Das Recht der Uebersetzung bleibt vorbehalten.
Pierer’sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel \& Co. in Altenburg.
Als ich mich vor acht Jahren verpflichtete, für Bindings Hand-
buch der Deutschen Rechtswissenschaft die Geschichte des Deutschen
Rechtes zu bearbeiten, wurde in Aussicht genommen, daſs der erste
Band in etwa vierzig Bogen die germanische und die fränkische Zeit
umfassen werde. Da sich der Abschluſs der Arbeit aus Gründen, die
zum Teil in der Sache, zum Teil in meinen persönlichen Verhältnissen
beruhten, länger hinausschob, als ursprünglich zu erwarten stand, so
entschloſs ich mich im Einverständnis mit dem Herrn Herausgeber
und mit dem Herrn Verleger, zunächst einen minder umfangreichen
Band zu veröffentlichen, in demselben nur die germanische Zeit und
die allgemeine Rechtsgeschichte der fränkischen Zeit zu behandeln,
dagegen die besondere Rechtsgeschichte der fränkischen Periode dem
zweiten Bande vorzubehalten.
Daſs eine zusammenfassende, nicht an den Rahmen eines kurzen
Lehrbuches gebundene Darstellung der deutschen Rechtsgeschichte
nachgerade ein dringendes Bedürfnis geworden war, ist eine nicht bloſs
in Fachkreisen allgemein anerkannte Thatsache. Der Versuch, die seit
einem halben Jahrhundert durch Spezialuntersuchungen gewonnenen
Ergebnisse unter Dach und Fach zu bringen, konnte nur gewagt
werden auf die Gefahr hin, daſs die Ausführung im einzelnen
mancherlei Mängel und Lücken aufweisen werde. In dem Bewuſst-
sein, diese Gefahr nicht scheuen zu dürfen, hatte ich andererseits
den redlichen Willen, nicht mehr wissen zu wollen, als wir bei dem
heutigen Stande der Forschung wissen können.
Freundliche Belehrung auf sprachwissenschaftlichem Gebiete ver-
danke ich meinen leider zu früh hingegangenen Kollegen Karl Müllen-
hoff und Wilhelm Scherer. Für vielfache Unterstützung und Anregung
schulde ich Herrn Dr. Karl Zeumer in Berlin und Herrn Professor
Konrad Maurer in München meinen lebhaftesten Dank. Über mein
Verhältnis zu Richard Schröders Deutscher Rechtsgeschichte, von der
ich bedauere, daſs ich sie nicht mehr als es geschehen ist benutzen
konnte, habe ich mich in der Einleitung ausgesprochen.
Berlin, 18. März 1887.
Heinrich Brunner.
Aelfred = Aelfreds Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl.
1858, S 58 ff.
Aethelbirht = Aethelbirhts Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen,
2. Aufl. 1858, S 2 ff.
Aethelred = Aethelreds Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen,
2. Aufl. 1858, S 198 ff.
Aethelstan = Aethelstans Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen,
2. Aufl. 1858, S 126 ff.
Aist. = Aistulfs Gesetze im Edictus Langobardorum nach Bluhmes Ausgabe in
Mon. Germ. LL IV 195 ff.
Ahd. Gl. = Die althochdeutschen Glossen gesammelt und bearbeitet von Elias
Steinmeyeru. Eduard Sievers, Bd 1: Glossen zu biblischen Schriften,
1879; Bd. 2: Glossen zu nicht biblischen Schriften, 1882.
Antiqua = Reccaredi Wisigothorum regis antiqua legum collectio, ed. Blume 1847.
Apollinaris Sidonius = Oeuvres de Sidoine Apollinaire publ. par Eugène
Baret, Paris 1879.
Beyer = Urkundenbuch zur Geschichte der mittelrheinischen Territorien, hg. von
H. Beyer, Bd 1 1860.
Bouquet = M. Bouquet, Recueil des historiens des Gaules et de la France,
23 Bde 1738—1876.
Bracton = Henrici de Bracton, De legibus et consuetudinibus Angliae libri
quinque, London 1640.
Brev. Not. Salzb. = Breves Notitiae Salzburgenses in Keinz, Indiculus Arnonis
und Breves Not. Salzb., 1869.
Cap. = Capitularia regum Francorum nach der Ausgabe von Boretius in Mon.
Germ. Legum sectio II tomus I. Wo der Zusammenhang ergiebt, daſs ein
Kapitular gemeint sei, ist nur Band und Seitenzahl angegeben. Die Ka-
pitularien nach 827 sind nach der Ausgabe von Pertz in Mon. Germ.
LL I zitiert.
Cap. Rem. = Remedii Curiensis episcopi capitula, ed. Haenel in Mon. Germ.
LL V 181 ff.
Cap. zur Lex Sal. = Lex Salica, hg. von Behrend, nebst den Capitularien zur
Lex Salica bearbeitet von Boretius, 1874, S 83 ff.
Cart. Lang. = Cartularium Langobardicum nach der Ausgabe von Boretius in
Mon. Germ. LL IV 595 ff.
Chartae = Chartarum tomus I. II in den Historiae patriae monumenta, Aug.
Taurin. 1836 ff.
Chartes de Cluny = Recueil des chartes de l’abbaye de Cluny formé par
A. Bernard, publié par A. Bruel Paris 1876.
Cassiod. Var. = M. Aurelii Cassiodori Variarum libri duodecim bei Migne,
Patrologia latina tom. LXIX, 1865, col. 500 ff.
Cod. dipl. Lang. = Codex diplomaticus Langobardiae in den Historiae patriae
monumenta tom. XIII, Aug. Taurin. 1873.
Dipl. = Abteilung Diplomata in den Monumenta Germaniae historica.
Edg. = Edgars Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858,
S 182 ff.
Ed. Theod. = Edictum Theoderici regis nach Bluhmes Ausgabe in Mon. Germ.
LL V 149.
Edmund = Edmunds Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl.
1858, S 172 ff.
Edward = Edwards Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl.
1858, S 110.
Edward u. Guthrum = Edwards und Guthrums Gesetze in R. Schmids Ge-
setze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 118 ff.
Expositio = Expositio zum Liber legis Langobardorum in der Ausgabe von
Boretius, Mon. Germ. LL IV 290 ff.
Form. = Formulae Merowingici et Karolini aevi, ed. Karolus Zeumer in Mon.
Germ. Legum sectio V.
Frostuþíngslög = Ældre Frostathings-Lov in Norges gamle Love indtil 1387,
udg. ved R. Keyser og P. A. Munch, Christiania 1846, I 119 ff.
Gallia christiana, 2. editio, 13 Bde Parisiis 1715—1785.
Germania, Vierteljahrsschrift für Deutsche Alterthumskunde herausgegeben von Fr.
Pfeiffer, 12 Bde 1856—1867. Neue Reihe fortgesetzt von K. Bartsch,
18 Bde 1868—1885.
Grim. = Grimoalds Gesetze im Edictus Langobardorum nach Bluhmes Ausgabe
in Mon. Germ. LL IV 91 ff.
Gulaþíngslög = Ældre Gulathings-Lov in Norges gamle Love indtil 1387, udg.
ved R. Keyser og P. A. Munch, Christiania 1846, I 1 ff.
Heliand, herausgegeben von Eduard Sievers 1878.
Hermes oder kritisches Jahrbuch der Literatur, 35 Bde Leipzig 1819—1831.
Hermes, Zeitschrift für classische Philologie, 21 Bde 1866—1886.
Hisp. ill. = (Andr. Schottus) Hispaniae illustratae … scriptores varii, Franco-
furti, 4 Bde 1603—1608.
Hlothar und Eadric = Hlothars und Eadrics Gesetze in R. Schmids Gesetze
der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 10 ff.
Indic. Arn. = Indiculus Arnonis in Keinz, Indic. Arn. und Breves Notitiae
Salzburgenses, 1869.
Ine = Ines Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 20 ff.
J des gem. d. R. = Jahrbuch des gemeinen deutschen Rechts, hg. von E. J.
Bekker und Th. Muther (und O. Stobbe), 6 Bde 1857—1863.
Jordanis, De origine actibusque Getarum, ed. Mommsen in Mon. Germ. Aucto-
rum antiquissimorum tom. V 53 ff.
Kemble = Kemble, Codex diplomaticus aevi Saxonici, 6 Bde 1839 ff.
Kleinmayrn = (J. F. Th. v. Kleinmayrn) Nachrichten vom Zustande der
Gegenden und Stadt Juvavia, 1784.
Klitschdorfer Kodex, eine im Besitze des Herrn Grafen Solms-Baruth auf Schloſs
Klitschdorf bei Bunzlau in Schlesien befindliche, teilweise verstümmelte
Handschrift des 9. oder 10. Jahrh., über welche mir Herr Dr. Wernicke
zu Bunzlau freundliche Auskunft erteilt hat. Sie enthält u. a. den Pro-
log Moyses gentis etc., Konstitutionen des Codex Theodosianus, die Lex
Salica emendata, Teile der Lex Ribuaria und der Lex Baiuwariorum, die
Lex Alamannorum, einzelne Kapitularien und die Recapitulatio legis
Salicae. Die Handschrift ist vor kurzem von dem Besitzer auf Ansuchen
der Berliner Akademie nach Berlin gesendet worden, wo sie für die Mon.
Germ. hist. verwertet werden soll.
Knut = Cnuts Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 250 ff.
Lacomblet UB = Lacomblet, Urkundenbuch für die Geschichte des Nieder-
rheins, 1840 ff.
Leges Edw. Conf. = Leges Edwardi Confessoris in R. Schmids Gesetze der
Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 491 ff.
Leges Henr. I. = Leges regis Henrici primi in R. Schmids Gesetze der
Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 432 ff.
Lex Al. oder Lex Alam. = Lex Alamannorum nach Merkels Ausgabe in den
Mon. Germ. LL III 45 ff. Wo nichts weiter bemerkt wird, ist die Hlo-
thariana zitiert.
Lex Al. Lantfr. = Lex Alamannorum Lantfridana nach Merkels Ausgabe in
den Mon. Germ. LL III 84 ff.
Lex Al. Kar. = Lex Alamannorum Karolina nach Merkels Ausgabe in den
Mon. Germ. LL III 125 ff.
Lex Angl. = Lex Angliorum et Werinorum hoc est Thuringorum nach v. Richt-
hofens Ausgabe in Mon. Germ. LL V 119.
Lex Bai. oder Lex Baiuw. = Lex Baiuwariorum nach Merkels Ausgabe in den
Mon. Germ. LL III 269 ff. Wo nichts weiter bemerkt wird, ist Merkels
Textus primus zitiert.
Lex Burg. = Lex Burgundionum nach Bindings Ausgabe in den Fontes rerum
Bernensium Bd 1 1880.
Lex Fris. = Lex Frisionum nach v. Richthofens Ausgabe in Mon. Germ. LL
III 656 ff.
Lex Cham. = Lex Francorum Chamavorum nach Sohms Ausgabe in Mon.
Germ. LL V 271.
Lex Gundobada = Lex Burgundionum.
Lex Rib. = Lex Ribuaria nach Sohms Ausgabe in Mon. Germ. LL V 213 ff.
Lex Rom. Burg. = Lex Romana Burgundionum vulgo Papianus dicta nach
Bluhmes Ausgabe in den Mon. Germ. LL III 595 ff.
Lex Rom. Cur. = Lex Romana Curiensis oder Epitome S. Galli in Haenels
Ausgabe der Lex Romana Visigothorum 1849.
Lex Rom. Utin. = Lex Romana Curiensis.
Lex Rom. Wis. = Lex Romana Visigothorum, ed. Gust. Haenel 1849.
Lex Sal. = Lex Salica nach der Ausgabe von Hessels, London 1880.
Lex Sax. = Lex Saxonum nach v. Richthofens Ausgabe in den Mon. Germ.
LL V 47 ff.
Lex Thur. = Lex Angliorum et Werinorum hoc est Thuringorum.
Lex Wis. oder Lex Wisig. = Lex Wisigothorum nach Walters Ausgabe in
dessen Corpus iuris germanici antiqui I 417 ff. Wo eine andere Ausgabe
zitiert wird, ist dies besonders bemerkt.
Liber leg. Lang. = Liber legis Langobardorum Papiensis dictus nach der Aus-
gabe von Boretius in Mon. Germ. LL IV 290 ff.
Liu. = Liutprands Gesetze im Edictus Langobardorum nach Bluhmes Ausgabe
in Mon. Germ. IV 107 ff.
LL = Abteilung Leges in den Monumenta Germaniae historica.
Mansi, S. conciliorum nova et amplissima collectio, 31 Bde 1759—1798.
Marini, Papiri diplomatici, Roma 1805.
MG oder Mon. Germ. = Monumenta Germaniae historica.
Meichelbeck, Historiae Frisingensis tomus I, 1724. Pars prima ist nur mit An-
gabe der Seitenzahl (I S), Pars altera instrumentaria mit Angabe der
Urkundennummer (I Nr) zitiert.
Mieris, Groot Charterboek der graaven van Holland, van Zeeland en herren van
Vriesland, 4 D. Leyden 1754—1756.
Migne, Patrologiae Cursus completus, seu bibliotheca … omnium SS. patrum,
doctorum scriptorumque ecclesiasticorum, Series latina, 1844 ff.
Mohr, Cod. dipl. = v. Mohr, Codex diplomaticus, Sammlung der Urkunden zur
Geschichte Cur-Rätiens und der Republik Graubünden, 1848 ff.
Muratori, Ant. = Muratori, Antiquitates italicae medii aevi, 6 Bde Medio-
lani 1738—1742.
Muratori, SS = Muratori, Rerum italicarum scriptores, 28 Bde Mediolani
1723—1751.
Östgötal. = Östgötalagen utg. af Collin och Schlyter in Schlyters Corpus
iuris Sveo-Gotorum antiqui t. II.
Pactus Alam. = Pactus Alamannorum nach Merkels Ausgabe in Mon. Germ.
LL III 34.
Pard., Dipl. = Pardessus, Diplomata, chartae, epistolae, leges prius collecta
a De Brequigny et La Porte Du Theil, 2 Bde Paris 1843. 1849.
Pez, Thesaurus anecdotorum novissimus, 6 Bde 1771—1829.
Ratchis = Gesetze des Königs Ratchis im Edictus Langobardorum nach Bluhmes
Ausgabe in den Mon. Germ. LL IV 183 ff.
Registr. Farfense = Regesto di Farfa compilato da Gregorio di Catino e pub-
blicato dalla società romana di storia patria a cura di Giorgi e Bal-
zani, Roma Bd 2 1879, Bd 3 1883.
v. Richthofen, RQ = Karl Freih. v. Richthofen, Friesische Rechtsquellen, 1840.
Roth. = Rotharis Gesetze im Edictus Langobardorum nach Bluhmes Ausgabe in
Mon. Germ. LL IV 13 ff.
Roz. = Rozière, Recueil général des formules usitées dans l’empire des Francs
du Ve au Xe siècle, 3 Bde 1859—71.
Saxo Grammaticus, Gesta Danorum, ed. Alfr. Holder 1886.
Ssp = Sachsenspiegel Landrechts nach C. G. Homeyer, Des Sachsenspiegels
erster Theil, 3. Aufl. 1861.
SS = Abteilung Scriptores in den Monumenta Germaniae historica.
Sunesen = Andreas Sunesens Paraphrase des Schonischen Rechtes in Schly-
ters Corpus iuris Sveo-Gotorum antiqui t. IX.
Trad. Corb. = Traditiones Corbeienses, ed. Wigand 1843.
Trad. Fuld. = Traditiones Fuldenses in Dronke, Codex dipl. Fuldensis, 1850.
Troya = Troya, Storia d’Italia IV: Codice diplomatico Longobardo, 5 Bde 1852 ff.
Ulfilas = Die gotische Bibel des Vulfila nebst der Skeireins, dem Kalender und
den Urkunden herausgeg. von E. Bernhardt 1884. Wo es der Zusammen-
hang ergiebt, daſs Ulfilas gemeint sei, sind nur die betreffenden Bibel-
stellen zitiert.
Vaissete, Hist. de Langued. = Histoire générale de Languedoc, par Dom
Cl. Devic et Dom J. Vaissete, nouv. édition Toulouse 1872 ff.
Wartmann = Wartmann, Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen, 3 Bde 1863 ff.
Westgötal. = Westgötalagen utg. af Collin och Schlyter in Schlyters
Corpus iuris Sveo-Gotorum antiqui t. I.
Wihträd = Wihträds Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl.
1858, S 14 ff.
Z f. DA = Zeitschrift für Deutsches Alterthum (und Deutsche Litteratur) heraus-
gegeben von M. Haupt, 12 Bde 1841—1865; Neue Folge (fortgesetzt von
K. Müllenhoff, W. Scherer u. E. Steinmeyer), 18 Bde 1867—1886.
Z f. HR = Zeitschrift für das gesammte Handelsrecht herausgegeben von Gold-
schmidt u. a., 32 Bde 1858 ff.
Zeuſs, Trad. Wiz. = Traditiones possessionesque Wizenburgenses, ed. Zeuſs
1842.
Die sonstigen Abkürzungen finden in § 4 S 10 ff. und in § 5 S 22 ff. ihre
Erläuterung.
Karl Friedr. Eichhorn, Über das geschichtliche Studium des deutschen Rechts,
in der Z f. gesch. RW I 124 ff. Paul Roth, Die rechtsgeschichtlichen For-
schungen seit Eichhorn, Z f. RG I 7 ff. v. Amira, Über Zweck und Mittel der
germanischen Rechtsgeschichte, 1876.
Die deutsche Rechtsgeschichte will das Recht des deutschen
Volkes in seiner geschichtlichen Entwicklung ergründen und zur
wissenschaftlichen Darstellung bringen. Keinen Bestandteil ihrer Auf-
gabe bilden die Schwesterrechte und die Tochterrechte des deutschen
Rechtes, sowie die von dem deutschen Volke adoptierten fremden
Rechte.
Die deutsche Rechtsgeschichte deckt sich nicht mit der germa-
nischen Rechtsgeschichte, denn sie hat es nicht mit den Rechten der
sämtlichen germanischen Stämme zu thun. Allerdings gab es eine
Periode, in der die Rechtseinrichtungen der deutschen und der nicht
deutschen Germanen im wesentlichen gleichartig waren; allein die
Rechte der letzteren stehen in der Zeit, da ihre ältesten selb-
ständigen Rechtsquellen auftauchen, dem deutschen Rechte trotz naher
Verwandtschaft bereits in eigenartiger Ausbildung gegenüber und
fallen damit aus dem Rahmen der Aufgabe heraus, welche zu ver-
folgen die deutsche Rechtsgeschichte sich bescheiden muſs. Man kann
diese Rechte, das norwegische und isländische Recht, das schwedische
und das dänische und die Rechte der gotisch-vandalischen Völker-
schaften, die Schwesterrechte des deutschen Rechtes nennen, weil sie
mit ihm auf ursprünglich gemeinsamer germanischer Grundlage er-
wachsen sind.
Als Tochterrechte des deutschen Rechtes erscheinen das angel-
sächsische und das englische, das langobardisch-italienische, das
französische Recht und die niederländischen Rechte. Die deutschen
Auswanderer, die man nachmals als Angelsachsen zusammenfaſste,
verpflanzten ihr heimisches Recht in das von ihnen eroberte Britannien,
um es hier in selbständiger Weise fortzubilden. Als dann die west-
fränkischen Normannen England eroberten, brachten sie daselbst die
fränkischen Rechtseinrichtungen ihrer Heimat zur Geltung. Haupt-
sächlich auf fränkisch-normannischen, teilweise auf angelsächsischen
Grundlagen beruht die Entwicklung des englischen Rechtes. Die
Langobarden verschwinden mit ihrer Wanderung nach Italien aus dem
eigentlichen Gesichtsfelde der deutschen Rechtsgeschichte, treten aber
durch ihre Unterwerfung unter das fränkische Reich in die gemein-
same Rechtsentwicklung der in diesem vereinigten Stämme ein. Nach
der Auflösung der fränkischen Monarchie geht nicht bloſs das lango-
bardische Recht in enger örtlicher Berührung mit dem römischen
Rechte Italiens seine eigenen Wege, sondern es zweigt sich auch das
westfränkische Recht als französisches Recht von dem Strome der
deutschen Rechtsgeschichte ab. Zuletzt haben sich die nieder-
ländischen Rechte dem deutschen Rechte soweit entfremdet, um aus
der Stellung deutscher Partikularrechte in die Rolle deutscher Tochter-
rechte einzurücken.
Anders wie zur Darstellung verhalten sich die Schwester- und
die Tochterrechte zur Erforschung der deutschen Rechtsgeschichte.
Muſs auch jene sie ausschlieſsen, so kann doch diese sie nicht ent-
behren. Denn nur die kritische Vergleichung der Schwester- und
Tochterrechte gestattet uns die Geschichte des deutschen Rechtes bis
in Zeiten zurück zu verfolgen, über welche unsere Rechtsquellen keine
oder keine ausreichende Auskunft gewähren, und nicht selten bieten
uns die Denkmäler der verwandten Rechte die einzige oder die
sicherste Zuflucht zur methodischen Aufklärung dunkler und zweifel-
hafter Fragen unserer heimischen Rechtsentwicklung.
In Deutschland sind seit dem 15. Jahrh. römisches Recht, kanonisches
Recht und langobardisches Lehnrecht rezipiert worden. Diese drei
Rechte hat man im Sinne, wenn man schlechtweg von den in Deutsch-
land rezipierten fremden Rechten spricht. Was als römisches Recht
in Geltung trat, war nicht das reine römische Recht der Rechtsbücher
Justinians, sondern das Recht, welches italienische Rechtswissenschaft
und Rechtspraxis auf Grund jener Rechtsbücher ausgebildet hatten.
Auf die Ausgestaltung desselben und ebenso auf den Entwicklungs-
gang des kanonischen Rechtes übte das langobardische Recht einen
[3]der deutschen Rechtsgeschichte.
nicht unerheblichen Einfluſs aus, ein Umstand, durch welchen es
unter den deutschen Tochterrechten für uns erhöhte Bedeutung ge-
winnt. Soweit die fremden Rechte sich unabhängig vom deutschen
Rechte entwickelt haben, sind sie nicht Gegenstand der deutschen
Rechtsgeschichte, wohl aber hat diese die Einwirkungen ins Auge zu
fassen, welche die fremden Rechte vor der Rezeption durch die im
langobardischen Rechte vertretenen deutschen Rechtsprinzipien er-
fahren haben, und ebenso die Fortbildung, welche den fremden
Rechten auf deutscher Erde zuteil geworden ist.
Abgesehen von den drei „fremden Rechten“ hat das deutsche
Volk einzelne bedeutsame Rechtsinstitutionen auswärtigen Ursprungs
bei sich eingeführt. Schon im Mittelalter fand im Wege der Handels-
praxis eine Rezeption italienischen Handelsrechtes statt. In neuerer
und neuester Zeit gelangten bei uns Einrichtungen des französischen
und des englischen Rechtes zur Aufnahme. Die Entstehungsgeschichte
dieser Rechtsinstitute darf von der deutschen Rechtsgeschichte nicht
völlig abgelehnt werden, sondern ist zur Darstellung zu bringen, so-
weit sie auf deutschrechtliche Keime zurückführt, die erst in den
Tochterrechten zu selbständiger Ausbildung gelangten.
Früher wurde die deutsche Rechtsgeschichte in Verbindung mit
der politischen Geschichte des deutschen Volkes als deutsche Reichs-
und Rechtsgeschichte, oder als deutsche Staats- und Rechtsgeschichte,
oder als deutsche Reichs- und Staatenrechtsgeschichte dargestellt. Durch
die Ausscheidung der politischen Geschichte hat sie ein einheitliches
wissenschaftliches Prinzip gewonnen und trat sie aus einer Zwitter-
stellung in die Reihe der reinen Rechtsdisziplinen ein. Daſs die
politischen Ereignisse, deren Kenntnis für das Verständnis der Rechts-
bildung wesentlich ist, nicht völlig übergangen werden, darf für selbst-
verständlich gelten und ist kein Grund, die politische Geschichte mit
der Rechtsgeschichte zu verschwistern und letztere unter einer
Kollektivfirma vorzuführen.
Die Rechtsgeschichte hat es mit dem Werden des Rechtes zu
thun; sie lehrt uns, wie das Recht von seinen erkennbaren Anfängen
ab bis zur Gegenwart sich entwickelt hat. Dadurch unterscheidet sie
sich von den Rechtsaltertümern, welche den dauernden Zustand des
Rechtes in einem gegebenen Zeitpunkte der Vergangenheit erfassen,
ihren Stoff sonach nicht im Flusse der Entwicklung, sondern als einen
ruhenden betrachten. Hebt sich die Rechtsgeschichte über die rein
antiquarische Behandlung des in der Vorzeit geltenden Rechtes hinaus,
so hat sie doch den Stoff, den es zu verarbeiten gilt, mit der
juristischen Altertumskunde gemein. Sie darf sich nicht auf die Ge-
1*
[4]§ 2. Die Gliederung des Stoffes.
schichte der in der Gegenwart lebenden Rechtsinstitute beschränken,
um etwa den Rechtsaltertümern die bereits abgestorbenen Rechts-
einrichtungen zu überlassen, denn auch letztere spielen ihre Rolle
in dem Werdeprozeſs des Rechtes und bei den innigen Wechsel-
beziehungen, welche zwischen den gleichzeitigen Rechtsinstituten der
Vergangenheit obwalten, wäre es schlechterdings unmöglich, aus dem
mehr wie tausendjährigen Gewebe der deutschen Rechtsgeschichte nur
die bis zur Gegenwart fortlaufenden Fäden auszulösen.
Wie alle Geschichte arbeitet auch die Rechtsgeschichte an dem
erhabenen Problem der Selbsterkenntnis der Menschheit. Sie hat
daher die Berechtigung ihrer Existenz in sich selbst und braucht sie
nicht erst durch den Nutzen zu begründen, welchen das Verständnis
des heutigen Rechtes aus ihr zu schöpfen vermag. Neben dieser
Auffassung hat aber noch eine andere, eine praktische Erwägung
Platz, die bei dem wissenschaftlichen Aufbau der deutschen Rechts-
geschichte in erster Linie maſsgebend war. Da alles, was da ist, nur
verstanden werden kann, wenn man weiſs, wie es geworden, wäre es
eine Selbsttäuschung, zu glauben, daſs man das geltende Recht ohne
Betrachtung seiner geschichtlichen Grundlagen zu erkennen vermöge.
Erst durch die Rechtsgeschichte, welche die Gegenwart des Rechtes
aus seiner Vergangenheit heraus erklärt, gelangt man zum wissen-
schaftlichen Verständnisse des bestehenden Rechtes. Unter diesem
Gesichtspunkte ist die deutsche Rechtsgeschichte nicht nur das un-
entbehrliche Fundament der gesamten deutschen Rechtswissenschaft,
sondern ragt ihre Bedeutung noch über das heutige Geltungsgebiet
des deutschen Rechtes hinaus. Bei der Stellung, welche das deutsche
Recht zu seinen Tochterrechten und zu seinen Schwesterrechten ein-
nahm, bei dem unmittelbaren oder mittelbaren Einfluſs, den es auf die
Rechtsbildung des Ostens ausübte, bildet die deutsche Rechtsgeschichte
recht eigentlich den Ausgangspunkt für die geschichtliche Erkenntnis
der Rechtszustände ganz Europas und seiner Kolonien.
Die Geschichte des Rechtes kann nach der historischen oder
nach der systematischen Methode gegliedert werden. Erstere nimmt
zum obersten Einteilungsgrunde die hervorragendsten Marksteine der
Rechtsentwicklung, teilt nach ihnen die Rechtsgeschichte in bestimmte
Perioden ein und stellt innerhalb jeder einzelnen Periode den ihr zu-
gehörigen Rechtsstoff in systematischer Ordnung dar. Die systematische
Methode geht von der Unterscheidung der einzelnen Rechtsinstitute
[5]§ 2. Die Gliederung des Stoffes.
aus, ordnet sie gemäſs dem heutigen System der Rechtswissenschaft
in gröſsere Gruppen und behandelt jedes einzelne Rechtsinstitut ohne
Unterbrechung vom Anfang bis zum Ausgang seiner Geschichte. Ihr
oberster Einteilungsgrund ist die Gliederung der Rechtswissenschaft.
Sie teilt zunächst das Recht und dann erst die Geschichte, die
historische Methode dagegen zunächst die Geschichte und dann das
Recht ab.
Die Wissenschaft der deutschen Rechtsgeschichte ging aus der
Verbindung von zwei ursprünglich getrennten Disziplinen hervor, deren
eine als Geschichte des Reiches und des Reichsstaatsrechtes ihren Stoff
historisch gliederte, wogegen die dem Staatsrechte fremden Institutionen
als Antiquitates juris meist ohne jegliche historische Perspektive nach
mehr oder minder systematischer Anordnung dargestellt wurden. Als
dann durch die Vereinigung dieser beiden Disziplinen die deutsche
Staats- und Rechtsgeschichte erwuchs, muſste man ihr schon mit
Rücksicht auf die Masse des unjuristischen Stoffes die historische
Einteilungsmethode zu Grunde legen 1. Erst die in neuerer Zeit voll-
zogene Abspaltung der politischen Geschichte veranlaſste den gleich-
zeitigen Übergang zur systematischen Methode.
So sehr jene Trennung die Rechtsgeschichte förderte, so kann
doch der Wechsel der Methode nicht als ein dauernder Fortschritt
bezeichnet werden. Die systematische Darstellungsweise vermag nicht
zur Anschauung zu bringen, wie die Rechtsinstitute eines Zeitalters
sich in ihrem Dasein und in ihrer Ausgestaltung gegenseitig bedingen.
Indem sie moderne Einteilungsrubriken und Begriffe, die selbst erst
ein Ergebnis der historischen Entwicklung sind, in Perioden hinein-
trägt, denen sie völlig fremd waren, verstöſst sie gegen das in der
Rechtsgeschichte waltende Grundgesetz der Differenzierung der Rechts-
institute. Dieses Gesetz äuſsert sich darin, daſs ein Rechtsinstitut im
Laufe der Zeit mit Rücksicht auf die verschiedenen Funktionen, die
es übernimmt, sich in mehrere Rechtsinstitute zerspaltet, daſs Rechts-
begriffe und Rechtsgebilde, die sich in jüngerer Zeit mit scharf
ausgeprägten Gegensätzen gegenüberstehen, anfänglich in einer un-
geschiedenen Einheit vereinigt sind. Erst auf einer gewissen Kultur-
stufe scheiden sich z. B. die Institute des öffentlichen Rechts von
denen des Privatrechts, zweit sich der Rechtsgang in ein Strafverfahren
und in ein Zivilverfahren, trennen sich die verschiedenen Arten der
Vormundschaft, fällt das Recht an der Sache in eine Reihe dinglicher
Rechte auseinander. Will man dem Differenzierungsgesetze einiger-
[6]§ 2. Die Gliederung des Stoffes.
maſsen gerecht werden, so ist es geboten, die Rechtsgeschichte nach
der historischen Methode einzuteilen, also den Stoff zunächst nach
Perioden zu gliedern.
Die Periodisierung der Rechtsgeschichte darf keine pedantische
sein. Steife Zeitgrenzen, wie etwa das Todesjahr Chlothars I. (561),
der Monat des Vertrags von Verdun (August 843), die Wahl Rudolfs
von Habsburg (29. September 1273), die Daten der goldenen Bulle
(10. Januar und 25. Dezember 1356), der Tag des Wormser Reichs-
abschiedes (7. August 1495), sind abzulehnen und durch möglichst
elastische Abrundung der einzelnen Perioden zu ersetzen, so daſs für
die Darstellung der verschiedenen Rechtsinstitute ein gewisser Spiel-
raum offen bleibt. Nur dadurch wird es möglich, jene lästigen
Wiederholungen und störenden Unterbrechungen zu vermeiden, welche
man der historischen Darstellungsweise zum Vorwurfe macht.
Als die älteste Periode der deutschen Rechtsgeschichte stellt die
germanische Zeit sich dar. Mit den ersten Anfängen unserer rechts-
geschichtlichen Kunde beginnend, endigt sie mit dem Stillstande der
sogenannten Völkerwanderung, welche durch die Bildung germanischer
Staaten auf römischer Erde und durch die Gründung des fränkischen
Reiches zum Abschluſs gelangte. Die Berührung der Germanen mit
römischer Kultur und mit dem Christentum eröffnete ihrem Rechts-
leben eine neue Epoche, die Zeit des fränkischen Reiches, welches
die Durchdringung der deutschen Stämme mit den neuen Bildungs-
elementen vermittelte. Seit der Auflösung der fränkischen Monarchie
beginnt eine neue, die dritte Periode der deutschen Rechtsgeschichte.
Ihr Gesichtskreis beschränkt sich nunmehr auf das deutsche Reich,
welches die nicht verwelschten deutschen Stämme als politische Ein-
heit umfaſst. Auf den Grundlagen, welche die fränkische Zeit ge-
schaffen hatte, erwächst eine rein volkstümliche Rechtsbildung, welche
schlieſslich, weil von oben her sich durchaus selbst überlassen, einem
weitgehenden Partikularismus verfällt. Um dieses Gebrechens willen
war es dem deutschen Rechte nicht beschieden, seine Entwicklung
selbständig zu vollenden. Vielmehr sind seit dem Ausgange des
fünfzehnten Jahrhunderts das römische und das kanonische Recht
nebst dem langobardischen Lehnrechte als gemeines Recht in die
Rechtsprechung eingedrungen. Da sich um dieselbe Zeit in der Ver-
fassung des deutschen Reiches eine Umwandlung fühlbar macht,
welche ihm den Charakter einer Staatenrepublik aufprägt, so er-
scheint es als angemessen, die dritte Periode als die Zeit der natio-
nalen Rechtsbildung in Deutschland vor dem Eintritte der Rezeption
der fremden Rechte abzuschlieſsen. Die vierte und letzte Periode
[7]§ 2. Die Gliederung des Stoffes.
beginnt mit dem Ausgange des fünfzehnten Jahrhunderts und findet
in der Gründung des neuen Reiches und in den Anfängen eines
deutschen Reichsrechtes ihren naturgemäſsen Abschluſs.
Die Rechtsgeschichte zerfällt nach dem Gegenstande ihrer Be-
trachtung in die allgemeine und in die besondere Rechtsgeschichte.
Jene verfolgt die Entwicklung des Rechtes in seiner Totalität, diese
die Entwicklung der einzelnen Rechtsinstitute. Es ist herkömmlich,
die allgemeine Rechtsgeschichte als äuſsere, die besondere als innere
Rechtsgeschichte zu bezeichnen. Allein diese Bezeichnung entspricht
nicht dem Einteilungsgrunde, durch den sie sich rechtfertigen will.
Ihn hat am schärfsten Puchta formuliert, indem er ausführte 2: „Die
Geschichte des Rechtes … hat eine doppelte Richtung. Der
Organismus entwickelt und verändert sich teils im Ganzen, teils in
seinen Gliedern, so daſs jedes Glied, da es ein ihm eigentümliches,
obwohl mit dem des Ganzen wesentlich zusammenhängendes und von
ihm untrennbares Leben besitzt, auch seine eigene, aber mit der des
Ganzen innig verwachsene Geschichte hat. So haben wir zwei Teile
der Rechtsgeschichte zu unterscheiden, die Geschichte des Rechtes
im Ganzen und die Geschichte der einzelnen Glieder des Rechtes.“
Schlieſst man sich dieser Auffassung an, so wird man es füglich ver-
meiden, von äuſserer und von innerer Rechtsgeschichte zu sprechen,
weil das Ganze eines Organismus nicht seine Auſsenseite ist und
ebensowenig die einzelnen Glieder seine innere Seite darstellen.
Die allgemeine Rechtsgeschichte hat es vorzugsweise mit der
Geschichte der Rechtsquellen zu thun. Auſserdem soll sie die poli-
tischen, die wirtschaftlichen und die sozialen Verhältnisse als die
Grundlagen und treibenden Kräfte der Rechtsbildung zur Anschauung
bringen. Demgemäſs wird in dem jeder einzelnen Periode gewidmeten
Abschnitte dieses Handbuches zunächst eine Übersicht über die für
die Rechtsbildung erheblichen politischen Thatsachen und eine Er-
örterung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände ihren
Platz finden. Die Einteilung der inneren Rechtsgeschichte legt die
Unterscheidung des Rechtes in Staatsrecht, Strafrecht, Prozeſsrecht
und Privatrecht zu Grunde, soweit innerhalb der gewählten Zeit-
abschnitte die Glieder jener Einteilung als bereits vorhanden betrachtet
werden dürfen.
Spricht man von den Quellen der deutschen Rechtsgeschichte, so
hat man es nicht mit den Entstehungsquellen, sondern mit den
Erkenntnisquellen des Rechtes zu thun. Man kann unter ihnen
Haupt- und Nebenquellen unterscheiden, indem man als Hauptquellen
diejenigen zusammenfaſst, welche zum Zwecke der Anwendung im
Rechtsleben entstanden sind, sei es nun daſs sie die Kenntnis von
Rechtssätzen vermitteln oder zur Beurkundung einzelner Rechtsakte
dienen wollten. Es gehören hierher 1. Aufzeichnungen von Satzungen,
2. schlichte Rechtsaufzeichnungen, 3. die Erzeugnisse der juristischen
Litteratur, für das Mittelalter hauptsächlich durch die Rechtsbücher
vertreten. Sie heben sich durch die Tendenz schriftstellerischer
Bearbeitung des Rechtsstoffes von den schlichten Rechtsaufzeichnungen
ab, welchen es nur darauf ankommt, geltende Rechtssätze schriftlich
zu fixieren. 4. Rechtssprichwörter, landläufige kurzgefaſste Sätze von
durchschlagender Kraft, in welche der Volksmund allgemein anerkannte
Rechtsgedanken einzukleiden liebte, oft Jahrhunderte hindurch im
Wege mündlicher Überlieferung fortgepflanzt, ehe sie zur schriftlichen
Aufzeichnung gelangten 1. 5. Formeln, Formelsammlungen und Formel-
bücher. Unter Formeln versteht man einerseits Muster für mündliche
Erklärungen, welche bei staatsrechtlichen Akten 2, im Rechtsgang oder
bei Abschluſs von Rechtsgeschäften zur Anwendung kamen 3, andrer-
seits Muster für Urkunden, Urkundenformeln. Letztere sind gemeint,
wenn man von Formeln schlechtweg spricht. Formelsammlungen sind
Zusammenstellungen von Formeln zum Zwecke des Unterrichts oder
zum praktischen Gebrauche. Sind sie systematisch angelegt, so darf
man sie Formelbücher nennen. 6. Urkunden, Sammlungen und Be-
arbeitungen von Urkunden. Als Urkunden stellen sich dem Rechts-
historiker Schriftstücke dar, welche zum Abschluſs von Rechtsgeschäften
[9]§ 3. Die Quellen der deutschen Rechtsgeschichte.
oder zum Zeugnis über rechtliche Handlungen bestimmt waren 4. Als
Führer durch die unübersehbare Masse des überlieferten Urkunden-
stoffes dienen die Regesten, Verzeichnisse, welche in chronologischer
Anordnung kurzgefaſste Inhaltsangaben darbieten. Solche Regesten-
werke sind in neuerer und neuester Zeit insbesondere für die Königs-
und Kaiserurkunden angelegt worden 5. Im Mittelalter hat man in
den Kirchen und Klöstern Abschriften der Urkunden, welche sich auf
die Rechtsverhältnisse der Kirche oder des Klosters bezogen, zur
besseren Übersicht in besondere Codices, Kartularien, Traditionsbücher
eingetragen. Bei der Eintragung wurden die Urkunden manchmal
einer Verkürzung unterworfen, indem man Urkundenbestandteile, die
als überflüssig erschienen, hinweglieſs, oder es wurde von vorne-
herein nur eine Sammlung von Auszügen aus den Urkunden des
Kirchenarchivs angelegt.
Zu den Nebenquellen zählen die rein historischen Quellen,
Annalisten, Chronisten und Geschichtschreiber 6, Briefe, Gesandt-
schaftsberichte, Memoiren und Staatsschriften, Inschriften 7, Monu-
[10]§ 4. Hilfsmittel und Hilfswissenschaften.
mente 8, Wappen, Siegel, Münzen und sogenannte Altertümer 9. Dazu
kommen noch die Denkmäler der germanischen und romanischen Litte-
ratur, soweit sie nicht unter die bereits aufgezählten Quellen fallen, ins-
besondere die Dichtungen des Mittelalters 10. Für die ältere Zeit, da
die Hauptquellen spärlich flieſsen, haben die Nebenquellen bedeut-
samen rechtsgeschichtlichen Wert. Für die germanische Periode, der
es an Rechtsdenkmälern völlig gebricht, sind sie unsere einzige un-
mittelbare Erkenntnisquelle.
Die Reihe der Hilfsmittel aufzuzählen, welche die für das Ver-
ständnis der Quellen erforderliche philologische Vorbildung gewähren,
ist hier nicht der Ort, doch mag es immerhin als zweckmäſsig er-
scheinen, auf die gangbarsten Wörterbücher hinzuweisen, welche für
die Sprachen und Mundarten vorliegen, deren Kenntnis das Studium
der Quellen voraussetzt.
Ein recht brauchbares Wörterbuch älterer deutscher Rechtsausdrücke, welches
schon längst eine ergänzende Umarbeitung verdient hätte, ist Christian Gottlob
Haltaus, Glossarium Germanicum medii aevi, 2 Bde 1758.
Für das mittelalterliche Latein, welches bis in das 13. Jahrhundert die
Sprache der deutschen Rechtsquellen war, dient als unentbehrliches Hilfswerk:
Carolus Du Fresne dominus Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis,
mit den Zusätzen der Benedictiner, Carpentiers, Adelungs und anderer heraus-
gegeben von G. A. L. Henschel, 1840 7 Bde. Ein aus den Glossen und Voka-
bularien des Mittelalters zusammengestelltes Supplement ist Lorenz Diefen-
bach, Glossarium Latino-Germanicum mediae et infimae aetatis, 1857 1.
Dem Verständnis der germanischen Sprachen dienen und zwar
der gotischen:
E. Schulze, Gotisches Glossar, 1847; ders., Gotisches Wörterbuch, 1867.
der althochdeutschen:
E. G. Graff, Althochdeutscher Sprachschatz oder Wörterbuch der althoch-
deutschen Sprache, 1834 ff. 6 Bde. Dazu ein alphabetischer Index von Maſsmann,
1846. O. Schade, Althochdeutsches Wörterbuch, 2. Aufl. 1872—1882. E. Stein-
meyer u. E. Sievers, Die althochdeutschen Glossen, gesammelt und erläutert,
bisher 2 Bde 1879. 1882.
der mittelhochdeutschen:
W. Müller u. Zarncke, Mhd. Wörterbuch mit Benutzung des Nachlasses
von G. F. Benecke, 3 Bde 1854 ff. M. Lexer, Mhd. Handwörterbuch, 3 Bde
1872—1878.
der neuhochdeutschen Sprache und ihrer geschichtlichen Ent-
wicklung:
J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, fortgesetzt von Weigand, Hilde-
brand, Heyne, Lexer und Wülcker, 1854 ff. I—III. IV erste Abteilung erste Hälfte
und zweite Hälfte Lieferung 1—7 (genug). IV zweite Abteilung. V. VI. VII Lieferung
1—8. VIII 1. 2. XII 1. Fr. Kluge, Etymolog. WB der deutschen Sprache, 1884.
der bairischen Mundart:
A. Schmeller, Bayerisches Wörterbuch, 2. Ausg. bearbeitet von G. K. From-
mann, 2 Bde 1872. 1877.
des Altsächsischen:
A. Schmeller, Glossarium Saxonicum, 1840. Heyne, Kleinere, altnieder-
deutsche Denkmäler, mit Glossar, 2. Aufl. 1877.
des Angelsächsischen:
Ettmüller, Lexicon Anglosaxonicum, 1851. Grein, Sprachschatz der
ags. Dichter, 2 Bde 1861 ff. als Bd 3 u. 4 seiner Bibl. d. ags. Poesie. Reinhold
Schmids Glossar in dessen Gesetze der Angelsachsen, 1858, S 521. Bosworth,
Anglo-Saxon and English Dictionary, 1866. Toller u. Bosworth, An Anglo-
Saxon Dictionary based on the MS. Collections of the late Jos. Bosworth, edited
and enlarged by T. N. Toller, 1882 ff. (parts I and II). Wright, Anglosaxon and
old english vocabularies, 2. ed. by Wülcker, 2 Bde 1884 (Glossen und Vokabularien
vom 8. bis 15. Jahrh.). Groschopp, Kl. ags. WB nach Grein, 1883.
des Mittelniederdeutschen:
K. Schiller und A. Lübben, Mittelniederdeutsches Wörterbuch, 6 Bde.
1872—1881.
des Friesischen:
K. v. Richthofen, Altfriesisches Wörterbuch, 1840. J. ten Doornkaat-
Koolman, Wörterbuch der ostfriesischen Sprache, 1879 ff.
des Niederländischen:
Kiliani Dufflaei Etymologicum, Ultraj. 1623. Verwijs en Verdam,
Middelnederlandsch Wordenboek, 1882 ff. (im Erscheinen).
des Altfranzösischen:
Diez, Etymolog. WB der romanischen Sprachen, 4. Aufl. 1878. Ragueau
\& Laurière, Glossaire du droit français, nouv. éd. p. Favre 1882. Dupin \&
Laboulaye, Glossaire de l’ancien droit français, 1846 und in ihrer Ausgabe
[12]§ 4. Hilfsmittel und Hilfswissenschaften.
von Loisels Institutes coutumières. Roquefort, Glossaire de la langue ro-
mane, 2 Bde 1808. Godefroy, Dictionnaire de l’ancienne langue française et
tous ses dialectes du IX. au XV. siècle, bis jetzt 4 Bde 1881 ff. La Curne de
Sainte Palaye, Dictionnaire historique de l’ancien langage françois depuis son
origine jusqu’au siècle de Louis XIV, 10 Bde 1875—82.
der nordischen Sprachen:
Schlyter, Glossarium ad corpus iuris Sveo-Gotorum antiqui, Ordbok till
Samlingen af Sweriges gamla Lagar, 1877. Als Bd 13 des corp. iuris S.-G. Das
Wortregister zur Ausgabe der Grágás, Cod. Arnamagnaeanus, skálholtsbók, 1883,
S 579 ff. Lund, Det aeldste danske Skriftsprogs Ordforraad, 1877, hauptsächlich
aus den Rechtsquellen gearbeitet 2. Für die norwegischen Rechtsquellen steht der
dem Glossar gewidmete fünfte Band der Norges gamle Love indtil 1387 noch aus.
Cleasby-Vigfússon, An Icelandic-English Dictionary based on the MS. col-
lections of the late R. Cleasby, enlarged and completed by Gudbr. Vigfússon, 1874.
Th. Moebius, Altnordisches Glossar, Wörterbuch zu einer Auswahl altisl. und
altnorw. Prosatexte, 1866.
Als Hilfswissenschaften der deutschen Rechtsgeschichte kommen
in Betracht:
1. Die Geschichte der Tochterrechte und der Schwesterrechte des
deutschen Rechtes. Aus der allgemeinen rechtshistorischen Litteratur
der Tochterrechte sind hervorzuheben und zwar
des französischen Rechtes:
Warnkönig und Stein, Französ. Staats- und Rechtsgeschichte, 3 Bde
1846—48. Schäffner, Gesch. der Rechtsverfassung Frankreichs, 4 Bde 1845—50.
Laferrière, Histoire du droit français, 6 Bde 1852—58. Viollet, Précis de
l’histoire du droit français, 1885. 1886. H. Brunner, Überblick über die Gesch.
d. franz. Rechtsquellen in HEnc, 4. Aufl. 1882, S 279 ff. Revue historique de droit
français et étranger von Laboulaye, Dareste, Rozière und Ginouilhac, 15 Bde 1855—69,
fortgesetzt zuerst als Revue hist. de législation ancienne et mod. fr. et étr., 7 Bde
1870—76, dann als Nouvelle Revue hist. de dr. fr. et étr., 1877 ff.
des langobardisch-italienischen Rechtes:
A. Pertile, Storia del diritto italiano dalla caduta dell’ impero romano alla
codificazione, 1871 ff. I. II: Verfassungs- und Quellengeschichte. III. IV: Privatr.
V. Strafr. VI 1 Prozeſsrecht. Archivio giuridico (diretto da Serafini), 1868 ff.
des englischen Rechtes:
Reeves, History of the English Law, 5 Bde 3. Aufl. 1814. 1829, neuer-
dings mit Zusätzen herausgegeben von Finlason in 3 Bdn 1869 3. Crabb, History
of the English Law, 1829, übersetzt von Schäffner 1839. Mathew Hale, History
of the Common Law, 2 Bde unvollendet, in 6. Ausg. von Runnington 1820.
H. Brunner, Überbl. über die Gesch. der normannischen und englischen RQ in
HEnc S 297 ff.
[13]§ 4. Hilfsmittel und Hilfswissenschaften.
des nordgermanischen Rechtes:
Konrad Maurer, Überblick über die Gesch. der nordgermanischen Rechts-
quellen in HEnc S 321 ff.; derselbe, Udsigt over de Nordgermaniske Retskilders
Historie, 1878.
Ein Verzeichnis der Rechtssammlungen und der Rechtslitteratur
des Nordens giebt:
Aagesen, Fortegnelse over Retssamlinger, Retsliteratur . . i Danmark, Norge,
Sverig og til Dels Finland usw., 1876. Vgl. KrV XIX 106.
des norwegischen Rechtes:
Fr. Brandt, Forelæsninger over den norske Retshistorie, Christiania 1880.
1883. L. M. B. Aubert, En Udsigt over de norske Loves Historie, Kopenhagen
1875. P. A. Munch, Det Norske Folks Historie, 6 Bde Christ. 1851—59. Eine
Übersetzung der zwei ersten Abschnitte gab Claussen u. d. T.: Die nordisch-
germanischen Völker, ihre ältesten Heimat-Sitze, Wanderzüge und Zustände, 1853;
eine Übersetzung aus dem dritten und vierten Abschnitt u. d. T.: Das heroische
Zeitalter der nordisch-germanischen Völker und die Wikinger-Züge, 1854.
des isländischen Rechtes:
Magnus Stephensen, Commentatio de legibus, quae jus Islandicum
hodiernum efficiunt. Kopenhagen 1819. Konrad Maurer, Beitr. zur RG des
german. Nordens, Heft 1: Die Entstehung des isl. Staats und seiner Verfassung,
1852, übersetzt und mit Anmerkungen versehen Reykjavík 1882; derselbe,
Island von seiner ersten Entdeckung bis zum Untergang des Freistaats, 1874.
Vilhjálmr Finsen, Om de islandske Love i Fristatstiden, 1873.
des schwedischen Rechtes:
J. O. Stiernhöök, De iure Sveonum et Gothorum vetusto libri duo, 1672.
Nordström, Bidrag till den Svenska samhälls-författningens Historia, 2 Bde
1839. 1840. v. Amira, Altschwedisches Obligationenrecht, 1882.
des dänischen Rechtes:
Kofod Ancher, En dansk Lov Historie, 2 Bde 1769. 1776. Kolderup-
Rosenvinge, Grundrids af den danske Lovhistorie, 2. Aufl. 1832, wieder ab-
gedruckt 1860; eine mit Anmerkungen versehene Übersetzung der ersten Auflage
gab Karl G. Homeyer u. d. T.: Grundriſs der dänischen Rechtsgeschichte,
1825. Larsen, Samlede Skrifter, 4 afdel. 1857—1861. Stemann, Den danske
Retshistorie indtil Christian Vs Lov, 1871.
2. Die vergleichende Rechtsgeschichte und zwar insbesondere so-
weit sie die arischen Völker betrifft. Sie ist als Wissenschaft noch
in ihren ersten Anfängen begriffen, hat aber das Stadium des Dilettan-
tismus bereits überschritten 4.
3. Die Dogmatik des heute geltenden Rechtes, weil sie die Er-
gebnisse seiner historischen Entwicklung zu wissenschaftlicher Dar-
stellung bringt.
4. Die deutsche Altertumskunde.
5. Die deutsche Geschichte mit Einschluſs der Kultur- und
Wirtschaftsgeschichte 5.
6. Die sog. Hilfswissenschaften der Geschichte 6: die Diplomatik,
die Paläographie, die Siegel- und Wappenkunde, die Chronologie,
Genealogie, die historische Geographie 7.
7. Die vergleichende Sprachwissenschaft und die Philologie der
germanischen und der romanischen Sprachen 8.
Eingehende litteraturgeschichtliche Notizen giebt Gengler, Deutsche Rechtsgesch.
im Grundr., 1850, S 9 ff. Über die Litteratur vor Eichhorn s. Eichhorn, Deutsche
Staats- u. Rechtsgeschichte § 7—10. Die Bibliographie der deutschen Rechtsgesch.
von E. H. Costa, 1858, ist weder zuverlässig noch vollständig und darf nur deshalb
genannt werden, weil sie das einzige neuere Hilfsmittel dieser Art ist.
Die Wissenschaft der deutschen Rechtsgeschichte ist verhältnis-
mäſsig jung. Zwar reichen die Bestrebungen um die Erforschung der
älteren deutschen Rechtszustände bis in das sechzehnte Jahrhundert
zurück; allein sie blieben lange Zeit hindurch vereinzelt und ent-
behrten des wissenschaftlichen Erfolges, weil sie gegen widrige Strö-
mungen anzukämpfen hatten, welche das geistige Leben des deutschen
Volkes auf dem Gebiete des Rechts beherrschten. Seit die Rezeption
der fremden Rechte die Erinnerung an das Rechtsleben des Mittel-
alters verschüttet hatte, richtete sich die Arbeit der Gelehrten fast
ausschlieſslich auf die Pflege des römischen Rechtes. Die ersten be-
4
[15]der deutschen Rechtsgeschichte.
scheidenen Anfänge germanistischer Thätigkeit fallen in die Zeit, als
man unter dem Einfluſs des Humanismus sich von der Herrschaft der
italienischen Jurisprudenz und ihrer scholastischen Methode zu be-
freien suchte und auf die reinen römischen Rechtsquellen zurück-
zugehen begann. Der auf die Vergangenheit gewendete Sinn lenkte
damals den Blick auch auf die ältesten Quellen des deutschen Rechtes.
Johann Sichard in Basel edierte 1530 einige Volksrechte; 1557
veröffentlichte Bas. Joh. Herold eine umfassendere Sammlung der
Volksrechte. Ihnen folgte 1613 Friedrich Lindenbruch mit seinem
Codex legum antiquarum.
Der rechtsgeschichtlichen Verwertung des damals bekannten Kreises
deutscher Rechtsquellen standen die fundamentalen Irrtümer im Wege,
welche über den Grund der Geltung des römischen Rechtes verbreitet
waren. Man glaubte steif und fest an das von Sigonius, einem
italienischen Juristen des sechzehnten Jahrhunderts, referierte Gerücht,
daſs Lothar II., als er den Pisanern die von ihnen zu Amalfi erbeutete
Handschrift der Pandekten schenkte, zugleich die Anwendung des
römischen Rechtes in den Gerichten und die öffentliche Lehre des-
selben angeordnet habe. Der Widerlegung dieses Märchens verdanken
wir die erste methodische Leistung auf dem Gebiete der deutschen
Rechtsgeschichte, Hermann Conrings1 Buch de origine iuris Ger-
manici, 1643. Es beschränkt sich nicht auf die Polemik gegen jenen
Irrtum, sondern liefert ein abgerundetes Gesamtbild der allgemeinen
Geschichte des deutschen Rechtes, dessen Grundlinien mit so genialer
Treffsicherheit gezogen sind, daſs sie noch heute als richtig anerkannt
werden müssen. Es ist kein Zufall, daſs dieses bedeutsame Werk
nicht aus den Kreisen der zünftigen Jurisprudenz hervorgegangen ist,
welche damals noch in den Fesseln romanistischer Schulgelehrsamkeit
befangen war. Der in Ostfriesland geborene Verfasser war Professor
der Medizin, später der Politik an der braunschweigischen Universität
Helmstädt.
Die auf Conring folgende juristische Litteratur läſst eine befruch-
tende Wirkung seiner Thätigkeit in rechtsgeschichtlicher Hinsicht ver-
missen. Ebenso unempfänglich blieb sie für eine andere germanistische
Leistung ersten Ranges, nämlich für die klassische Darstellung, die
kurz vorher eines der bestkonservierten deutschen Partikularrechte
durch Hugo Grotius gefunden hatte. Seine Inleyding tot de
[16]§ 5. Die Bearbeitungen
Hollandsche Regtsgeleertheyt 2 giebt eine mit musterhafter Klarheit
geschriebene Übersicht über das holländische Privat- und Strafrecht,
welche die älteren holländischen Rechtsquellen ausgiebig verwertet
und auch auf die geschichtliche Entwicklung der einheimischen Rechts-
einrichtungen eingeht. Daſs trotz Groots und Conrings Arbeiten in
der germanistischen Litteratur eine Periode auffallender Dürre eintrat,
erklärt sich aus dem Eintritt einer neuen wissenschaftlichen Bewegung,
welche das Studium des nationalen Rechtes und seiner Geschichte in
Deutschland auf geraume Zeit in den Hintergrund drängte. Hugo
Grotius hatte 1625 in den Prolegomena zu seiner Schrift De iure
belli ac pacis das Evangelium des Naturrechtes verkündigt. Es war
die Wirkung dieser Schrift und des von ihr ausgehenden Impulses,
daſs nunmehr das Naturrecht die litterarische Stellung errang, die
dem deutschen Rechte neben dem römischen gebührt hätte. Wie
früher das römische Recht, so absorbierte jetzt das Naturrecht die
besten Kräfte der deutschen Rechtswissenschaft. Die von den Natur-
rechtsjuristen in Mode gebrachte Unterschätzung der Vergangenheit
wirkte ebenso lähmend auf die Pflege der deutschen Rechtsgeschichte
wie früher die einseitige Überschätzung des römischen Rechtes.
In der germanistischen Litteratur des 17. und 18. Jahrhunderts
kann man zwei Strömungen unterscheiden, eine publizistisch-historische
und eine juristisch-antiquarische. Jene verfolgt mehr praktische, diese
mehr theoretische Ziele. Das Staatsrecht des deutschen Reiches und
seiner Territorien war durch die Rezeption der fremden Rechte that-
sächlich so gut wie gar nicht betroffen worden, wogegen sie im
Privat- und Prozeſsrecht das Bewuſstsein des Zusammenhangs zwi-
schen Gegenwart und Vergangenheit des Rechtes ausgetilgt oder doch
getrübt hatte. Diesem Unterschied in der Wirkung der Rezeption
entkeimte der Gegensatz jener beiden litterarischen Richtungen. Privat-
und Prozeſsrecht des deutschen Mittelalters wurden als Antiquitates
iuris behandelt, denn es fehlte die Befähigung, sie mit dem geltenden
Rechte in brauchbare Verbindung zu bringen. Dagegen betrieb man
die Geschichte des Staatsrechtes und die damit eng verschwisterte
politische Geschichte unter praktischen Gesichtspunkten, weil sie für
die Erkenntnis der geltenden Verfassung und für die Entscheidung
ihrer zahllosen Kontroversen schlechterdings nicht entbehrt werden
konnte. Hervorzuheben sind aus der umfangreichen Litteratur, welche
[17]der deutschen Rechtsgeschichte.
die historisch-publizistische Schule zu Tage förderte, die Werke von
Datt3, Pfeffinger4, v. Ludewig5, Gundling6, B. G. Struve7,
H. Chr. v. Senckenberg8, Olenschläger9 und F. D. Häber-
lin10. Der berühmteste Vertreter der Richtung ist Johann Stefan
Pütter, die bedeutendste seiner hier in Betracht kommenden Schriften
die „Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des teut-
schen Reiches“ 11. Pütter schrieb in festem Glauben an den dauernden
Bestand und an die Verbesserungsfähigkeit der damals unter den
Schutz des Fürstenbundes genommenen Reichsverfassung. Die Tendenz
seines Buches ist daher eine wesentlich praktische. Er legt den
Schwerpunkt der Darstellung auf die Zeit nach dem westfälischen
Frieden und erörtert ebenso gründlich wie scharf die kümmerlichen
Institutionen, in welchen die Einheit des absterbenden Reiches zu
dürftigem Ausdruck gelangt.
Die juristisch-antiquarische Richtung kultivierte neben den Rechts-
altertümern die Geschichte der älteren Rechtsquellen. Unter ihren
Anhängern sind insbesondere Grupen12, Dreyer13, Heineccius14
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunuer, Deutsche Rechtsgesch. I. 2
[18]§ 5. Die Bearbeitungen
und Chr. Gottlob Biener15 zu nennen. Das Beste leistete
Heineccius, „unter den deutschen Juristen des 18. Jahrhunderts viel-
leicht der bedeutendste, jedenfalls derjenige, welcher den umfassendsten
Reichtum gelehrten, namentlich historischen Wissens mit gediegener
philosophischer Bildung verband“ 16.
Eine Sonderstellung nimmt unter den Germanisten des vorigen
Jahrhunderts der geistvolle Justus Möser mit seiner osnabrückischen
Geschichte ein 17. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grund-
lagen der Staatsordnung ins Auge fassend schrieb er darin eine groſs-
artig konstruierte Geschichte der Landeigentümer. Sie blieb nicht
frei von wesentlichen Irrtümern, weil er seiner reichen Phantasie und
seinem lebhaften Drange nach plastischer Ausgestaltung der darzu-
stellenden Verhältnisse allzusehr die Zügel schieſsen lieſs. Nichts-
destoweniger sind seine Lehren, insbesondere seine Ausführungen über
die Zustände der Urzeit, über die Geschichte des Heerwesens und
über die Entstehung der Landeshoheit, welchen sich Eichhorn im
wesentlichen anschloſs, auf lange Zeit hinaus zur unbestrittenen Herr-
schaft gelangt.
Aus den zusammenhanglosen Bruchstücken, welche das 18. Jahr-
hundert überlieferte, wurde in den ersten Dezennien des 19. die
Wissenschaft der deutschen Rechtsgeschichte geschaffen. Mit der Auf-
lösung des deutschen Reiches war der Grund für die Trennung des
Staatsrechtes von den übrigen Zweigen der Rechtsgeschichte hinweg-
gefallen. Publizisten der alten Schule hatten ihre Bibliotheken, so-
weit sie das Reichsstaatsrecht betrafen, mit Resignation als fernerhin
unbrauchbar abgeschlossen 18. Das Reichsstaatsrecht stand nunmehr
in Bezug auf seine unmittelbare praktische Verwertbarkeit den Privat-
rechtsantiquitäten ebenbürtig zur Seite. Andrerseits verlor das Natur-
recht seine Stellung als treibende Kraft der deutschen Rechtswissen-
schaft. Schon Montesquieu hatte 1748 in seinem Esprit des lois
darauf hingewiesen, wie die Rechtszustände von der Natur und Lage
14
[19]der deutschen Rechtsgeschichte.
des Landes und von den jeweiligen Kulturverhältnissen abhängig seien.
Angeregt durch Montesquieu 19 und durch den Historiker L. T. Spittler
entwickelte Hugo in Göttingen 1789, also im Geburtsjahre der fran-
zösischen Revolution, für die Behandlung des römischen Rechtes den
Grundgedanken des wissenschaftlichen Programms, welches die von
ihm begründete historische Rechtsschule charakterisiert 20.
So lagen die Verhältnisse, als ein Schüler Hugos, Karl Fried-
rich Eichhorn21, die deutsche Rechtsgeschichte zum Range einer
selbständigen Wissenschaft erhob. Das Werk, durch welches ihm diese
Geistesthat gelang, war seine deutsche Staats- und Rechtsgeschichte,
von welcher der erste Band 1808, der vierte und letzte 1823 er-
schien 22. Begonnen unter dem geistigen Drucke der französischen
Vorherrschaft, unterbrochen wegen der persönlichen Teilnahme des
Verfassers an den Befreiungskriegen, ist sie der litterarische Ausdruck
des Zusammenhanges, welcher zwischen dem Erwachen des deutschen
Nationalbewuſstseins und der Wiederbelebung des deutschen Rechtes
obwaltete. Eichhorn überwand den überlieferten Gegensatz zwischen
der Staatsrechts- und der Privatrechtsgeschichte, indem er durch An-
wendung der historischen Forschung auf alle Teile des Rechtes die erste
wissenschaftliche Gesamtdarstellung der deutschen Rechtsgeschichte
schuf. Seine Methode ist das strikte Gegenteil jener antiquarischen
Behandlung, wie sie vor ihm üblich gewesen war. Er setzt sich das
Ziel für das noch geltende Recht eine sichere geschichtliche Grund-
lage zu gewinnen und verweilt daher in der Vergangenheit nur um
aus ihr in die Gegenwart zu gelangen. Wollte er den gesamten Stoff
bewältigen, die Anfangs- und die Endpunkte der Entwicklung zu-
sammenfassen, so konnte er nicht umhin, sich gewisse Beschränkungen
2*
[20]§ 5. Die Bearbeitungen
aufzulegen, welche durch den Begriff der deutschen Rechtsgeschichte
an sich nicht geboten waren. Er konzentrierte sich auf den Kreis
der deutschen Rechtsquellen, indem er auf die Tochter- und Schwester-
rechte geringe oder keine Rücksicht nahm. Er verlor sich nicht in
erschöpfende Detailuntersuchungen und verzichtete auf lebendige Schil-
derungen der vergangenen Rechtszustände, wie er denn von den
heimischen Quellen diejenigen minder beachtete, in welchen der abs-
trakte Rechtsgedanke hinter den anschaulichen Formen des Rechtslebens
zurücktritt. Die Zeit bedurfte nicht eines abschlieſsenden oder aus-
malenden, sondern eines bahnbrechenden Werkes, und ein solches ist
seine Staats- und Rechtsgeschichte nicht nur in vollem Maſse gewor-
den, sondern sie ist trotz zahlreicher Berichtigungen das leitende Buch
der Disziplin geblieben, die es geschaffen hat.
Eine bedeutsame Erweiterung ihres Gesichtskreises wurde der
germanistischen Forschung durch Jakob Grimm23 zuteil, dessen
Rechtsaltertümer in gewissem Sinne ein ergänzendes Gegenstück zu
Eichhorns Rechtsgeschichte bilden 24. Jakob Grimm faſst nur das
altertümliche Recht ins Auge. Er will „Materialien für das sinnliche
Element der deutschen Rechtsgeschichte sammeln“. Seine Rechts-
altertümer stellen sich in dieser Beziehung als eine unerschöpfliche
Fundgrube dar, sie sind aber mehr wie dies, denn sie bringen die
formelle Ausgestaltung des alten deutschen Rechtes mit feinstem Ver-
ständnis zu lebensvoller Anschauung, sie beleuchten das Recht durch
die Sprache und Kultur des Volkes und liefern durch die Heranziehung
der nordischen Quellen und auſsergermanischer Rechte den groſsartigen
Unterbau einer vergleichenden Altertumskunde des Rechtes 25. Der
[21]der deutschen Rechtsgeschichte.
Geschichte des Rechtes führten die Rechtsaltertümer weniger fertige
Ergebnisse als ungelöste Probleme zu, weil die Entstehung und Fort-
bildung der dargestellten Rechtsbräuche von vornherein nicht in dem
Plane der Arbeit lag. Daraus erklärt sich die von Grimm gelegent-
lich gerügte Reserve, welche Eichhorn und seine Schule diesem Werke
gegenüber beobachteten 26. Das darin aufgespeicherte Material in den
Fluſs historischer Entwicklung zu bringen war eine Aufgabe, der die
Wissenschaft damals nicht gewachsen war und deren Lösung noch
jetzt zum guten Teile der Zukunft vorbehalten bleiben muſs.
In einem Aufsatze über das geschichtliche Studium des deutschen
Rechtes 27, der die nächstliegenden Bedürfnisse für den Ausbau der
deutschen Rechtsgeschichte besprach, erklärte Eichhorn, daſs sie viel
mehr der Untersuchung als der Anordnung des Untersuchten bedürfe.
Soweit die neuere Forschung über Eichhorn hinauskam, hat sie dies
der von ihm empfohlenen Methode zu verdanken. Nicht in Lehr-
büchern und Kompendien sondern in Spezialuntersuchungen beruhen
die Fortschritte der Wissenschaft, wie sie durch die Ausdehnung des
Untersuchungsfeldes, durch intensivere Verwertung der Quellen und
durch das Wachstum der Hilfswissenschaften vermittelt worden sind.
Das meiste geschah für die Aufhellung der fränkischen Zeit. Eich-
horn selbst hatte sich veranlaſst gesehen, den dieser Periode gewid-
meten Abschnitt seiner Staats- und Rechtsgeschichte in der vierten
Auflage vollständig umzuarbeiten. Nichtsdestoweniger ist er durch
die neuere Forschung auf diesem Gebiete am meisten überholt wor-
den. Dagegen ist seine Darstellung der Rechtsgeschichte seit der
Reformation am wenigsten veraltet, obschon sie in den späteren Auf-
lagen die geringsten Veränderungen erfahren hatte.
In den Bahnen der Forschung hat sich nach Eichhorn eine be-
merkenswerte Schiebung vollzogen, welche auf einem Wechsel der
Ansichten über das gegenseitige Verhältnis der deutschen Stammes-
rechte beruht. Bei Eichhorn bildeten für die Zeit des deutschen Mittel-
alters die sächsischen Quellen die hauptsächlichste Grundlage der
Darstellung. Das sächsische Recht hatte der Zersetzung durch das
römische am besten widerstanden. Der Zusammenhang zwischen dem
vergangenen und dem gegenwärtigen Rechte lieſs sich da auf dem
kürzesten Wege darlegen. Da die sächsischen Rechtsdenkmäler auch
25
[22]§ 5. Die Bearbeitungen
durch ihren litterarischen Wert die erste Stelle einnahmen, hat sich
die Forschung ihnen mit besonderer Vorliebe zugewendet. Das säch-
sische Stammesrecht gewann so in der germanistischen Litteratur einen
gröſseren Vorsprung, als dem ebenmäſsigen Ausbau der deutschen
Rechtsgeschichte förderlich gewesen wäre. Gegen die einseitige Über-
schätzung des sächsischen Quellenkreises, gegen die Versuche, das
sächsische Recht vorschnell als gemeines deutsches Recht hinzustellen,
hat Paul Roth, in einem Aufsatz über die rechtsgeschichtlichen For-
schungen seit Eichhorn, begründeten Einspruch erhoben, indem er die
Verschiedenheit der Stammesrechte, namentlich den Gegensatz des
sächsischen und des fränkischen Rechtes kräftig betonte 28. Seitdem
ist die Wertschätzung des fränkischen Rechtes und der ihm ent-
stammenden Impulse unserer Rechtsentwicklung so sehr gestiegen,
daſs sie zu neuer Einseitigkeit zu führen drohte. Eine geistvolle Ab-
handlung Sohms29 setzt in die Rolle, welche andere dem sächsischen
Rechte zugewiesen hatten, das fränkische Recht ein, indem sie be-
hauptet, daſs das ganze mittelalterliche Deutschland ein einziges
Rechtsgebiet, ein Gebiet nämlich des fränkischen Rechtes darstelle.
Diese Ansicht stellt sich bei nüchterner Betrachtung als eine Über-
treibung dar, gegen welche daran festzuhalten ist, daſs die deutsche
Rechtsgeschichte ebensowenig zur fränkischen wie zur sächsischen
Rechtsgeschichte degradiert werden darf, sondern die Einheit der
Rechtsentwicklung über den einzelnen Stammesrechten zu suchen hat.
Die monographische Litteratur wird dieses Handbuch an der
Spitze der einzelnen Paragraphen nennen. Von den Lehr- und Hand-
büchern der deutschen Rechtsgeschichte, welche nach Eichhorn er-
schienen, verdienen hervorgehoben zu werden:
G. Phillips, Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte zum Ge-
brauche bei akademischen Vorlesungen, 4. Aufl. 1859, eine Dar-
stellung, in welcher die Reichsgeschichte breit angelegt ist und die
juristischen Gesichtspunkte zurücktreten. Julius Hillebrand,
Lehrbuch der deutschen Staats- und Rechtsgeschichte mit Ausschluſs
der Privatrechtsinstitute, 1856, ohne selbständige Gesichtspunkte.
A. v. Daniels, Handbuch der deutschen Reichs- und Staatenrechts-
geschichte, 1859—1863 4 Bde, unvollendet. Der erste Band verdient
als originelles Werk, wenn er auch nur mit Vorsicht benutzt werden
darf, in zahlreichen Einzelheiten mehr Beachtung als er gefunden hat.
[23]der deutschen Rechtsgeschichte.
Die Fortsetzung scheiterte an dem Plane, auch die Staats- und Rechts-
geschichte der Territorien zu erschöpfender Darstellung zu bringen.
Die drei letzten Bände enthalten in der Hauptsache nur eine indigesta
moles von Quellenangaben, Litteraturverzeichnissen und Regesten.
H. Zöpfl, Deutsche Rechtsgeschichte, 4. Aufl. 1871. 1872 3 Bde.
Der Verfasser, welcher der ersten Auflage noch den Eichhornschen
Plan zu Grunde gelegt hatte, ist in den folgenden Auflagen zur
systematischen Methode übergegangen, indem er zugleich die Reichs-
geschichte abtrennte. Sein Werk ist stoffreich, aber in den Details
unzuverlässig und zu spröde gegen die Ergebnisse der Spezialunter-
suchungen. Ferd. Walter, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Aufl.
1857, für die fränkische Zeit noch jetzt eine recht brauchbare Kom-
pilation. Fr. v. Schulte, Lehrbuch der deutschen Reichs- und
Rechtsgeschichte, 5. Aufl. 1881. Heinr. Siegel, Deutsche Rechts-
geschichte, ein Lehrbuch, 1886 30.
Eine Übersicht über die Quellen und die Geschichte des deutschen
Rechts habe ich in v. Holtzendorffs Encyklopädie der Rechtswissen-
schaft, 4. Aufl. 1882, gegeben.
Als Grundrisse kommen in Betracht: Stenzel, Grundriſs und
Litteratur zu Vorlesungen über deutsche Staats- und Rechtsgeschichte,
1832, und Gengler, Deutsche Rechtsgeschichte im Grundriſs, 1850,
unvollendet.
Zusammenfassende Darstellungen einzelner Zweige der deutschen
Rechtsgeschichte haben geliefert, und zwar der Quellengeschichte:
O. Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen, 1860. 1864;
der Verfassungsgeschichte bis zur Mitte des zwölften Jahrhunderts:
Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, I. II in 3. Aufl.
1880. 1882, III. IV in 2. Aufl. 1883. 1885, V—VIII in 1. Aufl.
1874—78 31; der historischen Grundlagen des Privatrechts: Andreas
[24]§ 5. Die Bearbeitungen d. deutschen Rechtsgeschichte.
Heusler, Institutionen des deutschen Privatrechts, 1885. 1886.
Wildas Geschichte des deutschen Strafrechts, 1842, und Beth-
mann-Hollwegs Darstellung der Geschichte des deutschen Rechts-
gangs in dessen Civilprozeſs des gemeinen Rechts, IV. V, 1868. 1873,
sind nicht über die fränkische Zeit hinausgekommen. Eine Geschichte
der öffentlichrechtlichen und der privatrechtlichen Verbände liefert auf
umfassender historischer Grundlage Gierkes Deutsches Genossen-
schaftsrecht, 3 Bde 1868—1881.
Von Zeitschriften sind der deutschen Rechtsgeschichte teilweise
oder hauptsächlich gewidmet: Die Zeitschrift für geschichtliche Rechts-
wissenschaft (Z. f. gesch. RW), hrsg. von Savigny, Eichhorn und
Göschen, 15 Bde 1815—1850; die Zeitschrift für deutsches Recht
und deutsche Rechtswissenschaft (Z f. DR) von Reyscher, Wilda,
dann Beseler und Stobbe, 20 Bde 1839—1861; die Zeitschrift für
Rechtsgeschichte (Z f. RG) von Rudorff, Bruns, Roth, Merkel
und Böhlau, 13 Bde 1861—1878, fortgesetzt unter dem Titel Zeit-
schrift der Savignystiftung 1880 ff., seitdem in eine germanistische und
in eine romanistische Abteilung zerfallend 32. Einzelne sehr beachtens-
werte Abhandlungen germanistischen Inhalts finden sich in der Kritischen
Überschau der deutschen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KrÜ),
hrsg. von Arndts, Bluntschli und Pözl, 6 Bde 1853—1859; in
der Kritischen Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissen-
schaft (KrV), hrsg. von Pözl und anderen 1859 ff.; in der Zeitschrift
für schweizerisches Recht von Ott, Schnell, Wyſs, dann von
A. Heusler u. a. 1852 ff.; in den Forschungen zur deutschen Ge-
schichte, hrsg. von der historischen Kommission der (Münchener) Aka-
demie der Wissenschaften 1862—1886; in den Mitteilungen des In-
stituts für österr. Geschichtsforschung, redigiert von Mühlbacher
1880 ff., und im Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichts-
kunde (Büchler, Dümgé, Pertz), 12 Bde 1820—1874, als Neues
Archiv usw. (NA) (Wattenbach) seit 1876.
Mascou, Gesch. der Teutschen bis zum Abgang der merowingischen Könige, 2 Bde
2. Aufl. 1750. Waitz, Deutsche VG I 3, 1880. J. Grimm, Gesch. der deutschen
Sprache, 4. Aufl. 1880. Müllenhoff, Deutsche Alterthumskunde I. V, 1870. 1883.
Arnold, Deutsche Urzeit, 1879, als Deutsche Geschichte I in 3. Aufl. 1881.
G. Kaufmann, Deutsche Gesch. bis auf Karl d. Gr., 2 Bde 1880. 1881. Nitzsch,
Gesch. des deutschen Volkes I (bis zum Ausgang der Ottonen), 1883. F. Dahn,
Deutsche Geschichte I 1 (bis 476), 1883. Munch (Clauſsen), Die nordisch-german.
Völker, 1853. Mommsen, Römische Geschichte V, 1885.
Die Germanen gehören zum europäischen Zweige der groſsen
arischen Völkerfamilie, deren Ursitze in Asien zu suchen sind. Zu
einem eigenartigen Volkstum erwuchsen sie nach einer kürzlich von
berufenster Seite ausgesprochenen Ansicht in den Gebieten der Oder
und Elbe unterhalb des Gebirges, in welche ihre Vorfahren nicht
später eingerückt seien als die verwandten Stämme der Italiker und
Griechen in Italien und Griechenland 1. In der Zeit Alexanders des
Groſsen fand der griechische Reisende Pytheas von Massilia den
Stamm der Teutonen an der norddeutschen Küste. Etwa zwei Jahr-
hunderte später treten die Germanen gegen Gallier und Römer vor-
dringend in den Gesichtskreis der antiken Historiographie und damit
in die Weltgeschichte ein. Von dieser Zeit bis zur endlichen Über-
flutung des römischen Reiches befinden sich die germanischen Völker-
schaften in einer ununterbrochenen Bewegung, deren innere Vorgänge
in tiefes Dunkel gehüllt bleiben. Wahrnehmbar wird uns gewisser-
maſsen nur die Brandung, in welcher von Zeit zu Zeit eine weit
vordringende Völkerwelle an dem festgefügten Bau des römischen
Reiches zerschellt.
In halb nomadischen Zuständen lebend waren die einzelnen
Stämme nicht fest mit ihren Wohnsitzen verwachsen. Wenn die
[28]§ 6. Das deutsche Volk.
Vermehrung der Volkszahl, die Erschöpfung des Bodens, der Druck
nachrückender Schwärme einen Wechsel der Wohnsitze veranlaſste,
dann wanderte der ganze Stamm oder ein Teil desselben, um neue
Siedlungsgebiete zu gewinnen. In harten und blutigen Kämpfen
muſsten die Germanen erfahren, daſs ihren Wanderzügen der Weg
nach Süd und West durch die Macht des römischen Reiches gesperrt
sei. Die in südlicher Richtung wandernden Kimbern und Teutonen
wurden auf römischer Erde durch Marius vernichtet. Die auf west-
lichem Wege vorgedrungenen suebischen Völkerschaften warf Cäsar
zurück, nachdem sie sich kurze Zeit in Gallien festgesetzt hatten.
Mit wirksamem Gegenstoſs versuchten dann die Römer in Ger-
manien einzudringen und das Land in eine römische Provinz zu ver-
wandeln. Daſs sie vorübergehende Erfolge erreichten, verdankten sie
den unter den Germanen waltenden Gegensätzen, die eine gemeinsame
Abwehr verhinderten. Die nordwestlichen Völkerschaften, Bataver,
Friesen und Chauken, wurden von den Römern auf gütlichem Wege
oder doch ohne nennenswerte Kämpfe gewonnen. Die Widerstands-
kraft der mittleren Stämme lähmten innere Zwistigkeiten und vor-
nehmlich die Spannung, die zwischen ihnen und dem markomannischen
Suebenreiche des Königs Marbod bestand 2. Schon befand sich Ger-
manien bis gegen die Elbe unter römischer Botmäſsigkeit, da brachte
die vereinigte Erhebung der Cherusker, Chatten, Brukterer und ihrer
Bundesgenossen die Römer um die Früchte ihrer Politik. Seit der
Varusschlacht, an deren Folgen die Feldzüge des Germanicus nichts
zu ändern vermochten, haben sich die Römer des Gedankens ent-
wöhnt, Germanien zu unterwerfen, und wurden der Rhein und die
Donau die Grenzströme des römischen Reiches, auf deren wirksame
Verteidigung sich von nun ab das Verhältnis der Römer zu den
Germanen im wesentlichen beschränkt.
Unter den Ergebnissen jener Kämpfe darf nicht übersehen wer-
den, daſs sie auf die inneren Zustände der beiden Gegner eine nach-
haltige Rückwirkung ausübten. Die Germanengefahr zeitigte und
festigte die Entwicklung des römischen Imperatorentums, weil nur
eine straffe Regierung dem Reiche die Kraft erfolgreicher Abwehr
verleihen konnte. Andrerseits wurden die Germanen durch die
Stauung, die ihre Wanderungen an den römischen Grenzen erfuhren,
genötigt, allmählich zu gröſserer Seſshaftigkeit überzugehen und jene
inneren Wandlungen durchzumachen, durch welche sich das von Cäsar
[29]§ 6. Das deutsche Volk.
und das von Tacitus gezeichnete Bild des Volkes sichtlich unter-
scheiden. Die Veränderung ergriff zuerst die westlichen Völker-
schaften; etwas später machte sie sich bei den Sueben geltend, von
welchen die an den Rhein vorgerückten Schwärme mit Bewahrung
der alten Sitte zum Teil an die Elbe zurückgegangen waren. Die öst-
lichen Germanen, die Völker der gotisch-vandalischen Gruppe wichen
dem Aufgeben der gewohnten Lebensweise durch eine Wanderung
nach Südosten aus, welche einen Teil der Goten schlieſslich an das
Schwarze Meer führte. Im Gegensatz zu den minder beweglichen
Bauernstämmen des Westens erscheinen bei der sogenannten Völker-
wanderung gerade diese östlichen Völkerschaften als die eigentlichen
Wanderstämme der Germanen.
Ethnographisch scheiden sich die Westgermanen oder Deutschen
von den Ostgermanen, welche aus der gotisch-vandalischen Völker-
gruppe und aus den skandinavischen oder nordgermanischen Stämmen
gebildet werden 3.
Weder unter den Deutschen noch unter den Ostgermanen besteht
ein staatsrechtlicher oder auch nur ein völkerrechtlicher Verband. Sie
sind vielmehr in eine groſse Zahl selbständiger Völkerschaften ge-
spalten. Diesem Mangel politischen Zusammenhanges entspricht der
Mangel eines gemeinsamen Namens, mit welchem das Volk sich be-
nannt hätte. Die Bezeichnung Germanen, vermutlich soviel wie
Nachbarn bedeutend, wurde ihm erst von den Galliern beigelegt und
dann von den Römern übernommen, welchen sie seit der Zeit der
Sklavenkriege bekannt ist, während sie bei den Germanen selbst nicht
üblich wurde. Das Wort „deutsch“ begegnet uns erst in Schrift-
denkmälern vom Ende des 8. und vom Anfang des 9. Jahrhunderts, und
zwar zur Bezeichnung der Sprache. Es stammt von der Wurzel diet,
Volk (ahd. diot, got. thiuda) und wurde noch in fränkischer Zeit an-
[30]§ 6. Das deutsche Volk.
gewendet, um die an der Volkssprache festhaltenden Deutschen von
ihren verwälschten Stammesgenossen zu unterscheiden 4.
Trotz der politischen Zersplitterung bestand wenigstens bei den
Westgermanen ein Bewuſstsein der Zusammengehörigkeit. Es äuſsert
sich in einer Sage über die Abstammung und Gliederung des Volkes,
laut welcher die Germanen nach den drei Söhnen des ersten Menschen
Mannus in die Hauptstämme der Ingväonen, Istväonen und Herminonen
zerfallen 5. Wie die vielen Völkerschaftsnamen, die uns bei den Alten
genannt werden, sich unter diese drei Gruppen verteilen, muſs als
zweifelhaft dahingestellt bleiben. Die Ostgermanen sind in jener
Stammsage schwerlich inbegriffen. Für ziemlich sicher darf gelten,
daſs die Ingväonen den Kern jener Völkerschaften in sich fassen, die
uns später als Sachsen und Friesen entgegentreten, während die Ist-
väonen am Rhein aus Völkerschaften bestanden, die nachmals in den
Stamm der Franken aufgingen, und den Herminonen u. a. die
Schwaben, Baiern und Thüringer zufallen.
Bei den römischen Schriftstellern, welche den Namen der Sueben
in vielfach schwankender Anwendung gebrauchen, begegnet uns eine
Scheidung der Germanen in suebische und nichtsuebische Völker-
schaften, von welchen jene als die älteren, diese als die jüngeren
[31]§ 6. Das deutsche Volk.
betrachtet werden dürfen. Soweit der Suebenname nur auf west-
germanische Völkerschaften bezogen wird 6, scheint er sich mit der
Gruppe der Herminonen zu decken. Auf einen engeren Zusammen-
hang suebischer Völkerschaften weist wohl der Name der unstreitig
suebischen Markomannen hin, als der Hüter der einem gröſseren
Völkerverbande gemeinsamen Grenze. Unabhängig von dem Gegen-
satze der suebischen und nichtsuebischen Völkerschaften ist die viel
jüngere Scheidung der Westgermanen in Hochdeutsche und Nieder-
deutsche. Sie beruht hauptsächlich auf einer Verschiebung der gemein-
germanischen Lautstufen, welche zuerst und zwar vermutlich zu An-
fang des 6. oder gegen Ende des 5. Jahrhunderts bei den Baiern,
Schwaben und Langobarden eintrat und dann allmählich auch das
mittlere Deutschland ergriff 7.
Zwischen stammverwandten Völkerschaften bestanden religiöse
Verbände, welche durch die gemeinsame Verehrung einer Stammes-
gottheit und durch gemeinsame Kultusstätten zusammengehalten wur-
den 8. Ein Hain im Gebiete der Semnonen zwischen Oder und Elbe
war das Stammesheiligtum der suebischen Völkerschaften. Es war
dem arischen Himmelsgotte, dem germanischen Ziu geweiht, dessen
besondere Verehrung sich in den ältesten europäischen Sitzen der
Germanen als eigenartiger Kultus der Sueben 9 erhielt, als die übrigen
Stämme jüngere Götter an die Spitze ihrer Göttersysteme gesetzt
hatten. Die ingväonischen Völker besaſsen auf einer Insel der Nord-
see eine der Göttin Nerthus gewidmete Kultusstätte. Die gotisch-
vandalischen Stämme hatten ihren religiösen Mittelpunkt in dem
heiligen Hain der Naharvalen, wo sie ein jugendliches Brüderpaar als
Stammesgottheit verehrten. Wodan, ursprünglich der Gott des Stur-
[32]§ 7. Das Germanentum im römischen Reich.
mes, war zunächst von den Istväonen als Stammesgott zum höchsten
Träger ihres religiösen Bewuſstseins erhoben worden, ehe er bei den
übrigen Germanen die Stellung des Obergottes erlangte. Nachrichten
kirchlicher Schriftsteller bezeugen uns die Bedeutung des gemeinsamen
Kultus bei den deutschen Stämmen, die das Heidentum am längsten
bewahrt haben, bei den Friesen und Sachsen. Die friesische Insel
Helgoland ist noch im 8. Jahrhundert als Stätte allgemeiner Ver-
ehrung dem Gott Fosite geweiht, nach welchem sie Fositesland ge-
nannt wird 10. Ein im 10. Jahrhundert verfaſstes Heiligenleben
berichtet von einer mit Opfern eröffneten Stammesversammlung der
heidnischen Sachsen 11.
Mommsen, Die Conscriptionsordnung der röm. Kaiserzeit, Hermes XIX 1 ff. 210 ff.
J. Marquardt, Röm. Staatsverwaltung II, 2. Aufl. 1884, Abschn.: Militärwesen.
Heinrich Richter, Das weström. Reich, bes. unter den Kaisern Gratian, Va-
lentinian II. und Maximus (375—388), 1865, S 180 ff. Böcking, Notitia dignita-
tum (nebst Kommentar), 1839—1853. Jung, Die romanischen Landschaften des
röm. Reichs, Studien über die innere Entwicklung der römischen Kaiserzeit, 1881.
v. Wietersheim, Gesch. der Völkerwanderung, 2. Aufl. besorgt von Dahn 1880,
I 283 ff. v. Bethmann-Hollweg, Der germanisch-romanische Civilprozeſs I 109.
Burckhardt, Die Zeit Constantins d. Gr., 2. Aufl. 1880. Giraud, Essai sur
l’histoire du droit français au moyen âge I 147 ff., 1846. Léotard, Essai sur la
condition des barbares établis dans l’empire romain au quatrième siècle, 1873.
Der Gegensatz zwischen Römern und Germanen fand seine end-
liche Lösung, indem die westliche Hälfte des römischen Reiches in
eine Anzahl germanischer Staaten auseinanderfiel. Das Stück Welt-
geschichte, welches diesem Ergebnis eines halbtausendjährigen Kampfes
vorausging, und das Ergebnis selbst, insbesondere die Art, wie die
germanischen Staatsbildungen sich in die Trümmer der römischen
Kultur hineinschoben, kann man sich nicht zu vollem Verständnis
bringen, wenn man die Kette der äuſseren Ereignisse vor sich ab-
rollen läſst, ohne das gleichzeitige Wachstum der germanischen Ele-
mente im Innern des römischen Reiches ins Auge zu fassen. Der
römische Occident würde seinen gefährlichsten Feinden schon früher
erlegen sein, hätte nicht seit Beginn der Germanenkriege ein unab-
lässiges Einströmen germanischen Blutes in den alternden Körper des
Reiches stattgefunden. Und die Gründung und Ausbreitung germa-
nischer Staaten auf römischer Erde würde ganz anders ausgefallen
[33]§ 7. Das Germanentum im römischen Reich.
sein, wäre ihr nicht eine allmähliche Germanisierung des römischen
Staates und des römischen Heeres vorangegangen.
Die Groſsthaten Armins hatten nur den erheblicheren Teil
Germaniens vor der Fremdherrschaft gerettet. Neben dem freien
Germanien gab es ein römisches, welches aus den beiden Rhein-
provinzen Ober- und Niedergermanien bestand. Die deutschen Stämme,
die hier unter der Herrschaft der römischen Provinzialverfassung einer
raschen Romanisierung entgegengingen, waren die Triboker, Nemeter,
Vangionen, die chattischen Mattiaker, wenigstens ein Teil der Usiper,
die stets römerfreundlichen Ubier und die von Tiberius gewaltsam
verpflanzten Sugambern 1. In einer privilegierten Sonderstellung 2,
aber noch in Reichsunterthänigkeit 3 befanden sich die im Rheindelta
seſshaften Bataver, die Kannenefaten und die Friesen, deren west-
liche Gaue etwa bis zur Yssel, bei dem Reiche verblieben, als
Kaiser Claudius das übrige Friesland aufgab. In Obergermanien er-
streckte sich die römische Herrschaft dauernd über einen Teil des
rechten Rheinufers. Um den Grenzverkehr zu überwachen, legten die
Römer hier eine Grenzsperre an, die als obergermanischer limes bei
Rheinbrohl oberhalb Remagen begann und als rätischer limes bei
Kehlheim an der Donau endete. Noch innerhalb des limes saſsen
am Taunus die Mattiaker, bei welchen seit dem Ende des zweiten
Jahrhunderts römische Municipalverfassung nachzuweisen ist 4, während
weiter südlich im Neckargebiet, in den bei Tacitus sogenannten agri
decumates germanische Völkerschaften nicht geduldet wurden.
Andere Teile des Reiches, darunter Gallien, Britannien, die
Donauländer und Italien, wurden infolge der römischen Siege durch
innere Kolonisation mit germanischer Bevölkerung durchsetzt. Schon
seit den Kimbernkriegen füllten die Verknechtung der Kriegsgefangenen
und der Gewerbebetrieb römischer Händler Italien und die Provinzen
mit germanischen Sklaven. Wahrscheinlich aus Anlaſs des Marko-
mannenkrieges entstand für die Behandlung überwältigter Feinde das
eigenartige Rechtsverhältnis des Kolonats, welches zwischen Freiheit
und Knechtschaft in der Mitte stehend sich als Hörigkeit darstellt. Der
Kolone ist nach der Theorie persönlich frei, kann Vermögen erwerben
und zahlt von dem Grundstück, das er zu bebauen hat, bestimmte
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 3
[34]§ 7. Das Germanentum im römischen Reich.
Abgaben an den Grundherrn. Andrerseits ist er als membrum terrae
an die Scholle gebunden 5 und ist diese Gebundenheit eine erbliche.
Die Ansiedlung von Kolonen diente zur Ausfüllung der Lücken, welche
die Barbareneinfälle im Verein mit dem Druck der Rekrutierung und
der Verwaltung in die Reihen des römischen Bauernstandes rissen.
Der Kolonat ergänzte aber nicht bloſs den römischen Bauernstand,
sondern auch die römische Armee, denn die Grundherren waren ver-
pflichtet, ihre Kolonen als Rekruten zu stellen. Ausgehobene Kolonen
bildeten den Kern der Heere, mit welchen das Reich die Schlachten
der Völkerwanderung schlug 6. Die Entstehung des Kolonats ist
streitig 7. Daſs er auf germanische Einflüsse zurückzuführen sei, hat
vieles für sich. Denn die Gebundenheit und die Erblichkeit des Ver-
hältnisses sind unrömische Züge. Vermutlich war es gerade die Rück-
sicht auf die Einstellung in das Reichsheer, welches Unfreie grund-
sätzlich ausschloſs, daſs man die Barbaren nicht als Knechte, sondern
als rechtlich freie, aber an die Scholle gebundene Kolonen ansiedelte 8.
Wie dem auch sei, Thatsache ist, daſs zahlreiche Germanen, ja ganze
Völkerschaften auf römischem Boden namentlich in den Grenzprovinzen
als Kolonen unter die Grundbesitzer und auf den kaiserlichen Domänen
verteilt wurden 9, um dem Reiche Bauern und Soldaten zu liefern.
Höher als die Kolonen 10 stehen die seit dem Ausgang des dritten
Jahrhunderts begegnenden Laeti 11, geschlossene Haufen von über-
[35]§ 7. Das Germanentum im römischen Reich.
rheinischen Germanen und ihren Nachkommen, welche auf öffentlichen
Ländereien angesiedelt sind. Sie bewirtschaften Grundstücke, terrae
laeticae, welche sie nicht veräuſsern dürfen, müssen dafür Kriegs-
dienste leisten, darben der Freizügigkeit und sind einem praefectus
laetorum untergeordnet. Das Verhältnis der Läten ist ein erbliches.
Im übrigen ziemlich unabhängig, hatten sie korporative Verfassung12
und lebten, wie es scheint, in ihren gegenseitigen Rechtsbeziehungen
nach heimischem Rechte. Die Anweisung lätischer Ländereien war
rechtlich dem Kaiser vorbehalten. Doch haben gegen Ende des vierten
Jahrhunderts die angesiedelten Läten Grundstücke ohne kaiserliche
annotatio okkupiert oder durch Konnivenz der städtischen Behörden
zu erwerben gewuſst, Miſsbräuche, welchen eine Konstitution des
Kaisers Honorius von 399 zu steuern sucht13. Das römische Ämter-
verzeichnis vom Anfang des fünften Jahrhunderts nennt zwölf lätische
Präfekturen, die unter dem magister militum praesentalis a parte
peditum stehen und sich ausnahmlos in Gallien und zwar zumeist
in den beiden Belgien befinden14. Soweit die Ursprungsnamen der
einzelnen lätischen Truppenkörper angegeben sind, weisen sie in der
Mehrzahl auf fränkische Abstammung hin. Das Wort Läten ist
germanischer Herkunft15. Es bedeutet bei den Franken, Friesen und
Sachsen die Halbfreien, kann dagegen bei den Oberdeutschen und bei
den ostgermanischen Stämmen nicht oder doch nicht als bodenständig
nachgewiesen werden. Wahrscheinlich führt die Entstehung des Instituts
auf die Ausnutzung der ersten Römersiege über die Franken zurück.
Verwandt mit den Läten sind die Gentilen, gleichfalls ange-
siedelte barbarische Truppenkörper, welche seit der zweiten Hälfte
3*
[36]§ 7. Das Germanentum im römischen Reich.
des vierten Jahrhunderts vorkommen. Die Gentilenhaufen stehen
unter praefecti gentilium, liegen meist in Italien, auſserdem in Gallien
und werden vorzugsweise als Sarmatae, nur vereinzelt als Taifali
und Suevi bezeichnet. Augenscheinlich wurden sie aus sarmatischen
und germanischen Völkerschaften der Donaulandschaften gebildet,
welchen der Lätenname fremd war. Wie die rechtliche Stellung der
Gentilen sich von derjenigen der Läten abhob, ist unsicher. Sie
dürfte minder selbständig gewesen sein. Jedenfalls standen sie tiefer
im Range. Auch waren vermutlich ihre agrarischen Verhältnisse
anders geordnet16.
Die römische Sitte, Grenzländereien ausgedienten Soldaten anzu-
weisen, war seit Alexander Severus dahin ausgebildet worden, daſs
die Vererbung der angewiesenen Grundstücke an die Übernahme des
Grenzdienstes geknüpft und somit die Erblichkeit des letzteren an-
gebahnt wurde17. Die spätere Kaiserzeit führte das System koloni-
sierter und erblicher Grenzmilizen vollständig durch, indem die
Grenzen ausschlieſslich mit milites limitanei, castellani besetzt wurden,
erblich angesiedelten Soldaten, die das Grenzland zu bebauen und die
Grenze zu verteidigen hatten. Diese Maſsregel vermittelte und be-
förderte die allmähliche Germanisierung römischer Grenzgebiete, seit
mit der Zahl der Germanen im römischen Heere der Prozentsatz ge-
stiegen war, den sie zur Ansiedlung von Grenzsoldaten stellten.
Auf eine Auslieferung des Reiches an die Germanen lief es
hinaus, als man sich gezwungen sah, ganze Stämme, wie die West-
goten und Burgunder, innerhalb der Reichsgrenzen aufzunehmen und
ihnen gegen Anerkennung der kaiserlichen Oberhoheit Wohnsitze zu
überlassen oder einzuräumen, die sie für sich und das Reich zu ver-
teidigen hatten. Sie blieben in ihrem nationalen Verbande, standen
unter ihren heimischen Fürsten und hatten die staatsrechtliche Stellung
von foederati. Die Truppen, welche sie dem Reiche lieferten, gleich-
falls foederati genannt, galten nicht als Teil des Reichsheeres, wurden
überhaupt nicht als ständige Truppen vom Reiche erhalten, sondern
nur in Dienst genommen, wenn und solange man sie brauchte.
Zum Teil als Folge der Ansiedlung von Germanen, zum Teil
[37]§ 7. Das Germanentum im römischen Reich.
unabhängig von ihr vollzog sich die Germanisierung des römischen
Heeres.
Schon in dem Heere, welches Pompejus gegen Mithradates führte,
dienten Germanen. Bei Pharsalos fochten Germanen auf Seite Cäsars,
der aus ihnen eine nach germanischer Art aus Fuſsvolk und Reiterei
gemischte Truppe gebildet hatte. Da die römischen Legionen grund-
sätzlich nur aus römischen Bürgern gebildet wurden, muſs die Auf-
nahme von Germanen in den Legionsverband durch den Erwerb des
Bürgerrechts vermittelt worden sein, welches zu verleihen der Feld-
herr die auſserordentliche Befugnis hatte18.
Die innerhalb der Reichsgrenzen seſshaften Germanen waren der
Konskription unterworfen und stellten, da die Konskription wenigstens
zeitweise bei ihnen stärker war wie anderwärts, ein beträchtliches
Kontingent zu den Auxilien, so lange diese gemäſs der augustischen
Heerordnung aus den Unterthanen peregrinischen und latinischen
Rechtes gebildet wurden.
Hauptsächlich aus Germanen und zwar besonders aus Batavern
bestanden die custodes corporis, die berittenen Leibwächter des prin-
ceps, welche bei ihm den unmittelbaren Sicherheitsdienst versahen.
Sie hieſsen auch schlechtweg Germani oder Batavi. Persönlich unfrei,
werden sie rechtlich nicht zum Heer, sondern zum kaiserlichen Gesinde
gerechnet. Im ersten Schrecken der Varusschlacht wurden sie von
Augustus aufgelöst, bald wieder hergestellt, dann aber von Galba be-
seitigt, um in anderer Form wieder aufzuleben. Eine Neubildung der
germanischen Leibwache sind nämlich die equites singulares19, ein
militärisch organisiertes Truppencorps, welches spätestens seit Hadrian
besteht und aus freigeborenen Germanen und anderen Provinzialen
zusammengesetzt ist20.
Unter den Prätorianern waren die Germanen nicht oder kaum,
wohl aber unter den Hoftruppen der gentiles und scutarii vertreten,
welche nach Vernichtung der Prätorianer als Ersatz derselben gebildet
worden sind. Als die Zeit ihrer Vorherrschaft im Reiche gekommen
war, erschienen die Germanen auch in der Nobelgarde der kaiser-
lichen protectores, deren Dienst den Weg zu den einfluſsreichsten
Staatsämtern zu eröffnen pflegte.
Innerhalb der nationalen Elemente, von welchen das römische
Militärwesen seit seiner allmählichen Barbarisierung getragen wird,
läſst sich ein gewisser Gegensatz der gallisch-germanischen und der
illyrisch-thrakischen Truppen nicht verkennen. Er muſs bei der
Rivalität zwischen der Rhein- und der Donauarmee eine maſsgebende
Rolle gespielt haben. Zunächst haben nicht die Germanen, deren
entschiedene Begünstigung nach dem Sturz der claudischen Dynastie
eine Unterbrechung erfuhr, sondern haben die Illyrier die Oberhand
gewonnen. Nachdem Septimius Severus den Schwerpunkt der Kon-
skription nach Pannonien und Thrakien verlegt hatte, ward im dritten
Jahrhundert die illyrische Soldateska die Herrin des Reiches, welches
aus ihren Reihen eine Anzahl seiner kräftigsten Imperatoren empfing21.
Seit Konstantin tritt dann eine Wendung ein, welche die Germanen
in die Höhe bringt. Vornehmlich dem Einfluſs eines Alamannen-
königs hatte es Konstantin zu danken, daſs ihn das britannische Heer
zum Imperator ausrief. In den Kämpfen gegen Maxentius und gegen
den Illyrier Licinius hatten die Germanen ihm wesentliche Dienste
geleistet. Ein Eintreten für die Traditionen des altrömischen Kultus
war bei ihnen nicht zu besorgen. So lag es denn in der Natur der
Verhältnisse, daſs Konstantin jene besondere Vorliebe für die Ger-
manen bethätigte, welche ihm von seinem Nachfolger Julian zum Vor-
wurf gemacht worden ist.
Veränderungen in der Organisation des Heerwesens beförderten
dessen Barbarisierung, so die Bildung geschlossener nationaler Truppen-
körper (numeri und cunei22), die Werbung und Pressung von Söld-
nern aus reichsfremden Völkerschaften, durch welche nunmehr die
„Auxilien“ gebildet werden23, ebenso die Trennung des höheren Zivil-
und Militärdienstes, welche den Germanen den Zugang zu den höheren
Offizierstellen erleichterte.
Barbarische Soldatennamen nehmen seit dem dritten Jahrhundert
mehr und mehr zu. Die in Armins Zeiten übliche Annahme italischer
Namen unterbleibt. Vom vierten bis sechsten Jahrhundert ist bar-
barus technische Bezeichnung des Soldaten, ja der Militärfiskus wird
gelegentlich als fiscus barbaricus bezeichnet24. Germanische Sitte
dringt in das römische Heer ein. Echt germanische Züge sind es,
wenn die Truppen den Feldherrn, den sie zum Augustus ausrufen,
auf den Schild erheben, wie dies über Julian und Valentinian I. be-
richtet wird25, oder wenn das römische Heer i. J. 377 eine Schlacht
gegen die Westgoten mit dem Schildgesang eröffnet.
Das letzte Jahrhundert der römischen Geschichte darf man dreist
als das Jahrhundert der Germanenherrschaft bezeichnen. Denn Ger-
manen sind es, die im Besitze der höchsten Ämter thatsächlich das
Heer und den Staat regieren. Um nicht Gestalten zweiten Ranges zu
nennen genügt es, auf die Franken Merobaudes und Arbogast, auf
den Vandalen Stilicho, auf den Sueben Ricimer, auf den Burgunder
Gundobad und auf den Goten Aspar zu verweisen, glänzende Heer-
führer und Staatsmänner germanischer Abstammung, welchen aus der
Zeit der letzten Entscheidungskämpfe der aus Niedermösien stammende
Aëtius gewissermaſsen als letzter Vertreter römisch-illyrischen Soldaten-
tums gegenübergestellt werden darf.
Indem es durch die Germanen gleichzeitig von auſsen zertrümmert
und von innen heraus aufgelöst wurde, ist das weströmische Reich zu
Grunde gegangen. Der gröſste Teil seines Gebietes war an die feind-
lichen oder an die föderierten Germanenstämme verloren gegangen,
die Idee einer das West- und Ostreich verbindenden Gesamtherrschaft
zur Illusion geworden, als ein Akt der inneren Auflösung, eine Meu-
terei germanischer Soldtruppen, der römischen Herrschaft auch in
Italien ein Ende machte. Das aus Skiren, Rugiern, Herulern, Goten,
Vandalen und anderen Völkerschaften zusammengesetzte Söldnerheer
empörte sich unter der Führung Odovakers, der den letzten im West-
reich anerkannten Kaiser beseitigte und den Königstitel annahm26.
Kaspar Zeuſs, Die Deutschen und die Nachbarstämme, 1837. Jakob Grimm,
Gesch. der deutschen Sprache, 4. Aufl. 1880. Arnold, Ansiedelungen und Wan-
derungen deutscher Stämme, 1875. Baumann, Schwaben u. Alamannen, ihre Her-
kunft und Identität, Forschungen zur deutschen Gesch. XVI 215. Schröder, Die
Herkunft der Franken, historische Z NF VII 1 ff.; derselbe, Die Franken und
ihr Recht, Z2 f. RG II 1 ff. Gaupp, Das alte Gesetz der Thüringer, 1834.
Riezler, Gesch. Bayerns I, 1878. Platner, Über die Art der deutschen Völker-
züge zur Zeit der Wanderung, Forschungen XX 165.
Die Goten, welche ehemals an der Weichsel saſsen, erschienen
zu Anfang des dritten Jahrhunderts in den Gegenden der unteren
Donau. Ihr Aufbruch von den Gestaden der Ostsee muſs bald nach
der Mitte des zweiten Jahrhunderts erfolgt sein; denn als eine Folge
der gotischen Wanderung erklärt sich die nachhaltige Angriffsbewegung,
in welcher die Donausueben und ihre Verbündeten sich während des
Markomannenkrieges (166—180) von Illyrien bis Gallien über die
Grenzen des römischen Reiches ergossen. Als Vorboten des beginnen-
den Sturmes zogen zunächst abgesprengte Schwärme von Marko-
mannen und anderen Völkerschaften, darunter ein Haufe des an der
unteren Elbe seſshaften Langobardenvolkes, bis nach Pannonien, um
von den Römern Wohnsitze zu erbitten. Bald darauf erfolgte ein
allgemeiner Einbruch germanischer und sarmatischer Völkerschaften,
welche der Zug der Goten auf seiner rechten Flanke gestreift oder
aufgescheucht haben mag. Der Hauptstoſs ging von den Marko-
mannen und Quaden aus, östlich von ihnen drangen Sarmaten und
ostgermanische Stämme, darunter die Vandalen und die gotischen
Victovalen vor. Aber auch in westlicher Richtung hatte die Be-
wegung sich fortgepflanzt: neben den westlich von den Markomannen
wohnenden Nariskern sind noch die Hermunduren und die Chatten
an ihr beteiligt. Durch die höchste Anspannung seiner Kräfte ver-
mochte das römische Reich den Angriff abzuwehren, den die Ger-
manen mit einer Hartnäckigkeit führten, wie keinen zuvor. Allein
der zurückgestaute Strom der Völkerbewegung, welche Mark Aurel an
der mittleren Donau zum Stehen gebracht hatte, teilte sich hinter dem
Rücken der Markomannen in zwei Arme, indem er sich ein südöst-
liches und ein südwestliches Abfluſsbette grub. Etwa drei Jahrzehnte
nach Beendigung des Markomannenkriegs treten den Römern am
Schwarzen Meere die Goten und gleichzeitig am Main die Alamannen
als neue Feinde entgegen.
Die bunte Völkerkarte des westlichen und mittleren Germanien, wie
sie uns die Berichte von Strabo und Ptolomaeus, von Plinius und Tacitus
[41]§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.
darbieten, erfährt seit dem dritten Jahrhundert eine wesentliche Verein-
fachung. Die zahlreichen Völkerschaften beginnen allmählich zu ver-
blassen und zu verschwinden und neue Namen von umfassenderer Bedeu-
tung treten an ihre Stelle. Es sind die Namen der groſsen Stämme, in
welche das deutsche Volk, soweit seine nationale Überlieferung zurück-
reicht, ethnographisch und lange Zeit hindurch auch politisch zerfiel.
Der Kristallisationsprozeſs hat sich bei den verschiedenen Stämmen
zu verschiedenen Zeiten vollzogen. Erst zu Anfang des sechsten Jahr-
hunderts liegt uns die vollständige Stammeskarte in quellenmäſsiger
Begründung vor Augen. Allein der Beginn der Entwicklung geht
wahrscheinlich auf Verschiebungen zurück, welche um die Zeit des
Markomannenkriegs unter den Völkerschaften zwischen Weichsel und
Elbe stattgefunden haben.
Von den neuen Stammesnamen wird am frühesten der der Ala-
mannen genannt1. Es müssen suebische Völkerschaften gewesen sein,
die sich als Alamannen vereinigt haben. Die Namen Schwaben und
Alamannen werden in der Folge als gleichbedeutend gebraucht; nur
der erstere hat sich im Volksmunde erhalten, während der letztere
im Munde der Franzosen zum Namen aller Deutschen geworden ist.
Näher läſst sich die Abstammung der Alamannen nicht mit Sicherheit
bestimmen. Die Sondernamen, mit welchen einzelne Zweige der Ala-
mannen gelegentlich genannt werden, geben darüber keinen Aufschluſs.
Von den Völkerschaften, die schon früher in den Rhein- und Main-
gegenden saſsen, mögen die Tenkterer, Usiper und Tubanten2 sich
dem Bunde angegliedert haben und in ihm aufgegangen sein. Allein
die bindende und treibende Kraft desselben ist wohl von Osten ge-
kommen. Höchst wahrscheinlich ist sie in dem mächtigen Volke der
Semnonen zu suchen, welches vielleicht schon um die Zeit des Marko-
mannenkriegs sich von der mittleren Elbe gegen Südwesten vorzu-
schieben begann3. Im Jahre 213, zu welchem die Alamannen zuerst
[42]§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.
erwähnt werden, gaben sie dem Kaiser Caracalla den Anlaſs, sie am
Main zu bekämpfen. Nachdem sie den Grenzwall durchbrochen und
den Römern das rechte Rheinufer entrissen hatten, fielen sie mehr-
mals verheerend in Gallien und Italien ein. Von Aurelian zurück-
geworfen, von Probus angegriffen und besiegt, vermögen sie sich den-
noch jenseits des limes zu behaupten. Auf das nachdrücklichste be-
schäftigen sie Julian, der ihnen 357 bei Straſsburg eine empfindliche
Niederlage beibringt. Obwohl noch mehrmals überwunden haben die
Alamannen schlieſslich das römische Obergermanien auf die Dauer
erworben. Als die Burgunder vom Mittelrhein nach Gallien abgezogen
waren, dehnten sich die Alamannen rheinabwärts aus, bis sie mit
Chlodwig zusammentrafen, der sie 496 besiegte und unterwarf. In
den Kämpfen gegen Julian standen die Alamannen unter einer Mehr-
zahl von Königen, Chlodwig hat nur noch mit einem Alamannenkönig
zu thun.
Etliche Jahrzehnte nach den Alamannen tauchen aus dem rhei-
nischen Völkergewirre die Franken empor. So viel wie die Freien
bedeutend, scheint der Name einen Gegensatz ausdrücken zu wollen
zu dem Verhältnis von Unterthänigkeit, in welchem ein Teil der
rheinischen Germanen zu den Römern stand oder gestanden hatte.
So sehr die Vermutungen über den Ursprung der Franken auseinander-
gehen, so herrscht doch kaum ein Zweifel, daſs sie sich überwiegend
aus Völkerschaften zusammensetzten, welche von altersher am Nieder-
rhein als Unterthanen oder in der Nachbarschaft der niedergerma-
nischen Provinz als oft bekämpfte und oft genannte Gegner des römi-
schen Reiches seſshaft waren. Eine glaubwürdige Nachricht über einen
römischen Feldzug vom Jahre 392 läſst die Brukterer, die Chamaven,
die Amsivarier und die Chatten als Träger des Frankennamens und
als Verbündete erscheinen4. Zu den Franken wurden nach sicherem
Zeugnis ferner die Chattuarier gerechnet5. Aber als das wichtigste
Glied der Frankengruppe treten seit der zweiten Hälfte des vierten
3
[43]§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.
Jahrhunderts die Salier auf. Schon in der Zeit Julians sind sie unter
den Franken „primi omnium“6. Damals hatten sie Toxandrien be-
setzt, wurden von Julian besiegt, durften aber die eigenmächtig be-
siedelten Gebiete unter römischer Hoheit vermutlich als Föderaten
behalten. Das römische Ämterverzeichnis von etwa 412 zählt mehrere
salische Truppenkörper auf, kennt aber die Sitze der Salier nicht mehr
als Bestandteile des Reiches7. Die Herkunft der Salier ist dunkel.
Wahrscheinlich sind die Bataver und die Kannenefaten, vielleicht auch
die Sugambern8 in sie aufgegangen9, allein die namengebende Völker-
schaft scheint einst an der Yssel, in dem später sogenannten Salgau
oder Salland gesessen zu haben10 und dann vermutlich von den
Friesen gedrängt gegen Süden gezogen zu sein11. Mit den Saliern
verschmolzen nachmals auch die Chattuarier, die im vierten Jahr-
hundert von ihnen noch unterschieden werden. Nach ihrem Königs-
geschlechte, dem die Sage göttlichen Ursprung beilegte, hieſsen die
Salier gelegentlich auch Merowingi, ihr Land Merowingia12. Bedeu-
tend später wird in sicheren Zeugnissen der zweite groſse Zweig des
Frankenstammes, das Volk der Ribuarier genannt, welche aus den
alten Amsivariern und Brukterern hervorgegangen sind13. Auch die
[44]§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.
Chamaven gehörten zu ihnen, obwohl ihr Sondername sich noch länger
erhielt. Die Könige der Ribuarier residieren in der zweiten Hälfte
des fünften Jahrhunderts zu Köln. Den dritten Hauptstamm der
Franken bilden die Chatten oder Hessen, deren Geschichte um die
Zeit der Gründung des fränkischen Reiches in vollständiges Dunkel
gehüllt ist.
Die Sachsen werden zuerst um die Mitte des zweiten Jahr-
hunderts unter mehreren die kimbrische Halbinsel erfüllenden Völker-
schaften erwähnt14. Sie saſsen damals am rechten Ufer der unteren
Elbe, die sie von den Chauken trennte. Erst gegen Ende des
dritten Jahrhunderts gewinnt der Sachsenname umfassendere Bedeu-
tung und wird er Gesamtname einer niederdeutschen Völkergruppe,
welche sich nach Süden bis an den Harz ausdehnt und jedenfalls die
Angrivarier, vermutlich auch die Chauken und die Cherusker in sich
aufgesogen hat. Schon in der Zeit Diokletians machten sich die Sachsen
durch Seeraub und Plünderung der römischen Küsten gefürchtet. Seit
der Mitte des fünften Jahrhunderts setzen sich sächsische Schwärme
im Verein mit Angeln und Jüten in dem von den Römern aufgegebenen
Britannien fest, wo sie eine Anzahl selbständiger Königreiche gründen,
aber schlieſslich unter der Einherrschaft der Könige von Wessex ver-
einigt werden und zu dem Volke der Angelsachsen erwachsen. Die
Sachsen des Festlandes zerfallen in karolingischer Zeit, soweit sie
links der Elbe sitzen, in die drei Gruppen der Westfalen, der Engern15
und der Ostfalen oder Osterleute. Ihnen werden die nördlichen Sachsen
als Nordleute oder Nordalbinger gegenübergestellt.
Zwischen Franken und Sachsen erhielt sich an der Nordseeküste die
uralte Völkergruppe der Friesen16. Drusus hatte sie unter römische
Botmäſsigkeit gebracht, doch war seit Claudius der gröſsere, etwa der
östlich der Yssel seſshafte Teil des Stammes davon frei geworden.
Die älteste Gliederung der Friesen ist nicht ganz klar. Tacitus unter-
scheidet groſse und kleine Friesen, Plinius kennt Frisii und Frisiavones,
eine Unterscheidung, die durch römische Militärinschriften bestätigt
wird. Eine einzelne friesische Völkerschaft17 sind höchst wahrschein-
[45]§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.
lich die auf einem Denkmal aus der Zeit des Alexander Severus
(222—235) genannten Tuihanten, die dem nachmaligen Gau Twente
den Namen gegeben haben. Noch vor dem Ende des dritten Jahr-
hunderts müssen die reichsangehörigen Friesen sich der römischen
Herrschaft entledigt haben, wie aus den Unternehmungen der Franken
am Niederrhein und an den Seeküsten geschlossen werden darf18.
Unter den Germanen, welche Constantius (Chlorus) nach dem Siege
über die Franken der batavischen Insel auf römischem Boden an-
siedelte, werden auch die Friesen genannt. Seit dem Auftreten der
Franken und Sachsen sind abgesehen von dieser Notiz die Friesen
aus dem Gesichtskreis der römischen Historiographie verschwunden
und schlieſst der Name der Sachsen bei ihr mitunter auch den der
Friesen in sich. Während sie vor der Bildung der neuen Stämme
westlich an die Kannenefaten stieſsen und im Osten durch die Ems von
den Chauken19 geschieden wurden, haben die Friesen nachmals ihre
Sitze längs der Meeresküste nach beiden Seiten ausgedehnt. In frän-
kischer Zeit reicht Friesland, in West-, Mittel- und Ostfriesland zer-
fallend, vom Sinkfal bei Brügge bis an die Weser. Später erscheinen
an den Küsten und auf den Inseln des östlichen Schleswig die Nord-
friesen20, deren älteste Geschichte völlig unsicher ist. Die Friesen
des siebenten und achten Jahrhunderts haben vor der fränkischen
Unterwerfung ein gemeinsames Königtum21.
Der Stammesname der Thüringer begegnet uns erst gegen
Ende des 4. Jahrhunderts. Den Grundstock des Stammes bilden die
alten Hermunduren, von welchen wir nach der Zeit des Markomannen-
[46]§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.
krieges nichts mehr hören. Mit ihnen haben sich zwei niederdeutsche
Völkerschaften vereinigt, nämlich die Warnen und ein Teil der Angeln.
Die Zeit ihrer Zuwanderung ist unbekannt. In der Überschrift einer
unter Karl dem Groſsen entstandenen Lex werden die Angeln und
Warnen als Thüringer bezeichnet22. Zu Anfang des sechsten Jahr-
hunderts sind uns durch ein Schreiben des ostgotischen Theoderich
besondere Könige der Warnen und der Thüringer bezeugt. Als der
Frankenkönig Theuderich die Thüringer bekämpft, steht an der Spitze
des ganzen Stammes ein einziges Königsgeschlecht, welches durch
innere Zwistigkeiten gespalten ist. Gleichzeitig von Franken und
Sachsen angegriffen erlagen die Thüringer, ein Teil des Landes ward
sächsisch, der gröſsere fränkisch.
Den jüngsten Stammesnamen tragen die Baiern23, die nach der
ansprechendsten Herleitung ihres Ursprungs aus den Markomannen
und ihren Nachbarn, den Quaden und Nariskern, erwachsen sind.
Unsicher bleibt, ob und in welchem Maſse ostgermanische Völker-
splitter in sie aufgingen. Die Markomannen und Quaden werden
zuletzt unter den Hilfsvölkern Attilas genannt24. Nach der Auflösung
des Hunnenreichs scheinen sie eine Periode herulischer Herrschaft
durchgemacht zu haben25. Zu Anfang des sechsten Jahrhunderts
wanderten die Baiern aus Böhmen nach Westen und Süden in die
Donaugegenden ein. Den Namen führen sie nach der Heimat, die sie
nach mehr als halbtausendjährigem Aufenthalte verlieſsen. Baiuwarii
bedeutet die Bewohner des Landes Baia, Boihaemum. Den Franken
der merowingischen Zeit heiſsen sie auch Bogii26, Boii, wie die Kelten,
deren Name an dem Lande Böhmen haften geblieben war, nachdem
sie von den Vorfahren der Baiern unter Marbod daraus verdrängt
worden waren. Als das Thüringerreich zusammenbrach, gerieten die
[47]§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.
Baiern in die Machtsphäre des fränkischen Reiches, dem sie sich ohne
besonderen Widerstand scheinen unterworfen zu haben.
In die genannten sechs Stämme sind die westgermanischen Völker-
schaften vom dritten bis zum sechsten Jahrhundert aufgegangen, aus-
genommen die Angelsachsen Britanniens, jene Sueben, die mit den
Vandalen und Alanen nach Spanien zogen, und die Langobarden,
deren rechtsgeschichtlich beachtenswerte Geschicke später zur Sprache
kommen sollen.
Was die Bedeutung und die Ursachen der neuen Völker-
verbindungen betrifft, so giebt leider der dürftige Stand der Quellen
dem Widerstreite der Vermutungen offenen Spielraum. Bestimmt
wird man sagen dürfen, daſs die Stammesnamen nicht bloſse Kollektiv-
bezeichnungen benachbarter Völkerschaften sind, die einander sonst
fremd gegenüberstehen, sondern daſs der gemeinsame Name die
Völkerschaften, die er bezeichnet, als eine engere Gemeinschaft im
Gegensatz zu anderen zusammenfaſst. Geht diese Gemeinschaft auf
uralte Gliederungen des deutschen Volkes zurück, so hat sie doch
eine erhöhte Bedeutung erlangt, die an sich das Auftreten der Völker-
gruppen, aus welchen die Stämme erwuchsen, als eine neue Entwick-
lungsphase der deutschen Geschichte kennzeichnet.
Schon das räumliche Zusammenrücken der einzelnen Völker-
schaften, wie es die Vermehrung der Bevölkerung notwendig machte,
muſste eine engere Verbindung befördern. Indem umfangreiche Wäl-
der, wüste Strecken, welche die einzelne civitas zur Sicherung der
Grenze als Landscheide hatte bestehen oder entstehen lassen, vor dem
gesteigerten Anbau besiedelungsfähigen Landes verschwanden, sind
die durch Abstammung, Sprache, Kultus und Recht zunächst ver-
wandten Völkerschaften, die populi eiusdem sanguinis einander näher
getreten27.
Aber auch andere Ursachen sind wirksam gewesen. Nicht
durch Zusammenwachsen alter Siedelungen, sondern aus Anlaſs von
Wanderungen hat sich die Entstehung des Alamannenbundes und des
bairischen Stammes vollzogen. Und daſs die Bildung neuer Verbände
auch unter nicht verwandten Völkerschaften vor sich gehen konnte,
läſst die Vereinigung von Angeln und Warnen mit den Thüringern er-
sehen. Es müssen füglich politische Momente gewesen sein, die den
Charakter der neuen Völkergruppierung bestimmten. Wenn auch bei
den einzelnen Gruppen verschieden, können sie doch nirgends völlig
gefehlt haben. Selbst der Name der Friesen, der doch schon von
[48]§ 9. Die Reichsgründungen
altersher an der Nordseeküste vernommen wird, hat zum mindesten
insofern neue Bedeutung, als die römische Herrschaft aufgehört hat,
römische und freie Friesen zu trennen. Bei der Mehrzahl der
Stämme scheint das Bedürfnis gemeinsamen Auftretens nach auſsen
hin den Anstoſs zu einer Vereinigung der bis dahin politisch ge-
trennten Völkerschaften gegeben zu haben. So bei den Alamannen,
bei welchen schon der Name auf ein einstiges Bundesverhältnis hin-
deutet. So vermutlich auch bei den Franken. Das Bewuſstsein der
Zusammengehörigkeit, wie es ein gröſseres gemeinschaftliches Unter-
nehmen oder ein auf die Dauer berechnetes Bündnis erzeugte oder
im Anschluſs an die vorhandene Gemeinsamkeit der Abstammung, des
Kultus und der Lebensführung erhöhte, verfehlte nicht seine Wirk-
samkeit auf die Dauer zu bewähren, auch wenn einzelne Glieder der
Gruppe eine Zeit lang wiederum selbständig vorgingen oder sich
gegenseitig befehdeten. Wo die Stammesbildung an alte ethno-
graphische Gliederung sich anlehnte, kann die grundlegende politische
Verbindung schwach und lose, wo sie darüber hinausgriff, muſs sie
straffer gewesen sein. Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung hat
sich bei allen deutschen Stämmen das einigende Band zur staats-
rechtlichen Einheit verdichtet.
v. Bethmann-Hollweg, Der germ.-rom. Civilprozeſs im Mittelalter I, 1868.
Gaupp, Die germ. Ansiedlungen und Landtheilungen in den Provinzen des röm.
Westreichs, 1844. v. Wietersheim, Geschichte der Völkerwanderung, 2. Aufl.
besorgt von Dahn 1881. Dahn, Die Könige der Germanen I—VI, 1861—71, VI,
2. Aufl. 1885; derselbe, Urgesch. der germ. und rom. Völker I, 1881. Mannert,
Geschichte der Vandalen, 1785. Papencordt, Gesch. der vandal. Herrschaft in
Afrika, 1837. Binding, Das burgundisch-romanische Königreich, 1868. Jahn,
Die Geschichte der Burgundionen u. Burgundiens, 2 Bde 1874. Manso, Gesch.
des ostgothischen Reichs, 1824. Köpke, Die Anfänge des Königthums bei den
Gothen, 1859. Flegler, Das Königr. d. Langobarden in Italien, 1851. Bluhme,
Die gens Langobardorum, 1. Heft: die Herkunft der gens Langob., 1868.
Die ostgermanischen Völkerschaften der gotisch-vandalischen
Gruppe haben sämtlich ihre ursprünglichen Wohnsitze im östlichen
Deutschland verlassen, um im Süden eine neue Heimat zu gewinnen.
Viele von ihnen, so die Gepiden, Heruler, Rugier, Skiren sind nach
wechselvollen Kämpfen in dem Wellenschlage der Völkerwanderung
spurlos verschwunden. Andere, die Vandalen, die Burgunder, die
Westgoten und Ostgoten haben auf dem Boden des römischen West-
reichs die ersten germanisch-romanischen Staaten gegründet, über
welche die deutsche Rechtsgeschichte nicht völlig hinwegsehen darf.
Die Vandalen sitzen um die Zeit des Markomannenkrieges an
den nördlichen Abhängen des Riesengebirges. Nicht lange darnach
finden wir sie in Dacien als Nachbarn der Goten. Von diesen in
einer Schlacht an der Marosch geschlagen, lieſsen sie sich durch
Konstantin in Pannonien ansiedeln. In zwei Stämme, Astingen und
Silingen, geteilt, brachen sie im Bunde mit Alanen und Sueben 406
in Gallien ein, überstiegen 409 die Pyrenäen und machten sich zu
Herren des gröſseren Teiles von Spanien. Von den vier verbündeten
Völkerschaften, die sich durch das Los in die eroberten Landschaften
geteilt hatten, vermochten die Silingen und Alanen ihre Selbständig-
keit nicht zu behaupten. Durch unglückliche Kämpfe mit den West-
goten geschwächt, schlossen sie sich dem Reiche der Astingen an,
deren Könige sich nunmehr als reges Vandalorum et Alanorum be-
zeichnen. Mit einem Heere von ungefähr fünfzigtausend Vandalen
und Alanen setzte 429 der Vandalenkönig Genserich nach Afrika über.
Im Jahre 435 schloſs er mit den Römern einen Frieden ab, in
welchem die Vandalen das in Afrika besetzte Gebiet zunächst gegen
die Pflicht der Tributzahlung behielten. Nachdem der Krieg aufs
neue ausgebrochen war, kam es 442 zwischen Genserich und Valentinian
zu einem Vertrag, durch welchen Afrika in der Weise geteilt wurde,
daſs von nun ab der Vandalenstaat dem römischen Reiche gegenüber
selbständig und unabhängig dasteht. Nach dem Tode Genserichs (477),
der noch die letzten römischen Besitzungen in Afrika erobert hatte,
geriet das vandalische Reich in Verfall. Dem oströmischen Kaiser
Justinian gelang es 534 mit geringer Mühe die vandalische Herrschaft
in Afrika zu stürzen.
Die Burgunder wohnten im ersten und zweiten Jahrhundert
als östliche Nachbarn der Semnonen zwischen Oder und Weichsel.
Um die Mitte des dritten Jahrhunderts von den Gepiden geschlagen,
wandten sie sich bald darauf gegen Westen und setzten sich im Rücken
der Alamannen in den Maingegenden fest. Hier traten sie frühzeitig
in freundschaftliche Beziehungen zu den Römern, von welchen sie sich
gegen die Alamannen gebrauchen lieſsen 1. Zu Anfang des fünften
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 4
[50]§ 9. Die Reichsgründungen
Jahrhunderts sitzen sie in der Stellung römischer Föderaten am linken
Rheinufer in der Gegend von Worms und bilden jenes sagenberühmte
Reich, welches im Nibelungenliede verewigt ist. In Kämpfe mit den
Römern verwickelt, wurden sie 435 von Aëtius besiegt und erlitten
im folgenden Jahre durch Hunnen, welche vermutlich Aëtius gedungen
hatte, eine furchtbare Niederlage, in der ihr König Gundahar und
ein groſser Teil des waffenfähigen Volkes fiel. Den Überresten der
Burgunder wiesen die Römer 443 die Sapaudia (Savoien) als Heimat
an. Von hier aus haben sie sich in den gallischen Wirren weiter
ausgebreitet, nicht ohne Mitwirkung der römischen Provinzialen, die
die Burgunder herbeiriefen, um die römischen Steuerbeamten loszu-
werden 2. Die weiteren Schicksale des Burgunderreiches greifen so
sehr in die Geschichte des fränkischen Reiches ein, daſs sie besser
bei dieser besprochen werden. Von den ostgermanischen Stämmen
stehen die Burgunder den Westgermanen am nächsten, so nahe, daſs
man sie als ein Mittelglied bezeichnen darf. Ihre Sprache vereinigt
gotische und deutsche Formen 3.
An den Ufern des Schwarzen Meeres angelangt, haben die Goten
einerseits das römische Reich durch verheerende Einfälle und Piraten-
züge in Schrecken versetzt, andrerseits ihre Herrschaft nach Osten hin
bis in Gegenden des Don ausgedehnt. Aurelian gab ihnen Dacien
preis, Konstantin schloſs ein foedus mit ihnen ab. Das ganze Volk
zerfiel in die zwei Hauptstämme der Therwingen oder Westgoten und
der Greuthungen oder Ostgoten. Letztere erlagen dem vereinigten
Angriff der Hunnen und Alanen; die Westgoten wichen damals zum
groſsen Teile nach Süden aus, gingen über die Donau und vernichteten
ein römisches Heer bei Adrianopel (378). Erst der klugen Politik
des Kaisers Theodosius gelang es, sie zu pacificieren, indem er ihnen
Wohnsitze anwies und sie als Föderaten in den römischen Kriegs-
dienst aufnahm. Nach dem Tode des Theodosius erhoben sie Alarich
aus dem Geschlechte der Balthen zum König, der sie von Illyrien
nach Italien führte. Unter dessen Nachfolger Athaulf besetzten sie
1
[51]der arianischen Germanen.
das südwestliche Gallien. Nachdem sie als Föderaten im Dienste des
Reiches jenseits der Pyrenäen die Silingen und Alanen geschlagen
hatten, räumte ihnen Constantius durch einen Vertrag von 419 die
Aquitania secunda und einige benachbarte Städtebezirke ein. Das
Reich, welches die Westgoten hier errichteten und welches man nach
seiner Hauptstadt Toulouse das tolosanische nennt, stand anfänglich
als Föderatstaat in Abhängigkeit vom römischen Kaisertum. Allein
dieses Verhältnis hat Eurich (466—484) endgiltig aufgelöst, der
kräftigste König der Westgoten, unter dem sie durch die Eroberung
des gröſsten Teiles von Spanien, der Provence und der Auvergne den
Höhepunkt ihrer Macht erreichten.
Von den Hunnen überwunden, befanden sich die Ostgoten in der
Botmäſsigkeit des Siegers und muſsten ihm gleich den stamm-
verwandten Gepiden Heerfolge leisten. Unter der Führung dreier
Brüder aus dem heimischen Königsgeschlechte der Amaler kämpften
sie 451 in der Schlacht von Mauriacum auf hunnischer Seite gegen
die verbündeten Römer und Westgoten. Als es ihnen nach Attilas
Tod gelungen war, unter dem Vorkampf der Gepiden das Hunnen-
reich zu sprengen, lieſsen sie sich mit römischer Einwilligung in
Pannonien nieder. Von den drei Brüdern, die sich hier räumlich in
die Herrschaft teilten, fiel Walamir, der als der älteste die Oberhoheit
hatte, in einer siegreichen Schlacht gegen die Skiren. Ein Teil der
Ostgoten brach unter Widimir nach Italien auf, lieſs sich aber nach
Gallien ablenken, um sich den Westgoten anzuschlieſsen. Der Kern
des Volkes zog mit Theodimir über die Donau nach Mösien. Von
hier führte dessen Sohn Theoderich 489, wenn nicht auf Anregung, so
doch mit Zustimmung des oströmischen Kaisers Zeno, die Ostgoten
nach Italien, wo er der Herrschaft Odovakers ein Ende machte.
Auſser Italien einen Teil Pannoniens, die Alpenlandschaften und das
südwestliche Gallien umfassend, wurde das ostgotische Reich unter
Theoderich die vorwaltende Macht des Occidents. Allein nach seinem
Tode (526) begann die Kraft der Ostgoten unaufhaltsam hinzu-
schwinden. Durch innere Zwistigkeiten geschwächt, wurden sie von
den Byzantinern angegriffen. In zwanzigjährigem Kriege (535 bis
554), der das Volk nahezu völlig aufrieb, gelang es der zähen und
verschlagenen Staatskunst Justinians, Italien dem oströmischen Reiche
zu unterwerfen.
Die sämtlichen Staaten, welche die Ostgermanen innerhalb des
römischen Reiches errichteten, sind nicht in unvermitteltem Gegensatz
gegen dasselbe, sondern in theoretischer Unterordnung unter den
römischen Staatsbegriff entstanden, in dessen Rahmen sie sich äuſser-
4*
[52]§ 9. Die Reichsgründungen
lich einfügten. Als das abendländische Kaisertum erloschen war,
galten die oströmischen Kaiser für die Träger des Imperiums und
wurde nunmehr diesen gegenüber der äuſsere Schein der Abhängigkeit
gewahrt. Am schärfsten kommt die Eingliederung in die römische
Universalmonarchie bei den ersten Anfängen der neuen Staats-
bildungen zum Ausdruck. Die Burgunder wurden nach einer beinahe
vernichtenden Niederlage von den Römern in Savoien angesiedelt.
Ein römischer Statthalter rief die Vandalen nach Afrika, wo sie sich
435 verpflichteten, von den abgetretenen Gebieten Abgaben zu leisten.
Als Föderaten Roms erhielten die Westgoten das südliche Aquitanien
und gleichsam als ein Mandatar des Kaisers Zeno fiel der Ostgoten-
könig Theoderich in Italien ein. Sobald die neuen Staaten sich
einigermaſsen befestigt hatten oder dem Imperium feindlich gegenüber-
traten, war freilich von einer staatsrechtlichen Abhängigkeit nichts zu
spüren. Aber nur allmählich verblaſste bei den eingewanderten Ger-
manen das Gefühl, die neue Heimat in einem Weltreiche gefunden
zu haben. War es vordem eine Verschleierung der germanischen
Herrschaft im Innern des Reichs gewesen, daſs germanische Könige
und königliche Prinzen sich in die römische Beamtenhierarchie ein-
schieben lieſsen, die Ämter eines Konsuls, eines Heermeisters und
Patricius erstrebten und empfingen, so war es andererseits eine
nominelle Anerkennung römischer Oberhoheit, wenn sich auch noch
Könige der auf dem Boden des Reiches erwachsenen germanischen
Staaten vom Kaiser römische Würden und Titel verleihen lieſsen.
Am meisten hielten das ostgotische und das burgundische Reich
an der Zugehörigkeit zum Imperium fest, wogegen die Vandalen sich
schon unter Genserich, die Westgoten unter Eurich davon emanzi-
pierten. Für die Herrschaft des ostgotischen Theoderich war sie
politisches Prinzip. Er hat als Herr von Italien den Gedanken der
Reichseinheit, welche nach der römischen Theorie der Gesamtherr-
schaft Occident und Orient verband, zu musterhaft korrektem Aus-
druck gebracht und zwar nicht bloſs in Worten 4, sondern auch darin,
daſs er den oströmischen Kaiser bat, der Ernennung des von ihm für
den Westen designierten Konsuls zuzustimmen 5. Bei den Burgundern
waren nicht nur fast sämtliche Könige von Gundiok bis Sigismund
[53]der arianischen Germanen.
magistri militum oder Patrizier, sondern es wird in Inschriften, die
aus den Jahren 466 und 473 stammen, Kaiser Leo geradezu dominus
noster genannt 6. Und noch im sechsten Jahrhundert bringt es König
Sigismund über sich, in Briefen an Kaiser Anastasius die Burgunder
als kaiserliche milites zu bezeichnen.
Der Stellung zum Reiche entsprach das Verhalten der Germanen
zur römischen Bevölkerung, die ihre neuen Herren verhältnismäſsig
früh zu romanisieren vermochte. Obzwar sich ihre Lage in den ein-
zelnen Staaten verschieden gestaltete, so behielt sie doch allenthalben
ihre Freiheit, ihr Recht und ihr Vermögen. Und wenn sie sich auch
von den Goten und Burgundern eine Landteilung gefallen lassen
muſste, so erfolgte dieselbe doch im Anschluſs an Grundsätze des
römischen Verwaltungsrechts, nämlich nach dem Vorbilde des römischen
Einquartierungssystems, welches kennen zu lernen die Germanen im
römischen Dienste reichliche Gelegenheit gefunden hatten 7.
Die inneren Einrichtungen der neuen Reiche knüpfen in wesent-
lichen Punkten an die vorgefundenen römischen Institutionen an. Die
Burgunder und Westgoten haben sie bald in selbständiger Weise um-
zubilden begonnen. Dagegen fungierte in Italien die alte römische
Verwaltungsmaschine bis zur langobardischen Eroberung ohne erheb-
liche Störungen fort. Odovaker lieſs den Senat und den ganzen
römischen Beamtenapparat bestehen. Theoderich liebte es, die alt-
hergebrachten Formen fast mit Ängstlichkeit zu wahren. Schreibt er
an den Senat, so spricht er zu den patres conscripti. Sein Reich ist
ihm ein regnum Romanum, in welchem die Goten den erblichen
Wehrstand bilden.
Formell stellt sich der Übergang von der alten Ordnung der Ver-
hältnisse in die neue als ein fast unmerklicher dar. So groſs auch der
Abstand zwischen dem ersten germanischen Reisläufer, der in römischen
Kriegsdienst trat, und dem König des germanischen Föderatvolkes,
der sich magister militum oder patricius nennen durfte, so erheblich
der Unterschied ist zwischen der Einquartierung eines römischen Sol-
daten germanischer Herkunft und den Landteilungen der Burgunder
und Westgoten, so liegt doch auf dem Boden des römischen Staats-
und Verwaltungsrechtes eine Reihe von Mittelgliedern, welche die
Anfangs- und Endpunkte der Entwicklung verketten.
Sieht man nicht auf die Formen, sondern auf das Wesen der
Dinge, so wird man sich freilich der Wahrnehmung nicht verschlieſsen,
[54]§ 9. Die Reichsgründungen
daſs sich nichtsdestoweniger mit dem Entstehen der ostgermanischen
Staaten eine Veränderung von weltgeschichtlicher Tragweite vollzogen
hat. Der springende Punkt ist, daſs in ihnen zuerst der römische
Occident neue Herren empfangen hat. Das haben die Römer lebhaft
gefühlt, die Germanen ihnen deutlich zum Bewuſstsein gebracht. Und
wenn der germanische König von jenen dominus rerum genannt wird 8,
so haben sie damit eben den Widerspruch formuliert, der zwischen
dem wahren Sachverhalt und dem abgelebten Gedanken des römischen
Imperiums obwaltete. Übrigens bilden die Staaten der Goten und
Burgunder nur den Übergang zu einer gründlicheren Umformung der
abendländischen Welt, welche durchzuführen den Franken beschieden
war. In Italien, wo die verhängnisvolle Pietät der Ostgoten römisches
Wesen fast zärtlich konserviert hatte, wurde den Franken durch die
Langobarden tüchtig vorgearbeitet, ein schneidiges Volk aus härterem
Stoff wie die bildsamen und duldsamen Ostgoten.
Die Langobarden, deren Vorgeschichte 9 hier kurz nachzuholen
ist, saſsen um den Beginn unserer Zeitrechnung in den Gegenden der
unteren Elbe, wo ihr Name an dem Bardengau 10 haften geblieben
ist. Von Marbod in Abhängigkeit gebracht, traten sie während seiner
Kämpfe mit Armin auf die Seite der Cherusker über. In der zweiten
Hälfte des vierten Jahrhunderts scheint das Volk seine Sitze an der
Niederelbe verlassen zu haben. Laut der langobardischen Stammsage
wanderte es nach dem Sturz der Rugierherrschaft 487 in Rugiland
ein. Bald darauf stehen die Langobarden in Abhängigkeit von den
Herulern, welchen sie Tribut zahlen müssen. Nachdem sie sich
von dem Joche der Heruler befreit und dieselben vertrieben hatten,
scheinen sie sich nach Nordwesten hin ausgebreitet zu haben, denn
nach der Stammsage 11 hatte damals ein langobardischer König Wacho,
der mit den Sueben kämpfte, seine Residenz in dem nachmaligen Lande
der Tschechen (Beowinidi), also in Mähren oder in Böhmen. Später
rückten sie in Pannonien ein, besiegten mit den Avaren verbündet die
Gepiden und zogen 568 nach Italien, welches sie zum gröſsten Teile
den Oströmern entrissen.
Schon Tacitus hebt die geringe Volkszahl der Langobarden her-
vor 12, die durch ihre hervorragende Tapferkeit ausgeglichen werde,
ein Motiv, welches in der langobardischen Stammsage wiederkehrt 13.
Um sich ihrer Feinde zu erwehren haben sie im Drange der Not
freigelassene Knechte und Schwärme besiegter Völkerschaften in das
Volksheer aufgenommen 14. Fremde Elemente sind auf diese Weise
in den Volkskörper eingedrungen, ein Umstand, der es erklären hilft,
daſs der überlieferte Sprachschatz der hochdeutschen Langobarden
vereinzelte Worte aufweist, die als germanische zu bestimmen oder
überhaupt aufzuhellen der Sprachwissenschaft bisher nicht gelungen ist.
Im Verhältnis zu den Römern und zu den römischen Institutionen
ist das Auftreten der Langobarden ein durchaus anderes als das der
Ostgoten. Wo die Langobarden festen Fuſs faſsten, haben sie das
römische Verwaltungssystem und die römische Ämterverfassung hin-
weggefegt und nicht einen Zwitterstaat, sondern ein rein nationales
Staatswesen geschaffen. Die Römer wurden nicht als gleichberech-
tigtes, sondern als unterjochtes Volk behandelt. Noch um die Mitte
des siebenten Jahrhunderts ist das Volksrecht der Langobarden fast
völlig frei von römischen Einflüssen. Erst als der Staat eine feste
volkstümliche Grundlage gewonnen hatte, begann eine maſsvolle An-
lehnung an römische Einrichtungen und begann die öffentlichrechtliche
Gleichstellung der römischen Bevölkerung sich anzubahnen. Nach
mehr wie zweihundertjährigem Bestande ging das Reich der Lango-
barden auf Karl den Groſsen über. Es ist damals nicht innerer Ent-
kräftung erlegen, sondern durch das übermächtige Bündnis der denk-
bar gefährlichsten Gegner, nämlich durch die geeinte Kraft des frän-
kischen Reiches und durch die Todfeindschaft des römischen Papsttums
überwunden worden.
Die Reiche der Vandalen, der Burgunder, der Westgoten, der
Ostgoten und der Langobarden haben das gemeinsame Merkmal, daſs
in ihnen von Anfang an auſser dem nationalen Gegensatze der ger-
manischen und der ihr an Kopfzahl überlegenen römischen Bevöl-
kerung ein folgenschwerer konfessioneller Zwiespalt obwaltete. Durch
ihre Berührung mit den Oströmern hatten ostgermanische Stämme
[56]§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.
schon im vierten Jahrhundert das Christentum kennen gelernt. Zuerst
fand es bei den Westgoten Eingang und zwar nach der Lehre des
Arius, welche im fünften Jahrhundert die germanische Form des
Christentums geworden ist 15. Ost- und Westgoten, Vandalen und
Langobarden waren Arianer. Die Burgunder, die sich ursprünglich
dem Katholizismus zugewandt hatten, sind nachträglich zum Arianismus
übergegangen 16. Da die römischen Provinzialen katholisch waren,
bestand in den genannten Reichen der Germanen von vorneherein
eine feindselige Stimmung des katholischen Klerus und der von ihm
geleiteten Bevölkerung gegen die herrschende Staatsgewalt. Die Reiche
der Burgunder, der Vandalen und der Ostgoten sind als arianische
Reiche im Kampfe mit katholischen Mächten untergegangen. Bei
ihrem Zerfall und Untergang spielte der Antagonismus der katho-
lischen Kirche eine erhebliche Rolle. Ihn hatte weder ostgotische
Toleranz, noch vandalische Gewaltsamkeit zu überwinden vermocht.
Im burgundischen Reiche war noch kurz vor dessen Sturz der Katho-
lizismus zum Übergewichte gelangt, ohne dadurch ein Interesse an der
Erhaltung des sinkenden Staates zu gewinnen. Die Westgoten traten
seit dem Ausgange des sechsten, die Langobarden seit der Mitte des
siebenten Jahrhunderts zum Katholizismus über. Bei jenen erwarb
der katholische Klerus so weitgehenden Einfluſs auf die Leitung der
öffentlichen Angelegenheiten, daſs er die Staatsgewalt untergrub und
das Reich die Kraft verlor, sich gegen die Angriffe des Islams zu
wehren. Im Langobardenreiche ist an die Stelle des verwundenen
konfessionellen Zwiespalts der politische Gegensatz gegen die weltliche
Machtsphäre des Papsttums getreten, ein Konflikt, in welchem das
fränkische Reich intervenierte, um der nationalen Selbständigkeit der
Langobarden ein Ende zu bereiten.
G. Hanssen, Agrarhistorische Abhandlungen, 2 Bde 1880. 1884. Roscher,
Ansichten der Volkswirthschaft, 1861. v. Inama-Sternegg, Deutsche Wirthschafts-
geschichte I, 1879. Hennings, Über die agrarische Verfassung der alten Deutschen,
1869. Meitzen, Der älteste Anbau der Deutschen, J f. Nationalökonomie und
Statistik NF II 1881; derselbe, Das Nomadentum der Germanen, Verhandl. des
2. deutschen Geographentags, April 1882; derselbe, Der Boden und die land-
wirthschaftl. Verhältnisse des preuſs. Staates I, 1868. Karl Lamprecht, Deutsches
Wirtschaftsleben im Mittelalter … auf Grund der Quellen zunächst des Mosel-
[57]§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.
landes I 1, 1886. v. Sybel, Entstehung des deutschen Königthums, 2. Aufl. 1881.
Waitz, Verfassungsgesch. I 97 ff. L. v. Maurer, Gesch. der Markverfassung,
1856; derselbe, Einleitung zur Gesch. der Mark-, Hof-, Dorf- u. Stadtverfassung,
1854; derselbe, Gesch. der Dorfverf., 1865. 1866. Thudichum, Die Gau- u.
Markverf., 1860. Gierke, Rechtsgesch. der deutschen Genossenschaft I 56. —
Laveleye, Das Ureigenthum, übersetzt u. vervollständigt von Bücher 1879. Dazu
Kohler, KrV XXIII 24. Viollet, Caractère collectif des premières propriétés
immobilières, Biblioth. de l’école des chartes 1872. Fustel de Coulanges,
Recherches sur quelques problèmes ch. 2 u. 3, 1885. Francesco Schupfer,
L’Allodio, studi sulla proprietà dei secoli barbarici, 1885. Denman Roſs, The
early history of landholding among the Germans, 1883. Seebohm, English Village
Community, 1. Ausg. 1883, übers. unter dem Titel: Die englische Dorfgemeinde in
ihren Beziehungen zur Gutsherrlichkeit … zur Flureinteilung und Feldgemein-
schaft, nach der 3. Ausg. von Th. v. Bunsen 1885.
Als ein Volk, dem ein Städtewesen durchaus fehlte, bewegten
sich die Germanen in einfachen wirtschaftlichen Zuständen, welchen
eine gewisse Gleichförmigkeit der Besitzverhältnisse entsprechen muſste.
Sie betreiben mit Vorliebe die Jagd, stehen aber nicht mehr auf der
Stufe des Jägervolkes. Vielmehr bildet den Mittelpunkt ihres Wirt-
schaftslebens die Viehzucht. Sie liefert die Hauptnahrung des Volkes.
Das Vieh ist Geld, in Viehhäuptern zahlt man die Buſsen 1, der Vieh-
stand bestimmt den Reichtum des einzelnen, wie denn die ältesten,
Geld und Habe bezeichnenden Ausdrücke der Sprache auf ihn hin-
weisen 2. Trotzdem sind die Germanen auch kein nomadisierendes
Hirtenvolk. Sie haben Wohnsitze und treiben Ackerbau.
Die Seſshaftigkeit ist aber noch eine lose, das Volk nicht fest
mit Grund und Boden verwachsen, sondern leicht imstande und leicht
entschlossen seine Sitze aufzugeben. Und der Ackerbau, den schon
ihre arischen Ahnen gekannt haben müssen, wurde von den Germanen
nur nebensächlich und oberflächlich betrieben. Daſs sie auf die
Bebauung des Bodens geringe Sorgfalt verwendeten, sagen die überein-
stimmenden Berichte der Alten 3, und noch in den fränkischen Volks-
rechten stehen die dürftigen Angaben über Ackergeräte und Hausein-
richtungen in bezeichnendem Gegensatze zu dem Reichtum an Rechts-
sätzen, welche den Viehstand und die Jagdbedürfnisse betreffen 4.
Über die herrschende Art der Bodenbewirtschaftung sind nur Ver-
[58]§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.
mutungen möglich. In ältester Zeit hat wohl eine dauernde Schei-
dung von Ackerland und Weideland überhaupt nicht stattgefunden,
sondern wurde der Boden durch wilde Feldgraswirtschaft ausgenutzt,
welche von der ganzen Flur nur einzelne Stücke in unregelmäſsigem
Wechsel bebaute, um sie nach einiger Zeit als Weideland liegen zu
lassen 5. Übrigens ist in dem halben Jahrtausend, welches dem Beginn
unserer Zeitrechnung folgte, der wirtschaftliche Zustand des Volkes
nicht stabil geblieben, sondern hat einen allmählichen Übergang
von loser zu festerer Siedelung, von oberflächlichem zu intensiverem
Ackerbau durchgemacht, eine Wandelung, von welcher zunächst die
westlichen Stämme ergriffen wurden.
Die ältesten Grundbesitzverhältnisse der Germanen sind Gegen-
stand einer lebhaft erörterten Kontroverse, welche sich um die Gegen-
sätze des Sonderrechtes und des Gemeinschaftsrechtes an Grund und
Boden dreht. So vielfach die neueste Litteratur diese brennende
Frage behandelte, so vermochte sie doch nicht zu festen Ergebnissen
oder auch nur zu einer communis opinio zu gelangen. Denn die Be-
richte der Alten reichen nicht völlig aus, und die Bemühungen sie
aus jüngeren Quellen zu ergänzen bewegen sich auf schwankendem
Boden. Nichtsdestoweniger muſs es versucht werden, hier in allge-
meinsten Umrissen ein Bild unserer ältesten Agrarverfassung zu ent-
werfen.
Dabei darf nicht der Gegensatz von Gemeinschaftsrecht und Son-
derrecht, sondern muſs der Gegensatz von gemeinschaftlicher Nutzung
und Sondernutzung zum Ausgangspunkte der Betrachtung erhoben
werden. Denn wenn es richtig ist, daſs in den Anfängen der Kultur
das nutzbare Land nicht durch die in der Isolierung unzureichende
Kraft des Einzelnen, sondern durch die vereinte Arbeit wirtschaftlicher
Verbände verwertet wurde 6, so liegt es auf der Hand, daſs das Ur-
eigentum an Grund und Boden nicht ein Sondereigentum, sondern
ein Gemeinschaftseigentum war und daſs der Fortschritt sich zunächst
durch den Übergang von der gemeinschaftlichen zur Sondernutzung
vollzog, welche dann nach längerer Dauer das Sondereigentum an
Grund und Boden erzeugte.
In der Zeit Cäsars 7 existiert weder ein Privateigentum noch ein
Sonderbesitz an Grund und Boden. Die einzelnen Gaue, pagi, Ab-
teilungen, in welche die Völkerschaft, civitas, zerfällt, dürfen als Eigen-
tümer des Gebietes betrachtet werden, über welches der Gau sich
erstreckt. Die Obrigkeiten und Fürsten weisen den einzelnen Ge-
schlechtsverbänden des Gaues alljährlich Land zur Nutzung zu. Die
Bewirtschaftung muſs innerhalb der einzelnen gentes ac cognationes
eine gemeinschaftliche gewesen sein 8. Die Feldmarken wurden jähr-
lich gewechselt und damit war auch ein Wechsel der Wohnungen ver-
bunden 9, indem die Häuser entweder abgebrochen oder etwa mit den
neuen Siedlern getauscht wurden.
Das zur Zeit Cäsars noch fehlende Sondereigentum hat sich in
der Folge an den verschiedenen Bestandteilen der Bodenfläche zu ver-
schiedenen Zeiten ausgebildet, je nachdem sie früher oder später in
permanente Sondernutzung genommen wurden. Dabei sind die Hof-
stätte, das Ackerland und das Wald- und Weideland zu unterscheiden.
An dem umhegten Raum der Hofstätte, welche die Wohn- und
Wirtschaftsgebäude umfaſst, besteht zur Zeit des Tacitus bereits ein
Sondereigentum. Der Wechsel der Wohnungen ist verschwunden.
Die herrschende Art des Wohnens bildet, soweit wir die Siedelungen
der Germanen zurückverfolgen können, das Dorfschaftssystem. Man
darf sich vorstellen, daſs schon die Rücksicht auf die äuſsere Sicher-
heit die Siedler in Dörfer zusammendrängte. Daneben findet sich
in einzelnen Strichen Deutschlands die Siedelung in Einzelhöfen oder
[60]§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.
Einöden 10. Nach einer ansprechenden Vermutung haben sie die Ger-
manen von den durch sie verdrängten Kelten übernommen 11. Häufig
stellt sich diese Niederlassungsform als eine Einrichtung jüngeren Ur-
sprungs dar, indem eine von Dorfschaften ausgehende Kolonisation
successive in Einzelhöfen erfolgte 12. Anderwärts, wie z. B. in Gebirgs-
landschaften, waren sie von vorneherein durch die Bodenverhältnisse
bedingt 13.
In den Gegenden des Dorfschaftssystems hatte das Ackerland eine
lange Übergangsperiode abwechselnder Gemeinschaftsnutzung und
Sondernutzung durchzumachen, ehe das Sondereigentum seine regel-
mäſsige Besitzform wurde. Schon ehe ein solches an den Hofstätten
entstand, muſs der Wechsel der Feldmarken innerhalb des ganzen
Gaues verschwunden und das Land zunächst in dauernden Besitz der
einzelnen Sippschaft gelangt sein, aus der die Markgenossenschaft als
ein räumlich begrenzter wirtschaftlicher Verband herauswuchs. Die
Markgenossenschaft fiel entweder mit der Dorfschaft zusammen oder
sie hatte gröſseren Umfang, indem sie mehrere Dorfschaften umfaſste.
Wo dies der Fall war, müssen sich aus der groſsen Mark im Laufe
der Zeit kleinere Dorfmarken abgesondert haben, indem das bau-
würdige Land ganz oder zum gröſseren Teil in den Gemeinbesitz der
Dorfschaft überging, als man angefangen hatte, gröſsere Mühe auf den
Ackerbau zu verwenden und dieser sich deshalb in der Nähe der
Dörfer konzentrierte. Herrschte in den Tagen Cäsars noch die
gemeinschaftliche Bewirtschaftung des Bodens vor, so hat sie in der
[61]§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.
Zeit des Tacitus 14 bereits der Sondernutzung durch die einzelnen
Familienväter Platz gemacht. Der Wechsel des Ackerlandes findet
nunmehr innerhalb der Dorfschaft beziehungsweise der Markgenossen-
schaft statt. Das Ackerland wird, wahrscheinlich auf Grund periodischer
Verlosung, unter die Hofbesitzer verteilt. Da keiner ein Interesse
hatte mehr zu erhalten, als er zu bebauen vermochte, und des
Bodens die Fülle vorhanden war, so bestand die Möglichkeit, dem
Reicheren und Vornehmeren, der über eine gröſsere Zahl von Arbeits-
kräften verfügte, gröſsere oder mehrere Anteile zuzuweisen. War der
Boden, den man nicht zu düngen verstand, binnen kurzer Frist er-
schöpft, so blieb das abgeerntete Land als wildes Weideland liegen
und wurde ein anderer Teil der Mark auf Grund neuer Vermessung
und Verlosung als Ackerland aufgeteilt. Der Wirtschaftsplan wurde
von der Gesamtheit der Genossen festgestellt, an deren Beschlüsse
der einzelne in Bezug auf die Zeit und Art der Bestellung und der
Ernte gebunden war.
Die Herrschaft dieses Feldsystems, welches man als Feldgemein-
schaft mit wechselnder Hufenordnung oder als strenge Feldgemeinschaft
bezeichnet, behauptete sich so lange, als die Dauer der gemeinsamen
Nutzung zu Weidezwecken die Dauer der Sondernutzung zu Zwecken
des Ackerbaues überstieg. Eine erneute Vermessung und Verlosung
der Bodenfläche, welche jedesmal in Kultur genommen werden sollte,
empfahl sich unter solchen Umständen weit mehr als die Festhaltung
eines Sonderrechts, welches vielleicht Jahrzehnte hindurch praktisch
bedeutungslos gewesen wäre 15. Erst als das Bedürfnis intensiveren
Ackerbaues den Zeitraum der Sondernutzung verlängerte, konnte die
wechselnde Hufenordnung in eine feste übergehen und im Anschluſs
daran ein Sondereigentum am Ackerlande erwachsen.
Lange über diese Veränderung hinaus erhielt sich die gemein-
schaftliche Nutzung der später sogenannten Almende oder gemeinen
Mark, communitas, commarchia. Sie umfaſste alles Land, welches
nicht zu Sondereigentum oder zur Sondernutzung ausgeschieden wor-
den ist. Es war das der gröſsere Teil der Bodenfläche, Wald und
Weideland, Moor und öde Gründe, Flüsse, Bäche und Seen, soweit
eine Okkupation daran stattgefunden hatte. Das berechtigte Subjekt
[62]§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.
der Almende ist die Markgenossenschaft, noch in jüngerer Zeit nicht
selten ein gröſserer Verband als die Dorfschaft. Die Nutzungsrechte
der Markgenossen waren ungemessene. Jeder hatte das Recht, Vieh
auf die Weide, Schweine auf die Mast zu treiben, Bau- und Brenn-
holz zu fällen, zu jagen und zu fischen, ja sogar die Befugnis der
Rodung und Landnahme. Der Boden, den der Einzelne durch Urbar-
machung dem Walde abgewann und „einfing“ (bifanc), war sein Sonder-
eigentum und wurde etwa mit einem Vorwerk besetzt, das ein Knecht
oder ein Höriger des Eigentümers bewirtschaftete 16.
Wo die Ansiedlung in Einzelhöfen geschah, bilden die vereinigten
Siedler den wirtschaftlichen Verband der Bauerschaft. Auch hier er-
folgte bei der ersten Niederlassung die Landnahme durch die Gesamt-
heit, auch hier schälte sich also das Sondereigentum aus dem Rechte
der Gemeinde heraus. Allein das Recht des einzelnen erhielt hier
sofort gröſseren Umfang und gröſseren Inhalt. Die Sondernutzung
muſste bei der Lage der einzelnen Hofstätten alsbald wenigstens einen
Teil des Ackerlandes ergreifen 17, so daſs das Sondereigentum nicht
bloſs die Hofstätte, sondern auch Ackerland umfaſste und das Ge-
samtrecht der Bauerschaft sich als Eigentum nur in dem der Al-
mende verbleibenden Gebiete äuſserte. Die sämtlichen Rechte, die
der einzelne Genosse der Dorfschaft oder Bauerschaft in Bezug auf
Grund und Boden besaſs, also die Eigentums- und Nutzungsrechte,
wie sie an der Hofstätte, am Ackerlande und an der Almende be-
standen, faſst später der Ausdruck Hufe, hoba, huoba als wirtschaft-
liche Einheit zusammen 18. Die Hufe stellt sich als das normale Maſs
des Besitztums dar, welches der Leistungsfähigkeit und den Bedürf-
nissen der Durchschnittsfamilie entspricht 19.
Jüngere Quellen 20 und die Zustände, wie sie in einzelnen Strichen
[63]§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.
Deutschlands bis heute obwalten 21, bieten genaueren Einblick in das
Wesen der strengen Feldgemeinschaft und in die Methode, nach
welcher die Verteilung des Ackerlandes bei der Anlage eines Dorfes,
bei dem periodischen Wechsel der Hufen oder, wenn die Hufen-
ordnung sich fixiert hatte, bei Eintritt einer Grenzverwirrung bewerk-
stelligt wurde. Es läſst sich daraus entnehmen, daſs die in Kultur
zu nehmende Fläche zunächst nach Lage und Güte des Bodens in
gröſsere Teile zerlegt wurde, welche Gewannen, Wannen, Lagen,
Flagen genannt werden 22. Jede Gewanne wurde in eine der Zahl
der Genossen entsprechende Zahl von Äckern (Losen) eingeteilt,
welche dann den einzelnen überwiesen wurden. Der Anteil des
einzelnen umfaſste sonach Äcker in jeder Gewanne. Die Vermessung
geschah in älterer Zeit mit Stange oder Seil (Reeb), die Verteilung
erfolgte vermittelst des Loses 23.
Feldgemeinschaft und Markgenossenschaft sind keine den Ger-
manen ausschlieſslich eigentümliche Einrichtung, denn die vergleichende
Rechtswissenschaft vermag das genossenschaftliche Grundeigentum nicht
nur bei stammverwandten Völkern älterer und neuerer Zeit nachzu-
weisen, sondern stellt es als eine urgeschichtliche Institution von all-
20
[64]§ 11. Die Landnahme in den Provinzen
gemeiner Verbreitung dar 24, welche sich unter dem Einfluſs eigen-
artiger Verhältnisse bei verschiedenen Völkern der Erde bis heute als
die regelmäſsige bäuerliche Besitzform erhalten hat.
Gaupp, Die german. Ansiedlungen u. Landteilungen, 1844, S 317 f. 394 f. 441 f.
456 f. 466 f. 503 f. Savigny, Gesch. des röm. Rechtes im Mittelalter, 2. Aufl.
1834, I 296. 300. 330 f. 399 f. Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 133. 145.
182. 262. 307. Hegel, Geschichte der Städteverfassung von Italien, 1847, I. Bin-
ding, Das burgundisch-romanische Königreich, 1868, S 13. 297. Sartorius, De
occupatione et divisione agrorum Romanorum per Barbaros, 1816 in den Comm.
societ. reg. Gotting. recentiores III 210 f. Gaupp, Comm. de occupatione et di-
visione provinciarum agrorumque Romanorum … Vratisl. 1841.
Alle bedeutenden Offensivstöſse der Germanen waren Einwanderungs-
versuche, hervorgerufen durch das Bedürfnis nach ausreichenden und
ruhigen Wohnsitzen. Von den Kimbernkriegen bis zur Auflösung des
Westreiches ging dem feindseligen Auftreten der Germanen regelmäſsig
die Bitte um Landanweisung voraus. Nachdem die Sueben unter
Ariovist in Gallien eingedrungen waren, nahmen sie den Sequanern
zunächst ein Drittel, und als neue Schwärme nachrückten, ein zweites
Drittel ihres Gebietes weg. Die Landfrage war es, die den Sturz des
weströmischen Reiches veranlaſste. Die germanischen Söldnerhaufen,
welche es aus den Angeln warfen, hatten vergeblich ein Drittel der
italischen Ländereien begehrt und erhoben ihren Führer Odovaker zum
König, damit er die verlangte Teilung des Grundbesitzes durchführe.
Wie die Scharen Odovakers haben auch die Ostgoten, die Bur-
gunder und die Westgoten, deren Reiche sich wie Vasallenstaaten der
römischen Universalmonarchie eingliederten, eine Landteilung vorge-
nommen. Die Art ihrer Landteilungen hatte das römische Ein-
quartierungssystem zum Vorbilde, so daſs sie der römischen Bevölke-
rung gegenüber nur in das Verhältnis dauernd ansässiger milites
einzurücken schienen.
In spätrömischer Zeit war die Einquartierung der Soldaten derart
geregelt, daſs der einquartierte Soldat von dem Hauseigentümer, dem
er als Einquartierung überwiesen worden war, ein Drittel seines
Hauses beanspruchen konnte. Von den Dritteln, in die das Haus
geteilt wurde, sollte das erste der Quartiergeber sich auswählen. Die
zwei übrigen standen zur Wahl des Soldaten. Das Drittel, welches
dieser ablehnte, verblieb dem Wirte 1. Das Verhältnis zwischen dem
Wirte und dem einquartierten Soldaten hieſs hospitalitas, der letztere
hospes, der erstere possessor, dominus, mitunter gleichfalls hospes 2.
Verpflegung konnte der hospes von dem possessor nicht beanspruchen.
Er muſste sich in dieser Beziehung mit der annona begnügen, welche
ihm von der Militärverwaltung aus den fiskalischen Magazinen in
Naturalien, manchmal zum Teil in Geld geliefert wurde.
Gleich den römischen Truppen haben die Germanen bei den
römischen possessores Unterkunft genommen. Sie konnten sich aber
nicht auf die bloſse Einquartierung beschränken, denn die ärarischen
Naturallieferungen, die der römische Soldat erhalten hatte, fielen
nunmehr hinweg. Der römische possessor muſste daher einen Teil
seines ganzen Besitztums an seinen hospes abtreten: dafür waren jetzt
die Provinzialen der Pflicht enthoben, die zur Verpflegung der Sol-
daten erforderlichen Naturalien an die fiskalischen Magazine zu leisten.
So stellt sich, vom Standpunkte des römischen Provinzialen betrachtet,
die Landteilung als eine durch Landabtretung vollzogene Abschichtung
eines mit Weib und Kind auf die Dauer in Quartier gelegten Germanen
dar. Die abgetretenen Quoten heiſsen sortes, die Besitzer des geteil-
ten Grundstücks consortes. Wie es scheint, wurde die erforderliche
Zahl teilungspflichtiger possessores unter die germanischen Ankömm-
linge verlost 3. Die Ausdrücke hospitalitas und hospes wurden für
das durch die Landteilung entstandene Verhältnis in analoger Weise
angewendet wie bei dem römischen Einquartierungssystem.
Bei den Burgundern hat eine mehrmalige, vermutlich eine drei-
malige Landteilung stattgefunden. Anfänglich können sie, die nicht
als ein sieghaftes, sondern als ein besiegtes Volk in der Sapaudia
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 5
[66]§ 11. Die Landnahme in den Provinzen
angesiedelt wurden, gewiſs nicht mehr als das dem römischen Ein-
quartierungssystem entsprechende Landdrittel beansprucht haben 4.
Als die Stellung der Burgunder zum Reiche eine selbständigere ge-
worden, das Volk sich vermehrt, durch neuen Zuzug verstärkt und
seine Gebiete ausgedehnt hatte, wurde das Quotenverhältnis ein an-
deres. Nach den ältesten Stellen, welche die burgundische Gesetz-
sammlung über die Landteilung enthält, umfaſste die burgundische
sors die Hälfte von dem ganzen unbeweglichen Vermögen des
Possessors 5. Gegen Ende des fünften Jahrhunderts wurde das Ver-
hältnis derart geregelt 6, daſs der burgundische hospes vom Ackerlande
zwei Drittel, von den Sklaven ein Drittel, von Hof, Garten, Wald
und Weide die Hälfte beanspruchen konnte. Diejenigen Burgunder,
welche durch königliche Schenkung Land und Sklaven erworben
hatten, sollten an dieser Ausdehnung der burgundischen Quote nicht
partizipieren, sondern auf die Hälfte des Ackerlandes beschränkt
bleiben und von dem possessor keine Sklaven verlangen dürfen. Mit
der Hälfte des Landes muſsten sich nach einem vermutlich unter dem
letzten burgundischen König entstandenen Gesetze auch neue An-
kömmlinge begnügen 7, wahrscheinlich Burgunder, welche aus Gebieten,
die das Reich eingebüſst hatte, zurückgewandert waren, um neue
Wohnsitze zu erhalten 8.
Als die Ostgoten Italien erobert hatten, nahmen sie im An-
schluſs an die von Odovaker durchgeführte Landteilung ein Drittel der
Ländereien an sich 9. Das Fiskalgut ging damals von Odovaker auf
[67]des römischen Westreichs.
das ostgotische Königtum über. Die den Goten eingeräumten Land-
lose waren der Grundsteuerpflicht unterworfen und hieſsen tertiae 10.
Die Landanweisung wird tertiarum deputatio genannt 11.
Über die ältesten Landteilungen der Westgoten sind wir nicht
unterrichtet. Es wird uns erzählt, daſs ihnen schon 419 in der
Aquitania secunda von den Römern Land überwiesen worden sei 12.
Der Teilungsfuſs könnte bei dem von Anfang an selbständigeren Auf-
treten der Westgoten von vorneherein ein für sie günstigerer gewesen
sein, als bei den Ostgoten. Nach der ältesten westgotischen Rechts-
quelle hat der Gote zwei Drittel des Ackerlandes, und heiſst der
römische Anteil tertia 13. Nicht aufgeteiltes Waldland und nicht um-
hegtes Weideland gehörte dem gotischen und dem römischen hospes
zu gemeinschaftlichem Gebrauche 14. Wenn der eine der beiden
consortes ein Stück des gemeinsamen Waldlandes ausrodete, sollte
der andere durch eine gleich groſse Waldfläche entschädigt oder das
Rottland geteilt werden 15. Die westgotischen sortes waren steuer-
frei 16.
Durch die Art der Landteilung wurden die germanischen An-
kömmlinge räumlich unter die römischen Provinzialen verteilt. „Wie
die Felder des Schachbrettes durchsetzen sich die Wohnsitze der alten
und neuen Bewohner 17.“ Nirgends saſs die germanische Bevölkerung
in geschlossener Masse beisammen. Das Nachbarverhältnis muſste
zahlreiche persönliche Beziehungen erzeugen, um so mehr als die
Landteilung zunächst nur ein Miteigenthum der Konsorten herbei-
führte, das erst später einer Realteilung Platz machte, während Wald
und Weideland noch längere Zeit gemeinschaftlich blieben. Die all-
mähliche Romanisierung der neuen Ansiedler, die Ausgleichung ger-
manischer und römischer Lebensführung konnten bei dieser Sachlage
5*
[68]§ 11. Die Landnahme in den Provinzen
nicht lange auf sich warten lassen 18. Die Vermischung der beiden
Bevölkerungsmassen fand zunächst ein Hindernis an dem Arianismus
der Germanen. Im westgotischen Reiche waren zudem die Ehen
zwischen Westgoten und Römern bis zur Zeit des Königs Reckessuinth
gesetzlich verboten. Allein als diese Schranken hinweggefallen waren,
stand einer raschen und innigen Verschmelzung der Burgunder und
Westgoten mit den römischen Provinzialen nichts mehr im Wege.
Bei den Vandalen erfolgte die Landnahme nicht im Anschluſs
an das römische Einquartierungssystem, sondern nach den Grundsätzen
des Eroberungsrechtes. In der ersten Zeit ihres Aufenthalts waren
sie vermutlich bei den römischen Grundbesitzern einquartiert. Als
es nach der Einnahme Karthagos (439) oder nach dem Frieden von
442 zu einer festen Ansiedelung des Volkes kam, wurde nicht ein
Verhältnis der hospitalitas begründet, sondern die in der Nähe
Karthagos gelegene sogenannte prokonsularische Provinz, die provincia
Zeugitana zur geschlossenen Niederlassung des Volkes ausersehen.
Zunächst machten die Vandalen hier tabula rasa, indem sie die
römischen Grundbesitzer töteten, vertrieben oder in Hörigkeit ver-
setzten. Das zur Ausstattung der Vandalen erforderliche Land wurde
dann vermittelst des Seiles vermessen und unter die Vandalen ver-
teilt, deren Landlose (sortes Vandalorum) sonach einen zusammen-
hängenden Komplex bildeten. Groſse Güter nahm der König für sich
und sein Haus in der Zeugitana und in anderen Provinzen. Wo in
letzteren die Römer nicht expropriiert wurden, waren sie als Grund-
besitzer dem König tributär 19.
Die Langobarden20 traten nach ihrer Ankunft in Italien zu-
nächst in das Verhältnis der hospitalitas. Die römischen possessores
muſsten ihnen Quartier und vermutlich auch Verpflegung gewähren.
Über die Art der Landnahme scheinen dann Differenzen zwischen dem
Volke und dem Königtum ausgebrochen zu sein. Der Langobarden-
[69]des römischen Westreichs.
könig Kleph fiel 574 durch Meuchelmord 21. Die Langobarden lebten
dann zehn Jahre lang ohne König unter fünfunddreiſsig Herzögen.
Diese Zeit benutzen sie, um über die Römer herzufallen. Viele von
den vornehmen Römern wurden getötet, ihre Besitztümer eingezogen.
Im übrigen machten die langobardischen hospites ihre Wirte zins-
pflichtig. Dieselben muſsten nach Kolonenart den dritten Teil der
Früchte an ihre Herren abliefern 22. Der hospes war sonach zum
dominus, der possessor zum Kolonen geworden. Dabei ist selbst-
verständlich die Zinspflicht nicht auf die gesamte römische Bevölke-
rung ausgedehnt, etwa durch Rechtssatz jeder Römer für zinspflichtig
erklärt worden. Vielmehr erstreckte sich die Maſsregel nur auf den
ländlichen Grundbesitz und auch auf diesen nur, soweit innerhalb der
besetzten Gebiete ein Bedürfnis dazu vorhanden war. Nicht jeder
Römer erhielt einen langobardischen Herrn; aber jeder freie Lango-
barde bemächtigte sich eines römischen Grundbesitzers, der ihm die
tertia zu zahlen hatte. Die Behandlung des römischen Grundbesitzes
schlieſst also das Vorhandensein einer freien römischen Bevölkerung
nicht aus 23. Als die Expropriierung der römischen Possessoren eine
vollendete Thatsache war, schritten die Langobarden zur Wieder-
herstellung des Königtums, indem sie Authari zum König erhoben.
Dabei wurde einerseits das Königtum mit Grundbesitz ausgestattet,
indem die Herzöge die Hälfte ihrer Besitztümer dem königlichen
Fiskus überwiesen, andrerseits aber die Aufteilung der römischen
Landbevölkerung geregelt 24. Die Vorgänge der königlosen Zeit fan-
den nämlich insofern die königliche Sanktion, als nicht eine Teilung
des Landes, sondern eine Verteilung der Grundbesitzer ausgesprochen
wurde. Doch beseitigte eine einheitliche und gleichartige Durch-
führung der Maſsregel die Härten und Ungleichheiten, welche die
gewiſs höchst tumultuarischen Okkupationen der vorausgegangenen
[70]§ 12. Das Haus.
Jahre herbeigeführt hatten. Obwohl sie in letzter Linie die Kosten
der Wiederherstellung des Königtums trug, fuhr doch auch die auf-
geteilte römische Bevölkerung nicht schlecht, da an die Stelle der
früheren Gewaltsamkeiten, Willkürlichkeiten und Bedrückungen ein Zu-
stand allgemeiner Rechtssicherheit trat 25 und die Römer von nun ab
gegen weitere Eingriffe in ihr Besitztum geschützt waren.
Die Art der germanischen Ansiedelung verstärkte allenthalben das
politische und soziale Gewicht der ländlichen Bevölkerung gegen die
Übermacht, welche die Städte durch den exklusiv städtischen Zuschnitt
der römischen Verwaltung erlangt hatten. Daſs die neuen Herren
sich als Grundbesitzer auſserhalb der Städte niederlieſsen, hob die
Bedeutung der ländlichen Bevölkerungsschichten, stellte das Gleich-
gewicht zwischen Stadt und Land wiederum her und regenerierte die
landwirtschaftlichen Zustände der besetzten Gebiete.
Gierke, Rechtsgesch. der deutschen Genossenschaft I 89 f. Kraut, Die Vor-
mundschaft nach den Grundsätzen d. deutschen Rechts I, 1835. Heusler, Instit.
d. deutschen Privatrechts I 95 ff., II 277. 431. 521. Waitz, Über die Bedeutung
des Mundium im deutschen Rechte, Berl. Sitzungsberichte 1886 S 375. Dargun,
Mutterrecht u. Raubehe und ihre Reste im germ. Recht u. Leben, 1883 in Gierkes
Untersuchungen XVI. Sohm, Das Recht der Eheschlieſsung, 1875. Viollet,
Précis de l’histoire du droit français, 1884. 1886, S 418. Kohler, Indisches Ehe-
und Familienrecht, Z f. vgl. RW III 342; ders., Studien über Frauengemeinschaft,
Frauenraub u. Frauenkauf, a. O. V 334; ders., Über die künstl. Verwandtschaft,
a. O. V 427. Weinhold, Deutsche Frauen im Mittelalter, 2 Bde 2. Aufl. 1882.
W. Wackernagel, Familienrecht u. Familienleben der Germanen, in Kl. Schriften
I 1, 1872. Konr. Maurer, Über die Wasserweihe des germ. Heidentums, Abhandl.
der bayr. Akad. XV 3. Abteil. Stobbe, Beiträge zur Geschichte des DR, 1865,
1. die Aufhebung der väterl. Gewalt. Scherer im Anzeiger f. deutsches Altertum
IV 86 ff. Sohm, Reichs- und Gerichtsverfassung, 1871, Beil. 1: die Wehrhaft-
machung. v. Amira, Erbenfolge u. Verwandtschaftsgliederung nach den altnieder-
deutschen Rechten, 1874, S 211 f. 218 f. Fustel de Coulanges, Recherches
S 219 ff.
Innerhalb der Sippe bildet die häusliche Gemeinschaft, hîwiski 1,
hisch, familia, domus 2, einen engeren Rechts- und Friedensbereich,
der nicht wie die Sippe auf genossenschaftlicher, sondern auf herr-
schaftlicher Grundlage beruht. Die Hausangehörigen, Weib, Kinder
[71]§ 12. Das Haus.
und Gesinde 3, stehen in der Gewalt des Hausherrn. Die Stellung des
Hausherrn äuſsert sich nach innen als Herrschaft, nach auſsen als
Haftung. Wegen Rechtsverletzungen, die an Hausangehörigen be-
gangen werden, klagt der Herr in eigenem Namen, während er
andererseits für jegliches Verschulden einzustehen hat, das ihnen von
Dritten zur Last gelegt wird, so daſs sie nach auſsen hin gewisser-
maſsen nur als pars domus erscheinen, durch die Person des Haus-
herrn vollständig gedeckt werden.
Im Verhältnis zu unfreien Personen ist die Gewalt des Hausherrn
Konsequenz des Eigentums, also von rein sachenrechtlicher Natur.
Einen andern Charakter hatte sie in Bezug auf freie Personen der
Hausgenossenschaft, insbesondere in Bezug auf Weib und Kinder,
ledige und verwitwete Schwestern, welche als Angehörige der Sippe
von je zur Not auch gegen den Hausherrn durch die Sippe geschützt
werden konnten. Die Gewalt des Hausherrn über dieselben wird im
Verhältnis nach auſsen später durch den Ausdruck Munt bezeichnet. Das
althochdeutsche Wort: die „Munt“ (niederdeutsch und nordisch mund,
latinisiert mundium), welches die neuhochdeutsche Sprache nur in Ab-
leitungen und Verbindungen wie Mündel, Gemunde 4, Vormund, mund-
todt 5 bewahrte, hat die Grundbedeutung Hand, manus 6. Bildlich
gebraucht mag es einst die hausherrliche Gewalt schlechtweg be-
[72]§ 12. Das Haus.
zeichnet haben, ein Analogon der hausherrlichen manus des römischen
Rechtes. Doch schon in den ältesten Fundstellen tritt die Bedeutung
von Schutz, Schirm, Friede hervor, während es andrerseits auf Schutz-
verhältnisse angewendet wird, welchen das Merkmal der Hausgenossen-
schaft fremd ist. Munt (mascul.) bezeichnet auch den Inhaber der
Munt 7, den Vormund und Schutzherrn; doch wird er regelmäſsig
muntporo, mundboro (Träger der Munt), mundoaldus (Mundwalt) oder
foramundo genannt. Die rechtliche Bedeutung der verschiedenen Munt-
verhältnisse soll weiter unten zur Sprache kommen. Hier beschäftigt
uns das Hauswesen nur als einer der sozialen Faktoren der Rechts-
bildung.
Die Ehe, das die Hausgemeinschaft begründende Verhältnis, war
bei den Germanen eine monogamische. Doch schloſs das Recht die
Vielweiberei nicht aus, welche nach Tacitus nur ausnahmsweise und
zwar bei den Vornehmsten vorkam 8.
Die ältesten Formen der germanischen Eheschlieſsung sind der
Frauenraub und der Frauenkauf 9. Allerdings gilt in der Zeit, da die
ersten Rechtsquellen flieſsen, nur noch die Kaufehe für erlaubt, wo-
gegen der Frauenraub strenge bestraft wird. Allein verschiedene An-
haltspunkte weisen darauf zurück, daſs auch die Germanen wie ihre
arischen Vettern, die Inder, Griechen, Römer und Slawen, einstens
die Raubehe gekannt haben 10. An der Schwelle der deutschen Ge-
schichte steht das berühmte Beispiel des Cheruskerfürsten Armin, der
die einem Anderen versprochene Tochter des Segestes durch Raub zur
Ehe gewann 11. Germanische Sagen und Dichtungen preisen den Helden,
der sich durch kühne Waffenthat aus dem Hause des Feindes das
Eheweib holt 12. Die ehebegründende Kraft des Frauenraubes verraten
noch die Bestimmungen einzelner deutscher Volksrechte, nach welchen
[73]§ 12. Das Haus.
der raptor die Geraubte als Ehefrau wider den Willen der Verwandten,
welchen er sie raubte, oder wenigstens dann behält, wenn sie in die
Entführung eingewilligt hat 13. Die schwedischen Rechte kennen einen
gesetzmäſsigen Frauenraub. Wenn nämlich der Verlober sich weigert,
die Braut dem Bräutigam zu übergeben, so ist dieser nach Erfüllung
gewisser Förmlichkeiten berechtigt, die Schar seiner Freunde zu
sammeln und sich die Braut gewaltsam zu nehmen 14. Nachdem die
Ehe durch Frauenraub aus dem Rechtsleben verschwunden war, ging
das Rauben der Braut in die Trauungsförmlichkeiten über, um
schlieſslich zu einem rechtlich unwesentlichen Hochzeitsbrauche abzu-
blassen 15. West- und ostgermanische Sprachen haben für Trauung
oder Hochzeit den uralten Ausdruck Brautlauf oder Brautlauft gemein-
sam 16. Das Wort ist von laufen, currere, abzuleiten und enthält wohl
eine Erinnerung an die einstige Eheschlieſsung durch Frauenraub 17.
Die vertragsmäſsige Eheschlieſsung erfolgte einer ursprünglich
altgermanischen Sitte gemäſs durch Frauenkauf. Der Kaufvertrag
wurde zwischen dem Bräutigam und seinen Magen einerseits, dem
Vater oder Vormund der Braut und ihren Magen andrerseits abge-
schlossen. Die Braut selbst war nicht Kontrahentin, sondern Objekt
des Kaufvertrags. Verheiraten heiſst noch in den Volksrechten der
folgenden Periode uxorem emere, feminam vendere18, der für die
Braut gezahlte Preis wird pretium emtionis19, pretium nuptiale20
oder pretium21, die Braut puella emta22, die Verlobung mercatio ge-
nannt23. Wenn man ein Mädchen kauft, so sagt ein kentisches Ge-
setz24, so sei es mit dem Kauf gekauft, falls kein Trug dabei ist.
Ist aber Trug dabei, so bringe er sie nach Hause zurück und man
gebe ihm sein Geld wieder. Noch roher klingt eine andere Stelle
der Gesetze König Aethelbirhts: wenn ein Freier bei eines Freien Frau
liegt, so kaufe er sie mit ihrem Wergeld und erwerbe mit seinem
Gelde eine andere Frau, die er jenem heimbringe25. Der Frauenkauf
ist noch den jüngeren ostfriesischen Quellen bekannt und wurde noch
im 15. Jahrhundert bei den Dietmarschen geübt26. Und wie im
Mittelalter die Redensart eine Frau kaufen vielfach verbreitet war,
so bezeichnet in Holland der Volksmund noch jetzt die Braut als
„verkocht“ (verkauft)27.
Wie jeder Kauf war auch der Frauenkauf ursprünglich ein Zug
um Zug erfülltes Baargeschäft, indem von der einen Seite die Zahlung
des Kaufpreises, von der anderen die Hingabe der Braut erfolgte.
Aber schon früh hat mit der Verfeinerung der Sitte die Eheschlieſsung
diesen Charakter eingebüſst und fielen der Veräuſserungsvertrag über
die Braut und die Übergabe derselben zeitlich auseinander28, so daſs
der ursprünglich einheitliche Akt der Eheschlieſsung sich in die Akte
der Verlobung und der Trauung spaltete. Die Verlobung (der Ver-
äuſserungsvertrag) ist bindend, wenn der Kaufpreis bezahlt oder durch
rechtsförmlichen Wettvertrag versprochen worden ist. Für den Kauf-
[75]§ 12. Das Haus.
preis existieren in der folgenden Periode bei den verschiedenen Stäm-
men rechtlich fixierte Taxen, von welchen man vermutet, daſs sie ur-
sprünglich dem Wergelde der Braut gleichwertig waren. Die Trauung
fand als ein öffentlicher Akt in Gegenwart der beiderseitigen Ver-
wandten statt, indem die Braut von ihrem Mundwalt dem Bräutigam
übergeben wurde. Sie erscheint daher rechtlich als die traditio
puellae und heiſst wohl auch Gift29 oder Brautgabe30. Die Übergabe
der Braut schlieſst die Übergabe ihres etwaigen Vermögens in sich.
Die Gewalt des Mannes über die Frau entspricht im allgemeinen
der Gewalt des Vaters über die in der Were sitzenden Kinder, ein
Verhältnis, welches das ältere schwedische Recht dadurch andeutet,
daſs der Bräutigam bei der Verlobung einen der Adoption eigentüm-
lichen Formalakt vornimmt, indem er die Jungfrau auf sein Knie
setzt31. Der Mann hat das Recht die Frau zu töten, doch war diese
Befugnis nicht bloſs durch die Sitte, sondern auch durch rechtliche
Voraussetzungen beschränkt und gewiſs hat schon in ältester Zeit der
Grundsatz gegolten, den uns eine langobardische Rechtsquelle über-
liefert: non licet uxorem interficere ad suum libitum sed rationa-
biliter32. Als solche rechtmäſsige Gründe der Tötung werden uns
später genannt der Fall, wenn die Frau dem Manne nach dem Leben
strebt und wenn sie auf Ehebruch ertappt wird33. Er ist befugt sie
zu züchtigen und wenn sie sich entehrte schimpflich aus dem Hause
zu jagen34, ja er hat sogar das Recht sie zur Strafe35 und im Falle
echter Not zu verkaufen36.
Die Kinder stehen in der Gewalt des Vaters, so lange sie im
[76]§ 12. Das Haus.
väterlichen Hause leben37. Des Vaters Wille entscheidet, ob das neu-
geborene Kind in die Familie aufgenommen oder ausgesetzt werden
solle. Die Aussetzung war gestattet bis zur Zeit da dem Kinde ein
Name gegeben worden38. Die Namengebung pflegte binnen neun
Nächten nach der Geburt zu erfolgen39 und war schon in heidnischer
Zeit mit Wassertauche oder Wasserbegieſsung verbunden40. Mit diesem
Akte trat das Kind in seine volle Rechtsfähigkeit und in sein volles
Wergeld ein, während es bis dahin nur durch ein halbes Wergeld
geschützt war41.
Bezüglich der Kinder hat der Vater gleichfalls das Recht, sie
wegen echter Not in die Unfreiheit zu verkaufen42. Ebenso darf er
sie zur Strafe töten oder verkaufen43. Der Vater haftet für das
Hauskind, vertritt es vor Gericht44, schwört Eide für den in der
Were befindlichen Sohn45. Aus der väterlichen Gewalt scheiden die
Töchter durch die Ehe aus, um in die Munt des Ehemannes einzu-
treten, die Söhne durch Gründung eines selbständigen Haushalts, ferner
durch Eintritt in eine Gefolgschaft und durch Annahme an Kindes-
statt. Der Sohn, der die wirtschaftliche Selbständigkeit erlangte,
was regelmäſsig bei der Verheiratung, mitunter aber nicht immer bei
der Wehrhaftmachung geschah, scheidet wie aus dem Hause so auch
aus der Munt des Vaters aus, er wird homo suae potestatis, selb-
[77]§ 12. Das Haus.
mündig46. Die Begründung eigener Wirtschaft wirkt also als Eman-
zipation. Der Vater haftet nicht mehr für die Handlungen des aus-
geschiedenen Sohnes, ausgenommen die Fälle allgemeiner Magschafts-
haftung47. Die Annahme an Kindesstatt48 schloſs die Aufnahme in
ein fremdes Hauswesen in sich und erfolgte dadurch, daſs das Wahl-
kind dem Wahlvater tradiert wurde, worauf dieser eine Handlung
vornahm, welche die Anerkennung des Vaterverhältnisses zum Aus-
druck brachte49. Als solche Handlungen finden sich die Wehrhaft-
machung, das Scheren der Haare50, die Kniesetzung51.
Die Wehrhaftmachung geschah in der Landesgemeinde, sobald der
Sohn die physische Reife erlangt hatte52. Mit dem Mündigkeits-
termine hängt sie auch später nicht zusammen. Nach Tacitus wird
sie durch den princeps oder durch den Vater oder durch die Ver-
wandten vorgenommen. Erfolgt sie von Seite eines princeps, so ver-
mittelt sie den Eintritt in sein Gefolge. Überreicht der Vater die
Waffen, so hebt er damit seine väterliche Gewalt nicht auf. Als
vaterlos ist vermutlich der Jüngling zu denken, der die Waffen von
Verwandten empfängt. In diesem Falle ist es die als Gesamtvormund
[78]§ 12. Das Haus.
fungierende Sippe, die durch ihre Vertreter den Jüngling wehrhaft
macht. Von einem Dritten vorgenommen kann die Wehrhaftmachung
Adoptionsakt sein. Die Wirkung der Wehrhaftmachung ist in allen
Fällen die Aufnahme in das Heer, womit das Recht verbunden war,
in den Volks- und Gerichtsversammlungen zu erscheinen. Emanzi-
pationshandlung ist die Wehrhaftmachung an sich nicht53.
Als Vorbereitung, vielleicht auch als Ersatz der Wehrhaftmachung
scheint die Förmlichkeit der capillaturiae, das Abschneiden des Haupt-
haars54 gedient zu haben. Buſsfällig macht sich nach dem ältesten
Rechte der salischen Franken, wer an einem Knaben ohne Einwilligung
der Verwandten die Haarschur vornimmt55. Geschenke, die der Sohn
aus Anlaſs der capillaturiae vom Vater erhielt, braucht er sich nach
salischem Rechte bei der Erbteilung nicht anrechnen zu lassen. Sie
haben nicht den Charakter der Abschichtung, wie sie später bei der
Entlassung aus der väterlichen Were und Munt vorzukommen pflegte56.
Nach dem Tode des Vaters stehen seine erwachsenen Söhne
sich gleichberechtigt gegenüber und zwar auch dann, wenn sie
etwa, was noch in der folgenden Periode häufig vorkam, in unge-
teilter Erbschaft und in häuslicher Gemeinschaft sitzen blieben57.
[79]§ 12. Das Haus.
Entsprechend der genossenschaftlichen Struktur der Sippe hat nicht
etwa der Älteste eine patriarchalische Obergewalt über die Brüder.
Solange die Feldgemeinschaft mit wechselnder Hufenordnung be-
stand und des baufähigen Landes im Überfluſs vorhanden war, wurde
vermutlich jedem von den erwachsenen Söhnen eines verstorbenen
Dorfgenossen im Bedürfnisfalle eine Hufe zugewiesen, wenn er sich
als Hofbesitzer niederlassen wollte. Als die Dorfmarken nicht mehr
ausreichten und die Hufenzahl geschlossen werden muſste, folgten die
Söhne dem Vater insgesamt in dessen hinterlassenen Grundbesitz.
Andere Verwandte werden nach salischem Recht noch bis in die
zweite Hälfte des sechsten Jahrhunderts durch das Heimfallsrecht
der Gemeinde ausgeschlossen58.
Über das älteste Erbrecht der Germanen besteht eine Reihe fun-
damentaler Streitfragen, die sich hauptsächlich darauf beziehen, wie
der Inhalt jüngerer Quellen mit den von Tacitus überlieferten Nach-
richten zu vereinigen sei. Es ist streitig, wie weit neben der durch
die Mutter vermittelten Verwandtschaft die väterlichen, die agnatischen
Verwandten ein Erbrecht an der Fahrhabe besaſsen. Es ist streitig,
wie sich der Erbenkreis der Hausgenossen zu dem der bloſsen Sippe-
genossen verhielt. Es ist streitig, wie in Fragen des Erbrechts die
Nähe der Verwandtschaft berechnet wurde und zur Geltung kam.
Aus methodischen Gründen dürfte es sich empfehlen, von der Er-
ledigung dieser Streitfragen zunächst abzusehen und hier nur zu kon-
statieren, was uns über das Erbrecht der Germanen von Tacitus be-
richtet wird. Im Gegensatz zur römischen Sitte hebt er hervor, daſs
Testamente den Germanen fremd waren. Jüngere Nachrichten be-
stätigen für das ältere Recht die allgemeine Unzulässigkeit letztwilliger
Verfügungen. Das Erbrecht war den Germanen ein Recht der Bluts-
verwandtschaft. Die Erben waren geborene, nicht gekorene, soweit
nicht die Adoption den Mangel an Leibeserben ersetzen konnte. Als
nächste Erben nennt Tacitus die Kinder des Verstorbenen, dann die
57
[80]§ 12. Das Haus.
Brüder, die Vaterbrüder und die Mutterbrüder59. Daſs Eltern,
Schwestern und Schwestersöhne nicht genannt werden, ist bemerkens-
wert. So selbstverständlich uns die Thatsache erscheint, daſs der
Vater von seinen Kindern beerbt wird, so fällt sie doch bedeutungs-
voll ins Gewicht gegen die Herrschaft des sogen. Mutterrechtes,
welches die vergleichende Rechtsgeschichte als älteste familienrecht-
liche Phase in der Entwicklung roher Naturvölker nachgewiesen hat60.
Das Mutterrecht kennt keine wahre Ehe, vielmehr bleibt die Frau
vollständig an ihre ursprüngliche Familie gebunden. Die Kinder folgen
nicht dem Vater, sondern der Familie der Mutter. Das Mutterrecht läſst
nur die durch das mütterliche Blut vermittelte Verwandtschaft gelten.
Wie die Vaterschaft wird die durch den Vater vermittelte Verwandt-
schaft im Erbrechte ignoriert, so daſs die Kinder von dem Erbe des
Vaters beispielsweise durch die Schwestersöhne ausgeschlossen werden.
Die Germanen hatten zur Zeit, da die Römer sie kennen lernten,
jenes rohe Vorstadium der Kultur in ihrem Familien- und Erbrechte
bereits überwunden. Der deutlichste Beweis für die Gliederung des
Volkes nach agnatischen Verbänden ist jene uralte Stammsage, welche
die drei Söhne des Mannus zu Stammvätern der Ingväonen, Istväonen
und Herminonen macht. Wie die Ehe auf der eheherrlichen, die
Kindschaft auf der väterlichen Gewalt basiert, so ist auch das Erb-
recht in erster Linie ein Recht der in der Ehe gezeugten Kinder.
Während man noch aus einem Titel der Lex Salica wenigstens in
Bezug auf entferntere Verwandte Spuren des Mutterrechtes glaubt
herauslesen zu können61, schlieſst Tacitus durch die Erwähnung des
patruus das Mutterrecht schlechtweg aus.
Eine merkwürdige Sitte erwähnt Tacitus von der Völkerschaft
der Tenkterer, welche durch ihre ausgezeichnete Reiterei berühmt war.
Die Pferde empfange nicht wie das übrige der älteste, sondern der
kriegstüchtigste Sohn62. Lieſse sich eine Sondernachfolge in die Streit-
rosse allenfalls als eine älteste Spur des später sogenannten Heer-
geräte deuten, so würde doch andrerseits ein Vorrecht des Erstgebornen
[81]§ 13. Die Sippe.
bezüglich des übrigen Vermögens in der Entwicklungsgeschichte des
germanischen Erbrechtes völlig vereinzelt dastehen. Eine rechts-
geschichtliche Erklärung jener Stelle wird daher davon ausgehen
müssen, daſs es sich in ihr nicht um einen Grundsatz des Erbrechtes
handelt, sondern um eine Abtretung des Vermögens, welche der Vater
bereits bei Lebzeiten vornahm, oder um eine Aufteilung, durch welche
die Verwandten sich über den Nachlaſs auseinandersetzten63.
Konrad Maurer, Über angelsächsische Rechtsverhältnisse, KrÜ I 52 ff.: Das
Geschlecht; III 26 ff.: Das Fehde- und Wergeldwesen. Reinhold Schmid im
Hermes Bd 32 1829 S 247 ff. und Gesetze der Angelsachsen S 627 ff. Konrad
Maurer, Island von seiner ersten Entdeckung bis zum Untergang des Freistaats,
1874, S 322. Vilh. Finsen, Fremstilling af den islandske Familieret efter Grágás,
Annaler for Nordisk Oldkyndighed og Historie 1849. 1850. Brunner, Sippe und
Wergeld, in der Z2 f. RG III 1 ff. Lamprecht, Wirtschaftsleben I 19 ff. F. Schu-
pfer, La famiglia presso i Langobardi, Archivio giuridico 1868. v. Sybel, Ent-
stehung des deutschen Königtums, 2. Aufl., S 35 ff. Waitz, VG I 67 ff. Gierke,
Genossenschaftsrecht I 15. Henry Sumner Maine, Dissertations on early law
and custom, 1883.
Die gesellschaftliche und die rechtliche Stellung des einzelnen
Volksgenossen hatte in germanischer Zeit ihre Wurzeln in dem Ge-
schlechte, dem er durch seine Geburt angehörte. Der Geschlechts-
verband griff so tief in das Volks- und Rechtsleben ein, daſs der
verwandtenlose Mann sich wenig vom rechtlosen unterschieden haben
mag.
Das Geschlecht heiſst Sippe1 (got. sibja, ahd. sibba, sippja,
ags. sib, syb), ein Wort, dessen Nebenbedeutung Friede und
Freundschaft ist2. Innerhalb des Geschlechtes herrscht ein besonderer
Friede, der unter den Sippegenossen jede Fehde ausschlieſst. Die
Zugehörigkeit zur Sippe beruht auf der Blutsverwandtschaft, deren
Wirkungen in der ältesten Zeit nur eine thatsächliche Beschränkung
erleiden, sofern ihr Nachweis nicht mehr möglich ist. Rechtliche
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 6
[82]§ 13. Die Sippe.
Beschränkungen, welche in fränkischer Zeit auftauchen und die Bluts-
gemeinschaft nur innerhalb einer bestimmten Zahl von Verwandtschafts-
gliedern als wirksam betrachten, müssen der Urzeit fremd gewesen
sein. Denn trotz jener Beschränkungen hat die Volksanschauung noch
lange daran festgehalten, daſs die Gemeinsamkeit des Blutes sich
geltend mache und wenn sie auch noch so gering sei. Ein Rechts-
sprichwort sagt: Freundesblut wallt und wenn es auch nur ein
Tropfen ist. Und auf uralten Aberglauben scheint eine Verwandt-
schaftsprobe zurückzuführen, über welche eine holländische Rechts-
quelle des 15. Jahrhunderts berichtet. Wenn der Leichnam eines
Ermordeten oder eines Ertrunkenen nach langer Zeit aufgefunden
wird und jemand wissen will, ob er mit dem Toten verwandt sei, so
füge er sich eine Schnittwunde bei und lasse das Blut auf den
Leichnam niederträufeln. Ist es das Blut eines Verwandten, und sei
die Verwandtschaft noch so ferne, so hält es der Leichnam fest und
kann es trotz alles Waschens nicht wieder beseitigt werden3.
Mit der Anschauung des Naturvolkes, welches den auf sinnlicher
Wahrnehmung beruhenden Beweis der Verwandtschaft bevorzugt, haben
die Germanen die durch Weiber vermittelte Blutsgemeinschaft in
manchen Beziehungen höher geachtet wie die durch Männer ver-
mittelte. Das Verhältnis zwischen Neffe und Mutterbruder gilt für
eben so eng wie das zwischen Sohn und Vater. Bei der Stellung
von Geiseln wird die mütterliche Verwandtschaft als stärkere Sicher-
heit betrachtet4. Dagegen hat das sogenannte Mutterrecht bei den
Germanen, wie bereits oben S. 80 betont werden muſste, zur Zeit
ihres Eintrittes in die Geschichte nicht mehr bestanden.
Die Verwandten heiſsen Gesippen, Freunde, Holde5, Gätlinge6.
Die Westgermanen bezeichnen sie auch als Magen (ahd. mâg, ags.
mæ̂g), während gotisch mêgs, altnordisch mâgr auf die Schwägerschaft
bezogen wird7. Die Magen zerfallen in Vatermagen und Muttermagen,
Ausdrücke, die häufig in der Weise verwendet werden, daſs Vater-
magen die nur durch den Vater, Muttermagen die nur durch die
[83]§ 13. Die Sippe.
Mutter vermittelte Verwandtschaft bezeichnet, und daſs die Magschaft
im engeren Sinne erst bei den Groſseltern und deren Abstämmlingen
beginnt. Die männlichen Verwandten des Mannsstammes werden als
Schwert-, Ger- oder Speermagen oder schlechtweg als Schwert, Speer
(lancea), alle Verwandten weiblichen Geschlechts und die von solchen
abstammenden Männer als Spindel-, Spill-, Kunkelmagen oder schlecht-
weg als Spille, Spindel, Spinne, Spillsippe, fusus zusammengefaſst8.
Bei den Franken und Friesen findet sich nachmals eine Gliede-
rung der Verwandtschaft in vier Teile, indem sie nach den vier
Urgroſselternpaaren in vier Stämme zerfällt, die bei den Nieder-
franken Vierendeele, bei den Friesen Klüfte heiſsen9.
Innerhalb der Sippe bilden diejenigen, die derselben Haus-
genossenschaft angehören oder angehört haben, Eltern, Kinder und
Geschwister einen engeren Verband.
Mit Rücksicht auf die Nähe der Verwandtschaft schichtet sich die
Magschaft des einzelnen nach Generationen in Gruppen ab, die von
den neueren als Linien oder Parentelen bezeichnet werden10. Die
einzelne Parentel wird von denjenigen gebildet, die durch den
nächsten gemeinschaftlichen Aszendenten verbunden sind. Geht man
von dem einzelnen Mitglied der Sippe aus, so gliedert sich im Ver-
hältnis zu ihm die Seitenverwandtschaft in die Abstämmlinge der
Eltern, der Groſseltern, der Urgroſseltern u. s. w.
Um die Verwandtschaft zwischen zwei Personen zu bestimmen,
suchte man zunächst den gemeinschaftlichen Aszendenten und zählte
dann die Generationen ab, durch die sie von ihm abstanden. Indem
man sich die Verwandtschaft durch das Bild des menschlichen Körpers
mit seinen Gliedern und Gelenken versinnlichte, nannte man die ein-
zelne Generation Knie oder Glied, mlat. genu, geniculum. Das Knie
der Eltern ist das erste, das der Groſseltern das zweite und so fort.
6*
[84]§ 13. Die Sippe.
Da man die Knie oder Glieder nur auf einer Seite zählte, waren so-
nach Geschwister im ersten, Geschwisterkinder im zweiten Knie oder
Glied mit einander verwandt. Wenn man die Kniezählung erst bei
der Magschaft im engeren Sinne, bei der Gabelung der Vater- und
Muttermagen begann, so zählte als erstes Knie das der Groſseltern,
waren also z. B. Geschwisterkinder im ersten Gliede verwandt11.
Im Wirtschaftsleben, im Heerwesen und im Rechte der Germanen
hatte der Verband der Sippe eine weitreichende Bedeutung. Es hat
eine Zeit gegeben, da die Sippe eine agrarische Genossenschaft war,
indem die aufzuteilenden Stücke der Feldmark den einzelnen Sippen
zur gemeinsamen Bewirtschaftung überwiesen wurden. In der nach-
cäsarischen Zeit erscheint allerdings die räumlich geschlossene Dorf-
schaft und nicht die Sippe als Eigentümer der Dorfmark, allein von der
thatsächlichen Verknüpfung der Sippe mit den Grundbesitzverhältnissen
zeigen sich noch in der fränkischen Periode deutliche Spuren. Das
alamannische Volksrecht setzt den Fall, daſs zwei Sippen um die
Grenzen ihrer Feldmark streiten12. In einem althochdeutschen Ge-
dichte wird der Streit an der Mark als ein Streit mit den Magen
gedacht13. In Baiern finden wir Geschlechter als solche (genealogiae)
im Besitze von Ländereien, die sie veräuſsern14. Ausdrücke, welche
den Sippeverband bezeichnen (genealogia, fara, mægđ), werden in
territorialer Anwendung gebraucht, um ein bestimmtes Gebiet oder
einen Ort zu bezeichnen15. In Niederdeutschland haben sich
[85]§ 13. Die Sippe.
Geschlechtsdörfer hin und wider bis in das 16. Jahrhundert be-
hauptet16.
Die Gruppierung des Heeres nahm Rücksicht auf die Geschlechts-
verbände. Die Magen kämpften neben einander, da die Heeres-
abteilungen, wie uns Tacitus berichtet, aus den familiae et propinquitates
zusammengesetzt wurden17. Noch in jüngeren Quellen klingt manches
an die militärische Bedeutung der Magschaft an. Der Ausdruck fara
bedeutet nicht bloſs die Sippe, sondern auch eine Heeresabteilung18.
Der Sippschaften des Heeres gedenkt als der Heeresversammlung der
Pactus Alamannorum19. Bedeutsamer ist, daſs nach dem ältesten
angelsächsischen Heldengedichte die Magschaft für das Benehmen ihrer
Genossen während des Kampfes haftet und nicht bloſs der fliehende
Feigling, sondern sein ganzes Geschlecht bestraft wird20, eine Ahn-
dung, welche nur daraus erklärt werden kann, daſs es Zeiten und
Verhältnisse gab, in welchen die Magschaft im Heere unter gemein-
schaftlicher Führung gemeinschaftlich kämpfte.
Die Sippe hat auſserdem eine Reihe von öffentlich-rechtlichen Funk-
tionen, welche bei entwickelteren Verhältnissen als wesentliche Aufgaben
der Staatsgewalt erscheinen. Die Sippe ist es, welche ihren Genossen
den Frieden verbürgt, indem sie die an ihnen begangenen Rechts-
15
[86]§ 13. Die Sippe.
verletzungen rächt, das angegriffene Mitglied verteidigt. Noch lange
über die germanische Zeit hinaus ist die Sippe im Falle der Tötung
eines Geschlechtsgenossen berechtigt und verpflichtet, Vergeltung zu
suchen, indem sie entweder zur Fehde schreitet und Blutrache übt
oder den Abschluſs eines Sühnevertrags erzwingt21. Wählt sie den
Weg der Fehde, so ist derselben nicht bloſs der Totschläger, sondern
dessen ganze Sippe ausgesetzt und entspinnt sich ein Krieg zwischen
den Magen des Erschlagenen (der toten Hand) und der Sippe des
Totschlägers (der lebenden Hand). Der einzelne ist, so lange er
Mitglied der Sippe bleibt, nicht befugt, sich der Fehde einseitig zu
entziehen, etwa mit dem feindlichen Geschlechte seinen Sonderfrieden
zu schlieſsen. Verschmäht sie die Fehde, so kann die Sippe der toten
Hand den Abschluſs eines Sühnvertrags von der Zahlung des Wer-
geldes abhängig machen. Das Wergeld22, Manngeld, Mannbuſse, bei
Franken, Friesen und Thüringern auch leudis, bei den Angelsachsen leód,
leódgeld, were23 genannt, hat den Charakter des Sühngeldes. Es wird
nicht den nächsten Verwandten als den Erben der toten Hand, son-
dern der Sippe als solcher gezahlt24. Denn nicht der engere Kreis
der Erben, sondern der Verband der Sippe entscheidet, ob er Rache
üben oder sich die Rache abkaufen lassen wolle25. Darum haben
auch nur die Männer und zwar sowohl von der Schwertseite als von
der Spindelseite Anteil am Wergelde, während das ältere Recht die
Weiber davon ausschlieſst, weil sie nicht Fehde erheben können,
oder genauer gesagt, bei dem maſsgebenden Beschlusse der Sippe
keine Stimme haben26.
Die Art der Verteilung des Wergeldes war ursprünglich interne
Angelegenheit des Geschlechtes, so daſs sie sich im Einzelfalle ver-
schieden gestaltete. Doch muſs sich schon früh ein bestimmter her-
kömmlicher Verteilungsmaſsstab ausgebildet haben. Denn bei den
Salfranken, bei den Friesen, Sachsen, Angelsachsen und Nordgermanen
finden wir Jahrhunderte hindurch feste Grundsätze über die Verteilung
des Manngeldes, welche soweit übereinstimmen, daſs sie auf eine ur-
sprünglich gemeinsame Grundlage zurückweisen. Allenthalben zerfällt
hier das Wergeld in mindestens zwei Teile, deren einer als Magsühne,
Magbuſse, Maggeld oder Magzahl unter die „gemeinen Magen“ verteilt
wird, während der andere ausschlieſslich an gewisse nächste Verwandte
der toten Hand fällt. So stehen sich bei den Nordgermanen Vettern-
buſse (ättarbot oder nipgiald) und Erbenbuſse (arfvabot), bei den
Friesen westlich der Weser die Mentele oder Meitele (Gemeinzahl,
Magzahl) und das „rechte Geld“, bei den Nordfriesen und Dietmarschen
die Tale und die Mörderbuſse (boynebote, bane) gegenüber.
Wie einerseits die Sippe der toten Hand das Wergeld bezieht,
so haftet andrerseits die Sippe der lebenden Hand für die Aufbringung
des Wergeldes. Die Art der Aufbringung ist in ältester Zeit interne
Angelegenheit des Geschlechtes, welches als solches für die Zahlung
des Wergeldes haftet. In den Quellen der Folgezeit treten uns be-
stimmte Grundsätze über den Umfang entgegen, in welchem die ein-
zelnen Magen zur Zahlung des Wergeldes beitragen müssen. Sie
entsprechen im allgemeinen den Grundsätzen über die Verteilung des
Wergeldes. Die Magen der lebenden Hand zahlen nämlich ungefähr
die Quote, die sie von der Magsühne empfangen würden, wenn ihre
Sippe nicht Wergeld zu geben, sondern Wergeld zu nehmen hätte.
Den Betrag der Erbsühne hat der Totschläger selbst, etwa unter Bei-
hilfe seiner nächsten Verwandten, der Hausgenossen, aufzubringen.
Wergeld wird nicht bloſs durch Totschlag, sondern auch in
anderen Fällen verwirkt27. Selbst bei Buſsen im eigentlichen Sinne
scheint einst eine Haftung der Magen bestanden zu haben. Jüngere
Quellen kennen sie als allgemeine Regel28 oder bei Buſsen für
Körperverletzungen. Nicht unwahrscheinlich ist es, daſs in ältester
Zeit die Fälle der Magenhaftung sich mit den Unthaten deckten, bei
welchen die Fehde zulässig war.
Selbst im Rechtsgange steht die Sippe ihren Genossen helfend
zur Seite. In Begleitung der Magen erscheinen die Parteien vor
Gericht. Bei der Totschlagsklage erheben nach jüngeren nieder-
fränkischen Quellen vier Magen des Toten, die von den vier Vierteln
der Sippe gekoren sind, als Vertreter der Sippe den Waffenruf, das
rechtsförmliche Klagegeschrei, mit welchem das Verfahren um Totschlag
vor Gericht eingeleitet wird. Wenn an die Prozeſspartei die Notwendig-
keit herantritt, für ein von ihr abgelegtes Versprechen Bürgschaft zu
leisten, so sind es ihre Sippegenossen, die es verbürgen. Noch be-
zeichnender ist die Stellung der Sippe zum Eide. Hat eine Prozeſs-
partei einen Eid zu leisten, so stehen ihr von altersher die Männer
ihrer Sippe als Eideshelfer zur Seite, indem sie die Wahrheit des von
jener abgelegten Eides beschwören. Die enge Gemeinschaft der
Lebensbeziehungen lieſs bei den Sippegenossen die genaue Kenntnis
der Thatsachen und Verhältnisse voraussetzen, auf welche sich der
Eid der Eideshelfer stützen sollte. Künne (Geschlecht) und Kund-
schaft sind sprachlich nahe verwandt29. Der Fremde, der nicht zur
Künne gehörige Mann ist unkundig; Kunde nur bei der Sippe zu
finden30. Der mit der Eideshilfe der Geschlechtsgenossen geschworene
Eid ist ein solidarischer Eid. Die Strafe der Gottheiten, bei welchen
geschworen wird, soll durch den Meineid nicht bloſs auf das Haupt
der Prozeſspartei, sondern auch auf die Häupter der schwörenden
Sippegenossen herabgerufen werden31. So lange man felsenfest daran
[89]§ 13. Die Sippe.
glaubte, daſs die Verwünschungsformel des Eides dem Meineidigen
sofortiges Verderben bringe, muſste die Glaubwürdigkeit des Geschlechts-
eides, der die nächsten Angehörigen in den Fluch der Götter ver-
strickt32, in der Volksmeinung höher stehen wie die des Eides mit
ungesippten Helfern. Die Eideshilfe ist eine Rechtspflicht der Sippe-
genossen. Wie sie für die That des Genossen einstehen, indem sie
die Fehde tragen und für Wergeld und Buſsen haften, so setzen sie
sich auch der göttlichen Strafe aus, falls der Genosse einen Meineid
schwört33.
Der Schutz, den die Sippe gewährt, äuſsert sich in dem Mundium,
welches sie über schutzbedürftige Mitglieder ausübt34. Die Vormund-
schaft über Unmündige und Weiber stand im ältesten Rechte noch
nicht dem nächsten Magen der Schwertseite, sondern der Sippe als
solcher zu. Die älteste Vormundschaft ist die Gesamtmundschaft der
Sippe. Als Gesamtvormund bestellt sie, wenn es erforderlich scheint,
eines ihrer Mitglieder zur Verwaltung des Mündesgutes, welche unter
ihrer Aufsicht geführt wird. Veräuſserung von Mündelgut setzt einen
Beschluſs der Magschaft voraus. Am deutlichsten hat das angel-
sächsische Recht dieses ursprüngliche Verhältnis bewahrt35. Nach
einem westsächsischen Gesetze König Ines (688—727) soll das vater-
lose Kind von der Mutter ernährt werden. Die Magen sollen den
Hauptsitz halten, bis das Kind gejährt ist, und der Mutter bis dahin
zur Ernährung des Kindes Alimente verabreichen, sechs Schillinge,
eine Kuh im Sommer, einen Ochsen im Winter36. Die Vormund-
schaft der Sippe setzt ein kentisches Gesetz des siebenten Jahrhunderts
voraus, wenn es bestimmt, daſs das verwaiste Kind der Mutter folgen
und die Vatermagen einen Vormund stellen sollen37, der sein Gut
wahre, bis es zehn Winter alt ist38. Auch im nordischen, namentlich
im norwegischen und im dänischen Rechte tritt der Anteil der Sippe
31
[90]§ 13. Die Sippe.
an der Vormundschaft noch kräftig hervor39. Daſs der Einzelvormund
in Norwegen und Island Gutsverwaltungsmann, Verwalter, fjárhalls-
mađr, fjárhald, veizlumađr heiſst, deutet klar genug auf seine Unter-
ordnung unter das Mundium der Sippe hin. In den meisten Rechten
des fränkischen Reiches hat sich aus der Sitte, den nächsten Magen
des Mündels als Verwalter der Mundschaft zu bestellen, der Rechts-
satz entwickelt, daſs der nächste männliche Verwandte kraft Geburts-
rechtes zum Vormund, foramundo, muntporo, berufen sei. So ist an
die Stelle des von der Sippe gekorenen Mundschaftsverwalters der
geborene Vormund getreten, während die ehemalige Gesamtmundschaft
der Sippe zur Obervormundschaft einschrumpfte. Tritt damit die
Stellung der Sippe mehr und mehr zurück, so weisen doch noch
zahlreiche vereinzelte Rechtssätze auf ihre ursprüngliche Gesamtmund-
schaft zurück. Wir finden in einer jüngeren Rechtsquelle, daſs die
Magschaft eine Mehrzahl von Mombern (Momber zusammengezogen
aus muntporo) und einen darunter zum Vormomber bestellt40. Aus
der Gesamtmundschaft der Sippe erklärt sich auch die bei der
Struktur der germanischen Rechte höchst auffallende Erscheinung,
daſs manche Rechte die vormundschaftliche Verwaltung der Mutter
oder einer sonstigen weiblichen Verwandten des Mündels zuweisen41.
Gemeinschaftliche Angelegenheit der Sippe ist die Verheiratung
von Mitgliedern der Sippe. Die Eheschlieſsung findet, soweit sie
durch Frauenkauf erfolgt42, in Gegenwart und mit Zustimmung der
beiderseitigen Verwandten statt43. Nach dem angelsächsischen Ver-
[91]§ 13. Die Sippe.
lobungsritus sind es die Magen der Braut in ihrer Gesamtheit, welche
die vom Bräutigam angebotene Wette und die Bürgschaft annehmen,
während sie ihrerseits die Braut zu rechtem Weibe wetten. Die
Magschaft giebt ihre Erklärungen durch Vorsprecher ab; einer der
Magen leitet die Verhandlungen des ganzen Aktes44. In Schweden
muſs nach ostgotischem Rechte der Bräutigam nicht bloſs dem Ver-
lober der Braut, sondern auch den anderen Blutsfreunden derselben
Geschenke (vingæf) geben45. Wenn wir aus diesen Zeugnissen
zurückschlieſsen, so stellt es sich als höchst wahrscheinlich dar, daſs
die Eheschlieſsung durch Frauenkauf ursprünglich ein zwischen der
Sippe des Bräutigams und der Sippe der Braut abgeschlossenes
Rechtsgeschäft war. Auf den Willen der ersteren kam es an, weil
die Braut durch die Ehe in deren Rechtssphäre eintrat, auf den
der letzteren, weil sie im allgemeinen aus deren Rechtssphäre
ausschied.
Wo die Ehre der Gesamtheit in Frage stand, hatte die Sippe
eine Strafgewalt gegen ihre Mitglieder. Wenn eine Frauensperson
sich verging, galt es für eine Pflicht des Geschlechtes, sie zu töten
oder sonstwie die ihm widerfahrene Schande zu rächen46. Selbst über
die Ehre der Frau, die durch die Ehe in die Gewalt des Mannes
gekommen ist, wachen ihre eigenen Blutsfreunde. Wird sie vom
Mann des Ehebruches oder eines schweren Verbrechens bezichtigt, so
43
[92]§ 13. Die Sippe.
ist es Sache ihrer Sippe, sie durch Eid oder Zweikampf zu reinigen47.
Die Schuldige aber ist nicht bloſs der Rache des Ehemanns und seiner
Verwandten, sondern auch ihrer eigenen Blutsfreunde ausgesetzt48.
Den Pflichten, welche der Sippeverband auferlegte, insbesondere
der Teilnahme an der Fehde und der Magenhaftung konnte der
einzelne sich nicht entziehen, so lange er innerhalb der Sippe ver-
blieb. Doch war es zulässig, sich durch Austritt aus der Sippe,
durch Entsippung von diesen Pflichten zu befreien. So wenigstens
schon nach dem altsalischen Volksrechte49, welches für die Entsippung
eine rechtsförmliche gerichtliche Handlung vorschreibt, die einen
altertümlichen Charakter hat. Der Ausscheidende zerbricht nämlich
über seinem Haupte vier Erlenstäbe, wirft sie von sich und erklärt,
daſs er sich lossage von der Eideshilfe50, von der Erbschaft und von
jeder Gemeinschaft mit der Sippe. Mit den Pflichten werden auch
die Rechte der Sippe aufgegeben. Wenn einer seiner früheren
Geschlechtsgenossen stirbt, hat der Entsippte keinen Anspruch auf
Erbe und Wergeld.
Wohl ebenso alt, wenn auch erst in jüngeren Quellen bezeugt,
ist das Recht der Sippe, einen Genossen, für dessen Handlungen sie
nicht haften will, aus ihrem Kreise auszuscheiden, sich von ihm los-
zusagen. Ein angelsächsisches Gesetz setzt die Befugnis der Mag-
schaft voraus, sich von einem Totschläger loszusagen (forsacan). Da-
mit entzieht sie sich der Fehde und der Wergeldhaftung, darf aber
andrerseits dem Ausgeschlossenen weder Nahrung noch Obdach ge-
währen51. Quellen des 15. Jahrhunderts, welche der Landschaft
Drente angehören, kennen eine gerichtliche Handlung, opsechen, Auf-
sagung genannt, welche an drei auf einander folgenden Gerichtstagen
von den gemeinen Magen oder von den Magen der Vaterseite oder
von denen der Mutterseite vorgenommen wird, um die Gemeinschaft
mit einem Sippegenossen aufzuheben52. Hennegauer Handfesten des
[93]§ 13. Die Sippe.
12. Jahrhunderts machen es der Magschaft eines flüchtigen Tot-
schlägers zur Pflicht, sich eidlich von ihm loszusagen (abiurare) und
sich dann von den Magen des Toten Urfehde schwören53 zu lassen.
Der Rechtszwang zur abiuratio läſst vermuten, daſs die Magen sie
von altersher freiwillig vornehmen konnten. Schon ein fränkisches
Königsgesetz des sechsten Jahrhunderts setzt voraus, daſs die Mag-
schaft die Sache eines flüchtigen Verbrechers nicht zu der ihrigen
macht, sondern sich seiner bemächtigt, um ihn zur gerichtlichen Ver-
antwortung zu stellen54. Ein angelsächsisches Gesetz des Königs Knut
gebietet, daſs der Verbrecher, der die buſslose That des offenen
Mordes begangen, den Magen der toten Hand ausgeliefert werde.
Das Gebot ist wohl in erster Linie an die Verwandten des Mörders
gerichtet55.
Auch die Staatsgewalt kann das Band zwischen der Sippe und
einem Mitgliede derselben zerschneiden. So kräftig die Sippe im alt-
deutschen Rechtsleben entwickelt ist, so umfassend ihre öffentlich-
rechtlichen Funktionen sind, so steht doch über den einzelnen Ge-
schlechtern die Gesamtheit der Volksgenossen. Ihr Recht ist es, den
Missethäter aus der Friedens- und Rechtsgemeinschaft auszuschlieſsen,
ihn friedlos zu legen. Die Friedlosigkeit hebt aber auch die Gemein-
schaft des Geächteten mit seiner Sippe auf. Die Sippegenossen
dürfen ihn nicht nur nicht schützen, sondern sie müssen ihn von sich
stoſsen. Wie er aufgehört hat, Volksgenosse zu sein, darf er auch
nicht mehr als Geschlechtsgenosse behandelt werden56.
Das Gegenstück der Entsippung, die Aufnahme eines Fremden
in den Geschlechtsverband läſst sich zwar bei den Westgermanen
nirgends mehr, wohl aber bei den Nordgermanen nachweisen. Sie
findet sich hier unter dem Namen ætleiđing, Geschlechtsleite, und
zwar in zweifacher Anwendung. Im schwedischen Rechte dient sie
dazu, die volle Freilassung, im norwegischen die Legitimation des
52
[94]§ 13. Die Sippe.
unechten, von einer unfreien Mutter geborenen Kindes zu ver-
mitteln57.
Gleichfalls nur aus dem Norden wird uns über das Institut der
Blutsbrüderschaft berichtet, welche zwischen zwei oder mehreren nicht
verwandten Personen männlichen Geschlechts begründet werden kann.
Die Eingehung erfolgt durch einen Formalakt, bei welchem die Ver-
mischung des beiderseits geweckten Blutes und der Eid, daſs sie einer
des anderen Tod wie Brüder rächen wollen, die Hauptrolle spielen.
Zwischen den Blutsbrüdern besteht Rachepflicht und Unterstützungs-
pflicht. Häufig ist eine Gütergemeinschaft mit der Blutsbrüderschaft
verbunden58.
Die Stellung, welche der Sippe im Staate zugewiesen war, ent-
spricht dem jugendlichen Charakter der germanischen Staatsgewalt,
die noch nicht so weit entwickelt war, um die Aufgaben der
Sippe an sich zu ziehen. Im Leben der Völker kann ein Übergangs-
zustand eintreten, in welchem der Geschlechtsverband nicht mehr im-
stande ist, seine Funktionen zu erfüllen, während andrerseits der Staat
noch nicht genug erstarkt ist, um die öffentlich-rechtlichen Funktionen
des Geschlechtes auf seine Schultern zu nehmen. In solchen Übergangs-
verhältnissen hilft man sich wohl dadurch aus, daſs in bestehende
Geschlechter nicht blutsverwandte Personen eingeordnet oder daſs
Personen, die keiner örtlichen Sippe angehören, nach Art eines
Geschlechtsverbandes gewissermaſsen als künstliche Sippen gruppiert
werden59. Bei den Germanen ist eine derartige Entwicklung im all-
gemeinen nicht eingetreten. Die natürlichen Geschlechtsverbände
reichten aus, bis teils das Gemeinwesen sie aus dem Gebiete des
öffentlichen Rechtes zu verdrängen vermochte, teils persönliche Schutz-
verhältnisse entstanden waren, welche einen Ersatz für den Schutz
der Sippe gewährten. Nur in einzelnen Gegenden, wo letztere nicht
zu voller Ausbildung gelangten, finden sich später Geschlechtsverbände,
die nicht mehr nur die Blutsverwandtschaft zur Grundlage haben, wie
dies bei den Slachten und Klüften der Dietmarschen der Fall war60.
[95]§ 14. Die Stände.
Vereinzelte Funktionen der Sippe haben später namentlich auf dem
Boden des städtischen Lebens freiwillige Genossenschaften, die Gilden,
übernommen61.
Grimm, RA S 265. Walter, DRG § 384 ff. Waitz, VG I 149 ff. Gaupp,
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de la loi salique, 1882. Guérard, Polyptique de l’abbé Irminon … avec des
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des Adels im neueren Europa, Vermischte Schriften IV 1 ff. Konrad Maurer,
Über das Wesen des ältesten Adels der deutschen Stämme, 1846.
Das Ständewesen wurde durch die Gegensätze der Rechtsfähigkeit
und der Rechtlosigkeit, der Freiheit und der Unfreiheit bestimmt.
Rechtlosigkeit und Unfreiheit decken sich nicht. Nur wer in Knecht-
schaft lebt ist zugleich unfrei und rechtlos. Andrerseits giebt es aber
einen Stand, welcher zwar der Freiheit darbt, aber die Rechtsfähigkeit
genieſst, den Stand der Liten. Die freie Bevölkerung bildet rechtlich
nur einen Stand, den der Freien; jedoch lassen sich in ihr auf Grund
thatsächlicher Momente zwei Bevölkerungsklassen, die vornehmere der
Adeligen und die minder vornehme der Freien schlechtweg oder
Gemeinfreien unterscheiden. Der Stand der Freien, Freihälse, Fri-
linge1, im Gegensatz zum Unfreien einerseits, zum Edelfreien andrer-
seits auch Kärle, Kerle2 genannt, bildete die breite Masse des Volkes.
[96]§ 14. Die Stände.
Aus ihnen bestanden jene zahlreichen Heere, an welchen schlieſs-
lich die Schärfe der römischen Waffen sich stumpf schlug. Dagegen
kann die Zahl der Knechte und Liten nicht groſs gewesen sein. Wie
schon innerhalb der agrarischen Verhältnisse der germanischen Zeit
kein Raum bleibt für eine ausgedehnte Verwertung unfreier Arbeits-
kräfte, so bietet der Mangel an solchen den eigentlichen Schlüssel für
das Verständnis der Entwicklung, welche in dem Wirtschaftsleben der
fränkischen Zeit durch die Ausbildung zahlreicher Leiheverhältnisse
eingetreten ist.
Der Knecht3 wird nicht als Person, sondern als eine im Eigen-
tum des Herrn stehende Sache angesehen. Noch in den Volksrechten
wird er gelegentlich als Vermögensobjekt mit den Haustieren zu-
sammengestellt4. Wie das Pferd oder das Rind kann der Knecht
seinem Herrn gestohlen werden5. Wird er durch einen Dritten ge-
tötet, so wird er nicht durch Zahlung eines Wergeldes, sondern durch
den Ersatz des Sachwertes vergolten6. Wird er verletzt, so hat er
keinen Anspruch auf Buſse, wohl aber der Herr einen Anspruch auf
Entschädigung. Der Herr kann den Knecht ungestraft töten und nach
Belieben züchtigen. Er kann ihm ungemessene Dienste auferlegen.
Der Knecht ist nicht fähig Vermögen zu haben und zu erwerben; er
erwirbt nur seinem Herrn. Wie überhaupt keinen Vertrag kann er
auch keine Ehe schlieſsen; selbst die mit Zustimmung des Herrn ein-
2
[97]§ 14. Die Stände.
gegangene Geschlechtsverbindung des Knechtes kann von jenem be-
liebig aufgelöst werden. Von vorneherein auſserhalb der Rechtsgemein-
schaft stehend kann der Knecht nicht friedlos werden; sonst möchte
er, sagt eine schwedische Rechtsquelle7, gern den Frieden brechen,
auf daſs er möchte friedlos sein. Er kann überhaupt keine nach Volks-
recht strafbare Handlung begehen; für den Schaden, den er Dritten
gegenüber anrichtet, haftet der Herr. Im Gegensatz zu den schroffen
Grundsätzen des Rechts war die thatsächliche Stellung der Knechte
eine verhältnismäſsig günstige. Nicht selten im Hause des Herrn auf-
erzogen, als Hausgesinde oder zur Bewirtschaftung abhängiger Höfe
verwendet, wurden sie, wie Tacitus im Hinblick auf die römische
Sklaverei betont, im allgemeinen milde behandelt8.
Die ältesten Entstehungsgründe der Knechtschaft waren die
Kriegsgefangenschaft und die gewaltsame kriegerische Unterjochung.
Die Knechtschaft der Eltern vererbte auf die Kinder. Der freie Mann
konnte sich selbst und, wie bereits oben bemerkt worden ist, seine
Frau und seine Kinder in die Knechtschaft verkaufen. Auch die Über-
schuldung, namentlich das Unvermögen die etwa verwirkte Buſse zu
zahlen, führte zur Verknechtung.
Der Zustand der Knechtschaft kann durch Freilassung9 auf-
gehoben werden. Der Knecht steigt aber durch die Freilassung nicht
in die gemeine Freiheit empor, sondern er wird nur in eine be-
schränkte Rechtsfähigkeit, in das Verhältnis einer rechtlich geschützten
Hörigkeit eingeführt. Liberti non multum super servos sunt, sagt
schon Tacitus10. Nur bei den Völkerschaften mit strafferer Königs-
gewalt vermögen die Freigelassenen erheblichere Bedeutung zu ge-
winnen. Bei den übrigen erscheine es als ein Zeichen der Volks-
freiheit, daſs der Freigelassene Ungenosse des Freien ist10. Die
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 7
[98]§ 14. Die Stände.
jüngeren Quellen liefern den Beweis, daſs Tacitus hier mit wenigen
Strichen ein scharfes und richtiges Bild von der Lage der Frei-
gelassenen gezeichnet hat.
Die südgermanischen Rechte unterscheiden später zwei Hauptarten
privatrechtlicher Freilassung, eine Freilassung zu minderem und eine
Freilassung zu höherem Rechte; jene versagt, diese gewährt dem
Freigelassenen das charakteristische Merkmal der Freiheit, die Frei-
zügigkeit11.
Trotz der Freilassung zu minderem Rechte wird der Freigelassene
noch als zum Hausstande seines Herrn gehörig betrachtet12, woraus
sich eine grundsätzliche Haftung des letzteren für die Handlungen des
ersteren ergiebt. Der Freigelassene lebt zwar häufig nicht im Hause
des Herrn, sondern auf einem abhängigen Hofe, ist aber verpflichtet,
durch Arbeit und Abgaben der Wirtschaft seines Herrn zu dienen.
Er ist an die Scholle gebunden. Wird er flüchtig, so kann er gleich
einem flüchtigen Knechte verfolgt und wieder eingebracht werden13.
Wergeld und Nachlaſs des Freigelassenen fallen ursprünglich stets
und ungeteilt14, später wenigstens unter gewissen Voraussetzungen
oder doch teilweise an den Herrn. Die Formen der Freilassung zu
minderem Recht kennzeichnen sich durch das negative Moment, daſs
die symbolische Handlung und die mündliche Erklärung unterbleibt,
welche die Gewährung der Freizügigkeit zum Ausdruck bringt15.
Die Rechtsfähigkeit, welche die Freilassung zu minderem Rechte
gewährt, äuſsert sich in der rechtlichen Fixierung der Dienstpflicht.
Allerdings schuldet der Freigelassene dem Freilasser servitium16,
obedientia17, allein seine Dienste sind nicht ungemessen wie die des
Knechtes, sondern gemessen17. Mit der Beschränkung der Dienste
hängt seine Vermögensfähigkeit zusammen; er ist in der Lage für sich
selbst zu arbeiten und den Verdienst zu behalten, wodurch ihm die
Möglichkeit eröffnet wird, sich von seinem Herrn ein gröſseres Maſs
von Freiheit zu erkaufen. Während der Knecht nur einen Sachwert
hat, ist der Freigelassene durch ein Wergeld geschützt. Auch kann
er mit Zustimmung des Herrn eine volksrechtlich anerkannte Ehe
schlieſsen. Bei den Westgermanen bilden die Freigelassenen niederer
Ordnung keinen besonderen Stand, sondern gehören samt ihren Ab-
kömmlingen dem Stande der Liten oder Aldien an18, von welchem
unten die Rede sein wird.
Die privatrechtliche Freilassung höherer Ordnung löst den Frei-
gelassenen los vom Hause seines Herrn und verleiht ihm die Frei-
zügigkeit. Bei Langobarden und Angelsachsen heiſst ein solcher Frei-
gelassener volkfrei19. Aber auch ihm fehlt die volle Rechtsfähigkeit
des Freigebornen. Denn die Machtsphäre des Freilassers findet eine
Schranke in der auf den Sippeverbänden beruhenden Organisation der
Gesellschaft. Der Freilasser kann dem Knechte das nicht bieten,
was dem Freien durch die Geburt zuteil wird, eine freigeborne Sippe.
Wegen Mangels freier Geschlechtsgenossen steht der Freigelassene als
ein ungeschlachter Mann unter den Freigebornen. Der fehlende Schutz
der Sippe muſs durch einen Schutzherrn ersetzt werden. Als solcher
fungiert der Freilasser, entweder der frühere Herr des Knechtes oder
ein Dritter, dem der Herr den Knecht tradierte, auf daſs er frei-
gelassen werde. Der Freigelassene ist auf die Vertretung des Schutz-
herrn angewiesen, denn nur sie verbürgt ihm die Fortdauer seiner
15
7*
[100]§ 14. Die Stände.
Freiheit. Nahm ein Dritter ihn als Knecht in Anspruch, so war er
nicht in der Lage, seine Freiheit selbst zu verteidigen, sondern es
muſste sein Schutzherr für ihn eintreten20.
Um die Abhängigkeit des Freigelassenen vollständig zu zerreiſsen
bedarf es eines öffentlich-rechtlichen Aktes21, bei welchem neben dem
Freilasser noch andere Mächte wirksam werden, welche die rechtliche
Tragweite der Freilassung über die der Machtsphäre des Freilassers
gezogenen Schranken erweitern. Nach älterem schwedischen Rechte
wird die Freilassung zu vollem Rechte dadurch vermittelt, daſs der
Freigelassene vor der Landesgemeinde oder im Thing oder vor der
Kirchengemeinde in ein freies Geschlecht aufgenommen wird (ætle-
þing, Geschlechtsleite). Der Akt der Geschlechtsleite ist auch dem
altdänischen Rechte bekannt22. Auf Island bedarf es zur Freilassung
einer Rechtshandlung, die leiđa í lög genannt wird und darin besteht,
daſs der Häuptling (der Gode) den Freigelassenen in die Rechts-
gemeinschaft der Volksgenossen aufnimmt23. Bei den Langobarden
vermag eine Freilassung durch die Hand des Königs24, bei den Baiern
eine solche durch die Hand des Herzogs die volle Freiheit zu ge-
währen25. Nach fränkischem Recht hat diese Wirkung eine Frei-
lassung vor dem König, der darauf hin den Freigelassenen für vollfrei
erklärt26. Eine Freilassung, welche in öffentlicher Versammlung durch
Wehrhaftmachung geschah, bezeugt das älteste anglonormannische
Recht und eine solche scheint auch die langobardische manumissio
per gairethinx ursprünglich gewesen zu sein27.
Das ältere schwedische und das isländische Recht kannten im
Grunde genommen nur die öffentlich-rechtliche Freilassung. In Schweden
hat nämlich die Freilassung ohne Aufnahme in ein freies Geschlecht
bloſs thatsächliche Wirkung. Der Freilasser kann vor der ætleþing die
Freilassung beliebig rückgängig machen28. Er haftet für den Frei-
gelassenen und dieser hat bis dahin nur Sklavenbuſse29. Nach islän-
dischem Rechte30 besitzt der Freigelassene, ehe er in die Rechts-
gemeinschaft aufgenommen ist, weder eines freien Mannes Recht noch
eines Unfreien31. Er befindet sich in einem juristischen Vacuum,
denn er hat die Stellung eines Knechtes verloren ohne die des Freien
zu gewinnen.
Die Aufnahme von Freigelassenen in die Volksgemeinschaft scheint
in die germanische Zeit hinaufzureichen, obwohl Tacitus nur eine Frei-
lassung zu minderem Rechte bezeugt.
Eine Mittelstellung zwischen Freien und Knechten nahmen bei
den Westgermanen die Liten oder Aldien ein, die man deshalb auch
Halbfreie nennt. Die Bezeichnung Liten ist den niederdeutschen
Stämmen der Franken, Friesen, Sachsen und Angelsachsen32 eigen-
tümlich. Am häufigsten finden sich die Formen leto, litu, let33, læt34,
27
[102]§ 14. Die Stände.
lat35, latinisiert litus, laetus, letus. Aber auch lidus, ledus kommt
vor36. Eine althochdeutsche Glosse bietet die Form laz37; jüngere
Denkmäler sagen lazzi38 oder lassi39. Bei den Oberdeutschen und
bei den Langobarden war das Wort nicht heimisch40. Letztere und
die Baiern verwenden dafür den Ausdruck aldio, altio, aldius, der
wieder den übrigen Stämmen fremd ist. Die Ostgermanen kennen
weder den Liten noch den Aldio. Der Ursprung der beiden Wörter
ist dunkel und streitig41.
Liten und Aldien bildeten einen erblichen Stand, dessen Stellung
durch das Volksrecht geschützt war. Sie waren an die Scholle ge-
bunden, hatten ihrem Herrn rechtlich fixierte Dienste und Abgaben
zu leisten, besaſsen die Fähigkeit Vermögen zu erwerben und Ver-
träge zu schlieſsen42, konnten durch Freilassung in die volle Freiheit
aufsteigen und sich aus ihrem Vermögen die Freiheit erkaufen43.
Zur Verehelichung bedurften sie der Einwilligung des Herrn44. Sie
hatten das Fehderecht45 und ein Wergeld, welches mindestens zum
Teil an den Herren fiel. Ein volksrechtlich anerkanntes Erbrecht
scheinen sie ursprünglich nicht besessen zu haben46. Am strengsten
ist die Abhängigkeit der Halbfreien später im langobardischen Rechte
[103]§ 14. Die Stände.
gestaltet, welches das ursprüngliche Verhältnis am längsten und reinsten
bewahrt zu haben scheint. Der langobardische Aldio konnte ohne
Konsens des Herrn nichts veräuſsern. Der Herr haftete für seine
Vergehen und vertrat ihn vor Gericht47.
Man streitet, ob der Lite frei oder unfrei gewesen sei. Im
Grunde genommen läuft diese Kontroverse auf einen Wortstreit hin-
aus, der sich erledigt, wenn man sich über die rechtlichen Merkmale
der Freiheit geeinigt hat. Erblickt man das Merkmal der Unfreiheit
in dem Mangel der Freizügigkeit, so ist der Lite als unfrei zu be-
trachten48. Sieht man das Wesen der Freiheit in der Rechtsfähig-
keit, so ist der Lite natürlich ein Freier, aber nicht bloſs der Lite,
sondern ebenso jeder Leibeigene jüngeren Rechts, so daſs das Wort
„frei“ als Standesbezeichnung seine rechtsgeschichtliche Brauchbarkeit
einbüſst und für den Freien, der nicht an die Scholle gebunden ist,
eine besondere Benennung erklügelt werden müſste.
Die Entstehung des Litenstandes wird aus freiwilliger Unter-
werfung eines überwundenen Volkes oder Volksteils erklärt. Über-
einstimmende Berichte jüngerer Zeit führen den Ursprung der säch-
sischen Liten auf die Besiegung der Thüringer zurück49. Das Litentum
ist erblich. Der Freie kann, wie in den Stand der Knechtschaft, so
auch in den Stand der Liten eintreten, indem er sich freiwillig in den-
selben ergiebt50. Der Knecht kann durch Freilassung niederer Ord-
nung zur Stellung des Liten emporsteigen, unterscheidet sich aber
durch Mangel litischer Verwandtschaft von dem zum Litengeschlecht
„letslahte“ geborenen Liten.
Tacitus kannte den Stand der Liten als solchen nicht. Er nennt
nur die liberti. Soweit die Liten nicht Freigelassene waren, mögen
sie ihm mit den servi zusammengeflossen sein und seine Auffassung
[104]§ 14. Die Stände.
der germanischen servi beeinfluſst haben. Daſs aber das Institut der
Liten und Aldien ein uraltes war und jedenfalls in die germanische
Zeit zurückreicht, beweist nicht nur ihr Vorkommen in den deutschen
Stammesrechten der fränkischen Periode, sondern insbesondere die seit
dem dritten Jahrhundert nachweisbare Verwendung litischer Truppen-
körper im römischen Kriegsdienst, wovon bereits oben Seite 35 ge-
handelt worden ist. Überrheinischen, hauptsächlich fränkischen Ur-
sprungs erhielten diese zum Kriegsdienst und zum Landbau verpflich-
teten und der Freizügigkeit darbenden Germanenhaufen den Namen,
welcher in der Heimat eine zwar nicht in Knechtschaft aber auch
nicht in Freiheit lebende, eine botmäſsige und dienstpflichtige Bevöl-
kerung bezeichnete51.
Unter den Freien ragen als eine höhere Klasse derselben die
Adeligen hervor. Die römischen Schriftsteller bezeichnen sie als nobiles,
geben aber über das Wesen des germanischen Adels nur dürftige Aus-
kunft. In einer viel besprochenen Stelle sagt Tacitus, daſs die Germanen
bei der Wahl der Könige auf die adelige Abstammung, bei der Wahl
der Herzoge auf die persönliche Tüchtigkeit zu sehen pflegen52. Was
sonst noch von den nobiles berichtet wird, läuft im wesentlichen
darauf hinaus, daſs adelige Geburt höheres Ansehen und herkömm-
lichen Einfluſs gewährte, daſs vorzugsweise die adelige Jugend sich
kriegerischen Abenteuern widmete, daſs die Stellung adeliger Geiseln
eine gröſsere Bürgschaft der Treue gewährte und daſs der Adelige ob
nobilitatem manchmal mehrere Frauen hatte. Als sehr zahlreich
kann der Adel bei den Germanen nicht gedacht werden. Den Adel
der Cherusker haben nach dem Tode Armins innere Zwistigkeiten
nahezu vollständig ausgerottet, so daſs das Volk sich veranlaſst sah,
den Italicus als einzigen Sprossen der stirps regia aus Italien zu
holen und zum König zu erheben53.
Nach der Völkerwanderung tritt uns bei den meisten deutschen
Stämmen der Adel54 als ein Geburtsstand entgegen, der vor den
[105]§ 14. Die Stände.
Freien durch ein höheres Wergeld ausgezeichnet ist. Für diesen
Geburtsadel überliefert uns das Volksrecht der Angeln und Warnen
den deutschen Ausdruck Adaling55. Ein Bericht über die alten Sachsen
unterscheidet bei ihnen aedhilingi, frilingi und lazzi56. Ebenso gliedert
sich der Stamm der Friesen nach jüngeren Quellen in ethelinga, fri-
linga, letslachta57. Den æđeling kennen auch die Angelsachsen, doch
wenden ihre Gesetze und die übrigen Prosadenkmäler das Wort nicht
auf den Adel schlechtweg, sondern nur auf die männlichen Mitglieder
des Königsgeschlechtes an58. Bei den Langobarden erscheinen die
Adeligen als primi, nobiles, bei den Alamannen als primi oder
meliorissimi. Auch fehlt es nicht an Spuren, daſs ihnen der Aus-
druck Adeling, Edeling geläufig war59. Das Volksrecht der Baiern
zählt neben dem Herzogsgeschlechte der Agilolfinger die Geschlechter
der Huosi, Drozza, Fagăna, Hahilinga und Anniona auf, die als
quasi primi post Agilolfingos durch das zweifache Wergeld des freien
Mannes sich auszeichnen. Bei den Franken ist der Adel zwar für das
Königsgeschlecht der Merowinger bezeugt60, aber auſser ihm ein alter
54
[106]§ 14. Die Stände.
Geburtsadel nicht vorhanden. Ziemlich dürftig sind die Nachrichten
über den Adel der gotisch-vandalischen Stämme. Hervorgehoben wird
der Adel ihrer Königsgeschlechter, der ostgotischen Amaler, der
westgotischen Balthen61, der vandalischen Astingen. Als Adelige sind
die bei den Burgundern und wohl auch die bei den Westgoten ge-
nannten optimates zu betrachten62. Das Wort Athal ist uns in
gotischen und burgundischen Personennamen überliefert63.
In den altsächsischen Sprachdenkmälern begegnen uns, vorzugs-
weise zur Bezeichnung des Adels gebraucht, die Ausdrücke ërl, ërl-
skepi64. Dem altsächsischen ërl entspricht der angelsächsische eorl
und der nordische iarl. Das Althochdeutsche hat das Wort nicht
bewahrt65. Ebenso fehlt es im Gotischen. Vielleicht darf aber der
Volksname der Heruler daraus erklärt werden66. Die angelsächsischen
Quellen brauchen das Wort in verschiedenem Sinne. In der kentischen
Gesetzgebung bezeichnen eorl und eorlcund den Geburtsstand des Adels.
Mit ceorl und ceorlisc verbunden drücken eorl und eorlisc den allge-
meinen Gegensatz des höheren und niederen Standes aus. Endlich
werden auch die Statthalter gröſserer Landschaften und die höheren
Heerführer Eorle genannt67. Die Jarle stellen sich als der mit
Herrscherrecht ausgestattete Adel des Nordens dar; sie erscheinen
als die Angehörigen edler Geschlechter, welche mit königlicher Ge-
walt, aber bereits einem Oberkönig unterworfen, einzelne Landschaften
beherrschen68. Wie in der nordischen Sage der Jarl als Vater des
Ađal bezeichnet wird69, so wird die Tochter des Eorls in einem
angelsächsischen Rätsel æđelu genannt70. An einem engen geschicht-
60
[107]§ 14. Die Stände.
lichen Zusammenhange zwischen Adel und Erlschaft kann nach alledem
nicht gezweifelt werden.
Faſst man die vereinzelten Anhaltspunkte zusammen, welche die
zerstreuten Nachrichten über den Adel für seine älteste Bedeutung
gewähren, so hat unter den vielen darüber geäuſserten Ansichten71
diejenige die gröſste Wahrscheinlichkeit für sich, welche die Adeligen
der Urzeit als die Mitglieder der thatsächlich herrschenden Geschlechter
betrachtet, nämlich der Geschlechter, aus welchen man die Könige,
die Fürsten, die Priester zu nehmen pflegte. Die Abstammung dieser
Familien galt für vornehmer, unmittelbar an die Götter wurde sie
angeknüpft.
Bestimmte erbliche Vorrechte, wie sie das Wesen des wahren
Standes ausmachen, lassen sich für den Adel der germanischen Zeit
nicht nachweisen. Insbesondere muſs es dahingestellt bleiben, ob
schon damals das höhere Wergeld des Adels, wie es nach der Völker-
wanderung bezeugt ist, rechtlich fixiert war. Im Einzelfall mochte
das Sühngeld, durch das die adelige Sippe sich die Rache abkaufen
lieſs, in Anbetracht ihrer Übermacht immerhin den normalen Wer-
geldsatz des freien Mannes überstiegen haben, ohne daſs es rechtlich
höher festgesetzt war. Eine wesentliche Voraussetzung der Königs-
würde und des Fürstentums hat die adelige Abstammung, so schwer
sie dabei ins Gewicht fiel, nicht gebildet, da die Wahl des Volkes
giltig war, auch wenn sie einen Nichtadeligen traf. So erhoben z. B.
die Ostgoten den Witiges zum König, obzwar er nicht adelig war;
70
[108]§ 14. Die Stände.
ja sogar einem Fremden, dem Oströmer Belisar boten sie die Krone
an. Doch stellen sich diese und ähnliche Fälle nur als Ausnahmen
von der regelmäſsigen Ordnung dar, nach welcher sich die politische
Herrschaft als eine thatsächlich erbliche in den Händen des Adels
befand72.
Als ein Stand im eigentlichen Sinne können sonach die nobiles
der taciteischen Epoche nicht mit Sicherheit bezeichnet werden. Erst in
der Zeit nach den groſsen Wanderungen tritt uns bei den meisten
deutschen Stämmen die ständische Abschlieſsung des Adels als voll-
endet entgegen, indem sie in dem höheren Wergeld ihren untrüglichen
Ausdruck findet. Wo sich ein Königtum als Einherrschaft über die
ganze civitas ausbildete, blieben die dem Königsgeschlechte nicht an-
gehörigen Adelsfamilien entweder im Besitz eines abhängigen Unter-
königtums oder sie lebten als mediatisierter Adel fort, getragen durch
herkömmliches Ansehen, hervorragend durch höheres Wergeld. Als
solche mediatisierte Sippen werden mit Recht die fünf Adelsgeschlechter
des bairischen Volksrechtes angesehen. Bei den Franken führte die
Entwicklung der königlichen Einherrschaft zur Beseitigung des alten
Geschlechtsadels.
So kennzeichnet sich das altgermanische Ständewesen durch das
Fehlen kastenartiger Abschlieſsung. Für die Bildung eines Adels-
standes sind in dem Adel der Urzeit nur erst die Ansätze vorhanden.
Wahrer Stände sind nur zwei vorhanden, die Freien und die Liten.
Allein die Kluft, die sie trennt, ist keine unübersteigliche. Die Frei-
lassung und die Aufnahme in die Volksgenossenschaft vermag dem
Liten die Rechte des Freien zu gewähren. Die Knechtschaft ist, weil
Rechtsunfähigkeit, nicht sowohl als ein Stand, denn als ein Zustand
der Standeslosigkeit aufzufassen. Aber auch dem Knechte eröffnet
die Freilassung die Möglichkeit in die Reihe der volksrechtlich an-
erkannten Stände einzutreten.
v. Amira, Über Zweck und Mittel der germ. Rechtsgeschichte, 1876. Gierke,
Jugend und Altern des Rechts, Deutsche Rundschau 1879. J. Grimm, Poesie im
Recht, Z f. gesch. RW II 25 ff. Gierke, Der Humor im deutschen Rechte, 1871.
Gengler, Germanische Rechtsdenkmäler, Einl. § 6. K. Lehmann, Der Königs-
friede der Nordgermanen, 1886. Bernhöft, Über Zweck und Mittel der ver-
gleichenden Rechtswissenschaft, in dessen Z f. vgl. RW I.
Das Recht gilt als eine ewige Ordnung des Friedens. Aus der
allgemeinen Rechtsüberzeugung als unbewuſster Gesamtwille des Volkes
hervorgehend, wird es auf göttlichen Ursprung zurückgeführt, als Über-
lieferung der Götter betrachtet1. Eng mit Religion und Sitte ver-
wachsen, muſs es in der Urzeit einen ausgeprägt sakralen Charakter
besessen haben, den aber bei den Westgermanen das Christentum so
früh und so gründlich beseitigte, daſs wir nur bei vereinzelten Ein-
richtungen, wie bei der Gerichtshegung, bei gewissen Förmlichkeiten
des Rechtsganges, bei Eiden und Gottesurteilen und im Strafrecht
auf einstigen Zusammenhang zwischen Recht und Glauben zurück-
schlieſsen können.
Als Bezeichnungen der Friedens- und Rechtsordnung, des Rechtes
im objektiven Sinne überliefern uns die germanischen Sprachen die
uralten Ausdrücke lag, êwa und vitoth. Die Wurzel lag ist uns in der
Bedeutung von lex bei den niederdeutschen2 und skandinavischen
Stämmen bezeugt, während das Hochdeutsche den Ausdruck nur in
der Zusammensetzung urlac, fatum, decretum überliefert. Den Nord-
germanen fremd, aber allen Westgermanen gemeinsam ist die Wurzel
unseres Wortes Ehe, gotisch aivs, dem lateinischen aevum entsprechend,
welche im Sinne von lex althochdeutsch als êwa (fem.), friesisch als
â, ê, angelsächsisch als æ und â, altsächsisch als êo (masc.) erscheint3.
[110]§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.
Für Gesetz, Norm begegnet uns im Althochdeutschen wizôd, wizzut4,
gotisch vitoth, altsächsisch witod, witut5. Von diesen Ausdrücken hat
die neuhochdeutsche Sprache nur das Wort Ehe in der sehr ver-
engten Bedeutung von matrimonium und in einigen veraltenden
Zusammensetzungen bewahrt. Das Wort Recht, rectum, althd. und
alts. rëht, fries. riucht, altnord. réttr (masc.), im Gotischen nicht
vertreten6, scheint verhältnismäſsig jüngeren Ursprungs zu sein und
bezeichnet zunächst die durch die Rechtsordnung den einzelnen zu-
gewiesene Stellung, den Rechtsanspruch und die Rechtspflicht, im
weiteren Sinne die Rechtsordnung überhaupt.
Das Recht wird in ältester Zeit als ungeschriebenes Gewohnheits-
recht durch unmittelbare Anwendung der Rechtssätze im Rechtsleben
entwickelt und fortgebildet. Es braucht nicht durch allgemeines
Rechtsgebot gesetzt, sondern nur im Einzelfalle aus dem gleichartigen
Rechtsbewuſstsein der Volksgenossen gefunden zu werden. Es ist
Volksrecht, seine Ausbildung und Anwendung ist nicht etwa aus-
gewählten berufsmäſsigen Organen überlassen, sondern geschieht durch
die Gerichtsversammlungen, in welchen die freien und wehrhaften
Männer des Volkes sich an der öffentlichen Rechtsprechung beteiligen.
Dadurch wird nicht ausgeschlossen, daſs einzelne Gerichtsgenossen
wegen hervorragender Rechtskenntnis besonderes Ansehen genieſsen,
als gesuchte Rechtsprecher (êosagari) um Rechtsgutachten befragt
werden und vor Gericht bestimmenden Einfluſs auf die Urteilfindung
gewinnen. Da die Rechtskenntnis Gemeingut des Volkes war, wie
Glaube und Sprache, so bestand in der germanischen Zeit weder das
Bedürfnis schriftlicher Fixierung des geltenden Rechts, noch das Be-
dürfnis besonderer Einrichtungen, welche im Wege mündlicher Rechts-
belehrung die traditionelle Überlieferung des Rechtes von Generation
auf Generation verbürgt hätten. War das Recht im einzelnen Falle
zweifelhaft, so half man sich wohl schon in ältester Zeit durch Auf-
nahme eines Weistums, das heiſst durch einen Wahrspruch, welchen
zu diesem Zwecke ausgewählte ältere und erfahrene Männer auf amt-
liche Anfrage hin über das geltende Recht abgaben. Dagegen ist es
[111]§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.
eine bedeutend jüngere Erscheinung der deutschen Rechtsentwicklung,
daſs in kleineren bäuerlichen Gerichtsgemeinden von Zeit zu Zeit ein
umfassendes Weistum über das geltende Gewohnheitsrecht regel-
mäſsig abgefragt wird, auf daſs es nicht der Vergessenheit anheim-
falle, sondern lebendig bleibe in dem Bewuſstsein der Gerichtsgenossen.
Ebensowenig reicht die nordische Einrichtung der lagsaga in hohes
Altertum hinauf7, welche darin bestand, daſs ein öffentlicher Beamter,
der Gesetzsprecher, zu bestimmten Zeiten regelmäſsige Rechtsvorträge
zur allgemeinen Rechtsbelehrung abzuhalten hatte.
Der durchaus jugendliche Charakter unseres älteren Rechtes
äuſsert sich in der Vermeidung logischer Abstraktionen8 und in der
naiv sinnlichen Auffassung, welche die Rechtsgedanken zu plastisch
anschaulichem, manchmal poetischem, manchmal humoristischem Aus-
druck bringt. Uralt ist die Sitte, Rechtssätze in allitterierende
Formeln und in kurze Rechtssprichwörter zu fassen. Die west-
germanischen Rechte des Mittelalters überraschen durch die Fülle
mannigfaltiger Formen und durch eine vielgestaltige Rechtssymbolik.
Solcher Reichtum fehlt im Norden, der in dieser Beziehung stets
nüchterner geblieben ist. Aber auch die westgermanischen Rechte
scheinen sich in ältester Zeit mit wenigen aber klaren und einfachen
Formen begnügt und die spätere Mannigfaltigkeit der Rechtssymbole
erst im Laufe fortschreitender Entwicklung erzeugt zu haben.
Ein hervorstechendes Merkmal des älteren germanischen Rechtes
ist die unbeugsame Strenge, mit der es die einzelne Persönlichkeit
den herrschenden Lebensverhältnissen, den einzelnen Rechtsfall den
Anschauungen der Gesamtheit unterwirft. Der individualistische
Charakter, den man nicht selten unserem ältesten Rechte beilegen
will, fehlt ihm ganz und gar. Mehr denn in jüngerer Zeit ist das
Individuum an den Willen und an die Gebräuche der einzelnen
Verbände gefesselt, in welchen es sich bewegt, der Sippe, der wirt-
schaftlichen und der politischen Verbände, beziehungsweise des Ver-
bandes der Gefolgschaft. Nicht die Freiheit und Ungebundenheit des
einzelnen charakterisiert den ältesten Zustand unseres Rechtes. Das
[112]§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.
geträumte Ideal germanischer Urwaldsfreiheit traf nur für diejenigen
zu, die als Friedlose, Elende aus dem Kreise der Volksgenossen aus-
geschieden waren. Weil das Volksrecht unmittelbar und ungebrochen
aus den Überzeugungen der Gesamtheit hervorgeht, mit gleichartigen
Lebensverhältnissen, gleichartigen Bedürfnissen und gleichartigen Ge-
sinnungen aller Volksgenossen rechnet, verhält es sich hart und spröde
gegen den einzelnen Rechtsfall. Es ist nur für generelle Typen von
Thatbeständen zugeschnitten und bietet keinen Spielraum für die Be-
urteilung des individuellen Falles. Nur der gemeine Sprachgebrauch,
nicht der Sinn, den der einzelne mit seinen Worten verbindet, ent-
scheidet über den Inhalt der im Rechtsverkehr und vor Gericht ab-
gegebenen Erklärungen. Der äuſsere Erfolg der That, nicht die
innere Gesinnung des Thäters bestimmte die rechtliche Natur und
die Folge des Verbrechens. Nicht die freie Prüfung der einzelnen
Beweismomente, sondern die Auffassung der Gesamtheit über die
Glaubwürdigkeit formeller Beweishandlungen bildete die Grundlage
des Beweisrechtes. Nicht die Freiheit des einzelnen, sondern die
Gleichheit der freien Rechtsgenossen ist dem ältesten germanischen
Rechte eigentümlich; sie konnte aber nur durch den gegen das
Individuum geübten Zwang aufrecht erhalten werden, den dieses
freilich nicht oder doch kaum als Härte und Gebundenheit empfand,
weil es als Glied der Gesamtheit im Banne ihrer Anschauungen
lebte.
Die verhältnismäſsig dürftige Kenntnis der urzeitlichen Rechts-
zustände, zu welcher die Forschung bisher sich durchgerungen hat,
schöpfte sie in erster Linie aus den Nachrichten der antiken Schrift-
steller9. Unter ihnen ragen die Mitteilungen Cäsars hervor, dem
seine Kriege mit den Germanen die Gelegenheit gaben, eine persön-
liche Anschauung ihrer Verhältnisse zu erlangen, und die gegen Ende
des ersten Jahrhunderts nach Christus entstandene Darstellung, welche
Tacitus in seiner insgemein als Germania bezeichneten Schrift den
Anfängen unseres Volkstums gewidmet hat. Ein Vertreter der Rich-
tung, welche die politischen, wirtschaftlichen und sittlichen Schäden
des römischen Reichs auf den Verlust der altrömischen Tugenden
zurückführt, will Tacitus der römischen Entartung das Spiegelbild
eines frischen und unverdorbenen Volkstums gegenüberhalten, indem
[113]§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.
er dabei die germanischen Zustände stellenweise mit den hergebrachten
Pinselstrichen ausmalt, welche in der römischen Litteratur für ideali-
sierende Schilderung von Naturvölkern typisch geworden waren 10.
Er ist gut unterrichtet, übertreibt und entstellt nicht, verrät aber
doch die Absicht durch Betonung der Gegensätze zu wirken und
beleuchtet die germanischen Zustände durch ein künstliches Zwielicht,
welches den Blick auf die Schattenseiten des römischen Lebens zu
lenken sucht. Die Auslegung der Germania setzt daher stets das
Verständnis und die Vergleichung der römischen Einrichtungen und
Zustände voraus, welche durch die Darstellung der germanischen eine
mehr oder minder deutlich ausgesprochene Kritik erfahren. Der
groſsartige Standpunkt, den Tacitus den Germanen gegenüber ein-
nahm, war nur möglich zu einer Zeit, da das Römertum sich noch
der vollen Überlegenheit seiner Waffen, seiner Kultur und seines
Nationalgefühles bewuſst war. Er ist von der sinkenden römischen
Geschichtschreibung früh genug aufgegeben worden 11.
Feste und wertvolle Ergebnisse gewinnt die Forschung für unser
ältestes Recht, indem sie die in den Rechtsquellen der folgenden
Perioden bezeugten Rechtseinrichtungen der verschiedenen germani-
schen Stämme kritisch mit einander vergleicht. Zeigt sich, daſs ein
Rechtsinstitut bei den verschiedenen Stämmen, die seit ihrer Trennung
eine selbständige Rechtsentwicklung durchgemacht haben, in gleicher
Weise vorkommt, so läſst sich unter Verhältnissen, die eine gegen-
seitige jüngere Entlehnung oder eine unabhängige gleichartige Neu-
bildung ausschlieſsen, mit gutem Grunde annehmen, daſs es in der
Zeit vor der Trennung gemeinsames Besitztum gewesen war. Je
früher die Trennung, je geringer im übrigen die Verwandtschaft des
Rechtes, desto höher das Alter, in welches die Gemeinsamkeit hinauf-
reicht. Für die germanische Rechtsgeschichte kommt daher ins-
besondere die Vergleichung der skandinavischen Rechte, des angel-
sächsischen und des langobardischen Rechts mit den deutschen
Stammesrechten des fränkischen Reiches in Betracht. Wesentliche
Dienste leistet bei methodischer Verwertung die Geschichte unserer
Sprache in ihrer Anwendung auf die Rechtsterminologie. Die Wörter
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 8
[114]§ 16. Die politischen Verbände.
sind die Geburtsscheine der Begriffe, die sie bezeichnen. Läſst sich
feststellen, daſs ein gewisser Rechtsausdruck verschiedenen germani-
schen Sprachen gemeinsam war, so liefert diese Thatsache einen
beachtenswerten Fingerzeig für das Alter der dadurch bezeichneten
Rechtseinrichtung.
Einzelne dunkle Punkte vermag auch die Wissenschaft der ver-
gleichenden Rechtsgeschichte aufzuhellen, sofern sie die sicher über-
lieferten Nachrichten über die ältesten Rechtszustände anderer, ins-
besondere arischer Völker kritisch verwertet.
J. Weiske, Die Grundlagen der früheren Verfassung Teutschlands, 1836. v. Beth-
mann-Hollweg, Die Germanen vor der Völkerwanderung, 1850. Landau, Die
Territorien in Bezug auf ihre Bildung und Entwicklung, 1854. Gemeiner, Die
Verfassung der Centenen, 1855. Thudichum, Der altdeutsche Staat, 1862; der-
selbe, Gau- und Markverfassung, 1860. Baumstark, Urdeutsche Staatsalter-
thümer, 1873. Erhardt, Älteste germ. Staatenbildung, 1879. W. Sickel, Der
deutsche Freistaat, 1879; derselbe, Zur germ. Verfassungsgesch., Mitteil. des österr.
Instituts, Ergänzungsband I 7. Waitz, Verfassungsgesch. I 201 ff. Kemble, The
Saxons in England, 2 Bde 1849. K. Maurer, KrÜ I 73 ff. Stubbs, Constitutional
History of England I. Munch (Clauſsen), Die nordisch-germ. Völker S 126.
Die Römer bezeichneten die staatsrechtliche Einheit, die sie bei
den Germanen vorfanden, als civitas. Unter den Neueren ist dafür
der Ausdruck Völkerschaft üblich geworden. Die Germanen waren in
eine groſse Zahl solcher civitates gespalten. Namentlich ist bei den
westlichen und mittleren Völkerschaften eine weitgehende politische
Zersplitterung wahrzunehmen, wogegen die politischen Verbände des
Ostens als umfangreicher erscheinen. Bei gleichartigen Verfassungs-
zuständen war es mit gleichem Kraftaufwande möglich den politischen
Zusammenhang unter halbnomadischen Volksmassen auf weitere Strecken
hin aufrecht zu erhalten, als unter fest angesiedelten Volksteilen, bei
welchen eine länger dauernde räumliche Isolierung den Drang zu
staatsrechtlicher Absonderung erzeugte. Dazu kam, daſs die römische
Staatskunst es lange Zeit hindurch verstanden hat, in der Nähe der
Reichsgrenzen die gefahrvolle Bildung gröſserer germanischer Staats-
verbände zu verhindern.
Die civitas ist „eine einzelne politisch selbständige und abge-
schlossene Volksgemeinde“ 1. Ist das Volk nicht auf der Wanderung,
so nimmt die civitas eine räumlich abgegrenzte Landschaft ein, nach
[115]§ 16. Die politischen Verbände.
der sie mitunter wohl auch benannt wird 2. Um die Grenze zu
sichern, wird ein breiter Gürtel des Grenzlandes wüstgelegt und da-
mit durch den Staat anderer Benutzung entzogen 3.
Eine Unterabteilung der civitas ist der Gau 4, pagus. Das Wort
setzt ein räumlich abgeschlossenes Gebiet, also einen landschaftlichen,
nicht bloſs persönlichen Verband voraus. Von den Sueben erzählt
uns Cäsar, daſs bei ihnen jeder Gau tausend Wehrmänner zum Heere
gestellt habe 5. Es ist nicht unwahrscheinlich, daſs der Gau aus der
Niederlassung einer Tausendschaft hervorgegangen ist, aber schon früh-
zeitig territoriale Bedeutung erlangt hat 6. Für das Verhältnis des
Gaues zur civitas verdient es Beachtung, daſs die Römer die Begriffe
civitas und pagus zuerst an den keltischen Verfassungszuständen ent-
wickelt und in der hier gewonnenen technischen Anwendung auf die
Germanen übertragen haben, eine Thatsache, die uns berechtigt, von
dem Charakter der keltischen Einteilung auf den der germanischen
zurückzuschlieſsen 7. Mit der keltischen Eingliederung des pagus in
die civitas ist eine so ausgedehnte Selbständigkeit vereinbar, daſs der
Gau sogar Sonderkriege unternehmen kann, wie denn z. B. von den
vier Gauen der helvetischen civitas der Gau der Tiguriner auf eigene
Faust sich an dem Kimbernkriege beteiligt 8. Nicht anders war es
bei den Germanen. Als sich die Cherusker unter Armin erhoben,
vermochte der cheruskische Gau, an dessen Spitze Armins Oheim
Inguiomer stand, seine Neutralität zu bewahren 9. Die civitas für
8*
[116]§ 16. Die politischen Verbände.
einen bloſsen Staatenbund, den Gau für den germanischen Einheits-
staat 10 zu erklären, geht zu weit 11. Doch mochten kleinere civitates
nicht weiter in Gaue zerfallen und konnte es vorkommen, daſs ein-
zelne Gaue zu selbständigen civitates emporwuchsen und in den Über-
gangsphasen solcher Entwicklungen die civitas den Charakter des
Bundesstaats besaſs, wie andrerseits die Verschmelzung mehrerer
Völkerschaften zu einem gröſseren Einheitsstaat durch ein bundes-
staatliches Verhältnis vermittelt werden konnte.
Die Bewohner des Gaues, die Gauleute, sind in eine Anzahl
kleinerer persönlicher Verbände, Hundertschaften, Hunderte 12, ein-
geteilt, welche in erster Linie den Zwecken des Heerwesens, in zweiter
den Zwecken der Rechtspflege zu dienen bestimmt waren. Daſs die
Hundertschaft ursprünglich ein reiner Zahlbegriff war, der auf die
Gliederung des Heeres zurückging, wird allgemein angenommen. Die
herrschende Meinung sieht aber in der Hundertschaft bereits zur Zeit
des Cäsar und des Tacitus einen räumlichen Begriff, einen Hundert-
schaftsbezirk. Der Name habe schon damals nur noch historische Be-
deutung gehabt als Reminiscenz an die vorgeschichtliche Zeit, in der
bei der ersten Besiedelung des Landes ein Heerhaufe von hundert
Mann das ihm zugewiesene Gebiet besetzt habe 13.
Den altgermanischen Hundertschaftsbezirk glaubt man aus dem
späteren Vorkommen räumlicher Hundertschaften bei verschiedenen
germanischen Stämmen erschlieſsen zu müssen. Genau besehen be-
[117]§ 16. Die politischen Verbände.
ruht aber dieser Rückschluſs auf sehr unsicherer Grundlage. Der
Hundertschaftsbezirk findet sich später in landschaftlicher Bedeutung
als centena bei den Franken, als huntari bei den Schwaben, als
hundred bei den Angelsachsen und als herađ 14 oder auch hundari bei
den Nordgermanen. Allein bei den Angelsachsen taucht die Hundred
als Landbezirk nicht vor der zweiten Hälfte des zehnten Jahrh. auf 15.
Die Herad fehlt in dieser Bedeutung auf Island und in Teilen Nor-
wegens 16. Und die alamannische centena ist zwar allerdings schon
für den Anfang des achten Jahrhunderts sicher bezeugt 17, verrät aber
insofern einen jüngeren, kaum über die fränkische Unterwerfung hinauf-
reichenden Ursprung, als die meisten Hundertschaftsnamen aus einem
Personennamen gebildet sind, augenscheinlich dem Namen des Hun-
dertschaftsvorstehers, unter welchem die Benennung der Hundertschaft
zu dauernder Geltung gelangte 18. Bei den übrigen Stämmen, ins-
besondere bei den Baiern 19, Friesen 20, Sachsen 21, Langobarden 22 und
Westgoten 23, ist ein Hundertschaftsbezirk nicht nachzuweisen.
Weit gröſsere Verbreitung als der Hundertschaftsbezirk hat der
Name des Hundertschaftsvorstehers. Er findet sich als centenarius
oder hunno bei den Franken und Alamannen 24, als hundredes ealdor
oder hundredes man bei den Angelsachsen 25, als Hundertschaftskönig
(herađskonungr) und Hundertschaftshäuptling (hæraþs höfþinge) in
Norwegen und Schweden 26. Ihn kennen aber auch solche Stämme,
welchen die territoriale Hundertschaft fremd blieb, so die Baiern 27
und Westgoten 28 als centenarius, die Langobarden als centinus, cen-
turio, centenarius 29. Der altsächsische Heliand nennt einen Hunno 30.
Bei dieser Sachlage ist es durchaus wahrscheinlich, daſs die Hun-
dertschaft in germanischer Zeit nicht ein geographischer Begriff, son-
dern ein persönlicher Verband war, dem allenthalben ein Hundert-
schaftshäuptling vorstand, und daſs sie erst in der folgenden Periode
bei einigen Stämmen landschaftliche Bedeutung erlangte, während bei
anderen diese Entwicklung nicht eintrat 31.
Die Hundertschaft ist ursprünglich als eine Abteilung von hundert
Heermännern zu denken. Solange sie ihre praktische Bedeutung be-
hielt, konnte eine Lokalisierung, ein Verwachsen der Hundertschaft
mit Grund und Boden nicht eintreten, weil die Einteilung mit Rück-
sicht auf ihre militärischen Zwecke von Zeit zu Zeit erneuert werden
muſste. Man wird dabei nicht genau hundert oder hundertzwanzig
Mann (ein Groſshundert) abgezählt haben, weil es bei der Bildung
der Heeresabteilungen darauf ankam, die Geschlechtsverbände nicht
[119]§ 17. Königtum und Fürstentum.
zu zerreiſsen 32. Da Heer und Volk im germanischen Staate begriff-
lich zusammenfielen, wurde die Gliederung in Hundertschaften auch
während des Friedens beibehalten und als Grundlage für die Regelung
des Gerichtsdienstes verwertet. Wie Tacitus berichtet, standen je
hundert Männer aus dem Volke dem Fürsten bei der Ausübung der
Rechtspflege zur Seite 33. Diese Hundert sind nicht ein Ausschuſs der
sämtlichen Gauleute, nicht die Dingmänner einer räumlich abgegrenzten
Hundertschaft, sondern die Heerverbände, welche der Fürst, wenn er
zum Zweck der Rechtspflege den Gau bereist, der Reihe nach zum
Ding aufbietet. Die Hundertschaft ist nach alledem für die Zeit des
Tacitus als Heer- und Dingverband aufzufassen, dessen Vorsteher viel-
leicht schon damals bei einigen Stämmen Hunno hieſs. Als Ding-
verband bildete die Hundertschaft nicht einen räumlich abgeschlos-
senen Gerichtsbezirk, sondern nur einen persönlichen Verband. Als
persönliche Dingverbände begegnen uns noch im älteren isländischen
Rechte die Godorde, wogegen ihm territoriale Gerichtssprengel fehlen 34.
Nicht politische, sondern nur wirtschaftliche Verbände waren die
Markgenossenschaften, die Dorfschaften und Bauerschaften.
Siehe die Litteratur zu § 16 und v. Sybel, Entstehung des deutschen Königthums,
2. Aufl. 1881. Köpke, Anfänge des Königthums bei den Gothen, 1859. Dahn,
Könige der Germanen, 6 Bde. 1861—1885. Waitz, VG I 236 ff. 294 ff. Munch
S 165. Wittmann, Das altgerm. Königthum, 1854. W. Voſs, Republik und
Königthum im alten Germanien, 1885. Waitz, Über die principes in der Germania
des Tacitus, Forschungen II 387. Phillips, Über Erb- und Wahlrecht mit bes.
Beziehung auf das Königthum der germ. Völker, 1824. H. Schulze, Thronfolge
und Familienrecht der ältesten germ. Königsgeschlechter, in Z f. RG VII 323.
W. Scherer im Anzeiger f. deutsches Alterthum IV 100 und in der Z f. d. österr.
Gymn. 1869 S 89 ff.
Die Schriftsteller des Altertums unterscheiden bei den Germanen
zwischen reges und principes. Das durchschlagende Merkmal des
[120]§ 17. Königtum und Fürstentum.
germanischen rex im römischen Sinne ist die ungeteilte Herrschaft,
die Einherrschaft über die gesamte civitas. Den Völkerschaften mit
Prinzipatsverfassung fehlt im Frieden ein gemeinsames Oberhaupt, die
Führung der civitas steht einer Mehrzahl von principes zu. Diese
grundsätzliche Unterscheidung scheinen aber die Germanen nicht ge-
kannt, vielmehr die Stellung der Herrschenden als eine im wesent-
lichen gleichartige aufgefaſst zu haben, mochten sie nun im römischen
Sinne reges oder principes gewesen sein 1.
Auf die älteste gemeingermanische Bezeichnung des Volks-
herrschers weist uns nach aller Wahrscheinlichkeit das gotische Wort
thiudans hin 2, welches in Ulfilas’ Bibelübersetzung für βασιλεύς ge-
braucht wird 3. Herrscher, Herr ist auch der altsächsische thiodan, der
nordische thjóđann, der angelsächsische theóden. Bei den Baiern 4 und
Franken ist uns deotan, theudan 5 wenigstens als Eigenname über-
liefert. In dem ältesten Volksrechte der salischen Franken begegnet
uns zu den Worten ante regem die Glosse ante theoda, welche auf
einen Nominativ theod, dominus zurückzuführen scheint 6. Das Wort
König, ahd. chuning, angs. cyning, altn. konungr 7, im Gotischen nicht
vertreten, bezeichnete nicht bloſs den Herrscher, sondern auch das
Mitglied des herrschenden Geschlechtes, z. B. den nichtregierenden
Königssohn 8. Litauer und Slawen, die das Wort entlehnten, be-
[121]§ 17. Königtum und Fürstentum.
nannten damit auch den Priester. Nach dem Umfang der Volks-
komplexe, über welche sich die Gewalt des Königs erstreckt, unter-
scheidet das Altnordische den thjóđkonungr, den fylkiskonungr und
den hérađskonungr.
Das dem lateinischen rex wörtlich entsprechende reiks ist weniger
wie thiudans; es wird bei Ulfilas als Übersetzung von ἄϱχων für den
Gewalthaber, die Obrigkeit schlechtweg gebraucht 9. Dagegen ver-
wendet eine schwedische Runeninschrift die Zusammensetzung thiaurikr
(rex populi, dem Personennamen Theoderich, Dietrich entsprechend)
für den Groſskönig, welchem daselbst 20 Häuptlinge als konukar
(Könige) gegenüberstehen 10.
König ist sprachlich verwandt mit ahd. chunni (n.) Künne, gens,
tribus, natio 11, und bedeutet das Haupt des Geschlechts, den primus
in stirpe. Thiudans ist aus thiuda (fem.), Volk gebildet. Ebenso
verhält sich truhtin, der Herr 12, zu truht (fem.), Volk, Schar, und
der nordische Fürstentitel fylkir zu fylki, Volk. Noch näher rücken
bei den Angelsachsen leód (masc.), princeps, und leód 13 (fem.), gens,
populus, an einander 14. So läſst schon die Wortbildung die ursprüng-
liche Einheit ersehen, welche das Volk und den ihm entsprossenen
Herrscher umfaſst, und bringt sie die ursprüngliche Gegensatzlosigkeit
von Volksrecht und Herrscherrecht zu sinnvollem Ausdruck, ohne da-
bei zwischen Einherrschaft und Vielherrschaft zu unterscheiden. Der
sprachlichen Verwandtschaft der Ausdrücke, welche das Volkshaupt
einerseits, das Volk andrerseits bezeichnen, entspricht die Erscheinung,
daſs einzelne Völkerschaften mit dem Namen ihres Königsgeschlechtes
genannt werden 15 und daſs gelegentlich der Name des Volkes als
Eigenname seines Königs erscheint 16.
Die Leitung und Führung der civitas stand ursprünglich allent-
halben bei herrschenden Geschlechtern vornehmster Abkunft, deren
Stammbaum man an die Götter anzuknüpfen pflegte. Hinsichtlich
der reges besteht in dieser Beziehung kein Zweifel. Das Königtum
ist erblich, die Erblichkeit aber eine solche, daſs sie die Wahl des
Volkes nicht ausschlieſst. Das Volk wählt den König aus dem
herrschenden Geschlechte 17. Die Wahl entscheidet unter den ver-
schiedenen Mitgliedern der königlichen Sippe und dient, da eine
feste Erbfolgeordnung fehlt, als Ersatz derselben. Sie erscheint
formell als ein Urtheil des versammelten Volkes, daſs dem Gewählten
die Herrschaft gebühre. War das alte Königsgeschlecht erloschen
oder lag sonst ein Anlaſs vor, die Wahl zu accentuieren, so wurde der
Gewählte auf den Schild erhoben, um dem Volke gezeigt zu werden 18.
Die Völkerschaft konnte sich auch mehrere Abkömmlinge oder Ver-
wandte des verstorbenen Königs zu Führern setzen, sei es damit
diese gemeinschaftlich regierten oder daſs sie sich nach dem Willen des
Volkes räumlich in die Herrschaft teilten. Ein Rechtssatz, daſs die
Wahl, welche das vorhandene Königsgeschlecht überspringt, ungiltig sei,
hat nicht bestanden. Doch nur im Drange der Not ging man davon
ab. Nur wenn die königliche Sippe keinen tauglichen Mann enthielt,
wählte man, ohne sich an die Erblichkeit zu binden 19. Bezüglich
der principes lauten die Nachrichten etwas anders. Von ihnen sagt
Tacitus ausdrücklich, daſs sie durch die Landesgemeinde gewählt
worden seien 20. Allein die Zeugnisse, die uns über die Herkunft von
principes erhalten sind, lassen sie durchgängig als Mitglieder edler
Geschlechter erscheinen 21. Bei den Cheruskern finden wir an der
Spitze der einzelnen Gaue principes, deren gegenseitige Verwandt-
schaft entweder ausdrücklich bezeugt ist oder aus der Ähnlichkeit der
16
[123]§ 17. Königtum und Fürstentum.
Namen erschlossen werden darf. Aber trotz der Mehrheit der prin-
cipes nennt Tacitus 22 das herrschende Geschlecht der Cherusker eine
stirps regia, wie denn auch sonst die Prinzipatsgewalt manchmal als
eine königliche bezeichnet wird 23. Bei der eigentümlichen Verbin-
dung von Erbrecht und Wahlrecht, die ja im Grunde genommen nur
eine vereinzelte Äuſserung der zwischen Herrschertum und Volkstum
bestehenden Einheit ist, war von vornherein die Möglichkeit zur Aus-
bildung von Gegensätzen gegeben, bei welchen die Erblichkeit oder
das Wahlrecht das Übergewicht erlangen konnte. Zur Zeit des
Tacitus muſs bei der Erhebung der principes das Wahlmoment kräf-
tiger hervorgetreten sein. Mehr als bei der Königswahl nahm man
Rücksicht auf die persönliche Tüchtigkeit, weniger auf den Adel der
Geburt 24. Doch läſst sich darauf ein durchgreifender Gegensatz
zwischen Königtum und Fürstentum nicht aufbauen. Am aller-
wenigsten geht es an, deshalb die altgermanischen Verfassungs-
zustände in eine schematische Einteilung hineinzuzwängen und die
einzelnen civitates grundsätzlich in Monarchien und Republiken oder
Freistaaten einzuteilen.
Die verfassungsmäſsige Gewalt des rex und des princeps unter-
scheiden sich weniger durch ihren Inhalt als durch ihren Umfang.
König und Fürst sind Heerführer, der König für das ganze Volk, der
Fürst für die Gauleute. Könige und Fürsten umgeben sich mit
kriegerischen Gefolgsleuten und empfangen von den Volksgenossen
Ehrengeschenke, die ihnen freiwillig aber herkömmlich dargebracht
werden. Der princeps hat die Stellung des Richters im Gau, der
König vermutlich in der Landesgemeinde. Da aber der Gerichts-
bann, welcher der richterlichen Gewalt zu Grunde lag, in heid-
nischer Zeit sakrale Bedeutung hatte, so war damit notwendig zu-
gleich ein priesterlicher Charakter des Herrschertums gegeben. Auch
hinsichtlich der Friedensbewahrung läſst sich ein durchgreifender
Unterschied für die Urzeit nicht aufstellen. Denn in den Staaten
mit Königtum ist der allgemeine Friede mit nichten Königsfriede,
sondern ebenso wie anderwärts Volksfriede, ein Friede, der nicht auf
dem Gebote des Königs, sondern auf dem Willen des Volkes be-
ruht. Den Beweis liefert die Rechtsgeschichte der nordgermanischen
[124]§ 17. Königtum und Fürstentum.
Königreiche, in welchen trotz uralten Königtums neben dem Volks-
frieden ein besonderer Königsfriede in historischer Zeit nur langsam
Boden gewann 25. Von den Königen und von Fürsten wird uns
ferner in gleicher Weise berichtet, daſs sie sich durch eine eigen-
tümliche Haartracht auszeichneten. Bei den principes der suebischen
Völkerschaften hebt Tacitus den besonderen Haarschmuck hervor 26.
Wallendes Haupthaar ist ein Merkmal der fränkischen Könige aus
dem Hause der Merowinger. Auch die westgotischen und burgundi-
schen Könige scheinen es getragen zu haben 27. Aus der Haartracht
erklärt man den Namen des vandalischen Königsgeschlechtes, der
Astingen 28. Auf dieselbe Wurzel führt das Wort hartpuri, hard-
buri zurück, welches im altsächsischen Heliand für Obrigkeit ge-
braucht, in althochdeutschen Glossen mit magistratus wiedergegeben
wird 29. Wie die Gewalt der Fürsten ist auch die des Königs eine
beschränkte. Ihre Schranke bildet der Wille des in der Landes-
gemeinde versammelten Volkes. Allgemein darf für die Germanen
angenommen werden, was später von den Schweden berichtet wird:
reges habent, quorum tamen vis pendet in populi sententia 30. Trotz-
dem konnte eine kraftvolle Persönlichkeit, die den Willen des Volkes
zu lenken verstand, sich als Herrscher zur Geltung bringen und wenn
der Erfolg ihr treu blieb, die gewonnene Machtfülle auf die Dauer
behaupten. Andererseits sind aber in der Geschichte des germani-
schen Königtums die Fälle nicht selten, in welchen ein König, der
dem Willen des Volkes zuwiderhandelte, abgesetzt, verjagt oder er-
schlagen wurde 31. Die Burgunder pflegten ihre Könige abzusetzen,
wenn Kriegsunglück oder Miſswachs eintraten. Von Sachsen und
Schweden geht die Sage, daſs erstere ihre Fürsten wegen Kriegs-
unglück, letztere ihre Könige bei Hungersnot den Göttern opferten 32.
Mit Rücksicht auf den gleichartigen Inhalt der Königs- und
[125]§ 17. Königtum und Fürstentum.
Fürstengewalt darf der germanische rex als princeps civitatis, der
germanische princeps als Kleinkönig oder Gaukönig aufgefaſst werden.
Allein die Thatsache, daſs der König über die ganze Völkerschaft,
der Fürst nur über einen Teil derselben herrscht, hat eine Reihe von
wichtigen rechtlichen Konsequenzen, durch welche die Verfassung der
civitas ein eigenartiges Gepräge erhält, jenachdem seit längerer Zeit
ein König oder eine Mehrzahl von principes an ihrer Spitze steht.
In letzterem Falle machte sich aus gewissen Anlässen das Bedürfnis
nach einheitlicher Leitung geltend und führte zur Ausbildung der
Institutionen des Volksherzogtums und des Volkspriestertums. Wäh-
rend der König als solcher Heerführer ist, wurde in den Staaten,
welchen im Frieden ein gemeinsames Oberhaupt fehlte, für den
Kriegsfall (wohl meistens aus der Reihe der principes) ein Herzog
gewählt, dessen Stellung bei Erörterung des Heerwesens besprochen
werden soll. Während in den Staaten mit Königtum der König als
Oberpriester des Volkes waltete, entstand neben der Vielherrschaft
der principes die Würde eines besonderen Oberpriesters, der gewisser-
maſsen als ein rex sacrificulus die im Namen der ganzen Völkerschaft
erforderlichen religiösen Handlungen vorzunehmen hatte 33.
Cäsar hebt es als eine Eigentümlichkeit der Germanen hervor,
daſs sie ein besonderes Priestertum nach Art der gallischen Druiden
nicht besitzen. Wahrscheinlich waren Priestertum 34 und Regierungs-
gewalt damals noch ungeschieden. Dagegen kennt Tacitus sowohl
neben den Fürsten wie neben den Königen berufsmäſsige Priester,
welche die nationalen Heiligtümer behüten, in der Landesgemeinde
den Dingfrieden verkündigen und im Heere als Organe der Strafjustiz
fungieren. Unter den Priestern sind häufig wohl nur Hilfsbeamte der
Regierungsgewalt zu verstehen. Solche priesterliche Gehilfen waren
die skandinavischen Goden, ehe sie auf Island eine selbständige und
zugleich eine politische Stellung erlangten 35. Dagegen erscheint das
[126]§ 17. Königtum und Fürstentum.
Amt des Priesters, der weder Herrscher noch Hilfsorgan eines Herr-
schers ist, als eine aus dem Bedürfnis nach einem Vertreter der sa-
kralen Einheit hervorgegangene Ergänzung der politischen Vielherr-
schaft 36. Wenn innerhalb derselben civitas die Vielherrschaft im
Wechsel der Ereignisse durch die Einherrschaft ersetzt wurde,
mochte wohl auch der Oberpriester neben dem rex seine alten
Funktionen für die gesamte Völkerschaft beibehalten. Doch ist es
zu einer dauernden Abspaltung der sakralen Gewalt vom Königtum
schwerlich gekommen. Bei den Nordgermanen gehört es zu den
wesentlichen Funktionen des Königs, daſs er für das Volk den
Göttern Opfer darbringt 37. So vertrieben die Schweden einen christ-
lichen König und wählten einen anderen, damit er für sie das Opfer
verrichte. Wo Priestertum und Regierungsgewalt zeitweise aus-
einanderfielen, finden sie sich schlieſslich wieder zusammen. Auf
Island, wo anfänglich jedes weltliche Regiment fehlte, wurden die
Tempelinhaber, die Goden, die Träger der neuen Staatsgewalt. Bei
den Vandalen scheint das Königsgeschlecht der Astingen aus dem
uralten Priestergeschlecht der Naharvalen hervorgegangen zu sein 38.
Wenn bei den Westgermanen, wie wir aus Tacitus schlieſsen müssen,
das berufsmäſsige Priestertum sich selbständiger gestaltete und weiter
um sich griff, so fehlt es doch auch bei ihnen, namentlich bei den
Friesen, nicht an Spuren sakraler Funktionen des Königtums 39.
Verschieden gestaltet sich die Stellung der Völkerschaftsversamm-
lung, jenachdem sie einem oder mehreren Inhabern der Regierungs-
gewalt gegenübersteht. Der König hat einen Anteil an den Buſsen,
welche in der Völkerschaftsversammlung ausgesprochen werden, er
empfängt nämlich das später sogenannte Friedensgeld, während es in
den Staaten mit Vielherrschaft ungeteilt an das Volk fällt 40. Ähnlich
[127]§ 17. Königtum und Fürstentum.
wie das Friedensgeld scheint das der Staatsgewalt verfallene Ver-
mögen des Missethäters behandelt worden zu sein, welcher in der
Versammlung der Völkerschaft friedlos gelegt worden war. In den
Staaten mit Vielherrschaft bilden die principes eine Art von Völker-
schaftsrat, indem sie minder wichtige Angelegenheiten der civitas
gemeinsam erledigen, diejenigen, die in der Volksgemeinde entschie-
den werden sollen, vorher gemeinschaftlich beraten.
Unter dem König, der über die ganze civitas herrscht, stehen die
Fürsten als Unterkönige an der Spitze der einzelnen Gaue. Wie sie
bezeichnet wurden, muſs dahingestellt bleiben. Öffentliche Angelegen-
heiten mag der König mit den Gauvorständen beraten haben, nament-
lich solche, die vor die Landesgemeinde gebracht werden sollten.
Cäsar weiſs noch nichts von einem germanischen rex im römischen
Sinne des Wortes. Zur Zeit, da Tacitus schrieb, ist der rex vor-
nehmlich bei den östlichen Völkerschaften vertreten. Die Ostgermanen,
die Markomannen und Quaden, die Hermunduren haben reges. All-
mählich dringt aber die Einherrschaft auch bei den westlichen Völker-
schaften vor, so bei den Cheruskern und bei den Brukterern 41. Als
dann aus der Verbindung mehrerer Völkerschaften die deutschen
Stämme erwuchsen, machte sich durch die Ausbildung des Stammes-
königtums eine ähnliche Entwicklung geltend. Zunächst behielten die
einzelnen Völkerschaften und die einzelnen Gaue ihre angestammten
Königs- und Fürstengeschlechter. Alamannen und salische Franken
haben nachweislich zuerst unter einer Mehrzahl von Königen gestan-
den, vermutlich auch die Baiern, deren Adelsgeschlechter als deposse-
dierte Königsgeschlechter betrachtet werden dürfen. Schlieſslich haben
sich mit Ausnahme der Altsachsen die einzelnen Stämme zur Einheit
des Herrschergeschlechtes durchgerungen. Alamannen, Salfranken,
Ribuarier und Thüringer besitzen zu Ende des fünften, zu Anfang des
sechsten Jahrhunderts ein einheitliches Stammeskönigtum. Ein Jahr-
hundert später läſst es sich bei den Friesen nachweisen. Die Lango-
barden standen nach ihrer Stammsage zuerst unter mehreren duces
und haben sich dann einen König gesetzt. In England wuchsen die
kleinen Königreiche der germanischen Einwanderer allmählich zur
staatsrechtlichen Einheit der angelsächsischen Monarchie zusammen.
40
[128]§ 18. Die Landesgemeinde.
Dagegen hat sich bei den Sachsen des Festlandes das Gaufürstentum
der Urzeit erhalten. Die satrapae, welche der Angelsachse Beda als
Häuptlinge der Altsachsen nennt 42, sind staatsrechtlich identisch mit
den principes, die uns Tacitus schildert. Bei manchen Stämmen
ist das Völkerschaftskönigtum durch das Stammeskönigtum beseitigt
worden. So bei den Salfranken. Bei anderen hat sich das Gau-
fürstentum oder das Völkerschaftskönigtum als Unterkönigtum er-
halten. Diesen Charakter haben die reguli und ealdormen der
Angelsachsen, die duces der Langobarden. Auch die Jarle und Earle
der Nordgermanen und Angelsachsen sind füglich als mediatisierte
Häuptlinge zu erklären. Bei der Entwicklung des Groſskönigtums
konnte es geschehen, daſs nicht alle Funktionen des Kleinkönigtums
auf den Groſskönig übergingen. Immer hat er die Heerführerschaft,
welche den Schwerpunkt seiner Stellung bildete, regelmäſsig das
Oberpriestertum, nicht immer aber eine oberste Gerichtsbarkeit, die
sich dann erst allmählich und auf neuen Grundlagen ausbilden muſs.
S. die Litteratur zu § 16 und 17. Sohm, Reichs- und Gerichtsverfassung I 3 ff.
Waitz, VG I 338 ff. Zimmermann, Die Volksversamml. der alten Deutschen,
bei Brandes, Ber. üb. d. germ. Ges. II, 1863, S 29 ff. Sorber, Comment. de comitiis
veterum Germanorum, 1745. 1749. Schröder, Gairethinx, Z 2 f. RG VII 53.
Die Entscheidung der öffentlichen Angelegenheiten beruhte allent-
halben auf der Versammlung der freien und wehrhaften Volksgenossen.
Tacitus schildert sie uns als concilium und zwar faſst er zunächst das
concilium civitatis, die Völkerschaftsversammlung ins Auge, die im fol-
genden als Landesgemeinde bezeichnet werden mag. Doch passen die
meisten Züge, über die er berichtet, auch auf andere germanische Ver-
sammlungen, und solche hat es verschiedenartige gegeben. Neben
dem concilium civitatis dürfen auch Versammlungen der Gaue voraus-
gesetzt werden. Zu gemeinsamen Opfern vereinigten sich die religiösen
Verbände der Völkerschaftsgruppen. Zur Ausübung der Rechtspflege
traten die Hundertschaften zusammen.
Die öffentliche Versammlung bezeichnet das germanische Wort
Thing, althd. dinc, kidinc, neuhd. Ding, Gedinge, got. nicht nach-
weisbar 1. Daneben finden wir bei den Franken mallus 2, bei den Angel-
[129]§ 18. Die Landesgemeinde.
sachsen međel 3 und gemôt 4, bei den Sachsen und Friesen warf oder
werf 5, ein Ausdruck, der vermutlich auch den Langobarden und den
Baiern geläufig war 6. Den engeren Begriff Volksversammlung liefern
Zusammensetzungen wie thiodothing 7, thiotmalli 8, liodthing oder Lot-
ting, liodwarf 9. Die Landesgemeinde tritt zu bestimmten Zeiten, ge-
wöhnlich bei Neumond oder Vollmond zusammen. Man tagt im
Freien, auf einer den Göttern geweihten Stätte, denn die Landes-
gemeinde ist zugleich Opferversammlung. Die Volksgenossen sind ver-
pflichtet zu erscheinen 10 und zwar bewaffnet zu erscheinen, denn die
Landesgemeinde ist zugleich Heeresversammlung und dient zur Heer-
schau. Sie entscheidet über Krieg und Frieden. In ihr werden die
Jünglinge wehrhaft gemacht und in das Heer aufgenommen. In ihr
finden wohl auch die Freilassungen statt, durch welche der Frei-
zulassende zum vollberechtigten Volksgenossen erhoben werden sollte.
Die Landesgemeinde ist Wahlversammlung, sie vollzieht die Wahl und
Anerkennung des Königs, sie kürt die Gaufürsten und bestellt den
Herzog, wenn ein Krieg unternommen werden soll. Die Landes-
gemeinde fungiert als Gerichtsversammlung. Vermutlich konnte sie
jede Rechtssache mit Umgehung der Hundertschaft an sich ziehen.
2
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 9
[130]§ 18. Die Landesgemeinde.
Es muſs aber auch Rechtssachen gegeben haben, die ihr vorbehalten
waren, da gewiſs nur durch sie die Friedlosigkeit für das ganze Ge-
biet der civitas verhängt werden konnte. Sie scheint auch ausschlieſs-
lich über Verbrechen entschieden zu haben, durch die man sich das
ganze Volk und seine Götter zum Feinde machte, insbesondere über
Verbrechen politisch-militärischer Natur, wie Landesverrat, Übergang
zum Feinde und Feigheit.
Die Eröffnung der Versammlung ist ein religiöser Akt 11. Sie
erfolgt durch ein Friedensgebot, welches nach Tacitus die Priester
verkünden, denen es zugleich obliegt, die Verletzung des Friedens
zu ahnden 12. Wer den Vorsitz und die Leitung der Landesgemeinde
hatte, wird uns nicht berichtet. In Staaten mit Königtum war es wohl
der König. Was die Völkerschaften mit Vielherrschaft betrifft, so
mag es dahin gestellt bleiben, ob etwa der Völkerschaftspriester das
concilium leitete oder, was wahrscheinlicher ist, der princeps des
Gaus, in welchem es tagte. Der König oder einer der Fürsten tragen
die Angelegenheiten vor, über welche die Versammlung von Staats
wegen Beschluſs fassen soll. Doch ist das Recht der Rede nicht auf
jene beschränkt 13. Über die vor die Landesgemeinde gebrachten An-
träge entscheidet das versammelte Volk mit gesamtem Munde, indem
es seine Miſsbilligung durch Murren, sein Vollwort, seine Zustimmung
durch Waffenschlag zu erkennen giebt. Die von Tacitus mehrfach
berichtete Sitte des Waffenschlags wird durch übereinstimmende jüngere
Nachrichten als eine gemeingermanische in helleres Licht gesetzt 14.
Nach ihnen erscheint das Rühren der Speere, bei den Franken auch
das Zusammenschlagen der Schilde 15 als eine besonders feierliche Form,
[131]§ 18. Die Landesgemeinde.
in welcher die Volksversammlung Beschlüsse faſst, gefaſste Beschlüsse
bestätigt oder eine bindende Zusage erteilt. In Norwegen wurde diese
Handlung technisch als vápnatak (armorum tactus) bezeichnet. Nord-
leute und Dänen haben sie u. a. bei der Gesetzgebung und bei An-
nahme eines neuen Königs zur Anwendung gebracht. Bei den Lango-
barden hieſs die rechtsförmliche Zustimmung und Zusage, welche von
der Versammlung mittels Speerschlags abgegeben wurde, gairethinx.
Per gairethinx nahm das langobardische Volk 643 das von seinem
König Rothari erlassene Edikt als sein Volksrecht an 16. Das Wort
stammt von gair, Ger, Wurfspeer, und von things, in dieser Zusammen-
setzung soviel wie Anerkennung oder Zusage 17. Von der Anwendung
des vápnatak vor Gericht wird noch bei Darstellung der Gerichts-
verfassung die Rede sein.
Die Landesgemeinde ist der eigentliche Lebensnerv der germa-
nischen Verfassung. In ihr beruht der Schwerpunkt der politischen
Selbständigkeit der Völkerschaft und findet die Einheit der civitas ihren
charakteristischen Ausdruck. Wo sie fehlt liegt entweder ein bundes-
staatliches Verhältnis oder bei Gemeinsamkeit des Königsgeschlechtes
eine Art von Realunion mehrerer civitates vor. Erhöhte Bedeutung
muſste sie in den Staaten mit Vielherrschaft erlangen, da in ihr und
durch sie die unter den principes vorhandenen Gegensätze zur ver-
fassungsmäſsigen Ausgleichung kamen. Schwer wird es empfunden
und als etwas Auſsergewöhnliches hervorgehoben, wenn einem be-
siegten Volke die Versammlungsfreiheit verkümmert wird. In ihren
Beschwerden über den römischen Druck hoben die Tenkterer zur Zeit
des batavischen Krieges besonders hervor, daſs ihre Versammlungen
verhindert wurden, daſs die Römer ihnen nur gestatteten unbewaffnet,
unter Aufsicht und mit erkaufter Erlaubnis zusammenzukommen 18.
Den Markomannen legten die Römer in einem Friedensschlusse auf,
daſs sie nur in Gegenwart eines römischen Centurio, nur einmal im
Monat und nur an bestimmtem Orte sich versammeln durften 19. Zu
den Gewaltmaſsregeln, durch welche nachmals Karl der Groſse die
15
9*
[132]§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.
unterworfenen Sachsen im Zaume hielt, gehörte das Verbot allge-
meiner öffentlicher Versammlungen 20.
Aus der Bedeutung der Landesgemeinde erklärt sich das ver-
hältnismäſsig lockere Gefüge der germanischen Verfassung, erklärt sich
die Leichtigkeit, mit der sich die Teilung von civitates, die Bildung
neuer Gesamtstaaten vollzog. Hatten mehrere Staaten ein Bündnis
abgeschlossen, so war bei längerer Dauer des Bundes das Bedürfnis
einer gemeinsamen Heeresversammlung und mit ihr das Organ des
aus dem Bunde herauswachsenden Staates gegeben. Wuchs die Volks-
zahl an, dehnte die Völkerschaft ihr Gebiet aus, so wurde es bei vor-
geschrittener Seſshaftigkeit allzuschwierig oder unmöglich, eine einzige
Landesversammlung regelmäſsig zu besuchen und fiel die civitas in
mehrere Teilstaaten auseinander.
Im Gegensatz zu den Kulturstaaten des Altertums, die auf
städtischer Grundlage erwachsen, von einer Stadt aus, als ihrem
Mittelpunkte, verwaltet wurden, erscheinen die germanischen civitates
recht eigentlich als Volksstaaten, die nicht von einem örtlichen Zentrum
aus zusammengehalten werden. Das Bewuſstsein gemeinsamer Ab-
stammung und gemeinsamen Volkstums blieb in ihnen so lebendig,
daſs die Völkerschaft sich gewissermaſsen als ein erweitertes Geschlecht,
die Volksgenossen sich als Landmagen gelten durften. Bei den gal-
lischen Kelten ist die der germanischen verwandte Volksverfassung
durch das städtische Verwaltungsprinzip des römischen Reiches zer-
setzt und zerstört worden. Dagegen schlug die politische Entwicklung
der germanischen Völker Bahnen ein, auf welchen sie vor einem ähn-
lichen Schicksale bewahrt worden sind.
v. Peucker, Das deutsche Kriegswesen der Urzeiten, 3 Teile 1860—1864.
F. W. Barthold, Geschichte der Kriegsverfassung und des Kriegswesens der
Deutschen, 2 Teile 1855. Velschow, De Danorum institutis militaribus, 1831.
Arnold, Deutsche Urzeit S 251 ff. — Eichhorn, RG I 72 ff. Waitz, VG
I 371 ff. Schmid, Gesetze der Angels. S 599. Konrad Maurer, KrÜ II 388 ff.
Gierke, RG der deutschen Genossenschaft I 93. Brockhaus, De comitatu
Germaniae, 1863. Sohm, Deutsche Reichs- u. Gerichtsverf. S 553. W. Scherer,
Über Heynes Beóvulf, in der Z f. d. österr. Gymnas. 1869 S 100 f. Kemble, Saxons
I 162. Deloche, La Trustis et l’antrustion royal, 1873.
Der germanische Staat beruhte auf dem Grundsatz der gleichen
Pflichten und Rechte aller freien und wehrhaften Volksgenossen. Die
[133]§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.
Bedürfnisse des Gemeinwesens muſsten durch die persönlichen Leistungen
der Volksleute gedeckt werden, jeder einzelne unmittelbar leisten, was
der Staat brauchte. Der Aufgabe des Staates, Volk und Land gegen
äuſsere Feinde zu schützen, entsprach die allgemeine Heerpflicht.
Das Heer ist das Volk in Waffen. Der Heerdienst ist zugleich ein
Recht; nur der waffenfähige Freie ist Heergenosse. Liten und
Eigenleute mag der Herr als Troſsknechte mit ins Feld führen;
einen Teil des Heeres bilden sie darum nicht. Es erscheint als eine
durch ungewöhnliche Notlage gebotene Ausnahme, daſs die Lango-
barden gelegentlich, um die gelichteten Reihen ihres Heeres zu er-
gänzen, Knechte in das Heer aufnahmen, nachdem sie dieselben vorher
durch Wehrhaftmachung freigelassen hatten 1.
Heer- und Kriegswesen bilden den eigentlichen Brennpunkt für
das öffentliche Leben der Germanen. Religion, Verfassung und
Recht der Germanen sind in wesentlich kriegerischem Geist gestaltet.
Ruhmvoller Tod in der Schlacht gilt nach den religiösen Anschauungen
des Volkes, das sich seine Götter als Kriegsgötter schuf, für das
höchste der auf Erden zu erstrebenden Ziele des Mannes. Die
politische Gliederung des Volkes ist ein Abbild der Gliederung des
Heeres. Die Obrigkeiten des Volkes sind seine Heerführer. Die
Landesversammlung ist Heerversammlung und Ort der Wehrhaft-
machung. Die Waffenfähigkeit ist von einschneidender Bedeutung
für die Rechtsfähigkeit. Fehde und Zweikampf erscheinen als Institute
des Rechtsganges.
Uralt, vermutlich auf arischer Sitte erwachsen ist die Einteilung
des Heeres in Tausendschaften und Hundertschaften. Bei den Sueben
scheint sich zur Zeit Cäsars die Gliederung des Heeres mit der Gau-
einteilung gedeckt zu haben 2. Nachmals finden wir die militärische
Tausendschaft nur bei den ostgermanischen Wanderstämmen. West-
goten, Ostgoten, Vandalen kennen das Amt eines Vorstehers der
Tausendschaft, millenarius, im Westgotenrechte tiuphadus genannt 3.
Bei den Westgermanen hat dagegen die Tausendschaft keinerlei
sichere Spuren hinterlassen. Der in der Urzeit vermutlich vor-
handene Zusammenhang zwischen Gau und Tausendschaft entschwand,
als die innerhalb der Gaugrenzen seſshaft bleibende Bevölkerung sich
vermehrt hatte, wogegen die Hundertschaft, wie oben bemerkt worden,
erst in der Zeit nach der sogenannten Völkerwanderung sich bei
[134]§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.
einzelnen Stämmen aus einem persönlichen in einen territorialen
Verband umgewandelt hat. An Stelle der Tausendschaft trat, nach-
dem diese zum Gau geworden, als entsprechender Heerkörper das von
seinem princeps geführte und nach Hunderten gegliederte Gauvolk.
Als Schlachtordnung war den Germanen die keilförmige Auf-
stellung eigentümlich 4. Kämpften mehrere Völkerschaften neben
einander, so bildete jede von ihnen einen besonderen Keil, der somit
die taktische Einheit der civitas darstellte 5. Die einzelnen Keile
hatten ihre eigenen Feldzeichen, als welche vorzugsweise Tierbilder
dienten, die während des Friedens in heiligen Hainen aufbewahrt
wurden 6. Alamannische Glossen überliefern uns für tribus 7 das uralte
Wort chumbirra. Verwandt mit ahd. cumbal, ags. cumbor, Feldzeichen,
bedeutet es eigentlich (etwa dem späteren Heerschild entsprechend)
die dem Feldzeichen folgende Heeresabteilung, die als tribus ge-
dacht ist 8.
Innerhalb der einzelnen Heeresabteilungen wurde die Ordnung
durch die Bande der Verwandtschaft, wie schon oben ausgeführt
worden ist, in der Weise bestimmt, daſs die Verwandten neben
einander kämpften 9.
Die Kraft der germanischen Heere lag nach dem Urteil des
Tacitus hauptsächlich im Fuſsvolk. Besonders wird es als die starke
Seite der chattischen Truppen hervorgehoben 10. Doch sind einzelne
Völkerschaften, so die Tenkterer, durch ihre Reiterei berühmt. Die
Bataver gelten für die besten Reiter im römischen Heere. Allent-
halben haben wir uns nach der Darstellung des Tacitus die principes
[135]§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.
und ihre Gefolgsgenossen beritten zu denken. Als eine Besonder-
heit des germanischen Kriegswesens erschien den Römern die An-
wendung einer auserlesenen Sondertruppe, welche als Vorhut des
Keiles kämpfte und durch die Verbindung von leicht bewaffnetem
Fuſsvolk und Reitern in der Weise hergestellt wurde, daſs jedem
Reiter ein behender und gewandter Fuſsgänger beigegeben wurde.
Solcher Krieger wählte man je hundert aus der Jugend jedes Gaues
aus. Die Zahl habe ihnen auch den Namen gegeben, der zugleich
ein Ehrenname war 11.
Im dritten Jahrhundert, sofort bei ihrem ersten Auftreten werden
die Alamannen (und Juthungen) als vorzügliche Reiter geschildert.
Gegen Ende des vierten Jahrhunderts ist die gotische Reiterei be-
sonders gefürchtet. Die Vandalen haben die Ebenen Pannoniens als
ein Reitervolk verlassen. Dagegen zeigt sich bei den westgermanischen
Völkerschaften ein auffallender Rückgang in der Anwendung der Ka-
vallerie. Im sechsten Jahrhundert gebricht es den fränkisch -alaman-
nischen Heeren an nennenswerter Reiterei 12, eine Entwicklung, die
sich wohl zum Teil aus dem Übergang zu intensiverem Ackerbau er-
klärt, der das Pferd vor den Pflug spannte und damit unbrauchbar
machte für die Ausrüstung einer marschfähigen Kavallerie, während
andrerseits auch die Abschaffung der heidnischen Pferdeopfer und das
kirchliche Verbot des Genusses von Pferdefleisch ungünstig einwirken
mochte auf den militärisch verwendbaren Pferdebestand.
Bei den Völkerschaften, die unter mehreren Fürsten stehen, wird
von der Landesgemeinde im Kriegsfalle aus der Reihe der Fürsten
ein dux, ahd. herizoho, alts. heritogo, gewählt. Dem Wahlakte folgte
die Schilderhebung. Noch Beda († 735) berichtet uns von den Alt-
sachsen, daſs die Fürsten einen aus ihrer Mitte durch das Los zum
Herzog bestimmen, dessen Würde nach Beendigung des Krieges er-
lischt 13.
Nach Cäsar hatten die für den Krieg gewählten Führer das
Recht über Leben und Tod 14. Dagegen schreibt Tacitus die Straf-
gewalt im Heere den Priestern zu, welche die Strafen, Tötung,
Fesselung, Schläge, gleichsam auf Geheiſs der Götter verhängten 15,
[136]§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.
ein Widerspruch, dessen Erklärung auf erhebliche Schwierigkeiten
stöſst. Nicht unwahrscheinlich ist es, daſs schon zu Cäsars Zeit die
Strafen im Heere unter religiösem Gesichtspunkt vollstreckt wurden
und zur Zeit des Tacitus die Eifersucht der principes eine Be-
schränkung der Herzogsgewalt insofern herbeiführte, als die Priester
nicht mehr als bloſse Vollzugsorgane derselben fungierten. Für die
praktische Bedeutung der sakralen Strafrechtspflege im Heere läſst
sich übrigens mit einiger Berechtigung ein Gesichtspunkt verwerten,
welchen uns Volksrechte und Kapitularien an die Hand geben. In
fränkischer Zeit sieht sich nämlich die Gesetzgebung veranlaſst, aus-
drücklich zu verbieten, daſs Rache oder Fehde geübt werde oder ein
Wergeldanspruch erhoben werde gegen denjenigen, der auf Geheiſs
des Königs oder des Herzogs eine Todesstrafe vollstreckt habe 16.
Die Volksanschauung, gegen welche diese Satzungen ankämpfen, in
die germanische Zeit hineinzutragen, unterliegt keinem Bedenken.
Ihr trug man Rechnung, indem man die Strafe im Namen der Götter
durch Priesterhand vollziehen lieſs, um auf diese Weise die Rache
des Bestraften beziehungsweise seiner Sippe auszuschlieſsen.
Spielen der Krieg und alles, was ihn angeht, die hervorragendste
Rolle in der Lebensführung jedes freien Germanen, so giebt es doch
eine Rechtsinstitution, welche für eine gesteigerte militärische Thätig-
keit berechnet war und als die germanische Pflanzschule kriegerischen
Heldentums und staatsmännischer Tüchtigkeit betrachtet werden darf.
Es ist die Gefolgschaft, ein den Germanen charakteristisches Dienst-
15
[137]§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.
und Treuverhältnis, welches unter den Einrichtungen ihres öffentlichen
Lebens in Lied und Sage die farbigsten und dauerndsten Spuren
zurückgelassen hat.
Die allgemeine Kriegspflicht, wie sie die civitas von allen freien
und wehrhaften Volksgenossen in Anspruch nahm, vermochte dem
kriegerischen Drange der germanischen Jugend nicht zu genügen.
Schon in der Zeit Cäsars ergab sich das Bedürfnis, die überschäumende
militärische Kraft des Volkes durch freiwillig unternommene Heer-
fahrten in die Fremde abzulenken. Einer der Fürsten erbietet sich
in der Landesversammlung als Führer für ein kriegerisches Unter-
nehmen und fordert die thatenlustigsten Männer zu freiwilligem An-
schlusse auf. Die Teilnahme an der Heerfahrt wird in der öffentlichen
Versammlung versprochen; die Menge giebt die Billigung des gefaſsten
Entschlusses kund, woraus auf ein Widerspruchsrecht der Landes-
gemeinde geschlossen werden darf. Wer trotz des gegebenen Wortes
die Heerfahrt versitzt, gilt gleich einem Verräter und Überläufer für
ehrlos. Das Verhältnis, welches zwischen dem Führer und den
geworbenen Gefährten entsteht, ist nur ein vorübergehendes, es schafft
zwischen ihnen keine dauernde persönliche Verbindung. Mit dem
Ende der Unternehmung ist das freie Vertragsverhältnis gelöst 17. Ob
man es als Gefolgschaft bezeichnen darf, ist ein Wortstreit. Nennt
man es so, dann muſs man sich vor Augen halten, daſs es eine
Gefolgschaft ohne Hausgenossenschaft zwischen Führer und Ge-
fährten ist.
Einen andern Charakter hat das Gefolgswesen, comitatus, welchem
Tacitus in der Germania eine lebensvolle Darstellung widmet. Sie
wird bestätigt und ergänzt durch jüngere Quellen, namentlich durch
die Denkmäler germanischer Poesie, unter welchen das aus nordischen
Sagen entstandene angelsächsische Heldengedicht „Beóvulf“ eine
Hauptquelle für das richtige Verständnis des Gefolgswesens ist 18.
Das Merkmal der Gefolgschaft bildet die Aufnahme des Gefolgs-
mannes in die Hausgenossenschaft des Gefolgsherrn. Die Gefolgsleute
speisen und zechen und schlafen in der Halle ihres Herrn. Die Frau
des Gefolgsherrn soll wohl auch dafür sorgen, daſs ihnen die zer-
[138]§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.
rissenen Gewänder geflickt werden 19. Ein freier Mann kann in die
Hausgenossenschaft eines anderen Freien aus verschiedenen Gründen
eintreten. Später kommt es vor, daſs Freie, um den Lebensunterhalt
oder eine bessere Lebensführung oder um ausreichenden Schutz zu
gewinnen, mit Beibehaltung ihrer Freiheit Hausdiener eines anderen
werden. Begrifflich ist auch die freie Hausdienerschaft eine Spielart
der Gefolgschaft, wie denn auch die Terminologie der Rechtsquellen
sie in dieselbe einbegreift. Allein für das Gesellschafts- und Ver-
fassungsleben der germanischen Zeit fiel sie jedenfalls nicht ins Ge-
wicht, da bei den damaligen agrarischen Zuständen und bei der noch
ungeschwächten Bedeutung der Geschlechtsverbände kaum ein Be-
dürfnis vorhanden war, einen Gefolgsdienst jener Art zu suchen. Sehr
beliebt war dagegen der Eintritt in militärisch organisierte Gefolg-
schaften, welche eine höhere kriegerische Ausbildung und eine inten-
sivere kriegerische Beschäftigung gewährten, als sie der Dienst im
Volksheere der kampflustigen Jugend zu bieten vermochte. Diese
Gefolgschaften militärischer Natur sind es, welche die Germania des
Tacitus schildert und welche das germanische Heldenlied verklärt.
Nur Könige und Fürsten sind in der Lage, ein nennenswertes Gefolge
dieser Art zu halten. Das war ein thatsächlicher Vorzug ihrer
Stellung 20, weil nur der Dienst am Hofe, der die Gefolgsgenossen
emporhob über die Sphäre des alltäglichen Lebens, der ihnen Kriegs-
ruhm, Ehren und Freuden in Aussicht stellte, jene Anziehungskraft
ausüben konnte, deren es bedurfte, um die beste Jugend des Volkes
zum Eintritt in ein Dienstverhältnis zu veranlassen. Denn haupt-
sächlich die Jugend und zwar die adelige Jugend drängte sich in den
Gefolgsdienst. Der Jüngling kann schon anläſslich der Wehrhaft-
machung, wie sie in der Landesgemeinde stattfindet, in die Gefolg-
schaft aufgenommen werden. Dann ist es der princeps, der ihn
durch Überreichung von Waffen wehrhaft macht. Hochedle Geburt
und hervorragende Verdienste des Vaters machen junge Leute bereits
[139]§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.
in zarterem Alter der Aufnahme in ein Gefolge teilhaftig21. Für sie
ist die Zeit der Gefolgschaft zunächst Lehrzeit, nicht Dienstzeit, das
Haus des Gefolgsherrn zunächst Kadettenhaus. Das Verhältnis zwischen
dem Gefolgsherrn und den Gefolgsleuten fuſst auf wechselseitiger
Treue. In selbstloser Hingabe an Heil und Ruhm des Herrn gipfeln
die Pflichten der Gefolgsleute. Sie schwören einen Eid, worin sie
versprechen, den Herrn zu schützen und zu verteidigen22. Im Frieden
bilden sie die Leibwache des Herrn, werden zu häuslichen Diensten
verwendet, die sich mit der Ehre des freien Mannes vertragen;
einzelne wurden wohl schon damals mit einem bestimmten Hausamte
betraut. Im Kriege kämpfen sie in der unmittelbaren Umgebung des
Herrn. Es gilt für schimpflich, sein Schicksal nicht zu teilen, ihn
zu überleben, wenn er in der Schlacht gefallen war. Der Herr ist
seinerseits verpflichtet, den Gefolgsleuten Schutz23, Unterhalt und
Ausrüstung24 zu gewähren und ihnen jene kriegerische Beschäftigung
[140]§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.
zu verschaffen, deren Erwartung den Eintritt in die Gefolgschaft ver-
anlaſste. Die noch nicht völlig erwachsene Gefolgsjugend stand unter
der Familienmunt des Gefolgsherrn. Was die übrigen betrifft, so
muſs der Herr mindestens in Angelegenheiten des Dienstes eine
Disziplinargewalt über sie besessen haben. Dritten gegenüber haftete
der Herr für die Handlungen seiner Gefolgsleute wohl nur insofern,
als er eventuell verpflichtet war, sie vor das Volksgericht zu stellen.
Der Herr fördert und belohnt die Thaten der Gefolgsleute, indem er
ihnen Waffen und Rosse, Gewänder, Ringe und Schätze spendet.
Ringspender, Kleinodspender wird er deshalb in der Sprache der
Dichtung genannt25. Innerhalb des Kreises der Gefolgsgenossen be-
stehen Grade und Rangverschiedenheiten, welche das Ermessen des
Herrn bestimmt26. Nach angelsächsischem und schwedischem Rechte
ist bei Tötung eines Gefolgsmannes auſser dem Wergeld, das an die
Verwandten fällt, noch eine besondere Buſse als Mannbuſse beziehungs-
weise Unehrenbuſse an den Herrn zu entrichten27. Eine solche Buſse
scheint auch das langobardische Recht ursprünglich gekannt zu haben28,
während es später das Wergeld des königlichen Gefolgsmannes inner-
halb gewisser Grenzen in das Ermessen des Königs stellt29. Bei den
24
[141]§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.
Franken hat nachmals der Herr wegen Tötung seines homo ein Recht
der Klage und der Fehde und sind die Gefolgsgenossen des Königs
durch ein höheres Wergeld ausgezeichnet30.
Die Fürsten wetteifern, ein möglichst zahlreiches und glänzendes
Gefolge zu haben. Ein solches durch längere Zeit zu erhalten, be-
darf es kriegerischer Unternehmungen. Wenn daher der Friede im
Staate zu lange währt, läſst der Herr die Gefolgsleute an Kriegen
auswärtiger Völkerschaften teilnehmen. Darum giebt ein stattliches
Gefolge dem Fürsten Ansehen und Einfluſs auch bei benachbarten
Völkerschaften, welche, von Feinden bedroht, sich durch Boten und
Geschenke um die Hilfe mächtiger Gefolgsherren bewerben.
Der Eintritt in ein Dienstgefolge schadet der vollen Freiheit
nicht, führt keine Schmälerung der rechtlichen und gesellschaftlichen
Stellung herbei. Das Verhältnis ist kein lebenslängliches. Wie für
den erwachsenen Sohn regelmäſsig die Zeit kommt, da er aus dem
väterlichen Hause ausscheidet und sich einen eigenen Herd gründet,
so pflegt auch der Gefolgsmann, wenn er im Hause des Herrn und
im Kreise der Gefolgsgenossen seine Lehr- und Wanderjahre durch-
gemacht hat, auf die heimatliche Scholle zurückzukehren, zu heiraten
und den väterlichen Hof zu übernehmen. War er fürstlichen Geblütes,
so folgte er dem etwaigen Rufe des Volkes, an Stelle des verstorbenen
Vaters oder Ohms die Würde des Gaufürsten anzutreten. In den
Quellen der folgenden Periode findet sich, daſs Gefolgsleute ohne
Auflösung des Dienstverhältnisses vom Gefolgsherrn abgeschichtet
werden, indem sie anstatt des Unterhaltes im Hause des Herrn von
ihm Ländereien empfangen, die sie selbständig bewirtschaften. Seit-
dem sind zwei Arten von Gefolgsleuten zu unterscheiden: solche,
die im Hause des Herrn leben, und solche, die eigene Wirtschaft
führen.
Die Bezeichnungen, welche uns die germanischen Sprachen für die
Gefolgsleute und das Gefolgswesen darbieten, sind nicht auf die
Gefolgschaften militärischer Bedeutung beschränkt, sondern schlieſsen
jegliche freie Hausdienerschaft, ja auch unfreie Diener in sich.
Allenthalben finden wir den Ausdruck Degen, ahd. degan, alts. thegan,
29
[142]§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.
ags. þegen31, nord. þegn. Er ist verwandt mit dem griechischen
τέκνον und bedeutet den Knaben, den Helden, den Diener32. Die
Gefolgschaft, comitatus, bezeichnete das Wort Gesinde, ahd. gasindi,
kisintscaf, alts. gisîthi, ags. gesîđđ. Als gasindii, gasindi, gesîđas be-
gegnen uns die Gefolgsleute bei Langobarden, Franken und Angel-
sachsen. Mit Rücksicht auf die Zugehörigkeit zum Hause, zur Familie
des Herrn heiſst der Gefolge bei den Nordgermanen hirþman (Haus-
mann) oder Hauskerl33. Das Altfränkische hat für die Gefolgschaft
den Ausdruck trustis34, Schutz, protectio, tuitio, für die königlichen
Gefolgsgenossen das Wort antrustiones, wörtlich protectores, wobei an
den Schutz zu denken ist, welchen die Gefolgsleute dem Herrn zu
leisten verpflichtet sind35. Andere Bezeichnungen bringen die Gefolgs-
genossen unter den Gesichtspunkt der Verwandtschaft. Magen, mâgas
heiſsen sie im Beóvulf36. Als Verwandte faſst die Glieder der Gefolg-
schaft der Ausdruck Gätlinge, gaten, ags. gædelingas zusammen37. Un-
serem neuhochdeutschen Gefolge entspricht ein althochdeutsches gafolgi,
in rechtlicher Anwendung nicht nachweisbar38. Das angelsächsische fol-
gođ ist Gefolge mit der Nebenbedeutung ministerium. Folgari bedeutet
im Angelsächsischen den Diener, der im Hause des Herrn wohnt, den
Hausgenossen im Gegensatz zum hausfesten oder heerdfesten, d. i. zum
angesessenen Manne39. Im altsächsischen Heliand heiſsen die Gefolgs-
leute winî, Freunde oder Hagustalden40, ein Wort, welches uns in der
fränkischen Zeit als austaldi wieder begegnen wird zur Bezeichnung
von Gefolgsleuten, die am Hofe des Herrn leben und daselbst ein
Hofamt versehen.
Die Zahl der Gefolgsleute kann, so lange sie im Hause des
Herrn lebten, nicht sehr erheblich gewesen sein. Nach der Schlacht
bei Straſsburg ergaben sich die comites des Alamannenkönigs Chnodo-
mar, um das Schicksal ihres gefangenen Herrn zu teilen. Es waren
ihrer zweihundert41. Mit fünfzehn Gefolgsleuten des Königs Hygelâc
zog Beóvulf auf Abenteuer aus. Im elften Jahrhundert hat ein
norwegischer König hundert und zwanzig Gefolgsleute, und üble
Nachrede und Murren des Volkes zieht sich einer seiner Nachfolger
zu, als er diese Zahl verdoppelt42. Schon diese Ziffern beweisen,
daſs es auf einer Überschätzung beruhte, wenn man die Wanderungen
der Germanen im wesentlichen als Beutezüge abenteuerlustiger Gefolg-
schaften, die Staatengründungen auf römischer Erde als Thaten von
Gefolgsherren dachte, ja sogar den Ursprung mancher deutschen
Völkerschaften auf ein groſses Dienstgefolge zurückführte43. In dem
wissenschaftlichen Kampfe gegen diese jetzt veraltete und sattsam
widerlegte Meinung ist dann eine zu weit gehende Unterschätzung
der Gefolgschaft, eine Verkennung ihrer rechtsgeschichtlichen Be-
deutung eingetreten. Spielt sie in der germanischen Zeit die Rolle
nicht, die man ihr früher zuzuweisen liebte, so hat sie sich doch mit
nichten schon damals ausgelebt, sondern ist nach ihrer friedlichen
Seite hin als Wiege des germanischen Beamtentums, nach ihrer
kriegerischen Seite hin als einer der Keime des Lehnwesens von
maſsgebendem Einfluſs geworden auf die Fortbildung der deutschen
Verfassungsverhältnisse.
S. die Litteratur zu § 18 und J. Grimm, Rechtsalterthümer S 745 ff. Zöpfl,
Alterthümer des deutschen Reichs u. Rechts I 293, II 441. W. Unger, Altdeutsche
GV, 1842. v. Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 102. W. Sickel, Mittheil.
des österr. Instituts IV 121; Ergänzungsband I 32. Hermann, Über die Entwick-
lung des altdeutschen Schöffengerichts, 1881 in Gierkes Untersuchungen X. Merkel,
Der Judex im bair. Volksrechte, Z f. RG I 131. Beseler, Der Judex im bair.
Volksrechte, Z f. RG IX 244. v. Richthofen, Untersuchungen zur fries. RG
II 457. Konr. Maurer, Das Alter des Gesetzsprecheramts in Norwegen, 1875
(Festgabe für Arndts). v. Amira, KrV XVIII 170. Rich. Schröder, Gesetz-
[144]§ 20. Die Gerichtsverfassung.
sprecheramt u. Priestertum, Z2 f. RG IV 215. K. Lehmann, Zur Frage nach
dem Ursprung des Gesetzsprecheramts, Z2 f. RG VI 193; derselbe, Königsfriede
der Nordgermanen S 11. 29. 65. 109. 125. 151. 166.
Einer der Grundzüge des germanischen Gerichtswesens ist die
Teilnahme der freien Volksgenossen an der Rechtsprechung. Die Ge-
richtsversammlungen waren öffentlich, sie tagten unter freiem Himmel,
gewöhnlich auf einem erhöhten, weithin kenntlichen oder durch sicht-
bare Bäume ausgezeichneten Orte. Die Gerichsstätte war häufig zu-
gleich Opferstätte1. Die altertümlichsten Ausdrücke, welche die
Sprache für den Begriff des Gerichtes bietet, weisen auf die Beteili-
gung des Volkes hin; sie haben den Wortsinn von Besprechung wie
das althochdeutsche und altsächsische mahal, mâl2, das althoch-
deutsche sprâcha3, oder sie bedeuten die Zusammenkunft4 oder die
Versammlung, wie die oben Seite 128 f. genannten Wörter Thing,
mallus5, gemôt und warf6. Das Wort Gericht bezeichnete ursprüng-
lich die Rechtsprechung, iudicium, iurisdictio, nicht die Gerichtsver-
sammlung oder die Gerichtsstätte.
Ding und Dingstätte sind dem Schutze der Götter geweiht7.
Der Eröffnung der Verhandlungen geht die Heiligung, die Hegung des
Dinges voraus. Dieselbe besteht in feierlichen Erklärungen, welche
in der Verkündigung des Dingfriedens gipfeln, und ist mit einer räum-
[145]§ 20. Die Gerichtsverfassung.
lichen Einfriedigung, Hegung des Verhandlungsplatzes etwa mittels
Pflock und Seil verbunden. Innerhalb der Dingstätte herrscht ein
heiliger Friede, dessen Grenzen durch die Hegung abgemarkt wer-
den8. Den sakralen Charakter der Hegung bezeugt das isländische
Wort þinghelgi für Dingfrieden, Dinghegung und Dingstätte9 und
der altnordische Ausdruck vêbönd, heilige Bänder, für die um die
Dingstätte gezogenen Schnüre10. Bei Tacitus wird von den Hegungs-
förmlichkeiten nur ein vereinzeltes Stück erwähnt, das Gebot des
Stillschweigens, welches nach seiner Darstellung in der Landesgemeinde
von Priestern ausgesprochen wird11. Für das Gebot des Schweigens
und des Friedens ist uns in nordgermanischen, in fränkischen, frie-
sischen und sächsischen Quellen die in hohes Altertum hinaufreichende
Formel „ich gebiete Lust12 und verbiete Unlust“ überliefert13. Nach
allen jüngeren Quellen der deutschen Stammesrechte ist es der vor-
sitzende Richter, der das Ding eröffnet und den Frieden wirkt14.
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 10
[146]§ 20. Die Gerichtsverfassung.
Die Eröffnung des Gerichtes wird aber vermittelt durch die so-
genannten Hegungsfragen, das heiſst durch die an die Gerichts-
gemeinde oder an ein einzelnes Mitglied derselben gestellten Fragen
des Richters, ob es Dinges Zeit und Ort sei, ob das Gericht gehörig
gehegt, gespannt oder besetzt sei, ob er den Gerichtsfrieden gebieten
solle. Dieser später allgemein verbreitete Gebrauch der Hegungs-
fragen reicht in hohes Altertum zurück. Schon die Lex Salica setzt
ihn voraus, indem sie bei Darstellung der Förmlichkeiten einer ge-
richtlichen Verhandlung verlangt, daſs der Richter vor Beginn der-
selben an drei Männer die drei Fragen stellen solle15. Daſs die auf
die Hegungsfragen abgegebenen Urteile später Fronurteile genannt
werden16, bestätigt ihren ursprünglich sakralen Charakter. Vielleicht
ist es nicht zu gewagt, den Ursprung der Hegungsfragen so zu er-
klären, daſs in der Urzeit der vorsitzende Richter die Frage, ob es
Dinges Zeit und Ort sei, an die Priester stellte, welche darüber die
Lose zu befragen und den Willen der Götter zu erkunden hatten17,
daſs er ebenso durch die Priester konstatieren lieſs, ob die Förmlich-
keiten der Einhegung gehörig erfüllt seien, wogegen er den Ding-
frieden, wenn wir nicht ein Miſsverständnis des Tacitus voraussetzen
wollen, in der Landesgemeinde nicht selbst verkündigte, sondern durch
Priestermund im Namen des Gottes, dem das Ding geweiht war, sich
und die Anwesenden in heiligen Frieden setzen lieſs, ehe er seines
Amtes zu walten begann. Als das Heidenpriestertum schwand, wurden
die Fronurteile von Dingleuten abgegeben und sprach der Richter
allenthalben selbst auf ein solches Urteil hin das Friedensgebot aus,
wie dies schon in germanischer Zeit wenigstens auſserhalb der Landes-
gemeinde der Fall gewesen sein dürfte.
Als wesentliches Attribut der richterlichen Gewalt erscheint später
14
[147]§ 20. Die Gerichtsverfassung.
der Bann, das Recht zu gebieten und zu verbieten. Das Wort Bann,
ahd. pan, alts. ban, altnord. bann, fries. bon18, scheint in seiner ältesten
Anwendung auf das Friedensgebot der Dinghegung zurückzugehen19.
Verwandt mit Sanskrit bhan, ertönen, schallen, laut rufen, griechisch
φημί, φωνή, lateinisch fari, fama, fanum20, hat es die Grundbedeu-
tung der nachdrücklichen feierlichen Rede21. Vermutlich von der
Dinghegung her verband sich mit Bann der Begriff des Friedens.
Die ältesten fränkischen Rechtsquellen verwenden das Wort Bann als
gleichbedeutend mit verbum, sermo, in Bezug auf den Frieden, welchen
das Wort des Königs denjenigen wirkt, die er in seinen besonderen
Schutz aufnimmt22. Sermo regis vermag, seit der Volksfriede ein
Königsfriede geworden ist, schlechtweg den Frieden zu bezeichnen.
Extra sermonem regis ponere, foras sermone regis mittere23 ist soviel
wie forisbannire, friedloslegen. Noch in jüngeren Quellen spielt der
10*
[148]§ 20. Die Gerichtsverfassung.
Bann im Sinne von Friedewirken bei der Übereignung von Grund-
stücken eine rechtsgeschichtlich bedeutsame Rolle24.
Als der Gott, unter dessen Schutz die vornehmsten Gerichtsver-
handlungen standen, ist vermutlich der Tius, Ziu anzusehen, der in
dieser Rolle den Beinamen Things geführt haben mag. Auf ihn wird
eine dem Mars Thingsus geweihte Altarschrift gedeutet, welche aus
dem dritten oder vierten Jahrzehnt des dritten Jahrhunderts stammt
und kürzlich im nördlichen England am Hadrianswall aufgefunden
worden ist. Es ist der Gott, nach welchem wir den Dienstag (Tag
des Tius) bezeichnen, der im Niederländischen als Dingstag (Tag des
Dings) erscheint25.
Nach jüngeren Quellen werden in manchen Rechten drei ver-
schiedene Arten von Gerichtsversammlungen unterschieden, das echte
Ding, das gebotene Ding, auch Botding, und das Nachding oder After-
ding. Echte Dinge sind die nach Volksrecht hergebrachten Gerichts-
versammlungen, die an herkömmlicher Dingstätte und zu herkömm-
licher Zeit abgehalten werden, ohne daſs der einzelne Dingpflichtige
besonders aufgeboten zu werden braucht26. Die für die echten Dinge
üblichen Gerichtszeiten lassen teilweise (so z. B. die am Walpurgis-
tage vorkommenden) geschichtlichen Anschluſs an heidnische Fest-
und Opfertage vermuten. Im Gegensatz dazu erscheinen als gebotene
Dinge diejenigen, für welche die Dingpflicht erst durch den Bann des
Richters begründet wird, der das Ding auslegt. Es ist bei diesen ge-
botenen Dingen nur zu erscheinen verpflichtet, wer dazu aufgeboten
wird. Nachdinge oder Afterdinge sind Gerichtstage, die zur Erledi-
gung der am echten Ding nicht erledigten Angelegenheiten in un-
mittelbarem Anschluſs an dasselbe oder kurze Zeit danach abgehalten
werden27. Ob diese Unterscheidungen gemeingermanisch waren, muſs
umsomehr dahingestellt bleiben, als sie sich später nicht in allen
Stammesrechten finden.
So weit nicht die Landesgemeinde, vielleicht auch die Gau-
gemeinde, gerichtliche Funktionen ausübte, konzentrierte sich die
Rechtspflege in den Gerichten der Hundertschaften, jener persönlichen
Dingverbände, welche der Gaufürst als Richter um sich versammelte.
Die Hundertschaften, wohl schon damals wie in fränkischer Zeit die
hauptsächlichsten Träger der Rechtspflege, traten vermutlich an her-
kömmlichen gottgeweihten Malstätten zusammen. Denn wie sich aus
Tacitus ergiebt, muſste der princeps zur Abhaltung der Gerichtstage
den Gau bereisen, geradeso wie in merowingischer Zeit der fränkische
Graf an den verschiedenen Dingstätten der einzelnen Hundertschaften
abwechselnd Gericht hielt28.
Ein recht zweifelhafter Punkt des germanischen Gerichtswesens
ist das Verhältnis, in welchem der Richter sich neben der Gerichts-
gemeinde an der Rechtsprechung beteiligte. Die römischen Schrift-
steller geben uns kein abschlieſsendes Bild, wogegen die jüngeren Zeug-
nisse bei den verschiedenen Stämmen weitgehende Verschiedenheiten
aufweisen. Da gilt es denn, im folgenden aus ihnen einen gemein-
samen, mit den Nachrichten des Altertums harmonierenden Ausgangs-
punkt zu gewinnen.
Für die älteste Zeit darf es als sicher betrachtet werden, daſs
sowohl der Richter als auch die Gerichtsgemeinde an dem Zustande-
kommen des Urteils teilnehmen. Nach Cäsar und Tacitus sind es die
principes, welche Recht sprechen, ius dicunt29, iura reddunt30. Aus
den Quellen der folgenden Zeitabschnitte ergiebt sich, daſs der Richter
zwar mit der Findung des Urteils, mit der Feststellung seines In-
halts nichts zu thun hat, daſs er aber ein dem gefundenen Urteil ent-
sprechendes Rechtsgebot erläſst, daſs er, wie die sächsischen Rechts-
bücher sagen, das Urteil ausgiebt31, während die Feststellung des
[150]§ 20. Die Gerichtsverfassung.
Urteils Sache der Gerichtsgemeinde ist. Eine entscheidende Mitwir-
kung der letzteren bezeugt schon Tacitus, indem er berichtet, daſs
dem princeps bei der Rechtspflege als consilium et auctoritas die Hun-
dertschaft assistirt32.
Für die Findung des Urteils haben nachmals einzelne Stammes-
rechte besondere und zwar verschiedenartige Organe, welche aber die
Mitwirkung der gesamten Gerichtsgemeinde an der Rechtsprechung
nicht ausschlieſsen. Bei den Franken wird das Urteil zunächst durch
die sog. Rachineburgen (Ratgeber) gefunden, einen höchst wahrschein-
lich vom Richter ernannten Ausschuſs der Gerichtsgemeinde. Doch
muſs die Zustimmung der übrigen Dingleute, die im Gegensatz zu
den sitzenden Rachineburgen den sog. „Umstand“ bilden, das Vollwort
des Umstandes hinzutreten, damit das Urteil ausgegeben werden
könne.
Bei den Baiern und Schwaben steht dem vorsitzenden Richter ein
amtlicher Rechtsprecher oder Rechtweiser zur Seite, lateinisch iudex,
in althochdeutschen Glossen êsago, êteilo, urteilo genannt33. In Baiern,
wo wir ihn bis in das neunte Jahrhundert verfolgen können, bringt
er auf richterlichen Befehl hin den Urteilsvorschlag ein. Ihm folgen
dann andere in den bairischen Gerichtsurkunden als die angesehen-
sten der Gerichtsgemeinde namentlich angeführte Urteilfinder, worauf
schlieſslich der Umstand sein Vollwort abgiebt34. Der Judex erhält
ein Neuntel der Buſse in jeder Sache, in der sein Urteil rechtskräftig
geworden ist35. Es sind Männer vornehmster Herkunft, die unter
den Trägern dieses Amtes erscheinen36. Dürftigere Nachrichten haben
[151]§ 20. Die Gerichtsverfassung.
wir über den alamannischen Judex, der in der Lex Alamannorum als
Urteiler genannt wird und nicht ein Richter, sondern ein dem bai-
rischen Judex verwandter Rechtsprecher gewesen sein dürfte37.
Auch das friesische Gerichtswesen kennt neben dem Richter und
neben der entscheidenden Gerichtsgemeinde einen besonderen Recht-
sprecher, iudex, asega38. Er ist nicht wie der bairische iudex bloſs
erster, sondern er ist einziger Urteilfinder. Er findet das Urteil,
nachdem er vom Richter dazu gebannt worden ist, nimmt Eide ab
und hat Anteil an den erkannten Buſsen. Der Urteilsvorschlag des
Asega bedarf des Vollworts der Gerichtsgemeinde39. Sein Spruch ist
nicht als bloſse Rechtsbelehrung, als Weistum, sondern als Vorschlag
des Urteils über den verhandelten Rechtsfall aufzufassen40. Der Asega
wird vom Volke vermutlich aus hervorragendem Geschlechte gewählt.
Im altsächsischen Rechte waren es die vicinantes, pagenses, con-
vicini, also die Genossen der Gerichtsgemeinde, welche das Urteil
fällten und dafür eine Gebühr erhielten41. Nur thatsächliche, nicht
rechtliche, gerichtsverfassungsmäſsige Bedeutung genossen auf den alt-
36
[152]§ 20. Die Gerichtsverfassung.
sächsischen Dingstätten die im sächsischen Heliand genannten eusagon,
Rechtsager, Männer von anerkannter Rechtskunde, welche auf Ver-
langen Rechtsbelehrung erteilten42. Wohl aber kennen jüngere ost-
fälische und holsteinische Rechtsquellen die Stellung eines Urteil-
finders43, der als ein Analogon des bairischen êsago angesehen
werden darf.
Von den Angelsachsen wird zwar behauptet, daſs bei ihnen die
Rechtsprechung Sache des vorsitzenden Richters gewesen sei44. Allein
diese Annahme läſst sich mit den Urkunden über Gerichtsverhand-
lungen und mit den angelsächsischen Gesetzen nicht in Einklang
bringen. Regelmäſsig wird darin eine urteilende Mehrheit von Ding-
leuten vorausgesetzt und ist es die Gerichtsversammlung als solche,
welche das Urteil fällt, indem sie dem Urteilsvorschlage beitritt,
welchen die sapientes, die sogen. witan, gefunden haben45. Daneben
finden sich allerdings auch Spuren einer rechtweisenden und recht-
[153]§ 20. Die Gerichtsverfassung.
findenden Thätigkeit der richterlichen Beamten46 und scheint der
Richter des Hundertschaftsgerichtes in dem Gaugerichte (Shiregemot)
als erster Urteilfinder fungiert zu haben, ohne aber jede Teilnahme
der Gerichtsgemeinde an der Urteilfällung auszuschlieſsen47.
Den Langobarden ist die germanische Unterscheidung zwischen
Richter und Urteilfinder unbekannt. Das Urteil wird bei ihnen, so-
weit die langobardischen Quellen zurückreichen, von einem Einzel-
richter oder von mehreren vorsitzenden Richtern gefällt, wogegen die
Gerichtsgemeinde, wo sie überhaupt erwähnt wird, auf eine passive
Assistenz beschränkt ist48. Daſs aber die Langobarden ursprünglich
ein Gesamturteil der Gerichtsgemeinde gekannt haben müssen, folgt
aus der dem nordischen vápnatak entsprechenden Anwendung des
gairethinx. Unerheblich, weil bereits romanisiert, sind für die Be-
trachtung der altgermanischen Verhältnisse die burgundische und die
westgotische Gerichtsverfassung.
Das ältere nordische Gerichtswesen beruht ursprünglich auf der
unter dem Vorsitz des Richters urteilenden Dingversammlung49. Eigen-
tümlich ist dem Norden — von Dänemark abgesehen — das Amt des
Gesetzsprechers, der verpflichtet ist, von Zeit zu Zeit über das gel-
tende Recht öffentliche Vorträge zu halten. Auſserdem ist er an
der Rechtsprechung beteiligt und hat insofern einige Ähnlichkeit mit
45
[154]§ 20. Die Gerichtsverfassung.
dem friesisch-bairischen Rechtsprecher. Doch weist seine Stellung in
dieser Beziehung in den nordischen Rechten erhebliche Verschieden-
heiten auf, die sich wohl als verschiedene Phasen in der geschichtlichen
Entwicklung des Amtes erklären lassen. Auf dem ältesten Stand-
punkte dürfte der isländische Gesetzsprecher (lögsögumađr) stehen,
der darauf beschränkt blieb, den Gerichten auf Verlangen das Recht
zu weisen und den Leuten, die ihn darum angingen, über schwierige
Rechtsfragen Auskunft zu geben. Dagegen ist der norwegische lögmađr
aus einer begutachtenden Hilfsperson zum Urteilfinder ausgewachsen.
Eine ähnliche Entwicklung scheint der schwedische laghmaþer durch-
gemacht zu haben, ehe er die Stellung eines urteilenden Einzelrichters
erlangte, neben welchem das Volk keinen Anteil mehr an der Recht-
sprechung besaſs. Im dänischen Rechte findet sich keine Spur des
Gesetzsprechers.
Kehren wir von diesem Überblick über die jüngere Gerichtsver-
fassung zu den von Cäsar und Tacitus überlieferten Nachrichten zu-
rück, so zeigt sich, daſs dem Urteilsvorschlag das consilium, welches
der richtende princeps in der Hundertschaft findet, dem Vollworte
der Gerichtsgemeinde die auctoritas, dem Rechtsgebote des Richters
das ius dicere, reddere entspricht. Richter und Gerichtsgemeinde stehen
nicht von vorneherein in scharfem Gegensatz, sondern beide wirken
zusammen, damit ein Urteil zustande komme. Der Richter hatte das
Recht, aus der Gerichtsgemeinde heraus ein Urteil zu erfragen. Er
konnte die Urteilsfrage an eine Mehrheit von Dingleuten stellen, er
konnte auch nach Belieben einen der anwesenden Dingmänner zum
Urteilsvorschlag auffordern, wie dies später in Deutschland am Königs-
gerichte und überall der Fall ist, wo nicht die Einrichtung des Schöffen-
tums oder das Amt eines ersten oder einzigen Urteilfinders besteht50.
Die Urteilsfrage war ursprünglich wohl nur ein Recht, nicht eine Pflicht
des Richters und das von der Gerichtsgemeinde bevollwortete Urteil
sicherlich auch dann giltig, wenn der Urteilsvorschlag vom Richter
selbst ausgegangen war. Von dieser Grundlage aus sind dann einzelne
Stämme zu bestimmterer Verteilung der Urteilfinderfunktionen gelangt.
Bei den Franken ernannte der Richter vor oder bei Eröffnung des
Dings einen urteilenden Ausschuſs der Gerichtsgemeinde, die Rachine-
burgen, aus welchen unter Karl dem Groſsen ein ständiges Urteil-
finderkollegium, das Schöffentum, hervorging. Anderwärts führte das
thatsächliche Übergewicht, welches Ansehen, Erfahrung und Rechts-
kunde gewährten, zu dem Ergebnis, daſs der Richter den Urteilfinder
[155]§ 20. Die Gerichtsverfassung.
nicht mehr ad hoc bestimmte, sondern der Urteilsvorschlag Sache
eines ständigen Urteilfinders wurde, so bei den Oberdeutschen und
Friesen, während der nordische Rechtsprecher zunächst nur über
zweifelhafte Rechtsfragen Rechtsbelehrung zu geben hatte51. Der
urteilfindende Richter, wie er uns bei den Langobarden und spuren-
haft bei den Angelsachsen begegnet, mag in einer Befugnis des ger-
manischen Richters, von der Urteilsfrage abzusehen, seinen Ausgangs-
punkt haben.
Der bunten Mannigfaltigkeit gegenüber, in welcher das Gerichts-
wesen sich bei den verschiedenen Stämmen ausgestaltete, ist als
unverrückter Drehpunkt der Bewegung die Thatsache festzuhalten,
daſs das germanische Urteil ein Urteil der Gerichtsgemeinde und alles
was dem Vollwort der Gerichtsgemeinde vorausging, im Rechtssinne
nur Urteilsvorschlag war. Als altertümlichste Form des Gesamturteils
tritt uns später die Sitte des Waffenschlags und der Waffengreifung
entgegen, die wir schon bei den Beschlüssen der von Tacitus geschil-
derten Landesgemeinde haben kennen gelernt. Im Rechte von Schonen
kommt das vápnatak bei der Friedloslegung vor. In Norwegen wurde
es auch bei zivilrechtlichen Urteilen angewendet und als Formal-
akt, durch den die Gerichtsgemeinde gewisse Rechtsgeschäfte, u. a.
Übereignungen von Grundstücken, bekräftigte52. Die nordenglischen
Hundertschaften, welche stark mit skandinavischer Bevölkerung durch-
setzt waren, führen den Namen wæ̂pentâk, vermutlich von der Form,
in welcher die Gerichtsgemeinde ursprünglich ihr Vollwort abgab53.
Auch den Schweden war einstens ein mit Speerschaft abgegebenes
Urteil bekannt54. In Holstein muſsten bis Ausgang des 17. Jahr-
[156]§ 21. Fehde und Buſse.
hunderts die Dingmänner mit Speeren vor Gericht erscheinen55, wo
sie den Speerschaft anfaſsten und den Speer nach aufwärts kehrten,
wenn sie zum Urteil gebannt worden waren56.
Wilda, Stratrecht der Germanen, 1842. G. v. Wächter, Beiträge zur deutschen
Geschichte, insbesondere zur Geschichte des deutschen Strafrechts, 1845, S 42 ff.
247 ff.; derselbe, Beilagen zu Vorlesungen über das deutsche Strafrecht, 1881;
Beil. 22: Das germanische Fehderecht und die Compositionen. Köstlin, Das
germanische Strafrecht, in der Z f. DR XIV 367 und aufgenommen in dessen Ge-
schichte des deutschen Strafrechts, 1859. Geib, Lehrbuch des deutschen Straf-
rechts I, 1861, S 151 ff. Konrad Maurer, Über angelsächsische Rechtsverhältnisse:
4. Das Fehde- und Wergeldswesen, KrÜ III 26 ff. Rogge, Über das Gerichts-
wesen der Germanen, 1820. Siegel, Gesch. d. deutschen Gerichtsverfahrens, 1857.
Dahn, Fehdegang u. Rechtsgang der Germanen, Bausteine 2. Reihe, 1880, S 76 ff.
Frauenstädt, Blutrache und Todtschlagssühne im deutschen Mittelalter, 1881.
Kohler, Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, 1883, S 131 ff. Pas-
quale del Giudice, La vendetta nel diritto langobardo, 1876. v. Woringen,
Beiträge zur Geschichte des deutschen Strafrechts, erster Beitrag: Erläuterungen
über das Compositionenwesen, 1836. Thonissen, L’organisation judiciaire, le
droit pénale … de la loi salique, 1881. Osenbrüggen, Das Strafrecht der Lango-
barden, 1863. Brandt, Forelæsninger II 1—156. v. Amira, Das altnorwegische
Vollstreckungsverfahren, 1874.
Die Entwicklung des weltlichen Strafrechts hat bei den Germanen
ihren Ausgangspunkt in dem Gedanken, daſs wer den Frieden bricht,
sich selbst aus dem Frieden setzt, oder wie ein Gesetz Kaiser
Friedrichs I. vom Jahre 1158 sich ausdrückt, daſs wer den Frieden
nicht hält, des Friedens seinerseits nicht genieſsen soll1.
Der Friedensbruch ist entweder ein solcher, welcher den Thäter
und die Seinen nur der Feindschaft des Verletzten und seiner Sippe
preisgiebt, oder aber ein solcher, der ihm die Gesamtheit der Volks-
genossen zum Feinde macht. Im erstgedachten Falle tritt nur eine
beschränkte Aufhebung des Friedens ein. Der Friede ist nur gegen-
über dem Verletzten und dessen Sippe verwirkt, so daſs es diesen ge-
stattet ist, im Wege der Selbsthilfe Rache zu üben, ohne dadurch
ihrerseits einen Friedensbruch zu begehen.
Das Verhältnis, welches durch die Unthat zwischen dem Be-
leidigten und seinem Gegner entsteht, heiſst Fehde, latinisiert faida,
ahd. fêhida, gifêhida, fries. faithe, feithe, ags. fæ̂hd2. Fehde bedeutet
nicht etwa den Kampf der feindlichen Parteien, sondern die unter
ihnen bestehende Feindschaft, inimicitia3, und führt sprachlich auf das
Verbum fêhan, hassen zurück. Wer der Fehde ausgesetzt ist, wird als
faidosus, fehitus, ahd. fêh, gifêh, ags. fâh, fâg, altfries. fach bezeichnet4.
Die Fehde ist die durch die Rechtsordnung anerkannte Feindschaft.
Diese Anerkennung äuſsert sich darin, daſs die in rechtmäſsiger Fehde
verübte Rachethat nicht als Missethat, sondern als buſslose und straf-
lose That behandelt wird5. Wer durch erlaubte Rache sein Leben
verliert, ist ebenso wie jeder, an dem eine rechtlich zulässige Tötung
vollzogen wurde, ein nicht zu vergeltender Mann. Unvergolten liege
er6, sagen von einem solchen die Angelsachsen, iaceat forbatutus7,
[158]§ 21. Fehde und Buſse.
absque compositione8 die Franken. Ugildr, ogildr heiſst er im
Norden9.
Die Missethat als solche setzt aus dem Frieden, begründet die
rechtmäſsige Feindschaft des Verletzten. Der Thäter darf daher,
wenn er auf handhafter That betroffen wird, sofort getötet werden.
Auch die Tötung aus Notwehr fällt ursprünglich unter diesen Ge-
sichtspunkt10.
Die Fehde ist ein Recht des Verletzten und seiner Sippe, sie ist
das Recht, die Genugthuung im Wege der Selbsthilfe zu suchen. Die
Genugthuung, welche die Fehde sucht, ist Rache, die älteste in den
Naturtrieben des Menschen begründete Reaktion gegen das Unrecht.
Die Rache kann sofort in dem Momente geübt werden, in welchem
das Recht der Fehde entstand. Das geschieht z. B., wenn der
Thäter auf handhafter That ertappt und erschlagen wird. Der Ge-
sichtspunkt der Fehde tritt da hinter dem der Rache thatsächlich
zurück. Selbstverständlich ist auch eine Fehde denkbar, in der es
dem Beleidigten nicht gelingt, Rache zu nehmen. Andrerseits kann
aber auch Rache und zwar erlaubte Rache genommen werden, ohne
daſs ihr ein Fehderecht im eigentlichen Sinne zu Grunde liegt. Wenn
jemand eine Missethat beging, die ihm die volle Friedlosigkeit zuzog,
so konnte er wie von jedem Volksgenossen, auch vom unmittelbar
Beleidigten buſslos getötet werden. Das war dann ein Akt erlaubter
Rache, aber nicht Ausübung eines Fehderechtes.
Die Unthaten, aus welchen eine rechtmäſsige Fehde entstehen
kann, haben keinen rechtlichen Einfluſs auf die Stellung des Misse-
thäters zu seiner Sippe. Sie heben seine Zugehörigkeit zur Sippe
nicht auf. Schlieſst ihn die Sippe nicht freiwillig aus, so ist sie ver-
pflichtet, den angegriffenen Genossen zu schützen. Da andrerseits bei
dem lebhaften Gefühle enger Zusammengehörigkeit der Sippegenossen
die Verletzung des einzelnen als Verletzung seiner Sippe erscheint,
so stellt sich die altgermanische Fehde als Geschlechterfehde dar, als
ein Krieg zwischen zwei feindlichen Sippen, dessen Ausgang die Ge-
samtheit der unbeteiligten Volksgenossen mit verschränkten Armen
7
[159]§ 21. Fehde und Buſse.
abwartet11. Nicht bloſs der Missethäter, sondern auch seine Bluts-
verwandten waren der Fehde der beleidigten Sippe von Rechtswegen
ausgesetzt12. Ja, bei Ausübung der Blutrache kam es sogar vor, daſs
der Missethäter weniger als dessen Sippe bedroht war. So pflegten
in Norwegen die Magen des Erschlagenen nicht an dem Totschläger
selbst, sondern um die feindliche Sippe recht empfindlich zu treffen
an dem besten Manne derselben Rache zu nehmen, auch wenn er an
der That nicht die mindeste Schuld trug13. Von den holsteinischen
Bauernfehden des vierzehnten Jahrhunderts wird uns erzählt, daſs
wenn einem sein Vater, sein Bruder oder Vetter erschlagen worden,
er zur Vergeltung nicht den Totschläger, sondern dessen Vater, be-
ziehungsweise Bruder oder Vetter zu erschlagen suchte14.
Eine Aufkündigung des Friedens, ein Ansagen der Fehde war
nicht erforderlich15. Die Unthat als solche verwandelte den Frieden
in Feindschaft. Wenn die Rache den Thäter nicht schon auf der
That oder auf der Flucht von der That ereilte, so wurde die Fehde
von den versammelten Blutsfreunden beraten, beschlossen und vor-
bereitet16. In jüngeren Quellen findet sich wohl, daſs der nächste
Verwandte des Erschlagenen die einzelnen Stämme der Sippe rechts-
förmlich zur Rache auffordert, indem er ihnen den gefundenen Leich-
[160]§ 21. Fehde und Buſse.
nam überliefert. Wie ein Volk sich zum Kriege rüstet, so organisiert
sich die zur Rache entschlossene Sippe, indem sie etwa einen aus
ihrer Mitte zum Führer und Leiter der Fehde erwählt. Fränkische
Rechtsquellen des fünfzehnten Jahrhunderts haben sogar feste Rechts-
sätze über die Frage, welchem Magen die Hauptmannschaft der Fehde
gebühre17, wie nahe man mit dem Toten verwandt sein müsse, um
als „Anleiter“ der Rache bestellt werden zu können18. In hohes
Altertum reicht die vermutlich auf heidnischen Glaubenslehren be-
ruhende Sitte zurück, die Leiche des erschlagenen Blutsfreundes nicht
zu beerdigen, ehe der Totschlag gerächt ist. Von den Friesen des
dreizehnten Jahrhunderts wird berichtet, daſs sie den Leichnam im
Hause aufzuhängen pflegten, bis Vergeltung geübt war19.
Die in erlaubter Rache vollzogene Tötung muſste öffentlich ver-
kündigt oder als solche allgemein ersichtlich gemacht werden20.
Wurde die Rachethat verheimlicht, so galt sie für eine rechtswidrige
That. Die Franken steckten das Haupt des erschlagenen Feindes auf
einen Pfahl, hingen den Leichnam an einen Galgen oder stellten ihn
öffentlich auf einer Bahre aus21. Auf altem Brauch scheint auch die
in niederländischen Quellen überlieferte Vorschrift zu fuſsen, daſs der
Rächer dem Opfer seiner Rache die Waffe, mit der die Tötung ge-
schah, und eine kleine Münze auf die Brust legte22.
Der beleidigten Sippe stand es frei, den Weg der Fehde zu ver-
schmähen und von dem Missethäter das verwirkte Sühngeld auf ge-
[161]§ 21. Fehde und Buſse.
richtlichem Wege einzuklagen. Ebenso konnte die Fehde durch eine
auſsergerichtliche Sühne vermieden oder wieder beigelegt werden.
Doch war in solchem Falle die Vereinbarung des Sühngeldes nicht an
die herkömmlichen Taxen des Volksrechtes gebunden. Ist das gesetz-
liche oder vereinbarte Sühngeld gezahlt oder dessen Zahlung in
rechtsverbindlicher Weise sichergestellt worden, so findet die Feind-
schaft in einem feierlichen Sühnvertrage ihr Ende. Die beleidigte
Sippe verzichtet in förmlicher Weise auf fernere Verfolgung der ge-
sühnten Unthat23. Ihre Vertreter leisten der gegnerischen Sippe
einen Friedenseid24, sie schwören, indem sie die Fehde für auf-
gehoben erklären, Urfehde, ags. unfæ̂hđe25. Die Versöhnung fand
wohl auch schon in germanischer Zeit in einer Umarmung oder in
einem Friedenskuſs ihren Ausdruck26. Nicht leicht entschloſs sich
die beleidigte Sippe zum Sühnevertrag. Unter Umständen galt es
geradezu für schimpflich, sich die Rache um Geld oder Geldeswert
abkaufen zu lassen. War der beleidigte Teil zur Aussöhnung bereit,
so suchte er nach Möglichkeit auch den Schein zu vermeiden, als ob
Furcht vor dem Gegner der Beweggrund sei27. Im Norden machte
daher die verletzte Partei den Abschluſs des Sühnvertrags abhängig
von einem Eide des Thäters, durch den dieser versicherte, daſs er,
wenn ihm die gleiche Unbill widerfahren wäre, sich mit der gleichen
Summe des Sühngeldes begnügen würde28. Dieser dem Versöhnungs-
eid vorausgehende Eid hieſs Gleichheitseid (jafnađareiđr). Zwar nicht
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 11
[162]§ 21. Fehde und Buſse.
das Wort, aber die Sache findet sich auch in einer niederdeutschen
Rechtsquelle29.
Das Recht der Fehde zum Zwecke der Rache war zweifellos im
Falle des Totschlags begründet30. Über den darüber hinausgehenden
Umfang des Fehderechts sind wir nur auf Rückschlüsse aus den
Quellen der folgenden Periode und auf Vermutungen angewiesen.
Wir finden später ein Recht der Rache und Fehde anerkannt bei
gröblichen Verletzungen der Ehre eines weiblichen Familienmitgliedes,
bei Ehebruch, Unzucht und Frauenraub31. Auch wegen Verwundungen
erlauben einzelne Rechte den Fehdegang32. Da der Zug der geschicht-
lichen Entwicklung nicht eine Ausdehnung, sondern eine allmähliche
Einschränkung der Fehde wahrnehmen läſst, so ist es wahrscheinlich,
daſs in germanischer Zeit die Fehde im allgemeinen um Blut und um
Ehre gestattet war. Aber auch über diese weitgezogenen Schranken
führt uns eine beachtenswerte Erscheinung des friesischen Volks-
rechtes hinaus. Demselben ist nämlich in fränkischer Zeit die Fehde
einzige Vergeltungsform für Unthaten, bei denen die Logik des
geltenden Rechts einen Anspruch auf Buſse oder sonstige Sühne ver-
sagen muſs33. In der Zeit, da das Buſsensystem noch in den An-
fängen seiner Entwicklung stand, mag es eine Reihe von Fällen
[163]§ 21. Fehde und Buſse.
gegeben haben, in welchen für eine begangene Rechtsverletzung
Genugthuung nur auf dem Wege der Fehde oder der auſsergericht-
lichen Sühne zu erlangen war.
Das Recht der Fehde stand nur dem Verletzten und seiner Sippe
zu. Von der Wahl der beleidigten Sippe hing es ab, ob der Misse-
thäter mit seinen Geschlechtsgenossen der Fehde ausgesetzt sei, „die
Fehde, die Feindschaft tragen“ oder die durch das Recht festgesetzte
compositio zahlen solle34. Dagegen hat es mit nichten im Belieben
des Missethäters gestanden, ob er die Feindschaft der beleidigten
Sippe dulden oder die Unthat durch Buſszahlung sühnen wolle35.
Weigerte er sich das Sühngeld zu entrichten, so konnte der beleidigte
Teil es gerichtlich einklagen. Dann trat ihm die Gesamtheit helfend
zur Seite, indem ein gerichtliches Urteil dem Beklagten auferlegte, sich
zur Zahlung des Sühngeldes zu verpflichten36. Unterlieſs es der
Thäter, das gerichtliche Urteil zu erfüllen, so verfiel er der all-
gemeinen Friedlosigkeit. Es stand ihm sonach allerdings eine Wahl
offen, aber nicht die Wahl zwischen Buſse und Fehde37, sondern die
11*
[164]§ 21. Fehde und Buſse.
Wahl zwischen Buſse und allgemeiner Friedlosigkeit. Eine Ausnahme
von diesen Grundsätzen griff nur soweit platz, als die Rechtsordnung,
wie dies bei den Friesen konstatiert ist, für Spezialfälle noch Lücken
ihres Buſssystems aufwies und sonach eine gerichtliche Einklagung
einer rechtlich fixierten Buſse unmöglich war.
In allen Fällen, in welchen die verletzte Partei die Fehde üben
oder das Sühngeld einklagen konnte, war der Betrag des letzteren
rechtlich fixiert. Das Sühngeld heiſst Buſse, gotisch bota, ags. und
altnord. bôt, altsächsisch buota, althd. puoz, puoza38, lateinisch
compositio oder mulcta. Im weiteren Sinne schlieſst sie auch das
Wergeld in sich, das ja auch unter dem Namen Mannbuſse erscheint39.
Doch werden im Mittelalter das Wergeld einerseits, die Buſsen im
engeren Sinne andrerseits unterschieden. Wergeld und Buſsen wur-
den nicht in Metallgeld, sondern in Viehhäuptern und Viehwerten
bezahlt. Nach Tacitus lautete das Urteil, durch das eine Buſse zu-
erkannt wurde, auf eine bestimmte Zahl von Viehhäuptern40. Tacitus
nennt als Rechnungseinheit in erster Linie das Pferd. Doch scheint
nach Anhaltspunkten, welche jüngere Quellen liefern, die Kuh der am
meisten verbreitete Wertmesser für die Buſstaxen geworden zu sein41.
Später begegnen uns durchweg zwei Reihen von Buſszahlen, nämlich
Zahlen, die durch Teilung des Wergeldes entstanden sind, und solche,
die auf eine bestimmte kleinere Grundzahl als Simplum zurückführen.
Neben dem Sühngeld, welches der verletzten Partei zuerkannt
wurde, war in der Regel auch ein bestimmter Betrag an die öffent-
liche Gewalt oder an das Gemeinwesen zu entrichten, das Friedens-
geld, in den lateinisch geschriebenen Quellen fretus, fredus, freda, ge-
legentlich auch pax oder poena pacis42 genannt, althd. fridu oder
frida, fries. fretho. Bei den Angelsachsen begegnet uns dafür wîte, Straf-
geld, bei den Dänen Englands lahslit (wörtlich legis violatio). Der
fredus steht später nach manchen Rechten innerhalb, nach anderen
37
[165]§ 21. Fehde und Buſse.
auſserhalb der compositio. Bei den Franken, Langobarden und
Nordgermanen bildet das Friedensgeld eine Quote der gesamten
compositio. Bei den Oberdeutschen, bei den Sachsen, Friesen und
Angelsachsen wird es dagegen als fixer Betrag neben der Buſse an-
gesetzt 43. Von diesen beiden Systemen ist das erstere als das ältere
zu betrachten. Denn als pars mulctae bezeichnet Tacitus den an den
König oder an die civitas fallenden Teil der compositio. Nur wenn
der Verletzte auf compositio geklagt hatte, wurde ein Friedensgeld
fällig und zwar ursprünglich als Preis für das Eingreifen der öffent-
lichen Gewalt in die Wiederherstellung des Friedens. Kam es zu
einer auſsergerichtlichen Sühne, so brauchte ein Friedensgeld nicht
bezahlt zu werden.
Buſse und Friedensgeld erscheinen nicht nur bei Unthaten, welche
der verletzten Partei das Recht der Fehde gewähren. Vielmehr ist
in den Quellen der fränkischen Zeit der Verletzte in der Regel auf
den Buſsanspruch beschränkt und hat bloſs ausnahmsweise die Wahl
zwischen Buſse und Fehde. Ursprünglich galt, wie oben bemerkt wor-
den ist, das Fehderecht in gröſserem Umfang und manche Übelthaten,
die nach den Volksrechten der folgenden Periode nur einen Buſs-
anspruch begründen, konnten in älterer Zeit auch auf dem Wege der
Fehde verfolgt werden. Einen Fingerzeig giebt in dieser Beziehung
die Thatsache, daſs der Anteil, welchen die verletzte Partei von der
gesamten Buſse erhält, bei den Franken in einzelnen Fällen als
faidus 44, daſs ein Teil der an die Partei fallenden Summe bei den
Langobarden gelegentlich als faida bezeichnet wird 45. Dagegen muſs
es aber auch schon in germanischer Zeit ein Herrschaftsgebiet der
compositio gegeben haben, in welchem das Recht des Verletzten
Fehde zu erheben von vornherein ausgeschlossen war. In gewissen
Fällen, nämlich bei Thatbeständen, bei denen das Volksrecht das
Vorhandensein böser Absicht ein für allemal ausschloſs, fiel der
Anspruch der öffentlichen Gewalt auf das Friedensgeld hinweg und
war nur dem Verletzten Buſse zu zahlen 46. Man kann, wie dies
manche Neuere thun, die Rechtsverletzungen, die nur einen An-
spruch auf compositio und kein Recht der Fehde begründeten, den
[166]§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
eigentlichen Friedensbrüchen als Rechtsbrüche gegenüberstellen 47. Die
Zahlung der Buſsen verbürgte die dem widerspenstigen Schuldner
drohende Friedlosigkeit.
S. die Litteratur zu § 21, insbes. Wilda, Strafr. der Germanen; v. Amira, Das
altnorwegische Vollstreckungsverfahren; ferner derselbe, Zweck und Mittel der
germ. RG S 57 f.; K. Maurer, KrV XVI 83; v. Richthofen, Zur Lex Saxonum,
1868, § 16: die Todesstrafen des sächs. Rechts; Thonissen, Mém. sur les peines
capitales dans la législation mérovingienne, 1877.
Die Friedlosigkeit schlieſst den freien Volksgenossen von der
Friedens- und Rechtsgemeinschaft aus. Den Ausgeschlossenen schirmt
der allgemeine Friede nicht, er ist „friedlos“. Die Rechtsordnung
ist für ihn nicht vorhanden, er ist exlex, angelsächsisch ûtlah, mittel-
niederdeutsch uutlagh, nordisch útlagr. Wie die Fehde die Feind-
schaft einer zur Rache berechtigten Sippe, bedeutet die Friedlosigkeit
die Feindschaft allen Volkes 1. Der Mangel des Friedens und Rechts-
schutzes stellt die negative, die Feindschaft der Gesamtheit die posi-
tive Seite der Friedlosigkeit dar.
Der Friedlose kann nicht bloſs, sondern er soll, weil er Feind
des Volkes, von jedermann verfolgt werden. Wird er getötet, so liegt
er buſslos. Wer ihn tötet, handelt im Interesse und im Namen der
Gesamtheit, deren Willen er vollstreckt 2. In Staatswesen, in welchen
einerseits das Gemeingefühl eine Abschwächung erfahren hatte, andrer-
seits aber die Strafe der Friedlosigkeit zu ausgedehnter Anwendung
kam, sah man sich veranlaſst, von Staats wegen einen Preis auf den Kopf
jedes Friedlosen zu setzen 3. Weil der Friedlose die Gesamtheit zum
Feinde hat, ist es jedermann bei Strafe verboten, ihm Unterstützung
zu gewähren, ihm Obdach oder Unterhalt zu geben, ihn zu speisen,
zu hausen und zu hofen 4. Dieses Verbot gilt auch für die Bluts-
[167]§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
verwandten und für das Eheweib des Friedlosen. Die Friedlosigkeit
schneidet sowohl das rechtliche Band der Sippe 5 als auch das der
Ehe entzwei. Der Friedlose hat die Blutsfreundschaft verwirkt. Die
Frau wird rechtlich als Witwe, die Kinder werden rechtlich als Waisen
angesehen.
Der Friedlose darf nicht im Kreise der Volksgenossen leben,
„habitare inter homines“. Um dem Tode zu entgehen muſs er fliehen,
wenn man ihn fliehen läſst. Drum ist die Heimat des Friedlosen der
Wald. Waldgänger heiſst er im Norden 6. Homo qui per silvas vadit
wird der schädliche Mann, der den Frieden verwirkt hat, in einem
Gesetze des Frankenkönigs Chilperich genannt 7. Und noch in einem
Landfrieden Friedrichs I. von 1187 klingt die uralte Auffassung durch,
daſs der Wald der Zufluchtsort des Ächters sei 8.
Eine gemeinsame Bezeichnung des Friedlosen war warc, warg,
wörtlich so viel wie der Würger, der Wolf 9. Wargus heiſst der
Friedlose im ältesten salischen Volksrecht. Vearg nennen die Angel-
sachsen den zum Galgen oder zur Acht verurteilten Missethäter 10.
Als warc erscheint der Teufel in dem althochdeutschen Gedichte vom
4
[168]§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
Weltuntergang 11 und warag ist dem Verfasser des Heliand der Ver-
räter Judas 12, da er sich entleibt. Im Altnordischen bedeutet vargr
einerseits den Wolf, andrerseits den Friedlosen. Eine angelsächsische
Quelle sagt von dem Friedlosen, er trage ein Wolfshaupt. Die Rechts-
sprache will damit zum Ausdruck bringen, daſs der Friedlose wolfs-
frei sei, wie der Wolf als allgemeiner Feind von jedermann erschlagen
werden könne und solle 13.
Die Friedlosigkeit ergreift nicht bloſs die Person, sondern auch
das Vermögen. Hab und Gut des Friedlosen werden nicht etwa
seinen Erben ledig, sondern verfallen von Rechtswegen dem König
oder dem Gemeinwesen oder werden nach bestimmtem Verhältnis
zwischen beiden verteilt 14. Auch der Verletzte, der die Friedlos-
legung erwirkte, erhält einen Anteil oder wird aus dem eingezogenen
Vermögen des Friedlosen befriedigt. Mit Rücksicht auf die Wirkung,
welche die Friedloslegung ausübt, sprechen jüngere Quellen von einer
[169]§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
Friedloslegung nicht bloſs der Person, sondern auch des Gutes 15.
Die Friedlosigkeit tritt begrifflich schon durch die Unthat ein, auf
die sie gesetzt ist. Allein dieser Grundsatz konnte nur im Falle der
handhaften That zur unbeschränkten Durchführung gelangen, da an-
dernfalls durch ein gerichtliches Verfahren konstatiert werden muſste,
daſs die Voraussetzungen der Friedlosigkeit vorlagen. Das Tötungs-
recht ist aus dem Gesichtspunkte der Friedlosigkeit für den Fall der
handhaften That nachmals bei manchen Verbrechen gegeben, die sonst
nur durch Buſszahlung gesühnt zu werden brauchten. Bei nicht hand-
hafter That bedurfte es, um die vollen Wirkungen der Friedlosigkeit
herbeizuführen, des Rechtsaktes der förmlichen Friedloslegung. Sie
ist Verhängung und feierliche Verkündigung der Friedlosigkeit und
erfolgte in der Landes- oder Gerichtsgemeinde, später durch den
König. Die Friedloslegungsformeln, die aus jüngerer Zeit überliefert
sind, enthalten regelmäſsig das Verbot, dem Friedlosen Obdach und
Nahrung zu gewähren.
Das sächsische, das friesische, das fränkische Recht und nordische
Zeugnisse kennen als Bestandteil der Friedloslegung ein in hohes
Altertum hinaufreichendes Verfahren, welches zusammenwirkend mit
dem Verbote des Hausens und Hofens den Friedlosen zwingt, die
Gemeinschaft der Menschen zu fliehen und „das Andenken desselben
aus der Gemeinde vertilgt“ 16. Der Friedlosgelegte wird nämlich ver-
folgt mit Brand und Bruch, mit Feuer und Brand, mit Feuer und
Flamme, indem die Genossen der Gerichtsgemeinde sich zusammen-
scharen, um dem Missethäter Haus und Hof niederzubrennen oder
niederzureiſsen. Ein fränkisches Kapitular für Sachsen von 797 be-
zeugt das Brandrecht als eine althergebrachte Einrichtung 17. Jüngere
niederdeutsche Quellen erwähnen Bruch und Brand entweder als
rechtlichen Bestandteil der Friedloslegung oder als selbständige Strafe 18.
[170]§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
In holländischen Stadtrechten ist aus dem Niederbrennen der Were
eine symbolische Handlung des Formalismus der Friedloslegung ge-
worden, welche woestinge, Wüstung 19 genannt wird und darin besteht,
daſs der Richter, während er die Formel der Friedloslegung spricht,
dreimal eine brennende Fackel schwingt 20.
Ausgedehnten Gebrauch machen von der Friedlosigkeit die nord-
germanischen Rechte zu einer Zeit, da sie bei den Westgermanen
bereits in enge Grenzen eingeschränkt ist. Und zwar kennt das alt-
nordische Recht zwei Hauptarten der Friedlosigkeit, eine strengere
und eine mildere. Jene tritt bei sogen. úbótamál, bei buſslosen
Thaten, diese bei minder schweren Übelthaten, bei den sog. útleg-
đarmál 21 ein. Die mildere Friedlosigkeit ist eine bedingte, denn sie
giebt dem Friedlosen das Recht, sich durch Buſszahlung aus der Fried-
losigkeit herauszuziehen, während ihm bei der strengeren Friedlosig-
keit dieser Anspruch versagt ist. Letztere scheint das ältere Rechts-
institut zu sein 22. Die mildere Friedlosigkeit mag als ein Erzeugnis
18
[171]§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
jüngerer Rechtsbildung teils einer Abschwächung der unbedingten
Friedlosigkeit, teils einer bewuſsten Reaktion gegen die Ausdehnung
der Blutrache ihre Ausdehnung verdanken 23. Während in den Buſs-
fällen der westgermanischen Rechte das Urteil stets auf das Ver-
sprechen der Buſszahlung lautet und die Friedlosigkeit erst verhängt
wird, wenn der Schuldige die Erfüllung des Urteils hartnäckig ver-
weigert, spricht im Norden das Urteil bei den útlegđarmál zunächst
die Friedlosigkeit aus, gestattet aber dem Verurteilten, durch das
Anerbieten der Buſszahlung den Frieden zu gewinnen. Diese resolutiv
bedingte Friedlosigkeit steht auch auf Unthaten, welche wie der
einfache Totschlag bei den Westgermanen ein Fehderecht des be-
leidigten Geschlechtes gegen den Missethäter und seine Sippe be-
gründen. Die Friedlosigkeit des Totschlägers entzieht ihm von Rechts-
wegen den Beistand seiner Magen und schlieſst eine Befehdung der-
selben aus. Die Stelle des westgermanischen Fehderechts vertritt
im Norden ein Recht der Rache, welches unter dem Gesichtspunkte
der Friedlosigkeit bei handhafter That und innerhalb gewisser Be-
schränkungen in notorischen Fällen schon vor der Ächtung des Thäters
gegen die Person desselben geübt werden darf. Die westgermanischen
Rechte stehen, soweit sie die Geschlechterfehde als solche gestatten,
auf dem älteren Standpunkte der historischen Entwicklung 24.
Weit beschränkter als in den nordischen Quellen des zwölften
und dreizehnten Jahrhunderts ist das Herrschaftsgebiet der Friedlosig-
keit in den deutschen Volksrechten der fränkischen Zeit. Sie tritt
regelmäſsig als Folge des Ungehorsamsverfahrens ein, wenn der Misse-
thäter die rechtmäſsige Sühne der Unthat verweigert. Andrerseits
sind aber doch noch Spuren einer Friedlosigkeit vorhanden, welche als
Folge der Unthat an sich gesetzt ist. Die angelsächsische Rechts-
sprache überliefert uns für solche Unthaten den Ausdruck ûtlages
weorc 25. Nach dem Volksrechte der salischen Franken soll derjenige,
der einen bestatteten Leichnam beraubt, friedlos, wargus sein, bis er
22
[172]§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
die Verwandten des Toten versöhnt hat und diese für ihn bitten, daſs
es ihm gestattet werde inter homines accedere 26. Friedlos, aspellis 27
wird bei den Saliern auch eine Freie, die sich mit ihrem Knechte
ehelich verbindet; doch ist in solchem Falle von einer Wieder-
gewinnung des Friedens nicht die Rede. Am nächsten steht den
skandinavischen Rechten in der umfassenden Anwendung der Fried-
losigkeit das altlangobardische Recht. Es verpönt eine nicht unerheb-
liche Anzahl von Unthaten mit der stereotypen Wendung: animae
suae (oder mortis, sanguinis) incurrat periculum und zwar entweder
unbedingt oder so, daſs der Thäter durch Zahlung einer Buſse sich die
Sicherheit seines Lebens erkaufen kann 28.
Die hervorragende Rolle, welche die Friedlosigkeit einst bei allen
Germanen gespielt haben muſs, schimmert durch die Ausdrücke hin-
durch, welche uns die alte Sprache für den Begriff verurteilen über-
liefert. Das Gotische hat das Verbum gavargjan für verdammen 29
und das Substantivum vargitha 30, Urteil, Verdammnis. Varg ist aber,
wie oben ausgeführt worden, der Friedlose. Dem gotischen vargitha
entspricht das in einem sächsischen Kapitular bezeugte altsächsische
Wort wargida, condemnatio 31 und der Ausdruck vergđu, værgđu der
angelsächsischen Poesie: Fluch, Verdammnis, Strafe 32. Die Verben
[173]§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
got. afdomjan, ahd. farwâzan, alts. forwâtan 33 werden einerseits für
verurteilen, andrerseits für verfluchen gebraucht 34.
Die Friedlosigkeit schlieſst in ältester Zeit die Tötung und die
Verbannung, die Strafknechtschaft, die Vermögenseinziehung und den
Hausbrand in sich, die sich später als selbständige Strafen von ihr
abgespalten haben. In engem geschichtlichen Zusammenhange steht
die Friedlosigkeit mit den Todesstrafen. Man darf die Friedloslegung
geradezu als das Todesurteil einer Rechtsgenossenschaft bezeichnen 35,
welche die Verfolgung und Tötung des Verbrechers nicht bestimmten
Polizeiorganen, etwa beamteten Schergen, sondern sämtlichen Rechts-
genossen überläſst. Nach den nordischen Rechten sollte das Todes-
urteil, welches die Friedloslegung enthielt, erst binnen einer gewissen
Frist wirksam werden. In der Regel gönnte man dem Verurteilten
die Zeit zur Flucht. Er sollte erst getötet werden dürfen, wenn das
Gericht beendigt war, welches die Friedlosigkeit ausgesprochen hatte.
Offenbar sollte die Situation des Angeklagten nicht dadurch ver-
schlimmert werden, daſs er sich freiwillig vor Gericht stellte. Andern-
falls hätte man auf das Fernbleiben des Schuldigen eine Prämie
gesetzt. Wurde die Frist zur Flucht versagt 36 oder wurde der Misse-
thäter auf handhafter That ertappt, so setzte sich die Friedlosigkeit
thatsächlich sofort in die Todesstrafe um. Gegen den flüchtigen Ver-
brecher war — wenn wir uns in ein Gemeinwesen ohne Polizei
hineindenken — ein Todesurteil nur in der Form der Friedloslegung
wirksam, weil erst durch diese der einzelne Volksgenosse die Erlaubnis
erhielt, den Missethäter zu verfolgen, sich seiner zu bemächtigen, ihn
zu töten. Eine Beschränkung der allgemeinen Tötungsbefugnis, wie sie
mit der Friedlosigkeit ursprünglich regelmäſsig gegeben war, hebt an
sich den Begriff der Friedlosigkeit nicht auf. Jüngere Quellen kennen
eine Friedlosigkeit, die sich nur in dem allgemeinen Rechte der Fest-
nahme des Verurteilten äuſsert 37 oder die Tötung dem Verletzten
[174]§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
oder dem Richter und seinen Organen oder jenem und diesen vor-
behält 38.
Vereinzelte Rechtsgrundsätze, welche die Quellen der fränkischen
Zeit für die Todesstrafe aufstellen, weisen darauf hin, daſs sie aus
der Friedlosigkeit ihren Ursprung genommen habe. Wie die Fried-
losigkeit kann die Todesstrafe gegen Geldzahlung erlassen werden.
Verbrechen, die sonst durch compositio gesühnt werden dürfen, wer-
den im Fall der handhaften That mit dem Tode bestraft 39. Wie mit
der Friedloslegung ist auch mit dem Todesurteil nach fränkischem
Rechte die Konfiskation des Vermögens verbunden 40. Laut einer
jüngeren, aber durchaus glaubwürdigen Nachricht muſste nach frän-
kischem Rechte der Aberkennung des Lebens die utlagatio voraus-
gehen 41. Wo später von Todesstrafen die Rede ist, werden sie nicht
selten unter Ausdrücken erwähnt, welche sie als Vollstreckung der
Friedlosigkeit erscheinen lassen 42. Auf engen Zusammenhang zwischen
37
[175]§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
Friedlosigkeit und Todesstrafe weist es auch hin, wenn die Satzungen,
die letztere androhen, es unterlassen eine bestimmte Todesart aus-
zusprechen 43, wenn das Urteil schlechtweg auf Tod ohne Angabe der
Todesart lautet und wenn es Sache der Exekutivgewalt, des Königs
oder des Richters oder wenn es nach jüngeren Quellen Befugnis des
jüngsten Schöffen oder gar des Henkers ist, die Todesart zu be-
stimmen 44.
Wohl noch innerhalb des Systems der Friedlosigkeit entfaltete sich
bei den Germanen ein sakrales Strafrecht, welches schändliche und
sündhafte Thaten zur Versöhnung der Götter mit dem Opfertode be-
strafte. Tacitus berichtet in unzweideutiger Weise, daſs die Germanen
neben den Buſsen, durch welche leichtere Vergehen gesühnt wurden,
die Todesstrafe kannten. Verräter und Überläufer seien aufgehängt,
Feiglinge und durch unnatürliche Laster Befleckte in Schlamm und
Moor lebendig begraben worden 45. Aus jüngeren sächsischen und
friesischen Quellen können wir zurückschlieſsen, daſs u. a. auch die
Verletzung der Heiligtümer 46 und schädliche Zauberei 47 als todes-
würdige Verbrechen, erstere durch Ertränken, letztere durch Ver-
brennen bestraft wurden. Altsachsen und Angelsachsen und ebenso
die Nordgermanen wendeten die Todesstrafe in gröſserem Umfange
an, letztere 48 vielleicht als Strafe für alle Verbrechen, die sie als
Neidingswerke (níđingsverk), d. h. als Schurkenwerke zusammenfaſsten.
Die Todesstrafen der germanischen Zeit waren sakraler Natur 49. Bei
den Nordgermanen ist uns der Charakter der Todesstrafe als eines
den Göttern dargebrachten Menschenopfers sicher bezeugt. Beispiels-
weise wurde Mördern am Opfersteine der Rücken gebrochen, wurden
Verbrecher in einen Opfersumpf gestürzt. Den Opfertod kannte auch
[176]§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
das friesische Recht 50, ja ein merkwürdiger Rechtssatz einer zu An-
fang des neunten Jahrhunderts entstandenen Rechtsaufzeichnung der
chamavischen Franken läſst vermuten, daſs auch die Franken einstens
den rückfälligen Dieb den Göttern zu opfern pflegten 51. Es ist eine
für die Geschichte des germanischen Strafrechtes hochwichtige Frage,
ob wir die Menschenopfer unter den Gesichtspunkt eines Systems
öffentlicher Strafen zu bringen haben oder ob sie sich in den Rahmen
der Friedlosigkeit einfügen lassen, etwa in der Weise, daſs dem Ver-
brecher, sofern nicht handhafte That vorlag, zunächst der Friede, die
Mannheiligkeit abgesprochen wurde, während die Vollstreckung der
Friedlosigkeit aus religiösen Gründen den Priestern vorbehalten war.
Wie sonst die Feindschaft oder der Zweck, den Friedlosen unschädlich
zu machen, die Tötung des Verbrechers veranlaſste, so stand etwa bei
sündhaften Thaten die Vollstreckung der Friedlosigkeit unter dem
religiösen Gesichtspunkt, daſs der Verbrecher dem Zorne der Götter
als Opfer verfallen sei. Man mag davon absehen, daſs nicht bloſs
Verbrecher, sondern auch Gefangene und Sklaven zu Menschenopfern
verwendet wurden, und der Opfertod hier nicht den Charakter der
Strafe haben konnte. Bedeutsam ist aber, daſs wenigstens bei den
Westgermanen dem Opferakte die Anwendung eines Ordals vorausging,
welches nicht zu Beweiszwecken diente, sondern den Willen der
Götter erkunden sollte, ob ihnen der bereits überführte Verbrecher
oder der gefangene Feind als Opfer genehm sei 52. Fielen die Lose
[177]§ 23. Der Rechtsgang.
zu Gunsten des Verbrechers oder überstand er unversehrt das Feuer-
oder Wasserordal, so äuſserte sich die Friedlosigkeit in anderer Form;
man mochte den Verbrecher in die Knechtschaft verkaufen oder das
Land fliehen oder aber den Frieden durch Zahlung des Wergeldes
gewinnen lassen. War das Ergebnis des Ordals ein ungünstiges, so
stellte sich die Tötung als Erfüllung des göttlichen Willens dar und
konnte sonach nicht die unmittelbare Vollziehung eines auf Todes-
strafe lautenden Urteils sein. Als Todesstrafe im Sinne eines Systems
öffentlicher Strafen, als eigentliches Rechtsverfahren wird man daher
den Opfertod kaum bezeichnen, sondern darin nur den Ansatz zur Ent-
wicklung eines wahren Strafrechts erblicken können.
Mit der Christianisierung der deutschen Stämme war der Fort-
bildung des sakralen Strafrechtes die Grundlage entzogen. Wie
später im Norden der Opfertod durch andere Strafen ersetzt wurde,
so trat auch bei den meisten deutschen Stämmen, als die Ideen des
Christentums zur Herrschaft gelangten, eine weitgehende Beschrän-
kung der Todesstrafe ein. In Gallien hatte die Kirche schon in vor-
fränkischer Zeit sich bestrebt, die Anwendung der Todesstrafen des
römischen Rechtes durch die Praxis der Sühnverträge zu ersetzen 53.
Das älteste Volksrecht der salischen Franken macht von der An-
drohung des Todes nur in sehr wenigen Fällen Gebrauch 54. Ver-
mutlich hatte man, weil die Erinnerung an die Menschenopfer des
Heidentums noch zu lebendig war, die Todesstrafen durch Wergelder
und hohe Buſsen ersetzt.
Rogge, Über das Gerichtswesen der Germanen, 1820. G. Lud. Maurer, Geschichte
des altgerm. und namentlich altbair. Gerichtsverfahrens, 1824. H. Siegel, Ge-
schichte des deutschen Gerichtsverfahrens, 1857. v. Bethmann-Hollweg, Civil-
prozeſs des gemeinen Rechts IV, 1868. Sohm, Der Proceſs der Lex Salica, 1867.
Behrend, Zum Proceſs der Lex Salica, (Festgaben für Heffter) 1873. Konrad
Maurer, Das Beweisverfahren nach deutschen Rechten, KrÜ V 180. 332. Heinrich
Brunner, Entstehung der Schwurgerichte, 1872. v. Amira, Über salfränkische Eides-
hilfe, Germania 1875, XX 53. R. Loening, Der Reinigungseid bei Ungerichtsklagen,
1880. Konrad Cosack, Die Eidhelfer des Beklagten nach ältestem deutschem
Recht, 1885. Majer, Geschichte der Ordalien, 1795. Wilda, Ordalien, in Ersch und
Grubers Encyklopädie, Sekt. III Bd IV S 453 ff. Konrad Maurer, Das Gottesurteil
im altnordischen Rechte, Germania XIX 139 ff. Homeyer, Über das germ. Losen,
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 12
[178]§ 23. Der Rechtsgang.
Monatsber. der Berliner Akad. 1853 S 747. Dahn, Studien zur Geschichte der
germ. Gottesurtheile, Bausteine II, 1880. W. Unger, Der gerichtliche Zweikampf,
1847. Ebbe Hertzberg, Grundtrækkene i den ældste Norske Proces, 1874. Karl
Lehmann, Der Königsfriede der Nordgermanen, 1886, S 13. 111.
Der Begriff des Rechtsganges ist weiter als der des Gerichts-
verfahrens. Er schlieſst jede in rechtmäſsiger Form sich bethätigende
Geltendmachung verletzter Rechte in sich, auch diejenige, welche
den Weg erlaubter Selbsthilfe beschreitet. Soweit letztere sich als
rechtmäſsige Fehde äuſsert, ist sie schon oben § 21 zur Sprache
gekommen.
Für den Rechtsgang der germanischen Zeit fehlt es uns an allen
gleichzeitigen Nachrichten; doch gestattet die kritische Vergleichung
der Prozeſsinstitute, welche uns jüngere Quellen vor Augen führen,
auf gewisse Grundlagen zurückzuschlieſsen, die den verschiedenen
deutschen Stämmen im Rechtsgange von altersher gemeinsam waren.
Zu diesen Grundlagen zählen die Öffentlichkeit und die Mündlich-
keit des Verfahrens, das Walten der Verhandlungsmaxime und die
strenge Herrschaft der Form. Vermöge der Verhandlungsmaxime war
das Ermessen des Gerichts in die denkbar engsten Grenzen gebannt
und bildete die selbständige Parteihandlung den eigentlichen Schwer-
punkt des Rechtsganges. Dieser bewegt sich zum groſsen Teile
auſserhalb des Gerichts, so daſs das Verfahren vor Gericht nur ein
einzelnes Stadium des Rechtsganges ausmacht; ja es giebt Formen des
Rechtsganges, welche sich unter Umständen durchaus auſsergerichtlich
abwickeln, der gerichtlichen Ingerenz völlig entbehren können. Enge
verschwistert mit der unbeschränkten Durchführung des Verhandlungs-
prinzips war die rechtsförmliche Gestaltung des Verfahrens. Jeder
Rechtsgang bedarf einer Zwangsgewalt, welche eine bestimmte Ord-
nung des Verfahrens verbürgt. Wo wie im germanischen Prozeſs-
rechte das Gericht der dazu erforderlichen Machtfülle entbehrte, muſste
der Zwang der Form das Verfahren in festem Geleise halten. Die
selbständigen Parteihandlungen waren als Formalakte ausgestaltet, sie
muſsten, um prozessualisch wirksam zu werden, gewissen Form-
vorschriften genügen. Für das gesprochene Wort galt, da es an
einem Organe zur freien Auslegung der Parteierklärungen fehlte, der
Grundsatz der strikten Buchstabeninterpretation. Der altdeutsche
Rechtsgang zeichnete sich durch einen einfachen aber groſsartigen
Formalismus aus. Er stellte sich zugleich als ein Verfahren strengen
Rechtes dar, da Formverstöſse und fehlerhafte Erklärungen unheilbar
waren, in ihren nachteiligen Wirkungen nicht wieder gut gemacht
werden konnten. Nichts ist daher unrichtiger als die Ansicht, daſs in
[179]§ 23. Der Rechtsgang.
ältester Zeit die Rechtshändel mit billiger Berücksichtigung des ein-
zelnen Falles in gemütvoll patriarchalischer Weise entschieden worden
seien.
Das gerichtliche Verfahren bezweckt, soweit es sich um sühnbare
Rechtsverletzungen handelt, an Stelle des Streites einen Vertrag, eine
Sühne der Parteien zu setzen. Durch das Urteil des Gerichts wird
den Parteien auferlegt, einen Sühnevertrag abzuschlieſsen, indem es
den Inhalt desselben näher bestimmt. Das Urteil wird daher selbst
als Sühne, sôna, suona 1, der iudex als Sühner, sôneo, sônari, iudicare
als sônjan, gasônjan 2 bezeichnet. Vorbild der gerichtlichen Sühne
dürfte die auſsergerichtliche Sühne gewesen sein. In Fällen, in
welchen eine solche nicht zustande kam, machte die von dem Ver-
letzten angerufene Gesamtheit einen Sühnezwang geltend. Wer sich
weigerte, die durch das Urteil auferlegte Sühne einzugehen, wurde
aus der Friedens- und Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen und damit
zum Feinde des Gemeinwesens erklärt.
Die Einleitung des Verfahrens ist Sache des Verletzten. Sie ge-
schieht regelmäſsig durch auſsergerichtliche Ladung, welche als rechts-
förmliche Parteihandlung vom Kläger in Gegenwart von Zeugen in
der Wohnung des Beklagten vollzogen wird. Die fränkischen Quellen
überliefern uns dafür die technische Bezeichnung mannire (manôn),
mannitio (Mahnung).
Vor Gericht bringt der Kläger seine Klage unter Anrufung der
heidnischen Götter 3 in rechtlich hergebrachten Formen vor. Alt-
hochdeutsche Glossen haben für klagen die Ausdrücke mahalan,
stowan, sachan, harên, zîhan, klagôn 4. Die Klage heiſst mâlî,
mahalizze, stowunga, sachunga, chlagunga, anasprâcha, ziht, ags. tiht.
Während er die Klagformel spricht, hält der Kläger einen Stab in
der Hand, eine Förmlichkeit, nach welcher klagen auch bestaben
(bistabôn 5) und stabsagen (stapsakên 6) genannt wird. Auf die Klage
12*
[180]§ 23. Der Rechtsgang.
hin ist es der Kläger selbst, der den Beklagten in feierlicher Weise
auffordert, die Antwort abzugeben. Die fränkischen Volksrechte haben
für diese Aufforderung die technische Bezeichnung tanganare 7. Wenn
der Beklagte sich verteidigt, so muſs seine Antwort, ahd. werî 8,
antsegida, ags. andsæc, die Klage in ihrem vollen Inhalte Wort für
Wort negieren, da nach dem Grundsatze der Buchstabeninterpretation
das nicht Negierte für zugestanden erachtet wird.
Das gerichtliche Erkenntnis, gemeingermanisch Dom 9, west-
germanisch Urteil 10 genannt, wird nach den deutschen Stammes-
rechten vor dem Beweisverfahren gefällt. Macht die Verteidigung des
Beklagten ein solches notwendig, so bildet die Beweisfrage einen
Bestandteil des durch das Urteil auferlegten Sühnevertrags. Hat
z. B. der Beklagte zu beweisen, so gebietet ihm das Urteil zu ge-
loben, daſs er den auferlegten Beweis leisten oder den Anspruch des
Klägers erfüllen werde 11.
Die Eigenart des germanischen Beweisrechtes erklärt sich aus
der Thatsache, daſs der Beweis in vorhistorischer Zeit der freien
Vereinbarung der Parteien unterlag und daſs der Beweisvertrag aus
der auſsergerichtlichen Beilegung der Rechtshändel in den gerichtlichen
Rechtsgang herübergenommen wurde. Auf den freien Vertrag als die
ursprüngliche Grundlage des Beweisrechtes weist die Eigentümlichkeit
des ältesten salischen Rechtsganges zurück, daſs es im Belieben der
Parteien stand, ein anderes als das von Rechtswegen erforderliche
Beweismittel zu paktieren, an Stelle eines Gottesurteils einen Parteieid
6
[181]§ 23. Der Rechtsgang.
zu wählen 12. Aus einem auſsergerichtlichen Beweisgedinge erklärt
sich der Ursprung des Beweises durch Geschäftszeugen. Bei Abschluſs
eines Rechtsgeschäftes oder bei Vornahme eines sonstigen Rechtsaktes
konnte sofort die Form vereinbart werden, in welcher der Beweis
des Rechtsgeschäftes oder des Rechtsaktes zu erbringen sei, wenn
sie hinterher bestritten würden. Die Kontrahenten zogen bei dem
Abschluſs des Geschäftes Zeugen zu, indem sie verabredeten, daſs
der Eid dieser Zeugen eventuell den Abschluſs und den Inhalt des
Rechtsgeschäftes feststellen solle.
Da die Thätigkeit des Gerichtes sich darauf beschränkt, einen
Sühnevertrag der Parteien zustande zu bringen, wird von dem ge-
samten Beweisverfahren nur der Abschluſs des Beweisvertrags — als
ein Bestandteil des Sühnevertrags — in das Verfahren vor Gericht
hineingezogen. Die Erfüllung des Beweisvertrags ist eine auſser-
gerichtliche Angelegenheit der paktierenden Parteien, mit welcher das
Gericht als solches sich nicht weiter befaſst. Demgemäſs wird das
Verhandlungsprinzip in seiner vollen Konsequenz auf das Beweis-
verfahren ausgedehnt. Der Beweis, welchen die Partei auf Grund
des Urteils angelobt, wird von ihr nicht dem Gerichte, sondern dem
Prozeſsgegner geliefert. Das Beweisverfahren ist der richterlichen
Prüfung entzogen; die Stelle derselben vertritt gemäſs dem Walten
der Verhandlungsmaxime die Herrschaft der Form im Beweisverfahren.
Die Glaubwürdigkeit der Beweismittel beruht nicht wie nach dem
modernen Grundsatz der freien Beweiswürdigung auf der subjektiven
Überzeugung des Gerichts, sondern auf dem Glauben, welchen die
allgemeine Volksüberzeugung bestimmten beweisrechtlichen Handlungen
beilegt. Die germanischen Beweismittel sind formaler Natur. Der
aus der Volksüberzeugung hervorgehende Gesamtwille bestimmt ein
für allemal die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit ein
Beweis für erbracht gelten könne. Eben darin beruht aber das
juristische Wesen der Form, daſs die Gesamtheit ihren Willen und
ihre Anschauungen über den Willen und die Anschauungen der
Individuen stellt 13.
Die im germanischen Rechtsgange anerkannten Beweisformen
sind der Eid und das Gottesurteil. Beide beruhen auf religiöser
Grundlage, nämlich auf dem Glauben, daſs den Göttern die Ver-
gangenheit bekannt sei. Der Eid ist eine feierliche Beteuerung,
welche für den Fall der Unwahrheit die göttliche Vergeltung auf den
Schwörenden herabruft. Er wird als Parteieid oder als Zeugeneid
geschworen. Der Parteieid ist entweder Eineid oder Eid mit Helfern.
Im letzteren Falle, der die Regel bildet, schwört die Partei mit einer
bestimmten Zahl von Mitschwörenden, consacramentales, coniuratores 14,
welche ursprünglich aus dem Kreise ihrer Verwandten ausgewählt
werden 15. Die Auswahl ist entweder ausschlieſslich Sache des
Schwörenden oder es wird wenigstens ein Teil der Eideshelfer von
dem Prozeſsgegner des Schwörenden aus den Sippegenossen des
letzteren ausgewählt. Der Eid der Eideshelfer schlieſst sich an den
Eid der Partei an und lautet dahin, daſs der von ihr geschworene
Eid ein wahrer Eid, daſs er rein und unmein sei. Was die Eides-
helfer veranlaſst, die Wahrheit des Parteieides zu beschwören, ob
persönliche Wahrnehmung oder das Vertrauen in die Wahrhaftigkeit
des Schwörenden, haben sie mit ihrem eigenen Gewissen und ihrer
eigenen Logik abzumachen 16. Nach auſsen hin bleiben die Gründe
ihrer Überzeugung latent.
Die Gottesurteile oder Ordalien 17, ein allgemein indogermanisches
Rechtsinstitut, setzen, soweit sie als Beweismittel zur Anwendung ge-
langen, voraus, daſs die Götter ihr Wissen um die Vergangenheit bei
gewissen Handlungen offenbaren, und bestehen in der Befragung der
Elemente des Feuers oder des Wassers, in der Befragung des Loses
13
[183]§ 23. Der Rechtsgang.
und in der Befragung des Kriegsgottes, als welche sich der Zwei-
kampf darstellt, der im Rechtsgange nicht als eine prozessualisch
geregelte Fehde, sondern als Beweismittel und zwar als Gottesurteil
aufzufassen ist 18. Das Ordal dient übrigens im ältesten Rechte nicht
bloſs als Beweismittel, sondern es wird auch angewendet, um den
Willen der Götter zu erkunden, ob ihnen der bereits überführte Ver-
brecher oder der gefangene Feind als Opfer genehm sei 19.
Wie das Beweisverfahren war in ältester Zeit auch das Be-
friedigungsverfahren ein auſsergerichtliches. Eine wahre Exekution,
eine gerichtliche Zwangsvollstreckung war dem altgermanischen Rechts-
gange fremd. Wenn der Verurteilte die Befriedigung des Klägers in
dem Sühnevertrage versprochen hatte, so konnte der Gläubiger unter
Erfüllung gewisser Förmlichkeiten zur auſsergerichtlichen Pfändung
des Schuldners schreiten und sich durch Pfandnahme befriedigen.
Widerstand gegen die rechtmäſsige Pfändung war strafbar, buſslos
dagegen die Verletzung, welche, um seinen Widerstand zu brechen,
dem Schuldner zugefügt wurde. Nordische Rechte geben unter be-
stimmten Voraussetzungen wegen Nichterfüllung des Urteils eine Klage
auf Friedloslegung des säumigen Schuldners 20. Die Friedloslegung
trifft auch nach westgermanischen Rechten den Beklagten, der sich
weigert, die Erfüllung des Urteils zu geloben, den durch das Urteil
auferlegten Sühnevertrag abzuschlieſsen. Wird das Gut des Friedlosen
gefront und zum Teile dem Kläger zugewendet, so liegt doch darin
keine Exekution; denn das Verfahren gegen den Friedlosen ist, weil
gegen einen Ungenossen gerichtet, kein Rechtsverfahren 21.
Besondere Grundsätze müssen für das Verfahren wegen todes-
[184]§ 23. Der Rechtsgang.
würdiger Verbrechen und für Klagen auf Friedloslegung des Geg-
ners gegolten haben. Eigenartig gestaltete sich das Verfahren bei
handhafter That, insofern dem Beklagten, den der Kläger gebunden
und geknebelt vor Gericht brachte, das Recht der prozessualischen
Gegenwehr versagt blieb, vielmehr dem Kläger gestattet wurde, mit
seinen Eideshelfern die Schuld des Beklagten sofort zu beweisen.
Ferner können wir aus den Quellen der folgenden Periode auf eine
eigentümliche Gestaltung der später sogenannten Anefangsklage, der
prozessualischen Verfolgung abhanden gekommener Fahrhabe zurück-
schlieſsen. Doch wird die zusammenhängende Erörterung dieser
Prozeſsinstitution besser der Darstellung des Rechtsganges der frän-
kischen Zeit vorbehalten. Eine Sonderstellung hat endlich das
Betreibungsverfahren wegen Vertragsschulden eingenommen. Hatte
jemand durch Schuldvertrag in rechtsförmlicher Weise eine Leistung
versprochen, so bedurfte es nicht erst eines gerichtlichen Urteils,
welches dem Schuldner auferlegt hätte, die schuldige Leistung anzu-
geloben. Stand der Abschluſs des Schuldvertrags auſser Zweifel, so
war es überflüssig, ein Urteil herbeizuführen, welches nur auf eine
Erneuerung des alten Schuldversprechens hätte lauten können. Der
Gläubiger war vielmehr auf Grund des auſsergerichtlich abgeschlossenen
Schuldvertrags in derselben Lage, als hätte ihm der Schuldner auf
Grund eines Urteils vor Gericht ein Erfüllungsversprechen gegeben.
Wie letzteren Falles das Befriedigungsverfahren in ältester Zeit ein
auſsergerichtliches war, so konnte der Gläubiger die Vertragsschuld
durch einen völlig auſsergerichtlichen Rechtsgang betreiben, indem er
den Schuldner in rechtsförmlicher Weise zur Zahlung aufforderte und
sich nach mehrmaliger vergeblicher Mahnung durch Pfandnahme aus
dem Vermögen des Schuldners befriedigte. Bestritt der Schuldner
die eingeforderte Schuld, so muſste die Sache allerdings auf den Weg
des gerichtlichen Verfahrens geleitet werden, denn dann bedurfte es
eines gerichtlichen Urteils, welches auf Beweis beziehungsweise auf
das Angelöbnis der Schuld erkannte.
Mascou, Gesch. der Teutschen II2, 1750. Löbell, Gregor von Tours und seine
Zeit, 2. Aufl. mit Zusätzen von Bernhardt 1869. Arnold, Deutsche Gesch. II,
fränkische Zeit, 1881. Nitzsch, Gesch. des deutschen Volks I, 1883. v. Ranke,
Weltgeschichte IV. V. VI. Digot, Histoire du royaume d’Austrasie, 4 Bde 1863.
Waitz, Deutsche Verfassungsgesch. II3, 1882, III2, 1883, IV2, 1885. W. Dönni-
ges, Das deutsche Staatsrecht u. die deutsche Reichsverfassung, 1842. R. Sohm,
Fränkische Reichs- u. Gerichtsverfassung, 1871. Edgar Loening, Das Kirchen-
recht im Reiche der Merowinger, 1878. Gustav Richter, Annalen des fränk.
Reichs im Zeitalter der Merowinger, 1873; im Zeitalter der Karolinger, 1. Heft bis
814, 1885. Jahrbücher des fränkischen Reiches: Bonnell, Anfänge des karol.
Hauses, 1866; Breysig, Die Zeit Karl Martells, 1869; H. Hahn, 741—752, 1863;
Oelsner, König Pippin, 1871; S. Abel, 768—788, 1866; B. Simson, 789—814,
1883; derselbe, Ludwig der Fromme, 2 Bde 1874. 1876.
Die Zwitterstaaten, welche die Ostgermanen auf römischer Erde
bildeten, haben sich nach kurzer Blütezeit ausgelebt. Goten, Van-
dalen und Burgunder waren durch die Flut der Völkerwanderung am
weitesten von der früheren Heimat abgetrieben worden. In den neuen
Wohnsitzen waren sie auſserstande sich durch das Zuströmen frischer
volksverwandter Kräfte zu ergänzen und verkümmerten sie an der
römischen Kultur, mit der sie sich zu früh und zu rasch gesättigt
hatten. Die Neugestaltung der abendländischen Welt, welche die ost-
germanischen Reiche nur vorbereiten, nicht durchführen konnten, ist
von dem Stamme der Franken vollbracht worden. Die Eroberung
Galliens, welches das Kernland des weströmischen Reiches gewesen
war, führte sie in das Erbe der christlich-römischen Bildung ein.
Nach Sprache und Anlage etwa in der Mitte stehend zwischen Ober-
und Niederdeutschen waren sie berufen, die sämtlichen deutschen
[188]§ 24. Das fränkische Reich.
Stämme des Kontinents unter ihrer Herrschaft zu vereinigen und
ihnen das Christentum sowie die selbständig verarbeiteten Überreste
der antiken Kultur zu vermitteln. Deutsches Blut und deutsches
Recht in die Reichsgebiete romanischer Zunge tragend haben sie diese
mit neuen Lebensbedingungen erfüllt und so ein Staatswesen geschaffen,
welches in der gleichmäſsigen Zusammensetzung aus germanischen und
romanischen Bevölkerungsmassen sein hervorragendes Merkmal, in der
gegenseitigen Berührung, Durchdringung und Abstoſsung derselben
den wesentlichen Inhalt seiner Geschichte hat.
Die Reichsgründung ging von dem salischen Zweige der Franken
aus. Nach der Besetzung Toxandriens 1, des Landes südlich und west-
lich der unteren Maas, dehnten die Salier, die unter römischer Ober-
hoheit und in der Schule des römischen Kriegsdienstes ihre hervor-
ragende politische und militärische Begabung auszubilden verstanden,
ihre Wohnsitze nach Süden aus, dem Lauf der Schelde folgend, welche
sie vermutlich schon zu Anfang des fünften Jahrhunderts überschritten.
Unter ihrem Könige Chlogio eroberten sie das römische Cambrai und
erwarben sie um die Mitte des fünften Jahrhunderts das Land bis zur
Somme. Die Ausbreitung des Stammes ging bis um diese Zeit Hand
in Hand mit der fortschreitenden Besiedlung der besetzten Gebiete.
Das Bedürfnis neuer Wohnsitze hatte ihn vorwärts gedrängt.
Dagegen gingen die Eroberungen, durch welche König Chlodovech
(481—511) die eigentliche Gründung der fränkischen Monarchie voll-
zog, nicht mehr aus dem Wandertrieb des Volkes sondern aus der
Initiative des Königtums hervor 2. Chlodovech war seinem Vater
Childerich, der als Föderat den Römern in Gallien Kriegsdienste ge-
leistet hatte, in das salische Teilkönigtum gefolgt, das in Tournay
seinen Sitz hatte. Mit seinem Geschlechtsvetter König Ragnachar ver-
bündet besiegte Chlodovech 486 den römischen Machthaber Syagrius,
der als Sohn des letzten römischen Statthalters Egidius nach der
Erhebung Odovakers ein Stück von Gallien in selbständiger Herrschaft
behauptet hatte. Die Frucht des Sieges war zunächst die Erwerbung
des Gebietes bis zur Seine; etwas später wurde auch das Land zwi-
schen Seine und Loire unterworfen. Im Jahre 496 unterlagen die
Alamannen den fränkischen Waffen, unterwarfen sich und muſsten,
wie es scheint, ihre nördlichen und westlichen Gaue vollständig ab-
[189]§ 24. Das fränkische Reich.
treten, während ein Bruchteil des Stammes im ostgotischen Reiche
Schutz und Aufnahme suchte und fand. Indem Chlodovech sich mit
etlichen Tausend seines Volkes zum Christentum bekehrte und zwar
nicht zum Arianismus der Westgoten und Burgunder, sondern zum
Katholizismus der römischen Provinzialen, zog er die wichtigste und
leistungsfähigste Organisation des Romanentums, die lateinische Kirche,
in das Interesse seiner Politik und machte er den gallischen Klerus,
der ihn als Boten Gottes begrüſste, zum gefügigen Werkzeuge seiner
Pläne. Als Vorkämpfer des Katholizismus griff Chlodovech das Reich
der Westgoten an, welchen er 507—510 das Land zwischen Loire und
Garonne entriſs 3. Aus einem Schreiben, das er in der Zeit des west-
gotischen Krieges an die Bischöfe Galliens richtete, geht hervor, daſs
während desselben die katholischen Kirchen und Kleriker des feind-
lichen Gebietes im Frieden und im Schutze des Frankenkönigs stan-
den 4. Zu Beginn seiner Laufbahn war Chlodovech nur König über
einen Teil der salischen Franken; indem er die blutsverwandten Mit-
könige ausrottete und sich von den Ribuariern nach Beseitigung ihres
Königsgeschlechtes zum König erheben lieſs, erlangte er die Allein-
herrschaft über den gesamten Stamm der Franken 5.
Nach dem Tode Chlodovechs teilten sich seine vier Söhne in das
Reich, um die Eroberungspolitik ihres Vaters gemeinschaftlich fort-
zusetzen. Diese hatte an der Machtsphäre des Ostgotenkönigs Theo-
derich ihre Schranke gefunden, welche hinwegfiel, als das ostgotische
Reich unter den Nachfolgern Theoderichs seine auswärtige Macht-
stellung einbüſste. Nunmehr vermochten die Franken Thüringen zu
unterwerfen (531) und dem burgundischen Reiche (532) ein Ende zu
machen. Der ostgotisch byzantinische Krieg trug ihnen die Provence
und die Herrschaft über die Reste der Alamannen ein. Um die Mitte
des sechsten Jahrhunderts stehen auch die Baiern in Abhängigkeit vom
fränkischen Reiche.
So ging das Wachstum der Franken mit einer merkwürdigen Ge-
setzmäſsigkeit nach zwei verschiedenen Richtungen vor sich. Wie
jeder Schwingung des Pendels eine entgegengesetzte entspricht, so
[190]§ 24. Das fränkische Reich.
findet bei der Ausbreitung des fränkischen Reiches jede Einverleibung
romanischer Provinzen ihr Widerspiel in einem Zuwachs deutscher
Volkskräfte, eine Erscheinung, die sich nachmals unter Karl dem
Groſsen wiederholte, als im Süden das Langobardenreich, im Norden
der Stamm der Sachsen unterworfen, im Westen die spanische, im
Osten die avarische Mark errichtet wurden.
Auf die Zeit der kraftvollen Konstituierung des Reiches folgten
die inneren Wirren und Thronstreitigkeiten unter den Söhnen und
Enkeln Chlothars I. Der häusliche Zwist streute die Saat für das
Emporwuchern einer trotzigen und selbstsüchtigen Aristokratie, er ver-
tiefte den bei den Reichsteilungen beachteten Gegensatz zwischen
Neustrien, dem überwiegend romanischen Neufranken, und dem fast
ausschlieſslich deutschen Austrasien, er bahnte die Entwicklung an,
durch welche die Hausmeier, ursprünglich königliche Hofbeamte, als
Führer der Groſsen entscheidenden Einfluſs auf die Reichsverwaltung
gewannen. Nach dem Tode Dagoberts I. (639), der letzten wirklichen
Herrschergestalt des merowingischen Hauses, führte die Schwäche des
Königtums allenthalben zur Ausbildung territorialer Sondergewalten.
Das Reich schien dem Untergange nahe zu sein. Da gelang es einer
jener Sondergewalten, dem austrasischen Herzogsgeschlechte der Arnul-
finger, die Hausmeierwürde über das gesamte Reich zu erwerben.
Im Namen des Königtums, das sie vertraten, wuſsten sie den Wider-
stand der territorialen Mächte zu brechen, die von den Arabern be-
drohte Existenz des Reiches zu retten, die Grenzen durch Erwerbung
Septimaniens und durch die Unterwerfung der West- und Mittelfriesen
zu erweitern und im Innern wieder eine starke Staatsgewalt herzu-
stellen. Als diese Aufgabe vollbracht war, beseitigte der letzte Haus-
meier, Pippin, der Sohn Karl Martells, das merowingische Schatten-
königtum, indem er sich im November 751 von den Franken zum
König erheben lieſs.
Der Übergang der königlichen Gewalt auf das Haus der Arnul-
finger, welches nach seinem glänzendsten Vertreter auch das der
Karolinger genannt wird, bezeichnet den wichtigsten Wendepunkt der
fränkischen Geschichte. Zwischen der merowingischen und der karo-
lingischen Epoche besteht ein tiefer innerer Gegensatz, der nicht über-
sehen aber freilich auch nicht, wie dies mitunter geschieht, überschätzt
werden darf. Hatten die schwachen Merowinger die Provinzen zu
einer Selbständigkeit gelangen lassen, welche den Bestand des Reichs
in Frage stellte, so verfolgten die Karolinger das Ziel, die regionalen
Gegensätze auszugleichen und die Regierung möglichst zu zentralisieren.
Die Staatsgewalt dehnte ihre Aufgaben auf bisher unberührte Lebens-
[191]§ 24. Das fränkische Reich.
gebiete aus und begann ein Reichsrecht von unbeschränkter territorialer
Geltung zu schaffen. Von kirchlichen Gesichtspunkten erfüllt, nahmen
Verwaltung und Gesetzgebung einen Zug der Bevormundung an,
welcher der merowingischen Zeit völlig fremd war. Während die mero-
wingische Toleranz den ostrheinischen Stämmen gestattet hatte in heid-
nischem Glauben und heidnischer Sitte zu beharren, wurden sie unter
den Karolingern von Staats wegen zum Christentum übergeführt und
in die kirchlichen und gesellschaftlichen Ordnungen des Westens
hineingezogen. Seit das Christentum als politische Grundlage der
Reichseinheit verwertet und gefördert wurde, veränderte sich das Ver-
hältnis des Staates zur Kirche. Diese wurde zur Mitwirkung an den
unmittelbaren Staatsaufgaben berufen, nachdem sie durch eine Reform
den Charakter der fränkischen Landeskirche eingebüſst hatte.
Das Geschlecht der Merowinger hatte einst in dem heidnischen
Mythus seines göttlichen Ursprungs eine religiöse Stütze seines Herr-
scherrechtes besessen. Eine solche verschaffte sich auch Pippin, indem
er zu seinem Staatsstreiche die Zustimmung des römischen Bischofs
einholte. Kirchliche Weihe und Salbung sollten den Mangel der
Legitimität ersetzen. Die neue Dynastie und das Papsttum traten
sofort in engste Beziehung. Pippin zog auf Bitten des Papstes nach
Italien gegen den Langobardenkönig Aistulf, welcher Rom bedrohte,
entriſs ihm die Eroberungen, die er in den vom Papste bean-
spruchten, nominell noch zum oströmischen Reiche gehörigen Teilen
Italiens gemacht hatte, und überwies sie dem Gemeinwesen des hei-
ligen Petrus.
Auf den Höhepunkt seiner Macht erhob sich das fränkische Reich
unter Karl dem Groſsen (768—814). Als die Langobarden unter
König Desiderius die Feindseligkeiten gegen das päpstliche Gebiet
erneuerten, unterwarf er sie und machte sich selbst zum König des
Langobardenreiches. Seit dem 5. Juni 774 urkundet er als rex
Francorum et Langobardorum, ein Titel, der die Sonderstellung des
Langobardenreichs zum Ausdruck brachte, welches der fränkischen
Monarchie nicht so enge wie die übrigen Provinzen angegliedert
wurde. In dreiſsigjährigem Kampfe zwang er die Sachsen unter
die Herrschaft der Franken und des Christentums, der nun auch
die Ostfriesen unterworfen wurden. Die Unbotmäſsigkeit des Baiern-
herzogs Tassilos III. bot den Anlaſs, das letzte der in mero-
wingischer Zeit selbständig gewordenen Herzogtümer zu beseitigen
und Baiern dem Reiche wieder völlig einzuverleiben. In glücklichen
Kriegen gegen Avaren und Araber gelang es, die Reichsgrenzen im
Osten und gegen Südwesten vorzuschieben.
Die Weltstellung, welche Karl hierdurch errungen hatte, die
Schutzherrschaft, die er in Sachen der römischen Kirche ausübte,
fanden ihren zeitgemäſsen Ausdruck in der Erneuerung des abend-
ländischen Kaisertums. Zu Weihnachten 800 wurde Karl in Rom
unter Akklamation des Volkes von Papst Leo zum Kaiser gekrönt
und als solcher adoriert. Die Idee des neuen Kaisertums wurzelte
in der Erinnerung an das römische Weltreich, welches ja in die An-
fänge aller germanischen Staatsbildungen hineinragte, hatte aber
auſserdem einen wesentlich kirchlichen Zusatz, indem der Kaiser als
Beschützer der katholischen Christenheit die kirchliche Einheit des
Abendlandes zur staatsrechtlichen Verkörperung bringen sollte, auf
daſs der Universalkirche die Universalmonarchie entspreche.
Diesen Tendenzen zum Trotz wurde die Kaiseridee der Todes-
keim des fränkischen Reiches. Der Gedanke der Universalmonarchie
setzte die Unteilbarkeit der Regierungsgewalt voraus. Allein ihr
widersprach die herkömmliche Thronfolgeordnung, nach welcher die
Reichsverwaltung unter mehrere Geschlechtsfolger geteilt wurde. Mit
Aussicht auf Erfolg konnte dieses Herkommen nur dann durchbrochen
werden, wenn in den Völkern und Stämmen des fränkischen Reiches
ein lebendiges Gefühl der Zusammengehörigkeit, ein ausgeprägtes
Einheitsbewuſstsein vorhanden gewesen wäre. Aber daran fehlte es,
wenn man absieht von den Kreisen der höheren fränkischen Geistlich-
keit, welche die Reichseinheit in kirchlichem Interesse verfocht, und
von dem Adel jenes Stammes, der die Gründung des Reiches bewerk-
stelligt hatte. Gerade das gesteigerte Tempo, in welchem nach der
Kaiserkrönung Karls regiert und zentralisiert wurde, scheint in der
Bevölkerung jene entgegengesetzte Unterströmung erzeugt zu haben,
welche durch den unter Ludwig I. eintretenden Zwiespalt an die
Oberfläche drang. Als dieser 817 auf einem Aachener Reichstage
Anordnungen über die Thronfolge traf, ernannte er Lothar, seinen
ältesten Sohn, zum Nachfolger in das Gesamtreich, zum Mitregenten
und zum Kaiser, beeinträchtigte dagegen die durch das Herkommen
begründeten Ansprüche seiner jüngeren Söhne, von welchen Pippin
nur Aquitanien, Ludwig nur Baiern, und zwar in der Stellung von
Unterkönigen Lothars erhalten sollten. Nach der Geburt eines vierten
Sohnes, der den Namen Karl erhielt, suchte Ludwig I. das Teilungs-
gesetz von 817 zu modifizieren. Da auch Pippin und der jüngere
Ludwig es als eine Schmälerung ihrer Rechte ansahen, so entstanden
Zwistigkeiten, durch welche das Reich tief zerrüttet, das Ansehen der
Krone arg erschüttert wurde. Ehe sie beigelegt waren, starb Ludwig I.
Lothar, dem sich die Söhne Pippins († 838) anschlossen, wurde von
[193]§ 24. Das fränkische Reich.
seinen verbündeten Brüdern Ludwig und Karl in der Schlacht von
Fontenoy (841) besiegt. Dieses Ereignis bedeutete die Niederlage
der von Lothar verfochtenen Idee der Reichseinheit. In dem 843
abgeschlossenen Teilungsvertrage von Verdun erhielt Ludwig die ost-
rheinischen Gebiete nebst den Gauen von Mainz, Worms und Speier,
Lothar den mittleren Teil des fränkischen Reiches, nämlich Italien,
die Provence, Burgund, Elsaſs und das später nach ihm benannte
Lothringen 6 mit Friesland, Karl der Kahle die westlichen Striche bis
an das Meer 7.
Die inneren Gährungen haben die Widerstandskraft des Reiches
gelähmt. Es vermag sich der Normannen und der Sarazenen nicht
mehr zu erwehren. Nur gegen die Slawen behaupten sich die Ost-
franken mit Erfolg. Die Normannengefahr führte 885 zur Vereinigung
des gesamten Reiches unter Karl III., dem jüngsten Sohne Ludwigs
des Deutschen. Allein seine unkönigliche Haltung in den Kämpfen
gegen die Normannen und seine durch einen Schlagfluſs gesteigerte
Regierungsunfähigkeit bewog die ostfränkischen Stämme, im November
887 seinen Neffen Arnulf zum König zu erheben 8. Karl III. sah sich
gezwungen die Regierung niederzulegen und starb am 13. Januar 888.
Sein Sturz war das Signal für die längst vorbereitete Auflösung der
fränkischen Monarchie, welche nunmehr in fünf selbständige Reiche
auseinanderfiel, da auſser dem ostfränkischen auch ein westfränkisches,
ein italienisches, ein hochburgundisches und ein niederburgundisches
Königreich entstand. Nachmals sind zwar Italien und Burgund mit
dem deutschen Reiche wieder vereinigt worden. Allein die Trennung
zwischen Ostfrancien und Westfrancien, auf deren Verbindung das
Wesen des fränkischen Reiches beruhte, ist eine dauernde geblieben.
So hat das fränkische Reich die Entstehung nationaler Staaten ver-
mittelt, aber nicht ohne zugleich gewisse Grundlagen des Rechtes und
der Kultur zu schaffen, welche während des Mittelalters und teilweise
noch heute ein Gemeingut des westlichen und mittleren Europa sind.
S. die Litteratur zu § 10 und Waitz, Über die altdeutsche Hufe, Abhandl. der
Göttinger Gesellsch. der Wissensch. VI 179 ff., 1854; derselbe, Verfassungsgesch.
II 1 S 277 ff. Paul Roth, Gesch. des Beneficialwesens, 1850. Gierke, Erbrecht
und Vicinenrecht im Edikt Chilperichs, Z f. RG XII 430. Rich. Schröder, Die
Ausbreitung der salischen Franken, zugleich ein Beitrag zur Gesch. der deutschen
Feldgemeinschaft, Forschungen XIX 144; derselbe, Die Franken und ihr Recht,
Z2 f. RG II 49 ff. F. Roth, Über den bürgerlichen Zustand Galliens vor der Zeit
der fränkischen Eroberung, 1827. Dahn, Gesellschaft und Staat in den german.
Reichen der Völkerwanderung, Hist. Taschenbuch, 5. Folge III 207. Perréciot,
De l’état civil des personnes et de la condition des terres dans les Gaules, 1845.
F. Schupfer, Degli ordini sociali e del possesso fondiario appo i Langobardi, 1861.
M. Thévenin, Les Communia, in den Mélanges Renier, Paris 1886, S 121 ff.
Die Eroberung Galliens führte die Franken in eine Welt scharfer
wirtschaftlicher Gegensätze. Eine Einwirkung der gallischen Zustände
auf das Wirtschaftsleben der deutschen Stämme konnte auf die Dauer
nicht ausbleiben, machte sich aber nur langsam und allmählich fühlbar,
selbst bei den Salfranken, die ihr zunächst ausgesetzt waren.
In den Gebieten, welche die Salier besiedelten, herrschten
schon in spätrömischer Zeit wirtschaftliche Verhältnisse, welche
von den germanischen minder weit abstanden, als die des
übrigen Galliens. Anders wie die ostgermanischen Stämme ver-
schmähten es die Franken, sich mit den Provinzialen auf eine
systematische Landteilung einzulassen. In der Zeit vor Chlodovech,
also in den Strichen bis zur Somme nahmen sie des Landes so viel
als sie brauchten. Die hier ansässige römische Bevölkerung wurde
durch die Ereignisse, unter welchen die Eroberung vor sich ging, arg
gelichtet, wie das Zurückdrängen des Christentums aus diesen Gegen-
den ersehen läſst, welche vom sechsten bis ins achte Jahrhundert als
ein ergiebiges Feld der Heidenbekehrung erscheinen 1. In den Ge-
bieten, die Chlodovech und dessen Nachfolger eroberten, wurde
der Grundbesitz der Provinzialen nicht angetastet. Dem Bedürfnis
der Salier nach neuen Wohnsitzen war schon durch die Erwerbungen
bis zur Somme reichlich Genüge geschehen, da nach Ausweis der
späteren Sprachgrenzen ihre kompakten Ansiedelungen nicht ganz bis
zu dieser Fluſslinie vordrangen 2.
Nach wie vor bewegt sich das Wirtschaftsleben der deutschen
Stämme ausschlieſslich oder doch fast ausschlieſslich auf dem Boden
[195]§ 25. Die wirtsch. Zust. um d. Zeit d. Reichsgr.
der Naturalwirtschaft. Handel und Wandel halten sich innerhalb sehr
bescheidener Grenzen. Der landwirtschaftliche Betrieb hat sich da-
gegen bedeutsam gehoben. Nicht mehr die Weidewirtschaft, sondern
der Ackerbau steht im Mittelpunkte des Erwerbslebens. Mehr und
mehr wendet sich die Thätigkeit des freien Mannes der Bestellung
des Bodens zu, welchen man intensiver als vordem auszunutzen ver-
steht. Schon das Volksrecht der salischen Franken läſst uns ersehen,
wie neben dem Getreidebau Wiesenkultur, Gartenbau und Weinbau
betrieben wurde.
Die Aufteilung des Ackerlandes war um die Zeit der Reichs-
gründung so weit vorgeschritten, daſs das Sondereigentum an
demselben wohl als die Regel betrachtet werden darf. Wo die
Dorfverfassung bestand, war damit an die Stelle der strengen Feld-
gemeinschaft die von den Nationalökonomen sogenannte laxe Feld-
gemeinschaft, der Flurzwang getreten, welcher den Wirtschaftsbetrieb
des einzelnen, insbesondere die Zeit der Bestellung und der Ernte
mit Rücksicht auf die Gemengelage der Sonderäcker den Beschlüssen
der Gesamtheit unterwarf. Die Sonderäcker sind nicht eingehegt 3
und dienen nach vollendeter Ernte bis zur neuen Aussaat als Feld-
weide (Stoppel- und Brachweide) 4. An Grund und Boden bestand
zunächst nur ein beschränktes Erbrecht. Er vererbte auf die Söhne
des verstorbenen Besitzers. Waren aber solche nicht vorhanden, so
fiel das Land bei den Salfranken der Gesamtheit der Dorfgenossen
anheim. Erst ein Edikt des Königs Chilperich (561—584) hat dieses
Heimfallsrecht der Gemeinde so weit beseitigt, daſs in Ermangelung
von Söhnen den Töchtern, eventuell den Brüdern und Schwestern ein
Erbrecht eingeräumt wurde 5. Auch die freie Veräuſserlichkeit der
Hufe hat sich erst allmählich Bahn gebrochen. Sie vertrug sich nicht
mit einem Heimfallsrecht der Gemeinde, welches durch Veräuſserungen
beeinträchtigt worden wäre. Bei den Salfranken konnte überdies der
Grunderwerb eines Ausmärkers binnen Jahresfrist nach seiner An-
siedelung durch den rechtsförmlichen Widerspruch eines einzigen
13*
[196]§ 25. Die wirtschaftlichen Zustände
Dorfgenossen rückgängig gemacht werden 6. Wo diese Beschränkungen
nicht existierten oder beseitigt worden waren, fand die Verfügungs-
freiheit eine Schranke entweder an dem Wartrechte gewisser Erben
oder der Erben schlechtweg 7 oder doch wenigstens an den Rechten
von Miterben, mit welchen man, wie dies häufig geschah, in Erben-
gemeinschaft lebte 8.
Seit der Aussonderung des Ackerlandes bestand die gemeine
Mark 9 hauptsächlich aus der ewigen Weide 10 und aus dem Wald-
[197]um die Zeit der Reichsgründung.
lande 11. Doch kam es auch jetzt noch vor, daſs vereinzelte Stücke
der Mark den Markgenossen im Wechsel zu vorübergehender Sonder-
nutzung zugewiesen wurden 12. Das Recht der Rodung scheint wäh-
rend der ganzen Dauer dieser Periode frei geblieben zu sein. Wohl
mochte die Markgenossenschaft durch gemeinsamen Beschluſs die
Ausrodung des Waldes verbieten; allein dazu war ein Anlaſs nicht
vorhanden, so lange des Waldbodens in Hülle und Fülle vorhanden
war. Im übrigen sind die Nutzungsrechte der Mitmärker (com-
marcani, pagenses, consortes, calasnei 13) nach dem Besitz einer Voll-
hufe bemessen 14. Sie stellen sich, seit das Ackerland die Hauptquelle
des Erwerbs geworden, als Zubehör zum Sondereigentum des einzelnen
dar und können mit diesem veräuſsert werden 15.
Der normale Anteil, welchen der einzelne innerhalb der Dorf-
mark an Grund und Boden besitzt, heiſst sors, pars, portio, deutsch
Los, hluz 16; seit der Mitte des siebenten Jahrhunderts begegnet dafür
[198]§ 25. Die wirtschaftlichen Zustände
in den fränkischen Quellen das Wort mansus 17, welches deutsch mit
Hufe wiedergegeben wird 18. Die Gröſse der Hufe ist in den einzelnen
Gegenden des fränkischen Reiches eine durchaus verschiedene, eine
Verschiedenheit, welche in der ursprünglichen Feldgemeinschaft ihre
Erklärung findet, weil eben nur innerhalb der einzelnen Mark das
Ausmaſs der Hufe ein gleiches zu sein brauchte 19.
So hat sich trotz des Sondereigentums am Ackerlande innerhalb
der deutschen Stammlande bei der Masse der freien Bevölkerung eine
gewisse Gleichförmigkeit der Besitzverhältnisse über die Zeit der
Reichsgründung hinaus erhalten. Wie einerseits der Groſsgrund-
besitzer ist andrerseits der Besitzlose eine Ausnahme. Noch rechnet
das Gerichtsverfahren mit der Thatsache, daſs der freie Volksgenosse
ein angesessener Mann sei, indem es schlechtweg verlangt, daſs die
Vorladung in dem Hause des Beklagten geschehe. Erst jüngere
Quellen setzen eine besitzlose freie Bevölkerung voraus, die ihr Er-
scheinen vor Gericht durch Bürgen sicherstellen muſs 20. Daſs die
Hufe das Durchschnittsmaſs des Grundbesitzes geblieben ist, zeigt die
merkwürdige Übereinstimmung, welche zwischen dem Werte der
Hufe und dem Wergelde des freien Mannes obwaltet und bei Ver-
äuſserungen 21, sowie bei der Regelung der Heerfahrtpflicht zu Grunde
[199]um die Zeit der Reichsgründung.
gelegt wird 22. Ebenso lassen die Bestimmungen der Volksrechte,
welche eine bestimmte Stückzahl der einzelnen Viehgattungen als
Herde bezeichnen, auf einen gleichmäſsigen Bestand der Bauergüter
schlieſsen 23.
Ein durchaus anderes Bild bieten uns die wirtschaftlichen Zu-
stände Galliens zur Zeit der Eroberung dar 24. Ein freier und wohl-
habender Mittelstand fehlt. Reichtum und Armut stehen sich un-
vermittelt gegenüber. Der Grundbesitz ist hauptsächlich in den Händen
des Staates, der Kirche und einer nicht sehr zahlreichen aber mächtigen
Grundaristokratie. Die Zahl der kleinen freien Grundbesitzer war im
vierten und fünften Jahrhundert stark gelichtet worden; aus Not und
um dem wachsenden Steuerdrucke zu entgehen, hatten damals viele
kleine Leute ihr Besitztum den Reichen und Mächtigen aufgetragen, um
ihren Schutz zu erlangen 25. Die groſsen Güter wurden hauptsächlich
von Kolonen und Sklaven bebaut. Doch gab es auch Pacht- und
Leiheverhältnisse, und zwar solche, welche von freien Leuten ein-
gegangen wurden. Einen Teil ihrer Ländereien hatten die gallischen
Kirchen namentlich in der Umgebung der Städte zu Erbpacht aus-
gethan. Es waren dies vermutlich alte städtische Gemeindegüter und
Tempelgüter, welche die Kirche in spätrömischer Zeit an sich gezogen
21
[200]§ 25. Die wirtschaftlichen Zustände
hatte. Die Erbpachtverhältnisse, wie sie sich seit dem Ausgange des
vierten Jahrhunderts an jenen Gütern gebildet hatten, blieben trotz
des Besitzwechsels bestehen und lassen sich in den Gebieten von
Angers und Tours bis in das siebente und achte Jahrhundert ver-
folgen. Der Erbpächter zahlte einen Zins und konnte das Erbpacht-
gut (terra conducta) beliebig veräuſsern 26. Vereinzelt findet sich in
fränkischer Zeit noch die römische Teilpacht, colonia partiaria 27, bei
welcher ein Teil der Früchte als Pachtzins bezahlt wurde, doch hat
sie in Gallien kaum die Rolle gespielt wie in Italien, wo sie inner-
halb der sogenannten libellarischen Pachtverhältnisse fortlebte 28. Die
Emphyteuse, eine Erbpacht, welche im Orient bei dem zur Anpflanzung
verpachteten Ödlande entstanden war, ist zu römischer Zeit in Gallien,
wie im Occident überhaupt, nicht üblich geworden.
In die vorfränkische Periode Galliens reichen die Anfänge einer
vielgestaltigen, hauptsächlich durch die Kirche entwickelten Leiheform,
der sogenannten precaria zurück, welche freilich erst im fränkischen
Reiche erheblichen Einfluſs auf die wirtschaftlichen und sozialen Ver-
hältnisse gewann 29. Ihren Ausgangspunkt bildet eine Umgestaltung
des altrömischen Prekariums, die einer Auflösung seines juristischen
Begriffes gleichkam. Das Prekarium des reinen römischen Rechtes
war eine Leihe auf Herrengunst, gewährte dem Beliehenen, dem
Prekaristen weder ein dingliches noch ein obligatorisches Recht und
konnte vom Herrn jederzeit widerrufen werden. Schon das dritte
Jahrhundert kannte die Sitte, daſs der Prekarist schriftlich, „per
epistolam“ um Überlassung des Landes zu bitten pflegte 30. Ein solches
vom Beliehenen ausgestelltes Schriftstück ist das Kennzeichen der
jüngeren Prekarie, welche uns zu Beginn des sechsten Jahrhunderts
für Burgund sicher bezeugt ist. Doch nahm die epistola den Charakter
einer Urkunde an, sie enthält nicht mehr die schriftliche Bitte des
Prekaristen um Verleihung des Gutes, sondern eine Erklärung des
Beliehenen, durch die er bekennt, daſs ihm das Gut auf seine Bitte
unter gewissen Bedingungen verliehen worden sei. Die Urkunde
[201]um die Zeit der Reichsgründung.
heiſst precaturia 31, meist precaria 32, gelegentlich auch securitas 33, weil
sie dem Verleiher zum Beweismittel dient, daſs der Inhaber des
Grundstücks es von jenem zur Leihe erhalten habe. Precaria wird
zu Anfang des sechsten Jahrhunderts auch das Rechtsgeschäft der
Verleihung 34, nachmals auch das Leiheverhältnis und das Leihegut
genannt. Schon nach altrömischem Rechte konnte ein Prekarium auf
bestimmte Zeit gegeben werden 35. Doch wurde der Verleiher durch
solchen Termin nicht rechtlich gebunden 36. Aber nicht leicht mochte
es vorkommen, zumal bei der Not an Landbauern, welche in spät-
römischer Zeit herrschte 37, daſs der Eigentümer sein Widerrufsrecht
vor Ablauf der Zeit geltend machte. So konnte sich eine vulgar-
rechtliche Gewohnheit bilden, welche dem Prekaristen während der
bestimmten Zeit ein Recht der Nutzung gewährte und ihn darin
schützte. Seitdem gab es im Grunde genommen zwei Arten von
Prekarien, ein widerrufliches und ein Prekarium auf Zeit. Das letztere
wurde zur Regel 38. Sein Rahmen war weit genug, um Pachtverhält-
[202]§ 25. Die wirtsch. Zust. um d. Zeit d. Reichgr.
nisse oder doch einzelne Merkmale des Pachtvertrags in sich aufzu-
nehmen. Wie im römischen Reiche die Zeitpacht nicht nur der
öffentlichen 39, sondern auch der Privatgüter 40 gewöhnlich auf ein
Lustrum, d. h. auf fünf Jahre abgeschlossen wurde, so pflegte auch
die befristete Prekarie auf diesen Zeitraum verliehen zu werden, denn
nachmals begegnet uns der Rechtssatz, daſs die kirchliche Prekarie
alle fünf Jahre erneuert werden müsse 41. Der Beliehene zahlte einen
Zins 42 oder Zehent 43; unterlieſs er die Zahlung, so verwirkte er sein
Recht, wie einst der Zeitpächter des römischen Gemeindelandes 44.
Mit dem Pachtvertrage hat die unwiderrufliche Prekarie auch gemein,
daſs der Verleiher seinerseits eine Urkunde ausstellte, welche das
Recht des Beliehenen sicherte 45. Sie begegnet später als precaria 46,
öfter als praestaria, epistola praestaturia 47 oder commendatitia 48.
Neben der Litteratur zu § 25 siehe v. Inama-Sternegg, Die Ausbildung der
groſsen Grundherrschaften in Deutschland während der Karolingerzeit, 1878.
B. Guérard, Polyptyque de l’abbé Irminon I Prolégomènes, 1844; derselbe,
Explication du capitulaire de villis, 1853, und Bibl. de l’école des chartes 3. Serie IV.
Roth, Feudalität und Unterthanverband, 1863, S 139 ff. E. Loening, Das Kirchen-
recht im Reiche der Merowinger S 632 ff. Garsonnet, Histoire des locations
perpétuelles et des baux à longue durée, 1879. Lamprecht, Deutsches Wirt-
schaftsleben I 1. Heusler, Institutionen II 167 ff.
Der fränkische König tritt von Anfang an als groſser Grund-
besitzer auf. In seinem Eigentum und in seiner ausschlieſslichen Ver-
fügungsgewalt standen nach fränkischem Rechte die vorhandenen
Staatsländereien, anders wie bei den Angelsachsen, wo über das
sogen. Volkland der König nur mit Zustimmung der aus den Groſsen
(sapientes, witan) bestehenden Reichsversammlung verfügen konnte.
Einen Bestandteil des fränkischen Königsgutes bildeten die ausge-
dehnten Waldungen und das wüstliegende Land, soweit sie sich nicht
in hergebrachtem Besitze der Markgenossenschaften oder im Sonder-
eigentum von Unterthanen befanden.
Gewaltigen Zuwachs empfing das fränkische Königsgut infolge der
Eroberungen. Der König succedierte in die römischen Fiskalgüter 1.
Das der Konfiskation unterworfene Gut und alles herrenlose Land
fielen ihm zu 2.
Seinen ausgedehnten Grundbesitz behielt der König nicht in
eigener Hand. Ein guter Teil davon gelangte durch königliche Land-
schenkung an Kirchen und an Laien. Bestimmte Fiskalländereien
waren als Amtsgut den königlichen Beamten, insbesondere den Grafen
für die Dauer der Amtsverwaltung zur Benutzung überwiesen 3.
Wie bei den Franken der König erscheinen bei einzelnen Stämmen
die Herzoge, soweit die urkundlichen Nachrichten zurückreichen, als
Eigentümer groſser Grundkomplexe, über welche sie zu kirchlichen
und politischen Zwecken verfügen.
Umfangreicher Landbesitz häufte sich in den Händen der katho-
lischen Kirche an. Von Chlodovech ab hat das Königtum in frei-
[204]§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.
gebigster Weise Kirchen und Klöster beschenkt, neue Stiftungen dotiert.
Schon König Chilperich hatte Anlaſs, aus Unmut über die Vermehrung
des kirchlichen Reichtums, in die Klage auszubrechen: ecce pauper
remansit fiscus noster, ecce divitiae nostrae ad ecclesias sunt translatae 4.
Die erheblichste Zunahme erwuchs dem Besitztum der Kirche durch
Schenkungen von Privatpersonen. Nachdem zuerst die Franken, dann die
übrigen deutschen Stämme dem Christentum gewonnen worden waren,
nachdem der Katholizismus den Arianismus überwunden hatte, äuſserte
sich der kirchliche Eifer der Neubekehrten in zahllosen Vergabungen
zu frommen Zwecken. Die Schenkung an die Kirche galt für ein
gottgefälliges Werk, durch das man sich die Vergebung der Sünden
erkaufte, sich irdischen und himmlischen Lohnes versicherte 5. Seinen
Höhepunkt erreichte der Schenkungseifer in der Zeit Karls des
Groſsen 6. Neben den unbedingten und unbeschränkten Schenkungen
gab es verschiedene Arten betagter und bedingter Zuwendungen,
welche den Entschluſs zu schenken erleichterten, weil sie dem
Schenker den Genuſs des Gutes für seine Lebenszeit vorbehielten 7.
Wie rasch und wie hoch auf solche Weise der Besitzstand der
Kirche anschwoll, zeigt das Beispiel des Klosters Fulda, welches bald
nach seiner Gründung fünfzehntausend Hufen Landes besaſs. Eben-
soviel hatte das neustrische Luxeuil. Nach einer Schätzung, welche
der Wahrheit ziemlich nahe kommen dürfte, war zu Anfang des 8. Jahrh.
ein Drittel der nutzbaren Bodenfläche Galliens Eigentum der Kirche 8.
War in Gallien ein Stand von weltlichen Groſsgrundbesitzern
(potentes, potentiores)9 schon vor der Eroberung vorhanden gewesen,
so wurde nunmehr die Ausbildung eines solchen in den deutschen
Stammlanden durch die königlichen und herzoglichen Landschenkungen
vermittelt. Abgesehen hievon hat sich hier durch das Zusammen-
wirken verschiedener Ursachen die anfängliche Verteilung des Grund-
besitzes allgemach verschoben. Für diese Verschiebung kommen zu-
nächst die zahlreichen Rodungen in Betracht, durch welche vom
sechsten Jahrhundert ab ein groſser Teil des Waldbodens dem Acker-
bau gewonnen wurde. Was das Recht der Rodung betrifft10, so sind
die Rodungen in der gemeinen Mark und auf fiskalischem Boden, ge-
nossenschaftliche Rodungen und Rodungen einzelner, Rodungen der
Einheimischen und Fremder zu unterscheiden. In der gemeinen Mark
war die Markgemeinde und, wo sie es nicht verwehrte, der einzelne
Markgenosse befugt Land einzufangen. Der Neubruch, Beifang, ad-
prisio, comprehensio, captura, in romanischen Gegenden auch runcale
genannt, wurde Sondereigentum des Unternehmers. Über öffentliche
Wälder, welche nicht zu einer gemeinen Mark gehörten, konnte der
König verfügen. Soweit er sie nicht einforstete oder zur Domänen-
verwaltung zog, scheint die Rodung den Anwohnern entweder schlecht-
weg oder doch mit Erlaubnis des Grafen gestattet worden zu sein,
so daſs ein königliches Rodungsprivileg im einzelnen Falle nicht er-
forderlich war. Allein der Neubruch wurde als fiskalisches Eigentum
behandelt, der Erwerber erlangte nur ein erbliches Nutzungsrecht und
muſste dafür einen Zins bezahlen11. Der Fremde hatte kein Okku-
pationsrecht, wenn ihm nicht der König das Recht der Rodung durch
Privilegium verlieh. Die genossenschaftlichen Rodungen, welche in
der Mark oder im Königswalde12 zur Erweiterung bestehender, zur
[206]§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.
Anlage neuer Dorfschaften vorgenommen wurden, fallen für die Um-
wandlung der Besitzverhältnisse nicht ins Gewicht, da sie gleiche
Rechte der Genossen begründeten. Soweit aber die Rodungen durch
einzelne geschahen, hatte der Reichere, derjenige, der über eine
gröſsere Zahl von Eigentum und Zugvieh gebot, in dem Wettbewerb
um die Ausdehnung des Besitztums einen nicht auszugleichenden
Vorsprung.
Seit sich ein unbeschränktes Erbrecht an der Hufe ausgebildet
hatte, brachte es der Erbgang mit sich, daſs Vollhufen geteilt, mehrere
Hufen in einer Hand vereinigt wurden. Denn keines der deutschen
Stammesrechte kannte den Grundsatz der Individualsuccession, sondern
gleichnahe Erben hatten gleiches Erbrecht, soweit nicht der Vorrang
der Männer vor den weiblichen Verwandten platzgriff.
Armut auf der einen, Reichtum auf der andern Seite entsprangen
aus der Anwendung des Buſsensystems. Die Wergelder und Buſsen
waren verhältnismäſsig hoch. Bei den Franken stieg das Wergeld in
manchen Fällen auf 1800 solidi. Andrerseits hatte das Geld so be-
trächtlichen Wert, daſs z. B. ein Ochse, den der Schuldner auf eine
Buſsschuld in Zahlung gab, oft nur zu 1 bis 3 solidi in Schätzung kam.
Bei so geringen Preisen der landläufigen Zahlungsmittel muſste die
Verwirkung hoher Buſsen nicht selten die vollständige Verarmung des
Schuldigen und zugleich eine wirtschaftliche Schwächung seiner Sippe-
genossen herbeiführen, welche ihm die Buſse aufbringen halfen13.
Im Laufe der fränkischen, insbesondere der karolingischen Zeit
vollzog sich eine Verbesserung der Bodenkultur, in welcher die kleinen
Güter mit den groſsen nicht gleichen Schritt zu halten vermochten.
Die sorgfältige Domänenwirtschaft, welche Karl der Groſse organisierte,
regte eine Steigerung der landwirtschaftlichen Technik an. Schon zu
Anfang des neunten Jahrhunderts läſst sich in den Mosellanden die
Dreifelderwirtschaft nachweisen14. Der Fortschritt verbreitete sich von
den königlichen Besitzungen zunächst auf die gröſseren Grundherr-
12
[207]§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.
schaften, während die freien Dorf- und Bauerschaften noch längere
Zeit an den herkömmlichen Betriebsarten festhielten. An sich war
damals der groſse Grundbesitz wirtschaftlich leistungsfähiger wie der
kleine, da die grundherrliche, von einem einheitlichen Willen geleitete
Organisation der Arbeit eine kräftigere Ausnutzung des Bodens ge-
stattete15.
Verhältnismäſsig schwerer als den Groſsgrundbesitz belasteten die
öffentlichen Pflichten der Unterthanen den Kleinbesitz, dem die Heer-
fahrt und die Dingpflicht die Arbeitskraft des Eigentümers entzogen.
So hatte der Stand der freien Bauern Wind und Sonne gegen sich
in dem Existenzkampfe gegen die Grundherrschaft, welche ihre natür-
liche Tendenz, den Kleinbesitz aufzusaugen, zum Teil mit rücksichts-
losen Mitteln geltend machte. Durch Vergewaltigung, durch unaus-
gesetzte Belästigung, durch Miſsbrauch der Amtsgewalt wurden freie
Grundbesitzer von den Groſsen gezwungen, sich ihres Eigentums16
oder auch ihrer Freiheit zu entäuſsern17. Zwar suchte Karl der
Groſse diesen Übelständen nach Kräften zu steuern. Aber auch sein
starker Arm war zu schwach gegen die Habsucht der Grundherren.
Bald nach seinem Tode konstatierten die von Ludwig I. ausgesendeten
missi, daſs eine unzählige Menge von freien Grundbesitzern ihrer
Hufen oder ihrer Freiheit beraubt worden seien18. Die Auflösung,
der das fränkische Reich unter Ludwig I. verfiel, beschleunigte den
Gang der organischen Entwicklung, durch welche die Zahl der freien
Bauern abnahm.
Trotz der Entstehung der groſsen Grundherrschaften traten im
[208]§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.
fränkischen Reiche nicht jene gesellschaftlichen Zustände ein, welche
den Verfall des römischen Reiches kennzeichnen. Bauernkriege, wie
sie das soziale Elend des vierten und fünften Jahrhunderts in Gallien
erzeugt hatte, brachen im fränkischen Reiche nicht aus. Die Ver-
schiebung der Besitzverhältnisse vollzog sich hier, ohne jene soziale
Spannung hervorzurufen, welche sich in Revolutionen Luft macht. Denn
mit der Ansammlung groſsen Grundbesitzes ging die Bildung zahl-
reicher Leiheverhältnisse Hand in Hand, welche die Nutzungen von
Grund und Boden unter viele einzelne verteilten. Auch in den aus-
gedehntesten Grundwirtschaften griff kein Groſsbetrieb, keine Lati-
fundienwirtschaft Platz. In der Regel bildete die Grundherrschaft
keinen zusammenhängenden Komplex, sondern setzte sie sich aus
vielen in verschiedenen Gegenden zerstreuten Hufen zusammen19.
Oft ging das Anwachsen der Grundherrschaft in der Weise vor sich,
daſs der Grundherr rechtlich verpflichtet war, die früheren Eigentümer
der erworbenen Hufen als Hintersassen darauf sitzen zu lassen. Auch
wäre die Zahl der unfreien Arbeitskräfte, obzwar sie infolge der Er-
oberungen namhaften Zuwachs erhalten hatte, immer noch zu gering20
gewesen, um wahren Groſsbetrieb einzuführen, der auch in der galli-
schen Bodenwirtschaft der römischen Zeit nur ausnahmsweise vor-
gekommen sein kann21. Liten und Kolonen waren gegen ständige
Tagwerkerdienste durch ihre rechtliche Stellung geschützt22. Freie
Arbeitskräfte vermochte man für den Grund und Boden nur auf dem
Wege der Güterleihe zu gewinnen. Die Grundherrschaft blieb daher
auf die Parzellenwirtschaft angewiesen, welche auch die Aufsicht und
Leitung des Herrn weniger in Anspruch nahm, als dies bei einer
Groſswirtschaft der Fall gewesen wäre. Nur ein kleiner Teil des
grundherrlichen Bodens wurde vom Herrenhofe aus mittels der Leib-
eigenen desselben unmittelbar bewirtschaftet. Im übrigen waren die
Voll- und Teilhufen mit Zinsbauern besetzt, so daſs die Grundherrschaft
[209]§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.
sich aus einer Anzahl von Kleinwirtschaften zusammensetzte. Soweit
die Hörigen und Knechte des Grundherrn nicht ausreichten oder nicht
geeignet waren die vorhandenen Hufen zu besetzen, wurden diese im
Wege der Landleihe an seine Hintersassen ausgethan.
Die der fränkischen Zeit angehörigen Leiheverhältnisse haben sich
allmählich in zwei Hauptformen geschieden, nämlich in die des Zins-
gutes23 und in die des Lehens. Man darf jenes als ein Leiheverhältnis
niederer, dieses als ein Leiheverhältnis höherer Ordnung bezeichnen.
An Zwischenbildungen und Übergängen fehlt es nicht und die Grenze
ist namentlich in den Anfängen der Entwicklung oft kaum zu be-
stimmen. Die Verleihung des Zinsgutes erfolgt unter wirtschaftlichen
Gesichtspunkten. Der Zinshof soll dem Herrenhof dienen, durch
Fronden, Naturalabgaben oder Geldzinse des Besitzers die Wirtschaft
des Herrenhofes ergänzen. Das Zinsgut stellt sich daher als eine
Pertinenz des Herrenhofes dar. Die wirtschaftliche Abhängigkeit des
Besitzers und die Art der Dienste, zu denen es verpflichtet, charak-
terisieren es als ein Leiheverhältnis niederer Ordnung, welches sich
schlieſslich derart ausgestaltet, daſs es die öffentlich-rechtliche Stellung
des Beliehenen beeinfluſst und eine Schmälerung der vollen Freiheit
nach sich zieht.
Dagegen geschieht die Vergabung des Lehens nicht zu wirtschaft-
lichen, sondern zu öffentlich-rechtlichen Zwecken. Der Beliehene soll
nicht dem Grundbesitz, sondern der Person seines Herrn dienen, er
soll ihm nicht wirtschaftliche, sondern öffentlich-rechtliche, insbesondere
militärische Dienste leisten. Die Leistungsfähigkeit des Beliehenen
darf einerseits nicht durch die Bewirtschaftung des Leihegutes absor-
biert werden, das Gut muſs seine persönliche Arbeit entbehren können.
Andrerseits soll es ihm eine derartige ökonomische Stellung gewähren,
daſs er die lehnsmäſsigen Kriegsdienste davon zu leisten vermag.
Demgemäſs können nur wirtschaftlich selbständige und gröſsere Güter,
solche auf welchen die bäuerliche Arbeit in der Hauptsache von
Knechten oder Hintersassen besorgt wird, den Gegenstand des echten
Lehens bilden, abhängige Höfe nur insofern, als dem Lehnsmann
ihre Rente zugewiesen wird. Eine wirtschaftliche Abhängigkeit von
einem Herrenhof, eine Schmälerung der vollen Freiheit führt das Lehen
nicht herbei; es ist darum ein Leiheverhältnis höherer Ordnung.
Zinsgut und Lehen haben durch Aufteilung der Grundrente die
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 14
[210]§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.
germanisch-romanische Welt vor den sozialen Übeln bewahrt, welche
dem unvermittelten Gegensatz zwischen Groſsgrundbesitz und Pauperis-
mus entspringen. Die Aufteilung der Grundrente hat sich schlieſslich
in eine Aufteilung des Grundeigentums umgesetzt. Denn was in un-
seren Tagen durch die Allodifizierung der Lehen und durch die
agrarische Gesetzgebung geschah, ist nur der Abschluſs einer tausend-
jährigen Entwicklung, welche mit der Ausbildung der fränkischen
Leiheverhältnisse begonnen hatte.
Die Terminologie der fränkischen Quellen faſst die verschieden-
artigsten Formen der Landleihe unter dem Begriffe der precaria24 zu-
sammen, dessen Entstehung schon oben Seite 200 f. besprochen wurde.
Er ist in dieser Zeit noch viel dehnbarer geworden. Das zu precaria
oder wohl auch „precarium“ verliehene Gut war entweder auf Wider-
ruf25 oder auf bestimmte Zeit26 oder auf Lebenszeit27, auf mehrere
Leiber28 oder erblich hingegeben29. Die Widerruflichkeit muſste beson-
ders vorbehalten sein. Für die kirchlichen Prekarien galt im allgemeinen
das Erfordernis fünfjähriger Erneuerung30. Daſs sie auch thatsächlich
zur Anwendung kam, läſst sich in vereinzelten Fällen nachweisen31.
Doch wurde sie in dem Prekarievertrage häufig ausgeschlossen. Auch
[211]§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.
hatte jener Grundsatz wohl nur den Charakter einer kirchlichen Ord-
nungsvorschrift, welche bestimmt war, das Eigentum der Kirche gegen
Verdunklung zu schützen32, so daſs das Unterbleiben der Erneuerung
privatrechtliche Wirkungen nicht nach sich zog, sondern die Prekarie
für stillschweigend verlängert galt. Zu Gunsten des Besitzers wird
seit der Mitte des achten Jahrhunderts nicht selten verabredet, daſs
das Gut wegen Versitzung des Zinses nicht eingezogen werden dürfe,
also der Grundsatz: qui negligit censum, perdat agrum33, keine Gel-
tung haben solle. Wenn der Beliehene das Gut, das er als Prekarie
erhält, vor der Verleihung dem Verleiher zu Eigentum aufgetragen
hatte, spricht man von einer precaria oblata im Gegensatz zur precaria
data34, bei der dies nicht der Fall war. Zu jener gaben insbesondere
die Landschenkungen an Kirchen den Anlaſs, bei welchen sich der
Schenker die Rückleihe zu lebenslänglichem Nieſsbrauch ausbedang.
Dann zahlte er entweder gar keinen Zins oder einen solchen, welcher
nur den Zweck hatte, das Eigentumsrecht des Verleihers zum Aus-
druck zu bringen35, wofür die geringsten Beträge genügten.
Die Verleihung der Prekarie wurde im Anschluſs an einen
Sprachgebrauch, der schon in römischer Zeit üblich war36, als bene-
ficium des Verleihers bezeichnet37. Beneficium hieſs aber bald auch
das Leiheverhältnis und das Leihegut selbst, ohne daſs zwischen precaria
und beneficium unterschieden wurde. Seit der Entstehung des eigent-
lichen Benefizialwesens, welche erst weiter unten bei Darstellung der
fränkischen Verfassungsgeschichte erörtert werden kann, brachte man
die Landschenkungen des Königs, die früher ein beschränktes Eigen-
14*
[212]§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.
tum gewährt hatten, unter den Gesichtspunkt eines Leiheverhältnisses
und nannte sie beneficia. Der Ausdruck precaria wurde für die könig-
lichen Benefizien vermieden38. Allmählich begann man dann zwischen
precaria als Zinsgut und beneficium als Lehen zu unterscheiden39;
allein einen konstanten Sprachgebrauch hat die fränkische Zeit in
dieser Beziehung noch nicht hergestellt40.
Die groſsen Grundherrschaften verblieben, soweit sie nicht ganze
Marken aufgesogen hatten, zunächst im Verbande der Markgenossen-
schaften. Doch machte sich das Übergewicht der Grundherren bei
der Ordnung der Markverhältnisse thatsächlich geltend, zumal ja die
Nutzungsrechte nach der Gröſse des Grundbesitzes bemessen waren.
Den wirtschaftlichen Mittelpunkt des einzelnen Grundkomplexes bildete
der Herrenhof, Salhof, später Fronhof, sala, curtis salica. Es ist der
Hof, welchen der Herr bezw. der zu seiner Vertretung eingesetzte
Verwalter bewohnt. Das Land, welches von hier aus unmittelbar
bewirtschaftet wurde, hieſs terra salica, mansus dominicus, indomini-
catus, seliland41. An den Herrenhof sind von den abhängigen Höfen
die schuldigen Zinse und Abgaben zu zahlen, die Fronden zu leisten.
Vom Herrenhofe aus ergehen die Anordnungen über die Bewirt-
schaftung, welche den in den freien Dorfschaften waltenden Flurzwang
ersetzen. Jenachdem die abhängigen Höfe mit freien Hintersassen
oder mit Liten oder mit Knechten besetzt waren, unterschied man
mansi ingenuiles, litiles, serviles. Doch sind die Leistungen und Ab-
gaben im Laufe der Zeit auf die einzelnen Höfe radiziert worden.
Seitdem ist nicht mehr der Stand des Besitzers, sondern die her-
kömmliche Belastung des Hofes maſsgebend für jene Unterscheidung,
so daſs dieser ein mansus ingenuilis blieb, auch wenn er mit einem
Knechte, ein mansus servilis, auch wenn er mit einem Freien besetzt
wurde42. Abhängige Hufen, die mit einem Hintersassen als regel-
mäſsigem Inhaber besetzt waren, hieſsen mansi vestiti, solche, bei
denen dies nicht der Fall war, mansi absi43.
J. H. Müller, Deutsche Münzgeschichte I, 1860. Waitz, Über die Münzverhält-
nisse in den älteren Rechtsbüchern des fränkischen Reiches, 1861 Abhandl. der
Gött. Gesellschaft der Wissensch. IX; derselbe, Verfassungsgesch. II 2 S 305 ff.,
IV 77 ff. Soetbeer, Beiträge zur Geschichte des Geld- und Münzwesens in
Deutschland, Forschungen I. II. IV. VI. v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 28 ff.
v. Inama-Sternegg, Deutsche Wirtschaftsgeschichte S 183. 450. Guérard,
Polyptyque de l’abbé Irminon I 109 ff. 941 ff.
Durch den Verkehr mit den Römern hatten die Germanen das
römische Metallgeld kennen und schätzen gelernt. Unter den Gold-
münzen römischen Gepräges, welche man in Deutschland aufgefunden
hat, sind namentlich die Goldsolidi des konstantinischen Münzfuſses
häufig vertreten. Von den Sibermünzen nahmen die Germanen mit
Vorliebe die schwereren älteren Silberdenare1 und hielten daran fest,
als sie im römischen Reiche auſser Kurs gesetzt und durch Denare
geringeren Silbergehaltes verdrängt worden waren. Bald nach der
Eroberung Galliens führten die Salfranken eine Neuordnung des da-
selbst herrschenden Münzwesens durch, indem sie vierzig Silberdenare
einem Goldsolidus gleichsetzten. In Gallien zirkulierten vor dieser
Reform neben den Goldsolidi und neben Kupfermünzen, die für die
Geschichte des deutschen Münzwesens nicht weiter in Betracht kamen,
Silbermünzen, siliquae genannt, deren 24 auf den Goldsolidus ge-
rechnet wurden. Es ist wahrscheinlich, daſs die Salier an diese
siliqua anknüpften, indem sie dieselbe, weil sie minderwertig aus-
geprägt war, mit Rücksicht auf ihren wirklichen Metallgehalt und mit
Rücksicht auf das damalige Wertverhältnis des Silbers zum Golde als
den vierzigsten Teil des Goldsolidus in Rechnung stellten und als
Denar bezeichneten. Das deutsche Wort für Solidus war Schilling.
Aus dem Pfund Goldes wurden anfänglich 72, seit der 2. Hälfte des
6. Jahrhunderts 84 Schillinge geschlagen. Öfter als der Solidus dürfte
der Goldtriens, das Drittel des Solidus2, ausgeprägt worden sein.
Im Gegensatz zu den Franken scheinen die oberdeutschen Stämme
an der Rechnung nach schweren Silberdenaren festgehalten zu haben.
Die Baiern und die Alamannen zählen nämlich auf den Goldsolidus
[214]§ 27. Geld- und Münzwesen.
12 saigae. Vermutlich sind es die schweren römischen Silberdenare,
die uns hier als saigae begegnen.
Der Goldsolidus war in Austrasien nur Rechnungsgeld und auch
die Silberdenare wurden hier im Verkehr wenig gebraucht. Dieser
ging im groſsen und ganzen nicht über den Tauschhandel hinaus;
thatsächliches Zahlungsmittel blieb das Vieh. Denn die austrasischen
Deutschen befanden sich unter den Merowingern in einem Zustande
wirtschaftlicher Isolierung. Die Handelsbeziehungen, welche in römi-
scher Zeit bestanden hatten, waren durch die Völkerwanderung ver-
schüttet, neue Verkehrswege seitdem nicht erschlossen worden. Erst
die Karolinger begannen Austrasien in das entwickeltere Verkehrs-
leben Neustriens hineinzuziehen. Eine Maſsregel austrasischer Wirt-
schaftspolitik war es auch, daſs das fränkische Münzwesen kurz vor
der Mitte des achten Jahrhunderts, als der Goldvorrat im Reiche fast
erschöpft war, vom Goldsolidus zum Silbersolidus überging. Denn durch
die Art der Neuerung wurde den austrasischen Stämmen die Möglich-
keit eröffnet, sich über den Tauschhandel emporzuheben und an all-
gemeineren Gebrauch des gemünzten Geldes zu gewöhnen3.
Die neue Münzordnung wird zuerst in einem Kapitulare Karl-
manns von 743 erwähnt. Sie rechnet auf den Silbersolidus 12 Denare.
Da auf das Pfund Silber 20—22 solidi gingen, so hatte der Silber-
solidus rechnungsmäſsig etwa das vierfache Gewicht des Goldsolidus.
Schätzt man das Gold auf den zwölffachen Wert des Silbers, so ent-
sprechen in runder Zahl drei Silbersolidi dem Goldsolidus. Übrigens
war der Silbersolidus nur Rechnungsmünze, ausgeprägt wurde er
nicht4. Ein Kapitular Pippins von 754—55 bestimmte, daſs auf
das Pfund nicht mehr als 22 solidi ausgeprägt werden sollten, von
welchen der Münzer einen Solidus als Schlagschatz abziehen dürfe5.
Seit etwa 780 ist die Ausprägung des Pfundes zu einem Münzwert von
20 solidi bezeugt6, und dabei ist es auch auf die Dauer geblieben,
nur daſs um jene Zeit Karl der Groſse dem leichteren römischen
Pfunde von 327 Gramm ein schwereres substituierte, welches von
jenem mindestens um 40 Gramm differierte7.
In Baiern hielt man längere Zeit an dem Goldsolidus fest, auf
[215]§ 27. Geld- und Münzwesen.
welchen zuerst 368, dann im neunten Jahrhundert 30 fränkische
Denare9 gerechnet wurden10. Auch die alten saigae blieben hier in
Gebrauch, wogegen die Alamannen den Ausdruck saiga nunmehr auf
den zwölften Teil des Silbersolidus, den fränkischen Denar, bezogen,
wie sie ihn vorher auf den zwölften Teil des Goldsolidus bezogen
hatten11.
Besondere Münzverhältnisse begegnen in den Rechtsquellen der
Sachsen und Friesen. Die Sachsen unterscheiden nach der Unter-
werfung einen gröſseren Silbersolidus zu drei und einen kleineren zu
zwei Trimsen (tremisses); der letztere ist gleichwertig mit einem ein-
jährigen, der erstere mit einem sechzehnmonatlichen Ochsen. Die
erheblichsten Schwierigkeiten bietet das friesische Münzwesen dar12.
Ehe die karolingische Münzreform bei ihnen durchdrang, rechneten
die Friesen nach Goldsolidi und Denaren, später veteres denarii ge-
nannt. Als die fränkische Silberwährung zur Herrschaft gelangte,
bezeichneten sie den neuen Drittelsolidus, den Tremissis, als Denar
der neuen Münze, denarius novae monetae13. Aber nur in Mittel-
friesland rechnete man drei neue Denare auf den Solidus. Die West-
[216]§ 27. Geld- und Münzwesen.
und Ostfriesen verwendeten als Rechnungsmünze einen kleineren
Solidus, indem jene zweieinhalb, diese nur zwei neue Denare als
Solidus zusammenfaſsten. In jüngeren Teilen des friesischen Volks-
rechtes werden die neuen Denare Tremissen genannt und scheint sich
zur Zeit ihrer Entstehung bereits die Einteilung des Silbersolidus in
zwölf Denare, wie bei den Franken, durchgesetzt zu haben. Daneben
kannte man eine Rechnung nach Pfunden, die in zwölf Unzen zer-
fielen14.
Der Übergang vom Goldsolidus zum Silbersolidus hatte bei den
Stämmen, welche schon vor dieser Veränderung dem fränkischen
Reiche angehört hatten, eine Herabsetzung der Buſsen und der
Friedensgelder auf etwa den dritten Teil ihres Nominalbetrags zur
Folge. In einem Kapitulare, das uns leider nicht überliefert ist, be-
stimmte Pippin, daſs den Kompositionen fürderhin der Silbersolidus
zu Grunde gelegt werden solle15. Doch blieb für die Buſsen und
Friedensgelder der Lex Salica die alte Berechnung nach solidi zu
40 Denaren in Kraft16. Auch diese Ausnahme schaffte Ludwig I. im
Jahre 816 ab. Nur wenn ein Friese oder Sachse einen Salier getötet
und somit dessen Wergeld verwirkt hatte, sollte es in alter Weise
bezahlt werden17, ein Vorbehalt, der wohl kaum aus einer besonders
strengen Behandlung der Sachsen und Friesen18, eher aus der Rück-
sicht auf die höheren Wergeldsätze zu erklären ist, durch welche die
zahlreiche Klasse des sächsischen und des friesischen Adels aus-
gezeichnet war19.
S. die Litteratur zu § 13 und Heusler, Institutionen II 272 ff. 480 ff.
Der Sippeverband, der mit ungebrochener Kraft in die fränkische
Zeit eintrat, hat sich im groſsen und ganzen als ein wesentlicher
Faktor der gesellschaftlichen Ordnung behauptet. Die Energie, mit
welcher die Rechtsanschauungen des Volkes an den Pflichten der
Sippe festhielten, wird durch die Thatsache beleuchtet, daſs vereinzelte
Züge der germanischen Geschlechtsverfassung, wie die Rachepflicht
und die Eideshilfe, in die Rechtssitten der römischen Bevölkerung
eingedrungen sind. Dennoch hat im Verlaufe der fränkischen Periode
die Stellung der Sippe nach verschiedenen Richtungen hin eine Ab-
schwächung erfahren. Die erstarkende Staatsgewalt hat es versucht
und zum Teil auch durchgesetzt, die Funktionen der Sippe einzu-
schränken. Die Stellung des Hausherrn und der Hausgenossenschaft
wurde der Sippe gegenüber eine freiere und unabhängigere. Unter
nicht verwandten Personen entstanden persönliche Treuverhältnisse,
welche den durch die Sippe gewährten Schutz überboten. Diesen
Auflösungstendenzen gegenüber hat sich die Geschlossenheit der Sippe
bei den Niederdeutschen im allgemeinen zäher bewahrt wie bei den
Oberdeutschen.
Der Umfang der Sippe wird in dieser Zeit bei den verschiedenen
Stämmen wenigstens in gewissen Beziehungen rechtlich fixiert. Die
Staatsgewalt machte nämlich im Verhältnis zu den vermögensrechtlichen
Ansprüchen, welche die Blutsverwandtschaft gewährte, bei einem be-
stimmten Knie das Ende der Sippe geltend, indem sie, wenn Verwandte
innerhalb dieses Knies nicht vorhanden waren, das Erbe, das Wergeld
und die Heiratsgebühren mit Ausschluſs entfernterer Kniee an sich zog.
Bei den Ribuariern1 und Thüringern2 wird das fünfte, bei den Sal-
franken das sechste3, bei den Baiern4, Langobarden5 und wohl auch
bei den Sachsen6 das siebente Glied als das Ende der Sippe ge-
rechnet, eine Verschiedenheit, welche zum Teil vielleicht auf
verschiedenartigem Beginn der Kniezählung beruht7. Offenbar weil
[218]§ 28. Die Sippe.
er betonen will, daſs er über das Maſs der normalen Blutrache weit
hinausgehen werde, schwört König Guntram, daſs er, um den Tod
seines Bruders zu rächen, nicht bloſs den Mörder, sondern auch
dessen Sippe bis ins neunte Glied vertilgen werde 8. Im Fehde- und
Wergeldwesen wird bei den Franken in der Regel nicht über das
dritte, niemals aber über das vierte Glied der eigentlichen Vetterschaft
(die fünfte bezw. sechste Parentel der Parentelenordnung) hinaus-
gegangen.
Die Grundsätze über die Verteilung des Wergeldes und über das
Maſs der Wergeldhaftung treten in den Quellen dieser Zeit wenigstens
für einzelne Stammesrechte deutlicher hervor, so daſs sich, wenn
wir jüngere Belege zur Ergänzung heranziehen, immerhin ein einiger-
maſsen abgerundetes Gesamtbild gewinnen läſst.
Bei den Salfranken zerfällt das Wergeld in zwei gleiche Hälften,
deren eine als Erbsühne den Söhnen oder nächsten Erben des Er-
schlagenen zukommt, während die andere Hälfte als Magsühne zu
gleichen Teilen zwischen Vater- und Muttermagen geteilt wird 9. Das
salische Recht sondert die väterlichen und die mütterlichen Äste der
Verwandtschaft so scharf, daſs in Ermangelung von Vatermagen deren
Quote nicht an die Muttermagen, sondern an den Fiskus fällt und
ebenso der Fiskus zugreift, wenn es an Muttermagen gebricht. Die
7
[219]§ 28. Die Sippe.
Vater- resp. die Muttermagen teilen die ihnen zukommende Quote in
der Weise, daſs das erste Knie zwei Drittel, das zweite von dem
verbleibenden Reste wieder zwei Drittel, das dritte endlich den Rest
nimmt, so daſs sich die Anteile der Vettern der verschiedenen
Parentelen wie 6 : 2 : 1 verhalten. Bei den Sachsen 10 und Friesen 11
betrug die Erbsühne zwei Drittel, die Magsühne ein Drittel des Wer-
geldes 12. Die Angelsachsen gaben den Vatermagen den doppelten
Anteil der Muttermagen. Nach manchen Rechten empfing der nächste
Verwandte aus dem Wergelde ein Voraus, welches aus Anlaſs des
Friedenskusses oder der die Sühne abschlieſsenden Umarmung gezahlt
wurde 13. Im ältesten Sachsenrechte und ebenso bei den Franken
findet sich eine Vorsühne, im sächsischen Volksrechte praemium ge-
nannt, welche demjenigen Magen gebührte, der sich am meisten
darum bemüht hatte, daſs dem Toten sein Recht werde 14.
Den Ribuariern und den Thüringern ist die Sonderung des Wer-
geldes in Erb- und Magsühne bereits unbekannt. Hier wird das
ganze Wergeld als Erbschaft behandelt und fällt an die nächsten
Erben 15. Auf demselben Standpunkte steht das langobardische Recht 16.
Ebenso tritt uns bei den Baiern und Schwaben keine Spur einer
Sonderung von Mag- und Erbsühne entgegen.
Sachsen, Angelsachsen, Friesen und Nordgermanen lassen die
Magen unbedingt für eine Quote des Wergeldes haften. Das älteste
Volksrecht der salischen Franken statuiert in einer berühmten Stelle
eine subsidiäre Haftung der Magschaft, falls nämlich der Totschläger
nach abgeschlossenem Sühnevertrag die gelobte Wergeldquote trotz
[220]§ 28. Die Sippe.
Erschöpfung seines ganzen beweglichen Vermögens nicht aufzubringen
vermag. Er kann dann durch Abtretung seines Hofes die Magen zur
Zahlung des ungetilgten Restes heranziehen und zwar je drei Genera-
tionen der Vater- und Muttermagschaft. Ist die Sippe der lebenden Hand
nicht imstande, das Defizit zu decken, so muſs sie den Thäter an den
Wergeldgläubiger ausliefern, der ihn töten darf, wenn ihn niemand
auslöst 17. Vermutlich beschränkte sich diese subsidiäre Haftung auf
die Erbenbuſse, während die Magbuſse von vorneherein durch die
Verwandten des Totschlägers aufzubringen war, wie dies in
flandrischen, seeländischen und holländischen Quellen der folgenden
Periode Rechtens ist.
Die Volksrechte der Ribuarier und der Oberdeutschen bieten
keinerlei Anhaltspunkte für eine Wergeldhaftung der Magschaft; hier
scheint die Wergeldschuld von Rechtswegen bereits nur noch Sache
des Totschlägers und seiner Hausgenossenschaft gewesen zu sein.
Im wirklichen Leben ging die Teilnahme der Verwandten noch
über ihre rechtlichen Pflichten hinaus. Räuber und Verbrecher über-
haupt, die auſserstande sind, die ihnen zuerkannte Strafe abzulösen
oder die Unthat zu sühnen, müssen nach dem salischen Rechte des
sechsten Jahrhunderts an mehreren Gerichtstagen den Verwandten
zur Auslösung angeboten werden, ehe sie mit dem Tode bestraft
oder ihren Feinden ausgeliefert werden 18. Racheübung und Wergeld-
schuld der Verwandten dringen sogar in die Kreise der Unfreien ein,
bei welchen sie das Volksrecht schlechterdings nicht kannte 19. Auch
die römische Bevölkerung wurde durch das Fehdewesen erfaſst. Es
ist eine Anwendung römischer Rechtssätze auf eine germanische Rechts-
anschauung, wenn uns in einer Quelle berichtet wird, daſs die Söhne
eines angeblichen Herzogs Sadregiselus gemäſs römischem Rechte die
väterliche Erbschaft einbüſsten, weil sie es versäumt hätten, für die
Tötung ihres Vaters Vergeltung zu suchen 20.
Gesetzgebung und Verwaltung suchten die Teilnahme der Sippe
an Fehde und Wergeld im Interesse des allgemeinen Friedens zu be-
schränken. Ein Dekret König Childeberts II. von 596 setzte die
Todesstrafe auf vermessentliche Tötung. Um den Abschluſs einer
auſsergerichtlichen Sühne zu erschweren, wurde den Magen des Tot-
schlägers verboten, zur Zahlung des Wergeldes beizusteuern 21. Daſs
diese Vorschrift auch nur in dem Reiche Childeberts II. sich in
dauernder Geltung behauptet habe, ist nicht wahrscheinlich. Dagegen
muſs in einzelnen Gegenden salischen Rechtes die Haftung der Magen
für das Wergeld schlechtweg auſser Gebrauch gekommen sein 22.
Nach einer Bestimmung des sächsischen Volksrechtes sollen im Falle
des Mordes nur der Mörder und seine Söhne der Fehde ausgesetzt
sein, dagegen nicht die Magen, soferne sie die Magsühne des einfachen
Totschlags bezahlen 23. Das burgundische und das westgotische Recht
schlieſsen grundsätzlich jede Fehde aus und ebenso jede Haftung der
Sippe für die Missethat eines Sippegenossen 24. Karl der Groſse und
Ludwig I. unternahmen es, die Fehde im Wege der Verwaltung zu
unterdrücken, soweit sie das Volksrecht noch gestattete, indem der
Graf das Recht erhielt, die feindlichen Parteien zum Sühnevertrag
und zur Urfehde zu zwingen.
Bei der Leistung der Eideshilfe wird nicht mehr wie einst an
dem Erfordernis blutsverwandter Eideshelfer festgehalten. Einige Rechte
gestatten der Partei schlechtweg oder doch in Ermangelung von
Blutsverwandten mit beliebig ausgewählten Helfern zu schwören, ein
20
[222]§ 28. Die Sippe.
Punkt, dessen nähere Erörterung der Darstellung des Rechtsganges
dieser Periode vorbehalten bleibt.
Eine Abschwächung erlitt auch die vormundschaftliche Stellung
der Sippe. Zu schwerfällig, um die Interessen des Mündels wahrzu-
nehmen, wurde die Gesamtvormundschaft des Geschlechtes, wie schon
oben bemerkt worden ist, durch die Rechte des geborenen Vormunds
zurückgedrängt, während andrerseits die Staatsgewalt obervormund-
schaftliche Funktionen an sich zu ziehen begann.
Verhältnismäſsig am zähesten hat die Magschaft ihre Rechte bei
der Vermählung von Mündeln festgehalten. Wird eine Mündel zur
Ehe begehrt, so soll sie nach westgotischem Rechte nur communi
voluntate parentum zugesagt oder communi parentum iudicio ver-
weigert werden 25. Als König Reccared bei Childebert II. um die
Hand seiner Schwester Chlodosvinde anhalten läſst, wagt es dieser
nicht, sie ihm ohne Zustimmung seines Oheims Guntram zu ver-
loben 26. Jüngere Quellen lassen ersehen, daſs im salischen Rechts-
gebiete das Recht der Sippe während der fränkischen Periode in
diesem Punkte nicht geschmälert worden ist. Holländische Rechte
verbieten es bei schwerer Buſse, Unmündige ohne die Zustimmung
der vier Vierendeele zur Ehe zu geben. Es wird als Pflicht des
Vormundes betont, das Mündel nach erreichter Mündigkeit den ge-
meinen Magen auszuliefern vrie ende loys, das heiſst unvermählt und
unverschuldet 27. Im nördlichen Frankreich pflegten sich die Magen
für Erfüllung dieser Pflicht Bürgen stellen zu lassen 28. Auch auf die
Errichtung und Verwaltung der Vormundschaft wirkte die Sippe noch
ein. Ein von der Sippe gekorener Vormund erscheint bei den West-
goten. Die Magen wählen ihn, wenn gewisse nächste Verwandte des
Mündels untauglich oder nicht vorhanden sind 29. Für das salische
Rechtsgebiet ergänzen uns den Mangel gleichzeitiger Nachrichten die
Quellen der folgenden Periode, nach welchen unter gewissen Voraus-
setzungen ein Vormund von der Sippe bestellt wird 30. Auch bei der
[223]§ 28. Die Sippe.
Übernahme der Vormundschaft durch den geborenen Vormund, bei seiner
Absetzung und bei der Beendigung der Vormundschaft fungiert die Sippe.
Nachmals verwaltet der friesische Vormund das Mündelgut mit dem
Rate der Freunde, der holländische mit dem der vier Vierendeele,
der nordfranzösische de l’avis des parents. Mitunter wird dem Vor-
mund ein Ausschuſs der Sippe zur Seite gesetzt 31. Treten uns später
die Zeugnisse über die obervormundschaftliche Stellung der Sippe
zumal in den salischen Tochterrechten und im friesischen Rechte
entgegen, so fehlt es doch an solchen auch nicht in dem Bereiche der
sächsischen und der oberdeutschen Rechtsquellen 32.
Das Eingreifen der Staatsgewalt machte sich in Sachen der Vor-
mundschaft am frühesten und am kräftigsten bei den Langobarden
geltend, eine Thatsache, die um so mehr ins Gewicht fällt, als die
spätere gemeinrechtliche Ausgestaltung der Obervormundschaft unter
dem maſsgebenden Einfluſs der italienischen Rechtslehre erfolgte. Bei
Rechtsstreitigkeiten, bei Veräuſserungen, bei Erbteilungen des un-
jährigen Mündels greift der langobardische Richter von Amts wegen
ein 33. Auch bei Rechtsgeschäften von Frauen kommt die richterliche
Mitwirkung unter dem Gesichtspunkte der Obervormundschaft zur Gel-
tung 34. Im fränkischen Reiche erscheint die allgemeine Fürsorge für
Witwen und Waisen theoretisch als Aufgabe des Königtums. Witwen
und Waisen stehen in dem besonderen Friedensbanne des Königs.
Die Richter sollen ihre Rechtssachen in erster Linie erledigen und
ihnen im Notfall einen Sachwalter geben 35. Gebricht es an Ver-
wandten, so kann der König das Mundium an sich ziehen 36. Ganz
allgemein sagt Karl der Groſse, daſs er den Witwen und Waisen zum
protector et defensor gesetzt sei 37. Zu einer organischen Verwaltung
30
[224]§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.
der Obervormundschaft des Staates, zu einer regelmäſsigen Beaufsich-
tigung der Vormundschaft ist es zwar im fränkischen Reiche nicht
gekommen. Doch liegen wenigstens in der Theorie bereits die ersten
Keime jener Entwicklung vor, welche später die vormundschaftlichen
Funktionen der Sippe durch die obrigkeitliche Vormundschaft beseitigte
oder auf die Stellung eines unter der Aufsicht des Staates fungieren-
den Familienrates herabdrückte.
Die Geschlossenheit der Sippe äuſserte sich, zumal seit die
Raubehe verboten war, in der grundsätzlichen Begünstigung von
Verwandtschaftsehen. Der Einfluſs, den die Sippe auf die Ver-
ehelichung ihrer Mitglieder hatte, kam der Tendenz zu statten, das
Vermögen durch Verwandtschaftsheiraten innerhalb der Sippe fest zu
halten. Gegen diese tief eingewurzelte Sitte eröffnete die Kirche einen
zähen und nachhaltigen Kampf, indem sie gewisse Verwandtschaftsehen
verbot und dieses Verbot mehr und mehr ausdehnte. Da seit dem
Ende des sechsten Jahrhunderts die weltliche Gesetzgebung hierin den
kirchlichen Impulsen nachgab, ist es der Kirche gelungen, den leb-
haften Widerstand der Bevölkerung zu brechen und die starre
Isolierung der Geschlechtsverbände im Punkte der Eheschlieſsung zu
zersetzen 38.
Gaupp, Das alte Gesetz der Thüringer, 1834, § 19 S 160 ff.; derselbe, Über
das Wergelds- u. Buſsensystem der alten Lex Frisionum, in dessen germanistischen
Abhandlungen 1853; derselbe, Recht u. Verf. der alten Sachsen, 1837, S 29 ff.
99 ff. Guérard, Polyptyque de l’abbé Irminon I 203 ff. August Chabert,
Bruchstück einer Staats- u. RG der deutsch-österr. Länder, Denkschriften der Wiener
Akad. III. IV, 1852. 1853. Naudet, De l’état des personnes en France sous les
rois de la première race, in den Mémoires de l’acad. des inscriptions et belles lettres
VIII 1827. Waitz, VG II 1 S 217 ff., IV 324 ff. S. noch die Litteratur zu § 14.
Als Maſsstab der sozialen Unterschiede dienen in fränkischer Zeit
die Wergeldsätze. Das Wergeld bringt den rechtlich geschützten
Wert der Persönlichkeit zu klarem, ziffermäſsigem Ausdruck. Dem
höheren Stande entspricht ein höheres Wergeld. Aber nicht bloſs für
die einzelnen Stände, sondern auch für die verschiedenen Nationalitäten
ist das Wergeld ein verschiedenes. Der Gegensatz der Nationalitäten
erscheint daher in gewissem Sinne als ein ständischer Gegensatz. Der
Germane galt mehr als der Römer. Das Übergewicht, welches die
[225]§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.
germanische Bevölkerung als die herrschende besaſs, fand in einem
höheren Wergelde rechtliche Anerkennung.
Für den Rang, den die verschiedenen im fränkischen Reiche ver-
einigten Nationalitäten und Stämme in ihrem gegenseitigen Verhältnisse
einnehmen, bilden die Wergelder des vollfreien Mannes die bestimmende
Gröſse. Bei den deutschen Stämmen sind sie im wesentlichen von
gleicher Höhe. Allerdings begegnen uns in ihren Rechtsquellen un-
gleiche Beträge. Allein die Ungleichheit ist in der Hauptsache nur
eine scheinbare. Sie verschwindet bis auf unerhebliche Differenzen,
wenn man die Verschiedenheit der Münzwerte und die verschieden-
artige Berechnung des Friedensgeldes in Betracht zieht.
Das Wergeld des freien Franken ist in den Volksrechten der
Salier, der Ribuarier und Chamaven auf 200 solidi angesetzt 1. Eben-
soviel betrug das Freienwergeld bei den Angeln und Warnen 2. Da-
gegen sollen nach einer Stelle des ribuarischen Volksrechtes der
Baier, der Alamanne, der Friese und der Sachse, wenn sie von einem
Ribuarier erschlagen worden sind, nur mit 160 solidi gebüſst werden 3.
Dieselbe Summe sprechen die heimischen Rechte der Alamannen und
der Baiern dem Gemeinfreien zu 4. Ebenso hoch stellt sich das
Wergeld des freien Sachsen, wenn man die 240 solidi minores, die
als solches aus der Lex Saxonum erschlossen werden, in solidi maiores
umrechnet 5. Im friesischen Volksrechte wird mehrfach der Betrag
von 53⅓ solidi als simplex compositio oder weregildus des freien
Mannes erwähnt 6. Allein aus anderen Stellen der Lex ist zu folgern,
daſs die Tötung des freien Friesen, wenn sie nicht eine kasuelle war,
mit dreimal 53⅓ solidi, also gleichfalls mit 160 solidi gebüſst wurde 7.
Wahrscheinlich sind die friesischen Wergelder in Gold angesetzt
worden zu einer Zeit, da die Franken bereits den Übergang zum
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 15
[226]§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.
Silbersolidus vollzogen hatten 8. Als auch bei den Friesen die
Rechnung nach Silbersolidi durchdrang, muſsten die ursprünglichen
Ansätze mit Rücksicht auf das Wertverhältnis des Goldsolidus zum
Silbersolidus verdreifacht werden. Doch blieb an den durch die
Goldrechnung eingebürgerten Zahlen der Ausdruck weregildus haften,
der nunmehr den dritten Teil der leudis oder compositio homicidii
bezeichnete 9.
Die Differenz zwischen den Wergeldern der Franken und Thüringer
einerseits, der übrigen Stämme andrerseits hat ihren Grund in der
verschiedenartigen Berechnung des fredus. Bei den Franken bildet
er den dritten Teil des Wergeldes und ist dieses Drittel in der Wer-
geldsumme von 200 solidi bereits einbegriffen 10. Desgleichen wird
in das thüringische Freienwergeld von 200 solidi der fredus ein-
gerechnet 11. Bei den Alamannen und bei den Baiern fiel das ganze
Wergeld von 160 solidi an die Verwandten des Getöteten und war
auſserdem ein Friedensgeld von 40 solidi an den Fiskus zu zahlen 12.
[227]§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.
Sonach betrug bei den Oberdeutschen die gesamte Totschlagsbuſse
thatsächlich ebensoviel wie bei den Franken. Auch das friesische
und das sächsische Wergeld erhöhten sich um den Betrag des
Friedensgeldes. Bei den Friesen belief es sich im Falle des Tot-
schlags auf 30 solidi 13, so daſs die friesische Mannbuſse um die
geringe Differenz von 10 solidi hinter der fränkisch-oberdeutschen
zurückstand. Die Höhe des fredus, den die Sachsen neben dem
Wergelde entrichteten, läſst sich nicht mit Sicherheit bestimmen 14.
Die Burgunder 15, die Langobarden 16 und die Westgoten 17
schätzten den Freien ursprünglich auf 150 solidi ohne Einrechnung
des Friedensgeldes. Die Festsetzung dieses Wergeldes reicht in die
Zeit zurück, als diese Stämme noch nicht unter fränkischer Herrschaft
standen. Nach ihrer Unterwerfung war ein praktisches Bedürfnis, ihr
heimisches Wergeld zu erhöhen, kaum vorhanden, da bei ihnen der
Totschlag bereits unter öffentlicher Strafe stand und das Wergeld
nur noch in Ausnahmefällen verwirkt wurde. Im Verhältnis zu den
Franken spricht das ribuarische Volksrecht (36, 2) dem Burgunder ein
Wergeld von 160 solidi zu.
Während die Wergelder der eigentlich deutschen Stämme, soweit
der Gemeinfreie in Betracht kommt, gleich hoch oder doch nahezu
gleich hoch waren, also der Salier unter ihnen keine Auszeichnung
genoſs 18, wurden die freien Römer hierin zurückgesetzt. Sie hatten
im fränkischen Reiche nur ein Wergeld von 100 solidi 19, so viel wie
der fränkische Halbfreie, der Lite besaſs. Als Römer wird in den
älteren Rechtsquellen der niedere Kleriker gedacht und gebüſst.
12
15*
[228]§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.
Später, als auch Germanen in gröſserer Zahl in den Klerus eintraten,
genossen sie das Wergeld ihrer Geburt 20. Die höhere Geistlichkeit
war durch ein erhöhtes, nach der kirchlichen Rangordnung abgestuftes
Wergeld ohne Rücksicht auf den Geburtsstand geschützt.
Dagegen muſs es bezweifelt werden, daſs die Juden 21 als Römer
vergolten wurden. Allerdings waren sie dort, wo das römische Recht
sich erhielt, wie zu römischer Zeit in Kriminalsachen und in Streitig-
keiten mit Christen dem römischen Recht unterworfen. Allein ihr
Personalrecht war es nicht, da sie es in ihren gegenseitigen Rechts-
beziehungen nicht zur Anwendung brachten und Juden, nicht Römer
sein wollten. Darum nimmt auch das Judenschutzrecht, welches in
karolingischer Zeit sich ausbildete, auf das römische Recht keine
Rücksicht. In den Judenschutzbriefen Ludwigs I. wird auf die Tötung
eines königlichen Schutzjuden eine Geldstrafe von zehn Pfund Goldes
festgesetzt, die aber nicht an die Verwandten des erschlagenen Juden,
sondern an den Fiskus fiel. Sofern der Jude nicht in dem besonderen
Schutze des Königs stand, strafte dieser als allgemeiner Beschirmer
der Unvermögenden die an jenem begangene Rechtsverletzung. Ein
volksrechtlich anerkanntes Wergeld fehlte den Juden.
Neben der Verschiedenheit der Nationalitäten und Stämme kommen
für die Gliederung der Gesellschaft die ständischen Gegensätze in Be-
tracht. Das Ständewesen ist bei den einzelnen germanischen Stämmen
ein verschiedenes. Allenthalben teilt sich die Bevölkerung in Freie,
Halbfreie und Knechte. Die Franken kennen nur diese drei Klassen.
Bei den übrigen Stämmen kommt ein Stand des Adels hinzu, der sich
bei einigen wieder in einen höheren und niederen Adel spaltet. Dieses
stammesrechtliche Ständewesen haben die Franken anerkannt, obzwar
[229]§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.
sie selbst auſser dem merowingischen Königsgeschlechte keinen Adel
besaſsen.
Anders verfuhren sie gegen das römische Ständewesen. Es waren
jämmerliche soziale Zustände, die sie bei den römischen Provinzialen
vorfanden. Wenn man das Recht der Berufswahl und die Freizügig-
keit als Merkmale der Freiheit ansieht, so war hier der gröſsere Teil
der nominell freien Bevölkerung in erblicher Unfreiheit befangen.
Ackerbau und Gewerbe, Kriegsdienst und subalternes Ämterwesen
hatten in der Kaiserzeit den Charakter erblicher Lasten angenommen.
Das sinkende Reich vermochte sich nur in Funktion zu erhalten, in-
dem es den Volksklassen, die den Druck der Verwaltung empfanden,
die freie Wahl des Berufs versagte, die Leistungen, welche für das
Gemeinwesen unentbehrlich waren, zu erblichen Fronden gestaltete
und jeden, der sich dem aufgedrungenen Frondienste entzog,
zwangsweise in denselben zurückführte 22. Den erblich gebundenen
Gesellschaftsschichten stand eine privilegierte Aristokratie des höheren
Staatsdienstes und der titulierten Groſsgrundbesitzer gegenüber, welche
unter dem Namen der honorati zusammengefaſst wurde 23. In Gallien
waren zur Zeit der Eroberung die höheren Ämter, Reichtum und
Grundbesitz vorzugsweise in den Händen der sogenannten senatorischen
Geschlechter, vornehmer Familien, in welchen der Senatortitel erb-
lich war. Da die Bistümer sehr häufig aus ihnen besetzt wurden,
stand auch die Kirche unter ihrem beherrschenden Einfluſs. In diese
kastenartig abgeschlossene und versteinerte Gesellschaft mit aus-
geklügelten Titulaturen und pedantischen Kleiderordnungen hat die
germanische Invasion Luft und Bewegung gebracht. Die fränkische
Rechtsordnung ignorierte das römische Ständewesen 24. Der Römer,
der aus senatorischem Samen entsprossen war oder einem infulierten
Geschlechte angehörte, erhielt ebenso wie die Plebs nur ein Wergeld
von 100 solidi. Daſs der römische Kolone anfänglich noch ein ge-
ringeres Wergeld hatte, war nicht Anerkennung römischen Stände-
rechts, sondern Konsequenz einer germanischen Anschauung. Ebenso
beruhte es auf allgemeinen fränkischen Rechtsgrundsätzen, daſs der
Römer durch Königsamt und Königsdienst und durch die Erlangung
[230]§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.
gewisser geistlicher Würden einer Erhöhung seines Wergeldes teil-
haftig wurde.
Die Fortbildung, die das Ständewesen im Verlaufe der fränkischen
Periode erfuhr, äuſsert sich in der Abschleifung der vorhandenen, in
der Anbahnung neuer ständischer Gegensätze. Das Ergebnis ist zwar
weit verschieden von den spätrömischen Verhältnissen. Auch läſst
sich eine unmittelbare Einwirkung derselben nicht wahrnehmen. Aber
die allgemeine Richtung und die tieferen Grundlagen der sozialen
Entwicklung sind nicht frei von römischen Analogien. Es war nicht
der Geist der römischen Kaiserzeit, es war ein höherer, aber doch
ein verwandter Geist, der im fränkischen Reiche an der Umwandlung
der Gesellschaft gearbeitet hat.
Der Gegensatz zwischen Freien und Unfreien erlitt eine all-
mähliche Abstumpfung durch Ausbildung von Übergangsstufen. Eine
Klasse von Knechten gewann eine der Halbfreiheit verwandte recht-
liche Stellung oder rückte geradezu in den Stand der Halbfreien auf.
Der Kern des Volkes, der Stand der Gemeinfreien gab einen Teil
seiner Genossen nach unten hin ab, indem eine Klasse von Minder-
freien entstand. Ein andrer Teil der Freien hob sich über die ge-
meine Freiheit empor und bildete einen neuen Adel, den römischen
honorati vergleichbar, weil er sich als Amts- und Dienstadel am
Königtum hinaufrankte. In diesen neuen Adel ist auch der alte
Geschlechtsadel der nichtfränkischen Stämme ganz oder doch teilweise
aufgegangen. Der fränkischen Zeit gehören ferner die ersten Anfänge
jener Entwicklung an, welche in der folgenden Periode die kriegerische
Beschäftigung von der bäuerlichen trennte und aus dieser Trennung,
wie das die römische Kaiserzeit in umfassenderer Weise gethan hatte,
einen Gegensatz erblicher Berufsstände erzeugte. Als Krieger und
Bauer war der freie Germane in die fränkische Geschichte eingetreten.
Allmählich steigerten sich die Ansprüche, welche der Landbau einer-
seits, der Heerdienst andrerseits an ihn stellten. Zwar führt er noch
abwechselnd den Pflug und die Waffe; aber immer lästiger wird es
ihm, jenen mit dieser zu vertauschen, je enger sein Leben und sein
Interessenkreis mit dem Ackerbau verwachsen. Im achten Jahrhundert
beginnt eine Umgestaltung des Heerwesens, welche von Westen nach
Osten vorwärts schreitend den Schwerpunkt des Kriegsdienstes in den
Reiterdienst verlegt. Da der kleine freie Mann diesen nicht zu leisten
vermag, bereitet sich jene Teilung der Kriegs- und der Friedensarbeit
vor, welche in nachfränkischer Zeit dem unkriegerisch gewordenen
Bauer das Waffenrecht entzog und ihm einen erblichen Kriegerstand
zum Herren setzte.
In den sozialen Wandelungen der fränkischen Periode wurzeln
noch die Reste des Ständewesens, welche die Gegenwart aufzuweisen
hat. Der hohe Adel unserer Tage führt seinen rechtsgeschichtlichen
Stammbaum auf das fränkische Ämterwesen, der niedere auf den
Reiterdienst zurück.
S. die Litteratur zu § 29 und Waitz, Verfassungsgesch. II 1 S 219 ff., IV 354 ff.
Walter, Deutsche RG § 384 ff. Guérard, Polyptyque I 277 ff. Yanowski,
De l’abolition de l’esclavage ancien au moyen âge et de sa transformation en servi-
tude de la glèbe, 1860. Jastrow, Über das Eigenthum an und von Sklaven
nach den deutschen Volksrechten, Forschungen XIX 626 ff. v. Fürth, Die
Ministerialen, 1836.
Die Knechtschaft hat im fränkischen Reiche an Umfang und
Verbreitung gewonnen, die Menge der Knechte eine nicht unerhebliche
Zunahme erfahren. Gallien besaſs schon zur Zeit der Eroberung
einen starken Bestand von Sklaven. Als Beute der fränkischen
Sieger verfielen zahlreiche Gefangene dem Lose der Verknechtung.
Auf den neustrischen Märkten der merowingischen Zeit bildete die
Menschenware einen bedeutsamen Artikel des Binnen- und des Einfuhr-
handels. In karolingischer Zeit erhöhte sich die Zahl der Leibeigenen
durch die massenhaften Selbstverkäufe und freiwilligen Verknechtungen,
zu welchen freie Leute im Drange der wirtschaftlichen Not und wegen
Insolvenz sich gezwungen sahen. Seit dem Ende des neunten Jahr-
hunderts haben die Kämpfe mit den Slawen die Bezeichnungen der
Knechte um eine neue vermehrt, den Namen der Sklaven 1, der in
den meisten europäischen Sprachen für die niedrigste Unfreiheit
gang und gäbe wurde 2.
Dagegen ist die rechtliche Stellung der Knechte eine bessere ge-
worden. Sie erlangten eine beschränkte Rechts- und Vermögens-
fähigkeit, eine Veränderung, welche zuerst bei den Franken und
Oberdeutschen, etwas später bei den Sachsen und Friesen einsetzte.
Indem die Knechte nicht mehr in jeder Beziehung als Sache, sondern
in manchen Beziehungen als Personen behandelt wurden, hat auch
die Summe, welche für die Tötung von Knechten bezahlt wurde, den
Charakter des Wertersatzes verloren und sich dem des Wergeldes
genähert. Der Sachwert des gemeinen Knechtes ist in den Volks-
rechten durchschnittlich auf 12 solidi taxiert 3. Aber die Tötung
[232]§ 30. Die Knechte.
desselben wird als ein an dem Herrn begangenes Unrecht bei den
meisten Stämmen durch eine Buſse gesühnt, welche sich mit Ein-
schluſs des fredus als eine Verdreifachung jenes Sachwertes darstellt 4.
Die Chamaven 5 und die Ostfriesen 6 setzen die Buſse für Tötung des
Knechtes dem halben Wergelde des Liten, die Baiern dem halben
Wergelde des Freigelassenen gleich 7. In Quellen des neunten Jahr-
hunderts wird geradezu von einem Wergelde, von einer leudis des
Knechtes gesprochen 8.
Die Verbesserung der rechtlichen Lage war eine ungleichmäſsige
bei den verschiedenen Arten der Knechte. Aus der Masse derselben
hoben sich auf Grund der Beschäftigung, die ihnen dauernd zugewiesen
war, gewisse Klassen zuerst in thatsächlich, dann in rechtlich bevor-
zugter Stellung heraus. Zu ihnen gehören die servi casati, Knechte,
welche auf einer Hufe ihres Herrn angesiedelt sind. Sie sitzen in
kleineren Höfen, casae, hospitia, hausen etwa in Vorwerken, die auf
gerodetem Lande errichtet worden sind. Nach der Hufe, welche sie
bebauen, heiſsen sie auch mansionarii, mansuarii oder hobarii, Hübner.
An den Herrenhof leisten sie gewohnheitsrechtlich fixierte Zinse und
Dienste. Mitunter sind ihnen Knechte geringeren Ranges als Feld-
arbeiter untergeben. Das Grundstück des mansuarius wird samt
Zubehör nach römischem Vorbilde als sein peculium, er selbst
gelegentlich als servus peculiaris bezeichnet 9. Indem es Regel wurde,
den Grund und Boden nicht ohne die ihm gewidmeten unfreien
Arbeitskräfte zu veräuſsern 10, haben Knecht und Hufe den Charakter
[233]§ 30. Die Knechte.
eines rechtlich unteilbaren Wirtschafts- und Vermögenskomplexes an-
genommen. Der Knecht konnte nicht mehr ohne die Hufe, die Hufe
nicht mehr ohne den Knecht veräuſsert werden. Rechtlich gelangt
diese Veränderung darin zum Ausdruck, daſs die servi casati seit der
zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts zu den Immobilien gezählt
und nach den Grundsätzen des Immobiliarrechtes behandelt werden,
während die übrigen mancipia noch für Mobilien gelten. Die Ver-
folgung des Eigentums an Knechten jener Art geschieht nicht mehr
in den Formen der Vindikation von Mobilien, sondern wird wie ein
Rechtsstreit um Grundstücke durchgeführt 11. Die Prozesse um Eigen-
leute sind ebenso wie die um Grundstücke der Gerichtsbarkeit des
Grafen vorbehalten 12. Eine fränkische Rechtsquelle des neunten
Jahrhunderts stellt die mancipia und ihr peculium unter die Grund-
sätze des Immobiliarerbrechtes 13. Seit dieser Zeit wird auch die
Übereignung von servi casati in den Formen der Übereignung von
Grundstücken vorgenommen 14. Als Karl der Groſse 806 sein Reich
unter seine drei Söhne teilte, verbot er ihnen, in dem Teilreiche
eines Bruders unbewegliche Güter zu erwerben, indem er als solche
auch die servi casati bezeichnete, wogegen er die mancipia non casata
von diesem Verbote ausdrücklich ausnahm 15. Die Immobilisierung
10
[234]§ 30. Die Knechte.
der angesiedelten Knechte hat in Neustrien begonnen und zunächst
das fränkische Rechtsgebiet ergriffen. Im sächsischen und im thüringi-
schen Rechte gelten zur Zeit Karls des Groſsen die mancipia noch
schlechtweg für Fahrhabe 16.
Eine höher stehende Klasse von Knechten waren ferner die
Diener, welche den Dienst um die Person des Herrn versahen oder
zur Führung des Haushaltes verwendet wurden. Sie hieſsen in
merowingischer Zeit famuli, pueri 17, vassi 18, vassalli 19, vassi ad
ministerium 20 oder ministeriales 21. Das Wort vassus, vermutlich aus
dem Keltischen stammend 22, hat in der karolingischen Zeit eine ge-
steigerte Bedeutung gewonnen; es bezeichnet nunmehr vorzugsweise
freie Leute, die in ein Dienstverhältnis höherer Ordnung eingetreten
waren. Dagegen hat der Name der Ministerialen, obwohl ihn die
fränkischen Quellen auch in anderem Sinne gebrauchen 23, als Standes-
name die vorwiegende Beziehung auf Unfreie höheren Ranges bei-
behalten, so daſs er später für sie technisch geworden ist. Sie haben
[235]§ 30. Die Knechte.
ein höheres Wergeld als gewöhnliche Knechte; es reicht fast an das
Litenwergeld hinan oder steht ihm gleich 24. Zu den Ministerialen
werden insbesondere die Inhaber der Hausämter gerechnet, deren es
in den vornehmeren und gröſseren Haushaltungen regelmäſsig vier
gab, nämlich für den Keller, für den Schatz, für den Stall und für
die Tafel. Nach ihnen führen der Schenke, der Kämmerer, der
Marschall 25 und der spätere Truchseſs 26 den Namen. Einer derselben
hatte die Oberaufsicht über das gesamte Hauswesen und wurde maior
oder senescalcus (Altknecht) genannt 27. Am Hofe des Königs und
der Vornehmen haben auch freie Personen (dann wohl meistens
Gefolgsgenossen) diese einfluſsreichen Ämter versehen.
Die unfreie Dienerschaft gelangte zu militärischer Bedeutung.
Fränkische Groſse pflegten die Knechte, welche ihre persönliche Um-
gebung bildeten, schon in merowingischer Zeit mit Waffen zu versehen
und in den Waffen zu üben. Sie nahmen sie als Begleiter auf die
Heerfahrt mit oder stellten sich aus bewaffneten „pueri“ ein militärisch
organisiertes Gefolge zusammen, um Handstreiche zu unternehmen
oder Fehden auszufechten 28. Einen reisigen Knecht kennt das
burgundische Gesetzbuch 29 als servus expeditionalis. Von einem
solchen setzt die älteste alamannische Rechtsaufzeichnung den Fall,
daſs der Herr ihn im Heere zum Liten freiläſst 30, eine Hilfsarbeit
zur Lex Salica, daſs er im Heere getötet wird 31. Dieselbe Rolle
spielt vermutlich in Baiern der (servus) exercitalis 32 und der daselbst
[236]§ 30. Die Knechte.
später auftauchende Hiltischalk 33. Mehrfach beschäftigen sich die
karolingischen Kapitularien mit den Knechten, die im Heere gegen-
wärtig sind, plündern oder widerrechtlich fouragieren oder die ihnen
versagte Lanze tragen 34. Als im Kriegswesen der Reiterdienst durch-
drang, gewannen die dafür ausgerüsteten Ministerialen erhöhte Be-
deutung; gleich freien Leuten empfingen sie Benefizien, trugen sie
den Speer und wurden sie in die Stellung von Vasallen auf-
genommen 35.
Die höchste gesellschaftliche und rechtliche Stellung vermögen
unter den Knechten die Ministerialen des Königs zu erlangen 36. In
den Volksrechten und bei Gregor von Tours erscheinen sie als pueri regis,
pueri aulici 37. Sie haben das Wergeld des Liten 38, können das Amt
eines Grafen oder eines Sacebaro erlangen und in die Zahl der
königlichen Antrustionen aufgenommen werden. Eine ähnliche Stel-
lung dürften die Adelschalken des Herzogs von Baiern eingenommen
haben 39.
Die den servi casati entsprechenden Knechte des Königs, welche
auf den Domänen angesiedelt sind, werden in merowingischer Zeit
32
[237]§ 30. Die Knechte.
als servi fiscales, servi fisci, in karolingischer samt den halbfreien
Kolonen als fiscalini zusammengefaſst. Ihre Stellung ist eine erb-
liche 40; sie haben das Recht, an ihre Genossen zu veräuſsern 41.
Als Eigentum des Königs sind dessen Knechte durch höhere Buſse
geschützt. Sie scheint zuerst das zweifache, später das dreifache der
normalen Buſse betragen zu haben 42. Die pueri regis haben von
vornherein ein dem Liten gleichstehendes Wergeld 43. Ein höheres
Wergeld unbekannten Betrages besaſsen die Adelschalken des bairischen
Herzogs 44. In karolingischer Zeit haben auch die fiscalini das Wer-
geld des Liten 45. Wie in allen Fällen, wenn ein Knecht getötet
wurde, das Wergeld nicht an die Blutsverwandten, sondern an den
Herrn fiel, so hatte auch der Fiskus den vollen Anspruch auf das
Wergeld der Königsknechte. Doch findet sich selbst in dieser Be-
ziehung eine vereinzelte Ausnahme zu Gunsten der servi regis.
Der Langobardenkönig Liutprand gestattete, daſs von dem Wer-
geld eines getöteten Königsknechtes dessen Verwandte ein Drittel
bezögen 46.
Vorzüge und Vorrechte genossen ferner die Knechte der Kirche 47.
Früher wie anderwärts scheinen auf den Kirchengütern die Leistungen
und Zinse der Unfreien fixiert worden zu sein 48. Wie die Knechte
des Königs erlangten auch die der Kirche mindestens in einzelnen
Stammesrechten den Schutz dreifacher Buſse 49. Gleich jenen waren
sie nach dem ribuarischen Volksrechte befugt sich in eigener Person
vor dem öffentlichen Gerichte zu verantworten und auch sonst durch
prozessualische Privilegien begünstigt 50. In karolingischer Zeit werden
[238]§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.
sie mit den halbfreien Kirchenleuten trotz der rechtlichen Unterschiede
zur Klasse der homines ecclesiastici zusammengefaſst 51.
S. § 14, § 29 und Waitz, VG II 1 S 219 ff., IV 354. Walter, Deutsche RG § 384 ff.
Guérard, Polyptyque I 277. Heineccius, Antiquitates II 2 S 1 ff. 45 ff. Par-
dessus, Loi Salique S 525 ff. Loening, Kirchenrecht I 325, II 228. Ernst
Mayer, Zur Entstehung der Lex Ribuariorum, 1836, S 131 ff. Winogradoff,
Die Freilassung zu voller Unabhängigkeit in den deutschen Volksrechten, Forschungen
XVI 599. Zeumer, Über die Beerbung der Freigelassenen durch den Fiscus nach
fränkischem Recht, Forschungen XXIII 189. Brunner, Die Freilassung durch
Schatzwurf, in den historischen Aufsätzen für Waitz 1886.
Nur um ein geringes ragte der Lite auf der sozialen Stufenleiter
über den servus casatus empor. Seine Leistungen waren von Hause
aus geringer als die des angesiedelten Knechtes. In den Grund- und
Zinsbüchern stehen die mansi litiles hinsichtlich der Belastung zwischen
den mansi ingenuiles und den mansi serviles.
Der Name der Liten war als Bezeichnung einer halbfreien Be-
völkerungsklasse bei den niederdeutschen Stämmen der Salier, Ribu-
arier, Chamaven, Friesen und Sachsen im Gebrauche. Das Liten-
wergeld betrug hundert solidi bei den Franken 1, achtzig bei den
Ost- und Westfriesen und bei den Sachsen. Etwas höher stellte es
[239]§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.
sich in Mittelfriesland, nämlich auf zwei Drittel des Freienwergelds.
Bei den mittleren Friesen fiel ein Viertel, bei den Ostfriesen ein
Drittel des Wergelds an die Verwandten des Liten, der Rest an den
Herrn 2. Ein analoger Teilungsmodus hat vermutlich auch bei den
übrigen niederdeutschen Stämmen bestanden 3.
Die rechtliche Stellung der Liten scheint sich etwas gehoben zu
haben. Sie sind prozeſsfähig, genieſsen das Recht des Eides und
müssen nicht wie die langobardischen Aldien durch ihren Herrn ver-
treten werden. Da die Person des Liten nicht im Eigentum des Herrn
steht, kann er den Liten nicht veräuſsern, wohl aber die Hufe auf
welcher der Lite sitzt und die Dienste die er zu leisten hat. Der Lite
zahlt eine persönliche Abgabe an den Herrn, welche bei den Franken
litimonium heiſst. Dazu kommen dann noch die Zinse und Dienste,
die von der Hufe an den Herrenhof zu leisten sind 4. Wie die servi
ministeriales, so nehmen auch die Liten auf Geheiſs ihres Herrn als
dessen Begleiter an Heerfahrten teil 5. Der Stand der Liten ergänzte
sich durch Geburt, durch freiwillige Ergebung in den Litendienst 6
und durch Freilassung von Knechten.
Die geschichtlich bedeutendste Rolle haben die Liten in Sachsen
gespielt, wo ihre Anzahl eine ziemlich erhebliche gewesen sein muſs.
Sie sind unter den Geiseln vertreten, welche Karl der Groſse aus dem
Volke nahm 7. Neben den Adeligen und Freien wurden sie zur
Ausstattung der christlichen Kirchen herangezogen 8. Die Heerpflicht
erstreckte sich in Sachsen auch auf die Liten 9. Ja, nach einer Nach-
richt, deren Glaubwürdigkeit allerdings nicht ohne Grund bestritten
wird, wären sie vor der Unterwerfung durch Abgeordnete auf allge-
meinen sächsischen Stammesversammlungen vertreten gewesen 10. Von
[240]§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.
Lothar I. nach seiner Niederlage bei Fontenoy zur Empörung auf-
gereizt, verbanden sich die sächsischen Frilinge und die Liten zu dem
sogen. Stellingabunde, um die Adeligen aus dem Lande zu treiben
und nach ihrem alten Rechte zu leben 11, eine Erhebung, welche Lud-
wig der Deutsche niederwarf.
Bei den Baiern findet sich keine Spur von Liten. Dafür kennen
ältere bairische Urkunden die Aldien 12, ein Name der sonst nur noch
bei den Langobarden vorkommt. Obwohl der langobardische Aldio,
dessen Stellung durch die Gesetzgebung eingehend geregelt war, etwas
tiefer stand als der Lite 13, hat man doch im fränkischen Reiche beide
auf dieselbe ständische Stufe gestellt. Ein Kapitular Karls des Groſsen
bestimmte, daſs die königlichen Aldien in Italien nach demselben
Rechte leben und dienen sollen, wie die fränkischen Liten 14, während
andrerseits eine langobardische Urkunde fränkische Liten schlechtweg
als Aldien bezeichnet 15.
Eine den Liten nahe verwandte Klasse von Halbfreien hat auch
bei den Alamannen existiert. In ihrer ältesten Rechtsaufzeichnung,
in dem sog. Pactus Alamannorum, wird sogar der Name der Liten
genannt. Allein eine viel ausführlichere jüngere Satzung und die
zahlreichen Urkunden wissen nichts von alamannischen Liten. Und
da der Pactus auch sonst spezifisch fränkische, den Alamannen durch-
aus fremdartige Ausdrücke enthält 16, so ist anzunehmen, daſs das
Wort bei den Alamannen ebensowenig wie bei den Baiern heimisch
war und im Pactus auf einer Entlehnung aus der fränkischen Rechts-
sprache beruht 17.
Halbfrei sind ferner die Kolonen, welche sich in Gallien, in
Baiern und Schwaben aus der römischen Zeit her gehalten haben.
[241]§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.
Die Beschränkungen, denen sie im römischen Reiche aus öffentlich-
rechtlichen Gesichtspunkten unterworfen waren, sind im Frankenreiche
privatrechtliche Beschränkungen geworden. Der Kolone ist erblich
an die Scholle gebunden; will er sich seiner Abhängigkeit entziehen,
so kann der Herr ihn vindizieren und wird er ebenso wie der ent-
laufene Knecht dem obsiegenden Kläger vom Gerichte durch handhafte
Tradition übergeben 18. Das Grundstück, welches mit dem Kolonen
besetzt ist, kann nicht ohne ihn, er nicht ohne das Grundstück ver-
äuſsert werden. Die Abgaben und Dienste, welche der Kolone von
seiner Person („de caput suum“) dem Herrn schuldet, werden als
colonitium, colonaticum bezeichnet 19. Darin ist wohl auch die Kopf-
steuer aufgegangen, welcher die Kolonen als plebs rustica nach der
römischen Steuerverfassung unterworfen waren und welche der Herr
zu erheben hatte. In den fränkischen Quellen erscheint der Kolone
als tributarius, homo tributalis 20. Wie der vollfreie Römer im Wer-
gelde dem freien Franken nachsteht, so hat nach der Lex Salica der
Romanus tributarius ein geringeres Wergeld als der Lite 21. Das
jüngere Recht beseitigte diese Ungleichheit und gab ihm ein Wergeld
von 100 solidi 22.
Wenig verschieden von dem Kolonen war der bei den Baiern
genannte Parschalk, der gelegentlich auch als Kolone bezeichnet
wird 23. Er frondet, zahlt Abgaben, leistet Botendienste und kann
mit seinem Hofe veräuſsert werden. Sein Wergeld, dessen Höhe un-
bekannt ist, wird vom Herrn eingeklagt und bezogen 24. Der Stand
der Parschalken nahm ohne Zweifel eine erbliche Mittelstellung zwi-
schen Freien und Knechten ein 25.
Halbfrei war endlich die gröſsere Menge der Freigelassenen.
Denn auch in fränkischer Zeit gewährte die Freilassung in der Regel
nur eine beschränkte Freiheit, welche den Freigelassenen in der Hand
des Freilassers festhielt oder ihn doch unter eine Schutzherrschaft
stellte. Die Freilassung niederer Ordnung machte bei den nieder-
deutschen Stämmen zum Liten 26, bei den Langobarden zum Aldio.
Anderwärts erscheint der Freigelassene geringeren Rechtes als libertus
schlechtweg, so bei den Thüringern, wo ihm das halbe Wergeld des
Freien, so bei den Baiern, wo ihm das zweifache Wergeld des
Knechtes zugesprochen wird.
Neben den stammesrechtlichen Freilassungsarten kamen die des
römischen Rechtes zur Anwendung und zwar zumeist in einer Form,
welche durch den Einfluſs der Kirche zu einer Freilassung niederer
Ordnung degradiert worden war. In Gallien hatte die Kirche es ver-
standen die Freilassung in den Kreis ihrer Interessen zu ziehen 27.
Sie begünstigte sie als ein frommes gottgefälliges Werk, arbeitete aber
mit Erfolg darauf hin, daſs die Freigelassenen unter ihren Schutz ge-
stellt wurden. Schon die Gesetzgebung Konstantins hatte eine kirch-
liche Form der Freilassung geschaffen, darin bestehend, daſs der Sklave
in der Kirche vor dem Bischof freigelassen und darüber eine Urkunde
aufgenommen wurde 28. Diese Freilassungsform fand die häufigste
Anwendung. Daneben bestanden zwar im römischen Vulgarrechte
noch die Freilassung durch Testament und die durch Begebung eines
Freibriefs, allein die Kirche wirkte darauf ein, daſs in solchen
Fällen der Freigelassene ihrem Schutze empfohlen werde. Ferner be-
trachtete sie es als ihr Recht und ihre Aufgabe, die Freigelassenen
jeder Art zu schützen und in ihrer Freiheit zu verteidigen 29. Wer
die Freiheit eines Freigelassenen bestritt, sollte sich, so verlangte ein
Konzil von 585, zunächst an den Bischof wenden 30. Das Bestreben
[243]§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.
der Kirche, sich zur allgemeinen Schutzherrin aller Freigelassenen
aufzuschwingen, trat in Gegensatz zum weltlichen Rechte und zu den
Ansprüchen des Königtums. Zwar war und blieb die konstantinische
Form der Freilassung in ecclesia durch die germanischen Volksrechte
anerkannt, aber das Edikt Chlotars II. von 614, welches sich mit den
weitergehenden Forderungen der Kirche vorläufig auseinandersetzte,
läſst das Schutzrecht der Kirche nur gelten, sofern der Text der Frei-
lassungsurkunde es angeordnet hatte. Auch versagte es der Kirche
die Gerichtsbarkeit, welche sie in Sachen der Freigelassenen bean-
spruchte, und gestattete nur, daſs der Bischof oder der Propst an
der Verhandlung des weltlichen Gerichtes teilnehme 31.
Ein fränkisches Königsgesetz, welches etwas später wie das Edikt
Chlotars II. entstanden und in die Lex Ribuaria eingerückt worden
ist, unterscheidet zwei Formen der Freilassung zu römischem Rechte,
eine kirchliche und eine weltliche. Erstere bestand darin, daſs der
Freilasser den Knecht vor dem Klerus in die Hände des Bischofs
tradierte, der dann die Freilassungsurkunde schreiben lieſs 32. Hin-
sichtlich dieser Freigelassenen, welche tabularii hieſsen, wurden die
Forderungen der Kirche in weitgehendem Maſse bewilligt. Die tabu-
larii sollten Hörige der Kirche sein, die ihre Freilassung vermittelte,
und unter ihrer Gerichtsbarkeit stehen. Die weltliche Form der Frei-
lassung war die zum civis Romanus. Sie geschah durch Übergabe
eines Freibriefes, gewährte dem Freigelassenen die Freizügigkeit und
stellte ihn nicht unter kirchliches Patronat; vielmehr sollten, wenn er
kinderlos verstarb, sein Erbe und sein Wergeld an den Fiskus ge-
langen 33. Ein solcher Freigelassener fällt unter den Begriff der car-
tularii 34, welcher alle per cartam freigelassenen Knechte in sich schlieſst,
die nicht tabularii wurden 35.
Diese Unterscheidung zwischen tabularii und cartularii hatte
— wenigstens auſserhalb des Geltungsbereiches der Lex Ribuaria —
nur soweit praktische Bedeutung, als nicht die Freilassungsurkunde
selbst die Stellung des Freigelassenen in anderer Weise regelte. Die
fränkischen Formelsammlungen bieten Muster zur Beurkundung von
16*
[244]§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.
Freilassungen, welche in der Kirche geschehen, aber den Freigelassenen
jeder Schutzherrschaft entheben. Andrerseits setzen sie Freilassungen
auſserhalb der Kirche voraus, welche den Freigelassenen unter den
Schutz der Kirche stellten. In diesem Falle wurde ihm nicht selten
ein an die Kirche zu zahlender Wachszins auferlegt. Dann heiſst er
cerarius 36.
In Alamannien hat die Kirche unter Herzog Lantfried auch die
Schutzherrschaft über die cartularii erlangt. Die Lex Alamannorum
spricht ihr das Wergeld der kinderlosen Freigelassenen zu, mögen
diese nun in der Kirche oder per cartam ihre Freiheit empfangen
haben 37. Dagegen hat die karolingische Gesetzgebung und Verwal-
tung die Rechte des Königtums an den cartularii mit Nachdruck ge-
wahrt, indem sie das Erbe und das Wergeld der cartularii für den
Fiskus in Anspruch nahm 38. Seitdem machte die Kirche geltend, daſs
jede Freilassung, wenn sie zum Heil der Seele dienen wolle, in der
Kirche vorgenommen werden und den Freigelassenen in ihren Schutz
stellen müsse 39.
Der tabularius befand sich stets in erblicher Abhängigkeit von
der Kirche und konnte aus derselben nicht freigelassen werden. Er war
der Kirche zinspflichtig und gerichtspflichtig und entbehrte die Frei-
zügigkeit. Nach den Gesetzen Konstantins gewährte die Freilassung
in der Kirche die volle Freiheit des römischen Bürgers. Die Frei-
lassung zum tabularius, die sich aus der konstantinischen Form her-
ausgebildet hat, gab nur die Halbfreiheit. Die Kirche hatte sie zu
einer Freilassung schwächerer Wirkung herabgedrückt. Der cartularius
konnte von jeglichem patrocinium und von der Verpflichtung, ein liti-
monium zu zahlen, durch den Wortlaut der Freilassungsurkunde ent-
hoben werden. Das Recht der Freizügigkeit pflegte er durch die wohl
[245]§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.
dem römischen Urkundenstil entlehnte Klausel: habeat portas apertas, zu
erhalten. Ein solcher cartularius galt für einen vollfreien Römer, nur
daſs der Fiskus sein Erbe und sein Wergeld nahm. Der cartularius
konnte aber auch unter den Schutz des Freilassers, der Kirche oder
eines Dritten gestellt und es konnte ihm die freie Wahl eines Schutz-
herrn überlassen werden. Kurz, seine Stellung wurde im einzelnen
Falle durch den Inhalt der carta manumissionis bestimmt.
Während die Kirche die Freilassung fremder Knechte beförderte,
um ihren Einfluſs und ihr Vermögen zu vermehren, knüpfte sie die
Freilassung von Kirchensklaven an erschwerende Bedingungen. Nie-
mand sollte einen solchen nach einer in das ribuarische Volksrecht
aufgenommenen Vorschrift zum libertus machen, ohne der Kirche
einen Ersatzsklaven zu gewähren. Für den Fall, daſs der Frei-
gelassene nicht unter das patrocinium der Kirche gestellt wurde, ver-
langte schon ein toledanisches Konzil vom Jahre 633, daſs der Frei-
lasser zwei Knechte gleichen Wertes und gleichen Pekuliums zum
Ersatz gebe 40. Die Kirche wuſste diese Forderung auch im frän-
kischen Reiche durchzusetzen, was aus Freilassungsurkunden des
neunten Jahrhunderts hervorgeht 41.
Wie die tabularii nebst den sonstigen Halbfreien der Kirche in
älterer Zeit als homines ecclesiastici, so werden die halbfreien Leute des
Königs als homines regii zusammengefaſst. Zu ihnen gehören ins-
besondere die freigelassenen Knechte des Königs, welche nicht die
Rechte der vollfreien Franken erhalten haben. Ihre Freilassung konnte
durch Freibrief geschehen. Dieser Freibrief brauchte keine Königs-
urkunde zu sein. Es genügte, wenn der vom König zur Freilassung
ermächtigte Fiskalbeamte die epistola libertatis ausstellte 42.
Die Halbfreien konnten durch Freilassung die volle Freiheit er-
langen. Der colonus, der litus und der libertus (so nannte man den
Freigelassenen niederer Ordnung 43) konnte zum ingenuus im eigent-
lichen Sinne erhoben werden. Das römische Recht hatte zwar durch
die Fiktion, daſs der Kolone persönlich frei sei, einer Freilassung des-
[246]§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.
selben den Weg verschlossen 44. Allein trotz dieser Theorie hat man
in Gallien schon vor der Eroberung Kolonen freigelassen 45. Auch in
den Quellen der fränkischen Zeit ist noch von einer Freilassung der
Kolonen die Rede 46. Sie geschah in römischen Formen und machte
sonder Zweifel zum freien Römer. Eine Freilassung des Liten er-
wähnt das friesische Volksrecht, ohne uns näheren Einblick in ihren
Formalismus zu gewähren 47. Die fränkischen Volksrechte kennen
eine Freilassung durch Schatzwurf, manumissio per denarium, welche
zum vollfreien Franken machte 48. Sie findet vor dem König statt
und verlangt eine symbolische Handlung, darin bestehend, daſs der
Lite dem Herrn einen Denar anbietet, welchen dieser ihm aus der
Hand schleudert, so daſs die Münze zu Boden fällt. Der Denar wird
als Kopfzins, als litimonium angeboten, aber vom Herrn verschmäht,
und so die Befreiung von der Zinspflicht, die den Halbfreien charak-
terisiert, zu rechtsförmlichem Ausdruck gebracht. An den Denarwurf
schlieſst sich ein Freiheitsbann des Königs an, durch welchen er be-
fiehlt, daſs der Freigelassene fürderhin als ein Vollfreier behandelt
werde. Diese Art der Freilassung hieſs denariatio, der, dem sie zu-
teil ward, homo denarialis. Über den Freilassungsakt stellte der
König eine Urkunde aus, welche praeceptum denariale, carta denarialis
genannt wird. Der denarialis hatte ein Wergeld von 200 solidi. Es
fiel ebenso wie sein Erbe entweder unbedingt oder doch nach seinem
kinderlosen Tode an den König. Häufig behielt er das Pekulium,
das er als Lite besessen, indem es ihm aus Anlaſs der denariatio zu
Eigentum oder zu Leiherecht überwiesen wurde.
Seit den vierziger Jahren des neunten Jahrhunderts erscheint die
Freilassung per denarium als eine Freilassung durch die Hand des
Königs. Der Freizulassende wird von seinem Herrn dem König tra-
diert, bietet dann dem König den Denar an, worauf dieser die Hand-
lung des Schatzwurfes, die excussio denarii vornimmt. Obwohl die
manumissio per denarium ursprünglich als eine Freilassung des Liten
ausgebildet worden war, konnte sie auch dazu dienen, einem Knechte
die volle Freiheit des Franken zu verschaffen. Kam dies früher nur
ausnahmsweise vor, so sind es in den seit der zweiten Hälfte des
[247]§ 32. Adel und Freie.
siebenten Jahrhunderts überlieferten Formeln und Urkunden stets
Knechte und zwar servi mansionarii, welche durch Schatzwurf frei-
gelassen werden, indem sie dabei regelmäſsig die Hufe, die sie als
servi bewirtschaftet hatten, zur Ausstattung empfangen.
Von den Franken verbreitete sich die denariatio in ihrer jüngeren
Form zu den übrigen Stämmen und trat in Konkurrenz mit den Frei-
lassungsformen, welche nach deren Rechten die volle Freiheit der
Halbfreien und der Knechte vermitteln konnten. So kannten die
Baiern eine Freilassung durch die Hand des Herzogs, welche die
Freigelassenen befähigte, in den Gerichtsversammlungen an der Fällung
des Urteils teilzunehmen 49, die Chamaven eine Freilassung per
hantradam, bei welcher der Freilasser einen Zwölfereid schwur 50,
die Langobarden eine Freilassung per gairethinx, welche selbmündig,
amund machte, eine Freilassung in pans, id est in votum regis, von
gleicher Wirkung 51 und eine Freilassung zum Volkfreien, welche zwar
die Freizügigkeit gewährte, aber eine Schutzherrschaft bestehen lieſs.
S. die Litt. zu § 14 u. 29, insbes. K. Maurer, Wesen des ältesten Adels, 1846.
Der Adel ist im fränkischen Reiche teils alter germanischer Ge-
schlechtsadel, teils jüngerer fränkischer Dienstadel.
Das Wergeld des Geschlechtsadels steht bei den einzelnen
Stämmen in verschiedenem Verhältnis zum Wergelde des freien
Mannes. Meistens beträgt es ein vielfaches des letzteren. So hat
der sächsische Adel das sechsfache 1, der thüringische 2 das dreifache,
[248]§ 32. Adel und Freie.
der langobardische 3, der ost- und westfriesische 4 Adel das zweifache
Wergeld des Freien. In Baiern sind die Mitglieder des Herzogs-
geschlechtes durch das vierfache, die übrigen fünf Adelsgeschlechter
durch das zweifache Freienwergeld ausgezeichnet 5.
Bei den Mittelfriesen ist das Wergeld des Adeligen das anderthalb-
fache des Freien. Es entspricht nämlich die Erbenbuſse des Adeligen
dem vollen Wergelde des Freien, während andrerseits die Erbenbuſse
des Freien dem vollen Wergelde des Liten gleichsteht. Das Wergeld
des höheren Standes überragt also das des nächst niedrigeren um den
Betrag der Magsühne 6.
In Schwaben gliederte sich die freie Bevölkerung anfänglich in
drei Stände, nämlich in minofledi oder minoflidi mit einem Wergelde
von 160, in mediani mit einem Wergelde von 200 und in primi oder
meliorissimi mit einem Wergelde von 240 solidi 7. Das Wergeld des
höheren Standes steht um den Betrag des groſsen alamannischen
Friedensgeldes über dem des nächstfolgenden Standes.
Das Wesen der ältesten alamannischen Ständegliederung ist
streitig. Sie findet sich nur in dem sogenannten Pactus Alamannorum,
einer Rechtsaufzeichnung vom Ende des sechsten oder vom Anfang
des siebenten Jahrhunderts. In der Lex Alamannorum, welche im
zweiten oder dritten Dezennium des achten Jahrhunderts abgefaſst
worden ist, erscheinen die minofledi unter dem Namen liberi 8 und
werden die primi nicht mehr genannt. Minoflidi erwähnt im Gegen-
satz zu meliores auch ein Zusatz zur Lex Salica 9, der von jenen
wegen Mordverdachtes einen Eid mit 15, von diesen einen Eid mit
65 Eidhelfern verlangt. Drei freie Stände unterscheidet schon das
burgundische Gesetzbuch, welches das Wergeld der untersten Stufe,
der minores, inferiores oder leudes auf 150, das der personae mediocres
auf 200, das der optimates auf 300 solidi ansetzt 10.
Die minofledi der Alamannen sind weder, wie man geglaubt hat,
als Liten aufzufassen 11, noch stellen sie sich als ein Stand von
Minderfreien dar, die des eigenen Grundbesitzes entbehrend auf
[249]§ 32. Adel und Freie.
fremdem Grund und Boden angesiedelt sind 12. Wir haben sie viel-
mehr als die Gemeinfreien zu betrachten, welche das normale Maſs
des Grundeigentums besitzen 13. Auch der salische minoflidus ist nicht
ein Hintersasse, sondern ein selbständiger Hofbesitzer, wie denn über-
haupt die Unterscheidung von minoflidi und meliores in dem salischen
Kapitular keinen eigentlich ständischen Gegensatz zum Ausdruck
bringen will 14. Das Wort minoflidus ist niederdeutsch und bedeutet
den Besitzer eines geringeren Hofes 15. Im Gegensatz zu ihm bedarf
der melior, weil er eine gröſsere Zahl angehöriger und abhängiger
Personen freizuschwören hat, einer gröſseren Zahl von Helfern. Die
salfränkische Bezeichnung minoflidi ist dann bei Abfassung des ala-
[250]§ 32. Adel und Freie.
mannischen Pactus auf die Gemeinfreien angewendet worden. Die
alamannischen mediani sind ein niederer Adel, vielleicht alter Ge-
schlechtsadel, der nach der Unterwerfung der Alamannen unter die
fränkische Herrschaft seinen politischen Einfluſs verlor und daher
unter die primi herabsank, die ihn zu behaupten gewuſst hatten. Als
die Lex Alamannorum abgefaſst wurde, bestand ein erbliches Herzog-
tum und war die erste Stufe des Adels vermutlich dem Herzogs-
geschlechte vorbehalten, welches bei den Alamannen wahrscheinlich
ebenso wie bei den Baiern durch ein höheres Wergeld ausgezeichnet
war 16.
Auch in Burgund scheinen die minores die Masse der freien
Leute gebildet zu haben, über welche sich die mediocres als ein
niederer, die optimates als ein höherer Adel heraushoben 17. Den
letzteren sind die nobiles Romani gleichgestellt. Die mediocres und
die minores begreifen sowohl Burgunder als Römer in sich. Alter
Adel können sonach die mediocres nicht sein. Ihre Entstehung hängt
vielleicht mit dem Königsdienste zusammen.
Der Abstand zwischen dem Adel und den Gemeinfreien war am
gröſsten in Sachsen, wie schon die Wergeldsätze ersehen lassen.
Ehen von Adeligen mit Gemeinfreien galten hier für unebenbürtige
Ehen. Nach einer aus dem neunten Jahrhundert stammenden Nach-
richt 18 soll der Freie, der eine Adelige zum Weibe nahm, sogar mit
dem Tode bestraft worden sein. Unter dem Schutze von Adeligen
standen freie Personen. Hauptsächlich auf den Gütern des Adels
mögen die sächsischen Liten gesessen haben. Früher als die unteren
Stände fanden sich die sächsischen Adeligen in die Verhältnisse,
welche nach der Unterwerfung des Landes durch die Franken platz-
griffen. Sie verschmähten es nicht, in den Dienst des fränkischen
Königs einzutreten. Schon 782 konnte Karl der Groſse eine Anzahl
[251]§ 32. Adel und Freie.
der vornehmsten Sachsen zu Grafen bestellen 19. Nicht die Adeligen,
sondern nur die Freien und Liten hatten Anlaſs, nach dem Tode
Ludwigs des Frommen in einem fruchtlosen Aufstande für die Wieder-
herstellung der alten Zustände zu kämpfen. Der Adel, dem wir später
bei den Sachsen begegnen, ist zum Teile Amtsadel.
Mit auffallender Beharrlichkeit haben die Friesen ihre alt-
ständischen Verhältnisse und ihren Geschlechtsadel bewahrt. Bis in
das fünfzehnte Jahrhundert hinein kennen die nicht frankonisierten
Teile Frieslands die Gliederung des Volkes in Ethelinge, Frilinge und
Liten. Auch das Verhältnis der Wergeldsätze hat sich kaum ge-
ändert. Der Etheling besitzt das doppelte, in einzelnen Gegenden
das anderthalbfache, der Lite das halbe Wergeld des Freien 20.
Bei den Baiern lassen sich die fünf Adelsgeschlechter, welche ihr
Volksrecht als die ersten nach den Agilolfingern nennt, zum Teil über
die fränkische Zeit hinaus in hervorragender Stellung verfolgen 21.
Das Geschlecht der Fagana verfügt unter Tassilo III. über aus-
gedehnten Grundbesitz 22. Zwei Fagana fungieren 743 als bairische
iudices 23. Unter den bairischen Bischöfen des neunten Jahrhunderts
scheinen die Fagana und die Huosier vertreten zu sein 24. Von den
Huosiern sollen die nachmaligen Grafen von Pitten abstammen 25.
Die Salier und die Ribuarier hatten, wie schon oben bemerkt
worden ist, auſser dem Königsgeschlechte keinen Geburtsadel. Wahr-
scheinlich war er hier durch das Königtum ausgerottet oder seiner
Vorrechte entkleidet worden. Die soziale Stellung des Adels fiel bei
den Franken einer sich allmählich ausbildenden Aristokratie des
Königsdienstes und des Groſsgrundbesitzes zu, welche die Quellen als
potentes, meliores, priores, proceres, nobiles oder optimates bezeichnen.
In den Gegenden, wo die Franken nur oder doch hauptsächlich als
[252]§ 32. Adel und Freie.
königliche Beamte oder als Groſsgrundbesitzer vertreten waren, scheint
das Wort Francus den Sinn von maior persona gewonnen zu haben,
in welchem die merowingischen Rechtsquellen es gelegentlich ge-
brauchen 26. Die neue Aristokratie ist nach unten hin in keiner Weise
abgeschlossen. Durch die Gunst des Königs vermögen selbst unfrei
geborene Personen in sie aufzusteigen. Der Königsdienst gab nach
fränkischem Rechte höheres Wergeld. Gewisse königliche Beamte,
die Grafen, die Sacebarones, die Missi, die königlichen Gefolgs-
genossen, welche den Namen Antrustiones führen, besitzen das
dreifache Wergeld ihrer Geburt. Solange nicht die Vorrechte, die
der Kriegsdienst gewährte, die damit verbundenen Verpflichtungen
überwuchert und den Charakter der Erblichkeit angenommen hatten,
war der fränkische Dienstadel kein Adel im wahren Sinne des Wortes 27.
Doch sind bereits in merowingischer Zeit die Anfänge einer Ent-
wicklung vorhanden, welche die höheren Reichsämter zu erblichen
Herrschaften umgestaltete. So waren seit der zweiten Hälfte des sie-
benten Jahrhunderts in verschiedenen Teilen des Reiches die Herzogs-
ämter Erbgut hervorragender Geschlechter geworden. Die bairischen
Agilolfinger, das alamannische und das elsässische Herzogsgeschlecht,
die Arnulfinger und die Pippiniden, die sich im erblichen Besitze des
austrasischen Dukats und dann der Hausmeierwürde befanden, sind
Beispiele eines wirklichen Adels, der seinen Ursprung auf den Königs-
dienst zurückführte. Auch das Antrustionenverhältnis scheint in Ver-
bindung mit den königlichen Landschenkungen in Teilen des fränkischen
Stammesgebietes die Grundlage eines Adelsstandes geworden zu sein.
Wenigstens dürfte kaum in anderer Weise erklärt werden können,
daſs uns bei den chamavischen Franken in einer Rechtsaufzeichnung
aus dem Anfange des neunten Jahrhunderts unter dem Namen homines
Franci Adelige begegnen, welche durch das dreifache Wergeld des
freien Franken, durch höhere Buſse und durch ein besonderes Erbrecht
ausgezeichnet sind 28. Die Karolinger haben die Erblichkeit hinsicht-
[253]§ 32. Adel und Freie.
lich des höheren Reichsamtes beseitigt und im übrigen jene Entwick-
lung wenigstens zum Stehen gebracht. Allein gegen Ende der
karolingischen Zeit neigen das Grafenamt und das Dienstverhältnis
der Vassallität ganz entschieden zur Erblichkeit hin, welche dann in
der folgenden Periode zur rechtlichen Anerkennung gelangt ist.
Wie der alte Volksadel, der — von Friesland abgesehen — in
den neuen Dienstadel aufging, ist auch der Stand der Freien (liberi,
ingenui, franci 29) zersetzt worden. Nicht nur daſs er seine kräftigsten
Elemente an den neuen Dienstadel verlor, hat sich auch ein Stand
von Minderfreien abgezweigt, der unter den Gemeinfreien steht. Der
Grund der Freiheitsminderung ist ein Abhängigkeitsverhältnis niederer
Ordnung.
Aus vereinzelten Nachrichten der merowingischen Zeit läſst sich
entnehmen, daſs die Unterwerfung unter die Kopfsteuer, welche nach
der römischen Steuerverfassung die Kolonen und die plebs urbana
belastet hatte 30, als ein Zeichen mangelnder Vollfreiheit angesehen
wurde 31. Wie die Freiheitsminderung, die in der Volksmeinung ohne
Zweifel mit der Kopfsteuerpflicht verbunden war, sich in rechtlichen
Wirkungen äuſserte, läſst sich nicht mit Sicherheit bestimmen.
Dagegen hatte die Pflicht zur Entrichtung eines Zinses, der nicht
de capite, sondern für ein Leihegut bezahlt wurde, an sich eine
capitis deminutio nicht zur Folge. Auch der freie Hintersasse gilt für
vollfrei und bleibt ohne Änderung seines Gerichtsstandes in un-
geschmälertem Genusse des Landrechtes, so lange er wie andere Freie
persönlich in Heer und Gericht erscheint und Dritten gegenüber für
sich einsteht. Eine Schmälerung des Wergeldes führte die Stellung des
freien Hintersassen nicht herbei. Im alamannischen Volksrechte ist
das Wergeld des liber ecclesiae, quem colonum vocant, dem der
übrigen Alamannen gleichgestellt 32.
Verschiedene Ursachen muſsten zusammenwirken, um einen Teil
28
[254]§ 33. Vielheit und Einheit des Rechtes.
der Freien zu Minderfreien herabzudrücken. Die wirtschaftliche Ab-
hängigkeit allein war nicht das entscheidende Moment. Maſsgebend
war vielmehr auch der Eintritt in ein Schutzverhältnis, aus welchem
dem Herrn eine dauernde Haftung für die von ihm abhängigen Leute
erwuchs. Wurde dafür ein Schutzzins bezahlt, oder konkurrierte damit
die Verpflichtung zu niederen Diensten oder die wirtschaftliche Ab-
hängigkeit des Hintersassen, so trat eine Minderung der Freiheit ein.
Die Ausbildung der Schutzhörigkeit, ihre Ausdehnung auf die niederen
Formen der Güterleihe und der Hausgenossenschaft hängt so enge
mit verfassungsrechtlichen Fragen, insbesondere mit den schwierigen
Kontroversen über die Entstehung der Immunität, der sogenannten
grundherrlichen Gerichtsbarkeit und des Lehnwesens zusammen, daſs
ihre Erörterung füglich der Verfassungsgeschichte der fränkischen Zeit
vorbehalten bleibt. Immerhin mag aber hier bereits konstatiert wer-
den, daſs in einer Rechtsquelle Churrätiens vom Anfang des neunten
Jahrhunderts freie Hintersassen des Bischofs von Chur, welche zur
römischen Bevölkerung gehören, nicht das Wergeld des freien Römers,
sondern nur ein Wergeld von 60 solidi haben 33.
Gaupp, Das alte Gesetz der Thüringer I: über die Familien der altgermanischen
Volksrechte, 1834. H. Brunner, Zur Rechtsgesch. der römischen und germanischen
Urkunde, 1880, I 113. 308. Sohm, Fränkisches Recht und römisches Recht, in
der Z2 f. RG I. Heusler, Institutionen I 19 ff.
Im fränkischen Reiche galt bei den einzelnen Nationalitäten und
Stämmen verschiedenes Recht. Als die salischen Franken Gallien er-
oberten, lieſsen sie die römische Bevölkerung bei dem römischen
Rechte beharren. Dieses war nicht — wie später das jüdische — ein
bloſs geduldetes Recht, sondern es wurde im fränkischen Reiche wie im
burgundischen und altwestgotischen für Streitigkeiten unter Romanen
als Grundlage der Rechtsprechung anerkannt 1. Ebenso blieben die
verschiedenen deutschen Stämme, welche in das fränkische Reich ein-
[255]§ 33. Vielheit und Einheit des Rechtes.
traten, in unangetastetem Besitze ihrer hergebrachten Stammesrechte.
Als Burgund und das westgotische Gallien fränkisch wurden, erhiel-
ten sich dort das burgundische und das westgotische Recht. Des-
gleichen führte die Eroberung des Langobardenreiches daselbst keine
unmittelbare Veränderung in der Geltung des langobardischen Rechtes
herbei.
So stehen sich innerhalb der fränkischen Monarchie die ger-
manischen Stammesrechte einerseits, das römische Recht andrerseits
gegenüber. Unter den ersteren sind wieder die zwei ostgermanischen
Stammesrechte der Burgunder und Westgoten und die Rechte der
deutschen Stämme zu unterscheiden. Jene waren zu der Zeit, da sie
Stammesrechte des fränkischen Reiches wurden, bereits stark ent-
nationalisiert und stellen sich als Zwischenbildungen germanischen
und römischen Rechtes dar. Unter den deutschen Stammesrechten
sind das alamannische und bairische von Hause aus ebenso entschieden
oberdeutsch, wie das sächsische und das friesische niederdeutsch sind.
Als niederdeutsch erscheinen auch die Rechte der salischen, ribuarischen
und chamavischen Franken. Im wesentlichen niederdeutsch ist trotz
der hochdeutschen Sprache des Volkes das Recht der Langobarden.
Das römische Recht erhielt sich in dauernder Anwendung nur
dort, wo die römische Bevölkerung dichter saſs, im südlichen Gallien,
in Burgund, in den rätisch-romanischen Gegenden, in Italien und
Istrien. Dabei darf nicht übersehen werden, daſs das Recht der
römischen Provinzialen eine ähnliche Brechung erfuhr, wie das von
ihnen gesprochene Latein. Es entwickelte sich nämlich ein römisches
Vulgarrecht, welches weniger der juristischen Logik als den praktischen
Bedürfnissen entsprechend sich als eine Fortbildung, oder wenn man
will, als eine Entartung des reinen römischen Rechtes darstellt und
sich zu diesem ähnlich verhält wie das im Volksmunde lebende
Vulgarlatein zur reinen römischen Schriftsprache.
Innerhalb der einzelnen Stammesgebiete ist das Recht kein ein-
heitliches. Bei den Sachsen zweien sich die Rechte der Ostfalen und
Engern einerseits, der Westfalen andrerseits. Das friesische Recht ist
in vielen Beziehungen ein verschiedenes für Westfriesland, Ost- und
Mittelfriesland. Unter den Ribuariern haben die Chamaven ein Sonder-
recht. Nur auf einen Teil des thüringischen Stammes bezieht sich das
Volksrecht der Angeln und Warnen. Innerhalb des langobardischen
Rechtsgebietes nimmt hinsichtlich der Rechtsbildung das Fürstentum
Benevent eine Sonderstellung ein. Und auch bei der romanischen
Bevölkerung erhielt das römische Vulgarrecht in den einzelnen Teilen
des Reiches teils aus sich selbst heraus, teils unter der Einwirkung
[256]§ 33. Vielheit und Einheit des Rechtes.
der germanischen Stammesrechte, mit welchen es sich örtlich berührte,
eine verschiedenartige Ausprägung. Dazu kam, daſs in Italien und
Istrien die Rechtssammlungen Justinians in Geltung waren, während
in den übrigen Teilen des fränkischen Reiches das geschriebene
römische Recht auf älteren Grundlagen beruhte. Die Verschiedenheit
des Rechtes ging bei der Art der örtlichen Rechtsfindung wahrschein-
lich noch viel weiter als wir aus den in dieser Beziehung dürftigen
Überlieferungen nachweisen können, und es dürfte wohl im Reiche
kaum eine einzelne Grafschaft gegeben haben, die nicht im Besitze
eines lokalen Gewohnheitsrechtes, einer besonderen lex loci gewesen
wäre, worunter die fränkische Rechtssprache das örtliche Recht im
Gegensatz zu den absoluten Normen des Reichsrechtes versteht2.
Neben der Verschiedenheit des Rechtes machen sich im Franken-
reiche wirksame Faktoren einer gemeinsamen und einheitlichen
Rechtsbildung geltend. Abgesehen von der gleichartigen Grundlage
der germanischen Rechte, wie sie durch Geschichte und Stammes-
verwandtschaft gegeben war, hat sich keines derselben in völliger
Isolierung fortgebildet. Vielmehr zeigt die Entstehungsgeschichte der
einzelnen geschriebenen Volksrechte, wie sie fast sämtlich durch
andere Volksrechte in Fassung und Inhalt beeinfluſst worden sind.
So kamen schon die Satzungen der salischen Franken und der Bur-
gunder unter der Einwirkung der ältesten westgotischen Gesetz-
gebung zustande. Ein groſser Bestandteil des ribuarischen Volks-
rechtes stellt sich als freie Umarbeitung des salischen dar. Die
älteste Satzung der Alamannen verrät in Ausdruck und Inhalt starken
fränkischen Einfluſs. Die Lex der Baiern entlehnte zahlreiche Stellen
den Leges der Alamannen und Westgoten. Die Volksrechte der
Sachsen, der Angeln und Warnen sind im Anschluſs an die Lex
Ribuaria ausgearbeitet worden. Neben diesen direkten Entlehnungen,
wie sie bei der Aufzeichnung der Volksrechte stattfanden, kommt eine
tiefgreifende Ausgleichung der Rechtsverschiedenheiten in Betracht,
die sich auf gewohnheitsrechtlichem Wege vollzog. Jene germanischen
Stämme, die mit den Römern in engere Berührung traten, nahmen
römische Rechtsanschauungen und Einrichtungen an. Gleichwie die
Sprache der Gesetzgebung und der Urkunden, die sie durchweg den
Romanen entlehnten, sich an das Vulgarlatein anschloſs, so diente
auch bei der Aufnahme römischen Rechtsstoffes nicht sowohl das ge-
[257]§ 33. Vielheit und Einheit des Rechtes.
schriebene römische Recht, sondern das Vulgarrecht der römischen
Provinzialen als Anknüpfungspunkt. Andrerseits drangen germanische
Institutionen in das Recht der römischen Bevölkerung ein. Gegen
Ausgang der fränkischen Periode lassen zahlreiche Urkunden über
Rechtsgeschäfte ersehen, wie der Römer in Burgund die dem fränkischen
Rechte entstammende Tertia „secundum legem romanam“ bestellte3,
wie er in Italien gleich den Langobarden bei Schenkungen das Laune-
gild, bei Verheiratung der Tochter das Mundgeld nahm4 und wie er
sich bei Verträgen „secundum legem et consuetudinem romanam“
durch Hingabe einer Wadia verpflichtete5.
Noch weit mehr fällt die ausgleichende Einwirkung ins Gewicht,
welche das fränkische Recht als das Recht des herrschenden Stammes
auf die übrigen Stämme ausübte. Sie machte sich zum Teil auf
gewohnheitsrechtlichem Wege, zum Teil auf dem Wege der Satzung
geltend und führte zur Ausbreitung fränkischer Institutionen und
fränkischer Rechtsausdrücke in allen Teilen des Reiches. Uniformierend
wirkte in diesem Sinne die Rechtsprechung des Königsgerichtes, die
natürlich in dem Banne fränkischer Rechtsanschauungen stand. Jene
zahlreichen Franken, welche den Kern des Beamtentums bildeten,
und ebenso die auserlesenen Köpfe nichtfränkischer Stämme, die am
königlichen Hofe ihre Schulung empfingen, wirkten als Grafen, als
königliche Missi und Gutsverwalter, als geistliche Würdenträger be-
wuſst oder unbewuſst für die Verbreitung des fränkischen Rechtes.
Einrichtungen, die ihren Ausgangspunkt in der Stellung des fränkischen
Königs hatten, wie Königsbann und Königsschutz, Immunität, Ämter-
und Lehenwesen wurden in allen Teilen des Reiches zu mehr oder
minder gleichmäſsiger Durchführung gebracht. Auſserdem gewann
das Königtum steigenden Einfluſs auf die Satzung und Ergänzung der
Volksrechte und wurde es durch die Ausübung seiner Verordnungs-
gewalt ein wesentlicher Faktor einheitlicher Rechtsbildung. Die
königlichen Kapitularien, mochten sie nun zu einzelnen Volksrechten
oder für den ganzen Umfang des Reiches erlassen werden, stellten
sich im allgemeinen auf den Boden des fränkischen Rechtes und
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 17
[258]§ 33. Vielheit und Einheit des Rechtes.
beanspruchten Beachtung trotz des etwaigen Widerspruches, der
zwischen ihnen und den Rechtssystemen der verschiedenen Stämme
bestand6.
Bei dieser Ausdehnung fränkischen Rechtes hat unter den frän-
kischen Stammesrechten, soweit zwischen ihnen Verschiedenheiten
obwalteten, in merowingischer Zeit das salische, in karolingischer das
ribuarische die führende Rolle. Unter den Merowingern geschah sie
mehr durch den Zug der thatsächlichen Verhältnisse als aus bewuſster
Absicht. Unter den Karolingern war sie nur eine vereinzelte Äuſserung
des politischen Strebens, die zwischen Neustrien und Austrasien be-
stehenden Gegensätze auszugleichen. Die zentralisierende Tendenz
ging in dieser Zeit so weit, daſs sogar das Projekt auftauchte, die
Rechtseinheit auf dem Wege der Gesetzgebung herzustellen. Von
Karl dem Groſsen wird uns berichtet, daſs er nach der Kaiserkrönung
den Plan gefaſst habe, wenigstens die Verschiedenheiten zwischen den
beiden fränkischen Volksrechten zu beseitigen7. In der Zeit Ludwigs
des Frommen, unter welchem die Einheitsbestrebungen hauptsächlich
von der hohen fränkischen Geistlichkeit verfochten wurden, sprach
ein fränkischer Prälat, Bischof Agobard von Lyon, den Wunsch aus,
es möge das fränkische Stammesrecht zum allgemeinen Reichsrechte
werden, damit alle Unterthanen wie unter der Herrschaft eines Königs,
so auch unter der Herrschaft eines Rechtes ständen8. Wenn auch
diese Pläne nicht zur Ausführung gelangten, so waren doch gegen
Ende der fränkischen Zeit bemerkenswerte Anfänge einer das ganze
Reich umspannenden Rechtseinheit vorhanden. Jene Gemeinsamkeit
der Rechtsinstitutionen, die das germanisch-romanische Mittelalter vor
der Rezeption des römischen Rechtes aufzuweisen hat, ist eine Rechts-
gemeinschaft der Länder, welche im fränkischen Reiche eine gemein-
same Rechtsentwicklung durchgemacht hatten oder wie England durch
die normannische Eroberung nachträglich in den Wellenschlag der-
selben hineingezogen worden sind.
Trotz der unleugbar eingetretenen Nivellierung stammesrechtlicher
Gegensätze läſst sich doch nicht behaupten, daſs im fränkischen Reiche
eine allgemeine Frankonisierung und damit eine Auflösung der
Stammesrechte eingetreten sei und schlieſslich neben dem römischen
Rechte nur fränkisches Recht gegolten habe. Die angebahnte Einheit
des Rechtes war von ihrer völligen Durchführung noch weit entfernt.
Die verschiedenen Stammesrechte blieben als solche in Kraft und
wiesen nach wie vor noch erhebliche Unterschiede auf. Auch sind
die allenthalben eingedrungenen fränkischen Rechtsinstitutionen bei den
einzelnen Stämmen zu verschiedenartiger Ausgestaltung und Fort-
bildung gelangt9.
v. Savigny, Gesch. des röm. Rechts im Mittelalter I 115 ff. Eichhorn, Staats- u.
RG I 264 ff. Waitz, VG II 1 S 109 f., III 347 f. Wilda, Strafrecht S 678 ff.
Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 455 ff., V 72 ff. Gaupp, Ansiedlungen
S 241 ff.; ders. in der Z f. DR XIX 161. v. Richthofen, Zur Lex Saxonum,
1868, S 10. Stobbe, Personalität und Territorialität des Rechts, im J d. gem. d.
R VI 21. Karl Schulz, Das Urtheil des Königsgerichts unter Friedrich Bar-
barossa … ein Beitrag zur Geschichte der Stammesrechte und der professiones iuris
in Deutschland, 1878, Abdruck aus der Z f. Thüring. Gesch. IX. Klimrath,
Travaux sur l’histoire du droit français, 1842, I 342 ff. G. Padeletti im Archivio
storico italiano III. Ser. XX 431 ff. Salvioli, Nuovi studii sulle professioni di legge
nelle carte medievali italiane. Estratto dagli atti et memorie delle deputazioni di
storia patria per le provincie Modenesi e Parmensi. Ser. III vol. II (1883) S 389 ff.
Besondere Rechtsgrundsätze bildeten sich für die rechtlichen Be-
ziehungen zwischen den Angehörigen verschiedener Stämme. Die
Stämme saſsen nicht in räumlicher Abgeschlossenheit. Salische Franken
finden sich geradezu in allen Teilen des Reiches als Grundbesitzer
angesiedelt. In einzelnen Gegenden ist die Bevölkerung hinsichtlich
ihrer Herkunft so sehr gemischt, daſs man kaum von einem herr-
schenden örtlichen Rechte, von einer „lex loci“ sprechen kann. So
lebten in Burgund neben Burgundern und Romanen zahlreiche Salier,
und in etwas übertreibender Weise berichtet Bischof Agobard von Lyon,
es käme nicht selten vor, daſs fünf Menschen zusammen gehen oder
sitzen, von welchen jeder ein verschiedenes Volksrecht habe1. Eine
17*
[260]§ 34. Das Personalitätsprinzip.
sehr bunte Mischung zeigt auch Italien, wo sich über die römische
Bevölkerung zunächst die langobardische gelagert hatte und nach dem
Sturz des langobardischen Königtums zahlreiche Franken, Alamannen,
vereinzelte Baiern und Angehörige anderer Stämme eingeströmt
waren2.
Für die Rechtsbeziehungen von Unterthanen, die nach verschie-
denem Rechte lebten, entwickelte sich im fränkischen Reiche das
sogen. Personalitätsprinzip, nach welchem der einzelne auch auſser-
halb seiner Stammesheimat gemäſs dem Rechte behandelt wurde, in
welchem er geboren war. Altgermanisch ist dieser Grundsatz nicht.
Auf Fremde im staatsrechtlichen Sinne hat er weder in germanischer
noch in fränkischer Zeit Anwendung gefunden. Die Burgunder haben
in der Periode ihrer Selbständigkeit bei Rechtshändeln zwischen Lango-
barden und Römern das burgundische Recht entscheiden lassen3. Die
Langobarden sind sicher, die Westgoten des tolosanischen Reiches ver-
mutlich von gleichem Standpunkte ausgegangen4. Die Lex Salica
enthält noch keine Spur des Personalitätsprinzips, ja die Zusätze einer
alten Handschrift lassen ersehen, daſs der Römer dem salischen Be-
weisrechte unterworfen wurde5. Erst in der Lex Ribuaria tritt uns
der Grundsatz, daſs der einzelne nach seinem Geburtsrechte zu be-
handeln sei, in voller Ausbildung entgegen6. Wenn somit das Per-
sonalitätsprinzip nicht von Anfang an im fränkischen Reiche vorhanden
war, so liegt es nahe zu vermuten, daſs seine Ausbildung aus dem
Bedürfnis und aus dem Bestreben hervorging, den salischen Franken
den Genuſs ihres Stammrechtes in den verschiedenen Rechtsgebieten
sicher zu stellen, über welche sie sich verbreitet hatten. Die An-
wendung des Geburtsrechtes muſste dann unter dem Gesichtspunkte
der Gegenseitigkeit auf alle übrigen Stämme ausgedehnt werden.
Auch den Langobarden wurde sie nicht, wie man fälschlich geglaubt
hat7, diesseits der Alpen vorenthalten. Nur das jüdische Recht und
1
[261]§ 34. Das Personalitätsprinzip.
die slawischen Rechte haben die Stellung eines vom Standpunkte des
Personalitätsprinzips anerkannten Stammesrechtes nicht erlangt.
Das Personalitätsprinzip läſst an sich die Frage offen, welches
Geburtsrecht maſsgebend sei, wenn an einem Rechtsverhältnis mehrere
Personen verschiedenen Geburtsrechts beteiligt sind. Die Rechtssätze,
die uns in dieser Beziehung überliefert sind, bilden das internationale
Privat- und Strafrecht der fränkischen Zeit, wobei denn freilich zu
beachten ist, daſs es nur für die im fränkischen Reiche vertretenen
Nationen, nicht für Ausländer gegolten hat.
1. Das Wergeld wird durch das Geburtsrecht des Verletzten be-
stimmt. Dasselbe gilt von den Buſsen für Körperverletzungen, die sich
als Bruchteile des Wergeldes darstellen, und überhaupt von allen Kom-
positionen, welchen der Gedanke zu Grunde liegt, daſs die Feindschaft
des Gegners und seiner Sippe abgekauft werde. Ein italienisches
Kapitular Pippins von 790 stellt ausdrücklich den Grundsatz auf,
daſs Unthaten, aus welchen eine faida erwachsen könne, nach dem
Rechte des Verletzten zu büſsen seien8. Auf dieses weist auch jenes
Gesetz Ludwigs I. von 816 hin, welches bestimmt, daſs die in der
Lex Salica normierten Buſsen, wenn sie ein Friese oder ein Sachse
an einen Salier verwirkt, in solidi von 40 Denaren, also in der
Währung der Lex Salica gezahlt werden sollen9. Italienische Rechts-
quellen geben dem Rechte des Verletzten eine noch weiter gehende
Anwendung, indem sie es bei Kompositionen schlechtweg entscheiden
lassen. So sagt eine Rechtsaufzeichnung über Kollisionsfälle zwischen
Römern und Langobarden: quando componunt, iuxta legem cui malum
fecerint componant10. Aber auch im fränkischen Reichsrecht ist das
Recht des Verletzten auf einzelne Buſsen ausgedehnt worden, für die
7
[262]§ 34. Das Personalitätsprinzip.
es ursprünglich kaum gegolten hatte. So bedachte ein Kapitular Karls
des Groſsen den Diebstahl bei Hausfriedensbruch mit dem dreifachen
der Buſse, die das Recht des Verletzten statuiert11.
2. Öffentliche Strafen und die Lösungsbuſsen, um welche öffent-
liche Strafen geledigt werden können, richten sich nicht nach der Lex
des Verletzten, sondern nach dem Rechte des Thäters12. Volksrechte
mit ständisch abgestuftem Strafrecht gehen noch weiter. Indem sie
bei der Bemessung der compositio auf den Stand des Thäters sehen,
müssen sie in Kollisionsfällen das Recht des Thäters entscheiden
lassen. Auf diesem Standpunkte steht die Lex Ribuaria, welche für
die Bestrafung von Personen, die einem fremden Stammesrechte an-
gehören, den Grundsatz aufstellt, daſs dieses letztere und nicht das
ribuarische Recht die Entscheidungsnorm abgebe13.
Seit dem neunten Jahrhundert beginnt im internationalen Straf-
rechte die lex loci delicti commissi, das Recht des Thatortes durch-
zudringen. So soll nach einer langobardischen, vor 830 entstandenen
Paraphrase eines älteren Kapitulars der Eidhelfer, der unwissentlich
einen Meineid geschworen, büſsen: sicut lex loci illius, ubi periurium
factum est, a longo tempore fuit14. Handschriftliche Zusätze zur Lex
Saxonum, welche der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts an-
gehören15, enthalten die Bestimmung, daſs Diebstahl, Brandstiftung,
Tötung auf dem Kirchwege, Kirchenschändung und wissentlicher Mein-
eid, die ein Sachse auſserhalb Sachsens begangen hat, nicht mit der
Todesstrafe des sächsischen Rechtes, sondern nach dem Rechte des
Thatortes bestraft werden sollen. Ein westfränkisches Edikt von 864
[263]§ 34. Das Personalitätsprinzip.
läſst für gewisse Verbrechen, die von Amts wegen zu verfolgen und zu
bestrafen waren, nämlich für Münz-, Maſs- und Metallfälschung in den
Gebieten des römischen Rechtes nicht die durch das Reichsrecht der
Kapitularien festgesetzten Strafen, sondern die des römischen Rechtes,
also die Strafen der lex fori platzgreifen 16.
3. Im Rechtsgange verteidigt sich der Beklagte nach seinem Ge-
burtsrechte 17. Die lex originis des Beklagten bestimmte die ihm ge-
bührenden Fristen 18, bestimmte das Beweisrecht, insbesondere die
Form und die Gröſse des Eides 19. Über Freiheit und Erbe brauchte
der Beklagte, der auswärts belangt worden war, nur innerhalb seines
Heimatsgaues zu schwören 20. Kam es auf einen Zeugenbeweis an,
so muſsten die Zeugen wenigstens zum Teile Stammesgenossen des-
jenigen sein, der durch ihr Zeugnis überführt werden sollte 21. Aus
diesem Grunde erschien es im Interesse des Erwerbers als erforder-
lich, daſs der Veräuſserer eines Grundstücks zur Übereignung Zeugen
zuzog, welche nach seinem Rechte lebten 22. Weil nach dem Stam-
[264]§ 34. Das Personalitätsprinzip.
mesrechte des Beklagten entschieden werden muſste, ob er schuldig
sei oder nicht, wurde — wenigstens in Neustrien — darauf Gewicht
gelegt, daſs der Richter nach dem Rechte lebe, welches die Ent-
scheidungsnorm abgeben sollte 23.
4. Bei Verträgen bindet sich jeder Kontrahent nach dem Rechte,
in welchem er geboren ist. Wird ein Wettvertrag abgeschlossen, so
ist für seine Form das Recht jenes Kontrahenten maſsgebend, der das
Vertragssymbol, die Wadia giebt 24. Verpflichtet man sich durch Hin-
gabe einer carta, so wird die Form des Urkundungsaktes und der
Urkunde durch das Geburtsrecht des Ausstellers bestimmt 25. Die
Frage, ob die rechtliche Wirksamkeit einer Schenkung eine Gegen-
gabe, ein Launegild erfordere, wie das nach langobardischem Rechte
der Fall ist, beantwortet sich nach dem Geburtsrecht des Schen-
kers 26.
Sollen Grundstücke übereignet werden, so gilt es die Übereig-
nungsformen zu beachten, welche das Stammesrecht des Veräuſserers
22
[265]§ 34. Das Personalitätsprinzip.
verlangt 27. Doch beginnt man schon in fränkischer Zeit auf die
Liegenschaften Grundsätze anzuwenden, welche die Loslösung der Im-
mobilien von dem Stammesrechte ihrer jeweiligen Eigentümer vor-
bereiten. Zunächst in prozessualischer Hinsicht. Da die Erwerbstitel
des Veräuſserers, welche dieser aus Anlaſs der Veräuſserung dem
neuen Erwerber des Grundstücks zu übergeben pflegte, regelmäſsig
auf die dem Personalrechte des Veräuſserers entsprechende prozes-
sualische Verfolgung und Verteidigung berechnet waren, da ferner im
Rechtsstreit um das Gut die Notwendigkeit eintreten konnte, den
Gewährsmann zu stellen, so lag es nicht selten im Interesse des
Eigentümers, sich im Prozeſs um das Grundstück nach dem Geburts-
rechte seines Vormanns verteidigen zu können 28. Das fränkische
Reichsrecht brachte diesen Gesichtspunkt zu Gunsten der Kirchengüter
zur Geltung, welche auf Grund einer unter Karl dem Groſsen aus-
gesprochenen, durch ein Kapitular Ludwigs I. eingeschärften Sentenz
nach dem Stammesrechte der Donatoren verteidigt werden sollten 29.
In Italien wurde es Rechtens, daſs der Eigentümer, der sein Geburts-
recht aufgegeben oder verloren und ein anderes Personalrecht erworben
hatte, ererbte Güter nicht nach letzterem, sondern nach ersterem
übereignete. So schenken und tradieren Ehefrauen ihr Erbgut nicht
nach dem Rechte des Mannes, welches während der Ehe ihr persön-
liches Recht ist, sondern nach ihrem Geburtsrechte 30. Desgleichen
übereignen Geistliche ererbte Grundstücke nach ihrem Geburtsrecht,
auch wenn sie nicht nach diesem, sondern nach römischem Rechte
[266]§ 34. Das Personalitätsprinzip.
leben 31. Nach Auflösung des fränkischen Reiches finden sich dies-
seits der Alpen vereinzelte Fälle, in welchen Übereignungen eines
Grundstücks nach den Formen mehrerer Stammesrechte stattfinden 32.
5. Bei Eheschlieſsungen muſsten in Konsequenz der das Vertrags-
recht beherrschenden Grundsätze die Rechte beider Ehegatten, nicht
bloſs das des Mannes, berücksichtigt werden. Für die Form, in welcher
der Bräutigam sich bei der Verlobung rechtlich verpflichtete, war sein
Geburtsrecht maſsgebend. Als König Chlodovech sich mit der burgun-
dischen Königstochter verlobte, geschah dies in der Form des salischen
Rechts, per solidum et denarium 33. Bis in das zehnte Jahrhundert
hinein wird es in den Formeln und Urkunden ausdrücklich hervor-
gehoben, daſs der Bräutigam die Verlobung gemäſs seinem Geburts-
rechte abgeschlossen habe 34. Allein der Kaufpreis der Braut, die
Ablösung des Mundiums richteten sich nach dem Stammesrechte der
Braut und ihres Vormundes. So setzt das langobardische Edikt vor-
aus, daſs der Römer, der eine Langobardin heiratet, deren Mundium
bezahlt 35. Nach einer langobardischen Formel muſs der Trauung
einer salischen Witwe die dem salischen Rechte eigentümliche Ent-
richtung des reipus von Seite des langobardischen Bräutigams voraus-
gehen 36. Auch bei der Trauung war für die Übergabe der Braut ihr
und ihres Mundwalds Rechts zu beobachten, solange die Eheschlie-
ſsung den formellen Charakter des Frauenkaufs nicht abgestreift hatte.
Morgengabe und Wittum bestellte der Ehemann nach seinem Geburts-
rechte. Dem Langobardenkönig Ratchis wurde es zu schwerem Vor-
wurf gemacht, weil er bei der Heirat mit der Römerin Tassia sich
nicht an Meta und Morgengabe, sondern an „donationes cartulae
romanae“ gehalten hatte 37. In burgundischen Urkunden des zehnten
[267]§ 34. Das Personalitätsprinzip.
Jahrhunderts wird es regelmäſsig betont, daſs der Bräutigam Morgen-
gabe oder Dos oder sponsalitium nach burgundischem oder salischem
oder römischem Rechte gegeben habe 38.
Der Grundsatz, daſs bei der Eheschlieſsung die Stammesrechte
beider Ehegatten zu beachten seien, wurde von der Kirche bekämpft.
Aus Anlaſs eines einzelnen Falles, in welchem ein Franke seine Frau
verlieſs, weil er sie nicht nach fränkischem Rechte, sondern nach
ihrem sächsischen Geburtsrechte geehelicht habe, bestimmte eine Sy-
node von Tribur 895, daſs die Ehe giltig sei, auch wenn sie nur nach
dem Rechte des Bräutigams oder nur nach dem Rechte der Braut
geschlossen worden sei 39.
6. Bestellung und Verwaltung der Vormundschaft fanden ihre
Norm in dem Personalrechte des Mündels. Daher entschied auch das
Recht der bevogteten Kirche über die Ausübung der Kirchenvogtei 40.
7. Das Erbrecht wird durch das Stammesrecht des Erblassers
beherrscht 41. Schriftliche Vergabungen von Todeswegen muſsten da-
her nach dem Rechte des Vergabenden geschrieben werden und zwar
auch in Italien, wo König Liutprand im allgemeinen die Wahl zwi-
schen der langobardischen und römischen Urkundungsform freigestellt
hatte 42.
8. Im Freiheitsprozeſs entschied das Recht desjenigen, der seine
Freiheit behauptete. Doch war das Recht des Herrn maſsgebend für
die Frage, ob dieser sich an dem Knechte, der eine Zeit lang als
Freier gelebt hatte, verschwiegen habe. Ein Zusatz zu einem Kapi-
[268]§ 34. Das Personalitätsprinzip.
tular von 801 bestimmt 43, aus diesem Gesichtspunkte heraus, daſs
in Italien zwar dem Herrn, der nach langobardischem oder nach
römischem Rechte lebt, dreiſsigjähriger Besitz der Freiheit entgegen-
gehalten werden könne 44, daſs aber dem Franken und Alamannen
gegenüber die Einrede der praescriptio von Seite des Knechtes
schlechtweg ausgeschlossen sei 45.
Das persönliche Recht wird im allgemeinen durch die Abstam-
mung bestimmt, es ist die lex originis, bei ehelichen Kindern die lex
paterna, bei unehelichen das Stammesrecht der Mutter 46. Die Ehe-
frau lebte nicht nach dem Rechte ihrer Geburt, sondern nach dem
Rechte des Ehemanns. Sie behielt dieses Recht auch nach Auf-
lösung der Ehe, stand sie doch unter der Vormundschaft der Ver-
wandten ihres verstorbenen Mannes 47. In Italien ging man aber im
neunten Jahrhundert von jenem Grundsatze ab. Ein Kapitular
Lothars I. setzte fest, daſs die Frau nach dem Tode des Mannes
wieder in ihr Geburtsrecht zurücktrete 48.
Das persönliche Recht der Freigelassenen bestimmte sich bei den
Franken durch die Art der Freilassung. Der durch Schatzwurf (per
denarium) freigelassene Knecht wurde Salier oder Ribuarier. Die
Freilassung durch römische carta libertatis und die Freilassung durch
Vermittlung der Kirche gaben römisches Recht. Daneben existierte
eine Freilassung zum fränkischen Liten 49. Das ältere langobardische
[269]§ 34. Das Personalitätsprinzip.
Recht kannte nur eine Freilassung zum freien Langobarden oder zum
Aldio. Die Aldien lebten nach dem Rechte des Herrn, der sie zu
vertreten hatte. Das jüngere langobardische Recht gab dem Frei-
gelassenen schlechtweg das persönliche Recht seines Freilassers 50.
Die katholische Kirche lebte als eine aus dem römischen Reiche
überkommene Einrichtung nach römischem Rechte 51. Eine Ausnahme
bildeten die im Eigentum und die im besonderen Schutze des Königs
stehenden Klöster und Kirchen, welche fränkisches Recht genossen 52.
In Italien hielt sich das Kloster Farfa in der Sabina an das lango-
bardische Recht 53. Daſs der durch Schenkung erworbene Grundbesitz
der Kirche nach fränkischen Kapitularien das Stammesrecht der Dona-
toren bewahrte, ist oben Seite 265 bereits bemerkt worden.
Der einzelne Kleriker wurde im fränkischen Reiche nicht, wie
man vielfach behauptete, nach römischem Rechte, sondern nach dem
Rechte seiner Geburt beurteilt 54. Anders war das Verhältnis im
Langobardenreich. Zur Zeit, da die Langobarden noch Arianer waren,
kann es katholische Kleriker langobardischer Herkunft in nennens-
werter Zahl nicht gegeben haben, und muſs das römische Recht
für das selbstverständliche Personalrecht des katholischen Klerus ge-
golten haben. Die daraus hervorgehende Auffassung, daſs der katho-
lische Kleriker nach römischem Rechte lebe, erhielt sich, nachdem das
Volk sich zum Katholizismus bekehrt hatte. Der Langobarde, der in
den geistlichen Stand eintrat, unterwarf sich dem römischen Rechte 55.
49
[270]§ 34. Das Personalitätsprinzip.
Nach der fränkischen Eroberung tritt unter dem Einfluſs der frän-
kischen Rechtssitte in Italien ein schwankender Rechtszustand ein.
Geistliche bekennen nicht selten, daſs sie nach langobardischem Rechte
leben 56. Andrerseits suchte aber die Kirche dem Satze, daſs der
Kleriker als solcher dem römischen Rechte unterworfen sei, allge-
meine Geltung zu verschaffen. Die langobardische Jurisprudenz be-
trachtete ihn im elften Jahrhundert als geltendes Recht 57 und auch
in den Urkunden wird er als solches seit dieser Zeit gelegentlich
hervorgehoben 58.
In Gegenden mit gemischter Bevölkerung findet sich die Eigen-
tümlichkeit, daſs man in den Geschäftsurkunden nicht selten das Per-
sonalrecht des Kontrahenten ausdrücklich hervorhob, dessen lex für
die Verbindlichkeit des Geschäftes maſsgebend war. Ein Bedürfnis,
die Rechtsgeschäfte in dieser Beziehung gegen etwaige Anfechtung
sicher zu stellen, ergab sich zumeist für die der Minorität angehörigen
Rechtsgenossen, während das Stammesrecht der herrschenden Majo-
rität als selbstverständlich eher mit Stillschweigen übergangen werden
konnte. Nicht bloſs bei Verträgen unter Personen verschiedenen
Rechtes, auch bei solchen, die von Kontrahenten desselben Geburts-
55
[271]§ 34. Das Personalitätsprinzip.
rechtes abgeschlossen wurden, konnte die Bezeichnung der lex originis
als zweckmäſsig erscheinen.
Die ältesten Beispiele von Urkunden, welche das Personalrecht
der disponierenden Vertragspartei konstatieren, stammen aus Italien,
wo sie bis in die zweite Hälfte des achten Jahrhunderts zurückreichen.
In einer Schenkungsurkunde von 767 bekennt der Aussteller, daſs er
iuxta lege sua Langobardorum Launegild empfangen habe 59. Noch
charakteristischer ist eine 769 zu Brescia aufgenommene Urkunde,
ausgestellt von einem Ostgoten Namens Stavila, civis Brixianus, vivens
legem Gothorum 60. Bis zum Anfang des neunten Jahrhunderts hat
der italienische Urkundenstil, der später auf die Betonung der Per-
sonalrechte besonderes Gewicht legt, noch kein fest ausgebildetes
System. Die lex der Kontrahenten wird verhältnismäſsig selten, mit-
unter nur zufällig und ohne ersichtlichen Grund hervorgehoben 61.
Im Gegensatz zur späteren Übung verschweigt die Urkunde hin und
wieder das Stammesrecht des Veräuſserers, auch wenn ihr sonstiger
Inhalt ersehen läſst, daſs er auſseritalischer Herkunft war 62. Erst seit
den vierziger Jahren des neunten Jahrhunderts beginnt die italienische
Notariatspraxis für die Geschäftsurkunden der in Italien ansässigen
Franken, Alamannen und Baiern ein typisches Schema auszubilden,
welches die lex oder die natio des Ausstellers zu nennen pflegt 63.
Nicht bloſs die Geschäftsurkunden, sondern auch die Gerichts-
urkunden Italiens betonen das maſsgebende Personalrecht der Partei,
mag es sich nun um wirkliche Rechtsstreitigkeiten oder um Akte der
[272]§ 34. Das Personalitätsprinzip.
freiwilligen Gerichtsbarkeit handeln. Im Gerichtsverfahren war es
Sitte, daſs die Personen von Gerichtswegen befragt wurden: qua lege
vivis.? Die darauf hin abgegebene Antwort wurde in der über die
Gerichtsverhandlung aufgenommenen Urkunde dokumentiert 64.
Das Bekenntnis des Personalrechts, welches im einzelnen Falle
vor Gericht oder bei auſsergerichtlichen Rechtsgeschäften abgelegt
wurde, bezeichnen die Quellen als profiteri und zwar in herkömm-
lichen Wendungen, wie: qui professus fuit se lege vivere salica und
dergleichen. Aus diesem Sprachgebrauch hat die neuere Wissenschaft
den Ausdruck professio iuris abgeleitet, um damit die über das Per-
sonalrecht abgegebene Erklärung zu bezeichnen. Da er sich ein-
gebürgert hat, mag er füglich beibehalten werden, nur gilt es, nicht
zu vergessen, daſs er in den Quellen als ein technischer nicht zu
finden ist.
Die sogen. professiones iuris kommen auch auſserhalb Italiens im
fränkischen Reiche vor, insbesondere in Gegenden, wo — wie in
Burgund und Septimanien — eine mehrfach gemischte Bevölkerung
seſshaft war 65. Schon ein Kapitular vom Ausgange des achten Jahr-
hunderts wies die königlichen Missi an, bei der Handhabung der
Rechtspflege die einzelnen um ihr Geburtsrecht zu fragen 66.
Zurückzuweisen ist die Ansicht, als ob es im Belieben des ein-
zelnen gestanden hätte, heute dieses, morgen jenes Recht als Per-
sonalrecht zu bezeichnen oder ein für allemal ein Personalrecht zu
wählen 67; ebenso die Meinung, daſs es Grundsatz der Rechtsverwal-
tung gewesen sei, von allen erwachsenen Personen zum Zweck amt-
licher Registrierung eine Bekanntmachung ihres Geburtsrechtes ent-
[273]§ 35. Das Fremdenrecht u. das Judenrecht.
gegenzunehmen 68. Nur eine vereinzelte und vorübergehende Maſsregel
war es, daſs Lothar I. im Jahre 824, um eine sichere Grundlage für
die Handhabung der Strafjustiz zu gewinnen, die Anordnung traf, es
sollten die Bewohner der Stadt Rom gefragt werden, nach welchem
Rechte sie leben wollten 69.
Grimm, Rechtsalterthümer S 396 ff. Wilda, Strafrecht S 672. Heusler, In-
stitutionen des deutschen Privatrechts I 144 ff. E. Loening, Gesch. des deutschen
Kirchenrechts II 51. Waitz, Verfassungsgeschichte II 1 S 270 f., IV 44. 237
Klimrath, Travaux sur l’histoire du droit français I 405. Stobbe, Die Juden
in Deutschland während des Mittelalters, 1866, S 3 ff. 197 ff.
Den Fremden vermag das ihm angeborene Recht nicht zu schützen.
Er ist rechtlos, wenn ihn das Gastrecht nicht beschirmt oder ein
Schutzherr, den er gewonnen hat, und nicht etwa eine völkerrechtliche
Schutzpflicht des Gemeinwesens begründet ist. Diese grundsätzliche
Rechtlosigkeit äuſsert sich darin, daſs er buſslos erschlagen und ver-
knechtet werden kann 1. Der Volksgenosse, der einen Fremden be-
haust und beschützt, haftet seinerseits für das, was dieser verbricht.
Aber schon sehr früh hat sich ein subsidiärer Schutz des Königs
zu Gunsten der Fremden ausgebildet, die keinen andern Schutzherrn
hatten. Wir finden ihn bei den Angelsachsen 2, bei den Langobarden 3,
bei den Franken 4 und bei den Baiern 5. Der im Schutz befindliche
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunuer, Deutsche Rechtsgesch. I. 18
[274]§ 35. Das Fremdenrecht u. das Judenrecht.
Fremde heiſst in den langobardischen Rechtsdenkmälern 6 waregangus,
in einer fränkischen Quelle wargengus 7, bei den Angelsachsen
værgenga 8. Sonst wird der Fremde auch der Elende (alilanti) ge-
nannt. Im Lateinischen erscheint er als peregrinus, alienigena oder
als albanus 9. Ein ausschlieſsliches Recht des Königs, den Fremden zu
schützen, wie es später in dem Begriffe des Fremdenregals auftritt,
hat in fränkischer Zeit nicht bestanden. Der Schutz des Königs greift
nur ergänzend ein. In angelsächsischen Quellen wird mehrfach betont,
daſs der König für den Fremden Mag und Mundherr sein soll, wenn
er keinen anderen hat. Fremdlinge, welche Unterthanen zu Herren
haben, sich als Hausgenossen im Schutze eines Unterthans befinden,
werden in fränkischen und in bairischen Quellen vorausgesetzt 10.
Der Fremde lebt nach dem persönlichen Rechte des Schutzherrn,
also wenn er unter dem Schutze des Königs steht, nach dem persön-
lichen Rechte des Königs. Daher gilt für den wargangus des Lango-
bardenreiches das langobardische Recht, es müſste ihm denn der
König durch besonderes Privileg den Genuſs eines anderen Rechtes
verstattet haben 11. Für das fränkische Reichsrecht ist uns durch ein
Mandat Karls des Groſsen zu Gunsten des Schottenklosters Honau
der Grundsatz überliefert, daſs das Besitztum der Fremden nach
fränkischem Rechte einzuklagen sei 12. Durch den Schutz des Königs
erlangt der Fremde ein Wergeld, welches nach dem fränkischen
Rechte in vollem Betrage an den König fällt 13, während der angel-
sächsische König es mit den Magen des Erschlagenen teilt 14. Das
Erbe des Fremden gelangt nach langobardischem Rechte in Er-
[275]§ 35. Das Fremdenrecht u. das Judenrecht.
mangelung von ehelichen Söhnen an den König. Der Fremde darf
daher nicht auf den Todesfall über sein Vermögen verfügen 15. Der
fränkische König nahm, wie es scheint, das Erbe des Fremden, auch
wenn Kinder desselben vorhanden waren. Die erwähnte Urkunde
Karls für Honau sagt geradezu: res peregrinorum propriae sunt regis.
So liegen die Grundsätze, welche die Folgezeit als Fremdlingsrecht,
ius albinagii, zusammenfaſst, schon während der fränkischen Periode
in deutlichen Keimen vor unseren Augen.
Wie für die Fremden hat auch für die Juden das Personalitäts-
prinzip nicht gegolten. Das jüdische Recht nahm im Gegensatz zu
den germanischen Volksrechten und zum römischen Rechte als ein
nur geduldetes Recht eine Sonderstellung ein. Die fränkischen Ge-
richte waren nicht verpflichtet, darauf Rücksicht zu nehmen. Die
rechtliche Behandlung der Juden schloſs sich in der fränkischen
Monarchie an die Zustände an, in welchen sich das Volk der Juden
innerhalb des römischen Reiches befunden hatte. In diesem waren
die Juden dem gemeinen, also dem römischen Rechte unterworfen 16.
In Zivilstreitigkeiten, die sie unter einander hatten, besaſsen und
übten sie das Recht schiedsrichterlicher Entscheidung 17. Das jüdische
Recht, welches bei der internen Erledigung ihrer Händel in An-
wendung kam, blieb auch im fränkischen Reiche dafür maſsgebend 18.
Kriminalsachen und Streitigkeiten der Juden mit Christen wurden
nach der thatsächlich herrschenden lex loci entschieden. Das römische
Recht erhielt sich daher nur in den Gegenden, wo es seine Herrschaft
behauptete, als das für die Juden geltende Recht. Dagegen hat man
in den Gebieten, wo die Urteilfinder nach deutschem Rechte sprachen,
das römische Recht auf sie nicht angewendet 19. Es war nicht etwa
18*
[276]§ 35. Das Fremdenrecht u. das Judenrecht.
jüdisches Stammesrecht. In den Judenschutzbriefen und in den
Kapitularien der karolingischen Zeit ist unter der lex der Juden
nicht das römische, sondern das jüdische Recht verstanden 20. Das
erstere kann daher nicht als ihr persönliches Recht gegolten haben.
Andererseits finden sich Anhaltspunkte dafür, daſs die Juden dem
germanischen Beweisrechte unterworfen wurden, den Gottesurteilen
des Kesselfanges, des Feuers und der Geiſselung, aber freilich nicht
als vollberechtigte Volksgenossen, denn die körperliche Züchtigung
diente bei den Franken nur gegen Unfreie als Beweismittel 21. Für
Zivilstreitigkeiten zwischen Christen und Juden galt der Grundsatz,
daſs der Jude gegen den Christen unter seinen Zeugen eine Anzahl
von Christen, der Christ gegen den Juden unter seinen Zeugen eine
Anzahl von Juden vorführen muſste 22. Für den Eid, den der Jude
selbst zu leisten hatte, bestand die besondere Form des Juden-
eides 23.
Unter den Karolingern scheint sich ein typisches Judenschutz-
recht ausgebildet zu haben. Denn unter Ludwig I. finden sich
Schutzbriefe für christliche Kaufleute, in welchen ihnen der Schutz
19
[277]§ 36. Volksrecht und Königsrecht.
zugesichert wird, wie ihn die Juden genieſsen 24. Die strafrechtliche
Behandlung der Juden hatte in einem Kapitulare Ludwigs I., welches
uns verloren gegangen ist, ihre besondere Regelung erfahren. Es
waren darin die Fälle bestimmt, in welchen die Juden, wenn sie
überführt worden waren, gegeiſselt werden durften 25. Das für Streitig-
keiten zwischen Schutzjuden und Christen geltende Zeugenverfahren
wurde durch die Anordnung ergänzt, daſs eine amtliche Inquisitio
vorzunehmen sei, wenn die vorgeführten Zeugen das Zeugnis gegen
ihren Volks- und Glaubensgenossen verweigerten 26. Für den gewährten
Schutz waren den königlichen Schutzjuden Leistungen an die königliche
Kammer auferlegt 27.
Sohm, Die fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung, 1871, S 102 ff. Vgl. Karl
Lehmann, Der Königsfriede der Nordgermanen, 1886.
Ein Rechtssatz entsteht entweder durch seine unmittelbare An-
wendung im Rechtsleben oder durch Satzung. Die unmittelbare An-
wendung von Rechtssätzen, die zuvor als solche nicht ausgesprochen
waren, geschah im fränkischen Reiche durch das Volk und die zur
Rechtsprechung berufenen Organe desselben. Auſserdem konnten aber
neue Rechtssätze auch durch den König und dessen Organe, die
königlichen Beamten, kraft der ihnen zustehenden Amtsgewalt zu un-
mittelbarer Anwendung gebracht werden. In diesem wie in jenem
Falle ergab erst die wiederholte, die gleichmäſsige Übung, also die
Gewohnheit, daſs der angewendete Satz dem allgemeinen Rechts-
bewuſstsein entspreche, daſs also schon mit der ersten Anwendung
ein wirklicher Rechtssatz entstanden sei.
Neben dem Gewohnheitsrechte flieſst in dieser Periode die Satzung
als Quelle des Rechtes. Die Satzung kommt bei den deutschen
Stämmen anfänglich nur durch die ausdrückliche Erklärung des Volks-
willens zustande, daſs etwas Rechtens sein solle, sei es nun daſs sie
einen völlig neuen Rechtssatz einführt oder daſs sie einem bereits
[278]§ 36. Volksrecht und Königsrecht.
geltenden Gewohnheitsrechte die Form und Kraft der Satzung giebt.
Die volksrechtliche Satzung schlieſst eine Teilnahme des Königtums
nicht aus. Einen Rechtszustand, wie er z. B. bis ins dreizehnte
Jahrhundert bei den Schweden galt, wo der König keinerlei Mit-
wirkungsrecht bei der Gesetzgebung besaſs, vermögen wir für die
gotischen und für die deutschen Stämme, die unter Königen
standen, nicht nachzuweisen. Vielmehr ist der König allenthalben
bereits ein mitwirkender Faktor der Schaffung des Rechtes. Aber
auch nicht mehr wie dies: denn begrifflich steht das Recht der
Satzung bei dem Volke. Selbst wenn sie aus der Initiative des
Königs hervorging und im Namen desselben erfolgte, muſste die Zu-
stimmung des Volkes hinzutreten, damit Volksrecht entstehe. Durch
die Satzung als den Ausdruck des Volkswillens wurden die Organe
der Rechtsprechung unmittelbar gebunden. Denn die Satzung erklärt,
daſs in diesem oder jenem Falle so und so geurteilt werden solle.
Die älteste typische Form der Satzung bewegt sich daher innerhalb
des Schemas: si quis fecerit, iudicetur.
Die frühzeitige Erstarkung der königlichen Gewalt, das Vorhanden-
sein eines Königsgerichtes, die Handhabung des Friedens, die Aus-
dehnung der Banngewalt, die Besetzung der höheren Richterstellen
mit königlichen Beamten setzten das fränkische Königtum in die Lage,
unabhängig vom Willen des Volkes Verordnungen zu erlassen. So-
weit die königliche Verordnung neue Rechtssätze einführt, werden sie
nicht durch die Organe der volksgerichtlichen Urteilfindung, sondern
durch den König und sein Beamtentum zur Anwendung gebracht.
Nicht der Urteilfinder des Volksgerichtes, sondern die Exekutivgewalt
wacht über die Handhabung der königlichen Verordnung.
Das Recht, welches der unmittelbaren Teilnahme des Volkes an
der Rechtsanwendung und an der Rechtssatzung seine Entstehung
verdankt, nennen wir Volksrecht. Das Recht, welches in der Amts-
gewalt des Königs und seiner Beamten seinen Ausgangspunkt hat,
darf als Königsrecht bezeichnet werden. Wie das Volksrecht das auf
dem Willen des Volkes, ist das Königsrecht das auf dem Willen des
Königs beruhende Recht. Wie das Volksrecht ist auch das Königs-
recht zum Teile Gewohnheitsrecht, zum Teile Satzung. Um den
Dualismus im deutschen Rechte der fränkischen Zeit in Parallele zu
bringen mit der aus der römischen Rechtsgeschichte bekannten Unter-
scheidung von ius civile und ius honorarium hat man das Königsrecht
auch als Amtsrecht bezeichnet 1.
Galt es hier den Gegensatz in begrifflicher Schärfe hinzustellen,
um ihn überhaupt zu klarer Anschauung zu bringen, so darf doch
nicht verhehlt werden, daſs die Grenzen zwischen Volksrecht und
Königsrecht durch die thatsächlichen Verhältnisse mancherlei Trübung
erfuhren. Einerseits hat der König Rechtssätze, welche der Urteil-
findung zu Grunde gelegt werden sollten, wenn ein Widerstreben der
rechtsprechenden Organe schlechterdings nicht zu besorgen war, ohne
Zustimmung des Volkes dekretiert, so daſs sie dann durch ihre An-
wendung bei der Rechtsprechung zu wirklichem Volksrechte wurden;
andererseits hat es der König nicht verschmäht, Einrichtungen, die
er ohne weiteres kraft seiner Banngewalt durchführen konnte, im
Wege volksrechtlicher Satzung unter den Schutz des Volksrechtes zu
stellen.
Das Verhältnis zwischen Königsrecht und Volksrecht konnte ein
verschiedenartiges sein. Es gab Rechtssätze und Rechtsinstitute des
Königsrechtes, welche das Volksrecht ergänzten, ferner solche, welche
mit den Rechtssätzen und Rechtsinstituten des Volksrechtes kon-
kurrierten, und endlich solche, welche dem Volksrechte widerstritten.
Einzelne Beispiele sollen diese verschiedenen Funktionen des Königs-
rechtes erläutern.
Das Königsrecht ergänzte das Volksrecht durch Ausbildung einer
Exekution in das Vermögen des Schuldners. Es gab eine Zeit, in
welcher das Volksrecht keinerlei gerichtliche Zwangsvollstreckung
kannte, sondern nur die Pfandnahme des Gläubigers und die Friedlos-
legung verfügbar waren gegen denjenigen, der sich weigerte das
Recht zu erfüllen. Schon zu Beginn der merowingischen Periode war
als eine zunächst königsrechtliche Institution eine Mobiliarpfändung
eingeführt worden, welche ein königlicher Beamter, der Graf, vorzu-
nehmen hatte. Ihre Anfänge liegen im dunklen. Der älteste uns
überlieferte Text der Lex Salica kennt sie bereits. Aber noch ge-
raume Zeit hindurch fehlte es an einer Zwangsvollstreckung in Liegen-
schaften. Eine solche wurde erst durch das karolingische Königtum und
zwar im Anschluſs an die Friedloslegung eingeführt. Die Friedlosigkeit
wurde vom König verhängt und ergriff, wie oben S 168 ausgeführt
worden ist, nicht nur die Person, sondern auch das Gut des Ge-
ächteten, welches dem König verfiel. Aus der Friedlosigkeit des
1
[280]§ 36. Volksrecht und Königsrecht.
Gutes schuf der König einen Ersatz der mangelnden Immobiliar-
exekution, indem er die Friedlosigkeit nur soweit geltend machte, als
sie zu diesem Zwecke unbedingt nötig war. Er verhängte sie nicht
über die Person, sondern nur über das Vermögen des Säumigen.
Sein unbewegliches Gut wurde mit dem Banne des Königs belegt,
nach Ablauf von Jahr und Tag endgiltig konfisziert (gefront) und
soweit die Forderung des betreffenden Gläubigers reichte, zur Be-
friedigung desselben verwendet. Weil nur im Namen des Königs, konnte
die missio in bannum nur von den königlichen Beamten ausgeübt
werden. Ein Kapitular Ludwigs des Frommen 2, welches volksrecht-
liche Kraft besaſs, führte sie in das Volksrecht ein, so daſs fürderhin
durch Urteil darauf erkannt werden konnte 3.
Institutionen des Königsrechtes traten in Konkurrenz mit den
Einrichtungen des Volksrechtes. Ein Beispiel bietet das Verhältnis
der volksrechtlichen und der amtlichen Ladung. Das fränkische Recht
kannte ursprünglich nur eine Vorladung vor Gericht, welche in rechts-
förmlicher Weise durch den Kläger erfolgte. Daneben kam zuerst
für das Königsgericht eine Ladung durch schriftlichen Befehl des
Königs, dann auch für das Volksgericht eine Ladung durch richter-
liches Gebot in Übung. Eine Zeit lang haben die betreffenden
Ladungsformen neben einander bestanden, indem der Kläger, von
einigen Ausnahmefällen abgesehen, die Wahl hatte, den Gegner selbst-
thätig zu mannieren oder die richterliche Vorladung desselben zu
erwirken. Schlieſslich hat die richterliche bannitio, weil sie für den
Kläger bequemer und gefahrlos war, die alte volksrechtliche Form der
Ladung vollständig verdrängt.
Das Königsrecht vermag sich auch in Widerstreit gegen das
Volksrecht zu setzen. Beispielsweise haben das langobardische und
das sächsische Recht noch ein auſsergerichtliches Pfändungsrecht des
Gläubigers gekannt. Das fränkische Königtum verbot die Ausübung
desselben bei Strafe des Königsbanns. Die meisten Volksrechte ge-
statteten in gewissen Fällen die Geltendmachung der Fehde. Nichts-
destoweniger haben die Karolinger sie verboten und die Neuerung
eingeführt, daſs der Graf die fehdelustigen Parteien von Amts wegen
[281]§ 36. Volksrecht und Königsrecht.
zum Abschluſs eines Sühnevertrags zwingen dürfe. Die Lösung des
Gegensatzes zwischen Volksrecht und Königsrecht war häufig eine
Machtfrage. Nicht immer und nicht überall hat sich das Königsrecht
auf die Dauer durchzusetzen vermocht. So hat sich in Italien die
eigenmächtige Pfändung trotz des Verbotes erhalten 4. Und in nach-
fränkischer Zeit finden wir gerade in den alten Sitzen der Salfranken
die Geschlechterfehde in vollster Blüte.
Das Volksrecht ist Stammesrecht, es ist persönliches Recht der
Stammesgenossen und beansprucht keine Geltung über Personen, die
einem andern Stammesrechte angehören, auch wenn sie in dem Gebiete
wohnen, in welchem jenes das thatsächlich herrschende Recht ist. Das
Königsrecht hat einerseits einzelne Stammesrechte reformiert, andererseits
vermochte es sich auch territoriale Geltung zu verschaffen, indem es
das gesamte Reich oder einzelne Gebiete desselben seiner Herrschaft
unterwarf. Stellen uns die Stammesrechte die Mannigfaltigkeit des in
der fränkischen Monarchie geltenden Rechtes dar, so erscheint das
Königsrecht als der wichtigste Faktor für die Entstehung eines ein-
heitlichen Rechtes.
Das Volksrecht ist im allgemeinen das ältere, das Königsrecht
das jüngere Recht; jenes ist das altertümlichere, dieses im Verhältnis
zu jenem das moderne Recht, welches die das Volksrecht überholen-
den Gedanken der Rechtsreform zum Ausdruck bringt. Das Volks-
recht ist das ius strictum, das strenge, starre und unbeugsame Recht.
Das Königsrecht vertritt im allgemeinen den Standpunkt der Billigkeit
und den Grundsatz der Elastizität des Rechts.
Die Entstehung des Gegensatzes zwischen Volksrecht und Königs-
recht, das Eindringen des Königsrechtes in das Volksrecht bezeichnet
einen der bedeutsamsten Fortschritte in der Rechtsentwicklung der
fränkischen Periode. Indem das Königsrecht in den Volksgerichten
Wurzel faſste und sich auf gewohnheitsrechtlichem Wege oder auf
dem Wege der Satzung in das Volksrecht einschob, wirkte es als die
treibende Kraft zeitgemäſser, den steigenden Kulturzuständen an-
gepaſster Fortbildung und Erneuerung des Rechtes und spielte es im
fränkischen Reiche ungefähr dieselbe Rolle, wie das prätorische Recht
in der römischen Rechtsgeschichte. In ähnlicher Weise sehen wir
seit dem dreizehnten Jahrhundert in den nordgermanischen König-
reichen ein Königsrecht entstehen, welches die Neuerungen im Rechte
vermittelt. In gesteigerter Potenz hat nach der Eroberung Englands
das Königsrecht die dort bestehenden Rechtszustände umgestaltet und
[282]§ 37. Die Entstehung geschriebenen Rechts.
die wesentlichen Grundlagen des anglo-normannischen Rechtes ge-
schaffen.
Eine Anzahl von Institutionen des fränkischen Königsrechtes ist
zunächst im Königsgerichte entstanden und von da aus mit Hilfe des
königlichen Beamtentums in die Rechtspflege der Volksgerichte hinein-
getragen worden. Gewisse Einrichtungen königsrechtlichen Ursprungs
sind jedoch während der fränkischen Periode auf dem halben Wege
dieser Entwicklung stehen geblieben, indem ihre Anwendung dem
Königsgerichte und dessen Emanationen vorbehalten, dagegen den
ordentlichen Richtern der Volksgerichte versagt blieb.
Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen I 6—28. — Kollektivaus-
gaben. Eine Gesamtausgabe der fränkischen Rechtsquellen versprechen die Monu-
menta Germaniae historica in der Abteilung Leges zu liefern. Bisher sind er-
schienen in der Folioausgabe die Kapitularien LL I und II, die Lex Alamannorum,
Baiuwariorum, Burgundionum, die Lex Romana Burgundionum und die Lex Frisi-
onum LL III, der Edictus Langobardorum und der Liber legis Lang. LL IV,
die Lex Saxonum, Thuringorum, das Edictum Theoderici, die Lex Ribuaria und
die Lex Chamavorum in zwei Faszikeln von LL V. In der Quartausgabe der erste
Band einer verbesserten Edition der Kapitularien und die Formulae Merowingici et
Karolini aevi. Der Edictus Langobardorum, die Lex Rib. und Chamav. sind auch
in einer Textausgabe in 8° abgedruckt worden. Von älteren Sammlungen, welche
verschiedene Gruppen von Rechtsquellen zusammenfassen, sind zu nennen: Lin-
denbrog, Codex Legum antiquarum, 1613. Steph. Baluzius, Capitularia regum
Francorum, 1687, in verbesserter Auflage herausg. von P. de Chiniac 1780 (enthält
auſser den Kapitularien auch Formelsammlungen und Volksrechte). Bouquet,
Recueil des historiens des Gaules et de la France, 1738 ff. Peter Georgisch,
Corpus iuris Germanici antiqui, 1738, auf welche Ausgabe Jakob Grimm in den
RA seine Citate stellt. F. P. Canciani, Barbarorum leges antiquae, 1781—1792. —
Eine Ausgabe für den akadem. Gebrauch lieferte Ferd. Walter, Corpus iuris
Germanici antiqui, 3 Bde 1824. Eine Auswahl von Auszügen aus den fränkischen
Rechtsquellen bietet nebst ausführlicher Einleitung, Anmerkungen und Glossar H. G.
Gengler, Germanische Rechtsdenkmäler, Leges, Capitularia, Formulae, 1875. —
Mitteilungen über Handschriften und Untersuchungen zur Geschichte einzelner
Rechtsquellen enthalten das Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichts-
kunde 12 Bde 1820 ff. und das neue Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche
Geschichtskunde 1876 ff.
Die Zeit von der Mitte des fünften bis zur Mitte des neunten
Jahrhunderts ist für die germanischen Stämme, welche in der frän-
kischen Monarchie ihre Vereinigung fanden, die Periode ihrer ältesten
Rechtsaufzeichnungen. Durch die Fülle geschriebenen Rechts, die sie
aufzuweisen hat, steht sie in scharfem Gegensatz zu dem absoluten
Mangel an Rechtsquellen, welcher die germanische Zeit, und zu der
[283]§ 37. Die Entstehung geschriebenen Rechts.
Quellenarmut, welche die nachfränkische Zeit charakterisiert. Den ent-
scheidenden Impuls zur schriftlichen Fixierung des Rechts gab nach
Abschluſs der sogen. Völkerwanderung die Einwirkung der christlich-
römischen Kultur. Als um die Mitte des neunten Jahrhunderts im
fränkischen Reiche der Zug zur Bildung nationaler Staaten wirksam
zu werden begann, versiegte die Quelle des geschriebenen Rechtes,
um während der vier Jahrhunderte, in welchen Deutschland und
Frankreich an der Entwicklung einer nationalen Kultur arbeiteten,
kaum wieder zum Vorschein zu kommen. Der innere Zusammenhang,
welcher zwischen der Entstehung des geschriebenen Rechts und dem
Eintritt der Germanen in die römische Kulturwelt obwaltet, kenn-
zeichnet sich in der Reihenfolge, in welcher die Rechtsaufzeichnung
bei den verschiedenen Stämmen einsetzt, und in der Sprache der
Rechtsquellen, die bei den Südgermanen des Festlandes durchweg
die lateinische ist.
Die Westgoten, die Burgunder und die Langobarden besitzen,
nachdem etwa fünfzig bis fünfundsiebenzig Jahre seit ihrer Nieder-
lassung auf römischer Erde verflossen waren, Rechtsaufzeichnungen
erheblichen Umfangs. Von den deutschen Stämmen des fränkischen
Reiches haben jene, welche an der westlichen und südlichen Grenze
des deutschen Sprachgebietes saſsen und sich hier mit der römischen
Bevölkerung örtlich berührten, noch in merowingischer Zeit die
Satzung und Aufzeichnung ihres Rechtes vorgenommen. Zuerst die
Salfranken, deren ältestes Volksrecht jedenfalls bald nach ihrem Ein-
rücken in die römischen Gebiete entstand, dann die Ribuarier, die
Schwaben und gegen Ausgang der merowingischen Periode die Baiern.
Dagegen empfingen die im Norden und in der Mitte Deutschlands
wohnenden Stämme, welche nicht in unmittelbarem Kontakt mit
römischer Bevölkerung standen, die Friesen, die Sachsen, die chama-
vischen Franken, die Angeln und Warnen Thüringens geschriebene
Rechtsquellen erst in der karolingischen Zeit. Diese stehen in Umfang
und Inhalt hinter den reichhaltigeren Volksrechten der merowingischen
Periode bedeutend zurück. Die geringe Zahl der Handschriften, welche
uns von den karolingischen Volksrechten überliefert und bezeugt
sind 1, läſst ersehen, daſs das geschriebene Recht als solches bei den
nördlichen und mittleren Stämmen durchaus nicht so hohe Bedeutung
erlangte wie bei den west- und süddeutschen Stämmen, deren Volks-
[284]§ 37. Die Entstehung geschriebenen Rechts.
rechte sich nachweislich einer groſsen handschriftlichen Verbreitung
erfreuten 2. Die im Herzen Deutschlands seſshaften Hessen, die Ost-
franken und die oberdeutschen Thüringer haben bezeichnender Weise
in fränkischer Zeit keinerlei geschriebenes Recht aufzuweisen.
Während sich die Mehrzahl der germanischen Stämme gedrungen
fand, das ungeschriebene Recht wenigstens teilweise durch geschriebenes
zu ersetzen, litt die römische Bevölkerung der germanischen Reiche
an der erdrückenden Masse geschriebenen Rechtsstoffes. Die Schriften
der römischen Juristen, die vorhandenen Sammlungen der kaiserlichen
Konstitutionen und die spätrömische Interpretationslitteratur bildeten
ein umfangreiches Quellenmaterial, welches die Rechtspraxis nicht mehr
zu beherrschen vermochte. Es stellte sich daher in den germanischen
Reichen das Bedürfnis ein, die Überfülle des vorhandenen Quellen-
bestandes zu sichten, den überlieferten Stoff zu reduzieren und Rechts-
sammlungen herzustellen, welchen die juristische Fassungskraft der
Romanen noch gewachsen war. Arbeiten dieser Art entstanden im
ostgotischen, im westgotischen und im burgundischen Reiche. Aber
auch das brauchbarste dieser Rechtsbücher, das westgotische Bre-
viarium wurde, da die römische Bevölkerung unter germanischer Herr-
schaft mehr und mehr die geistige Beherrschung ihres geschriebenen
Rechts verlernte, schlieſslich als eine zu schwere Bürde empfunden.
Man hat daher Auszüge aus dem Breviarium verfaſst, welche häufiger
als dieses gebraucht wurden.
Unter den Rechtsquellen der fränkischen Zeit sind die Volks-
rechte, die Kapitularien, die Urkunden und die Formelsammlungen
zu unterscheiden. Den ältesten Grundstock des geschriebenen Rechts
bilden die Volksrechte, welchen die römischen Rechtsbücher der Ger-
manenreiche zur Seite zu stellen sind. Zu ihnen treten die Verord-
nungen und Kapitularien der fränkischen Könige und Hausmeier als
eine jüngere Schicht geschriebenen Rechts hinzu.
Das germanische Urkundenwesen verdankt seine Entstehung der
unmittelbaren Entlehnung aus dem römischen Rechtsleben, ist aber
in seiner Fortbildung selbständige Wege gegangen. Auſserhalb Ita-
liens, des ältesten und reichsten Urkundenlandes, kam das Urkunden-
wesen zuerst in Neustrien und dann in Austrasien zur Entfaltung,
diesseits des Rheins besonders in Schwaben und Baiern, während
Friesland und Sachsen nur geringe Urkundenschätze aufweisen. Um
[285]§ 38. Die Volksrechte.
die Abfassung von Urkunden zu erleichtern, entstanden Sammlungen
von Urkundenformeln. Zuerst in Neustrien. Westfränkische Formel-
sammlungen bürgerten sich dann auch bei den ostrheinischen Stämmen
ein, so daſs das Urkundenwesen des fränkischen Reiches ein ziemlich
gleichartiges Gepräge erhielt. Eine Sonderstellung nahm in dieser Be-
ziehung Italien ein. Hier fehlt es an Sammlungen von Urkunden-
formeln. Das ausgebildete Notariats- und Schreiberwesen Italiens
lieſs dieses Hilfsmittel entbehren.
Anders wie die Angelsachsen und die Nordgermanen, die ihr
Recht in der Volkssprache aufzeichneten, haben die gotischen und
die deutschen Stämme ihre Rechtsquellen in einem mehr oder minder
korrupten Latein abgefaſst. Trübt uns das fremde Idiom den vollen
Einblick in die Sprache und damit in die Begriffswelt des deutschen
Rechts, so fehlt es doch glücklicherweise nicht an Anhaltspunkten, um
die deutsche Rechtsterminologie der fränkischen Zeit einigermaſsen
zu rekonstruieren. Zunächst enthalten die Rechtsquellen selbst zahl-
reiche deutsche Rechtsausdrücke, sei es nun daſs sie das deutsche
Wort lateinisch flektieren oder daſs sie dem lateinischen Terminus den
deutschen Ausdruck erläuternd beifügen. Zu einigen Volksrechten
sind uns altdeutsche Glossen erhalten. Althochdeutsche Übersetzun-
gen besitzen wir für ein Bruchstück der Lex Salica 3 und für ein
Kapitel eines karolingischen Kapitulars 4. Vereinzelte Lücken ge-
statten die Vergleichung der angelsächsischen Quellen und der Wort-
schatz der altdeutschen Litteratur mit annähernder Sicherheit aus-
zufüllen.
Boretius, Beiträge zur Capitularienkritik, 1874, S 8 ff. Eine Zusammenstellung
des Inhalts der Volksrechte giebt Davoud-Oghlou, Histoire de la législation
des anciens Germains, 2 Bde 1845. — Über Ausgaben der Volksrechte in Verbin-
dung mit anderen Quellen s. oben zu § 37. Von älteren Sammlungen, welche sich
grundsätzlich auf Volksrechte beschränken, verdienen wegen Benutzung verschollener
Handschriften besondere Beachtung: (Joh. Sichard) Leges Riboariorum, Baioari-
orum … item Alamannorumque leges …, Basileae 1530; (Joh. Tilius, Du
Tillet) Aurei venerandaeque antiquitatis libelli Salicam legem continentes …
item leges Burgundionum, Alamannorum, Saxonum, Baiuuariorum, Ripuariorum,
Parisiis 1573; B. Joh. Herold, Originum ac Germanicarum antiquitatum libri,
[286]§ 38. Die Volksrechte.
Leges videlicet Salicae, Ripuariae, Allemannorum, Baioariorum, Saxonum, West-
phalorum, Angliorum, Werinorum, Thuringorum, Frisionum, Burgundionum, Lango-
bardorum …, Basileae (1557).
Volksrechte, Leges nennen wir die Aufzeichnungen der Stammes-
rechte. Im Gegensatz zu den für die Römer bestimmenden Leges
Romanae werden sie wohl auch Leges Barbarorum genannt. Selbst
nennen sich einzelne derselben pactus, lex, ewa, edictus.
Die Volksrechte stellen sich zum Teile als Satzungen, zum Teile
als Weistümer dar 1. Manche haben in dieser Beziehung einen ziem-
lich einheitlichen Charakter. So erweist sich z. B. das burgundische
Volksrecht als eine amtliche Sammlung von Konstitutionen, die im
Namen des Königs erlassen worden sind. Andrerseits besitzen wir
eine Lex aus karolingischer Zeit, die Ewa Chamavorum, welche nichts
als ein über das chamavische Gewohnheitsrecht abgegebenes Weistum
ist. In manchen Volksrechten tragen dagegen einzelne Bestandteile
den ausgeprägten Charakter der Satzung, andere den des Weistums
an sich. Im groſsen und ganzen darf wohl die überwiegende Masse
des in den deutschen Volksrechten enthaltenen Rechtsstoffes als ein
zur Zeit der Aufzeichnung bereits geltendes Gewohnheitsrecht be-
trachtet werden 2. Denn auch die darin enthaltenen Satzungen sind
durchaus nicht immer Satzungen neuen Rechts, sondern sanktionieren
oft nur das bereits geltende Recht. Nicht ausnahmslos gehen die uns
vorliegenden Texte der Volksrechte auf amtliche Redaktion zurück.
In einzelnen Leges finden sich eingeschobene Stücke, die als Privat-
aufzeichnungen über das bestehende Gewohnheitsrecht anzusehen sind.
Da das Volksrecht begrifflich das auf dem Willen des Volkes
beruhende Recht ist, läſst sich allenthalben eine mehr oder minder
weit gehende Teilnahme des Volkes an der Rechtssatzung wahr-
nehmen oder voraussetzen. Das Volk erscheint entweder als der
maſsgebende Faktor der Satzung, wie bei den Salfranken, wo sie aus
der Initiative des Volkes hervorging, und bei den Alamannen, wo der
Inhalt der Lex von den Angesehensten des Stammes mit dem Herzog
und übrigen Volke vereinbart worden ist 3. Oder die Satzung geschah
zwar aus der Initiative und im Namen des Königs, aber unter Zu-
stimmung des Volkes. So lieſs der Langobardenkönig Rothari sein
Edikt vom Volke durch einen rechtsförmlichen Akt, nämlich durch ein
[287]§ 38. Die Volksrechte.
unter Speerschlag oder Speerberührung abgegebenes Gesamturteil be-
kräftigen 4. So sagt König Gundobad von Burgund in der Einleitung
zu seiner Konstitutionensammlung, daſs sie ex tractatu nostro et com-
muni omnium voluntate niedergeschrieben worden sei. Und wenn es
in einem Kapitular Karls des Kahlen von 864 gelegentlich heiſst:
lex consensu populi fit et constitutione regis 5, so ist dies nur die
knapp gefaſste Formulierung einer Rechtsanschauung, welche im Sinne
der Zeit der verbindlichen Kraft der Volksrechte zu Grunde lag.
Die Satzung wird als eine Vereinbarung der Volksgenossen auf-
gefaſst, ein Gesichtspunkt, der darin zum Ausdruck gelangt, daſs die
Lex nicht selten als Pactus bezeichnet wird. So heiſsen in einigen
Handschriften das salische und das ribuarische Volksrecht, so nennt
sich die älteste Satzung des Alamannenrechts. Auch das bairische
Volksrecht wird als Pactus zitiert 6. Zahlreiche Stellen der Lex Salica
beginnen mit den Worten: hoc convenit observare. Mit sic convenit
leitet sich der Pactus Alamannorum, mit convenit enim die Lex Ala-
mannorum ein. Ein Rechtssatz der letzteren motiviert sich durch die
Wendung, daſs der Herzog und das gesamte Volk in öffentlicher Ver-
sammlung ihn gewillkürt habe 7.
Bei der Satzung und bei der Weisung des Volksrechts waren
regelmäſsig rechtskundige und erfahrene Männer thätig, welche die
Formulierung der Rechtssätze vorschlugen oder auf Anfrage hin das
geltende Gewohnheitsrecht kundgaben. Sie wurden als sapientes
oder als legislatores bezeichnet; ihre Thätigkeit wird legem dictare
genannt. Karl der Groſse nennt in einer Verordnung von 789 das
Volksrecht lex a sapientibus populo conposita 8.
Der Anteil, welchen das Königtum an der Satzung und an der
Aufzeichnung der Volksrechte nahm, ist im Laufe der fränkischen Zeit
mehr und mehr gestiegen. Von der Satzung und Aufzeichnung der
karolingischen Volksrechte kann man geradezu sagen, daſs sie nicht
aus dem Bedürfnisse des Rechtslebens, sondern aus dem Willen des
Königtums hervorgegangen sei. Diesem steigenden Einflusse des
Königtums entspricht es, daſs eine gelehrte Sage die Satzung der
fränkischen und der oberdeutschen Volksrechte auf eine sie gemeinsam
[288]§ 38. Die Volksrechte.
umfassende Thätigkeit bestimmter merowingischer Könige zurückführt.
Sie findet sich in einem Aufsatz de legibus (auctoribus legum) 9, der
handschriftlich zumeist als Prolog zur Lex Baiuwariorum überliefert
ist 10. Drei Stellen dieses Prologs, der mit den Worten: Moyses
gentis Hebreae primus omnium divinas leges sacris litteris explicavit
beginnt, sind einem Werke des Bischofs Isidor von Sevilla, den sog.
Origines seu etymologiae entlehnt, aber nicht unmittelbar, sondern nach
Auszügen, welche vor dem Breviarium Alaricianum vorkommen 11.
Eingeschoben ist zwischen die entlehnten Stücke die selbständige
Notiz 12, König Theoderich habe zu Chalons weise und rechtskundige
Männer ausgewählt und mit ihrer Hilfe die Rechte der Franken, der
Alamannen und Baiern aufzeichnen lassen. Childebert und Chlothar
hätten sein Werk im Sinne der Christianisierung des Rechts zu Ende ge-
führt; schlieſslich habe König Dagobert durch vier Männer, Namens
Claudius, Chadoind 13, Magnus und Agilulf, eine Revision vornehmen
lassen und allen Stämmen ihre geschriebenen Rechte gegeben, welche
bis heute in Geltung seien.
Diese Erzählung ist unglaubwürdig, denn sie läſst sich mit der
Entstehungsgeschichte der darin genannten Leges nicht in Einklang
bringen 14. Höchst wahrscheinlich beruht sie, soweit sie sich auf die
[289]§ 38. Die Volksrechte.
Könige Theoderich, Childebert und Chlothar bezieht, auf einer freien
Nachbildung von Nachrichten, welche uns über die Entstehung der
Lex Salica überliefert sind, wogegen die Erwähnung Dagoberts am
ehesten aus einer verloren gegangenen Notiz über eine Satzung dieses
Königs für die ribuarischen Franken erklärt werden kann 15. Alt ist
die Erzählung jedenfalls nicht, sie stammt wohl erst aus dem Ende
des achten Jahrhunderts 16.
Festeren Grund und Boden haben die Nachrichten über die Für-
sorge, welche Karl der Groſse den Volksrechten zugedacht und zu-
gewendet habe. Von ihm wird erzählt, daſs er bald nach der An-
nahme der Kaiserwürde die Rechte der Stämme, die noch kein
geschriebenes Recht besaſsen, aufzuzeichnen befahl, daſs er eine Re-
vision der geltenden Leges anordnete und daſs er von allen Volks-
rechten Handschriften herstellen lieſs 17. Es ist sehr wahrscheinlich,
14
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 19
[290]§ 38. Die Volksrechte.
daſs diesem Impulse die Leges der Sachsen, Angeln und Warnen und
der Chamaven ihre Aufzeichnung verdanken. Dagegen ist die damals
in Aussicht genommene Revision der älteren Volksrechte im wesent-
lichen ein unausgeführtes Projekt geblieben 18. Doch hat Karl, und
zwar nicht erst damals sondern schon früher, dafür Sorge getragen,
daſs vom Hofe aus bessere und gleichartige Texte zum mindesten
der fränkischen Leges verbreitet wurden 19.
Bei den meisten Stämmen hat der ursprüngliche Text der Lex
im Laufe der Zeit Veränderungen erfahren und Zusätze erhalten.
Nur von den Langobarden und von den Angelsachsen besitzen wir die
Gesetze in der Gestalt, wie sie unter den einzelnen Königen zustande
gekommen waren, indem die Novellen sich als solche kenntlich machen
und die Namen ihrer Urheber nennen. Weit minder durchsichtig ist
die Geschichte der übrigen Volksrechte, denn das Verfahren, durch
welches man das neue Recht mit dem alten in Verbindung brachte,
war ein sehr verschiedenartiges und unmethodisches. Oft hat man
die Novellen, ohne sie als solche zu bezeichnen und ohne die Zeit
oder den Anlaſs ihrer Abfassung zu nennen, der alten Lex an Stellen,
wo es die Verwandtschaft des Inhalts als passend erscheinen lieſs,
eingeschoben, nicht selten hat man sie dem vorliegenden Texte des
Volksrechtes, ohne eine neue Kapitelzählung zu beginnen, angehängt.
Nicht bloſs neue Satzungen sind auf diese Weise hinzugefügt worden,
sondern auch Aufzeichnungen von Weistümern oder beachtenswerte
Aussprüche der Rechtspraxis. Wenn etwa die neue Satzung die ältere
an Bedeutung sichtlich übertraf, hat man wohl auch die erstere voran-
gestellt und ihr Sätze der letzteren, die man nicht für bedeutungslos
geworden erachtete, nachträglich angehängt, so daſs das ältere Recht
nicht den Anfang, sondern den Schluſs des Volksrechtes bildet.
Bei den Westgoten hat nachweislich eine mehrmalige offizielle
Redaktion der Lex stattgefunden. Eine Mehrzahl amtlicher Redak-
17
[291]§ 38. Die Volksrechte.
tionen glaubte man bis in die neuere Zeit auch für die meisten
deutschen Volksrechte annehmen zu müssen. Doch ist die neueste
Kritik dieser Hypothese gegenüber aus guten Gründen vorsichtig ge-
worden, es gewinnt vielmehr die entgegengesetzte Ansicht festeren
Boden, daſs es in der Regel den Abschreibern überlassen blieb, das
neue Recht mit dem alten in Verbindung zu setzen und daſs sich auf
dem Wege handschriftlicher Fortbildung eine mehr oder minder tra-
ditionelle Textgestaltung der einzelnen Leges festsetzte.
Die Volksrechte wollen das geltende Recht nicht in erschöpfender
Weise darstellen, sie sind nicht Kodifikationen im Sinne unserer
modernen Gesetzbücher, sondern beschränken sich auf solche Rechts-
sätze, welche zu fixieren eine besondere Veranlassung vorlag. Der
strafrechtliche Inhalt überwiegt namentlich in den älteren Leges, in
welchen erhebliche Abschnitte als Kataloge von Buſszahlen erscheinen.
Daneben gelangten insbesondere noch Grundsätze des Rechtsganges
zur Aufzeichnung. Ziemlich stiefmütterlich wurde das Privatrecht
behandelt. Das Staatsrecht hat nur in einzelnen Leges, so im
ribuarischen, im alamannischen und bairischen Volksrechte, nennens-
werte Beachtung gefunden.
Daſs die Volksrechte als geschriebenes Recht der Rechtsprechung
zu Grunde zu legen seien, wurde gelegentlich besonders eingeschärft;
ihre thatsächliche Anwendung ist uns mehrfach bezeugt. In dem
Volksrechte der Baiern begegnet uns die ausdrückliche Vorschrift,
daſs der Graf im Gerichte den liber legis bei sich haben solle 20.
Den angelsächsischen Richtern schrieb der König Edward vor, die Ur-
teile gemäſs dem Satzungsbuche (dômbôk) zu sprechen 21. In Italien
schärfte Pippin um 790 ein, daſs die lex, das geschriebene Volksrecht,
einen entgegenstehenden Brauch ausschlieſse 22. Fränkische Kapitu-
larien ermahnen die Richter, die Grafen und ihre Vikare das Recht
kennen zu lernen; nach geschriebenem Rechte, nicht nach eigenem
Ermessen, solle geurteilt werden 23. Mit peinlicher Genauigkeit hielt
19*
[292]§ 39. Die Lex Salica.
sich die Rechtsprechung der septimanischen Gerichte des neunten
Jahrhunderts an den Buchstaben der daselbst geltenden Lex Wisi-
gothorum. Der Tenor des Urteils wird hier häufig durch ein Zitat
aus der Lex eingeleitet nach dem Schema: perquisivimus in lege
Gotorum, in libro V. titulo 4. era 8. ubi dicit: … tunc decrevimus
iudicium per legem Gotorum: … 24. Ebenso enthalten die lango-
bardische Gerichts- und Geschäftsurkunden nicht selten Allegate aus
dem Edictus Langobardorum oder Hinweisungen auf denselben 25.
Was die übrigen Volksrechte betrifft, so dürfen wir uns keinen allzu-
groſsen Illusionen über den gerichtlichen Gebrauch derselben hingeben.
Bei den Leges der Friesen, Sachsen, Thüringer und Chamaven spricht
schon die geringe handschriftliche Verbreitung gegen eine ausgedehnte
Anwendung. Aber auch die Lex Salica und die Lex Ribuaria dürften
schwerlich in den Händen der Rachineburgen und Schöffen gewesen
sein, sondern höchstens der Grafen und Vikare, welchen es überlassen
blieb einer Beugung des geschriebenen Rechts durch die Urteilfinder
entgegenzutreten.
Ausgaben: Pardessus, Loi Salique, 1843 (8 Texte). Waitz, Das alte Recht
der sal. Franken, 1846 (nach den 4 Handschr. der ersten Familie). Merkel,
Lex Sal., 1850. Hubé, La loi Salique d’après un manuscrit de la biblioth. centr.
de Varsovie, 1867. Behrend, Lex Sal. nebst den Capitularien zur Lex Sal., be-
arbeitet von Boretius 1874. Hessels, Lex Sal. the ten texts with the glosses
and the lex emendata, 1880. A. Holder, Lex Sal. mit der mallob. Glosse nach den
Handschr. von Tours-Weissenburg-Wolfenbüttel und von Fulda-Augsburg-München,
1879; nach der Handschr. von Sens-Fontainebleau-Paris 4627, 1880; nach der
Handschr. Besançon-St. Gallen 731 und Herold, 1880; nach d. Cod. Lescurianus
(Paris 9653), 1880; Lex Sal. emendata nach d. Cod. Vossianus Q 119, 1879; nach d.
Codex von Trier-Leyden (Voss. Lat. oct. 86), 1880.
Litteratur: Die Ausführungen von Pardessus, Waitz, Hubé und Hessels
in ihren Ausgaben. Wiarda, Geschichte und Auslegung des sal. Gesetzes, 1808.
H. Müller, Der Lex Sal. und der Lex Angl. et Werin. Alter und Heimat, 1840.
Behrend, Die Textentwicklung der Lex Sal., Z f. RG XIII 1 ff. J. Hartmann,
Beitr. zur Entstehungsgesch. des sal. Rechts, Forsch. XVI 609. Jungbohn Cle-
ment, Forsch. über das Recht der sal. Franken, 1876 (Übersetzung u. Kommentar,
mit Vorsicht zu benutzen). R. Schröder, Über den Ligeris in der Lex Sal.,
Forsch. XIX 471; ders., Untersuchungen zu den fränk. Volksrechten, Festschr. f.
[293]§ 39. Die Lex Salica.
Thöl 1879 und in Picks Monatsschr. für die Gesch. Westdeutschlands VI 468;
ders., Die Franken und ihr Recht, Z 2 f. RG II 1 ff. Fahlbeck, La royauté et
le droit royal francs, 1883, S 250—293. Waitz, VG II 1 S 119—135. — Zur
Litteratur der Glossen: J. Grimms Vorrede zu Merkels Ausgabe. Kern, Die
Glossen in der Lex Sal. und die Sprache der sal. Franken, 1869, und dessen Notes
on the frankish words in the Lex Sal., in Hessels’ Ausgabe col. 431 ff. Sohm,
R- u. GV S 558. Thiele in der Z f. deutsche Philologie (hrsg. von Höpfner und
Zacher) 1873, IV 350. H. Scherrer, Z f. RG XIII 259. — Über die deutschen Wörter
in der Lex Sal. handelt Müllenhoff bei Waitz, Das alte Recht S 271 ff.
Die mannigfaltigen Textformen, welche uns die Handschriften der
Lex Salica überliefern, gruppieren sich in vier Familien. Die erste 1
und die zweite 2 enthalten einen Text in 65 Titeln, unterscheiden sich
aber dadurch, daſs die zweite eine Anzahl von Zusätzen aufweist,
darunter solche, welche, wie das Eheverbot der Schwägerschaft 3, die
Bestrafung von Freveln an christlichen Grabdenkmälern und Kirchen 4,
deutlichen Einfluſs des Christentums verrathen. Die Handschriften
der dritten Familie 5 bieten einen verkürzten Text in 99 Titeln dar,
welcher auf neustrischen Ursprung hinweist 6, und zerfallen in zwei
Gruppen, deren jüngere die in den älteren Textformen vorhandene
sogenannte mallbergische Glosse entbehrt. Die vierte Familie, hand-
[294]§ 39. Die Lex Salica.
schriftlich am meisten vertreten7), enthält die von den Neueren so-
genannte Lex Salica emendata, hat einen unglossierten, in 70 Titel
eingeteilten Text und sucht in ihrer Sprache die Vulgarismen der
älteren Texte möglichst zu vermeiden. Als eine besondere, also
fünfte Textform stellt sich der Abdruck in Herolds Ausgabe8) der
Volksrechte dar. Er geht auf eine verschollene Handschrift zurück
mit einem kompilierenden, der zweiten Familie verwandten Texte,
welcher Zusätze aus jüngeren Texten aufnahm9). Der Entstehung
dieser fünf Textfamilien liegt vermutlich folgende Entwicklung zu
Grunde10). Ein älterer, uns unbekannter Text hatte von den Händen
der Abschreiber allmählich Vermehrungen und Abänderungen erfahren.
Als eine Anzahl derartiger Handschriften, wie sie durch die erste
Familie repräsentiert werden, sich angesammelt hatte, ergab sich das
Bedürfnis, den darin verteilten Stoff in einem einzigen Texte zu-
sammenzufassen. So entstanden seit Ausgang des sechsten Jahr-
hunderts11) die kompilierenden Texte der zweiten Familie und ent-
stand der verwandte Heroldsche Text. Ein ähnlicher, jetzt nicht mehr
vorhandener Text scheint die gemeinschaftliche Grundlage des glos-
sierten Textes in 99 Titeln und der Emendata gebildet zu haben.
Der erstere war jedenfalls unter König Pippin bereits vorhanden12).
Die Entstehung der Emendata fällt in den Anfang der Regierungszeit
Karls des Groſsen und ist wohl einer von ihm ausgegangenen Initiative
zu verdanken13). Ohne die älteren Texte vollständig zu verdrängen,
[295]§ 39. Die Lex Salica.
erlangte sie, da sie am häufigsten abgeschrieben wurde, die Stellung
einer Vulgata14). Jünger wie die Emendata, die in ihm benutzt
wurde, ist der unglossierte Text in 99 Titeln15); er entstand noch im
achten Jahrhundert, ehe die Emendata die Textentwicklung des
salischen Volksrechtes zum Stillstande gebracht hatte.
Der ursprüngliche Text der Lex Salica ist uns nicht erhalten
und läſst sich aus den vorhandenen Handschriften nicht mehr mit
voller Sicherheit konstruieren. Jede derselben enthält Stellen, die
sich durch die Vergleichung mit anderen Texten als nachträgliche
Zusätze herausstellen. Aber auch der übrigbleibende Grundtext ist
durchaus nicht aus gleichartigem Guſs, sondern zeigt Spuren von
Einschiebungen und Abänderungen. Manche Stellen verraten sich als
Zusätze, weil sie in den Zusammenhang oder in die Titelrubrik, in
die sie gestellt worden, nicht hineinpassen16), andere, weil ihr Inhalt im
Verhältnis zu den sonstigen Grundsätzen und Begriffen der Lex als
eine Neuerung oder wohl gar als eine Entlehnung aus fremden
Quellen erscheint17). Wir besitzen Novellen zur Lex Salica, welche
in manchen Handschriften als Anhänge auftreten, während andere
Handschriften einzelne Rechtssätze dieser Novellen an passenden
Stellen in den eigentlichen Körper der Lex hineingeschoben haben.
Wahrscheinlich sind ähnliche Einschaltungen bereits in ausgiebigem
[296]§ 39. Die Lex Salica.
Maſse erfolgt, ehe die älteste handschriftlich überlieferte Textform der
Lex Salica zur Ausbildung gelangt war. Ein derartiges, nachträglich
aufgenommenes Königsgesetz scheint gleich der erste Titel zu sein,
welcher die Vorladung vor Gericht behandelt18).
In den älteren Texten finden sich zahlreiche nicht lateinische
Wörter eingestreut, welche den Satzbau unterbrechend durch die Sigle
mall. oder malb. eingeführt werden19). Man nennt sie herkömmlich
die mallbergischen Glossen. Es sind altfränkische Wörter, aber durch
die Ungunst der handschriftlichen Überlieferung zum Teil so hoff-
nungslos verderbt20), daſs man sie alles Ernstes für keltisch er-
klären konnte21). Sie wollen den Inhalt des lateinischen Textes durch
technische Ausdrücke erläutern und ergänzen, wie sie auf der Gerichts-
stätte, in mallobergo gebraucht wurden22). Einzelne Glossen mögen
[297]§ 39. Die Lex Salica.
auch prozessualisch formelhafte Bedeutung haben23). Doch läſst sich
dies durchaus nicht von allen behaupten24).
Die Vermutungen, welche über die Entstehungszeit der Lex ge-
äuſsert worden sind, gehen weit auseinander. Zwar besteht kaum ein
Zweifel, daſs sie noch vor dem Tode Chlodovechs entstanden sei.
Während aber die einen sich für die Zeit vor der Reichsgründung,
entweder für die Zeit Chlogios25) oder doch für die Zeit vor 486
entscheiden26), setzen andere die Abfassung der Lex unter Chlodovech
an und zwar entweder vor dessen Übertritt zum Christentum (486 bis
496)27) oder nach diesem Ereignis (496 bis 511)28). In der Litteratur
über das Alter der Lex werden die Frage nach der Entstehungszeit
der ältesten überlieferten Textform und die Frage, wann die älteste
Satzung der Lex Salica stattgefunden hat, nicht immer genügend
unterschieden. Für letztere hat man insbesondere den Titel 47 zu
verwerten gesucht. Hier wird für den Rechtsstreit um eine beweg-
liche Sache eine vierzigtägige Frist gesetzt, falls der Kläger und der
Besitzer der Sache zwischen der Loire und dem Kohlenwalde wohnen.
Dagegen soll die Frist eine achtzigtägige sein, wenn der Besitzer
jenseits der Loire oder des Kohlenwaldes wohnt29). Da die Gerichts-
[298]§ 39. Die Lex Salica.
verhandlung in dem Mallus stattfindet, der durch den Wohnsitz des
Beklagten bestimmt wird, so setzt die Lex Termine für Gerichts-
verhandlungen jenseits der Loire und jenseits des Kohlenwaldes. Das
fränkische Reich muſs sonach die Loire nicht bloſs erreicht, sondern
überschritten haben und Titel 47 kann seine vorliegende Fassung
frühestens in den letzten Jahren Chlodovechs, nämlich nach dem west-
gotischen Kriege erhalten haben30). Aber ein zwingender Schluſs auf
das Alter der Lex oder auch nur des Titels 47 ist damit für die-
jenigen, die aus anderen Indizien auf eine frühere Abfassung schlieſsen,
nicht gegeben, weil es bei dem Zustande der Textüberlieferung sehr
wohl möglich ist, daſs die Loire und der Kohlenwald erst nachträglich
auf Grund einer Novelle eingesetzt worden sind31).
Über die Satzung der Lex berichtet ein Prolog32), welcher noch
dem sechsten Jahrhundert anzugehören scheint, daſs zur Zeit, da das
Volk noch heidnisch war, vier durch dessen rectores ausgewählte
Männer, nämlich Uuisogast, Bodogast, Saligast und Uuidogast an den
Orten Salchamae, Bodochamae und Uuidochamae auf drei Versamm-
lungen das salische Recht gewiesen hätten33). König Chlodovech, nach-
[299]§ 39. Die Lex Salica.
dem er die Taufe empfangen, Childebert und Chlothar hätten dann,
was an dem Gesetze als unvollkommen erschien, mit mehr Deutlich-
keit verbessert34). Aus diesem Prolog ist ein kürzerer abgeleitet,
welcher die genannten Ortschaften als jenseits des Rheins gelegen
bezeichnet35). Die Nachrichten der Prologe tragen zwar einen sagen-
haften Charakter an sich, beruhen aber wahrscheinlich auf alter
Tradition, welche die Entstehung der Lex in die Zeit der Vielherr-
schaft und des Heidentums verlegt.
Prüft man diese Überlieferung an dem Inhalte der Lex, so fällt
in die Augen, daſs sie keine Spur der Vielherrschaft enthält, sondern
die Einheit des salischen Königtums voraussetzt36) und daſs ihr jede
bestimmte Beziehung auf das Heidentum fehlt37), eine Thatsache, welche
bei dem engen Zusammenhange, der zwischen Recht und Kultus ob-
waltete, geradezu unerklärlich wäre, wenn uns das salische Volksrecht
in der Gestalt vorläge, die es in der Zeit des ungebrochenen Heiden-
tums erhalten hätte. Allerdings sind die ältesten Texte auch frei
von Rechtssätzen, die das Christentum und die katholische Kirche be-
treffen. Allein daraus läſst sich nicht schlieſsen, daſs die Lex vor
Chlodovechs Taufe abgefaſst wurde38), da noch lange über diese Zeit
hinaus ein Teil des Volkes heidnisch blieb39). Ganz abgesehen davon
33)
[300]§ 39. Die Lex Salica.
daſs ein aggressives Vorgehen gegen das noch mächtige Heidentum
ein politischer Selbstmord des fränkischen Königtums gewesen wäre,
hätte es gar nicht in der Macht des Königs gelegen, Rechtssätze
spezifisch christlichen Inhalts einseitig in das Volksrecht einzuführen,
dessen Begriff ein solches Vorgehen ausschloſs40).
Auf die Zeit nach der Reichsgründung weist uns auch das Münz-
system der Lex Salica hin. Abweichend von allen anderen Volks-
rechten giebt sie die Buſsen und Wergelder zugleich in Denaren und
solidi an41), wobei 40 Denare auf den Solidus gehen. Augenschein-
lich sollte damit eine Unterscheidung von einer anderen, älteren
Geldrechnung markiert werden, eine Absicht, die sich kaum anders
erklären läſst, als daſs nicht lange vorher eine Veränderung des Münz-
wesens stattgefunden hatte42). Den Zeitpunkt der fränkischen Münz-
reform können wir nicht genau bestimmen. Es ist aber nach Lage
der Verhältnisse wahrscheinlicher, daſs sie erst nach Chlodovechs ersten
gallischen Eroberungen, als daſs sie vorher stattgefunden habe. Auch
glaubt man aus den Berichten über die Münzfunde, welche 1653 in
dem Grabe Childerichs I. zu Tournay gemacht worden sind, schlieſsen
zu können, daſs die Franken um das Jahr 481 den Solidus noch nicht
zu 40 Denaren berechneten43).
Höchst beachtenswert ist die bisher allgemein übersehene Über-
einstimmung der Ausdrucksweise, welche sich in einzelnen Stellen
zwischen der Lex Salica einerseits und zwischen der Lex Burgundionum
und der Lex Wisigothorum andererseits nachweisen läſst44). Sie
39)
[301]§ 39. Die Lex Salica.
scheint auf eine gemeinschaftliche Grundlage der zwei letztgenannten
Leges, nämlich auf die Gesetzgebung des Westgotenkönigs Eurich
(466 — 484) zurückzugehen. Da die Verwandtschaft sich seltener
in den Rechtsfolgen als in der Fassung der Thatbestände geltend
macht, mögen Eurichs Gesetze bei der Abfassung der betreffenden
Stellen der Lex Salica in der Weise benutzt worden sein, daſs man
im Anschluſs an die westgotische Vorlage Weistümer über das geltende
salische Recht aufnahm und redigierte. Bei solchem Vorgang konnte
der die Fragestellung betreffende Teil des Rechtssatzes (das si quis)
44)
[302]§ 39. Die Lex Salica.
mit der Vorlage konkordieren, während die den Nachsatz (das culpabilis
iudicetur) aussprechende Antwort ein selbständiges Gepräge erhielt.
Die Verwertung westgotischer Vorlagen macht es wahrscheinlich, daſs
das Frankenreich damals bereits mit dem Reiche der Westgoten
grenzte und schlieſst jedenfalls die Zeit vor Chlodovech aus. Anderer-
seits sprechen manche Züge für ein hohes Alter der Lex, so daſs wir
sie jedenfalls nicht aus der Zeit nach Chlodovech datieren können.
Zwar werden schon Römer als Unterthanen genannt, allein sie bilden
noch keinen Teil des Volksheeres45), während sie bereits unter
Chlodovechs Söhnen als wehrpflichtig erscheinen46). Auch wenn sie in
besonderen Königsdienst und in den Haushalt des Königs aufgenommen
sind, gehören sie noch nicht zur königlichen Trustis47). Der königliche
Beamte, der noch als grafio und nicht mit dem später üblichen Titel
comes bezeichnet wird, hat nur erst die Funktionen der Exekutiv-
gewalt, aber noch nicht den Vorsitz im Mallus.
Nach alledem wird man annehmen müssen, daſs die Lex Salica
die in den ältesten Texten vorliegende Grundform — auch wenn wir
von allen noch erkenntlichen Zusätzen absehen wollen — erst unter
Chlodovech und zwar nach der Reichsgründung erhalten hat. Bei den
Satzungen, durch die sie zustande kam, scheint man Aufzeichnungen
älterer Weistümer benutzt, zum Teil wohl auch unverändert über-
nommen zu haben. Die Erinnerung an solche der Zeit des Heiden-
tums und der Vielherrschaft angehörige Rechtweisungen spiegelt sich,
wie wir vermuten dürfen, in den Nachrichten der Prologe.
Unter Chlodovechs Nachfolgern entstand eine Anzahl von Novellen,
welche die Neueren als Kapitularien zur Lex Salica zusammenfassen.
Einige, die nicht viel jünger sein mögen wie die Lex48), rühren viel-
leicht noch von Chlodovech her. Die Handschriften fügen die Novellen
als Nachträge an; nur ausnahmsweise sind noch einzelne Rechtssätze
[303]§ 40. Die Lex Ribuaria.
handschriftlich in den Text des Volksrechtes eingeschaltet worden49).
Eines der gedachten Kapitularien stellt sich als ein Landfriedensgesetz
Chlothars I. und Childeberts I. aus den Jahren 511—55850), ein
anderes als ein Edikt König Chilperichs von 561—584 dar; den
jüngsten Anhang bildet ein 819 oder bald darnach abgefaſstes Weis-
tum, welches die Lex im Anschluſs an die Titelzählung der Emendata
ergänzt und von Kaiser Ludwig I. als Zusatz zum Volksrechte ge-
nehmigt worden ist51).
Etliche Privatarbeiten geben Zusammenstellungen von Buſssätzen
der Lex. Eine derselben führt den Titel Septem causas und gehört
noch der merowingischen Zeit an52). Karolingisch sind die vorhandenen
Remissorien, von welchen sich eines als Recapitulatio legis Salicae
bezeichnet, denn sie kennen die Emendata. In Italien entstand
frühestens um die Mitte des neunten Jahrhunderts53) eine Privat-
aufzeichnung über salisches Recht, welche uns in einer Handschrift
aus Ivrea, leider lückenhaft, überliefert ist54).
Herausgegeben von R. Sohm in Mon. Germ. Leges V 185 ff., davon ein
Textabdruck in 8° 1883. Berichtigungen aus zwei Pariser Handschriften gab
Karl Lehmann, NA 1885 S 414 ff.
Litteratur: Rogge, Observationes de peculiari Legis Ripuariae cum Salica
nexu, 1823. Sohm, Über die Entstehung der Lex Ribuaria, Z f. RG V 380 und
[304]§ 40. Die Lex Ribuaria.
dessen Vorrede in LL V a. O. Ernst Mayer, Zur Entstehung der Lex Ribu-
ariorum, 1886. R. Schröder, Z2 f. RG VII 22 ff.
Später als das Volksrecht der Salier wurde das der Ribuarier
aufgezeichnet. Im übrigen ist seine Entstehungsgeschichte dunkel und
streitig. Die 35 Handschriften, welche wir davon besitzen, und die auf
verschollenen Handschriften beruhenden Drucke1) geben einen im
wesentlichen gleichförmigen Text. Jene stammen aus dem neunten
Jahrhundert oder aus jüngerer Zeit, mit Ausnahme eines Münchener
Kodex2), der vielleicht noch gegen Ausgang des achten Jahrhunderts
geschrieben wurde. Ohne durch eine scharfe Grenzlinie geschieden
zu sein, zerfallen sie in zwei Gruppen, von welchen die gröſsere sich
durch eine bessere Latinität charakterisiert und durch das Bestreben,
altfränkische Rechtsausdrücke zu vermeiden oder zu erläutern3). Die
Gleichförmigkeit der überlieferten Texte macht es wahrscheinlich, daſs
uns von der Lex nur eine in karolingischer Zeit und zwar im achten
Jahrhundert auf ähnlichem Wege wie die Lex Salica emendata ent-
standene Rezension erhalten ist4) und die älteren Textformen verloren
gegangen sind. Titel 36 weist in allen Handschriften Interpolationen
und Zusätze auf, welche erst in karolingischer Zeit entstanden sein
können5). In einer Wiener Handschrift (A 5) bezeichnet sich die Lex
[305]§ 40. Die Lex Ribuaria.
ausdrücklich als Pactus legis Ribuariae, qui temporibus Karoli renovatus
est. Spuren einer älteren, verlorenen Textform enthalten die Inhalts-
verzeichnisse einiger Handschriften. Sie verzeichnen eine Titelrubrik6),
für welche in keinem der überlieferten Texte ein entsprechender Titel
zu finden ist.
Die Lex Ribuaria ist zum gröſsten Teile nach dem Vorbilde des
salischen Volksrechtes ausgearbeitet worden7). In Bezug auf das
Maſs der Abhängigkeit zeigen sich Verschiedenheiten. Schon in dem
ersten, hauptsächlich von Verwundungen und Tötungen handelnden
Teile der Lex Ribuaria tritt der Anschluſs an den Wortlaut und
Inhalt des Vorbildes zu Tage. Allein die Buſszahlen, die nicht auf
einer Teilung des Wergeldes beruhen, weichen häufig von der Lex
Salica ab, indem das salische, auf der Grundzahl 15 aufgebaute Buſsen-
system durch ein anderes ersetzt wird, welches auf die Grundzahl 18
zurückführt. Weit enger wird die Anlehnung in einem zweiten Teile
der Lex, welcher — mit Ausnahme eines eingeschobenen Königs-
gesetzes — die Titel 32 bis 64 umfaſst. Er stellt sich geradezu als
eine Umarbeitung der Lex Salica dar, bei welcher die den Ribuariern
fremden Rechtsinstitute der Salier8) und die damals bereits veralteten
Titel der Vorlage9) absichtlich übergangen worden sind. Charakteristisch
ist diesem Teile der Lex auch die Art, wie die Wergeld- und Buſs-
zahlen ausgedrückt werden. Während sonst Kardinalzahlen dafür
verwendet werden, sind hier die Buſsbeträge regelmäſsig in Distributiv-
zahlen angesetzt10). Die Titel 57 bis 59, Titel 60 c. 1, 61 und
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 20
[306]§ 40. Die Lex Ribuaria.
62 verraten sich als ein eingeschobenes Königsgesetz11). Es handelt
von den Freilassungen und von der Übereignung des Grundbesitzes.
Die Berücksichtigung kirchlicher Ansprüche und Interessen läſst ver-
muten, daſs der Satzung ein Kompromiſs des Königtums mit der
Kirche zu Grunde lag. Die Titel 65 bis 79 zeichnen sich durch die
in den Leges sonst so spärlich vertretenen Normen des öffentlichen
Rechtes aus. Auſserdem enthalten sie prozeſs- und strafrechtliche
Sätze zum Teil altertümlichen Inhalts. Von den letzten zehn Titeln
sind sechs (80, 82—86) der Lex Salica nachgebildet.
Die Entstehung der Lex reicht jedenfalls in die merowingische
Zeit zurück. Sie muſs im wesentlichen zum Abschluſs gelangt sein,
als das Königtum noch kräftig war und der maior domus noch nicht
eine das Königtum lahmlegende Machtfülle erlangt hatte, weil in
Titel 88 dem Hausmeier ebenso wie anderen Beamten die Todes-
strafe angedroht wird, falls er in gerichtlicher Thätigkeit Geschenke
annimmt. Das weist auf die Zeit vor dem Tode Dagoberts I. (639)
hin, des letzten merowingischen Königs, der ein kraftvolles persön-
liches Regiment zu führen wuſste. Für die ältere merowingische Zeit
spricht auch die ursprüngliche Fassung des Titels 36, c. 5; welche
dem niederen Kleriker nicht das Wergeld seiner Geburt, sondern
schlechtweg das des Römers beilegt und damit voraussetzt, daſs noch
fast ausschlieſslich Romanen die niederen ordines innehaben12). Das
eingeschobene Königsgesetz macht der Kirche eine Reihe von Kon-
zessionen, die über das Maſs der Zugeständnisse hinausgehen, welche
ihr durch ein Edikt Chlothars II. von 614 zuteil geworden sind13).
Es ist also jedenfalls erst nach 614, wahrscheinlich erst unter
Dagobert I., 628—639 entstanden. Gleichfalls unter Dagobert
scheinen die Titel 65—89 abgefaſst worden zu sein. Schon oben
S 289 wurde angedeutet, daſs die Nachricht des Aufsatzes De auc-
toribus legum über Dagoberts gesetzgeberische Thätigkeit auf eine
ribuarische Satzung dieses Königs zurückgehen dürfte. Dagegen
reicht die Entstehung der übrigen Bestandteile vermutlich noch in
das sechste Jahrhundert hinauf14). Titel 53 setzt den Fall, daſs ein
[307]§ 40. Die Lex Ribuaria.
Unfreier oder ein Freigelassener des Königs die Würde des Grafen
erlangt, muſs daher wohl älter sein wie das Edikt Chlothars II. von
614, welches die Ernennung im Gau ansässiger Grafen mit selb-
ständigem Vermögen in Aussicht stellte15). Die Bestimmung in Titel
60 c. 7, welche von zwei sich widersprechenden Königsurkunden jede
zum Teile gelten läſst, rechnet noch nicht mit dem Zugeständnis
Chlothars II., daſs die rechtswidrig erlangte Königsurkunde nichtig
sein solle16). Die Rechtssätze über die Haftung des Herrn für seine
Knechte überlassen es der Wahl des Herrn, ob er den Knecht vor
Gericht stellen oder dessen Unthat verantworten wolle, wogegen ein
Gesetz Childeberts II. von 596 bereits eine unbedingte Präsentations-
pflicht des Herrn statuiert17). Dasselbe Gesetz bedroht den Frauen-
raub mit amtlicher Verfolgung und mit Todesstrafe, während die
Lex Ribuaria in Titel 34 nur die Zahlung des Wergeldes verlangt.
Mit Rücksicht auf die Verschiedenheiten, welche die Titel 1—31
einerseits, die Titel 32—64 andererseits aufweisen, ist es unwahr-
scheinlich, daſs sie sämtlich aus einer einheitlichen und gleichzeitigen
Satzung hervorgegangen sind. Es empfiehlt sich vielmehr, sie auf
zwei Satzungen zurückzuführen, die vielleicht zeitlich nicht weit aus-
einander liegen, aber beide noch vor 596 entstanden sind.
Im Jahre 803 wurde eine Novelle verfaſst, das Capitulare legi
Ribuariae additum, welches einzelne Titel der Lex abändert oder
ergänzt18).
In einer um das Jahr 906 verfertigten kirchenrechtlichen Samm-
lung findet sich ein Zitat aus der Lex Ribuaria, die daselbst als
Pactus Francorum bezeichnet wird19).
Pactus und Lex Alamannorum sind herausgegeben von Joh. Merkel in den
Mon. Germ. hist. LL III. Die Ausgabe ist verfehlt. Eine neue wird vorbereitet.
Litteratur: Joh. Merkel, De republica Alamannorum, 1849, ursprünglich als
Vorrede zur Ausgabe der Lex in den Mon. Germ. angelegt; derselbe, Praef. in
LL III. Waitz, Nachrichten der Göttinger Gesellsch. d. Wissensch. 1869 Nr 14.
E. de Rozière, Recherches sur l’origine et les différentes rédactions de la loi des
Allemands, Revue hist. de dr. fr. et étr. I 69 ff. Brunner, Über das Alter der Lex
Alamannorum, Sitzungsber. der Berliner Akad. 1885 S 149 ff. Karl Lehmann,
Zur Textkritik und Entstehungsgeschichte des alam. Volksrechts, NA X 469 ff.
R. Schröder, Zur Kunde der deutschen Volksrechte, Z2)f. RG VII 17.
Über das älteste Volksrecht der Alamannen sind uns zwei ver-
schiedene Rechtsaufzeichnungen erhalten, von welchen die ältere als
Pactus Alamannorum, die jüngere als Lex Alamannorum bezeichnet
wird.
Von dem Pactus haben wir fünf Fragmente. Vier Fragmente
sind uns in einer einzigen Handschrift erhalten1). Das fünfte Frag-
ment bildet regelmäſsig einen handschriftlichen Anhang zur Lex Ala-
mannorum2). Als Satzung kennzeichnet sich der Pactus durch die Ein-
gangsworte: et sic convenit3). Eigentümlich ist ihm die Anwendung
salfränkischer Rechtsausdrücke, welche in die jüngere Lex keinen Ein-
[309]§ 41. Pactus und Lex Alamannorum.
gang gefunden haben4). Man darf daraus schlieſsen, daſs sich bei
seiner Abfassung fränkischer Einfluſs geltend machte und seine Ent-
stehung noch in die Zeit hinaufreicht, ehe die innige Verbindung
Alamanniens mit dem Frankenreiche durch das aufstrebende Stammes-
herzogtum gelockert zu werden begann. Andrerseits hatte das Christen-
tum bei den Alamannen bereits feste Wurzel gefaſst, denn der Pactus
kennt die Freilassung in ecclesia5). Unter den deutschen Wörtern,
welche die uns vorliegenden Bruchstücke enthalten, stehen manche
auf der altgermanischen, andere auf der althochdeutschen Lautstufe6).
Der königlichen und der herzoglichen Gewalt wird in den über-
lieferten Fragmenten nicht gedacht. Die Rechtssätze des Pactus sind
älter als die der Lex Alamannorum. Seine Entstehungszeit kann
mit Wahrscheinlichkeit in die erste Hälfte des siebenten, frühestens
in den Ausgang des sechsten Jahrhunderts gesetzt werden.
Eine umfassendere und besser geordnete Satzung erhielt der
schwäbische Stamm durch die Lex Alamannorum, die uns in ungefähr
fünfzig Handschriften erhalten ist. Ihre Entstehungsgeschichte ist kon-
trovers. Merkel hat in seiner Ausgabe drei angeblich verschiedene
Redaktionen der Lex abgedruckt, eine Lex. Alam. Hlothariana7), die
er in drei Bücher einteilt, eine Lex Alam. Lantfridana und eine Lex
Alam. Karolina. Von der Lex Alam. Hloth. weist er Buch I (Kapitel
1—75) der Gesetzgebung König Chlothars II. (613—622), Buch II
(Kapital 76—97) der Zeit Dagoberts, Buch III (Kapitel 98—104) der
Zeit zwischen Dagobert und Lantfrid I. zu. Eine zweite Redaktion
der Lex soll Herzog Lantfrid, der Sohn Godofrids, zwischen 724 und 730
vorgenommen haben. Die Lex Alam. Karolina soll in karolingischer
Zeit entstanden sein. Die nähere Untersuchung der überlieferten
Textformen ergiebt jedoch, daſs Merkels drei Rezensionen sich nicht
halten lassen, daſs die Lex uns nur in einer einzigen Redaktion vor-
liegt und daſs die von Merkel betonten Verschiedenheiten der von
ihm konstruierten drei Texte zum Teil auf einer unrichtigen Verteilung
[310]§ 41. Pactus und Lex Alamannorum.
der Lesarten beruhen, zum Teil auf Rechnung der handschriftlichen
Fortbildung der Lex zu setzen sind8).
Die wichtigste Nachricht über die Entstehung der Lex enthält
eine Handschrift aus St. Gallen, welche im Jahre 793 geschrieben
wurde. Das erste Kapitel hat hier die Eingangsworte: convenit enim
maioribus nato populo Allamannorum una cum duci eorum Lanfrido
vel citerorum populo adunato9). Abweichende Angaben überliefern die
Überschriften oder Prologe, welche dem Texte der Lex vorausgehen.
Die Mehrzahl der Handschriften bringt einen längeren Prolog, nach
welchem die Lex zur Zeit König Chlothars abgefaſst worden sei10).
Aus zwei Handschriften haben wir die Überschriften: Lex Alamannorum,
qui temporibus Lanfrido filio [Godofrido] renovata est11).
Aus dem längeren Prolog glaubte man schlieſsen zu müssen, daſs
die Lex Alamannorum eine Satzung des fränkischen Königs Chlothar II.
sei. Allein der Inhalt der Lex ergiebt, daſs sie nicht vor dem Ende
des siebenten Jahrhunderts abgefaſst worden sein kann. Dies folgt
aus dem Verhältnis der Lex zu den fränkischen Konzilienschlüssen
aus der ersten Hälfte des siebenten Jahrhunderts, aus der Erwähnung
freier dingpflichtiger Vasallen des Herzogs und der Grafen, aus der
Anwendung des Wortes beneficium12), insbesondere aber aus einer
Stelle, betreffend das Verbot der Sonntagsarbeit (Kapitel 38), welche
auf ein Beichtbuch des Erzbischofs Theodor von Canterbury zu-
rückgeht13).
Die Lex ist nicht auf einer unter königlichem Vorsitz abgehal-
tenen Reichsversammlung, sondern auf einer herzoglichen Stammes-
versammlung zustande gekommen. Den Beschluſs einer solchen führt
Kapitel 37 an, welches sich durch seinen Inhalt als herzogliche
Satzung darstellt und denjenigen mit Strafe bedroht, der einen Sklaven
[311]§ 41. Pactus und Lex Alamannorum.
in das Ausland (foris provincia) verkauft, „post conventum nostrum,
quod conplacuit cunctis Alamannis“. In Kapitel 41, 3 wird eine
Satzung über rechtswidrige Urteilschelte motiviert mit den Worten:
quia sic convenit duci et omni populo [Alamannorum] in publico con-
cilio. Allenthalben tritt in den Rechtssätzen der Lex der Herzog als
die entscheidende politische Macht des Stammes hervor. Seine Herr-
schaft heiſst regnum und vererbt vom Vater auf den Sohn. Habe
und Gut des Herzogs sind res dominicae. Er hat die oberste Ge-
richtsbarkeit, setzt die iudices ein, bezieht die Friedensgelder, spricht
die Friedloslegung aus und entscheidet über die Verhängung der
Todesstrafe. Andrerseits wird die Oberhoheit des fränkischen Königs
über den alamannischen Herzog anerkannt. Dieses Verhältnis der
herzoglichen zur königlichen Gewalt paſst nicht in die Zeit Chlo-
thars II., sondern ist das Spiegelbild der thatsächlichen Unabhängig-
keit, welche das alamannische Herzogtum seit der zweiten Hälfte des
siebenten Jahrhunderts zu erringen wuſste, indem es bei theoreti-
scher Anerkennung der königlichen Oberhoheit sich dem Einfluſs der
wirklichen Machthaber Austrasiens, der emporstrebenden Hausmeier
entzog.
Nach alledem steht nichts im Wege, den Eingangsworten der
Lex in der Sanktgaller Handschrift von 793 vollen Glauben zu
schenken, daſs das alamannische Gesetz unter Herzog Lantfrid zu-
stande gekommen sei. Von Herzog Lantfrid wissen wir, daſs er
der Sohn des 709 verstorbenen alamannischen Herzogs Godofrid war
und von Karl Martell bekriegt im Jahre 730 Land und Leben
verlor.
Die beiden Prologe sind jünger wie die Lex. Der längere Prolog
ist den Eingangsworten der Lex Lantfridana nachgebildet. Nach Lant-
frids Tode hat es in Schwaben kein von Reichswegen anerkanntes
Herzogtum mehr gegeben. Man mochte daher Bedenken tragen, den
Namen des im Kampfe mit der Reichsgewalt erlegenen Herzogs an
die Spitze der Lex zu setzen. Der Eingang der Lex, wie er sich in
der Sanktgaller Handschrift von 793 vorfindet, wurde daher von den
Abschreibern unterdrückt und in dem Prolog Lantfrids Name durch
die Wendung temporibus Chlothario ersetzt. Diese Zeitbestimmung
läſst sich aber mit dem Inhalte der Lex nur dann in Einklang
bringen, wenn man an den fränkischen König Chlothar IV. denkt,
welcher 717—719 regierte. Nur Chlothar IV. kann unter den frän-
kischen Königen dieses Namens Zeitgenosse Herzog Lantfrids gewesen
sein. Die Nachricht des längeren Prologs macht es daher wahr-
scheinlich, daſs die Lex Alamannorum in den Jahren 717—719 ent-
[312]§ 41. Pactus und Lex Alamannorum.
standen sei14). Hält man sie für unglaubwürdig, so muſs man sich
mit der Thatsache zufrieden stellen, daſs die Lex in der Regierungs-
zeit Herzog Lantfrids abgefaſst worden sei.
Die Lex Alamannorum zerfällt ihrer Anordnung nach in drei
Abschnitte. Der erste Abschnitt, Kapitel 1—23, behandelt die causae
ecclesiae. Den Beginn des zweiten Abschnittes (Kapitel 24—44)
bezeichnen die Worte: causae, qui ad duce pertinent. Mit Kapitel 45
beginnt ein dritter Abschnitt: causae, qui saepe solent contingere in
populo. Es ist nicht unwahrscheinlich, daſs bei der Redaktion dieser
drei Abschnitte verschiedene Arbeitskräfte thätig waren, indem bei
Abfassung des ersten die Geistlichkeit hervorragend beteiligt war,
während bei Abfassung des dritten Abschnittes die alamannischen
iudices das erste Wort führen mochten.
Der Satzung Lantfrids haben die Kapitel 98—104 ursprünglich
nicht angehört. Sie stammen aus dem Pactus Alamannorum und
wurden von den Abschreibern der Lex zur Ergänzung derselben aus
dem Pactus herübergenommen, indem sie dabei jene Stellen aus-
wählten, von welchen sie sich nicht zum Bewuſstsein brachten, daſs
sie durch die Lex obsolet geworden waren.
Zum Pactus verhält sich die Lex, abgesehen von der erwähnten
Ergänzung, ziemlich selbständig. Auch wo der Inhalt der Rechtssätze
übereinstimmt, ist die Fassung der Lex unabhängig von dem Wort-
laute des Pactus. Kapitel 78 und 79 sind dem Pactus entlehnt.
Vielleicht wurden sie nachträglich eingefügt. Auch von dem Kapitel
93, welches vorausgehende Rechtssätze wiederholt, ist es unsicher, ob
es der Lex ursprünglich angehört habe.
In den jüngeren Handschriften hat die Lex Zusätze aufgenommen
und Veränderungen erlitten, welche der Fortbildung des alamannischen
Rechtes unter den Karolingern entsprechen.
Ausgaben: Merkel in Mon. Germ. LL III 183 ff. v. Mederer, Leges Baiu-
wariorum oder ältestes Gesetzbuch der Baiuuarier (mit Übersetzung und Anmerkun-
gen, auf Grundlage der Ingolstädter Handschrift), 1793.
Litteratur: P. Roth, Über Entstehung der Lex Baiuvariorum, 1848. Merkel,
Das bairische Volksrecht, in Pertz’ Archiv XI 533 ff., 1858. De Pétigny, De
l’origine et des différentes rédactions de la loi des Bavarois, Revue hist. de droit
fr. et étr. II 305, 1856. Gfrörer, Zur Gesch. der deutschen Volksrechte I 322,
1865. A. Quitzmann, Die älteste Rechtsverfassung der Baiwaren, 1866. P. Roth,
Zur Gesch. des bayr. Volksrechts, 1869. F. v. Muth, Das bair. Volksrecht, 1870.
Waitz in den Nachrichten der Göttinger Gesellsch. d. Wissensch. 1869 Nr 8 u. 14
und Verfassungsgeschichte II 1 S 116. Riezler, Über die Entstehungszeit der
Lex Baiuw., in den Forschungen zur deutschen Gesch. XVI 409 ff. Mutzl, Die
Lex Baiw. als geschichtliche u. sprachliche Urkunde, 1859 (unbedeutend).
Über die Entstehungsgeschichte des bairischen Volksrechtes gehen
die Ansichten weit auseinander. Manche betrachten die Lex als ein
einheitliches Ganzes und als das Ergebnis einer einmaligen Satzung1).
Dagegen zerlegt sie die herrschende Ansicht2) in drei oder mehrere
Satzungen verschiedener Entstehungszeit, wobei wieder hinsichtlich
des Umfangs und der Datierung der einzelnen Bestandteile die erheb-
lichsten Meinungsdifferenzen obwalten.
In der handschriftlichen Überlieferung3) findet die herrschende
Theorie keine Stütze. Sie zieht denn auch ihre Schluſsfolgerungen
nur aus dem Inhalte der Lex4). Dieselbe enthält nämlich zahlreiche
Stellen in welchen das alamannische, andere in welchen das west-
gotische Volksrecht benutzt ist, während in den zwei ersten Titeln
[314]§ 42. Die Lex Baiuwariorum.
der Einfluſs der fränkischen Herrschaft stark hervortritt. Deshalb
glaubt man einen ältesten Bestandteil, bairisch-alamannisches Recht
enthaltend, eine zweite auf westgotischem Rechte fuſsende Satzung
und eine dritte unter fränkischem Impuls entstandene Gesetzgebung
unterscheiden zu müssen. Die erste Satzung wird der Zeit Theo-
derichs I. oder Childeberts II. oder Chlothars II. oder Dagoberts I.,
die zweite der Zeit Dagoberts I.5) oder dem Ende des siebenten oder
dem Anfang des achten Jahrhunderts, die dritte dem Anfang oder der
Mitte des achten Jahrhunderts zugeschrieben.
Die Unterscheidung von drei Satzungen hält einer näheren Prü-
fung nicht stand. Das alamannische Volksrecht ist in jeder der drei
angeblichen Massen des Baiernrechtes benutzt worden6), und zwar in
der Form, die es durch die Satzung Lantfrids erhalten hatte7). Die
Übereinstimmung tritt im Wortlaut und in der Anordnung der Rechts-
sätze, in den Buſszahlen und namentlich in der Entlehnung althoch-
deutscher Wörter hervor, durch welche die Lex Alamannorum ihren
lateinischen Text erläutert. Besonders enge schlieſst sich Titel IV
der Lex Baiuwariorum, welcher die Gliederbuſsen freier Leute nor-
miert, an das alamannische Vorbild an. Seltener und freier wird die
Benutzung der Lex Alamannorum von Titel VII ab. Eine sorgfältige
und umsichtige Umarbeitung der alamannischen Vorlage verraten
Titel I und II der bairischen Lex8).
Der Anschluſs an westgotisches Recht findet sich in den meisten
Titeln der Lex Baiuwariorum. Frei sind davon nur die Titel, welche
von Wergeldern und Wundbuſsen (III—VI), von Hausfriedensbruch
(XI), von dem altbairischen Rechtsgang, von Unthaten an Leichen,
von getöteten Hunden und Falken (XVII—XXI) handeln9). Das west-
[315]§ 42. Die Lex Baiuwariorum.
gotische Gesetzbuch hat den Verfassern des Baiernrechtes in der Form
der Leges antiquae vorgelegen und zwar in jener Form, die es unter
König Eurich erhalten hatte10). In den Gebieten Galliens, die das
westgotische Reich infolge der Niederlage Alarichs II. hatte aufgeben
müssen, waren die westgotischen Leges antiquae nach wie vor in
Kraft geblieben, auch nachdem im Westgotenreiche unter König
Reckessuinth die älteren westgotischen Königsgesetze durch die Lex
Wisigothorum ersetzt worden waren. Die Redaktoren der Lex Baiu-
wariorum haben die westgotische Rechtsquelle im allgemeinen mit
Maſs und Verständnis benutzt. Soweit sie positive Rechtssätze ent-
lehnten, wuſsten sie Widersprüche gegen jene Bestimmungen ihrer
Lex zu vermeiden, welche einheimisches Recht enthielten oder dem
alamannischen Volksrechte entstammten11). Als auffallend erscheint
bloſs die Aufnahme der dem bairischen Rechte fremdartigen Beweis-
regel des Westgotenrechtes, dass der Eid nur in Ermangelung anderen
Beweismaterials zugelassen werden solle, eines Grundsatzes, der bei
9)
[316]§ 42. Die Lex Baiuwariorum.
dem Zuschnitt des bairischen Rechtsgangs auf den Fall der hand-
haften oder notorischen Missethat eingeschränkt werden muſs12).
Die Titel I und II, welche angeblich einer dritten Satzung ihre
Entstehung verdanken, behandeln die Stellung der Kirche und des
Herzogs und sind nach dem Vorbilde der Lex Alamannorum an die
Spitze des bairischen Volksrechtes gestellt worden. Daſs sie den
übrigen Titeln der Lex in einer gewissen Selbständigkeit gegenüber-
stehen, beruht auf den Rechtsverhältnissen, die sie zu normieren be-
stimmt sind. Gerade in den Materien des öffentlichen Rechtes muſste
der fränkische Einfluſs zu einer Zeit, da Baiern denselben nicht ab-
zuwehren vermochte, sich besonders geltend machen. Bei der Ab-
fassung der kirchlichen Kapitel war die Geistlichkeit thätig13), bei der
Redaktion der staatsrechtlichen Vorschriften dürften Organe der frän-
kischen Regierung beteiligt gewesen sein. Titel III, welcher das Wer-
geld des Herzogs und des Adels normiert, ist sogar im Namen des
fränkischen Königs abgefaſst. Dagegen wurden das Strafrecht, das
Privatrecht und der Rechtsgang als interne bairische Angelegenheiten
ausschlieſslich von einheimischen Kräften redigiert und zwar mit Hilfe
der bairischen iudices, deren Zuziehung in Fragen des Rechtsgangs
eine Stelle der Lex ausdrücklich bezeugt14). Nichts spricht dafür, daſs
die zwei ersten Titel später entstanden seien wie die übrige Lex,
denn die Widersprüche, die man in ihnen zu angeblich älteren
Rechtssätzen glaubte entdecken zu können, halten einer näheren
Prüfung nicht stand15) oder sind so unerheblich, daſs sie sich mit der
Annahme einer gleichzeitigen Redaktion sehr wohl vertragen16).
Können wir nach alledem die Lex Baiuwariorum, welche sich vor
den übrigen Volksrechten gerade durch ihren einheitlichen Charakter
auszeichnet, als das Ergebnis einer einzigen Satzung betrachten, so
läſst sich auch die Zeit ihrer Abfassung mit ziemlicher Genauigkeit
bestimmen. Sie ist jedenfalls jünger wie die unter Herzog Lantfrid
(† 730) abgefaſste Lex Alamannorum. Sie muſs unter einem Vor-
gänger Tassilos III., also vor 749 entstanden sein. Denn in den
Beschlüssen der Aschheimer Synode wird sie dem Herzog Tassilo
gegenüber von den Bischöfen als precessorum vestrorum depicta pactus
bezeichnet17). Die Lex ist nicht vor 739 abgefaſst worden; denn in
diesem Jahre organisierte Bonifazius die bairische Kirche, indem er mit
Zustimmung des Herzogs Odilo drei neue Bischöfe setzte, während es
vorher in Baiern nur einen Bischof gegeben hatte. Die Lex setzt
aber eine Mehrheit von Bischöfen voraus18). Zur Zeit da die Lex ent-
stand, gab es einen fränkischen König, ein Umstand, der die Jahre
von 739 bis 743 ausschlieſst. Das bairische Herzogtum muſs sich da-
mals in strammer Unterordnung unter die fränkische Staatsgewalt
befunden haben. Ein solches Verhältnis existierte in den Jahren
744 bis 748. Herzog Odilo von Baiern hatte sich vergeblich gegen die
Söhne Karl Martells aufgelehnt. Als es ihm nach seiner Niederlage
gelungen war, sich mit ihnen wieder auszusöhnen, wurde er 743 oder
744 wieder in sein Herzogtum eingesetzt, welches er dann bis zu
seinem Tode (748) verwaltete19). In dieser Zeit der Abhängigkeit
muſs unter Beteiligung der fränkischen Staatsgewalt die Satzung des
Baiernrechtes vor sich gegangen sein.
Für eine frühere Entstehung hat man insbesondere geltend ge-
macht, daſs das westgotische Gesetzbuch in der Form der Leges
16)
[318]§ 42. Die Lex Baiuwariorum.
antiquae und nicht in der Form der Lex Wisigothorum benutzt wor-
den ist, wie sie unter König Reckessuinth zustande gekommen war.
Die Erklärung dieser Thatsache ist in dem Umstande zu suchen, daſs
in den westgotischen Teilen Galliens, welche Chlodovech und welche die
Ostgoten erworben hatten, die Gesetzgebung der Nachfolger Alarichs II.
nicht in Kraft getreten ist, sondern nur eine Sammlung westgotischer
Königsgesetze in Gebrauch geblieben sein kann, welche vor dem Tode
Alarichs II. ausgearbeitet worden war. Die einzige Konstitutionen-
sammlung, welche vor dieser Zeit im Westgotenreiche promulgiert
wurde, war die des Königs Eurich. Ein Kodex, der die Sammlung
Eurichs enthielt, muſs in die Hände der Redaktoren des Baiernrechtes
gelangt sein. An Beziehungen der Baiern zu Gallien fehlt es nicht.
Baiern fochten in Aquitanien. Eine vereinzelte Notiz besagt, daſs
Odilo nach seiner Niederlage längere Zeit in Gallien verweilt habe20).
Gegen die Entstehung der Lex in den Jahren 743—748 kann
auch nicht ins Treffen geführt werden, daſs ihr in zahlreichen Hand-
schriften die Notiz vorausgeschickt wird: hoc decretum apud regem
et principibus eius et apud cuncto populo christiano qui infra regnum
Mervungorum consistunt. Daſs man das fränkische Reich, als es im
Namen eines Merowingers regiert wurde, regnum Mervungorum nannte,
hat nichts Auffallendes an sich. Der Ausdruck regnum Francorum
wäre an der Spitze einer bairischen Lex minder passend gewesen.
Die Satzung ist ohne Zweifel mit Zustimmung der Hausmeier und
des von ihnen eingesetzten Königs zustande gekommen.
In der Zeit Tassilos III. erscheint die Lex Baiuwariorum bereits
als ein in sich abgeschlossenes Gesetzbuch. Die oben erwähnte Asch-
heimer Synode von 756 zitiert sie als Pactus. In einer Urkunde von
772 wird sie als Baioariorum lex atque pactus erwähnt21). Das
Schicksal anderer Volksrechte, deren ursprüngliche Anlage durch Ein-
schiebung von Novellen zerstört wurde, ist ihr erspart geblieben.
Nur sehr wenige Stellen der Lex Baiuwariorum haben den Charakter
nachträglich eingefügter Novellen22).
Aus der Zeit Tassilos III. und Karls des Groſsen besitzen wir
eine Anzahl bairischer Rechtsquellen, welche in den Körper der Lex
nicht mehr aufgenommen worden sind, nämlich:
1. Die Dingolfinger Dekrete von 772, Beschlüsse einer zu Dingol-
fing unter der Leitung Tassilos23) abgehaltenen Versammlung, gewisser-
maſsen eine bairische carta libertatis, in welcher mit Bezugnahme auf
die Lex Baiuwariorum bestimmte Forderungen der Kirche, des Adels
und des Volkes sichergestellt wurden24).
2. Die Neuchinger Dekrete „de popularibus legibus“, eine inhalt-
reiche Novelle zur Lex Baiuwariorum, welche aus den Beschlüssen
einer in den Jahren 774 oder 775 unter Tassilo zu Neuching ab-
gehaltenen Versammlung hervorging und helles Licht wirft auf einzelne
Materien des bairischen Rechtes, über welche die Lex uns im dunkeln
läſst25).
Sowohl die Dingolfinger als auch die Neuchinger Dekrete bilden
handschriftlich einen Anhang der Lex. In der Ingolstädter Hand-
schrift und in einigen anderen Handschriften sind einzelne Kapitel
der Neuchinger Dekrete in den Text der Lex eingefügt worden.
3. Ein Kapitular zur Lex Baiuwariorum von Karl dem Groſsen
aus den Jahren 801—813, welches die fränkischen Bannfälle in das
bairische Volksrecht einführt26).
4. Das Capitulare Baiwaricum, eine königliche Instruktion für
bairische Missi, die um das Jahr 810 entstanden sein dürfte27).
Privatarbeit unbestimmter Entstehungszeit ist eine Vergleichung
der Lex Baiuwariorum mit der Lex Alamannorum. Sie zählt 41 der
letzteren eigentümliche Rechtssätze auf, welche der ersteren fehlen28).
Die Pariser Fragmente sind herausgegeben von Bluhme u. d. T.: Reccaredi Wi-
sigothorum regis antiqua legum collectio, 1847 (auch als Beilage zu dessen Textkritik
des Westgotenrechts 1872). Dazu Anschütz, Der Palimpsest der Lex Wisigothorum,
in Pertz’ Archiv XI 215. Für die Lex Wisig. fehlt es an einer kritischen Ausgabe.
Von den vorhandenen Ausgaben sind zu erwähnen P. Pithous, Codicis legum Wisi-
gothicarum libri XII, Paris 1579, die in Lindenbrogs Codex legum antiquarum,
1613, die bei Bouquet, Recueil des historiens des Gaules tom. IV, die Madrider
Ausgabe, Fuero Juzgo en Latin y Castellano 1815, durch unerhebliche Zuthaten
vermehrt in Portugaliae Monumenta historica, Leges vol. I, Olisiponae 1856. Am
leichtesten zugänglich ist der Abdruck bei Walter, Corpus iur. germ. I 417.
Über den Wert oder vielmehr Unwert der vorliegenden Ausgaben s. Bluhme,
Textkritik. — Eine bisher unbekannte westgotische Rechtsquelle edierte A. Gau-
denzi, Un antica compilazione di diritto Romano e Visigoto con alcuni frammenti
delle legge di Eurico, 1886, abgedruckt im NA XII 390.
Litteratur: A. Helfferich, Entstehung u. Gesch. des Westgothenrechts, 1858.
Merkel bei Savigny, Gesch. des röm. Rechts VII 42 ff.; derselbe in der Z f.
DR XII 281. Gaupp, Über das älteste geschriebene Recht der Westgothen, in
dessen germanist. Abhandl., 1853, S 27. Hänel in seiner Ausg. der Lex Rom.
Visig. S XCVI. De Pétigny, De l’origine et des différentes rédactions de la loi des
Wisigoths, in Revue hist. de droit français et étr. I 209. Bluhme, Zur Textkritik
des Westgothenrechts, 1872. Dahn, Westgoth. Studien, 1874. v. Bethmann-
Hollweg, Civilprozeſs IV 208. Waitz, Die Redaction der Lex Wisig. von König
Chindasuinth, in den Nachr. der Göttinger Gesellsch. der Wissensch. 1875 Nr 15.
Schmeltzer, Die Redactionen des Westgothenrechts durch die Könige Chindasuinth
und Reccessuinth, Z2 f. RG II 123. A. Gaudenzi, Un antica compilazione.
Zeumer, Eine neu entdeckte westgoth. Rechtsquelle, NA XII 389.
Die Lex Wisigothorum ist eine amtliche Sammlung westgotischer
Königsgesetze, welche in Bücher, Titel und Kapitel zerfällt. Die
einzelnen Kapitel haben Überschriften (inscriptiones), worin die Her-
kunft der darin enthaltenen Gesetze bezeichnet wird. Diese In-
skriptionen sind zweifacher Art. Entweder nennen sie den Namen
des Königs, von welchem die Lex herrührt, oder sie bezeichnen die
Lex als Antiqua oder Antiqua noviter emendata. Der Unterschied
markiert den Gegensatz einer älteren und einer jüngeren Periode
der westgotischen Gesetzgebung, welche die folgende Darstellung
auseinander zu halten hat.
1. Die Pariser Fragmente und die Leges antiquae. In
einem Pariser Palimpsest sind uns 55 teilweise verstümmelte Kapitel
einer westgotischen Gesetzsammlung erhalten 1. Dieselbe muſs ziem-
[321]§ 43. Die Leges Wisigothorum.
lich umfangreich gewesen sein, denn die überlieferten Bruchstücke
stammen aus der Reihe der Kapitel 276—336. Die meisten Frag-
mente begegnen uns mehr oder minder umgearbeitet und in anderer
Anordnung in der Lex Wisigothorum unter der Überschrift Antiqua, die
übrigens noch bei zahlreichen Gesetzen erscheint, welche uns in den
Pariser Fragmenten fehlen.
Die Entstehungszeit der Sammlung, welcher die Pariser Fragmente
angehören, ist streitig. Was uns über die ältere westgotische Gesetz-
gebung berichtet wird, beschränkt sich auf spärliche Angaben. Einzelne
Gesetze scheint nach ihnen schon Theoderich I. (419—451) oder
Theoderich II. (453—466) gegeben zu haben 2. Doch ist die Erinne-
rung an diese Gesetze im Westgotenreiche früh entschwunden; denn
Bischof Isidor von Sevilla († 636) bezeichnet bestimmt den König
Eurich (466—484) als den ersten Gesetzgeber der Westgoten 3. Eine
Verbesserung und Ergänzung der Gesetze Eurichs hat, nach demselben
Isidor, der westgotische König Leovigild († 586) vorgenommen 4.
Auſserdem berichtet noch eine späte und nicht sehr lautere Quelle,
die Weltchronik des Lukas von Tuy († 1250), König Reccared I.
(586—601) habe im sechsten Jahre seiner Regierung die gotischen
Gesetze in knapperer Fassung zusammenstellen lassen 5.
In den Pariser Fragmenten sehen die meisten den Überrest der
angeblich von Reccared I. vorgenommenen Redaktion des Westgoten-
rechtes 6, andere schreiben sie Alarich II. 7 oder Leovigild 8, dagegen
E. Th. Gaupp und Gustav Hänel 9 dem König Eurich zu. Leovigild
kann sie nicht verfaſst haben, weil aus zwei Stellen hervorgeht 10, daſs
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 21
[322]§ 43. Die Leges Wisigothorum.
der Gesetzgeber Sohn eines westgotischen Königs war, was nicht auf
Leovigild, wohl aber auf Eurich, den Sohn Theoderichs I., auf
Alarich II., den Sohn Eurichs, und auf Reccared, den Sohn Leovigilds,
passen würde. Gegen Reccareds Autorschaft spricht ebenso wie gegen
diejenige Alarichs II. das Schweigen Isidors. Will man dieses Schweigen
damit erklären, daſs Reccareds Redaktion nur wenig an dem vor-
handenen Gesetzesstoff geändert habe 11, so bricht man der Streitfrage
die Spitze ab, denn dann müssen die in der Antiqua vorliegenden
Rechtssätze in der Hauptsache eben von Eurich oder von Leovigild
herrühren.
Reccared war der erste katholische König der Westgoten. Man
glaubt, daſs die Begünstigung des Katholizismus für ihn der Anlaſs
zu einer neuen Redaktion des Westgotenrechtes gewesen sei, und will
in den Pariser Fragmenten die Einwirkung eines 589 auf dem dritten
Konzil von Toledo gefaſsten Beschlusses erkennen, indem man an-
nimmt, daſs c. 306 der Fragmente aus Kanon 3 des gedachten Konzils
geflossen sei 12. Das Fragment verbietet die Veräuſserung von Kirchen-
gütern ohne Zustimmung aller übrigen Kleriker der Kirche 13, eine
Beschränkung, welche nachweislich ein Grundsatz des arianischen
Kirchenrechtes war 14. Dagegen sagt Kanon 3 des toledanischen
10
[323]§ 43. Die Leges Wisigothorum.
Konzils nichts von dem Konsens der übrigen Kleriker, sondern be-
schränkt sich darauf, dem Bischof die Veräuſserungsbefugnis im all-
gemeinen zu versagen, wogegen ihm in gewissen Fällen Verwendungen
aus dem Kirchenvermögen gestattet werden 15. Das Verhältnis der
Fragmente zum Konzil von 589 spricht daher mehr gegen als für die
Autorschaft Reccareds.
Wenn man die Sprache der Pariser Fragmente vergleicht mit
dem Stil der westgotischen Königsgesetze, die noch aus der ersten
Hälfte des siebenten Jahrhunderts stammen und uns in der Lex
Wisigothorum vorliegen, so sticht die knappe Fassung der ersteren
scharf ab von der sentenziösen Weitschweifigkeit, die sich in der
letzteren breit macht. Wären die Fragmente von Reccared, so müſste
es wundernehmen, daſs sich der Stil der Gesetzgebung in so kurzer
Zeit so sehr verändert hätte.
Die in den Pariser Fragmenten vorausgesetzten Rechtszustände
passen im allgemeinen besser in Eurichs als in Reccareds Zeit.
Goten und Römer sind noch streng geschieden. Der Gote erscheint
als der Mächtigere. Darum wird verboten, daſs ein Römer ein
streitiges Grundstück vor Erledigung des Rechtsstreites einem Goten
übereigne. Die durch die gotische Ansiedelung und Landteilung ge-
schaffenen Verhältnisse treten in den sortes gothicae und in der
tertia Romanorum noch frisch und anschaulich hervor.
Einzelne Leges antiquae, die uns zwar in den Pariser Fragmenten
fehlen, aber in der Lex Wisigothorum vorliegen, haben der burgun-
dischen Gesetzgebung zum Vorbilde gedient, und zwar erscheinen sie
als benutzt in jenem Teile der Lex Burgundionum, welcher um 490,
jedenfalls nicht nach 501 abgefaſst worden ist 16. Sie müssen also
in ihrer ursprünglichen Fassung damals schon vorhanden gewesen sein
und können nur einer noch im fünften Jahrhundert entstandenen
Sammlung westgotischer Königsgesetze zugeteilt werden.
Für ein über Reccared hinaufreichendes Alter der Pariser Frag-
mente fällt auch ihr Verhältnis zur Lex Romana Wisigothorum ins
Gewicht, einer Sammlung römischer Rechtsquellen, welche König
Alarich II. im Jahre 506 für die römische Bevölkerung des West-
gotenreiches zusammenstellen lieſs. Rechtssätze römischer Herkunft
21*
[324]§ 43. Die Leges Wisigothorum.
sind in den Pariser Fragmenten sehr stark vertreten 17. Einige sind
ihrem Inhalte nach verwandt mit Stellen der Lex Romana Wisi-
gothorum 18, andere mit Stellen der Justinianischen Rechtsbücher 19.
Doch liegt nirgends ein derartiger Anschluſs an den Wortlaut der
Parallelstellen vor, daſs eine direkte Benutzung derselben behauptet
werden könnte 20. Vielmehr läſst die selbständige Formulierung,
welche die römischen Rechtssätze in den Pariser Fragmenten ge-
funden haben, darauf schlieſsen, daſs diese zu einer Zeit entstanden
sind, als das römische Rechtsleben des westgotischen Reiches die volle
geistige Beherrschung der römischen Rechtsquellen noch nicht ver-
loren hatte. Solche juristische Potenz konnte noch in Eurichs Zeit,
aber nicht mehr ein volles Jahrhundert später vorhanden sein. Ja
man kann noch weiter gehen und betonen, daſs die Pariser Fragmente
noch vor der Lex Romana Wisigothorum abgefaſst worden sind, weil
man sonst die in Frage kommenden Rechtssätze, statt sie selbständig
zu formulieren, einfach aus der letzteren übernommen hätte.
Stammen die Pariser Fragmente von König Eurich, so sind sie
das älteste Denkmal germanischer Gesetzgebung. Eurichs Gesetze
[325]§ 43. Die Leges Wisigothorum.
haben unmittelbar oder mittelbar auf die meisten germanischen Leges
aus merowingischer Zeit eingewirkt. Schon oben S 301 ist darauf
hingewiesen worden, daſs die Verwandtschaft der Lex Salica mit der
Lex Wisigothorum aus einer Benutzung der Gesetze König Eurichs
zu erklären sei. Wie die Burgunder haben nachmals auch die Baiern 21
die älteste westgotische Gesetzgebung als Vorlage verwertet. Auch
der Edictus des Langobardenkönigs Rothari zeigt einige Spuren west-
gotischen Einflusses.
Im Anschluſs an die Leges Eurici wurde vermutlich noch in der
ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts eine Rechtsaufzeichnung ver-
faſst, von welcher kürzlich ein Bruchstück in einer ziemlich planlosen
Kompilation römischer und westgotischer Rechtsquellen entdeckt wor-
den ist 22. Daſs sie dem Kreise der gotischen Rechtsquellen angehört,
beweist der darin genannte Sagio, ein Wort, welches den Gerichts-
büttel bedeutet und nur den Ost- und Westgoten bekannt ist. Mehr-
fach wird auf ein königliches Edikt verwiesen, indem es heiſst: sicut
in edictum scriptum est, secundum edicti seriem, secundum regis
edictum, eine Ausdrucksweise, welche den Gedanken ausschlieſst, als
ob die erhaltenen Fragmente selbst ein Teil eines königlichen Ediktes
seien 23. Die Aufzeichnung stellt sich als eine die Leges Eurici ergän-
zende Privatarbeit dar 24. Aus Anlaſs des Rechtssatzes, daſs Neffen und
Nichten sich in die Erbschaft des Ohms und der Muhme nicht nach
Stämmen, sondern nach Köpfen teilen, beruft sie sich mit den Worten:
sicut in edictum scriptum est, wahrscheinlich auf Fr. 331 des Pariser
Palimpsestes. hauptsächlich römisch-rechtlichen Inhalts benutzt sie
die westgotische Interpretatio, während sie an anderen Stellen
Rechtssätze aus dem Edikt des Ostgotenkönigs Theoderich auf-
nimmt 25 und auch unverkennbare Anklänge an burgundische Rechts-
quellen verrät 26. Die Rechtsaufzeichnung kann daher nur in Gallien
und zwar nur in einem Gebiete entstanden sein, wo westgotisches,
[326]§ 43. Die Leges Wisigothorum.
ostgotisches und burgundisches Recht in Geltung getreten waren.
Ihre Heimat scheinen jene Teile der Provence zu sein 27, welche 477
unter die Herrschaft Eurichs, dann in vorübergehenden Besitz der
Burgunder gelangt waren und 510 oder 523 von den Ostgoten er-
worben wurden. Gerade die Mannigfaltigkeit der mit dem Wechsel
der Herrschaft überkommenen Rechtsquellen muſste hier das Bedürfnis
nach einer orientierenden Rechtsaufzeichnung erzeugen.
Die Sammlung, welcher die Pariser Fragmente angehören, darf
nicht mit den Leges antiquae der Lex Wisigothorum, das heiſst mit
der Gesamtheit der Konstitutionen, die daselbst die Inskription „Antiqua“
aufweisen, identifiziert werden. Der Begriff der Leges antiquae ist ein
weiterer, denn er faſst zum mindesten die westgotische Königsgesetz-
gebung bis zum Ausgange des siebenten Jahrhunderts in sich. Mit
welchem Jahre die zeitliche Grenze zu ziehen ist für den Sinn, in
welchem die Lex Wisigothorum die Inskription Antiqua anwendet,
läſst sich derzeit nicht mit Sicherheit bestimmen, da die aus den
vorliegenden Ausgaben und aus Handschriften bekannten Inskriptionen
vielfach auseinandergehen und erst eine kritische Ausgabe der Lex
in dieser Beziehung feste Grundlagen schaffen dürfte 28. Jedenfalls
schlieſsen die Leges antiquae die Gesetzgebung Leovigilds in sich,
von welchem uns durch das Zeugnis Isidors sichergestellt ist, daſs er
Eurichs Gesetze teils verbesserte, teils beseitigte und durch zahlreiche
eigene Gesetze vermehrte. Auch die Gesetze Reccareds I. fallen
noch sämtlich oder doch zum gröſsten Teile unter den Begriff der
Leges antiquae. Daſs er gesetzgeberisch thätig war, steht fest. Über
zwei Gesetze Reccareds haben wir zuverlässige Nachricht 29 und es
ist mehr als wahrscheinlich, daſs die unter seiner Regierung erfolgte
[327]§ 43. Die Leges Wisigothorum.
Konversion der arianischen Westgoten eine Reihe legislativer Reformen
veranlaſste. Daſs aber Reccared eine neue Redaktion der Gesetz-
sammlung Leovigilds vorgenommen habe, wird durch das unsichere
Zeugnis des Lukas von Tuy nicht genügend beglaubigt. Einschneidend
kann diese Redaktion Reccareds nicht gewesen sein, weil Isidor, sein
Lobredner, darüber schweigt. Wahrscheinlich begnügte sich Reccared
damit, seine Novellen der Sammlung Leovigilds anzuhängen. In den
vier Dezennien, welche von dem Tode Reccareds bis zum Regierungs-
antritt des Königs Chindasuinth (641) verflossen, war die Gesetz-
gebung des Westgotenreiches, wie es scheint, in geringem Maſse
thätig. Mit Sicherheit sind nur zwei Judengesetze des Königs Sisibut
(612—620) beglaubigt 30. Diese Periode verhältnismäſsigen Stillstandes
mag den Anlaſs gegeben haben, daſs man, als die Gesetzgebung seit
Chindasuinth wieder in regeren Fluſs gekommen war, den Rechtsstoff,
welcher in den vor dieser Zeit abgeschlossenen Sammlungen aufgehäuft
war, als Leges antiquae bezeichnete.
2. Das Gesetzbuch Reckessuinths. Die Lex Wisigothorum
ist uns in verschiedenen Redaktionen erhalten 31. Die älteste der uns
überlieferten Formen stammt von König Reckessuinth, der 649—672
regierte. Ihrer Abfassung ging ein Umschwung in den Zielen der
westgotischen Gesetzgebung und in den Rechtszuständen des Reiches
voraus, der schon unter dem Vorgänger Reckessuinths, nämlich unter
König Chindasuinth (641—652) eingeleitet worden war. Von Chinda-
suinth besitzen wir in der Lex Wisigothorum zahlreiche Gesetze. Sie
erstrecken sich über das gesamte Rechtsgebiet, greifen insbesondere
[328]§ 43. Die Leges Wisigothorum.
tief in das Erbrecht, in das Strafrecht und in das Prozeſsrecht ein
und machen in diesen Materien den Eindruck einer planmäſsigen und
systematischen Reform. Noch in anderer Beziehung trat die west-
gotische Gesetzgebung seit Chindasuinth in eine neue Phase ein.
Früher war sie eine gesonderte gewesen, für die gotische und für die
römische 32 Bevölkerung. Chindasuinths Gesetze kennen diesen Gegen-
satz nicht, sondern wenden sich gleichmäſsig an alle Unterthanen des
Reiches 33. Wir besitzen eine Konstitution des Königs Reckessuinth,
worin er befiehlt, daſs Gesetze, die sein Vater seit dem zweiten Jahre
seiner Regierung erlassen habe, in cunctis personis ac gentibus des
ganzen Reiches gelten sollen 34. Daraus ist zu folgern, daſs Chinda-
suinth seit seinem zweiten Regierungsjahre seine Gesetze als allgemeine
Reichsgesetze erlassen hatte, weil anderenfalls die Geltung derselben
für alle Unterthanen von Reckessuinth nicht ohne erhebliche Um-
arbeitung hätte vorgeschrieben werden können. Wahrscheinlich hat
Chindasuinth in den Gesetzen seines ersten Regierungsjahres noch
den Standpunkt der älteren westgotischen Gesetzgebung eingenommen
und dann im zweiten Regierungsjahre eine gröſsere Zahl von Reform-
gesetzen 35 erlassen, welche ohne Rücksicht auf den Gegensatz der
Stammesrechte für alle Unterthanen gelten sollten, indem er zugleich
die Gesetze des ersten Jahres auſser Kraft setzte, soweit sie nicht
auf Grund einer Revision in die Gesetzgebung des zweiten Jahres
herübergenommen worden waren. Eine neue Redaktion der west-
gotischen Konstitutionensammlung hat Chindasuinth nicht vorgenom-
men 36, er begnügte sich vielmehr, seine Novellen der Sammlung der
[329]§ 43. Die Leges Wisigothorum.
älteren Königsgesetze anzuhängen 37, die er gelegentlich aufs neue,
und zwar in Verbindung mit seinen eigenen Gesetzen promulgiert
haben dürfte 38.
Das von Chindasuinth begonnene Werk der Herstellung eines
einheitlichen Reichsrechtes hat sein Sohn Reckessuinth, der vier Jahre
mit seinem Vater gemeinschaftlich regiert hatte, in der Zeit seiner
Alleinherrschaft zu völligem Abschluſs gebracht. In dem Bestreben,
Goten und Römer zu einem Volke zu verschmelzen, beseitigte er das
zwischen ihnen bestehende Ehehindernis der nationalen Abstammung 39.
Andererseits verbot er, daſs bei der Rechtsprechung römische Rechts-
quellen angewendet würden, indem er damit die weitere Geltung der
Lex Romana Wisigothorum auf hob 40, deren praktische Bedeutung schon
durch die Gesetzgebung Chindasuinths eine wesentliche Einbuſse er-
fahren hatte. Bald nach dem Tode seines Vaters, wohl noch im
ersten Jahre seiner Regierung 41, publizierte Reckessuinth eine Samm-
lung der westgotischen Königsgesetze, welche die Leges antiquae, die
Gesetze Chindasuinths und seine eigenen Gesetze in gesonderten
Massen enthielt 42, indem er dabei von den Gesetzen seines Vaters
diejenigen ausmerzte, die ihm als unbillig und despotisch erschienen.
Im weiteren Verlaufe seiner Regierung hat Reckessuinth seine
erste Sammlung einer vollständigen Umarbeitung unterzogen. Ihr
Ergebnis ist die Lex Wisigothorum Reccessuinthiana, ein systematisch
geordnetes Gesetzbuch, welches in zwölf Bücher und weiter in Titel
und Kapitel (erae) zerfällt 43. Anlage und System sind eine Nach-
ahmung der römischen Konstitutionensammlungen, wie sie im Codex
Theodosianus und im Codex Justinianus als Vorbilder vorlagen. Mit
diesen hat die Lex Wisigothorum auch gemein, daſs den neueren
Gesetzen die Namen der Gesetzgeber: Flavius Chindasuinthus rex,
Flavius gloriosissimus Reccessuinthus rex vorangestellt sind, wogegen
die älteren Stücke 44 unter der Überschrift Antiqua erscheinen. Von
den etwa fünfhundert Gesetzen der Lex sind drei Fünftel den Leges
antiquae entnommen; in den Rest teilen sich Chindasuinth und
Reckessuinth ungefähr zu gleichen Teilen 45.
Bei hoher Geldstrafe verbot Reckessuinth, daſs eine ältere Samm-
lung westgotischer Königsgesetze vor Gericht produziert werde 46. Den
Richtern wurde aufgetragen, in solchem Falle die vorgelegte Hand-
schrift zu zerreiſsen. Gleichzeitig wurde der Preis des Exemplars der
neuen Redaktion auf sechs solidi festgesetzt 47.
3. Das Gesetzbuch Erwigs. Eine neue Redaktion der Lex
publizierte König Erwig im Jahre 682. Er nahm dabei mehrere
Gesetze seines Vorgängers Wamba (672—680) und seine eigenen,
darunter zahlreiche Gesetze gegen die Juden in das Gesetzbuch auf.
Die Reccessuinthiana und Wambas Gesetze unterzog er einer peinlich
sorgfältigen Umarbeitung, indem er an dem Wortschwall der Kon-
stitutionen Kürzungen vornahm und andererseits durch mosaikartige
Zusätze eine Menge kasuistischer Details einfügte. Ein Teil der
antiquae und die Mehrzahl der neueren Gesetze ist auf diese Weise
mit kleinlichen Interpolationen überladen worden 48.
4. Die Lex Wisigothorum Vulgata. Unter diesem Aus-
druck kann man diejenigen Formen der Lex Wisigothorum zusammen-
fassen, welche jünger sind wie die Erwigiana. Charakteristisch ist
den Handschriften der Vulgata, daſs sie einzelne Gesetze Egicas
(687—701) in die Lex aufnehmen. Egica war der letzte westgotische
König, der eine Umarbeitung der Lex vornahm, wobei er einige der
von Erwig ausgemerzten Gesetze restituierte 49. Unerweislich ist die
Annahme, daſs schlieſslich auch noch König Witica (701—710) eine
neue Redaktion des Gesetzbuches vorgenommen habe.
Nachdem das westgotische Reich von den Arabern gestürzt worden
war, erhielt sich die Geltung der Lex Wisigothorum bei der west-
gotischen Bevölkerung in den südöstlichen Strichen des fränkischen
Reiches und in den nördlichen Gebieten Spaniens. König Ferdinand III.
von Kastilien und Leon (1229—1234) lieſs für Cordova, wo das alte
Gesetzbuch unter der maurischen Herrschaft auſser Gebrauch ge-
kommen war, eine Übersetzung der Vulgata in das Kastilianische
veranstalten und publizierte sie als Fuero de Cordova.
Die Entwicklung, welche die westgotische Gesetzgebung vom
siebenten Jahrhundert ab durchlaufen hatte, ist ein getreues Spiegel-
bild der allmählichen Zersetzung, der das westgotische Reich seit der
Katholisierung des Volkes anheimfiel. Der steigende Einfluſs, welchen
der katholische Klerus auf alle Gebiete des Staatslebens gewann,
macht sich in der Berücksichtigung der Konzilienschlüsse und in dem
sentenziösen Tone der Gesetze geltend. Die Einheit des Rechtes, wie
sie durch die Ausdehnung der Lex auf die römische Bevölkerung her-
gestellt wurde, hatte eine stärkere Annäherung des Gesetzgebers an
das römische Recht und die Entnationalisierung des westgotischen
Rechtes zur unvermeidlichen Folge. Trotz der mehrmaligen Revision
ist das westgotische Gesetzbuch im allgemeinen ein Denkmal legis-
lativer Unfähigkeit. Sieht man von den Rechtsgedanken ab, welche
aus den Leges antiquae stammen, so bleibt als das Werk der jüngeren
Gesetzgebung im wesentlichen nur ein kraftloses, gekünsteltes und
greisenhaftes Recht, welches aus dem endlosen Schwulst seiner
legislativen Einkleidung herauszuschälen eine wenig erquickliche Auf-
gabe ist.
Herausgegeben in den Mon. Germ. LL III 525 von Bluhme. Die Absicht in
einer kleineren Handausgabe zu berichtigen und zu ergänzen, was er für die gröſsere,
nicht fehlerfreie Ausgabe nicht zu beschaffen vermochte, hat Bluhme nicht mehr
zur Ausführung gebracht. Einen auf Grundlage wichtiger, von Bluhme ungenügend
verwerteter Handschriften bereinigten Text giebt Binding in den Fontes rerum
Bernensium I, Bern 1880.
Litteratur: Türk, Forschungen auf dem Gebiete der Geschichte, 1829, II 21 ff.
v. Savigny, Geschichte des röm. Rechts im Mittelalter, 2. Aufl. 1834, II 1 ff.
Gaupp, Die germ. Ansiedlungen S 296 ff. Bluhme, Das westburgund. Reich
und Recht, J des gem. deutschen Rechts I 48; derselbe, Der burg. Reichstag
zu Ambérieux v. J. 501, a. O. V 207; derselbe, Praefatio in LL III 497 ff.; der-
selbe, Die neueste Ausgabe der Lex Burg., in v. Sybels hist. Z XXI 234. Bin-
ding, Das burgundisch-romanische Königreich, 1868. Hubé, Histoire de la for-
mation de la loi bourguignonne, in der Revue hist. de droit franç. et étr. 1867.
Boretius, Über Gesetz und Gesch. der Burgunder, in v. Sybels hist. Z XXI 1 ff.
Jahn, Geschichte der Burgundionen, 1874, insbes. II 33 ff. 40. 62 ff. Vor Ab-
fassung dieses Paragraphen haben mir Bindings Vorarbeiten über die Entstehungs-
geschichte der Lex Burg. im Manuskripte vorgelegen.
Die Lex Burgundionum, eine amtliche Sammlung burgundischer
Königsgesetze, ist zum gröſsten Teile das Werk des Königs Gundobad,
welcher im burgundischen Reiche von 474 bis 516 regierte 1. Jahr-
hunderte hindurch haftete im Gedächtnis der Nachwelt sein Name
an der Lex, die nach ihm Liber legum Gundobadi oder Lex Gundo-
bada, Gombata 2 hieſs. Nach ihm wird in karolingischer Zeit das
burgundische Recht schlechtweg als Lex Gundobada und werden die
nach diesem Rechte lebenden Burgunder als Guntbadingi, Gundobadi
bezeichnet 3.
Eine kurze Vorrede, welche Gundobads Namen an der Spitze
trägt, berichtet, daſs dieser die Lex aus den Gesetzen seiner Vor-
fahren und aus seinen eigenen habe zusammenstellen lassen. Zwischen
dieser Vorrede und Titel 1 findet sich ein längeres Einführungsgesetz,
welches in Titel 81 als prima constitutio zitiert wird. Es enthält An-
[333]§ 44. Die Lex Burgundionum.
ordnungen, die eine unparteiische und unbestechliche Rechtspflege
sicherstellen wollen, und schärft die Beobachtung der in der Lex ver-
einigten Gesetze ein. Schlieſslich erklärt der Gesetzgeber, daſs er
sein Werk durch die Unterschriften seiner Grafen habe bestätigen
lassen. Es folgen denn auch auf die prima constitutio die Hand-
zeichen und Namen von 31 burgundischen Grafen. Wenn die Erklärung
so vieler gleichzeitiger Grafen Burgunds auf Schwierigkeiten stöſst, so
ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daſs die Handzeichen nicht sämt-
lich bei der Publikation des Gesetzes, sondern zum Teil nachträglich
beigefügt wurden 4, indem man später ernannte Grafen successive bei
passendem Anlaſs durch ihre Unterschrift auf das Gesetzbuch ver-
pflichtete.
Gundobads Konstitutionensammlung ist uns nicht in ihrer ur-
sprünglichen Gestalt erhalten. Sie hat durch die Novellengesetzgebung
Gundobads und seiner Nachfolger Erweiterungen und tief einschnei-
dende Änderungen erfahren, welche die alte Anlage in Unordnung und
Verwirrung brachten.
Von den zwölf überlieferten Handschriften, deren keine über das
neunte Jahrhundert hinaufreicht, haben fünf einen Text von 105
Titeln, die übrigen bringen nur 88 Titel oder fügen ihnen eine An-
zahl von Nachträgen in verschiedenartiger Anordnung hinzu 5.
Der gesamte handschriftlich überlieferte Stoff der burgundischen
Königsgesetze, welche auf die prima constitutio folgen, zerfällt in drei
verschiedenartige Massen. Die erste Masse besteht, wenn wir von
dem nachträglich überarbeiteten Titel 1 zunächst absehen, aus Titel
[334]§ 44. Die Lex Burgundionum.
2—41. Eigentümlich ist ihr die altertümliche Form der Satzung.
Die meisten Titel beginnen mit si quis oder quicunque oder ähnlich.
Nur selten finden sich Verweisungen auf ältere Gesetze 6 und ver-
hältnismäſsig gering sind die Spuren nachträglicher Einschaltung und
Überarbeitung 7. Einen anderen Charakter hat die zweite Masse, der
die Titel 42—88 angehören. Die Sprache der Satzung ist minder
knapp und liebt es, die einzuführenden Rechtssätze zu motivieren.
Viele Konstitutionen, darunter gleich die erste der zweiten Masse,
tragen die Datierungszeile an sich 8. Die einzelnen Gesetze geben
sich sehr oft durch Wortlaut oder Inhalt als Abänderungen oder Er-
gänzungen älterer Konstitutionen zu erkennen 9. Die dritte Masse,
Titel 89—104, ist ein buntes Gemisch verschiedenartiger Bestandteile.
Einzelne Titel erweisen sich als veraltete Gesetze, welche teils Gun-
dobads Redaktion des Corpus constitutionum, teils die Novellengesetz-
gebung auſser Kraft gesetzt haben mag, so die Titel 90—104 mit der
altertümlichen Einkleidung si quis, quicumque. Titel 105 ist ein
fremdartiges Einschiebsel. Titel 89 und 109 stammen von Sigismund,
dem Sohn und Nachfolger Gundobads, Titel 106 und 108 von Gun-
dobad. Titel 107 enthält die Beschlüsse einer Reichsversammlung,
welche zu Ambérieux und zwar wahrscheinlich von Godomar, dem
letzten burgundischen Könige, abgehalten worden ist 10. Der Stand
der handschriftlichen Überlieferung und der Inhalt der einzelnen
Stücke führen zu dem Ergebnis, daſs die Titel 89—109 der Lex nie-
mals angehörten oder aus ihr ausgemerzt worden waren, aber von
den Abschreibern in dem Bestreben, den vorhandenen Rechtsstoff
möglichst vollständig zusammenzutragen, als Anhänge zugefügt wurden.
[335]§ 44. Die Lex Burgundionum.
Bestätigt wird diese Ansicht durch die Vergleichung der Lex Gundo-
bada mit der Lex Romana Burgundionum, dem für die Römer des
burgundischen Reiches erlassenen Gesetzbuch. Zwischen beiden herrscht
in der Anordnung des Stoffes eine weitgehende Übereinstimmung.
Die Titelrubriken der Lex Romana entsprechen jenen der Gundobada
häufig im Wortlaut oder dem Inhalte nach 11. Jener Parallelismus
tritt nun am stärksten innerhalb der ersten, vereinzelt noch innerhalb
der zweiten Masse des handschriftlich überlieferten Stoffes der Gundo-
bada hervor. Für die dritte Masse findet sich in der Lex Romana
kein Paralleltitel.
Die Zeit, in welcher Gundobad seine Konstitutionensammlung ver-
anstaltete, läſst sich nicht mit voller Sicherheit bestimmen. Da die Zahl
der von ihm selbst erlassenen Gesetze, die er darin mit denjenigen seiner
Vorfahren 12 vereinigte, eine ziemlich erhebliche gewesen sein muſs — sie
bilden den Kern des Gesetzbuchs —, so läſst sich nicht annehmen, daſs er
schon bald nach Beginn seiner Regierung zur Redaktion der Sammlung
geschritten sei. Andrerseits muſs dieselbe einige Zeit vor 501 statt-
gefunden haben. Denn von diesem Jahre stammen die ältesten Kon-
stitutionen der Lex, bei welchen die Datierungszeile nicht abgeschält
worden ist. Eine derselben, Titel 42, bezieht sich auf Titel 24, 1. 2
als auf priores leges, die sie korrigieren will, so daſs sie der ursprüng-
lichen Redaktion nicht mehr angehört haben kann. Nach alledem dürfte
die Ausarbeitung von Gundobads liber constitutionum nicht vor 480,
aber doch noch etliche Jahre vor dem Schlusse des fünften Jahrhunderts
erfolgt sein.
Auch nach Abfassung der Gundobada blieb die burgundische Ge-
setzgebung in lebhaftem Flusse. Gundobad selbst hatte in der prima
constitutio vorgeschrieben, daſs über jeden in den Gesetzen nicht vor-
gesehenen Rechtsfall an ihn zu berichten sei. In Titel 50 erklärt es
[336]§ 44. Die Lex Burgundionum.
der Gesetzgeber für seine Aufgabe, den Gesetzen die Normierung
solcher Fälle hinzuzufügen, die in den vorausgegangenen Konstitutionen
nicht geregelt seien 13. Und Titel 60 stellt den Grundsatz auf, daſs
durch ein neues Gesetz Vorsorge getroffen werden müsse, wenn altes
Gewohnheitsrecht auſser Gebrauch gekommen sei. Bei diesem Stand-
punkte der Gesetzgebung konnte es nicht ausbleiben, daſs das Be-
dürfnis nach Novellen sich bald und häufig geltend machte. Die
Novellen wurden, wenn sie dauernde Geltung haben sollten, mit dem
vorhandenen liber constitutionum in feste Verbindung gebracht, ihm
eingefügt („adiecta“). Dabei befolgte man nicht etwa die Methode,
sie dem alten Gesetzbuch in chronologischer Reihenfolge anzuhängen,
sondern die Novellen wurden, so weit es anging und als passend er-
schien, zu bestimmten Titeln oder als bestimmte Titel der Konstitu-
tionensammlung erlassen 14. Hob ein neues Gesetz eine ältere in der
Sammlung befindliche Konstitution ganz oder teilweise auf, so wurde
wohl die Novelle an Stelle des aufgehobenen Rechtssatzes eingeschoben.
Die Abschreiber setzten dann in den Handschriften die Novellen an
der Stelle ein, die ihnen vom Gesetzgeber angewiesen worden war,
so daſs im wesentlichen gleichmäſsig angeordnete Texte zustande
kamen 15. Ein deutliches Beispiel für die dargestellte Methode der
Novellengesetzgebung liefert gleich der erste Titel der Lex „de liber-
tate donandi patribus adtributa et muneribus regis“. Denn dieser Titel
ist nicht etwa, wie manche annehmen 16, später eingeschoben worden,
[337]§ 44. Die Lex Burgundionum.
sondern hat, von Anfang an in der Sammlung vertreten, mindestens
in Kapitel 1 eine etwas unbeholfene Umarbeitung erfahren, welche
Trümmer des ursprünglichen Textes stehen lieſs 17.
Von der Novellengesetzgebung, wie sie unter Gundobad und
Sigismund thätig war, wurden die Titel der ersten Masse verhältnis-
mäſsig am wenigsten berührt. Wie viele Titel der zweiten Masse
ursprünglich im Liber constitutionum standen, läſst sich nicht mit
Sicherheit angeben. Nachdem die Novellengesetzgebung die Gesamt-
zahl der Titel auf 88 erhöht hatte, fügten einzelne Abschreiber der
geschlossenen Sammlung hinter Titel 88 teils neueste, teils veraltete
Gesetze hinzu.
Die herrschende Ansicht spricht sich dahin aus, daſs die Lex
Burgundionum eine mehrmalige amtliche Redaktion erfahren habe.
Eine zweite Redaktion soll noch König Gundobad selbst und zwar
bald nach 501, eine dritte König Sigismund am 29. März 517 publi-
ziert haben. Nur letztere sei uns überliefert. Allein die Gestalt, in
der die Lex vorliegt, der Mangel an systematischer Ordnung, die Fülle
von Widersprüchen, die Hinweisungen auf Gesetze, die in der Samm-
lung fehlen, lassen sich kaum als das Ergebnis einer einheitlichen
amtlichen Umarbeitung erklären. Für eine zweite Redaktion Gundo-
bads fehlt es an festen Anhaltspunkten 18. Und gegen Sigismunds
16
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 22
[338]§ 44. Die Lex Burgundionum.
angebliche Redaktion, welche auf eine der prima constitutio voraus-
gehende Notiz gestützt wird 19, fällt die Thatsache ins Gewicht, daſs
uns in Titel 52 der Lex ein Gesetz vom 29. März 517 erhalten ist,
worin Sigismund eine Lücke der früheren Gesetzgebung ausfüllen will,
indem er einem aus Anlaſs eines Rechtsfalles ausgesprochenen Urteile
Gesetzeskraft beilegt, ein Vorgang, der sich schwerlich mit der An-
nahme vereinigen läſst, daſs Sigismund an demselben Tage eine neue
Redaktion der Gesetzsammlung publiziert habe.
Die Lex Burgundionum wollte nicht bloſs für die Burgunder
gelten, sondern sollte auch bei Rechtshändeln zwischen Römern und
Burgundern zur Anwendung gelangen 20. Die Rechtsbeziehungen der
Römer unter einander regelte die Gundobada nicht; für sie blieb das
römische Recht in Geltung und wurde im burgundischen Reiche aus
römischen Rechtsquellen ein besonderes Rechtsbuch, die Lex Romana
Burgundionum, abgefaſst. Doch haben in die Gundobada einzelne
Konstitutionen Aufnahme gefunden, welche die Burgunder und die
Römer gemeinsamen Rechtssätzen unterwarfen und sonach die Be-
deutung eines allgemeinen burgundischen Reichsrechtes besaſsen 21.
Obzwar zur Zeit ihrer Abfassung kaum ein halbes Jahrhundert
seit der Verpflanzung der Burgunder nach Gallien verflossen war,
18
[339]§ 44. Die Lex Burgundionum.
zeigt die Lex doch bereits starke Einflüsse der römischen Kultur.
Ihre Rechtssätze haben vielfach ein verhältnismäſsig modernes Ge-
präge und entbehren jener frischen germanischen Ursprünglichkeit,
wie sie z. B. die um anderthalb Jahrhunderte jüngeren Gesetze der
Langobarden besitzen. Manche Bestimmungen sind dem römischen
Rechte entlehnt, so die Vorschriften über die Zahl der Testaments-
zeugen, über die Verjährungsfristen und die Anwendung der Inskriptio
bei Kriminalklagen 22. Die rechtliche Behandlung der Urkunde stammt
aus dem römischen Vulgarrechte. Mindestens zwei Stellen verraten
die Benutzung der römischen Interpretationslitteratur des fünften
Jahrhunderts 23.
Auffallend ist das Verhältnis, welches zwischen der burgundischen
und westgotischen Gesetzgebung obwaltet. Eine Reihe von Rechts-
sätzen der Gundobada und zwar von solchen, die ihr ursprünglich an-
gehörten, finden wir in verwandter Fassung in der Lex Wisigothorum
oder in Stellen der Lex Baiuwariorum, welche der westgotischen Ge-
setzgebung entlehnt sind 24, während andere sich im Wortlaut mit
Stellen der Lex Salica berühren, die vermutlich auf westgotischen
Einfluſs zurückgehen 25. Es müssen zur Zeit, da Gundobad die be-
treffenden Gesetze erlieſs, Konstitutionen des Westgotenkönigs Eurich
vorgelegen haben, die der burgundische Gesetzgeber zum Vorbilde
nahm. Denn das Verhältnis der Parallelstellen läſst vermuten, daſs
22*
[340]§ 45. Die Lex Frisionum.
nicht der westgotische Gesetzgeber aus der Gundobada, sondern der
burgundische aus westgotischen Vorlagen geschöpft hat 26.
Nach der Einverleibung Burgunds in das fränkische Reich blieb
die Lex Burgundionum in ungebrochener Geltung. Als ein Werk des
Arianers Gundobad erfuhr sie in der Regierungszeit Ludwigs des
Frommen einen Angriff von kirchlicher Seite. Bischof Agobard von
Lyon schrieb damals eine Streitschrift, worin er den fränkischen König
aufforderte, die Lex Gundobada zu beseitigen, zumal sie in Burgund
nur noch für wenige Personen gelte 27. Nichtsdestoweniger erhielt
sie sich für die burgundische Bevölkerung als die Grundlage ihres
persönlichen Rechtes. Da für die römischen Bewohner Burgunds
römisches, für die salischen salisches Recht galt, wurde das Personal-
recht der eigentlichen Burgunder, auch soweit es nicht durch Gesetz,
sondern durch Gewohnheit geregelt war, als Lex Gundobada be-
zeichnet. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn urkundliche
Zeugnisse des zehnten und elften Jahrhunderts die Anwendung der
Lex Gundobada als persönlichen Rechtes erwähnen 28.
Ausgaben: Die Lex ist uns nur aus Herolds Ausgabe der Volksrechte bekannt.
Im Anschluſs an Herold hat sie zuletzt v. Richthofen in den Mon. Germ. LL
III 631 ff. ediert. Einen Abdruck des Richthofenschen Textes, seiner Einleitung
und Anmerkungen gab Lintelo de Geer, Leeuwarden 1866.
Litteratur: v. Richthofen, Praefatio LL III a. O. De Geer, Über die Zu-
sammensetzung der Lex Frisionum, Z f. RG VIII 134 f. und holländisch im An-
hang zu seinem Textabdruck S 168 ff. Gaupp, Germanistische Abhandl. I: über
das Wergeld- und Buſsensystem der alten Lex Frisionum, 1853.
Die Lex Frisionum 1 unterscheidet drei Rechtsgebiete Frieslands,
nämlich Mittelfriesland von dem Flie, dem Ausfluſs der Zuidersee, bis
zur Laveke, Ostfriesland von der Laveke bis zur Weser und West-
friesland vom Flie bis zum Sinkfal (Zwin) nördlich von Brügge.
Der Grundtext der Lex 2 zerfällt in zwei Hauptbestandteile, die
eigentliche Lex in 22 Titeln und einen Abschnitt, der als Additio
sapientum bezeichnet ist. Zu letzterem gehören auch einige Kapitel
mit der Überschrift: Haec iudicia Wulemarus dictavit, welche von
Herold irrtümlich als ein Bestandteil der Lex Angliorum et Weri-
norum abgedruckt worden sind 3. Sowohl die Lex als auch die Additio
enthalten eingeschobene Stellen, die sich auf die Sonderrechte von
Ost- und Westfriesland beziehen 4.
Die das Recht der beiden Seitenlande betreffenden Zusätze sind
westlich von dem Flie abgefaſst, denn Westfriesland wird darin als
das Land cis Fli bezeichnet. Der Grundtext und seine Titelüber-
schriften enthalten etwa zwanzig deutsche Wörter, darunter keines,
welches auf die Mundarten Mittelfrieslands oder Ostfrieslands hin-
weist, wohl aber solche, die daraus nicht erklärt werden können 5,
sondern jenen fränkischen Dialekten zufallen, welche uns später in
Brabant, Holland und Seeland entgegentreten.
Das friesische Volksrecht hat keinen einheitlichen Charakter, sondern
enthält eine Reihe der heterogensten Bestimmungen. Einerseits finden
sich Rechtssätze, welche die Durchführung des Christentums voraus-
setzen, so das Verbot der Sonntagsarbeit, der Schutz des Kirchen-
[342]§ 45. Die Lex Frisionum.
friedens, die Vornahme des Losordals in der Kirche, der Eid auf die
Reliquien, das Verbot Unfreie an Heiden zu verkaufen und die Tren-
nung unerlaubter Ehen 6. Andrerseits begegnen uns Stellen, welche
eine volksrechtliche Anerkennung des Heidentums in sich schlieſsen.
So sagt Titel 5, daſs der Tempelschänder von jedermann, das neu-
geborne Kind von der Mutter buſslos getötet werden könne. Und
Titel 11 der Additio überliefert den ostfriesischen Rechtsbrauch, daſs
man den Tempelräuber ans Meer führen, ihm auf dem Sande, den
die Flut bespült, die Ohren schlitzen, ihn entmannen und dann den
Göttern opfern solle, deren Heiligtum er verletzt habe.
Verschiedenartiger Ursprung einzelner Teile der Lex ergiebt sich
aus der Mannigfaltigkeit der Münzverhältnisse 7 und aus der damit
zusammenhängenden Verschiedenartigkeit der Beträge, in welchen die
Wergelder der friesischen Stände angegeben sind 8.
Nach Fassung und Inhalt stellen sich einige Stücke als Privat-
arbeiten, andere als Satzungen, andere als Weistümer dar. Den
Charakter einer Privatarbeit hat Titel 2. Er giebt den Anstifter eines
Totschlags der Fehde preis, ohne eine Buſse anzuordnen, wenn der
Totschläger selbst zur Genugthuung herangezogen werden kann. Das
Volksrecht bot für diesen Fall eine Lücke dar. Die fränkische Gesetz-
gebung würde bei der grundsätzlichen Stellung, die sie zur Fehde
einnahm, diese Lücke ausgefüllt haben, während der Verfasser der
Rechtsaufzeichnung sich begnügen muſste, die Konsequenz des geltenden
Rechtes zu ziehen 9. Aus der Feder eines Privatmannes müssen auch
Titel 5 und Add. 11 geflossen sein, weil ihr heidnischer Inhalt den
christianisierenden Tendenzen der fränkischen Staatsgewalt wider-
spricht. Durch seine Fassung verrät sich Titel 14 als eine Aufzeich-
nung bestehenden Gewohnheitsrechtes 10.
Eine königliche Satzung liegt dem Titel 7 zu Grunde, wo es von
der Bestrafung des Mordbrenners heiſst: haec constitutio ex edicto
regio processit. Auf königliche Satzung geht wohl auch der Inhalt
der Titel 17—21 zurück, von welchen 17, 18 und 19 der Lex Ala-
mannorum 11, 20 und 21 der Lex Ribuaria nachgebildet sind 12. Die
der Lex Alamannorum entsprechende Strafe des neunfachen Wergeld-
simplum, welche Titel 17 auf die Tötung in curte ducis und auf die
Tötung des herzoglichen Missus setzt, scheint auf eine in den Jahren
743—751 entstandene Satzung hinzuweisen. Denn da im karolingischen
Friesland ein Herzog nicht mehr nachzuweisen ist 13, so erübrigt nur
bei dem dux der Lex Frisionum an den dux Francorum zu denken
und an die Zeit, in welcher sich die Söhne Karl Martells, Pippin und
8
[344]§ 45. Die Lex Frisionum.
Karlmann, nachweislich so benannten 14. Als Ergebnis volksrechtlicher
Satzung stellen sich die wichtigen Titel 1 und 22 dar. Titel 1 han-
delt von den Wergeldern der verschiedenen Stände, Titel 22 enthält
ein ausführliches Verzeichnis von Wundbuſsen. Der letztere ist jünger
als der erstere. Denn während Titel 1 neben dem Solidus nur den
Denar kennt und den Wergeldsätzen den Goldsolidus zu Grunde legt,
nennt Titel 22 den Tremissis und baut sein Buſssystem auf den Silber-
solidus 15. Die Anordnung der Buſsfälle und die Fassung einzelner
Stellen des Titel 22 deuten auf Benutzung der Lex Alamannorum
hin 16.
Eine Sammlung von Weistümern ist die sog. Additio sapientum.
Sie enthält Rechtssätze, welche von zwei Rechtsgelehrten Namens
Wulemar und Saxmund gewiesen wurden 17. Die Wundbuſsen ihrer
Weistümer sind zum gröſsten Teile erheblich höher, wie die in der
Lex. Einige Titel der Additio zeigen nahe Verwandtschaft mit der
Lex Alamannorum 18.
Als Ganzes betrachtet hat die Aufzeichnung des friesischen Volks-
rechtes den Charakter einer Privatkompilation von Rechtsquellen ver-
schiedener Entstehungsart und verschiedener Entstehungszeit. Scheinen
etliche Titel noch über die Mitte des achten Jahrhunderts hinaufzu-
reichen 19, so dürfte doch die Hauptmasse erst unter Karl dem Groſsen
entstanden sein, einiges vielleicht unter dem Einfluſs der Anregungen,
welche Karl zur Aufzeichnung der Volksrechte gab, etwa als Vor-
arbeit für eine amtliche Redaktion, die dann aus unbekannten Gründen
unterblieb. Jünger wie die Lex ist die Additio sapientum und sind
[345]§ 46. Die Lex Saxonum.
die das Recht der beiden Seitenlande betreffenden Zusätze. Doch
scheint die ganze Kompilation noch in fränkischer Zeit abgeschlossen
worden zu sein 20.
Ausgaben: Auf Grund verschollener Handschriften bei Herold und bei Du
Tillet (Tilius). Leges Saxonum ed. K. v. Richthofen in Mon. Germ. LL V 1.
Litteratur: K. v. Richthofen, Zur Lex Saxonum, 1868. Gaupp, Recht und
Verfassung der alten Sachsen, in Verbindung mit einer kritischen Ausgabe der Lex
Saxonum, 1837. Merkel, Lex Saxonum, 1853, Vorrede. Usinger, Forschungen
zur Lex Saxonum, 1867. De Geer in Nieuwe Bijdragen voor Rechtsgeleerdheid
NR II 3. Waitz, Verfassungsgeschichte III 157. 207 ff. Boretius in v. Sybels
Hist. Z XXII 148. v. Amira in derselben Z NF IV 305 ff.
Die Lex Saxonum, deren Text uns durch zwei Handschriften 1
und durch zwei ältere Drucke 2 überliefert ist, zerfällt in 66 Kapitel.
Die Kapitel 1—20 handeln von den Wundbuſsen und Wergeldern mit
besonderer Rücksicht auf die Stände des Adels und der Liten. Ihr
Inhalt hebt sich von dem nachfolgenden Teile der Lex dadurch ab,
daſs sie altsächsisches Recht enthalten und durchaus frei sind von
Spuren der fränkischen Herrschaft. Allein die Anordnung des Stoffes
läſst ersehen, daſs die Lex Ribuaria zum Vorbilde diente, ja in ein-
zelnen Stellen ist sogar deren Wortfassung benutzt 3. Die Kapitel
[346]§ 46. Die Lex Saxonum.
21—65 betreffen die todeswürdigen Verbrechen, das Ehe- und Erbrecht
(mit gelegentlicher Unterscheidung des Rechtes der Ostfalen, Westfalen
und Engern), die Haftung für Unfreie und für den Zufall und die
Veräuſserungen. Das Schluſskapitel stellt Werttaxen für Buſszahlungen
auf, welche in zwei Texten durch jüngere Zusätze ergänzt sind 4. Die
Kapitel 51—53 schlieſsen sich in Bezug auf Inhalt und Wortlaut an
einen Zusatz zur Lex Ribuaria an 5, welcher im Jahre 803 auf Wunsch
der Ribuarier von Karl dem Groſsen genehmigt worden war, um die
Haftung der Herren für flüchtig gewordene Knechte zu beschränken 6.
Neben der Lex Saxonum besitzen wir zwei Kapitularien, welche
Karl der Groſse für Sachsen erlieſs, die Capitulatio de partibus
Saxoniae und das Capitulare Saxonicum. Jene ist nicht datiert und
verdankt ihre Entstehung vermutlich einer im Juli 782 unter Teil-
nahme von Sachsen zu Lippbrunnen abgehaltenen Reichsversammlung 7.
Sie führt für die damals unterworfenen sächsischen Gebiete eine Art
standrechtlichen Zustandes ein, indem sie die Annahme und die Auf-
rechthaltung des Christentums, die Unterdrückung des Heidentums und
die fränkische Herrschaft durch Strafen grausamer Härte sicherzustellen
sucht. Das Capitulare Saxonicum enthält die Beschlüsse eines 797
zu Aachen abgehaltenen Reichstages, an welchen auch Ostfalen, West-
falen und Engern teilgenommen hatten.
Ob die Lex Saxonum ein einheitliches Gesetz oder aus mehreren
Satzungen zusammengesetzt sei, ist eine Streitfrage 8. De Geer will
[347]§ 46. Die Lex Saxonum.
fünf, Merkel9 will drei verschiedenartige Bestandteile unterscheiden.
v. Richthofen verficht den einheitlichen Charakter der Lex. Boretius
tritt für die Teilung derselben in zwei Satzungen ein, indem er die
Kapitel 1—20 in die Zeit vor der fränkischen Herrschaft setzt. Die
Gründe, die für Zusammensetzung der Lex aus mehreren Satzungen
geltend gemacht werden, sind nicht durchschlagend 10. Der selb-
ständige Inhalt der ersten 20 Kapitel mag darauf beruhen, daſs das
altsächsische Kompositionenrecht etwa im Wege des Weistums fest-
gestellt wurde, um auf Verlangen des sächsischen Adels in die Lex
aufgenommen zu werden.
Die Frage nach der Entstehungszeit der Lex, die wir sonach als
das Ergebnis einer einzigen Satzung betrachten, beantwortet sich
durch ihr Verhältnis zum Capitulare Saxonicum von 797. v. Richt-
hofen hält die Lex für älter und kommt zu dem Schlusse, daſs sie
zwischen 777 11 und 797, vielleicht 785 abgefaſst worden sei. Da-
gegen hat Waitz geltend gemacht, daſs die Lex später entstanden
sei als das Kapitular von 797. Entscheidend sind zu Gunsten dieser
Ansicht die Rechtssätze, welche das Kapitular einerseits, die Lex
andererseits über die Brandstiftung enthält 12. Das Kapitular gestattet
den Hausbrand, soweit er „commune consilio“ wegen Ungehorsams
gegen ein gerichtliches Urteil verhängt wird, verbietet dagegen die
eigenmächtige Brandstiftung bei der Bannbuſse von 60 solidi. Die
Lex Saxonum setzt auf die Brandstiftung, welche jemand eigenmächtig
„suo tantum consilio“ begangen hat, die Todesstrafe. Daſs diese
nachmals Rechtens geblieben ist, zeigt ein jüngerer Zusatz zum
sächsischen Volksrecht, der sie durch die lex loci delicti commissi
ersetzt, wenn das Verbrechen von einem Sachsen auſserhalb Sachsens
verübt worden war 13. Bannbuſse und Todesstrafe schlieſsen sich
[348]§ 46. Die Lex Saxonum.
gegenseitig aus, zumal mit der letzteren die Einziehung des Ver-
mögens verbunden war. Wenn es nun auch höchst wahrscheinlich
ist, daſs das sächsische Recht schon in vorfränkischer Zeit die Brand-
stiftung mit dem Tode bestrafte 14, so muſs sie damals doch noch bei
rechtmäſsiger Fehde erlaubt gewesen sein. Wie das Leben des
Missethäters, so war nach altsächsischem Rechte auch sein Gut der
Rache des Feindes ausgesetzt. Den Fall der eigenmächtigen, aber
nach Volksrecht straflosen Brandstiftung wollte das Kapitular durch
die Buſse treffen. Die Lex Saxonum ging noch weiter, sie gab dem
Rechtssatze, welcher die Brandstiftung auch im Fall der Fehde ver-
bot, volksrechtliche Sanktion, indem sie jegliche eigenmächtige Brand-
stiftung mit dem Tode bedrohte und zwar aus demselben Gesichts-
punkte, aus welchem sie in c. 27 eine andere Rachethat, nämlich die
Tötung des faidosus in seinem eigenen Hause, für ein todeswürdiges
Verbrechen erklärte.
Sowohl das Kapitular von 797 als die Lex enthalten Werttaxen
für die Zahlung von Buſsen. Während das Kapitular gleich der
älteren Capitulatio nur den fränkischen Solidus zu 12 Denaren oder
drei Tremissen kennt, unterscheidet die Lex von diesem Solidus den
kleineren sächsischen Solidus, welcher aus acht Denaren oder zwei
Tremissen bestand. Nach dem Kapitular werden sowohl ein zwölf-
monatliches als auch ein sechzehnmonatliches Rind zu drei Tremissen
veranschlagt 15, während die Lex das erstere zu zwei, das letztere zu
drei Tremissen schätzt. Die Werttaxe der Lex muſs, weil sie genauer
ist, für jünger angesehen werden, wie die des Kapitulars 16.
Gegen das höhere Alter der Lex spricht die Verwandtschaft von
c. 51—53 mit c. 5 des Capitulare legi Ribuariae additum von 803.
Der Rechtssatz, daſs der Herr sich mit seinem Eid entreden dürfe,
wenn er den wegen einer Missethat entflohenen Knecht nicht aufzu-
finden vermag, kann nicht aus dem sächsischen Rechte in das
ribuarische aufgenommen worden sein, denn diese Voraussetzung
würde dem sonst wahrnehmbaren Verhältnis der fränkischen Rechte
[349]§ 47. Die Lex Angliorum et Werinorum.
zu den Rechten der unterworfenen Stämme schlechterdings wider-
sprechen. Da die Benutzung der Lex Ribuaria für die Abfassung des
sächsischen Volksrechtes auſser Zweifel steht, ist es mehr wie wahr-
scheinlich, daſs man bei dieser Gelegenheit auch die Ergänzung be-
rücksichtigte, welche das ribuarische Volksrecht durch das Kapitular
von 803 erhielt. Hat sich aus den obigen Ausführungen ergeben,
daſs die Lex Saxonum jedenfalls nicht vor dem Jahre 797 entstanden
sei, so zeigt ihr Verhältnis zum ribuarischen Kapitulare, daſs sie
nicht älter sein kann als dieses. Das von 803 datierte Kapitular zur
Lex Ribuaria ist vermutlich schon auf dem im Oktober 802 zu
Aachen abgehaltenen Reichstage beschlossen worden. Es ist nicht
unwahrscheinlich, daſs auch die Lex Saxonum auf diesem Reichstage
zustande gekommen sei 17.
Von den Ausgaben kommt neben dem Heroldschen Drucke nur noch die
des jüngeren v. Richthofen in Mon. Germ. LL V 103 ff. in Betracht.
Litteratur: Gaupp, Das alte Gesetz der Thüringer oder die Lex Angl. et Wer.
hoc est Thuringorum in ihrer Verwandtschaft mit der Lex Salica und Lex Ripuaria
dargestellt, 1834. H. Müller, Der Lex Salica und der Lex Angl. et Wer. Alter
und Heimat, 1840. K. v. Richthofen, Zur Lex Saxonum, Beil. 5: das sächs. Nord-
thüringen und die Lex Thuringorum, S 394 ff. K. F. v. Richthofen, Praef. in
LL V 103 ff. v. Amira in v. Sybels Hist. Z NF IV 310 ff. R. Schröder, Zur
Kunde deutscher Volksrechte, Z2 f. RG VII 19.
Von dem Volksrechte der Angeln und Warnen sind uns zwei
Texte überliefert, der eine in Herolds Ausgabe der Volksrechte, der
andere in einer Corveier Handschrift 1. Herold bringt es unter der
Überschrift: Lex Angliorum et Werinorum hoc est Thuringorum. Als
Lex Thuringorum ist es in dem Corveier Kodex überschrieben. Die
Spur einer dritten Handschrift, in der das Volksrecht als Lex Werinorum
[350]§ 47. Die Lex Angliorum et Werinorum.
i. e. Thuringorum bezeichnet war, ist uns in einer anglo-normannischen
Rechtsaufzeichnung erhalten, welche in England gegen Ende des
elften oder im Laufe des zwölften Jahrhunderts entstanden sein
dürfte 2.
Die Heimat der Lex ist jener Teil Thüringens, welcher von den
Stämmen der Angeln und Warnen bewohnt war. Der Name der
Angeln, die im Gebiete der Unstrut saſsen, hat sich in dem südlich
der Unstrut gelegenen pagus Engili oder Engleheim erhalten, welcher
uns in Urkunden des neunten und zehnten Jahrhunderts begegnet. Noch
jetzt weist eine Anzahl thüringischer Ortsnamen auf die einstigen Sitze
der Angeln 3. Östlich von ihnen saſsen die Warnen, nach welchen
die Landschaft zwischen Saale und Elster zu Anfang des neunten
Jahrhunderts als Werenofeld bezeichnet wurde 4. Zur Zeit des Ost-
gotenkönigs Theoderich bildeten sie ein selbständiges Königreich 5,
scheinen sich aber noch vor dem Sturze des Thüringerreiches diesem
angeschlossen zu haben. Von den Franken unterworfen, empörten
sie sich gegen Childebert II., wurden aber durch ein fränkisches Heer
besiegt und nahezu aufgerieben 6. Die Überschrift der Lex Thuringorum
[351]§ 47. Die Lex Angliorum et Werinorum.
ist das letzte Zeugnis ihrer Existenz. Im neunten Jahrhundert wurden
ihre Sitze von den Sorben überflutet. Sie mögen teils in diese, teils
wie die Angeln in die Thüringer aufgegangen sein 7.
Die anglo-warnische Lex ist in freier Anlehnung an die Lex
Ribuaria abgefaſst worden. Die Verwandtschaft zeigt sich haupt-
sächlich in der Anordnung des Stoffes 8 und in der Formulierung der
Thatbestände. Nicht ebenso oft in den Rechtssätzen, denn trotz der
Gleichartigkeit der Vordersätze, welche den Thatbestand enthalten,
sind die Nachsätze, in welchen die Buſsen festgesetzt werden, häufig
verschieden. Wahrscheinlich liegen der Abfassung der Lex Angliorum
Weistümer zu Grunde, welche über das anglo-warnische Recht in
Anlehnung an die Stoffverteilung der Lex Ribuaria abgefragt und im
Anschluſs an den Wortlaut der Ribuaria aufgezeichnet worden sind.
An einzelnen Stellen wird in der Lex Angliorum auf solche Recht-
weisungen ausdrücklich Bezug genommen 9. Unter den Rechts-
ausdrücken, welche sie mit dem ribuarischen Volksrechte gemein hat,
fallen das capitale und die delatura auf, die sonst nur bei den
fränkischen Stämmen zu Hause sind. In Titel 1 wird das Wergeld
des Freien wie in der Lex Ribuaria mit Einrechnung des Friedens-
geldes auf 200 solidi angesetzt, wogegen die Wergeldsätze des Frei-
gelassenen und des noch nicht gebärfähigen freien Weibes in c. 45
und c. 49 ersehen lassen, daſs bei den Angeln und Warnen ebenso
6
[352]§ 47. Die Lex Angliorum et Werinorum.
wie bei den Oberdeutschen das Wergeld des Freien 160 solidi be-
trug und daneben das Friedensgeld als ein fixer Betrag von 40 solidi
entrichtet wurde 10.
Die Lex Angliorum ist auch mit der Lex Saxonum verwandt.
Diese Verwandtschaft beruht zum groſsen Teile darauf, daſs die Lex
Ribuaria auch bei Abfassung des sächsischen Volksrechtes zu Grunde
gelegt worden ist. Es finden sich aber in der Lex Angliorum ver-
einzelte Anklänge an die Lex Saxonum, die nicht auf die gemeinsame
Benutzung der Lex Ribuaria zurückgeführt werden können 11. Und
in einigen Stellen lehnt sich die Fassung der Lex Angliorum näher
an die Lex Saxonum als an die Ribuaria an 12.
Eigentümlich ist das Ständewesen bei den Anglo-Warnen geartet.
Sie haben wie die Sachsen einen Adel, der den Ribuariern fehlt.
Dagegen wird der bei den Sachsen und Ribuariern vorhandene Stand
der Liten nirgends genannt. Im Gebiete des Erbrechts überliefert
uns die Lex Angliorum das älteste sichere Zeugnis über die Rechts-
institute, welche später unter den Namen Heergeräte und Gerade
weite Verbreitung genieſsen. Von der Kirche und von kirchlichen
Einrichtungen schweigt sie, enthält aber auch nichts, was dem
Christentum zuwiderliefe.
Neben niederdeutschen Wörtern, die sie mit der Lex Ribuaria
oder Saxonum gemein hat 13, enthält die Lex Angliorum zweifellos alt-
hochdeutsche Wortformen 14, welche den Gedanken an eine nieder-
deutsche Heimat des Volksrechtes ausschlieſsen 15.
Die Lex stammt aus karolingischer Zeit, denn sie kennt die
fränkische Bannbuſse von 60 solidi, welche Karl der Groſse bei den
verschiedenen nichtfränkischen Stämmen zur Geltung brachte. Wahr-
scheinlich ist sie gleichzeitig mit der sächsischen, also in den Jahren
802 oder 803 entstanden. Wenigstens würde sich dadurch die Verwandt-
schaft der beiden Leges, soweit sie über die gemeinschaftliche Be-
nutzung der Lex Ribuaria hinausgeht, am einfachsten erklären.
Herausgegeben als Lex Francorum Chamavorum von R. Sohm in Mon. Germ.
LL V 269 und in dessen Handausgabe der Lex Rib. S 111 ff.
Litteratur: Pertz, Über das Xantener Recht, Abhandl. der Berliner Akademie
1846 S 411 ff. Gaupp, Lex Francorum Chamavorum oder das vermeintliche
Xantener Gaurecht, 1855. Zöpfl, Die Ewa Chamavorum, ein Beitrag zur Kritik
und Erläuterung ihres Textes, 1856. R. Schröder, Untersuchungen zu den fränk.
Volksrechten, Festschrift für Thöl 1879; in Picks Monatsschrift für die Geschichte
Westdeutschlands 1880, VI 492 und Z2 f. RG II 47. Sohm, LL V praef. S 269.
Eine Rechtsaufzeichnung, die uns in 48 knapp gefaſsten Kapiteln
überliefert ist 1, trägt die Überschrift: Notitia vel Commemoratio de
illa ewa, quae se ad Amorem habet. In den Kapiteln 26 und 28
wird von Diebstählen gehandelt, welche in Amore begangen worden
sind. Gemeint ist damit das Gebiet der chamavischen Franken.
Nach ihnen heiſst im neunten Jahrhundert das am Niederrhein und
an der Yssel gelegene Hamaland. Die Ewa setzt voraus, daſs ihr
Geltungsgebiet in mehrere Grafschaften und Gaue zerfiel. Sachsen
und Friesen erscheinen darin als Nachbarn der Chamaven. Sie kann
daher nicht auf den pagus Hamaland im engeren Sinne beschränkt
gewesen sein, sondern hat ihre Herrschaft auf die westlich gelegenen
Gaue Felwe und Flethetti, vielleicht auch auf die Landschaften Twente
und Drente erstreckt 2.
Die Bewohner des Amorelandes rechnen sich zu den Franken 3
und zwar müssen sie ribuarische Franken gewesen sein, denn eine
Urkunde des Jahres 855 bezeugt, daſs im Hamalande ribuarisches Recht
gegolten hat 4.
Die Notitia de ewa Chamavorum ist nicht eine Satzung, sondern
die Aufzeichnung eines Weistums, welches auf Anfrage königlicher
Missi über das Sonderrecht der chamavischen Franken abgegeben
worden ist. Die Fassung einzelner Kapitel läſst Frage und Antwort
deutlich erkennen 5.
Die den Königsbann betreffende Anfrage in c. 2 und der könig-
liche missus qui in missatico directus fuerit in c. 8 stellen es auſser
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 23
[354]§ 49. Die Lex Romana Burgundionum.
Zweifel, daſs die Lex in karolingischer Zeit entstanden sei. Wahr-
scheinlich hängt die über das Chamavenrecht vorgenommene In-
quisitio mit der legislativen Thätigkeit zusammen, welche Karl der
Groſse in den Jahren 802 und 803 entfaltete, so daſs die Ewa
Chamavorum um dieselbe Zeit wie die Lex Saxonum und die Lex
Angliorum aufgezeichnet worden sein dürfte 6.
Herausgegeben als Papiani liber responsorum im Anschluſs an den Codex Theo-
dosianus vermutlich nach einer Handschrift P. Pithous von Cujacius 1566, als Lex
Romana Burgundionum mit reichhaltigem Kommentar, aber nur nach den älteren
Drucken von Barkow 1826, als Lex Romana Burgundionum, Papianus vulgo dictus
auf Grund umfassender Vergleichung der Handschriften von Bluhme, Mon. Germ.
LL III 579 ff.
Litteratur: Die Vorreden Barkows und Bluhmes in ihren Ausgaben. v. Sa-
vigny, Gesch. des römischen Rechts II 9, VII 30. Bluhme, Über den burgun-
dischen Papianus, im J des gemeinen deutschen Rechts II 197 ff. Reich an treffen-
den Bemerkungen ist Ginoulhiac, Des recueils de droit romain dans la Gaule
u. s. w., in der Revue historique de droit français et étr. II 1856 S 539 ff. Kar-
lowa, Römische Rechtsgeschichte I 983.
Als König Gundobad die Lex Burgundionum publizierte, verhieſs
er in der prima constitutio dieses Gesetzbuchs den Römern ein be-
sonderes Rechtsbuch, eine „forma et expositio legum conscripta“. Die
Lex Romana Burgundionum, welche in Erfüllung dieses Versprechens
verfaſst wurde, stellt sich, wie schon oben S 335 bemerkt worden ist,
äuſserlich als eine Nachbildung der Lex Gundobada dar. Sie ist
augenscheinlich in der Weise ausgearbeitet worden, daſs man zu
dem Inhalte der Gundobada passende Parallelstellen aus römischen
Rechtsquellen suchte. Die in der Gundobada für die Burgunder
geregelten Rechtsfälle sollten in der Lex Romana für die Römer ge-
regelt werden, indem man der Gundobada einen Auszug aus den
römischen Rechtsquellen an die Seite stellte. Von den 47 Titeln der
Lex Romana stellen sich die meisten als Paralleltitel der Gundobada
dar. Von Titel 37 ab hat die Lex Romana sieben selbständige Titel 1.
Dagegen sind zahlreiche Titel der Gundobada in der Lex Romana
nicht vertreten, entweder weil sie Konstitutionen enthalten, die von
[355]§ 49. Die Lex Romana Burgundionum.
vorneherein auch für die Römer erlassen wurden 2, oder weil ein
ihnen entsprechender Rechtssatz in den römischen Quellen nicht vor-
lag 3, oder weil der betreffende Titel zur Zeit der Abfassung der
Lex Romana in der Gundobada noch nicht vorhanden war, sondern
erst durch die jüngere Novellengesetzgebung in dieselbe eingefügt
worden ist.
Die Lex Romana hat nicht sowohl den Charakter eines Gesetz-
buchs als den einer Instruktion; sie führt nicht neue Rechtssätze ein,
sondern stellt nur bereits geltende Rechtssätze zusammen; sie ist
mehr in belehrendem als in befehlendem Tone gehalten 4. Der König
tritt darin nirgends als selbstredend auf 5.
Der römisch-rechtliche Apparat, den die Redaktoren exzerpierten,
bestand aus dem Codex Theodosianus, aus posttheodosianschen Novellen,
aus dem Codex Gregorianus und Hermogenianus, aus Paulus’ Sententiae,
aus der Interpretationslitteratur zum Codex Theodosianus und zu Paulus
und aus einer der Schriften des Gaius 6. Die Rechtssätze, welche den
genannten Vorlagen nicht entlehnt sind, gehen entweder auf römisches
Vulgarrecht 7 oder auf burgundische Königsgesetze zurück, welche in
der Lex Gundobada enthalten sind und von vorneherein sowohl für
die Burgunder als auch für die Römer bestimmt waren 8. Auf ein
bloſs für die Römer erlassenes Königsgesetz bezieht sich Titel 2 hin-
sichtlich des Wergeldes der freien Römer. Da das römische Recht,
so heiſst es daselbst, nichts bestimmt habe de pretiis occisorum, so
habe der König festgesetzt, daſs der Totschläger, der das kirchliche
23*
[356]§ 49. Die Lex Romana Burgundionum.
Asyl gewonnen, mit der Hälfte seines Vermögens den Erben des Er-
schlagenen zugesprochen werde 9.
Die Lex Romana Burgundionum ist unter der Regierung des
Königs Gundobad abgefaſst worden. In Titel 2 werden die Buſsen
für Tötung von Unfreien auf ein „praeceptum domini regis“ zurück-
geführt. Der König, von dem es herrührt, kann, wie sich aus
Gundobada Titel 10 und 50 ergiebt, nur Gundobad gewesen sein.
Die burgundische Lex Romana ist wahrscheinlich älter als die west-
gotische, weil eine Benutzung der letzteren nicht stattgefunden hat 10.
Sie ist jünger als die Gundobada, nach deren Vorbild sie abgefaſst
wurde. Daſs sie nach ihrer ursprünglichen Abfassung revidiert worden
sei, läſst sich nicht nachweisen 11. Die Verfasser der Lex sind uns
unbekannt 12.
Ihr juristischer Wert darf nicht unterschätzt werden. Als Seiten-
stück zur Gundobada ist sie nicht ohne Geschick angelegt. Eine er-
schöpfende Darstellung des römischen Rechtes zu bieten, war nicht
ihre Absicht. Sie wollte nicht, wie die Lex Romana Wisigothorum,
die Anwendung der römischen Rechtsquellen entbehrlich machen,
sondern für die dringendsten Bedürfnisse des Rechtslebens einen kurz
gefaſsten Leitfaden abgeben.
So lange das westgotische Breviarium in Burgund nicht bekannt
war, muſste man für das neben der Lex Romana geltende römische
Recht auf die Sammlungen der römischen Konstitutionen und auf die
juristische Litteratur zurückgehen 13. Dieser Mühe enthob man sich,
[357]§ 49. Die Lex Romana Burgundionum.
als die Lex Romana Wisigothorum (das sog. Breviarium) vorlag,
indem man nunmehr letztere als Quelle des römischen Rechtes be-
nutzte. Die Lex Romana Burgundionum nahm dann neben dem
Breviarium dieselbe Stellung ein, die sie früher neben den reinen
Quellen des römischen Rechtes eingenommen hatte. Sie wurde daher
in den Handschriften dem Breviarium häufig als Anhang hinzugefügt.
Dieser Verbindung verdankt sie die miſsverständliche Bezeichnung
„Papianus“. Das Breviarium schlieſst mit einer kurzen Stelle
aus Papinian, welche überschrieben ist: Incipit Papiniani liber I.
responsorum. Man bezog die Überschrift auch auf die handschriftlich
unmittelbar nachfolgende Lex Romana Burgundionum und nannte sie
Papianus 14. Der Irrtum ist uralt, denn jene Bezeichnung findet sich
schon in Handschriften des neunten Jahrhunderts, die von einander
unabhängig sind 15.
In den von den Ostgoten erworbenen Gebieten der burgundischen
Provence wurde das Edikt des Ostgotenkönigs Theoderich eingeführt,
von welchem in § 52 die Rede sein wird. Hier hat man, wie es
scheint, mit dem Edictum die das Wergeld der Römer betreffende
Satzung Gundobads in handschriftliche Verbindung gebracht, jene
Satzung, welche im zweiten Titel der Lex Romana Burgundionum
enthalten ist 16. Daraus mag der Irrtum hervorgegangen sein, daſs
jene Satzung von König Theoderich herrühre. Denn später haftet an
ihr der Name Theoderichs. Eine Handschrift der Lex Romana
Wisigothorum, welche den Titel 2 des Papianus hinter der Inter-
pretatio zu einer Novelle Valentinians III. einschob 17, nennt als Ver-
fasser den dominus noster Theodericus, bezeichnet diesen aber als
13
[358]§ 50. Die Lex Romana Wisigothorum.
rex Francorum, vermutlich weil die Einschiebung in der Zeit der
fränkischen Herrschaft erfolgte, unter welcher die Beziehung auf den
ostgotischen Theoderich unverständlich geworden war.
Herausgegeben von G. Haenel, Lex Romana Visigothorum, 1849.
Zur Litteratur: Haenels Prolegomena. v. Savigny, Gesch. des röm. Rechts II
37 ff. Karlowa, Röm. Rechtsgesch. I 976. Fitting, Über einige Rechtsquellen
der vorjustinianischen spätern Kaiserzeit, Z f. RG X 317, XI 222.
Im westgotischen Reiche lebten bis zur Mitte des siebenten Jahr-
hunderts die Westgoten nach gotischem, die Römer nach römischem
Rechte. Nachdem Eurich den Goten ein Gesetzbuch gegeben, lieſs
sein Nachfolger Alarich II., der mit Rücksicht auf den drohenden
Angriff der Franken 1 ein Interesse hatte, den römischen Provinzialen
entgegenzukommen, für diese eine umfassende Rechtssammlung her-
stellen. Nachrichten über die Ausführung dieses Unternehmens ent-
hält ein königliches Dekret, mit welchem die vollendete Lex Romana
an die einzelnen Grafen des Reiches versendet wurde 2. Aus dem-
selben geht hervor, daſs Alarich eine Kommission von Rechts-
verständigen einsetzte, welche durch Exzerpierung und Erläuterung
römischer Rechtsquellen ein Rechtsbuch herstellen sollte. Nachdem
dieselbe ihr Werk im Jahre 506 zu Aire in der Gascogne vollendet
hatte, wurde es einer Versammlung von Bischöfen und Provinzialen
zur Zustimmung vorgelegt und von ihr genehmigt. Von dem im
königlichen Schatz aufbewahrten Original lieſs man Abschriften
nehmen, welche mit der Beglaubigung des königlichen Referendars
[359]§ 50. Die Lex Romana Wisigothorum.
Anianus versehen, nach Anordnung des Grafen Gojarich an die
richterlichen Beamten verschickt wurden. Das königliche Dekret,
welches vom Jahre 506 aus Toulouse datiert ist, gebietet, daſs nur
nach diesem Rechtsbuche und nicht nach anderen römischen Rechts-
quellen geurteilt werden dürfe.
Alarichs Rechtsbuch hat keine offizielle Bezeichnung. Die be-
glaubigende Unterschrift des Referendars Anianus nennt es Codex de
Theodosiani legibus atque sententiis iuris vel diversis libris electus.
In den Handschriften heiſst es Liber legum (Romanarum), Lex Romana,
Lex Theodosii, Corpus legum. Seit dem sechzehnten Jahrhundert ist
dafür die Bezeichnung Breviarium üblich geworden.
Die Redaktoren des Breviars, sicherlich Römer, befolgten eine
exzerpierende und kompilierende Methode, welche einigermaſsen mit
derjenigen verwandt ist, die später Justinian bei Abfassung der Pan-
dekten und des Kodex anwenden lieſs. Der römische Rechtsstoff zerfiel
zur Zeit der Entstehung des Breviars in zwei Hauptmassen, nämlich
in ius und leges, ein Gegensatz, der etwa dem des englischen common
law und statute law entspricht 3. Das ius bestand in den Schriften der
römischen Juristen und in den älteren Konstitutionensammlungen; als
leges faſste man die Konstitutionen des Codex Theodosianus und die
posttheodosianischen Novellen zusammen. Die Redaktoren des Breviars
stellten an die Spitze ihres Werkes eine Auswahl von Konstitutionen des
Codex Theodosianus, dessen 16 Bücher ungefähr auf ein Sechstel ihres
Umfanges reduziert wurden. Es folgen Novellen von Theodosius II.,
Valentinian III., Marcian, Majorian und Severus. Die jüngste stammt
vom Jahre 463 4. Das ius ist viel spärlicher vertreten, nämlich durch
den Liber Gaii, eine um die Wende des vierten und fünften Jahr-
hunderts vermutlich in Rom entstandene Bearbeitung des Gaius,
welche die noch praktisch geltenden Sätze mit Ausscheidung alles
Historischen zusammenstellte, ferner durch die Sententiae des Paulus,
durch 22 Konstitutionen aus dem Codex Gregorianus, zwei Kon-
stitutionen aus dem Codex Hermogenianus und endlich durch eine
kleine Stelle aus den Responsen Papinians.
Abgesehen vom Liber Gaii ist die ganze Kompilation mit einer
fortlaufenden Glosse versehen, die sich als interpretatio bezeichnet.
[360]§ 50. Die Lex Romana Wisigothorum.
Die Erläuterungen zu den Konstitutionen sind in der Hauptsache
Inhaltsangaben. Die Interpretation der Sententiae des Paulus hat den
Charakter einer Paraphrase. Bis vor kurzem war man der Ansicht,
daſs die Interpretatio von den Redaktoren des Breviars verfaſst wor-
den sei, und man hat sie wegen dieser wohlgelungenen Arbeit mit
reichlichen Lobsprüchen bedacht. Allein die Wagschale ihres Ver-
dienstes ist durch die neuesten Untersuchungen 5 erheblich leichter
geworden; denn es ist nunmehr anzunehmen, daſs die Redaktoren
des Breviars die Interpretatio zum gröſsten Teile nicht selbst aus-
gearbeitet, sondern bereits vorgefunden haben und zwar in Schriften,
welche im Laufe des fünften Jahrhunderts zum Zwecke des juristischen
Unterrichts verfaſst worden waren.
Die Kompilatoren lieſsen sich bei der Zusammenstellung des
Breviars von wesentlich praktischen Gesichtspunkten leiten. Da die
Sammlung für die römische Bevölkerung des westgotischen Reiches
bestimmt war, muſsten zahlreiche Stellen der benutzten Vorlagen
als unpassend übergangen werden. So ist z. B. aus dem Codex
Theodosianus eine Reihe von Titeln, die das römische Ämterwesen
betreffen, ist mit Rücksicht auf den Arianismus der Westgoten der
Titel de fide catholica und der Titel de haereticis nicht aufgenommen
worden. Änderungen in der Reihenfolge der Rechtssätze unterlieſs
man, indem man auf eine systematische Anordnung der Exzerpte
schlechtweg verzichtete.
Im westgotischen Reiche wurde das Breviarium von König
Reckessuinth zu Gunsten der Rechtseinheit auſser Kraft gesetzt 6.
Allein es erhielt sich nicht nur als Quelle des römischen Rechtes in
einstmals westgotischen Bestandteilen des fränkischen Reiches 7, son-
dern es wurde dank seiner Brauchbarkeit in der fränkischen Monarchie
mit Ausnahme Italiens allenthalben von der römischen Bevölkerung
und von der Kirche als römisches Rechtsbuch schlechtweg benutzt.
Soweit in Gesetzen, Sammlungen und juristischen Schriften Frank-
reichs, Deutschlands und Englands römisches Recht benutzt worden
ist, liegt bis in das zwölfte Jahrhundert hinein regelmäſsig das
Breviarium zu Grunde. Erst seit dem zwölften Jahrhundert beginnen
es hier die Rechtsbücher Justinians zu verdrängen.
Auf Grundlage des Beviariums entstand eine juristische Litteratur,
welche sich bestrebte, den darin enthaltenen Stoff in eine knappere
[361]§ 51. Die Lex Rom. Cur. und die Cap. Remedii.
Form zu gieſsen und den für die Praxis unbequemen Dualismus von
Text und Interpretatio zu beseitigen. Unter diesem Gesichtspunkte
wurden zahlreiche Auszüge aus dem Breviarium verfaſst. Solcher
Auszüge, die sich zumeist der Interpretatio anschlieſsen, sind uns aus
dem achten und neunten Jahrhundert sechs erhalten. Die meiste
Verbreitung scheint die Epitome Aegidii genossen zu haben 8. Sie
muſs schon um die Mitte des achten Jahrhunderts vorhanden gewesen
sein, weil sie in einigen Formeln der Formelsammlung von Tours
benutzt worden ist 9. Bei der Art, wie sie ihre Vorlage wiedergeben,
sind die Auszüge aus dem Breviar eine beachtenswerte Quelle für die
Erkenntnis des römischen Vulgarrechtes.
Ausgaben: Nach der Handschrift von Udine (jetzt Univ.-Bibl. zu Leipzig, Cod. 3493)
bei Canciani, Barbarorum Leges IV 461, nach diesem bei Walter, Corpus iur.
germ. III 691. Nach den zwei schweizerischen Handschriften bei Haenel, Lex
Romana Visigothorum, neben dem Breviar und dessen epitomae und bei Planta,
Das alte Rätien, 1872, S 452. Eine kritische Ausgabe wird für die Mon. Germ. von
K. Zeumer vorbereitet. Cap. Remedii hg. von Haenel, LL V 180.
Litteratur: Savigny, Gesch. d. röm. Rechts I 426 f., VII 26. Haenel, Lex Rom.
Visig. proleg. S XXXI. LXXXIII. Bethmann-Hollweg, Ursprung d. lomb. Städte-
freiheit, 1846, S 28. Hegel, Gesch. d. Städteverfassung v. Italien, 1847, II 104 f.
Stobbe, De lege Romana Utinensi, 1853. Francesco Schupfer, La Legge
Romana Udinese, 1881 Atti della reale Ac. dei Lincei ser. 3, mem. della classe
di scienze morali vol. VII; derselbe, Nuovi studi sulla legge Rom. Udinese, 1882
a. O. vol. X. R. Wagner, Zur Frage nach der Entstehung und dem Geltungs-
gebiet der Lex Rom. Ut., in Z2 f. RG IV 54. Brunner ebendaselbst S 263 f.
v. Salis, Lex Romana Curiensis, in Z2 f. RG VI 141.
Die Lex Romana Curiensis stellt sich äuſserlich als ein Auszug
aus der Lex Romana Wisigothorum dar, welcher den gesamten Stoff
derselben in 27 Bücher verteilt. Sachlich hat sie aber den Charakter
eines selbständigen Rechtsbuches, denn sie enthält nicht bloſs Ab-
änderungen ihrer Vorlage, sondern auch Rechtssätze, die von derselben
völlig unabhängig sind. Die Abweichungen von der Lex Romana
Wisigothorum beruhen zum Teil auf römischem Vulgarrecht, zum
Teil führen sie auf deutsches, insbesondere auf fränkisches Recht
zurück. Die Sprache der Lex wimmelt von Germanismen und ist
[362]§ 51. Die Lex Romana Curiensis
nicht frei von Ausdrücken, welche der fränkischen Rechtsterminologie
angehören.
Streitig ist das Geltungsgebiet, streitig der Entstehungsort und
die Entstehungszeit der Lex.
Der Verfasser, vermutlich ein Geistlicher, will wie die Epitoma-
toren des Breviars römisches Recht überhaupt darstellen, sind es doch
vorzugsweise Konstitutionen römischer Kaiser, die er exzerpiert. So-
weit er vom Breviarium abweicht, faſst er das zu seiner Zeit praktisch
geltende römische Recht ins Auge. Wo er örtliche Rechtssätze oder
Rechtsausdrücke aufnimmt, bringt er sich nicht zum Bewuſstsein, daſs
sie nicht allgemein anwendbar seien, wo römisches Recht gilt.
Auſser Zweifel steht, daſs die Lex in Churrätien praktisch an-
gewendet worden ist. Von den drei überlieferten Handschriften
stammen zwei aus der Ostschweiz. Eine Urkunde aus Rankweil im
heutigen Vorarlberg enthält eine Bezugnahme auf die Lex 1. Nicht
unwahrscheinlich ist, daſs sie in dem gesamten rätisch-romanischen
Gebiete und darüber hinaus bis nach Istrien zur Geltung gelangte.
Denn die dritte Handschrift, die wir von ihr besitzen, hat sich einst
zu Aquileja befunden.
Den Entstehungsort der Lex hat man in Istrien 2, in Oberitalien 3
und in Churrätien 4 gesucht. Für ihre rätische Herkunft sprechen
durchschlagende Gründe. Die Lex enthält Wörter, welche wir, wie
atto und atta für avus und ava, hornungus 5 für filius naturalis, weder
in Istrien, noch in Italien, wohl aber auf rätisch-alamannischem Boden
nachweisen können. Nur in Rätien finden wir die der Lex eigen-
tümliche Form des Wortes Falsicia für Falcidia und die technische
Anwendung dieses Ausdruckes für quarta pars, die im Anschluſs an
den Wortlaut der Lex entstanden ist 6. Gegen Istrien spricht die
Ämterverfassung der Lex, gegen Istrien und gegen Oberitalien der
starke Einfluſs des fränkischen Rechtes.
Die Abfassungszeit pflegte man früher in das achte Jahrhundert
zu setzen. Allein die Rechte, welche die principes als groſse Kron-
vasallen ausüben, die Behandlung der Knechte nach den Grundsätzen
des Immobiliarrechtes und die vorgeschrittene Entwicklung des Lehn-
[363]und die Capitula Remedii.
wesens entscheiden gegen so hohes Alter der Lex. Diese kann nicht
jünger sein wie das neunte Jahrhundert, dem die überlieferten Hand-
schriften angehören. Sie muſs spätestens im Jahre 859 in Unterrätien
vorhanden gewesen sein. Denn eine Urkunde 7, welche in den Jahren
852 oder 859 zu Rankweil ausgestellt worden ist 8, beruft sich mit
den Worten: sicut lex continet, auf eine Stelle der Lex Romana
Curiensis. Da an verschiedenen Stellen vom König, nirgends vom
Kaiser die Rede ist, dürfte die Lex zu einer Zeit abgefaſst worden
sein, als Rätien nicht unter einem Kaiser, sondern nur unter einem
König stand. Denn es ist unwahrscheinlich, daſs gerade eine römische
Rechtsaufzeichnung, eine Paraphrase römischer Kaiserkonstitutionen
ohne zwingenden Grund den Ausdruck rex gewählt hätte. Rätien
hatte im neunten Jahrhundert bis 840, oder wenn man erwägt, daſs
Lothar seine Ansprüche auf Rätien erst im Vertrage von Verdun
endgiltig aufgab, bis 843 einen Kaiser als Staatsoberhaupt. Die Lex
wird also wegen der Erwähnung des Königs als jünger anzusehen
sein. Da eine rätische Schenkungsurkunde von 844 9 noch frei ist
von einem Vorbehalte, der in der Lex Curiensis bei Schenkungen
vorgeschrieben ist und seit 852 oder 859 regelmäſsig in den rätischen
Urkunden erscheint, so wird man der Wahrheit am nächsten kommen,
wenn man die Mitte des neunten Jahrhunderts als Entstehungszeit
der Lex Curiensis betrachtet.
Vom Standpunkte des heutigen Romanisten beurteilt, ist die Lex
Curiensis eine herzlich schlechte Arbeit. Der Verfasser war ein
schwacher Jurist und hat seine Quellen vielfach miſsverstanden. Dafür
liefert er aber von dem Zustande des römischen Rechtes, wie es da-
mals im Rechtsleben geübt wurde, ein treueres Bild wie irgend eine
andere der in den germanischen Reichen entstandenen Quellen des
römischen Rechtes. Für das römische Vulgarrecht ist die Lex
Curiensis die wichtigste Fundgrube.
Aus Churrätien stammt noch eine andere merkwürdige Rechts-
quelle, eine Satzung von zwölf Kapiteln, die man als Capitula Remedii
bezeichnet 10. Remedius, seit 800 Bischof von Chur, wird darin zwei-
[364]§ 51. Die Lex Rom. Cur. und die Cap. Remedii.
mal und zwar in dritter Person genannt und für den Kreis der Per-
sonen, den die Satzung angeht, als der dominus schlechtweg erwähnt.
Von Remedius rührt die Satzung nicht her, sondern sie scheint von
einer Versammlung der geistlichen und weltlichen Beamten, sowie der
Vasallen und Hintersassen des Bischofs beschlossen worden zu sein.
Die Personen, für welche die Satzung gelten soll, befinden sich in
dienstlicher oder grundherrlicher Abhängigkeit vom Bischof. Es ist
die Rede von den Romani homines, qui ad domnum Remedium
episcopum pertinent, Ehen sind nur mit homines des Bischofs ge-
stattet 11. Die Satzung ist hauptsächlich strafrechtlicher Natur, doch
werden zwar verstümmelnde Leibesstrafen, wie der Verlust der Augen
und der Hand, angedroht, aber nirgends wird die Todesstrafe aus-
gesprochen. Vielmehr heiſst es in einem Falle, wo man sie erwarten
sollte, von dem Verbrecher: in potestate stet iudicum et laicorum, eine
Wendung, die noch einigemale wiederkehrt. Kirchlichen Einfluſs ver-
rät die Steigerung der Strafen bei Rückfällen, wie sie der kirchlichen
Buſspraxis eigentümlich war. Der Diebstahl soll gesühnt werden, wie
es in nostra lege scriptum est, worunter nur die Lex Romana Wisi-
gothorum, Paulus II 32 verstanden werden kann 12. Das Schluſs-
kapitel ordnet an, daſs jeder Priester die Satzung dem Volke monat-
lich zweimal vorlesen solle.
Die sogenannten Capitula Remedii finden ihre Erklärung in einer
weitgehenden Immunitätsgerichtsbarkeit des Bischofs von Chur und
sind für die Immunitätsleute desselben bestimmt. Auf Grund könig-
licher Privilegien hatte das Bistum Chur die Sonderstellung eines
halbsuveränen Kirchenstaates erhalten. Karl der Groſse und nach-
mals Ludwig und Lothar 13 hatten die Bischöfe von Chur und den
populus Curiensis in ihren besonderen Schutz genommen und ihnen
gestattet, nach eigenen Gesetzen und Gewohnheiten zu leben. Damit
scheint ein weitgehendes Recht autonomer Gerichtsbarkeit verbunden
gewesen zu sein. Ein Seitenstück zu der Sonderstellung der Chur-
welschen bilden die Vorrechte der in der septimanischen Mark leben-
[365]§ 52. Die ostgotischen Edikte.
den Spanier. Diese erhielten 815 das Recht zugesichert, causae
minores nach hergebrachter Sitte unter sich abzumachen 14. Ein
Privileg Karls des Kahlen von 844 nimmt von der autonomen
Gerichtsbarkeit der Spanier nur die drei Verbrechen des Totschlags,
des raptus und der Brandstiftung aus 15. Etwas anders war die
vorbehaltene Jurisdiktion für die Immunitätsleute des Bischofs von
Chur abgegrenzt. Sie wird durch das Strafmaſs in der Weise be-
stimmt, daſs die Verhängung der härteren Strafen, insbesondere der
Todesstrafe über ihren Rahmen hinausfällt. So gehört z. B. der
Totschlag noch zur Jurisdiktion des Bischofs, solange der Verbrecher
nicht den dritten Totschlag begangen hat.
Die Entstehung der Satzung fällt in die Zeit, da Remedius das
Bistum Chur verwaltete, also in den Anfang des neunten Jahr-
hunderts.
Ausgaben: Die editio princeps des Edictum Theoderici besorgte der Buchhändler
Nivellius nach zwei Handschriften, welche ihm P. Pithou zum Abdruck überlassen
hatte. Es ist im Anschluſs an Cassiodors Varien etc. aber mit besonderer Pagi-
nierung abgedruckt: M. Aurelii Cassiodori Senatoris Variarum libri XII … Edic-
tum Theoderici regis Italiae … Paris. apud Sebastianum Nivellium 1579. Auf
diese Ausgabe gehen alle folgenden zurück. Mit einem Kommentar edierte es
Rhon, Commentatio ad edictum Theoderici, 1816. Die neueste Ausgabe besorgte
Bluhme in Mon. Germ. LL V 145 ff. — Athalarichs Edikte finden sich in Cassio-
dors Varien, das wichtigste bei Manso, Gesch. des ostgothischen Reiches, 1824,
Beil. 13, S 405 ff., bei Gretschel, Ad edictum Athalarici regis Ostrogoth. com-
mentatio, 1828, und bei Padeletti, Fontes iur. ital. medii aevi, 1877, S 23.
Litteratur: Savigny, Gesch. des röm. Rechts im Mittelalter II 172. Iwan
v. Glöden, Das röm. Recht im ostgoth. Reiche, 1843. Haenel, Lex Rom. Visig.
praef. S XCI. Dahn, Könige der Germanen IV. Bethmann-Hollweg, Civil-
prozeſs IV 268. Gaudenzi, Gli editti di Teoderico e di Atalarico e il diritto
romano nel regno degli Ostrogoti, 1884; derselbe, Die Entstehungszeit des Edictum
Theoderici, Z2 f. RG VII 29.
Anders wie bei den Burgundern und bei den Westgoten war im
ostgotischen Reiche die Gesetzgebung von vorneherein eine gemein-
same für die germanische und für die römische Bevölkerung. Wahr-
scheinlich in den Jahren 511—515 1 erlieſs der Ostgotenkönig Theo-
derich ein Edikt, von welchem uns keine Handschrift, sondern nur
der Text der editio princeps erhalten ist. In der Einleitung sagt
[366]§ 52. Die ostgotischen Edikte.
Theoderich, daſs er zur Aufrechthaltung von Ruhe und Ordnung be-
fohlen habe das Edikt auszuhängen, damit sowohl die Barbaren als
auch die Römer daraus ersehen könnten, was sie in den darin be-
handelten Punkten zu befolgen hätten. Theoderichs Edikt will nur
die am häufigsten vorkommenden Rechtsverletzungen ins Auge fassen
und über dieselben der Rechtspraxis des täglichen Lebens eine Reihe
kurz gefaſster Rechtssätze an die Hand geben. Im übrigen sollte für
die Goten das gotische, für die Römer das römische Recht zur An-
wendung gelangen 2. Drum sind jene Rechtssätze des Edikts, welche
der Verschiedenheit der Geburtsstandsrechte einen gewissen Spielraum
offen halten wollten, ziemlich allgemein gefaſst. Die Mehrzahl der
Vorschriften bezweckt eine schneidigere Verfolgung und Bestrafung
von Verbrechen. Während einerseits vorwiegend germanische Unthaten,
z. B. Frauenraub und Heimsuchung verpönt werden, eifert das Edikt
andrerseits gegen Übelstände, welche wie die Angeberei (die execranda
pernicies delatorum), die Urkunden-, Akten- und Metallfälschung, die
Zession von Klagen und Schuldtiteln an mächtige Personen bei der
römischen Bevölkerung eingewurzelt und schon durch die römische
Kaisergesetzgebung auf das schärfste bekämpft worden waren.
Von den 155 Kapiteln des Edikts, die ohne systematische Ordnung
zusammengestellt sind, haben die meisten ihren Inhalt römischen Rechts-
quellen entlehnt. Benutzt sind insbesondere die drei vorjustinianischen
Codices, zumal der Codex Theodosianus, die posttheodosianischen No-
vellen, die Sententiae des Paulus, Ulpians De officio proconsulis und
die römische Interpretationslitteratur des fünften Jahrhunderts 3, dieselbe
welche auch in den römischen Leges der Burgunder und Westgoten
verwertet worden ist 4. Die vom römischen Rechte unabhängigen
Rechtssätze sind hauptsächlich strafrechtlicher Natur. Eine dem
[367]§ 52. Die ostgotischen Edikte.
römischen Vulgarrecht entstammende Vorschrift ist das Erfordernis
der Schrift bei Schenkungen von Immobilien 5.
Von Theoderich besitzen wir noch ein kurzes an Papst Symmachus
gerichtetes Edikt vom Jahre 508, welches die Veräuſserung von Kirchen-
gütern verbietet 6.
Theoderichs Enkel und Nachfolger Athalarich (526—534) erlieſs
eine Anzahl von Edikten, welche der quaestor sacri palatii Cassiodo-
rius Senator 7 verfaſste und in seine Varien, eine Sammlung der aus
seiner Feder geflossenen Aktenstücke der königlichen Kanzlei, auf-
nahm 8. Das bedeutendste derselben, welches Athalarich gelegentlich
als programma edictale bezeichnet 9, ist das edictum contra eos qui
praedia urbana vi occupabant et contra fornicarios atque concubinarios,
welches in seinem Schluſskapitel die sämtlichen älteren Edikte aus
der Zeit Theoderichs und Athalarichs bestätigt.
Theoderichs Edikt trat nicht bloſs in Italien, sondern auch in
den zum ostgotischen Reiche gehörigen Teilen Galliens und Panno-
niens in Geltung, insbesondere auch in den Gebieten, welche die Ost-
goten in den Jahren 510 und 523 den Burgundern entrissen hatten 10.
Schon oben Seite 357 ist bemerkt worden, daſs eine der verlorenen
Handschriften des Edikts, welche vermutlich aus der Provence
stammte, mit demselben eine Stelle des burgundischen Papianus
verbunden habe. In der Provence scheint auch jene kürzlich von
Gaudenzi entdeckte Rechtsaufzeichnung 11 entstanden zu sein, welche
neben den Leges Eurici das Edikt Theoderichs und burgundisches
Recht berücksichtigt 12.
In Italien traten nach dem Sturze des ostgotischen Reiches die
Edikte der ostgotischen Könige auſser Geltung. In der kurzen Spanne
Zeit, da er Italien beherrschte, führte Justinian daselbst seine Rechts-
[368]§ 53. Edictus Langobardorum.
bücher ein 13 und ebenso die Novellen, von welchen bald nach 554
jene lateinische Übersetzung verfaſst wurde, die man nachmals als
Liber Authenticorum bezeichnete 14.
Ausgaben: Edictus Langobardorum ed. Bluhme in Mon. Germ. LL IV 1 ff.
Einen Textabdruck gab Bluhme in einer Oktavausgabe 1869 u. d. T.: Edictus
ceteraeque Langobardorum Leges. — Edicta regum Langobardorum ed. Baudi a
Vesme 1855, abgedruckt von Neigebauer (8°) 1855. Auf der Ausgabe Bluhmes
fuſst der Text bei Padeletti, Fontes iuris italici medii aevi, 1877.
Litteratur: Savigny, Gesch. des röm. Rechts im Mittelalter II 209 ff. Türk,
Forschungen auf dem Gebiete der Geschichte, Heft 4 S 167 ff. 1835. Merkel,
Gesch. des Langobardenrechts, 1850. Bluhme, Praef. in LL IV. Bethmann-
Hollweg, Civilprozeſs IV 321 ff. Pertile, Storia del diritto ital. I 110 f. Pas-
quale del Giudice, Le tracce di diritto romano nelle leggi longobarde, fasci-
colo I. Editto di Rotari, 1886.
Klarer als die Entstehungsgeschichte aller anderen germanischen
Volksrechte liegt die des langobardischen Ediktes vor unseren Augen.
Fünfundsiebenzig Jahre waren seit der Ankunft des Volkes in Italien
verflossen, als die Langobarden zu ihrem ältesten geschriebenen Rechte
gelangten. Sie verdankten es ihrem König Rothari, welcher im
Jahre 643 eine umfassende Satzung und Aufzeichnung ihres Rechtes
veranstaltete, die sich als Edictus bezeichnet, unter welchem Namen
einst auch die ostgotischen Könige ihre Gesetze erlassen hatten. In
einem Prolog, welcher einer Novelle Justinians nachgebildet ist, faſst
Rothari sein Werk als eine Reform des geltenden Rechtes auf 1. Im
Epilog nennt er das althergebrachte, bislang ungeschriebene Recht der
Vorfahren als die Quelle seiner Gesetzgebung. Nachdem der Edictus
[369]§ 53. Edictus Langobardorum.
mit Rat und Zustimmung der Groſsen und des Volkes zustande ge-
kommen war, lieſs er ihn gemäſs langobardischer Rechtssitte durch
den Akt des „gairethinx“ bekräftigen 2.
Rotharis Edikt ist mit Recht als die hervorragendste legislative
Schöpfung aus der Zeit der Volksrechte bezeichnet worden. Ein
Werk aus einem Gusse ist das Edikt frei von dem kompilatorischen
Charakter der meisten Volksrechte. Die Rechtssätze sind knapp und
scharf formuliert. Der Stoff ist nach bestimmtem Plane verteilt 3. In
dem Texte des Ediktes, der im Vulgarlatein seiner Zeit geschrieben
ist, finden sich zahlreiche technische Ausdrücke, wie sie der Rechts-
sprache der Langobarden eigentümlich waren. Die meisten sind nach-
weisbar deutsch und zwar hochdeutsch 4, andere trotzen bislang jeder
sprachlichen Erklärung 5. Vereinzelte Anklänge an die Lex Wisi-
gothorum 6 scheinen eine freie Benutzung der Gesetze Eurichs voraus-
zusetzen. Daſs den Verfassern des Edikts die römischen Rechtsquellen
nicht unbekannt waren, zeigt die schon erwähnte Benutzung der No-
vellen Justinians, die ihnen bereits in der als Authenticum bekannten
Sammlung vorgelegen haben. Um so mehr muſs es — namentlich
im Verhältnis zur Gesetzgebung der Ostgoten, der Westgoten und der
Burgunder — betont werden, daſs der Edictus in seinen Rechtssätzen
dem römischen Rechte gegenüber eine weitgehende Selbständigkeit
bewahrt hat. Fehlt es zwar nicht an Wendungen der römischen
Rechtsterminologie, so ist doch die Zahl der dem römischen Rechte
entlehnten Rechtssätze eine verschwindende. Mit Sicherheit können
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 24
[370]§ 53. Edictus Langobardorum.
nur die Enterbungsgründe7, die zweijährige Frist zur Vollziehung
einer Verlobung8 und die Verwendung des Verjährungsbegriffes9 auf
römisches Recht zurückgeführt werden. Kirchliche Verhältnisse10 hat
Rothari wenig berücksichtigt, eine kirchliche Art der Freilassung
nicht anerkannt. Die herrschende Form des Christentums war damals
bei den Langobarden noch der Arianismus. Der Römer wird in dem
Edikte nicht besonders gedacht. Nur an einer Stelle ist von einer
ancilla romana die Rede11. Allem Anscheine nach war die römische
Bevölkerung in Sachen des öffentlichen Rechtes und im Rechtsverkehr
mit den Langobarden den Vorschriften des Edikts unterworfen und
wurde nur in den gegenseitigen Rechtsbeziehungen der Römer die
Anwendung des römischen Rechtes geduldet12.
Von Rotharis Edikt sind uns zwei Auszüge in griechischer Sprache
erhalten, welche im Fürstentum Benevent für den Gebrauch der da-
selbst lebenden Griechen verfaſst worden sind13.
Die von den Nachfolgern Rotharis erlassenen Gesetze stellen sich
als Nachträge zu dem Edikt ihres Vorgängers dar, so daſs man nicht
von mehreren Edikten der langobardischen Könige, sondern nur von
einem Edictus Langobardorum zu sprechen berechtigt ist.
Im Jahre 668 fügte Grimoald auf Wunsch der langobardischen
Richter dem Edictus neun Kapitel hinzu, um gewisse Härten des
älteren Rechtes zu mildern. Sie beschränken die Haftung des Herrn
für seine Eigenleute, gewähren den Enkeln ein Erbrecht in Kon-
kurrenz mit den Söhnen des Erblassers; der dreiſsigjährige Besitz-
stand wird geschützt oder doch beweisrechtlich begünstigt, die recht-
liche Stellung der Ehefrau verbessert.
Weit umfangreicher und einschneidender war die legislative Thä-
tigkeit, welche König Liutprand in den Jahren 713—735 entfaltete.
Seine zahlreichen Gesetze bilden nicht wie das Werk Rotharis eine
planmäſsig geordnete und in sich abgeschlossene Satzung, sondern
wurden zur Ergänzung des Ediktes in fünfzehn verschiedenen Regie-
rungsjahren erlassen14 und sind demgemäſs in fünfzehn Massen,
[371]§ 53. Edictus Langobardorum.
„volumina“15, eingeteilt. Sie können sich in Bezug auf Durchsichtig-
keit und Anschaulichkeit zwar nicht mit Rotharis Gesetzen messen,
sind aber gleich diesen noch ein Zeugnis von der hervorragenden
juristischen Begabung des langobardischen Stammes. Die Sprache der
Gesetzgebung wird unter Liutprand allmählich ausführlicher. Die
Satzungen werden bereits durch allgemeine Erwägungen oder durch
den Hinweis auf Rechtsfälle, die sie veranlaſsten, motiviert. Der Ein-
fluſs des Katholizismus, der seit Grimoald bei den Langobarden durch-
gedrungen war, beginnt sich in der Gesetzgebung fühlbar zu machen.
Liutprands Prologe nehmen Bibelsprüche und fromme Äuſserungen in
sich auf. Nicht eigene Weisheit, sondern göttliche Inspiration hat
nach dem Prolog des ersten Volumens dem katholischen König die
neuen Gesetze diktiert. Zu den hergebrachten Freilassungsarten tritt
als eine privilegierte Form die Freilassung in der Kirche hinzu.
Heidnische Bräuche und heidnischer Aberglaube werden verfolgt und
bestraft, die Verfügungen zum Heile der Seele begünstigt. Die Ehe
mit der Witwe des Vetters wird verboten, weil der Papst es verlangt
habe, qui in omni mundo caput ecclesiarum Dei et sacerdotum est16.
Entlehnungen aus dem römischen Rechte sind auch bei Liutprand
selten. Nur in Materien, die mit dem Urkundenwesen zusammen-
hängen, gewinnt es steigende Bedeutung. So stellt es Liutprand in
die Wahl der Kontrahenten, ob sie ihre Geschäftsurkunden nach
römischem oder nach langobardischem Rechte ausstellen wollen17.
So ist der Rechtssatz, daſs Schuldurkunden nach fünf Jahren ihre
Giltigkeit verlieren, wenn sie nicht erneuert worden sind, auf eine
verwandte Bestimmung des Kaisers Honorius von 421 zurückzuführen18.
Bemerkenswert sind in Liutprands Gesetzen die Anfänge einer mit
dem Wortlaut des älteren Edikts operierenden Jurisprudenz. Der
gesetzlichen Regelung neuer Rechtsfälle wird mitunter die Erörterung
vorausgeschickt, daſs und warum sie sich nicht unter ältere Gesetze
subsumieren lassen19.
Neue Zusätze erhielt der Edictus unter König Ratchis, welcher
im Jahre 746 acht Kapitel hinzufügte, und unter König Aistulf,
welcher als der letzte einheimische Gesetzgeber des Langobarden-
reiches im Jahre 755 noch dreizehn Kapitel anhängte.
Dem Körper des Edikts wurden nur solche Gesetze einverleibt,
welche auf den langobardischen Reichstagen mit Beirat der Beamten
und unter Zustimmung des Volkes beschlossen worden waren. Auſser-
dem haben aber die langobardischen Könige Verordnungen und in-
terimistische Gesetze erlassen, die von vorneherein nicht dazu bestimmt
waren in das Edikt aufgenommen zu werden. Diesen Charakter
haben ein Reglement Liutprands für die königlichen Gutsvögte, notitia
de actoribus betitelt, und zwei Kapitel des Königs Ratchis, welche
den Paſszwang für Romfahrer und die königlichen Gasinden betreffen
und von welchen Racthis selbst bemerkt, daſs sie nicht in das Edikt
eingefügt werden sollen. Von Ratchis besitzen wir noch vier andere
Kapitel, welche im Jahre 745 oder 746 nur mit Beirat der iudices
zustande kamen und nicht zur Einverleibung in das Edikt bestimmt
waren20. Dasselbe gilt von einem interimistischen Gesetze Aistulfs
von 750, dessen Inhalt hauptsächlich für einen Krieg mit den Römern
berechnet ist21. Weder Gesetz noch Verordnung ist das in Grimoalds
oder Liutprands Zeit entstandene Memoratorium de mercedes Coma-
cinorum, eine Aufzeichnung über das Recht der Zimmer- und Bau-
leute22, welche ohne Grund einem jener beiden Könige zugeschrieben
wird.
Seit der Unterwerfung des Langobardenreiches unter die frän-
kische Herrschaft machte das langobardische Recht in den unteritalischen
Sitzen der Langobarden insofern eine selbständige Entwicklung durch,
19
[373]§ 53. Edictus Langobardorum.
als es sich frei von Einflüssen des fränkischen Rechtes auf rein
nationalen Grundlagen fortzubilden vermochte. Hier hat auch der
Edictus noch weitere Zusätze erhalten, welche die Fürsten von Bene-
vent, Aregis und Adelchis, nach Art der langobardischen Könige hin-
zufügten23. Auſserdem besitzen wir noch Verträge beneventanischer
Fürsten mit den Neapolitanern und einen Vertrag über die Teilung
des Herzogtums Benevent von 851. welche für die Erkenntnis des
altlangobardischen Rechtes von nicht unerheblicher Bedeutung sind.
Eigentümlich ist die Stellung, die das langobardische Volksrecht
zu den übrigen germanischen Rechten einnimmt. Nicht die ober-
deutschen Rechte und nicht die fränkischen Rechte stehen ihm am
nächsten, sondern es bildet innerhalb des Kreises der deutschen Volks-
rechte mit den Rechten der Altsachsen und der Angelsachsen eine
engere Gruppe. Charakteristische Rechtssätze und Rechtsausdrücke
sind den Langobarden mit den Sachsen und mit den Angelsachsen
gemein24. Nicht minder merkwürdig ist die Übereinstimmung, die in
[374]§ 54. Königsrecht und Kapitularien.
manchen Beziehungen zwischen dem langobardischen Rechte und den
skandinavischen Rechten obwaltet25. Findet die Verwandtschaft mit
dem Sachsenrechte ihre naheliegende Erklärung in den ursprünglichen
Sitzen der Langobarden an der Niederelbe und in den Beziehungen,
die sie zu den Sachsen noch nach ihrer Auswanderung festhielten, so
können die Analogien mit den skandinavischen Rechten auf uralte
Verwandtschaft zurückgeführt werden, welche einst zwischen den
Rechten der niederelbischen und der skandinavischen Völkerschaften
bestand. Jedenfalls sind die nach dem Norden weisenden Zusammen-
hänge ein Beweis der auffallenden Zähigkeit, mit welcher die Lango-
barden an ihrem hergebrachten Rechte hingen, jener Zähigkeit, welche
auch in der Widerstandskraft zum Ausdruck kommt, die das lango-
bardische Recht Jahrhunderte hindurch dem römischen Rechte gegen-
über trotz enger örtlicher Berührung bewährt hat.
Ausgaben: Die fränkischen Kapitularien sind herausgegeben von Baluzius,
Capitularia regum Francorum, 1677. 1780, in den Mon. Germaniae von Pertz, LL
I. II, die Kapitularien bis 827 in verbesserter Ausgabe von Boretius in Legum
sectio II tom. I, 1883.
Litteratur: Eichhorn § 149. 150. v. Daniels § 85—95. Boretius, Die
Capitularien im Langobardenreich, 1864; derselbe, Beiträge zur Capitularienkritik,
1874; derselbe, Selbstanzeige in den Göttingischen gel. Anzeigen 1882 Nr 3. 4
und 1884 Nr 18. Beseler, Über die Gesetzeskraft der Capitularien, 1871 Festgaben
für Homeyer. M. Thévenin, Lex et Capitula, 1878 aus den Mélanges publiés par
l’école des hautes études. E. Loening, Kirchenrecht II 20 f. Waitz, VG III
599 ff. und Anm 1 über sog. Cap. missorum III 482 und in den Götting. gel. An-
zeigen 1885 Nr 8.
Hinsichtlich der Rechtserzeugung war die Machtstellung des frän-
kischen Königs eine verschiedene im Verhältnis zu den einzelnen
24
[375]§ 54. Königsrecht und Kapitularien.
unter seiner Herrschaft vereinigten Stämmen. Bei den römischen
Unterthanen war er zwar in die absolute Gesetzgebungsgewalt ein-
getreten; allein das fränkische Königtum hielt sich im allgemeinen
fern von legislativen Eingriffen in das römische Privatrecht und be-
handelte dieses mit jener scheuen Hochachtung, die man vor Dingen
zu haben pflegt, die man nicht übersehen kann1. Bei den germa-
nischen Stämmen hatte sich die Ausbildung des Königsrechtes mit der
im Volksbewuſstsein eingewurzelten Überzeugung abzufinden, daſs
Volksrecht nur durch das Volk und nicht einseitig vom König ge-
schaffen werden könne. Hier war der springende Punkt in der Ge-
schichte des Königsrechtes das Verhältnis des Königs zu den Organen
der Rechtsprechung. Wo diese vom Königtum unabhängig waren,
reichte die Macht des Königs nicht aus, um zu bestimmen, was in den
Gerichten Rechtens sein solle. Nur daraus läſst es sich erklären, daſs
bei den Franken der Unterschied zwischen Königsrecht und Volks-
recht bis zum Ausgang der karolingischen Periode lebendig blieb. Wo
dagegen die Rechtsprechung dem richterlichen Beamtentum anheimfiel
und die aktive Teilnahme der Gerichtsgemeinden verschwunden war,
wie dies bei den Langobarden geschah, vermochte der König
Änderungen des Volksrechtes ohne Zustimmung des Volkes durch-
zuführen.
Während bei den Nordgermanen, namentlich bei den Schweden,
ein Königsrecht sich verhältnismäſsig spät entwickelte, beginnt im
fränkischen Reiche der König schon sehr früh in die Rechtsbildung
einzugreifen. Sein Anteil an der Erzeugung neuen Rechtes reicht so
weit, wie sein Einfluſs auf die Handhabung des Rechtes. Er schafft
Recht, einseitig oder doch nur unter Mitwirkung des auf den Reichs-
tagen vertretenen Beamtentums, so weit er mit Hilfe des Beamten-
tums das neue Recht durchzusetzen in der Lage ist, also namentlich
im Gebiete der Verwaltungssachen. Vermag er die Rechtsprechung
nicht einseitig zu binden, so kann doch andrerseits die Satzung neuen
Volksrechtes nicht ohne seine Mitwirkung vor sich gehen, seit der
Mallus unter dem Vorsitz des königlichen Grafen oder seines Ver-
treters tagt und das Urteil in dem Rechtsgebot der königlichen Be-
amten seine Ergänzung finden muſs. Geht die Satzung vom König
[376]§ 54. Königsrecht und Kapitularien.
aus, so bedarf es der Zustimmung des Volkes, damit sie volksrecht-
liche Kraft erlange.
Als solche mit dem Volke vereinbarte Satzungen stellen sich ver-
schiedene Zusätze zur Lex Salica dar. So ist das Edikt König Chil-
perichs, dessen einzelne Sätze sich mit convenit, placuit et convenit
einführen, unter Zustimmung der Optimaten, Antrustionen und des
ganzen Volkes beschlossen worden2. Daſs auch der Pactus pro tenore
pacis von Childebert I. und Chlothar I. auf ähnliche Weise zustande
kam, beweist der Name pactus, den er mit verschiedenen Volks-
rechten teilt3, und beweisen die auf ihn bezüglichen Nachrichten der
Epiloge zur Lex Salica4. Die in dem Pactus zur Wahrung und Ver-
besserung des Landfriedens angeordneten Einrichtungen beanspruchen
territoriale Geltung. Ein Landes- und nicht bloſs ein Stammesgesetz
scheint auch ein Dekret Childeberts II. von 596 für Austrasien ge-
wesen zu sein. Es veröffentlicht eine Reihe von Beschlüssen, die auf
den Märzfeldern von Andernach, Maestricht und Köln gefaſst worden
waren5.
Das Edikt Chlothars II. von 614 ist eine carta libertatis, welche
der König auf Grund eines mit den fränkischen Groſsen eingegangenen
Kompromisses gewährt. Es enthält keine Abänderung des Volks-
rechtes, sondern stellt sich als ein Reichsschluſs dar, durch welchen
der König gewisse Konzessionen gewährleistet und die Abstellung von
Miſsbräuchen verspricht. Eine an die Beamten gerichtete Verordnung
ist die „praeceptio“ Chlothars II., deren Bestimmungen zum groſsen
Teile den Versprechungen des Edikts korrespondieren. Der Inhalt
schlieſst sich zumeist an das römische Recht an, dessen Beobachtung
der römischen Bevölkerung zugesichert wird6.
Seit Karl Martell haben die Hausmeier, wie früher die Könige,
allgemeine Verordnungen erlassen7. Es sind uns drei Dekrete Karl-
manns und Pippins aus den Jahren 742—744 erhalten. Sie sind mit
Zustimmung der geistlichen und weltlichen Amtsaristokratie zustande
gekommen.
Die Satzungen der merowingischen Zeit führen, ob sie nun volks-
rechtlichen oder administrativen Inhalt haben, gleichartige Benen-
nungen. Sie hieſsen entweder, wie die Königsurkunde überhaupt,
auctoritas oder edictum, praeceptio, decretum, decretio. Dagegen
wurde in karolingischer Zeit der Ausdruck „capitulare“ technische
Bezeichnung der königlichen Satzungen. Er begegnet uns im frän-
kischen Reiche zuerst für eine Verordnung Karls von 7798. Schon
750 findet er sich bei den Langobarden, nämlich in einer Verordnung
Aistulfs, wo er vermutlich im Gegensatz zum Edictus als der Quelle
des Volksrechtes gebraucht wird9. Capitulare heiſst bei den Franken
der einzelne Abschnitt der Satzungsurkunde10. Die Gesamtheit der
in einer Urkunde zusammengetragenen, weil gleichzeitig entstandenen
Kapitel wird capitulare oder capitulatio genannt oder durch den
Plural capitula bezeichnet.
Die karolingischen Kapitularien zerfallen in verschiedene Gruppen.
Jenachdem ihr Inhalt geistliche oder weltliche Angelegenheiten be-
trifft, sind capitularia ecclesiastica und mundana zu unterscheiden.
Doch besteht keine scharfe Trennung der beiden Gruppen, da manche
Kapitularien zugleich weltliche und kirchliche Materien regeln. Be-
deutsamer ist eine Einteilung der weltlichen Kapitularien, wie sie am
6
[378]§ 54. Königsrecht und Kapitularien.
klarsten in den 818 und 819 auf einem Aachener Reichstag zustande
gekommenen Satzungen Ludwigs I. zu Tage tritt. Es werden hier
drei Arten von Kapitularien unterschieden, nämlich capitula legibus
addenda, capitula per se scribenda und capitula missorum11. Wenn
diese Einteilung auch für all die Aktenstücke, die man als Kapitu-
larien zusammenzufassen und abzudrucken pflegt, nicht erschöpfend
ist, so stellt sie doch drei scharf ausgeprägte Typen von Kapitularien
neben einander, Typen, welche ebensowohl vor wie nach 819 vor-
handen waren und einer näheren Erörterung bedürfen.
1. Die Capitula legibus addenda sind die Kapitularien, welche
die Volksrechte ergänzen, gleich diesen gesetzliche Kraft haben sollen.
Sie wurden entweder zu einzelnen Stammesrechten hinzugefügt, wie
das Kapitular zur Lex Ribuaria von 803, das zur Lex Baiuwariorum
aus den Jahren 801—813, das zur Lex Salica von 819 oder bald
darnach12. Oder sie beanspruchten neben den sämtlichen Leges des
Reiches oder eines bestimmten Reichsteiles zu gelten, wie z. B. das
Kapitular Karls von 803 (I 111), die Aachener und die Wormser Ge-
setze Ludwigs I. von 818—19 und 829 und mehrere Capitula italica13.
Die Kapitularien der erstgedachten Art hatten nur die Geltung des
Stammesrechts, das sie ergänzen sollten, nicht territoriale Geltung.
Die Capitula legibus addenda der zweiten Gruppe stellen sich zwar
gleichfalls nicht als ein von den Stammesrechten unabhängiges Reichs-
recht dar, haben aber, weil sie neben allen Stammesrechten berück-
sichtigt werden wollen, thatsächlich die Bedeutung eines territorialen
Rechtes.
Die Capitula legibus addenda wollen Rechtssätze schaffen, welche
bei der Rechtsprechung der Gerichte zur unmittelbaren Anwendung
gelangen. Um ihnen die Kraft des eigentlichen Volksrechtes zu geben
genügt es nicht, daſs sie der König mit den Groſsen des Reiches be-
rät, sondern bedarf es grundsätzlich auch der Zustimmung des Volkes.
Am lebendigsten hat sich der Gedanke, daſs der König das Volksrecht
[379]§ 54. Königsrecht und Kapitularien.
nicht einseitig abändern könne, bei den Franken erhalten. Lex und
Capitulum werden bei ihnen grundsätzlich unterschieden. In Bezug
auf das oben erwähnte Kapitular zur Lex Salica, welches die Form
eines Weistums trägt, haben wir eine Verfügung Ludwigs I., daſs die
Kapitel, die er im vergangenen Jahre mit allgemeiner Zustimmung
dem salischen Volksrechte hinzugefügt habe, fürderhin nicht mehr
Capitula, sondern Lex genannt werden und als solche beachtet werden
sollen14. Eine Verordnung Karls von 803 bestimmt, daſs ein Kapi-
tular dieses Jahres dem Volke zur Annahme vorgelegt und nachdem
es die Zustimmung erlangt habe von den einzelnen unterschrieben
oder signiert werden solle15. Über die Ausführung dieser Maſsregel
ist uns die vereinzelte Nachricht überliefert, daſs jenes Kapitular im
Gau von Paris auf öffentlichem Mallus vor den Schöffen verlesen,
angenommen16 und dann von ihnen, von den Bischöfen, Äbten und
Grafen unterzeichnet wurde17. In helles Licht setzt uns die Voraus-
setzungen und die Schwierigkeiten, mit welchen eine wirksame Ab-
änderung des Volksrechtes sich abzufinden hatte, eine Stelle aus einem
Gesetze Karls des Kahlen von 86418. Nach geltendem Rechte konnte
der Beklagte nicht in den Vorbann gelegt, konnten seine Güter nicht
gefront werden, ehe er nicht secundum legem vorgeladen worden war.
Und zwar verlangte die Lex Salica, daſs die Vorladung ad domum
geschehen solle. Nun gab es aber damals in den durch die Nor-
[380]§ 54. Königsrecht und Kapitularien.
mannen heimgesuchten Gauen Grundbesitzer, denen ihre Häuser ver-
brannt worden waren. Solche Leute glaubten einen Freibrief für
Übelthaten zu haben, weil man sie, die im Rechtssinne für ansässige
Leute galten, nicht rechtmäſsig, das heiſst ad domum vorladen könne.
Ihre Verurteilung konnte nur erfolgen, wenn vorher der eidliche Be-
weis erbracht wurde, daſs sie „legibus“ vorgeladen worden seien.
Solchen Eid konnte mit Rücksicht auf den Wortlaut der Lex Salica
niemand auf sein Gewissen nehmen. Daher ordnete Karl der Kahle
mit Zustimmung seiner Getreuen an, daſs der Graf in solchem Falle
seinen Boten auf das Grundstück sende, wo früher das Haus des Be-
klagten gestanden hatte, um daselbst eine Scheinladung vorzunehmen.
Daraufhin dürften die Franken getrost schwören, daſs der Beklagte
dem königlichen Befehl gemäſs „legibus“ vorgeladen sei, „quoniam
lex consensu populi fit et constitutione regis“.
Die volkstümliche Kraft der Capitula legibus addenda äuſsert
sich, wenn ihre Aufhebung in Frage kommt. Sie können nur in der-
selben Weise auſser Kraft gesetzt werden, in der sie zur Geltung ge-
langt sind.
2. Die Capitula per se scribenda19 sind die eigentlichen könig-
lichen Verordnungen und bilden das geschriebene Königsrecht im
engeren Sinne. Dem Inhalte nach sind sie entweder Anordnungen
über die Verwaltung der königlichen Güter, oder transitorische Ver-
fügungen, oder Verordnungen welche dauernde Beachtung beanspruchen.
Ihre Tragweite reicht soweit, wie die verfassungsmäſsige Gewalt des
Königs und seines Beamtentums. Sie haben territoriale Geltung und
finden ihre Sanktion in der Banngewalt des Königs und seiner Be-
amten, in der Treue, welche der König auf Grund des Fidelitätseides
von den Unterthanen verlangt, den Vassallen und Beamten gegenüber
auch in dem Rechte des Königs, Lehen und Amt zu entziehen20. Die
meisten betreffen Gegenstände der Verwaltung, die Stellung der Be-
amten, die Verhältnisse der Kirche im Rahmen des weltlichen Rechtes,
die Aufrechthaltung des Landfriedens und der öffentlichen Ordnung,
Zoll, Münze und Verkehrswesen21. Vielfach handelt es sich um die
Ausführung und Einschärfung geltenden Rechtes, wie z. B. in den
Anordnungen über das Heerwesen. Manche Verordnungen schaffen
[381]§ 54. Königsrecht und Kapitularien.
aber auf dem Gebiete des Privat-, Prozeſs- und Strafrechtes ein neues
in das Volksrecht einschneidendes Recht22. Es ist dies die Kategorie,
in welcher der rechtsgeschichtliche Schwerpunkt der Kapitularien
beruht.
Wie der König bei der Ausübung seiner Banngewalt nicht an die
Zustimmung des Volkes oder der Reichsversammlung gebunden ist,
so kann er auch die Capitula per se scribenda einseitig erlassen.
Doch kamen sie regelmäſsig auf den Reichsversammlungen nach einer
Beratung mit den Groſsen des Reiches zustande und wird häufig
nicht bloſs der Beirat (consilium), sondern auch die Zustimmung (con-
sensus) der versammelten Amtsaristokratie und der fideles überhaupt
hervorgehoben23. Mitunter verschiebt der König die Erledigung von
Anfragen und projektierte Neuerungen auf einen bevorstehenden Reichs-
tag24. Als unter Ludwig I. und seinen Nachfolgern der Einfluſs und
die Bedeutung der Reichsversammlungen zusehends stieg, nahm deren
Teilnahme an der Abfassung der Kapitularien mehr und mehr den
Charakter einer verfassungsmäſsigen Beschränkung des Königtums an.
Die Capitula per se scribenda können vom König der sie er-
lassen hat oder von seinen Nachfolgern einseitig aufgehoben werden.
Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, daſs der Erlaſs des Kapitulars
dauernde Geltung desselben in Aussicht nimmt. Und keineswegs läſst
sich behaupten, daſs das Kapitular mit dem Tode des Königs, dem
es seine Entstehung verdankte, ipso iure erloschen sei25.
3. Die Capitula missorum, Kapitularien, welche an die königlichen
Missi gerichtet sind und ihnen regelmäſsig aus Anlaſs der Entsendung
[382]§ 55. Die Kapitulariensammlungen.
in ihre missatischen Sprengel mitgegeben werden. In Gegensatz zu
den Capitula per se scribenda stellen sich unter ihnen dem Inhalte
nach nur diejenigen, welche bloſse Instruktionen für die Missi ent-
halten. Diese sind oft nichts anderes wie schriftliche Notizen zur
Fixierung mündlicher Instruktionen 26 und enthalten manchmal nur
ein dürres Verzeichnis der Punkte, auf welche der Missus bei Be-
reisung des Sprengels sein Augenmerk zu richten hatte. Daneben
finden sich Kapitularien, die sich zwar an die Missi wenden, aber
nicht bloſs für sie berechnet sind, sondern von ihnen verkündigt wer-
den sollen, um allgemeine Beachtung zu finden, oder ihnen als Voll-
macht dienen sollen für die Maſsregeln, deren Durchführung ihnen
aufgetragen wurde.
Die verschiedenen Arten von Kapitularien stehen in engem Zu-
sammenhang mit der Thätigkeit der Reichsversammlungen. Hier
wurden sie häufig angeregt und regelmäſsig beraten. Der Konsens der
auf dem Reichstage versammelten Menge wurde zur Not wohl auch
als Ersatz der bei den Capitula legibus addenda grundsätzlich erforder-
lichen Mitwirkung des Volkes angesehen. Im Anschluſs an die Reichs-
versammlungen sind die Kapitularien mindestens gelegentlich auch
publiziert worden 27, so daſs die dem deutschen Reichsrechte eigen-
tümliche Einrichtung der Reichstagsabschiede schon in fränkischer Zeit
ein Vorbild hatte. Einzelne Stücke haben geradezu den Charakter
von Reichstagsakten, sie erweisen sich als Aufzeichnungen über Gegen-
stände, welche auf Reichstagen verhandelt werden sollten oder ver-
handelt worden sind 28.
Die Collectio Ansegisi bei Baluze, Capitularia I 693; Pertz, LL I 271; in der
Kapitularienausg. von Boretius I 394. Die Sammlung Benedikts bei Baluze
I 801; Pertz, LL II 2 S 39.
Litteratur: Boretius in Cap. I 382—393. Stobbe, RQ I 231. Knust, De
Benedicti levitae collectione capitularium, 1836, und bei Pertz, LL II 2 S 19—39.
[383]§ 55. Die Kapitulariensammlungen.
Hinschius, De collectione decretalium et canonum Isidori Merc. § 17. 20 in dessen
Ausgabe der Decretales Pseudo-Isidorianae, 1863, S CXLIII. CLXXXIII. Weiz-
säcker, Die pseudoisidorische Frage, in v. Sybels Hist. Z 1860 III 42 ff.; der-
selbe, Der Kampf gegen den Chorepiscopat des fränk. Reichs im 9. Jahrh., 1859.
P. Roth, Z f. RG V 14 ff. Gengler, Rechtsdenkmäler S 59.
Die Kapitularien wurden regelmäſsig in mehreren Exemplaren
ausgefertigt. Eines kam in das königliche Archiv. Besondere Aus-
fertigungen bekamen die königlichen Beamten, insbesondere die Missi 1.
Dagegen fehlte es für die Kapitularien an Registerbüchern nach Art
der Commentarii der römischen Kaiser, in welche die Abschriften der
einzelnen Stücke eingetragen worden wären. Da die einzelnen im
Archiv aufbewahrten Exemplare nicht leicht in Ordnung zu halten
waren und zum Teil wohl auch in Verlust gerieten, so sah sich der
Hof schon unter Ludwig dem Frommen veranlaſst, bei Hinweisungen
auf ältere Kapitularien eine Privatsammlung zu zitieren.
Eine solche veranstaltete der Abt Ansegis von S. Wandrille (Fon-
tanella) in der Diözese Rouen, der aus vornehmer fränkischer Familie
stammte und in nahen Beziehungen zum königlichen Hofe stand 2. Um
die Kapitularien Karls, Ludwigs und Lothars der Vergessenheit zu ent-
reiſsen, so sagt er in der Vorrede seines Werkes, habe er diejenigen,
die er auftreiben konnte, zusammengestellt. Er vollendete die Samm-
lung im Jahre 827. Den gesammelten Stoff teilte er in vier Bücher,
von welchen das erste die geistlichen Kapitularien Karls, das zweite
die geistlichen Kapitularien Ludwigs 3, das dritte die weltlichen
Kapitularien Karls, das vierte die weltlichen Kapitularien Ludwigs
enthält. Innerhalb jedes Buches ist die chronologische Anordnung der
Kapitularien beabsichtigt, aber nicht strenge durchgeführt. Den vier
Büchern fügte Ansegis drei Anhänge hinzu, welche capitula missorum
und einige Nachträge enthalten. Es ist eine verhältnismäſsig be-
scheidene Zahl von Kapitularien, welche er in seiner Sammlung ver-
einigte. Trotz der hervorragenden Stellung, die er im fränkischen
Reiche einnahm, war es ihm nur möglich, im ganzen etwa 29 Kapi-
tularien zu verwerten, eine auffällig geringe Summe, wenn man
erwägt, daſs die neueste Ausgabe der Kapitularien für die Zeit
vom Regierungsantritt Karls bis zum Jahre 827 nicht weniger wie
[384]§ 55. Die Kapitulariensammlungen.
124 Nummern verzeichnet, und ein Beweis, wie schlimm es mit der
Zugänglichkeit des Kapitularienstoffes schon in den Tagen des Ansegisus
bestellt war. Ansegis bemühte sich, in seiner Sammlung den echten
Text der ihm zugänglichen Kapitularien zu geben und vermied will-
kürliche Änderungen des Sinnes. Die Überschriften, welche er den
einzelnen Kapiteln voranstellte, sind in der Mehrzahl aus seiner Feder
geflossen. Sein Werk wurde im fränkischen Reiche — mit Ausnahme
Italiens — viel benutzt und handschriftlich stark verbreitet 4. Ob-
zwar Privatarbeit, erlangte es binnen kurzer Zeit das Ansehen einer
amtlichen Sammlung. Schon 829 zitiert Ludwig seines Vaters und
seine eigenen Kapitularien nach Ansegis 5. Unter Karl dem Kahlen
wurde die königliche Kanzlei angewiesen, den Missi, welchen gewisse
Kapitularien Karls des Groſsen und Ludwigs I. nicht zur Hand seien,
Abschriften aus der Sammlung des Ansegis zuzustellen 6.
In schroffem Gegensatz zur Collectio Ansegisi steht eine angebliche
Kapitulariensammlung, welche um die Mitte des neunten Jahrhunderts
in Westfrancien entstand 7. Sie giebt sich für eine Ergänzung des
Ansegisus aus, erweist sich aber zum gröſsten Teile als eine absicht-
liche Fälschung. Die Hauptmasse des Stoffes stammt nicht aus
wirklichen Kapitularien fränkischer Könige, sondern ist teils römischen
Rechtsquellen, dem Codex Theodosianus, dem Breviarium Alaricianum,
dem Novellenauszug Julians, den Sententiae des Paulus, teils dem
bairischen und dem westgotischen Volksrechte, teils kirchenrechtlichen
Quellen, Sammlungen von Canones und Dekretalen, Beichtbüchern,
Kirchenvätern und der Bibel entlehnt. Soweit der Verfasser echte
Kapitularien benutzte, zog er manche Stücke heran, die Ansegis nicht
kannte, gab aber, wo es ihm paſste, nicht den wörtlichen, sondern
einen umgestalteten Text. Ebenso verfuhr er mit den übrigen Vor-
lagen in willkürlicher Weise.
Dem Machwerk gehen voraus: 1) ein kurzer Prolog in sieben
Distichen, worin sich ein angeblicher Benedictus levita als Verfasser
einführt und erklärt, daſs er die Sammlung auf Befehl Otgars, der
damals den Mainzer Stuhl innehatte, dem Ansegis hinzugefügt habe 8;
[385]§ 55. Die Kapitulariensammlungen.
2) eine in Prosa abgefaſste „praefatio“, nach welcher der Verfasser
aus Liebe zu Gott und zum Frommen der Kirche, ihrer Diener und
des ganzen Volkes die Sammlung des Ansegisus durch drei weitere
Bücher ergänzt habe auf Grund von Vorlagen, die er an verschiedenen
Orten, namentlich in dem Archiv der Mainzer Kirche fand; 3) ein
lateinisches Gedicht auf die Karolinger von Pippin und Karlmann bis
zu den Söhnen Ludwigs I., Lothar, Ludwig und Karl. Der metrische
Prolog verweist auf die praefatio 9, diese auf das Lobgedicht 10. Die
praefatio ist wohl erheblich später wie die Sammlung entstanden.
Denn in den Akten der Synode von Kiersy von 858, welche die erste
sichere Spur ihrer Benutzung enthalten, werden über die Synode von
Lestines irrtümliche Angaben gemacht, die der praefatio widersprechen,
so daſs diese damals mit der Sammlung noch nicht verbunden gewesen
sein kann 11. Dasselbe muſs von dem metrischen Prologe gelten, da
dieser auf die praefatio verweist.
Die Beziehungen der Sammlung zum Erzbistum Mainz sind er-
dichtet. Sie ist nicht in Mainz entstanden. Eine Reihe von Indizien
verrät westfränkischen Ursprung. So die feindselige Stellung, welche
Benedictus zu den Chorbischöfen einnimmt, die in Westfrancien leb-
haft bekämpft wurden, dagegen in Mainz unangefochtenes Ansehen
genossen, ferner die Benutzung und Verbreitung der Sammlung im
westfränkischen Reiche, während Rabanus, Otgars Nachfolger in Mainz,
dieselbe nicht kennt. Man hat diese Thatsachen mit den Angaben
des Prologs und der Vorrede durch die Annahme zu vereinigen ge-
sucht, daſs die Sammlung zwar in Mainz begonnen, aber im west-
fränkischen Reiche zum Abschluſs gebracht worden sei 12. Allein der
Prolog und die Vorrede teilen den Charakter der Sammlung, sie sind
auf Täuschung berechnet und verweisen auf Mainz, um von der Spur
des Fälschers abzulenken. Den Dolus verrät ein Passus des Lob-
gedichtes. Es sagt von Ludwig dem Deutschen: fluvii cis litora Reni
imperat. Ludwigs Herrschaft lag bekanntlich in der Hauptsache rechts
des Rheins, links des Rheins hatte er nur einige Gaue 13, darunter
den von Mainz. Ein in Mainz lebender Verfasser konnte unmöglich
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 25
[386]§ 55. Die Kapitulariensammlungen.
Ludwig dem Deutschen im Gegensatz zu seinen Brüdern die Herr-
schaft cis litora Reni zuschreiben. Dagegen ist bei einem west-
fränkischen Fälscher, der den Glauben erwecken will, daſs die Sammlung
in Mainz entstanden sei, sehr wohl der Irrtum denkbar, daſs Mainz
rechts des Rheins liege. Vermutlich haben die irreführenden Angaben
des Prologs und der praefatio mit der Thatsache gerechnet, daſs
von Mainz aus die unter Teilnahme des Bonifazius abgehaltenen
Synoden Karlmanns bekannt geworden sind und diese Ergänzung des
Ansegisus in kirchlichen Kreisen des fränkischen Reiches einiges Auf-
sehen erregt hatte. Das auf Mainz hinweisende Material war an die
Spitze der Fälschung gestellt worden. Die angeblichen Originale der
falsa in möglichst weite Ferne zu verlegen, lag im Interesse der-
jenigen, welche eine Entlarvung des Betrugs zu besorgen hatten.
Eine bewuſste Fälschung beging der Verfasser der Sammlung,
insofern er Rechtssätze erdichtete, die er in keiner der benutzten
Quellen vorfand 14, und insofern er Rechtssätze, die im weltlichen
Rechte keine oder doch nur örtlich beschränkte Geltung hatten, für
Rechtssätze des fränkischen Reiches ausgab. Die Tendenz des Werkes
ging dahin, die kirchlichen Gewalten durch Erhebung über die welt-
liche Macht von der letzteren unabhängig zu machen. Die Pseudo-
kapitularien haben ein Seitenstück in den um dieselbe Zeit, vermutlich
bald nach ihnen entstandenen Pseudodekretalen, einer gleichfalls in
Westfrancien entstandenen Fälschung, welche verwandte Zwecke ver-
folgt. Das treibende Motiv der damals in den kirchlichen Kreisen
auftretenden Fälschungsepidemie lag in den politischen Verhältnissen
der Zeit. Durch Pippin und Karl war die fränkische Kirche in engere
Beziehung zum Papsttum gesetzt worden. Seit der Wiederherstellung
des Kaisertums trat sie mit Rücksicht auf die religiösen Grundlagen
der Kaiseridee für die Einheit des Reiches ein. Aber schon unter
Ludwig I. sehen wir auf Synoden und Reichstagen die Bischöfe eine
Fülle von Forderungen erheben, welchen sich die weltliche Amts-
aristokratie entgegenstemmte. Als die Reichseinheit in Trümmer ge-
gangen war, stieg der Einfluſs des Laienadels und war keine Hoffnung
mehr vorhanden, die steigenden kirchlichen Ansprüche auf dem Wege
der weltlichen Gesetzgebung durchzusetzen. Man griff daher zu dem
Auskunftsmittel, die kirchlichen Wünsche auf dem Wege der Fälschung
zur Geltung zu bringen, indem man die entsprechenden Rechtssätze
als Kapitularien einschmuggelte. Hand in Hand ging damit das Be-
streben, den Halt, welchen die Kirche bei der Auflösung der Universal-
[387]§ 56. Langob. Recht d. fränk. u. nachfränk. Zeit.
monarchie eingebüſst hatte, durch die Erhöhung des päpstlichen Ein-
flusses zu ersetzen 15.
Die auf den Namen Benedictus in Kurs gesetzte Fälschung wurde
für echt gehalten. Karl der Kahle zitierte sie arglos als Sammlung
von Kapitularien seiner Vorgänger. Ihr hauptsächliches Ansehen hatte
sie im westfränkischen Reiche 16.
Ausgaben: Concordia ed. Bluhme in LL IV 235. Der Liber legis Langobar-
dorum Papiensis und dessen Expositio, hg. von Boretius, LL IV 595. Die editio
princeps der Lombarda hat Nic. Boherius u. d. Tit.: Leges Langobardorum
seu Capitulare divi … Caroli Magni imperatoris … 1512 zu Lyon publiziert.
Die älteste glossierte Ausgabe der Lombarda erschien u. d. Tit.: Leges Langobar-
dorum cum argutissimis glosis D. Caroli de Tocco … Venetiis 1537. Weitere Aus-
gaben verzeichnet Savigny, Gesch. des röm. Rechts V 179. 180. Die Lombarda
steht auch bei Goldast, Collectio consuetudinum et legum imper., 1613, III 11
und bei Lindenbrog, Codex leg. antiqu. S 509. 1337. Die Rubriken der Lom-
barda Casinensis und der Lombarda vulgata verzeichnet Bluhme, LL IV 607 ff.
Über Handschriften s. Anschütz im Arch. XI 219. Die sog. Lombardakommen-
tare des Ariprand und Albertus edierte ders. 1855. Summa legis Longobardorum,
Longob. Rechtsbuch aus dem 12. Jahrh., hg. von dems. 1870.
Zur Litteratur: Merkel, Gesch. des Langobardenrechts, 1850, in erweiterter
ital. Übersetzung von Bollati in den Memorie e Documenti inediti spettanti alla
storia del diritto italiano del medio aevo, Turin 1857. Boretius, Praefatio in
LL IV 46 ff. und Bluhme, Über die Lombarda a. O. S 98. Savigny, Gesch.
des röm. Rechts II 209. Stobbe, RQ I 594. Siegel, Die Lombarda-Commen-
tare, Sitz.-Ber. der Wiener Akademie XL, 1862. J. Ficker, Forschungen zur
Reichs- u. Rechtsgeschichte Italiens III 44 ff. Gengler, Rechtsdenkmäler S 162 ff.
Pertile, Storia del dir. ital. § 13. 44. 64.
Der Edictus Langobardorum blieb im Langobardenreiche nach
der fränkischen Eroberung in ungebrochener Geltung. In den Jahren
829—832 lieſs der Herzog und Markgraf Eberhard von Rätien und
Friaul aus dem Edictus Langobardorum ein Rechtsbuch ausarbeiten,
welches sich Concordia de singulis causis oder Capitula legis regum
Langobardorum nennt und den Inhalt des Edictus systematisch an-
ordnet, indem es die denselben Gegenstand betreffenden Gesetze der
einzelnen Könige zusammenstellt.
Die fränkische Herrschaft zog Italien in den Bannkreis des
Königsrechtes. Die allgemeinen Kapitularien, welche Karl der Groſse
25*
[388]§ 56. Das langobardische Recht
und seine Nachfolger für das fränkische Reich erlieſsen, wurden, so-
weit es als passend erschien, auch in Italien promulgiert, auſserdem
einzelne Kapitularien speziell für Italien abgefaſst (Capitula italica).
Ebenso haben die Karolinger, welche Italien als Unterkönige regierten,
wie Pippin und Lothar, durch italische Kapitularien die Rechts-
zustände des Landes geordnet. Das fränkische Königsrecht, welches
auf diese Weise in Italien eingeführt wurde, beanspruchte im all-
gemeinen territoriale Geltung, es wollte nicht bloſs für die Lango-
barden, sondern auch für die Römer und sonstige italische Unter-
thanen gelten. Doch stellen sich einzelne Kapitularien als Capitula
legi Langobardorum addenda, also als Ergänzungen des langobardischen
Stammesrechtes dar, ohne territoriale Geltung zu beanspruchen 1. Von
einer Mitwirkung des langobardischen Volkes und der langobardischen
Groſsen ist bei den im fränkischen Reiche entstandenen Kapitularien
unter Karl dem Groſsen und Ludwig I. keine Rede, mag es sich nun
um allgemeine oder um speziell italische Kapitularien handeln 2.
Wohl aber haben sich die italischen Könige Pippin, Lothar und
Ludwig II. bei ihren Gesetzen des Beirates der italischen Groſsen
bedient 3. Das fränkische Königsrecht schnitt nicht selten schroff in
das hergebrachte Langobardenrecht ein. Man fragte im fränkischen
Reiche nicht darnach, ob auch jeder Rechtssatz der Kapitularien in
das System des langobardischen Rechtes passe, sondern dekretierte
ohne Bedenken Rechtssätze aus dem Geiste des fränkischen Rechtes
heraus, indem es der Praxis und der Jurisprudenz Italiens überlassen
blieb, sie mit dem geltenden Rechte in Einklang zu setzen.
Zu dem Rechtsstoff des Ediktes traten im Langobardenreich als
eine in Form und Inhalt anders geartete Masse von Rechtsquellen
seit dem Beginn der fränkischen Herrschaft bis zum Ausgang des
neunten Jahrhunderts die Kapitularien Karls des Groſsen, seines
[389]der fränkischen und der nachfränkischen Zeit.
Sohnes Pippin, Ludwigs I., Lothars, Ludwigs II., Karls des Kahlen,
Widos und Lamberts hinzu. Nachdem Otto I. Italien in das Ver-
hältnis der Realunion mit dem deutschen Reiche gebracht hatte, haben
von den deutschen Königen Otto I., Otto III., Heinrich II., Konrad II.
und Heinrich III. einzelne Gesetze für Italien erlassen 4.
Die Kapitularien, die in Italien in Geltung traten, wurden nicht
etwa von Amts wegen mit dem Körper des langobardischen Ediktes
verbunden, sondern es war der Privatthätigkeit anheimgegeben, sie zu
sammeln. Die im fränkischen Reiche entstandenen Kapitulariensamm-
lungen des Ansegisus und Benedictus kamen in Italien nicht in Gebrauch,
sie konnten hier nicht benutzt werden, weil sie sich nicht auf den
für Italien berechneten Teil der Kapitularien beschränkten. Vielmehr
wurde in Italien eine selbständige Sammlung der daselbst geltenden
Kapitularien veranstaltet 5, welche uns zuerst in einer Urkunde von
988 6 als Capitulare Langobardorum, später auch unter dem Namen
Capitulare schlechtweg genannt wird. Vermutlich war schon vor 891
in der Lombardei eine Sammlung fränkischer Kapitularien vorhanden,
welche man in der Zeit von 996 bis 1019 durch ein Kapitular Widos
von 891 und durch die Gesetze der Ottonen 7 ergänzte, während die
der beiden Heinriche und Konrads später gelegentlich nachgetragen
wurden.
Auf Grund des Ediktes und des Kapitulars entwickelte sich in
Italien und zwar zunächst in der Lombardei eine rege juristische
Thätigkeit 8, welche in der Entstehung lombardischer Rechtsschulen
ihren Ausgangspunkt hatte. Den gröſsten Ruhm erwarb die besonders
in der ersten Hälfte des elften Jahrhunderts blühende Rechtsschule
von Pavia, deren Häupter als königliche Pfalzrichter auch in der
Rechtspraxis weit verbreitetes Ansehen genossen. In der späteren
langobardischen Rechtslitteratur werden die älteren Juristen, auf die
sie sich beruft, unter dem Ausdruck antiqui iudices, causidici oder
[390]§ 56. Das langobardische Recht
antiqui schlechtweg zusammengefaſst. Von den Autoritäten, die sie
mit Namen nennt, sind die Papienser Bonifilius und Lanfrancus,
Häupter zweier Rechtsschulen, ferner Wilhelmus und dessen Sohn
Hugo hervorzuheben; auſser ihnen der oft genannte Walcausus 9, von
dem es ungewiſs ist, ob er der Schule von Pavia angehörte 10.
Die Thätigkeit der älteren langobardischen Jurisprudenz wendete
sich in erster Linie den Quellen zu. Sie hat den Edictus und das
Capitulare zu einem geschlossenen Rechtsbuch, dem Liber legis
Langobardorum (Liber Papiensis) verbunden. Für die Zwecke des
Rechtsunterrichts entstand in den Jahren 1019—1037 eine Sammlung,
welche dem Texte der Gesetze nicht nur Gerichtsformeln hinzufügte,
sondern ihn auch glossierte 11, eine Methode, in welcher die lango-
bardische Jurisprudenz Vorläuferin und Lehrmeisterin der romanisti-
schen Glossatorenschule war. Als litterarische Produkte der Papienser
sind uns ferner mehrere kleine Traktate erhalten, darunter die so-
genannten Quaestiones et Monita 12 aus dem Anfange des elften Jahr-
hunderts, vermischte Ausführungen über langobardisches, salisches und
römisches Recht, worin unter anderem das Erbrecht, der gerichtliche
Zweikampf und das Lebensalter behandelt werden 13. Für die Notariats-
praxis wurde vor 1070, wahrscheinlich noch in der ersten Hälfte des
elften Jahrhunderts das Cartularium Langobardicum zusammengestellt,
eine Sammlung von Formeln für die mündlichen Erklärungen und
formellen Handlungen, welche bei der Übergabe von Geschäftsurkunden
(cartae) und bei der Erwirkung von gerichtlichen notitiae zu beob-
achten waren.
Auf das römische Recht haben schon die älteren langobardischen
Juristen in ihren Arbeiten vielfach Rücksicht genommen, wobei sie
namentlich die Institutionen benutzten und zur Erläuterung des
langobardischen Rechtes verwendeten. Der Einfluſs des römischen
Rechtes stieg in der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts. Bald
nach 1070 wurde zum Liber legis Langobardorum ein umfang-
reicher Kommentar verfaſst, der sich als Expositio bezeichnet. Darin
wird das römische Recht bereits als eine Lex omnium generalis 14
[391]der fränkischen und der nachfränkischen Zeit.
angesehen und in häufigen Zitaten nicht nur aus den Institutionen,
sondern auch aus den neun ersten Büchern des Kodex, aus Julians
Novellenauszug und aus den Digesten verwertet. Die für die spätere
Ausgestaltung des langobardischen und für die Geschichte des römischen
Rechtes unschätzbare Arbeit war nicht sowohl für den Unterricht als
für den Gebrauch der richterlichen Praxis bestimmt.
Noch vor Beginn des zwölften Jahrhunderts wurde der Liber
legis Langobardorum umgearbeitet, indem man von der chronologischen
Anordnung der einzelnen Gesetze abging und den gesamten Stoff in
systematisch geordnete Titel verteilte 15. Dieses Rechtsbuch, welches
ursprünglich in drei, später in vier Bücher zerfiel, wurde von der
Bologneser Rechtsschule rezipiert und als Lombarda von dem Liber
Papiensis unterschieden 16, den es schlieſslich völlig verdrängte. Die
Lombarda liegt uns in zwei Hauptformen vor. Die ältere, dem Liber
Papiensis näherstehende wird durch eine Handschrift des Klosters Monte
Cassino vertreten und daher als Lombarda Casinensis bezeichnet. Die
jüngere, handschriftlich viel mehr verbreitete Form nennt man Lom-
barda vulgata. Auf die Lombarda wurde die zum Liber Papiensis ver-
faſste Expositio übertragen. Auſserdem versah man sie mit einem
reichhaltigen Apparate von Glossen, der zu Anfang des dreizehnten
Jahrhunderts durch Carolus de Tocco 17, den Accursius der lango-
bardischen Jurisprudenz, seine abschlieſsende Form erhielt. Auf
Grundlage der Lombarda wurden an der Rechtsschule von Bologna
Vorlesungen über lombardisches Recht gehalten. Aus solchen Vor-
lesungen gingen im zwölften Jahrhundert die sogenannten Lombarda-
kommentare hervor, nachgeschriebene Hefte von Scholaren. Auf
Grund eines Miſsverständnisses hat man sie für litterarische Arbeiten
der Juristen Ariprand und Albertus angesehen, die darin gelegentlich
als Autoritäten zitiert werden 18. Zur Einführung in das Studium der
Lombarda wurde im zwölften Jahrhundert (wahrscheinlich in der
zweiten Hälfte desselben) von einem unbekannten Autor eine knapp
gefaſste Summa ausgearbeitet 19.
Theodor Sickel, Lehre von den Urkunden der ersten Karolinger (751—840), als
erster Teil der Acta regum et imperatorum Karolinorum 1867, wo S 34 ff. die
ältere Litteratur der Diplomatik besprochen wird. Mühlbacher, Die Urkunden
Karls III., Wiener Sitz.-Ber. 1878, XCII. Stumpf, Die Reichskanzler vornehmlich
des 10., 11. u. 12. Jahrh. nebst einem Rückblicke auf die Merowinger- und Karo-
linger-Urkunden I, 1865; derselbe, Über die Merowinger-Diplome, in v. Sybels
Hist. Z XXIX 343. Jul. Ficker, Beiträge zur Urkundenlehre, 2 Bde 1877. 1878.
Brunner, Zur Rechtsgesch. der röm. und germ. Urkunde I, 1880; derselbe, Das
Gerichtszeugnis und die fränk. Königsurkunde, 1873 (Festgaben für Heffter, S 133);
derselbe, Carta und Notitia, 1877 (Commentationes philologae in honorem Th.
Mommseni S 570). Zeumer, Cartam levare in St. Galler Urkunden, in Z 2 f. RG
IV 113. H. Breſslau, Urkundenbeweis u. Urkundenschreiber im älteren deutschen
Recht, Forschungen zur deutschen Gesch. XXVI 1. O. Redlich, Über bairische
Traditionsbücher und Traditionen, in den Mitth. des österr. Instituts V 1—82.
Das germanische Urkundenwesen ging aus dem spätrömischen
hervor. Als die Germanen anfingen, die Urkunde nach römischem
Vorbilde in der Verwaltung und im Rechtsleben anzuwenden, be-
dienten sie sich römischer Urkundenschreiber oder solcher Stammes-
genossen, welche bei diesen in die Schule gegangen waren. Die
älteste germanische Königsurkunde, ein Schenkungsbrief Odovakers von
489, ist noch ganz in den Formen des römisch-italischen Urkunden-
typus abgefaſst 1. Bei den Franken hat das Urkundenwesen allerdings
schon frühzeitig selbständige Entwicklungswege eingeschlagen. Den-
noch zeigen zahlreiche fränkische Urkundenformulare noch deutlich
das spätrömische Gepräge 2 und hat in einzelnen Gegenden des Reiches
sich der spezifisch römische Urkundentypus bis in das neunte Jahr-
hundert hinein erhalten 3.
Das Wort Urkunde ist in der Bedeutung eines schriftlichen
Zeugnisses über rechtliche Akte verhältnismäſsig jung 4. Die fränkische
[393]§ 57. Die Urkunden.
Zeit hat es in diesem Sinne noch nicht angewendet. Vielmehr be-
deutet ahd. urchundo, alts. urcundëo den Zeugen, urchundî das
Zeugnis. Gemeingermanischer Ausdruck für das, was wir jetzt Ur-
kunde nennen, war Buch, ein Wort, welches ursprünglich im Singular
den Buchstaben, im Plural das Geschriebene bezeichnete und aus dem
Einritzen der Runen auf Buchenstäbe erklärt wird 5. Boka, bokos 6
verwendet schon das Gotische für Urkunde 7. Den Friesen und
Angelsachsen ist bôcland, boklond bis in das zwölfte Jahrhundert das
durch Urkunde erworbene Land 8. Althochdeutsche Glossen und Ur-
kunden geben carta, cartula, epistola, litterae durch puoh, buoch 9.
Die Urkunden sind in Königsurkunden und in Privaturkunden zu
scheiden. Bei den Franken hat nur die Königsurkunde den Charakter
der wahren öffentlichen Urkunde, während in Italien ihn auch die
Gerichtsurkunde besitzt. Rechtlich zeichnet sich die Königsurkunde
vor der Privaturkunde dadurch aus, daſs sie die Zeugen entbehren
kann und regelmäſsig entbehrt, während die Privaturkunde die Namen
von Zeugen nennen muſs 10. Die Königsurkunde bedarf der Zeugen
nicht, weil sie nicht angefochten werden kann. Dagegen ist die
Privaturkunde im Wege der Urkundenschelte anfechtbar und müssen
im Falle der Anfechtung die Zeugen für die Wahrheit des Urkunden-
inhaltes eintreten.
Unter den Königsurkunden 11 lassen sich, soweit ihr Inhalt recht-
lich von Belang ist, diplomata, placita, indiculi und capitularia
unterscheiden. Das Diplom ist die feierlichste Form der Königs-
urkunde. Es ist dispositive Urkunde, indem es Rechtsverhältnisse
begründet oder bestätigt, Vorrechte verleiht oder bekräftigt. Minder
wichtige Verfügungen werden nicht in der Form des Diploms ge-
troffen 12. Als placita bezeichnete man die königlichen Urkunden,
welche über Verhandlungen des Königsgerichtes ausgestellt wurden.
Sie sind im Tone eines vom König selbst erstatteten Berichtes über
die gerichtliche Verhandlung gehalten, an welchen sich das dem Urteil
entsprechende Rechtsgebot (praeceptum) des Königs anzuschlieſsen
pflegt 13. In merowingischer Zeit ist die Ausfertigung der placita
ebenso wie der Diplome und sonstigen königlichen Schriftstücke Sache
der königlichen Kanzlei, in karolingischer Zeit ist die Ausfertigung
der placita der Kanzlei entzogen und dem Pfalzgrafen überwiesen,
welchem zu diesem Zwecke besondere Gerichtsschreiber untergeben
sind. Während die placita in diplomatischer Beziehung wenigstens
hinsichtlich des Protokolls noch als eine Unterart der Diplome er-
scheinen, sind die indiculi, kurrente Stücke der Rechtspflege und der
[395]§ 57. Die Urkunden.
Verwaltung, minder förmlich und in der Regel kürzer gefaſst 14. Die
gerichtlichen indiculi werden unter den Karolingern in der pfalz-
gräflichen Gerichtsschreiberei ausgestellt. Die Parteien, für die sie
bestimmt sind, erhalten sie aus der Hand des Pfalzgrafen 15. Von
den Kapitularien, deren Ausfertigung dem karolingischen Kanzler ob-
lag 16, ist schon oben § 54 die Rede gewesen.
Die Privaturkunden zerfallen in Bezug auf ihre Form und ihre
rechtliche Bedeutung in zwei Gruppen, nämlich in Geschäftsurkunden
und in schlichte Beweisurkunden. Letztere sind diejenigen, welche
nur ein schriftliches Zeugnis über eine an sich rechtswirksame Hand-
lung schaffen wollen. Dagegen soll durch die Geschäftsurkunde das
beurkundete Rechtsgeschäft nicht bloſs bewiesen, sondern begründet,
zu privatrechtlicher Existenz gebracht werden. Weil der Aussteller
vermittelst der Geschäftsurkunde eine rechtliche Disposition trifft,
nennt man sie auch dispositive Urkunde. Die Terminologie der
fränkischen Zeit bezeichnet die Beweisurkunde als notitia, breve,
breve commemoratorium, memoratorium, die Geschäftsurkunde als
carta, cartula, epistola, testamentum, häufig auch nach dem Namen
des Geschäftes, das durch sie zustande gekommen ist, so daſs z. B.
die Verkaufsurkunde venditio, die Schenkungsurkunde donatio, die
Freilassungsurkunde ingenuitas heiſst. Den Baiern ist die Geschäfts-
urkunde epistola, während carta als weiterer Begriff die epistola und
die notitia in sich faſst. Doch wird auch in anderen Teilen des
fränkischen Reiches das Wort carta, namentlich seit dem neunten
Jahrhundert, gelegentlich zur Bezeichnung der notitia verwendet, wo-
gegen Italien den genauen Sprachgebrauch länger festhielt.
Die carta setzt begrifflich einen Urkundungsakt zwischen min-
destens zwei Personen voraus, nämlich zwischen dem Aussteller, das
heiſst demjenigen, der die Urkunde schreibt oder — in der fränkischen
Zeit fast ausnahmslose Regel — schreiben läſst, und dem Destinatär,
demjenigen, der die Urkunde erhalten und behalten soll. Der Aus-
steller wird häufig in der Subskriptions- oder Signationsformel als
derjenige genannt, qui cartam fieri rogavit, oder wird sonst durch den
[396]§ 57. Die Urkunden.
Tenor der carta als solcher gekennzeichnet. Wesentlich ist der carta
eine Handlung des Ausstellers, welche firmatio genannt wird und darin
besteht, daſs er die Urkunde unterschreibt oder mit seinem Hand-
zeichen (signum) versieht oder wenigstens durch Handauflegung be-
rührt 17. Zur firmatio des Ausstellers tritt dann die firmatio der
Zeugen hinzu, welche gleichfalls durch Unterschreiben, Signieren oder
Berühren der carta geschieht 18. Weil sie die Hand auf die Urkunde
legen, heiſsen die Zeugen gelegentlich manumissores. Öfter werden
sie firmatores genannt, ein Ausdruck, der auch den Aussteller in sich
begreifen kann. Die firmatio des Ausstellers oder der Zeugen oder
beider wird nicht selten am Schluſs des Urkundentextes durch die
Klausel stipulatione, adstipulatione subnixa oder interposita angekün-
digt oder konstatiert. Das Wort stipulatio ist in dieser Anwendung
gleichbedeutend mit den gelegentlich dafür eintretenden Ausdrücken
firmatio, affirmatio, roboratio 19. Althochdeutsch heiſst die stipulatio
im gedachten Sinne fastî oder festî oder fastinôd 20. Für adstipulatio
begegnet uns auch ahd. urchundî 21, ags. cyđnes 22 (Zeugnis). Alt-
hochdeutsche Glossen geben subscribere, signare und tangere mit
fastinôn 23. Von der manufirmatio, der mittels der Hand erfolgenden
[397]§ 57. Die Urkunden.
festî hat sich zur Bezeichnung der carta selbst der Ausdruck hant-
festî, Handfeste gebildet 24.
Der Vertragsschluſs mittels carta ist nach den deutschen Rechten
fränkischer Zeit ein rechtsförmlicher Akt. Er erfordert die Gegen-
wart des Ausstellers, des Destinatärs und der Zeugen. Der Aussteller
giebt eine mündliche Erklärung ab, welche dem Tenor der carta
entspricht. Dann folgt als der wichtigste Teil des Urkundungsaktes
die traditio cartae, darin bestehend, daſs der Aussteller die Urkunde
dem Destinatär in rechtsförmlicher Weise übergiebt oder zuwirft.
Nach den deutschen Stammesrechten wurde die carta zunächst auf
den Erdboden gelegt, mit den nach Lage des Geschäfts erforderlichen
Symbolen vom Aussteller aufgenommen und so dem Destinatär dar-
gereicht 25. Das hieſs levare, allevare cartam. Der Rechtsbrauch die
Urkunden von der Erde „aufzunehmen“ ist uns für die verschiedenen
in Italien vertretenen deutschen Stämme durch die italienische No-
tariatspraxis und auſserdem durch fränkische, alamannische und bur-
gundische Urkunden vom 9. bis 11. Jahrhundert bezeugt 26. Gegen-
stand der levatio ist nicht die vollendete carta; tradiert wird im
Rechtssinne nur das Urkundenmaterial, das Pergament, welches den
Inhalt der carta aufnehmen soll. Erst anläſslich der levatio wird der
Schreiber gebeten die Urkunde zu schreiben; erst nach der levatio
findet die Handfestung von Seite des Ausstellers und der Zeugen statt.
Da die carta das durch die Begebung perfizierte Rechtsgeschäft be-
weisen soll, müssen die Akte, welche aus dem Perfektionsmittel des
Vertrags ein Beweisdokument schaffen, der Begebung des Pergamentes
nachfolgen 27. Doch stand nichts im Wege, die carta soweit vor-
23
[398]§ 57. Die Urkunden.
zubereiten, daſs der Schreiber nach der levatio und firmatio nur noch
das Eschatokoll zu schreiben oder zu ergänzen brauchte, indem er die
signa der Zeugen, regelmäſsig auch seine subscriptio 28 und das
Datum eintrug. Das die Datierungszeile eröffnende datum oder data
ist seinem Wortsinne gemäſs auf die Aushändigung der Urkunde zu
beziehen. Gewöhnlich ist damit die Übergabe der vollzogenen Urkunde
durch die Hand des Schreibers, manchmal aber die eigentliche traditio
cartae, die Begebung durch die Hand des Ausstellers gemeint 29.
Notitiae sind Referate über gerichtliche oder auſsergerichtliche
Akte, die ohne urkundliche Vollziehung bereits zu rechtlicher Wirk-
samkeit gelangt sind. Bei dem Zustandekommen der notitia, die nur
ein schriftliches Zeugnis sein will, findet eine der traditio cartae ent-
sprechende Handlung nicht statt. Am schärfsten prägt den Unter-
schied zwischen carta und notitia das italienische Urkundenwesen
aus. Mit Ausnahme der Gerichtsurkunde stellt sich die italienische
notitia (memoratorium) als eine vom Destinatär selbst ausgestellte
Urkunde dar. Sie ist unfähig signum oder Unterschrift des Aus-
stellers aufzunehmen, da ja dieser zugleich Destinatär der Urkunde
ist und die eigene firmatio für ihn keine Bedeutung haben kann. Ihr
Beweiswert liegt in den Zeugen. Als Aussteller der gerichtlichen
notitia erscheint in Italien der Richter, beziehungsweise das Gericht,
denn sie wird auf Grund eines gerichtlichen Urkundungsbefehls ge-
schrieben. Dem fränkischen und überhaupt dem auſseritalischen Ur-
kundenwesen ist der sachliche Unterschied gerichtlicher und auſser-
gerichtlicher notitiae fremd; dagegen kennt es den Unterschied zwischen
notitiae, die der Destinatär, und solchen, die der Vertragsgegner des-
selben ausstellt. Diese haben gewisse formelle Merkmale, nämlich
die Ausstellungsklauseln mit der carta gemeinsam. Jene, die ihren
Aussteller häufig gar nicht nennen, sind mitunter von seinem Ver-
tragsgegner signiert. Eigentliche Gerichtsurkunden stellt nach frän-
kischem Rechte nur das Königsgericht aus. Die notitiae, wie sie sonst
27
[399]§ 57. Die Urkunden.
über gerichtliche Urteile oder Handlungen abgefaſst wurden, sind
nicht vom Gericht, sondern vom Destinatär, also von der obsiegenden
Prozeſspartei oder von dem, der durch das gerichtliche Rechtsgeschäft
ein Recht erworben hat, und zwar mit gerichtlicher Erlaubnis aus-
gestellt 30, welche in Form eines Urteils gewährt werden kann. Der
Aussteller darf sich des Gerichtsschreibers bedienen und die firmatio
des Richters und der Urteilfinder verlangen, die ihm nicht verweigert
werden kann.
Seit der Auflösung der fränkischen Monarchie beginnen in
Deutschland die cartae seltener zu werden. In nachfränkischer Zeit
ist die carta zuerst in Baiern, dann auch in Franken und Schwaben
durch die notitia oder durch völlig unbeglaubigte Privatakte fast voll-
ständig verdrängt worden 31, bis seit dem zwölften Jahrhundert das
Urkundensiegel eine Umwälzung im Privaturkundenwesen hervor-
brachte.
Weitaus die Mehrzahl der überlieferten Urkunden betrifft das
Rechtsleben der Kirchen. Im Geschäftsverkehr der Laien hat man —
namentlich in den ostrheinischen Gebieten des Frankenreiches — weni-
ger Gewicht auf die Beurkundung gelegt als in kirchlichen Kreisen.
Dazu kommt, daſs die in Laienhänden befindlichen Urkunden die
Stürme der Zeiten weit seltener überdauerten, als diejenigen, welche
in den kirchlichen Archiven eine schützende Stätte fanden. Nur ein
Teil der uns bekannten Urkunden ist im Original erhalten. Manche
Stücke haben wir in Einzelkopien; aber wohl die Mehrzahl der vor-
handenen Urkundentexte verdanken wir kirchlichen Sammlungen des
Urkundenstoffes. Im Laufe der Zeit schwoll nämlich der Urkunden-
bestand einzelner Kirchen so sehr an, daſs es schwierig oder unmög-
lich wurde aus ihm eine Übersicht über die Besitztümer und Rechte
der Kirche zu gewinnen. Man sah sich daher veranlaſst, zusammen-
fassende Aufzeichnungen der vorhandenen Rechtstitel anzufertigen.
Unter den Arbeiten dieser Art können wir zwei Hauptgruppen unter-
scheiden, nämlich Chartularien oder Kopialbücher einerseits, Register
oder Polyptycha andererseits. Bei der Anlage der ersteren trug man
Abschriften der Originale oder der Einzelkopien in ein Buch ein, in-
[400]§ 57. Die Urkunden.
dem die einzelnen Rechtstitel entweder nach Gauen und Ortschaften 32
oder chronologisch oder wenigstens nach den Bischöfen und Äbten,
unter welchen sie erworben worden waren 33, oder ohne ersichtlichen
Plan 34 zusammengestellt wurden. Dabei nahmen die Kopisten ihre
Vorlagen nicht immer vollständig auf, sondern unterdrückten die An-
gaben, welche zur Zeit der Abfassung des Kopialbuchs unmittelbaren
praktischen Wert nicht mehr hatten, wie die Namen der Schreiber 35
und längst verstorbener Zeugen 36, oder sie beschränkten sich etwa
auf kurz gefaſste Urkundenexzerpte. Wo das Kopialbuch von vorne-
herein darauf angelegt war, zu etwaigen Beweiszwecken die Zeugen-
namen zu überliefern, hat es im Laufe der Zeit hie und da den Cha-
rakter des Kopialbuches abgestreift und wurde zu einem gleichzeitig
und unmittelbar geführten Protokoll über die Rechtsgeschäfte der
Kirche, indem man die Aufnahme von Erwerbsurkunden durch Ein-
tragung in den Sammelkodex ersetzte 37.
Nur zu Verwaltungszwecken, um die Rechte der Kirche in Evi-
denz zu halten, wurden Register 38 angelegt, die sich als Güterver-
[401]§ 58. Die Formelsammlungen.
zeichnisse und Zinsbücher darstellen. So entstanden in Salzburg gegen
Ausgang des 8. Jahrhunderts die sog. Breves notitiae, kurze Auszüge
aus den vorhandenen Traditionsurkunden, welche eine nach der Lage
der Grundstücke geordnete Übersicht des kirchlichen Besitzstandes
darbieten wollen 39. Eine der wichtigsten derartigen Arbeiten ist das
in der Zeit Karls d. Gr. angelegte Verzeichnis der Güter, Hintersassen
und Hebungen von St. Germain des Prés 40.
Eine abschlieſsende Ausgabe der Formelsammlungen lieferte K. Zeumer in Mon.
Germ. LL sectio 5, Formulae Merowingici et Karolini aevi, 1886. Eine ältere
systematisch angelegte Ausgabe der einzelnen Formeln ist E. de Rozière, Recueil
général des formules usitées dans l’empire des Francs du Ve au Xe siècle, 3 vol.
1859—1871. Ein systematisches Verzeichnis steht bei Zeumer S IX—XVII. Über
die älteren Gesamtausgaben der Formeln von Bignon, Lindenbruch, Baluze, Canciani
und Walter s. Zeumer, NA VI 98—115.
Zur Litteratur: J. A. L. Seidensticker, Commentatio de Marculfinis simili-
busque formulis, 1815. K. Zeumer, Über die älteren fränkischen Formelsamm-
lungen, NA VI 1—115; derselbe, Über die alamannischen Formelsammlungen,
NA VIII 475; derselbe in den Göttingischen gelehrten Anzeigen 1882 Nr 44. 45,
S 1389—1415; derselbe, Neue Erörterungen über ältere fränk. Formelsammlungen,
NA XI 313; derselbe in den Einleitungen zu den einzelnen Formelsammlungen
und S 726 seiner Ausgabe. R. Schröder, Über die fränk. Formelsammlungen,
Z2 f. RG IV 75. Biedenweg, Commentatio ad formulas Visigothicas, 1856.
Im fränkischen Reiche fehlte ein zünftiger und erblicher Schreiber-
stand, der die hergebrachte Technik des Urkundenwesens durch hand-
werksmäſsige Einschulung von Lehrlingen fortgepflanzt hätte. Es ergab
sich daher, als und soweit die trotzdem fortlebende Tradition der
römischen Urkundenpraxis nicht mehr ausreichte 1, für die Herstellung
38
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 26
[402]§ 58. Die Formelsammlungen.
von Urkunden das Bedürfnis nach Formelsammlungen, deren uns eine
beträchtliche Anzahl erhalten ist. Doch scheinen selbst die ältesten
um mehr wie ein volles Jahrhundert später als die ersten Aufzeich-
nungen der Volksrechte entstanden zu sein. Die meisten Sammlungen
stammen aus Neustrien, wo bei der Verquickung römischen und frän-
kischen Rechtes die Abfassung neuer, die Umwandlung der her-
gebrachten Formulare auf das dringendste nötig wurde. Die alaman-
nischen und bairischen Sammlungen entstanden unter fränkischem
Einfluſs. Eine der ältesten Sammlungen hat das westgotische Reich
aufzuweisen, keine dagegen Italien, weil sich hier ein gewerbsmäſsiges
Notariat ausgebildet hatte und jeder Notar in seinen Notariatsakten
eine Auswahl von Mustern besaſs, deren Kenntnis er auf seinen Nach-
folger vererbte, wie er sie von seinem Vorgänger erworben hatte.
Die Verfasser der Formelsammlungen beschränkten sich in der Regel
auf eine vorzugsweise kompilierende Thätigkeit, indem sie die Muster,
die sie zusammenstellten, nicht erfanden, sondern, wie wir dies an
einzelnen Stücken bestimmt nachweisen können, vorhandenen Ur-
kunden mit gröſserer oder geringerer Freiheit nachbildeten oder
geradezu entlehnten, wobei die Namen des Ausstellers und des Desti-
natärs, die sonstigen individuellen Beziehungen der Vorlage, oft auch
das Protokoll und das Eschatokoll getilgt wurden. Die rechtsgeschicht-
lich wichtigsten Formelsammlungen sind — nach Rechtsgebieten 2 und
soweit es angeht innerhalb derselben chronologisch geordnet — die
folgenden:
I. Die Formulae Wisigothicae3, eine leider nicht vollständig
überlieferte Sammlung, von welcher uns 46 zum Teil verstümmelte
Formeln erhalten sind. Sie zeigen unter allen uns erhaltenen Samm-
lungen den engsten Anschluſs an das spätrömische Urkundenwesen.
Einzelne Formeln sind für die Goten, andere auch für die Römer be-
rechnet. Der Verfasser war vermutlich ein Notar aus Cordova 4. Die
Lex Romana Wisigothorum wird mehrfach allegiert 5. Formel 20, eine
in Hexametern abgefaſste Dotationsurkunde, stammt, wie der Schluſs
ersehen läſst, aus dem zweiten Jahre König Sisibuts (615—16). Kann
daraus nicht mit voller Sicherheit gefolgert werden, daſs die ganze
Sammlung noch vor dem Tode Sisibuts (620) angelegt wurde, so
[403]§ 58. Die Formelsammlungen.
muſs sie doch noch vor der Mitte des siebenten Jahrhunderts ent-
standen sein. Denn die Allegate aus der Lex Romana weisen auf die
Zeit hin, ehe Reckessuinth die gerichtliche Anwendung derselben ver-
boten hatte 6. In Formel 20 bestellt der Mann die Hälfte seines Ver-
mögens als dos, während schon ein Gesetz Chindasuinths von 645
nur noch den zehnten Teil als dos zu verschreiben gestattete 7. Die
ursprüngliche Sammlung scheint in der zweiten Hälfte des siebenten
Jahrhunderts durch Zufügung einiger Stücke vermehrt worden zu
sein. Denn Formel 40 markiert ein Zitat aus der Lex Wisigothorum
nach Büchern, Titeln und Ären (erae), setzt also die Reccessuinthiana
voraus 8.
II. Westfränkische und burgundische Sammlungen.
1. Die Formulae Andegavenses9, 60 Formeln, die uns in
einer aus dem Anfang des achten Jahrhunderts stammenden Fuldaer
Handschrift überliefert sind. Die Sammlung wurde zu Angers wahr-
scheinlich von einem Schreiber der städtischen Kurie oder von einem
Gerichtsschreiber abgefaſst. Der Inhalt der Formeln zeigt eine eigen-
tümliche Mischung römischen und fränkischen Rechtes. Mehrfach wird
auf das römische Recht als die Lex Romana Bezug genommen 10.
Römisch sind die dem fränkischen Rechte durchaus unbekannten Stell-
vertretungsmandate. Veräuſserungsurkunden werden vor der Kurie
(apud gesta municipalia) verlautbart. Anschluſs an römische Einrich-
tungen verraten die Erbpachtverhältnisse und verrät die Kompetenz
der Kirchen in Sachen der Gerichtsbarkeit 11. Daneben begegnen uns
zahlreiche fränkische Rechtsausdrücke und Rechtseinrichtungen, wie
mallare, admallare 12, solsadia, alodis, texaca (F. 15), revestire (47),
der Name der Rachineburgen (50 a), der Eid mit Eidhelfern, das ehe-
fräuliche Errungenschaftsdrittel (59). Das Wort dos hat nicht die
römische Bedeutung der Mitgift, sondern die germanische des Wit-
tums. Der Ersatz verlorener Urkunden ist nicht nach dem römischen
Verfahren, sondern nach der fränkischen Fortbildung desselben ge-
regelt 13. Die Entstehungszeit der Sammlung ist streitig. Die For-
26*
[404]§ 58. Die Formelsammlungen.
meln 1—57 sind jedenfalls nicht nach 678 entstanden; denn hinter F. 57
findet sich eine auf dieses Jahr hinweisende chronologische Angabe.
Die letzten drei Formeln sind erst nach 678 hinzugefügt worden.
Vergleicht man die Sammlung mit den noch im siebenten Jahr-
hundert entstandenen Formeln Marculfs, so wird man geneigt sein,
die Entstehung des Hauptteiles erheblich früher wie 678, etwa zu
Anfang des siebenten Jahrhunderts anzusetzen14.
2. Die Formulae Marculfi15, so genannt nach ihrem Verfasser,
einem Mönch Marculf, welcher die Sammlung im Alter von etwa
70 Jahren zum Zwecke des Unterrichts (ad exercenda initia puerorum)
und zum praktischen Gebrauche (als exemplaria) auf Geheiſs eines
Bischofs Landerich anlegte. Die Sammlung zerfällt in zwei Bücher,
von welchen das erste mit 40 Formeln dem königlichen Kanzleiwesen
(den cartae regales) gewidmet ist16, während das zweite 52 Formeln
für Privaturkunden (cartae pagenses) enthält. Für das Gebiet der
cartae übertrifft Marculf an Reichhaltigkeit alle übrigen Formelsamm-
lungen. Notitiae scheint er grundsätzlich ausgeschlossen zu haben.
Den Formeln liegt im allgemeinen salisches Recht zu Grunde. Doch
wird in einzelnen Stücken auf die lex oder consuetudo Romana Be-
[405]§ 58. Die Formelsammlungen.
dacht genommen. Die Privilegienformel (I 2) ist nach dem Muster
einer Urkunde Dagoberts I. von 635 für Resbach (Rebais) in der
Diözese Meaux ausgearbeitet, woraus man schlieſsen kann, daſs Mar-
culf diesem Kloster angehört habe. Unter dem Bischof Landerich,
der den Anstoſs zur Abfassung der Formelsammlung gab und an
welchen auch Marculfs Vorrede gerichtet ist, hat man früher fast all-
gemein den von Paris (etwa 650—656) verstanden. Wahrscheinlich
ist aber ein Bischof Landerich von Meaux gemeint17 und Marculfs
Werk nicht schon um die Mitte, sondern erst gegen Ende des siebenten
Jahrhunderts abgefaſst worden. Es gelangte zu hohem Ansehen und
wurde im achten Jahrhundert, namentlich in den Kanzleien der ersten
Karolinger, wie eine offizielle Sammlung benutzt. Zur Ausfüllung
einiger Lücken wurde dem Marculf um die Mitte des siebenten Jahr-
hunderts eine kleine Sammlung von 6 Formeln hinzugefügt18. Eine
Umarbeitung und Ergänzung Marculfscher Formeln, welche Briefmuster
und Formulare für Königsurkunden zusammenstellt, entstand in der
Zeit Karls des Groſsen vor dem Jahre 80019.
3. Die Formulae Bituricenses20, 19 Formeln, welche aus
Bourges stammen und nicht in einer geschlossenen Sammlung über-
liefert sind, sondern sich auf drei verschiedene Handschriften verteilen.
Die ersten fünf, in einem Handschriftenfragmente des achten Jahr-
hunderts enthalten, sind ein Bruchstück einer alten Formelsammlung,
welche vor dem Jahre 721 entstanden ist21. Sie haben in Form und
Inhalt römischrechtliches Gepräge22. Demselben Fragmente gehört
[406]§ 58. Die Formelsammlungen.
die daselbst nachträglich angefügte sechste Formel an, deren Datie-
rung23 auf das Jahr 734 oder 764—65 hinzuweisen scheint. Altertüm-
lich und jedenfalls noch merowingisch ist Formel 7, den Ersatz ver-
lorener Urkunden betreffend. Bedeutend jünger sind dagegen die
übrigen zwölf Formeln, eine ziemlich planlose, meist aus Briefmustern
bestehende Kompilation, deren einzelne Stücke in der Zeit Karls
des Groſsen teils vor, teils nach dessen Kaiserkrönung abgefaſst
worden sind.
4. Die Formulae Arvernenses24, eine aus der Auvergne
stammende Formelsammlung, von der wir nur ein Bruchstück (acht
Formeln, 1 und 8 verstümmelt) besitzen. Die ersten vier Formeln
beziehen sich auf das Verfahren zum Ersatz verlorener Urkunden,
welches nach römischer Weise und zwar unter Bezugnahme auf eine
uns unbekannte Konstitution des Honorius und Theodosius geregelt
ist25. Als Ursache des Urkundenverlustes wird in Formel 1 die
hostilitas Francorum angegeben. Die Entstehungszeit ist unsicher.
Jedenfalls muſs ihr eine Periode vorausgegangen sein, in der die
Auvergne fränkisch war, weil sich fränkische Rechtsausdrücke wie
alodis, litimonium finden. Andrerseits scheint die Erwähnung der
hostilitas Francorum in dem Formular eines öffentlich auszuhängenden
Schriftstückes eine Entstehungszeit auszuschlieſsen, in welcher die
Auvergne unter unmittelbarer fränkischer Herrschaft stand. Die Ab-
fassung der Sammlung dürfte daher noch vor der Eroberung Cler-
monts durch Pippin (761), in die Zeit der Selbständigkeit des aquita-
nischen Herzogtums zu setzen sein26.
5. Die Formulae Turonenses27, früher Sirmondicae28 ge-
nannt. Den ursprünglichen Kern der Sammlung, welche zu Tours
[407]§ 58. Die Formelsammlungen.
entstanden ist, bilden die Formeln 1—33. Für die Bedürfnisse von
Laien berechnet, mit Ausnahme von zwei Stücken (27. 33) nur Muster
für Privaturkunden enthaltend, sind sie wahrscheinlich von einem Ge-
richtsschreiber zusammengestellt worden. Mehr in der Form als im
Inhalte römisch, prunken sie mit gelehrten Zitaten aus der Lex
Romana Wisigothorum oder aus einem ihrer Auszüge29. Da einige
Formeln dem Marculf nachgebildet sind, muſs die Sammlung jünger
sein wie dieser. Wahrscheinlich entstand sie um die Mitte des achten
Jahrhunderts30. Die Formeln 34—45 sind zur Ergänzung später
hinzugefügt worden31.
6. Die Formulae Senonenses32, zwei Formelsammlungen ver-
schiedener Entstehungszeit, welche beide aus Sens stammen und früher
miſsbräuchlich als Appendix Marculfi bezeichnet worden sind33. Die
ältere Sammlung, 51 Formeln, teils cartae, teils notitiae enthaltend,
trägt die Überschrift Cartae Senicae (Senonicae) und ist, wie aus dem
Protokoll ihrer cartae regales erschlossen werden kann, in den Jahren
768—775 und zwar wahrscheinlich von einem Schreiber des Grafen
von Sens abgefaſst worden34. Einen Anhang der Cartae Senonicae bil-
den sechs ältere noch aus der merowingischen Zeit herrührende For-
meln. Die jüngere Sammlung (Formulae Senonenses recentiores) ist
erst unter Ludwig I. angelegt worden. Doch reicht das Alter einzelner
Stücke noch in die Zeit Karls des Groſsen hinauf35.
7. Die Formulae Salicae Bignonianae36, nach ihrem ersten
Herausgeber Bignon benannt. Die Sammlung hat die Überschrift: In-
[408]§ 58. Die Formelsammlungen.
cipiunt cartas regales sive pagensales, enthält aber nur eine carta
regalis, im übrigen Formeln für Rechtsgeschäfte, gerichtliche notitiae
und Briefmuster. Formel 16 ist ein Empfehlungsschreiben, welches ein
Majordomus einem Rompilger ausstellte. Dagegen deuten die Ge-
richtsurkunden, insbesondere die Erwähnung der Schöffen (F. 7), auf
karolingische Entstehungszeit. Die Sammlung ist jedenfalls vor der
Unterwerfung des Langobardenreiches, also nicht nach 774, wahr-
scheinlich in den ersten Regierungsjahren Karls des Groſsen angelegt
worden. Die Hinweise auf die Lex Salica (F. 1. 6) und die spezifisch
salischen Rechtsausdrücke ergeben, daſs sie in einem Gebiete salischen
Rechtes entstanden sei.
8. Die Formulae Salicae Merkelianae37. Die in einer vati-
kanischen Handschrift überlieferte und nach ihrem ersten Herausgeber
Joh. Merkel benannte Sammlung zerfällt in drei Bestandteile. Den
ursprünglichen Kern bildet eine systematisch geordnete Sammlung von
dreiſsig Formeln, welche Rechtsgeschäfte und Gerichtsverhandlungen
vor missus, comes und vicarius betreffen. Der Verfasser hat Marculf
und die Formulae Turonenses benutzt. Sein Werk kann also nicht
vor der Mitte des achten Jahrhunderts entstanden sein, ist aber jeden-
falls älter wie der zweite Bestandteil, Formel 3138—45, von welchen
vier der Bignonschen Sammlung entlehnt sind. Das Protokoll der
zwei cartae regales F. 40. 41 bietet den Königstitel: rex Francorum
et Langobardorum vir inlustris, der die Unterwerfung des Lango-
bardenreiches (im Juli 774) voraussetzt, während der Zusatz vir
inlustris seit 776 verschwand. Der zweite Teil der Merkelschen For-
meln dürfte also in den Jahren 774 und 775 entstanden sein, mit
Ausnahme der drei letzten Formeln, von welchen F. 44 aus der
Kanzlei Ludwigs des Frommen stammt. Den dritten Bestandteil bildet
eine Sammlung von Briefmustern (F. 46—66), die vor der Kaiser-
krönung Karls des Groſsen abgefaſst worden ist. Die Merkelschen
Formeln sind in einer westfränkischen Abtei und zwar, wie aus dem
ausgeprägt salischen Charakter der Sammlung gefolgert werden muſs,
in einer Gegend mit dichter salischer Bevölkerung entstanden39.
9. Die Formulae Salicae Lindenbrogianae40, nach Linden-
[409]§ 58. Die Formelsammlungen.
bruch benannt, der die Mehrzahl dieser Formeln zuerst abgedruckt
hat, unstreitig salischer Herkunft, wie die salischen Rechtssätze und
die ausdrücklichen Beziehungen auf salisches Recht ergeben. Die
Sammlung enthält nur Privaturkunden41. Ihre Heimat dürfte in den
Gebieten an der Maas und Schelde zu suchen sein. Sie muſs vor
den letzten Jahren des achten Jahrhunderts entstanden sein, da sie
um diese Zeit bereits in bairischen Urkunden benutzt wird42. Wahr-
scheinlich ist die Sammlung, eine der wichtigsten, weil sie die ein-
zige ist, von der wir mit Sicherheit sagen können, daſs sie auf alt-
salischem Boden entstand, durch den Salzburger Erzbischof Arno aus
dem Kloster St. Amand im Hennegau, dessen Abt er war, nach Baiern
gebracht worden, wo sie in ein Salzburger Formelbuch und in eine
Emmeramer Formelsammlung aufgenommen wurde43.
10. Die Pithousche Sammlung44, nur fragmentarisch in den
Zitaten überliefert, welche Du Cange aus einer dem Franz oder Peter
Pithou45 gehörigen Handschrift in sein Glossar aufnahm. Die For-
meln stammen aus einer Gegend salischen Rechtes und gehören wahr-
scheinlich noch dem achten Jahrhundert an.
11. Die Collectio Flaviniacensis46, eine noch im achten
Jahrhundert zu Flavigny in Burgund abgefaſste, umfangreiche Samm-
lung, welche sich zum gröſsten Teile als eine Bearbeitung des Mar-
culf und der Turonischen Formeln darstellt, aber auch einige selb-
ständige Stücke enthält.
12. Die Formulae imperiales47, 55 Formeln für Kaiser-
urkunden, die in der Kanzlei Ludwigs I. von einem Beamten der-
selben um das Jahr 830 (jedenfalls 828—840) zusammengestellt
wurden48. Zur Grundlage dienten Urkunden Ludwigs des Frommen,
[410]§ 58. Die Formelsammlungen.
aus welchen der Verfasser die individuellen Beziehungen nicht durch-
gängig tilgte. Die Sammlung ist uns in einer vermutlich aus Tours
stammenden Handschrift überliefert, und zwar ist sie in der Schnell-
schrift des Altertums, in tironischen Noten geschrieben49.
III. Alamannische Formelsammlungen.
Wie uns die Vorschriften der Lex Alamannorum und zahlreiche
Urkunden des achten Jahrhunderts beweisen, hatte Schwaben ein früh
entwickeltes Urkundenwesen. Doch fehlt es an Formelsammlungen
aus älterer Zeit. Die Urkunden wurden hier bis ins neunte Jahr-
hundert vorzugsweise von den Gerichtsschreibern abgefaſst, deren For-
melbücher uns nicht erhalten sind. Erst seit dem neunten Jahrhundert,
als die Klöster anfingen die Geschäftsurkunden durch ihre eigenen
officiales schreiben zu lassen, entstand in kirchlichen Kreisen ein leb-
hafteres Bedürfnis nach Anlegung von Formelsammlungen50. Hervor-
zuheben sind
1. Die Formulae Morbacenses51, eine in dem elsässischen
Kloster Murbach entstandene Sammlung von indiculi und epistolae,
deren Kern (1—26) den Jahren 774—791 angehört.
2. Die Formulae Augienses52, drei im Kloster Reichenau ent-
standene Sammlungen verschiedener Entstehungszeit. Collectio A,
hauptsächlich Eingangs- und Schluſsformeln für Urkunden enthaltend,
ist mit Benutzung Marculfs wahrscheinlich gegen Ende des achten
Jahrhunderts abgefaſst worden. Gröſsere rechtsgeschichtliche Ausbeute
gewährt Collectio B, deren Grundstock, eine Sammlung von Mustern
für Traditionsurkunden und Prekarien (1—12), dem achten Jahr-
hundert angehört. Die übrigen Stücke (13—43) sind in der Zeit vom
Ausgang des achten bis zur Mitte des neunten Jahrhunderts hinzu-
gefügt worden53. Collectio C ist eine Sammlung von Reichenauer Brief-
formeln aus den Jahren 823—844.
3. Die Formulae Sangallenses miscellaneae54, 23 ver-
schiedenartige Formeln, die uns in verschiedenen Handschriften er-
halten sind. Die meisten stammen aus dem letzten Viertel des neunten
Jahrhunderts. Die Formeln 19—23, früher mit Unrecht dem St. Galler
Mönche Iso († 872) zugeschrieben, sind erst gegen Ausgang des
neunten Jahrhunderts, jedenfalls nicht vor Karls III. Kaiserkrönung
(881) entstanden.
4. Das sogenannte Formelbuch Salomos III. von Konstanz55,
eine Kompilation, welche in Sankt Gallen von dem Mönche Notker
dem Stammler († 912)56 angelegt worden ist. Den rechtsgeschichtlich
wertvollsten Teil bildet eine darin enthaltene Sammlung von rechts-
geschäftlichen Formeln, welche um 870 begonnen wurde (F. 6—21).
Die ersten fünf Nummern, Formeln für Königsurkunden, sind freie
und fehlerhafte Erfindungen des Verfassers. Als eine besondere
Gruppe hebt sich eine Briefsammlung der Brüder Waldo und Salomo
(später Bischöfe von Freiburg und Konstanz) heraus. Daſs Bischof
Salomo (890—920) die Herstellung der Kompilation veranlaſst habe,
läſst sich nicht erweisen.
IV. Bairische Formelsammlungen.
1. Die Formulae Salzburgenses57, Briefformeln, die sich in
einer Münchner Handschrift hinter den Lindenbruchschen Formeln und
dem karolingischen Marculf finden58, darunter zahlreiche Briefe
Alkuins. Die Sammlung entstand zu Salzburg in den ersten Jahren
des neunten Jahrhunderts.
2. Die Collectio Pataviensis59, eine kleine Sammlung von
7 Formeln, in der Zeit Ludwigs des Deutschen zu Passau entstanden.
3. Die St. Emmeramer Fragmente60, Überreste einer dem Salz-
burger Formelbuche verwandten aber rechtsgeschichtlich bedeutsameren
Kompilation. Sie zerfiel in drei Sammlungen. Die erste, von welcher uns
[412]§ 58. Die Formelsammlungen.
nur 9 Formeln überliefert sind61, entstand in Baiern zwischen 817
und 840. Die zweite enthielt die Lindenbruchschen Formeln. Von
der dritten ist uns nur ein Teil des Kapitelverzeichnisses erhalten.
Es läſst sich daraus ersehen, daſs sie Formeln des karolingischen
Marculf aufgenommen hatte. Der Kodex, dem die erhaltenen Frag-
mente angehörten, stammte aus St. Emmeram in Regensburg62.
Verlag von DUNCKER \& HUMBLOT in Leipzig.
Systematisches Handbuch
der
Deutschen Rechtswissenschaft.
Unter Mitwirkung
der
Professoren Dr. H. Brunner in Berlin, Dr. E. Brunnenmeister in Halle, Dr. O. Bülow
in Leipzig, Dr. H. Degenkolb in Tübingen, Dr. V. Ehrenberg in Rostock,
Dr. A. Franken in Jena, des General-Procurator Dr. J. Glaser in Wien, der Professoren
Dr. A. Grawein in Czernowitz, Dr. A. Haenel in Kiel, Dr. R. Heinze in Heidel-
berg, Dr. A. Heusler in Basel, Dr. R. v. Jhering in Göttingen, Dr. P. Krüger in
Königsberg, Dr. P. Laband in Strassburg, Dr. F. v. Martitz in Tübingen, des Curator
Dr. Ernst Meier in Marburg, der Professoren Dr. Th. Mommsen in Berlin,
Dr. F. Oetker in Bonn, des Dr. M. Pappenheim in Breslau, der Professoren
Dr. F. Regelsberger in Göttingen, Dr. W. v. Rohland in Dorpat, Dr. A. Schmidt in
Leipzig, Dr. R. Sohm in Strassburg, Dr. A. Wach in Leipzig, Dr. R. Wagner in Leipzig,
Dr. B. Windscheid in Leipzig
herausgegeben von
Dr. Karl Binding,
Professor in Leipzig.
Der Grundgedanke des Werkes ist einem Wunsche entsprungen, in welchem
Herausgeber und Verleger sich zusammenfanden. Es sollte der deutschen
Rechtswissenschaft die Anregung gegeben werden zu thun, was noch keine
Rechtswissenschaft gethan: in geschlossenen Darstellungen ihrer
sämmtlichen Disciplinen den Bestand ihrer Forschung zum
ersten Male übersichtlich zusammenzufassen. Ein solches Werk,
wenn es gelang, war geeignet, die starken Ungleichheiten in der Bearbeitung
der einzelnen Zweige unserer juristischen Theorie auszuebnen, und somit eine
Quelle allseitigster Belehrung zu werden. In solchem Werke that aber die
deutsche Rechtswissenschaft auf ihrem ganzen grossen Gebiet gleichzeitig
einen bedeutenden Schritt vorwärts und gab neuer wissenschaftlicher Arbeit
kräftigen Anstoss.
Dieser Grundgedanke bestimmte den Plan. Weit über die Kräfte auch
des bedeutendsten Mannes hinausreichend bedurfte das Werk der Theilung.
Aber nur soweit als unbedingt nöthig, war der Einheit Abbruch zu thun: eine
Zersplitterung des Stoffs machte von vornherein das Ziel unerreichbar. Jede
Disciplin musste deshalb ganz und ungetheilt einem einzigen Bearbeiter anver-
traut werden. So ist das Handbuch eine Sammlung juristischer
Werke, aber kein Sammelwerk. Die Einheit des Ganzen liegt in der
Einheit des Gegenstandes, ausserdem aber in der gemeinsamen Anschauungs-
weise der Verfasser, der sie sich als Genossen einer und derselben wissen-
schaftlichen Periode nicht entziehen können.
Um der Vergangenheit wie der Gegenwart gleichermassen gerecht zu werden,
insbesondere um die Rechtsgeschichte zu retten vor der Zersplitterung in eine
Anzahl historischer Einleitungen zu dogmatischen Werken, andererseits um
diese soweit möglich ihrer Aufgabe für das geltende Recht zu erhalten, waren
neben den dogmatischen umfassende rechtsgeschichtliche Werke in Aussicht
zu nehmen. Wie der Stoff vertheilt und die Theile zum Ganzen gefügt sind,
zeigt der nebenstehende Anlageplan.
Den einzelnen Darstellungen aber war nicht der Charakter des Lehrbuchs,
sondern der des Handbuchs zu geben. Der Autor sollte nicht nur Raum haben,
seine Ansicht zu sagen, sondern auch sie eingehend zu begründen.
Die Ausführung des Plans bedurfte vor Allem der berufenen Männer. Ob
diese schwierigste Aufgabe der Wahl glücklich gelöst ist, das kündet das
Verzeichniss unserer Mitarbeiter, das wird nach unserer Ueberzeugung der
Fortgang des Werkes bestätigen. Sehr erleichtert wurde uns dieselbe durch
die überraschend günstige Aufnahme, die der Plan bei denen fand, deren
Hülfe zu seiner Ausführung erbeten wurde.
In der dankenswerthesten Weise ward uns von massgebender Seite
fördernder Beistand so reichlich zu Theil, dass nur wenige Wochen nach
Anregung des Plans das Kollegium unserer Mitarbeiter fast vollständig gebildet
war und dass wir den raschen und ungestörten Fortgang des Handbuchs in
sichere Aussicht stellen können.
Prof. Dr. Karl Binding als Herausgeber.
Duncker \& Humblot als Verleger.
Zu dem nebenstehenden Anlageplan des Handbuchs der Deutschen Rechtswissenschaft
gestattet sich die Verlagshandlung erläuternd zu bemerken, dass die Ausgabe nur in abge-
schlossenen Bänden, nicht in Halbbänden oder Lieferungen erfolgen wird. Jeder Band ist
einzeln käuflich und es werden Subscriptionen auf das ganze Unternehmen sowie Bestellungen
auf einzelne Abtheilungen und Werke von jeder Buchhandlung entgegengenommen.
Der Preis der Bände wird sich nach dem Grundsatz regeln, dass der Bogen Lexikon-8°
durchschnittlich mit 35 Pf. angesetzt wird. Neben der gehefteten Ausgabe liefern wir eine
solche in gutem Halbsaffianband. Der Preis des gebundenen Bandes wird sich um 2 Mark
50 Pf. erhöhen.
Bis jetzt sind ausgegeben worden:
Deutsche Rechtsgeschichte. Von Prof. Dr. Heinrich Brunner.
Erster Band. XII, 412 S. 1887. Preis 9 M. 60 Pf.; geb. 12 M. 10 Pf.
Institutionen des Deutschen Privatrechts. Von Prof. Dr. Andreas Heusler.
Erster Band. XI, 396 S. 1885. Preis 8 M. 80 Pf.; geb. 11 M. 30 Pf. — Zweiter
(Schluss)-Band. XII, 670 S. 1886. Preis 12 M.; geb. 14 M. 50 Pf.
Handbuch des Seerechts. Von Prof. Dr. Rudolf Wagner.
Erster Band. XI, 456 S. 1884. Preis 10 M.; geb. 12 M. 50 Pf.
Handbuch des Strafrechts. Von Prof. Dr. Karl Binding.
Erster Band. XXII, 927 S. 1885. Preis 20 M.; geb. 22 M. 50 Pf.
Handbuch des Deutschen Civilprozessrechts. Von Prof. Dr. Adolf Wach.
Erster Band. XVI, 690 S. 1885. Preis 15 M. 60 Pf.; geb. 18 M. 10 Pf.
Handbuch des Strafprozesses. Von General-Procurator Dr. Julius Glaser.
Erster Band. XVI, 756 S. 1883. Preis 16 M.; geb. 18 M. 50 Pf. — Zweiter Band.
XII, 602 S. 1885. Preis 13 M. 60 Pf.; geb. 16 M. 10 Pf.
Leipzig, im April 1887. Duncker \& Humblot.
Anlageplan.
I. Römisches Recht.
1. Allgemeine Römische Rechtsgeschichte. 1 Band. Prof. Dr. v. Jhering.
2. Geschichte der Römischen Rechtsquellen. 1 Band. Prof. Dr. Krüger.
3. Geschichte des Römischen Staatsrechts. 1 Band. Prof. Dr. Mommsen.
4. Geschichte des Römischen Strafrechts und Strafprozesses. 1 Band. Prof.
Dr. Brunnenmeister.
5. Geschichte des Römischen Civilprozesses. 1 Band. Prof. Dr. Schmidt.
6. Institutionen des Römischen Privatrechts. 2 Bände. Prof. Dr. Degenkolb.
7. Pandekten. 3 Bände. Prof. Dr. Regelsberger.
II. Deutsches Recht.
1. Deutsche Rechtsgeschichte. 3 Bände. Prof. Dr. Brunner.
2. Institutionen des Deutschen Privatrechts. 2 Bände. Prof. Dr. Heusler.
3. Deutsches Privatrecht. 2 Bände. Prof. Dr. Franken.
III. Handels-, Wechsel-, See- und Versicherungsrecht.
1. Handelsrecht. 2 Bände. Prof. Dr. Laband.
2. Wechselrecht. 1 Band. Prof. Dr. Grawein.
3. Seerecht. 2 Bände. Prof. Dr. Wagner und Dr. Pappenheim.
4. Versicherungsrecht. 2 Bände. Prof. Dr. Ehrenberg.
IV. Völkerrecht.
1 Band. Prof. Dr. v. Martitz.
V. Staatsrecht (Reichs- und Staaten-Staatsrecht).
2 Bände. Prof. Dr. Haenel.
VI. Verwaltungsrecht (incl. Verwaltungsgerichtsbarkeit).
2 Bände. Curator Dr. Meier.
VII. Strafrecht.
1. Gemeines Strafrecht, ausschliesslich des Militärstrafrechts. 3 Bände. Prof.
Dr. Binding.
2. Militärstrafrecht. 1 Band. Prof. Dr. v. Rohland.
VIII. Kirchenrecht.
2 Bände. Prof. Dr. Sohm.
IX. Gerichtsverfassung und Prozess.
1. Verfassung der Civil- und Strafgerichte. 1 Band. Prof. Dr. Heinze.
2. Civilprozess (ordentl. und summar. Verfahren). 2 Bände. Prof. Dr. Wach.
3. Conkursrecht und Conkursprozess. 1 Band. Prof. Dr. Bülow.
4. Strafprozess. 3 Bände. Generalprocurator Dr. Glaser und Prof. Dr. Oetker.
X. Allgemeiner Theil der Rechtswissenschaft.
2 Bände. Prof. Dr. Binding.
XI. System des deutschen Civilrechts.
3 Bände. Prof. Dr. Windscheid.