HERRN
WILHELM EDUARD ALBRECHT
ALS ZEICHEN
INNIGER VEREHRUNG UND FREUNDSCHAFT
ZUGEEIGNET.
Die Literatur des deutschen Staatsrechts hat eine
Reihe von Werken aufzuzeigen, welchen nach verschie-
denen Richtungen volle Anerkennung gebührt. Wenn
ich gleichwohl der Ansicht bin, dass die wissenschaft-
liche Dogmatik dieser Lehre noch einer weiteren Aus-
bildung fähig und bedürftig sei, so glaube ich mit dieser
Ansicht keineswegs vereinzelt zu sein. Ich denke mir,
dass eine Förderung besonders nach folgenden Gesichts-
punkten möglich ist. Zunächst besteht unläugbar das
Bedürfniss einer schärferen und correcteren Präcisirung
der dogmatischen Grundbegriffe. Ein Theil unserer
Schriftsteller scheint die Aufgabe der rechtlichen Be-
stimmung der durch unsere modernen Verfassungen ge-
gebenen Begriffe nicht sowohl als eine juristische, denn
als eine staatsphilosophische oder politische anzusehen;
Andere lassen sich — in der entgegengesetzten Richtung
— zu sehr von den Grundsätzen des älteren deutschen
[VIII]Vorrede.
Staatsrechts beherrschen, gleich als ob das Recht unserer
neuen Verfassungsgesetze die letzte Frucht des alten
Reichsterritorialrechts wäre. Sodann aber scheint mir,
was freilich mit jenem ersten Punkte aufs Innigste zu-
sammenhängt, ein dringendes Bedürfniss die Aufstellung
eines wissenschaftlichen Systems zu sein, in welchem
sich die einzelnen Gestaltungen als die Entwickelung
eines einheitlichen Grundgedankens darstellen. Erst
durch Begründung eines solchen Systems, welches das
eigenthümliche Wesen unseres modernen Verfassungs-
staats zum anschaulichen Gesammtausdrucke brächte
und die rechtlichen Verbindungen aller einzelnen Er-
scheinungen klar stellte, würde nach meinem Dafür-
halten das deutsche Staatsrecht seine wissenschaftliche
Selbständigkeit erlangen und die Grundlage sicherer
juristischer Deduction gegeben sein.
Schon seit Jahren war ich lebhaft von diesem Ge-
danken ergriffen, und der Plan, meine Vorstellungen
über ein solches System in einer umfassenden Erörte-
rung darzulegen, hat mich im letzten Jahrzehnt vielfach
beschäftigt. Als ich von Neuem an seiner Ausführung ar-
beitete, trat mir aber die Idee entgegen, dass es nützlich
und zweckmässig sei, jene Arbeit auch sogleich praktisch
zu erproben und diese Probe voranzuschicken. So ist
dieses kleine Buch entstanden, das nicht den Anspruch
stellt, als eine ausgeführte Darstellung des gesammten
deutschen Staatsrechts zu gelten, sondern nur als eine
Revision seiner Grundbegriffe in der knappen Fassung
[IX]Vorrede.
von Grundlinien eines dogmatischen Systems. Ueberall
da, wo dieser Zweck fehlte, namentlich also bezüglich
der Erzählung geschichtlicher Thatsachen, der Be-
schreibung factischer Verhältnisse, sowie der statistischen
Nachweisungen, war lediglich eine kurze Skizzirung mit
Verweisungen auf bekannte Werke beabsichtigt. Die
Darstellung des Bundesrechts lag ausserhalb meines
Plans.
Die Eigenthümlichkeiten meines Systems werden
dem Kenner beim ersten Blicke entgegentreten. Möch-
ten sie auch als gerechtfertigt erscheinen! Nur das
Eine drängt es mich schon hier hervorzuheben, dass ich
den Umfang des eigentlichen Staatsrechts enger be-
gränze, als gewöhnlich geschieht. Ich scheide den
grössten Theil des Stoffs, den man unter dem Namen
„Verwaltungsrecht“ zu begreifen pflegt, aus, indem er
nach meiner Ueberzeugung mit dem Staatsrechte in
keinem engeren Zusammenhange steht, als das Straf-
und Processrecht. Seine Verbindung und Vermischung
mit dem Staatsrechte kann nur zu einer Trübung des
dem letzteren eigenthümlichen wissenschaftlichen Prin-
cips führen.
Wer sich nur dann zum Schreiben aufgefordert
fühlt, wenn er hoffen kann, etwas auf eigenem Denken
Beruhendes zu geben, der wird sich, wenn er sich end-
lich zur Mittheilung entschlossen hat, begreiflich in
einer weit unsichereren Stimmung als Derjenige be-
finden, der nur zurückgiebt, was er aus der allge-
[X]Vorrede.
meinen literärischen oder politischen Atmosphäre seiner
Zeit in sich aufgenommen hat. Am wenigsten wird
der Verfasser bei der vorliegenden Aufgabe der Ver-
sicherung bedürfen, dass er über die Erreichung seiner
Ziele ungewiss ist.
Leipzig, den 30. März 1865.
Im Staate erhält ein Volk die rechtliche Ordnung
seines Gemeinlebens. In ihm kommt es als sittlich ge-
eintes Ganze zur Anerkennung und rechtlichen Geltung.
In ihm sucht und findet es die wesentlichsten Mittel zum
Schutz und zur Förderung seiner Gesammtinteressen.
In ihm erhält es eine Gliederung, welche die Verwerthung
aller seiner sittlichen Kräfte für das Gemeinwohl er-
möglicht. Er ist die Rechtsform für das Gesammtleben
eines Volks, und diese gehört zu den ursprünglichen und
ewigen Typen der sittlichen Ordnung der Menschheit.
Die natürliche Betrachtung des im Staate geein-
ten Volks erzeugt den Eindruck eines Organismus, d. h.
einer Gliederung, welche jedem Theile seine eigenthüm-
liche Stellung zur Mitwirkung für den Gesammtzweck
anweist. Die juristische Betrachtung des Staats aber
ergreift zunächst die Thatsache, dass das Volk in ihm
zum rechtlichen Gesammtbewusstsein und zur Willens-
fähigkeit erhoben wird, m. a. W. dass das Volk in ihm
zur rechtlichen Persönlichkeit gelangt. Der Staat als Be-
v. Gerber, Staatsrecht. 1
[2]Einleitung.
wahrer und Offenbarer aller auf die sittliche Vollendung
des Gemeinlebens gerichteten Volkskräfte ist die höchste
rechtliche Persönlichkeit, welche die Rechtsordnung
kennt; ihre Willensfähigkeit hat die reichste Ausstat-
tung erfahren, welche das Recht zu geben vermag.1
[3]§. 2. Das Staatsrecht.
Die Willensmacht des Staats ist die Macht zu herr-
schen;2 sie heisst Staatsgewalt.
Das Staatsrecht als wissenschaftliche Lehre hat
zum Gegenstande die Entwickelung des dem Staate
als solchem zustehenden Rechts.1 Die Willens-
macht des Staats, die Staatsgewalt, ist das Recht des
Staats. Das Staatsrecht ist also die Lehre von der
Staatsgewalt, und beantwortet die Fragen: was kann
der Staat als solcher wollen? (Inhalt und Umfang der
Staatsgewalt), durch welche Organe und in welchen
Formen kann und soll sich sein Wille äussern? In der
Persönlichkeit des Staats liegt der Ausgangs- und
Mittelpunkt des Staatsrechts; mit der Anknüpfung an
1*
[4]Einleitung.
sie ist zugleich die Möglichkeit und Richtung eines wis-
senschaftlichen, d. h. durch einen einheitlichen Gedanken
beherrschten Systems gegeben.
Ist hiernach das Staatsrecht die Lehre von der recht-
lichen Bestimmung des staatlichen Lebensorganismus,
so gehört dahin auch nur die Entwickelung derjenigen
Rechtssätze und Rechtsinstitute, welche sich unmittelbar
auf die Lebens- und Willenskraft des Staats beziehen.2
Der Umstand allein, dass eine rechtliche Ordnung von
der Staatsgewalt ausgegangen und von ihr im öffent-
lichen Interesse geschaffen worden ist, kann demnach
noch kein Grund dafür sein, dass ihr Inhalt in das Bereich
des Staatsrechts gezogen werde. Das Strafgesetzbuch,
die verschiedenen Processordnungen, ferner die mannich-
fachen Ordnungen und Einrichtungen, welche man unter
dem Namen des Verwaltungsrechts zusammen zu fassen
pflegt, sind zwar Producte der wirkenden Staatsgewalt,
[5]§. 3. Das Staatsrecht.
aber ihre wissenschaftliche Darstellung hat den Einheits-
punkt nicht in letzterer, sondern in der eigenen Zweck-
bestimmung derselben zu suchen. Hierin kann auch
dadurch Nichts geändert werden, dass in solchen Ord-
nungen der Staatsgewalt selbst ein Gebiet unmittelbaren
Handelns und Eingreifens vorbehalten ist; denn die
Grundsätze darüber erscheinen als völlig abgelöst von
der allgemeinen Lehre über die Willensmacht des Staats,
und werden durch die Anziehungskraft des wissenschaft-
lichen Princips beherrscht, welches die von jenen Ord-
nungen ergriffenen Lebenskreise darbieten.3
Der so bestimmte Rechtsstoff des Staatsrechts stellt
sich nun zunächst als eine Summe von Rechtssätzen und
[6]Einleitung.
Rechtsinstituten dar. Die Staatsgewalt kann aber nicht
bloss mit abstracten Sätzen des Rechts im objectiven
Sinne des Worts umschrieben werden; denn sie bedarf
in ihrer concreten Gestaltung eine je nach der Art der
Verfassung bald grössere bald kleinere Zahl persönlicher
Vertreter, in deren Rechte sich ihre Lebensäusserung
vollzieht.1 Unter diesen treten als die bedeutendsten die-
jenigen hervor, welchen als eigenes Recht die Befugniss
zusteht, ein unmittelbares Organ der Staatsgewalt in mehr
oder weniger umfassender Weise zu sein, oder an der
Bildung eines solchen Theil zu nehmen. Wenn solche
staatliche Individualrechte als constitutionelle Rechtsver-
hältnisse in das Verfassungsrecht eines Staats aufge-
nommen sind, wie diess namentlich in den Monarchieen
Deutschlands der Fall ist, so gesellt sich zu dem objec-
tiven Rechtsstoffe des Staatsrechts ein weiterer in einer
Anzahl von Rechten im subjectiven Sinne hinzu. Die
Staatsgewalt selbst wird durch das Vorhandensein dieser
[7]§. 4. Das Staatsrecht.
staatlichen Individualrechte in ihrem Wesen als Wille des
persönlich gedachten Staats nicht verändert, sondern es
handelt sich nur um eine eigenthümliche Art ihrer con-
creten Verwirklichung.2 Daher ist die Ausübung solcher
Rechte nicht der individuellen Willkühr preis gegeben,
sondern steht unter der höheren Fügung des organischen
Zusammenhangs, in welchem und für welchen sie zur
Lösung einer bestimmten Aufgabe berufen sind.3
Das Staatsrecht, wie es so eben begränzt worden
ist, unterscheidet sich von allen anderen Rechtsordnungen,
welche im Staate bestehen und unter seinem Schutze
gehandhabt werden, durch eine wesentliche Character-
eigenthümlichkeit. Allen sonstigen Rechtsordnungen
gegenüber erscheint es als eine Ordnung höherer Art.
In soweit sonst der Staat bei der Begründung und
Handhabung rechtlicher Einrichtungen betheiligt ist, tritt
er nur in seinen regelmässigen und feststehenden Func-
tionen in Wirksamkeit; das Recht aber, welches die
Regel dieser Functionen selbst, welches den Grundbau
des staatlichen Organismus als willensfähiger Macht fest-
stellt, ist überall die höhere Voraussetzung.1 Alles andere
Recht mag dem veränderlichen Bedürfnisse des Volks-
lebens preis gegeben, aber das Recht, nach welchem
[8]Einleitung.
überhaupt der sittliche Volksgeist zur rechtlichen Ge-
sammtäusserung gelangen kann, das Staatsrecht, muss
fest gefügt und dem wechselnden Einflusse des Tages
entzogen sein. Es ist nur ein eigenthümlicher Aus-
druck dieser Wahrheit, wenn die gesetzlichen Feststel-
lungen des Staatsrechts den Namen „Grundgesetz,“2
führen, wenn sich bei seiner Errichtung auch die bisher
absolute monarchische Gewalt gedrängt fühlt, das Volk
in seinen Vertretern zur Mitwirkung herbei zu ziehen,3
wenn ihm eine besondere Weihe beigelegt, seiner Ver-
änderung gewisse Hemmnisse entgegengestellt4 und sei-
ner Integrität besondere Garantieen5 verliehen werden.
Das Staatsrecht kann seiner Natur nach nur das
Recht eines bestimmten Staats sein, da es eine concrete,
[9]§. 5. Deutsches Staatsrecht.
geschichtlich realisirte staatliche Willensmacht voraus-
setzt. Sonach könnte für Deutschland nur von einem
Staatsrechte jedes einzelnen der souverainen Staaten die
Rede sein, welche innerhalb der deutschen Volksverbin-
dung neben einander bestehen. Und in der That kann
nur von der Darstellung eines solchen Einzelstaatsrechts
eine bis in das Specielle gehende Ausführung und volle
Bestimmtheit erwartet werden.
Da sich indessen die deutschen Staaten aus der frü-
heren Reichseinheit des deutschen Volks unter dem Ein-
flusse gleichartiger politischer Ereignisse heraus entwickelt
haben, auch bei ihrer Bildung der seiner Einheit sich
immer bewusste deutsche Volksgeist einen unverkenn-
baren Antheil gehabt hat und noch fortwährend hat, so
ist es gekommen, dass die Grundprincipien der einzelnen
deutschen Verfassungen in einer keineswegs zufälligen
Uebereinstimmung stehen. In diesem geschichtlichen
und geistigen Zusammenhange liegen die elementaren
Züge der Individualität des deutschen Staatswesens,
wie sie sich im particulären Staatsrechte auch jetzt
noch kund geben, obschon die Mehrzahl der deutschen
Staaten mit völligem Abbruch älterer Zustände in die-
sem Jahrhundert eine gänzliche Neubildung im Sinne
des organischen Volksstaats vollzogen hat.1 Die deut-
[10]Einleitung.
sche Wissenschaft betrachtet diese Grundzüge noch
gegenwärtig, weil sie ein Product der sittlichen Kraft
des deutschen Volks sind, als einen der selbständigen
wissenschaftlichen Auffassung würdigen Gegenstand. In
ihrer Darstellung kann sie zwar grösstentheils nicht das
Ziel verfolgen, imperative Sätze von unmittelbar ver-
bindlicher Kraft zu gewinnen, aber sie kann den histo-
risch-sittlichen Gehalt der einzelnen, in jedem Particu-
larstaatsrechte wiederkehrenden Rechtssätze und Rechts-
institute in einer Weise herausstellen, in der diess eine
nur dem Letzteren gewidmete Betrachtung nicht zu
leisten vermöchte.2 Vom Standpunkte des praktischen
1
[11]§. 5. Deutsches Staatsrecht.
Nutzens aus angesehen erscheint mithin die Wissen-
schaft des deutschen Staatsrechts als eine Einleitung zu
allen einzelnen deutschen Staatsrechten, in welcher die
substantiellen Ideen für letztere in rechtswissenschaft-
licher Entwickelung niedergelegt sind.
Das deutsche Bundesrecht hat einen Bestand-
theil, welcher ganz und gar zum Inhalte des deutschen
Staatsrechts gehört. Ein anderer Theil desselben bildet
einen davon völlig unabhängigen selbständigen Rechts-
stoff.
Literatur des heutigen deutschen Staatsrechts.
Die vollständigste Uebersicht ist enthalten in dem Werke
von R. v. Mohl, die Geschichte und Literatur der Staats-
wissenschaften, 2. Band (1856) S. 286 flg. Als die be-
deutendsten der das gegenwärtige deutsche Staatsrecht be-
treffenden Werke sind zu nennen: Klüber, öffentliches
Recht des deutschen Bundes und der Bundesstaaten, 4.
Aufl. 1840. Maurenbrecher, Grundsätze des heutigen
deutschen Staatsrechts, 2. Aufl. 1843. Weiss, System
des deutschen Staatsrechts 1843. Zöpfl, Grundsätze des
2
[12]Einleitung.
allgemeinen und deutschen Staatsrechts, 4. Aufl. 2 Bände
1855 (5. Aufl. 1863). Zachariä, deutsches Staats- und
Bundesrecht, 2. Aufl. 2 Bände 1853 und 1854. Held,
System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten
Deutschlands, 2 Bände 1856 und 1857. Grotefend,
System des deutschen Staatsrechts I., 1863. Als beste
Quellensammlung ist zu bezeichnen die von Zachariä,
die deutschen Verfassungsgesetze der Gegenwart, 1855
(mit 2 Fortsetzungen). Sodann für die Bundesgesetze:
v. Meyer u. Zöpfl, vollständige Sammlung der Grund-
gesetze des Bundes u. der normativen Beschlüsse der hohen
deutschen Bundesversammlung, 2 Bde. 1859. Noch sind
als einleitende Schriften hervorzuheben: Mejer, Einleitung
in das deutsche Staatsrecht 1861 und v. Kaltenborn,
Einleitung in das constitutionelle Verfassungsrecht 1863.
Die Bedeutung des Staatsrechts als fundamentaler
Rechtsordnung lässt es als natürlich und wünschenswerth
erscheinen, dass wenigstens seine Hauptsätze die Form
des geschriebenen Rechts erhalten, damit sie der Sicher-
heit, Festigkeit und allgemeinen Erkennbarkeit theilhaf-
tig werden, welche dem Gesetzesrechte vorzugsweise
eigen ist. So haben denn auch wirklich fast alle deut-
schen Staaten, in denen sich die Umwandlung des älte-
ren deutschen Staatsrechts in das Recht des organischen
Volksstaats vollzogen hat, in ihren Grundgesetzen
oder Verfassungsurkunden eine mehr oder weniger
umfassende Gesammtcodification des öffentlichen Rechts
[13]§. 6. Entstehung staatsrechtlicher Rechtssätze etc.
erhalten.1 In ihrer Ertheilung, Abänderung,2 Ergän-
zung3 hat sich die Staatsgewalt selbst zum Gegenstande.
Aber auch in der Form gewohnheitsrechtlicher Bil-
dung können staatsrechtliche Sätze entstehen.4 Diese
[14]Einleitung.
Möglichkeit wird durch das Vorhandensein einer Ver-
fassungsurkunde nicht ausgeschlossen; sie kann durch
Gewohnheitsrecht ergänzt, selbst abgeändert werden,5
insoweit es sich nicht um jene höchsten Principien han-
delt, welche dem Einflusse der fortschreitenden Rechts-
bildung im Staate überhaupt entrückt sein sollen.6 Die
Uebung staatsrechtlicher Sätze, in der sich die entschei-
dende Rechtsüberzeugung ausprägt, kann in einem wei-
teren und engeren Kreise hervortreten; sie wird vorzugs-
weise in Handlungen desjenigen Personenkreises bestehen,
4
[15]§. 6. Entstehung staatsrechtlicher Rechtssätze etc.
der in der Sphäre des fraglichen Rechtssatzes ausschliess-
lich oder hauptsächlich zur Thätigkeit berufen ist.7 Im-
[16]Einleitung.
mer aber wird dem staatsrechtlichen Gewohnheitsrechte da
nur ein geringer Raum übrig bleiben, wo einestheils sich
die gesetzgebende Gewalt in reicher und geregelter Pro-
ductivität äussert, anderntheils die Ueberzeugung obwal-
tet, dass eine ängstliche, stets beobachtete Aufrechter-
haltung auch des Buchstabens der Verfassung zu den
wichtigsten Interessen des Volks gehöre.
Die subjectiven öffentlichen Rechte, welche zu den
organischen Bestandtheilen eines concreten Staats gehören,
können althergebrachte Befugnisse sein, welche das neue
Verfassungsrecht in sich aufnimmt, wiederholt anerkennt
und regelt;8 sie können auch durch die Verfassungsur-
kunde oder durch ein anderes Gesetz erstmals begründet
werden, und zwar entweder so, dass sie der individuell
berechtigten Person unmittelbar verliehen werden,9 oder
so, dass nur die rechtliche Ordnung festgesetzt wird,
nach der sie für den Einzelnen entstehen sollen oder dür-
fen.10 Noch andere werden durch specielle Verleihung
Seitens der Staatsgewalt (Privilegium) begründet.11
[17]§. 6. Entstehung staatsrechtlicher Rechtssätze etc.
Die Annahme einer Entstehung öffentlicher Rechte
durch Ersitzung würde dem Wesen des heutigen Staats-
rechts widersprechen; 12 denn die Zulässigkeit, die Zahl
und der Inhalt öffentlicher Rechte steht im organischen
Staate unter der Fügung absoluter Normen, welche
diese Form der Localisirung staatlicher Kräfte gemäss
dem Zusammenhange des gesammten Staatsinteresses
reguliren. Sonach kann weder die Zahl noch die Ge-
staltung des Inhalts dieser Rechte einer Erwerbsfreiheit
preis gegeben sein, welche jede Regel willkührlich durch-
brechen würde, da sie ihren Grund13 in dem völlig un-
11
v. Gerber, Staatsrecht. 2
[18]Einleitung.
berechenbaren Momente des thatsächlichen Innehabens
fände.
Die Staatsgewalt ist die Willensmacht eines persön-
lich gedachten sittlichen Organismus. Sie ist nicht eine
2*
[20]Erster Abschnitt.
künstliche und mechanische Zusammenfassung vieler
Einzelwillen, sondern die sittliche Gesammtkraft des
selbstbewussten Volks. Ihre Existenz und Natur beruht
1
[21]§. 7. Allgem. Character der Staatsgewalt.
nicht auf einer willkührlichen Bestimmung und überleg-
ten Schöpfung, sondern sie ist eine Naturkraft, welche
im Staate, als der wichtigsten Socialform der Mensch-
heit, ursprünglich enthalten ist.2 Die rechtliche Aeus-
serung der Staatsgewalt ist das Herrschen. Diess be-
deutet eine für die Aufgaben der staatlichen Verbindung
wirksame Willensmacht, welcher das ganze Volk in allen
seinen Gliedern unterworfen ist.3 Ihr Erfolg, auch dem
innerlich Widerstrebenden gegenüber, beruht darauf,
1
[22]Erster Abschnitt.
dass sie die höchste Macht im Volke und dass allge-
mein die Ueberzeugung von ihrer Unwiderstehlichkeit
begründet ist.4 Soll sie aber ganz ihrer Idee entspre-
chen, d. h. den sittlichen Gesammtwillen eines Volks in
voller Wahrheit darstellen, so muss sie so geartet sein,
dass sie die Motive ihres Handelns nicht von einer aus-
ser ihr stehenden höheren Macht empfängt, sondern le-
diglich in sich findet, sie muss m. a. W. souverain
sein.5 Auf ihrer Bedeutung als seelischer Kraft der
Staatspersönlichkeit eines Volks beruht ihre Eigenschaft
der Untheilbarkeit.6
Die Staatsgewalt in den deutschen Staaten ist sou-
verain. Als solche ist sie nach Auflösung des deutschen
Reichsverbands bei der Stiftung des Rheinbundes und
nach dessen Auflösung bei der Stiftung des deutschen
Bundes anerkannt worden.1 Auch sind alle damit un-
vereinbaren, aus der Reichszeit stammenden staatsrecht-
lichen Abhängigkeitsverhältnisse theils durch den Art. 34.
der Rheinbundsacte, theils später beseitigt worden.2
Die deutschen Staaten stehen jedoch nicht isolirt
neben einander. Sie sind die einzelnen politischen Or-
ganismen in einem Volke, das in einem nahezu tausend-
jährigen Reichsverbande geeinigt war und auf die Fort-
dauer seiner Einigung ein unverbrüchliches Recht hat.
Diesem höheren Rechte hat sich die Selbständigkeit
der einzelnen deutschen Staaten unterzuordnen. Seinen
[24]Erster Abschnitt.
gegenwärtigen Ausdruck findet es in dem Bestehen des
Deutschen Bundes. Dieser ist aber nicht selbst eine
Staatsgewalt, welche kraft eigener Hoheit regiert und
den Einzelstaaten das Recht der staatlichen Selbstbe-
stimmung nur jenseits des Umfangs des eigenen Macht-
kreises offen lässt, sondern ein zwar immerwährender,
aber doch nur völkerrechtlicher Verband, dessen Einfluss
auf die Bundesglieder, soweit er nicht durch die Grund-
gesetze des Deutschen Bundes schon ein für allemal be-
stimmt ist, jederzeit die freie Vereinbarung derselben
voraussetzt; er tritt mithin nicht als Act einer unmittel-
bar wirkenden regierenden Gewalt, sondern nur als die
Folge einer vertragsmässigen Verpflichtung der im Bunde
begriffenen Regierungen hervor.3 Der Deutsche Bund
ist m. a. W. kein Bundesstaat, sondern ein Staatenbund,
in welchem der rechtliche Begriff der Souverainetät der
einzelnen Bundesstaaten gewahrt bleibt.4 Indessen ent-
[25]§. 9. Arten der Wirksamkeit der Staatsgewalt.
halten die Grundgesetze des Deutschen Bundes neben
den auf diess Vertragsverhältniss und die Bildung der
ihm entsprechenden Vertragsorgane bezüglichen Fest-
setzungen zugleich eine Reihe von Bestimmungen, wel-
che das innere Staatsrecht der Bundesstaaten betreffen,5
und somit einen unter höhere Garantieen gestellten Be-
standtheil dieses letzteren selbst ausmachen.
Die Staatsgewalt herrscht, indem sie eine den ver-
schiedenen Ansprüchen ihrer Bestimmung entsprechende
Thätigkeit äussert. Alle einzelnen Arten dieser Thätig-
keit umfasst man in dem Gesammtworte „Regierung.“
Gegenüber den mannichfachen Aufgaben des Staats-
lebens kann sie aber nicht immer die gleiche sein. Das
Volksleben bietet zunächst Interessen dar, deren Regu-
1
4
[26]Erster Abschnitt.
lirung ausschliesslich oder doch zweckmässig nur durch
abstracte Ordnungen, durch feste und dauernde allge-
meine Normen geschehen kann;2 indem nun die Staats-
gewalt diese Art der Regulirung unternimmt, wirkt sie
gesetzgebend, und man nennt sie in dieser besonderen
1
[27]§. 9. Arten der Wirksamkeit der Staatsgewalt.
Form ihrer Wirksamkeit die gesetzgebende Gewalt. Da-
neben giebt es eine unübersehbare Menge von Interes-
sen, welche ihre Befriedigung von der Staatsgewalt nicht
durch abstracte Normirung, sondern durch Anordnungen,
Entscheidungen, Befehle der verschiedensten Art, also
durch Handlungen erwarten, deren Zweck in ihrer
Wirksamkeit für ein concretets Verhältniss erschöpft ist.
Der grösste Theil solcher Handlungen der Staatsgewalt
stellt sich dar als die Anwendung einzelner Gesetze auf
den einzelnen Fall; manche derselben bewegen sich
auch in der Sphäre freier, durch die Gesetzgebung
oder sonstiges Recht nicht im Voraus bestimmter Ent-
schliessungen. Von jeher ist es nun als eine Aufgabe
der Staatswissenschaft betrachtet worden, auch diese
verschiedenen Arten der Staatsthätigkeit, deren Gemein-
sames zunächst nur in dem Gegensatze zur gesetz-
geberischen Function der Staatsgewalt besteht, zu classi-
ficiren. Die grosse Verschiedenheit der hierüber auf-
gestellten Ansichten erklärt sich zum Theil daraus, dass
es mehrfache Interessen giebt, welche das Bedürfniss
einer solchen Eintheilung hervorrufen, und dass, je
nach der Besonderheit des Zwecks und Gesichtspunkts,
eine Verschiedenheit der Gruppirung möglich und be-
rechtigt ist.
Für das rein juristische Interesse nun genügt
es, die nicht gesetzgeberische Thätigkeit der Staats-
gewalt in zwei Classen zu scheiden, nämlich in die
richterliche und die verwaltende Thätigkeit. Denn
die Thätigkeit des Richtens, d. h. der Feststellung dessen,
was im einzelnen Falle Recht ist, schliesst sich sowohl
[28]Erster Abschnitt.
wegen der eigenthümlichen Grundsätze,3 nach denen sie
erfolgt, als auch wegen der besonderen, die Organisation
und Rechtsstellung der richtenden Behörden betreffenden
Rechtssätze gegenüber der verwaltenden Thätigkeit der
Staatsgewalt auf das Bestimmteste ab. Von einer be-
sonderen oberaufsehenden und vollziehenden Ge-
walt in dem Sinne zu reden, dass damit Thätigkeits-
formen bezeichnet würden, welche an selbständiger Be-
deutung den eben hervorgehobenen zwei Grundformen
gleich kämen, ist wenigstens vom Standpunkte der recht-
lichen Betrachtung aus nicht gerechtfertigt, indem die
Ueberwachung aller Interessen des Staatslebens4 ebenso
wie die Vollziehung des in Gesetzen oder sonst ausge-
sprochenen Staatswillens, als eine alle Handlungen der
Staatsgewalt begleitende mithin für sich nicht selbstän-
[29]§. 10. Gränzen der Staatsgewalt.
dige Function,5 dem allgemeinen Rechtsprincipe der
Verwaltung untergeordnet ist.
Die Staatsgewalt ist keine absolute Willensmacht.
Sie soll nur dem Zwecke des Staats dienen, nur für ihn
bestehen. In ihm sind mithin die natürlichen Gränzen
des Gebiets ihrer Wirksamkeit enthalten.1 Eine theo-
retische Bestimmung des Staatszwecks2 kann sich aber
immer nur in sehr allgemeinen Vorstellungen bewegen,
und nur sehr unbestimmt die Gränze andeuten, bei der
sich das Gebiet des auf die Vollendung des sittlichen
[30]Erster Abschnitt.
Gemeinlebens gerichteten Staatswillens von dem Ge-
biete der individuellen Freiheit scheidet. Auch ist nicht
zu verkennen, dass verschiedene Völker ein verschie-
denes Mass der Ansprüche an die Leistungen der
Staatsgewalt haben, je nachdem ihre sittliche Anlage
mehr oder weniger dazu drängt und befähigt, gewisse
Interessen des Volkslebens ohne Mitwirkung des Staats
in freier Selbstbestimmung zu befriedigen.3 Indessen
bedarf es in einem lebensvollen Staate auch nur selten
des Rückgriffs auf die allgemeine theoretische Ansicht
vom Staatszwecke, um die Gränzen der Staatsgewalt
im einzelnen Falle zu bestimmen, da die Vorstellung
eines Volks darüber bereits in der Gesetzgebung selbst
ihren praktischen Ausdruck gefunden hat und fort und
fort findet. Ein grosser Theil der Staatsgesetze, welches
auch immer im Uebrigen ihr Gegenstand sein möge,
lässt sich von dem Gesichtspunkte aus betrachten, dass
darin zugleich das Mass der Einwirkung der Staats-
gewalt rechtlich festgestellt wird.4
Es giebt nun aber eine Reihe von Interessen des
Volkslebens, denen gegenüber die Abgränzung der Staats-
gewalt von ganz besonderer Wichtigkeit ist. Es handelt
sich dabei um Lebensäusserungen und Zustände, bei
denen ein bevormundendes und zwingendes Eingreifen
der Staatsgewalt als eine Verletzung der sittlichen
Würde des Volks, oder überhaupt als ein Hemmniss
seiner freien Entwickelung empfunden wird. Zugleich
handelt es sich um Interessen, welche früher in ausser-
ordentlicher Weise unter dem Drucke staatlicher Be-
schränkungen zu leiden hatten, so dass die Befreiung
hiervon als ein hoch geachtetes Ergebniss der neueren
Staatsentwickelung geschätzt wird. Daher kommt es,
dass jetzt in vielen Staaten die Rechtssätze, welche
diese das Volksleben befreienden Beschränkungen der
Staatsgewalt feststellen, als Bestandtheile des Grund-
gesetzes selbst aufgefasst und den fundamentalen Ord-
nungen des Staatsrechts einverleibt werden.1 Man
4
[32]Erster Abschnitt.
pflegt diese Sätze wohl als „Volksrechte“ zu bezeichnen,
um damit anzudeuten, dass jedes Mitglied des Volks
an der Wohlthat der nun erweiterten und gewähr-
leisteten Freiheit der Bewegung Theil nimmt; aber
keinenfalls darf dieser Ausdruck zu der Annahme ver-
leiten, dass es sich dabei um Rechte im subjectiven
Sinne handele, da sie vielmehr durchweg als Rechts-
sätze, d. h. Sätze des objectiven Rechts erscheinen.2
Es sind in der Hauptsache folgende:
1. Der Staat soll nicht die religiöse Ueberzeugung
seiner Volksglieder beherrschen (Gewissensfreiheit). Er
kann daher ein bestimmtes religiöses Bekenntniss und
seine Uebung weder gebieten noch verbieten, und auch
nicht indirect auf die Wahl desselben durch Vorent-
1
[33]§. 11. Gränzen der Staatsgewalt.
haltung der allgemeinen bürgerlichen Rechte einwirken.
Dagegen liegt in diesem Satze nicht auch der, dass die
Berufung auf ein bestimmtes Bekenntniss von der Pflicht
zur Beobachtung einer gesetzlichen Ordnung befreien
müsse, oder dass der Staat in Gesetzgebung und Ver-
waltung seinen Character als Gemeinwesen eines christ-
lichen Volks zu verläugnen habe.3
2. Der Staat soll nicht die wissenschaftlichen
Ueberzeugungen seiner Volksglieder beherrschen wollen.
Darin liegt aber nicht auch der Satz, dass die Berufung auf
eine wissenschaftliche Ueberzeugung von der Pflicht zur
Beobachtung einer gesetzlichen Ordnung befreien müsse.
3. Der Staat kann die freie Meinungsäusserung
durch die Presse nicht von seiner vorhergehenden
Genehmigung, Censur, abhängig machen (Pressfreiheit).
Darin liegt jedoch nicht, dass er nicht befugt wäre,
unbeschadet dieses Satzes einzelne Zweige der Presse,
insbesondere die s. g. Tagespresse, besonderen Ordnun-
gen zu unterwerfen.4 Ebenso verwehrt er Niemandem,
eine auf öffentliche Angelegenheiten bezügliche Bitte
v. Gerber, Staatsrecht. 3
[34]Erster Abschnitt.
beim Monarchen, den Ständen oder einer Behörde vor-
zutragen (Petitionsrecht). Wenn dabei vorgeschrieben
wird, dass die Bitte in passender Form, nicht durch
ungeordnete Massen, bei den Ständen nicht persönlich
überreicht werden solle, dass sich das Heer nicht zum
Zwecke der Petition versammeln dürfe, dass Bitten von
Corporationsvorständen nur dann als Corporationsange-
legenheiten gelten, wenn sie sich auf die im Lebenskreise
der Corporation befindlichen Gegenstände beziehen, so
sind diess keine das s. g. Petitionsrecht beschränkenden
Bestimmungen, sondern Rechtssätze, welche anderswo
ihren Anknüpfungspunkt haben.
4. Der Staat kann nicht das Mass oder die Art
der Ausbildung seiner einzelnen Volksglieder, oder
die Berufswahl derselben bestimmen wollen.
5. Der Staat muss die richterliche Thätigkeit
völlig unabhängig stellen; auch kann er die Handhabung
der Gerechtigkeit nicht durch besondere gesellschaft-
liche Verhältnisse der Volksglieder bedingen lassen,5
und Niemandem den Zugang zu seinem ordentlichen
Richter versagen.
6. Der Staat kann Niemanden hindern, Versamm-
lungen zu veranstalten und Vereine zu gründen, oder
4
[35]§. 12. Gränzen der Staatsgewalt.
sich an solchen zu betheiligen. Er ist aber befugt,
darüber Ordnungen festzusetzen, welche die äusseren
Bedingungen solcher Versammlungen und Vereine re-
geln und Missbräuchen derselben vorbeugen.6
7. Der Staat kann einen Staatsbürger nicht hindern,
auszuwandern, sofern er nicht die Absicht hat, sich
durch die Auswanderung einer bereits begründeten
staatsbürgerlichen Pflicht zu entziehen.
8. Der Staat kann keine Massregel verfügen,
welche mit der durch die Rechtsordnung gewährleiste-
ten individuellen Freiheit der Person7 im Wider-
spruche stände (keine Strafe ohne einen Strafrechtssatz,
keine Verhaftung, Haussuchung, Verletzung des Brief-
geheimnisses ohne Beobachtung der vorgeschriebenen
Bedingungen).
Alle diese Rechtssätze wollen unbedingt als Schran-
ken der Staatsgewalt in ihrer verwaltenden Thätigkeit
gelten, aber auch als Schranken der gesetzgebenden
Gewalt des Staats insofern, als eine Beseitigung der-
selben nur durch verfassungsmässige Aufhebung eines
Theiles des Grundgesetzes zulässig wäre.
Eine bedeutungsvolle Schranke der Staatsgewalt
liegt sodann in dem Satze, dass sie wohlerworbene
3*
[36]Erster Abschnitt.
Rechte schonen soll.1 — Die Staatsgewalt, indem
sie ihren Beruf als höchste Ordnerin des Gemeinwesens
vollzieht, ist genöthigt, die verschiedensten Interessen
des Volkslebens zu berühren und in dieselben einzu-
greifen, Verpflichtungen der mannichfachsten Art in
Ge- und Verboten aufzulegen, neue Ordnungen ein-
zuführen und alte zu beseitigen. Insoweit sie hierbei
nur auf Verhältnisse stösst, welche nichts weiter sind,
als die nach Massgabe der bisherigen Gesetze geregel-
ten thatsächlichen Gestaltungen, steht ihrem Vorschreiten
ein rechtliches Hemmniss nicht im Wege. Wohl aber
ist diess der Fall, wenn sie bei ihren Massregeln
auf ein wohlerworbenes Recht in der Weise trifft,
dass es beseitigt oder dem Berechtigten die Ausübung
desselben abgeschnitten werden soll. Wollte die Staats-
gewalt auch gegenüber erworbenen Rechten eine rück-
sichtslose Freiheit des Handelns in Anspruch nehmen,
so würde sie mit ihrer eigenen principalen Mission, der
höchste Schutz der Rechtsordnung zu sein, in unauf-
löslichen Widerspruch treten, indem sie gegenüber sich
selbst die Bedeutung der Rechte verneinte, deren An-
erkennung sie von allen Anderen in Anspruch nimmt.
Somit erscheint der Satz der Unverletzlichkeit erwor-
bener Rechte als ein aus dem Begriffe des Rechts und
seiner Anerkennung im Staate von selbst folgender, und
es ist nur eine besonders feierliche Bestätigung desselben,
wenn ihn die Grundgesetze aufnehmen und ausdrücklich
[37]§. 12. Gränzen der Staatsgewalt.
gewährleisten. Zu den wohlerworbenen Rechten gehört
aber nicht die blosse Befugniss des freien Handelns in
einem Gebiete, in welchem die bisherige Gesetzgebung
keine Beschränkung auflegte, überhaupt nicht das Recht
jedes Einzelnen, an den Vortheilen Theil zu nehmen,
welche eine gesetzliche Anordnung gewährt, die nur als
abstracte Norm wirken will; vielmehr sind darunter
allein diejenigen Befugnisse zu verstehen, in denen eine
im objectiven Rechte enthaltene Willensmöglichkeit
durch irgend einen Vorgang, sei dieser ein Rechtsge-
schäft, eine sonstige rechtsbegründende Thatsache oder
ein Gesetz, als concret bestimmte Rechtszuständigkeit
eines individuellen Subjects realisirt worden ist.2
Der Grundsatz der Achtung wohlerworbener Rechte
enthält zunächst eine unbedingte Schranke für die Staats-
gewalt in ihrer verwaltenden Thätigkeit; aber auch als
[38]Erster Abschnitt.
gesetzgebende Gewalt ist sie insofern daran gebunden,
als eine ohne dringenden Grund und ohne Vermögens-
entschädigung des Betheiligten3 geschehene Aufhebung
von erworbenen Rechten, welche noch jetzt ein nach all-
gemeinem Massstabe anerkennungswerthes Interesse be-
friedigen, — zwar nicht als formell unwirksam, — aber
jederzeit als eine rechtsverletzende und sonach miss-
bräuchliche4 Verwendung des Rechts der Gesetzgebung
gelten wird. Und Niemand wird diess für bedeutungs-
los halten, wenn er die Macht des sittlichen Urtheils
erwägt, der sich auch die Staatsgewalt nicht zu ent-
ziehen vermag.
Wohlerworbene Rechte indessen, deren Inhalt das
Recht auf Ausübung einer organischen Function im
Staate ist, können gegenüber einer auf Aenderung der
Verfassung gerichteten Gesetzgebung auch nicht einmal
diese Widerstandskraft immer in Anspruch nehmen, da
sich ihr rechtlicher Bestand von ihrem Zusammenhange
mit der Verfassung gar nicht trennen lässt.5
Aber selbst in ihrer verwaltenden Thätigkeit ist die
Staatsgewalt nicht immer im Stande, diese Schranken
einzuhalten. Im Interesse des öffentlichen Wohls, oder
um ihrer Selbsterhaltung willen kann sie unter der Vor-
aussetzung nöthigender thatsächlicher Verhältnisse nicht
nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sein, ausnahms-
weise über ihre normalen Gränzen hinauszuschreiten.
Ein solches Ausschreiten ist indessen nur insoweit und
nur so lange berechtigt, als diess die Wahrung des
öffentlichen Interesses oder das Bedürfniss der Besei-
tigung eines Nothstands fordert. Auf diesem Gesichts-
punkte beruht zunächst das Expropriationsrecht des
Staats, d. h. die Befugniss, den Einzelnen gegen volle
Entschädigung zu einer Preisgebung seines Eigenthums
zu nöthigen, wenn das öffentliche Interesse nicht anders
als durch dieses Opfer befriedigt werden kann.1 Ein
noch weitergehendes und principiell noch weniger be-
stimmbares Recht der Staatsgewalt, in das Vermögen
der Einzelnen einzugreifen, kann sodann durch einen
eigentlichen Nothstand begründet werden, der zum rück-
sichtslosen Handeln für das Bedürfniss des Augenblicks
nöthigt. Ein solcher Nothstand kann auch nach Um-
ständen ein Eingreifen in die persönliche Freiheit und
eine ausserordentliche Beschränkung derselben in ver-
[40]Erster Abschnitt.
schiedenen Richtungen rechtfertigen, wie z. B. durch
Verhängung des Belagerungszustandes und Verkün-
digung des Standrechts.2
Die Staatsgewalt der deutschen Bundesstaaten ist
endlich beschränkt durch Bestimmungen der Grund-
gesetze des deutschen Bundes, welche ein der Ver-
fügung der einzelnen Staaten unzugängliches höheres
Recht festsetzen wollen. Dahin gehören zunächst die
Bestimmungen, welche sich auf den rechtlichen Cha-
racter der Staatsverfassungen selbst beziehen,1 sodann
diejenigen, welche die freie Bewegung der einzelnen
Staatsgewalten bezüglich ihrer äusseren Verhältnisse
beschränken,2 ferner diejenigen, in welchen einzelne
das innere Staatsrecht betreffende Grundsätze festge-
stellt werden,3 endlich diejenigen, durch welche den
Mitgliedern einiger Standesclassen ein besonderer Rechts-
zustand gesichert wird.4 Ob und inwieweit die in ein-
[41]§. 15. Objecte der Staatsgewalt.
zelnen Beschlüssen der Bundesversammlung enthaltenen
Festsetzungen als wirkliche Schranken der Staatsgewalt
der Bundesstaaten aufgefasst werden müssen, kann
nicht allgemein, sondern nur nach Massgabe ihres be-
sonderen Characters bestimmt werden. 5
Staatsbürger, Gemeinden und das Staatsgebiet sind
die natürlichen Gegenstände der Staatsgewalt, in deren
Beherrschung sie ihr eigenthümliches Wesen offenbar
macht. Wie unendlich mannichfaltig auch sonst die
Dinge und Verhältnisse sein mögen, welche sie in der
Verfolgung des Staatszwecks durch ihre Verfügungen
berührt, — in allen ihren Handlungen wird eine Be-
ziehung derselben als herrschenden Subjects zu diesen
ihrer Gewalt unterworfenen Gegenständen hervortreten.
Die Herrschaft des Staats ist wesentlich die Ausübung
seines Gewaltrechts an Staatsbürgern und Gemeinden
innerhalb seines örtlichen Machtgebiets.
Die Stellung des Volks zum Staate gewährt der
wissenschaftlichen Betrachtung mehrfache Seiten. Vor
Allem ist das Volk die natürliche Grundlage des Staats,
d. h. sein Gemeinwesen ist es, für dessen Schutz und
Entwickelung der Staat besteht. Sodann ist es der
sittliche Geist des Volks, aus welchem die materiellen
Motive für das Handeln der Staatsgewalt hervorgehen.
Nicht minder ist es das Volk, aus dem der Staat die
persönlichen Kräfte zur Ausführung der Aufgaben der
Staatsgewalt erwartet. Alle diese Beziehungen zwischen
Volk und Staat sind nicht bloss überhaupt, sondern
auch rechtlich bedeutend. Aber keine ist für die recht-
liche Stellung des Volks im Systeme des Staatsrechts
so entscheidend, als die, dass das Volk Gegenstand
der Staatsherrschaft ist. 1 Diese Beziehung bedeutet
diess, dass alle einzelnen Volksglieder durch den Staats-
willen rechtlich gebunden sind; diess ist der Inhalt des
Rechts des Staats an der Person der Staatsbürger.
Es enthält dieses Recht eins jener organischen Gewalt-
verhältnisse, deren das Rechtssystem mehrere, freilich
sehr verschiedene sittliche Thatbestände angehende und
daher mit sehr verschiedenem Inhalte ausgestattete an-
erkennt. 2 Wie bei allen diesen, so beruht auch bei
[43]§. 16. Die Staatsbürger.
dem Verhältnisse der Staatsbürger zum Staate das ver-
bindende Element nicht auf einer obligatorischen, son-
2
[44]Erster Abschnitt.
dern auf einer organisch - sittlichen Grundlage. Und
auch darin stimmt das Gewaltrecht des Staats an den
Staatsbürgern mit jenen übrigen Gewaltrechten überein,
dass für die Personen, welche die Gegenstände desselben
sind, daraus gleichzeitig Gegenrechte an dem Subjecte
der herrschenden Gewalt erwachsen; jedoch erscheinen
diese nur als die Reflexwirkungen des Gewaltrechts und
können daher systematisch nicht als die entscheidenden
Momente in Anrechnung gebracht werden. 3
Während nun das Volk in seinen sonstigen Bezie-
hungen zum Staate als eine geistige Einheit erscheint,
bei der das einzelne Glied nicht isolirt, sondern nur als
mitwirkender Krafttheil eines grossen, Vergangenheit
und Gegenwart einschliessenden sittlichen Gesammt-
individuums hervortritt, wendet sich die juristische
Construction des Gewaltrechts an den einzelnen Staats-
bürger als solchen. Daraus ergiebt sich der Plan der
folgenden Darstellung, welche den Inhalt des Rechts
des Staats an den Staatsbürgern überhaupt, sodann
den Inhalt dieses Rechts gegenüber besonderen Classen
derselben und die Begründung und Beendigung dessel-
ben zu entwickeln hat.
Vermöge seines Herrschaftsrechts fordert der Staat,
dass der Staatsbürger sich der Fügung des Staats-
[45]§. 17. Die Staatsbürger.
willens in jeder Form seiner rechtmässigen Kundgebung
unterordne und gehorsam erweise, sowie dass er dem
Staate seine persönlichen und öconomischen Kräfte in-
soweit zur Verfügung stelle, als das Bedürfniss ihrer
Verwendung besteht. Er fordert mithin eine allgemeine
Hingebung der Persönlichkeit,1 und die einzelnen An-
sprüche, wie die Auflegung von Steuern und Militär-
diensten, sind nur die wichtigsten Anwendungsfälle
seines Gewaltrechts. 2 Selbstverständlich aber ist es,
dass dieses Gewaltrecht nur innerhalb der Schranken
besteht, welche für die Staatsgewalt überhaupt gelten,
und dass es auch nur in den Formen ausgeübt werden
darf, welche das Recht hierfür feststellt. 3
Es ist aber die eigenthümliche Natur dieses Gewalt-
verhältnisses, dass die Unterwerfung nicht als eine Min-
derung des Rechts, sondern als eine Wohlthat empfun-
den wird; denn der ganze Zweck desselben ist die Ge-
währleistung einer gedeihlichen Existenz in der Volks-
gemeinschaft. Durch ihr Herrschaftsrecht ist die Staats-
gewalt in die Lage gesetzt, alle die Satzungen, Anord-
nungen und Einrichtungen zu treffen, von denen der
Rechtsschutz und die Culturentwickelung aller Staats-
angehörigen bedingt ist. Den Genuss dieser Vortheile
bietet sie den ihrer Gewalt Unterworfenen als Gegen-
gabe. Die s. g. allgemeinen bürgerlichen Rechte,
d. h. das jedem Staatsbürger zustehende Recht der
Theilnahme an den auch für den Einzelnen aus der Ar-
beit der Staatsgewalt hervorfliessenden Vortheilen, sind
die Gegenwirkung des staatlichen Gewaltrechts. 4
Eine fernere Eigenthümlichkeit dieses Rechts ist
sodann die, dass seine Ausübung nicht als die Geltend-
machung eines ausser dem Volke stehenden fremden
Willens erscheinen soll. Daher gewährt der Staat den
[47]§. 18. Die Staatsbürger.
Staatsbürgern selbst ein Recht der Mitbestimmung bei
der Ausübung seiner Herrschaft, indem er einem Theile
derselben durch die politischen Wahlrechte eine Ein-
wirkung auf die Richtungen verstattet, welche der
Staatswille nehmen soll. 5 So reflectirt das Gewalt-
recht des Staats für die Unterworfenen, sofern sie den
dafür bestehenden besonderen Voraussetzungen6 ent-
sprechen, eine zweite Gruppe von Gegenrechten, welche
man gewöhnlich mit dem Namen politische Rechte
kennzeichnet.
Das Gewaltrecht des Staats besteht gleichmässig
über alle Staatsbürger. Das heutige Staatsrecht kennt
keine Verschiedenheit der rechtlichen Unterwerfung
unter die oberste Gewalt, es kennt nicht, wie das ältere
[48]Erster Abschnitt.
deutsche Staatsrecht, eine verschiedene Staatsherrschaft
gegenüber den vollständig und gegenüber den weniger
vollständig unterworfenen Gruppen der Unterthanen.
Seine Staatsgewalt ist gegenüber allen Staatsbürgern
dasselbe organische Machtrecht, sie ist nirgends mehr
jene unentwickelte des älteren deutschen Staatsrechts,
welche zum Theil nur auf vertragsartigen Verbindungen
beruhte. Durch die Abstreifung aller privatrechtlichen
Elemente und die Ergreifung der ganzen sittlichen
Macht, welche in dem Begriffe der Staatshoheit ent-
halten ist, hat der Staat den rechtlichen Begriff der
Staatsgewalt nunmehr vollendet, sowie andererseits da-
durch auch der Begriff des Volks als der Gesammtheit
der staatlich Beherrschten seine einheitliche Rechtsbe-
stimmung erhalten hat. 1
Nicht im Widerspruche hiermit steht es aber, dass
die dem Gewaltrechte des Staats entsprechenden poli-
[49]§. 18. Die Staatsbürger.
tischen Gegenrechte für einzelne Classen der Staats-
bürger in einem höheren Grade entwickelt und in um-
fassenderer Weise gewährt sind, als für die Uebrigen.
Es giebt Stände, deren Mitglieder durch besondere
öffentliche Rechte ausgezeichnet sind. 2 Der Mittelpunkt
derselben ist immer das selbständige Recht auf Theil-
nahme an der politischen Vertretung des Volks; aber
es kommt hierzu in der Regel noch eine weitere mehr
oder weniger umfassende Ausstattung mit anderweiten
öffentlichen Befugnissen. Von besonderer Bedeutung
unter diesen Ständen sind diejenigen, deren Rechts-
zustand durch das Bundesrecht selbst garantirt ist,
nämlich 1. die deutschen Standesherren, d. h. die
Häupter der Familien des deutschen hohen Adels.
Darunter sind zu verstehen die Familien der ehemaligen
reichsständischen Landesherren über reichsunmittelbare
Territorien, welche seit dem Jahre 1806 der Hoheit
eines souverainen deutschen Staats unterworfen (mediati-
sirt) worden sind,3 sowie diejenigen Familien, welche in
Rücksicht auf ihre Standesstellung zur Zeit des deutschen
Reichs kraft ausdrücklicher Anerkennung der Bundes-
versammlung dem hohen Adel beigezählt worden sind. 4
v. Gerber, Staatsrecht. 4
[50]Erster Abschnitt.
Die ihnen durch den Artikel 14. der Deutschen Bundes-
acte5 garantirten Rechte sind theils solche, welche nur
[51]§. 18. Die Staatsbürger.
den Häuptern dieser Familien zukommen, theils solche,
welche allen Gliedern derselben zustehen; sodann unter-
scheiden sie sich darin, dass einige den Mitgliedern
des hohen Adels persönlich, andere denselben nur als
Besitzern ihrer Standesherrschaften6 gebühren. Eine
analoge Stellung in Rücksicht auf besondere Theil-
nahmsrechte an der Landesvertretung räumen die Ver-
fassungen auch den Agnaten der heutigen Regenten-
familien ein, deren gesammte Rechtsstellung freilich von
einem anderen Gesichtspunkte beherrscht wird. 2. Die
Grundherren, d. h. die Mitglieder der ehemals reichs-
unmittelbaren Ritterschaft. Auch ihnen ist im Art. 14. der
Deutschen Bundesacte eine besondere Rechtsstellung7
5
4*
[52]Erster Abschnitt.
gewährleistet, welche dadurch nicht aufgehoben wird, dass
sie in mehreren Staaten mit der landsässigen Ritterschaft
zu einem gemeinsamen Körper verschmolzen sind.8
Auf der anderen Seite giebt es auch Staatsbürger,
denen gar keine oder nur geringere politische Gegenrechte
zugestanden werden. Dahin gehören nach dem Rechte
mehrerer deutschen Staaten noch jetzt die Juden.9
Das Gewaltrecht des Staats wird begründet an
Allen, welche in den Verband seiner Staatsbürger (In-
digenat) eintreten.1 Diess geschieht 1. durch Geburt,
7
[53]§. 19. Die Staatsbürger.
wenn die Eltern (bei Unehelichen wenn die Mutter) zur
Zeit der Geburt das Staatsbürgerrecht hatten. 2. Durch
Aufnahme (Naturalisation), welche bei der Staatsregie-
rung nachgesucht werden muss, und in der Regel an
die Voraussetzung geknüpft ist, dass der Aufzuneh-
mende aus seinem bisherigen staatsbürgerlichen Verhält-
nisse entlassen ist und die Zusicherung der Aufnahme
in eine diesseitige Gemeinde erlangt hat.2 3. Durch
Verheirathung einer Ausländerin mit einem Inländer.
4. Durch Uebertragung eines Staatsamtes an einen Aus-
länder.3 5. Durch Zuweisung eines Heimathlosen.4 Be-
endigt wird das Gewaltrecht des Staats durch Ausschei-
den des ihm Unterworfenen aus dem staatsbürgerlichen
Verbande, was insbesondere eintritt bei der Auswan-
derung,5 der Uebernahme eines fremden Staatsdienstes
1
[54]Erster Abschnitt.
ohne Vorbehalt des bisherigen Indigenats (wo solcher
zulässig ist), und nach Particularrechten auch bei länger
dauernder Abwesenheit, wenn dabei die Absicht besteht,
im Auslande bleibend zu wohnen.6
Das Verhältniss der uralten Gemeindeverbindungen
zu der Gesammtverbindung des Volks im Staate ist
nicht immer dasselbe gewesen. Während im Mittel-
alter, bei einem sehr geringen Bedürfnisse völkerschaft-
licher Existenz, die Gemeinde grösstentheils den Staat
ersetzte und der unentwickelten Territorialgewalt eine
fast unbeschränkte autonome Selbständigkeit gegenüber-
stellte, hat sich seit dem Ende des siebzehnten Jahr-
hunderts umgekehrt der Staat, indem er in rücksichts-
loser Energie dem erkannten Ziele seiner Machtent-
wickelung zustrebte, die Gemeinden meist so vollständig
unterworfen, dass sie ihr eigenes Leben einbüssten und
zu der Bedeutung blosser Verwaltungsbezirke herab-
sanken. Es ist nun eine der wichtigsten Thatsachen
5
[55]§. 20. Die Gemeinden.
auf dem Gebiete des deutschen Staatslebens, dass diese
Gegensätze in unserer Zeit ihre Versöhnung gefunden
haben.
Die Gemeinde ist eine corporative Verbindung von
selbständigem Lebensinhalte; sie will die Interessen be-
friedigen, welche das nachbarschaftliche auf örtlicher
Ansiedelung beruhende Leben hervorbringt. Das von
den Vorfahren überkommene Corporationsvermögen er-
scheint als ein gestiftetes und der Zukunft zu bewahren-
des Gut, aus dessen Ertrage in Verbindung mit anderen
Einkünften (insbesondere den Gemeindesteuern) die Be-
dürfnisse des örtlichen Zusammenlebens in Rücksicht auf
äussere Ordnung, Cultur und öffentliche Wohlthätigkeit
bestritten werden sollen. In der Pflege und der ge-
deihlichen Förderung der hieraus hervorgehenden Ein-
richtungen und Anstalten und der Vermittelung des
hiervon abhängigen Wohlbefindens der einzelnen Ge-
meindeglieder beruht die wesentliche Aufgabe der Ge-
meindeverbindung.1
Es lässt sich nun nicht verkennen, dass die Arbeit
des Staats für das ganze Volk in mancher Beziehung
ähnlich ist und zum Theil mit derjenigen zusammen-
fällt, welche die Gemeinde in ihrem engeren Kreise zu
[56]Erster Abschnitt.
leisten hat; aber der Staat kann die ihm gestellte all-
gemeine Aufgabe nicht lösen, wenn er nicht darauf
rechnen darf, dass die Gemeinden ihre besondere Auf-
gabe erfüllen. So betrachtet er sie als seine natürliche
Ergänzung, durch welche er erst in die Lage versetzt
wird, seinen, das Volk als Ganzes ergreifenden Beruf
zu erfüllen; so kommt es, dass er seine eigene Lebens-
fähigkeit wesentlich auf ihr Bestehen und ihr dem Gan-
zen fördersames Wirken stützt;2 und so erklärt es sich,
warum er auch sie in den Kreis der Personen und
Sachen erhebt, an welche sich unmittelbar sein staat-
liches Herrschaftsrecht anknüpft. Daher kann er auch
ihre innere Organisation und Entwickelung nicht der
individuellen Willkühr preis geben, sondern macht die
Gemeindeordnung selbst zu einer der wichtigsten An-
gelegenheiten der Staatsgesetzgebung,3 und sorgt, in-
[57]§. 20. Die Gemeinden.
dem er die Verwaltung der Gemeinden seiner Aufsicht
unterwirft, dass sie in einem dem Gesammtinteresse
entsprechenden Sinne geführt werde.4
Daneben aber stellt der Staat noch mancherlei an-
dere Ansprüche an die Gemeinden. Allerdings be-
trachtet er sie auch jetzt noch als die natürlichen Ab-
theilungen und Gruppirungen des Volks; an sie und
ihre Vertreter und nicht an die gestaltlose Masse wen-
det sich vielfach seine Regierung zum Zwecke der
Durchführung allgemeiner Massregeln.5 Zugleich be-
traut er zweckmässig den Gemeindevorstand mit einer
Reihe staatlicher Functionen, insbesondere der örtlichen
Polizei, in deren Ausführung dieser unmittelbar im
Dienste des Staats handelt.6
Aus allem Diesem ergiebt sich der Inhalt des Rechts,
welches dem Staate an den Gemeinden zusteht. Sie
sind selbständige öffentliche Corporationen7 mit eigenem
Lebensberufe, aber sie gehören zu den unmittelbaren
Objecten der staatlichen Herrschaft; auch auf sie er-
streckt sich constitutionell das Gewaltrecht des Staats.
An der Spitze der Stadtgemeinde stehen Bürger-
meister und Rath, welche in collegialischer Form über
alle Gemeindeangelegenheiten berathen und beschliessen,
das Gemeindevermögen verwalten, auch die Gemeinde
in jeder Beziehung rechtlich vertreten. Diesem Ge-
meindevorstande gegenüber steht als Vertreter der Bür-
gerschaft ein s. g. Bürgerausschuss, auch Collegium der
Stadtverordneten genannt; sein Verhältniss zum Rathe
ist diess, dass er bei manchen Angelegenheiten zu gut-
achtlicher Aeusserung, bei anderen zur Einwilligung, bei
einzelnen wohl auch zum Mithandeln angegangen wer-
6
[59]§. 21. Die Gemeinden.
den muss. Die Stadtverordneten werden auf bestimmte
Jahre von der Bürgerschaft, der Bürgermeister und
Rath (auf Lebenszeit oder auf bestimmte Jahre) in der
Regel von den Stadtverordneten gewählt. Die Wahlen
bedürfen meist der Bestätigung durch die Regierung.
An der Spitze der Landgemeinden steht ein
Schultheiss (Dorfrichter), der die Gemeindeangelegen-
heiten mit einigen Gehülfen (jedoch nicht in collegiali-
scher Form) besorgt. In manchen Fällen muss auch
die Gesammtheit der Gemeindebürger1 befragt werden,
welche hier in der Regel nicht durch einen ständigen
Ausschuss vertreten ist (oder wenigstens nicht durch
einen so umfassenden, als die Stadtgemeinde). In man-
chen Ländern steht noch jetzt dem Gutsherrn ein be-
sonderer Einfluss auf die Besetzung der Vorstände der
Landgemeinden zu.
Jede Gemeinde hat ihre Gemarkung als örtliche
Basis ihrer Existenz. Mitglieder der Gemeinde sind die
Gemeindebürger. Von denen, welche das volle Bürger-
recht (d. h. auch die Gemeindewahlrechte und die Fähig-
keit zur Uebernahme von Gemeindeämtern)2 haben,
unterscheiden sich die blossen Beisitzer oder Schutz-
verwandten, denen nur das in manchen Ländern s. g.
Heimathsrecht in der Gemeinde3 zusteht. Die Aus-
[60]Erster Abschnitt.
übung der Befugnisse des vollen Bürgerrechts steht aber
nur den in der Gemeinde anwesenden Bürgern zu. Das
Bürgerrecht wird erworben durch Aufnahme gegen Ent-
richtung des Bürgergeldes; aber der Gemeindevorstand
darf sie nicht versagen, wenn der Aufzunehmende die
Erfüllung gewisser gesetzlicher Bedingungen nachweist.
Auch die geborenen Gemeindebürger haben particular-
rechtlich noch eine besondere Aufnahmegebühr zu er-
legen. In manchen Fällen, z. B. beim Erwerbe von
Grundeigenthum in der Gemarkung, muss die Auf-
nahme in das Bürgerrecht nachgesucht werden. Den
Rechten der Gemeindebürger stehen gegenüber die
Pflichten derselben, welche sich auf die Uebernahme
von Gemeindeämtern, Leistung der Gemeindeabgaben
und Dienste beziehen.4
Das Staatsgebiet ist das sachliche Object der
Staatsherrschaft. Sie bedarf der Consolidirung auf
einem fest begränzten Territorium, dessen Umfang,
Lage und Reichthum die wesentlichsten Elemente zur
Characteristik ihrer Macht und Entwickelungsfähigkeit
darbieten. Für das Volk ist das Staatsgebiet Heimath
und Vaterland; auf ihm ist die ganze Culturarbeit der
Vorfahren in sichtbaren Merkmalen ausgeprägt, welche
die wirkungsvollste Verbindung zwischen dem Lande
und dem Volksgeiste verkünden.
Der Inhalt des Rechts des Staats am Staatsgebiete
ist nun allein der, dass der Staat auf ihm Staat
sein darf, dass das Territorium die örtliche Aus-
dehnung der Wirkung seiner Staatsgewalt dar-
stellt, und dass er die Anerkennung desselben
als örtlichen Machtgebiets in Anspruch nehmen
kann.1 Die Zugehörigkeit des Territoriums zum Staate
als berechtigtem Subjecte ist also der Inhalt eines durch-
aus staatsrechtlichen Sachenrechts.2 Diese Characteristik
des Rechts am Staatsgebiete, welche darin nur das all-
gemeine und formelle Moment der Oertlichkeit in der
rechtlichen Bestimmung des Staatsrechts erblickt, ist
aber erschöpfend; es würde unrichtig sein, den Begriff
dieses Rechts mit einem eigenthümlichen materiellen In-
halte ausstatten und etwa durch einzelne Massregeln der
Staatsgewalt bestimmen zu wollen, welche den Grund
und Boden zum praktischen Objecte haben, wie die An-
legung von Strassen, die Verfügung über öffentliche
Gewässer, die Aufstellung von Regalien, oder durch
Massregeln, welche sich auf die Eintheilung des Staats
in Kreise oder Provinzen, oder auf die Behandlung
[62]Erster Abschnitt.
Fremder im Staatsgebiete beziehen.3 Denn alles Diess
sind nicht specifische Ausflüsse der Gebietshoheit, son-
dern Acte der Staatsgewalt überhaupt, für deren Cha-
racteristik die zufällige Berührung mit Verhältnissen der
Oertlichkeit nicht entscheidend ist.
Das Territorium, welches nach dem eben bezeich-
neten Rechte Gegenstand der Staatsgewalt ist, hat aber
zugleich die Bedeutung des am meisten characteristischen
Attributs seines Staats. In seinem Landgebiete hat
der Staat seine körperliche Qualificirung, in ihm wird er
real individualisirt. Daher werden beide, Staat und
Territorium, als untrennbare Dinge gedacht und das
Recht an dem bestimmten Staatsgebiete zu einem Mo-
mente in der Bestimmung eines individuellen Staats-
organismus erhoben. Ueberall aber, wo die Bedeutung
des Staats als eines persönlichen Organismus zur recht-
lichen Anerkennung gekommen und das Territorium
in diese Verbindung mit ihm getreten ist, muss folge-
weise das Letztere an der ganzen Rechtsstellung Theil
nehmen, welche jenen characterisirt. Sowie daher der
Staat selbst, weil eine Persönlichkeit, untheilbar ist, so
[63]§. 22. Das Staatsgebiet.
ist es auch sein Territorium. Eine Theilung des Terri-
toriums4 wäre, wenn sie der Staat vornähme, eine
Selbstvernichtung. Aber auch einem Dritten kann
gegenüber einem rechtlich bestehenden Staatsorganismus
nicht ein Recht auf dessen Zerstörung durch Zer-
stückelung seines Staatsgebiets zustehen.5 Das ist es,
was die Verfassungen aussprechen wollen, wenn sie die
Untheilbarkeit des Staatsgebiets an die Spitze aller
Grundgesetze stellen.6
Von dieser Rechtsstellung des Staatsgebiets ganz
verschieden war die des Territoriums im älteren deut-
schen Staatsrechte. In ihm erschien es als das Object
eines im Ganzen privatrechtsartigen Rechts seines Lan-
desherrn. In dem Besitzrechte des Landesfürsten lag
der wesentliche Grund seines Zusammenhangs; denn
die einzelnen Theile desselben waren in der Regel auf
Grund sehr verschiedener Erwerbstitel zusammenge-
bracht worden, und bewahrten auch in der Hand ihres
Erwerbers die mannichfachsten rechtlichen Verschie-
[64]Erster Abschnitt.
denheiten. Das Schicksal des Territoriums, — ob es
zusammen bleiben oder getheilt, ob es vermehrt oder
gekürzt werden sollte, — war in der Hauptsache eine
Frage des fürstlichen Vermögensrechts. Erst die grossen
politischen Umgestaltungen dieses Jahrhunderts, aus de-
nen für die meisten deutschen Staaten der völlige Neu-
bau im Sinne des staatlichen Organismus hervorging,
haben das Territorium seiner Stellung als Object indivi-
dueller Befugnisse des Immobiliarsachenrechts entrückt
und mit gänzlicher Veränderung seines rechtlichen Cha-
racters in jene oben geschilderte Fügung hineingebracht.7
Ob dieser Process organischer Assimilirung im einzelnen
deutschen Staate vollständig durchgeführt sei, so dass
die sich daran knüpfenden Rechtsfolgen in ihrem ganzen
Umfange einzutreten haben, oder ob diess nicht der
Fall sei, ist eine hochwichtige Frage des particulären
Staatsrechts.8
Was die Staatsgewalt in der Verfolgung ihrer Ge-
sammtaufgabe gesetzgebend und regierend im Einzelnen
erstrebt, schafft und anordnet, soll im Folgenden in
übersichtlicher Skizze zusammengestellt werden.1
1. Die Staatsgewalt sorgt vor Allem für die Be-
gründung und Erhaltung der bürgerlichen Rechtsord-
nung. Daher wirkt sie gesetzgebend für das Civilrecht,
das Strafrecht und das gerichtliche Verfahren; daher
setzt sie in Gemässheit der bestehenden Gerichtsver-
fassung ordentliche Gerichte ein, welchen die Rechts-
pflege als selbständiger Beruf anvertraut ist. Sie sorgt
für die erforderlichen Instanzen. Sie überwacht die
pflichtmässige Thätigkeit der Richter, ohne sie jedoch
bei ihrer Rechtssprechung irgendwie zu beeinflussen.
Sie gewährt den Richtern eine besonders gesicherte
rechtliche Stellung. Auch sorgt sie für die zur Aus-
führung und Ergänzung der Justizpflege erforderlichen
Einrichtungen und Anstalten.
2. Ein ausserordentlich umfangreiches Gebiet innerer
Thätigkeit der Staatsgewalt wird mit dem Namen der
Polizei bezeichnet. Man pflegt sie in Wohlfahrts- und
Sicherheitspolizei zu theilen. Jene umfasst die Sorge
für die geistige Cultur des Volks (Schulwesen), für seine
1
v. Gerber, Staatsrecht. 5
[66]Erster Abschnitt.
öconomische und industrielle Entwickelung (Gewerbe-
ordnung, Einrichtungen mannichfachster Art für Handel,
Industrie, Landwirthschaft, Communicationsmittel, Stras-
sen), für Aufrechterhaltung und Schutz der Sittlichkeit,
Gesundheit, Abhaltung von Gefahren, Fürsorge für das
Armenwesen. Zur Durchführung dieser Massregeln
dienen allerhand Strafbestimmungen; in der Regel ist
den Polizeibehörden sogar eine wirklich strafrichterliche
Gewalt zur Ahndung geringerer Vergehen gegen die
öffentliche Ordnung anvertraut.
3. Die Staatsgewalt eröffnet die Finanzquellen
des Staats, verwaltet die daraus hervorgehenden Mittel,
und verfügt über sie im Interesse des Staatszwecks.
Der Staat hat eigenes Vermögen; als Inhaber desselben
ist er eine privatrechtliche juristische Person, Fiscus,
und geniesst besondere Privilegien. Das Vermögen des
Staats besteht in dem Eigenthume an Grundstücken
(Gütern, Wäldern, Gewässern, Häusern u. s. w.), dem
Eigenthume an beweglichen Sachen, dem Rechte auf Ge-
fälle der verschiedensten Art, in sonstigen Forderungs-
rechten, Regalien und fiskalischen Gewerben. Zu dem Ver-
mögen des Staats gehören sodann auch die Staatsschul-
den. Ein grosser Theil des unbeweglichen Staatsguts war
ehedem fürstliches Hausvermögen, welches nunmehr in
manchen Ländern dem Staate übergeben worden ist; in
anderen ist dem Staate nur die Verwaltung und Frucht-
ziehung überlassen worden, während das Eigenthum
daran dem fürstlichen Hause verblieben ist. Zu den
aus diesem Vermögen des Staats hervorgehenden Mitteln
tritt ferner als regelmässiges Einkommen der Ertrag
[67]§. 23. Richtungen der Staatsgewalt.
der Steuern, Zölle, Strafgelder und mannichfacher Ge-
bühren. Der Staat kann verlangen, dass ihm zur Be-
streitung der Mittel für die Erfüllung seiner Aufgaben
jeder Staatsbürger aus seinem Vermögen beisteuere.
4. Der Staat fordert von seinen Staatsbürgern die
Leistung persönlicher Militärdienste. Er regulirt die
Militärpflicht und die Einquartirungslast durch allge-
meine Ordnungen, und sorgt für alle Anstalten, welche
zum Schutze gegen äussere und innere Feinde dienen
können. Der Minimalumfang des von jedem deutschen
Staate aufzustellenden Kriegsheers wird durch die
Bundeskriegsverfassung bestimmt.
5. Der Staat verleiht Privilegien, selbstverständ-
lich insoweit die Verfassung diess zulässt und Rechte
Dritter nicht verletzt werden. Dahin gehört auch die
Verleihung von Ehren und Standesauszeichnungen.
6. Der Staat tritt anderen Staaten gegenüber
als selbständige Persönlichkeit handelnd auf. Er schliesst
Verträge und Bündnisse, insoweit solche mit dem Bun-
desrechte vereinbarlich sind. Die Staatsverträge können
sich auf alle möglichen Interessen beziehen, welche bei
der Berührung eines Staats mit dem anderen hervor-
treten, insbesondere die Jurisdictionsverhältnisse, das
Zollwesen, den Handel. Er lässt sich dauernd durch
Gesandte vertreten, sowie er auch selbst auswärtige
Gesandte annimmt.
7. Ein grosses Gebiet der Staatsthätigkeit eröffnet
das Verhältniss des Staats zur Kirche. Die Kirche
bildet einen Lebenskreis, welcher nicht mit dem der poli-
5*
[68]Erster Abschnitt.
tischen Verbindung zusammenfällt. Auch sie ist eine
organisirte Gemeinschaft mit einer ihre Interessen leiten-
den und bestimmenden Gewalt. Der Staat unterwirft
sie nicht seiner Herrschaft, sondern anerkennt sie als
selbstberechtigtes Gemeinwesen und gestattet die freie
Entfaltung ihres inneren und äusseren Lebens. Er ver-
leiht ihr seinen Schutz; auch steht er mit allen oder
einer der drei reichsberechtigten christlichen Kirchen in
einem Vertrauensverhältnisse, indem er ihren Dienern
einzelne staatliche Functionen anvertraut, öffentliche
Autorität und staatliche Würden verleiht, indem er sie
unterstützt, ihren Feiertagen allgemeine Beachtung sichert
und in seiner Gesetzgebung die sittlichen Anforderungen
derselben beachtet. In denjenigen seiner Herrschaft
zuständigen Gebieten, welche auch die Kirche für ihren
Einflusss in Anspruch nimmt, handelt er zwar kraft
eigener sittlicher Autorität, aber er bemüht sich, mög-
lichst im Einverständnisse mit letzterer zu bleiben. Ueber
alle Kirchen übt er ein Recht der Oberaufsicht aus,
durch welches er sich versichert, dass sie die Gränzen
ihrer Aufgaben einhalten, die Lebenskreise anderer
Kirchen nicht verletzen und in keine Missbräuche ver-
fallen. Die Gesammtheit dieser Rechte nennt man
Kirchenhoheit (jus majestaticum circa sacra). Das
dem Staate sonst zugeschriebene s. g. Reformationsrecht
besteht nach dem Art. 16. der Bundesacte gegenüber
den drei christlichen Hauptconfessionen nicht mehr; aber
auch gegenüber anderen christlichen oder sonstigen Re-
ligionsgesellschaften besteht davon nach den meisten
Verfassungen nur noch das Recht der Verleihung oder
[69]§. 23. Richtungen der Staatsgewalt.
Versagung der Rechte öffentlicher Corporationen und
der Duldung oder Nichtduldung öffentlicher Religions-
übung.2
Wenn in dem Bisherigen das Wesen und der Um-
fang der Staatsgewalt in ihrer abstracten Existenz be-
stimmt wurde, so bedarf es nunmehr der Entwickelung
des Rechts der Mittel, durch welche sie in die concrete
Erscheinung gesetzt wird. Schon in der Vorstellung
des Staats als eines Organismus liegt der Gedanke, dass
ihm gewisse Organe1 angeschaffen sein müssen, in deren
[71]§. 25. Der Monarch.
Handeln sich der Wille seiner Persönlichkeit verwirk-
licht. In den monarchischen Staaten2 Deutschlands sind
diess der Monarch und die Stände. Die Art und der
Umfang, in welchem Beide als Organe des Staats wir-
ken, ist ganz verschieden; aber beiden Organen gemein-
schaftlich ist die Eigenschaft, dass der in ihrem Wesen
enthaltene Beruf rechtlichen Handelns ihren Berechtigten
als eigener und ursprünglicher zukommt.3 Daher ist die
Festsetzung ihres Rechts eine der hauptsächlichsten Auf-
gaben des Grundgesetzes. Nicht zu den Organen des
Staats gehören die Staatsdiener; ihr Recht ist kein
ursprüngliches Recht zur Kundgebung des Staatswillens,
sondern ein abgeleitetes, sie sind nur die rechtlichen
Gehülfen des Monarchen.
Der Monarch ist das oberste Willensorgan des
Staats. Sein Wille soll als allgemeiner Wille, als Wille
des Staats gelten. In dem Monarchen wird die abstracte
Persönlichkeit der Staatsgewalt verkörpert. Und zwar
[72]Zweiter Abschnitt.
soll sich nach dem deutschen Bundesrechte1 wie nach
dem Rechte der einzelnen Verfassungen2 die Vertretung
des Staatswillens in dem Willen des Monarchen auf den
ganzen und ungetheilten Umfang der Staatsgewalt er-
strecken. Was also der Potenz nach die Staatsgewalt
selbst rechtlich vermag, das ist auch der Inhalt des
Willensrechts des Monarchen, und gelangt in seinem
Willen zur wirklichen Erscheinung; sowie das Herr-
schaftsrecht des Staats sich in seiner Hand zum persön-
lichen Herrschaftsrechte gestaltet, so wird die Pflicht
der Staatsbürger gegen den Staat zur persönlichen
Treuverpflichtung gegen den Monarchen. Diese Ver-
[73]§. 25. Der Monarch.
körperung des Staats in der Person des Monarchen wirkt
ebensowohl nach Innen als nach Aussen, gegenüber
anderen Staaten.3
Aber dieses Willensrecht des Monarchen ist nicht
ein Recht der individuellen menschlichen Persönlichkeit,4
sondern ist durch die Fügung des institutionellen Cha-
racters der monarchischen Organschaft gebunden, wie
ihn die Grundgesetze der deutschen Staaten feststellen.
Der monarchische Wille ist ein rechtlicher nur insoweit,
als er sich innerhalb der Schranken äussert, mit wel-
chen das Verfassungsrecht die Lebenskraft seines ober-
sten Organs umschreibt. Wo daher insbesondere der
monarchische Wille von der Voraussetzung ständischer
Zustimmung bedingt ist, gilt er als solcher rechtlich
erst dann, wenn er diese Zustimmung in sich aufge-
nommen hat. Aber nicht bloss hierauf, sondern auch
auf die Art und Weise der Ausübung des Monarchen-
rechts5 beziehen sich die beschränkenden Bestimmungen
der Verfassungsgesetze.
Die Person des Monarchen, als des Inhabers des
höchsten öffentlichen Rechts im Staate, ist durch eine
Rechtsstellung ausgezeichnet, in welcher sich die Er-
habenheit des Berufs und der Würde des Staatsober-
haupts ausprägt.
Der Monarch ist keiner rechtlichen Verantwortung
und keiner Gerichtsgewalt unterworfen.1 Dagegen ist
die Integrität seiner Person durch besondere Strafgesetze
geschützt.2 Ihm gebühren ferner die Majestätsrechte
und die höchsten Ehren; er hat einen Hofstaat, das
Recht auf Kirchengebet und Landestrauer. Nicht min-
der hat er den Anspruch, dass ihn der Staat in einer
der Majestät würdigen Weise öconomisch ausstatte.
Diess geschieht durch Gewährung einer ein für allemal
oder bei jedem Thronwechsel gesetzlich festzustellenden
Civilliste,3 und durch Ueberweisung des Genusses der
s. g. Krondotation, d. h. eines in Schlössern und ihrem
Inventar sowie in dem Kronschatze bestehenden Staats-
[75]§. 26. Der Monarch.
vermögens. In den Ländern jedoch, in denen der Mo-
narch noch das Eigenthum des fürstlichen Kammerguts
bewahrt hat, dem der Character eines Familienfidei-
commisses des regierenden Hauses zukommt,4 hat sein
Jahreseinkommen die Natur einer Eigenthumsrente; da
aber auf dem fürstlichen Kammergute von jeher zu-
gleich die Last einer wesentlichen Beisteuer zu den
[76]Zweiter Abschnitt.
Kosten der Staatsverwaltung geruht hat, so ist es in
mehreren deutschen Ländern dem Staate selbst zur
Verwaltung und Nutzniessung übergeben und der Be-
trag der davon dem Staatsoberhaupte und der fürst-
lichen Familie zu gewährenden Rente vertragsmässig
vereinbart worden. Einzelne regierende Häuser haben
daneben noch besondere vom Staate mehr oder weniger
unabhängige Stiftungen und Familienfideicommisse mit
der Bestimmung, zur Ausstattung des Monarchen zu
dienen.5
Tritt der Monarch in den gewöhnlichen Privat-
rechtsverkehr ein, so steht er im Ganzen unter der
Herrschaft des allgemeinen Privatrechts und nimmt
auch in der Regel von den Landesgerichten Recht.6
Aber die erhabene Stellung des Monarchen wirkt
auch auf die sämmtlichen Glieder seines Familien- und
[77]§. 27. Der Monarch.
Verwandtenkreises, welche zum regierenden Hause
gehören. Die Mitglieder des Regentenhauses bilden
eine mit eigenthümlichen Rechten ausgestattete, durch
die Hausgewalt des Monarchen formirte Personenge-
meinschaft;1 sie können nicht dem Begriffe irgend einer
anderen Classe von Staatsbürgern unterstellt, sondern
müssen als eine eigene, selbständige Classe für sich auf-
gefasst werden.2 Es gehören dazu die Gemahlin des
Monarchen, alle als ebenbürtig anerkannten Prinzen
(s. g. Agnaten) mit ihren ebenbürtigen Gemahlinnen,
und die Prinzessinnen bis zu ihrer Verheirathung.3
Das Recht, auf welchem der specifische Character
der Stellung der Mitglieder des Regentenhauses be-
ruht, ist das eventuelle Thronfolgerecht derselben nach
Massgabe der bestehenden Successionsordnung, sowie
das Recht, zur Regentschaft berufen zu werden, wenn
[78]Zweiter Abschnitt.
der Fall einer solchen eintritt. Hieran schliessen die
Verfassungen noch mancherlei andere öffentliche Rechte
der fürstlichen Agnaten, insbesondere ein Recht der
Mitwirkung bei der Entscheidung der Frage, ob eine
Regentschaft einzutreten oder aufzuhören habe,4 ferner
ein Recht der Theilnahme am Familienrathe, sofern ein
solcher besteht, und Sitz und Stimme in der ersten
Kammer.5 Ein Recht, an der Regierung selbst Theil
zu nehmen oder bei gewissen Regierungshandlungen
zur Mitwirkung berufen zu werden,6 besteht dagegen
für die fürstlichen Agnaten ebensowenig, als eine Ge-
richtsbarkeit derselben über den Monarchen.7
Dieser ausgezeichneten öffentlichen Stellung der
Mitglieder des Regentenhauses entspricht nun eine Reihe
weiterer eigenthümlicher Befugnisse. Auch ihnen ge-
bühren hohe Ehrenrechte (Titulaturen, Hofstaat, Ein-
schluss in das Kirchengebet, Landestrauer), sowie nicht
minder ein besonderer strafrechtlicher Schutz ihrer Inte-
grität; auch ihnen gewährt der Staat eine angemessene
öconomische Ausstattung, sofern sie nicht schon aus den
Erträgnissen des fürstlichen Kammerguts gegeben wird
(Apanagen, Deputate, Sustentationsgelder, Aussteuern,
Witthum).8 Diese Rechte kommen jedoch nicht allen
Mitgliedern des regierenden Hauses gleichmässig zu,
sondern mehren oder mindern sich je nach der Nähe oder
Ferne des Einzelnen zum Throne, weshalb sie unter den
Agnaten dem Kronprinzen im grössten Umfange zustehen.
Auf der anderen Seite aber unterliegen diese Per-
sonen vermöge ihrer besonderen Rechtsstellung auch
eigenthümlichen Beschränkungen. Sie sind der Haus-
gewalt des Monarchen unterworfen. Daher können sie
keine Ehe ohne dessen Zustimmung eingehen,9 bedürfen
sie bei der Wahl ihres Aufenthalts, dem Eintritte in
fremde Dienste, der Bildung ihres Hofstaats dessen Ge-
nehmigung. Auch ist in der Hausgewalt des Monarchen
ein allgemeines Aufsichts- und Disciplinarrecht, bis-
weilen selbst eine wirkliche Gerichtsgewalt über die
Mitglieder seines Hauses enthalten.
Insoweit diese Verhältnisse nicht durch die Ver-
fassung selbst bestimmt sind, haben sie häufig durch
besondere s. g. Hausgesetze10 ihre Regulirung erhalten.
Das Recht, im einzelnen deutschen Staate Monarch
zu sein, ist das angestammte, nicht erst von aussen
angetragene Recht der deutschen Fürsten: es ist ein
Recht, dessen Ursprung in dem Erwerbskreise der
fürstlichen Dynastie liegt, und lediglich durch Ent-
wickelung der im ehemaligen fürstlichen Patrimonial-
rechte enthaltenen Keime zu seiner heutigen Gestaltung
gelangt ist. Die ältere deutsche Landeshoheit war eine
Summe einzelner Herrschaftsrechte, in deren Inne-
habung der Fürst im Ganzen als das Subject einer
eigenthümlichen in Land und Leuten bestehenden Ver-
mögensmacht hervortrat; Land und Leute waren in der
Rechtssphäre ihres Landesfürsten localisirt. Diess hat
sich in einem zuerst allmählichen, dann in diesem Jahr-
hunderte beschleunigten Entwickelungsprocesse völlig
verändert. Land und Leute sind aus der Vermögens-
sphäre des Fürsten herausgetreten, die Unterthanen
sind zu dem Begriffe des geeinten Volks mit nationalem
Bewusstsein erwachsen, aus ihm ist in den neueren Ver-
fassungsgesetzen der Staat als selbständiger persönlicher
Organismus hervorgegangen, und der Landesherr hat
seine ehemalige Stellung als eines ausserhalb des
Volks stehenden Rechtssubjects mit der Stellung des
obersten Willensorgans in ihm vertauscht.1 So gross
und bedeutend jedoch auch diese Veränderung am In-
v. Gerber, Staatsrecht. 6
[82]Zweiter Abschnitt.
halte des Rechts der deutschen Fürsten ist, so hat es
doch damit die Festigkeit eines historischen Individual-
rechts nicht verloren; ein ursprüngliches eigenes Recht
hat, der politischen Entwickelung des Volks, mit der es
verbunden ist, folgend, eine tief greifende Veränderung
an sich selbst vollziehen lassen, aber es hat damit den
Rechtsgrund seiner Existenz nicht aufgegeben.2 Auch
innerhalb des neuen Staatswesens bewahrt das Recht
der deutschen Monarchen die Weihe und Ehrwürdigkeit
altangestammten Fürstenrechts.3
Die deutschen monarchischen Staaten sind Erb-
monarchieen, d. h. solche, bei welchen die Thronfolge
in den Formen des Erbrechts vermittelt wird.1 Da aber
der zum rechtlichen Organismus consolidirte Staat ein
untheilbares Ganze mit einer monarchischen Institution
bildet, so kann auch die Thronfolgeordnung nur so ge-
[83]§. 29. Der Monarch.
artet sein, dass sie von mehreren neben einander Be-
rechtigten des Herrschergeschlechts immer nur Einen
zum Eintritt als Monarch beruft. Diese Aufgabe er-
füllt die jetzt in allen deutschen Staaten als Thronfolge-
ordnung geltende Primogeniturordnung.2 Ihr Be-
stehen beruht mithin nicht mehr allein auf einem Satze
des fürstlichen Hausrechts, sondern auf der Verfas-
sung selbst, welche in ihr recht eigentlich ihren Abschluss
findet. Ihre verfassungsrechtliche Bedeutung prägt sich
in den beiden Sätzen aus: 1. dass unter den mehreren
Anwärtern immer nur Einer als Monarch eintreten kann,
und, 2. dass dieser, so lange es sich um die Folge der
Descendenten eines schon unter der Fügung des Primo-
geniturrechts lebenden Herrschers handelt, immer nur der
durch Erstgeburtsordnung Berufene sein kann.3
Es kann aber der Fall eintreten, dass der Kreis
aller durch die bestehende Primogeniturordnung Be-
rufenen erschöpft ist, und die Reihe nunmehr an
6 *
[84]Zweiter Abschnitt.
Agnaten des fürstlichen Hauses oder sonstige Berech-
tigte kommt, deren Recht vor der Einführung der Erst-
geburtsordnung begründet war und auch bei deren spä-
terer Einführung ausserhalb des Kreises ihrer Herrschaft
geblieben ist. Auch hier äussert nun zwar das Ver-
fassungsrecht den Einfluss, dass nur Einer und dieser
wieder mit sofortiger Unterwerfung unter das Primo-
geniturrecht eintreten kann; auf die Entscheidung der
Frage aber, wer dieser Eine sei, will die Erstgeburts-
ordnung nicht rückwirkend einwirken, vielmehr kann
diese nur nach Massgabe des zur Zeit der Entstehung
des Anspruchs herrschenden Rechts oder des Haus-
rechts überhaupt beantwortet werden.4 Darüber lässt
sich freilich etwas Allgemeines nicht aufstellen.5 Geben
die Dispositionen des Hauses (fürstliche Testamente,
Theilungsverträge, Vergleiche, Verzichte, sonstige Ord-
nungen), oder seine Observanz, oder die ältere Landes-
verfassung keine Entscheidung, so kann von Bedeutung
werden die Lehnsfolgeordnung des gemeinen und be-
sonders des Reichsrechts, der Einfluss der gesammten
Hand, unter Umständen auch die Erbfolgeordnung bei
allodialen Stammgütern, — alles diess beurtheilt nach
Massgabe des älteren deutschen Fürstenrechts.6 Wenn
[85]§. 29. Der Monarch.
Erbverbrüderung, oder lehnsherrliches Heimfallsrecht,
oder kaiserliche Eventualbelehnung, oder Belehnung zu
gesammter Hand den Rechtstitel der Thronfolge bilden,
so werden häufig die constituirenden Acte selbst für die
Frage der Ordnung des Anfalls von Bedeutung sein.
Welches aber auch der Grund eines aus der Ab-
stammung vom erwerbenden Ahnherrn abgeleiteten An-
rechts auf die Thronfolge sei, immer ist es in der Person
des Berechtigten ein ursprünglich eigenes, und jeder
willkührlichen Verfügung7 des Monarchen wie der Staats-
6
[86]Zweiter Abschnitt.
gewalt entzogen, — ein Satz, in welchem das ältere
Hausrecht und das heutige Verfassungsrecht, beide aus
selbständigen Gründen, zusammenstimmen.8
Für jeden Anspruch auf ein Thronfolgerecht, wel-
cher auf die Abstammung von einem höheren Erwerber
[87]§. 30. Der Monarch.
gestützt wird, bestehen aber weiter folgende allgemeine
Voraussetzungen. 1. Das Descendenzverhältniss muss
ein eheliches sein, d. h. jedes Mitglied der Ahnenlinie
bis auf den Prätendenten herab muss in einer bürgerlich
gültigen Ehe erzeugt sein;1 daher Uneheliche, Legiti-
mirte,2 sowie auch Adoptirte weder die Anwartschaft
fortleiten, noch auch selbst das Thronfolgerecht erwerben.
2. Die Ehen müssen ebenbürtige gewesen sein. Eben-
bürtig ist nach deutschem Staatsrechte immer die Ehe
eines Prinzen mit einer Frau, welche einem deutschen
regierenden Fürstenhause, oder dem Hause einer Familie
des deutschen hohen Adels, oder einem ausländischen
christlichen Regentenhause angehört und in ihrem Hause
für ebenbürtig gilt. Eine Erstreckung der Ebenbürtig-
keit auf andere Personen kann durch ausdrückliche oder
observanzmässige Festsetzung des Hausrechts gültig er-
folgen, muss aber als besonderes Recht gegenüber dem
allgemeinen betrachtet werden. Einer Missheirath wer-
[88]Zweiter Abschnitt.
den durch Anerkennung aller rechtlich interessirten
Agnaten die Wirkungen einer ebenbürtigen Ehe beige-
legt.3 3. Die neueren Hausgesetze bestimmen, dass
nur durch solche Ehen, welche mit Zustimmung des
Monarchen als des Oberhauptes des fürstlichen Hauses
eingegangen sind, das Thronfolgerecht fortgepflanzt
wird.4 4. Nur auf Männer, welche durch Männer von
dem entscheidenden Ahnherrn abstammen (s. g. Agnaten),
wird in Deutschland das Thronfolgerecht übertragen.
Für den Fall des gänzlichen Erlöschens des Manns-
stammes berufen einzelne Verfassungsurkunden even-
tuell auch die Cognaten, in deren Hand sich sodann,
wenn der Anfall einmal geschehen ist, das agnatische
Princip sofort wieder erneuert; aber weder über die
Ordnung, nach welcher der Anfall erfolgt, noch auch
darüber, ob beim Eintritte der Cognatensuccession auch
eine Frau Monarch werden kann, lassen sich allgemein
geltende Rechtssätze aufstellen.5 In manchen Staaten
[89]§. 30. Der Monarch.
wird diese Cognatensuccession noch durch den Vorzug
Erbverbrüderter oder aus Eventual- und Gesammtbe-
lehnungen oder lehnsherrlichen Heimfallsrechten Be-
rechtigter zurückgedrängt. 6 5. Derjenige, welcher hier-
nach zum Eintritte in das Monarchenrecht im concreten
Falle wirklich berufen ist, muss aber, um wirklich
Monarch werden zu können, zur Uebernahme des
Monarchenberufs befähigt sein.7 Ist er wegen geistiger
oder körperlicher Gebrechen hierzu unfähig, so sollte
er bei der Thronfolge übergangen werden; fast alle
neueren Verfassungsgesetze jedoch schliessen ihn nicht
aus, sondern ordnen in diesem Falle nur eine Regent-
schaft an.8
Mit dem Ausscheiden des bisherigen Monarchen
ist auch das Monarchenrecht des durch die Thronfolge-
ordung zunächst Berufenen sofort eingetreten; dieser
Eintritt erfolgt von Rechtswegen, und nicht erst auf
Grund einer besonderen Erklärung des Thronfolgers.
Denn das ist die Bedeutung der Thronfolgeordnung für
den Staat, dass nicht bloss jeder Zweifel über die Per-
son des Thronfolgers beseitigt, sondern auch jede Mög-
lichkeit einer Unterbrechung des Staatslebens ausge-
schlossen werde.1 Nun pflegt zwar der neue Monarch
seinen Regierungsantritt durch mancherlei Acte zu so-
lennisiren: er erlässt ein Manifest, verspricht in beson-
derer Urkunde oder den Ständen gegenüber die Auf-
rechterhaltung der Verfassung, empfängt dann die Hul-
digung der Stände; aber diese Acte beruhen auf keiner
staatsrechtlichen Nothwendigkeit, indem weder die fort-
dauernde Geltung des Verfassungsrechts, noch der An-
fang der staatsbürgerlichen Pflichten gegen das Staats-
oberhaupt durch sie bedingt ist.2 Die allgemeine Vor-
[91]§. 31. Der Monarch.
aussetzung dafür, dass der neue Monarch die in seinem
Berufe liegenden Rechte auch persönlich ausübe, ist die,
dass er das Alter der Thronmündigkeit erreicht habe,
welches jetzt meistens auf die Vollendung des acht-
zehnten Lebensjahrs bestimmt ist.3
Die rechtliche Bedeutung der Thronfolge besteht
darin, dass das monarchische Organ des Staats nunmehr
einen neuen persönlichen Träger erhalten hat. Der
Staat selbst und sein Recht wird durch diesen Personen-
wechsel nicht berührt.4 Daher ist gar kein Grund vor-
handen, aus Anlass dieses Ereignisses die Frage auf-
zuwerfen, ob das, was bisher rechtmässig bestanden
hat, auch ferner als zu recht bestehend gelten müsse,
oder, wie man sich gewöhnlich ausdrückt, ob der
Regierungsnachfolger die Regierungshandlungen seines
Vorgängers anerkennen müsse. Schon die Erhebung
einer solchen Frage im heutigen Staatsrechte würde
einen Grundirrthum voraussetzen; nur im älteren deut-
schen Staatsrechte erschien sie möglich, weil man sich
die Stellung des Landesfürsten damals mehr als die
des Subjectes eines Vermögenskreises dachte, welche auf
2
[92]Zweiter Abschnitt.
den Thronfolger wie auf einen Erben übertragen würde.5
Jetzt ist von einer erbrechtlichen Verbindung des alten
und des neuen Monarchen nicht mehr die Rede. Der
Thronfolger empfängt in dem Monarchenrechte nicht
ein in der Vermögenssphäre des früheren Monarchen
enthaltenes Gut, eine „Staatsverlassenschaft,“ sondern
er übernimmt nach ihm die Ausübung eines Berufs, des-
sen Existenz und Machtfülle durch das objective Recht
des Staats bestimmt wird.6 Die Thronfolgeordnung
ist mithin nur die rechtliche Bestimmung der Personen,
welche in zeitlicher Succession im Staate als Inhaber
seines höchsten Willensorgans hervorzutreten haben.7
Das Monarchenrecht kann von seinem Inhaber je-
derzeit durch Thronentsagung (Abdication) kraft per-
[93]§. 32. Der Monarch.
sönlichen Entschlusses aufgegeben werden. Die Wir-
kung eines solchen Verzichts ist immer die, dass nun
der nach der Thronfolgeordnung Nächstberufene eintritt.
Eine Entsagung zu Gunsten eines überhaupt nicht, oder
doch zunächst nicht berufenen Dritten ist unstatthaft,
da die Thronfolgeordnung nur zu dem Rechte, Monarch
zu sein, berufen, nicht aber auch zu einer Verfügung
über dieses Recht ermächtigen will.1 Ebensowenig
kann eine Entsagung gültig auf Zeit oder unter Be-
dingungen geschehen, welche den Inhalt des Monarchen-
rechts für den Nachfolger beschränken würden; denn
der verfassungsrechtliche Character des Monarchenrechts
schliesst jede auf individueller Disposition beruhende
zeitliche und andere Beschränkung seines Inhalts aus.2
[94]Zweiter Abschnitt.
Der Vorbehalt eines Rückfalls an den Entsagenden
muss überhaupt als unzulässig betrachtet werden, da die
Thronfolgeordnung jetzt eine absolute Ordnung sein
will, welche keinerlei willkührliche Modification ge-
stattet.
Andere rechtliche Verlustgründe3 des Monarchen-
rechts kennt das heutige deutsche Staatsrecht nicht.
In der Natur der Sache liegt es, dass der Monarch
sich bei der Ausübung seiner Herrscherrechte auf die
oberste Leitung des Staatswesens beschränken muss.
Die Ausführung im Einzelnen überlässt er seinen Ge-
hülfen, den Staatsdienern. Ueber das Mass seiner per-
sönlichen Theilnahme an der Arbeit der Staatsverwaltung
hat er allein zu entscheiden, indem es, abgesehen von
jenen höchsten und wichtigsten Herrscherhandlungen,
bei denen die persönliche That des Monarchen erwartet
wird,1 seinem Ermessen anheimgestellt ist, in welchem
2
[95]§. 33. Der Monarch.
Umfange er insbesondere die Minister zum selbständigen
Handeln ermächtigen will. Auf der anderen Seite aber
unterliegt der Wille des Monarchen, persönlich zu
regieren, mehrfachen Beschränkungen. Zuvörderst ist
die Ausübung der richterlichen Gewalt der persönlichen
Einwirkung des Monarchen völlig entzogen. Sodann
fordert die Verfassung oder das sonstige Recht, dass
gewisse Regierungshandlungen nur unter Mitwirkung
bestimmter Behörden (z. B. des Staatsraths) oder nur
unter Beobachtung einer bestimmten Instanzenfolge vor-
genommen werden. Eine ganz allgemeine Schranke aber
ist die, dass keine Verfügung des Monarchen in Regie-
rungsangelegenheiten2 anders als mit der Gegenzeich-
1
[96]Zweiter Abschnitt.
nung wenigstens eines3 verantwortlichen Ministers gültig
erlassen werden kann.
Unter den Beweggründen, welche den Monarchen
bestimmen können, die Minister vorübergehend zu einer
mehr als gewöhnlichen Selbständigkeit in der Erledigung
der obersten Regierungsgeschäfte zu ermächtigen, nimmt
eine hervorragende Stelle die Verhinderung eigenen per-
sönlichen Handelns in Fällen der Abwesenheit oder
Krankheit ein. Wirken aber diese Verhinderungsgründe
so stark, dass der Monarch auch diejenigen Handlungen,
welche er sich vorzugsweise zu persönlicher Ausführung
vorbehielt, fremder Erledigung überlassen muss, so
mag er wohl für die Zeit seiner Verhinderung einen
Stellvertreter durch öffentliche Erklärung bestellen,4
2
[97]§. 33. Der Monarch.
der zur auftragsmässigen Vornahme gewisser Geschäfte
oder gewisser Arten derselben Namens des Monarchen
von ihm berufen wird; dabei ist auch der Monarch
weder in der Wahl der Person, 5 noch bezüglich des
Umfangs der ertheilten Vollmacht im Allgemeinen be-
schränkt. 6 Diese Aushülfe durch Stellvertretung soll
freilich nur für Verhinderungsfälle von kürzerer Dauer
gestattet sein. Ist die Verhinderung eine immerwährende
oder auch nur voraussichtlich langdauernde, 7 so fordern
die Verfassungen die Vertretung des Monarchen durch
einen Regenten. 8
Ist der Monarch minderjährig, 1 oder wegen Ge-
brechen 2 regierungsunfähig, oder auf so lange an der
Führung der Regierung verhindert, 3 dass eine Fürsorge
durch blosse Stellvertretung unzulässig ist, so tritt der
Fall der Regentschaft ein. Diese ist eine unvollkommene
Art der Thronfolge; der Regent hat die Befugnisse,
welche das Monarchenrecht gewährt, und zwar als eigene,
nicht als aus fremdem Willen abgeleitete, — aber er
hat sie in fremdem Namen und nur auf so lange auszu-
8
[99]§. 34. Der Monarch.
üben, als das Bedürfniss der Regentschaft dauert. 4 Die
Nothwendigkeit einer Regentschaft ergiebt sich im Falle
der Minderjährigkeit des Monarchen von selbst; im
Falle der Regierungsunfähigkeit aber setzt sie ein be-
sonderes Gesetz voraus, welches entweder vorsorglich
durch den Monarchen, der damit bezüglich des schon
jetzt als unfähig erkannten zukünftigen Thronfolgers
sorgen will, oder, wenn die Unfähigkeit des Monarchen
während seiner Regierung eintritt, durch einen unter
Mitwirkung der höchsten Staatsstellen gefassten Be-
schluss der volljährigen Agnaten veranlasst wird;5 im
Falle der Verhinderung des Monarchen durch längere
7 *
[100]Zweiter Abschnitt.
Krankheit oder Abwesenheit mag die Einsetzung einer
Regentschaft auch durch seine eigene Erklärung bewirkt
werden. 6 Durch blosse Willkühr des Monarchen, also
abgesehen von einem verfassungsmässigen Grunde,
kann die Bestellung einer Regentschaft nicht herbei-
geführt werden. 7
Aus dem Begriffe der Regentschaft als einer un-
vollkommenen Art der Thronfolge ergiebt sich, dass
das Recht, als Regent berufen zu werden, denselben
Personen zustehen muss, welchen die Thronfolge über-
haupt gebührt, und zwar auch nach Massgabe der
bestehenden Thronfolgeordnung; 8 eine besondere Be-
5
[101]§. 34. Der Monarch.
dingung des Eintritts des hiernach Berechtigten ist
jedoch, dass er zur Zeit des Anfalls thronmündig sei. 9
Selbstverständlich ist es, dass nur ein regierungsfähiger
Agnat Regent sein kann. Nicht alle Verfassungen haben
jedoch diesen Standpunkt festgehalten, indem manche
unter dem Einflusse des unrichtigen Princips der Vor-
mundschaft 10 dazu geführt worden sind, jene recht-
liche Ordnung durch Dazwischenschieben eines Rechts
der Mutter oder Gemahlin zu stören, oder sie gar
[102]Zweiter Abschnitt.
einem willkührlichen Bestimmungsrechte des früheren
Monarchen preis zu geben. 11
Der Regent hat alle Rechte auszuüben, welche den
Inhalt des Monarchenrechts bilden, 12 sofern nicht die
Verfassung einzelne derselben ausnimmt. So bestimmen
manche, dass er keine Aenderung der Verfassung vor-
nehmen dürfe, oder dass eine solche nur auf die Dauer
der Regentschaft gelte, noch andere binden ihn bei
manchen Handlungen an die Zustimmung eines Fami-
lienraths, und fordern, dass er in gewissen Fällen das
Gutachten des Regentschaftsraths vernehme. 13 Der
Monarch, in dessen Namen der Regent herrscht, hat
weder ein Recht, selbst Regierungshandlungen vorzu-
nehmen, noch einen Einfluss auf die Entschliessungen
[103]§. 34. Der Monarch.
des Regenten zu fordern. Auch die Eigenschaft der
Nichtverantwortlichkeit kommt dem Regenten als sol-
chem zu. 14
Die Regentschaft erlischt von selbst, 15 wenn der
Monarch die Thronmündigkeit erreicht, wenn er wieder
in das Land zurückkehrt, aufhört krank zu sein, und,
falls die Regentschaft wegen Regierungsunfähigkeit des
Monarchen durch ein Gesetz bestellt war, sobald ein
neues Gesetz die Regentschaft wegen eingetretener Re-
gierungsfähigkeit des Monarchen für beendigt erklärt. 16
Die Ausführung der Staatsverwaltung, deren oberste
Leitung durch den Willen des Monarchen geschieht,
erfordert die Mitwirkung einer Menge einzelner Kräfte,
welche sich an der zur Erfüllung der mannichfachen
Aufgaben des Staats nothwendigen Arbeit betheiligen.
In einem allmählichen Entwickelungsprocesse hat sich
in den einzelnen deutschen Staaten eine kunstvolle Or-
ganisation der Staatsarbeit herausgebildet, welche auf
einer Sonderung der verschiedenen materiellen Richtun-
gen der letzteren beruht, 2 und die einzelnen Arbeits-
aufgaben auf eine Reihe von Aemtern vertheilt. Das
Bestehen dieser Aemter mit ihrem planvollen Zusammen-
wirken ist eine der wesentlichsten Voraussetzungen ord-
nungsmässiger Ausübung der Staatsgewalt, sowie über-
haupt auf ihm ein grosser Theil der Erfolge beruht,
welche der deutsche Staat für die Cultur des Volks er-
rungen hat. Zugleich enthält diese Organisation mit
[105]§. 35. Die Staatsdiener.
ihren mannichfachen controlirenden Instanzen eine der
wichtigsten Bürgschaften für die Rechtmässigkeit des
staatlichen Wirkens. 3 Jedes einzelne dieser Aemter be-
darf nun seine Vertretung durch eine oder mehrere Per-
sonen, 4 welche die Ausführung der mit demselben ver-
2
[106]Zweiter Abschnitt.
bundenen Functionen als ihre besondere Pflicht überneh-
men. Sie sind Diener und Gehülfen des Monar-
chen als solchen;5 sie entlehnen die Motive ihres
amtlichen Handelns aus seinem Willen, insofern er sich
nach ordnungsmässiger Verkündigung und Mittheilung
als Gesetz, Verordnung oder Instruction, als Wille des
Staats darstellt. 6 Dieser letztere Gesichtspunkt ist es,
welcher in ihrer Bezeichnung als Staatsdiener her-
vortritt.
Bei dieser Bedeutung der Staatsdiener erscheint die
Regulirung ihrer rechtlichen Stellung, welche sie dem
Einflusse willkührlicher Bestimmung entzieht, 7 als eine
für das ganze Staatsleben wichtige Angelegenheit. Und
wirklich enthalten nicht nur die Verfassungsurkunden
einzelne hierauf bezügliche Festsetzungen, 8 sondern es
sind auch in den meisten deutschen Staaten ausführliche
[107]§. 35. Die Staatsdiener.
Gesetze darüber erlassen worden. 9 Als Staatsdiener im
Sinne des hieraus gebildeten Rechts werden aber nur
solche Personen betrachtet, welche vom Monarchen
zu dauernder Ausübung der in einem bestimm-
ten Staatsamte regulirten Thätigkeit berufen
sind. Hieraus ergiebt sich von selbst, dass weder die
Staatsbürger in der Ausübung ihrer staatsbürgerlichen
Rechte und Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten,
noch die Mitglieder der Ständeversammlung als Staats-
diener betrachtet werden können; ebensowenig gehören
dahin die Aerzte und Advocaten, obschon die Ausübung
ihres wissenschaftlichen Gewerbes obrigkeitliche Auto-
risirung voraussetzt. 10 Auch werden mit Recht Die-
jenigen nicht zu den Staatsdienern gezählt, welche nur
[108]Zweiter Abschnitt.
zu untergeordneten factischen Dienstleistungen für eine
Staatsbehörde bestellt sind.11
Die Verschiedenheit der Aemter, für welche die
Staatsdiener berufen werden, gestattet eine Scheidung
derselben nach Classen, an welche sich mancherlei recht-
liche Besonderheiten anknüpfen. Man unterscheidet die
Staatsdiener, welche die eigentlich obrigkeitlichen Aemter
inne haben, von denjenigen, welchen eine nichtobrigkeit-
liche Function für den Staat zugewiesen ist,12 und unter
jenen treten die Justizbeamten vermöge ihrer beson-
deren Rechte hervor. Auch die rechtliche Stellung der
Minister ist in mancher Beziehung eine andere als die
der übrigen Staatsdiener.13 Nach ganz eigenthümlichen
Gesichtspunkten endlich werden die Verhältnisse der
Militärbeamten beurtheilt.
Wer in das Verhältniss eines Staatsdieners eintritt,
widmet seine ganze Kraft der Arbeit für den Staat und
erklärt diese für den Beruf seines Lebens. Er über-
nimmt nicht die Verpflichtung zu einer Summe einzelner
Leistungen, sondern unterstellt für Zwecke des Amts
seine ganze Persönlichkeit der Verfügung des Staats-
oberhaupts und seiner berufenen Vertreter. Daher ist
seine Rechtsstellung nicht die eines vertragsmässig Obli-
girten, sondern eines solchen, der in einem organischen
Pflichtverbande unter dem Gewaltrechte eines obersten
Dienstherrn steht.1
Hiernach ist er verpflichtet, alle Obliegenheiten
seines Amts mit der grössten Gewissenhaftigkeit, Sorg-
falt und sittlichen Reinheit zu erfüllen,2 und auch die-
jenigen seiner Stellung angemessenen Dienste zu über-
nehmen, welche ihm ausserdem für den Staat übertragen
werden. Besondere Pflichten sind die der Amtsver-
schwiegenheit und einer seiner Ehrenstellung entspre-
chenden sittlichen und gesellschaftlichen Führung.3 Er
ist einer eigenen Disciplinargewalt unterworfen.4 Dem
Monarchen ist er Treue5 und den Anordnungen seiner
[111]§. 36. Die Staatsdiener.
Vorgesetzten Gehorsam schuldig; jedoch ist er von der
eigenen Verantwortlichkeit für die Vollziehung wider-
rechtlicher Befehle nur dann befreit, wenn er ihre Zu-
rücknahme vergebens zu erwirken versucht hat.6 Nur
5
[112]Zweiter Abschnitt.
die richterlichen Beamten sind in Ausübung ihrer richter-
lichen Thätigkeit von jeder höheren Weisung unabhängig.
Das amtliche Handeln, zu welchem der Monarch den
Staatsdiener durch die Anstellung mit dem Anspruche
auf öffentliches Vertrauen und auf Anerkennung als
staatliche Autorität7 ermächtigt hat, soll der Verfassung
und den Gesetzen gemäss sein, weshalb in den von ihm
zu leistenden Diensteid zugleich das Versprechen der
Beobachtung der Verfassung aufgenommen wird. Auf
die Fortdauer seiner amtlichen Dienste überhaupt, oder
dieser bestimmten Dienste hat er jedoch kein Recht;
seine Bestellung zur Vertretung eines Amts kann vom
Monarchen jederzeit widerrufen8 und nicht minder sein
6
[113]§. 36. Die Staatsdiener.
bisheriges Amt mit einem anderen angemessenen ver-
tauscht werden.9
Das Staatsdienstverhältniss hat nun neben diesem
seinem hauptsächlichen Inhalte noch einen anderen, wel-
cher sich auf die persönliche Stellung des Beamten be-
zieht. Als Gegenwirkung10 seines Pflichtverhältnisses tritt
zunächst der Anspruch des Staatsdieners auf die seinem
Amte entsprechende Dienstehre (Titel und Rang) her-
vor. Sodann hat er ein Recht auf die damit verbundene
Besoldung. Diese ist eine gesetzlich oder vertrags-
mässig bestimmte Rente zur Bestreitung seines standes-
mässigen Unterhalts,11 welche auch nach seiner Ent-
hebung vom Amte als Pension12 fortdauert. Diese
v. Gerber, Staatsrecht. 8
[114]Zweiter Abschnitt.
Befugnisse, welche dem Staatsdiener auf die Lebens-
dauer13 zukommen, haben den Character wohlerwor-
bener Rechte.
Das Staatsdienstverhältniss wird begründet durch
eine Verfügung des Monarchen, welche die Anstellung
für ein Staatsamt bestimmt und die ganze damit ver-
bundene Rechtsstellung auf den Angestellten überträgt.
Ihrem allgemeinen Character nach gehört eine solche
Verfügung in die Classe der Privilegien. Hat der An-
zustellende seine Bereitwilligkeit zum Eintritte in den
Staatsdienst schon dadurch, dass er als Candidat auf-
getreten ist, zu erkennen gegeben, so bedarf es nur der
Einhändigung eines Anstellungsdecrets, welches aus
dem allgemeinen Staatsdienerrechte zu ergänzen ist; ist
jenes nicht der Fall, so pflegen der Anstellung Verhand-
lungen voranzugehen, deren Ergebniss nach Umstän-
den in das Decret aufgenommen wird.1
Die Wahl der Anzustellenden ist ein Recht des
Monarchen. Indessen verlangen die Gesetze, dass regel-
mässig nur Inländer und dass nur solche Personen ge-
wählt werden, welche sich durch Erstehung der vorge-
schriebenen Prüfungen als qualificirt ausgewiesen haben;
auch ist particularrechtlich den Collegien ein Vorschlags-
recht, bisweilen auch den Ständen ein Präsentationsrecht
bei der Besetzung gewisser Aemter eingeräumt. Ein
Recht, zum Staatsdiener gewählt zu werden, lässt sich
ebensowenig begründen,2 als eine allgemeine staats-
bürgerliche Pflicht zum Eintritte in das Staatsdienstver-
hältniss.3
Die Rechte des Angestellten auf Titel, Rang und
Gehalt beginnen im Zweifel mit dem Datum des De-
crets,4 seine amtlichen Functionen mit der Einweisung
in das Amt, und seine Anerkennung als amtliche Auto-
1
8*
[116]Zweiter Abschnitt.
rität Seitens des Publicums mit der öffentlichen Bekannt-
machung der Anstellung. Der Angestellt bekräftigt
seine rechtlichen Verpflichtungen durch einen Diensteid.
Der Staatsdiener hat das Recht, freiwillig aus
dem Dienstverhältnisse auszuscheiden. Er kann um seine
Entlassung bitten, welche ihm gewährt werden muss,
sofern sie nicht unzeitig verlangt wird.1 Der freiwillig
Ausscheidende tritt nicht nur aus seinen Pflichten, son-
dern auch aus allen damit verbundenen Rechten heraus.
Nur wenn der Grund des Ausscheidens in dem Eintritte
der Dienstuntüchtigkeit oder höheren Lebensalters liegt,
darf er mit Beibehaltung von Titel, Rang und einer für
diesen Fall gesetzlich bestimmten Pension ausscheiden;
den Ministern wird dieses Recht in der Regel auch ohne
die erwähnten Voraussetzungen beigelegt.2
Der Monarch hat das Recht, einen Staatsdiener für
immer oder nur vorübergehend3 unter Gewährung der
4
[117]§. 38. Die Staatsdiener.
gesetzlichen Pension und unter Fortdauer von Titel und
Rang in den Ruhestand zu versetzen, zu pensioniren.
Particulargesetze knüpfen bisweilen dieses Recht des
Monarchen im Interesse des Fiscus an bestimmte Voraus-
setzungen.4 Der Pensionirte tritt jedoch nicht ganz aus
dem Kreise seiner Pflichten heraus; er muss sich unter
Umständen5 die Wiederberufung zur Uebernahme eines
entsprechenden Staatsamts gefallen lassen; auch ist sein
Recht auf die Fortdauer der Pension kein absolutes,
sondern von mancherlei persönlichen Voraussetzungen
abhängig.6
Ein Staatsdiener kann seines Dienstes mit Verlust
von Titel und Rang und ohne Anspruch auf Pension
entlassen werden. Bei richterlichen Beamten setzt
diess ein richterliches Urtheil voraus. Bei anderen
Staatsdienern kann die Entlassung auch durch eine ad-
ministrative Verfügung als Folge eines Dienstvergehens
oder einer sonstigen mit der Würde und Stellung des
3
[118]Zweiter Abschnitt.
Staatsdieners unvereinbaren Handlung erfolgen. Die
Gesetze schreiben dafür ein eigenes Verfahren und
schützende Formen vor.7
Dienstentsetzung (Cassation), eine besonders
schimpfliche Art der Entlassung, findet nur als Folge
eines Urtheils des Strafgerichts statt.
Im Monarchen hat der Staat den persönlichen Ver-
treter seines Willens. Aber diese Vertretung soll so be-
schaffen sein, dass sie den wirklichen Inhalt des Staats-
willens zur Erscheinung bringt. Die nächste Garantie
hierfür liegt in der Verpflichtung, nach Massgabe des
bestehenden Rechts zu regieren. Nicht alle Regierungs-
handlungen indessen sind Gesetzanwendungen, da die
Staatsgewalt durch die stetige Entwickelung des Volks-
lebens zu immer fortschreitender Arbeit in der För-
derung und Sicherung der allgemeinen Interessen ge-
führt wird. Bei der Schaffung neuer Ordnungen und
Gesetze, welche das Bedürfniss des Volks verlangt, soll
[119]§. 39. Die Landstände.
eine Sicherheit dafür bestehen, dass der persönliche
Wille des Monarchen mit der sittlichen Ueberzeugung
des Volks zusammentreffe. Denn von dem sittlichen
Bewusstsein des letzteren sollen die materiellen Motive
des Staatswillens ausgehen. Sonach bedarf der Staat
noch ein besonderes Organ, welches die beiden Auf-
gaben erfüllt, die Rechtmässigkeit des Regierens zu
sichern und die sittlichen Ueberzeugungen des Volks
zum unmittelbaren und wirksamen Ausdrucke zu bringen.
Dieses Organ sind die Landstände; ihre Aufgabe ist
nicht: zu herrschen, sondern beschränkend zu dem
herrschenden Willen des Monarchen hinzuzutreten, so
dass dieser erst zu rechtlicher Existenz gelangt, wenn
er da, wo es die Verfassung fordert, den Willen der
Landstände in sich aufgenommen hat. 2
Landstände sind von jeher ein Element der deut-
schen Landesverfassung gewesen. Aber die älteren
deutschen Territorialstände können nur in Verbindung
mit den allgemeinen staatsrechtlichen Verhältnissen ihrer
Zeit begriffen werden, mit deren Untergang sie als eine
ihr angehörende Gestaltung verschwunden sind; die
Stände der Gegenwart sind als ein neues Institut aus
dem Boden eines völlig veränderten Staatsrechts hervor-
gewachsen. 3 Die älteren deutschen Stände, Prälaten,
[120]Zweiter Abschnitt.
Ritterschaft und Städte, sahen sich einer Landeshoheit
gegenüber, welche von einer das ganze Volk und Land
gleichmässig beherrschenden Staatsgewalt noch weit ent-
fernt war; 4 sie betrachteten die erstrebte Entwickelung
der landesherrlichen Patrimonialrechte zur Staatsherr-
schaft als Angriff auf ihre individuelle Rechtsstellung
und fanden ihr ständisches Recht in der Verbriefung
ihrer Freiheit von staatlicher Unterwerfung; sie wollten
dem Landesherrn gegenüber als einzelberechtigte, bloss
„zugewandte“ Individuen gelten, daher ihre persönlich
oder durch Bevollmächtigte geführten Verhandlungen
den Character privatrechtlicher Vergleiche hatten. 5 Als
3
[121]§. 39. Die Landstände.
aber die Landeshoheit sich zur wirklichen Staatsgewalt
ausgebildet hatte, fristeten sie nur noch hie und da
eine machtlose Existenz, bis sie allmählich ganz ver-
schwanden. Ganz anders die Landstände, welche seit
der Gründung des deutschen Bundes 6 in der Mehrzahl der
deutschen Staaten durch die neuen Verfassungsgesetze
geschaffen worden sind. 7 Ihre Stellung beruht auf der
5
[122]Zweiter Abschnitt.
Thatsache, dass das Volk in allen seinen Gliedern zu
einem einheitlichen politischen Ganzen verschmolzen ist,
welches von einer und derselben Staatsgewalt gleich-
mässig beherrscht wird, und dass auf der Grundlage des
so geeinten Volks, in welchem isolirte staatsfeindliche
Existenzen nicht geduldet werden, der Staat selbst als
rechtlicher Gesammtorganismus erwachsen ist. Die heu-
tigen Landstände sind ein Glied dieses Organismus,
welchem eine seiner wichtigsten Lebensfunctionen ver-
traut ist. 8 Ihre Aufgabe ist, unter dem Herrscherwillen
des Monarchen den Antheil des Volks an der Bestim-
7
[123]§. 40. Die Landstände.
mung des Staatswillens zur Geltung zu bringen; daher
verhandeln sie mit dem Monarchen nicht als individuell
Berechtigte, nicht in Vollmacht einzelner Personen, Ge-
meinden, Bezirke, sondern als Vertreter aller Interessen
des Volks nach Massgabe der verfassungsmässigen
Autorisation; 9 daher wollen sie nichts weniger als eine
Beschränkung der Staatsgewalt selbst, sondern nur eine
Mitwirkung bei deren Vertretung durch die Person des
Monarchen.
Nach der Bestimmung der Verfassungsurkunden ist
der Wirkungskreis der Landstände im Allgemeinen
folgender. Sie haben ein Recht der Mitwirkung bei
der Gesetzgebung, und zwar so, dass ein Gesetz ohne
ihre Zustimmung nicht entstehen kann; sie haben ein
Recht der Mitwirkung zur Feststellung des Staatshaus-
halts, insbesondere bedarf die Auflegung von Steuern
ihrer Zustimmung; zur Begründung von Staatsschulden,
zur Veräusserung von Staatsgütern ist ihre Geneh-
migung erforderlich; ausserdem haben sie ein allgemei-
nes Beschwerde-, Antrags- und Petitionsrecht, welches
[124]Zweiter Abschnitt.
sich auf alle Theile der Staatsverwaltung erstreckt, sowie
nicht minder das Recht der Ministeranklage; hierzu
kommen dann noch besondere Befugnisse aus Anlass
eines Thronwechsels, des Eintritts einer Regentschaft
und anderer ausserordentlicher, das Staatsinteresse be-
rührender Ereignisse. 1
Die Gesammtheit aller dieser Rechte soll aber nach
Art. 57. der Wiener Schlussacte so geartet sein, dass
dadurch die Vereinigung der ganzen Staatsgewalt in der
Hand des Monarchen nicht gestört wird, vielmehr soll
sie nur die Bedeutung haben, dass das Staatsoberhaupt
in der Ausübung bestimmter Rechte an die Zustim-
mung der Stände gebunden ist. 2 Aber Nichts erscheint
[125]§. 40. Die Landstände.
schwerer, als eine Sicherung der Befriedigung dieser
Forderung im Leben. Es ist unmöglich, die Gränzen
der landständischen Rechte im Voraus für alle einzelnen
Fälle so genau und scharf zu ziehen, dass jedem Zwei-
fel über den Umfang derselben vorgebeugt wäre, sowie
denn auch eine zu grosse Aengstlichkeit dieser Gränz-
bestimmung ein Princip des Misstrauens sanctioniren
würde, das nirgends weniger als hier könnte ertragen
werden. In Folge davon wird in den Grundgesetzen
der Umfang der landständischen Befugnisse, namentlich
in Rücksicht auf die Ordnung des Staatshaushalts in
der Regel so allgemein bezeichnet, dass Landstände,
welche die hieraus deducirten Consequenzen masslos
ausbeuten wollen, leicht das verfassungsmässige Ver-
hältniss der beiden Organe zu verrücken, oder doch
einen das innerste Leben des Staats erschütternden
Conflict hervorzurufen vermögen. Eine Lösung dieser
Schwierigkeit könnte nur von einer weisen Mässigung
beider Theile erwartet werden, welche in einzelnen
Fällen einen Vergleich der schroffen Behauptung ein-
genommener Standpunkte vorzuziehen heisst, und daran
erinnert, dass Verbindungen, welche auf fortgesetztes
Vertragen hinweisen, nicht bestehen können, wenn ein
Theil oder beide Theile alles und jedes Recht, das ihnen
irgendwie zustehen möchte, auch jederzeit ausüben zu
müssen vermeinen. 3 Muss aber ein Conflict über die
2
[126]Zweiter Abschnitt.
verfassungsmässigen Gränzen der beiden Organe durch
rechtliche Entscheidung gelöst werden, so hat es als ein
Satz des deutschen Staatsrechts zu gelten, 4 dass im
wirklichen Zweifelsfalle die Vermuthung für das Recht
des Monarchen ist.
Die Landstände handeln nicht als Einzelne, sondern
als Gesammtheit in der Gestalt öffentlicher Collegien,
welche sich bei jedem Landtage von Neuem constituiren;
Corporationen sind sie jetzt nicht mehr. 1 In den meisten
3
[127]§. 41. Die Landstände.
deutschen Staaten bestehen zwei landständische Collegien,
die erste und die zweite Kammer, 2 welche selbständig
neben einander verhandeln. 3 Erst ein übereinstimmen-
der Beschluss beider Kammern gilt als Beschluss der
Landstände. Indessen giebt es einzelne Angelegenheiten,
welche jede Kammer für sich zu erledigen hat, 4 und
andere, bei deren Entscheidung der zweiten Kammer
ein umfassenderes Recht, als der ersten Kammer zu-
getheilt wird. 5
Ueber die Bildung der beiden Kammern bestehen
keine gemeinrechtlichen Sätze, sondern nur particular-
rechtliche Bestimmungen. Hiernach erscheinen als Mit-
glieder der ersten Kammer in der Regel die Prinzen
des regierenden Hauses, die Häupter der standesherr-
lichen Familien, sodann Diejenigen, welchen der Monarch
die Standschaft erblich oder nur lebenslänglich verliehen
hat, ferner Personen, welche von grösseren Städten oder
anderen Corporationen hierzu gewählt sind, endlich
Solche, welchen die Mitgliedschaft vermöge ihres Staats-
oder kirchlichen Amts zusteht. Die Mitglieder der
zweiten Kammer sind in der Regel durchweg gewählte
1
[128]Zweiter Abschnitt.
Landstände. Aber die Principien der Wahlgesetze der
einzelnen deutschen Staaten sind im höchsten Grade
verschieden; während einige von dem Gesichtspunkte
ausgehen, dass das Volk nicht eine nur nach der Kopf-
zahl zu begreifende Menge, sondern ein nach mannich-
fachen Gesellschaftsgruppen und Interessen gegliederter
Körper sei, und dass auch die Volksvertretung dieser
Natur des Volks als Ganzen entsprechend beschaffen
sein müsse, verläugnen andere den geistigen Character
des Volks, indem sie der unterschiedslosen oder höchstens
nach Steuermassstaben getheilten Masse in der Wahl-
einrichtung einen rein mechanischen Apparat zur Be-
stimmung der Abgeordneten darbieten. 6 Auch darüber
besteht keine Uebereinstimmung, ob die Wahl unmittel-
bar oder mittelbar (durch Wahlmänner) zu vollziehen
sei, ob der zu Wählende dem Kreise der Wähler ange-
hören müsse, oder nicht, und welche Eigenschaften bei
ihm überhaupt vorausgesetzt werden; nur die Forderung
der Unbescholtenheit, persönlichen Unabhängigkeit und
der Erreichung eines gewissen Lebensalters wird allge-
mein gestellt. 7 Das Recht des Gewählten besteht nur
[129]§. 41. Die Landstände.
auf eine gewisse Reihe von Jahren, oder für die Dauer
der Landtagsperiode. 8 Zwischen den Wählern und dem
7
v. Gerber, Staatsrecht. 9
[130]Zweiter Abschnitt.
Gewählten findet kein rechtlicher Zusammenhang statt;
die Aufgabe der Wähler ist mit der vollzogenen Wahl
beendigt, und es steht ihnen ein rechtlicher Einfluss auf
den Gewählten nicht zu, der allein nach eigener Ueber-
zeugung auf Grund seiner verfassungsmässigen Ver-
pflichtung und nicht aus ihrem Willen heraus zu han-
deln hat.9
Die Landstände können sich nicht kraft eigenen
Entschlusses zu öffentlicher Wirksamkeit versammeln,1
sondern nur in Folge einer Berufung des Monarchen,
welche aber in periodisch bestimmten Zeiten und aus
Anlass besonderer Ereignisse statt finden muss.2 Jede
8
[131]§. 42. Die Landstände.
Kammer entscheidet, sobald die Ständeversammlung
ordnungsmässig eröffnet ist,3 über die Legitimation ihrer
Mitglieder, und wählt ihren Präsidenten,4 welcher auf
Grund einer Geschäftsordnung die Verhandlungen leitet
und das Disciplinarrecht des Collegiums über die Mit-
glieder der Kammer ausübt.5 Ein geschäftlicher Ver-
kehr steht den Landständen nur zu mit den Vertretern
des Monarchen, welche zu diesem Behufe an den
Sitzungen der Kammern Theil nehmen.6 Die Regierung
2
9*
[132]Zweiter Abschnitt.
hat meistens freie Wahl, an welche der beiden Kam-
mern sie sich behufs der Anregung einer zur Ver-
abschiedung zu bringenden Frage zuerst wenden will.
Für die Geschäftsbehandlung gilt es als allgemeine
Regel, dass die zu erledigenden Angelegenheiten von
Commissionen vorberathen werden, auf deren Bericht
sodann die allgemeine Berathung und Beschlussfassung
statt findet. Dabei entscheidet die Stimmenmehrheit,
nur ausnahmsweise wird eine grössere Majorität ver-
langt.7
Der Monarch hat das Recht, die Thätigkeit eines
Landtags durch Vertagung zu unterbrechen; nach
Ablauf der Vertagungszeit setzen dann die Landstände
als dieselben Collegien ihre unterbrochenen Arbeiten
fort.8 Der Landtag wird vom Monarchen geschlossen,
wenn die den Landständen zur Erledigung obliegenden
Geschäfte beendigt sind; werden dann dieselben Stände
zu einem neuen Landtage berufen, so treten sie als ein
neu constituirtes Collegium auf.9 Der Monarch hat
aber auch das Recht, die Ständeversammlung aufzu-
6
[133]§. 43. Die Landstände.
lösen;10 alsdann muss innerhalb einer bestimmten Frist
eine neue Wahl der Wahlmitglieder angeordnet werden.
Ausserdem erlischt das Recht einer Ständeversammlung
durch Ablauf der Landtagsperiode.
Einige Verfassungen kennen auch das Institut eines
ständischen Ausschusses,11 welcher in der Zeit, in
welcher die Ständeversammlung nicht in Thätigkeit ist,
die Rechte derselben wahrt und Anträge für den künf-
tigen Landtag vorbereitet.
Das Recht und die Pflicht1 jedes Mitglieds der
Ständeversammlung ist die Kundgebung seiner wahren
Ueberzeugung durch Rede und Abstimmung im stän-
dischen Collegium. Aus der Existenz dieses Rechts
folgt die Nothwendigkeit seiner Sicherung nach ver-
schiedenen Seiten. Eine solche liegt zunächst schon in
dem Satze, dass wegen des verfassungsmässigen Wirkens
der Landstände in der Kundgebung von Ueberzeugungen
und in Abstimmungen als solchen dem Monarchen
[134]Zweiter Abschnitt.
nicht das Recht zusteht, durch eine richterliche oder
sonstige Staatsbehörde Rechenschaft und Verantwortung
zu fordern; dagegen verlangt jene Sicherung nicht, dass
die Landstände in der Ausübung ihres Berufs von der
Unterwerfung unter die allgemeinen Strafgesetze dis-
pensirt seien.2 Sodann ist es eine angemessene Vor-
schrift einzelner Verfassungsurkunden, dass die Thätig-
keit der Volksvertreter nicht durch den Antrag von
Gläubigern auf Verhängung der Schuldhaft gestört
werden dürfe.3 Auch beruht es ferner auf einer rich-
tigen Würdigung der Bedeutung der Volksvertretung,
wenn die gerichtliche Verhaftung eines Mitglieds der
zum Landtage anwesenden Ständeversammlung oder
die Fortdauer einer solchen von der Genehmigung der
Kammer, welcher der Verhaftete angehört, abhängig
gemacht wird;4 wobei es freilich als selbstverständlich
[135]§. 43. Die Landstände.
vorausgesetzt wird, dass diese Genehmigung nie ver-
sagt werde, wenn aus der Angabe der Veranlassung
der Verhaftung erhellt, dass ein Grund der Besorgniss
einer tendenziösen Verfolgung überall nicht vorliege,
wie denn in der That die Verhaftung des unmittelbar
bei der Begehung eines Verbrechens Ergriffenen in der
Regel ohne jene Genehmigung geschehen und fortdauern
darf. Aber die Formulirung dieser Sätze in den ein-
zelnen deutschen Grundgesetzen ist keineswegs überein-
stimmend, indem einige die der Volksvertretung gebüh-
rende Rücksicht bis zu einer allgemeinen Exemtion
der Landstände auszudehnen scheinen.5
Die Mitglieder der Ständeversammlung erhalten
Reisekostenentschädigung und Diäten.
Der Wille des Staats kommt durch die Wirk-
samkeit seiner beiden Organe zur Erscheinung. Der
Rechtskreis jedes dieser Organe und ihr Verhältniss zu
einander ist bisher im Allgemeinen dargestellt worden.
Es bestehen nun aber besondere Rechtssätze darüber,
für welche Aeusserungen des Staatswillens das Zusam-
menwirken derselben erforderlich ist, und für welche
umgekehrt die alleinige Vertretung des Staats durch das
monarchische Organ genügt, sowie darüber, wie im
ersteren Falle dieses Zusammenwirken und im zweiten
dieses Alleinhandeln beschaffen sein müsse. Diese
Sätze, welche sich nach ihrem allgemeinen Character
als Sätze über die Form der rechtlichen Willensäusserung
des Staats darstellen, sollen im Folgenden an den ein-
zelnen Arten der Thätigkeit der Staatsgewalt entwickelt
werden.
Als Gesetzgeber offenbart der Staat seinen Willen
in der Form abstracter Normen.1 Das Bedürfniss sol-
cher Normen besteht für sehr verschiedenartige Interes-
sen des Staatslebens. Vor Allem bedarf es einer festen
gesetzlichen Bestimmung des Staatsrechts selbst —
Grundgesetze, Verfassungsgesetze, Gesetze über den
Staatsdienst, Gemeindeordnungen u. s. w.; sodann for-
dert das öffentliche Interesse, dass die wichtigsten Zweige
der Verwaltung in der Form der Gesetzgebung re-
gulirt und gemäss der fortschreitenden Entwickelung
socialer und öconomischer Verhältnisse immer von Neuem
[138]Dritter Abschnitt.
gesetzlich revidirt werden — Gewerbeordnungen, polizei-
liche Ordnungen der mannichfaltigsten Art, Militärge-
setze, Schulgesetze u. s. w.; nicht minder bedarf die Er-
haltung und Förderung der Rechtsordnung einer fort-
dauernden gesetzgeberischen Thätigkeit — Justizgesetze
für alle Zweige des Rechts; endlich wird auch der für
eine bestimmte Finanzperiode geltende Plan des Staats-
haushalts in der Form eines s. g. Finanzgesetzes fest-
gestellt. Es ist nun nicht zu verkennen, dass die Be-
deutung der Gesetzesform nicht bei allen diesen ver-
schiedenen Arten von Gesetzen gleich, dass vielmehr
die Kraft und Wirksamkeit derselben sehr wesentlich
von dem Einflusse ihres Inhalts bedingt ist. Den Ver-
fassungs- und Verwaltungsgesetzen gemeinsam ist es,
dass sie grösstentheils unmittelbare Regulatoren der
Staatsgewalt selbst sein wollen; aber während jene als
immerwährende und womöglich unangreifbare Normen
gedacht werden, unterliegen diese den wandelbaren
Ansprüchen wirthschaftlicher, socialer und politischer
Interessen. Eine eigenthümliche Stabilität kommt den
Justiz-, insbesondere den Privatrechtsgesetzen zu; denn
die Regulirung der Privatrechtsverhältnisse wird von der
Strömung der grossen Tagesinteressen nur wenig berührt
und kann, wenn sie einmal zweckmässig geschehen ist,
im Ganzen dem fortbildenden Einflusse der Jurisprudenz
und des Rechtslebens überlassen werden.2 Die geringste
[139]§. 45. Die Gesetzgebung.
Congruenz zwischen der Natur des Gesetzes und seinem
Gegenstande findet bei dem s. g. Finanzgesetze statt,
das dem grössten Theile seines Inhalts nach nur schein-
bar ein Gesetz, in Wirklichkeit bloss eine Constatirung
der über gewisse Finanzsätze erzielten Uebereinstimmung
zwischen Regierung und Ständen ist.3 Aber so gross
auch diese inneren Verschiedenheiten der Gesetze sind,
so sind doch die Grundsätze über die Form ihrer Ent-
stehung im Ganzen dieselben, und nur für das Zustande-
kommen von Verfassungs-4 und Finanzgesetzen bestehen
besondere Rechtssätze, in welchen die Eigenthümlichkeit
ihres Wesens Berücksichtigung findet.
Noch weniger haben die sonstigen Verschiedenheiten
der Gesetze den Einfluss, dass hiernach die staatsrecht-
lichen Grundsätze über die Form ihrer Entstehung modi-
2
[140]Dritter Abschnitt.
ficirt würden. Insbesondere ist es hierfür gleichgültig,
ob das Gesetz ganz neue Bestimmungen schafft, oder ob
es bestehende Normen abändert, aufhebt, oder authen-
tisch interpretirt, ferner ob es für das ganze Land oder
nur für einen einzelnen Bezirk, ob es für alle Staats-
bürger oder nur für einzelne Classen derselben gelten
soll.5 Nur Gesetze kirchlichen Inhalts setzen unter
Umständen eine Behandlung voraus, welche neben der
Erfüllung der staatsrechtlichen Erfordernisse auch den
Antheil der Kirche zur Geltung bringt.6
Das Recht der Gesetzgebung steht dem Monarchen
unter Mitwirkung der Stände zu. Seine Befugniss ist
es, ausgeführte Gesetzentwürfe vorzuschlagen (die s. g.
Initiative); die Stände haben, dafern die Verfassung
nicht auch ihnen die Initiative verleiht, nur das Recht,
den Monarchen um Vorlage eines Gesetzentwurfs zu
bitten.1 Der Monarch kann den Entwurf bei der ersten
oder der zweiten Kammer nach freier Wahl zuerst ein-
[141]§. 46. Die Gesetzgebung.
bringen;2 nur das Finanzgesetz muss nach der Bestim-
mung mehrerer Verfassungen zunächst der zweiten Kam-
mer vorgelegt werden.3 Jede Kammer hat den Gesetz-
entwurf zu prüfen und über dessen Annahme oder Nicht-
annahme zu berathen und zu beschliessen; sie hat nicht
das Recht, das Eintreten in die Berathung überhaupt
abzulehnen.4 Die Berathung und Abstimmung kann
mehr oder weniger ins Einzelne gehen, es kann auch,
nach stattgehabter allgemeiner Verhandlung, ein Ent-
wurf im Ganzen angenommen oder abgelehnt werden;
dagegen kann eine Kammer nicht auf ihr Recht der
Zustimmung völlig verzichten.5 Bei der Berathung kann
die Kammer Verbesserungen beschliessen, welche sich
als Modificationen oder Ergänzungen des Entwurfs dar-
stellen.6 Hat eine Kammer die Berathung beendigt und
[142]Dritter Abschnitt.
den Entwurf nicht völlig abgelehnt, so beginnt über die
Vorlage der Regierung und die hierzu von der früheren
Kammer beantragten Veränderungen die Berathung der
anderen Kammer; beide Kammern treten sodann in
Wechselverkehr, bis eine vollständige Einigung der-
selben und damit ein Beschluss der Stände erzielt ist.7
Dem Monarchen steht es jederzeit frei, den eingebrachten
Gesetzentwurf zurückzuziehen; er würde hieran selbst
durch die unveränderte Annahme desselben von Seiten
der Stände nicht gehindert sein.8 Erst wenn die stän-
dische Berathung und Beschlussfassung beendigt ist, hat
er sich frei darüber zu entschliessen, ob er den Entwurf
in seiner nunmehrigen Gestalt durch seine Sanction
zum Gesetze erheben will.9 Er thut diess, indem er
[143]§. 47. Die Gesetzgebung.
ihn unter ausdrücklicher Erwähnung der ständischen
Zustimmung10 in ordnungsmässiger Weise als Gesetz
verkündigt.
Bei allen diesen Beschlussfassungen der Stände
entscheidet die regelmässige Majorität. Nur wenn es
sich um Beschlüsse über einen Gesetzentwurf handelt,
durch welchen die Verfassung abgeändert oder er-
gänzt werden soll, wird eine stärkere Majorität, oder
doch eine mehrmalige Beschlussfassung der Stände er-
fordert.11
Der Satz, dass der Monarch ein Gesetz nur er-
lassen könne, wenn er vorher die Zustimmung der
Stände hierzu erlangt hat, leidet aber eine Ausnahme
in den Fällen der s. g. Nothgesetzgebung. Wenn
nämlich ein dringendes Interesse des Staats die sofortige
Ertheilung eines Gesetzes fordert,1 aber die Stände
9
[144]Dritter Abschnitt.
augenblicklich nicht versammelt sind, auch ihre zeitige
Zusammenberufung unthunlich erscheint,2 so hat der
Monarch kraft einer durch die Verfassung ertheilten
Autorisation das Recht, provisorisch das Gesetz selbst,
d. h. vorläufig ohne ständische Zustimmung zu erlassen,
muss sich jedoch hierbei. auf den jene Ermächtigung
enthaltenden Artikel des Grundgesetzes ausdrücklich
berufen. Ein solches Gesetz kann alles Dasjenige zum
Inhalte haben, was überhaupt durch Gesetze bestimmt
zu werden vermag,3 nur nicht eine Abänderung der
Grundgesetze und der Verfassung, da jene Autorisation
überhaupt nicht anders als innerhalb des Rahmens und
auf dem Boden der letzteren stehend vorhanden ist.
Sobald aber die Ständeversammlung wieder zusammen-
1
[145]§. 47. Die Gesetzgebung.
getreten ist, hat sie sich in der gewöhnlichen Ge-
schäftsform darüber zu erklären,4 ob sie dem provi-
sorisch erlassenen Gesetze nachträglich zustimme oder
nicht. Ist letzteres der Fall,5 so verliert das Noth-
gesetz seine Gesetzeskraft von selbst, ohne dass es
einer besonderen Aufhebung desselben bedürfte. Denn
indem das Gesetz ausdrücklich auf den die provisorische
Gesetzgebung bestimmenden Artikel gestützt worden
ist, hat es vom Gesetzgeber überhaupt nur eine mit
Resolutivcharacter verbundene Lebenskraft erhalten.6
v. Gerber, Staatsrecht. 10
[146]Dritter Abschnitt.
Bis zum Eintritte dieser Auflösung aber hat das provi-
sorische Gesetz als ein wirkliches Gesetz bestanden; die
Auflösung hat keine rückwirkende Kraft.7
Es giebt einzelne Verfassungsurkunden,1 welche
den formellen Begriff des Gesetzes, als einer nur unter
Mitwirkung der Stände zu erzeugenden Norm, auf ein
engeres nach Gegenständen bestimmtes Gebiet beschrän-
ken, indem sie z. B. festsetzen, dass eine die Freiheit
oder das Eigenthum der Personen betreffende allgemeine
Bestimmung nicht anders als im Wege dieser Gesetz-
gebung ertheilt werden soll. Nach diesen Verfassungen
[147]§. 48. Die Verordnungen.
wird ein bedeutender Theil der Gesetzgebung, d. h. der
staatlichen Festsetzung allgemeiner Normen von der
Nothwendigkeit ständischer Zustimmung ausgenommen,
so dass man dann Gesetze unterscheiden muss, welche
der Monarch nur mit, und Gesetze, welche er ohne Zu-
stimmung der Stände ertheilen kann. Die letzteren
kann man zum Unterschiede von jenen Verordnungen
nennen, aber sie sind ihrer inneren Kraft nach nicht
weniger wirkliche und wahre Gesetze.
Wo eine solche Beschränkung nicht ausgesprochen
ist, ist es unmöglich, das Gebiet des Gesetzes im for-
mellen Sinne des Worts durch eine aus der Natur der
Gegenstände genommene Gränze zu umschreiben; viel-
mehr wird die staatliche Aufstellung jedes selbständigen
Rechtssatzes über irgend welche der Staatsgewalt unter-
worfene Angelegenheiten in das Bereich des Gesetzes
zu stellen sein.2 Aber auch bei einer so umfassenden
Bestimmung des Gesetzesbegriffs wird eine Art von
Normirungen nicht mit ergriffen, welche ebenfalls nur
10*
[148]Dritter Abschnitt.
in der Form allgemeiner Vorschriften gegeben werden
kann. Sie betreffen die Ausführung des als Gesetz
oder sonst bestehenden Rechts durch Instruction an die
Behörden, welche mit seiner Vollziehung betraut sind,
durch Bestimmung der geeigneten Mittel seiner Durch-
führung sowie des dabei zu beobachtenden Verfahrens,
und durch erläuternde Vorschriften über die Anwendung
der allgemeinen Grundsätze des Gesetzes im Einzelnen.
Keine dieser Vorschriften will selbst neue Rechtssätze
schaffen; sie setzen vielmehr immer das Dasein solcher
voraus und wollen nur die constante und ordnungsmäs-
sige Anwendung derselben in einer allgemein wirksamen
Weise sichern.3 Auch diese Festsetzungen nennt man
technisch Verordnungen. Das Recht, sie zu er-
lassen, legen die Verfassungsurkunden dem Monarchen
allein, ohne Mitwirkung der Stände, bei. Sie werden
von ihm mit der Contrasignatur des Ministers in der-
selben Weise, wie Gesetze, publicirt.
Wenn hiernach auch die Organisation und Instruc-
tion der Behörden im Allgemeinen unter das Verord-
nungsrecht des Monarchen zu rechnen ist, so leidet diess
doch eine Ausnahme bezüglich der principiellen Orga-
nisation4 sowie der Bestimmung der Competenz und
[149]§. 49. Formwidrige Gesetze.
des Verfahrens der richterlichen Behörden, welche nur
auf dem Wege des Gesetzes festgestellt oder abgeändert
werden kann.
Es ist möglich, dass den hier entwickelten Sätzen
über die Form der Entstehung der Gesetze zuwider ge-
handelt wird, indem ein Gesetz als Verordnung erlassen
wird, dessen Inhalt ständische Verabschiedung gefordert
hätte, oder ein Nothgesetz gegeben wird, ohne dass die
dafür vorgeschriebene Form und die dafür bestehenden
Voraussetzungen gewahrt sind, oder ein Gesetz mit der
Angabe verkündigt wird, dass die verfassungsmässige
Mitwirkung der Stände stattgefunden habe, während diess
gar nicht, oder doch nicht in genügender Weise der Fall
war.1 Da nun die Bedeutung jener Formvorschriften die
ist, dass nur mit Beobachtung derselben ein wirklicher
Act der gesetzgebenden Gewalt entstehen kann, so unter-
liegt es an und für sich keinem Zweifel, dass einer im
Widerspruche mit ihnen stehenden Publication eine rechts-
verbindliche Wirksamkeit nicht zukommt.2 Indessen kön-
4
[150]Dritter Abschnitt.
nen mancherlei Umstände die schroffe Geltendmachung
solcher Nichtigkeiten auf dem Gebiete des Staatsrechts
zurückdrängen. Vor Allem kann es bei der sehr un-
bestimmten Gränze zwischen Gesetz und Verordnung
im einzelnen Falle nicht ganz unzweifelhaft und nicht
allgemein anerkannt sein, dass die ständische Verab-
schiedung rechtswidrig unterlassen worden sei; selbst
die behauptete Formwidrigkeit bei der Verabschiedung
kann zweifelhaft sein. Dabei wird es besonders auf das
zukünftige Verhalten der Ständeversammlung, als des
vorzugsweise betheiligten und zur Entscheidung beru-
fenen Organs ankommen; die Ständeversammlung kann
unter Umständen durch nachträgliche, ausdrücklich oder
stillschweigend ertheilte Anerkennung auch einen heilen-
den Einfluss ausüben.3 Die Frage über das Verhalten
2
[151]§. 49. Formwidrige Gesetze.
gegenüber einer solchen Publication kann für den Ein-
zelnen, wie für die mit der Ausführung derselben be-
trauten Behörden schwierig und bedenklich sein; aber
nur für den Richter, der nicht nach subjectiven Er-
wägungen, auch nicht nach höherer Anweisung, sondern
allein nach Rechtsgrundsätzen zu handeln hat, bedarf
sie einer Beantwortung in bestimmten Regeln.4
Der Richter hat nur wirkliches Recht zur Anwen-
dung zu bringen. Er ist daher verpflichtet, zu prüfen,
ob die angezogene Verordnung eine verfassungsgemässe
und ob das angezogene Gesetz ein wirkliches Gesetz,
oder nur eine mit dem falschen Scheine eines solchen
bekleidete Publication sei.5 Bei dieser Prüfung aber ist
ihm die vom Staatsoberhaupte und dem verantwortlichen
Ministerium ausgehende Beglaubigung der Legalität die
zunächst zu respectirende Autorität. Der Richter em-
pfängt das Gesetz durch Verfügung des Monarchen;
der Monarch bezeugt ihm in der Publicationsformel,
dass die verfassungsmässige Mitwirkung der Stände
stattgefunden habe, dass der Fall einer Nothgesetzge-
bung oder einer königlichen Verordnung gegeben sei, —
dieses Zeugniss des höchsten staatlichen Organs hat
der Richter zunächst zu beachten, er hat weder das
Recht noch die Pflicht, unter Beiseitelegung desselben
sich wegen individueller Zweifel auf den Standpunkt
rücksichtsloser Kritik zu stellen.6 Aber die Wirksam-
[153]§. 49. Formwidrige Gesetze.
keit dieser Beglaubigung hat ihre Gränze. Wenn die
Ständeversammlung geltend macht, dass die behauptete
ständische Mitwirkung nicht, oder nicht ordnungsmässig
stattgefunden hat, oder wenn sie bestreitet, dass die
Verordnung ohne Verabschiedung hätte erlassen werden
können, so ist für den Richter die autoritative Wirkung
des königlichen Zeugnisses durch die Gegenautorität des
anderen staatlichen Organs aufgehoben, und er nun-
mehr auf die eigene Kritik verwiesen.7 Es bedarf so-
gar nicht immer erst der Gegenautorität der Stände, um
für ihn die Bedeutung jenes Legalitätszeugnisses zu ent-
kräften; findet er, dass es mit notorischen und entschei-
denden Thatsachen8 oder unzweifelhaften Rechtssätzen9
6
[154]Dritter Abschnitt.
im Widerspruche steht, so tritt auch hier der Fall selb-
ständiger Prüfung ein, zu welcher er nicht nur berech-
tigt, sondern vermöge seiner Verantwortlichkeit auch
verpflichtet ist.
Der Staat bedarf zur Erfüllung seiner Aufgaben
und zur Erhaltung aller Einrichtungen und Kräfte, auf
deren Zusammenwirken das Staatsleben beruht, der
umfassendsten Geldmittel. Diese findet er zunächst in
den Revenuen seiner Domainen, Forsten, Berg- und
Hüttenwerke, überhaupt der fiscalischen Gewerbe und
Regalien, des Post- und Eisenbahnbetriebs, wozu dann
Einkünfte der verschiedensten Art, als Strafgelder, Spor-
teln u. s. w., hinzutreten; insoweit diese Einnahmen aber
nicht ausreichen,1 tritt die allgemeine Steuerpflicht der
Staatsbürger ergänzend ein, welche sich als eine der her-
vorragendsten Wirkungen ihres staatlichen Subjections-
verhältnisses darstellt.2 Ueber alle diese finanziellen
[155]§. 50. Das Finanzgesetz.
Mittel zu gebieten, sie herbeizuschaffen, zu verwalten
und für Staatszwecke zu verwenden, ist ein Recht der
Staatsgewalt; rücksichtlich der Besteuerung (sowohl
durch Auflegung directer als indirecter3 Steuern) kann
sie diess Recht aber nur im Zusammenwirken beider
Organe, des Monarchen und der Stände, ausüben.4
Für die Art und Weise, in welcher der Staat seine
Finanzgewalt ausübt, besteht nun eine bestimmte Ord-
nung. Auf die Dauer gewisser Finanzperioden, die in
den Verfassungen auf ein Jahr, auch drei und mehr
Jahre5 festgesetzt sind, werden genaue, ins Detail
2
[156]Dritter Abschnitt.
gehende Voranschläge über sämmtliche in Aussicht
stehende Ausgaben und Einnahmen entworfen, aus de-
nen sich dann die Grösse der Summe ergiebt, welche
durch Steuern erhoben werden muss. An sich würde die
Anfertigung dieses Etats eine gewöhnliche Angelegenheit
der Verwaltung sein; denn weder das Recht, jene Staats-
einnahmen (mit Ausnahme der Steuern) zu erheben,
noch auch das Recht, sie zu Zwecken des Staats zu
verwenden, würde einer Ermächtigung durch ein beson-
deres Gesetz bedürfen.6 Da aber die Besteuerung nur
durch ein Steuergesetz geschehen kann, und die Grösse
der Steuer sich allein aus dem Zusammenhange des
ganzen Etats ergiebt, so ist die Gesetzesform auch auf
diesen ausgedehnt und das Steuerbewilligungsrecht der
Stände zu einem Rechte der Zustimmung bei der Fest-
stellung des gesammten Staatshaushalts entwickelt wor-
den, welcher nun als s. g. Finanzgesetz verabschiedet
zu werden pflegt. Durch diese Ausdehnung ihres Mit-
wirkungsrechts ist den Ständen zugleich ein weit über
das finanzielle Interesse hinaus reichender, zwar indi-
recter, aber ausserordentlich wirksamer und bestimmen-
der Einfluss auf alle Zweige der ganzen Staatsverwal-
tung eingeräumt worden.
Betrachtet man nun den für eine bestimmte Finanz-
periode verabschiedeten Etat vom Gesichtspunkte des
Gesetzbegriffs, so treten sofort die erheblichsten Unter-
schiede des s. g. Finanzgesetzes von allen übrigen Ge-
setzen hervor.1 Abgesehen davon, dass seine Wirksam-
keit immer nur eine temporäre ist, erscheint ein Theil
seines Inhalts gar nicht als die Aufstellung von Rechts-
sätzen, sondern (wie z. B. bei den Einnahmeposten)
als eine blosse Constatirung der ständischen Aner-
kennung der von der Regierung gemachten Ansätze.
Sodann will ein grosser Theil des Finanzgesetzes keine
absolute, sondern nur eine relativ wirkende Norm geben;
die Regierung soll, wenn sich die bei der Verabschiedung
angenommenen Voraussetzungen als irrig erweisen, da-
durch nicht gehindert sein, die grössere Revenue ein-
zunehmen, die grössere Ausgabe, welche sich in Folge
veränderter thatsächlicher Verhältnisse als nothwendig
herausstellt, zu machen, und andrerseits nicht berechtigt
sein, eine durch die Umstände ermöglichte Ersparniss nur
deshalb zu unterlassen, weil das Budget einen höheren
Ansatz in Aussicht genommen hat.2 Zwar bedarf es
bei jeder Etatsüberschreitung der Regierung einer nach-
[158]Dritter Abschnitt.
träglichen Rechtfertigung vor den Ständen, aber die
Anerkennung derselben durch die Letztere ist, wenn
jene vollständig erbracht wird, nicht eine willkührliche,
sondern nothwendige.3
Der hauptsächlichste Unterschied des Finanzge-
setzes aber von sonstigen Gesetzen liegt darin, dass,
während sonst das Nichtzustandekommen eines Gesetzes
überhaupt oder doch zeitweilig ertragen werden kann,
das Nichtzustandekommen des Finanzgesetzes unerträg-
lich ist; es muss ins Leben treten, weil der Staat nicht
ohne dasselbe bestehen kann. Daraus ergiebt sich mit
Nothwendigkeit, dass die Regel des Zusammenwirkens
der beiden Organe hier eine andere als bei der Verab-
schiedung sonstiger Gesetze sein muss, dass insbeson-
dere das Bewilligungsrecht der Stände hier kein abso-
lutes und subjectiv freies sein kann.4 Diese Regel ist
folgende. Die Stände müssen alle diejenigen Ausgaben
[159]§. 51. Das Finanzgesetz.
genehmigen, welche auf einer Rechtspflicht beruhen oder
für die Fortführung des Staatslebens nothwendig sind;
darauf, ob das eine oder andere bei jedem Ausgabesatze
der Fall sei, ist ihr Prüfungsrecht gerichtet. Eben-
so müssen sie diejenigen Steuern bewilligen, welche
sich hiernach als eine unentbehrliche Ergänzung der
sonstigen Einnahmen darstellen; darauf, ob die Noth-
wendigkeit dieser Ergänzung durch Steuern bestehe,
und ob sie gerade durch diese Steuergattung zweck-
mässig erfolge, ist hierbei ihr Prüfungsrecht gerichtet.
Ob über die Gränze dieser nothwendigen Ausgaben und
Steuern hinaus Bewilligungen für nützliche Zwecke des
Staats stattfinden sollen, dürfen sie nach subjectivem
Ermessen entscheiden.
Hieraus ergiebt sich aber sofort die nahe Möglich-
keit eines Conflicts zwischen den beiden Organen des
Staats, wenn unter ihnen ein Zwiespalt über die Frage der
Nothwendigkeit besteht.5 Einzelne Verfassungen suchen
der lähmenden Wirkung desselben durch die Bestim-
mung aufschiebend zu begegnen, dass, im Falle das
Finanzgesetz nicht zu Stande komme, die bisherigen
Steuern noch eine längere Zeit, etwa ein Jahr lang,
forterhoben werden dürfen;6 andere wollen den Conflict
[160]Dritter Abschnitt.
vor einer höheren Instanz zum Austrage bringen.7 Wo
solche Sätze nicht bestehen, bleibt allein der Weg fort-
gesetzter Einigungsversuche8 übrig.
Das Finanzgesetz hat nach der Bestimmung einiger
Verfassungen1 seine besondere Verabschiedungsform.
Der Etat wird nebst allen Rechnungen über die vorige
Finanzperiode zunächst bei der zweiten Kammer ein-
gebracht. Diese hat ihn durch einzelne Commissionen
prüfen zu lassen, welche über die Ergebnisse ihrer Prü-
fung Bericht erstatten. Hierauf erfolgt die Berathung
und Beschlussfassung der Kammer selbst, welche in
einzelnen Staaten in die kleinste Specialität eingeht, in
andern dagegen eine allgemeinere Haltung hat.2 Auch
hier werden Amendements gestellt und beschlossen;
Ausgaben, welche die Regierung nicht vorgeschlagen
hat, können die Stände da, wo ihnen die Initiative nicht
[161]§. 53. Die Verwaltung.
zusteht, nicht als verwilligt einsetzen, sondern deshalb
nur um Vorlage einer nachträglichen Exigenz bitten.
Ist die Berathung der zweiten Kammer zu Ende, so
wird der Etat in der Gestalt, welche derselbe durch die
Beschlüsse derselben empfangen hat, an die erste Kam-
mer gebracht. Diese ist zwar nicht verhindert, eben-
falls in eine Detailberathung einzugehen, aber sie hat
nach der Vorschrift einzelner Verfassungen nicht das
Recht, wiederum über die einzelnen Punkte der Re-
gierungsvorlage Beschlüsse zu fassen, welche die zweite
Kammer zu erneuter Rücksichtnahme nöthigen würden;
vielmehr hat sie sich allein darüber schlüssig zu machen,
ob sie den von der zweiten Kammer amendirten Etat
im Ganzen annehmen oder verwerfen will.3 — In an-
deren Staaten bestehen solche besondere Formen für die
Verabschiedung des Finanzgesetzes nicht. Dagegen ist
hie und da zur Ausgleichung von Differenzen zwischen
den beiden Kammern ein besonderes Vereinigungsver-
fahren vorgesehen.
In Bezug auf den Gesichtspunkt, welcher diesen
ganzen Abschnitt beherrscht, nämlich die Bestimmung
der rechtlichen Form der Willensäusserung des Staats,
erscheint es zulässig, die kaum übersehbare Menge von
v. Gerber, Staatsrecht. 11
[162]Dritter Abschnitt.
Regierungshandlungen, welche keine Gesetze sind, zu-
sammenzufassen, mit Ausnahme der Acte der richter-
lichen Gewalt. Man kann sie übersichtlich in folgender
Weise gruppiren.
Zunächst tritt die auf die Organisation und Leistung
der Staatsbehörden gerichtete Thätigkeit hervor. Für alle
einzelnen Branchen der Staatsthätigkeit werden Aemter
eingerichtet, an welche die verschiedenen Staatsarbeiten
vertheilt werden. Sie bilden einander über-, resp. unter-
geordnete Instanzen, deren Competenzkreis unter ein-
ander und gegenüber den Behörden anderer Departe-
ments zu bestimmen ist.1 Die Anstellung der für diese
Aemter erforderlichen Beamten, die stete Beaufsichtigung
derselben, sowie die fortgesetzte Leitung ihrer Thätigkeit
durch Instructionen und Weisungen der verschiedensten
Art bildet einen hauptsächlichen Theil der Verwaltung.
Die durch diese Behörden vorzunehmenden Ver-
waltungshandlungen sind sehr verschiedener Art. Der
grösste Theil derselben characterisirt sich als Aus-
führung der Gesetze, deren Anwendung auf einzelne
Fälle, und andererseits die Dispensation von ihrer Ein-
wirkung;2 hieran schliessen sich die eigentlichen Voll-
[163]§. 53. Die Verwaltung
ziehungshandlungen im engeren Sinne, insbesondere die
zwangsweise Execution durch die Vollzugsbeamten und
unter Umständen durch die bewaffnete Macht. Ein
anderer Theil der Verwaltungsthätigkeit ist nicht gerade
durch ausdrückliche Gesetze vorgesehen, wie z. B. viele
Handlungen der Oberaufsicht über alle Erscheinungen
des Staatslebens und der freien Förderung gemein-
nütziger Unternehmungen.
Ihrer materiellen Richtung nach gehören die Ver-
waltungshandlungen entweder dem Gebiete der Polizei,3
der allgemeinen Culturpflege, der Justiz-, Militär- oder
Finanzverwaltung,4 oder dem Gebiete der Vertretung
2
11*
[164]Dritter Abschnitt.
des Staats nach Aussen an, wie sie oben §. 23. über-
sichtlich dargestellt worden sind; auch die Ertheilung
von Privilegien gehört zu den Verwaltungshandlungen.5
Bald treten sie hervor als unmittelbare Befehle und
Anordnungen für einzelne concrete thatsächliche Ver-
hältnisse, bald als Weisungen, welche nicht bloss für
einen einzelnen Fall berechnet sind; bald wollen sie
sich auf bestimmte Individuen, bald auf das gesammte
Publicum beziehen; bald werden sie daher nur dem
4
[165]§. 54. Die Verwaltung.
Betheiligten schriftlich oder mündlich eröffnet, bald be-
dürfen sie zur Erreichung ihres Zwecks einer öffentlichen
Bekanntmachung. Einen Theil der Verwaltungsange-
legenheiten behält sich der Monarch selbst zur Erle-
digung unter Mitwirkung der verantwortlichen Minister
vor; andere werden allein von den höchsten Staats-
stellen geordnet, — ohne dass diese Competenzbestim-
mungen in der Regel durch eine staatsrechtliche Noth-
wendigkeit beherrscht würden.
Den Ständen steht zwar auch auf die Verwaltung
ein indirecter Einfluss durch ihr Recht der Ausgaben-
bewilligung sowie durch ihr allgemeines Beschwerde-
und Petitionsrecht zu,1 aber ein Recht unmittelbarer
Mitwirkung oder Zustimmung zur Vornahme von Ver-
waltungshandlungen haben sie im Allgemeinen nicht.
Eine Ausnahme hiervon findet statt 1. bezüglich der
vom Monarchen abgeschlossenen Staatsverträge, durch
welche dem Staate oder den Staatsbürgern Lasten auf-
gelegt, Theile des Staatsgebiets abgetreten, oder Gegen-
stände normirt werden, welche nur auf dem Wege der
Gesetzgebung bestimmt werden können. Zur staats-
rechtlichen Wirksamkeit solcher Verträge bedarf es der
Zustimmung der Stände.2 Nur bei Friedensverträgen
[166]Dritter Abschnitt.
ist diese Zustimmung nicht erforderlich. 2. Die Geneh-
migung der Stände ist ferner nothwendig zur Begrün-
2
[167]§. 54. Die Verwaltung.
dung einer Staatsschuld durch Aufnahme eines Staats-
anlehens, oder Uebernahme von Garantieen für Schulden
Anderer. Ein ohne Genehmigung der Stände abge-
schlossenes Geschäft dieser Art ist nichtig.3 Jedoch
geben einzelne Verfassungen der Regierung die Ermäch-
tigung, im Nothfalle Anlehen (bis auf einen gewissen
Betrag) allein aufzunehmen; diese Ermächtigung wird
bald so ertheilt, dass das aufgenommene Anlehen defi-
nitiv zu Recht besteht, ohne dass der Ausfall der später
darüber stattfindenden ständischen Beschlüsse hierauf
von Einfluss ist,4 bald so, dass die Rechtsbeständigkeit
2
[168]Dritter Abschnitt.
von der nachträglichen Genehmigung der Stände bedingt
ist.5 3. Endlich kann kein Theil des dem Staate ge-
hörenden Grundvermögens anders als mit Zustimmung
der Stände veräussert werden; eine ständisch nicht ge-
nehmigte Veräusserung ist nichtig.6
Die Aufgabe der Staatsgewalt, den Rechtszustand
unter den ihr Unterworfenen durch Rechtssprechung
aufrecht zu erhalten, theilt sich sofort in zwei beson-
dere Aufgaben, 1. die Fürsorge dafür, dass demjenigen,
welcher die Grundlagen der Rechtsordnung überhaupt
durch ein Verbrechen verletzt hat, sein Recht durch
[169]§. 55. Die richterliche Thätigkeit.
Zuerkennung der rechtmässigen Strafe zu Theil werde
(strafrichterliche Thätigkeit), 2. die Fürsorge, dass
Demjenigen, welcher in seiner individuellen Rechts-
sphäre verletzt ist, die Anerkennung und Wiederher-
stellung seines Rechts gesichert werde (civilrichter-
liche Thätigkeit).1
Der Staat erfüllt diese Aufgaben dadurch, dass er
nach Massgabe einer gesetzlichen Gerichtsordnung wohl
besetzte Gerichte2 aufstellt, welche innerhalb ihrer
Sprengel im Namen des Monarchen Recht sprechen.
Das Verfahren vor diesen Gerichten ist durch das Pro-
cessrecht geordnet. Zugleich ist durch die Einrichtung
höherer und höchster Gerichtshöfe die Möglichkeit der
processrechtlich zulässigen Berufungen gesichert.3 Die
Rechtssprechung selbst geschieht allein nach den Regeln,
welche die Rechtswissenschaft über die Findung des
Rechts aufstellt; der Richter hat nie ein ihm von aussen
gewiesenes, sondern immer nur das von ihm selbst er-
kannte Recht auszusprechen, und hat, sowie er keiner
von einer fremden Autorität ihm zukommenden Weisung
bei der Urtheilsfällung nachgeben darf, auch innerlich
[170]Dritter Abschnitt.
sich von dem Einflusse jeder der Constatirung des Rechts
fremdartigen Rücksicht frei zu halten. Seine Thätigkeit
des Rechtfindens und Rechtsprechens ist eine Operation
der juristischen Kunst, und sein Arbeitsgebiet ist gegen-
über den sonstigen Gebieten der Wirksamkeit der Staats-
kräfte ein völlig neutrales Feld. Zur äusseren Verstär-
kung dieser Unabhängigkeit dient die besondere recht-
liche Sicherung der Staatsdienstverhältnisse der richter-
lichen Personen.4 Die von den Gerichten gesprochenen
rechtskräftigen Erkenntnisse werden von der Staatsgewalt
vollzogen. Sie bedürfen, abgesehen von den auf Todes-
strafe oder andere Strafen der höchsten Art lautenden
Erkenntnissen, keiner Bestätigung des Monarchen. Dem
Monarchen steht in Strafsachen nur das Recht zu, durch
Abolition der verbrecherischen Handlung die Thätig-
keit der Criminalgerichte zu hemmen, sowie das Recht,
die erkannte Strafe mit ihren Folgen durch Begnadi-
gung ganz oder theilweise aufzuheben. Diesem Rechte
entspricht in Civilsachen die Befugniss des Monarchen,
einem Schuldner Moratorien zu verleihen, welche aber
[171]§. 56. Competenz der Justiz.
nicht mehr von allen deutschen Verfassungen anerkannt
wird.5
Die Thätigkeit der Staatsgewalt, welche in der
Rechtssprechung durch die Gerichte besteht, characte-
risirt sich dadurch, dass sie auf Geltendmachung des
absoluten Rechts gerichtet ist. Nach diesem Mass-
stabe allein erledigt sie den ihr zur Entscheidung vor-
gelegten rechtlichen Thatbestand. Das zu entschei-
dende Verhältnisss will nicht nach relativen Gesichts-
punkten, etwa nach Rücksichten auf das allgemeine
Wohl, Rücksichten der Zweckmässigkeit, der Moral be-
urtheilt sein, sondern in völliger Isolirung allein nach
den Principien des Rechts. Es fragt sich nun, welches
das Gebiet dieser Art der Staatsthätigkeit, m. a. W. der
Competenz der Justiz sei?1
Zunächst das Gebiet des Strafrechts; dass die
Bestimmung der einer verbrecherischen Handlung fol-
1
[173]§. 56. Competenz der Justiz.
genden Strafe nur nach dem Massstabe der Gerechtig-
keit, mit Ausschluss aller subjectiven und aus anderen
Interessenkreisen entlehnten Motive zu geschehen habe,
ist ein Satz, der nicht bloss als unentbehrliche Garantie
der staatsbürgerlichen Freiheit besteht, sondern auch die
nothwendige Voraussetzung der Rechtfertigung der Straf-
gewalt des Staats selbst bildet, welche auf kein anderes
Fundament als auf das der Gerechtigkeit gestützt wer-
den kann.2 — Sodann das Gebiet des Privatrechts.
Denn die privatrechtlichen Rechtsverhältnisse stehen
ausserhalb des Staatszusammenhangs; sie gehören der
individuellen, nichtstaatlichen Persönlichkeit der Ein-
1
[174]Dritter Abschnitt.
zelnen an.3 Auf solche Verhältnisse hat die Staatsgewalt
an sich keinen unmittelbaren Einfluss; es steht ihr hier
im Allgemeinen nicht zu, ordnend einzugreifen und dem
Einzelnen das sittlich wünschenswerthe oder das zweck-
mässige Handeln aufzunöthigen. Was von der Staats-
gewalt erwartet und angenommen wird, ist ein Minimum
[175]§. 56. Competenz der Justiz.
der Einwirkung, nämlich die Feststellung und Durch-
führung des absoluten Rechts. Diess ist der einzige
Einfluss der Staatsgewalt, den die privatrechtliche Frei-
heit des Einzelnen (abgesehen von besonderen Aus-
nahmszuständen) duldet. Hieran sollte auch der Um-
stand, dass ein Privatrecht eine Beziehung zu öffent-
lichen Interessen hat,4 oder dass ein solches auf der
Grundlage eines Thatbestands des öffentlichen Rechts
entstanden ist,5 Nichts ändern. Noch weniger kann
es von Einfluss sein, dass eine der in einem privat-
rechtlichen Streite befangenen Parteien zugleich eine
besondere Stellung im Staate hat, wie Gemeinden oder
andere Corporationen, indem ja auch der Staat als
Fiscus Processpartei sein kann.
Einen ganz anderen Einfluss hat der Staat auf Ver-
hältnisse, welche ihren Sitz innerhalb der Staatsordnung
selbst haben, Verhältnisse, welche nicht der isolirten
Persönlichkeit angehören, sondern den Einzelnen als
Glied des gesammten Staatsverbands angehen,6 und
unter der Herrschaft allgemeiner Ordnungen stehen.
Diese Verhältnisse sind nicht Gegenstand individueller
Freiheit, sondern unterliegen der vollen Einwirkung der
Staatsherrschaft. Auch sie erwarten, wenn sie unklar
oder bestritten sind, ihre Lösung durch eine Entscheidung
der Staatsgewalt; aber diese beschränkt sich hier nicht
darauf, den Thatbestand in abgeschlossener Betrachtung
nach den Regeln eines absoluten Rechts zu behandeln,
sondern sie bringt auch die Rücksicht auf das allgemeine
Wohl zur Geltung und hat zugleich das im öffentlichen
Interesse Nützliche und Zweckmässige durchzusetzen.
Indem sie den Einzelnen nöthigt, sich nach diesen rela-
tiven Gesichtspunkten behandeln zu lassen, verfährt sie
[177]§. 56. Competenz der Justiz.
jedoch keineswegs nach Willkühr oder Laune; denn
auch für die Geltendmachung jener über den Massstab
des absoluten Rechts hinausgehenden Motive bestehen
Gesetze, Verordnungen und deducirbare Grundsätze.7
Diess ist das Gebiet der Verwaltung. Innerhalb der
Sphäre derselben nehmen die für ihre einzelnen Zweige
bestellten Vertreter volle Selbständigkeit und die An-
erkennung als eigene rechtliche Autoritäten in An-
spruch. — Nur da, wo die Staatsgewalt ein öffent-
liches Recht als wohlerworbenes individuelles Recht
vorfindet oder hat entstehen lassen, sollte sie sich
trotz des Zusammenhangs dieses Rechts mit dem ge-
sammten staatlichen Organismus keine andere Ein-
wirkung gestatten, als diejenige, welche die isolirte
Behandlung nach Massgabe des absoluten Rechts dar-
bietet, und mithin die Entscheidung darüber den Ge-
richten überlassen. Denn sie muss es anerkennen, dass
hier eine Substanz des öffentlichen Rechts privatrechts-
artig in dem Rechtskreise eines Individuums localisirt
und damit der freien Einwirkung der Staatsgewalt ent-
zogen worden ist. Indessen ist auch hier der Rechts-
weg aus besonderen Gründen mehrfach unzugänglich
(vergl. §. 59.).
Das Verfahren über streitige Verhältnisse, zu deren
Beurtheilung die Verwaltungsbehörden zuständig sind,
v. Gerber, Staatsrecht. 12
[178]Dritter Abschnitt.
ist in der Mehrzahl der deutschen Staaten in der
Weise geregelt, dass die Parteien ähnlich wie im
Civilverfahren zum geordneten rechtlichen Gehöre ge-
langen, dass ihnen der Rechtskraft fähige Erkennt-
nisse eröffnet werden, gegen welche sie innerhalb ge-
setzlicher Fristen an höhere Instanzen recurriren kön-
nen. Man pflegt daher diesen Theil der Thätigkeit
der Verwaltungsbehörden die Verwaltungsjustiz zu
nennen.8 Die Einrichtung einer solchen ist, sofern
ihre Competenz nicht willkührlich über das Gebiet
der Verwaltung hinaus in ungerechtfertigter Verküm-
merung des Gebiets der Justiz erstreckt ist, und so-
fern sie die Bürgschaft ordnungsmässiger und unpar-
teiischer Erledigung darbietet, nicht zu tadeln, son-
dern anzuerkennen, indem sie auch für diejenigen
Streitigkeiten, welche der Beurtheilung der Gerichte
nicht unterworfen sind, die Wohlthat einer richter-
lichen Instanz darbietet.9 Eine Fortbildung dieser Ein-
richtung könnte zur Aufstellung selbständiger Gerichts-
höfe des öffentlichen Rechts führen, durch welche
[179]§. 56. Competenz der Justiz.
manche Lücke unseres modernen Staatsrechts geschlos-
sen würde.10
Die Entscheidung von Competenzconflicten zwischen
den Justiz- und Verwaltungsbehörden11 ist häufig den
Gerichten entzogen, und entweder dem Monarchen
selbst vorbehalten, oder einer besonderen hierzu be-
rufenen Behörde anheim gegeben.12
Das System des Staatsrechts zeigt, wie aus der
bisherigen Darstellung hervorgeht, eine Verbindung sehr
mannichfaltiger Rechte, deren Integrität zum Theil die
Voraussetzung der Lebensfähigkeit des Staats ist. So-
nach drängt sich von selbst die Frage auf, in welcher
Form und durch welche Mittel diese Integrität, wenn sie
bedroht oder verletzt ist, geschützt werde.1 Es kann
sein, dass die Existenz des Staats selbst und seiner
verfassungsmässigen Rechte angegriffen wird; sodann
können die Organe des Staats genöthigt sein, für die
Erhaltung ihrer Befugnisse zu streiten; nicht minder
kann der Schutz eines öffentlichen Individualrechts in
Frage kommen; endlich kann der Staatsbürger in die
Lage versetzt sein, sich gegen die Uebergriffe der Staats-
gewalt zu schützen.
Dass nicht in allen diesen Fällen derjenige Rechts-
schutz entsprechend oder genügend sein kann, den die
gewöhnlichen Gerichte in ihrer bisherigen Stellung zu
gewähren vermögen, leuchtet sofort ein. Die Gerichte
haben ihre Function im Staate und nach Massgabe der
ihnen durch die Staatsgewalt verliehenen Vollmachten
auszuüben; die Staatsgewalt vollzieht durch sie einen
Theil der in ihrem Herrschaftsrechte enthaltenen Auf-
gaben. So haben sie innerhalb des gesammten Staats-
organismus ihre bestimmte, locale Wirkungssphäre (§. 56.).
Wollte man nun das ganze Recht der Staatsgewalt und
ihrer Organe selbst der Entscheidung derselben unter-
werfen, so würde man die Gerichte aus ihrer Stellung im
Organismus herausnehmen und ihnen eine selbständige
Stellung ausserhalb desselben einräumen; man würde
die Macht, auf welcher ihre Autorität beruht, und der
sie zu dienen berufen sind, in ein Object ihrer Ge-
walt verwandeln. Schon hieraus ergiebt sich, dass die
Gerichte das Bedürfniss des Rechtsschutzes im Gebiete
des Staatsrechts nicht allgemein, sondern nur insoweit
befriedigen können, als es sich um einen in ihre specielle
Competenz fallenden Thatbestand handelt.2
Ueberhaupt aber würde die Vorstellung unrichtig
sein, welche den Rechtsschutz nur in der Form von
Urtheilen der Gerichte für möglich hielte. Zunächst
[182]Vierter Abschnitt.
kann das Bedürfniss richterlicher Entscheidungen selbst
durch Einrichtungen gemindert sein, welche schon an
sich eine grosse Sicherung der Anerkennung des Rechts
gewähren. Diess ist im Staatsrechte in besonders
hohem Grade der Fall, indem hier durch die ganze
Anlage des Gesammtorganismus und die Stellung der
Organe, in denen die Lebensäusserungen des Staats
hervortreten, dafür gesorgt ist, dass Rechtsstörungen
in gegenseitigem Verhandeln und Vertragen ihre Aus-
gleichung finden. Monarch und Stände sind auf gegen-
seitige Verständigung angewiesen, die Regierung unter-
liegt der unbeschränkten Kritik der periodisch wieder-
kehrenden Ständeversammlung und kann nur dann
auf Behauptung ihrer Autorität rechnen, wenn sie jener
Kritik den Nachweis des rechtmässigen Handelns ent-
gegenstellen kann. Aber auch darin liegt eine be-
deutende Sicherung der Aufrechterhaltung des Rechts,
dass die Verwaltung an eine Menge wohl bestellter
Aemter vertheilt ist, welche durch ihre Abstufung
nach höheren und niederen Instanzkreisen die Mög-
lichkeit einer ausreichenden Controle darbieten. Als
eine weitere Garantie der Anerkennung des öffent-
lichen Rechts3 kann endlich die Macht der öffentlichen
Meinung angeführt werden, welche auf keinem anderen
[183]§. 57. Der Rechtsschutz.
Gebiete wirksamer ist, als auf dem des öffentlichen
Rechts.
Aber selbst da, wo der staatsrechtliche Rechtsschutz
eine wirkliche Richterthätigkeit fordert, darf nicht die
Form des Civilprocesses und das Urtheil des gewöhn-
lichen Civilrichters als das ausschliessliche Muster des
Rechtswegs betrachtet werden. Auch anderen Aemtern
als den Gerichten kann ein richterlicher Beruf übertra-
gen sein. In einer Reihe von staatsrechtlichen Fragen
wird von Verwaltungsbehörden, in anderen von den
Kammern Recht gesprochen, — und es stimmen hierin
bis auf einen gewissen Grad die Einrichtungen aller
deutschen Staaten überein.
Endlich müssen auch die Mittel des Rechtsschutzes
im Staatsrechte zum Theil andere sein, als im Privat-
rechte, da der Rechtsstreit in jenem Gebiete nicht immer
wie in diesem die Gestalt eines Streits gleichartiger sich
gegenüberstehender Parteien hat. Insbesondere ist es
dem Staatsrechte eigenthümlich, dass der Schutz ge-
wisser Rechte direct durch einen Strafrechtssatz gegeben,
und dass bisweilen auch die Geltung von Sätzen des
objectiven Verfassungsrechts durch die Ahndung ihrer
Verletzung an den handelnden Personen aufrecht er-
halten wird. Auf diesem letzteren Gedanken beruht
insbesondere dasjenige Schutzmittel, welchem die allge-
meinste staatsrechtliche Wirkung, nämlich der Schutz
des Grundgesetzes selbst, zugeschrieben wird, — das
Institut der Ministeranklage.
Eine der grössten Garantieen für die unverrückte
Aufrechterhaltung des Grundgesetzes liegt in dem Rechts-
satze, dass keine Verfügung des Monarchen in Regie-
rungsangelegenheiten zur staatsrechtlichen Wirksamkeit
gelangt, wenn sie nicht mit der Contrasignatur des
verantwortlichen Ministers versehen ist. Dadurch wird
bewirkt, dass das verfassungsmässige Handeln nicht
bloss ein abstractes Gebot bleibt, sondern in dem Kreise
derer, welche zur unmittelbaren Beihülfe des Monarchen
in der Ausübung der Regierung berufen sind, immer
auch zur Frage einer persönlichen Verantwortlichkeit
wird. Der Minister ist wegen jeder Verletzung der
Verfassung verantwortlich, welche unter seiner Mit-
wirkung stattgefunden hat. Damit diese Verantwortung
eintrete, ist nicht nothwendig, dass durch die Verfügung
[185]§. 58. Die Ministeranklage.
irgend ein individueller Rechtskreis beschädigt werde,
sondern es genügt die Verletzung des Grundgesetzes
an sich. Es ist gleichgültig, ob die Verletzung einen
mehr oder weniger wichtigen Punkt des Letzteren be-
troffen hat, ob sie in einem positiven Entgegenhandeln
oder in der Unterlassung einer durch die Verfassung be-
stimmt gebotenen Handlung besteht.2 Die Verantwor-
tung tritt ein bei jeder Handlung, welche der Minister
mit dem Bewusstsein ihrer Verfassungswidrigkeit vor-
genommen hat.3
Diese Verantwortlichkeit besteht nun hauptsächlich
gegenüber den Landständen, da ein Haupttheil ihres
politischen Berufs die Controle der Verfassungsmässig-
keit des Regiments ist. Damit sie aber eine Wahrheit
werde, genügen offenbar die der Ständeversammlung zu-
stehenden gewöhnlichen parlamentarischen Mittel nicht.4
Es ist ein besonderer Gerichtshof nothwendig, durch
[186]Vierter Abschnitt.
dessen Urtheil die Verantwortlichkeit realisirt und so-
mit zugleich die Integrität des Grundgesetzes gegen-
über der stattgefundenen Verletzung wieder hergestellt
wird. Zu diesem Zwecke ist durch die Verfassungs-
gesetze einzelner Staaten ein Staatsgerichtshof geschaffen
worden, welcher über die von den Ständen angebrachten
Ministeranklagen entscheidet. Die Einrichtung dieses
Gerichtshofs ist verschieden; bald besteht er in einem
besonderen Collegium, dessen Mitglieder theils vom
Monarchen, theils von den Ständen5 ernannt, oder
nach Art der Geschwornen6 berufen werden; bald
wird der oberste Gerichtshof des Landes zugleich zum
Staatsgerichtshofe erklärt.7 Zur Anklage legitimirt sind
die Stände,8 und zwar nach einigen Verfassungen jede
Kammer für sich,9 nach anderen nur die gesammte
Ständeversammlung in übereinstimmendem Beschlusse
beider Kammern.10 Das Urtheil des Staatsgerichtshofs
geht entweder auf Entbindung und Lossprechung des
Angeklagten, oder auf Verurtheilung desselben, d. h.
[187]§. 58. Die Ministeranklage.
darauf, dass eine absichtliche Verfassungsverletzung vor-
liege; die Entfernung des Schuldigen von seinem Amte
und seine Unfähigkeit zur Wiederanstellung sind dann
die gesetzlichen Folgen eines solchen Urtheils.11 Als
Rechtsmittel wird höchstens der Antrag auf Revision
zugelassen. Der Monarch kann bezüglich einer die
Ministeranklage veranlassenden Handlung weder das
Recht der Abolition noch das der Begnadigung ausüben.
Ist die That des angeklagten Ministers von der Art,
dass sie zugleich in das Bereich der Strafgewalt der
gewöhnlichen Gerichte fällt, so wird dem Einschreiten
und Verfahren der Letzteren durch die Verhandlung
vor dem Staatsgerichtshofe und seine Urtheilsprechung
in keiner Weise präjudicirt.
In einzelnen deutschen Verfassungsurkunden hat je-
doch dieses Institut eine Ausbildung erhalten, welche
der eigentlichen Idee desselben nicht mehr durchaus
entspricht. Insbesondere hat man häufig die Compe-
tenz des Staatsgerichtshofs unter Verdunkelung seines
speciellen Zwecks dahin erweitert, dass er nicht mehr
[188]Vierter Abschnitt.
bloss als höchstes politisches Gericht, sondern zugleich
als ein allgemeines Strafgericht über Staatsdiener er-
scheint. Daraus erklären sich auch einzelne über den
Zweck des Instituts hinausgreifende Bestimmungen, ins-
besondere der Satz, dass nicht bloss Minister und De-
partementschefs, sondern alle Staatsdiener, und zwar
nicht nur wegen Verletzungen der Verfassung, sondern
auch wegen Verletzung sonstiger Gesetze dort angeklagt
werden können; ferner, dass nicht bloss die Stände,
sondern auch der Monarch (namentlich auch gegen die
Stände) Anklagen beim Staatsgerichtshofe erheben kann,
und dass die Strafgewalt des Gerichtshofs auch auf die
Befugniss, Geld- oder Gefängnissstrafen zu erkennen,
ausgedehnt ist, wodurch die eigentliche Idee desselben,
ein Schutz der Integrität des Grundgesetzes zu sein,
einigermassen getrübt wird.12
Wird der Staat angegriffen oder in seiner Existenz
bedroht, so hilft er sich selbst in Anwendung seiner
Staatsmacht. Da die Angriffshandlungen vom Straf-
gesetze zu Verbrechen (Majestätsverbrechen, insbeson-
dere Hochverrath) erklärt werden, so erscheint die
Rechtssprechung der Criminalgerichte als die regel-
mässige Art, in der sich seine Selbsthülfe vollzieht.
[189]§. 59. Rechtsschutz des Staats.
Ebenso wird die Thätigkeit der Beamten in Ausübung
obrigkeitlicher Functionen gegen Widersetzlichkeiten
durch das Strafgesetz geschützt.
Eine wirksame Bestreitung des Rechts eines Organs
des Staats wird in der Regel nur dann stattfinden, wenn
die Ständeversammlung und die Regierung unter ein-
ander über die Gränzen ihrer Rechtskreise uneins sind.
Beide Organe stehen sich dann als streitende Parteien
gegenüber und benutzen wohl ihre allgemeine Macht-
stellung, um ihre Ansprüche zur Geltung zu bringen.
Ein solcher Streit ist das empfindlichste Leiden, welches
den Staat treffen kann, da die Harmonie der Organe
die Grundbedingung seines Gedeihens ist. Und doch
giebt es für die meisten Staaten keine richterliche In-
stanz, vor welcher solche Streitigkeiten durch Urtheil-
spruch ihre definitive Lösung fänden, da sich das Bun-
desschiedsgericht1 die ihm bei seiner Stiftung zugedachte
Bedeutung nicht zu erwerben vermocht hat. Wo das
[190]Vierter Abschnitt.
Institut der Ministeranklage durch Bildung eines be-
sonderen Staatsgerichtshofs entwickelt ist, kann unter
Umständen dieser den Streitpunkt erledigen; denn wenn
der Streit in der Form einer Ministeranklage auftritt,
so urtheilt er bei der Entscheidung dieser zugleich über
das allgemeine Recht selbst. Auch haben manche
Staaten die Competenz dieses politischen Gerichtshofs
dahin erweitert, dass er überhaupt veranlasst werden
dürfe, über den bestrittenen Sinn des Verfassungsrechts
zu urtheilen.2 Abgesehen hiervon giebt es für den
Fall, dass sich die beiden Organe als streitende Par-
teien gegenüber stehen, keinen anderen Weg rechtmäs-
siger Lösung, als den der Verständigung.3
Ein ähnliches Verhältniss findet statt, wenn sich die
beiden Kammern als Parteien gegenüber stehen, indem
sie über die gegenseitigen Beziehungen ihrer verfassungs-
mässigen Rechtsstellung streiten. Nur werden solche
Streitigkeiten leichter ihre thatsächliche Erledigung fin-
den, da hier die Regierung durch die Art ihres Ver-
haltens wesentlich dazu beitragen kann.
Staatsrechtliche Individualrechte sind Rechte staats-
rechtlichen Inhalts, welche einem individuellen Subjecte
mit dem Character erworbener Rechte zustehen, — im
Gegensatze des bloss aus der Anwendung allgemeiner
Gesetze abgeleiteten Rechtszustands einer Person. Es
leuchtet ein, dass es diesen Rechten an einem beson-
deren Rechtsschutze nicht fehlen darf, aber eine allge-
meine Theorie darüber lässt sich nicht aufstellen; viel-
mehr sind die einzelnen Arten solcher Rechte rücksicht-
lich der Frage des Rechtsschutzes besonders zu behan-
deln. Die wichtigsten sind folgende.
1. Das Recht des Monarchen findet im inneren
Staatsleben seinen Schutz in der Gesammtheit der Mit-
tel, welche dem Staatsoberhaupte zu Gebote stehen,
um dem Inhalte der Verfassung Anerkennung zu ver-
schaffen. Für den Schutz der persönlichen Majestäts-
rechte ist durch besondere Strafrechtssätze gesorgt.
2. Der Anspruch einer fürstlichen Person auf Zu-
lassung zur Thronfolge ist als ein Parteistreit gegen-
über einem oder mehreren anderen Prätendenten, dann
aber auch als ein Streit zwischen dem Prätendenten und
den Ständen eines Landes denkbar. So sehr nun derartige
Ansprüche vermöge ihres Characters als individualisirter
subjectiver Rechte eine Behandlung in der Form des civil-
processualischen Verfahrens zu fordern scheinen, so fehlt
es doch in Deutschland an einem ordentlichen Gerichte,
welches zu erkennen berufen wäre. Die Landesgerichte
[192]Vierter Abschnitt.
können sich nicht für competent erklären, über das Recht
der Person zu entscheiden, von welcher sie ihre eigene
Gerichtsgewalt abzuleiten haben, und ein den ehemaligen
Reichsgerichten analoges Bundesgericht besteht nicht.
Der deutsche Bund könnte nur indirect, insbesondere
wegen seiner Prüfung der Legitimation, zur Entschei-
dung berechtigt sein, und die Competenz der Bundes-
austrägalinstanz würde nur durch besondere thatsäch-
liche Umstände begründet werden können.1
3. Nimmt eine Familie die Eigenschaft des hohen
Adels in Anspruch, so kommt es bezüglich der Be-
stimmung des Rechtswegs auf die besondere Richtung
an, in welcher jener Anspruch geltend gemacht wird.
Handelt es sich darum, die Anerkennung der Mitglied-
schaft des im Art. 14. der Bundesacte privilegirten
Standes überhaupt zu erwirken, so ist ein desfallsiger
Antrag zunächst bei der eigenen Staatsregierung zu
begründen, welche, wenn sie von dem Rechte des Pe-
tenten überzeugt ist, die Zustimmung der deutschen
Bundesversammlung befürwortet; lehnt die Landesre-
gierung die verlangte Anerkennung ab, so steht dem
Petenten der Recurs an die Bundesversammlung zu.2
[193]§. 60. Individualrechte.
Bildet dagegen die Mitgliedschaft des hohen Adels eine
incidente Präjudicialfrage bei einem vor den gewöhn-
lichen Landesgerichten anhängigen Processe, so haben
diese auch über jene Frage mit zu entscheiden.3 Han-
delt es sich sodann um eine Weigerung der Landes-
regierung, die im Artikel 14. verliehenen Privilegien
einzuräumen, oder um eine Verletzung derselben durch
die Landesgesetzgebung, so steht dem Verletzten nach
Art. 63. der Wiener Schlussacte der Weg der Be-
schwerde bei der Bundesversammlung und nach Um-
ständen die Anrufung eines Bundesschiedsgerichts offen.4
Ist endlich die Frage zu entscheiden, ob ein Mitglied
des hohen Adels auch die Bedingungen erfüllt habe,
von welchen das Recht der Theilnahme an der Stände-
versammlung abhängt, so hat darüber als über eine
Legitimationsfrage die Kammer, zu welcher der Zutritt
2
v. Gerber, Staatsrecht. 13
[194]Vierter Abschnitt.
begehrt wird, zu erkennen.5 Aehnlich verhält es sich
mit dem Rechtswege des Anspruchs auf Anerkennung
als Mitglied der ehemaligen Reichsritterschaft.
4. Ueber den Anspruch, als Mitglied der Stände-
versammlung zu gelten, wird allein von der Kammer,
zu welcher der Zutritt verlangt wird, Recht gesprochen,
einerlei, ob der Anspruch auf eine stattgehabte Wahl,
oder auf königliche Ernennung, auf Innehabung eines
Amtes, oder auf eine besondere Standesstellung ge-
stützt wird. Ueber diese Legitimationsfragen entscheidet
die Kammer definitiv; gegen ihr Urtheil findet keine
Appellation statt. Ihr selbst aber muss es frei stehen,
die bereits ausgesprochene Legitimation einer erneuten
Prüfung zu unterwerfen, wenn neue entscheidende und
fortwirkende Thatsachen bekannt werden.1
5. Das Indigenat, d. h. das Zugehören zu einem
bestimmten Staatsverbande vermöge Eintritts in das
4
[195]§. 61. Individualrechte.
Recht einer bestimmten Staatsgewalt, ist ein erworbenes
öffentliches Individualrecht; analog ist das Gemeinde-
bürgerrecht und das Recht, Mitglied der politisch be-
rechtigten Adelscorporation eines Landes oder einer
Provinz zu sein. In allen den Fällen, in welchen die
Anerkennung solcher Rechte von der Regierung selbst
verlangt wird, wäre principiell die Competenz der Ge-
richte nicht undenkbar, sofern es nur überhaupt möglich
wäre, die Regierung als Processpartei darzustellen.2 In-
dessen sind solche Streitigkeiten fast überall in Deutsch-
land der Entscheidung der Verwaltungsbehörden anheim
gegeben. Wenn sie dagegen in einem anhängigen Civil-
processe als incidente Präjudicialpunkte auftauchen, so
haben die Gerichte allerdings auch darüber zu erkennen.
6. Oeffentliche Rechte, welche im Allgemeinen den
Character von Privilegien haben, z. B. Steuerfreiheit,
Militär-, Einquartirungsfreiheit, Patrimonialgerichtsbar-
keit, Patronatrecht3 u. s. w., enthalten, gemäss ihrer
Natur als wohlerworbene Rechte, Nichts, wodurch die
Ausschliessung der Competenz der Gerichte zur Ent-
scheidung über ihre Existenz und Wirkungen zur Noth-
13*
[196]Vierter Abschnitt.
wendigkeit gemacht würde. Werden sie freilich gegen-
über der Staatsregierung geltend gemacht, so wiederholt
sich auch hier die Schwierigkeit, letztere als Process-
partei darzustellen.4
7. Oeffentliche Rechte des Beamten. Das In-
teresse, ein bestimmtes Amt zu behalten, nicht auf ein
anderes gleichartiges Amt versetzt, nicht pensionirt zu
werden, wird regelmässig nicht als ein wirkliches Recht
des Beamten anerkannt; ebensowenig das Interesse, in
eine höhere Stelle aufzurücken.5 Wenn aber auch diese
Interessen unter gewissen Voraussetzungen particular-
rechtlich als Rechte bestehen, so ist die Entscheidung
darüber doch heutzutage den Gerichten meistens ent-
zogen und den höheren Verwaltungsbehörden, oder
einem Disciplinarhofe oder einer sonst hierzu eingerich-
teten Behörde übertragen. Das öffentliche Recht des
Beamten, vom Publicum als amtliche Autorität respectirt
zu werden, wird durch Strafgesetze geschützt. Keinem
Zweifel sollte es aber unterliegen, dass die aus dem
Beamtenverhältnisse hervorgehenden privatrechtlichen
Ansprüche auf Gehalt, Pension, Wittwenpension, Ent-
schädigung für dienstliche Auslagen, immer durch die
gewöhnlichen Gerichte geschützt werden müssten, einerlei
ob jene Ansprüche auf Gesetz oder auf besonderem
Vertrage beruhen.
Eine Verletzung Einzelner durch Acte der Staats-
gewalt kann in sehr verschiedener Weise stattfinden.
Es ist 1) möglich, dass Jemand durch einen Act der
Gesetzgebung verletzt wird.1 Aber selbst wenn es
sich dabei nicht um eine blosse Beeinträchtigung von
Interessen, sondern um eine wirkliche Vernichtung er-
worbener Rechte handelt, steht dem Verletzten kein
Rechtsmittel gegen die Staatsgewalt zu, welche, wenn
sie als Ausdruck des allgemeinen Willens gesetzgebend
wirkt, immer definitiv und absolut entscheidend ist.
Auch eine Entschädigungsforderung für das entzogene
Recht gebührt dem Verletzten nur insoweit, als die
Gesetzgebung eine solche ausdrücklich gewährt.2 Eine
Verletzung kann 2) durch die Verwaltung bewirkt
werden. Auch hier kann es sich um eine Verletzung von
Interessen und von Rechten handeln. Die verletzende
Verwaltungshandlung kann anfechtbar erscheinen, weil
sie im Widerspruche mit der Verfassung, mit einem
sonstigen Rechtssatze, oder mit den aus der Natur der
Sache hervorgehenden Grundsätzen einer richtigen Ver-
waltung steht. In diesem Falle steht dem Verletzten
als eigenthümliches Rechtsmittel die Beschwerde zu.
Mit dieser wendet er sich an die zunächst vorgesetzte
[198]Vierter Abschnitt.
Verwaltungsbehörde und kann sie durch alle Instanzen
bis zum Monarchen verfolgen, auch schliesslich bei den
Ständen um Vertretung seiner Angelegenheit nach-
suchen. Im Falle einer Justizverweigerung kann, wenn
alle inländischen Instanzen erschöpft sind, auch der
deutsche Bund um Abhülfe angegangen werden.3 Die
Beschwerde ist in der Regel an keine Fristen gebunden.
Der Gedanke der Beschwerde ist der, dass die Behörde,
gegen deren Verfahren das Rechtsmittel erhoben wird,
nicht in Uebereinstimmung mit dem wahren Willen der
Regierung gehandelt habe, welchen die obere Behörde
in der Aufhebung der angefochtenen Verfügung zur
Geltung bringen werde. Es kann endlich auch 3) eine
Verletzung durch Ausübung der richterlichen Gewalt
stattfinden. Der Rechtsschutz hiergegen liegt in den ver-
schiedenen processualischen Rechtsmitteln, mit welchen
das höhere und schliesslich das höchste Gericht ange-
gangen werden kann. Sie beruhen auf dem Gedanken,
dass das angefochtene Erkenntniss nicht dem wahren
Inhalte des objectiven Rechts entspreche, den die obere
Instanz reformirend herstellen werde. Zu dieser Gattung
von Rechtsmitteln gehört auch der s. g. Recurs gegen
Strafverfügungen von Verwaltungsbehörden; auch bei
diesem findet, wie bei der Appellation, eine Begränzung
der Instanzen und die Nothwendigkeit der Einhaltung
von Nothfristen statt. Nicht minder ist hierher der
[199]§. 63. Rechtsschutz der Staatsbürger.
Recurs gegen Entscheidungen der Administrativjustiz-
behörden zu rechnen, welcher den im Civilprocesse zu-
lässigen Rechtsmitteln analog zu behandeln ist.
Selbsthülfe in der Form des activen Wider-
stands gegen obrigkeitliche Verfügungen ist, abgesehen
von dem Falle berechtigter Nothwehr, unstatthaft und
straf bar; s. g. passiver Widerstand dagegen, d. h.
einfache Nichtbefolgung des obrigkeitlichen Befehls,
wird deshalb, weil er zum Zwecke der Opposition gegen
unrechtmässige Verwaltungshandlungen stattfindet, nicht
einer besonderen Ahndung unterworfen, sondern wie
jeder andere Ungehorsam beurtheilt.4
Aber es fragt sich, ob dem Verletzten nicht auch
das Recht zusteht, gegen Verfügungen der Verwaltungs-
behörden unmittelbar bei den Civilgerichten Schutz
zu suchen?
Von vornherein muss hier der Gedanke abgelehnt
werden, dass in Fällen, in welchen die Competenz der
Verwaltung überhaupt begründet ist, die Gerichte auf
Vornahme von Verwaltungshandlungen oder auf Sisti-
[200]Vierter Abschnitt.
rung, Zurücknahme oder Aenderung solcher zu erkennen
berufen seien.1 Die Staatsgewalt, indem sie als höchste
ordnende Macht die Aufgaben des Staats vollzieht, kann
als solche niemals zu der Stellung einer Processpartei
[201]§. 63. Rechtsschutz der Staatsbürger.
herabgedrückt werden. Auch ist es unzulässig, diese
Annahme dadurch vorzubereiten, dass man jene ihrer
organischen Natur entkleidet und auf den Massstab
des privatrechtlichen Gesellschaftsrechts zurückzuführen
versucht. In ihrer eigenen inneren Organisation hat sie
die Garantieen der Rechtmässigkeit ihres Handelns, oder
der Remedur ungesetzlichen Handelns durch einen ihrer
Vertreter, und das Beschwerderecht, unterstützt durch
die schliesslichen Rechtsmittel der Ständeversammlung,
muss nebst dem Recursrechte in Verwaltungsstreitsachen
nach menschlichem Ermessen als ausreichende Bürg-
schaft für die Gesetzmässigkeit des Waltens der Staats-
gewalt gelten. Diese Garantieen mögen einer weiteren
Entwickelung und Stärkung in sich und durch Her-
stellung eines besonderen öffentlichen Gerichtshofs fähig
und bedürftig sein, aber die Unterstellung der Ver-
waltung unter eine ganz allgemeine Kritik der gewöhn-
lichen Civilgerichte würde zu einer völligen Verkehrung
der naturgemässen Verhältnisse und zu einer verderb-
lichen Lähmung der Staatsgewalt führen.
Wohl aber kann das rechtswidrige Verfahren eines
Vertreters der Staatsverwaltung die Wirkung haben,
dass dadurch ein der gerichtlichen Verfolgung fähiger
1
[202]Vierter Abschnitt.
Thatbestand geschaffen wird. Es ist denkbar, dass
durch eine Verwaltungshandlung ein erworbenes Recht2
verletzt wird, oder dass der unrechtmässige Act einer
Administrativbehörde einen privatrechtlichen Ersatzan-
spruch des Verletzten oder ein Rückforderungsrecht3
begründet. Hier sondert sich aus der Beziehung des
Staatsbürgers zur Staatsgewalt ein privatrechtlich indi-
vidualisirter Thatbestand ab, der unter dem Rechts-
schutze der Civilgerichte steht. Diese haben auf An-
erkennung des verletzten Rechts, sowie auf Ent-
schädigung zu erkennen. Auch erstreckt sich ihre
Prüfung auf die Frage der Rechtswidrigkeit der Ver-
waltungshandlung, insofern sie die thatsächliche Grund-
lage des Entschädigungsanspruchs bildet, sofern nicht
die Landesgesetze diesen Theil des Streitmaterials allein
der Entscheidung der höheren Verwaltungsbehörde vor-
behalten,4 welche alsdann das Gericht (und zwar nicht
bloss wie ein Gutachten Sachverständiger) anzuerkennen
verbunden ist. Die beklagte Partei ist nach Umständen
der handelnde Beamte persönlich, nach Umständen der
Fiscus. Insbesondere kann der Fiscus immer belangt
[203]§. 63. Rechtsschutz der Staatsbürger.
werden, wenn die Klage gegen den schuldigen Beamten
wegen Mangels an Zahlungsmitteln erfolglos geblieben
ist; denn in der Aufstellung eines mit öffentlicher
Auctorität bekleideten Beamten und der Nöthigung des
Publicums, mit ihm als Vertreter der Obrigkeit zu ver-
kehren, liegt die stillschweigende Uebernahme einer
subsidiären Garantie für die durch pflichtwidrige Aus-
übung der ihm anvertrauten Amtsbefugnisse oder Ver-
nachlässigung seiner amtlichen Pflichten entstandenen
Forderungen.5 In allen Fällen, in welchen hiernach ein
[204]Vierter Abschnitt.
Klagerecht besteht, hat der Verletzte zugleich das Recht
der Beschwerde; er kann den Weg der Beschwerde un-
beschadet seines Klagerechts vor oder während der
Klage betreten, sowie er ihm auch nach erfolglos be-
endigtem Processe noch offen steht.
Die Zahlen zeigen auf die Seiten, die in Klammern befindlichen
auf die Anmerkungen.
Abdication 92.
Abgeordnete 127.
Abolition 170.
Adel, hoher 49. 192.
Administrativ-Justiz 178.
Adoptirte 87.
Advocaten 107.
Agnaten 78. 88.
Allgemeine bürgerliche Rechte
46.
Amendement 141 (6).
Aemter 104.
Anstellung 114.
Apanagen 79.
Aerzte 107.
Auflösung der Ständeversamm-
lung 132.
Ausschuss 133.
Austritt aus dem Dienst 116.
Auswärtige Hoheit 67. 165.
Autonomie 51 (5). 56 (3). 137 (1).
Beamte 196. 203.
Begnadigung 171.
Beschwerderecht 197.
Besitzstand 18.
Budget 155.
Bundesrechtliche Schranken 40.
Bundesschiedsgericht 189.
Bundesstaat 24.
Bureaukratie 105.
Cassation 118.
Centralisation 104 (2).
Cession des Thronfolgerechts
86 (8).
Civilliste 74.
Cognatensuccession 88.
Commissionen 132.
Competenz der Administration
176.
— der Justiz 171.
Competenzconflicte 179.
Contrasignatur 95 (2).
Deutscher Bund 23.
Deutsches Staatsrecht 9.
Dienstehre 113.
Dienstentlassung 117.
[206]Register.
Dienstentsetzung 118.
Dienstvertrag 114 (1).
Disciplinargewalt 110.
— der Ständeversammlung 131.
Dispensationsrecht 162 (2).
Domainen 75.
Ebenbürtigkeit 87.
Entsagung des Monarchen 92.
Entschädigungsforderungen 202.
Erübrigungen 154 (1).
Etat 155.
Etatsüberschreitung 157 flg.
Expropriationsrecht 39.
Feudalstände 119 flg.
Finanzgesetz 154.
Finanzhoheit 66.
Finanzperiode 155.
Fiscus 2 (1). 21 (3). 66. 175. 202.
Formwidrige Gesetze 149.
Garantieen 8.
Gebrechtlichkeit 89.
Gehalt 113 (11).
Gemeinden 54.
Genossenschaft 2.
Gesetze, ungültige 149.
Gesetzgebung 26. 137 flg. 142 (8).
Gewalten 25.
Gewaltrecht des Staats 44.
Gewissensfreiheit 32.
Gewohnheitsrecht 13.
Gränzen der Staatsgewalt 28.
Grundgesetze 8. 12.
Grundherren 51.
Haftung des Staats 203.
Hausgesetze 80 (10).
Herrenhaus 127.
Herrschen 3. 4. 21.
Hochverrath 188.
Hofdiener 107 (10).
Hoheitsrechte 25.
Indigenat 52. 194.
Initiative 124 (2). 140.
Instructionen der Abgeordneten
120 (5). 130 (9).
Juden 52.
Juristische Persönlichkeit des
Staats 2.
Justizbeamte 108. 117.
Justizgesetze 138 (2).
Justizhoheit 65. 170 (4).
Justizorganisation 148.
Kammergut 75. 168 (6).
Kammern 127.
Kirchengesetze 140.
Kirchenhoheit 67.
Landgemeinden 59.
Landstände 118.
Landtagsperiode 130 (2). 133.
Legitimation der Landstände
131. 194.
Legitimirte 87.
Literatur 11.
Majestätsverbrechen 188.
Majorität 132. 143 (11).
Militärhoheit 67.
Minister 108. 116.
Ministeranklage 184.
Ministerverantwortlichkeit 184.
Missheirath 87.
Monarchenrecht 71.
Moratorien 171.
Naturalisation 53.
Nothgesetzgebung 143.
Nothrecht 39.
Oberaufsicht 28.
Oeffentliche Rechte 6. 16.
Organe des Staats 70.
Organismus 1.
Parlamentarische Regierung
124 (2).
Pension 113. 117.
Pensionirung 116.
[207]Register.
Petitionsrecht 34.
Politische Rechte 47.
Polizeihoheit 65.
Polizeiverordnungen 163.
Präsidenten der Kammern 131.
Pressfreiheit 33.
Primogenitur 83.
Privilegien 67. 140 (5). 164 (5).
194.
Provinzialverband 57 (5). 122.
Provisorische Gesetze 144.
Prüfungsrecht des Richters 151.
Publication der Gesetze 143.
Rang 113.
Rechtsschutz 180 flg.
Recurs 198 flg.
Regalien 25 (1).
Regent 97 (8). 98.
Regentenhaus 67.
Regierung 25.
Regierungsantritt 90.
Regierungshandlungen des Vor-
gängers 91.
Regierungsvormundschaft 101
(10).
Reichsritterschaft 51. 194.
Reichsverweser 98.
Richterliche Gewalt 27.
— Thätigkeit 168.
Sanction der Gesetze 142.
Schluss des Landtags 132.
Schuldhaft der Landstände 134.
Souverainetät 22. 24 (4).
Staatenbund 24.
Staatsanlehen 154 (1). 167.
Staatsbürger 42. 52 flg. 194.
Staatsdiener 104 flg. 128 (7). 196.
Staatsgebiet 60.
Staatsgerichtshof 186.
Staatsgewalt 19.
Staatsgut 168.
Staatsrecht 3.
Staatsschuld 167.
Staatsverträge 165 (2).
Staatszweck 29.
Stadtgemeinden 58.
Stände 118 flg.
Ständeclassen 49.
Standesherren 49. 192.
Stellvertretung des Monarchen
96.
Stellvertretungskosten 129 (7).
Steuerbewilligungsrecht 158.
Steuerpflicht 154 (2).
System 3. 19.
Tarife 163 (4).
Taxen 163 (4).
Territorium 62.
Thatsachen als Rechtsquelle 18
Theilung der Gewalten 124 (2).
Thronfolge 84. 191.
Thronfolgeordnung 84.
Thronmündigkeit 91.
Thronverzicht 92.
Titel 113.
Uneheliche 87.
Untheilbarkeit der Staatsgewalt
22.
Urlaub 128 (7). 131 (5).
Verantwortlichkeit der Staats-
diener 111.
Veräusserung der Staatsgüter
154 (1). 168.
Verfassung 8 (2). 11. 31 (4). 121.
Verfassungsgesetze 143.
Verhaftung der Landstände 134.
Verjährung 17.
Verlust des Monarchenrechts 92.
Verordnungen 146.
Versammlungsrecht 34.
Versetzung 112.
— in den Ruhestand 116.
[208]Register.
Vertagung 132.
Vertrag 8 (3). 13 (2).
Verwaltung 161. 176.
Verwaltungsjustiz 178.
Verwaltungsrecht 4.
Verzicht der Agnaten 86 (8).
Volksrechte 32.
Volljährigkeit 91.
Vollziehung 28.
Wahlen 128.
Wähler 130.
Wahlmänner 128.
Widerstand, activer 199.
— passiver 199.
Wohlerworbene Rechte 35.
Zölle 155 (3).
Zwischenherrscher 92 (6).
Officin der Verlagshandlung.