und die ſanfte Tugend eines Weiſen, offt
groͤſſere Revolutionen angerichtet, als die
Stuͤrme allmaͤchtiger Wuͤtriche; daß ein
gluͤcklicher Vernunftſchluß die Welt offt
mehr verſchoͤnert habe, als die Armee von
Millionen Kriegern ſie verwuͤſtet haben.
Man wird aus einem Schlummer erwa-
chen, in den uns die Erziehung eingewie-
get, da wir ein Stuͤck Brod, ein gedrucktes
Blatt Papier, eine Taſchenuhr, einen
Wechſelbrief, ein Planiglobium, und hun-
dert andre Dinge, deren heutige Vollkom-
menheit einen ununterbrochenen Fortgang
des menſchlichen Geiſtes von Entdeckung zu
Entdeckung in mehreren Jahrtauſenden er-
foderte, und deren Summe den Grund von
der jetzigen Cultur des menſchlichen Ge-
ſchlechtes enthaͤlt, mit Kaltſinnigkeit anſe-
hen, bloß weil wir ſie von Kindheit an geſe-
hen, und ihre Folgen taͤglich genieſſen.
4. Die Zuſammenſtellung der
Weltbegebenheiten, und der allgemeine
Blick, der alles auf einmal faſſet, wird von
jeder einzelnen Begebenheit eine weit richti-
gere, lebhaftere, und vollſtaͤndigere Vorſtel-
lung bewirken, als wenn man ſie inſula-
riſch und aus dem Syſtem herausgeriſſen
denkt. Jede Specialgeſchichte erſcheint in
einem andern Lichte, wenn ſie mit andern,
die ſie entweder zunaͤchſt beruͤhren, oder mit
denen ſie mittelbar zuſammen haͤngt, ver-
bunden wird. Die Braunſchweiger Ge-
ſchichte iſt oͤde, wenn man bei ihr nicht be-
ſtaͤndig Seitenblicke auf die Schickſale von
ganz Deutſchland wirft. Man kennt Eu-
ropa nur unvollſtaͤndig, wenn man nicht
die Begebenheiten der uͤbrigen Welttheile
beſtaͤndig mit ſeiner Geſchichte parallel her-
unter laufen laͤßt. Die Welthiſtorie er-
waͤchſt aus den Specialgeſchichten: allein
indem ſie dieſe in ein lichtes Ganzes ordnet,
ſo breitet ſie dankbar uͤber jeden dieſer Teile
eine neue Helle aus.
5. Das Vergnuͤgen, das jede ein-
zelne Geſchichte dem betrachtenden Geiſte im
Kleinen gewaͤhret, verſchafft die Univerſalge-
ſchichte im Groſſen, und erhoͤhet es noch
dadurch, daß ſie zu Vergleichungen einen
weit groͤſſeren Raum vor ſich hat. Erſt-
lich, ſie erzaͤhlet nur groſſe Begebenheiten,
und darunter offt ungeheure Wirkungen aus
anſcheinenden kleinen Urſachen. Sie wan-
delt unter den groͤßten Sterblichen aller Zei-
ten und Voͤlker herum; Jahrhunderte lie-
gen vor ihr ausgebreitet; ſie ſiehet Reiche
entſtehen, bluͤhen, veraltern, und ver-
ſchwinden; und Revolutionen, die den
Erdkreis erſchuͤttert haben, durchlaufft ihr
ſchneller Blick von ihrer erſten Entſtehung
bis zu ihren oft ſpaͤten, oft vereitelten, Fol-
gen hin. Zweitens, indem ſie dieſe Vor-
faͤlle mit einander vergleichet, ſo findet ſie
zwar einer Seits eine beluſtigende Verſchie-
denheit bei allen Auftritten, und im Detail
immer neue Scenen: andrer Seits aber,
C 2wenn
[36]Kap. I. §. 15.
wenn ſie die agirenden Perſonen vom Zufaͤl-
ligen entkleidet, und in das Weſentliche ih-
rer Handlungen blickt, ſo entdeckt ſie uͤberall
eine frappante Uebereinſtimmung und Aehn-
lichkeit. Sie findet, daß Menſchen unter
allen Graden Menſchen ſind, oder in einer-
lei Umſtaͤnden auf einerlei Art handeln; ſie
uͤberzeugt ſich, daß nichts neues mehr unter
der Sonne geſchehe; und ſie endiget mit
dem philoſophiſchen nil admirari. Rom
faͤllt, wie Bagdad und Kairo, durch frem-
de Mietſoldaten. Klodowichs Reich er-
mattet, wie die Staten Mohaͤmmeds und
Dſchinkis-Chans, durch Major Domus,
Weßire, und Novianen. Timur war ge-
rade das fuͤr die Mogolen, was Karl der
Große fuͤr die Franken war. Die Landes-
hoheit in Deutſchland erwuchs, wie die vie-
len kleinen Fuͤrſtenthuͤmer oder Chanſchaf-
ten in der Bucharei. Der Papſt, der
Chaliſe, der Dairo, und der Dalai-Lama,
ſind bloß verſchiedene Arten ein und eben
derſelben Gattung u. ſ. w.
6. Doch nicht bloß unſerm Vergnuͤ-
gen ſoll die Weltgeſchichte froͤnen: ihre
Beſtimmung iſt erhabner, und ihr Nutzen
edler; ſie kan, ſie ſoll eine Dienerin der
Religion, ihre Lehrer ſollen, nach Dio-
dors von Sicilien Ausdruck, ὑπουργοι της
ϑειας πϱονοιας werden. Zwar bricht auch
ſchon aus Specialgeſchichten hie und da ein
kleiner Schimmer von den wunderbaren
Wegen der Vorſehung hervor. Aber ſo
wie ſich die Betrachtung des Erdballs gegen
die Betrachtung des ganzen Weltſyſtems
verhaͤlt, indem jene ſchon den Naturforſcher
hinreiſſet, dieſe aber ihn noch mehr in Er-
ſtaunen ſetzt, wenn er uͤber ſich ſchaut, und
Welten uͤber ſeinem Haupte rollen ſiehet,
und in dieſen Welten zuſammen Harmonie
und Ordnung findet: ſo verhaͤlt ſich die Ue-
berdenkung einzelner Reihen von Begeben-
heiten gegen die Anſchauung des Weltlaufs
im Groſſen, der Regierung der ganzen
Welt, und des Zuſammenhangs aller Dinge.
C 3Dieſe
[38]Kap. I. §. 15.
Dieſe ſchwellt dem Betrachtenden den Bu-
ſen mit waͤrmeren Empfindungen, als
Gotthold und Cubach, auf: dieſe wirft
den Geiſt weit tiefer zur Anbetung desjeni-
gen Weſens nieder, das unſichtbar die
Schickſale der Menſchen in langen Ketten
haͤlt; das in dem einen Jahrtauſende freie
Geſchoͤpfe wie Maſchinen zu Werkzeugen ſei-
ner Abſichten in dem andern vorbereitet; das
am oͤſtlichen Ende der Welt Handlungen
hervorruft, durch die es zu ſeiner Zeit
Strafgerichte im Weſten uͤbet.
7. Endlich, und nach alle dem, wird
man noch ferner die Univerſalhiſtorie eine
Memorienſache nennen? werden ſich noch
ferner diejenigen, die dieſes Studium ver-
abſaͤumen, mit ihrem zu ſchwachen Gedaͤcht-
niſſe, oder zu ſtarken Judicio, entſchuldigen
duͤrfen? wird man noch ferner dasjenige U-
niverſalhiſtorie nennen, was Zopf, Curas,
Crouſaz, mit dieſem groſſen Namen geſtem-
pelt haben?
Aber iſt eine Weltgeſchichte in dieſem
Begriffe auch moͤglich? Es giebt eine
Menge Voͤlker, die nie geſchrieben haben,
und nie beſchrieben worden ſind: es giebt
andere, die geſchrieben haben, aber deren
Nachrichten nicht mehr vorhanden ſind: es
giebt noch andre, von denen zuverlaͤßige
Nachrichten vorhanden ſind, die aber keinen
Stoff fuͤr eine Weltgeſchichte nach unſern
Foderungen enthalten. Alle dieſe Einwuͤr-
fe ſind wahr, niemand leugnet ſie: aber die
witzigen Koͤpfe erheben, verdrehen, und ver-
faͤlſchen ſie, und ziehen Folgen daraus, die
ſich in einen Wortſtreit endigen.
Man kan ſich ſo gar eine Weltge-
ſchichte in aſtronomiſchem Verſtande denken.
Der Himmel aͤndert ſich, es entſtehen neue
Sterne; die Sonne nuͤtzt ſich ab, der
Mond naͤhert ſich unſerm Erdballe, der
vielleicht der Leichnam einer ausgebrannten
Sonne iſt. So eine Weltgeſchichte wird
C 4uns
[40]Kap. I. §. 16.
uns Erdbuͤrgern dereinſt Gabriel, oder ein
andrer Geiſt von ſeinem Range, in Elyſi-
um leſen. Jetzo verhoͤhnet uns der Aſtro-
nom uͤber den Ausdruck Weltgeſchichte
nicht: er erlaubt uns, daß wir das Wort
Welt auf unſern Planeten einſchrenken,
und verſchonet uns mit der Foderung, Anek-
doten aus den Archiven des Saturns und
Sirius beizubringen.
Nicht ſo nachſichtsvoll iſt der Schoͤne
Geiſt. Wir reden von bekannter Welt-
geſchichte, von Vorfaͤllen, die ſich unſers
Wiſſens in der Welt ereignet haben.
Dieſe Nebenbeſtimmungen halten wir nicht
fuͤr noͤtig, ausdruͤcklich in die Definition
einzuſchieben: ſie liegen in der Natur der
Sache, und verſtehen ſich von ſelbſt, eben
ſo wie die Warheit der Begebenheiten.
Eine Zeit ohne verzeichnete Begebenheiten
iſt eine unbekannte, folglich fuͤr die Ge-
ſchichte keine Zeit. Aber der franzoͤſiſche
Witzling ignoriret dieſe Nebenbeſtimmun-
gen
[41]Begriff der Univerſalhiſtorie.
gen, und macht dagegen ein weitlaͤuftiges
Regiſter von Albernheiten alter und neuer
Schriftſteller, von unglaublichen oder gar
unmoͤglichen Begebenheiten, die ſich ſollen
ereignet haben, von nie geſchehenen Din-
gen, mit denen alter Muthwillen oder alte
Einfalt die juͤngere Leichtglaͤubigkeit beruͤ-
cken wollen, von Myriaden Jahren der
Aegyptiſchen Zeitrechnung, von Millionen
Kriegern in der erſten Kindheit der Welt,
von Wunderwerken der Baukunſt unter
Barbaren ꝛc. Er lacht uͤber dieſe Albern-
heiten, und wir mit ihm — und uͤber ihn:
denn er rechnet Dinge zur Weltgeſchichte,
von denen ſie Kritik und Menſchenverſtand
ſorgfaͤltig ſaͤubern; und will die Ausſchwei-
fungen der Geſchichtſchreiber die Wiſſen-
ſchaft ſelbſt entgelten laſſen.
Wo nichts iſt, da meldet die Weltge-
ſchichte nichts: oder vielmehr, ſie erfuͤllet
lehrreich ihre Beſtimmung, wenn ſie die
Graͤnzen des Bekannten und Unbekannten
C 5richtig
[42]Kap. I. §. 16.
richtig angiebt, wenn ſie bei der allgemei-
nen Ueberſchauung jedes Zeitraums die Epo-
chen genau bemerkt, wie allmaͤlich ein Volk
und ein Land nach dem andern aus der
Nacht der Vergeſſenheit ſteigt, wie es durch
Zufaͤlle wieder darein zuruͤcke ſinkt, und im
Wechſel der Zeiten wieder zum Vorſchein
kommt, wenn ſeine Geſchichte anfaͤngt, ein-
heimiſch, vollſtaͤndig, und zuverlaͤßig zu wer-
den. Die Luͤcken, die dadurch nothwen-
dig im Zuſammenhange der Begebenheiten
entſtehen, fuͤllt ſie nicht durch Hypotheſen
und Viſionen aus, ſondern ſie zeigt ſie nur
an. Das ganz Ungewiſſe wuͤrdigt ſie
nicht einmal, in ihre Regiſter einzutragen,
noch weniger das erweißlich Fabelhafte.
„Aber ſo wird die Weltgeſchichte
Stuͤckwerk, eine pure Sammlung von Frag-
menten, und gerade nur uͤber den kleinſten
Theil des Erdbodens„? — Und wer ver-
langt dann mehr als dieſes? Man ſammle
nur das vorraͤthige, ordne es in ein Syſtem,
ſo
[43]Begriff der Univerſalhiſtorie.
ſo gut ſich Fragmente ordnen laſſen, und
graͤme ſich nicht uͤber den nun einmal uner-
ſetzlichen Verluſt der uͤbrigen Weltbegeben-
heiten. Man ſpreche von den Reichen der
Araber, der Maͤhren, der Mogolen; denn
dieſe Reiche ſind bekannt, das iſt, es feh-
let uns Europaͤern, wenigſtens uns Deut-
ſchen an Orten, wo Bibliotheken ſind, nicht
an glaubwuͤrdigen Nachrichten, die ihre
Geſchichte moͤglich machen. Man ſpreche
nichts von den Revolutionen der Siamer,
Schweden, und Mexicaner in den Jahrhun-
derten Abrahams, Homers, und Antonins;
denn ſie ſind unbekannt.
„Aber die meiſten Annalen der Voͤl-
ker, wo es auch dergleichen giebt, ſind oͤde
Verzeichniſſe von Namen, Jahren, und Or-
ten; ſie breiten ſich uͤber Koͤnige, Schlach-
ten, und Kriege aus, und verſaͤumen gerade
diejenigen Begebenheiten, die die weſent-
lichſten in einer Weltgeſchichte nach obigem
Begriffe ſind. Selten entfaͤllt ihnen ein
Factum,
[44]Kap. I. §. 17.
Factum, das den Gang der Cultur, der
Jnduſtrie, oder mit Einem Wort, den
Gang der Menſchheit unter einer Nation,
verraͤth„ — Selten, aber doch manchmal.
Wirklich iſt die Geſchichte nicht ſo arm an
Anekdoten dieſer Art, als man gemeinig-
lich glaubt: nur ſtecken ſie in Winkeln, wo
ſie nicht die Pſalmanazars ſuchen.
Einzelne Facta oder Begebenheiten ſind in
der Geſchichtswiſſenſchaft, was die klei-
nen farbichten Steinchen in der moſaiſchen
Malerei. Der Kuͤnſtler durch geſchickte
Austheilung vermiſcht und ordnet ſie, ſchließt
ſie genau an einander, und bringt dadurch
dem Auge ein fertiges Gemaͤhlde auf einer
ſchnurgleichen und ununterbrochnen Flaͤche
entgegen.
Die Kritik graͤbt dieſe Facta aus An-
nalen und Denkmaͤlern einzeln aus, (die
Voltaires machen ſie ſelbſt, oder faͤrben ſie
wenigſtens): die Zuſammenſtellung iſt das
Werk des Geſchichtſchreibers. Wenn Ein-
heit in dem ganzen Plane der Zuſammen-
ſtellung herrſcht, ſo gewinnt die Univerſal-
hiſtorie ein wiſſenſchaftliches Anſehen, ſo
wird ſie zur Wuͤrde der Epopee erhoben.
Die beſondere Art dieſer Zuſammen-
ſtellung macht die Methode der Univerſal-
hiſtorie aus. Diejenige Weltgeſchichte iſt
die beſte, die die meiſten zweckmaͤßig (Kap.
I. §. 2.) gewaͤhlten Facta enthaͤlt. Diejenige
Methode der Weltgeſchichte iſt die beſte, die
den Lernenden die Einſicht in den Zuſam-
menhang aller dieſer Factorum am leichteſten
macht; die ihm, mit dem mindeſten Auf-
wande von Gedaͤchtnißkraft, den allgemei-
nen Blick verſchaffet, der das ganze umfaßt
(Kap. I. §. 10.).
Der Zuſammenhang der Begebenhei-
ten iſt zweierlei, entweder ein Realzuſam-
menhang, oder ein bloſſer Zeitzuſam-
menhang. Man verſtatte mir dieſe Na-
men, oder weiſe mir ſchicklichere an. Mit
andern Worten, jede Reihe von Begebenhei-
ten muß auf eine gedoppelte Art geleſen wer-
den: einmal in die Laͤnge, vor- und ruͤck-
waͤrts; und dann in die Breite, ſeitwaͤrts
oder ſynchroniſtiſch.
I. Der Realzuſammenhang iſt
die natuͤrliche, unmittelbare, und ſichtbare
Verbindung ſolcher Begebenheiten, die
einerlei Gegenſtand betreffen, und als Ur-
ſachen und Wirkungen in einander gegruͤn-
det ſind.
Dieſen Zuſammenhang darf die Me-
thode nicht unterbrechen, ſondern falls die
Kette zu lang wird, ſie hoͤchſtens durch Ru-
hepuncte, oder durch geſchickte Vertheilung
der
[47]Zuſammenh. der Begebenheiten.
der Perioden, dem Gedaͤchtniſſe verkuͤrzen.
Die Schoͤnheit eines Gemaͤhldes leidet zu
ſehr bei der Zerſtuͤckelung.
Die Einheit ſei z. Ex. Aegypten, oder
das Aegyptiſche Volk: folglich hoͤre die Ge-
ſchichte deſſelben nicht mit Pſammenit auf,
ſondern laufe, ſo weit der Faden reicht, durch
Perſer, Ptolemaͤer, Roͤmer, Byzantiner,
Araber, Fatimiten, Kurden, und Mamlu-
cken, bis auf die Osmaner herab.
Selbſt da, wo ſich in der Folge der
Realzuſammenhang verliert, und ein bloſ-
ſer Zeitzuſammenhang uͤbrig bleibt, bleibe
die Methode dieſer ihrer erſten und vornehm-
ſten Regel getreu, und ſcheue die Zerſtuͤcke-
lung deſſen, was doch vorhin eine Einheit
war. Die Reiche Alexanders, Caͤſars, Mo-
haͤmmeds, Karls des Groſſen, und Dſchin-
kis-Chans, theilen ſich zuletzt, wie einige groſſe
Stroͤme, in viele Arme: die Methode hoͤre
nicht bei dieſer Theilung auf, ſie verfolge
die Arme, und zwar alle Arme ſo lange,
bis
[48]Kap. II. §. 20.
bis ſie ſich in neuen Stroͤmen verlieren. Die
Griechen waren Ein Volk, wann gleich
nicht Ein Statskoͤrper: einige von ihren
Staten glaͤnzen in der Geſchichte vorzuͤglich,
wie Athener, Spartaner, und Macedonier;
andre, wie in Epirus, auf Sicilien, an
der Rhone, und am ſchwarzen Meer, kom-
men an Wichtigkeit und Rufe den erſtern
nicht bei, ſie hatten aber doch alle einen
Zeitpunct der Macht und Groͤſſe. Alle dieſe
Griechiſchen Geſchlechter vergeſſe und trenne
die Methode nicht: ſie haͤngen alle natuͤr-
lich zuſammen; denn ſie ſind urſpruͤnglich
Ein Volk, wie Deutſche, Preuſſen, Sie-
benbuͤrger, Hollaͤnder, und Helvetier.
II. Der bloſſe Zeitzuſammenhang
hat unter Begebenheiten ſtatt, die nicht in
einander gegruͤndet, aber doch gleichzeitig
ſind; das iſt, unter Factis, die in ganz
verſchiedenen Laͤndern, oder in verſchiedenen
Welttheilen, aber doch zu einerlei Zeit, ge-
ſchehen
[49]Zuſammenh. der Begebenheiten.
ſchehen ſind. So haͤngen Confucius und
Anakreon, Daniel und Tarquin der Alte,
der Mogoliſche Timur und die Skandina-
viſche Margaretha, zuſammen. Dieſe Per-
ſonen lebten zu gleicher Zeit, ſie wußten
aber nichts von einander, ſie wirkten nicht
in einander: unter ihnen iſt alſo ein bloſſer
Zeitzuſammenhang, wenigſtens nach un-
ſerm eingeſchraͤnkten Begriffe; denn ein hoͤ-
herer Geiſt, der die Verkettung aller Din-
ge unſers Erdbodens durchſchaut, wuͤrde
auch unter ihnen eine entweder ſpaͤtere oder
fruͤhere Realverbindung finden.
Hier iſt die Foderung der Univerſal-
hiſtorie, alle gleichzeitige Facta zu combini-
ren, ſich die Lage der Welt in jedem gege-
benen Zeitalter auf einmal vorzuſtellen, und
ſolchergeſtalt jede einzelne Begebenheit ſyn-
chroniſtiſch zu denken. Man kennt den
Hippokrates bloß biographiſch, wenn man
ſeine oͤffentlichen und Privatbegegniſſe weiß:
allein man muß ihn unverſalhiſtoriſch ken-
Dnen,
[50]Kap. II §. 20.
nen; man muß ſich das ganze Zeitalter,
in dem dieſes groſſe Genie aufbluͤhete, vor-
ſtellen koͤnnen; man muß wiſſen, wie es in,
dem Jahrhunderte des Hippokrates in und
auſſer Griechenland, in der ganzen uͤbrigen
bekannten Welt, in Aegypten, Perſien,
Babylon, und Rom, ausgeſehen habe.
Dieſe Foderung iſt weit ſchwerer, wie
die vorige §. 19. Begebenheiten, die von
Natur in einander verflochten ſind, laſſen
ſich eben dadurch leichte als gleichzeitig den-
ken: aber Begebenheiten ohne allen merkli-
chen Realzuſammenhang, die Siege des Ti-
murs und die Jntriguen der Margaretha,
wie laſſen ſich dieſe als coexiſtent behalten?
Sie haben keine Verbindungspuncte, ſie
verhalten ſich eben ſo willkuͤhrlich wie Woͤr-
ter und Jdeen zuſammen, und die ſyſtema-
tiſche Weltgeſchichte ſcheint dadurch eine eben
ſo laͤſtige Memorienſache wie das Sprachen-
lernen zu werden.
Das gewoͤhnlichſte Mittel, den Syn-
chronismus zu erlernen, waren bisher Zah-
len. Man hielt dieſes ſo gar fuͤr das ein-
zige Mittel. Man nahm dazu groſſe Zah-
len, von Erſchaffung der Welt angerechnet.
Und endlich entſtand der Schulbegriff, daß
derjenige den Synchronismus oder die Chro-
nologie verſtuͤnde, der ſeinem Gedaͤchtniſſe
eine Menge ſolcher Zahlen aufgeladen haͤtte.
Zahlen ſind uͤberhaupt eine Folter des
Gedaͤchtniſſes: und je groͤſſer ſie ſind, je
laͤſtiger fallen ſie. Jndeſſen man muß Zah-
len haben; nur ſehe man ſie nicht als Ab-
ſicht, ſondern bloß wie Mittel, an. Jm
Syſtem der Weltgeſchichte iſt es uns um
Zeitalter zu thun, um die Verhaͤltniſſe der
Begebenheiten gegen einander einzuſehen:
und zur Auffindung dieſer Zeitalter ſollen
Zahlen dienen, wie ein Geruͤſte zur Auffuͤh-
rung eines Gebaͤudes. Nur haͤufe man
die Zahlen nicht ohne Noth; nur nehme
D 2man
[52]Kap. II. §. 22.
man leichte Zahlen: oder man laſſe ſie gaͤnz-
lich weg, wenn man ſeine Abſicht ohne ſie
erreichen kann.
Wirklich giebt es vier Kuͤnſte, die
Schrecken der Chronologie zu mindern, die
ſo manche von dem Studio der Weltgeſchich-
te wegſcheuchen: ich waͤhle Zahlen, aber
kleine, und leichte Zahlen; ich brauche gar
keine Zahlen, ſondern beſchleiche das Ge-
daͤchtniß durch Realzuſammenhang, und
Vergleichung, daß es auch ohne Vorſatz
den Synchronismus behaͤlt.
I. Jch waͤhle kuͤrzere Zahlen, die
ſelten in die Tauſende gehen. Die ganze Peri-
ode vor der Suͤndfluth ſchneide ich ab, dies
giebt eine Erſparung von 1656 Jahren.
Auch den ganzen Raum, zwiſchen der Suͤnd-
fluth und der Erbauung von Rom, laſſe ich
inſulariſch liegen, und gewinne damit aber-
mals faſt 1600 Jahre. Dann zaͤhle ich
von Chriſti Geburt an ruͤckwaͤrts bis Rom
oder
[53]Zuſammenh. der Begebenheiten.
oder bis Moſe herauf, und meine groͤßte
Zahl iſt 753 oder 1600. Der Vortheil
iſt groß, welchen bei dieſer Verwandlung
groſſer Zahlen in kleinere das Gedaͤchtniß
gewinnt: allein noch groͤſſer iſt derjenige,
daß man dadurch die Verſchiedenheit der
Hebraͤiſchen und Griechiſchen Zeitrechnung
vermeidet, und der unendlich ungewiſſen
Berechnungen von Erſchaffung der Welt
her, die faſt in jedem Handbuche anders ſind,
und folglich durchaus eine andere Chronolo-
gie geben, groͤßtentheils uͤberhoben iſt.
II. Jch ſuche leichte Zahlen, und
ſetze ſie, auf der langen Reiſe durch ein gan-
zes Zeitalter, zum Ausruhen und als Graͤnz-
ſteine hin. Was leichte Zahlen ſind, will
ich nicht definiren, ſondern es einen jeden
durch folgende Beiſpiele fuͤhlen laſſen:
III. Begebenheiten, die einen Real-
zuſammenhang haben, werden eben da-
durch auch als gleichzeitig gedacht, §. 20.
Folglich darf man nur in der Beſchreibung
einer groſſen Perſon andre, mit denen ſie
verflochten war, ſorgfaͤltig obgleich nur gleich-
ſam im Vorbeigehen anmerken: ſo rufen
dieſe letztern zuſammen genommen ein gan-
zes Zeitalter zuruͤck. Dies gehet ſo weit,
daß ich Beiſpiele von Kindern geſehen, die
ohne alle Zahlen auf dieſem Wege das Zeit-
verhaͤltniß zweier Perſonen, zwiſchen denen
nicht einmal eine unmittelbare Realverbin-
dung
[55]Zuſammenh. der Begebenheiten.
dung war, durch Nachſinnen fanden. Wenn
ſie naͤmlich bereits einen Fonds von Factis,
beide Perſonen betreffend, hatten: ſo ſuchten
ſie unter dieſen Factis ſo lange herum, bis
ſie einige erwiſchten, die, manchmal durch
lange Soriten, beide an einander knuͤpften.
Z. Ex. iſt der griechiſche Solon aͤlter oder
juͤnger, als der hebraͤiſche Jeſaias? Solon
hielt ſich am Hofe des Croͤſus, des Ueber-
wundenen des Cyrus, auf, und Jeſaias an
dem Hofe des Juͤdiſchen Koͤniges Ahas;
da bluͤhete alſo das Juͤdiſche Reich noch,
das ſtuͤrzte nachher ein, und Cyrus erſt ließ
die Hebraͤer wieder nach Palaͤſtina ziehen:
alſo Solon, ein Zeitgenoſſe des Cyrus,
lebte lange nach dem Jeſaias. Eben der-
ſelbe lebte vor dem Untergange der Pharao-
nen, der erſt unter des Cyri Sohn erfolgte;
er lebte noch laͤnger vor dem Perſiſchen Krie-
ge in Griechenland, der erſt unter dem Da-
rius anfieng. — Hippokrates lebte zur
Zeit des Peloponnefiſchen Krieges, denn
D 4die
[56]Kap. II. §. 22.
die Athener ſetzten ihm eine Ehrenſaͤule fuͤr
die Dienſte, die er ihnen in der damaligen
Peſt geleiſtet hatte: er war ein Zeitgenoſſe
des Perſiſchen Kaiſers Artaxerxes, deſſen
Vocation als Kaiſerl. Leibmedicus er nicht
annahm. — So liegt es in der Geſchichte
des Sanchoniathons, Pythagoras,
und Lykurgs, daß der erſte ein Zeitgenoſſe
der Richter, der zweite ein Zeitgenoſſe des
Cambyſes, und der dritte juͤnger als Ho-
mer, iſt. So macht es ſchon der Name des
Euripides unvergeßlich, daß dieſer Dich-
ter bei der Ankunft des Xerxes im Euripus
gebohren worden.
IV. Wo endlich gar kein natuͤrlicher
Zuſammenhang iſt, da wird er manchmal
durch geſchickte Vergleichung erkuͤnſtelt.
Die demokratiſchen Hebraͤer machten ihren
Stat zur Monarchie, als die bisher mon-
archiſch beherrſchten Athener den erſten
Schritt zur Demokratie thaten. Confucius
in Sina predigte gegen Laſter, die Anakreon
in
[57]Zuſammenh. der Begebenheiten.
in Griechenland beſang, und Tarquinius
in Rom veruͤbte. Drei Aeren fallen in Einen
Zeitraum, die gewiſſen Olympiaden, die
Erbauung Roms, und die Aere Nabo-
naſſars. Simſon, Theſeus, und die Argo-
nauten machen das Jahrhundert der Helden,
ſo wie Solon, Zaleucus, und Charondas
das Jahrhundert der Geſetzgeber, aus.
Die Regeln des Realzuſammenhangs §.
19 und des Zeitzuſammenhangs §. 20 collidi-
ren mit einander. Unmoͤglich laſſen ſich beide
zugleich in gleicher Strenge befolgen. Er-
zaͤhle ich die Geſchichte Perſiens, von Cyrus
bis auf Schah Nadir herunter, in einem
weg, und ohne Seitenblicke auf die Vor-
faͤlle der uͤbrigen Welt zu werfen; ſo geht
mir der Synchronismus verlohren. Zer-
ſtuͤckle ich ſie in kleine Theilchen, und ſchichte
bei jedem Theilchen andre Theilchen von den
uͤbrigen Voͤlkern ein; ſo wird alles Stuͤck-
D 5werk,
[58]Kap. II. §. 23.
werk, und uͤber dem Synchronismus ent-
gehet mir die Realverbindung.
Hier iſt kein andrer Rath, man muß
die groſſen Weltbegebenheiten zweimal leſen:
einmal ſynthetiſch, und dann ſynchroni-
ſtiſch. Und der Lehrer der Weltgeſchichte
muß auf eine doppelte Anordnung ſeiner
Materialien denken, auf die ſynthetiſche
und ſynchroniſtiſche. Jch fange von
der letztern an.
Die Welt ſtehet etwa 6000 Jahre: ein
langer, unuͤberdenklich langer Zeit-
raum! Alle Hauptveraͤnderungen der Welt
ſoll die Weltgeſchichte erzaͤhlen: eine dem
erſten Anſchein nach unermeßliche Arbeit!
Geſetzt, man hebe auch mit der geitzigſten
Auswahl aus der ganzen Maſſe nur diejeni-
gen Facta heraus, deren ſolche nach obi-
gem Begriffe nicht entbehren kann: ſo wird
ihre Summe gleichwol ungeheuer groß.
Nun alle dieſe Facta ſoll das Ge-
daͤchtniß einzeln und in ihrem Realzuſam-
menhange mit Leichtigkeit faſſen, und ohne
Verwirrung aufbewahren. Die Einbil-
dungs-
[60]Kap. III. §. 25.
dungskraft ſoll ſie chronologiſch in allen ih-
ren Verkettungen, vorwaͤrts, ruͤckwaͤrts, und
ſeitwaͤrts, anſchauen. Der Verſtand end-
lich ſoll ſie univerſell betrachten, und ihnen
allen zuſammen den groſſen Blick gewaͤhren,
der das Ganze umfaßt, und das Syſtem
vom bloſſen Aggregate unterſcheidet.
Hierzu ſind vors erſte Abtheilungen,
Ruhepuncte, Epochen, und Perioden noͤthig;
damit das Gedaͤchtniß nicht unter der
Menge der Gegenſtaͤnde erliege, oder Zei-
ten, Orte, und Namen verwirre. Dieſer
Ruhepuncte muͤſſen nicht zu viel ſeyn: ſonſt
ſtoͤhren ſie die Ueberſchauung des Ganzen,
und werden dem Gedaͤchtniſſe eine neue Laſt.
Sie duͤrfen nicht ganz willkuͤhrlich ſeyn:
entweder die Geſchichte, oder die Natur ſelbſt,
muß ſie beſtimmen.
Die Welt ſtehet etwa 6000 Jahre;
aber die ſyſtematiſche Weltgeſchichte umfaſſet
nur einen Raum von etwa 2300 Jahren,
den
[61]Synchroniſtiſche Anordnung.
den Zeitraum von der Erbauung Roms bis
auf die Entdeckung von Amerika. Die
Geſchichte uͤberhaupt faͤngt nicht mit der er-
ſchaffnen, ſondern mit der beſchriebenen
Welt, oder mit der Verzeichnung der Bege-
benheiten, an; ſo wie nicht die Zeit, ſondern
die Bemerkung der Zeit, der Anfang der
Chronologie iſt. Zwar giebt es eine Geſchichte
vor den Geſchichtſchreibern, vor der Schreib-
kunſt, ſo gar vor der Zeitrechnung: allein
dieſe ganze Geſchichte iſt, wenigſtens im Ver-
haͤltniſſe zur Univerſalhiſtorie, nur Frag-
ment und Reliquie, nur Finſterniß und Un-
gewißheit. Die letztere ſetzt nicht nur Zeit-
rechnung und Schreibkunſt, ſondern auch
Schriftſteller und Denkmaͤler, und zwar
beide in einiger Menge und Varietaͤt, vor-
aus: und in ſo ferne faͤngt ſie hoͤchſtens erſt
mit den Olympiaden, der Erbauung Roms,
und Nabonaſſars Aere an, die alle drei in
Ein Jahrhundert, 800 Jahr vor Chriſto,
fallen. Τα δ᾽ ἐπεκεινα ϑινες ἀνυδϱοι και ϑηϱιω-
δεις,
[62]Kap. III. §. 26.
δεις, ἠ πηλος ἀϊδνης, ἠ Σκυϑικον κρυος, ἠ πε-
λαγος πεπηγος, wie die alten Erdbeſchreiber
an den Rand ihrer Landkarten zu ſetzen pfleg-
ten. Schon vorher giebt es eine Phoͤnici-
ſche, eine Babyloniſche, eine Aegyptiſche,
eine Hebraͤiſche ꝛc. Geſchichte; aber noch keine
ſyſtematiſche Weltgeſchichte.
Jenſeits dieſes Jahrhunderts Roms,
mit dem ich die Weltgeſchichte anhebe, lie-
gen zwei groſſe wuͤſte Raͤume, beide von
beinahe gleicher Laͤnge, jeder etwa 1600
Jahre lang:
Beide zeigt die Univerſalhiſtorie bloß in
der Ferne, und eilet in bekanntere Ge-
genden hin.
Der erſte dieſer Zeitraͤume, von der
Schoͤpfung bis zur Suͤndfluth, iſt
der
[63]Synchroniſtiſche Anordnung.
der alleroͤdeſte. Kein Denkmal mehr, keine
Annale, iſt aus demſelben uͤbrig. Nur
einige wenige dunkle Nachrichten von dem
Anfang aller Dinge hat die Sage unter
Chaldaͤern, Aegyptiern, Phoͤniciern, und
Hebraͤern erhalten, die lange nachher Moſe,
Sanchoniathon, Beroſus, und Manetho,
ſchriftlich verzeichnet haben.
Jm zweiten Zeitraume, von der
Suͤndfluth bis Rom, ſtehet Moſe in
der Mitte, und theilt ihn abermals in zwei
gleiche Haͤlften, jede von 800 Jahren, ab.
I. Die erſte Haͤlfte, von der Suͤnd-
fluth bis Moſe, 800 Jahr, ſiehet ein neu-
es Menſchengeſchlecht aus Noah’s Soͤhnen
entſtehen. Sehr fruͤhe bluͤhen Staten am
Eufrat und Nil auf; und in der Mitte die-
ſer Haͤlfte findet Abraham in Aegypten be-
reits einen glaͤnzenden Hof: ſo wie die Fa-
bellehre in Oberaſien ſchon den Ninus und
die Semiramis die Thaten ihrer Nachfolger
thun
[64]Kap. III. §. 28.
thun laͤßt. Die Phoͤnicier ziehen ſich vom
rothen Meer an das mittellaͤndiſche, erfin-
den das Glas, und legen den Grund zu
ihrem nachmaligen ausgebreiteten Handel.
Griechenland war nur noch von Wilden
bewohnt, die an die Prieſterinnen in Do-
dona und Delphi glaubten, vom Phoro-
neus den Gebrauch des Feuers lernten, un-
ter dem Ogyges eine Ueberſchwemmung er-
litten, und unter dem Oenotrus bereits ein
Pflanzvolk in das untere Jtalien ſandten.
II. Jn der zweiten Haͤlfte, von Moſe
bis auf die Erbauung Roms, gleichfalls
800 Jahre, erſcheinen Moſe, der Geſetzge-
ber der Hebraͤer, und aͤlteſte Annaliſt der
Welt; und Cecrops aus Aegypten, der Er-
bauer von Athen, mit dem die Pariſche
Marmorchronik anfaͤngt, und zuerſt Chro-
nologie in die Griechiſchen Sagen bringt.
Durch jenen, und ſeit dieſem, bricht die
Morgenroͤthe der Weltgeſchichte an. Von
nun an mehren ſich ſchon die Nachrichten:
wir
[65]Synchroniſtiſche Anordnung.
wir zerſchneiden alſo dieſe zweite Haͤlfte in
zwei gleiche Theile, jeden von 400 Jahren,
und nehmen die Zerſtoͤhrung von Troja,
eine an ſich unerhebliche Begebenheit, aber
eine Epoche der Griechiſchen Zeitrechnung,
zur Graͤnze zwiſchen beiden an.
A. Von Moſe bis Troja ſind 400
Jahre. Jn dieſen Zeitraum faͤllt das goldne
Zeitalter der Aegyptier unter ihrem Seſo-
ſtris, der ſo, wie ſein Nachfolger Ram-
pſes, noch vorhandene Obeliſken errichtete.
Jn Oberaſien muß das groſſe Aſſyriſche
Reich aus der Verſchlingung mehrerer klei-
nen erwachſen ſeyn. Die handelnden Phoͤ-
nicier waren ſchon cultivirt genug, daß un-
ter ihnen Sanchoniathon entſtehen konnte.
Die Griechiſchen Wilden aber bildeten ſich
erſt durch neue Ankoͤmmlinge aus ſchon ge-
ſitteten Weltgegenden, durch den Denka-
lion aus Thracien, Cecrops aus Aegypten,
Kadmus aus Phoͤnicien, Danaus gleichfalls
aus Aegypten, und Pelops aus Phrygien
EAuch
[66]Kap. III. §. 28.
Auch kam der Getreide- und Weinbau un-
ter ihnen auf: und am Ende dieſer Periode
wagten ihre Argonauten die erſte Seereiſe
von Theſſalien aus in das ſchwarze Meer.
B. Von Troja bis Rom ſind eben-
falls 400 Jahr. Hier bauen die Pharao-
nen Piramyden: die Phoͤnicier fuͤhren ein
Pflanzvolk an das aͤuſſerſte Ende von Eu-
ropa nach Cadiz: die Hebraͤer, der De-
mokratie muͤde, waͤhlen ſich Koͤnige, um
eben die Zeit, da Athen, der Monarchie
uͤberdruͤßig, ſich Archonten ſetzt: und un-
ter den Kleinaſiatiſchen Griechen bluͤhet das
goͤttliche Genie Homers, des wuͤrdigen Zeit-
genoſſen von David oder Salomo, auf.
Die Erbauung von Karthago, einer andern
Phoͤniciſchen Kolonie in Africa, Lykurgs
Geſetzgebung in Sparta, und die Zertruͤm-
merung des groſſen Aſſyriſchen Reichs unter
dem Sardanapal, beſchlieſſen dieſen Zeit-
raum.
Es ſei mir erlaubt, dieſe ganze Ge-
ſchichte vom Anfange der Welt bis auf den
Anfang Roms, oder vielmehr die aͤrmli-
chen Ueberreſte derſelben, von der uͤbrigen
Weltgeſchichte gaͤnzlich zu trennen, ſie Vor-
geſchichte zu nennen, und ſie alſo auf fol-
gende faßliche Art zu klaßificiren.
Dieſer ganze lange Zeitraum von
3200 Jahren kann nicht ſynthetiſch nach
Voͤlkern, ſondern nur chronologiſch nach
Zeitaltern, behandelt werden. Die vor-
E 2hande-
[68]Kap. III. §. 30.
handenen Nachrichten ſind zu wenig, zu
unfruchtbar, zu inſulariſch. Wir kennen
nur etwa vier betraͤchtliche Voͤlker aus die-
ſem Zeitraume, und auch dieſe nur ſehr un-
vollſtaͤndig: naͤmlich Aſſyrier mit Jnbegriff
der Babylonier, Aegyptier, Phoͤnicier,
und Hebraͤer. Andre Nationen, das iſt,
in einen foͤrmlichen Stat verbundene Hau-
fen von Menſchen, gab es entweder nicht,
oder wir kennen ſie wenigſtens nicht. Die
Griechen ſind noch zu unbetraͤchtlich, die
Karthager fangen erſt an, die Roͤmer exi-
ſtiren noch nicht, und Sineſiſche Reiche
exiſtiren vielleicht nur noch in dem Gehirne
der Mißionarien.
Aber nunmehr faͤngt es in der Welt-
geſchichte zu tagen an. Von Roms An-
fange bis auf deſſen Ende, in Anſehung
theils des neuen Roms oder der Byzanti-
ſchen Haͤlfte, die der Osmaniſche Mohaͤm-
med II. im Jahr 1453 eroberte, theils
des
[69]Synchroniſtiſche Anordnung.
des hierarchiſchen Roms, dem Luther ſeit
1517 groſſentheils den Garaus machte, oder
um andere gleichzeitige und gleich wichtige
Epochen zu nennen, vom Anfange der Olym-
piaden bis auf die Auflebung der Wiſſen-
ſchaften in unſerm Welttheile, und bis auf
die Entdeckung von Amerika, ſind 2300
Jahre. Dieſe ſind das eigentliche Revier
unſerer Univerſalhiſtorie: und in dieſe
beide aͤuſſerſte Enden, das 8te Jahrhun-
dert vor Chriſto und das 15te nach Chriſto,
ſoll ſie eingeſchloſſen ſeyn.
Die Univerſalhiſtorie faͤngt mit der
Erbauung Roms (753 Jahr vor Chri-
ſto, und 1574 Jahr nach der Suͤndfluth)
an. Hier treten eine Menge Voͤlker, die
nachher Rollen ſpielen, zum erſtenmal aus
der Nacht der Vorgeſchichte heraus; und
andre, die bereits bekannt geweſen, zeigen
ſich in neuen Auftritten, die Epochen ma-
chen.
Aus den Truͤmmern des Aſſyriſchen
Kaiſerthums ſteigen drei neue Koͤnigreiche
auf, Aſſyrien unter dem Phul, Baby-
lon unter dem Nabonaſſar, und Medien
unter dem Dejoces: wovon das erſte das
Syriſche und Jſraelitiſche Koͤnigreich ver-
ſchlingt, und das zweite durch Erfindung
der Nabonaſſarſchen Aere Chronologie in
die Aſiatiſche Geſchichte bringt. Die Ly-
dier erſcheinen unter dem Gyges, und die
Macedonier unter dem Perdiccas, als
eigene betraͤchtliche Voͤlker. Die meiſten
kleinen Griechiſchen Staten bilden ſich zu
derjenigen Statsverfaſſung, die ſie auch in
der Folge behalten haben: Korinth be-
kommt Prytanen, Sparta Ephoren, und
Athen zehenjaͤhrige Archonten, und 100
Jahre nachher ſeinen Solon. Ueberhaupt be-
kommt die Griechiſche Nation nun erſt einen
gewiſſen Glanz: die Bemerkung der Olym-
piaden giebt ihren Begebenheiten eine feſte
Zeitrechnung, der Meſſeniſche Krieg be-
reitet
[71]Synchroniſtiſche Anordnung.
reitet ſie zu kuͤnftigen groͤſſeren Unternehmun-
gen vor, und durch die Erbauung von Sy-
rakus gruͤndet ſie ihre Herrſchaft auf Si-
cilien. Auch Karthago faͤngt an ſich aus-
zubreiten, und faßt feſten Fuß in Spanien.
So drangen ſich im Jahrhunderte Roms
die groſſen Weltbegebenheiten, aber noch
nicht die Verzeichner derſelben: denn aus
dieſem ganzen wichtigen Zeitalter ſind keine
andre Schriftſteller mehr als Dichter uͤbrig;
Jeſaias und andre Propheten unter den
Hebraͤern, und Archilochus, vielleicht auch
Tyrtaͤus, unter den Griechen. Jm fol-
genden Jahrhunderte kommt mit dem Pſam-
metich auch Licht und Gewißheit in die Aegy-
ptiſche Geſchichte; und die Scythen,
durch die Vertreibung der Kimmerier, nebſt
den Celten, durch ihre Bewegungen an
der Seite von Jtalien, werden den uͤbri-
gen ſuͤdlichern Nationen etwa ſo bekannt,
wie wir jetzo den damaligen Anfang der Dai-
ren in Japan kennen.
Jch will die Reihe aller dieſer Bege-
benheiten in einer chronologiſchen Tabelle
vorlegen, damit das Recht, das ich zu ha-
ben glaube, mit dem Jahrhunderte Roms
die Univerſalhiſtorie anzufangen, einleuch-
tender werde:
Die Univerſalhiſtorie endiget ſich
mit dem Ende Roms, ſowohl des oͤſtli-
chen Roͤmiſchen Kaiſerthums in Conſtanti-
nopel im Jahr 1453, als des neuen paͤpſt-
lichen Reiches im alten Rom um das Jahr
1520. Auch hier hat die Natur ſelbſt
einen Abſchnitt gemacht: es entſtehet eine
neue Welt, Aſien erhaͤlt ſeine noch waͤhren-
de politiſche Verfaſſung, Europa bekommt
ſeine heutige Cultur, und die Kenntniß der
alten Welt wird mit einer ganz neu entdeckten
bereichert.
Die Staten von Europa waren faſt
alle bereits gegruͤndet, und groſſentheils
aus den Truͤmmern des im 5ten Saͤc. zerſtoͤr-
E 5ten
[74]Kap. III. §. 32.
ten abendlaͤndiſchen Roͤmiſchen Reichs er-
wachſen: aber ihre heutige Verfaſſung, der
hohe Grad von Cultur, worinn ſie alle Sta-
ten nicht bloß der uͤbrigen heutigen, ſondern
auch der ganzen alten Welt uͤbertreffen, und
die erſtaunlichen Progreſſen, die ſeit dem
der menſchliche Verſtand in ihnen gemacht
hat, ſchreiben ſich erſt aus dem 15ten und
den angraͤnzenden Jahrhunderten her. Da
drengten ſich in unſerm kleinen Welttheile
eine Menge neuer Entdeckungen zuſammen,
die ſeine Geſtalt umſchufen, und auch auf
die uͤbrigen Welttheile Einfluß hatten. Pa-
pier, Pulver, und Wechſelhandel waren
zwar vorher ſchon erfunden: aber nun erſt,
in die Reihe anderer Entdeckungen einge-
ſchichtet, richteten ſie Revolutionen an.
Guttenberg erfand die Buchdruckerei.
Die Osmaniſchen Tuͤrken, bereits Herrn
der meiſten Staten, die vormals die Ara-
ber den Byzantinern entriſſen hatten, uͤber-
waͤltigten endlich Conſtantinopel ſelbſt, er-
richte-
[75]Synchroniſtiſche Anordnung.
richteten eine neue fuͤrchterliche Macht in Eu-
ropa, und jagten die Griechiſchen Kuͤnſte
und Wiſſenſchaften in die weſtlichen Gegen-
den deſſelben vor, ſo wie 200 Jahr vorher
die Mogolen die Arabiſche Gelehrſamkeit
nach Delli verſcheuchet hatten. Diaz fand
den Weg nach Oſtindien um das Cap her-
um: Colom entdeckte Amerika; und die
Reformation ſtuͤrzte den Pabſt. So
nahm Europa im Ganzen eine neue Geſtalt
an; naͤchſt dem giengen noch zu gleicher Zeit
in einzelnen Theilen deſſelben wichtige Ver-
aͤnderungen vor. Spanien entſchuͤttete
ſich der Araber voͤllig, und vereinte ſich in
Einen Stat. Frankreich verfeinerte ſich
durch Wiſſenſchaften. Fuͤr Deutſchland
war die Errichtung des Landfriedens eine
Epoche ſeiner Menſchlichkeit. Rußland
entzog ſich dem Joche der Mogolen, und
fieng an, uͤber ſeine Tyrannen zu herrſchen.
Und Skandinavien zerfiel, nach der Zer-
truͤmmerung der Kalmariſchen Union, wie-
der
[76]Kap. III. §. 32.
der in zwei ſelbſtſtaͤndige Reiche. — Auch
Aſien kam damals erſt zu ſeiner jetzigen Con-
ſiſtenz. Die Osmaniſchen Tuͤrken hatten
unter den vielen Tatariſchen Horden voͤllig
das Gluͤck, das vordem die Franken uͤber
ihre deutſche Bruͤder gehabt hatten: ſie ver-
ſchlangen ſie allmaͤlich in ganz Vorderaſien
und Aegypten. Jn Perſien ſtieg Jſmael
Sofi, ein Abkoͤmmling Mohaͤmmeds, auf
den Thron, und fieng eine neue beruͤhmte
Regentenlinie an, die erſt in unſern Zeiten
ausgegangen iſt. Jn Oſtindien fieng der
Fluͤchtling Babur, ein Abkoͤmmling Ti-
murs, die Reihe der Großmogolen an.
Und vorher noch war der maͤchtige geiſtli-
che Monarch, den wir unter dem Titel Da-
laj Lama belachen, in Tibet entſtanden.
Jn dieſem Zuſtande befindet ſich Aſien bei-
nahe noch bis auf den heutigen Tag: auſſer
daß ſpaͤter hin in Japan der Dairo aus
einem Kaiſer zum bloſſen Hoheprieſter ge-
macht, das ganze noͤrdliche Aſien oder Si-
birien
[77]Synchroniſtiſche Anordnung.
birien von den Ruſſen entdeckt und unter-
jocht, und Sina von den Mandſchu be-
zwungen worden. — Jn Amerika endlich
ſtuͤrzen die wuͤtenden Spanier die beiden einzi-
gen Thronen dieſes Welttheils, in Mexico
und Peru, um. Nun kommen die vier
Welttheile in eine Verbindung, die ſie ſeit
der Schoͤpfung nie gehadt haben. Der
handelnde Europaͤer ſegelt an die aͤuſſerſten
Enden derſelben, in Oſten, Suͤden, und We-
ſten, er fuͤhrt ihnen ſeine Religion, ſeine
Kuͤnſte, und ſeine Laſter zu, und tauſcht
dafuͤr ihre Schaͤtze, Producten, und Krank-
heiten ein.
Lauter Hauptbegebenheiten; lauter
Erkenntnißquellen von dem Zuſtande unſerer
heutigen Welt in mehreren Theilen derſel-
ben: die alle in Einen Zeitraum fallen, und
folglich einen natuͤrlichen Abſchnitt machen.
Hier ſtehen ſie in einer Tabelle beiſammen.
Mit dieſem an Epochen ſo fruchtbaren
Jahrhunderte alſo ſchlieſſe ich gewiſſermaſſen
die Univerſalhiſtorie; und uͤberlaſſe die ruͤck-
ſtaͤndige neueſte Geſchichte, oder die
drei folgenden Jahrhunderte, der Specialge-
ſchichte: ſo daß ich mich begnuͤge, ſtatt einer
ſyſte-
[79]Synchroniſtiſche Anordnung.
ſyſtematiſchen Beſchreibung derſelben, unſre
heutige Welt nach ihren vier Theilen einer
allgemeinen Revuͤe zu unterwerfen, und auf
dem Planiglobio bei jeder einzelnen Gegend
zu bemerken, ob ihr heutiger allgemeiner
Zuſtand ſich aus dem bisher geſagten als aus
Gruͤnden erklaͤren laſſe (dies muß die Probe
von der Vollſtaͤndigkeit einer Univerſalhi-
ſtorie ſeyn); oder ob und warum die Ge-
gend bis auf den heutigen Tag, in Anſe-
hung der Geſchichtbeſchreibung, eine Terra
incognita ſei.
Die Urſachen, warum ich nicht wei-
ter gehe, ſind folgende. Einmal, von
hier an wird die Geſchichte zu reich, und
die Menge der Begebenheiten zu groß: mir
wenigſtens iſt es noch zu ſchwer, Einheit
und Zuſammenhang in dieſe unendliche Ein-
zelheit zu bringen, und ſie in ein Syſtem
zu faſſen, das dem obigen Begriffe von der
Weltgeſchichte entſpraͤche. Die Armuth an
Nachrichten zwang mich dort, die Vorge-
ſchichte
[80]Kap. III. §. 34.
ſchichte von der Univerſalhiſtorie abzuſchnei-
den: der uͤberſchwengliche Reichthum an
Begebenheiten noͤthigt mich hier, die neueſte
Geſchichte davon auszuſchlieſſen. Zwei-
tens, die neueſte Periode iſt noch nicht ge-
ſchloſſen, der letzte Auftritt waͤhret noch;
und es iſt gegen die Regeln der Kunſt, von
einem Stuͤcke zu urtheilen, deſſen letzte Sce-
nen man noch nicht geſehen hat. Auch iſt
dieſe ganze Geſchichte noch zu neu, zu un-
gewiß, zum Theil auch zu unbekannt; der
Hiſtoriker aber kann von Gegenſtaͤnden nur
in einer beſtimmten Entfernung, wie das
Auge, richtig urtheilen: allzu nahe taͤuſcht
ihn eben ſo leicht, als allzu weit; und das
Jahrhundert Georgs III. iſt fuͤr ihn in man-
cher Abſicht eben ſo dunkel, als das Jahr-
hundert Homers.
Nach dieſer Anordnung alſo kann die
Roͤmiſche Geſchichte die Grundlage der
ganzen Weltgeſchichte ſeyn: ſie iſt der allge-
meine
[81]Synchroniſtiſche Anordnung.
meine Leitfaden, der uns in den verſchiede-
nen Gaͤngen von gleichlaufenden Geſchichten
faſt unzaͤhlicher Voͤlker gegen chronologi-
ſche Verwirrungen ſichert. Rom verdienet
dieſe Ehre: denn welches Reich der Welt
hat in die Schickſale der Welt mehreren Ein-
fluß gehabt? Nicht ſein weiter Umfang giebt
ihm dieſen Vorzug; die Reiche der Araber
und Mogolen waren groͤſſer, und noch jetzo
ſind die Staten der Spanier und Ruſſen
groͤſſer. Nicht ſeine Cultur; dieſe reicht
lange nicht an unſere heutige Cultur, und
war vielleicht ſchon bei Aegyptiern, Phoͤ-
niciern, und Griechen feiner. Nicht ſeine
Macht und ſeine Großthaten; die Nachfol-
ger Mohaͤmmeds und Dſchinkis-Chans ha-
ben mehr gethan. Aber ſeine Verkettung
mit den Schickſalen eines groſſen Theils der
alten und mittlern Welt, und ſeine lange
Dauer, da es ſich, von Romulus bis Con-
ſtantin XI, 22 Jahrhunderte ununterbrochen
erhalten hat, zeichnen es vor allen Natio-
nen des Erdkreiſes aus.
Ein ſo groſſer Raum von 2300 Jah-
ren fodert abermals Unterabtheilungen. Jch
behalte die allgemeine gewoͤhnliche Abthei-
lung, in alte und neue Geſchichte, bei:
nur wo ſollen ſich beide ſcheiden?
Gemeiniglich ruhet man bei der Ge-
burt Chriſti aus. Jch ſelbſt rechne nach
dieſer Epoche vor- und ruͤckwaͤrts; und wirk-
lich iſt ſie auch wichtig genug, eine Haupt-
graͤnze zu machen. Der Roͤmiſche Stat
kam damals zu einer Art von Conſiſtenz,
und aͤnderte ſeine innere Verfaſſung: das
verderbte Volk gieng aus den Stuͤrmen der
Demokratie zu den Schrecken der Deſpotie
uͤber. Auch entſtand mit dieſer Epoche eine
neue Religion, die naͤchſt der Mohaͤmme-
diſchen ſich am weiteſten und geſchwindeſten
in der Welt ausgebreitet, und im State
und in der Menſchheit allgemeine Revolu-
tionen angerichtet hat.
Allein man erlaube mir, dieſe Graͤnze
zwiſchen alter und neuer Geſchichte um etwa
400 Jahre weiter vor, und bis an den
Theodoſius hin, zu ruͤcken: der Realzuſam-
menhang der Hauptbegebenheiten wird da-
durch, deucht mich, weniger unterbrochen.
1. Bisher hatte ſich Rom gebildet,
Jtalien erobert, ſich der Welt bemaͤchtiget,
und ſolche tyranniſirt. Dies waͤre die alte
Geſchichte.
2. Nun verliert es allmaͤlich dieſe er-
rungene und geplagte Welt wieder; einer der
erſten Schritte dazu war die Theilung des
Theodoſius. Die eine Haͤlfte, das abend-
laͤndiſche Kaiſerthum, wird bald darauf eine
Beute der wandernden Voͤlker: hier faͤngt
das heutige politiſche Europa, und mit ihm
die neue Geſchichte, an. (Man ſiehet leicht,
daß ich neue Geſchichte nenne, was andere
die mittlere).
3. Die andere Haͤlfte, das Byzanti-
ſche Kaiſerthum, zehrt allmaͤlig aus; die
F 2Slaven,
[84]Kap. III. §. 36.
Slaven, und noch mehr die Araber, ſchla-
gen ihm toͤdliche Wunden; an den Arabern
uͤben Tuͤrken und Mogolen das Vergeltungs-
recht: bis endlich ein einzelner Stamm von
Tuͤrken, die Osmaner, ſich der meiſten
Ueberreſte des Arabiſchen und Byzantiſchen
Reichs bemaͤchtiget. Hier hoͤret die neue
Geſchichte auf: das heutige politiſche Aſien,
das heutige cultivirte Europa faͤngt an, und
mit beiden die neueſte Geſchichte.
Alſo wuͤrde die alte Geſchichte von
der Erbauung Roms, den Olympiaden,
und den uͤbrigen Epochen an, die dieſes
Zeitalter zum eigentlichen Anfange der ſyſte-
matiſchen Univerſalhiſtorie qualificiren, bis
auf die Theilung des Roͤmiſchen Reichs,
die Voͤlkerwanderungen, und den dadurch
bewirkten Untergang der ganzen abendlaͤn-
diſchen Haͤlfte; die neue hingegen von die-
ſen Revolutionen an, bis auf den Unter-
gang der morgenlaͤndiſchen Haͤlfte, die Er-
findung
[85]Synchroniſtiſche Anordnung.
findung der Buchdruckerei, die Palingeneſie
der Wiſſenſchaften, die Entdeckung von Oſt-
und Weſtindien, und den Sturz des neuen
hierarchiſchen Roms, gehen (verglichen mit
den uͤbrigen groſſen Weltbegebenheiten, die
in eben dieſe Zeitalter fallen §. 31 und 32).
Jene, die alte Geſchichte, enthielte
einen Zeitraum von 1200; dieſe die neue
aber, einen von 1100 Jahren; und die
neueſte begriffe noch nicht volle 300 Jahre.
Zu Ruhepuncten oder Specialepochen
in den beiden erſten Zeitraͤumen waͤhle ich
univerſalhiſtoriſche, d. i. hauptwichtige, Per-
ſonen: dergleichen in der alten Geſchichte
Cyrus, Alexander, und Chriſtus; in
der neuern aber Mohaͤmmed, Karl der
Groſſe, und Dſchinkis-Chan ſind. Dem
zu Folge kommen fuͤr den ganzen Kreis der
Univerſalhiſtorie folgende wenige und leicht
zu behaltende Perioden heraus:
Dies waͤre, ſo zu ſagen, der erſte Cur-
ſus in der chronologiſchen Vorſtellung der
Univerſalhiſtorie: und von demſelben laͤßt
ſich ſicher zum Detail der ſynthetiſchen Ab-
handlung derſelben fortſchreiten.
Sind aber dieſe allgemeine Abtheilun-
gen einmal dem Gedaͤchtniſſe gelaͤufig wor-
den, und hat ſich allmaͤlich ein Vorrath von
Factis aus allen Zeitaltern geſammlet: als-
dann, aber eher nicht, geht der zweite
Curſus an; dann ordne ich ſie ſpecieller;
dann wage ich es, dem Gedaͤchtniſſe ſo gar
beſondre Namen einzelner Jahrhunderte (z.
Ex. das Jahrhundert Hannibals, der Cim-
bern, Attila’s, Timur’s ꝛc.) aufzubuͤrden,
und folgendes Schema vorzulegen — nicht
zum auswendig lernen, ſondern zum oͤfte-
ren Anſchauen, damit die Seele, indem ſie
ihre Aufmerkſamkeit in das Detail verſtreut,
immer zum allgemeinen zuruͤckkehre, Einzel-
heiten in das Ganze einſchichte, die im
Schema verzeichnete gleichzeitige Perſonen
und Vorfaͤlle als gleichzeitig denke, die aus-
gelaßnen durch chronologiſche Soriten (§.
22. III.) hinzuſchlieſſe, und die Abſtaͤnde zwi-
ſchen denſelben gleichſam mechaniſch meſſen
lerne.
Aus dieſem langen Zeitraum ſind uns
nur folgende 7 Saͤtze bekannt und brauchbar:
Faſt alles uͤbrige iſt Fabel, Hypo-
theſe, Dunkelheit, oder Albernheit.
Allgemeine Ueberſchauung der Haupt-
veraͤnderungen der Welt in ihren vier Thei-
len, Europa, Aſien, Africa, und America:
ſiehe oben §. 33.
Dieſe Tabelle iſt nicht eher brauchbar,
auch nicht einmal eher verſtaͤndlich, als beim
Schluſſe des Collegii: oder vielmehr ſie
wird es ſtufenweiſe und in der Maſſe, wie
die ſynthetiſche Abhandlung aus einem Zeit-
alter in das andere fortruͤckt, und die Per-
ſonen oder Voͤlker, die die Tabelle auszeich-
net, kenntbar macht.
Nun kommt der dritte Curſus, der
Synchroniſmus im Detail. Dieſer iſt keine
Sache der Unterweiſung, ſondern der eignen
Uebung. Er fodert nur eine etwas vollſtaͤn-
dige Ausgabe chronologiſcher Tabellen
zum taͤglichen Gebrauche in bequemem For-
mate, wo, ſo viel moͤglich, alle Merkwuͤr-
digkeiten einer Weltgeſchichte nach unſerm
Begriffe, enthalten waͤren: ein Buch, das
noch erſt geſchrieben werden muß.
Jn der ganzen langen Vorgeſchichte iſt, bei
der Armuth an bekannten Factis, eine
ſynthetiſche Anordnung derſelben weder moͤg-
lich noch noͤthig. Aber mit dem Jahrhun-
derte Roms mehren ſich die Begebenheiten:
nun muß die Methode ſie in Faͤcher ordnen,
um, des Synchronismus ſo viel moͤglich
unbeſchadet, den Realzuſammenhang zu ge-
winnen. Die Frage iſt nur: welches ſollen
dieſe Hauptfaͤcher ſeyn?
Hier laſſen ſich hauptſaͤchlich vier Me-
thoden denken. Man ordnet die Facta
Jede dieſer vier Methoden hat ihre Vor-
theile und Nachtheile, ihre Schwierigkeiten
und Bequemlichkeiten. Bei keiner iſt es
unmoͤglich, die ganze Summe vorhandener
und zweckmaͤßiger Factorum der Weltgeſchich-
te anzubringen; obgleich bei der einen unge-
zwungener, als bei der andern.
Vielleicht ſollten wir ſo gar Univerſal-
hiſtorien nach allen dieſen Methoden geſchrie-
ben haben: vielleicht iſt es nothwendig, in
dieſer Wiſſenſchaft vier verſchiedene Curſus
zu machen, und die groſſen Weltbegebenhei-
ten nach der Reihe, in obbemeldtem vierfa-
chen Zuſammenhange, zu uͤberdenken.
Allein zum Anfange und zur Grundle-
gung iſt die lezte Methode unſtreitig die Lin-
neiſche: das iſt, die ungezwungenſte, die faß-
lichſte, und die brauchbarſte. Die meiſten
Schriftſteller haben ſie daher in ihren Hand-
buͤchern
[101]Synthetiſche Anordnung
buͤchern beliebt, und ich folge ihrem Bei-
ſpiele.
Der ethnographiſchen Methode zufolge
wuͤrde die Univerſalhiſtorie ſo viel eigne Ka-
pitel haben, als eigene Voͤlker ſind. Aber
wie viele Voͤlker giebt es? Was nennt man
Ein Volk? Dieſer Begriff iſt hoͤchſt unbe-
ſtimmt und vieldeutig.
Alle dieſe Bedeutungen, ſo wunderlich
ſie auch in einzelnen Faͤllen klingen, ſind von
G 4dem
[104]Kap. IV. §. 43.
dem Sprachgebrauch abſtrahirt, deſſen Ei-
genſinn die Hiſtorie ſo wenig als die Philo-
ſophie uͤberwinden kann, deſſen Jrrtuͤmern
und Verwirrungen aber ſie durch Diſtinctio-
nen vorbauen muß. Kaum ſollte man glau-
ben, wie fruchtbar und wichtig dieſe Unter-
ſcheidungen in der Kritik der alten Voͤlker-
kunde werden.
Wer keine griechiſche Kunſtwoͤrter
vertragen kan, der ſage von Voͤlkern, die
nur in geographiſcher Bedeutung als Ein
Volk gedacht werden: “ſie gehoͤren in Ei-
ne Klaſſe„; von denen in genetiſcher: “ſie
ſind von Einem Stamme„; von denen in
politiſcher Bedeutung: “ſie gehoͤren zu Ei-
nem State„.
Wenn wir in der Univerſalhiſtorie nach
Voͤlkern ordnen; ſo nemen wir das Wort
hauptſaͤchlich, und ſo weit wir damit aus-
reichen, in der dritten Bedeutung: die Ur-
ſache
[105]Synthetiſche Anordnung
ſache hievon iſt oben §. 9 angegeben. Sol-
chergeſtalt bleibt die allgemeine Weltgeſchich-
te, der Anlage und dem Aeußern nach, eine
allgemeine Statengeſchichte, auf welche
aber alles uͤbrige, was der Begriff einer
Weltgeſchichte fodert, gehoͤrig aufgetragen
wird.
Jeder Stat, er mag groß oder klein,
maͤßig oder ſchwach, von langer oder kurzer
Dauer, geweſen ſeyn, iſt an ſich, wenigſtens
was ſeine Entſtehung und Verweſung be-
trifft, ein Gegenſtand der Weltgeſchichte S.
71. Aber die meiſten Staten ſind uner-
heblich; entweder haben ſie nie betraͤchtli-
chen Einfluß in die uͤbrige Welt gehabt, o-
der die Jahrbuͤcher haben wenigſtens ſolchen
nicht aufgezeichnet: vorſetzlich bleiben ſie al-
ſo ſaͤmtlich aus dem Syſtem der Univerſalhi-
ſtorie weg, und werden nur ihrem Aggre-
gate aufbehalten.
Aber auch der erheblichen iſt noch eine
ſolche Menge, daß die Methode ſie noth-
wendig auf wenigere reduciren muß. Aus
den erheblichen hebt ſie daher die allererheb-
lichſten, oder die Hauptvoͤlker, heraus: die uͤ-
brigen ſchichtet ſie theils gelegenheitlich in die
Hauptvoͤlker ein; theils wirft ſie ſie, nach ei-
nem gewiſſen angenommenen Vergleichungs-
Puncte, in eigene Klaſſen zuſammen. Sie
beſtimmt alſo Hauptvoͤlker, und macht
Voͤlker-Klaſſen.
Hauptvoͤlker nennet ſie
Die wichtigen Voͤlker ſtehen den
herrſchenden entgegen; allein von den lez-
tern
[108]Kap. IV. §. 45.
tern ſind die meiſten, eben wegen ihrer Macht
und den Folgen derſelben, gleichfalls wich-
tig. Beide Arten ſind, fuͤr eine Univerſal-
hiſtorie nach unſerm Begriffe, gleich er-
heblich.
Voͤlker-Klaſſen macht endlich die
Methode von mehreren ſolchen theils verwand-
ten, theils ganz verſchiedenen Nationen, die
einzeln weder herrſchend noch wichtig waren,
aber doch im Ganzen erheblich ſind: waͤre
es auch nur deßwegen, daß ſie ein groſſes
Revier der damals bekannten Welt bewohn-
ten, und theilweiſe in die Geſchichte der
Hauptgeſchichte verflochten waren.
Dergleichen ſind, in der alten Geſchichte:
Klein-Aſiater, und die ſo genannten Un-
bekannten (das iſt, nach ihrem Daſeyn
wol, obgleich nur verworren, bekannte)
Voͤlker; in der neuen: Slaven.
Nun wage ich es, folgende Hauptab-
ſchnitte fuͤr die geſamte Univerſalhiſtorie,
von erobernden und wichtigen Voͤlkern ſo-
wol, als von Voͤlker-Klaſſen, feſtzuſetzen.
Hier entſtehen die Fragen: 1. ſind der Ab-
theilungen nicht zu viel? Mit wenigeren ge-
traue ich mir nicht auszukommen; und 9
fuͤr jede Geſchichte, daͤchte ich, belaͤſtigen
auch ein mittelmaͤßiges Gedaͤchtniß nicht. 2.
ſind ihrer nicht zu wenig? Laſſen ſich alle
andere erhebliche Voͤlker bequem und un-
gezwungen einſchalten dergeſtalt, daß die
ganze Univerſalhiſtorie durch dieſe 18 Ru-
briken erſchoͤpft werde? — Man muß die
Probe machen.
Jedes dieſer Voͤlker muß univerſalhi-
ſtoriſch (S. 21. II), mit beſtaͤndiger Ruͤck-
ſicht auf die Abſicht und das Syſtem der
Weltgeſchichte, beſchrieben, und dem zufolge
Die Unterabtheilungen jeder einzelnen
Voͤlkergeſchichte, falls ſolche reich an Nach-
richten iſt, und durch lange Zeitraͤume fort-
laͤuft, fodern im Kleinen eben die Vorſicht
und gleiche Kuͤnſte, als die Zerſtuͤckung der
Weltgeſchichte im Groſſen verlangt. Fuͤr
den erſten Anfaͤnger ſind ſie nur Memorien-
ſache; der bloſſe Vortrag druͤckt ſie nicht das
erſtemal gleich dem Gedaͤchtniſſe ein: ich fuͤ-
ge ſie daher hier anhangsweiſe nebſt einigen
Anmerkungen bei, die beſonders jedes Volk
in ſeiner Verbindung mit den gleichzeitigen
Voͤlkern und den Erben ſeiner Herrſchaften
zeigen ſollen.
Jhre Geſchichte faͤngt mit Nimrod und
Aſſur, oder den beiden Belis, an, und
hoͤrt beim Cyrus auf. Sie hat 3 Perioden,
wovon die zwei erſten in die Vorgeſchichte
fallen.
Die Geſchichte der Aegyptier, unter ih-
ren inlaͤndiſchen Pharaonen, faͤngt, der
Sage nach, mit Menes im 2ten Saͤc.
nach der Suͤndfluth an, und endiget ſich
mit Pſammenit, dem der Perſiſche Kam-
byſes Thron und Leben nahm. Dies waͤre
ein Zeitraum von 1652 Jahren: wir theilen
ihn in vier Abſchnitte, wovon die zwei erſten,
nebſt einem Theil des dritten, noch in die
Vorgeſchichte fallen.
Sie ſind die Hollaͤnder der alten Welt.
Als Seefahrer und Kaufleute ſtreuten ſie den
erſten Samen Aſiatiſcher und Aegyptiſcher
Kuͤnſte unter die verwilderten Europaͤer aus.
Jhr Handel war bereits unter Jacob im
Gange. Nebucadnezar ſchwaͤchte ſie, die
Perſer unterjochten ſie, und Alexander zerſtoͤr-
te ihren Hauptſitz Tyrus: ihren Abkoͤmm-
lingen, den Karthagern, machten erſt die
Roͤmer den Garaus.
Aus Karthago, einer von den vielen
Pflanzſtaͤdten, die die Phoͤnicier noch vor
der Erbauung Roms, auf der Kuͤſte von
Afrika anlegten, ward eine Stadt, die
zuletzt 700,000 Einwoner zaͤhlte, und ein
Stat, der in ſeiner Verfaſſung, die Ariſtoteles
bewundert, ſehr viel aͤhnliches mit der heutigen
Brittiſchen hatte; ein Reich, das auſſer dem
ſchoͤnſten Theile von Nord-Afrika, ganz Spa-
nien, und viele Jnſeln im Mittellaͤndiſchen Mee-
re beherrſchte, das den Anfang der Entdeckung
einer neuen Welt machte, und die Herrſchaft
uͤber die alte vielleicht ſelbſt Rom entriſſen haͤt-
te, wenn nicht Hannibals Elefanten bei Zama
ſcheu geworden waͤren.
Dieſes Reich ſtund 740 Jahre. Kar-
thago war
Ein Hauptvolk der Welt, nicht blos
der chriſtlichen Univerſalhiſtorie; ein maͤch-
tiges Volk, das im Zeitpunct ſeiner Groͤße,
an Menge der Buͤrger, dem heutigen Preuſ-
ſiſchen State nichts nachgab; ein cultivirtes
Volk, der Depoſitaͤr aller Kenntniſſe, die
wir noch aus der aͤlteren Welt, lange vor
den jungen Griechen, uͤbrig haben: das ein-
zige Volk, naͤchſt den Gauren, deſſen Ge-
ſetzgebung und Sitten ſeinen Stat uͤberlebt
haben.
Dieſes Volk erſcheint in der Geſchichte
Jhr Ruhm und ihre Geſchichte faͤngt
zweihundert J. nach Roms Erbauung an,
und waͤhrt nur 230 J., von Cyrus bis auf
Darius Codomann.
Ein vorher unbekanntes Volk, das
aus 12 Staͤmmen und 120000 Mann be-
ſtund, uͤberwaͤltigt ſeine Oberherrn, die Me-
der, die bereits uͤber Aſſyrien herrſchten; ver-
ſchlingt allmaͤlig die benachbarten Reiche,
Lydien, Babylon, und Aegypten; und herr-
ſchet zuletzt uͤber ganz Vorder-Aſien (nur Ara-
bien ausgenommen) bis nach Jndien und in
die
[126]Alte Geſchichte.
die Bucharei hinein. Das erſte Volk in
Aſien, das in Europa Eroberungen wagte:
aber hier ſcheiterte ſeine Macht, anfangs an
den ihm veraͤchtlichen Scythen; und nach-
her an den damals noch unbetraͤchtlichen Grie-
chen, fuͤr die es eben das wurde, was die
Ungern fuͤr Deutſchland.
Nicht Einen Stat, ſondern eine Men-
ge von meiſt kleinen freien Staten, ohne an-
dre allgemeine Verbindung, als die die Einheit
der Sprache und der Nationalſtolz unter
verſchiedenen Voͤlkern macht, muß man ſich
unter dem Namen der Griechen denken.
Das feinſte und cultivirteſte Volk der
alten Welt: Schuͤler der Aegyptier, Phoͤ-
nicier, und Klein-Aſiater; und Lehrer der Roͤ-
mer, und vermittelſt dieſer, Lehrer unſers
ganzen Welttheils. Gleich den Deutſchen
in der neueren Welt, breiteten ſie ſich, durch
Kolonien, Eroberungen, und Reiſen, in
der ganzen bekannten aͤlteren aus, und ver-
pflanzten ihre Sprache, ihre Sitten, ihre
Kenntniſſe, und Kuͤnſte, an den Euphrat
und
[129]VI. Griechen.
und Jndus, an den Nil, Dnẽpr, und
Don, an die Tyber, die Rhone, und den
Ebro.
Wir ordnen ſie in 9 Klaſſen, und be-
ſchreiben die Griechen 1. in Jonien, 2. im
Peloponnes, 3. in Hellas, 4. in Theſ-
ſalien, 5. in Macedonien, 6. in Epirus,
7. auf den Jnſeln, 8. in Jtalien, 9. in
ihren Kolonien.
Klein-Aſien iſt das Vaterland aller Grie-
chen, von dar ſie noch vor Moſe, unter dem
Namen Javaner und Pelasger, in andre
Gegenden zogen. Handel und Nachbar-
ſchaft mit andern bereits gebildeten Nationen,
machte ſie fruͤher cultivirt, als ihre Europaͤi-
ſche Enkel: ſie haben den erſten griechiſchen
Dichter und Geſchichtſchreiber geboren.
Noch vor Roms Erbauung durch Ruͤck-
wanderungen einiger Haufen von Europaͤi-
ſchen Griechen verſtaͤrkt, errichteten ſie 18
kleine Freiſtaten, die in drei Eidgenoſſen-
ſchaften, die Joniſche, Aeoliſche, und Do-
riſche, vertheilt waren. Der Lydiſche Kroͤ-
ſus unterwarf ſie ſich: von ihm kamen ſie an
Jdie
[130]Alte Geſchichte.
die Perſer, fuͤr die ſie gegen ihre Helleniſche
Bruͤder fechten mußten.
Athen machte ſie frei, in dem Frieden
mit Artaxerxes Langhand. Sparta gab
ſie wieder der Perſiſchen Herrſchaft preis,
durch den Antalcidiſchen Frieden. Ale-
xander machte ſie abermals frei; aber ſeine
Syriſche Nachfolger beherrſchten ſie 150
Jahre. Die Roͤmer machten ſie von Antio-
chus dem Großen loß: 100 Jahre genoſ-
ſen ſie dieſer Unabhaͤngigkeit, bis ſie ſich mit
dem Mithridat gegen ihre Befreier ver-
ſchworen, und vom Sulla durch uner-
ſchwingliche Strafgelder beinahe aufgerieben
wurden.
Unter den 8 Gebieten dieſer Halbinſel,
Achaien, Sicyon, Korinth, Argos,
Elis, Arkadien, Meſſenien, und Spar-
ta, iſt vorzuͤglich Sparta wichtig. Der
Anfang aller dieſer Staten faͤllt in die dunkle
Vorgeſchichte. Erſt Lykurgs Geſetzgebung
breitet etwas Helle und Gewißheit uͤber Mo-
rea aus.
Sparta oder Lacedaͤmon, die
Antipode, die Rivalin, und zuletzt die Ue-
berwinderin von Athen,
Attica, Boͤotien, Phocis, Lokris,
Doris, und Aetolien, ſind die vornehm-
ſten Landſchaften von Hellas.
Athen erſcheint in der Geſchichte 100
J. nach Moſe, und verſchwindet daraus
100 J. vor Chriſto, als es die Roͤmer ero-
bert hatten. Seine
Theſſalien, oder Pelasgien, war vor-
mals eine See, und nachher ein Thal, von
J 3welchem
[134]Alte Geſchichte.
welchem Tempe und Pharſalien einzele Thei-
le waren: der Stammſitz der alten Pelasgi-
ſchen oder eigentlichen Griechen, die von
hieraus ihren Namen nach Jtalien trugen;
und das zweite Vaterland der neueren oder
Helleniſchen Griechen, die vom Deukalion
ſtammten, und jene verdrangen.
Jn der Vorgeſchichte iſt Theſſalien kein
unwichtiges Land. Hier machte Deukalion
Eroberungen, hier ſah man die erſte griechi-
ſche Reuterei, von hier aus gieng der Argo-
nauten-Zug. Allein ſpaͤter hin hatte es,
wegen ſeiner Zertheilung, wenig Einfluß in
die groſſen Begebenheiten Griechenlands:
der zweite Jaſon, der 50 J. vor Alexandern
uͤber Pheraͤ herrſchte, war eine voruͤberge-
hende Erſcheinung.
Hier in Skanderbegs Vaterlande wohn-
ten ſchon im Trojaniſchen Zeitalter griechi-
ſche Staͤmme, mit Noͤrdlichen Barbaren
oder Ungriechen vermengt, und in viele klei-
ne Staten zertheilt: bis endlich die Moloſſer
die herrſchende Nation wurden, und ganz
Epirus unter Einen Koͤnig kam.
Seit dem Xerxes werden dieſe Koͤnige
durch innere Unruhen und einigen Einfluß
in das uͤbrige Griechenland bekannt. Und
vom Arybas an bis Alexandern II, = 130
J., iſt die Epiriſche Geſchichte wichtig. Ary-
bas, in Athen gebildet, wurde der Geſetz-
geber ſeiner tapfern aber rohen Voͤlker. Seine
Nichte Olympias war des Groſſen Alexan-
ders Mutter. Sein Neffe, der Epiriſche
Alexander, hatte vor, das im Weſten zu
werden, was der Macedoniſche Alexander,
ſein Schweſterſohn und Schwager, im Oſten
wirklich war. PyrrhusII. ein Enkel des
vorigen, einer der groſſen Fuͤrſten des Al-
terthums nach Hannibals Urtheil, nur da-
bei ein Abenteurer, ſtritte mit Rom, Kartha-
go, Macedonien, und Sparta. Mit ſeinem
Enkel erloſch ſein Mannsſtamm.
Nun fuͤhrten die Epirer unter ſich die
Demokratie ein, und wurden daruͤber ihren
Nachbarn, den Macedoniern und Jllyriern,
zur Beute. Die Roͤmer machten ſie frei nach
Philipps Niederlagen. Allein wie ſie nach-
her den Antiochus heimlich, und den Perſeus
oͤffentlich, gegen die Roͤmer unterſtuͤtzten, riß
ihnen Paul Aemil 70 Staͤdte nieder, und
machte den Kern der Nation zu Sklaven oder
Gefangenen.
Die vornehmſten ſind Rhodus, Cy-
pern, Creta, Samus, Aegina: lauter
unabhaͤngige, theils freie, theils monarchi-
ſche Staten, die von griechiſchen Abkoͤmm-
lingen, nach Verdraͤngung der Ureinwohner
und Phoͤnicier, meiſt noch vor dem Trojani-
ſchen Kriege waren errichtet worden, und
mit ihren maͤchtigern Bruͤdern zuletzt einer-
lei Schickſale hatten.
Schon die alten Javaner ſchickten aus
Klein-Aſien Pflanzvoͤlker nach Jtalien. Jh-
nen folgten nachher, bei verſchiedenen An-
laͤſſen, mehrere aus Arkadien und dem uͤbri-
gen Griechenlande nach, und bauten ſich
hauptſaͤchlich im Neapliſchen an. Dieſe
Zuͤge vermehrten ſich nach der Erbauung von
Rom; dadurch ward der groͤßte Theil von
Unter-Jtalien und Sicilien griechiſch. Rhe-
gium entſtand A. 741 vor Chriſto, Sy-
rakus und Krotona 731, Tarent 700,
Gela 675, Zankle 653, Agrigent 578,
Thurium 444.
Eine von dieſen griechiſchen Kolonien,
Syrakus auf Sicilien, erhob ſich uͤber
die uͤbrigen, wie Karthago unter den
Pflanzſtaͤdten der Phoͤnicier. Lange war es
ſchwach und unbekannt, von ſeiner Erbauung
an bis zum Xerxes, A. 731-497: nun erſt
fieng es an, ſeine Rolle zu ſpielen, ward ein
Koͤnigreich, erwehrte ſich der Karthager und
Athener, und fiel A. 212 unter die Roͤmer.
Epochen ſind in dieſen 285 Jahren ſeines
Ruhms,
Auch dieſe Kolonien laſſen ſich der Zeit
nach in drei Klaſſen theilen:
Jm noͤrdlichen Theile von Griechen-
land, uͤber welchen hinaus Thracien, Scy-
thien,
[139]VI. Macedonier.
thien, und die Barbarei lagen, ſangen die er-
ſten griechiſchen Barden, und wurden zu
gleicher Zeit zwei große Weltherrſcher von
verſchiedener Art, Alexander und Ariſtoteles,
gebohren.
Lange war Macedonien, wie Epirus,
in viele kleine Voͤlker zertheilt, die unter ſich
und mit den Jllyriern und Thraciern unauf-
hoͤrlich kriegten. Perdiccas, im Jahrhun-
derte Roms, vereinte ſie in ein Koͤnigreich.
Seine Nachfolger wurden einſt Vaſallen der
Perſer, mußten den Athenern ihre Seehaͤ-
fen zu Handels-Niederlagen uͤberlaſſen,
waren Schutzverwandte der Thebaner: aber
ſie erfanden den Phalanx, ſie zogen Gold
aus ihren Bergwerken, Archelai Hof konnte
ſchon den Euripides vertragen, und Philipp
lernte in Epaminonds Schule die Kunſt, aus-
geartete freie Griechen zu bezwingen. Phi-
lipps Genie und Statskunſt gruͤndete das
große Gebaͤude, das ſein Sohn durch
Kuͤhnheit und Gluͤck auffuͤhrte, und durch
ſeine Laſter wieder einſtuͤrzen machte.
Klein-Aſien iſt der Stammſitz der mei-
ſten Europaͤiſchen Voͤlker. Hier bildeten ſich
ſehr fruͤh geſittete Staten. Hier wurden die
groſſen Kriege gefuͤhrt, die die Herrſchaft der
Welt zwiſchen Europaͤern und Aſiatern, un-
ter den Kimmeriern, Alexandern, Antio-
chus, und Mithridaten, faſt immer zum
Vortheil der erſtern, entſchieden. Hier ward
endlich in neueren Zeiten die Osmaniſche
Macht gegruͤndet.
Kaufleute, Eroberer, Apoſtel, und
Neugierige, haben die Welt entdeckt, und
Menſchen, die ſich ſeit dem Thurmbau weit
und breit verlaufen hatten, wieder unter ſich
in Verbindung gebracht. Die alten Voͤlker,
die vorzuͤglich dieſen Dienſt dem menſchlichen
Geſchlechte geleiſtet haben, und unter denen
wir die groͤßte Summe kosmographiſcher
Kenntniſſe vorfinden, ſind
Dieſe Entdeckungen erhielten und ver-
breiteten ſich, theils gelegenheitlich durch
Schriftſteller von allerhand Art, theils vor-
ſetzlich durch eigene Geographien und
Landkarten. Die erſte Landkarte kommt
Joſ.XVIII, 9. vor: die erſte griechiſche
machte Anaxim ander von Miletus unter dem
Cyrus. Auch Ariſtagoras und Sokrates
hatten Landkarten, und unter dem Proper-
tius illuminirte man ſie bereits in Rom. Von
Karten des Mittelalters ſind noch vorhanden,
Agathodaͤmons ſeine aus dem 5ten, und die
Peutingeriſche aus dem 13ten Saͤculo;
Karls des Großen ſeine aber iſt verloren.
Die unentdeckten Voͤlker warf Ephorus
alle in 4 geographiſche Klaſſen zuſammen,
K 4und
[152]Alte Geſchichte.
und nannte ſie, nach den Namen der erſten,
die am Rande dieſer Terra incognita in We-
ſten, Norden, Oſten, und Suͤden wohn-
ten, Celten, Seythen, Jndier, und
Ae thiopier: etwa ſo, wie wir noch heut
zu Tage die Namen Tatarn, Jndier, Ne-
gern, und Amerikaner brauchen; und wie
Deguignes mit dem Worte Hunnen ſpielt.
vor Chr. 753 — 1453 nach Chr.
= 2200 J.
Das Volk iſt dahin: aber noch lebt es
im ganzen ſuͤdlichen Europa in ſeiner Spra-
che, ſeinen Geſetzen, und in der Aufklaͤ-
rung, mit der es ſeinen Beſiegten ihre Un-
terwerfung verguͤtet hat. Es baute ſeinen
Thron meiſt auf die Truͤmmer des Kartha-
giſchen und Macedoniſchen Reichs; dem
Pyrrhus, Hannibal, Antiochus, den Cim-
bern, dem Mithridat, den Markomannen,
und Radegaſten, war es unbezwinglich: aber
in Weſten ſtarb es durch Germanier eines
ge-
[153]IX. Roͤmer.
geſchwinden, und im Oſten durch Araber,
Franken, und Tuͤrken, eines langſamen To-
des. Sein Ende iſt der Anfang der meiſten
noch vorhandenen Staten.
Es war kein Raͤuberneſt: aber wohl
ein roher ſchwacher Stat, der dennoch
ſchon Schreibkunſt und Muͤnze hatte, und
Waſſerleitungen baute. Lucretia war die
Epoche, nicht die Urſache, ſeiner Frei-
heit.
Da kriegete es mit Porſenna, Corio-
lan, den Galliern, und Pyrrhus. Da
bekam es Tribunen, die zwoͤlf Tafeln,
Cenſoren und Praͤtoren, und Sonnen-
zeiger. Da drang es allmaͤhlig dem A-
del alle ſeine Rechte ab. A. 347 ga-
ben ſie ihren Truppen den erſten Sold,
350 machten ſie die erſte Winter-Campa-
gne, 441 ward der Appiſche Weg ge-
macht, 474 nahmen ſie von den Gal-
liern die Sichelwagen an, 480 lernten
K 5ſie
[154]Alte Geſchichte.
ſie von Pyrrhus ihre Laͤger befeſtigen,
und 484 ſchlugen ſie das erſte Silber-
geld. Der Aegyptiſche Ptolemaͤer bot
ihnen ſeine Freundſchaft an. Aber noch
hatten ſie keine andre Annalen, als Tem-
pelregiſter; keine Aerzte, als Schlangen
aus Epidaurus: noch bluͤhte um ganz
Rom kein Apfelbaum.
1ſter Puniſcher Krieg: er dauert 23 J.
Rom wird eine Seemacht, macht Muͤnz-
operationen, und gewinnt Sicilien: hier
faͤngt der Grieche an, das Urbild des
Roͤmers zu werden.
Friede von 23 J. Sie nehmen Sar-
dinien weg; und zuͤchtigen die Jllyrier,
woruͤber ſie Freunde der Griechen werden.
Nach Norden gehen ſie uͤber den Po, und
rucken bis an die Alpen vor: und in Spa-
nien befehlen ſie den Karthagern, nicht
uͤber den Ebro zu gehen.
A. 513 ſpielt Livius Comoͤdien, 514
wird Ennius geboren, und 534 practici-
ret Archagathus in Rom.
Friede mit Karthago 50 J. Jndeſſen
ſchlagen ſie Philippen von Macedonien,
Hannibals Alliirten; und machen Grie-
chenland frei. Sie demuͤthigen den Groſ-
ſen Antiochus, und zuͤchtigen ſeine Freun-
de, die Aetolier und Galater. Sie wer-
fen den Macedoniſchen Thron gaͤnzlich
um, und verwuͤſten Epirus. A. 595 thei-
len ſie Aegypten und Kappadocien, und
A. 599 werden ſie von Marſeille aus
nach Gallien gerufen.
Rom verfeinerte ſich durch Umgang
mit Griechen,
Graecia capta ferum victorem cepit, et artes
Intulit agreſti Latio.
und bereicherte ſich durch Raub aus dreien
Welttheilen: ſein Luxe ſtieg, und ſeine
Tugend ſank. Nun erſt ſchrieb Fabius
ſeine Annalen. A. 579 ward die Stadt
gepflaſtert, 588 ſpielte Terenz die Hecyra,
692 jagte Cato die griechiſchen Sprach-
meiſter aus Rom, und um A. 600 fieng
der Weinbau und die Schafſchur in Jta-
lien an.
Theodoſius theilte, wie ſeit Diokle-
tian faſt immer geſchehen war: aber dies-
mal, gerade zur allerungelegenſten Zeit,
ward aus der Theilung eine voͤllige Tren-
nung in das Weſtliche und Oeſtliche
Kaiſerthum. Die hoͤchſten Statsbedie-
nungen waren in den Haͤnden unterneh-
mender, verraͤtheriſcher, und unter ſich
uneiniger Auslaͤnder: im Reiche ſelbſt
ſaſſen ſchon, auſſer den Vandalen, die un-
bezwinglichen Gothen; und an deſſen
Graͤnzen ſtunden Franken, Alemannen,
und Hunnen, voll Rachgier und Erobe-
rungsſucht zum Einbruche fertig, und nur
auf guͤnſtige Anlaͤſſe laurend.
Dieſe Anlaͤſſe kamen. Der Sturm
fiel auf das Weſtliche Reich: man ver-
ließ die entlegenſten Laͤnder, um die naͤ-
heren zu erhalten; man verſchenkte eine
Provinz, um die andere zu ſchuͤtzen; man
opferte endlich alles auf, um nur Jtalien
zu retten. So zerfiel das Reich in Truͤm-
mer, und lag 400 J. in Truͤmmern: bis
nach allerhand Revolutionen Karl der
Groſſe daraus ein neues Ganze, unſer
heutiges ſuͤdliches Europa, baute. —
Dies iſt die ſo genannte Geſchichte der
Voͤlkerwanderungen, der Pendante
zur Geſchichte der Zertrennung des Mace-
doniſchen Kaiſerthums (S. 141). Hier
ſind Franken, was dort Roͤmer waren,
was Osmaner fuͤr die Araber wurden.
Das oͤſtliche Reich verlohr bei dieſen
Stuͤrmen anfaͤnglich nichts als Karthago:
aber ſtatt der ausgewanderten Pannoni-
ſchen Voͤlker ruckten ihm hierauf die Sla-
ven nahe. Doch ſeine wahren Zerſtoͤrer
kamen aus Aſien; nicht aus Perſien, wie
man vermuthen ſollte, ſondern vom Suͤ-
den aus Arabien, und vom Norden her,
um die Krim herum: bis endlich, aber
erſt nach 1000 Jahren, ſein trauriger
Ueberreſt von den Osmanern verſchlungen
ward.
[165]IX. Voͤlkerwandrungen.
ward. — Dies iſt die Byzantiſche
Geſchichte.
Ein unſchicklicher Ausdruck, der ver-
bannt werden ſollte: denn dem Worte Wan-
derungen kleben einige Nebenbegriffe an,
die die richtige Vorſtellung dieſer Begebenhei-
ten erſchweren. Wandernde Volker ſind
Conqueranten aus ungebauten Gegenden,
die fremde ſchon gebaute Laͤnder einnehmen,
ſolche zu ihrem Eigenthume machen, und ſich
mit allen ihren Familien darinnen haͤuslich
niederlaſſen.
Sie folgen in nachſtehender Ordnung
auf einander:
Noch gehoͤren unter dieſe wandernde
oder erobernde Voͤlker: Chazaren, Ma-
dſcharen oder Ungern, Norrmaͤnner,
Ku-
[172]Alte Geſchichte.
Kumaner, Petſcheneger, Polovzer,
und Tuͤrken. Allein theils waren ſie
nur Feinde der Roͤmer, nicht Erben ihrer
Laͤnder: theils ſind ſie juͤnger, wie Karl
der Groſſe.
Von allen dieſen Voͤlkern haben ſich
blos Weſtgothen, Angelſachſen, Ma-
dſcharen, und die Ueberwinder der mei-
ſten uͤbrigen, die Franken, nebſt den ſpaͤ-
teren Tuͤrken, bei ihren Eroberungen bis
auf neue Zeiten erhalten.
Ueber tauſend Jahre arbeitete dieſes
elende Pfaffen-Reich an ſeinem Untergange.
Gleich anfangs hatte es keine Erbprinzen
mehr; nun ſtiegen Schweinhirten und Kai-
ſermoͤrder auf den Thron, und fielen eben ſo
leicht wieder herab. Der Aberglaube, durch
den die Hildebrande die weſtliche Welt re-
gierten, ſaß hier in der Regierung ſelbſt,
und hatte ſolcher einen Marasmus zuge-
zogen, der mit der fanatiſchen Thaͤtigkeit des
gleichzeitigen Chalifats laͤcherlich contraſtiret.
Biſchoͤfe praͤſidirten in der Kriegskanzlei, und
entſchieden durch Traͤume und Geſichter, wenn
das Heer marſchiren ſollte. Fuͤr eine Reli-
quie hobeu Generale eine Belagerung auf.
Moͤnche ſaſſen im geheimen Rathe, und die
Kaiſer
[173]IX. Byzantiner.
Kaiſer ſtudirten Polemik. Gleichwol er-
hielt ſich der Stat, aus Urſachen, die hier
ſchwerer zu ergruͤnden ſind, als bei audern
Staten die Urſachen ihres Falls.
Die Noͤrdlichen Eroberer ſchafte man
ſich durch Geſchenke oder Tribut, und durch
Anweiſungen auf das Weſtliche Kaiſerthum,
vom Halſe. Gegen die Araber retteto Con-
ſtantinopel ſeine natuͤrliche Feſtigkeit, das
griechiſche Feuer, und die nachherigen inner-
lichen Unruhen im Chalifate; gegen die Fran-
ken, dieſer ihre Zertheilung: gegen den Ba-
jeſſid, der Mogoliſche Timur; gegen Mu-
rad II, deſſen aufruͤhriſche Bruͤder. Viel-
leicht haͤtte es auch Mohaͤmmed II widerſtan-
den, wenn ihm nicht Venedig und Genua
ſeinen Handel genommen, und dadurch die
noch einzige Quelle ſeiner Macht verſtopfet
haͤtten.
Epochen machen in der Byzantiniſchen
Geſchichte
Vom erſten Kaiſer bis zum letzten,
unter dem ſich das Reich in einigem
Glanze zeigte. Juſtinian, der unſterb-
liche Geſetzgeber ohne Einſicht und Ge-
rechtig-
[174]Alte Geſchichte.
rechtigkeit, der gluͤckliche Eroberer durch
Beliſar und Narſes, die er fuͤr ihr
Wolverhalten ungluͤcklich machte, ſah
die erſten Seidenwuͤrmer aus dem O-
riente nach Griechenland bringen.
Araber, Ruſſen, Tuͤrken, Petſche-
neger, Norrmaͤnner, Kumaner, und
Kreuzfahrer, aͤngſtigen den Stat von
allen Seiten. Jn dem Kriege mit den
Norrmaͤnnern kommen die erſten Seiden-
arbeiter als Gefangene aus Griechen-
land nach Jtalien, (aber erſt A. 1603
trug Heinrich IV ſeidne Struͤmpfe.)
Ein kleines Volk, das urſpruͤnglich in Weſt-
falen wohnte, und erſt A. 241 unter
dieſem Namen erſchien, ward ſeitdem mit
den Roͤmern als Freund und Feind bekannt,
that Einfaͤlle zu Waſſer und zu Land, mach-
te Eroberungen dieſſeits des Rheins, und
war bereits A. 438 bis an die Somme vor-
geruͤckt, bis es endlich, nach dem Untergan-
ge des weſtlichen Kaiſerthums in Gallien,
ein neues Reich auf den Ruinen der bisheri-
gen errichtete, das noch bis auf den heutigen
Tag, wiewol unter eine Menge von Be-
herrſchern vertheilt, vorhanden iſt.
Hlodowich ſeit A. 481 warf ſich
zum Monarchen uͤber alle Fraͤnkiſche
Horden auf, eignete ſich den Roͤmiſchen
Reſt von Gallien zu, ſchlug die Ale-
mannen, die Weſtgothen, und Bretagner,
und
[176]Neue Geſchichte.
und ward ein Chriſt wie Conſtantin.
Seine Nachkommen theilten, und krieg-
ten unter ſich, und bezwangen Thuͤringen,
den Weſtgothiſchen Reſt von Gallien,
und Burgund. Mit der Zeit entſtan-
den unter ihnen Groß-Weſire, genannt
Major Domus, die Gallien vor den A-
rabern retteten, und die Frieſen unter-
jochten. Einer dieſer Statsbedienten
machte A. 680 dieſe Wuͤrde in ſeinem
Hauſe erblich; und deſſen Enkel Pipin
ſetzte ſich A. 750 gar die Krone auf.
Karl der Groſſe, Pipins Sohn,
unterjochte Longobarden, Araber, Sach-
ſen, Baiern, und Avaren, und mach-
te den Ebro und Raab zu Graͤnzen des
neuen Fraͤnkiſchen Reichs. Seine Nach-
kommen theilten, und kriegten unter ſich,
und wurden von ihren Thronen verdrun-
gen. Das ganze Haus war nach 200
J. erloſchen; aber die getrennten Sta-
ten dauerten, ohne fremde Eroberungen,
in ihrer bisherigen Verfaſſung fort.
Die Araber nahmen die ihnen entriſſe-
ne Spaniſche Laͤnder wieder ein; und
Na-
[177]I. Franken.
Navarra machte ſich frei. A. 879
entſtand das Niederburgundiſche,
und A. 888 das Oberburgundiſche
Koͤnigreich. Deutſchland trennete
ſich A. 887, und Jtalien faſt zu glei-
cher Zeit. Das den Avaren entriſſene
Pannonien zog A. 884 der Maͤhriſche
Eroberer Swaͤtopolk an ſich.
Frankreich ward unter den Kapetin-
gern, die von einer Tochter des from-
men Ludwigs ſtammen, ein Erbreich,
und nach allerhand Revolutionen eine
Deſpotie. — Deutſchland ward ein
Wahlreich (doch ſeit A. 1263 kein Pol-
niſches), und hierdurch eine Ariſtokra-
tie, die ſich zuletzt einem bloſen Sta-
tenſyſteme naͤherte. Es vergroͤſſerte ſich
nach Oſten zu durch Eroberungen uͤber
die Slaven: im Suͤden aber trennte ſich
Helvetien von ihm. — Jtalien kam
durch Otto den Groſſen aufs neue an
Deutſchland, und ward in eine Menge
kleiner Lehen zerſtuͤckt. Allein bei den Em-
poͤrungen der Paͤpſte entſtunden Factio-
nen, die ſich bei Deutſchlands Anarchie
und der Entfernung der Kaiſer der-
geſtalt ſtaͤrkten, daß endlich aus den
Leben und einzelnen Staͤdten ſouveraine
MHerr-
[178]Neue Geſchichte.
Herrſchaften wurden, die es groͤßten-
theils noch itzt ſind.
Sie ſelbſt, durch Jtaliener und Eng-
laͤnder cultivirt, fiengen das Aufklaͤrungs-
geſchaͤfte da an, wo die Roͤmer aufge-
hoͤret hatten. Sie unterjochten, bekehr-
ten, und cultivirten, durch Dragoner,
Apoſtel, und Weiber, den Germaniſchen,
Skandinaviſchen, Slaviſchen, und Let-
tiſchen Norden, bis nach Jsland, Eſt-
land, und Polen hin.
Mit ihrem Reiche fangen die Fraͤn-
kiſchen Annalen an, nach deren Muſter
ſich faſt alle andre Geſchichtſchreiber
des Mittelalters bildeten. Jhre Spra-
che ward ſchon A. 850 durch Otfriden
eine Buͤcherſprache.
Fuͤr uns Deutſche iſt beſonders Win-
frid, oder S. Bonifacius, ein unſterb-
licher Mann. Unter Pipins Schutze
brachte uns dieſer Engellaͤnder die
Schreibkunſt zu, richtete unſere Hier-
archie ein, und entwoͤhnte uns vom
Pferdefleiſch.
Rom war uͤber 1200 Jahre der Sitz
des Reiches geweſen, das von ihm den Na-
men hat. Seit Narſes war es eine erbun-
terthaͤnige Stadt der Byzantiner, und ſeit
Karl dem Groſſen der Franken. Nun ward
es wieder herrſchend. Ein Geiſtlicher ſchuf ſei-
ne Kanzel zum Thron um, und ſchickte von
dieſem Throne herab Ukaſen nach Jsland,
Preuſſen, Karakorum, und Amerika. Aus
ſeinem Kirchſpiele machte er eine Monarchie,
gegen
[181]II. Der Papſt.
gegen die die Monarchien Alexanders und
Timurs maͤßig waren.
Nicht der Biſchof von Rom, nicht das
Oberhaupt einer weitausgebreiteten ehrwuͤr-
digen Kirche, nicht der weltliche Beherrſcher
eines Theiles von Jtalien, iſt ein Gegenſtand
der Weltgeſchichte: ſondern der weiland ver-
meintliche Oberherr aller andern Beherrſcher,
der anmaßliche Oberrichter aller Voͤlker des
Erdbodens; der Mann, der Koͤnige vom
Throne warf, und Voͤlker aus Laͤndern vor
ſeinen Richtſtuhl foderte, deren Nahmen er
nicht ſchreiben konnte; der die deutſchen
Ritter zur Eroberung Preuſſens bevollmaͤch-
tigte, der dem Enkel Dſchinkes-Chans be-
fahl, ein Chriſt zu werden, und der das
neuentdeckte Jndien zwiſchen Spaniern und
Portugieſen theilte.
Vom kleinſten Anfange erhob ſich dieſes
Reich ſtufenmaͤßig zu ſeiner gewaltigen Macht.
Das Haupt deſſelben war
Franken, Aberglauben, Deutſchlands
Anarchie, und die Barbarei des Mittelalters,
hatten das Paͤpſtliche Reich geboren. Eines
der Hauptwerke dieſes Reichs waren die 5
M 4Kreuz-
[184]Neue Geſchichte.
Kreuzzuͤge vom J. 1096-1248: unſin-
nige Unternehmungen, die voͤllig ihre alber-
ne Abſicht verfehlten, und gleichwohl neben-
her ein Haupterkenntnißgrund der wichtigſten
Revolutionen in unſerm Welttheile wurden.
Dieſe Zuͤge ſchufen die innere Verfaſſung man-
cher Europaͤiſchen Staten um: durch ſie ent-
ſtunden Ritterorden, und Wapen; ſie brach-
ten neue Gewaͤchſe auf unſern Europaͤiſchen
Boden, eine Menge morgenlaͤndiſcher Woͤr-
ter in unſere Sprachen, und neue Sitten,
beſonders das donquixotiſche Duelliren, un-
ter unſern Adel: Venedig und Genua wur-
den Handelsnationen und Seemaͤchte; und
Cypern, Livland, und Preuſſen wurden eigne
Staten.
Aber ohne Papſt wuͤrde das barbariſche
Mittelalter weit barbariſcher geweſen, und
Europa uͤberhaupt ſpaͤter menſchlich ge-
worden ſeyn. Das Anſehen dieſes Monar-
chen ſchaffte das Strandrecht und die gericht-
lichen Zweikaͤmpfe ab, unterdruͤckte manche
Kriege, und legte den erſten Grund dazu,
alle chriſtliche Staten in Umgang und Ver-
bindung unter ſich, und in ein Syſtem, zu
bringen. Fuͤr die Kosmographie und Litte-
ratur wurden nun ſeine Miſſionen, was die
Handelsreiſen der Phoͤnicier, und die Mace-
doni-
[185]III. Norrmaͤnner.
doniſchen und Roͤmiſchen Eroberungen, in
der aͤltern Welt geweſen waren.
Nun ſteigt der tiefere Norden aus dem
erdichteten Eismeere der Alten empor, und
wird durch die Einfaͤlle der Norrmaͤnner im
Suͤden, ihre Reiſen nach Conſtantinopel,
die Miſſionen des Papſts, und die Eroberun-
gen der Deutſchen uͤber die Slaven, kenntlich.
Norrmaͤnner heiſſen die Germani-
ſchen Bewoner des Nordens, oder alle Skan-
dinavier. Die Kenntniß, die man in Suͤ-
den von ihnen hatte, war
Als Kuͤſtenbewohner trieben ſie See-
raͤuberei, wie vordem Sachſen und Fran-
ken. A. 516 erſchienen ſie ſchon in Gal-
lien, 795 in Jreland, und 813 am Aus-
fluſſe der Elbe, in Frisland und Holland.
Seit 840 wuͤteten ſie ſchrecklich in Gallien,
und tief ins Land hinein; 857 eroberten
M 5ſie
[186]Neue Geſchichte.
ſie Luna und Piſa in Jtalien: 200 J.
lang zitterte der Suͤden vor ihnen. Ei-
gentlich pluͤnderten ſie nur; doch einige
dieſer Corſaren kriegten Luſt, in der Frem-
de zu bleiben, und errichteten Staten,
theils in dieſer, theils in der folgenden
Periode:
Lange waren 4 Hauptſtaten in dieſem
Weltſtriche. Durch die Kalmariſche Union A.
1397
[188]Neue Geſchichte.
1397 ſchmolzen ſie in ein einziges groſſes
Reich zuſammen: aber nach 200 J. trat
Schweden wieder ab.
Dieſen entfernten Eilaͤndern haben wir,
nebſt den Ruſſen, die aͤlteſte, und vollſtaͤn-
digſte, und zuverlaͤßigſte Geſchichte vom
ganzen Norden zu danken: ihr Lagmann
und Haupt-Annaliſt Snorro ſtarb A.
1241. Von Jsland aus ward um das
J. 982 das alte Groͤnland und Terra La-
brador entdeckt.
Das einzige Volk der Welt, das ſei-
nen uralten einheimiſchen Nahmen noch
itzo traͤgt: das aͤrmſte in Europa an An-
nalen und hiſtoriſchen Denkmaͤlern: das
maͤch-
[190]Neue Geſchichte.
maͤchtigſte im ganzen Norden, von Gu-
ſtaf Adolf bis auf die Schlacht bei Pul-
tawa.
Jetzo herrſchen oder wohnen Slaven
von Raguſa bis an den Kymmene, das Eis-
meer, und Kamtſchatka hin: kaum hat je
ein Volk der Welt ſeine Herrſchaft oder
Sprache weiter ausgebreitet.
Dieſes groſſe Volk erſcheint erſt ſeit
dem 6ten Saͤc. in der Geſchichte; allein es
kann nicht erſt mit den Hunnen aus Aſien
eingewandert ſeyn. Seine Sprache iſt voͤl-
lig Europaͤiſch; ſchon Plinius ſetzt Wenden
an
[191]IV. Slaven.
an die Oſtſee; ſchon Hermanrich, der Go-
thiſche Eroberer, ſoll nach dem Jordan Sla-
ven unter ſeine Beſiegten gezaͤhlt haben; und
ſo bald die Franken Thuͤringer und Sach-
ſen bezwungen hatten, trafen ſie hinter bei-
den lauter Slaven an: keine Annale aber
ſagt, keine Spur iſt in der ganzen Geſchich-
te, daß dieſe zahlreiche Nationen erſt durch
eine Wanderung hieher gerathen waͤren.
Nie haben die Slaven ein allgemeines
Reich errichtet, nie ſtanden ihre viele Horden
unter Einem Beherrſcher. Man muß ſie
blos geographiſch herrechnen, und ihre Ver-
kettung mit der groͤſſeren Weltgeſchichte des
Mittelalters theilweiſe beſchreiben.
Jhre einzelne Staͤmme heiſſen I.Ob-
odriten in Mecklenburg, ein maͤchtiges
Volk unter eigenen Koͤnigen: Heinrich
der Loͤwe rottete es beinahe ganz aus.
Hierzu gehoͤrten auch Polaber, Wagrier,
und Linonen. II.Pommern oder Wil-
zen, von der Oder bis an die Weichſel.
Jhre Fuͤrſten verbanden ſich mit Deutſch-
land A. 1181, und ſtarben erſt A. 1637
aus. III.Ukern oder Graͤnz-Wenden,
Heveller, und Retharier, in den 5 Bran-
denbur-
[193]IV. Slaven.
denburgiſchen Marken. Albrecht der Baͤr
rottete ſie beinahe aus. IV.Sorben,
zwiſchen der Sale und Elbe, in dem
heutigen Oberſachſen. V.Luſizer oder
Lauſizer, kamen A. 931 an deutſche Mark-
grafen, unter Karl IV. an Boͤhmen, und
A. 1635 an Kurſachſen.
Schleſien war von je her ein Theil
von Polen: erſt A. 1140 bekam es durch
die Theilung Boleſlav’s IV eigene Regen-
ten, von denen aber die meiſten aus dem
Polniſch-Piaſtiſchen Hauſe waren, und
erſt A. 1672 ausſtarben. Jn den lang-
wierigen
[195]IV. Slaven.
wierigen Kriegen zwiſchen Polen und
Boͤhmen begaben ſich die meiſten Herzoge
unter Boͤhmen: ſo kam das Land an das
Haus Habsſpurg, und von dieſem neuer-
lich an Brandenburg.
Waͤhrend deſſen wurden Novgo-
rod und Pſkov beinahe Freiſtaten: Lit-
tauen riß die Ukraine ab; und Kreuzrit-
ter und Schweden drangen in Weſten ein.
Da ſtand A. 1462 der Fuͤrſt von Moſkau
Jwan Waſiljewicz I. auf, und entzog ſein
Vaterland dem Joche der Mogolen. Da
entdeckte, unterjochte, bekehrte es das
Noͤrdliche Aſien oder Sibirien; und hol-
te unter Peter I. mit Aſiens Kraͤften von
ſeinen Europaͤiſchen Nachbarn die Laͤnde-
N 2zur
[196]Neue Geſchichte.
zuruͤck, die ſie ihm waͤhrend ſeiner Ohn-
macht genommen hatten. Nun ſetzt es die-
ſen Nachbarn Koͤnige ein, negociiret mit
Perſien und Sina, handelt mit Oſtindien,
ſieht von Kamtſchatka aus auf Amerikens
Kuͤſten hinuͤber, beunruhiget durch Flot-
ten den Archipelagus: und nur ſeine Re-
gierungsform, Tſchuktſchen, das Eismeer,
Joſeph, und Friedrich, begraͤnzen ſeine
Macht.
Die Syrer, als Volk betrachtet, wa-
ren itzo ein unbetraͤchtlicher Theil des Byzan-
tiſchen, und nachher des Arabiſchen Reiches:
aber einem Theil von ihnen, nicht Eroberern,
nicht Kauflenten, ſondern Glaubenspredi-
gern, und zwar Neſtorianiſchen Kaͤtzern, hat
Aſiens Aufklaͤrung und Litteratur ſo viel zu
danken, daß deswegen die Nation eine Stel-
le unter den Hauptvoͤlkern der neueren Ge-
ſchichte verdient.
Nach Chriſti Geburt waren ſie, naͤchſt
den Sineſern, das einzige gelehrte Volk in
N 3Aſien:
[198]Neue Geſchichte.
Aſien: ſie allein ſchrieben die Geſchichte die-
ſes Welttheils, ehe Araber, ihre Schuͤler,
nach dem J. 777 zu ſchreiben anfiengen. Der
fromme Proſelytengeiſt treib ſie nach Jndien,
in die Mungalei, und bis nach Sina, wie
Herrnhuther nach Groͤnland. Ueberall, wo
ſie durchzogen, ſtreuten ſie mit ihrer gelehr-
ten Religion den Samen der Wiſſenſchaften
aus. Jhre Schrift iſt die Stamm-Schrift
der meiſten heutigen Voͤlker des Orients:
aus ihrem Eſtrangelo iſt das Kufiſche, aus
dieſem das heutige Arabiſche entſtanden, wo-
mit auch Tuͤrken, Perſier, Jndoſtaner, und
Malejer, ihre Sprachen ſchreiben; von ihnen
lernten die Ujguren ſchreiben, von dieſen die
Mogolen, von dieſen die Mandſchn.
Noch zur Zeit iſt die Geſchichte dieſes
univerſalhiſtoriſchen Volkes Collectaneen-
maͤßig in Aſſemani’s vier Folianten begra-
ben: und wartet, daß ein Schuͤler von Mi-
chaelis ſie in einen Auszug und in Umlauf
bringe.
Araber, nicht Saracenen, nicht Mo-
haͤmmedaner, heißt das gewaltige Volk, das,
ſeit Nimrod in ſeiner groſſen Halbinſel ein-
ge-
[199]VI. Araber.
geſchloſſen, und wegen ſeiner natuͤrlichen
Vormauer allen Eroberern faſt 3000 J. hin-
durch unbezwinglich, im 7ten Jahrhunderte
nach Chriſto aus ſeinen Sandwuͤſten hervor-
ſchwaͤrmte, und den Erdkreis in ſeinen drei
bekannten Theilen erſchuͤtterte.
Mohaͤmmed, ein edler Araber aus
dem Stamme Koreiſch, ward A. 622 zufaͤlli-
ger Weiſe der Stifter dieſes Reichs: kein groſ-
ſer Geiſt, aber auch kein Dummkopf; anfaͤng-
lich kein Betruͤger, ſondern ein gutmeinen-
der ſanguiniſch-melancholiſcher Schwaͤrmer;
ein Projetteur, wie alle Projetteurs, nur
gluͤcklicher als alle, deren Namen die Ge-
ſchichte kennet; vielleicht der einzige Projet-
teur, deſſen unbeſcheidene Erwartungen das
Gluͤck nicht nur erfuͤllt, ſondern ſogar uͤber-
troffen hat. Als Kind war er bereits von
Zuͤckungen oder Wuͤrmern geplagt: als Juͤng-
ling ſpeculirte er, aus Antrieb ſeines Tempe-
raments, ohne Einſicht und Gelehrſamkeit,
uͤber die Religion: als Mann von vierzig
Jahren ſchloß er ſein Handels-Comtoir zu,
hieng einſam, in Ermangelung regelmaͤßiger
Geſchaͤfte, ſeinen Grillen nach, und hatte
Traͤume und Geſichter, an die zuerſt ſein altes
Weib Chadidſchah, ſein Sklave Said, und
ſein zehenjaͤhriger Vetter Ali, glaubten. Nun
N 4ward
[200]Neue Geſchichte.
ward der Kaufmann ein Prophet; ſelbſt der
geſcheute Abubekr erkannte ihn: Mecka
ſchmaͤhlete und ſpottete, Mohaͤmmed huͤllete
ſich in ſeinen Mantel, der Engel Gabriel er-
ſchien ihm, und er troͤſtete ſich, und fuhr
fort zu predigen. Sein Anhang verſtaͤrkete
ſich, und Mecka verfolgete ihn: Verfolgung
aber ohne Einſperrung macht das Gluͤck der
Schwaͤrmer. Die Buͤrger von Medina,
natuͤrliche Feinde von Mecka, traten auf ſeine
Seite: nun ward der Prophet ein Eroberer; der
Menſchenfreund, der bis dahin nur Sanft-
muth und Toleranz gepredigt hatte, brauchte
Feuer und Schwerdt gegen ſeine Widerſa-
cher, nahm Mecka mit Sturm ein, und be-
kehrte und unterjochete ganz Arabien. Die-
ſes ihm ſelbſt unerwartete zu groſſe Gluͤck
richtete in ſeinem vorhin ſchon kranken Ge-
hirne greuliche Zerruͤttungen an. Der ehrliche
Mann erlaubte ſich nunmehr Handlungen des
Boͤſewichts: denn Propheten ſind uͤber
die Verbindlichkeiten gemeiner Sterblichen
erhaben. Der kluge Mann begieng einfaͤl-
tige Streiche, im Vertrauen auf ſein Gluͤck,
von dem er trunken war. So laſſen ſich alle
Widerſpruͤche in dem ſonſt unerklaͤrlichen Cha-
racter Mohaͤmmeds erklaͤren.
Seine Religion war ein Gemiſche von
den Lehren Moſis, Zerduſchts, und Chri-
ſti: doch ſchonte er dabei ſchlau des alten
Glaubens ſeiner Araber, und verkettete ihn
nur mit ſeinen neuen Saͤtzen. Er ſtarb nur
als Herr von Arabien, deſſen zahlreiche krie-
geriſche Horden er vereinet, und zwar durch
das feſteſte Band, die Religion, vereinet hat-
te. Dieſe Vereinigung dauerte auch nach
ſeinem Tode fort; er bekam Chalifen, d. i.
Nachfolger, auf ſeinem Throne und ſeiner
Kanzel, wie in ſeiner Schwaͤrmerei und ſeinem
Gluͤcke. Krieg mußten die erhitzten Araber
haben: ſie ſahen ſich das erſtemal nach aus-
waͤrtigen Eroberungen jenſeits ihrer Graͤn-
zen um, ſahen die damals maͤchtigſten Reiche,
Perſien und Byzant, in Ohnmacht, grif-
fen ſie an, und uͤberwaͤltigten das eine, und
zertruͤmmerten das andre. So fieng das
Chalifat an, das einſt der Welt von Jndien
bis nach Portugall Geſetze gab, und uͤber
600 J. unter drei Klaſſen von Beherrſchern
dauerte.
Die Reſidenz war Medina und Kufa.
Da wurde Syrien, Palaͤſtina, und
Aegypten, Perſien, und Afrika bis ans
Atlantiſche Meer, erobert.
Die Reſidenz war Damaſkus.
Nun wurden die Araber eine See-
macht; und unter Walid drangen ſie
bis in Jndien, Turkeſtan, und Spa-
nien ein: aber in Frankreich ſchlug ſie
Karl Martell. Nun muͤnzten ſie ſelbſt,
fuͤhrten Poſten ein, und verboten die
griechiſche Sprache. Moawijah mach-
te den Thron erblich, Jeſid III ſetzte
A. 743 den Sold ſeiner Truppen her-
ab. Unter Merwan II ward das gan-
ze Haus geſtuͤrzt: nur Abdurrahman
fluͤchtete, mit dem Koran unter dem Ar-
me, nach Spanien, und trennte dieſes
Reich vom Chalifate.
Aber die Kaiſer waren meiſt elende
Regenten: die Annaliſten vergoͤttern
ſie dankbar und parteiiſch, wie ſie Con-
ſtantin und Theodoſen Groß nennen.
Mamun ſchenkte Choraſan an ſeinen
Feldherrn Taher: dies ward das erſte
Beiſpiel eines zu maͤchtigen Vaſallen,
der ſich mit der Zeit dem Chalifate ganz
entzog.
Tulun machte ſich in Aegypten, wie
die Buiden in Perſien, unabhaͤngig.
Bagdad gieng mit Sturm A. 1258
an den Mogoliſchen Feldherrn Hulaku-
Chan uͤber. Der Armeniſche Koͤnig,
und ein Aſtrolog, der uͤber eine verun-
gluͤckte Dedication zornig war, hatten
den Mogolen hergelockt; ein verraͤthe-
riſcher
[205]VII. Tuͤrken.
riſcher Weſſir erleichterte ihm die Ero-
berung.
Jm 9ten Jahrhunderte, als die Miſ-
ſionen der Franken den Europaͤiſchen Nor-
den oͤffneten, geriethen Mohaͤmmeds Schwaͤr-
mer an den Oxus, wo bereits Alexander ge-
weſen war. Seit der Zeit ward allmaͤlig das
mittlere Aſien vom Kaſpiſchen bis zum Kam-
tſchatkiſchen Meere bekannt. Drei groſſe, un-
ter
[206]Neue Geſchichte.
ter ſich ganz verſchiedene Voͤlker erſchienen,
und fiengen nach der Reihe an, ſich durch
mehr als Roͤmiſche Großthaten in die Jahr-
buͤcher der Welt einzuſchreiben: Tuͤrken
oder Tataren, Mogolen oder Kalmuͤcken,
Mandſchu oder Tunguſen.
Die Tuͤrken, ein edles Volk, urſpruͤng-
lich aus Turkeſtan und den anliegenden Laͤn-
dern, ſtark von Leibe, ſchoͤn von Antliz, und
ſtolz, tren, und tapfer von Gemuͤthsart, ſind
in viererlei Betracht in der Univerſalhiſtorie
wichtig:
Nach dem Einfall der Araber thaten
ſie neue Zuͤge, Suͤdwaͤrts um dieſes Meer
herum, und ſtifteten zum Theil maͤchtige
Staten. Die vornehmſten dieſer Voͤlker
waren 1. die Turkmannen, aus Turke-
ſtan: ſo wol die alten, die im 11ten Saͤc.
nach Syrien zogen, Jeruſalem eroberten,
und ſich in Kappadocien zerſtreuten; theils
die
[207]VII. Tuͤrken.
die neuen ſeit A. 1400, die, nach der
Verſchiedenheit ihrer Fahnen, in die vom
ſchwarzen und weiſen Schoͤps eingetheilt
werden. 2. Die Seldſchuken, gleich-
falls aus Turkeſtan: ſiehe unten. 3. Die
Kurden oder Ajubiten, die Anfangs dem
Atabek von Jrak dieneten, nachher unter
ihrem groſſen Selah-eddin Aegypten den
Fatimiten entriſſen, und Herren von ganz
Syrien wurden. 4. Die Oguſier, vor-
gebliche Stammvaͤter der Osmaner, die zu
Seldſchuks Zeiten nach Choraſan zogen,
dann lange in Armenien und Medien ſaſ-
ſen, bis ſie A. 1219 durch die Mogolen
nach Klein-Aſien vorgejagt wurden.
Die groͤßte Ausbreitung, oder Zer-
ſtreuung vielmehr, der tuͤrkiſchen Voͤl-
ker, geſchah unter den Mogolen. Da
kamen ſie bis in die Krimiſche Tatarei
nach Europa; und in dem ganzen weiten
Sibirien vertheilten ſie ſich bis zu den
Jakuten hinauf.
Hier waren ſie fuͤr die Chalifen, was
Franken, Hunnen, Gothen, Burgun-
der, Heruler, ꝛc. fuͤr die Roͤmiſchen Kai-
ſer: ſie beſetzten den Thron von Bagdad
nach
[208]Neue Geſchichte.
nach Gefallen, ſie machten ſich in einzel-
nen Provinzen unabhaͤngig.
Taher bekam Choraſan A. 820. Sein
Geſchlecht vertrieben die Soffariden, die-
ſe die Samaniden, denen Gasna den
Garaus machte.
Die Buiden, oder das Haus Bujah
aus Dilem, wurden ſeit dem J. 933
Herrn von Bagdad unter dem Titel Emir-
el Omrah; und erreichten ihr Ende A.
1029 durch Gasna, und A. 1055 durch
die Seldſchuken. An ihrem Hofe war
Jbn-Sina Leibarzt und Weßir.
Tulun riß A. 868 Aegypten ab, und
nach ihm Jchſchid.
Von dieſem Reiche machten ſich
ſeit dem 12ten Saͤc. los und unab-
haͤngig: I. die Sultane von Kerman,
Jkonium, Aleppo, und Damaſk, die
urſpruͤnglich appanagirte Seldſchukſche
Prinzen waren. II. die Atabecken,
(d. i. Fuͤrſtenvaͤter), von Erak, Me-
dien, und Fars, die urſpruͤnglich Sel-
dſchukſche Statthalter waren.
Mogolen oder Kalmuͤcken — Wer
denkt ſich bei dieſem Namen die allergroͤſten
Conqueranten, die die alte und neue Geſchich-
te kennt? Faſt in Einem Zeitraum agirten
ſie mit anderthalb Millionen Mann gegen
Rußland, Polen, Schleſien, und Ungern
in Europa, und gegen Tangut, das Chali-
fat, Klein-Aſien, Sina, und Japan in
Aſien.
Vermuthlich waren ſchon die Hunnen
des Attila Mogolen: aber die neuere Mogo-
liſche Geſchichte faͤngt erſt mit dem J. 1200
an. Damals zog dieſes ſchmutzige Volk, das
Kumyſch trinkt, und an den Schaka glaubt,
nomadiſch in den Gefilden der Mungalei
herum. Jeder Stamm hatte ſeinen Chan:
alle ſtanden unter einem Groß-Chane, der
aber den Nudſchen im noͤrdlichen Sina zins-
bar war.
Jeſukaj, einer von dieſen Chanen, der
30000 Familien unter ſich hatte, bekam A.
1163 am Onon einen Sohn, Temudſchin;
ſtarb aber, wie dieſer erſt 13 Jahre alt war.
Waͤhrend deſſen Minderjaͤhrigkeit fielen die
meiſten Horden von ihm ab, und nur 13
blieben bei ihm. Mit Huͤlfe dieſer erwehrte
ſich
[213]VIII. Mogolen.
ſich der junge Chan anderer Horden, die ihn
angriffen: ein Sieg folgte auf den andern,
und mogoliſch feierte Temudſchin ſeine erhal-
tene Siege. Der Ruf des jungen Helden er-
ſcholl vom Aral bis nach Schanſi; die gan-
ze Mungalei theilte ſich in Parteien, und
die maͤchtigſte ward die Partei Temu-
dſchins.
A. 1206 auf einem Kurultaj an den
Quellen des Onons erſchien ein Chodſcha,
und ſprach vor den Ohren aller Chane: “Gott
„hat dem Chane Temudſchin die ganze Welt
„gegeben, und er ſoll Dſchinkis-Chan heiſ-
„ſen.„ Hier faͤngt die erſte Periode der Mo-
goliſchen Monarchie mit Dſchinkis-Chan,
ſo wie die zweite A. 1370 mit Timur, an.
Jn den naͤchſten 40 Jahren folgten:
Oktaj, Kajuk, Manku, und Kob-
laj. Unter Oktaj ward das Noͤrdliche
Sina voͤllig erobert, und Korea geſtuͤrmt.
Seinen Neffen Batu ſchickte er nach Eu-
ropa vor, der A. 1236 und 1240 in Ruß-
land eindrang, und den Großfuͤrſten von
Kiev nach Polen verfolgte, als wohin die-
ſer geflohen war. Da wurde A. 1241
Krakau und Breslau verbrannt, die
Schlacht
[215]VIII. Mogolen.
Schlacht bei Liegnitz gewonnen, und Un-
gern verwuͤſtet. Ganz Europa ſtaunte,
und feierte daruͤber Bustaͤge. Zu glei-
cher Zeit ergieng eine aͤhnliche Zerſtoͤrung
uͤber Klein-Aſien, den Sitz der Aſiatiſchen
Aufklaͤrung: hier flohen die Wiſſenſchaf-
ten vor dem Schwerdte der Mogolen nach
Delhi in Jndien, wie nachher aus Con-
ſtantinopel vor dem Osmaner Mohaͤmmed
II. nach Jtalien. Auch gegen die Song’s
agirten bereits 600000 Mogolen, als
Oktaj mitten im Laufe dieſer Siege A. 1241
den Tod des Macedoniſchen und Hunni-
ſchen Helden ſtarb. Unter Manku fiel das
Chalifat: und unter Koblai ward das gan-
ze Suͤdliche Sina bezwungen; auch eine
Flotte gegen Japan ausgeſchickt, die a-
ber ſcheiterte.
Koblai zog nach Sina. Die Entfer-
nung machte, daß ſich in der Folge das un-
geheure Reich zertruͤmmerte, und in ſieben
Hauptſtaten zerfiel:
Seine Abſicht war, die Mogoliſche
Monarchie wieder in ihrem alten Glanze
herzuſtellen. Ganz Dſchagataj gehorchte
ihm bereits: nun eroberte er Jsfahan,
und drang in Jndien ein. A. 1389 zog
er nach Kaptſchak, und kam bis Jelez in
Rußland. Er ruckte in das Weſtliche
Aſien vor, und kam den Staten der Os-
maner nahe: der Kaiſer von Byzant bat
ihn um Schutz, der Koͤnig von Caſtilien
ſchickte ihm einen Geſandten zu. A. 1401
ſchlug er den Bajeſſid, und ließ ihn nicht
in einen Kefich ſperren. Nach dieſem Sie-
ge unterwarfen ſich ihm die Mamlucken,
und der Griechiſche Kaiſer gab ihm Tri-
but. Nun gieng er nach der Bucharei zu-
ruͤck,
[220]Neue Geſchichte.
ruͤck, und beſchloß einen Zug gegen Sina,
wo die Ming’s die Mogolen vertrieben
hatten. Schon waren 200000 Mann
auf dem Marſche: allein Timur ſtarb un-
terwegens A. 1404, 71 J. alt.
Mit ihm ſtarb ſein Reich: der Zug
nach Sina unterblieb, und bei den Thron-
ſtreitigkeiten ſeiner Enkel ermannten ſich
die unterdruͤckten Dſchinkiſer wieder, und
lieſen den Timuriden nichts als Choraſan
und Transoxiana uͤbrig. Doch auch hier
ward A. 1498 Babur von Turan aus
verdrungen: er floh nach Gasna, und er-
oberte zuletzt in der Verzweiflung Jndien,
wo ſeine Nachkommen noch bis auf den
heutigen Tag unter dem Namen der
Großen Mogols herrſchen.
Von dieſem gelehrten Volke, das eine
2000jaͤhrige, und ſeit den Mogolen in die
uͤbrige Welthiſtorie ſehr verflochtene Geſchich-
te hat, ſiehe Hrn. Hofr. Gatterers Hand-
buch der Univerſalhiſtorie, Th. II. S. 1-345.
Seit 1644 herrſchen Mandſchu uͤber
dieſes ganze gewaltige Reich, das allermaͤch-
tigſte auf dem Erdboden in alten und neuen
Zeiten. Die drei letzten Kaiſer ſind: