Göttingen 7 thargelion 1893
Den plan, über die Politie des Aristoteles zu schreiben, habe ich
im februar 1891 gefaſst, als ich sie zuerst las und für vieles sofort die
entscheidenden gedanken concipirte. nach der anstrengenden aber ge-
nuſsreichen arbeit, die Kaibel und ich gemeinsam auf den text verwandten,
schien es uns noch möglich, daſs zwar jeder für sich seinen teil des
buches, das wir in unserer ausgabe versprachen, schriebe, aber doch
alles zusammen in einem bande vereint erschiene. ich erklärte die Po-
litie im winter 1891/92 meinen studenten, und damals sind der gröſste
teil der analyse und einzelne der späteren capitel entstanden; nur ge-
statteten mir vermehrte amtsgeschäfte nicht, die ausarbeitung zu vollenden.
immerhin lagen I 1—6. 8. 9 II 3. 6. 12. 13 III 2. 3. 9 ausgearbeitet vor, als
mich andere pflichten zwangen, die sommermonate 1892 zu pausiren.
dann habe ich mich daran gehalten, I 1—9 ende januar, I 10, II 1—6
im april in den druck gegeben, und heute an II 7, das ich doch schon
1889 hatte schreiben wollen, als letztem capitel den letzten strich getan.
gleichzeitig ist freund Kaibel zum druck geschritten. daſs wir jeder
unser buch für sich fertig machen müſsten, ohne communication, und
für sich erscheinen lassen, wenn wir überhaupt fertig werden wollten,
war uns längst klar geworden. wir werden, wie wir es von je getan,
gern von einander lernen, werden uns auch geduldig darein finden, einer
gegen den andern als autorität ausgespielt zu werden; besser und mir
jedenfalls sehr viel lieber wäre es gewesen, wenn ich Kaibels buch hätte
lesen können, ehe ich meines schrieb, denn von der feststellung dessen
was Aristoteles geschrieben hat hängt schlieſslich das meiste ab. aber
nun berücksichtige ich die einzelnen druckbogen während meines druckes
nicht mehr und halte es eben so mit manchem recht wichtigen, das
mittlerweile erschienen ist oder erscheinen wird, also auch mit gering-
haltigem und verkehrtem.
Ich weiſs es selbst am besten, daſs manches in diesem buche eingeholt
oder überholt ist, ehe es an das licht tritt. wenn ich die capitel II 6 oder
[VI]Vorwort.
I 1 im herbste 1891, als sie fertig waren, auf den markt geworfen hätte,
so würde ich meiner person viel besser gedient haben. aber ich wollte
ein vollbild geben, wollte zeigen, wie sich die probleme der athenischen
geschichte und verfassung darstellen, wenn man sie ganz von frischem
auf grund des aristotelischen buches durchdenkt, und ich wollte versuchen,
ob ich nicht einmal ein ἕν geben könnte. das forderte die geduld, erst
das ganze innerlich fertig zu machen, und den entschluſs, eines tages
sich zu erklären, nun ist es fertig. so hoffe ich allerdings ein in sich
harmonisches bild zu geben; hätte ich immer wieder hier und da retou-
chirt, so würde das bild widerspruchsvoll geworden sein. widerspruchs-
voll ist die wissenschaftliche forschung; sie ruhet nimmer. ich bin des
ganz sicher, daſs des falschen und übereilten nur zu viel in diesem buche
steht, und hoffe selbst und durch andere über vieles hinauszukommen.
aber das buch konnte nicht fertig werden, wenn ich nach der weise des
Protogenes hätte malen wollen. die schriftstellerische aufgabe fordert in un-
lösbarem widerspruche zu der wissenschaftlichen forschung einen abschluſs.
wir wissen seit dem Phaidros, daſs das buch überhaupt ein elendes ding
gegenüber der lebendigen forschung ist, und wir sind hoffentlich im
colleg klüger als in unsern büchern. aber Platon hat doch auch bücher
geschrieben, hat jedesmal was er wuſste, so gut ers wuſste, frei heraus
zu sagen gewagt, sicher sich selbst das nächste mal zu widersprechen
und hoffentlich zu berichtigen. so meine ich es verantworten zu können,
wenn ich etwas vorlege was, gerade weil es etwas fertiges sein will,
überall unfertig ist.
Die beilagen scheinen zu dem ἕν nicht zu stimmen; es könnten
ihrer sehr viel mehr sein und auch etliche weniger. dennoch gebe ich sie
allein mit wirklicher freude. denn die schönste aufgabe der philologie
ist das interpretiren. ein document voll verstanden ist mehr wert als
alle aperçus und alle stoffsammlungen. der schatz von belehrung der
so ans licht tritt, den zu heben man freilich ein vollbild vom ganzen in
sich tragen muſs, ist ein κτῆμα εἰς ἀεί; unsere historie im weitesten
sinne kann meistens nur εἰς τὸ παϱαχϱῆμα von nutzen sein. so hätte
ich mit der erläuterung von documenten, die ich zu verstehen glaube,
am liebsten noch lange nicht aufgehört. die fülle der concreten objecte
zog mich, und die liebe des philologen zu seinem eigentlichen handwerk
lieſs mich dem zuge des herzens nicht widerstehen: εἰ τοῦτ̕ ἔστ̕ ἀδίκημ̕,
ἀδικῶ.
Göttingen, 22. Mai 1893.
Meine absicht in diesem buche ist es, zu einem urteile über den
wert der aristotelischen Politie zu gelangen, den absoluten, als werk des
Aristoteles für seine zeit und für sein volk, und den relativen, für unsere
forschung nach der staatsverfassung und geschichte Athens. dies ziel
zu erreichen habe ich keinen andern weg gewuſst, als das buch zu
analysiren, zu fragen: wo weiſs Aristoteles das her was er sagt, weiſs
er es überhaupt, oder redet er es andern nach ohne geprüft zu haben.
und da gliederte sich die untersuchung nach den schriftstellern, be-
nannten oder unbenannten, welche Aristoteles benutzt hat, oder es
muſsten zusammenhängende gleichartige teile seines werkes einzeln ab-
gehandelt, auch die nachwirkung des buches im altertum kurz klargestellt
werden, ehe ich mich getrauen durfte das facit zu ziehen, mochte
ein mehr oder minder bestimmtes meinen auch schon vorher dasselbe
ziemlich, nicht ganz, ähnlich erfaſst haben. allem aber voran muſs ein
capitel gehen, das das feste gerüst der zeitrechnung aufzeigt, durch
welches der ganze geschichtliche teil zusammengehalten wird. die titel
der capitel lassen vielleicht keine überlegte disposition des stoffes er-
kennen; sie ist aber vorhanden, und wenn ich bitten darf, so lese man
in der reihenfolge, wie ich die einzelnen untersuchungen angeordnet habe.
Aristoteles rechnet ausschlieſslich nach attischen amtsjahren; er hatDas jahr des
Aristoteles.
selbst eine archontenliste vor sich und setzt sie in den händen oder
dem gedächtnisse seiner leser voraus. die tatsache springt in die augen,
und sie ist selbst nicht minder wichtig als ihre consequenzen. nirgend
ist irgend ein datum auf irgend ein astronomisch richtiges jahr, nirgend
auf irgend eine andere zeitrechnung oder jahrzählung gestellt. weder
jahreszeiten noch sternphasen noch jahre nach Troias fall noch jahre
olympischer feste kommen vor, was doch alles bei Thukydides der fall
1*
[4]1. Chronologie.
ist. an der zeitbestimmung durch die archontennamen ist für Aristo-
teles offenbar gar kein zweifel möglich. über das in Athen geltende
jahr bemerkt er gelegentlich der prytanen, daſs es ein mondjahr war
(43, 2): es war das für ihn bequem, weil er die verteilung nur
für das gemeinjahr von 354 tagen angab und sich das eingehen auf
die unsichere praxis im schaltjahre sparen wollte. 1) da, soviel wir wissen,
in Hellas nirgend ein anderes system als das des mondjahres in officieller
geltung war, so will der zusatz nicht eine merkwürdige tatsache con-
statiren, sondern gewissermaſsen entschuldigen, dass der schriftsteller
von einem so falschen jahre wie dem von 354 tagen redet; die wahre
jahreslänge war ja längst bekannt und schon durch Eudoxos der versuch
gemacht, das ägyptische sonnenjahr im publicum einzuführen. übrigens
stand der kalender in den solonischen gesetzen so gut wie in den zwölf
Tafeln, galt für eine schöpfung des Solon 2), und so ist die erwähnung
des mondjahres in der auf die gesetze zurückführenden vorlage, die wir
später für Aristoteles maſsgebend finden werden, ganz berechtigt.
Selbst das hat Aristoteles nicht der erwähnung wert befunden, daſs
der archon dem jahre den namen gibt; das hielt er für selbstverständlich. 3)
er hat in der Tiergeschichte, für die er ohne zweifel aufzeichnungen vieler
leute aus vielen staaten benutzt hat, nicht wenige angaben auf die attischen
monatsnamen gestellt, daneben wol noch häufiger nach den jahrpunkten
und nach sternphasen gerechnet, auch ein par mal beides vereinigt. 4)
die erklärung ist ja einfach: das sind angaben, für die ein ideelles jahr
zu grunde liegt, ein sonnenjahr, das in zwölf monate, d. h. mondumläufe,
[5]Das jahr des Aristoteles.
zerfällt und zugleich mit der sommersonnenwende und dem neumonde
des hekatombaion beginnt. für seine zwecke reichte diese rechnung aus,
und die Athener wären gänzlich unverständig gewesen, wenn sie nicht
unter einem jahre eben dieses ideelle verstanden hätten. aber für die
zeitbestimmung vergangener ereignisse ist nur ein reelles jahr brauch-
bar. und in dem einen falle, wo Aristoteles ein solches datum zugleich
nach dem ideellen monat und dem jahrpunkte bezeichnet, ist es ihm
begegnet, daſs es absolut falsch ist, weil das von ihm durch den archon
bezeichnete jahr zufällig ein schaltjahr war. 5)
Dem verfasser der Politien, der die gesonderte überlieferung so
vieler städte verarbeitete, die alle ihre eigenen jahre hatten, müſste frei-
lich die aufgabe einer einheitlichen chronologie von selbst nahe getreten
sein, auf die alle jene daten bezogen werden muſsten, um wirklich
brauchbar zu werden; und da er die attischen jahre nicht weiter be-
stimmt, so liegt es nahe, ihm zuzutrauen, daſs er, wenn er einmal ein
argivisches oder epidaurisches datum hat verständlich machen wollen,
es auf den attischen archon umgerechnet hat, also in der weise, wie es
in der parischen chronik mit dem ausgangsjahre geschehen ist. ein aristo-
telisches beispiel, gleichsetzung attischer und delphischer archonten, wird
uns noch begegnen. 6) es mag an mir liegen, daſs mir kein zweites
bekannt ist; aber eine verarbeitung der Politien zu einer geschichte ist
ein gedanke, den Aristoteles niemals gefaſst hat, und daſs nicht er der
vater der chronologie geworden ist, sondern erst sein gegner Timaios, is
ja bekannt. immerhin ist es fraglich, ob die bevorzugung der Olym-
piaden gegen die attischen archonten ein vorteil war, und so viel ist fest
zu halten, daſs alle daten nach attischen archonten auf das vorurteil
sowol des höheren alters wie der ganz besonderen zuverlässigkeit an-
spruch haben.
Denn Aristoteles glaubt das jahr durch den namen jedem zweifel
enthoben, und so viel irgend bekannt ist, hat auch die liste der jahr-
beamten an keiner stelle geschwankt: so etwas wie die römischen dicta-
torenjahre, wie die gefälschten consulate und die differenzen zwischen
Die archon-
tenliste.amtsjahr und kalenderjahr in Rom gibt es nicht. das war nur möglich,
wenn eine authentische liste seit alters bestand, und wenn in fällen, die
zweifel hervorrufen konnten, das gesetz eingriff. wir kannten einen
solchen fall, die bezeichnung des jahres 404/3 als ἀναϱχία, obwol der
jahresbeamte Pythodoros ziemlich 10 monate amtirt hat; wuſsten auch,
daſs in später zeit dieselbe praxis beliebt worden ist. durch Aristoteles
lernen wir zu, daſs ἀναϱχία schon der name von zwei jahren, 589 und 584
war; sein ausdruck ἀναϱχίαν ἐποίησαν läſst sich schon grammatisch nicht
anders verstehen 7), und ob das jahr der 10 archonten 581/0 einen namen
von einem derselben trug, bleibt ungewiſs. suffecti und usurpatoren
werden in der rechnung, damit sie stimmen kann, nicht berücksichtigt,
aber die überlieferung, die dem Aristoteles vorlag, erstreckte sich auch
auf sie. so berichtet er, daſs Damasias die ersten zwei monate von 581/0
factisch regierte; aber das jahr heiſst nicht nach ihm, und das jahr 411/10
heiſst nach Theopompos, obwol die 400 in ihrer viermonatlichen herr-
schaft einen jahreswechsel erlebt und einen der ihren, Mnesilochos, zum
archon gemacht hatten, der abgesetzt ward (33, 1); diesen namen
gibt für uns Aristoteles und lehrt so eine urkunde aus jenen zwei monaten
des Mnesilochos ergänzen (CIA IV p. 162). die reformen des Kleisthenes
fallen auf das jahr 508/7, das nach Isagoras heiſst, also nach dem der
vertrieben werden muſste, damit diese reformen möglich wurden. hier
ist der ersatzmann nicht in die liste gekommen, und jetzt nennt ihn
auch Aristoteles nicht. man kann nicht bezweifeln, daſs es kein anderer
als Kleisthenes selbst war, da der archon damals der eigentliche exe-
cutivbeamte war, und Kleisthenes doch ein amt bekleiden muſste, um
seine gewaltsamen neuerungen durchzusetzen. da die stelle der Politie
lückenhaft ist, mag es auch bei Aristoteles gestanden haben.
Wenn jedes einzelne jahr seinen individualnamen hat, so ist nichts so
störend wie homonymien, und die Athener haben sie, obwol die iteration
des amtes gesetzlich verboten war, weder als sie wählten noch als sie losten,
zu vermeiden gewuſst. in den mitteln, die üblen folgen zu vermeiden,
sind sie nicht consequent gewesen und haben während des amtsjahres
einer person, von der ein namensvetter kurz vorher ein jahr benannt
[7]Die archontenliste.
hatte, höchstens in späterer zeit ein distinctiv beigefügt. anders war
das in den listen, wie Diodor eine benutzt hat, und den chroniken, die
nach jahren geordnet waren. da stellte sich die aufgabe: wie findet
man leicht und sicher einen gegebenen namen? nun hatten die chroniken
wol wie die officiellen register, von denen CIA II 859 eine probe gibt,
die personen mit den vollen namen, πατϱόϑεν καὶ τοῦ δήμου, be-
nannt. 8) aber die listen wurden abgekürzt, so gut wie die consular-
fasten, und so war das bequemste den vorgänger mitzunennen. so
heiſsen in den didaskalien der Lysistrate und der Frösche die beiden
Kallias von 412/11 und 406/5 ὁ μετὰ Κλεόκϱιτον und ὁ μετ̕ Ἀντιγένη.
die inschriften der hellenistischen jahrhunderte geben Διονύσιος ὁ μετὰ
Παϱάμονον und ähnliches, und dem entspricht es, daſs Plutarch das
jahr des Solon, um es genau zu bezeichnen, als das μετὰ Φιλόμβϱοτον
nennt 9), nicht aus eigner einsicht in eine liste, die er nie benutzt hat,
noch aus dem gebrauche seiner zeit, deren chronographie längst auf die
Olympiaden gebaut war, sondern seiner vorlage folgend, dem Hermippos,
der seinerseits die annalistischen quellen des Aristoteles ausschrieb. die
bezeichnung mit dem zahlzeichen kommt nur in ältester zeit vor; bei
Damasias 583 und 582 notwendigerweise, weil es dieselbe person war,
die gesetzwidrig das amt behauptete; an einen älteren Damasias von 639
dachte man dabei nicht. ebenso heiſst der archon von 490 in der pa-
rischen chronik Φαίνιππος β΄. 10) es war ihm also ein namensvetter nicht
lange vorhergegangen. wenn dies distinctiv weder bei den Kallias von
412 und 406, noch bei den Demostratos von 393 und 390 angewandt
[8]1. Chronologie.
ist, so hat man den sicheren beweis, daſs sich in der terminologie
die zeiten unterscheiden, weil sie schon sehr früh, fast gleichzeitig, fest
geworden war. Aristoteles wendet nur einmal ein distinctiv an, den
demosnamen für den Καλλίας Ἀγγελῆϑεν von 406 (34, 1). gerade hier
steht nun fest, daſs der gebrauch schon im amtsjahre des Kallias vor-
kam: CIA II 22 trägt die datirung Κ]αλλίας Ἀγγελῆϑεν ἦϱχεν. 11) Köhler
muſste es dem archon Καλλέας von 377 geben, weil damals noch die
ionische schrift voreuklidische entstehung zu beweisen schien; ein
jetzt beseitigter irrtum. es ist eine nötige und lohnende aufgabe, die
mit der herstellung der attischen beamtenliste zusammenhängt, deren
wir bedürfen, daſs man auch diese diakritischen zusätze sammelt und
ordnet. für Aristoteles bedürfen wir nichts mehr, als daſs begriffen
wird, daſs er eine archontenliste der uns bekannten art vor sich liegen
hat. seine chronologischen angaben dürfen also nicht als vereinzelte
so oder so eingeordnet werden, sondern müssen in ein festes system
sich fügen: das ist kein anderes, als die schlechthin feste attische liste,
die wir von 480—295 durch Diodor und Dionysios (de Dinarcho) be-
sitzen, und in der die inschriften zwar eine recht groſse anzahl von
verschriebenen namen verbessert haben, deren sich noch einer oder der
andere zwischen 474 und 435 verbergen mag, aber keine für die zeit-
rechnung bedeutenden fehler. hätten nicht die spätbyzantinischen zeiten
die bücher 6—10 Diodors verloren gehen lassen, so würde Aristoteles
auch höchstens einen oder den andern namen verbessern können: der
chronologischen untersuchung wären wir dann überhoben, die wir jetzt
führen müssen, beginnend, wie sich gebührt, mit dem jahre des Solon.
Dies epochenjahr ist selbstverständlich niemals unsicher gewesen,
niemals auch die gesetzgebung von ihm getrennt, die ja nur der archon
Solon durchführen konnte. wenn unbedachtsamkeit an dem datum 594/3
zu rütteln versucht hat, so kann freilich Aristoteles das wahre schlagend
zeigen. er begnügt sich zur datirung Solons mit der angabe, dass er zum
archon gewählt ward (5, 2): das reichte für seine leser aus, für die das
ein epochenjahr war, ein eckstein für das chronologische gebäude, das sie
[9]Die archontenliste.
im gedächtnis hatten, wie für uns das jahr der reformation oder der
französischen revolution. in der tat knüpft Aristoteles an diese zeit-
bestimmung mit der ordinalzahl seine nächste angabe (13, 1), und so
geht es mit angaben des zeitlichen abstandes in derselben form bis zum
jahre des Eukleides durch (39, 1), mit welchem seine historische skizze
schlieſst. nur ein ereignis, die Ξέϱξου στϱατεία, ist eben so fest im
gedächtnis. er erwähnt sie, ohne sie durch den archon zu datiren
(22, 8), und rechnet dann doch von ihr ab, gleich als ob er sie datirt
hätte (23, 5 25, 1). das war also schon damals ein fester punkt, iden-
tisch mit dem jahre des Kallias 480/79. so ist es geblieben, als später
das weitere datum olymp. 75, 1 dazu trat.
Aus dem vierten jahrhundert ist nur ein jahr genannt, Kephisophon
330/29, das der allerjüngsten vergangenheit angehörte. leider aber fehlen
vor Solon die distanzangaben. so erfahren wir wol, daſs Drakon seine
satzungen unter Aristaichmos gegeben hat (4, 1), aber nicht, wie
lange das vor Solon war; es heiſst nur πολὺν χϱόνον (5, 1). und eben
so wenig ist Drakon an den archon Megakles angeschlossen, den Aristo-
teles vorher gelegentlich des Kylonischen attentates genannt hatte 12),
nicht sowol zur datirung, als weil er die schuld des mordes trug.
die einsetzung der thesmotheten vollends ist gar nicht auf den archon
datirt, obwol ausdrücklich gesagt wird, daſs sie in später zeit stattfand,
als schon gesetze aufgeschrieben wurden und die ämter jährig waren
(3, 4); von königen erwähnt er Akastos und Medon, ohne sie auch nur
in ihrem gegenseitigen altersverhältnis zu bestimmen. darin liegt eine
wichtige kritik. Solon macht auch darin epoche, daſs mit ihm die ge-
schichtliche zeitrechnung beginnt. auch in einem platonischen dialoge
wird als probe für die kraft eines gedächtniskünstlers angegeben, daſs
er die archontennamen von Solon ab behalten könnte (Hipp. I 285).
Aristoteles traute jener ältesten überlieferung nicht auſs jahr. wenn er
trotzdem jahrnamen gab, so war das eine inconsequenz in so fern, als
eine solche datirung durch einen bloſsen namen, wie wir vor den
steinen nur zu oft erfahren, so lange wertlos ist, bis der name fixirt
ist, und die bearbeitungen der stadtgeschichten, die ihm vorlagen, fixirten
ihn, da sie chronikform trugen. wir mögen immerhin die uns über-
lieferten daten aus der älteren zeit mit einer reserve betrachten, die sich
bewuſst ist, daſs sie einige latitude lassen muſs; aber mit dieser
reserve können und müssen wir ihnen so weit trauen, als wir an die
[10]1. Chronologie.
anwendung der schrift und die erhaltung der denkmäler glauben dürfen.
übrigens ist nicht zu vergessen, daſs ein forscher wie Philochoros erst nach
Aristoteles dieses feld bearbeitet hat. wenn also die gelehrte chrono-
graphie noch zuversichtlicher vorsolonische ereignisse datirt, so ist es
keine unmethodische leichtgläubigkeit, wenn man diesen ansätzen traut;
bequemer freilich ist es sie zu ignoriren und sich darauf zu berufen,
daſs Herodot keine zuverlässigen angaben über das siebente jahr-
hundert gibt.
Die jahre
594—80.Die erste gruppe von zeitangaben hinter Solon ist heil und ohne
weiteres verständlich (13, 1. 2). Solon 594/3; vier jahre normaler zu-
stand; das fünfte ἀναϱχία 589/8; nach weiteren vier jahren wieder ἀναϱ-
χία 584/3; Damasias 583/2, durch usurpation wieder Damasias 582/1;
das jahr der 10 archonten, von dem factisch noch die ersten zwei monate
dem Damasias gehören, 581/0. der sprachliche ausdruck garantirt, daſs
kein schreibfehler untergelaufen ist, und er ist vollkommen unzweideutig.
Das letzte jahr des Damasias ist nun durch andere angaben seit
langem gesichert, aber durch moderne zweifel vielfach angegriffen worden,
die nun glücklich beseitigt werden.
Der erste
heilige
krieg.Damasias II = 582/1 = olymp. 49, 3 ist ein Pythienjahr. in die
zweite Pythiade, vier jahre nach der ersten, die er ausdrücklich mit ol.
48, 3 gleichsetzt, also auf 49, 3, setzt Pausanias (X 7) die einführung der
später geltenden festordnung, welche als preis nur einen lorberzweig
aussetzt (ἀγὼν στεφανίτης). dasselbe jahr, ol. 49, 3, hat die quelle des
Eusebius für die wiedereinführung (d. h. die geschichtliche einführung)
der Pythien angegeben; denn die schwankungen seiner übersetzer und
ihrer handschriften erledigen sich, sobald man festhält, daſs das jahr das
dritte einer olympiade sein muſs. die parische chronik setzt die ein-
führung eines ἀγὼν χϱηματίτης in Delphi unter den archon Simon
327 13) jahre vor ihr epochenjahr, den ersten ἀγὼν στεφανίτης 318 14)
jahre vor ihr epochenjahr, ἄϱχοντος Δαμασίου τοῦ ὑστέϱου. rechnet
[11]Der erste heilige krieg.
man wieder mit der tatsache, daſs beides Pythienjahre sein müssen 15),
also eigentlich die differenz nur 8 jahre betragen dürfte, so ist freilich
der verfasser der chronik von einem zählfehler nicht freizusprechen, wie
er deren genug begangen hat, aber es gehört eine starke verblendung
dazu, ein anderes jahr als ol. 49, 3 für Damasias auszurechnen, und
nun, wo Aristoteles diese längst gefundene, auch von Boeckh vertretene
gleichung bezeugt, wo sich zeigt, daſs Δαμασίου τοῦ ὑστέϱου mit be-
ziehung auf das vorjahr gesagt ist, nicht auf den weit zurückliegenden
Damasias von 639/8 (ol. 35, 2, Dionys. Halik. 3, 36), sind alle zweifel an der
deutung der chroniknotiz aus der welt geschafft. dieselben zwei archonten
Simon und Damasias nennt ebenfalls für ἀγὼν χϱηματίτης und στεφανίτης
die einleitung zu den scholien der pythischen lieder Pindars. auf die
einsetzung des ersteren folgt ein krieg von 6 jahren und später, wie es
heiſst, die einsetzung des zweiten. beherzigt man nun, daſs die jahre
beide (oder wenigstens das zweite) dritte Olympiadenjahre sein müssen,
so ist von selbst die distanz von acht jahren zwischen Simon und Da-
masias gegeben, d. h. die übereinstimmung mit der parischen chronik. 16)
und es ist doch begreiflich, daſs die Amphiktionen, wenn der krieg die
feier im jahre 48, 3 nicht zulieſs, sondern bis 49, 1 währte, bis zum
nächsten regelmäſsigen termin, Bukatios-Metageitnion 49, 3, august 582,
gewartet haben, auch wenn sie vielleicht im august 583 schon hätten
[12]1. Chronologie.
feiern können. mit recht hat Bergk so geschlossen. daſs die Pindar-
scholien die Pythiade, von der aus sie rechnen, auf 49, 3 setzen, so
daſs die vollkommenste harmonie herrscht, hat Boeckh wenigstens zu-
gegeben, trotzdem er die rechnung für falsch hielt, und seine nach-
folger geben es erst recht zu, da sie schlieſslich dabei gestrandet sind,
gerade das zeugnis der scholien, welches allein ausdrücklich eine glei-
chung zwischen Olympiaden und Pythiaden ausspricht, zu ändern. 17)
läſst man stehn was steht, so ist der ausgangspunkt das jahr des Dama-
sias, eben das jahr, welches es, wie Aristoteles und die parische chronik
bezeugen, wirklich war. man darf aber auch umgekehrt schlieſsen.
wenn für dasselbe factum delphischer geschichte in zwei einander nirgend
widersprechenden berichten dieselben attischen beamten genannt sind,
so ist davon auszugehn, daſs das zwei fassungen desselben berichtes
sind, daſs die archonten dieselben jahre bezeichnen. beide fassungen
sind somit zunächst zu vereinigen, und was herauskommt, darf als ihre
gemeinsame vorlage gelten: in diesem falle ist also anzuerkennen, daſs
wir einen genau datirten ziemlich ausführlichen bericht über den heiligen
krieg spätestens aus dem ersten drittel des dritten jahrhunderts haben.
selbstverständlich kann deswegen der bericht falsch, der chronologische
ansatz irrig sein, und kann demnach die wahre zählung der Pythiaden
einen andern ausgangspunkt haben, wie das Boeckh angenommen hat:
der meister hat keinen posten der rechnung verschleiert oder zu seinen
gunsten misdeutet. Boeckh würde nichts neues durch den ansatz Damasias
II = ol. 49, 3 = 582/1 lernen; aber seine nachfolger in der Pindar-
exegese müssen nun aufhören, die grundlagen der rechnung zu gunsten
von Boeckhs hypothesen zu verschieben.
Auf das jahr des Damasias (welches, bleibt unbekannt) hat Deme-
trios von Phaleron die sieben weisen und demnach auch den Thales an-
gesetzt. 18) weshalb er, der erste bekannte sammler der sprüche der sieben
[13]Der erste heilige krieg.
weisen, so verfahren ist, bleibt eine offene frage: daſs er die sieben nach
Thales datirt habe, darf man daraus nicht ableiten, daſs Diogenes seine
datirung im leben des Thales anführt. denn Diogenes beginnt die ge-
schichte der sieben weisen mit Thales, unter dem also das allgemeine
datum stehen muſste. für Thales persönlich war allerdings die von ihm
vorhergesagte sonnenfinsternis von 586 die bequemste epoche, und daſs
man sich ihrer bedient hat, folgt aus Eusebius, dessen wie gewöhnlich
verwirrte überlieferung sich auf dies jahr (ol. 48, 3), zum mindesten
für seine quelle, zurückführen läſst. aber um so sicherer zeigt Eusebius,
daſs diese epoche nicht mit der stiftung der Pythien, d. h. mit dem
jahre des Damasias zusammenfallen kann, da diese notiz, wie sich ge-
bührt, 3—4 (das richtige ist 4) jahre später eingetragen ist. es gibt
hier in wahrheit keine widersprüche oder schwierigkeiten.
Die berichte der Pindarscholien über die stiftung der Pythien und
über pythische siege hat Boeckh auf die Πυϑιονῖκαι des Aristoteles
zurückgeführt. das muſs für sehr wahrscheinlich gelten, denn an sich
lag nach aller analogie dieses buch den antiken erklärern Pindars am
nächsten; sodann wird es in den Pindarscholien citirt (zu Isthm. 2 und Ol.
2, 87. fgm. 617 Rose), endlich muſs eine geschichtliche darstellung, welche
nicht mit Olympiaden, sondern mit attischen und delphischen archonten
rechnet, sehr alt sein. die parische chronik zeigt, daſs dieselbe tradition
wirklich in der zeit des Timaios bestanden hat. ich bezweifle den aristo-
telischen ursprung durchaus nicht; nur ist es nicht der erschlossene
gewährsmann, sondern das alter und die qualität des berichtes, der diesen
mir glaublich macht. aus sich konnte doch Aristoteles höchstens die aus-
gleichung der delphischen und attischen rechnung vollziehen; sonst muſste
er eine geschichtliche tradition benutzen, und auf die kommt es an,
heiſse ihr vermittler wie er wolle. sie trägt in den jahresnamen die
gewähr der herkunft aus der chronik an sich. es ist vorwitz an ihr
zu rütteln. die hauptsache ist delphische überlieferung, aber die atti-
schen archonten zeigen die vermittelung eines andern. und eine ge-
schichte attischer herkunft ist uns aus den Pythioniken des Aristoteles
bezeugt: Solon soll nach ihm den antrag auf die execution der Kirrhaeer
gestellt haben (Plut. Sol. 11), eine geschichte, welche 330 Aischines
vor einem attischen gerichte als bekannte tatsache erwähnt (3, 108),
von der jedoch, wie der delphische priester Plutarch aus seinem archiv
18)
[14]1. Chronologie.
beifügt 19), in Delphi nichts überliefert war, und, fügen wir hinzu, nicht
wol überliefert sein konnte, da protokolle über die sitzungen der
Amphiktionen in der erforderlichen ausführlichkeit zu Solons zeiten nicht
wol geführt sein können. 20) aber diese attische tradition paſst vortreff-
lich in ein buch, das die delphische jahresliste mit der attischen aus-
glich. da Aischines die geschichte schon kennt, ist sie in Athen nicht
erst durch Aristoteles bekannt geworden, ist also auch er schwerlich
derjenige, der zuerst die delphische geschichte auf attische jahre stellte,
sondern ein attischer chronist, auf dem er auch in den Pythioniken
fuſste. wer dies mein buch durchgelesen hat, wird den schluſs, der ihm
jetzt vielleicht noch zu kühn erscheint, selbstverständlich finden. übrigens
tut es nichts zur sache, was jenseits Aristoteles liegt. bleiben wir also
dabei, die geschichte des heiligen krieges, wie wir sie auf der parischen
chronik und in den Pindarscholien lesen, für aristotelisch zu halten,
ganz wie Boeckh.
Aber der antrag Solons scheint mit den angaben der Politie un-
vereinbar. 590 ist Krisa erobert, aber Solon ist gleich nach 594/3 auf
zehn jahre verreist. wenn das ein widerspruch ist, so hat ihn Aristo-
teles begangen, unbeschadet der herkunft jenes kriegsberichts, denn der
antrag des Solon ist ja ausdrücklich auf seinen namen hin überliefert,
und der heilige krieg fällt nach allen nachrichten in das erste jahr-
zehnt nach Solons amtsjahr. aber erstens wissen wir gar nicht, wie
lange der krieg vor der eroberung Krisas gedauert hat, noch auch
ob die execution unmittelbar nachdem sie beschlossen war, ausgeführt
ist. 21) nach dem falle von Krisa haben sich die reste der Krisaeer noch
[15]Der erste heilige krieg.
6 jahre gehalten. andererseits ist es schlechthin undenkbar, daſs Solon
unmittelbar nachdem er über sein amt rechnung gelegt hatte, 593 auf
reisen gegangen ist. im gegenteil, es muſs ihm doch erst zum be-
wuſstsein gekommen sein, daſs der parteihader durch die gesetze mit
nichten beendet war, die zumutung der gesetzesinterpretation muſs ihm
oft gemacht sein, ehe er die stadt verlieſs. die gedichte, in denen er sein
werk verteidigt, die iamben, die trochaeen an Phokos, die elegie, aus
der δήμῳ μὲν γὰϱ ἔδωκα stammt, sind offenbar nach dem amtsjahr,
aber vor der reise gedichtet. also einen teil der ruhigen jahre 593—90
dürfen wir uns Solon in Athen denken, und daſs man ihn nach Delphi
als deputirten schickte, erscheint durchaus passend für den gewesenen
διαλλακτής, wie es auch passend für den ist, dem kurz darauf diese
rolle übertragen wird. wieder scheint Aristoteles zu widersprechen, der
Σόλωνος ἀποδημήσαντος ἐπὶ ἔτη τέτταϱα διῆγον ἐν ἡσυχίᾳ von
den jahren 593—90 sagt. aber das ist nur bequeme ausdrucksweise,
berechtigt, weil die frist zwischen dem ende des amtes und dem an-
tritte der reise sich nicht berechnen lieſs, am wenigsten für eine chrono-
logische übersicht, die natürlich immer an das letzte feste datum ansetzt.
woher wuſste denn auch Aristoteles von der reise, ihren motiven und
ihrer befristung? dafür gab es schlechthin keine überlieferung als
Solons gedichte. gerade so wie Aristoteles die stimmung der parteien
gegenüber Solon den gedichten nacherzählt, die er zum teil selbst an-
führt (11, 2), so hat ihm ein gedicht vorgelegen, in dem Solon sagte
“ich will als kaufmann und aus wissensdrang nach Aegypten auf zehn
jahre verreisen. denn es ist nicht recht, daſs ich hier die gesetze selbst
auslege, denen vielmehr jedermann gehorchen soll.” dieses gedicht para-
phrasirt Aristoteles 11, 1 22), ihm schlieſst er mit ἅμα δέ (11, 2) die
21)
[16]1. Chronologie.
paraphrase anderer gedichte an, und die motive der reise sind sogar
in indirecter rede gegeben (οὐ γὰϱ ο̛ίεσϑαι δίκαιον εἶναι). in ähn-
licher weise hat man später aus den gedichten dargetan, daſs die reise
wirklich nach Aegypten und Kypros gegangen ist.23) aber den termin
des antritts der reise, ihrer einzelnen etappen, und selbst den der rück-
kehr wuſste Aristoteles nicht und wissen wir nicht. wer könnte sich
darauf verlassen, daſs die absicht einer zehnjährigen abwesenheit, wenn
sie überhaupt so genau gemeint war, auch ausgeführt ist? ob Solon
zur zeit von Damasias’ usurpation in Athen war, muſs unentschieden
bleiben; nichts als die bare möglichkeit ist da, daſs die vor einer tyrannis
warnenden verse auf ihn zielen.
Die beteiligung Solons am heiligen kriege so wie sie Aristoteles
berichtet hat, ist also sehr wol denkbar, und die delphische nachricht,
welche als führer des attischen contingentes Alkmeon nennt, wider-
spricht nicht ihr, sondern nur den fabeln von Solons beteiligung an
der eroberung Krisas. etwas anderes ist es, ob die aristotelische nach-
22)
[17]Der erste heilige krieg.
richt wahr ist. daſs er sie berichtet, kann allein nicht zur beglaubigung
genügen, und der glaube der Athener, den Aischines wiedergibt, auch
nicht. allein daſs es listen der pylagoren in Athen von so alter zeit
her hätte geben können, daſs in ihnen auch so wichtige dinge wie
ein executionsbeschluſs notirt gewesen sein könnten, mochte man noch
vor 15 jahren mit schein bezweifeln: jetzt halte ich diese skepsis für
widerlegt durch die fundtatsachen, und halte uns für verbunden, eine so
alte und so gut bezeugte überlieferung anzuerkennen. ganz dasselbe gilt
von der führung der Athener durch Alkmeon, die Plutarch dem delphischen
archive entnahm. der sohn des mörders der Kyloneer, der vater des
führers der Paralier wider Peisistratos, paſst der zeit nach vortrefflich.
die verbindung, in die Alkmeons enkel Kleisthenes mit Delphi tritt,
erscheint durch das verdienst des groſsvaters gut motivirt, und die art
unserer überlieferung läſst den gedanken nicht aufkommen, daſs Alkmeons
name durch kleisthenischen trug in die delphische chronik gekommen
wäre. wann die Alkmeoniden aus der verbannung heimgekehrt sind,
in welche sie kein regelmäſsiges gericht24) getrieben hatte, ist unbekannt,
aber man wird nicht glauben, daſs Solon sie bei seinem versöhnungs-
werke auſser acht gelassen hätte, um so weniger, als Megakles, Alkmeons
sohn, die constitutionelle solonische partei später geführt hat (13, 4).
ganz besonders gut paſst aber die verschwägerung des Alkmeon mit
Kleisthenes von Sikyon, wenn sie im heiligen kriege kameraden waren:
die freiwerbung um Agariste ist eine reizende novelle, aber nichts anderes
als das (am wenigsten ein auszug aus einem pindarischen gedichte): die
familienverbindungen, zumal die über die einzelnen staaten hinausgreifenden,
hat nicht nur zu jener zeit ausschlieſslich die politik dictirt. daſs Klei-
sthenes, der herr von Sikyon, nicht unbeteiligt zusehn konnte, wenn
der krisäische golf den herrn wechselte, wird jedem selbstverständlich
sein, der von der einen zur andern küste geschaut hat.25) seine be-
v. Wilamowitz, Aristoteles. 2
[18]1. Chronologie.
teiligung an dem nachspiele des krieges muſs bedeutend gewesen sein,
da er von der beute eine halle in Sikyon erbaute26) und selbst dem
pythischen gotte ein fest zu hause stiftete.27) in dem wagenrennen, das
erst jetzt, 582, ein teil des pythischen spieles ward, nachdem auf dem
neuerworbenen Kirrhaeischen felde eine bequeme bahn zur verfügung
stand, war ein gespann des Kleisthenes sieger.28) dies ist in der delphi-
schen festchronik überliefert; daſs sie von der Kirrhaeischen beute er-
richtet war, wird an der sikyonischen halle selbst gestanden haben; die
stiftung der Pythien ist wahrscheinlich durch die bekanntlich alte und
im vierten jahrhundert schon publicirte sikyonische chronik überliefert.
so bewährt sich jeder zug der überlieferung von mehreren seiten, und
man braucht die novellistische oder gar gefabelte geschichte nicht erst
zu verhören, die übrigens nicht ohne interesse ist.29)
In dieser darlegung ist bisher Pausanias nur mit dem herangezogen
25)
[19]Der erste heilige krieg.
was er über die feier von 582 beibringt, da er diese auf dasselbe jahr
setzt wie Aristoteles; bekanntlich nennt er sie aber die zweite Pythiade,
indem er als erste den ἀγὼν χϱηματίτης nimmt, den er abweichend von
Aristoteles auf 586 ol. 48, 3 ansetzt, und von da aus zählt er die
Pythiaden. Boeckh (zu Pindar ol. 12) hat nicht nur dieser rechnung
den vorzug gegeben, sondern die hypothese aufgestellt, daſs die in den
Pindarscholien angeführten Pythiaden im gegensatz zur absicht der ge-
lehrten, die sie anführen, nach der rechnung des Pausanias verstanden
werden müſsten. Boeckhs ansicht hat bis auf Bergk unangefochten ge-
herrscht und waltet noch heute vor. ihn hat ausschlieſslich die exegese
der pindarischen gedichte bestimmt, die er richtiger zu verstehen meinte,
wenn er sie um vier jahre gegen die ansicht der alten hinaufrückte. davon
ganz abgesehen muſs der bericht des Pausanias zuvörderst mit dem ver-
glichen werden, der sich bisher so gut bewährt hat. er weicht keineswegs bloſs
in den ziffern der Pythiaden oder ihrer geltung ab. nach dem aristotelischen
berichte ist 586 (ol. 48, 3) gar keine feier gewesen, weil keine sein konnte,
weil krieg war. wenn die leute bald von der ersten feier überhaupt, bald
von der ersten der später geltenden ordnung gezählt hätten, so lieſse sich
das begreifen. aber die feier von 586 ist entweder geschichtlich: dann
muſs der bericht des Aristoteles verworfen werden; oder sie ist fiction:
dann ist es zu viel verlangt, ihr zu liebe die Pythiadenrechnung der scho-
liasten umzurechnen. es lag doch wahrlich näher, daſs bei dem notorisch
penteterischen charakter der Pythien das auf besonderen kriegerischen
verwickelungen beruhende achtjährige intervall zwischen dem ἀγὼν χϱη-
ματίτης und στεφανίτης in vergessenheit geriet, als daſs umgekehrt
dies datum um vier jahre nach oben verrückt ward; und wenn wir
vollends für die eine angabe das zeugnis des Aristoteles, für die andere
das des Pausanias haben, so dürfte die zeit und die sinnesart der beiden
gewährsmänner doch nicht ganz belanglos sein. Boeckh sagt mit recht,
daſs Pausanias auf delphische quellen zurückgeht.30) gewiſs; es findet
sich in dieser partie keine ausgleichung mit attischen jahren, die er
sonst nicht selten hat, sondern mit olympiaden: das zeigt aber nur, daſs
seine urquelle beträchtlich jünger als Aristoteles war. was aber be-
sonders wichtig ist: er beginnt die geschichte der pythischen spiele mit
Chrysothemis, Philammon und consorten, und er übergeht den anlaſs
der wirklichen stiftung, deren daten er doch gibt, durchaus. nicht hier
2*
[20]1. Chronologie.
(cap. 7), sondern in der periegese unten (37) erzählt er von dem
heiligen kriege, und keinesfalls hat er jene erzählung von hier dort-
hin versetzt. noch in der gleich folgenden geschichte der amphiktionen
fehlt der erste heilige krieg. es ist fürwahr eine schwere zumutung, auf
grund der lücken dieser erzählung den Aristoteles und die alexandrinischen
grammatiker zu verwerfen. freilich, wenn es die exegese Pindars ver-
langt, müssen wir uns fügen. die soll hier unberührt bleiben31): nur
die alternative soll klar gestellt sein. Boeckh hat sie nicht verschleiert,
aber wol seine modernen anhänger. ich will hier nur die erklärung
abgeben oder vielmehr wiederholen, daſs mir auch die gedichte, so weit
sie überhaupt so genaue zeitbestimmungen erschlieſsen lassen, nur unter
beibehaltung der überlieferten daten verständlich sind; allerdings rate
ich dringend jedem, der sich ein urteil bilden will, zunächst nicht bloſs
alle modernen commentare bei seite zu lassen, sondern auch die drei
ersten pythischen gedichte, die als grundlage der pindarischen oder
hellenischen chronologie unverwendbar sind.
Es ist wol nicht unerwünscht, wenn es auch für Aristoteles nichts
mehr ergibt, kurz herzusetzen, was als geschichtlich zuverlässige tatsache
über den ersten heiligen krieg gelten darf. es ist ziemlich das um-
fangreichste stück beglaubigter kriegsgeschichte aus so alter zeit.
Die lokrische bevölkerung von Kirrha, die Delphi vom meere ab-
schloſs, war den Delphern unbequem, weil sie die pilger belästigte. in
folge dessen stellte der athenische pylagore Solon den antrag auf amphik-
tionische execution; die führung des ganzen fiel dem Thessaler Eury-
lochos zu, dem es, unbestimmt wie lange nach ausbruch des krieges,
gelang Kirrha zu erobern. zu ehren des sieges hielt er eine stolze
Pythienfeier im august 590. aber die Kirrhaeer waren längst nicht
überwunden; sie hatten sich auf die Kirphis geflüchtet, hielten sich dort
und in ihrem hafenplatze, und ihre überwindung gelang erst 584, wesent-
lich durch die beteiligung des Kleisthenes von Sikyon; sein eidam, der
Alkmeonide Megakles von Athen führte das attische contingent (oder hatte
es in dem vorigen kriege geführt). erst jetzt wurden die Kirrhaeer
gänzlich ausgerottet, ihr land dem gotte zugewiesen, zum teile verflucht,
und 582 ward eine penteterische feier zum ersten male begangen, mit
vielen kampfspielen, zwar ohne geldpreise, aber doch natürlich nicht ohne
daſs der gott aufwand treiben muſste, zu dem ihm die neuen einkünfte
überwiesen waren. die sieger kehrten mit reicher beute heim, die
[21]Der erste heilige krieg. die jahre der tyrannis.
Kleisthenes zu bauten und zu einer eigenen Pythienfeier zu hause be-
nutzte.32)
Nicht um ihrer selbst willen hat die erste reihe der chronologischen
daten, 594—80, so viele seiten bekommen. das nächste, die chronologie
der athenischen tyrannen kann kürzer ausfallen, obwol sie eigentlich sehr
viel schwieriger ist. es muſs vom sichern ausgegangen werden, von unten.Die jahre
der tyrannis.
sicher ist das jahr des Isagoras 508/7 (Arist. 21, 1), gleichgesetzt mit
ol. 68, 1 von Dionysios von Halikarnass I 74; auf dem parischen marmor
ist die zahl nicht sicher, und wäre sie es, so würde die rechnung mindestens
ein jahr spielraum lassen. das ergibt auch nach Aristoteles für die
vertreibung der Peisistratiden 511/10; der archon Harpaktides war nicht
bekannt, da er auf dem parischen marmor, wo die zahl erhalten ist,
weggebrochen ist und nun ergänzt werden kann (Ar. 19, 6. 21, 1).
wieder vier jahre früher setzt Aristoteles ohne den auch sonst unbekannten
archon zu nennen den tod des Hipparchos (19, 2), also 514/13 = ol.
66,3. das ist dadurch besonders fest gesichert, daſs die ermordung an
den Panathenaeen, also in einem dritten olympiadenjahre stattfand. all
dies ist längst mit vielen guten zeugnissen festgestellt; es genügt auf
Boeckhs commentar zur parischen chronik zu verweisen. der ausgangs-
punkt ist also sicher. für das frühere gibt Aristoteles zwei summen an:
herrschaft des Peisistratos und seiner söhne 49 (woraus sich das citat
dieser stelle in den scholien der Wespen 502 leicht verbessert), herrschaft
der söhne allein 17 jahre (19, 6); und herrschaft des Peisistratos von
der ersten besitzergreifung bis zum tode 33, davon effective herrschaft
19 jahre (17, 1). die 33 jahre, aber daneben 17 jahre effectiver herr-
schaft, gibt Aristoteles in der politik an (E 1315 b). statt 49 als gesammt-
summe hat Eratosthenes 50 gezählt, ebensoviel als die summe der aristo-
telischen einzelposten 17 + 33 ergibt. der chronograph zählte also correcter
das anfangsjahr mit. das sind eben nur scheinbare differenzen, bei der
antiken weise die namen zu zählen und in ordinalzahlen das ausgangs-
jahr zumeist mit einzuschlieſsen unvermeidlich. die einzige differenz,
die auf den ersten blick befremdet, 17 oder 19 jahre effectiver herrschaft,
tut das nur deshalb, weil wir die einzelposten nicht mehr sicher kennen,
die Aristoteles in der Politik addirt hatte. denn entstanden sind die zwei
jahre überschuſs dadurch, daſs er die archonten, unter denen Peisistratos aus
[22]1. Chronologie.
seinen beiden verbannungen heimkehrt, in der Politik der herrschaft
zurechnete, in der genauern erzählung der Politie den verbannungen.
an den zu grunde liegenden attischen archontenjahren ändert das nichts.
die neuen zeugnisse bestätigen also nur, was wir schon wuſsten, erstens, tod
des Peisistratos 528/7 unter dem archon, der erst jetzt namhaft gemacht
wird, Philoneos, zweitens, beginn seiner herrschaft unter archon Komeas, der
mit der belanglosen orthographischen variante als Komias auch gut bekannt
war, 561/60 (nicht 560/59).33) und auf den ersten blick muſs jeder
leser der Politie, der die jahreszahlen Solon 594 Peisistratos 561 im
kopfe hatte, den schreibfehler 14, 1 berichtigt haben, wo das jahr des
Komeas das zweiunddreiſsigste nach Solon statt des vierunddreiſsigsten heiſst.
So weit ist alles einfach, aber es lehrt wenig neues. die einzel-
posten, die neues versprechen, sind durch böse verderbnisse entstellt.
denn während die summe 33 für die herrschaft des Peisistratos fest-
steht, lesen wir jetzt als einzelposten: erste herrschaft 5 jahre (ἔτει
ἕκτῳ nach Komeas, unter Hegesias), erste verbannung 11 jahre (ἔτει
δωδεκάτῳ heimkehr)34), zweite ganz kurze herrschaft 6 (ἔτει μάλιστα
ἑβδόμῳ οὐ γὰϱ πολὺν χϱόνον κατέσχεν), zweite verbannung 10 (ἔτει
ἑνδεκάτῳ schlacht bei Pallene), worauf die ruhige letzte herrschaft bis
Philoneos 528/7 folgt, die jeder leser für die längste unbedingt halten
muſs. das ist also vollkommener unsinn, wolbemerkt, in sich ist es wider-
spruchsvoll, und ich werde mich auf keinen disput mit einer kritik ein-
lassen, die dem Aristoteles zutraut, eine sechsjährige herrschaft ausdrück-
lich als kurz zu bezeichnen, nachdem er eben eine fünfjährige ohne
bemerkung hat passiren lassen.35) und wenn jemand sagt, Aristoteles hätte
gedankenlos die zahlen aus verschiedenen rechnungen vermischt, wobei
ihm selbst nicht wol gewesen wäre, so daſs er die summe der jahre für
die verbannungen nicht summirt hätte, so mag der kritiker sich bei seiner
kritik ja wol befinden, aber die gedankenlosigkeit ist nicht bei Aristoteles.
jeder der sich ein bischen überlegt, was er liest, muſs zwei fehler be-
merken, den einen schon gerügten, in der zahl für die zweite herrschaft,
den andern in den elf jahren der ersten verbannung, sintemal die summe
[23]Die jahre der tyrannis.
der beiden verbannungen 14 sich aus 33—19 notwendig ergibt, also
nicht 11 + 10 sein kann. die zweite zahl aber ist durch Herodotos
gesichert, und eben dieser, dem Aristoteles hierin folgt, bezeugt auch die
kürze der zweiten herrschaft und begründet sie durch seine erzählung.36)
es folgt ferner aus dieser rechnung, daſs diese zahl (ἔτει ἑβδόμῳ) in
eine möglichst niedrige geändert werden muſs, am besten ἔτει τϱίτῳ,
da Aristoteles das nächste jahr wol eher mit τῷ ὕστεϱον ἔτει als ἔτει
μάλιστα δευτέϱῳ bezeichnet haben würde. und da 14 — 10 = vier ist,
so muſs ἔτει δωδεκάτῳ für die zweite verbannung in πέμπτῳ geändert
werden. so zwingt die rechnung; aber die palaeographische probabilität
ist auch nicht von fern vorhanden. 12 in 5, 7 in 3 sind nicht so zu-
fällig verschrieben wie δ΄ in δύο. deshalb war uns unbehaglich zu sinn,
und wir lieſsen in der zweiten auflage die falschen zahlen im texte. jetzt
bin ich sicher, weil ich bemerkt habe, daſs sie ein böser wille um einer
falschen rechnung willen so in die höhe geschraubt hat. denn 5 + 11 +
6 + 10 = 32; alle posten aber sind in ordinalzahlen, also je um eine stelle
höher gegeben, 33 ist als summe der herrschaftsjahre genannt, und ein
einzelposten für die letzte herrschaft nicht namhaft gemacht. es hat also
jemand die irrige ansicht gehabt, die summe 33 müſste aus den einzel-
posten resultiren und danach zwei zahlen erhöht; 32 gab er, um mit
den 17 jahren der söhne die gegebene summe 49 zu erreichen. das war
sehr kurzsichtig, denn er zerstörte die 14 jahre verbannung: aber diese
stehn ja nicht im texte, und wenn ein mann wie Köhler, geblendet durch
eine eigene conjectur, unwissentlich aus einer elf eine sechs machen kann,
so dürfen wir es auch einem antiken collegen zutrauen. aber beseitigt
muſs diese schlimme conjectur werden, und dann folgt durch notwendige
schlüsse 561/60, Komeas, beginn der ersten tyrannis, 556/5, Hegesias,
erste vertreibung, 553/2 zweite tyrannis, 551/50 zweite vertreibung,
541/40 schlacht bei Pallene. natürlich bleibt einige latitude für die
[24]1. Chronologie.
drei letzten zahlen, denn in wie weit ein jahr sowol als endjahr in dem
einen wie als anfangsjahr in dem andern posten enthalten ist, kann man
nicht ausrechnen. da tritt aber schlieſslich zum glücke noch ein helfer
in der not hervor: in der chronik des Eusebius steht (oder hat gestanden)
der anfang des Peisistratos richtig zu ol. 54, 4, der tod des Hipparchos
zu 65, 3: dazwischen steht Pisistratus apud Athenienses tyrannidem
exercuit zu 59, 3 oder 4, also 542 oder 41: das kann nur die schlacht
von Pallene meinen, und es stimmt so gut, wie man irgend verlangen kann.
die antike chronographie und Aristoteles und Herodot sind durchaus in
einklang, und wir sind berechtigt diesen wichtigen daten vollen glauben
zu schenken. ich betrachte 541 als ein festes datum für die schlacht
von Pallene; daſs sie auch 542 gewesen sein kann, ist für jene zeit
eine unwesentliche differenz. die würden wir nur heben können, wenn
wir mehr archontennamen besäſsen und fixiren könnten. in dieser
richtung gewinnen wir nichts neues, aber wol in einem punkte eine ent-
scheidung, was auch nicht zu verachten ist. 556/5 war Hegesias archon,
nicht Euthydemos, dem Boeckh dies jahr zugewiesen hatte. nach Euthy-
demos ist vielmehr das nächstfolgende benannt, 555/4, wie Dopp gewollt
hat. unter Euthydemos, 555/4 = ol. 56, 2, hat also die parische chronik
die thronbesteigung des Kroisos, Sosikrates (Diogen. I 68) das ephoren-
jahr des Chilon gesetzt.37)
Die jahre
508—478.Nach Isagoras 508/7 ist der nächste feste punkt Phainippos 490/89,
der archon der Marathonschlacht (22, 3), wie wir aus der parischen chronik
wissen, der zweite träger des namens in der liste. an dem jahre 490
oder dem eponymos Phainippos für dieses jahr zu zweifeln kann keinem
leidlich gesunden verstande beikommen: die liste der archonten 496—88
ist durch zeugnisse, die sich gegenseitig stützen, längst gesichert. dann
ist aber eine der zahlen bei Aristoteles falsch, welcher nur 15 jahre
zwischen 508 und 490 zu zählen scheint, da er den archon Hermokreon
ἔτει πέμπτῳ nach Isagoras, den Phainippos ἔτει δωδεκάτῳ nach Hermo-
kreon ansetzt. und wirklich ist das jahr 504/3, das so dem Hermokreon
gehören müſste, von Akestorides besetzt, mit dem olympiadenjahre 69, 1
von Dionysios (V 37) geglichen: Kenyon hat demnach die zahl 5 in 8
geändert, damit wenigstens die 12 bleiben kann; ὀγδόῳ für πέμπτῳ
empfiehlt sich freilich nicht durch leichtigkeit. denkbar ist auch, daſs
Aristoteles das erste mal das ausgangsjahr nicht rechnete, Hermokreon
also 503/2 zu stehn käme, und nachher δωδεκάτῳ leichter in ιδ΄ ge-
[25]Die jahre 508—478.
ändert würde. einen sichern platz hat Hermokreon also noch nicht; für
die ganze rechnung tut es aber nichts.
Nach der schlacht von Marathon verneinten die Athener zweimal
die vorfrage, ob ostrakismos stattfinden sollte: das war unter Phainippos
und unter Aristeides (name in der parischen chronik und bei Plut. Ar. 5),
in der sechsten prytanie, anfang 489 und 488; im dritten jahre verfiel
Hipparchos dem ostrakismos: anfang 487 unter Anchises (name Dionys.
Hal. VIII, 1); im folgenden jahre, 486 gieng es dem Megakles so, unter
Telesinos: diesen namen lernen wir zu; drei jahre wurden tyrannenfreunde
verbannt: also auſser den beiden genannten noch ein dritter unbekannter
485, in dem jahre 486/5, dessen archon noch fehlt; im vierten jahre traf
der ostrakismos den Xanthippos: also 484, unter Philokrates (name in
der parischen chronik); im dritten jahre danach unter Nikomedes (oder
Nikodemos) flottengesetz des Themistokles: das ist 483/2, und hier haben
wir sicherheit durch die übereinstimmung des Dionysios (VIII 83), der
zur controlle das jahr der stadt Rom beifügt. bis hierher ist also die
überlieferung bei Aristoteles in ordnung. aber gleich folgt ein fehler.
denn nach dem flottengesetze des Themistokles heiſst es, daſs Aristeides
ἐν τούτοις τοῖς καιϱοῖς durch ostrakismos verbannt, aber im vierten jahre
darauf wegen des Xerxeszuges unter Hypsichides mit allen verbannten
zurückgerufen wäre. da der Xerxeszug nach Athen sommer 480, in
den ersten monaten des Kallias, kam, kann die rückberufung der ver-
bannten nur unter den archon von 481/80 fallen und zwar in seine
letzten monate. der bisher unbekannte archon dieses jahres hieſs also
Hypsichides.38) aber dann ist Aristeides nur genau 2 jahre verbannt ge-
wesen, da nur eine unzulässige kautschukinterpretation das was Aristoteles
nach dem flottengesetze von 483/2 berichtet und was verfassungsmäſsig
der zweiten jahreshälfte angehört, in das jahr vor Nikomedes rücken
kann. ἐν τούτοις τοῖς καιϱοῖς bedeutet natürlich mehr als eine un-
gefähre zeitliche gleichheit: es ist auch ein innerer zusammenhang zwischen
den zeitlich so ziemlich coincidenten ereignissen, der groſstat des The-
mistokles und der ausweisung des Aristeides. die falsche zahl ist also
[26]1. Chronologie.
ἔτει τετάϱτῳ (22, 8), und hier darf man wieder mit zuversicht ändern, da
Plutarch Arist. 8 für dieselbe sache ἔτει τϱίτῳ angibt. daſs nach Aristo-
teles die rückberufung der landes verwiesenen nicht unter Kallias erst
fällt, ist lediglich ein zeichen der besten überlieferung, die bei Herodotos
sagenhaft entstellt ist: bei ihm kommt Aristeides erst unmittelbar vor der
schlacht bei Salamis heim. ein solcher beschluſs, der ja auch das com-
plement der atimie für alle, die östlich von dem hellenischen festland
blieben, d. h. zu den Persern giengen, einschloſs, ist undenkbar, wenn
die Athener selbst bereits ihr land verlassen wollten oder gar verlassen
hatten: aber er kann auch nicht eher gefaſst sein, als Hellas direct be-
droht war; 480 fällt er also, aber notwendig unter einen anderen
archon als die schlacht bei Salamis.
Die weiteren daten lehren uns nichts neues, weil die archontenliste
bekannt ist, und sie brauchen nicht besprochen zu werden, weil die
überlieferung nicht gestört ist. nur auf eines sei hingewiesen. 25, 1
wird die vorherrschaft des Areopags auf 17 jahre μετὰ τὰ Μηδικά an-
gegeben. der sturz des Areopags fällt unter Konon 462/1; der anfang
seiner vorherrschaft also unter Timosthenes 478/7: das ist in der tat
das letzterwähnte jahr (23, 5). Aristoteles konnte also den ausdruck τὰ
Μηδικά bis 478/7 erstrecken, und wenn unter Timosthenes die erste
schatzung und das ‘ewige bündnis’ der Ionier, also die gründung des
Reiches fällt, wie wir von ihm lernen, so ist das sehr wol verständlich.
aber diese neue erkenntnis bringt, wie mich dünkt, eine alte streitfrage
zum austrag. daſs der jetzige abschluſs des herodoteischen werkes nicht
vom verfasser beabsichtigt ist, liegt auf der hand oder sollte es doch
tun. mit der eroberung von Sestos möchte Herodot allenfalls schlieſsen:
mit der geschichte von dem gepökelten heros Protesilaos und einer anek-
dote aus Kyros zeit konnte er es nicht. vor allem aber ist kein buch
fertig das kein ende hat, sondern abreiſst: das des Herodotos aber hat
seine einleitung und ordnung und will ein kunstwerk sein. andererseits
ist Eduard Meyer vollkommen im rechte, wenn er bestreitet, daſs Herodot
beabsichtigt hätte, bis zur Eurymedonschlacht oder irgend einem weit
unter den winter 479/8 herabführenden ereignis fortzufahren: das lehren
seine eigenen angaben. da scheint mir die gründung des Reiches, der
eidschwur der Ionier, der winter 478/7 ein passender schluſs. da sind
die Μηδικά zu ende und ist die groſsmachtstellung Athens gegenüber
den Barbaren begründet, in der Herodotos das ziel und den höhepunkt
der geschichtlichen entwickelung sah. aber auch Thukydides hat so ge-
urteilt, wie ich es von Herodot annehme. denn er erzählt I 89—97
[27]Die jahre 508—478. ergebnis.
genau das was zur ergänzung des unfertigen herodoteischen werkes nötig
war. er setzt nach der schlacht von Mykale ein und berichtet kurz das
letzte was Herodot ausführlich erzählt, die belagerung von Sestos. darauf
erzählt er selbst ausführlich den wiederaufbau der mauern Athens, winter
479/8 unter Xanthippos. es folgen die expeditionen des kriegsjahres 478
und der abfall der Ionier von Sparta, der im frühjahr 477 perfect wird,
als sie dem nachfolger des Pausanias die heeresfolge weigern, und die
τάξις φόϱου, die also in der zweiten hälfte des jahres des Timosthenes,
ersten hälfte des jahres 477 vor sich gieng. damit ist das attische Reich
gegründet, genauer οἱ Ἀϑηναῖοι ἦλϑον ἐπὶ τὰ πϱάγματα ἐν οἷς
ηὐξήϑησαν. das ist ein abschluſs, und da hat auch Thukydides zu-
erst inne gehalten. die erzählung der ereignisse von 476—434 hat er
als excurs erst später eingefügt, mit rücksicht auf die erste attische
chronik, die mittlerweile Hellanikos publicirt hatte. als er sein werk
entwarf, stand der jüngst publicirte torso des herodoteischen werkes in
imponirender gröſse vor seiner phantasie: ihn hat er ergänzen wollen.
seine ganze archaeologie ist ja eine parallele zu dem herodoteischen werke.
auch sie geht, nur mit kurzer scharfgeschlossener argumentation, darauf
aus, die macht Athens in ihrem werden und ihrer bedeutung klar zu
machen: das ist die voraussetzung der ereignisse, die er erzählen will. die
voraussetzung seines erzählens ist das werk des Herodotos: so hat er
am besten dessen absicht begriffen.
Was haben wir nun für Aristoteles ermittelt? nicht viel, scheintErgebnis.
es. er hat eine archontenliste gehabt, der er vor Solon nur bedingtes,
von Solon ab unbedingtes vertrauen schenkt. auf die archonten datirt
er so viele der hauptereignisse, daſs sich eine feste chronologie der
zeit von 594—403 aufbaut. wie viele genau auf den archon gestellte
angaben diese vorlage enthielt, sieht man am deutlichsten, wo er eine
fabel durch den hinweis auf ihre chronologische unmöglichkeit beseitigt:
“man sollte sich doch überlegen, wie alt Solon und Peisistratos geworden
und unter welchem archon sie gestorben wären” (17, 2). das sagt er
von Solon gar nicht erst, das soll der leser wissen, und diese angabe
gilt ihm als eine unwidersprechliche tatsache. es sind nun aber mit
diesen datirungen recht häufig die an sie geknüpften ereignisse eng und
unlöslich verbunden. die erste chronologische reihe, von Solon bis
Damasias, besteht im grunde nur aus den erläuterungen der archonten-
liste, und ebenso wird niemand die knappen angaben über einzelne
ereignisse der jahre 507—480 von den daten loszureiſsen gewillt sein.
mit andern worten, Aristoteles hat nicht eine nackte archontenliste, son-
[28]1. Chronologie.
dern eine chronik benutzt, und er hat dieser chronik nicht nur als einer
zeittafel volles vertrauen geschenkt. das ist also ein buch, das er für
die ganze geschichte beständig vor augen gehabt hat, das ihm das ge-
rüst seiner arbeit geliefert hat. erkannt zu haben, daſs er eine solche
chronik benutzt, und wie hoch er sie schätzt, ist allerdings nichts ge-
ringes. aber um zu lernen, wie viel er ihr verdankt, müssen wir zunächst
das absondern, was sich auf andere nachweisbare und zum teil erhaltene,
ja direct von Aristoteles citirte schriften zurückführen läſst. erst nach
langen und mühsamen umwegen werden wir zu der chronik zurück-
kehren, so oft wir ihrer auch unterwegs ansichtig werden.
Wenn wir nach den quellen der Politie fragen, so geziemt es sich
von den gewährsmännern auszugehn die namentlich angeführt werden.
das war vermutlich Homer (B 547), um mit der formel δῆμος Ἐϱεχϑῆος
das alter der athenischen demokratie zu beweisen (fgm. 2). die verse
stammen bekanntlich erst aus der zeit des Peisistratos, aber Aristoteles,
der auch die berufung der Athener auf dieselben verse im streite um
Salamis anerkennt (Rhet. I 15), hat solche beweise nicht in zweifel ge-
zogen. ein anderes ist, ein solches zeugnis suchen; das wird man ihm
nicht leicht zutrauen, das haben vielmehr die Athener zu tun veranlassung
und neigung gehabt; er kann dieses citat füglich selbst schon ent-
lehnt haben.
Eine hauptquelle für ihn sind die gedichte Solons gewesen; was
er ihnen verdankt, wird das nächste capitel darlegen. es ist praktisch,
vorher den einzigen historiker zu betrachten, den er einer nament-
lichen erwähnung (14, 4) gewürdigt hat, den Herodotos. es liegt darin
schon eine bedeutsame anerkennung des gröſsten historikers, der dem
Aristoteles der typus dieser litteraturgattung ist (poet. 9).
Sein name steht bei einer unwesentlichen einzelheit, der herkunftGeschichte
des Peisi-
stratos.
jener frau, die als Athena den Peisistratos heimführte. die ἔνιοι, deren
angabe Aristoteles dem Herodotos entgegenstellt, würden wir noch be-
stimmt benennen können, wenn nicht die stelle bei Athenaeus, wo der
name stand, unheilbar zerstört wäre (XIII 609).1) es war der name
[30]2. Herodotos.
eines Atthidographen, denn Kleidemos2) steht daneben. das Herodotcitat
beweist an sich, daſs er in dieser partie weiter benutzt ist; die nennung
der ἔνιοι, daſs er nicht allein zu grunde liegt. dem entspricht der tat-
bestand: Aristoteles erzählt die äuſsere geschichte des Peisistratos (13,
4—15, 3) in engem anschlusse an Herodotos, aber mit zahlreichen zu-
sätzen. nur zum teil waren uns die geschichten anderswoher bekannt, aber
diese parallelen genügen, ihre herleitung aus der chronik wahrscheinlich zu
machen. so gleich die hübsche geschichte, wie Peisistratos sich zum ersten
male der herrschaft bemächtigt, und der alte Solon seine klugheit und
seinen mut vergeblich dagegen aufbietet: sie hängt in wahrheit mit der
schilderung von dem regimente des Peisistratos zusammen, das bei Aristo-
teles folgt, und müſste hier eigentlich besprochen werden. allein das
würde uns gleich von Herodotos weit abführen: so habe ich es dem
capitel vorbehalten, das nach der Atthis heiſst.
Ein wichtiges stück, die unternehmungen des Peisistratos während
seiner zweiten verbannung, ergänzt den bericht Herodots, dessen angabe,
daſs Peisistratos aus der Strymongegend geld bezog (I 64), erst jetzt ver-
ständlich wird, wo wir von seinen dortigen erwerbungen erfahren. da
Eretria der ausgangspunkt des Peisistratos war, konnte jeder folgern,
daſs ihn die dortigen machthaber unterstützten: aber daſs es, wie in
Chalkis, ritter waren, ist zwar nach der analogie und einer angabe des
Aristoteles (Politik Δ 3) sehr glaublich, nur aus Herodot war es nicht zu
entnehmen. diese trefflichen angaben machen durchaus den eindruck
schlieſslich aus derselben tradition geschöpft zu sein, die auch dem Herodotos
vorlag, und es wäre dem Aristoteles ja auch nicht möglich gewesen, beide
in einander zu arbeiten, wenn sie nicht im wesentlichen gestimmt, im
einzelnen einander ergänzt hätten. einen widerspruch in einer lappalie,
wie es die herkunft der Phye ist, notirt er; sonst gibt er einfach nur das,
was ihm das wahre zu sein scheint. dabei ist es ihm einmal begegnet, daſs
er ein und dasselbe ereignis, weil es von seinen gewährsmännern in
verschiedener beleuchtung vorgeführt war, verdoppelt hat.
Der bericht über die drei parteien, die in Athen vor PeisistratosDie drei
parteien.
bestanden, stimmt bei Aristoteles und Herodotos ziemlich genau (13, 4,
Herod. I 59). aber Aristoteles hat nicht nur, wie natürlich, das ungenaue
ὑπεϱάκϱιοι Herodots in das richtige διάκϱιοι verbessert, sondern er charak-
terisirt auch diese partei als die demokratische, der sich die ehemaligen
schuldsclaven anschlossen, und neben diesen leute von zweifelhafter ächt-
bürtigkeit. zum beweise führt er an, daſs nach der vertreibung der tyrannen
eine prüfung der bürgerlisten stattgefunden habe, um diese eindringlinge zu
beseitigen. da Kleisthenes bei der neuen phylenordnung gerade die entgegen-
gesetzte tendenz verfolgt hat, und niemand anders als Aristoteles selbst be-
richtet, daſs er sogar viele metöken und freigelassene zu bürgern gemacht
habe3), so kann dieser nicht der urheber jener reactionären maſsregel sein,
sondern sie muſs in die jahre 509 oder 508 fallen und von der partei des
Isagoras ausgehn. wirklich berichtet Herodot (und ihm nachschreibend
Aristoteles), daſs Isagoras 700 familien vertrieb, aber er nennt es ἀγηλα-
τεῖν, gleich als ob sie alle an der blutschuld der Alkmeoniden teilgenommen
hätten, während an der früheren stelle Aristoteles den technischen ausdruck
διαψηφισμός anwendet, den wir von den entsprechenden vorgängen
kennen, welche die gesetze des Perikles von 451/50, des Aristophon bald
nach 403, und des Demophilos 346/5 im gefolge hatten; es wird ohne zweifel
öfter zu solchen maſsregeln gekommen sein.4) nun ist es ganz der weise
[32]2. Herodotos.
des Herodotos und der der Atthis entsprechend, daſs der erste als einen
persönlichen gewaltact mit religiöser färbung hinstellt, was in dieser als
eine correcte verwaltungsmaſsregel erscheint. uns macht es darum keine
beschwerde beides zu identificiren, und wir verstehn die revolution von
510—7 damit ein gut teil besser: aber Aristoteles hat sich offenbar die
sache gar nicht klar gemacht.
Die ge-
schichte des
Kleisthenes.Damit sind wir schon in das zweite stück hineingekommen, das
Aristoteles aus Herodot genommen hat, die vertreibung der Peisistratiden
und die revolution des Kleisthenes (19, 2—20). obwohl der anschluſs
an Herodot V 62—65. 69—70 ein enger und oft wörtlicher ist, so daſs
sich die texte gegenseitig verbessern5), ist das verhältnis doch dasselbe
wie vorher: es finden sich einige wichtige und auch durch die form der
einlage bedeutsame zusätze.
Für Herodot ist die übernahme des delphischen tempelbaues lediglich
ein act der munificenz und der frömmigkeit, die wir an den Alkmeoniden,
4)
[33]Die geschichte des Kleisthenes.
von denen seine tradition stammt, bewundern sollen. Aristoteles erzählt
kurz, daſs sie den bau übernahmen, ὅϑεν εὐπόϱησαν χϱημάτων.6) das
ist so kurz, daſs man sich’s erst überlegen muſs, wieso die übernahme
einer leistung geld bringen kann. dann erschlieſst man freilich, daſs
sie nach abschluſs des contractes einen teil des bedungenen preises als
baufonds erhielten und dies geld zu der anwerbung des freicorps wider
die Peisistratiden verwandten. vollkommene aufklärung gibt ein auszug
aus der attischen chronik, schol. Pind. Pyth. 7, 9 λέγεται γὰϱ ὅτι τὸν
Πυϑικὸν νεὼν ἐμπϱησϑέντα, ὥς τινες (dies fügt D zu) φασίν, ὑπὸ
τῶν Πεισιστϱατιδῶν οἱ Ἀλκμαιονίδαι φυγαδευϑέντες ὑπ̕ αὐτῶν
ὑπέσχοντο ἀνοικοδομήσειν (so D für -μῆσαι B), καὶ δεξάμενοι χϱή-
ματα καὶ συναγαγόντες δύναμιν ἐπέϑεντο τοῖς Πεισιστϱατίδαις καὶ
νικήσαντες μετὰ χαϱιστηϱίων (so D für εὐχαϱ. B) πλειόνων ἀνῳκοδό-
μησαν τῷ ϑεῷ τὸ τέμενος, ὡς Φιλόχοϱος ἱστοϱεῖ. das ist, so weit es
hierher gehört, die unmittelbar einleuchtende wahrheit. die allerdings
dreiste fabel, daſs die bösen Peisistratiden den tempel angesteckt hätten, der
548/7 verbrannte7), während Peisistratos nicht einmal herr Athens war8), hat
Boeckh durch eine conjectur beseitigen wollen, die schon deshalb falsch
ist, weil damit das ὥς τινες φασί unverständlich wird, mit dem Philochoros
seinen zweifel andeutet. wir sind nicht berechtigt, weder der verläumdung
v. Wilamowitz, Aristoteles. 3
[34]I. 2. Herodotos.
der gegner im sechsten, noch der tyrannenfurcht im fünften jahrhundert
schranken zu setzen, wann immer die geschichte in die chronik gekommen
ist, für deren demokratischen ton sie zeugnis ablegt. auch über die quelle
des Aristoteles schwindet so jeder zweifel. das minder kundige publicum
in Athen hatte die verpflichtung zum tempelbau vergessen, aber daſs die
Alkmeoniden mit delphischem gelde ihren befreiungszug gemacht hatten,
wuſste Isokrates in der Antidosis 232.9)
Verlaufen waren die dinge also folgendermaſsen. 548/47 brannte
der delphische tempel ab; die Amphiktionen sammelten für den neubau
geld bis in die fernste hellenische diaspora. auf dieses capital hatten es
die Alkmeoniden abgesehn, nachdem ihnen der putsch von Leipsydrion
misglückt war, trotz dem scheinbaren zeugnis des Herodot wahrscheinlich
vor der ermordung des Hipparchos.10) natürlich bekamen sie den zu-
schlag als bauunternehmer nur, weil sie bessere bedingungen stellten:
wir dürfen das in dem ersatze des gewöhnlichen bruchsteines durch
parischen marmor erblicken, wenn Herodot das auch lediglich als eine
[35]Die geschichte des Kleisthenes.
liberalität der Alkmeoniden bezeichnet. natürlich war die lange zeit
von 548 bis 512 nicht ganz untätig gewesen. da ein bauplan bestand,
muſs auch ein architekt da gewesen sein, der ihn gemacht hatte; wir
kennen ihn aus Pausanias (X 5) als Spintharos aus Korinth. und von
dem bau des Trophonios und Agamedes war erstens der ganze ungeheure
unterbau da mit der polygonalmauer, die im homerischen Apollonhymnus
erwähnt wird (295), und an die um 504 die Athenerhalle angelehnt
ward.11) auch ist natürlich ein provisorisches gotteshaus immer da ge-
wesen. wie die Alkmeoniden den tempel eigentlich gebaut haben, welche
künstler sie zuzogen, entzieht sich unserer kenntnis. den schmuck der
beiden giebelfelder erwähnt am ende des jahrhunderts Euripides im Ion 12);
Pausanias beschreibt ihn unklar und nennt zwei Athener als verfertiger,
von denen der eine nach dem tode des ersten eingetreten wäre.13) die
3*
[36]I. 2. Herodotos.
beurteilung wird dadurch schwierig, daſs die bei Pausanias vorliegende
überlieferung ganz vergessen hat, daſs der tempel vor 370 so stark durch
brand beschädigt worden war, daſs man wieder für einen neubau sam-
melte und die renovirung erst nach dem heiligen kriege zum abschluſs
kam.14) wie dem auch sei: die Alkmeoniden haben ihren vertrag rasch und
zur bewunderung der welt erfüllt, natürlich mit den mitteln, die ihnen
der politische erfolg in die hand spielte, und nicht ohne beteiligung der
Athener. der mit Delphi eng verbundene Pindaros preist stadt und ge-
13)
[37]Die geschichte des Kleisthenes. die attischen skolien.
schlecht deshalb im siebenten pythischen gedichte 486, das das damalige
haupt der Alkmeoniden feiert, den neffen des Kleisthenes, Megakles,
Hippokrates sohn aus Alopeke, der wenige monate vor seinem pythischen
wagensiege dem ostrakismos verfallen war.15)
Ein zweiter zusatz zu dem herodoteischen berichte über die ver-
treibung der tyrannen ist von Aristoteles mit derselben stilistischen ab-
sicht und wirkung gemacht; er läſst sich aber zur zeit nicht mehr mit
gleicher sicherheit auf eine bestimmte quelle zurückführen, wie es dank
dem Philochoroscitat für den vorigen möglich war. nach Herodot wird
Sparta zur intervention in Athen lediglich durch religiöse motive be-
stimmt. Aristoteles fügt ein: “die verbindung der Peisistratiden mit
Argos war ein gleich starkes motiv” (19, 4). er hat über diese verbindung,
die Peisistratos durch eine heirat schon in seiner ersten verbannung ge-
schlossen hatte, und die ihm vor der schlacht von Pallene ein starkes
hilfscorps zugeführt hatte, schon vorher des breiteren gehandelt (17, 4),
kann also diese verweisung hier eingefügt haben. aber doch nur, wenn
er dies motiv selbst erst erschloſs; und das ist nicht wahrscheinlich, da
die Argiver in den jahren 510—7 nicht auftreten. wir können die
nachricht nur nach allgemein politischen erwägungen abschätzen, welche
durchaus für ihre richtigkeit sprechen. stammen wird sie aber natürlich
eben daher, wo Aristoteles die angaben über die frau des Peisistratos
aus Argos gefunden hat.
Auſserdem fügt er zwei attische skolien ein, über Leipsydrion undDie
attischen
skolien.
über Kedon, beide durch die form als zusätze kenntlich (19, 3. 20, 5).
auch wir lesen noch beide gedichte in der attischen skoliensammlung,
die Athenaeus XV aufgenommen hat; aber da sie dort die wol kennt-
liche anordnung sprengen, so liegt die annahme am nächsten, daſs
sie in die vorlage des Athenaeus aus Aristoteles erst eingefügt sind.16)
der text des einen stimmt, abgerechnet einen fehler, den erst die ab-
schreiber des Athenaeus begangen haben.17) in dem gedichte auf Lei-
psydrion ist am schlusse eine variante, die zugestandenermaſsen eine ver-
schlechterung ist und wol als interpolation gelten darf.18) daſs Aristo-
[38]I. 2. Herodotos.
teles auf die erzeugnisse des volkswitzes wie auf alle λείψανα παλαιᾶς
σοφίας mit richtigem verständnisse geachtet hat, ist bekannt. die hoffart
der Nicolais von dazumal, der Isokrateer, hat ihn wegen seiner neigung
für die sprüchwörter verspottet; seine Politien zeigen noch in dem kümmer-
lichen auszuge des Herakleides viele proben von ähnlichen verschen und
sprüchen. seine schüler sind ihm auch hierin gefolgt; Theophrast
führt versificirte wetterregeln an, Duris und Klearchos sammeln sprüch-
wörter, und das meiste was uns von volksliedern erhalten ist, scheint
den peripatetikern verdankt zu werden.19) so werden wir es ihm hoch
anrechnen, daſs er das schöne liedchen von Leipsydrion aufgezeichnet hat,
das durch Herodot unmittelbar verständlich wird. woher er aber gewuſst
oder geschlossen hat, daſs Kedon ein attentat wider die Peisistratiden
gemacht hatte und daſs er ein Alkmeonide war, ist nicht ersichtlich.20)
Im ausdrucke hat sich Aristoteles ganz eng an Herodotos angeschlossen,
selbstverständlich ohne seine schriftstellerische eigentümlichkeit zu opfern,
kürzend, einen deutlichern ausdruck wählend21), aber nicht den eigen-
tümlich treuherzigen ton des alten Ioniers verwischend. gerade darauf
beruht die wirkung seiner eigenen zusätze: er hat offenbar auf leute
gerechnet, die den Herodotos gut kannten und in ὅϑεν εὐπόϱησαν
χϱημάτων den schalk merkten.
Wie alle seine zeitgenossen war der stifter der athenischen demo-
kratie der sage anheimgefallen, oder der novelle, wie man das nennen
will. der weiseste der Sieben lebte eben so wie Thales Bias Pittakos in
schönen geschichten fort, die zum teil auch seine politische wirksamkeit
zur voraussetzung hatten, zum teil auch exemplificatorische geschichten
waren, herausgesponnen aus seinen gedichten1) und sprüchen. in der
heimat selbst war er auſserdem der begründer der demokratie geworden,
unter der man die jeweilig bestehende verstand, und von dieser übertrug
sich auf ihn liebe und haſs. zu Aristoteles zeit wetteiferten die redner
aller parteien, den νομοϑέτης zu preisen, der immer weise und immer
volksfreundlich ein jedes gesetz gegeben hatte, dessen moderner ursprung
nicht allzu offenkundig war. trotzdem die elegieen Solons in der schule
gelesen wurden, hatte das publicum keine vorstellung von dem was er wirk-
lich gewesen war.
Dem gegenüber lag es vielleicht nicht sehr fern, war aber doch
nicht nur verständig, sondern ein zeichen des sichersten historischen
taktes, wenn Aristoteles die gedichte hernahm und in ihnen ein kriterium
für die überlieferung und namentlich für die beurteilung des menschen
und des staatsmannes Solon fand. er hat dies bild in den hauptzügen so
festgestellt, wie wir es kennen; dies aus dem grunde, daſs unsere be-
[40]I. 3. Solon.
richterstatter, Plutarch Diodor Diogenes, auf peripatetische quellen zurück-
gehn, keinesweges ausschreiber der Politie, aber schüler der aristoteli-
schen methode, die reichlicher, als in seiner kurzen skizze geschehen war,
das ächte material aus dem schachte gruben, den er gewiesen hatte;
nur wenig kennen wir dagegen die novellistisch oder tendenziös entstellte
tradition, die z. b. Ephoros gegeben haben mag.
Solons
gedichte.Aus den gedichten hat Aristoteles eigner angabe nach das programm
entnommen, auf grund dessen Solon zum ‘versöhner’ und zum archon
gewählt ward (cap. 5).2) ein anderes gedicht lieferte ihm, wie schon
dem Herodotos, die motive für Solons abreise (11); und die verzweifelte
stimmung, die ihn beherrschte, als er sehen muſste, daſs sein versöhnungs-
werk gescheitert war, belegen die reichlichen auszüge aus einer anzahl
von gedichten, die um dieselbe zeit verfaſst sein müssen (12). ich muſs
eingestehn, daſs diese lange reihe von citaten mich abgehalten hatte,
das Berliner bruchstück für unmittelbar aristotelisch zu halten. der
fehlschluſs kam daher, daſs die absicht des Aristoteles damals noch nicht
kenntlich war. er zieht die gedichte nicht aus um eine erzählung zu
ersetzen, sondern sie sind ihm beweisstücke, zunächst für den adel von
Solons gesinnung, dann aber auch, obwol das der leser sich selbst sagen
soll, dafür, daſs Solons werk in der herstellung einer dauerhaften ver-
fassung nicht bestanden hat; im gegenteil, kaum eine pause in den
parteikämpfen hat er herbeigeführt und ist selbst eben durch die un-
eigennützigkeit seiner amtsführung zu einem politisch toten manne ge-
worden. die heilung der wirtschaftlichen misstände und die herstellung
von frieden und ordnung ist erst das werk des Peisistratos. das wird
durch die unmittelbar auf jene gedichtstellen folgenden chroniknotizen
über die anarchie und Damasias ganz deutlich; den bericht über weitere
revolutionen und kriege ersetzt eine allgemeine schilderung der verwirrung
und parteiung, von der sich dann die tyrannis des Peisistratos glänzend
abhebt; diesem gegenüber gesteht Solon seine persönliche ohnmacht aus-
drücklich ein (13). schriftstellerisch ist das ganz vortrefflich aufgebaut.
Das aus den gedichten gewonnene bild von Solons macht und noch
mehr von seinem charakter wird ferner benutzt, um zwischen den ver-
schiedenen berichten über die ausnutzung der seisachthie durch eigen-
nützige freunde Solons zu entscheiden (6, 2—4), eine geschichte, deren
wert nur in dem lichte besteht, das sie auf seinen charakter fallen läſst.
Disposition
des
berichtes.Anfang und schluſs des abschnittes über Solon geht somit auf die
[41]Disposition des berichtes. die münzreform.
gedichte zurück; was dazwischen steht, ist so disponirt, daſs gleich ein-
gesetzt wird mit seiner ersten und wichtigsten tat, der seisachthie (6, 1),
der wirtschaftlichen reform, auf die die ganze vorgeschichte Athens voraus
wies. dann folgt der act seiner für die zukunft feierlich bekräftigten
gesetzgebung, die also im prinzipe trotz allen revolutionen weiter giltig
ist (7, 1. 2). dann sollen wir diese solonische verfassung kennen lernen,
erfahren aber nur die auf grund der vier steuerclassen abgestuften
bürgerlichen rechte (7, 3. 4), den wahlmodus der beamten, über die
einiges weitere, auch rückgreifend, beigebracht wird (8), endlich als die
wichtigsten demokratischen neuerungen die seisachthie, die wir doch
schon kannten, und zwei volks- und grundrechte, das τιμωϱεῖν ἐξεῖναι
τῷ βουλομένῳ ὑπὲϱ τοῦ ἀδικουμένου und die ἔφεσις εἰς δικαστήϱιον
(9), von denen wir erst hier etwas hören, und aus denen wir die einsetzung
der volksgerichte selbst erst erschlieſsen. es ist also das referat mit
dem beurteilenden raisonnement vermischt. endlich kommt die änderung
von münze maſs und gewicht nach, auch lediglich als volksfreundliche
maſsregel gewürdigt (10). das ist nicht sehr viel, und loben kann man die
anordnung schwerlich, da sich der stoff unter die disposition nicht fügt, so
daſs die ältere darstellung in der Politik, so kurz sie ist, manches schärfer
erkennen läſst. so schreibt ein gewiegter stilist nicht, wenn er frei seinen
eignen weg geht. es erklärt sich vielmehr daraus, daſs er mehrere vermut-
lich ziemlich ausführliche, in den grundzügen auf derselben primärfassung
beruhende erzählungen vor sich hat, die mehr in dem urteil als in den
sachen abweichen, und daneben andere nicht sowol erzählende als räson-
nirende behandlungen der solonischen gesetzgebung, auf die er schon
in der Politik hingewiesen hat. es läſst sich zur evidenz bringen, daſs
Aristoteles hier auch nicht das mindeste von tatsächlichem materiale aus
eigner forschung gegeben hat; eigen ist ihm nur auswahl und urteil,
und in beiden verdient er keineswegs nur lob. gewiſs ist er kein aus-
schreiber, aber er schreibt hier andere aus.
Beginnen wir mit cap. 10, der reform von maſs münze und gewicht.Die münz-
reform.
daſs es nachklappt und für die disposition nicht nur sehr gut fehlen
könnte, sondern besser fehlen würde, muſs ein aufmerksamer leser sofort
sehen. der versuch der athetese wird gewiſs noch gemacht werden,
ebenso wie man in zukunft, wie schon jetzt mehrfach, versuchen wird
mit list oder gewalt die wahrheit hinein zu bringen. denn was hier
steht, ist allerdings sehr verkehrt. die wahrheit ist bekanntlich, daſs
Solon die aiginetische währung Athens mit der chalkidischen vertauscht
hat, und daſs sich die chalkidische drachme zur aiginetischen wie 73:100
[42]I. 3. Solon.
verhält, also 100 neue drachmen soviel wie 73 alte wiegen. Solons
zweck war ein handelspolitischer; aber daſs Athen von dem dorischen
zu dem ionischen system übergieng, hatte allerdings auch seine groſse
politische bedeutung.
Aristoteles redet von einer αὔξησις von maſs, gewicht und münze,
und erläutert das dahin, daſs das maſs gröſser ward als das vorher ge-
brauchte des Pheidon, daſs die bisher nur 70 drachmen wiegende mine
jetzt volle 100 betrug, daſs die gewichte der münze entsprechend in
allen einzelnen stücken ausgebracht wurden, und zwar so, daſs 63 minen
auf das talent giengen. das besagen die worte für den der sie mit
sprachkunde und unbefangenheit liest. es fügt sich auch alles ganz gut
zu einander, aber leider, leider ist alles nicht bloſs falsch, sondern zeigt
eine kaum glaubliche unbekanntschaft mit der sache. was die währung
anlangt, hat der verfasser kindlich genug die drachme als einen absoluten
wert betrachtet, so daſs die mine gröſser ward, wenn mehr drachmen
auf sie giengen, und, wenn er überhaupt nachgedacht hat, so muſs er
wirklich der vorsolonischen zeit eine teilung der mine in siebzigstel oder
so ungefähr zugetraut haben. gewiſs möchte man ihn von dem irrtum frei
machen, aber schon das fatale wort αὔξησις, das ihn getäuscht hat,
verbietet das. er hat es offenbar für volksfreundlich gehalten, daſs man
nun für ‘drei ellen’ mehr zeug, für ‘drei scheffel’ mehr korn bekam und
mit ‘drei minen’ beinahe vier alte hatte. wir lesen bei Plutarch3), der
doch auch kein finanzmann war und den sachen beträchtlich ferner
stand, einen auch nicht klaren, aber immerhin verständlichen und seit
Boeckh verstandenen auszug aus Androtions chronik. auch nach Androtion
ist die maſsregel volksfreundlich, und auch er redet von der μέτϱων
ἐπαύξησις καὶ τοῦ νομίσματος τιμή. die letztere erklärt er richtig
dahin, daſs Solon die mine von 100 drachmen jetzt 73 alten drachmen
gleichwiegend machte. und wer eine auf minen, selbstverständlich alte
minen, lautende schuld in neuen bezahlte, hatte dadurch freilich einen
groſsen gewinn, denselben, den jetzt die bimetallisten für sich fordern,
die eine auf gold (das sie bekommen haben) lautende schuld in minder-
wertigem silber bezahlen (oder vielmehr verzinsen) möchten. der gewiegte
finanzmann Androtion (dessen anklage durch Demosthenes nur den
[43]Die münzreform.
advocaten belastet) verstand die sache: aber er hat die seisachthie aller-
dings misverstanden, die nach Aristoteles und allen andern zeugen, vor-
nehmlich aber nach ihren folgen, nur eine revolutionäre schuldentilgung
gewesen sein kann. aber auch Androtion redet von einer ἐπαύξησις
μέτϱων, ganz ebenso wie es Aristoteles tut; von den σταϑμά sagt es
nur dieser, aber die hat Plutarch überhaupt übergangen. nach Aristoteles
besteht die vermehrung des gewichtes darin, daſs das talent 63 minen
wiegen soll. es ist schlechthin unfaſsbar, wie man dafür 60 minen durch
conjectur setzen will: dann ist ja gar nichts geändert, geschweige ver-
mehrt, sagt vielmehr Aristoteles nur in dem falle etwas, wenn er an-
nahm, daſs vor Solon das talent weniger als 60 minen hatte. diese torheit
brauchen wir ihm nicht aufzubürden, obwol es schwerlich besser ist,
was man nicht wegdeuten kann, daſs die solonische reform des maſses
in einer vergröſserung gegenüber dem des Pheidon gelegen hätte, von
dem Aristoteles in den verfassungen von Argos und Sikyon gehandelt
hatte.4) nach allem was bisher bekannt war und nach der analogie von
längenmaſs hohlmaſs und gewicht sind vielmehr diese alle im Pelo-
ponnes gröſser als die solonischen gewesen, und Aristoteles verdient
hier wahrlich nicht den glauben, den Hultsch sogar ihm beimiſst, daſs
wir nun ein nirgend vorhandenes oder bezeugtes maſs dem Pheidon zu-
schreiben müſsten. hat doch die genau entsprechende, nur der vergleichung
mit Pheidon entbehrende angabe des Androtion keinen glauben gefunden.
wol aber haben wir den volksbeschluſs (das gesetz) über maſs und ge-
wicht CIA II 476, und in dem wird sowol für gewisse früchte ein
gröſseres hohlmaſs wie auch für den handel ein zuschlag zum gewicht, eine
ῥοπή, vorgeschrieben. dieser zuschlag konnte also sehr wol als etwas
volksfreundliches gelten: der Athener bekam wirklich mehr als eine metze
feigen oder ein pfund salz. es ist freilich peinlich, daſs das handels-
gewicht sehr viel mehr das münzgewicht übertrifft als das verhältnis
63:60 ergibt, und man wird nicht leicht daran glauben, daſs etwa eine
weitere erhöhung nach Aristoteles eingetreten wäre, da Boeckh vielmehr
erkannt hat, daſs das handelsgewicht das alte aiginetische blieb. anderer-
seits ist die autorität des Aristoteles hier so schwach und die der über-
lieferten zahlzeichen in der handschrift so gering5), daſs man sich besser
hütet, auf solcher grundlage hypothesen aufzubauen. an der identification
[44]I. 3. Solon.
der solonischen αὔξησις mit dem zuschlag zu maſs und gewicht in
jenem gesetze wird man deshalb nicht irre zu werden brauchen.6) das
bedingt dann freilich die annahme, daſs Aristoteles nicht verstanden hat,
was Androtion meinte, dem er folgte, ja daſs er die Pheidonischen maſse,
von denen er in andern Politien berichtete, in ihrem wahren verhältnis
zu den attischen nicht gekannt hat, sich auch von diesen sachen schlechter-
dings keine vorstellung zu machen versucht hat. das ist schlimm; aber
die unzweideutige stelle über die münze zwingt zu diesem zugeständnis,
und wir werden uns damit abfinden, daſs derselbe Aristoteles, den wir
uns fast als epigraphiker dachten, dem Epicharm die erfindung von ΘΧ,
dem Simonides die von ΗΞΨΩ zugeschrieben hat (fgm. 301 Rose
vgl. 638). er hat weder die gesetze Solons auf den κύϱβεις noch den
vertrag zwischen Lykurgos und Iphitos auf dem diskos selbst gelesen.
Selbstverständlich ist es für die beurteilung des Aristoteles bezeich-
nend, daſs er hier dem Androtion folgt, ohne ihn zu verstehn. das
kann jeder ausschreiber gerade so. aber von politik und geschichte ver-
stand er etwas; darum erzählt er dem Androtion nicht nach, daſs die
niederschlagung aller schulden nur eine conversion gewesen wäre,
würdigt vielmehr diese hypothese des finanzmanns keiner widerlegung.
das kann ein ausschreiber nicht, und es ist nicht minder bezeichnend.
Der act der
gesetz-
gebung.Das capitel über die münzreform ist ein nachtrag; für die herkunft
des hauptberichtes beweist es nichts. sehen wir also diesen an. die
erste und wichtigste tat Solons, die aufhebung der schuldknechtschaft
und die schuldentilgung wird nur als factum berichtet. daſs wuſste
Aristoteles ohne ein buch aufzuschlagen. aber stilistisch ist die ganze
frühere darstellung darauf angelegt, δανείζεσϑαι ἐπὶ τοῖς σώμασιν,
[45]Der act der gesetzgebung.
δουλεύειν ist das stichwort: dieser bericht hängt mit der übrigen dar-
stellung zusammen. es folgt die schon erwähnte epikrisis widerstreitender
berichte über einen nebenumstand, die bereicherung der falschen freunde
Solons. dann geht die erzählung weiter zu dem acte der gesetzgebung,
7, 1. hier weist schon die fülle der specifisch athenischen sachen und
worte auf attische officielle darstellung, die κύϱβεις, ihre aufstellung in
der στοὰ βασίλειος7), die schwurformel der archonten, ihre vereidigung
[46]I. 3. Solon.
“an dem steine”, der hier gar nicht näher bezeichnet wird. ein ὅϑεν
ἔτι καὶ νῦν οὕτως ὀμνύουσι gesteht in wahrheit zu, daſs der noch
gegenwärtig geltende gebrauch den solonischen erst hat erschlieſsen
lassen.8) aber den schluſs hat nicht erst der hier so kurz redende schrift-
steller gezogen. und es wird deutlich, daſs er wirklich eine ausführ-
lichere vorlage kürzt, wenn man sieht, daſs in dem darstellenden teile
die ceremonien und locale viel genauer geschildert werden.9) finden
7)
[47]Der act der gesetzgebung.
wir also parallelerzählungen, die an einzelnen zügen reicher sind, so
haben wir ein recht, auch wenn spuren der benutzung des Aristoteles
bei diesen schriftstellern vorhanden sind, nicht sowol erweiterungen seiner
darstellung als genauere auszüge derselben vorlage anzuerkennen. das
gilt von Plutarch10) und Pollux.11) endlich ist das wort καταφατίζω
9)
[48]I. 3. Solon.
ein kräftiger beweis, daſs er nicht mit eignem sprachgut wirtschaftet,
sondern ein archaisches wort ionischer herkunft herüber nimmt12), das
wol einer altattischen aufzeichnung, auch dem Hellanikos etwa, schon
nicht dem Kleidemos oder Androtion wol anstehn mochte: Aristoteles
trug es, gewiſs mit dem vollen bewuſstsein, auch stilistisch die archaische
ceremonie richtig zu malen, aus fremder rede in die seine hinein, ganz
wie er mit Herodotos verfährt.
Die
verfassung.Die schilderung der verfassung beginnt mit den vier classen13), nach
11)
[49]Die verfassung.
denen sich die politischen rechte abstufen. das passive wahlrecht für
die zu erlosenden beamten kommt den drei oberen zu, den theten nur
die teilnahme an der volksversammlung und an den gerichten. darin
liegt ihr actives wahlrecht für die wahlbeamten, das in der volksversamm-
lung geübt wird, und die controlle der beamten, die von einem gerichte
geprüft, in jeder prytanie vom volke neubestätigt und nach ablauf des
amtes, falls eine beschwerde erhoben ist, vor gericht gestellt werden.14)
diese wichtigen sätze führt Aristoteles nicht aus, weil sie nach dem
geltenden allbekannten rechte implicite in der teilnahme der theten an
jenen beiden körperschaften einbegriffen sind. in bestem zusammen-
hange mit der behandlung der vier classen wird dann die art behandelt,
wie die beamten erlost werden, nämlich auf grund einer von den phylen
durch wahl festgestellten candidatenliste.
Das ist so weit ganz schön und gut, aber was soll die breite aus-
führung hier, da wir doch oben gehört haben, und Aristoteles auch hier
zugesteht, daſs die classen schon zu Drakons zeiten bestanden? auch die an-
wendung des loses ist drakontisch, und man wundert sich etwas, daſs Aristo-
teles hier erst nachträgt, wie die beamten in der ältesten zeit bestellt worden
sind15), während er dies oben nicht angemerkt hat, hier dagegen der
drakontischen ordnung vergiſst. unsere verwunderung wächst, wenn wir
weiter vernehmen, daſs es vier phylen und trittyen und naukrarien gab,
denn das hatte es alles von anbeginn gegeben, und abgesehen von den
naukrarien können wir noch jetzt nachweisen, daſs alles auch bei Aristo-
teles schon vorgekommen war.16) vom rate gibt er nichts an als die zahl:
13)
v. Wilamowitz, Aristoteles. 4
[50]I. 3. Solon.
der rat aber war ja schon drakontisch. beim Areopage kann er sogar
nichts weiter tun, als daſs er seine eignen worte wiederholt, mit denen
er dessen ursprüngliche amtsgewalt bezeichnet hatte (8, 4 = 3, 6), so
daſs er ein einzelnes gesetz, das denselben angeht, besonders als solonisch
hervorheben muſs.
Ich mag nicht viele worte machen: so hat Aristoteles nur schreiben
können, weil er eine darstellung zu grunde legte, die von Drakon nichts
wuſste (so wenig wie die plutarchische biographie Solons) und die alt-
attische verfassung überhaupt erst unter Solon darstellte. damit fallen
die anstöſse weg. Aristoteles hat dieses material zum teil für seine
schilderung der früheren zeit verwandt; die spuren sind in wieder-
holungen stehn geblieben, und er hat sich durch eine einzige rück-
verweisung damit abzufinden geglaubt, daſs Drakon sehr vieles hier als
solonisch gegebene schon eingeführt hatte. die sache dünkt mich evident;
aber es fehlen auch nicht die beweise dafür, daſs er hier einer ältern
vorlage genau in so engem anschlusse folgt wie in den ersten paragraphen
des siebenten capitels. was er über die bedeutung der classennamen
angibt, ist keine authentische überlieferung, sondern beruht auf schlüssen.
eine abweichende meinung und ihre begründung, einschlieſslich eines
alten epigramms, führt er selbst auf andere zurück. wir aber verfügen
über einen parallelbericht bei Pollux17), einen zweiten in Plutarchs
[51]Die verfassung.
Solon 18, so daſs sich ganz dasselbe verhältnis herausstellt wie oben in
betreff des archonteneides. ein sprachliches indicium, wie es dort das wort
καταφατίζω war, erscheint hier in dem berichte über den Areopag, πόλις
in der bedeutung ‘burg’ (8, 4); dies galt zu Thukydides zeit, war aber be-
kanntlich lange vor Aristoteles selbst aus dem kanzleistile verschwunden.18 a)
hier aber steht es keinesweges in der wiedergabe eines alten gesetzes,
sondern in der eignen darstellung, die somit unweigerlich auf eine nieder-
schrift zurückgeht, die mindestens funfzig jahre älter war. was in dieser
schrift stand, war eben das was Aristoteles auch gibt, eine darstellung
der verfassung.
Die competenz der naukraren wird sehr vage bestimmt, “für ein-
künfte und ausgaben”, εἰσφοϱαὶ καὶ δαπάναι. dafür werden ein par
abgerissene citate aus Solons antiquirten gesetzen angeführt “τοὺς ναυ-
κϱάϱους εἰσπϱάττειν” für die einkünfte, “ἀναλίσκειν (wenn dies wort
schon zu dem citate gehört) ἐκ τοῦ ναυκϱαϱικοῦ ἀϱγυϱίου”, für die aus-
gaben. das scheint zuerst ein ergebnis aristotelischer urkundenforschung.
aber man vergleiche Photius ναυκϱακία· ὁποῖόν τι ἡ συμμοϱία καὶ
ὁ δῆμος· ναύκϱαϱος δὲ ὁποῖόν τι ὁ δήμαϱχος, Σόλωνος οὕτως ὀνο-
μάσαντος, ὡς καὶ Ἀϱιστοτέλης φησί. καὶ ἐν τοῖς νόμοις δὲ “ἄν
τις ναυκϱαϱίας ἀμφισβητῇ” καὶ “τοὺς ναυκϱάϱους τοὺς κατὰ τὴν
ναυκϱαϱίαν.” dann folgt die mit Ar. 21, 5 stimmende ersetzung der
naukrarien durch die demen in der Kleisthenischen verfassung und zwei
auszüge, “ἐκ τῆς Ἀϱιστοτέλους πολιτείας ὃν τϱόπον διέταξε τὴν
πόλιν ὁ Σόλων”, das ist diese stelle (8, 3), und ὁ Κλείδημος ἐν τῇ
τϱίτῃ, der sie mit den symmorien vergleicht. sodann wird in den scholien
zu den Vögeln 1541 zur berichtigung einer ansicht des Byzantiers Aristo-
phanes, der in den kolakreten nur die verwalter des richtersolds gesehn
17)
4*
[52]I. 3. Solon.
hatte, unter anderem ausgeführt, daſs sie ausgaben für heilige zwecke
leisteten, und zum belege aus Androtion citirt τοῖς δὲ ἰοῦσι Πυϑὼ͂δε
ϑεωϱοῖς τοὺς κωλακϱέτας διδόναι ἐκ τῶν ναυκϱαϱικῶν (ναυκληϱικῶν
codd.) ἐφόδιον ἀϱγύϱια καὶ εἰς ἄλλο ὅ τι ἂν δέῃ ἀναλῶσαι. das ist
offenbar keine rede des Androtion, sondern ein gesetzesfragment, das
Androtion als beleg angeführt hatte. die worte selbst sind verdorben;
wie man sie aber auch herstellt, stehen sie den von Aristoteles angeführten
sehr nahe, wenn sie nicht gar identisch sind.18) wie dem auch sei: daſs
Kleidemos und Androtion und Aristoteles alle drei die solonischen ge-
setze durchsuchen und sätzchen excerpiren, die das wort ναύκϱαϱος oder
ναυκϱαϱικός enthielten, ist äuſserst wenig wahrscheinlich. ungleich
näher liegt es, daſs sich die atthidographen der gesetze bedient haben,
um die competenzen verschollener behörden festzustellen, wie der naukraren
und der kolakreten19), und daſs Aristoteles hier ebenso wie sonst auch
die beweise mit den behauptungen von ihnen geborgt hat.
Geradezu kümmerlich ist, was Aristoteles vom rate der 400 sagt. das
ist doch wirklich ein grundpfeiler der demokratie, und wenn der rat
auch zunächst vielleicht sehr viel weniger zu sagen gehabt hat, insofern
die controlle der beamten bei den Areopagiten blieb, und auch die ge-
setze nur den vermerk ἔδοξεν τῷ δήμῳ20) führten, so hat er doch schon
508 gegen Isagoras die demokratie behauptet. bei Plutarch 19 steht
denn auch, während die competenz des Areopages ganz ähnlich wie bei
Aristoteles bezeichnet wird, wenigstens das gesetz μηδὲν ἀπϱοβού-
λευτον εἰς τὴν ἐκκλησίαν εἰσφέϱεσϑαι als solonisch21). das ist nicht
viel, und doch mag man daran nicht leicht zweifeln. aber Aristoteles hat
selbst das verschmäht. seine intention ist auch verständlich. was der
rat jetzt ist und zumal was er früher war, steht später ausführlich bei
ihm, und im allgemeinen ist seinen lesern die bedeutung des rates ge-
läufig. da wiegt die nennung des namens schwerer als eine notwendig un-
vollkommene und nicht anders als aus rückschlüssen gewonnene definition
der amtsgewalt. aber es contrastirt doch stark mit dieser kürze, daſs
unmittelbar darauf eine einzelbestimmung, das gericht des Areopages
über perduellion, herausgehoben wird22). ihm entspricht die einlage
[54]I. 3. Solon.
einer gesetzlichen bestimmung über dieselbe materie, die ganz unorganisch
in der erzählung von Peisistratos steht (16, 10). der über die mörder
Kylons richtende ausnahmegerichtshof bildet das erste glied der ent-
wickelung dieses rechtes, das also den Aristoteles interessirt hat, so daſs
er die ihm irgend woher bekannten gesetze hier und da eingefügt hat,
nicht ohne daſs wir die fugen sähen. seltsam ist nur, daſs die letzte
etappe fehlt, das maſslos strenge geltende recht, nach dem der versuch
des umsturzes der verfassung oder auch die mithülfe dazu nicht bloſs
mit dem tode geahndet wird, sondern den schuldigen ohne weiteres
vogelfrei macht. sie fehlt wol in wahrheit nicht, denn nach der ana-
logie der fluchformeln der volksversammlung (Aristoph. Thesm. 338 ff.),
dem ratseide von Erythrai (CIA I 9) und dem psephisma des Demophantos
ist nicht wol zu bezweifeln, daſs der eid der attischen ratsherrn die ver-
fluchung des perduellis enthielt, und dessen einführung im jahre 501
berichtet Aristoteles (22, 2), ohne den inhalt, weil der eid noch alljährlich
geschworen wird, anzugeben.23) vollends nur als eine singularität, die den
peripatetischen philosophen interessirt hat, für den historiker wenig be-
deutet, kann man das gesetz betrachten, das dem in einer revolution
neutralen die bürgerlichen ehrenrechte entzieht (8, 5). das hat auch
Cicero (ad Att. X 1) gekannt, natürlich aus philosophischer lectüre, und
es eröffnet bei Plutarch (Sol. 20) die reihe der seltsamen solonischen
gesetze, über deren wert oder unwert lange disputirt wird. das hat
denn auch Aristoteles aus solchen debatten hier eingelegt. sonst gehört
[55]Die verfassung. die vorsolonische zeit.
ihm persönlich nichts weiter als der allerdings meisterhafte sarkasmus
mit dem er anmerkt, daſs noch jetzt niemand sich als thete bei der
meldung zu einem amte bekennt, weil die classen gesetzlich nie abge-
schafft sind, und daſs noch jetzt, wenn auch praktisch ganz unwirksam,
der solonische höchste census von den schatzmeistern gefordert wird.
nur der sarkasmus gehört ihm, die stilistische form, schwerlich die
beobachtung der tatsachen, wenigstens der zweiten. denn hier steht sie
in einem der beweise, die für die solonischen institutionen beigebracht
werden, ist also nach der analogie der übrigen zu beurteilen, und
wenn er in dem darstellenden teile darauf zurückkommt (47,1), so ist
das verdächtig. da es die einzige stelle dort ist, die zwischen gesetz und
praxis einen widerspruch notirt, so liegt am nächsten, daſs er dort ver-
wertet, was er gelegentlich aus einer darstellung der solonischen ver-
fassung gelernt hat, die hier wie sonst häufig durch rückschlüsse ein bild
der alten institutionen gewann. daſs dies der weg war, den man schon zwei
menschenalter vor Aristoteles gehn muſste, ist wichtig zu wissen: es gab
also weder eine geschichtliche aufzeichnung verlässlicher art noch gerade
diese solonischen gesetze mehr, so viel ἄξονες und κύϱβεις auch erhalten
waren, während doch blutrecht und privatrecht und viele einzelne
satzungen aufgezeichnet waren. wenn man bedenkt, daſs die gemeinde-
ordnung gerade alle die verfassungsgesetze durchgehends umgestaltet hatte,
wird man sich darüber nicht verwundern, so sehr man es auch be-
dauern muſs.
Ich meine, es ist klar geworden, daſs Aristoteles es sich mit der
behandlung Solons recht leicht gemacht hat. die person des gesetz-
gebers, wie sie in den gedichten leibhaft ihm entgegentrat, interessirte
ihn, und sie stellte er mittelst dieser unverfälschten zeugnisse in ein
helles und reines licht. aber das antiquarische detail einer verschollenen
gesetzgebung war dem philosophen sehr wenig interessant. er hat weder
sich selbst noch seinen lesern ein bild jener verfassung zu entwerfen ver-
sucht, sondern sich begnügt eine sehr kurze und ungleichförmig gear-
beitete skizze fast ausschliesslich auf grund der darstellungen zu liefern,
die er bei den atthidographen fand. dagegen hat er sein auge scharf
auf das ziel gerichtet, die ausgebildete demokratie, die er nachher dar-
stellen will: die hat Solon begründet, schon allein durch aufhebung der
schuldknechtschaft; die weiteren demokratischen grundrechte erörtert
cap. 9. von denen sogleich.
Jetzt sei vorab noch der eingang der schrift erörtert, über den,Die vorsolo-
nische zeit.
abgesehen von der gesetzgebung Drakons (4, 2—5), aber einschlieſslich
[56]I. 3. Solon.
das nur in auszügen und citaten erhaltene, ganz ebenso zu urteilen ist
wie über die geschichte Solons: das tatsächliche stammt aus älteren
bearbeitungen, und wenn eine zusammenfassende schilderung der vor-
drakontischen verfassung auch wohl erst von Aristoteles gegeben ist
(worauf die oben gerügten wiederholungen deuten), so hat doch alles
einzelne ihm bereits dank fremder forschung und fremden schlüssen vor-
gelegen. auf eine mehrheit von gewährsmännern verweist er selbst 2, 3
gelegentlich der streitfrage über die zeit der einsetzung des archons.
und die andern σημεῖα, die aus alten religiösen gebräuchen, aus den
competenzen der einzelnen behörden und dgl. gewonnen werden, sind
nicht anders zu beurteilen als die aus dem eide der archonten oder dem
anathem des Anthemion gewonnenen, die er selbst auf fremde zeugen
zurückführt, oder die gesetzesfragmente, die wir den schriften des Androtion
oder Kleidemos zu gute geschrieben haben. wie Aristoteles zu diesen
antiquarischen fragen stand, zeigt sein geringschätziges τοῦτο μὲν οὖν
ὁποτέϱως ποτ̕ ἔχει μικϱὸν ἂν παϱαλλάττοι τοῖς χϱόνοις24) (2, 3),
mit dem er sich eine entscheidung erspart, ohne doch die zeit, in die
beide könige fallen, und auf die etwas ankommt, zu bezeichnen. es würde
demnach auch sehr verkehrt sein, wenn man die parallelberichte, die sonst
wo erhalten sind, als verdorbene auszüge aus diesem capitel beiseite werfen
wollte. ein solcher liegt in dem sechsten Bekkerschen lexikon 44925) über
die amtslocale der archonten vor, übereinstimmend in dem meisten, aber
der polemarch sitzt ἐν Λυκείῳ statt am Epilykeion und der archon bei
den eponymen statt im prytaneion. daſs Aristoteles richtigeres berichtet,
ist mir nicht zweifelhaft; aber wenn er die etymologie von Ἐπιλύκειον
ausführlich gibt26), so verstehen wir das erst dann recht, wenn wir es
als berichtigung der falschen ansicht betrachten, die wir selbst alle bis
vor kurzem geteilt haben, die jetzt noch zu verbreiten nur durch flüchtig-
keit möglich ist. die angabe über den archon ist zwar falsch27), da es
ja statuen der eponymen erst seit 508 geben konnte und an dieser stelle
[57]Die vorsolonische zeit. die verfassung Drakons.
in alter zeit schwerlich ein amtslocal war. aber gerade diese angabe kann
durch eine corruptel der Aristotelesstelle am wenigsten erklärt werden.
Daſs die erzählungen von der mythischen zeit Athens, Ion und seine
söhne, Pandion und seine söhne, der demokratenkönig Theseus, der auf
Skyros stirbt, was etwa von der alten gliederung des adels und aus der
königszeit erzählt war und dgl. alles aus der Atthis stammt, wird man
ohne weiteres annehmen: verwachsen ist ja auch alles mit der chronik,
in der wir die verschollenen könige Akastos und Medon, und die ar-
chonten des siebenten jahrhunderts Megakles und Aristaichmos feste plätze
einnehmen sehen. und wenn es manchen befremden wird, daſs Aristo-
teles in Solon zwar den ersten Athener mit freuden erkannt hat, von dem
sich ein menschliches bild gewinnen lieſs, aber die sicher für ihn lösbare
aufgabe verschmäht, sich von seiner gesetzgebung ein bild zu verschaffen,
so werden wir es alle seiner art ganz entsprechend finden, daſs er die
alten widerspruchsvollen traditionen weder ganz wegwarf noch im ein-
zelnen prüfte, sondern τὰ μάλιστα εἰκότα über sie wiedergab. worauf
es ihm ankam, das war nur eines, und das hebt er scharf und deutlich
hervor: der wirtschaftliche notstand, der in den frohnden und der schuld-
knechtschaft des niederen volkes lag.
Ganz besonders einleuchtend wird das quellenverhältnis, weil einDie
verfassung
Drakons.
fremdes stück dazwischen steht, die gesetzgebung Drakons. das ist ein
stück von urkundlichem charakter und wird als solches eingefügt, zum
teil in indirecter rede; wir haben gesehen, nicht ohne misstände inhalt-
licher art zu erzeugen (s. 49). es fällt auch chronologisch aus dem
zusammenhange heraus, trotz dem archon der chronik, unter dem natür-
lich das factum der gesetzgebung stand. auf das gericht über die mörder
Kylons, das so spät erst gehalten ward, daſs die eigentlichen täter schon
im grabe lagen, folgt eine lange zeit des zwistes zwischen adel und
volk (2,1). der schriftsteller setzt sehr passend an diese stelle eine
schilderung der ältesten verfassung, denn sie bedingte die gesellschafts-
ordnung die das volk nicht mehr ertragen konnte, die aber erst Solon
gestürzt hat. man erwartet, daſs nun der retter auftritt. aber nein,
“danach gab nach verlauf von kurzer zeit Drakon seine gesetze” heiſst
es 4, 1. μετὰ ταῦτα χϱόνου τινὸς οὐ πολλοῦ διελϑόντος: wonach denn?
nach dem gericht über die mörder oder nach dem ‘langen zwiste’?.
gemeint kann nur das erste sein, weil wir wenigstens wissen, daſs Alkmeon,
der sohn des zur zeit jenes gerichtes schon verstorbenen Megakles um
590 selbst noch rüstig war, aber einen heiratsfähigen sohn hatte. aber
aus den worten wie sie hier stehn, kann man eben so gut das gegen-
[58]I. 3. Solon.
teil folgern. und als nun Drakon seine verfassung gegeben hat, was
folgt? “die schuldknechtschaft und die latifundien blieben wie sie waren,
das volk erhob sich wider den adel und beide parteien standen sich
lange in bitterer fehde gegenüber, bis Solon kam (4. ende, 5 anf.).”
also wir sind wo wir waren; Drakons wirken geht spurlos vorüber,
wieder folgt eine lange zeit der fehde. wer der wissenschaftlichen be-
wegung eine weile zugesehen hat, der kann sich selbst schon sagen,
daſs der versuch nicht ausbleibt, an solcher stelle den bösen mann zu
rufen, dessen interpolatorentücke die wiederholung verschuldet hat. ein
solcher appell an eine mythische person ist der ausdruck einer em-
pfindung, die an sich sehr richtig ist. auch hier ist allerdings die zweite
“lange fehde” eine dublette der ersten, und es könnte nicht nur mit
leiser stilistischer änderung 5, 2 auf 3 folgen, es geht wirklich der zu-
sammenhang von 3 zu 5 weiter, und Aristoteles hat ihn nur durch eine
auch für uns kenntliche einlage unterbrochen. aber ér hat das alles
getan, hat ja auch mit ᾥσπεϱ εἴϱηται den hauptpunkt, die schuldknecht-
schaft, von neuem hervorgehoben. es ist sehr wertvoll, aber an sich
gar nicht auffällig, daſs Aristoteles irgendwoher einen bericht über Dra-
kons verfassung aufgriff, der freilich nicht nur uns bis zur auffindung
der Politie ganz unbekannt war, der auch in der chronik, seiner sonstigen
quelle, fehlte, sondern den er selbst noch nicht gekannt hatte, als er
seine vorträge über die Politik hielt und das schluſscapitel ihres zweiten
buches schrieb. diesen bericht legte er in die chronik ein; hat das
allerdings in einer weise getan, die uns ermöglicht, die zusammenfügung
zu erkennen. in der chronik stand zum archon Aristaichmos etwa
Δϱάκων τοὺς ϑεσμοὺς ἔϑηκεν, und Aristaichmos folgte bald auf Megakles,
unter dem das gericht über die Alkmeoniden gehalten war, und den
Aristoteles selbst auch genannt hat. im übrigen waren viele jahre leer,
aber unter Solon oder vor ihm war eine schilderung der στάσις und
ihrer ursachen gegeben, die zu der seisachthie führten. und gelegentlich
der nomothesie Solons wird auch die abschaffung der gesetze Drakons
mit ausnahme des blutrechts angegeben gewesen sein, wie bei Aristo-
teles 7, 1 und Plutarch 17. eine solche erzählung als grundlage der
aristotelischen läſst alles ganz natürlich erscheinen. und wir besitzen
noch eine solche. bei Plutarch folgt auf die erzählung von dem adels-
gericht und von Epimenides, die ganz zu Aristoteles stimmt, eine schil-
derung der socialen not mit dem schlagworte der ἑκτημόϱιοι: unmittelbar
darauf erscheint Solon und die seisachthie28). von Drakon kein wort.
[59]Die verfassung Drakons. die kritik der verfassung.
das ist der context, den Aristoleles durch die einfügung der drakontischen
verfassung gestört hat. natürlich hat er mit groſser freude dieses
seltene stück, das er eben erst selbst kennen gelernt hatte, mitgeteilt,
und wir werden ihm dafür danken, ganz unbeschadet, ob es bei uns
an sich mehr glück macht als im altertum, wo es niemand beachtet
hat. hier handelt es sich zunächst nur um die auflösung seines schrift-
stellerischen gewebes.
Kehren wir nun zu der beurteilung Solons zurück, von der nochDie kritik
der ver-
fassung.
das eigentlich abschlieſsende neunte capitel unbesprochen ist. es wägt
die hauptverdienste Solons um die demokratie ab, deren Aristoteles drei
zählt. das erste und für sein urteil wichtigste ist die aufhebung der
schuldknechtschaft. das zweite ist der grundsatz, daſs jeder bürger be-
rechtigt sein soll, jedes verbrechen zu verfolgen, auch wenn es ihn per-
sönlich gar nichts angeht. das dritte ist die appellation von jedem magistra-
tischen urteilsspruch an das volksgericht. so wie Aristoteles seinen stoff
disponirt hat, ist dem leser nur das erste bekannt, über die beiden andern
punkte hört er jetzt das erste wort, nicht als etwas nunmehr neu mit-
geteiltes, sondern gleich mit einer kritik, als ob die facta längst be-
kannt wären. in der tat waren sie das für das publicum, an das der
schriftsteller denkt: die athenische demokratie ohne die volksgerichte und
ohne die herrlichkeit der in jedem einzelnen bürger mitverletzten majestät
des volkes, für die jeder einstehn darf und soll, ist gar nicht zu denken.
so erlaubt sich Aristoteles die existenz dieser institutionen vorauszusetzen,
mit einer schriftstellerischen kürze, von der namentlich sein darstellender
teil in jedem capitel belege liefern wird, und sofort zur beurteilung
zu schreiten.
Aber er ist nicht der erste, der diese urteile formulirt. denn in
betreff der volksgerichte stellt er zwei ansichten einander gegenüber,
zwischen denen er entscheidet, die darin zwar übereinstimmen, daſs die
gerichte die säule der demokratie sind, aber in ihrem wertureile gänz-
lich auseinander gehn. und überhaupt hat doch erst ein tiefgehendes
politisches raisonnement diese fundamentalsätze der demokratie aus den
institutionen Athens, wie sie in der ausgebildeten demokratie bestanden,
entwickeln können: in den gesetzen standen sie wahrhaftig nicht. die
28)
[60]I. 3. Solon.
hatten weder ein πϱοοίμιον νόμων, wie die des Platon und die danach ver-
fertigten des falschen Zaleukos, noch ‘grundrechte’ oder ‘menschenrechte’.
es sind gescheidte leute gewesen, die aus der lebendigen praxis das ius inter-
cedendi und das ius provocandi entwickelt haben; römisches staatsrecht
wird, gott sei dank, etwas besser begriffen als attisches. so mag die
ἐσχάτη δημοκϱατία Athens, von dem philosophischen volke bis in ihre
äusserste logische consequenz ausgedacht, die wurzel ihres wesens darin
gefunden haben, daſs jeder Athener sich als tribunus plebi fühlen soll. wo
er ein unrecht sieht, soll er intercediren, wo ihm ein magistratischer
befehl zu nahe tritt, provociren: aber der populus an den sich die pro-
vocation richtet, der auch im falle der intercession die entscheidung trifft,
ist das volksgericht. der δῆμος, der durch Solon richter geworden ist,
ist durch Solon herr geworden: dies epigramm hat Aristoteles selbst also
zugespitzt.
Die ἔφεσις εἰς δικαστήϱιον, die gesetzliche bindung des magistrates,
strafen von einer bestimmten höhe ab nur auf grund des spruches von
geschwornen, die er berief, auszusprechen, war allerdings leicht und sicher
aus den gesetzen zu abstrahiren, die sie in jedem einzelfalle bei der
abgrenzung der competenzen jedes beamten angeben muſsten.29) aber
mit dem τιμωϱεῖν τὸν βουλόμενον ὑπὲϱ τῶν ἀδικουμένων ist es
ein eigen ding. das blutrecht kennt nur den zur klage berechtigten
und verpflichteten (πϱοσήκων). für die privatprocesse liegt es in ihrem
namen (δίκαι ἴδιαι), daſs nur der geschädigte klagen kann. bei einer
reihe bestimmter vergehen, schlechter behandlung von eltern und mün-
deln (κάκωσις γονέων ὀϱφανῶν ἐπικλήϱων), schreibt das gesetz aus-
drücklich vor, daſs jeder klagen darf, und die ausnahme schlieſst immer ein,
daſs das gegenteil regel ist. aber es kann allerdings jeder Athener unmit-
telbar intercediren, wenn ein bürger in die sclaverei geschleppt wird (ἀφαί-
ϱεσις εἰς ἐλευϑεϱίαν), andererseits einen, der sich fälschlich das bürger-
[61]Die kritik der verfassung.
recht anmaſst, verklagen. er kann sich durch ein bittgesuch bei dem volke,
das dafür eine bestimmte versammlung angesetzt hat, die freiheit erwirken,
vor dem volke alles was er gerade will vorzubringen. er kann durch die ver-
schiedenen formen der denuntiation (εἰσαγγελία πϱοβολή φάσις ἔνδειξις,
εἰσαγγελία)
vergehen, die ein öffentliches interesse verletzen, insbesondere
amtsvergehen, vor das volk oder den rat bringen. er kann auch den ein-
zelnen bürger, der sich persönliche übergriffe zu schulden kommen läſst,
wie sie die Athener schwerlich ohne grund den machthabern in monarchisch
und oligarchisch regirten staaten vorrücken, insbesondere ehrenkränkungen
anderer bürger, vor gericht ziehen 30). das ius intercedendi ist keine
phrase, aber es ist nicht nur nicht gesetzlich formulirt, es ist auch als
ein allgemeines grundrecht nur durch eine starke übertreibung aus dem
geltenden rechte zu abstrahiren. und mit Solon läſst es sich vollends
nur so zusammenbringen, daſs er als der urheber der attischen institutionen
anerkannt wird, die es implicite enthalten. der nachweis würde nicht leicht
sein, jedenfalls aber würde Aristoteles die sache nicht ohne jedes wort
der erläuterung oder begründung hingestellt haben, wenn er diese abstrac-
tion erst selbst vorgenommen hätte. das hat er nicht. denn bei Plutarch 18
schlieſst sich an die darstellung über die vier classen, die mit der aristo-
telischen parallel geht und den theten, genau wie Aristoteles, lediglich
das recht der teilnahme an volksversammlung und gericht zuweist, sofort
eine ganz ähnliche beurteilung des gerichtes 31) und des rechtes, daſs
jeder für jeden eintreten dürfe, dieses mit breiterer begründung aus der
volksfreundlichen tendenz Solons, die sich zu einem apophthegma ver-
dichtet hat. dagegen fehlt die aufhebung der schuldknechtschaft bei ihm:
deren rechte würdigung ist eben ein besonderes verdienst des Aristoteles;
ebenso die schöne und gerechte abwehr der böswilligen insinuationen,
[62]I. 3. Solon.
die man aus der sprache der gesetze herausgesponnen hatte: mit anderen
worten, was Aristoteles aus sich gibt fehlt bei Plutarch; was er mit
Aristoteles gemeinsam hat, überkam also dieser bereits selbst formulirt.
er redigirt mit eignem überlegenen urteil, aber er redigirt fremde urteile.
Eine oligar-
chische
quelle.Das verhältnis ist also in dem neunten capitel kein anderes als in
den vorigen, und auch die herkunft dieser urteile wird keine andere
sein. aber hier werden die leute bezeichnet, deren meinungen Aristoteles
wiedergibt. es sind δημοτικοί, die die verdienste Solons als demokrat
preisen, und βλασφημεῖν βουλόμενοι, deren insinuation schön zurück-
gewiesen wird: sie wittern absicht in der unvollkommenen sprache der ge-
setze, die allerdings viele processe hervorruft. wer diese letzteren waren,
wird deutlich durch die anecdote in cap. 6 von Solons falschen freunden,
die von der kommenden seisachtheia vorher unterrichtet noch rasch grund-
besitz erwarben, sicher, daſs sie die hypothekenschulden nicht würden be-
zahlen müssen. auch diese geschichte steht bei Plutarch (15); aber da werden
statt des allgemeinen ausdrucks οἱ παλαιόπλουτοι, mit dem sich Aristo-
teles begnügt, οἱ πεϱὶ Κόνωνα καὶ Κλεινίαν καὶ Ἱππόνικον genannt.
in den namen kommt der pferdefuſs persönlicher verläumdung zum
vorschein. zur zeit des dekeleischen krieges waren die nachkommen dieser
falschen demokraten Konon, der seit 407 als entschiedener demokrat in
ehren steht, Alkibiades und sein schwiegervater Kallias. in der gene-
ration vorher ist das geschlecht Konons, in der generation nachher sind
die der Eupatriden und der Keryken ohne politische bedeutung. über
das geschlecht jener anaphlystischen familie ist wol nichts bekannt 32),
aber die Eupatriden und Keryken sind vom ächtesten adel, und es kann
nur böswilligkeit sein, die sie als παλαιόπλουτοι bezeichnet, ihren
reichtum aber auf einen betrug solonischer zeit zurückführt. aber wol
waren für die attischen oligarchen 404 und vielleicht schon früher
keine gefährlicheren gegner vorhanden als Alkibiades und Konon; auch
[63]Eine oligarchische quelle.
Kallias war nicht so harmlos, wie man nach den aristophanischen stellen
wähnen mag: der proceſs des Andokides und die unfreundliche rück-
sicht, die ihm Xenophon zollt, beweist es. die hauptgefahr lag freilich
wol in seiner familienverbindung mit Alkibiades. so führt diese ver-
läumdung dazu, ihre entstehung in den kreisen der attischen oligarchie
zu suchen, unter den dreiſsig. 33) die demokratischen verteidiger, die den
betrug zugeben, aber den Solon persönlich entschuldigen, sind notwendig
später als die verläumder aufgetreten und waren leute der bekannten
gutartigen aber kritiklosen sorte, die statt das factum zu bestreiten oder
beweis dafür zu fordern, ihm durch eine schwächliche ausrede die spitze
abzubiegen versuchen. 34) auf die dreiſsig weist mit sicherheit die in-
sinuation absichtlicher unklarheit in den gesetzen, um dem processiren
vorschub zu leisten. denn Aristoteles selbst berichtet, daſs die dreiſsig
um die macht der volksgerichte zu brechen, die clauseln der solonischen
gesetze beseitigt hätten, und benutzt dafür dasselbe beispiel aus dem
erbrecht (35, 2 35): wenn eben dieses bei Plutarch (21) unter den be-
[64]I. 3. Solon.
sonders vorzüglichen bestimmungen Solons figurirt und bei den rednern
des vierten jahrhunderts bald so bald so besprochen wird, so konnte
man bisher nicht ahnen, daſs die demokratie aus haſs gegen die
30 eine radicale aber der sachlage entsprechende maſsregel redressirt
hatte: jetzt wird man nicht verkennen, daſs die polemik der tyrannen
gegen den stifter der demokratie in allen diesen äuſserungen nachzuckt,
und es steht auſser zweifel, daſs die ansicht, welche die dreiſsig in der
gesetzgebung tatsächlich befolgten, von ihnen vorher oder gleichzeitig
auch in politischen schriften verfochten worden ist. diese oligarchischen
tendenzschriften kommen bei Aristoteles zu worte; wir erkennen sie an
der tendenz, und diese kann auch dann noch genugsam gewürdigt werden,
wenn die litterarische persönlichkeit ihres verfassers unkenntlich geworden
sein sollte. Aristoteles hat natürlich sehr wol gewuſst, welchen leuten und
schriften er mit meisterhafter kürze den stempel aufdrückte, der auf die
preſserzeugnisse extremer parteien zu allen zeiten zutrifft. wir werden
sehen, daſs er diese richtige schätzung nicht immer festgehalten hat.
Politik B 12.Hier wird es unvermeidlich, die kritik Solons heranzuziehen, die
Aristoteles in seinen lehrvorträgen früher gegeben hatte, und da das
schluſscapitel des zweiten buches der Politik auf der folter tendenziöser
interpretation das widersprechendste hat aussagen müssen, auch schon
zu wiederholten malen zum tode verurteilt ist, so wird zwar nicht eine
auseinandersetzung mit diesen kritikern (die mögen jetzt die Politie athe-
tiren), aber wol eine erklärung nötig.
Aristoteles hat in dem cyclus von vorträgen, der in dem entwurfe
eines idealstaates gipfeln sollte, die kritik der bestehenden verfassungen
geben wollen, die im rufe der εὐνομία standen, und ebenso die kritik
der berühmtesten theoretischen verfassungsentwürfe. das stellt er in
dem eingange des zweiten buches in aussicht, und dem entspricht es,
daſs Platons beide hauptwerke nebst einigen geringeren idealverfassungen
und danach Sparta Kreta und Karthago besprochen werden. es folgt
ein sehr geistreicher übergang. die verfassungen der drei staaten werden
bezeichnet als “mit recht als wolgeordnet berühmt”. damit sind wir
angewiesen zwar nicht eine behandlung solcher verfassungen zu er-
warten, die denselben ruhm mit unrecht genieſsen, aber doch eine ab-
lehnung ihrer behandlung. man denke sich dies im Lykeion zu Lykurgos
zeit gesprochen, wo der ruhm des νομοϑέτης, der die unverbesserliche
35)
[65]Politik B 12.
demokratische freiheit und gleichheit begründet haben sollte, allstündlich
in allen gerichtshöfen ertönte, und man wird darin den sarkastischen zug
des meisters nicht verkennen, der auch in der Politie die stärksten
wirkungen erzielt, wenn er die frappanten tatsachen lediglich so hinstellt,
daſs sie durch ihren gegensatz den leser zwingen, die notwendigen folge-
rungen selbst zu ziehen. der lehrer des Alexandros muſste freilich behutsam
vorgehn, aber er besaſs die kunst, alles sagen zu können, und sein zuhörer-
kreis verstand ihn. er holt scheinbar weit aus “über politik haben sich teils
männer verbreitet, die dem öffentlichen leben ganz fern standen: über diese
ist das nötige bemerkt; teils waren sie politisch tätig, und auch von diesen
sind manche nur als gesetzgeber, in ihrem eignen oder in einem fremden
lande, aufgetreten, und nur einzelne haben neben den gesetzen auch
eine verfassung gegeben, wie Lykurg und Solon.” da ist der name ge-
fallen, und die beurteilung folgt. wozu der umweg, der eine neue über-
leitung und die erneute erklärung nötig macht, daſs Sparta erledigt wäre?
zweierlei wird damit erreicht. erstens wird Solons bedeutung gebührend
erhoben; denn er hat geleistet, was dazu berechtigt ihn wirklich mit
Lykurg in einem atem zu nennen: er hat eine verfassung begründet.
Aristoteles ist hier klar geworden, was sonst der hellenischen sprache
und entsprechend dem hellenischen denken fern liegt, der unterschied
zwischen einem gesetzbuche und einer verfassung. νόμοι und νομο-
ϑέτης schlieſst gemeiniglich und besonders von Solon gesagt die ver-
fassung d. h. das staatsgrundgesetz ein; auch Aristoteles, schon in der
nächsten zeile, redet so. ja Aristoteles hat so fein geschieden, daſs wir
versucht sind, ihn selbst mit dieser unterscheidung zu meistern: Lykurg
hat wol eine πολιτεία, aber keine νόμοι gegeben. dies also dient der
hervorhebung Solons. das zweite ist, daſs andere hochberühmte gesetz-
geber hiermit von der berücksichtigung ausgeschlossen sind. wenn uns
Charondas 36) und Zaleukos sofort einfallen, wie sollte es den zuhörern des
v. Wilamowitz, Aristoteles. 5
[66]I. 3. Solon.
Aristoteles anders gegangen sein? und sollten die Lesbier Phainias und
Theophrast nicht an ihren Pittakos gedacht haben, der in gleicher stellung
wie Solon gewirkt und sich auch einen platz unter den Sieben weisen
errungen hatte? diese mitbewerber werden also mit sicherer hand in
einen tieferen rang verwiesen.
Es folgt die behandlung des Solon, von der wir nach dieser ein-
leitung erwarten, daſs sie eine motivirte ablehnung sein muſs. aber Aristo-
teles müſste ein stümperhafter schriftsteller sein, wenn er damit abbräche.
denn jene umständliche überleitung auf Solon ist nur als πϱοπαϱασκευή
berechtigt. wenn er nicht bloſs die classe von gesetzgebern unterscheidet,
welche keine verfassung begründet haben, sondern unter diesen wieder
solche die zu hause und die in der fremde gesetze gegeben haben, so
hat das nur sinn, wenn die entsprechenden personen nachher namhaft
gemacht werden. und wirklich, es folgen auf Solon die Westhellenen
Charondas und Zaleukos und der in Theben tätige Korinther Philolaos.
es ist unbegreiflich, wie diese namen jemand vertreiben kann. freilich
hat der vortragende politisch bedeutsames nicht von ihnen zu berichten,
er schätzt sie ja nicht sehr hoch; aber eben deshalb teilt er geschicht-
liches über sie mit, gelegentlich auch ein wenig polemisirend. ganz so
hat er es vorher mit Hippodamos gehalten 37), und selbst in der Politie
36)
[67]Politik B 12.
widersteht er der freude an einer guten geschichte nicht leicht. ganz
eben so stümperhaft wäre es, wenn Aristoteles in diesem zusammenhange
Phaleas und Platon genannt hätte, nicht weil er von ihnen schon ge-
handelt hat, sondern weil sie als theoretiker aus diesem kreise heraus-
fallen. und was von diesen beiden gesagt wird, ist aus sich heraus gar
nicht verständlich: bei einer “ausgleichung des besitzes”, die von Phaleas
angeführt wird, kann sich niemand ohne weiteres etwas denken. folg-
lich hat nicht Aristoteles, sondern ein leser diese recapitulation (1274b
9—15) eingefügt. dadurch werden die letzten bemerkungen über Drakon,
Pittakos und Androdamas einigermaſsen mit verdächtigt, da für sie die
vorbereitung oben nicht mehr zieht. indessen können die bemerkungen,
welche diese drei als minderwertig abtun mit dem fremden zusatze
nicht in einem zuge geschrieben sein, wol aber mit den ächten worten
über Philolaos und Charondas. also behaupten die letzten sätze ihren platz,
bis sie jemand aus sich der unächtheit überführt. man wird aber nicht
leugnen, daſs Drakon und Pittakos ein wort mindestens ebenso ver-
dienten wie Philolaos. was von Pittakos erwähnt wird, die ablehnung
der trunkenheit als mildernder umstand, ist von Aristoteles in der Rhe-
torik (II 25) erwähnt; es war eine allgemein bekannte singularität.
Drakon wird ebenfalls genau so beurteilt, wie es von der öffentlichen
meinung und der attischen chronik geschah (Plut. Sol. 17). der wider-
spruch mit der Politie ist allerdings vorhanden, aber dort ist seine ver-
fassung eine einlage, und nichts verbietet anzunehmen, daſs Aristoteles
ein jahrzehnt oder auch fünf jahre später etwas neues zugelernt habe.
vielleicht wird mancher mit mir die ächtheit dieser sätze besonders
um des sonst ganz unbekannten Androdamas willen glauben. dieser
Rheginer hat den städten auf der Chalkidike ihre gesetze verfaſst. der
Stagirite Aristoteles war also unter ihnen aufgewachsen: wem lag der
name näher als ihm, und wenn gerade gesetze über blutrecht und über
erbtöchter von ihm flüchtig erwähnt werden, so glaubt man die ge-
dankenverbindung zu erkennen, die den Aristoteles von Solon und Drakon
auf Androdamas führte, wenn auch nur um diese kindheitserinnerung
mit einem worte abzutun.
Schlieſslich kommt auf diese letzten sätze nicht eben viel an. um
so mehr auf die beurteilung Solons, die eben so weise wie klug ge-
schrieben ist, weise, weil sie gerecht ist, klug, weil sie es dem hörer
überläſst, das urteil zu formuliren, das ihm durch die billige abwägung
anderer urteile vorbereitet ist.
“Einige halten Solon für einen guten gesetzgeber; er habe eine
5*
[68]I. 3. Solon.
übertriebene oligarchie beseitigt und durch eine richtige mischung der
verfassung die ächte 38) demokratie begründet. denn der rat auf dem
Areshügel sei oligarchisch, die wahl der beamten (d. h. ihre besetzung
durch die begüterten) aristokratisch, das volksgericht demokratisch”. dieses
günstige urteil schränkt Aristoteles durch die tatsächliche berichtigung ein.
“man muſs aber als wahrscheinlich betrachten, daſs der Areopag und die
wahl der beamten schon vor Solon bestanden haben, und er sie nur nicht
abgeschafft hat. die volksherrschaft aber hat er begründet, indem er die
geschwornen aus allen Athenern nahm”. nun kommen die tadler zu worte.
“denn er habe alles übrige zerstört, indem er dem volksgericht, das ja durch
das los bestimmt ward, die entscheidung in allem verlieh. denn als das
einmal die macht hatte, hätten sie ihm wie einem tyrannen zu gefallen,
die verfassung zu der jetzigen demokratie gemacht.39) den areopagitischen
rat hätten Ephialtes und Perikles 40) beschränkt, die diaeten für die richter
[69]Politik B 12.
Perikles eingeführt, und jeder demokratische staatsmann wäre in dieser
richtung fortgeschritten bis zu der jetzigen demokratie”. auch das
wird tatsächlich berichtigt “es liegt am tage, daſs diese entwickelung nicht
in der absicht Solons gelegen hat, sondern die folge von ereignissen ist,
die er nicht voraussehen konnte. das volk ist durch den erwerb der see-
herrschaft übermütig geworden und hat sich schlechte führer genommen
trotz dem widerstande der verständigen. Solon selbst hat ja dem volke
nur die allernotwendigste macht verliehen, das active wahlrecht und die
controlle der beamten; ein volk, das nicht einmal so viel besäſse, würde
unfrei und in folge davon den herrschenden feindlich gesonnen sein.
das passive wahlrecht für alle ämter gehört nach Solon den höheren
und begüterten schichten der bürgerschaft, den pentakosiomedimnen, zeu-
giten und drittens der steuerclasse, die ritter heiſst. 41) die vierte sind die
theten; die hatten an gar keinem amte anteil”.
So sind beide kritiken berichtigt. eine eigne wird nicht formulirt,
geschweige denn die folgerung, welche die Politik praktisch zieht, die
fortlassung der solonischen verfassung aus der reihe der “mit recht be-
lobten”, worin freilich die schärfste kritik liegt. summiren wir also
aus den einzelposten die aristotelische ansicht. die jetzige demokratie,
über die kein wort zu verlieren nötig ist, hat Solon weder gewollt noch
geahnt; sie muſs also bei seiner beurteilung unberücksichtigt bleiben.
die elemente, die nicht demokratisch sind, den rat der Areopagiten und
40)
[70]I. 3. Solon.
das passive wahlrecht der begüterten, hat er bereits vorgefunden; die
kommen also für seine beurteilung auch nicht in betracht. auch das active
wahlrecht des volkes ist keine neuerung von ihm: es blieb also nur τὸ τὰς
ἀϱχὰς εὐϑύνειν, die controlle der beamten (die durch ein gericht erfolgt),
wie es an der einen stelle, die aus allen bürgern erlosten richter, wie es
umfassender an der andern heiſst. damit erfüllte Solon eine unabweisbare
forderung des volkes, aber die volksgerichte, durch die er sie erfüllte, haben
tatsächlich alle übrigen institutionen sich dienstbar gemacht und zu der
jetzigen demokratie geführt, einer positiv schlechten verfassung. wenn
das wider Solons absicht geschehn ist, so entlastet das den weisen und
wolwollenden mann moralisch: aber er kann dann unmöglich ein ge-
setzgeber sein, bei dem ein politischer theoretiker viel lernen kann. seine
verfassung, die “πάτϱιος πολιτεία”, mag das lob einer guten mischung
verschiedner elemente immerhin verdienen, auch wenn er selbst ihr diese
elemente nicht erst zugeführt hat. aber diese verfassung ist es nicht,
die die menschen meinen, welche Solons lob singen; sie kann überhaupt
nur durch historische forschung nach wahrscheinlichkeit festgestellt werden,
und fällt schon deshalb fort, weil sie controvers ist. rund heraus würde
Aristoteles zu seinen zuhörern etwa so haben sprechen können. “Ihr
erwartet hier nun eine kritik der verfassung, unter der wir leben, der
solonischen. es tut mir leid, aber sie gehört nicht her. die jetzt in
Athen bestehende demokratie meine ich ja immer, wenn ich von der
typischen ‘demokratie’ rede, und wir wissen alle, daſs sie schlecht ist.
nun tut man Solon freilich schweres unrecht, wenn man ihn als ihren
stifter ansieht: er hat so etwas wahrlich nicht beabsichtigt. aber eine
folge, wenn auch eine unbeabsichtigte, seiner schöpfung, der volks-
gerichte, ist sie allerdings, und schon deshalb kann seine wirkliche ver-
fassung auch nicht schlechthin gut gewesen sein. übrigens war er gar
kein schöpferischer organisator auf dem politischen gebiete, und sein
werk als ganzes hat auch nur eine ganz kurze zeit bestand gehabt.
also gehört weder er noch sein werk, wie es wirklich war, noch wie es
umgestaltet jetzt besteht, hierher. festhalten wollen wir nur das liebens-
würdige bild des weisen Solon, das in seinen gedichten vor uns steht,
und das wollen wir uns durch keine maſslosigkeit in bewunderung oder
verunglimpfung trüben lassen. er war ein einziger mann: noch keiner
hat es ihm nachgetan, die macht, die er in den händen hatte, lediglich
zum vorteil des ganzen, zu einer verfassung zu verwenden, die die
rechte mitte zwischen demokratie und aristokratie hielt. 42) und wenn
[71]Politik B 12.
sein werk keine dauer gehabt hat, so war doch was er gewollt hat
edel und gut, und zwischen seinen beurteilern findet ihr euch am besten
durch, wenn ihr, wie ich es hier getan habe, sein eigenes wort zu
grunde legt
δήμῳ μὲν γὰϱ ἔδωκα τόσον κϱάτος ὅσσον ἀπαϱκεῖ
τιμῆς οὔτ̕ ἀφελὼν οὔτ̕ ἐποϱεξάμενος.
οἳ δ̕ εἶχον βίοτον καὶ χϱήμασιν ἦσαν ἀγητοί,
καὶ τοῖσ̕ ἐφϱασάμην μηδὲν ἀεικὲς ἔχειν43).”
Die beurteilung der person und des werkes ist an beiden orten
wesentlich dieselbe; ihr hauptunterschied liegt darin, daſs die verfassungs-
geschichte Athens die wirtschaftliche reform Solons in den vordergrund
rückt, die für die theoretische speculation nicht in betracht kam. aber
da beide darstellungen unabhängig von einander sind, und keine ein
volles bild der solonischen institutionen gibt, so müssen wir sie ver-
gleichen und für deren vollbild aus beiden züge nehmen. beide geben
an, daſs der rat auf dem Areshügel schon vor Solon eine wichtige
verwaltungsbehörde war, woran er nichts änderte. beide legen auf die
einsetzung der volksgerichte den höchsten wert, aber die Politik, weil
sie die εὔϑυνα der beamten besorgen, die Politie, weil die ἔφεσις an sie
allgemein gestattet ist, nebenher weil jeder für jeden rechtshelfer werden
kann. jene versteht also unter εὔϑυνα nicht bloſs die rechenschafts-
abnahme, sondern die controlle, das gerade machen von σκολιαὶ ϑέμιστες
der beamten, was das wort ja zunächst heiſst. in beiden tritt der rat
für uns auffallend zurück, ja die Politik nennt ihn gar nicht: sie hat
also seine mitwirkung wesentlich in die controlle der beamten verlegt,
und seit wir wissen, daſs die euthynen ratsherrn sind, poleten, schatz-
meister, apodekten (kolakreten) unter dem rate stehn, ratsherren die
rechnung für alle beamten führen, darf uns das weniger verwundern. 44)
ein widerspruch scheint dagegen in betreff der beamtenwahl vorzuliegen.
42)
[72]I. 3. Solon.
nach der Politie hat Solon für die archonten und eine anzahl anderer
behörden, die vorher vom Areopag besetzt worden waren, die losung
aus einer durch die phylen praesentirten liste eingeführt. in der Politik
gibt er an, daſs Solon dem volke die wahl der beamten gab oder
vielmehr lieſs. es ist nicht wol zu glauben, daſs er seine ansicht
geändert hätte, also sind wir zu dem schlusse gezwungen, daſs αἱϱεῖσϑαι
τὰς ἀϱχάς von einem κληϱοῦν ἐκ πϱοκϱίτων auch verstanden werden
kann. und in der tat ist das möglich. vor allen dingen steht bei Aristo-
teles selbst 26, 2 τὴν τῶν ἐννέα ἀϱχόντων αἵϱεσιν οὐκ ἐκίνουν,
ἀλλ̕ — ἐκ τῶν ζευγιτῶν ἔγνωσαν πϱοκϱίνεσϑαι τοὺς κληϱωϑησομέ-
νους. die stelle genügt eigentlich allein. aber um der wichtigkeit der
sache willen möge hier mehr stehn. Isokrates rühmt im Areopagitikos
den wahlmodus der πάτϱιος πολιτεία (22), wo sie lebten οὐκ ἐξ ἁπάν-
των τὰς ἀϱχὰς κληϱοῦντες, ἀλλὰ τοὺς βελτίστους καὶ τοὺς ἱκανω-
τάτους ἐφ̕ ἕκαστον τῶν ἔϱγων πϱοκϱίνοντες, und das sogar für demo-
kratischer hielten als das los, ἐν μὲν γὰϱ τῇ κληϱώσει τὴν τύχην
βϱαβεύσειν καὶ πολλάκις λήψεσϑαι τὰς ἀϱχὰς τοὺς ὀλιγαϱχίας ἐπι-
ϑυμοῦντας, ἐν δὲ τῷ πϱοκϱίνειν τοὺς ἐπιεικεστάτους τὸν δῆμον
ἔσεσϑαι κύϱιον ἑλέσϑαι. in dem staate der platonischen Gesetze ist
die losung aus erwählten candidaten für den rat vorgeschrieben, und es
wird ausdrücklich hinzugefügt ἡ αἵϱεσις οὕτω γιγνομένη μέσον ἂν
ἔχοι μοναϱχικῆς καὶ δημοκϱατικῆς πολιτείας (756). 45) im jahre 411
sollte der provisorische rat der 400 ἐκ πϱοκϱίτων bestehn, οὓς ἂν
ἕλωνται οἱ φυλέται (31, 1); die losung aus den πϱόκϱιτοι ist schlau
übergangen, ward aber von den 5000, die den antrag annahmen, ohne
zweifel verstanden: directe nominirung ist eben keine πϱόκϱισις. 46)
[73]Politik B 12.
Hypereides (Euxen. 26) sagt αἱϱεϑεὶς ὑπὸ σοῦ und bezeichnet damit die
designation eines von der phyle zu wählenden συνήγοϱος, wo also etwa
πϱοβάλλειν statt αἱϱεῖσϑαι erwartet wird. es ist in dem wahlmodus des
κληϱοῦν ἐκ πϱοκϱίτων, der erlosung aus einer durch wahl bestimmten
liste, zufall und absicht combinirt, und je nach dem, auf welchen der
beiden acte der redende gewicht legt, kann er das ganze danach bezeichnen.
so stellt Aristoteles selbst 22, 4 die ἄϱχοντες αἱϱετοί dem κυαμεύειν
ἐκ πϱοκϱιϑέντων entgegen, und kann doch τὰς ἀϱχὰς αἱϱεῖσϑαι von
diesem letzteren wahlmodus sagen. αἱϱεῖσϑαι ist eben eine vox media. wo
auf die directe volkswahl etwas ankommt, wie bei allen militärischen
chargen, ist der unzweideutige ausdruck χειϱοτονεῖν feststehend. wir
verfügen nicht leicht über analoga, aber wir betrachten doch den ab-
geordneten als einen gewählten, über den in der stichwahl das los ent-
schieden hat, und wenn z. b. die kreistage fünf candidaten wählten, von
denen einer als vertreter des kreises im provinziallandtage ausgelost
würde, so könnte dieser sowol als ein gewählter vertreter angesehn
werden, wie im gegensatze zu dem direct gewählten reichstagsabgeord-
neten als erlost. erst darin kann man wirklich eine schwierigkeit finden,
daſs die wahl der beamten in der Politik vorsolonisch heiſst, während
nach der Politie der Areopag die meisten stellen bis auf Solon besetzte.
allein das löst sich so, daſs ja nur die archonten beamten sind, auf die
es für die verfassung ankommt, und die werden in der tat vorher ge-
wählt, und zwar πλουτίνδην (3, 6). da also die erlosung aus einer liste
gewählter candidaten, die einzige neuerung Solons, mit recht oder un-
recht dem Aristoteles wie dem Isokrates unwesentlich schien, weil sie
den aristokratischen charakter des wahlmodus nicht beeinfluſste, so hatte
er vollkommen recht, zu reden wie er getan hat. 47)
Ergebnis.Erst jetzt, nachdem das capitel der Politik inhaltlich erklärt ist, kann
es dazu verwandt werden, weshalb seine besprechung eigentlich allein an
dieser stelle nötig war, die lobredner und tadler Solons kennen zu lehren.
die letzteren sind ganz offenbar dieselben βλασφημεῖν βουλόμενοι, mit
denen sich die Politie auseinandersetzt, denn an beiden orten wird der-
selbe vorwurf ähnlich zurückgewiesen. das ist also die kritik der oli-
garchen, welche wirklich die solonische verfassung umgestürzt haben.
schriften von ihnen kannte Aristoteles also vielleicht schon eh er an die
ausarbeitung der Politie gieng, aber wenn sie, was ich allerdings für sehr
wahrscheinlich halte, in den Atthiden, die Aristoteles vorwiegend benutzt,
abgewiesen, also auch ihre urteile angeführt waren, so ist für uns weder
möglich noch wichtig zu wissen, was Aristoteles hier oder dort ihnen
direct oder indirect verdankt. erst wenn wir mehr auf diese tradition
zurückführen können, mag sich das aufhellen. in jedem falle vernehmen
wir einen nachhall der leidenschaftlichen angriffe, welche den stifter der
demokratie trafen, weil die oligarchische reaction sein werk beseitigen
wollte.
Dagegen zeigt die verteidigung durch die δημοτικοί, von der die
Politie berichtet, keine verwandtschaft mit seinen lobrednern in der
Politik. diese sind gar keine demokraten, denn sie loben die gute
mischung seiner verfassung. sie haben geurteilt, daſs jede der drei seit
der sophistenzeit und schon früher 48) anerkannten verfassungsformen ein
gutes teil berechtigung hätte, und darum für die wirklich gute verfas-
sung eine mischung der drei elemente verlangt. sie haben sie in der
solonischen und ganz besonders in der lykurgischen gefunden (1265b 33),
denn da reden offenbar dieselben leute, und für diese beurteilung Spartas,
also das alter dieser theorie zeugen nachdrücklich Isokrates Panath. 153,
und schon Platon Ges. IV 712d. bekanntlich hat dieser, in der plato-
nischen 49) und aristotelischen theorie nicht anerkannte gedanke der mischung,
später, vielleicht bei Dikaiarchos 50), sicher in der jüngeren Stoa 51) und
[75]Ergebnis.
danach bei Polybios und nachfolgern eine groſse bedeutung erlangt. wer
ihn zuerst erdachte, war ein mann, der nicht nur geistreich zu denken
verstand, sondern auch, seine kritik Solons zeigt es, mehr geschichtliche
kenntnisse und mehr politisches urteil besaſs, als die meisten praktiker
und theoretiker. aber ich kenne ihn nicht und weiſs nicht, wie ich ihn
finden sollte. Aristoteles hat ihn gekannt aber zu gering geschätzt. in
der Politie ist er nicht berücksichtigt, mit fug und recht, da sie nicht
theoretisirt.
Herkunft
des
berichtes.Aristoteles hat sein viertes capitel in einen für ihn bereits gegebenen
zusammenhang eingeschoben, aus dem es herausfällt. die umgebung stammt
aus der Atthis; diese hat also nichts von der drakontischen2) verfassung
gewuſst. das stimmt dazu, daſs die gesammte tradition sie nicht kennt.
ja Aristoteles selbst hat, als er die Politik schrieb, nur so viel wie die
Atthis von Drakon gewuſst. das hat sich in dem vorigen capitel ergeben.
er hat die verfassung also erst irgendwoher kennen gelernt, als er daran
gieng die Politie zu schreiben; dann aber hat er dieser überlieferung
vollen glauben beigemessen.
Neben der Atthis haben wir als quellen des Aristoteles bereits oli-
garchische parteischriften kennen gelernt, und wir werden später sehen,
daſs sie ihm die geschichte des fünften jahrhunderts fast ganz geliefert
haben. gerade die actenstücke, die er aus dieser quelle für das jahr 411
entnimmt, stehen mit der verfassung Drakons in so naher beziehung,
daſs wir vor dem dilemma stehn: entweder haben die oligarchen von 411
sich an diese verfassung Drakons angeschlossen, oder aber sie haben sie
zu gunsten ihres planes als angebliches vorbild erfunden. in beiden
fällen ist der schluſs unvermeidlich, daſs Aristoteles seine kenntnis der
[77]Herkunft des berichtes. die bürgerschaft.
drakontischen verfassung diesen oligarchischen gewährsmännern ver-
dankt. da man ihnen ebensowol die kenntnis einer in der demokrati-
schen überlieferung zu gunsten Solons vergessenen verfassung zutrauen
kann wie den mut einer tendentiösen erfindung, so hilft uns diese einsicht
in die herkunft des berichtes nicht einmal zu einem praejudiz über
seine innere glaubwürdigkeit.
Daſs Aristoteles die verfassung entlehnt, zeigt die form seiner rede,
da er zum teil im accusativ mit infinitiv spricht, was man unmöglich auf
die oft entsprechend stilisirten gesetze selbst zurückführen kann. ein
wirkliches actenstück liegt auch nirgend zu grunde, geschweige denn
eins aus dem siebenten jahrhundert, denn wenn auch die sprache natür-
lich bestes attisch ist, so fehlt doch nicht nur alles archaische, sondern
selbst eine jede spur, die so deutlich wie oben πόλις und καταφατίζειν
für das fünfte jahrhundert zeugnis ablegte.3) es ist ja auch gar nicht
denkbar, daſs auf den gesetzestafeln Drakons, die bis ans ende des fünften
jahrhunderts existirt haben, eine solche sammlung von bestimmten ver-
fassungsgesetzen vereint gestanden hätte. wenn der bericht auf wahr-
heit beruht, so hat sein urheber die für das allgemeine giltigen sätze aus
den einzelbestimmungen der gesetze für die magistrate herausgesucht
und zusammengefaſst.4) Aristoteles mag ja gekürzt haben; aber es ist
unter diesen umständen sehr wahrscheinlich, daſs er manches nicht fand,
was er gern gewuſst hätte. wir wollen uns also hüten, ihn zu schelten,
wenn er uns viele fragen nicht beantwortet, die wir auf den lippen
haben; er hat wol eher manches mitgeteilt, was er schwerlich selbst
ganz verstand, eben weil die sachen so sehr merkwürdig waren.5)
Am ende sind wir doch allein auf die inhaltliche prüfung der ver-
fassung selbst angewiesen. daſs die oligarchen von parteiinteresse ge-
blendet waren, mag gegen, daſs Aristoteles ihr glauben geschenkt hat,
für dieselbe sprechen: schlieſslich muſs sie über sich selbst ent-
scheiden.
Die beteiligung an den staatsgeschäften ist auf diejenigen beschränkt,Die bürger-
schaft.
die sich selbst equipiren können.6) da hören wir in dem ausdrucke
[78]I. 4. Drakons verfassung.
ὅπλα παϱεχόμενοι die terminologie der 400; sie brauchen wir Drakon
nicht zuzutrauen. aber die sache, die vielleicht gar nicht als seine
neuerung gelten soll, ist beinahe selbstverständlich. denn das passive
wahlrecht und damit die staatsverwaltung ziemlich ganz und gar hat auch
Solon den bürgern der drei oberen classen bewahrt, auf welche auch
der kriegsdienst mit der waffe beschränkt ist. daſs er den theten die
beteiligung an der volksversammlung und den geschwornenstellen er-
öffnet, ist eben seine neuerung. und daſs Drakon sie von der activen
wahl ausgeschlossen hat, so weit diese etwa nach ihm in anwendung
kam, ist keineswegs ganz sicher. wie notwendig jedem Athener diese
begriffsbestimmung für die μετέχοντες τῆς πολιτείας in einem guten
staate erschien, lehrt am besten, daſs Platon in den Gesetzen 753 von
ihr ausgeht. man wird vielleicht bei Drakon nicht bloſs den census,
sondern auch den adel als bedingung für die teilnahme an der staats-
verwaltung erwähnt wünschen. allein die zugehörigkeit zu einer der
vier adelsphylen, also auch zu einer phratrie, liegt zwar in dem be-
griffe des damaligen bürgers, aber sie schlieſst längst nicht mehr
den wirklichen adel ein. in den curien sind die plebejer mit: das
soll man nie vergessen. vielleicht erwartet man noch mehr die gliederung
in die drei stände erwähnt zu finden, die doch noch 581 in dem archonten-
collegium vertretung gefunden haben. allein schon unter könig Theseus,
der doch adel bauern und handwerker schied und dem adel die ämter
und die gesetzeskenntnis vorbehielt, ist in allem übrigen die bürgerliche
gleichheit durchgeführt (fgm. 2). und in des Aristoteles ‘ältester ver-
fassung’ geschieht die besetzung der ämter nach adel und reichtum (3, 6).
darauf folgt passend die berücksichtigung des census allein und die ab-
stufung der berechtigung nach dem gelde. so ist es bei Solon, wie wir
wuſsten. daſs etliche jahre vorher Drakon dasselbe verordnet hatte, ist
für uns neu: aber wie sollte es undenkbar oder auch nur unwahrschein-
lich sein?
Die classen.Solon hat die qualification zur bekleidung der ämter nach dem
census abgestuft. wir wissen genauer nur, daſs für die schatzmeister
6)
[79]Die classen.
die erste classe, für die archonten wenn nicht diese, so doch die erste
oder zweite gefordert war (so war es bis 457), für alle mindestens die
dritte. die vier classen bestanden auch zu Drakons zeit: das sagt Aristo-
teles ausdrücklich; daſs Drakon sie geschaffen hätte, sagt er nicht, muſs
es aber geglaubt haben, da die Atthis sie Solon zuschrieb. was er von
Drakons verfassung mitteilt, führt sie jedoch nicht als etwas neues ein.
mit ihren solonischen namen erscheinen sie darin einmal, bei der ab-
stufung von ordnungsstrafen. dagegen werden bei der qualification der
beamten zwar drei classen unterschieden, aber sie führen nicht die solo-
nischen namen, und es werden andere auf das vermögen, nicht auf das
einkommen, begründete sätze angegeben. zwar die unterste stufe ist
im grunde dieselbe. hier ist die eigne equipirung ausdrücklich verlangt;
die solonischen hopliten sind die zeugiten tatsächlich, und seinem be-
griffe nach bedeutet das wort den besitzer eines gespanns. einem solchen
traut man zu einmal 200 scheffel zu ernten, andererseits sich harnisch
schild und helm halten zu können. da ist also die ausgleichung von
ζευγίτης mit ὅπλα παϱεχόμενος in demselben drakontischen staats-
wesen ganz unbedenklich. schwierig wird es erst bei den beiden oberen
classen, für die bestimmte ziffern angegeben werden, und zwar zunächst,
weil eine dieser ziffern verdorben ist. der überlieferung nach ist für
archonten und schatzmeister eine οὐσία ἐλευϑέϱα von 10, für strategen
und hipparchen eine solche von 100 minen gefordert. da ist schon das
verhältnis 1 : 10 schlechtweg unglaublich; ferner aber gehört es sich,
daſs die archonten und schatzmeister den höheren census nachweisen,
denn die letzteren haben es dem buchstaben des gesetzes nach immer
tun müssen, und für die archonten müssen wir es auch erwarten,
während der feldherr nie an das vermögen gebunden sein kann, so
lange er wirklich für den krieg bestimmt ist, und tatsächlich auch ein
census für die militärischen chargen, so viel wir wissen, nie bestanden
hat.7) nur ein reitpferd muſs der officier haben, und in der adelszeit,
die die cavallerie für vornehmer hält, gehört der sport der ἱπποτϱοφία
dazu, um solche stellung ausfüllen zu können: es versteht sich im grunde
von selbst, daſs die ἵππαϱχοι aus den ἱππῆς genommen werden, und
was auch die Atthis und Aristoteles sagen mögen, die etymologie ist
zuverlässiger, und sie lehrt, daſs die zweite steuerclasse ursprünglich
[80]I. 4. Drakons verfassung.
die leute umfasste, die sich ein pferd halten konnten und beritten zu
felde zogen. ist also eine zahl falsch, so fragt sich immer noch, welche.
das hängt von dem begriffe οὐσία ab. wenn es das einkommen be-
zeichnen könnte, so wären 10000 dr. zu viel. aber οὐσία heiſst eben
nicht einkommen, und ἐλεύϑεϱος paſst auch dazu nicht. es ist ein
fehler, daſs wir uns in unserer ausgabe durch die analogie der soloni-
schen classen und die leichtigkeit ἑκατόν zu emendiren haben ver-
leiten lassen, diesen weg zu gehn. bedeutet also οὐσία das vermögen,
wie immer, so ist die erste zahl verdorben, denn selbst bei 20 % zinsen
ergibt sie nur ein einkommen von 200 dr., und dabei soll der mann
der ersten classe für eine versäumte sitzung 3 dr. strafe zahlen, drei-
mal so viel als nach dem verfassungsentwurfe von 411, so daſs die
ausrede, der wert des geldes wäre unverhältnismäſsig höher gewesen,
nicht zieht. es ist also δέκα verdorben, und die zahl, die da gestanden
hat, war viel höher als 100. man erwartet διακοσίων8); aber zahlwörter
lassen sich aufs gerade wol schlecht verbessern.
Wenn wir so wenigstens im allgemeinen wissen, was die stelle
besagen will, so erheben sich sofort zwei neue bedenken. konnte
denn Drakon von minen reden, da es doch noch keine attische münze
gab? und wie kam er dazu, die classen, deren namen auf das ein-
kommen bezogen sind, auf das vermögen zu stellen? beiden fragen soll
ihre antwort werden.
Die münze.Es ist wahr, es gab noch kein attisches geld. aber das gab es auch
nicht, als Solon ein par jahre später den münzfuſs änderte, und selbst
er hat die attische prägung nicht angefangen, sondern erst Peisistratos.9)
der wirtschaftliche fortschritt liegt ja nicht in der staatlichen stempelung
der cursirenden metallstücke, sondern in der einführung des edelmetalls
als des maſsgebenden tauschmittels und dem entsprechend eines festen
gewichtsystemes. beides hat notorisch lange vor Solon bestanden, denn
er hat es geändert und fand die hypothekenschulden auf drachmen
normirt vor. er war selbst ein handelsmann und hatte viele ferne
küsten befahren: der handel war längst nicht nur rechnungsmäſsig auf
geld gestellt, sondern es cursirten auch münzen, nur noch keine atti-
schen. nicht von ferne also kann die mine oder drachme in den drakon-
tischen gesetzen befremden; 100 minen, wo man später 10000 drachmen
[81]Die münze. alter der classen.
zu sagen pflegt, klingt sogar altertümlich. und da Solon nicht nach
dem stater, sondern nach der drachme gerechnet hat, wird man auch
das bei Drakon nicht anders erwarten. aber wir wissen doch zu-
verlässig, daſs Drakons gesetze noch buſsen in homerischer art nach dem
werte von rindern bemaſsen.10) aber dieselbe überlieferung berichtet,
daſs der attische herold an den Delien die preise nach rindern berechnet
ausrief, während sie in geld gezahlt wurden, das rind zu zwei drachmen
gerechnet.11) das sind alte formelhafte ausdrücke, die um 600 häufiger
gewesen sein werden als um 300, aber wenn sie es hier nicht tun,
auch da nicht die münzrechnung ausschlieſsen. lediglich aus diesen
formeln ist die irrlehre entstanden, daſs das älteste attische münzbild das
rind gewesen wäre, und nicht anders ist die angabe des Phalereers zu
beurteilen, daſs zu Solons zeit das rind fünf, das schaf eine drachme
gegolten hätte. das waren gleichungen wie die delische; im ernst kann
den wert des βοῦς ἐϱγάτης, den zu töten ein frevel war, von dem ein
joch den bauer zum hopliten machte, niemand so niedrig schätzen.12)
in der erwähnung der münze liegt also kein anstoſs. gemeint ist natür-
lich aeginäische währung; aber das ist für die hauptsache gänzlich be-
langlos.
Schwerer wiegt die gleichsetzung des pentakosiomedimnen mit demAlter der
classen.
besitzer eines grundstückes im werte von 20000 dr. dann muſs der
wert der 500 scheffel gleich den zinsen jenes vermögens sein, also bei
dem niedrigen zinssatze von 12 % 2400 dr. das ist doch wol zu viel,
auch wenn man die gleichung von scheffel und drachme, wie man muſs,
aufgegeben hat. zu viel nämlich, wenn man gerste rechnet; beim weizen
ist es schon anders, und wenn es gar öl oder wein ist, oder sesam oder
v. Wilamowitz, Aristoteles. 6
[82]I. 4. Drakons verfassung.
feigen? so steht es vielmehr: 500 scheffel, wie die leute, die noch keine
pedanten sind, sagen, (während der moderne steuermensch von 500-
medimnen- respective -metreten-einkommen reden würde) repraesentiren
überhaupt gar nichts, was sich in eine feste summe umrechnen lieſse,
denn die bodenerzeugnisse, die man miſst, sind allzuverschiedenen wertes,
ganz abgesehen davon, daſs es sich hier um bruttoertrag handelt, während
in dem drakontischen gesetze sehr vorsorglich schuldenfreies vermögen
gefordert ist. freilich, wer dem Solon die schöpfung der vier auf den
bruttoertrag gestellten classen zutraut, der kann an die vermögensclassen
Drakons nicht glauben. aber wenn die Atthis und Aristoteles die durch-
sichtigen namen ἱππεύς und ζευγίτης mit allen mitteln so umdeuten,
daſs auch für sie ein auf 300 oder 200 medimnen gestelltes einkommen
gefordert sein soll, so verraten sie damit, daſs die classennamen schon
in den gesetzen Solons als etwas überkommenes angewandt worden sind,
ohne eine definition zu finden, wie notwendig der fall gewesen wäre, wenn
er sie geschaffen hätte. wie wäre es denn sonst möglich gewesen, daſs
man über die bedeutung stritt? formell sind sie niemals abgeschafft
worden, sonst hätte ja das gesetz nicht immer noch die 500 scheffel
von den schatzmeistern gefordert. aber das stand eben nur auf dem
papiere. die candidaten des archontenamtes wurden einfach gefragt ‘ob
sie ihre steuern zahlten’, und diese waren seit 378/7 auf die einschätzung,
das τίμημα, begründet. damit waren die classen tatsächlich beseitigt.
so viel ich weiſs, werden sie zuletzt im frühjahr 386 erwähnt13), als
die kleruchie Lemnos neugeordnet ward; im fünften jahrhundert be-
gegnen sie auch bei einer coloniegründung (CIA I 31), aber wie die
directe steuer, die εἰσφοϱά, damals eingerichtet war, ist unbekannt. zu
den regelmäſsigen leistungen gehört sie damals nicht, und diese sehen
von den classen ab: nicht die pentakosiomedimnen, sondern ‘die reichsten’
werden zu der choregie u. dgl. herangezogen (56, 2). die doch sonst auf
das alte möglichst hinarbeitende verfassung der 400 hat wol die untere
grenze der ὅπλα παϱεχόμενοι, und zwar ohne absolut fixirtes minimal-
einkommen oder minimalvermögen, wieder eingeführt, aber von den
classen im übrigen ganz abgesehen. so lebensunfähig waren sie schon
damals.14) was sollte man auch in der zeit des höchstens reichtums und
[83]Alter der classen.
zugleich der macht des beweglichen capitales mit einer alten auf den brutto-
ertrag der landwirtschaft gegründeten classeneinteilung? immerhin muſs
ja wol irgendwann einmal die feste scala 500 300 200 scheffel statt der
älteren einfachen, die die wörter selbst bezeugen, beliebt sein; aber selbst
die bedeutung der classen war streitig, als die Atthis schriftstellerisch
bearbeitet ward. geht man nun ins sechste jahrhundert hinauf, so
hat Peisistratos bekanntlich eine reine einkommensteuer erhoben, also
viele jahre lang sind die classen höchstens als wahlqualification in be-
tracht gekommen, so weit die tyrannis die wahlgesetze functioniren
lieſs.15) und daſs sie selbst zu Solons zeiten durchaus nicht die bedeu-
tung gehabt haben können, die uns durch den täuschenden schein nahe
gelegt wird, weil unsere berichte sie erst unter ihm erwähnen, folgt
am besten daraus, daſs der nächstliegende gedanke niemandem kommt,
die veränderung des maſses hätte doch eine verschiebung der staatlichen
rechte zur folge haben müssen. wenn Solon die scheffel gröſser machte,
wie Aristoteles sagt, so verlangte er einen höheren census, schloſs also
eine nicht geringe anzahl bürger vom passiven wahlrechte aus; machte
er aber den scheffel kleiner, wie er es wirklich getan hat, so wurde
selbst der Areopag einem weiteren kreise zugänglich. das ist eine not-
wendige folgerung. wenn sie niemand zieht, so war eben die classen-
teilung 594 schon eine nicht mehr den entwickelten verhältnissen an-
gemessene ältere institution.
Man muſs doch die dinge nehmen, wie sie ihrer natur nach sind.
es ist eine einfache und verständige ordnung, in der bürgerschaft erst
einmal die arbeiter abzusondern, die proletarii, die für den staat nichts
weiter schaffen als die proles, dann die wehrfähigen des fuſsvolks und
der reiter, und darüber eine oberste schicht, die einzige in wahrheit,
die mehr einnimmt und besitzt, als für die führung eines standesgemäſsen
14)
6*
[84]I. 4. Drakons verfassung.
haushaltes notwendig ist. und es ist eine einfache und verständige
gliederung dieser stände, daſs der bauer, der sein land mit der hilfe
seiner frau und des joches ochsen bestellt16), wehrhaft ist, weil er seine
volle rüstung neben seinem herde hängen hat, daſs sich über dieser
breiten schicht der hopliten der berittene adel erhebt, dem seine mittel
und neigungen ein pferd zu halten verstatten, und hervorragend aus
diesem adel eine kleinere schar von groſsgrundbesitzern, die sehr äuſser-
lich, aber für die alten verhältnisse zureichend ein ziemlich tief gegriffener
bruttoertrag ihres ackerlandes heraushebt. diese ordnung setzt eine
starke bäuerliche bevölkerung voraus, einen von den bauern nicht eben
stark unterschiedenen ländlichen adel, wirklich groſse güter überhaupt
noch nicht. sie setzt ferner eine landwirtschaft voraus, die wesentlich
auf den körnerbau gerichtet ist; wein mag daneben stehn, aber die
ölproduction und die gartenwirtschaft, die schon um 600 in Athen vor-
waltet, paſst für diese classen so wenig wie die industrie der Peisistra-
tidenzeit. der adel, d. h. die reiterei, ist gegenüber der späteren zeit,
so sportlustig diese war, unverhältnismäſsig stark: nur vorübergehend
in der reichsten periode, um 445, hat Athen drei hipparchen gehabt17);
411 nahm man die zweizahl zwar für die zukunft in aussicht, begnügte
sich aber für die gegenwart mit einem (30, 2. 31, 2). hier steht der
plural: das gehört sich für die ritterzeit. die reiterei ist ja nicht überall
so heruntergekommen wie in Sparta, wo die ἱππεῖς gar keine pferde
haben, aber seit statt der einfachen verpflichtung, daſs der be-
sitzer eines ‘rittergutes’ auf eigenem pferde dienen müſste, der staat
die equi publici ständig unterhielt, d. h. einer bestimmten zahl pferde-
besitzern die unterhaltungskosten zahlte, ist die cavallerie überall an zahl
und güte gesunken; auch darin trifft die römische analogie zu. es
wundere sich also niemand über die hipparchen Drakons. der fand
freilich nicht mehr die einfachen verhältnisse vor, die allein zu den
classen paſsten. die meisten bauern waren von ihren gütern vertrieben
oder durch ihre verschuldung den gröſseren besitzern frohnpflichtig ge-
worden; die herrschenden kreise aber hatten einen besitz, der mit dem
ertrage der 500 scheffel zum teil gar nicht getroffen ward, weil er in
hypothekenzinsen bestand, zum teil in folge ihrer gröſseren güter und
intensiveren landwirtschaft eine viel höhere steuerstufe verlangte, um
die wirklich ständisch abgesonderte obere schicht zu fassen. was konnten
[85]Alter der classen.
500 scheffel den familien sein, die sich mit den tyrannen von Sikyon
und Megara gleichberechtigt fühlten? daher zog der plutokratische ge-
setzgeber einen scharfen strich und lieſs für das amt, das den zutritt zu
der eigentlich regierenden behörde, dem Areopage, eröffnete, nur die
groſsgrundbesitzer zu, indem er ein schuldenfreies starkes vermögen
verlangte; den gemeinen ritterbürtigen adel, dem die militärischen chargen
nicht versagt werden konnten, grenzte eine ähnliche forderung ab:
darunter aber ward nichts auſser der rüstung gefordert. das kann liberal
scheinen, war auch vielleicht so gemeint. wer einen bauernhof hatte,
der 600 medimnen eintrug, aber verschuldet war, hatte für sich nur 100;
mochte er ehedem zur höchsten classe gesteuert haben, jetzt sank er in
die dritte, behielt aber hier seinen platz, so lange er zur musterung als
hoplit antrat. freilich mochte das, zumal wenn er, statt das feld zu
bebauen, kriegsdienst tun muſste, seine schuldenlast nur steigern: das
ist ja eine zum glück häufige erscheinung, daſs der verarmte adliche die
standespflicht zu erfüllen fortfährt, auch wenn sie seinem vermögen nicht
mehr entspricht. aber leider bestätigt die erfahrung auch, daſs er da-
durch nur schneller dem wirtschaftlichen ruin verfällt. die drakontische
verfassung hat ja auch den conflict tatsächlich nur verschärft. auf das
trefflichste also paſst ihre classeneinteilung in die entwickelung hinein.
Solon aber, der volksfreund, schaffte einfach diese neuerung ab, und die
alten classen traten wieder hervor. die hypotheken hatte er durch einen
gewaltstreich beseitigt. jener bauer, mit dem ich exemplificirte, hatte
nun wieder 600 scheffel und gehörte zu dem höchsten stande. wie
gewaltig diese revolutionäre maſsregel ist, miſst man am besten an solchen
consequenzen, die sie mit sich bringen muſste. wie notwendig sie war,
lehrt am besten die plutokratische classenteilung Drakons.
Der stand, zu dessen gunsten Drakon die verfassung gab, war
keine geldaristokratie in unserem sinne, denn ihr reichtum beruhte im
grundbesitze oder in hypotheken auf grundstücken: aber χϱήματα
χϱήματ̕ ἀνήϱ sagt der adel in Athen, wie meist in Hellas um 600.
sie halten die formen des geschlechterstaates fest, aber es kommt
ihnen auf Geleonten und Hopleten, ja selbst auf eupatriden und geomoren
wenig an. der grundbesitz ist der einzige maſsstab, und die reichsten
grundbesitzer regieren in wahrheit allein. denn sie kommen allein
auf den Areopag, und dieser rat hat die controlle aller beamten, übt
die allgemeine censur und ist die beschwerdeinstanz wider die beamten-
willkür. gefährlich können natürlich die militärischen ämter werden,
die unmöglich nach dem reichtume vergeben werden konnten. da
[86]I. 4. Drakons verfassung.
verlangt Drakon den nachweis eines ehelichen mindestens zehnjährigen
sohnes. singulär ist die forderung nicht, da formell auch später
noch eheliche nachkommenschaft von dem beamten gefordert worden
ist.18) und erwachsen ist sie im geschlechterstaate, der für die erhaltung
der familien, der οἶκοι, sorge trug. der colonist von Naupaktos darf
nur unbeschränkt verziehen, wenn er einen sohn (oder bruder) auf seinem
landlose zurückläſst.19) vollends ein zehnjähriger sohn setzt einen vater
voraus, der über die jahre hinaus ist, in denen Kylon, der wegen seiner
schönheit berufene mann, ἐπὶ τυϱαννίδι ἐκόμησε20), und später Alki-
biades mit der tyrannis drohte. ein sohn war auch für das wolverhalten
des vaters eine gute geisel, und die forderung ehelicher abkunft lieſs
sich gegen nachkommen wie die der argolischen frau des Peisistratos
auch wol verwenden. diese bestimmung paſst also, wenn eine, in die
kylonische zeit.
Die
prytanen.Die folgenden worte des Aristoteles sind dank den neuen lesungen,
die eine schöne vermutung von F. Schulteſs bestätigt haben, so weit es
die überlieferung angeht gesichert. aber sie sind schwer, und die gram-
matische erklärung hat, wie immer, den vortritt. τούτους δὲ διεγγυᾶν21)
τοὺς πϱυτάνεις καὶ τοὺς στϱατηγοὺς καὶ τοὺς ἱππάϱχους τοὺς ἕνους
μέχϱι εὐϑυνῶν, ἐγγυητὰς δδ ἐκ τοῦ αὐτοῦ τέλους δεχομένους οὗπεϱ
οἱ στϱατηγοὶ καὶ οἱ ἵππαϱχοι. darin ist τούτους das subject; das
ist für jeden, der griechisch kann, das nächstliegende.22) es geht auf
die strategen und hipparchen, die zuletzt vorher genannt sind; das ist
selbstverständlich. es bestätigt sich dadurch, daſs Aristoteles vorher
die classen in der reihenfolge 1, 3, 2 genannt hat, weil er an 2
etwas weiteres anknüpfen wollte. also “die strategen und hipparchen
sind haftbar23) für die prytanen und strategen und hipparchen des vor-
jahrs bis zur rechenschaftsablegung, erhalten aber (von denen natürlich,
[87]Die prytanen.
für die sie haften) vier bürgen aus der classe der strategen und hip-
parchen.” das steht da. aber mit recht hat Schulteſs sich dabei nicht
beruhigt. vier bürgen werden gestellt, nicht je vier bürgen. diese zahl
kann verständigermaſsen nur zu den rechenschaftspflichtigen in relation
stehn, denn über die wird einzeln verhandelt, die διεγγυῶντες sind als
collegium haftbar für jeden einzelnen. die maſsregel bezweckt, daſs
sich die rechenschaftspflichtigen nicht aus dem staube machen: dafür
haben die militärischen behörden zu sorgen, an die sich der staat hält,
wenn einer entwischt. für den rechenschaftspflichtigen selbst bürgt
jemand den er stellt, natürlich nicht bloſs für sein erscheinen, sondern
für die erfüllung von allem, was ein ὑπεύϑυνος zu beobachten hat.24)
das ergibt so viel einzelverhältnisse wie rechenschaftspflichtige sind.
bürgen sind vier: rechenschaftspflichtige sind unbestimmt wie viele, aber
sicherlich sehr viel mehr als vier, wenn die überlieferung richtig ist.
es ist gar nicht auszudenken, wie der staat mit dieser bürgschaft zu-
frieden sein soll, auch wie mehrere leute denselben bürgen finden
sollen. zweitens ist es ganz unbegreiflich, daſs der amtsnachfolger für
seinen vorgänger haftbar sein soll. drittens ist die rechenschaft der
strategen später immer sache der thesmotheten, und es ist kaum glaub-
lich, daſs dem je anders war. viertens liegt die iteration im wesen des
militärischen amtes, eine solche maſsregel aber schlieſst ihre möglich-
keit aus. fünftens erwartet man nicht das langatmige ἐκ τοῦ αὐτοῦ
τέλους οὗπεϱ οἱ στϱατηγοὶ καὶ οἱ ἵππαϱχοι, wenn diese unmittelbar
vorhergehn, sondern οὗπεϱ οὗτοι. das genügt, sollte ich meinen, die
streichung von καὶ τοὺς στϱατηγοὺς καὶ τοὺς ἱππάϱχους zu begründen,
die aus der nachbarschaft durch bloſses schreiberversehn hierherverschlagen
sind. denn nun ist alles klar: die ganze maſsregel gilt lediglich den
prytanen. wer in Athen dies wort brauchte, einerlei ob 411 oder 326,
konnte darunter schlechterdings nichts anderes verstehn als ein ana-
logon zu den prytanen des rates, die es in Athen zu seiner zeit gab.
und wirklich, Aristoteles schlieſst den drakontischen rat unmittelbar an.
natürlich muſs man dann annehmen, daſs zu Drakons zeit dieser pry-
tanen 4 waren, und das ergibt dann eine reihe bedeutender folgerungen.
aber ehe wir diese ziehen, ist es gut, den rest des berichtes zu erläutern:
hier nur noch das, daſs es sich gar nicht ausdenken läſst, wie ein oligar-
chischer fälscher zu einer solchen erfindung kommen konnte.
Der rat.Drakons rat ist eine behörde (ausdrücklich wird er ἀϱχή genannt;
aber das ist der attische auch immer gewesen) von 401 köpfen.25) die
ungerade zahl ist notwendig, weil hohe ordnungsstrafen die teilnahme
aller mitglieder erzwingen. der eintritt in den rat oder die übrigen
behörden ist ebenfalls obligatorisch, denn die iteration ist erst gestattet,
wenn alle berechtigten einmal daran gekommen sind. die behörden
werden alljährlich erlost; es leuchtet aber ein, daſs die zahl, aus der
gelost wird, sich jährlich um die summe der vorjährigen beamten ver-
ringert, während nur die nun amtsmündig (d. h. 30 jahre) gewordenen
bürger zutreten.
Es ist evident, daſs die 400 diese bestimmung vor augen gehabt
haben, denn sie wollten an die stelle des zweikammersystems der demo-
kratie, rat und volk, einen rat setzen, bestehend aus einem viertel des
volkes, inclusive der beamten des jahres; sie haben auch die strafgelder
beibehalten, doch alles so wesentlich ihrer zeit gemäſs modificirt26), daſs
nur ein voreingenommener zweifeln kann, wo original, wo copie ist.
für uns waren beide verfassungen so vollkommen überraschend, daſs
man sich verständigermaſsen die sache in ihren consequenzen erst reif-
lich überlegen muſste; dabei dürfen sie nicht mit einander vermischt
werden.
Was Drakon angeht, so mag die einsetzung eines rates von so viel
köpfen eine concession an die masse der bürger bedeuten. er gab ja
die gesetze, um dem hader ein ende zu machen. aber man vergesse
die kehrseite nicht. es durfte freilich jeder, der als hoplit im gliede
stand, bürgerliche rechte ausüben; aber er muſste es dann auch. in
den rat oder in eine der niederen amtsstellen kam er unweigerlich. mit
andern worten, er muſste in der lage sein, ein jahr so ziemlich von
seinen geschäften fern bleiben zu können: jede versäumte sitzung kostete
ihn eine drachme. und dabei hatte er keinesweges das bewuſstsein,
daſs er oder sein rat wirklich die athenische politik machte. denn der
obere rat, der ihm sammt den höheren beamtenstellen unzugänglich
war, hielt seine starke hand über ihm, auch wenn er im amte war. die
stelle als prytan, die vielleicht einfluſs bot, war vollends durch eine wirk-
lich drakonische bestimmung jedem nicht ganz gefügigen plebejer verleidet.
denn wie sollte er einen bürgen höhern standes für sein wolverhalten
finden? wie mochte er die zeit nach ablauf seines amtsjahres, die er
[89]Der rat. das los.
nicht befristen konnte, unter mehr als polizeilicher aufsicht stehn? da
mochten viele, die nicht in der clientel eines der stolzen adelshäupter
standen, auf die bürgerlichen rechte lieber verzichten und sich geradezu
regieren lassen. verlange man doch einmal von jedem Deutschen
nur eine jährliche dienstleistung, selbst als reichstagsmitglied, aber mit
scharfen strafen für jede versäumte sitzung statt aller emolumente: wie
viele von uns werden auf die ehre am politischen leben mitzuwirken
verzichten oder werden sie verwirken. wenn Drakon einen schritt zur
demokratie mit seinem rate tat, so war es wahrlich kein unbedachter
noch kühner.
Aber er hat das los für alle beamten eingeführt. so steht hier,Das los.
und daſs das am anfange des capitels gebrauchte wort αἱϱεῖσϑαι mit
dem lose nicht unvereinbar ist, braucht nach dem obigen (s. 73) nicht
mehr bewiesen zu werden. beschränkt wird das los durch den census,
der für die wichtigsten ämter gefordert ist. mehr erfahren wir nicht;
aber es wäre voreilig, daraus positiv zu folgern, daſs die losung ohne
weiteres aus der ganzen summe der berechtigten und für alle ämter
erfolgte. daſs die militärischen gewählt wurden, war den Griechen aller-
zeit so selbstverständlich und darum so wenig charakteristisch, daſs
Aristoteles diese ausnahme ruhig übergehn konnte. daſs aber mindestens
für den rat eine vertretung der unterabteilungen des volkes, welcher
auch immer, statt fand, denen mithin die praesentation der candidaten
für die losung zufiel, ist nach der analogie des späteren rates durchaus
notwendig. und wer bedenkt, daſs wir diesen modus der besetzung,
selbst für den rat und die archonten, direct erst durch Aristoteles er-
fahren haben, bei dem jedoch über den rat Solons auch nichts steht,
wird sich nicht wundern, daſs diese modalität hier nicht angegeben ist.
wenn vollends Aristoteles seinen bericht einem schriftsteller verdankt,
der diese verfassung nicht zu geschichtlicher belehrung, sondern als
exempel für die praktischen vorschläge der 400 anführte, so kann man
gar nicht verlangen, daſs verschollene und für die gegenwart wertlose
verhältnisse ausgeführt wären.
Aber es bleibt immer das los. das hat Solon auch; wer es dem
zutraut, wird es dem Drakon ein par jahre früher nicht abzusprechen
wagen. es verrät aber auch sehr wenig geschichtliche einsicht, wenn
man sich vor dieser extrem demokratischen institution graut. wenn
die aristokraten jener zeit sich der freien volkswahl gestellt hätten, dann
hätten sie durch eine wirklich demokratische einrichtung ihre existenz
in frage gestellt. dann entfesselten sie den ehrgeiz und den ambitus
[90]I. 4. Drakons verfassung.
des tyrannen; die strategie ist eben deshalb die staffel zur tyrannis ge-
worden, weil sie wahlamt war, keinesweges, weil der feldherr an der
spitze des bürgerheeres die bürger hätte knechten können. gerade
eine aristokratie perhorrescirt die persönlichen vorzüge und die bevor-
zugung des einzelnen standesgenossen: ihr paſst das blinde los, wenn
nur vorgesorgt ist, daſs es an den stand gebunden ist. das war hier
erreicht, und da, wo alle bürger zugelassen waren, herrschte in wahrheit
nicht das los, sondern der turnus. der zufall schafft keine geschlossenen
majoritäten; der rat, den er bildete, stand dem Areopag, der dem be-
vorrechteten stande gehörte, ganz ungefährlich gegenüber. das ist wol
wahr, daſs der drakontische rat, wenn er ihn denn wirklich erst ge-
schaffen hat, was wir im gefühle unserer unsicherheit gelten lassen
müssen, schlieſslich der rat des Ephialtes geworden ist, der eigentliche
herr Athens: aber so wie ihn Drakon erlosen lieſs, war er noch längst
keine gefahr, eben weil er erlost ward.
Die
volksver-
sammlung.Es kommt hinzu, daſs die volksversammlung eine institution ist,
die Homer allerorten kennt, die selbst in dem verknöcherten Sparta
immer zu recht bestanden hat. in dem berichte über Drakon ist sie fort-
gelassen; die oligarchen von 411 haben sie selbst zu gunsten des rates
beseitigt. ich glaube gar nicht, daſs Drakon das auch getan hat; sie
wird die strategen auch damals gewählt haben und die entscheidung in
den wichtigsten sachen, wie über krieg und frieden, wird man dem
nominellen souverän nicht entzogen haben. aber es ist doch bezeichnend,
daſs sie fortgelassen werden konnte. sie verliert eben an bedeutung, wenn
ein an köpfen so starker rat da ist, und wenn dieser gar neu eingesetzt
wird, ist die beschränkung der versammlungen der gesammtgemeinde
ein ganz notwendiges complement. das konnte den Areopagiten schon
recht sein. wenn sie auch nur murren oder klatschen darf: daſs sie
ihrer zahl sich bewuſst wird, macht schon allein die volksmasse wider
eine herrschende minderzahl aufsässig. es gibt also eine seite der be-
trachtung, von der aus der rat sogar lediglich durch das wolverstandene
oligarchische interesse gefordert erscheint.
Magistrat
und
consilium.Es muſs hier eine allgemein giltige erwägung als ein wichtiger
factor eingesetzt werden. nicht nur in Athen oder den hellenischen
demokratieen, sondern in ziemlich allen staaten heiſst später die eigent-
lich regierende behörde rat, βουλή. darum muſs man sich erst darauf
besinnen, daſs in dieser bezeichnung bei dieser macht ein völliger um-
schwung der verhältnisse ausgesprochen ist, der den namen selbst in das
volle gegenteil seiner bedeutung verkehrt hat. eine behörde, die rat
[91]Magistrat und consilium.
heiſst, ist vom ‘raten’ benannt, muſs also ihrer natur nach eine consul-
tative, keine executive sein. wer rät, des ist das handeln nicht; das
ist vielmehr dessen dem er rät. βουλή ist consilium: in Rom ist das
wort nicht denaturirt, und obwol der senat schlieſslich auch die herr-
schaft erlangt hat, ist das ursprüngliche verhältnis wenigstens in der
republik nie unkenntlich geworden. der weg kann gar kein anderer
gewesen sein, als daſs die berufung des rates zunächst ein freiwilliger
act des executivbeamten war: so beruft der heerkönig Agamemnon seinen
rat; dann ward es herkommen, dann ward es gesetz, schlieſslich ward
der executivbeamte verpflichtet dem rate zu folgen und sank zu einem
organe des rates hinab. in Athen führt der ἄϱχων später seinen namen
wirklich ἀπὸ τοῦ μὴ ἄϱχειν, und wenn der dichter sagt τοῦ δϱῶντός
ἐστι καὶ τὸ βουλεύειν,
so gilt in seinem staate τῆς βουλῆς ἐστι καὶ
τὸ δϱᾶν.
diese macht hat der rat der 500 erst durch Ephialtes erlangt.
wenn wir nun von der zeit reden, die diesen rat erst schuf, so sind
wir verpflichtet ihn nicht als den handelnden, sondern als einen ratenden
rat zu denken.
Die entwickelung der gerichte läuft völlig parallel, in Rom und in
Athen. der könig oder sein rechtsnachfolger hat kraft seines amtes die
findung des urteils, δικάζει. er beruft, zunächst je nach belieben, ein
consilium, ihm das urteil finden zu helfen. dann wird diese berufung
herkommen, νόμος, und dieses herkommen wandelt sich zum gesetze,
νόμος. schlieſslich wird der beirat zum δικαστής, der gerichtsherr
(ἡγεμών) hat nichts zu tun als das urteil zu verkünden. in Athen ist
der könig schon in grauer frühzeit gezwungen worden, sich desselben
consiliums, des rates auf dem Areshügel (der diesen zusatz natürlich
erst erhalten hat, als neben ihm ein anderer rat bestand), für einen
teil der regierungsgeschäfte und für die urteilsfindung in einer reihe
der schwersten rechtsfälle zu bedienen. weil sie sich die autorität nicht
zutraut, allein über Orestes zu richten, beruft Athena die Areopagiten
und setzt den rat ein. so war es seit unvordenklicher zeit geschehn,
als Drakon seine gesetze aufzeichnete. er band, schwerlich aus eigenem
einfall, den könig auch in einer groſsen zahl anderer fälle an den wahr-
spruch von 51 adlichen schöffen. wenige jahre vorher hatte bereits
ein gericht von 300 adlichen über die mörder Kylons das urteil gefällt.
das war ein ausnahmefall.27) aber in dem volke, das dieses gericht con-
[92]I. 4. Drakons verfassung.
stituirte, war der gedanke des geschwornengerichtes offenbar schon voll-
kommen lebendig. wir können gar nicht sagen, ob er die judicatur
der thesmotheten noch selbständig lieſs: jedenfalls war es eine ganz
unvermeidliche consequenz, daſs Solon auch sie verpflichtete, den spruch
eines gerichtes einzuholen; nur in der besetzung dieser richterstellen,
nicht ἀϱιστίνδην sondern ἐξ ἁπάντων, lag der demokratische fort-
schritt. es ist eine gerade linie der entwickelung von jener freiwilligen
selbstbeschränkung Athenas bis zu der demokratie, die Aristoteles die
äuſserste nennt, und in der das volk κύϱιος τῆς ψήφου auch κύϱιος
τῆς πολιτείας ist. als neben den könig der rat auf dem Areshügel
trat, fieng die herrschaft des δῆμος Ἐϱεχϑῆος an. in Athen ist der poli-
tische gedanke wirklich bis in seine äuſserste consequenz verfolgt worden.
Aber die entwickelung hat nicht den verlauf genommen, daſs der
rat der adlichen, der aus den beamten hervorgeht, sich in folge der
änderungen der magistratur mit geändert hätte, sondern es ist neben den
adlichen rat ein demokratischer getreten. der hat später einmal den
adlichen matt gesetzt: das ist unter Ephialtes geschehn. als er zuerst
in die erscheinung trat, war das machtverhältnis natürlich umgekehrt:
so treffen wir es unter Drakon.
Der Areopag rät dem könige: wem rät der untere rat? das ist
die frage, auf die uns diese allgemeine erwägung hinführt. in ihr liegt
der schlüssel des verständnisses. Demosthenes würde um die antwort
nicht verlegen sein: dem volke rät er, dem souverän. das trifft auf die
demosthenische zeit zu; aber man braucht nicht allgemeine erwägungen
anzustellen, um diese antwort als ungeschichtlich abzuweisen. man braucht
nur die Politie des Aristoteles zu lesen. in ihr hat das volk überhaupt
kein eigenes capitel, sondern die volksversammlung erscheint lediglich
in dem amtsbereiche der behörde, die sie beruft und leitet, des rates
oder vielmehr seines vorstandes. die analogie zu dem könige, der den
rat des Areopages, zu den gerichtsherren, die die geschwornengerichte
berufen und leiten, ist noch durchaus bewahrt: an der spitze des rates
und mittelbar des volkes stehen die prytanen (denn von der späten und
unbedeutenden neubildung der proedren sieht man ohne weiteres ab).
der vorsitzende der prytanen, der das siegel des staates und die schlüssel
zu den staatscassen und archiven führt, ist der träger der volkssouveräni-
tät, auf vier und zwanzig stunden. er gibt dem tage den namen, wie
der archon dem jahre.
Die pry-
tanen des naukrari-
schen rates.Die prytanen des Kleisthenischen rates sind ein ausschuſs desselben;
sie gehören ihm selbst an. das will sich der analogie, die wir hier ver-
[93]Die prytanen des naukrarischen rates.
folgen, nicht fügen. das paſst auch zu dem hochvornehmen, dem könige
wenig nachstehenden namen sehr wenig. da tritt nun die drakontische
verfassung ein und schafft mit einem schlage licht. in ihr haben wir
vier prytanen gefunden, offenbar beamte, die vorsitzenden, aber jährigen
vorsitzenden des rates. ihnen also riet dieser rat. sie zu binden, so
wie der Areopag die beamten band, ist der rat geschaffen. die prytanen
sind durch eine ganz besondere härte der rechenschaftsabnahme ge-
bunden: sie müssen eine groſse, dem adel gefährliche macht besessen
haben. der census gilt für sie so wenig wie für ihren rat. was haben
diese plebejischen magistrate, diese tribuni, bedeutet?
Herodotos sagt in der erzählung vom tode Kylons, daſs die pry-
tanen der naukraren damals Athen beherrschten (5, 71). das ist die tra-
dition der Alkmeoniden, der wir den glauben in betreff der schuldfrage
versagen, da die Atthis und Thukydides (der natürlich diese wiedergibt)
den archon Megakles verantwortlich gemacht hat: das gericht über die
Alkmeoniden, das sie schuldig sprach, muſs auch für uns entscheidend
sein.28) aber die allgemeine angabe Herodots muſs so viel gelten, daſs
es prytanen der naukraren gab, und daſs man diesen eine so bedeutende
machtstellung zuschreiben konnte. der drakontische rat stand damals
noch nicht neben den prytanen, wenn man es scharf nehmen darf.
aber die naukraren standen doch neben ihnen: welches verhältnis be-
steht zwischen dem rate und den naukraren?
Der kleisthenische rat ist eine vertretung der demen. die demarchen
sind damals an stelle der naukraren, die demen an die stelle der nau-
krarien getreten. die analogie führt also in der tat darauf, in dem
älteren rate eine vertretung der naukrarien zu suchen. so erscheint der
name prytanen der naukraren für die zeit vor der schaffung des rates
nicht unpassend, wenn der zusatz der naukraren auch ohne zweifel nur
von den gewährsmännern Herodots herrührt, die jene alten mächtigen
prytanen von denen ihrer zeit unterscheiden wollten. von der zusammen-
setzung des solonischen rates wissen wir nichts als die vertretung der
4 phylen: die prytanen Drakons sind 4, entsprechen also den phylen,
so gut wie die prytanencollegien des späteren rates den 10 phylen.
Man sollte meinen, die prytanen gehörten in das prytaneion; man
[94]I. 4. Drakons verfassung.
sollte auch meinen, sie hätten mit der rechtspflege zu tun gehabt, weil
die gerichtskosten πϱυτανεῖα heiſsen. aber im prytaneion sitzt der
archon, der, so viel wir wissen, nicht πϱύτανις geheiſsen hat (was
immerhin sehr nahe liegt); wird gericht im prytaneion gehalten, so er-
scheint dort der könig, und neben ihm die phylenkönige, 4 an der zahl,
so viel wie die prytanen. das ist eine verwirrende mannigfaltigkeit, und
sie gewaltsam zu beseitigen, indem man etwa mit O. Müller phylen-
könige und prytanen gleich setzte, geht wahrhaftig nicht an. es liegt
vielleicht an der spärlichkeit der überlieferung, aber wenn man nur auf
sie blickt und den schwalm der anderen hypothesen fahren läſst, so
kann man doch wol jedem zeugnisse gerecht werden.
Am prytaneion ist später nur ein scheingericht, das der könig mit
den 4 phylenkönigen vornimmt. diese hatten damals noch eine casse
und besorgten opfer; das geben auch die grammatiker an, die ihre wahl
oder losung nach den vier phylen kennen und den ächten adel als er-
fordernis aufstellen. das mochte damals wesenlose form sein: patricisch
war das amt doch geblieben wie der rex sacrificulus.29) aber einstmals
hatten diese könige eine sehr viel bedeutendere judicatur ausgeübt.
Solons dreizehnter axon spricht die amnestie für alle aus, die wegen
blutschuld landflüchtig sind, verurteilt vom Areopag oder den epheten
oder ἐκ πϱυτανείου καταδικασϑέντες ὑπὸ τῶν βασιλέων. dasselbe
steht, oder stand doch, genau so in dem psephisma des Patrokleides
(Andok. 1, 78). und daſs diese könige eben die vier phylenkönige sind,
folgt, von allem andern abgesehn, daraus, daſs ihr eigentliches amtshaus
das βασιλεῖον ist (Poll. 8, 111), das unweit des prytaneions lag. Drakon
selbst bezeugt, daſs die phylenkönige auch über unvorsätzlichen mord
das urteil fällten, aber da waren sie an den wahrspruch von 51 adlichen
schöffen gebunden.30) also sind erst einmal die vier phylenkönige neben
[95]Die prytanen des naukrarischen rates.
den könig von Athen getreten, ungewiſs in welcher ausdehnung der
judicatur; dann sind neben sie am Palladion, wol auch am Delphinion,
die epheten gestellt, die schlieſslich von heliasten ersetzt werden; da
lieſs man an den wirklichen gerichten die phylenkönige fort und behielt
sie nur am prytaneion, wo nur noch ein scheingericht war. aber daſs
die suche nach einem unbekannten mörder und die ermittelung eines
zufälligen unglücksfalls, der ein menschenleben gekostet hat, notwendiger
weise ein leeres scheingericht wäre, kann man nicht behaupten. in diesen
fällen schreitet nur vielmehr die polizei ein als der bluträcher und
der richter. dies vor Solon sehr stark praktisch eingreifende gericht der
phylenkönige ist im prytaneion: da sitzt der archon; die polizeibehörde
sind später die prytanen. so wenig klar man auch sieht: dieses gericht,
dieses amtslocal, die stellung der prytanen des Herodotos und derer des
Drakon sind wahrlich nicht unvereinbar und weisen in eine richtung.
Es läſst sich das viel anschaulicher dogmatisch darlegen als in der
form der untersuchung, durch die es gefunden ist.
Dem geschlechterstaate als ganzem entspricht das haupt des herrschenden
geschlechtes, der könig. der geschlechterstaat ist einmal in die vier adels-
stämme gegliedert worden: ihnen entsprechen die vier phylenkönige, die
neben dem könige von Athen stehen. der adel beseitigt die praerogative des
herrschenden geschlechtes, setzt neben den nicht mehr regierenden könig
den ‘regierenden beamten’, hat wol schon vorher den könig an das
consilium des adelsrates gebunden. die sacralen, und so weit sie sacral
sind, die richterlichen functionen bleiben dem könige, und mit ihm den
vier königen, allein es wird ihnen das consilium des rates und der
schöffen zur seite gestellt. das ist die eine reihe der entwickelung; in
ihr ist noch alles patricisch. nun drängt sich aber neben der gentili-
cischen die locale ordnung unabweislich auf. denn ein seſshaftes volk
kann auf die dauer einer localen verwaltung nicht entbehren, für das
aufbringen der steuer, für die aushebung, [für] die unterhaltung der
schiffe, für die frohnden. dabei dringen die plebejer ein, die an dem
allen teil haben. das tributum fordert erst die tribus, dann die tri-
buni. gewiſs sind im heerbanne der Athener auch einmal die männer
und clienten eines geschlechtes vereinigt zusammengetreten mit den
männern und clienten der übrigen geschlechter dieser bruderschaft, und
30)
[96]I. 4. Drakons verfassung.
dann die bruderschaften zum stamme, ὡς φϱήτϱη φϱήτϱηφιν ἀϱήϱη,
φῦλα δὲ φύλοις. aber mit der zeit ward diese ordnung unbrauchbar.
nicht die Kynniden hatten interesse an einem fahrwege vom cap Zoster
nach der stadt, sondern die bewohner von Lamptra und Aixone. nicht
die nachkommen des Thymoites waren geeignet einen dreiſsigruderer zu
bemannen, sondern die bewohner des dorfes der Thymaitaden, wes ge-
schlechtes sie auch sein mochten. deshalb schuf man die organisation
der naukrarien, wie der name sagt31), zunächst für die flotte, wie sie
denn auch noch über Kleisthenes hinaus für die flotte geltung behalten
haben.32) aber die chronik sagt, daſs die naukrarien überhaupt für das
steuerwesen da waren und eine casse hatten. an der spitze der nau-
krarie, die also der römischen ortstribus entspricht, stehen die naukraren:
das ist die ortsbehörde. die 48 naukrarien sind, wie es eben gieng, in
die vier phylen eingeordnet. es fehlt die staatliche behörde, die ihre
gesammtheit zusammenhält: diese lücke füllen die vier prytanen, die
tribuni. sie verhalten sich zu den vier phylenkönigen wie der archon
zum könige, aber sie sind nicht mehr patricische beamte. das organ, welches
die frohnden und steuern verteilt und einzieht, ist wol geeignet, eine
starke effective macht zu erlangen. die prytanen, die mit dem ναυκϱαϱικὸν
ἀϱγύϱιον zu tun haben, forderten allerdings eine scharfe überwachung
bei der rechenschaftsabnahme heraus. und wenn der könig und der
archon an den rat auf dem Areshügel gebunden war, so war es ein con-
sequenter schritt, den prytanen eine vertretung der naukrarien in einem
rate zur seite zu stellen. das war ganz eben so gut eine die tribune
bindende wie die aspirationen der plebs befriedigende maſsregel. die
fortentwickelung ist gewesen, daſs die prytanen in den rat selbst aufgiengen.
dieser erhielt selbst die macht; die plebejische magistratur war unnötig,
da der ständische gegensatz doch schon durch Drakon ein gegensatz
des census geworden war, zumal die beamten immer mehr an das volks-
gericht gefesselt wurden. die prytanen können noch nach Solon als
magistrate bestanden haben; er kann sie auch beseitigt haben: das wissen
wir nicht. was sie zu Drakons zeit sein mochten, und wie er dazu ge-
[97]Die prytanen des naukrarischen rates.
kommen ist, einen rat zu bilden, ist zwar nicht mit sicherheit zu sagen,
aber eine vorstellung läſst sich sehr wohl davon gewinnen, nicht zum
wenigsten ist die neue kunde deshalb wertvoll, weil sie nicht völlig ver-
ständlich ist.
Frage über frage drängt sich auf, wenn man den blick auf die alte
zeit heftet. gab es versammlungen des adels neben denen des volkes?
versammlungen etwa auch, an der die freie, aber von steuern aus-
geschlossene bevölkerung, die theten, teil nahmen? wer leitete diese
oder jene versammlungen? wer selbst die solonischen? aber wir dürfen
das noch gar nicht fragen, wir werden nur dazu verleitet, weil wir dank
den noch so kärglichen mitteilungen über Drakons verfassung hier und
da ein licht in dem dunkel aufleuchten sehen, in dem die phantasmen
aegyptischer kasten, ober-eten und was nicht alles für nachtgevögel
schwirrte. die verfolgung der rechtlichen gedanken wird von der ein-
sicht in das spätere staatsrecht aus gewiſs noch manches erhellen. aber
die erinnerung an die ereignisse und die persönlichkeiten ist nun einmal
verloren. wir vermögen nicht abzugrenzen, was Drakon neu schuf, was
er nur als geltendes recht aufzeichnete, noch in wie weit er persönlich
der herrschenden plutokratie oder dem andringenden demos zu dienen
bestrebt war. die zeit vor Solon erkennen wir in Drakons gesetzen, und
wenn es auch äuſserst wertvoll ist, zu sehen, wie vieles von dem, was uns
solonisch war, schon im siebenten jahrhundert angestrebt worden ist, so
trifft doch die aristotelische kritik den nagel auf den kopf. ‘die schuld-
knechtschaft blieb und das land blieb in den händen weniger.’ mit
stilistisch wie sachlich gleich groſser berechtigung wiederholt Aristoteles
nach dieser verfassung dieselbe vernichtende kritik, die er vorher von den
socialen zuständen gegeben hatte. erst wer diese reformirte war der
neugründer des attischen staates. das war Solon, zugleich die erste in-
dividuell kenntliche person. von Drakon glaubte Aristoteles wenigstens
die zeit zu wissen, doch auch das nicht ganz sicher. wir wissen sie
nicht.33)
Ergebnis.Die attische chronik hatte den Drakon fast ganz vergessen, so weit
nicht seine gesetze in die Solons aufgenommen waren, wo einzelne als solche
bezeichnet waren. sie gab nur eine skizze der urverfassung des Theseus
und später der solonischen, die sie entsprechend ihrer demokratischen
tendenz im grunde mit der bestehenden gleich setzte. Drakon traf der
haſs, weil sein name sich mit dem vorsolonischen zustande verbunden
hatte. diese unzulänglichkeit und ungenauigkeit hat Aristoteles durch-
schaut, ihr hat er nach kräften abgeholfen, indem er einen bericht über
Drakons verfassung einsetzte, den er bei den oligarchen von 411 ge-
funden hatte. die kreise des Antiphon und Theramenes hatten ein ge-
schichtliches und praktisches interesse an der zeit, da Athen noch nicht
demokratisch war, und damals, wo man bei der codification des rechts
auf die alten gesetzestafeln zurückgriff, verfügte man auch noch über
einige, für unsere wünsche freilich längst nicht genügende kenntnis
der alten satzungen. wir sind beiden, dem Aristoteles wie seinen ge-
währsmännern, zu lebhaftestem danke verpflichtet. und wenn sie uns
hier dazu verhelfen, die demokratischen fabeln von den blutgeschriebenen
drakontischen gesetzen durch ächte überlieferung zu ersetzen, so wollen
wir das in die wagschale werfen, wenn wir sie ihrerseits bei der ver-
breitung und erfindung übler geschichten betreffen werden, die wider
die demokratie gerichtet sind. denn über die am anfange des capitels
aufgeworfene frage, ob diese drakontische verfassung nicht selbst eine
oligarchische erfindung wäre, brauche ich für den leser, der bis hierher
gefolgt ist, kein wort mehr zu verlieren.
Den Thukydides nennt die Politie nirgend. ich hatte schon früher
darauf hingewiesen, daſs die übrigen schriften des Aristoteles ebenso-
wenig wie die des Platon oder Isokrates oder Demosthenes eine spur
seiner benutzung zeigen, von der viel gefabelt worden ist und trotz dem
augenschein gefabelt wird.1) hier ist er allerdings benutzt, aber in einer
art, welche über die stimmung des Aristoteles ihm gegenüber keinen
zweifel läſst.
Nacherzählt ist ihm der sturz der 400 (cap. 33), zuweilen mit wört-Die
geschichte
der 400.
lichem anklang, natürlich unter wahrung der schriftstellerischen selbst-
ständigkeit2), und wenn in einigen punkten das politische urteil des
7*
[100]I. 5. Thukydides.
Thukydides wiederkehrt, wie namentlich über die ephemere verfassung,
die unmittelbar nach dem sturze der 400 eingeführt ward, aber nicht
einmal bis zum ende des jahres (unter Theopompos, september 411 bis
juni 410) in kraft blieb, und deshalb von Aristoteles in der zahl der
verfassungen nicht mitgerechnet wird, so ist das nicht eine entlehnung,
sondern eine bekräftigung dieses urteils. denn in den wichtigsten
stücken ist Aristoteles ganz anderer meinung. Theramenes und Aristo-
krates3) sind beide für Aristoteles überzeugte anhänger der neuen ver-
fassung und ächte patrioten, während Thukydides (8, 89) ihre verfas-
sungstreue nur für einen deckmantel persönlicher absichten hielt. die
aufzählung der geistigen urheber und leiter der bewegung, Peisandros
Antiphon Theramenes (32, 2), ist allerdings im anschlusse an Thuky-
dides (8, 68) gegeben, so daſs selbst die reihenfolge dieselbe ist. aber
Phrynichos ist unter ihnen ausgelassen, obwol er nicht nur an dieser
stelle bei Thukydides steht, sondern jeder seiner leser eine hauptursache
für den sturz der 400 in der ermordung des rücksichtslosesten führers
finden muſs.4)
Wie überall ist von Aristoteles die genaue zeitbestimmung gegeben,
aber nirgend ist sie so genau wie hier. am 14 Thargelion des Kallias
trat der alte rat ab, am 22 der neue an, der sich vier monate hielt,
von denen zwei in das neue jahr fielen, das später nach Theopompos
hieſs. also anfang Boedromion hat die versammlung statt gefunden, von
der Thukydides 8, 97 erzählt, ende Metageitnion fiel Euboia nach der
schlacht bei Eretria ab. das ist eine sehr wesentliche verschiebung
gegenüber der herrschenden ansicht, die den 400 reichliche vier monate,
vom Elaphebolion des Kallias bis in den Hekatombaion des Theopompos
gab und geben muſste. denn sie war genötigt, dem Thukydides wesent-
lich zu folgen. darin liegt schon, daſs Aristoteles veranlassung hatte,
ihn zu berichtigen.
Ferner fügt Aristoteles die friedensbedingungen hinzu, die von den
400 den Lakedaimoniern gemacht wurden. das sind nicht die der letzten
gesandtschaft, die mit fug und recht als landesverrat angesehen und von
Antiphon und Archeptolemos mit dem tode gebüſst sind (Thuk. 8, 90. 91),
sondern die welche dem Agis gemacht wurden (Th. 71) und von Laispodias
und genossen nach Sparta überbracht werden sollten (Th. 86). man
vermiſst ihre mitteilung bei Thukydides; er hat sie eben selbst nicht zu-
verlässig erfahren. Aristoteles war also in der lage, ihn zu ergänzen.
Die revolution der 400 selbst erzählt Aristoteles eigentlich nicht,
sondern er gibt eine anzahl actenstücke, nur ein wenig verkürzt und
stilistisch umgeformt und durch kurze übergänge verbunden. nach einer
kurzen einleitung über die motive, die das volk zur annahme der oli-
garchie bewogen, unter denen ebenso wie in der Politik5) die rücksicht
auf Persien als das wichtigste bezeichnet wird, während über den von
Thukydides so nachdrücklich hervorgehobenen terrorismus der clubbisten
kein wort fällt, folgt der erste beschluſs (A), der auf antrag des Pytho-
doros gefaſst ward, obwol die empfehlende rede vor dem volke Melobios
4)
[102]I. 5. Thukydides.
gehalten hatte. er besteht aus dem eigentlichen antrage (a), dahin gehend,
daſs das bereits bestehende collegium der 10 probulen (über das Aristo-
teles hier nichts bemerkt hat)6) zu einem von 30 συγγϱαφῆς ergänzt
werden solle, mit der instruction, anträge πεϱὶ τῆς σωτηϱίας zu for-
muliren7), und einem amendement (b), das Aristoteles einer nicht unan-
fechtbaren kritik unterzieht.8) es folgen die anträge dieser 30 συλλϱα-
φῆς (B), der erste zur geschäftsordnung, dahin gehend, die annahme
des zweiten materiellen zu erzwingen (a), der zweite, den ersatz des
volkes durch die 5000 an leib und gut leistungsfähigsten und die wahl
von 100 vertrauensmännern9) durch die phylen, die dann die 5000 zu
[103]Die geschichte der 400.
nominiren hätten, beantragend (b). dann muſs man sich ergänzen, daſs
die wahl der 100 und durch diese die constituirung der 5000 statt fand,
diese wiederum eine commission von 100 erwählten, welche eine ver-
fassung auszuarbeiten hatten: man ersieht nicht, daſs Aristoteles hier-
über mehr gewuſst hätte, als was am kopfe des dritten actenstückes ge-
standen haben muſs, τάδε οἱ ἑκατὸν οἱ ὑπὸ τῶν πεντακισχιλίων
αἱϱεϑέντες ἀνέγϱαψαν. denn dies wichtigste aktenstück (C) gibt einen
verfassungsentwurf für die zukunft (a), und eine provisorische verfassung,
eben die des rates der 400 und der 10 bevollmächtigten strategen (b).
formell ist auch dieses ein beschluſs des ganzen volkes, denn nur so
kann man πλῆϑος verstehn (32, 1), und der prytan, der es zur abstim-
mung brachte, wird genannt, obwol er geschichtlich eine ganz indiffe-
rente person ist.
Wenn man das zuerst liest, kann man glauben, Aristoteles hätte
im archiv diese kostbaren documente gefunden und freute sich, sie zu
veröffentlichen, damit sie rein durch sich wirkten. eine vergleichung
der thukydideischen erzählung wird lehren, daſs er vielmehr sich daran
freut, mit den unanfechtbaren actenstücken jene erzählung zu berichtigen.
Thukydides redet von einer ersten volksversammlung, die gehalten
wird, als Peisandros in Athen angekommen ist, und in der 10 συγγϱα-
φῆς αὐτοκϱάτοϱες gewählt werden, mit der instruction, auf einen be-
stimmten tag einen antrag vorzulegen καϑ̕ ὅ τι ἄϱιστα ἡ πόλις οἰκή-
σεται. dem müſste der beschluſs A entsprechen. aber er gibt eine
andere zahl von συγγϱαφῆς, sie sind auch nicht αὐτοκϱάτοϱες10), es
ist ihnen auch keine frist gesetzt, und ihre instruction geht auf die
σωτηϱία: wie sie denn als erste sehr verständige maſsregel beantragen,
alle gelder ausschlieſslich für kriegszwecke zu verwenden. an dem fest-
gesetzten termine, so erzählt Thukydides weiter, ist versammlung auf
dem Kolonos. die συγγϱαφῆς bringen nur den antrag ein, daſs jeder-
mann ungestraft jeden antrag stellen dürfte: das ist eine sehr ungenaue
wiedergabe von Ba. darauf erhebt sich Peisandros, kommt mit seinen
anträgen vor, alle ämter müſsten geändert werden, alle besoldungen ab-
geschafft und 5 πϱόεδϱοι erwählt, die 100 männer wählen, und von
denen wieder jeder 3 cooptiren sollte: diese 400 sollten als rat αὐτο-
κϱάτοϱες regieren und nach belieben die 5000 berufen. darin erkennt
man kaum noch Bb, die fünf πϱόεδϱοι gibt es gar nicht, die wahl der 100
ist eine ganz andere, von den 400 jetzt noch gar keine rede, vielmehr
sind die 5000 erst jetzt im princip eingesetzt und über ihre auswahl
[104]I. 5. Thukydides.
beschlossen worden. es sind also zum teil anklänge an Cb darin, aber
nicht an das actenstück, nur an die durch dasselbe geschaffenen ämter
und competenzen.11) endlich hat Peisandros keineswegs den antrag ge-
stellt, mag er auch unter den συγγϱαφῆς gewesen sein: gestellt ist er
als γνώμη ξυγγϱαφέων, und diese form ist uns ja jetzt durch die in-
schriften12), und zwar keineswegs als eine antidemokratische geläufig. und
damit man nicht etwa den einfluſs des Peisandros in der ersten ver-
sammlung suche, hat Aristoteles nicht nur den eigentlichen antragsteller
Pythodoros, sondern auch den redner in jener versammlung Melobios
namhaft gemacht. ohne zweifel ist der verfassungsentwurf Ca für Ari-
stoteles geschichtlich und theoretisch vom höchsten werte gewesen, wie
er es für uns ist, und vornehmlich darum hat er ihn mitgeteilt: aber
er dient auch der absicht, der wir die mitteilung der übrigen stücke wol
allein verdanken, der berichtigung des Thukydides. das tut auch die kurze
feststellung der tatsache, daſs der alte rat acht tage früher ruhig zurück-
getreten war, als die 400 antraten. Thukydides (8, 69. 70) schildert höchst
anschaulich, wie die 400 mit dolchen unter dem mantel und einer be-
waffneten schar von hilfstruppen und einer bande, die sie zu gewalt-
streichen organisirt hatten, das rathaus umzingeln, während die wehr-
hafte bürgerschaft auf den mauern oder sonst auf vorposten abwesend
ist, wie sie den also eingeschüchterten rat zur abdankung zwingen und
selbst die geschäfte übernehmen. freilich ein anderes bild: wer es im
gedächtnis hat, spürt in der kühlen tatsächlichkeit der aristotelischen
darstellung den bewuſsten gegensatz, und die schweigende berichtigung
ist auch hier eine schneidendere kritik als laute polemik es sein könnte.
Was sollen wir nun aber mit Thukydides anfangen? wo kommen
wir hin, wenn seine zuverlässigkeit so schlecht sich bewährt? da heiſst
es kaltes blut behalten. zunächst die schlimmsten chronologischen fehler
hat nicht er gemacht, sondern wir modernen, die wir einerseits
dem Thukydides folgend den sturz des demos möglichst nahe an den
frühling rücken muſsten13), andererseits die viermonatliche dauer der
[105]Die geschichte der 400.
oligarchie nicht dem Thukydides, sondern einem citate der aristotelischen
Politie entnahmen (Harpokration τετϱακόσιοι), und doch ihre dauer bis
über den jahreswechsel erstrecken muſsten (Diodor XIII 36. 38). nun
stellt sich heraus, daſs Aristoteles und Thukydides den anfang der oli-
garchie verschieden angesetzt haben, Aristoteles auf den sturz des rates,
Thukydides auf die sitzung, in der der beschluſs B gefaſst ward. zwischen
beiden liegt kein ganz kurzer zeitraum, da mittlerweile die 5000 ge-
wählt und zusammengetreten sind, und die von ihnen ernannte commis-
sion die verfassung ausgearbeitet hat, diese angenommen ist und dann
erst die 400 gewählt sind.14) ganz wird man damit freilich kaum den
widerspruch beseitigen. aber die zuverlässigkeit der informationen, über
die Thukydides hier verfügt, ist auch wahrlich nicht so groſs, daſs wir
uns auf den synchronismus verlassen müſsten, den er 8, 63 gibt, und
den sturz des demos, selbst die versammlung auf dem Kolonos darunter
verstanden, vor die auffahrt der Peloponnesier vor Samos ansetzen. daſs
die Athener die schlacht nicht annahmen, wird mit ihrem gegenseitigen
argwohne motivirt. das müssen wir glauben; ob aber die demokratie zu
hause wirklich schon gestürzt war, oder ob sie das nur glaubten oder
fürchteten, das darf billig dahingestellt bleiben, zumal dem wirklichen
sturze eine zeit der schwülen spannung und der sehr berechtigten er-
wartung dieses ereignisses vorhergieng. zur zeit läſst sich, so viel ich
sehe, bei den schwankenden auf die jahreszeiten (nicht die jahrpunkte,
wie chronologen träumen) und vieldeutige μετὰ ταῦτα gebauten rela-
tiven bestimmungen des Thukydides hier eine sicherheit nicht erzielen.
nur eins halte ich für sicher: an den Dionysien des Kallias aus Skambonidai,
mitte Elaphebolion 411, befand sich die attische bürgerschaft noch in
dem zustande der bangen erwartung vor einem attentate gegen die ver-
fassung und allerhand verräterei: die stimmung der Thesmophoriazusen
ist dieselbe wie sie Thukydides 8, 65. 66 schildert.15) anfang Munichion
wird der rat auf andrängen der probulen die sitzung πεϱὶ σωτηϱίας
13)
[106]I. 5. Thukydides.
angesetzt haben, doch wol erst als die bedrohung der hellespontischen
provinz durch Derkylidas bekannt geworden war, und damit brach der
sturm los. vier wochen darauf sind die 400 gewählt worden.
Thukydides hat die protokolle der sitzungen nicht gekannt, obwol
er von ihrem verlaufe und ihren beschlüssen eine gewisse kenntnis
hatte. er hat seinen berichterstattern sehr viel mehr glauben ge-
schenkt als sie verdienten. daran müssen wir uns ein exempel nehmen,
denn dasselbe dürfte noch öfter passirt sein. aber weder an der
wahrheitsliebe noch an der urteilskraft des Thukydides dürfen wir
zweifeln. wir wissen ja, daſs er danach gestrebt hat, sich die acten zu
verschaffen, und ich kann den nachweis liefern, daſs er eine skizze des
ionischen krieges schon geschrieben hatte, ehe er die verträge mit Persien
und durch sie und mit ihnen neues material erhielt (allerdings nicht von
Alkibiades) und wenigstens zum teil verwertete. für die 400 hat er
einen bericht benutzt, den er selbst nennt, und den wir leider ent-
behren, obwol er bis in das spätere altertum vorhanden war, die ver-
teidigungsrede des Antiphon. wenn die hauptschuld an der anzettelung der
ganzen revolution auf Peisandros geschoben und dem Theramenes und
genossen unlautere motive zugeschrieben werden, so mag dafür Antiphon
bestimmend gewesen sein; das urteil des radicalen oligarchen gerade über
Theramenes stimmte notwendig zu dem der radicalen demokratie. aber
Thukydides verschleiert nicht, daſs Antiphon doch wol des hochverrates
schuldig gewesen ist. einen andern gewährsmann hat Thukydides gehabt,
der über Phrynichos sehr genau bescheid wuſste und zwar schon über
sein verhalten im feldzuge 412. der gewissenlose mensch, von dessen
fähigkeiten nicht seine leistungen, sondern nur die versicherungen des
Thukydides einen vorteilhaften eindruck machen, der bauernsohn aus
dem obersten winkel des Potamostales, der ein par monate lang versucht
hat Alkibiades zu spielen, steht bei Thukydides seltsamerweise im vorder-
grunde. endlich hat der historiker gewiſs nicht einen sondern viele be-
richte über die revolution in der stadt erhalten und verarbeitet: wir
empfinden die stimmungen der bürgerschaft mit, wie sie patriotisch genug
denkt, um für die rettung des staates auch das opfer der verfassung zu
bringen, wie sie aber auch ahnt, daſs ihr von denen am meisten ge-
fahren drohen, die sich zu rettern aufwerfen, wie sie schlieſslich jedes-
mal, wenn der landesfeind sich zeigt, gegen diesen sich zusammenschlieſst,
und der äuſsere erfolg oder miſserfolg über die innere politik ent-
scheidet. wir vernehmen auch einiges von dem treiben der revolutio-
näre, wie sie im geheimen planen, wie sie stimmung machen durch lügen
[107]Die geschichte der 400.
und schwindel, noch mehr durch das anwerben von banden und einzeln
durch kühne verbrechen. es kommt wirklich nicht viel darauf an, ob
jede einzelheit für sich richtig erzählt ist: das gesammtbild ist darum
nicht falsch, und wird es auch nicht durch die berichtigungen des Ari-
stoteles die officielle actenmäſsige darstellung wird freilich correcter sein
als jede noch so gewissenhaft auf erzählungen von augenzeugen und ferner
oder näher stehenden teilnehmern einer revolution beruhende. aber was
in solcher zeit wirklich geschieht, ist wahrlich nicht mit dem erschöpft
was in die acten kommt. Thukydides nun, verbannt seit jahren,
selbst nur von den letzten wellenkreisen berührt, welche die athenische
revolution hervorrief, angewiesen vornehmlich auf berichte aus feindlichem
lager oder von ausgestoſsenen wie er selbst einer war 16), hat seine ge-
schichtliche aufgabe nicht leicht gehabt, aber er hat sie auch nicht leicht
genommen. Aristoteles hat ihn berichtigt; er mag auch objectiv im
rechte gewesen sein, wenn er über die charaktere der handelnden per-
sonen anders urteilt: aber die geflissentliche constatirung der acten-
mäſsigen wahrheit und die für den aufmerksamen leser, der auch den
ton der berichtigung hört, offenkundige polemik verrät, daſs es ihm wol
tat, den Thukydides als unzureichend informirt zu überführen, und daſs es
ihm deshalb wol tat, weil er vor sich und andern damit die berechtigung
erwiesen zu haben glaubte, nicht nur einzelne personen, sondern die
ganze attische geschichte und ihre ideale anders zu beurteilen als es
Thukydides getan hat.
Wo aber hat Aristoteles die actenstücke her? zunächst wird wol
jeder geglaubt haben, daſs er sie im archiv gefunden hätte. denn daſs
der verfasser der διδασκαλίαι, νῖκαι, νόμοι die archive benutzt hat
(ob selbst oder durch amanuenses, verschlägt nichts), glaube ich auch
jetzt noch. auch hat er den verfassungsentwurf Ca ohne zweifel wesent-
lich wegen seiner eminenten wichtigkeit für die politische theorie mit-
[108]I. 5. Thukydides.
geteilt; obwol er ihn weder hier erläutert, noch in der Politik berück-
sichtigt. die actenstücke selbst entstammen den protokollen der volks-
versammlungen, wie die nennung des ἐπιψηφίζων Ἀϱιστόμαχος für C
beweist. und auch wo der tenor etwas verändert ist, findet jeder den
ächten stil der urkunde. es fehlt auch manches was man gern wüſste,
aber in den protokollen freilich niemand finden konnte, namentlich die
ganze verbindung zwischen B und C. nichtsdestoweniger würde man
irren, wenn man meinen wollte, daſs ausschlieſslich die urkunden dem
Aristoteles vorgelegen hätten. schon den bericht über die beseitigung
des alten rates mit den genauen tagesdaten, und die oben erwähnten
friedensbedingungen, aber auch die person dessen, der in der ersten volks-
versammlung die entscheidende rede hielt, ohne doch als antragsteller in
das protokoll zu kommen, konnten die acten schwerlich liefern. das
führt auf einen vermittler. daſs die chronik, der der archon Mnesilochos
ohne frage entstammt, neben Thukydides eingesehen ist, versteht sich von
selbst. ob sie solche actenstücke auch geliefert hat, mag unsicher bleiben:
wahrscheinlich kann man es nicht nennen. man bedenke aber, daſs
Aristoteles auch für das, was er verwirft, nicht ohne geschichtliche über-
lieferung sein konnte. 17) wenn er den Phrynichos beseitigt, den Thera-
menes so ganz anders als Thukydides beurteilt, so tut er das im gegen-
satze zu Thukydides, und das konnte ihm die chronik, so weit sie chronik
war, sicherlich nicht liefern, und die politische tendenz läuft ihrer demo-
kratischen loyalität schnurstraks zuwider. politisches und persönliches
urteil setzt eine überlieferung durch politisch urteilsfähige und urteilende
gewährsmänner voraus: die qualität dieses berichtes zeugt für einen
zeitgenossen, die tendenz gebietet, ihn in der partei des Aristokrates
und Theramenes zu suchen, die mitteilung der documente verleiht ihm
die höchste wichtigkeit.
Die Peisi-
stratiden.Eingesehen hat Aristoteles den Thukydides auch in der erzählung
vom tode des Hipparchos, obwol er ihn nicht nur nicht nennt und
einen ganz anderen bericht gibt, sondern seine berichtigung scheinbar
nur gegen einen nebenumstand und an eine allgemeine adresse richtet.
es macht das aber die kritik nur schneidender, wenn ein schriftsteller
gerade in dem, was er mit starkem selbstbewuſstsein als seine bessere
weisheit im gegensatze zu der öffentlichen meinung vorträgt, durch ein ὁ
λεγόμενος λόγος οὐκ ἀληϑής ἐστιν abgefertigt wird.
Thukydides erzählt, daſs Hippias gleich nach dem morde seines
bruders die gewappnet zur procession erschienenen bürger die waffen
ablegen lieſs und dann die bei denen sich ein dolch fand verhaftete. das
widerlegt Aristoteles schlagend damit, daſs die procession von bürgern
mit schild und speer eine demokratische neuerung war, was aus den acten
des festes sicher gestellt werden konnte, die der verfasser der lyrischen
didaskalien gekannt hat.18) scheinbar trifft das nur einen nebenpunkt;
die körperliche durchsuchung und die verhaftung der verdächtigen
könnte trotzdem richtig sein. nun ist es aber gewiſs eine gesunde
kritik, von zwei versionen diejenige zu verwerfen, in der ein offen-
kundiger anachronismus steckt, und es ist sehr wol glaublich, daſs
Aristoteles mit diesem prüfstein die unzuverlässigkeit des thukydideischen
berichtes gegenüber einem andern, der ihm vorlag, erkannt hat, oder
doch anerkannt, wenn der irrtum früher gerügt war. aber allerdings
legt Thukydides so groſsen wert gerade auf die behauptung, daſs die
procession bewaffnet war19), daſs es seine kritik in schlimmem lichte
erscheinen läſst, wenn er sich hierin irrt, und dann sind die con-
sequenzen gröſsere, als Aristoteles direct hervorhebt. nach Thukydides
ist die tat auf dieses fest mit der berechnung verlegt, daſs dann bewaffnete
[110]I. 5. Thukydides.
den mördern zu hilfe kommen konnten. das fällt also weg. nach seinem
berichte erscheint es so, als wäre die zurückweisung der schwester des
Harmodios von der procession der korbträgerinnen längere zeit vor den
Panathenaeen erfolgt, und wäre dann der anschlag von langer hand vor-
bereitet. nach Aristoteles geht es schlag auf schlag, und die korbtragen-
den mädchen gehn ja auch in derselben procession wie die bürger.
die beleidigung und die rache folgen so fast unmittelbar auf einander,
die geschichte wird in sich geschlossener, wahrscheinlicher, aber noch
mehr als bei Thukydides erhält sie den character des plötzlichen und
persönlichen. dafür wächst ihre politische bedeutung, da es in der tat
auf eine revolution abgesehen war, nicht auf den austrag eines ehren-
handels. war doch der beleidiger keiner der tyrannen, sondern nur ein
bastardbruder von ihnen, und der getötete zwar ein harmloser mann,
der wenig gebrauch von dem anrecht auf die herrschaft machte, aber
immerhin als ächter bruder des Hippias dem rechte nach sein mitregent:
Aristoteles rechnet durchaus mit der herrschaft der Peisistratiden, nicht
mit der des Hippias. und da die tollkühne tat der tyrannenmörder die
stimmung des Hippias wider die Athener und andererseits die der Athener
wider sein haus änderte, haben Harmodios und Aristogeiton den un-
geheuren und einzigen ruhm, Athen befreit zu haben, zwar ohne eignes
verdienst erhalten, aber den anstoſs zum sturze der tyrannis haben sie
allerdings gegeben, wie das die allgemeine ansicht des altertums gewesen
und geblieben ist trotz Thukydides, und wie es Aristoteles bekanntlich in
der Politik (E 10, 1312a) ausspricht, ganz im einklang mit der Politie
und mit Platon (Symp. 182c).
Für uns war die stärkste überraschung, daſs der liebhaber des Har-
modios nicht Hipparchos sondern Thessalos gewesen ist, denn dem auszuge
des Herakleides, in dem es schon stand, hatten wir das wirklich nicht
glauben können. da sich im gedächtnis der menschen gar zu leicht die
wirklichkeit so verschieben konnte, daſs der getötete auch der schuldige ward,
so werden wir dem Aristoteles unbedingt glauben, zumal sich Thukydides
nur auf mündliche, wenn auch von ihm besonders geschätzte, überlieferung
beruft (6, 55). aber es muſs die ganze familiengeschichte des Peisistratos
nunmehr nachgeprüft werden. offenbar ist sich Aristoteles bewuſst, viel-
fachen irrtümern gegenüber die wahrheit zu sagen, wenn er angibt, daſs
nur Hippias und Hipparchos eheliche söhne waren, auſserdem aber noch
zwei bastarde vorhanden waren, aus einer ehe mit Timonassa aus Argos,
über deren abkunft und vorgeschichte er sich sehr präcis äuſsert. daſs
die mutter der späteren tyrannen γαμετή heiſst, und doch ἔγημεν ἐξ
[111]Die Peisistratiden.
Ἄϱγους Τιμώνασσαν folgt, ist kein widerspruch.19 a) denn rechtlich waren
die söhne νόϑοι, wie auch Herodotos einen von ihnen nennt. Peisi-
stratos hat sogar neben der Timonassa die tochter des Megakles20) ge-
heiratet. es ergibt sich das daraus, daſs in der schlacht bei Pallene (541)
ein sohn der Timonassa ein hilfscorps aus Argos holt. das beweist erstens,
daſs dieser sohn geboren war, ehe der vater zur dritten ehe schritt, wie
ja die gewährsmänner des Aristoteles nur schwanken, ob Timonassa während
der ersten tyrannis oder der ersten verbannung des Peisistratos geheiratet
ward, jedenfalls 560—57. andererseits war es zu keinem bruche mit den ver-
wandten in Argos gekommen, also ist auch keine scheidung von Timo-
nassa erfolgt. im gegenteil. die abneigung des Peisistratos gegen die
aufgenötigte ehe mit einer Athenerin, vollends gegen die erzeugung
weiterer ehelicher söhne, erscheint durch die ehe zur linken hand mit
Timonassa trefflich motivirt. sehr wol verstanden hat das wer auch
immer den Peisistratos seine ehe mit Timonassa gegenüber den bereits
herangewachsenen söhnen Hippias und Hipparchos motiviren läſst “er
wünsche solche söhne für sich und solche bürger für sein vaterland
mehr zu haben” (Plut. Cat. mai. 24), denn er wollte zu der herodoteischen
geschichte, der abneigung gegen mehr söhne, ein pendant liefern, da er
wuſste, daſs es mehr gegeben hatte, und er kannte genau die zahl und
[112]I. 5. Thukydides.
die namen der söhne und ihr altersverhältnis, wie es bei Aristoteles steht.
er kann also aus Aristoteles geschöpft haben, z. b. wenn es ein philo-
soph war, und bei Plutarch ist ja, wenn er aus dem gedächtnis anführt,
an einen solchen in erster linie zu denken. natürlich kann die angabe
eben so gut auf die quellen des Aristoteles zurückgehn.
Erwachsen waren die beiden ehelichen söhne um 555, der alters-
unterschied wird von Aristoteles für den damals eben gezeugten Thes-
salos ausdrücklich als sehr beträchtlich angegeben. aber Hippias soll
490 im heere des Datis gewesen sein: wenn er es war, war er ein
achtziger. ich gestehe, daſs ich nicht erst jetzt die ganze geschichte bei
Herodot für sage gehalten habe. Hippias träumt den tyrannentraum21)
μητϱὶ μείγνυσϑαι, der sich in wunderbarer weise erfüllt (Her. VI 107):
das ist fabel; und er rät den Persern, bei Marathon zu landen, weil die
ebene für ihre reiterei vorteilhaft sei (Her. 102). das ist noch viel mehr
fabel. denn die unerträgliche debatte über diese schlacht kommt nicht zur
ruhe, so lange die völlig fabelhafte Persische reiterei nicht in ihr reich
zurückverwiesen ist. diese reiterei erscheint lediglich bei den ins un-
geheure aufgebauschten vorbereitungen (VI 95) und im rate des Hippias,
nirgend im kriegsberichte. die torheit, gegen inseln (αἰϑυίαις καὶ
μᾶλλον ἐπίδϱομοι ἠέπεϱ ἵπποις) mit cavallerie vorzugehn, oder mit
cavallerie von Marathon auf Athen zu marschiren, ist den Persern nicht
leicht zuzutrauen: am wenigsten konnte ein Athener dazu raten. aber
nicht durch die erfindung einer neuen tatsache, von der keiner was
weiſs, sondern durch analyse des einzigen schlachtberichtes sind die reiter
zu beseitigen. die daneben allein noch bestehende überlieferung, Mikons
gemälde, hatte sie auch nicht. so halte ich denn auch Hippias’ anwesen-
heit für fabel: die Peisistratiden in Athen sind auch 490 nicht com-
promittirt gewesen, sondern haben ruhig weiter gelebt.
Die söhne der Timonassa sind Hegesistratos mit dem beinamen Thes-
salos, den er den verbindungen seines vaters mit dem thessalischen adel
verdankt haben wird, und Iophon. das ergibt eine doppelte schwierigkeit.
einmal hat es in Athen keinen Iophon unter den Peisistratiden gegeben; das
ist sicher, da Thukydides nur die drei andern auf der eheren stele gelesen
hat, die das geschlecht verbannte und dabei natürlich die personen vollzählig
nennen muſste (VI 55). ferner sagt Herodotos, daſs Hegesistratos tyrann
[113]Die Peisistratiden.
von Sigeion gewesen sei (V 94). es gibt nur die eine lösung für beides,
daſs freilich in Athen nur drei söhne des Peisistratos gewesen sind, wie
Aristoteles ja auch als nachfolger des vaters nur drei nennt, aber der
vierte Sigeion erhalten hatte und nie Athener geworden war. so stimmt
die attische urkunde und Thukydides zu Aristoteles. aber Herodot muſs
allerdings statt Iophon Hegesistratos genannt haben, getäuscht durch den
doppelnamen des Thessalos, oder aber Iophon den klangvollen namen
des bruders übernommen haben, als jener sich in Athen Thessalos zu
nennen begann.22)
Es hat noch eine tochter des Peisistratos gegeben, wenn das
patmische scholion zu Demosthenes Aristokratea 71 genau ist. in
einer wertvollen erörterung des attischen blutrechtes heiſst es zum be-
lege dafür, daſs auch der δίκαιος φονεύς nicht in Athen wohnen durfte
(also einer irrigen ansicht), τοῖς γοῦν Μυϱϱίνην τὴν Πεισιστϱάτου ϑυ-
γατέϱα ἀνῃϱηκόσι καὶ ἄλλους τινὰς ἐψηφίσαντο πολιτείαν καὶ δω-
ϱεάν· ἐκελεύσϑησαν δ̛ ὅμως ἐν Σαλαμῖνι οἰκεῖν διὰ τὸ μὴ ἐξεῖναι
τῆς Ἀττικῆς ἐπιβαίνειν τὸν ὅλως φονεύσαντα. darin stammt die be-
gründung nicht aus dem psephisma, und die worte scheinen nicht heil.
Myrrhine aber war, wie schon der erste herausgeber Sakkelion gesehen
hat, vielmehr die schwiegertochter des Peisistratos, die gattin des Hippias.
so erzählt Thukydides (VI 55) auf grund eben der inschrift, die das ge-
schlecht ächtete. das verhilft uns wol zu der richtigen deutung des
scholions. nicht nach der ermordung ist das beschlossen, sondern es
ist der preis auf die für vogelfrei erklärte familie ausgesetzt, daher das
unklare Μυϱϱίνην καὶ ἄλλους τινάς23) und die einschwärzung des
namens Peisistratos. die Athener haben den mördern das bürgerrecht
und nicht eine unbestimmte δωϱεά, sondern ein landlos auf Salamis
ausgesetzt, dies aber nicht aus dem angegebenen religiösen motive,
sondern weil sie da verfügbare ländereien hatten und tatsächlich zur
selben zeit zu ehrengeschenken verwendeten (Herod. VIII 11). denn
erst um 480 kann diese stele gesetzt sein, durch die jedes mitglied der
v. Wilamowitz, Aristoteles. 8
[114]I. 5. Thukydides.
tyrannenfamilie für vogelfrei erklärt ward. so lange die partei der ty-
rannen nicht nur ruhig in Athen bleiben durfte, sondern ihre führer
es bis zum archon bringen konnten (Hipparchos der sohn des Charmos
495/4), war ein solcher beschluſs nicht möglich. wenn 507 diejenigen
als hochverräter geächtet wurden, die im gefolge des Kleomenes gekommen
waren und sich in Eleusis auch nach dem falle der burg gehalten hatten24),
so waren darunter nicht die tyrannen gewesen, denen mit dem oligarchen-
regimente des Isagoras wenig gedient war. gerade diese drohende fremd-
herrschaft zugleich und adelsherrschaft lieſs die bequeme tyrannenzeit
wieder im gedächtnis aufleben und den groll über die letzten jahre des
Hippias vergessen. erst die steigende demokratische richtung, nicht durch
einen seesieg, aber durch den sieg von Marathon entfesselt, führte zur
beseitigung der dynastengeschlechter, erst der Philaiden, dann der Pei-
sistratiden, dann der Alkmeoniden. 487 verfiel Hipparchos dem scherben-
gerichte. im frühjahr 480 ward gleichzeitig mit der aufhebung dieser ur-
teile den vom ostrakismos betroffenen bei strafe völliger atimie geboten
westlich von dem äuſsersten westcap von Euboia und dem der Argolis
zu bleiben.25) man fürchtete also ihren anschluſs an Persien. und 480
erschienen Peisistratiden im gefolge des Xerxes und nahmen von den
trümmern der burg besitz (Her. VIII 52. 54). jetzt hatten sie wirklich
die acht verdient, jetzt erst hat sie sie getroffen. als das volk heimkehrte,
hat es notorisch die statuen der tyrannenmörder sofort erneuern lassen.26)
eben damals wird auch die erztafel aufgestellt sein, die das ganze ge-
schlecht des Peisistratos ächtete. sollte es eine ältere gegeben haben,
so war sie sicherlich zerstört, und wenn sie erneuert ward, so traten
mehr personen jetzt in den bann. das läſst sich auch aus Lykurgos
rede wider Leokrates 117 zeigen. er läſst den volksbeschluſs verlesen,
in dem bestimmt war, daſs die statue des Hipparchos Charmos’ sohn27),
[115]Die Peisistratiden.
weil er sich dem gerichte πϱοδοσίας nicht gestellt hatte, eingeschmolzen
und aus ihrem metalle eine tafel hergestellt werde, auf der die hoch-
verräter verzeichnet werden sollten. errichtet kann die tafel erst sein,
nachdem Hipparchos 480 statt heim zu kehren verräterische handlungen
begieng; errichtet kann sie auch erst sein nach 479, denn sie stand noch.
es ist dieselbe eherne tafel, auf der Thukydides die namen der Peisistratiden
las, auf der die 506 geächteten oligarchen standen, auf der dann das urteil
über Arthmios von Zeleia und noch viel später das urteil über Diagoras den
Melier und über Phrynichos und genossen eingetragen ist. ich habe früher
angenommen, daſs die publication auf erz für die beschlüsse über hoch-
verräter herkömmlich gewesen wäre, und ebenso die aufstellung παϱὰ τὸν
ἀϱχαῖον νεών. dann muſste ein neuer tempel vorhanden sein, und so
benutzte ich das zu einem zeugnis für einen vorpersischen Parthenon.
das ist seit der entdeckung des ‘alten tempels’, der bis zur erbauung des
‘Kimonischen’ Parthenons der einzige war, nicht mehr mit den baulichen
tatsachen vereinbar.28) die sache löst sich jetzt. die eherne stele stand
neben dem ἀϱχαῖος νεώς, aber es war eine, die einen katalog der
hochverräter enthielt, wie es anderwärts stelen für die kataloge der
εὐεϱγέται oder πϱόξενοι gab, und diese stele war erst nach 479 er-
richtet, als der bau des neuen tempels südlich von dem alten beschlossene
sache war, oder wol als man an ihm baute.
Für die beurteilung des Thukydides ist die probe, der wir seine er-
zählung an der hand des aristotelischen berichtes unterziehen können,
zu wichtig, als daſs ich hier davon schweigen könnte. das muſs zugegeben
werden, er gibt eine erzählung des vorfalls selbst, die eine ganze anzahl
irrtümer enthält. aber er gibt sie ausdrücklich als mündliche überlieferung.
über deren wert hat er sich getäuscht: die tradition der Philaiden, zu
27)
8*
[116]I. 5. Thukydides.
deren familie er sich rechnen durfte 29), war nicht besser, als die tradition
der Alkmeoniden, die wir so oft bei Herodotos antreffen und, wo wir sie
controlliren können, auch berichtigen. die ansprüche des Thukydides
sind höher, aber er ist in dem was er auf bloſse ἀκοή gibt, natürlicher-
weise nicht minder wahrheitsliebend und nicht minder dem irrtum unter-
worfen als Herodotos; über die schuld des Hipparchos und mehreres andere
hat er sich getäuscht. dagegen behält er recht gegenüber dem poetischen
glauben des skolions ὅτε τὸν τύϱαννον κτανέτην ἰσονόμους τ̕ Ἀϑήνας
ἐποιησάτην. Hippias war und blieb der eigentliche herr Athens trotz den
tyrannenmördern. und das streben nach urkundlichen beweisen bleibt auch
ein vorzug des Thukydides, er hat die stele der burg nachgesehn, sie
lieferte ihm das verzeichnis der Peisistratiden: wer der liebhaber des Har-
modios gewesen war, stand da nicht zu lesen. dieses document und die
epigramme auf den altären des marktes und im Pythion haben ihm seine
richtigen folgerungen über die tyrannenherrschaft bestätigt, ein grab-
epigramm, das er in Lampsakos las, die verbindungen der Peisistratiden mit
den dortigen tyrannen. das sollten wir modernen aber nie vergessen, und
es wäre hübscher gewesen, wenn Thukydides es in seiner vorrede auch
nicht vergessen hätte, daſs Herodotos über die tyrannen und den tod des
Hipparchos nicht wesentlich schlechter als Thukydides unterrichtet war.
die groſse überlegenheit, mit der Thukydides auf seinen gröſseren vor-
[117]Die Peisistratiden. herkunft des aristotelischen berichtes.
gänger herabsieht, ist zwar durchaus begreiflich und ist ein charakteristischer
zug in dem bilde des groſsen sophisten, aber es charakterisirt ihn doch als
sophisten; er steht zu Herodotos ganz wie Euripides zu Aischylos. die
ganze kluft, die die neue bildung gerissen hat, trennt diese wenig jüngeren
von den vorgängern, an die sie doch anknüpfen. weil er modern ist
wie Aristoteles, erscheint uns in vielem Thukydides etwas aristotelisches
zu haben. und ich glaube auch, daſs etwas racenverwandtschaft zwischen
dem gutsherrn von Skaptehyle und dem Stagiriten ist. zu dem mythischen
verhalten sie sich ganz gleich, vollkommen indifferent, und sie sehen
beide in der weltgeschichte zwar kein spiel des zufalls, aber auch keine
tragoedie von gott gedichtet, vielmehr das kämpfen menschlicher leiden-
schaft und menschlicher einsicht, in dem der an einsicht und willens-
kraft stärkere den sieg behält, nicht die bessere sache. trotzdem ist
Thukydides für Aristoteles nicht, was er auch nur für unsere modernen
historiker sein kann, der musterhafte historiker: dazu war dieser ein zu
feiner beurteiler der stilistischen vollkommenheit und konnte schon als
künstler der attischen prosa in den thukydideischen reden nur archaische
versuche sehen. aber er hat auch einen nicht berechtigten widerwillen
gegen den inhalt seiner berichte. das hat lediglich in dem politischen
urteile seinen grund. Aristoteles sieht in dem attischen Reiche nur ein
gebilde der glücklichen habsucht eines zügellosen demos, in Perikles
einen volksverderber; die kriegerischen ereignisse sind ihm vollends lang-
weilig. wie sollte er da an dem werke gefallen finden, das in dem
Reiche die bedeutendste schöpfung, im peloponnesischen kriege die ge-
waltigste erschütterung der hellenischen welt, in Perikles den gröſsten
staatsmann schilderte? so lehnt er das beste was Thukydides geben
konnte von vorn herein ab. es blieb seine stolz zur schau getragene
zuversicht, das wahre zu geben: wer will es dem Aristoteles verdenken, daſs
er mit genugtuung die gelegenheit wahrnimmt, wenn ihm zuverlässigere
informationen eine berichtigung des Thukydides gestatten?
Wo aber hat Aristoteles diese besseren nachrichten her? da erHerkunft
des aristo-
telischen
berichtes.
sowol in betreff des zeitpunktes, wann Timonassa geheiratet ward, wie
über eine einzelheit in der folterung des Aristogeiton auf einen wider-
streit in den sonst also übereinstimmenden berichten hinweist, hat er
nur das verdienst, die zuverlässigen forscher benutzt zu haben, nicht
das der forschung. diese schriftsteller sind nach Thukydides hervor-
getreten, da dieser sie mit absicht nicht wol verschmäht haben kann;
es war also noch im vierten jahrhundert möglich über ein ereignis des
ausgehenden sechsten einen glaubhaften detailbericht zu gewinnen, der
[118]I. 5. Thukydides.
einem Thukydides unbekannt geblieben war. wenn Aristoteles über
Timonassa von Argos so viel zu sagen weiſs, wobei er personen nennt,
die für ihn und seine leser unbekannt und unwesentlich sind, aber not-
wendig wolbekannt waren, als man durch ihre nennung die frau näher
bestimmte, so ist das eine der auf Argos bezüglichen angaben, die alle
mit einander zusammenhängen, und mit denen er den Herodotos sowol
in betreff der schlacht von Pallene wie auch bei dem sturze des Hippias
ergänzt. dies gehört also alles zusammen; es kann von den anderen
ergänzungen des herodoteischen berichtes über die tyrannis des Peisi-
stratos nicht getrennt werden, mit andern worten, es gehört in die Atthis:
deren zahlreichen bearbeitern steht auch die mehrfach angerufene viel-
heit von berichterstattern wol an, und diese haben, auch Hellanikos,
später geschrieben, als Thukydides über die tyrannen sein material sam-
melte und wenigstens die stellen des sechsten buches schrieb. daſs Aristo-
geiton auf der folter die freunde des Hippias angibt, steht ähnlich bei
Polyaen (I 22). bei demselben kehrt auch die entwaffnung des volkes
durch eine list des Peisistratos und die flottengründung des Themistokles
wieder, ziemlich wie Aristoteles sie erzählt. auch da ist also eine viel aus-
gedehntere quellengemeinschaft vorhanden, und auf die Atthis werden wir
wieder mit überwiegender wahrscheinlichkeit geführt. darüber in capitel 8.
Ephoros, den wir wol bei Diodor X 17 voraussetzen dürfen, hat über
die folterung des Aristogeiton ähnlich berichtet wie Aristoteles und Polyaen,
im übrigen gibt er alberne fabeln. denn Hippias und Hipparchos treten
als die gemeinen tyrannen der rhetorischen schablone auf, Thessalos da-
gegen ist ein weiser mann und durch seine neigungen für freiheit und
gleichheit beliebt. mit andern worten, die rollen sind nun ganz ver-
tauscht zwischen Hipparchos und Thessalos. und wer als selbstverständ-
lich ansah, daſs der tyrann schlecht sein muſste, konnte der überlieferung
niemals glauben, die von Hipparchos überhaupt keine schuld kannte;
Ephoros hielt sich also darin an Thukydides. das nächste war dann
ein scheinbarer schluſs, daſs auch die liberalität eigentlich dem Thessalos
gehörte.
Ganz die charakteristik Hipparchs wie hier ist uns längst geläufig
aus dem sokratischen dialoge, den für platonisch niemand mehr hält.
dort kehrt seine freundschaft mit den dichtern wieder, auf die Aristo-
teles als eine notorische verweist: wir haben in den versen des Simonides
und Anakreon keine spuren mehr, aber natürlich waren dies die zeug-
nisse, auf denen der ruf seiner φιλομουσία beruhte, die damit auch wirk-
lich erhärtet ist. der dialog führt aber noch mehr an, die fürsorge für
[119]Herkunft des aristotelischen berichtes.
Homer und die epigramme der Hermen, also attische monumente und
die attische festordnung. er berührt sich mit Aristoteles noch in dem
schlagwort, daſs die tyrannis später als das goldne zeitalter zurück-
gewünscht wäre.30) es ist das ein schlagwort, das natürlich der guten
alten zeit oft gegeben worden ist 31): so der zeit des Aristeides von den
bündnern nach der steigerung ihrer lasten (Plut. Arist. 24). die libera-
lität Kimons führt τὴν ἐπὶ Κϱόνου μυϑολογουμένην κοινωνίαν ins leben
zurück (Plut. Kim. 10). es können das, obwol für die letzte stelle Theopompos
als vorlage Plutarchs sicher ist, ganz wol Plutarchs eigene wendungen
sein, denn dasselbe bild hat z. b. auch Philon zum preise der regierung
des Tiberius gebraucht (leg. ad. Gaium 547 M). es ist also nicht dieser
eine ausdruck, der eine nahe verwandtschaft zwischen Aristoteles und
jenem unbedeutenden producte der platonischen schule bewiese, die
liegt vielmehr in der ganzen auffassung der tyrannenzeit und speciell
des Hipparchos, und das einzelne wort zeigt nichts, als daſs beiden eine
bereits stilistisch geformte überlieferung vorlag. nun ist doch auch Aristo-
teles in der platonischen schule jahrzehnte lang gewesen, hat enge be-
ziehungen immer mit ihr unterhalten, kein wunder, daſs er sich auch
mit ihren geschichtlichen forschungen und anschauungen vertraut zeigt:
er hat sie nicht angeregt oder geführt, aber er hat wie jeder schul-
genosse anteil daran und anspruch darauf. ob darum gleich ein buch
[120]I. 5. Thukydides.
anzunehmen sei, das beiden vorgelegen hätte, möchte ich nicht einmal
fragen: dazu wissen wir zu wenig von dem schulbetriebe und ich wenigstens
von der genaueren zeit, in der der Hipparchos verfaſst ist. ist doch
auch das ganz wol möglich, daſs die veränderte schätzung der tyrannen,
die mit der richtigeren beurteilung auch ihrer familienverhältnisse zu-
sammenhängt, bereits in die Atthis eingang gefunden hatte, die sonst in
der aristotelischen schilderung des Peisistratos zu grunde liegt.
Die zeit des Aristophanes und Thukydides sah in dem getöteten
Hipparchos den tyrannen, in dem tyrannen den grausamen wollüstigen
gesetzlosen zwingherrn; vor der tyrannis hatte man furcht: ihr gestirn
stand 420—15 wirklich so dräuend am horizonte wie 490. dem ent-
sprechend pries man die mörder des Hipparchos als befreier. im übrigen
freute man sich der gegenwart und blickte mitleidig auf das sechste jahr-
hundert, auf Solon so gut wie auf Peisistratos. die zeit der not und
der revolutionen beschwor die schatten von Drakon und Solon; wie
auch aufgefaſst verkörperten sie die gute, leider verscherzte, zeit der
bürgertugend. erst als die neue solonische demokratie nichts herrliches
ward, und auch dann nur in den kreisen, wo man die wahrheit laut zu sagen
wagte, kann Peisistratos rehabilitiert sein. Thukydides, der sich aus Solon
nichts machte, hatte dafür vorgearbeitet. Platon freilich hat sich über
die alte tyrannis niemals ausgelassen: er hat auch nur für den menschen
und dichter Solon interesse gezeigt. und Isokrates gibt nur einmal, wo
es ihm paſst, das vulgäre bild von dem druck der tyrannis (Panath.
12, 148), aber bei Ephoros (Diodor X 37) und Theopompos (Athen. XII 532)
stehen schon züge von der milde und leutseligkeit des Peisistratos. Hera-
kleides (Plut. Sol. 1) hat mindestens die freundliche beziehung von ihm
zu Solon, wenn nicht schon die erotische novelle erzählt, auch er einer
des platonischen kreises. damals hat irgend jemand auch die forschungen
angestellt, die wir bei Aristoteles finden und die nicht nur die volks-
tümliche fabel, sondern selbst den Thukydides berichtigen.
Bisher konnte die analyse des aristotelischen buches von den be-
kannten und zum teil benannten schriftstellern ausgehn, von denen
Aristoteles abhieng, Solon Herodotos Thukydides der attischen chronik,
deren berichte sich wesentlich durch ihre qualität kenntlich machten.
das wird in der geschichte des fünften jahrhunderts anders. die eine
kurze episode, die aus Thukydides stammt, ist erledigt; für die chronik
werden wir auſser den daten nur noch ein par sätzchen in anspruch
nehmen. im übrigen weht hier ein ganz anderer geist. von 450—411
hören wir urteile statt der tatsachen, über die geschichte der 400 liegen
unverarbeitete actenstücke vor, die von 404/3 wird sorgfältig erzählt. es
ist also keine einheitlichkeit angestrebt; aber diese art zu schreiben,
die ich keinesweges loben will, bietet der analyse von selbst die hand-
habe, auf verschiedene vorlagen zu schlieſsen. wir bringen auch für das
was wir erwarten können, die einsicht mit, daſs Aristoteles oligarchische
parteischriften benutzt hat und daſs er in der schule Platons ansichten
und stimmungen aufgenommen hat, die auch unbewuſst sein urteil be-
einflussen konnten. die analyse selbst hätte ich sehr viel kürzer fassen
können, wenn nicht die prüfung der nachrichten auf ihren objectiven
wert bereits an dieser stelle nötig gewesen wäre. denn erst daran daſs
so überaus viel unwahres oder doch böswillig gefärbtes darin ist, kann
man erkennen, wes geistes kind der urheber dieser fälschungen war,
und weitere schlüsse auf eine bestimmte person wagen.
Von der revolution der dreiſsig bis zu ihrem sturze läuft eine zu-Die
geschichte
der dreiſsig.
sammenhängende erzählung der ereignisse (34, 3—40). nirgend beruft
Aristoteles sich auf berichterstatter, nirgend notirt er eine abweichende
überlieferung. es werden eine menge von personen eingeführt und
nach ihrer parteistellung tendenz und bedeutung gezeichnet. das ist
[122]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
wirklich geschichtserzählung. die parallelberichte des Xenophon und
Lysias, bei Diodor und Plutarch berühren sich natürlich oft mit ihr, aber
sie weichen nicht minder häufig ab, so daſs Aristoteles durchaus den
wert eines selbständigen zeugen hat. daraus erwächst uns zwar die
aufgabe einer sachlichen prüfung seines berichtes, aber die frage nach
seinen quellen läſst sich zunächst gar nicht aufwerfen. es erscheint zwar
auch hier wie in der geschichte der 400 eine urkunde, der vertrag
zwischen stadt und hafen (39), allein dies war ein veröffentlichtes, viel-
gefeiertes schriftstück, das dem Aristoteles auf so vielen wegen zukommen
konnte, daſs man darüber gar keine vermutung wagen wird, und kaum
etwas darauf ankommt. der antragsteller eines entscheidenden volks-
beschlusses wird auch hier einmal erwähnt (34, 3), aber wir erfahren
weder worin dieser beschluſs bestand, auf dem doch formell die herr-
schaft der 30 beruhte, noch wodurch sie eigentlich die ihnen gewährte
machtbefugnis überschritten und zu tyrannen wurden (35, 1). also
die urkunden sind nicht die grundlage dieser erzählung, sie trägt viel-
mehr ein total verschiedenes gepräge von dem aus kaum verbundenen
actenstücken bestehenden berichte über die revolution von 411. daſs
keine chronik zu grunde liegt, sieht man deutlich an der vernach-
lässigung der genauen zeitrechnung. genannt werden zwar die ar-
chonten Alexias für die schlacht am Ziegenflusse (34, 2), Pythodoros für
die einsetzung der 30 (35, 1), Eukleides für die versöhnung (39, 1).
aber um ganz verständlich zu sein, hätten die angaben hier auf die
monate gestellt werden müssen wie 411; Aristoteles sieht sich auch
genötigt, nachträglich anzugeben, daſs der sturz der 30 noch unter
Pythodoros statt fand, dessen andenken später geächtet ward (41, 1).
da lenkt er eben in die chronik ein, der er auch die letztvorhergehende
notiz über die eroberung von Eleusis unter Xenainetos danken wird.
auf einem wege, in den man einlenkt, ist man vorher nicht gegangen.
Einen geschichtsschreiber von autoritativer geltung hat es bekanntlich
für die zeit nach Thukydides nicht gegeben, bis der classicismus der Römer-
zeit sich das armutszeugnis ausstellte, den Xenophon, das stilmuster des
ἀφελὴς λόγος, als solchen aufzustellen. 1) wie viel weniger war Aristo-
[123]Die geschichte der dreiſsig. stücke der chronik.
teles in der lage, einem bestimmten erzähler unbedingt zu folgen, oder
auch nur latent gegen ihn zu polemisiren wie gegen die beiden groſsen
historiker. so ist es gekommen, daſs er das eine jahr 404/3 aus sich
erzählt hat, und zwar ohne jede erwähnung abweichender berichte. für
diese kurze spanne zeit mag er denn wirklich ein historiker sein 2); die
geschichtliche verarbeitung seines berichtes ist für die analyse seines
werkes nicht notwendig.
Den stempel der chronik trägt offener als irgend ein anderer teilStücke der
chronik.
die erzählung von Kleisthenes bis zu den Perserkriegen (22), die aus der
anreihung einzelner unverbundener genau datirter facta besteht. und
zwar sieht man, daſs er eine reichere darstellung auszieht. denn er gibt
an, daſs während dreier jahre die tyrannenfreunde ausgewiesen wurden,
gibt aber nur zwei namen an: der dritte, nach dem der leser fragen
muſs, ist offenbar fortgelassen, weil seine person nach dem urteile des
Aristoteles ohne interesse war. 3) es liegt hier die Atthis unvermischt
vor: vorsichtshalber sei jedoch zunächst noch das schlaue manöver, durch
1)
[124]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
das Themistokles den Athenern zu einer flotte verhilft, als anecdote ab-
gesondert.
Weiterhin findet sich nur noch ein kurzes stück, das als ein be-
standteil der chronik sich durch denselben charakter ausweist und von
seiner umgebung grell absticht, drei gesetze aus den fünfziger jahren
(26, 2—4). das erste macht das archontenamt den zeugiten zugänglich.
es besteht theoretisch noch, als er schreibt: denn noch immer gab niemand
auf die frage nach seiner steuerclasse die antwort, daſs er ein thete wäre
(7, 4). formell war also niemals die zulassung aller bürger zu allen
ämtern ausgesprochen. 4) die bestimmungen über die qualification zum
archontenamte hat Aristoteles vollständig mitteilen wollen (55, 1), deshalb
steht dieses gesetz hier. das zweite ist die wiedereinsetzung der demen-
richter, einer schöpfung des Peisistratos (16, 5), deren zahl nun auf 30
normirt ward. Aristoteles kommt auf diese 403 geänderte zahl zurück,
wo er ihre competenzen bespricht (53, 1). daſs Peisistratos mit der
schaffung dieser richter den leuten auf dem lande einen gefallen tun
wollte, die sich so einen gang in die stadt sparen konnten, sagt Aristo-
teles. daſs seit 403 diese bedeutung des rein städtischen amtes ge-
schwunden war, wenn auch der name demenrichter noch bestand (48, 3),
folgt aus der schilderung ihrer competenz. wie Perikles es gehalten
hatte, erfahren wir nicht: so wenig ist Aristoteles darauf aus, einblick
in die verwaltung des fünften jahrhunderts zu geben. wir müssen
schlieſsen, daſs Perikles den längst verschollenen namen der demen-
richter nicht von Peisistratos geborgt haben würde (wenn er denn über-
haupt vor der demenordnung bestand), falls er städtische richter aus
ihnen machen wollte. wir werden dann aber auch die decentralisirende
[125]Stücke der chronik. disposition der erzählung.
maſsregel dem Perikles hoch anrechnen. das dritte gesetz ist die be-
kannte perikleische beschränkung des bürgerrechtes auf die von beiden
seiten ächtbürtigen. auch sie ist einer erwähnung gewürdigt, weil sie
zur zeit des Aristoteles geltendes recht war (42, 1); aber weder ihre
(rechtliche oder tatsächliche) beseitigung nach etwa zwei jahrzehnten
noch ihre erneuerung durch Aristophon kommt vor, so daſs man sieht,
wie nötig bei der benutzung dieses buches es ist, fest zu halten, daſs
geschichtliche vollständigkeit nicht beabsichtigt ist.
Diese drei gesetze sind also aus der chronik aufgenommen, weil sie
institutionen begründen, die zur zeit noch gelten. wir durchschauen
die absicht, aber Aristoteles hat sie ohne ein wort der erläuterung hin-
gestellt. und sie heben sich seltsam von ihrer umgebung ab. denn
auſser ihnen ist hier von der urkundlichen erzählung der chronik nichts
als die vereinzelten archontennamen zu finden. alles andere ist nicht
erzählung, geschweige urkundliche, sondern raisonnement. in dies sind
die drei gesetze so äuſserlich eingeordnet, daſs auf das letzte von ihnen,
das vom jahre des Antidotos 451/0 ist, folgen kann “darauf, als Perikles
die volksführung übernahm, der sich zuerst in seiner jugend bei der an-
klage Kimons ausgezeichnet hatte —”, womit also viele jahre zurück-
gegriffen wird.
Sehen wir also von dieser einlage ab, so läſst sich die ganze be-Disposition
der
erzählung
handlung der zeit von 480—411, der zeit des Reiches, bezeichnen als
eine abhandlung πεϱὶ τῶν Ἀϑήνησι δημαγωγῶν. scheinbar dreht es
sich freilich zuerst um den Areopag, in dessen herrschaft Aristoteles den
grund für die groſsen erfolge Athens sieht, und dessen sturz er be-
dauert. aber den sturz selbst schiebt er dem Themistokles in die schuhe,
und die centralisirung der demokratie, die tyrannische herrschaft über
die bündner und die fütterung der bürger aus fremden taschen hat Ari-
steides zu verantworten: also trägt er auch mittelbar daran schuld, daſs
dies volk sich die bevormundung durch den Areopag nicht mehr gefallen
lassen wollte. dann wird das zweite par von demagogen charakterisirt,
Kimon und Perikles, wird eine liste der parteiführer von Solon ab ent-
worfen, die ihren abschluſs in dem überaus scharfen worte findet “seit
Kleophon haben sich in der führung des volkes unausgesetzt die men-
schen abgelöst, die am meisten geneigt waren ohne jede rücksicht
drauf los zu wirtschaften 5) und der masse ihren willen zu tun ohne
[126]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
weiter als auf den moment ihr augenmerk zu richten”. an der stelle,
wo dieses wort steht, mag es mancher übersehen, aber es ist ohne zeit-
liche befristung ausgesprochen, und auf die überhaupt unerfindlichen per-
sonen kann es nicht gemünzt sein, die etwa während der wochen zwi-
schen Kleophons tod und der einsetzung der 30 auf der pnyx herrschten.
nun, das ist zwar ein wort der leidenschaft und des ekels, und Aristo-
teles müſste uns wenigstens eine oder die andere ausnahme, wie Archinos,
zugestehn: aber hier läſst er einmal seiner stimmung freien lauf, hier
sagt er es selbst, was er von Thrasybulos und Kephalos, Kallistratos und
Eubulos, Demosthenes und Demades gehalten hat. 6) im anschlusse an
dieses wort wird ein werturteil abgegeben, das Nikias und Thukydides 7),
von denen der schriftsteller nicht in der lage gewesen ist taten zu be-
richten, den ἀϱχαῖοι, d. h. Solon, Peisistratos und Kleisthenes, an die
seite stellt, und dann den Theramenes, dessen rechtfertigung, ganz im
sinne der aristotelischen politischen moral, beigefügt wird, gewissermaſsen
als anweisung, wie die folgende erzählung der beiden revolutionen be-
urteilt werden solle. so lange sie auf die herstellung der πάτϱιος πο-
λιτεία zielen, sind sie gut, und so lange macht sie Theramenes auch
mit. aber er schwenkt ab, sobald sie in oligarchische gewaltherrschaft
ausarten (32, 2. 33, 2. 34, 3. 36, 2): das urteil des Theramenes ist für
Aristoteles maſsgebend.
In demselben sinne ist auch noch der bericht über die jahre 410
bis 406 gehalten. denn er beschränkt sich darauf, die verurteilung der
feldherrn nach der Arginusenschlacht als einen frevel des demos und
5)
[127]Disposition der erzählung. der Arginusenproceſs.
die ablehnung der lakonischen friedensbedingungen als eine probe der
terroristischen demagogie Kleophons anzuführen: rasch folgt dann in der
niederlage am Ziegenflusse und der tyrannei der 30 die strafe. weder
mit der tragik des zusammenbruches des Reiches noch mit der unsag-
baren not des volkes noch auch mit seiner opferwilligen energie hat
der schriftsteller das geringste mitgefühl. er denkt wie Theramenes.
Es ist durchaus berechtigt, daſs Aristoteles nicht die Perserkriege
und nicht den peloponnesischen krieg hat erzählen wollen. wenn er
einmal die attische verfassung ganz isoliren wollte und alles fern hielt,
was über den kreis der stadt und der bürger hinauswies, also sclaven,
metoeken und fremde, die capitulationen mit andern staaten, selbst die
epigamie bei seite lieſs, so mag es entschuldigt sein, daſs er auch den
gerichtszwang der bündner und die organisation der kleruchien über-
gangen hat. obwol man nur die schrift des falschen Xenophon zu lesen
braucht, um zu sehen, wie sehr das Reich und seine interessen damals
die der einzelstaaten überwog, und selbst wer diese politik verurteilte,
ein complement zu dem capitel über die 20000 von Reichs wegen besol-
deten Athener hätte schreiben sollen, das die übertriebenen anforderungen
an die leistungen des volkes als einen grund für die kurze dauer dieses
staates schilderte. aber das fünfte jahrhundert mit der charakteristik
von einer anzahl demagogen abzutun, ist nur durch eine starke vorein-
genommenheit erklärlich. in der seele des Stagiriten ist diese leiden-
schaft nicht von selbst erwachsen: wo sind die Athener, die ihm so im-
ponirt haben, daſs er zu einer solchen ungerechtigkeit sich hat fortreiſsen
lassen, einer ungerechtigkeit, die sich schon stark genug an den einzelnen
personen, aber noch viel mehr an dem staate und der verfassung Athens
versündigt. die frage soll ihre antwort finden; aber es ist angezeigt, daſs erst
die qualität der aristotelischen angaben geprüft wird; dabei wird manches
einzelne von selbst seine herkunft verraten, an dem andern aber werden
die bezeichnenden merkmale deutlich hervortreten.
Fangen wir von hinten an. “nach der Arginusenschlacht wurdenDer
Arginusen-
proceſs.
alle zehn feldherrn durch eine abstimmung zum tode verurteilt, obwol
einige gar nicht mitgekämpft hatten, andere auf einem fremden schiffe
selbst gerettet waren (34, 1).” das ist eine arge übertreibung, sinte-
malen nur acht verurteilt und nur sechs hingerichtet sind. 8) aber eben
so notorisch ist, daſs der mitvorsitzende prytan jenes tages, Sokrates von
Alopeke, vor gericht also redet ὅτε ὑμεῖς τοὺς δέκα στϱατηγοὺς —
[128]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
ἐβούλεσϑε ἁϑϱόους κϱίνειν (Plat. apol. 32b). und da die rechtsver-
letzung, gegen welche Sokrates protestirte, in der summarischen ab-
urteilung lag, die dieselbe bleibt, mögen es zehn oder acht sein, ein col-
legium aber gar leicht als eine feste zahl gefaſst wird, deren abgang
im speciellen falle man nicht rechnet 9), so ist Sokrates entschuldigt.
sein vorgang aber mag auch dem Aristoteles pardon erwirken, obwol es
nicht schön ist, daſs er auf der zehnzahl bauend den Athenern einen
besondern vorwurf macht, weil die unbeteiligten, d. h. Konon, getötet
wären. auf jeden fall konnte er so reden lediglich auf grund einer un-
sichern tradition, die unter den Sokratikern von der groſstat ihres
meisters lebendig sein muſste, und es ist irrelevant, ob vielleicht auch
andere so geirrt hatten.
Anytos.Aus sokratischer tradition stammt eine ohne rücksicht auf die zeit-
rechnung gelegentlich der einführung des richtersoldes beigebrachte notiz,
Anytos habe zuerst durch bestechung des gerichtshofes seine freisprechung
durchgesetzt, nachdem durch sein verschulden Pylos verloren war (27, 3).
die geschichte steht genauer bei Diodor XIII 64, wo jedoch Anytos an
dem verluste unschuldig ist, und nur der verurteilung durch bestechung
entgeht. 10) Plutarch hat sie in die Coriolanbiographie eingelegt (14) aus
seiner miscellanlecture, zu der für historische anekdoten peripatiker wie
Theophrast das meiste beisteuern. die tradition der grammatiker hängt
von Aristoteles selbst ab, und es ist nur eine späte verwechslung zweier
ankläger des Sokrates, wenn einmal der schlechte dichter Meletos statt
des staatsmannes Anytos genannt wird (Bekk. An. 236 = Et. M.). seltsam
ist, daſs auch der dritte im bunde, Lykon, einen platz der Messenier,
Naupaktos, für geld verraten haben soll, und auch straflos geblieben ist.
dafür liegt ein zeitgenössischer komikervers vor (schol. Plat. apol. 23b).
Platon und Xenophon haben zwar diese persönlichen recriminationen
verschmäht, aber daſs die sokratische schule und die durch dessen tod
aufgeregte sophistische litteratur minder wählerisch war, ist man berech-
[129]Anytos. Kleon und Kleophon.
tigt zu glauben, und so konnte Aristoteles das überallher wissen: es
würde aber gerechter gewesen sein, wenn er hervorgehoben hätte, daſs
zwischen der einführung des richtersoldes und der ersten bestechung
ziemlich ein halbes jahrhundert lag, und Perikles viele jahre tot war,
che der erste fall vorkam.
Von den demagogen werden die beiden plebejer Kleon 11) undKleon und
Kleophon.
Kleophon wesentlich als solche charakterisirt. daſs er ein mensch ohne
manieren ist, ohne erziehung, wie sie die gute gesellschaft jedem der
ihren mitgibt, dadurch macht Kleon epoche (28, 3). nicht die erhöhung
der tribute oder die des richtersoldes wird ihm vorgerückt, sondern das
benehmen auf der tribüne. es sind dieselben manieren, die Aischines
an Timarchos tadelt (1, 26), und man vergleiche nur seine statue
mit der des Demosthenes, um zu sehen, daſs ihn die bildende kunst
mit berechneter absicht in der keuschen tracht der alten guten zeit
darstellt, seinen mächtigeren aber ungraziösen gegner nicht bloſs mit
nakten armen, sondern sogar ohne hemde. aber der verdacht darf nicht
aufkommen, daſs die gegensätze der demosthenischen zeit sich in der
schilderung der alten demagogen spiegelten, denn die Ritter werden ja
v. Wilamowitz, Aristoteles. 9
[130]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
nicht müde die würdelose haltung und die polternde und kreischende
beredsamkeit des Kleon zu geiſseln, wenn auch die vernachlässigung der
tracht nicht gerügt wird. auch andere verstöſse gegen die gute sitte hat
man dem Kleon aufgemutzt 12), und ein artiges stückchen, wie er die
sitzung des volkes aufheben läſst, weil er bei sich gesellschaft geladen
hätte, erzählt Theopompos 13): darin weht dieselbe luft wie in der
aristotelischen schilderung.
Die geschichte von Kleophon 14), der gewappnet in die volksver-
sammlung kommt und erklärt, er werde die annahme des friedens unter
den angebotenen bedingungen nicht gestatten, erzählt auch Aischines
(2, 76) mit der kräftigeren wendung, daſs Kleophon jedem den hals mit
dem säbel abschneiden will, während er bei Aristoteles nur den harnisch
an hat. 15) aber Aischines verlegt die scene auf die ersten verhandlungen
nach der schlacht am Ziegenflusse, wo Kleophon in der tat die bürger-
schaft zum ausharren vermocht hat. 16) dasselbe hat er nach der schlacht
bei Kyzikos getan, und damals standen dieselben friedensbedingungen
[131]Kleon und Kleophon. Kritias.
zur debatte, die Aristoteles für 406 angibt. 17) nur paſst der status quo
als angebot, die seeherrschaft als forderung für das letztere jahr durchaus
nicht mehr, und mit vollem rechte hat Grote 18) dem schon früher be-
kannten zeugnisse des Aristoteles den glauben versagt. hier ist aber
der philosoph höchst persönlich schuldig zu sprechen, denn die chronik
konnte ihn nicht verführen: er hat eine drastische beschreibung von
Kleophons terrorismus, die ohne festes datum gegeben war, 406 an-
gesetzt, Aischines 405, und hat dabei die friedensbedingungen von 410
verwandt, die allerdings Kleophon bekämpft hat, Aischines die von 405,
die er auch bekämpft hat. wir können nur urteilen, daſs die geschichte
entweder 410 oder 405, aber nicht 406 passirt ist. aber auf gleich-
zeitige erinnerung geht sie zurück. einen schluſs darauf, woher Aristo-
teles sie nahm, gestattet sie selber nicht; es kommt auch wenig darauf an.
Der moderne leser wundert sich vielleicht noch mehr über das was
Aristoteles in dieser zeit nicht erwähnt als über die ungenauigkeiten in
dem erwähnten. die dreiſsig bleiben eine ungegliederte masse, die
schwarze folie für das leuchtende bild des Theramenes, und nirgend,Kritias.
nicht einmal bei der schlacht in Munichia, wo er fiel, kommt Kritias
vor. das ist der verschweigung des Phrynichos unter den 400 analog,
und die Politik nennt doch die ultras in beiden oligarchieen neben einander
(E 1305b) als die demagogen, d. h. die durch unsaubere künste das
collegium beherrschenden. dann waren sie einer erwähnung nicht wert.
allein die Politik nennt dabei den Charikles, nicht das eigentliche haupt,
Kritias. dahinter muſs etwas besonderes stecken. die rhetorik (III 1416b)
exemplificirt mit ihm in sehr bemerkenswerter weise: in einer lobrede
auf Achilleus brauche man seine taten, weil sie jeder kenne, nicht zu
erzählen, wol aber in einer auf Kritias, οὐ γὰϱ πολλοὶ ἴσασι. in den
augen des Aristoteles hat er also das Kainszeichen des tyrannen, das
ihm der demos aufgedrückt hatte, nicht getragen. während niemand
seine zahlreichen werke las, auſser dem Peirithoos, den die falsche flagge
des Euripides schützte, führt Aristoteles in der psychologie (I 405b) eine
9*
[132]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
ansicht von ihm an, die doch in wahrheit schon empedokleisch war,
wie wir denn wirklich nichts weder von productivem denken noch von
zielbewuſstem handeln in Kritias finden können. wir werden nicht fehl
gehen, wenn wir hierin die nachwirkung der autorität Platons sehen,
der mit dem mute des reinen herzens, der ihn nie verlassen hat, und
der pietät des jüngeren verwandten, die wir achten dürfen, auch wo die
magis amica veritas uns zum widerspruche zwingt, das bild des geächteten
nicht nur hoch gehalten, sondern verklärt und mit dem schönsten seiner
poesie auf ewig verbunden hat. daſs Aristoteles eine lobschrift auf Kritias
nicht als eine tolle spielerei, wie auf Buseiris und Thersites, sondern
als ein werk angesehen hat, das auf grund einer genauen kenntnis seiner
taten, also der geschichte der 30 und der schriften des Kritias wol
durchführbar wäre, gibt zu denken. er muſs sich mit beiden beschäftigt
haben; für die geschichte lehrt das unser buch auch. aber der mann,
der eine lobrede auf Kritias für möglich hielt, hat die demokratie, nicht
bloſs die des Kleophon, sondern auch die des Demosthenes notwendiger-
weise auf das schärfste verurteilt. das hätten wir uns längst sagen können.
Alkibiades.Noch viel merkwürdiger ist das fehlen des Alkibiades. Aristoteles
hat also den genialen menschen für die verfassungsgeschichte Athens
als bedeutungslos betrachtet. doch das konnte er kaum; denn wer den
sicilischen und den dekeleischen krieg entzündet hat, den abfall von Chios
bewirkt und Persien in die hellenischen verwickelungen hineingezogen, wer
die institution des ostrakismos unbrauchbar gemacht und durch die be-
seitigung des ventiles die explosionen des parteihasses herbeigeführt hat,
der ist, so weit es ein sterblicher sein kann, der demagoge der die
demokratie zerstört hat. alle diese dinge setzt Aristoteles viel mehr
voraus, als daſs er sie erzählte. indessen das reicht zur erklärung nicht.
nur mit bestimmter absicht kann Alkibiades in dem berichte über die
revolution von 411 fehlen, ganz wie Phrynichos. folglich hat Aristoteles
den bedeutenden mann gleichsam wie einen kometen aus den kreisen,
in denen sich das system des athenischen staates bewegte, ausschlieſsen
zu dürfen geglaubt, und er hat es wol deshalb getan, weil er ihm
psychologisch so viel rätsel aufgab wie uns. mitgewirkt hat indessen
wol auch zweierlei. die oligarchische schrift, die wir sogleich näher
kennen lernen, hat Alkibiades, wenn sie überhaupt viel von ihm sagte,
mit dem rücksichtslosesten hasse angegriffen; eine probe haben wir in
der geschichte Solons kennen gelernt (s. 62). das verwarf Aristoteles,
weil er es durchschaute. dann aber kam auch hier die platonische
tradition in betracht. Platon hat diesen daemonischen menschen, viel-
[133]Alkibiades. Perikles.
leicht als einziger, ganz verstanden und demgemäſs neben seinen Sokrates
gestellt; aber er hat es verschmäht (und die armseligkeit seiner nach-
ahmer richtet sich schon dadurch), ihn wie jeden beliebigen hübschen
jungen von Sokrates belehren zu lassen. wie er seine politische lauf-
bahn beurteilte, hat er nicht verraten, auſser daſs er ihn eben auch als
ein gestirn ansah, das, geschaffen zu leuchten und leben zu wecken,
aus seiner bahn geworfen sich und sein vaterland in wildem feuer ver-
zehrte. da hat auch Aristoteles lieber schweigen mögen.
Nun kommen wir endlich zu den vier männern, die wirklichPerikles.
charakterisirt werden, Themistokles und Aristeides, Kimon und Perikles.
über den letzten hören wir zunächst das allbekannte, daſs er die ver-
fassung immer demokratischer machte, weil er die ausbildung der see-
herrschaft verfolgte. dagegen wird die sonst geläufige verantwortung
für den peloponnesischen krieg 19) ihm nicht aufgebürdet. bei dem leser
wird bekanntschaft mit dem rechenschaftsprocesse des Kimon voraus-
gesetzt, der uns durch einen kurzen und guten bericht bei Plutarch be-
kannt ist; man ist gewohnt ihn für theopompisch zu halten. die be-
teiligung des Perikles setzt eine klatschgeschichte des Stesimbrotos
voraus (Plut. Kim. 14, 4 = Per. 10, 5), und gerade weil der klatsch
nichts weiter wert ist, muſs die geschichte wahr sein, an die er sich
angesetzt hat. dann wird die einführung des richtersoldes berichtet, natür-
lich tadelnd. diese verurteilung ist 411, als man jeglichen sold be-
seitigte, allgemein gewesen und ist ein schlagwort in allen kreisen mit
ausnahme der radicalen geblieben. wir haben die in der handschrift
verdorbenen worte aus Platons Gorgias verbessert, den natürlich der
schüler Platons wol kannte; allein Platon selbst nennt als urheber
dieser kritik die lakonisten, παϱὰ τῶν τὰ ὦτα κατεαγότων 20) ταῦτα
ἀκούεις ὦ Σώκϱατες, sagt sein Kallikles. es war also eine bald nach
399 bereits in fester form cursirende kritik. sie ist nicht gehässig; wol
aber ist das die insinuation unlauterer motive, die Aristoteles ohne be-
[134]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
rufung auf fremdes urteil gibt. Perikles soll so die liberalität des Kimon
haben überbieten wollen, und nicht einmal selbst hat er den einfall
gehabt, sondern Damonides von Oie hat es ihm geraten “wie er ihm
das meiste eingegeben haben soll.” also selbst die originalität geht dem
Perikles ab. Damonides gibt den rat in pointirter form “da er mit seinem
eigenen gelde zu kurz käme, möchte Perikles doch den Athenern aus
ihrer tasche geschenke geben.” das ist ein recht witziges schlagwort,
nicht von Aristoteles geprägt, sondern übernommen, denn nur der frische
haſs ist es, der solche insinuationen aufbringt und also zuspitzt. wer
wollte in der einbläserei des Damonides die parallele des berufenen ein-
flusses verkennen, den auf den Themistokles sein demot Mnesiphilos
ausgeübt haben soll, von anderen zu geschweigen. und wie diese ver-
läumdung Thukydides mit einem kräftigen hiebe zurückgewiesen hat 21),
so sagt sein Perikles mit emphase von sich οὐδενὸς οἶμαι ἥσσων εἶναι
γνῶναί τε τὰ δέοντα καὶ ἑϱμηνεῦσαι ταῦτα, φιλόπολίς τε καὶ χϱη-
μάτων κϱείσσων (II 60). das letzte bezieht sich auf seine verurteilung
wegen unterschlagung: mit der allgemeinen charakteristik zielt Thuky-
dides zwar nicht in kenntlicher weise auf die einbläserei des Damonides,
aber wol auf die ganze beurteilung des Perikles, die im schwange gieng,
als er schrieb, und eben damals auch jene fabel erzeugt hatte. denn
obwol es nicht wol angeht den text des Aristoteles zu ändern, den die
quelle Plutarchs eben so gelesen hat, so muſs doch dieser Δαμωνίδης,
der den Perikles beeinfluſst und dem scherbengerichte erliegt, identisch
sein mit dem Δάμων Δαμωνίδου, der des Perikles lehrer ist und dem
scherbengericht erliegt, wie Plutarch (4) als allgemeine annahme gibt
und mit versen des komikers Platon belegt, die zugleich darauf hin-
deuten 22), daſs der politiker Damon identisch mit dem verfasser eines
[135]Perikles. Kimon.
Areopagitikos über rhythmus und musik ist. weder Plutarch noch Aristo-
teles haben diesen schluſs gezogen: folglich hat der gewährsmann des
letzteren eine andere namensform gebraucht, wie denn z. b. die archonten
von 480 und 479 neben den namen Καλλίας und Ξάνϑιππος die s. g.
patronymische form führen, und der erste gehört wol sicher in die
familie, welche diese beiden formen anwendet. 23) da im vierten jahr-
hundert der name des musikers Damon in dieser form durch seine
schrift sehr bekannt war, die erst später verschollen ist, so wird es
nicht zu kühn sein, den gewährsmann des Aristoteles für älter zu
halten. von bedeutung ist endlich, daſs Isokrates davon weiſs, daſs
Perikles wie des Anaxagoras auch Damons schüler gewesen wäre τοῦ κατ̕
ἐκεῖνον τὸν χϱόνον φϱονιμωτάτου δόξαντος εἶναι τῶν πολιτῶν. auf
dem bürger liegt im gegensatze zu dem Klazomenier der ton, und der
bürger gibt doch wol politische ratschläge. 24)
Gerede von zeitgenossen ist auch in dem berichte über KimonKimon.
unverkennbar, denn seine liberalität wird mit ganz speciellen zügen ge-
schildert, denen man doch glauben schenken darf; Theopomp hatte sie
auch, aber in übler verallgemeinerung, offenbar aus derselben quelle
erzählt (Athen. 533). die beurteilung Kimons ist äuſserst ungünstig,
und wie bei Perikles wird sie in tief verletzenden schlagwörtern ab-
gegeben. wenn sein vermögen “ein tyrannisches” heiſst, so klingt das
gehässig, ist aber wenigstens wahr, denn sein vater war tyrann und seine
mutter eine barbarische fürstentochter; nach seinem ostrakismos lebte er
auf seinem besitze in der Chersones wie später der verbannte Alkibiades
und wie Thukydides am Pangaion. es geschieht dem Kimon schwerlich
ein unrecht, wenn man bei seinen zügen auf der Chersones und in
Thrakien dynastische interessen mit in rechnung setzt, wie später bei
Iphikrates, nur daſs er seiner vaterstadt dabei genützt hat: ist er doch
auch in dem rechenschaftsprocesse frei gesprochen. dagegen sagt Aristo-
22)
[136]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
teles kein wort von seinen militärischen erfolgen am Hellespont, in
Thrakien, Pamphylien, Kypros, es heiſst vielmehr, daſs zu jener zeit “die
bürgerschaft ungeheure verluste erlitt, weil leute ohne jede kriegs-
erfahrung lediglich um des ruhmes ihrer väter willen zu feldherrn ge-
wählt wurden.” das ist auch gegen Myronides und Tolmides sehr un-
billig, aber seine spitze kehrt es gegen den sohn des siegers von Mara-
thon. endlich die boshafte formulirung des gesammturteils “die anständigen
leute hatten überhaupt keinen führer, sondern an ihrer spitze stand Kimon,
der ziemlich schwerfällig (νωϑϱότεϱος) und erst spät in die politische
laufbahn eingetreten war.” das letztere stimmt gut zu der ganzen er-
zählung; wenn Kimon erst gegen Ephialtes aufgetreten ist (28, 2), so
war die partei der γνώϱιμοι seit dem tode seines vaters allerdings
führerlos, da Aristeides nicht minder als demokrat aufgefaſst wird denn
Themistokles. indessen objectiv ist es falsch. Kimon war feldherr schon
unter Timosthenes 478/77 (Plut. Ar. 23) und bleibt es dann jahre lang;
aber schon vor der schlacht von Plataiai geht er als gesandter nach
Sparta neben Aristeides und Myronides (Krateros bei Plut. Ar. 20).25)
daſs die charakteristik νωϑϱότεϱος zutrifft, ist allerdings meine meinung;
nur ist es, so stark der comparativ mildert, ein grobes wort und von
dem euphemismus der attischen eleganz weit entfernt. Aristoteles hat
über philosophen der vorzeit sich nicht gescheut rund heraus seine meinung
zu sagen; deshalb hat er auch dieses wort nicht verschmäht: aber wahr-
lich nicht selbst geprägt, denn ihm fehlt hier, was ihn in der philosophie
zu eignem urteile berechtigt, das eigene studium. aber νωϑϱότεϱος ist
nicht überliefert, sondern der unsinn νεώτεϱος. die verbesserung ist
von vielen sofort gefunden und würde evident sein, auch wenn nicht in
der rhetorik stünde, daſs die söhne von genial angelegten männern excen-
trische tollköpfe, die von gesetzten charakteren beschränkt und träge
würden, ἐξίσταται τὰ εὐφυᾶ εἰς μανικώτεϱα ἤϑη, τὰ δὲ σταϑεϱὰ
εἰς ἀβελτεϱίαν καὶ νωϑϱότητα (II 1390 b). für den ersten satz sind
die söhne Alkibiades und Dionysios belege, für den zweiten οἱ ἀπὸ
[137]Kimon.
Κίμωνος καὶ Πεϱικλέους καὶ Σωκϱάτους. man werfe nicht ein, daſs
hier ja erst von Kimons descendenz geredet wird, es wird ja auch ihm
selbst nicht die volle νωϑϱότης nachgesagt, sondern der ansatz dazu.
Aristoteles urteilt nun einmal über den adel εὐγενεῖς εὐτελεῖς, und das
uralte Philaidengeschlecht artete allmählich aus. von Kimons söhnen
sind Lakedaimonios und Thessalos wenigstens nicht ganz tatenlos geblieben,
aber während Aristoteles die Politie schrieb, suchte man einen Lakiaden
Miltiades aus seinem ruhmlosen dunkel hervor, des namens wegen, als
gründer einer colonie im westlichen meere.26) daſs dieselben züge in
minderer stärke schon der sohn des alten Miltiades getragen habe, paſst
ganz zu der anschauung des Aristoteles. in wahrheit hatte Kimon sogar
schon von seinem groſsvater dieses renommée geerbt, der den auch sonst
im attischen adel vorkommenden spitznamen Κοάλεμος geführt haben
soll (Plut. Kim. 4. einleitung der scholien zum Kimon des Aristides).
der besitzer eines tyrannischen reichtums hat auch das mit den tyrannen
gemein gehabt, daſs er sich einen hoſstaat von künstlern und dichtern
hielt, die seine groſstaten und seine liebschaften verherrlichten. er
machte sich seine verse so wenig selbst wie Polykrates und Hieron; aber
er brauchte verse. wes brot sie aſsen, des lob sangen sie. aber mit
einem νωϑϱότεϱον ἦϑος ist das lob des Melanthios und Archelaos und
Polygnotos wol vereinbar. Ion ist mehr als ein litterat, und wir dürfen
ihm glauben, daſs Kimon es wol verstand, den wirt zu machen und beim
rundgesang mit anstand seinen vers vorzutragen. das gehörte sich in
dieser gesellschaft. daſs die kleinen leute den splendiden herrn vergötterten,
wie der schreiber, den Kratinos seinen tod beklagen lieſs, ist begreiflich.
aber deshalb konnte Kimon ein mann sein wie die pindarischen helden.
wenn Stesimbrotos ihm nachsagt “daſs er einen peloponnesischen ein-
druck gemacht hätte”, so ist das in milder form dasselbe, was ich mög-
lichst objectiv, Aristoteles mit unhöflicher deutlichkeit ausspricht. und
Eupolis, der diesen helden nicht aus dem Hades heraufbeschworen hat,
nennt ihn φιλοπότης κἀμελής. der tyrann Kritias rühmt seine μεγα-
λοφϱοσύνη, d. h. seine vornehme weise mit dem gelde zu wirtschaften,
aber er wirft ihm vor, das interesse des vaterlandes seinen lakonischen
sympathieen geopfert zu haben. seine taten zeigen auf das deutlichste,
daſs er die eindrücke von 480 sein leben lang festgehalten hat, ohne
zuzulernen oder zu vergessen. in der tat hat er damit seinem vater-
lande im ganzen nur geschadet, am meisten durch seinen letzten zug,
[138]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
und für die innere politik ist es wirklich ein bon mot, daſs die vornehmen
unter ihm führerlos waren; wenn wir auch vergeblich fragen, was sich
denn geändert habe, als die führung auf seinen verwandten Thukydides
übergieng, den Aristoteles so hoch erhebt. Aristoteles würde selbst schwer-
lich eine antwort haben, denn er hat weder das eine noch das andere
urteil geprägt: das hat eine zeit getan, welche den dingen und den per-
sonen sehr viel näher stand, deshalb aber auch mehr entschuldigung für
ihren irrtum hat als Aristoteles: wie durfte er den ächten feldherrnruhm
des Kimon ganz unterschlagen?
Themi-
stokles.Diesen ruhm kann Themistokles zu erben scheinen, von dem wir
keine militärische action kennen27), nachdem seine erpressungen auf der
[139]Themistokles.
inselfahrt des herbstes 480 viel böses blut gemacht hatten. es steht
die rhetorische antithese da, daſs die Athener sich seiner als feld-
herrn, des Aristeides als berater bedient hätten.28) das würde nur wahr
sein, wenn die kriegerischen erfolge von Byzantion bis Thasos dem
Themistokles statt dem Kimon gehörten, und wenn sie das täten, hätte
er auch etwas zu tun gehabt in der zeit bis 462, die ihn Aristoteles
in Athen sein läſst. aber die antithese bliebe dennoch schielend, da ja
bei Plataiai und in Byzantion nicht Themistokles sondern Aristeides dem
Pausanias zur seite steht. und ist es nicht seltsam, daſs eben derjenige,
der den feldherrn in Themistokles so hoch stellt, nur politische strategeme
von ihm erzählt? eines, aus früherer zeit, geht wenigstens die flotten-
gründung an. aber die anlage des hafens wird nicht erzählt, die stadt-
erweiterung dem Aristeides beigelegt, der mauerbau beiden. und selbst
das verdienst von Salamis wird mit versteckter bosheit geschmälert. es
soll der Areopag gewesen sein, der die Athener bei der räumung der
stadt vermochte sich auf der flotte zu sammeln, indem er ihnen einen
soldvorschuſs von 8 drachmen auf den kopf zahlte “während die stra-
tegen den kopf verloren hatten und den heroldsruf “rette sich wer
kann” ausgegeben hatten.” die strategen, das ist Themistokles — der
freilich zugleich auch Areopagit war, so daſs die fabel auf beiden beinen
hinkt. bekanntlich war die flotte längst mobil, ehe es zur räumung der
stadt kam, und wenn man die erzählung dadurch verständlich macht,
daſs man vielmehr an eine unterstützung der flüchtenden familien denkt,
für die freilich die feldherrn nicht zu sorgen hatten, die nur verkünden
konnten, daſs die stadt geräumt würde, so kommt etwas heraus, das man
27)
[140]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
gern glaubt, nur hat das Aristoteles nicht gemeint, der den Areopag “urheber
der seeschlacht bei Salamis nennt.” liest man dann vollends bei Plutarch
(Th. 10) neben dieser aristotelischen fassung, daſs Kleidemos gerade die
verteilung dieser wegzehrung dem Themistokles zuschrieb, der mit einem
seiner strategeme das nötige geld zu finden wuſste, so ist am tage, daſs
die parteileidenschaft das verdienst einer notorisch wirklich segens-
reichen maſsregel bald dem Themistokles, bald der verwaltungsbehörde
zu vindiciren geschäftig gewesen ist29): glauben verdient allein das factum.
Packend und anschaulich erzählt Aristoteles ein strategem, durch
das Themistokles mit hilfe des Ephialtes den Areopag stürzt. da haben
die antiken biographen einmal viel mehr takt bewiesen, indem sie die
hübsche geschichte stillschweigend verwarfen, als die modernen, die sie
als die groſse rosine in dem neuen kuchen mit besonderem wolbehagen
verspeisten.30) zeitlos überliefert, wie er sie überkam, hat die fabel den
Aristoteles getäuscht; aber indem er in der chronik nachsah, wann denn
die gesetze des Ephialtes beschlossen wären, und den archon Konon
462/1 eintrug, hat er sie eigentlich selbst widerlegt. er bedurfte eines
festen termines, da die vorherrschaft des Areopages für ihn eine be-
sondere phase der verfassungsgeschichte ist, und er wollte natürlich auch
etwas concretes über die verfassungsänderung haben, was ihm die anek-
dote nicht lieferte, daher hat er aus der chronik31) den einen paragraphen
25, 2 eingefügt, der aus der fabel ganz herausfällt und, eben durch das
datum, für sie verhängnisvoll wird. denn sie ist völlig zeitlos erfunden.
ihre voraussetzungen sind eine anzahl teils notorischer, teils glaubhafter
tatsachen. notorisch hat der Areopag das urteil über landesverrat gegen
Themistokles gefällt: das ist nach den solonischen gesetzen und in an-
betracht der stellung dieses rates in jener zeit natürlich. notorisch hat
Ephialtes den Areopag gestürzt und auch dieses recht ihm genommen.
höchst glaublich ist, daſs der revolutionäre staatsmann der majorität des
collegiums, dem er angehörte, so antipathisch war, wie Appius Caecus
[141]Themistokles.
dem senat. da setzt die fabel ein, die in ihrer weise pragmatisch den
Themistokles bemüht, um etwas revolutionäres durchzusetzen, weil er
ein interesse daran haben muſste und weil er ein ausbund von erfinde-
rischer schlauheit war. der jung verstorbene, wenig berühmte Ephialtes
trat in der vorstellung zurück und erschien notwendig als werkzeug: die
initiative fiel dem hochberühmten hochverräter zu, wie man später Perikles
als den leiter des Ephialtes angesehen hat. so hatte die geschichte auch
einen befriedigenden schluſs. denn auf die schuld folgte, ganz ohne
genauere zeitliche fixirung, die strafe: Themistokles muſste zu den Persern
fliehen, Ephialtes ward ermordet. wir würden das noch deutlicher er-
kennen, wenn nicht in unserer handschrift eine lücke, die sich zum
glück durch die grammatische verknüpfung verrät, den bericht über das
ende des Themistokles verschlungen hätte. wir können ihn nicht er-
gänzen. das ende des Ephialtes wird hier unbestimmt “nicht lange
zeit” nach dem sturze des Areopages angesetzt. später rechnet es Aristo-
teles notgedrungen noch unter das jahr des Konon (26, 2). wir können
es nicht controlliren, haben aber allen grund ihm nicht zu trauen.32)
ganz ebenso steht es mit dem namen des mörders, den Antiphon (5, 68)
als unbekannt hinstellt, die spätere biographie nur aus dieser stelle kennt
(Plut. Per. 10). die quelle des Aristoteles war allerdings vielleicht in
der lage, um den mord und den mörder zu wissen, aber vielleicht nicht
minder geneigt, die wahrheit auf falsche spur zu locken: jedenfalls ist
auf sie kein verlaſs.
Die anekdote aus innern gründen zu verurteilen, ist bei unserer
geringen kenntnis der personen unmöglich. aber so etwas richtet sich am
besten durch seine chronologischen consequenzen. daſs Themistokles durch
scherbengericht verbannt war, als die anklage wegen hochverrates ihn er-
eilte, ist auf das sicherste bezeugt, durch Thukydides und Platon (Gorg. 516),
von andern abgesehen: das ist entweder alles falsch um dieser anekdote
willen, oder Themistokles ist frühestens 461 dem scherbengericht erlegen,
in wahrheit später, da er ja zunächst über den Areopag siegte, die erste
[142]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
anklage also niederschlug.33) die überlieferung, daſs seine anklage auf
grund der verurteilung des Pausanias durch Sparta erfolgte, ist entweder
ganz erfunden, oder aber Pausanias hat etwa bis 460 gelebt. da eine
denuntiation wegen landesverrates von Sparta nach Athen nur gehn
konnte, so lange der Hellenenbund bestand und beide staaten intim
standen, so kann die zurückweisung Kimons vor Messene, die sprengung
des Hellenenbundes und das bündnis zwischen Athen und Argos erst längere
zeit nach 461 fallen. nicht bloſs alle leute, die Themistokles zu Xerxes
kommen lassen, sind in argem irrtum, sondern auch Stesimbrotos, der ihn
zu Hieron († 467) fliehen läſst, und Thukydides, der ihn bei der flotte
vorbeifahren läſst, die Naxos belagert, und Artaxerxes νεωστί könig ge-
worden sein läſst, als Themistokles hinkommt. denn wenn er selbst 461
im scherbengericht unterlag, so kann er wirklich nur für die unwahr-
scheinlichkeitskrämer unter den chronologen alles das erlebt haben, was
bei Thukydides steht, und innerhalb des ersten jahrzehntes des Artaxerxes
in Susa aufgetreten sein. das lebensalter von 65 jahren (Plut. 31)
und die erzeugung einer tochter in Asien, die danach Ἀσία hieſs,
ist natürlich falsch: denn da Themistokles 493/2 archon war, war
er damals eher über als unter vierzig, also ein angehender siebziger,
wenn er Athen um 460 verlieſs.34) aber es wird langweilig, die ab-
surditäten zu häufen. es ist verzeihlich, wenn die hübsche geschichte
in der ersten freude über die entdeckung einen moment geblendet hat.
wer aber ernsthaft behauptet, daſs man sie irgendwie glauben könnte,
verwirkt den anspruch, ernsthaft genommen zu werden.
Das ist eigentlich genug; aber die Themistoklesgeschichte ist an sich
zu wichtig, und sie richtig zu beurteilen für die geschichtliche methode
[143]Themistokles. die geschichte des Themistokles.
zu folgenreich, als daſs ich an ihr vorbeigehn möchte, zumal ich schon
öfter angedeutet habe, daſs ich über sie etwas zu sagen hätte. jetzt ist
das reif, denn ich bin so weit, daſs ich jeder antiken überlieferung ihr
recht lassen kann; von den modernen darf man in solchem falle
schweigen.
Themistokles spielt nach dem winter 479/8, wo er den mauerbauDie ge-
schichte des
Themi-
stokles.
durchsetzt, keine für uns kenntliche politische rolle mehr. er ist noch
einmal vertreter Athens bei der amphiktionie gewesen und hat da den
antrag Spartas zu fall gebracht, die staaten, die 479 mit dem Meder ge-
gangen waren, zu vernichten. aber wir können diese tatsache zeitlich
so wenig bestimmen wie wir ihre politische bedeutung verstehn.35)
unter Adeimantos, frühjahr 476, hat er für Phrynichos die choregie ge-
leistet: das ist für uns das letzte zeichen seiner anwesenheit in der
heimat. unter Menon 472 hat Aischylos in den Persern die verhängnis-
volle list des hellenischen mannes gefeiert, der den Xerxes zur schlacht
bei Salamis verführte. damals kann dieser mann nicht als Perserfreund
wegen hochverrats verurteilt oder beschrieen gewesen sein.36) das ist
[144]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
für uns der sicherste terminus post quem für seine flucht. aber sehr
wol kann der also gefeierte in Argos gelebt haben, ungekränkt an gut
und ehre, zu nutzen seines vaterlandes auf 10 jahre des landes verwiesen.
unter Praxiergos 471/0, ol. 77, 2, setzt Diodor seine flucht; auf dasselbe
jahr führt die überlieferung des Eusebius, die seinen tod 5 jahre später
ansetzt, was zu der zeit der schlacht am Eurymedon gut stimmt, die (wie
wir sehen werden) mit dieser fabel in connex steht. auf dasselbe jahr führt
der ansatz des Cicero, der Themistokles 20 jahre nach Coriolan setzt
(Lael. 42). alle diese ansätze lassen eine gewisse freiheit, aber daran
kann kein zweifel sein, daſs sie alle auf dieselbe feste tradition zurück-
gehn, und nichts andres in der chronik Apollodors stand, nichts andres
in allen schulen gelehrt ward. es ist also schwer diese angabe zu ver-
werfen, da man doch in der lage war, das datum der verurteilung aus
den acten zu constatiren. die anklageschrift, eine eisangelie von Leobotes
Alkmeons sohn aus Agryle37), war durch Krateros veröffentlicht. zunächst
also sind wir verpflichtet, davon auszugehen, daſs Themistokles 471/0 ver-
urteilt und aus Argos geflohen ist.
Die anregung zu der klage auf hochverrat kam durch eine sparta-
nische gesandtschaft, welche der verbündeten stadt die compromittirenden
36)
[145]Die geschichte des Themistokles.
papiere mitteilte, die in dem nachlasse des Pausanias gefunden waren38);
diese gesandtschaft begleitete die attischen κλητῆϱες in den Peloponnes,
die den Themistokles vor den Areopag laden sollten. nicht sehr lange
nach dem tode des Pausanias muſs das geschehen sein. wann war das?
die Politie erst hat sicher gestellt, daſs die vereidigung der bündner durch
Aristeides schon unter Timosthenes 478/7 statt gefunden hat, nachdem
Pausanias erst 478 Byzantion den Persern entrissen hatte. dieses datum
in die sehr genaue überlieferung über den abfall der bündner von Pau-
sanias zu Aristeides eingesetzt39), stellt auſser zweifel, daſs Pausanias im
winter 478/7 zum ersten male nach Sparta zurückberufen ist, im fol-
genden frühjahre sein nachfolger Dorkis von den Hellenen unter Ari-
steides abgewiesen ist, die damals also noch in Byzantion waren.
unmittelbar darauf aber, als Pausanias auf eigne faust ebendahin fuhr,
fand er keinen widerstand, sondern bemächtigte sich der ganzen helle-
spontischen gegend. das war also frühstens, aber so daſs das frühste
auch das natürlichste ist, sommer 477. die Athener konnten diesen
tyrannen unmöglich die beiden meerengen sperren lassen und mit den
Persern in Thrakien und Asien conspiriren. sie muſsten schleunigst ein-
schreiten. auch hierüber haben wir gute berichte, die eine lange herr-
schaft des Pausanias ausschlieſsen.40) dazu stimmt und entscheidet die
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 10
[146]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
sache, daſs Kimon dem Pausanias Sestos und Byzantion genommen hat
und danach Eion und Skyros. jede dieser beiden unternehmungen ist
aber durch ein ganz unzweideutiges zeugnis auf das jahr des Phaidon
476/5 bestimmt.41) es rückt also die vertreibung des Pausanias aus By-
zantion in den sommer 476 etwa; kaum ein jahr hat er sich dort ge-
40)
[147]Die geschichte des Themistokles.
halten. er gieng aber von Byzantion auf persisches gebiet nach Kolonai
in der Troas, wo er eine unbestimmte zeit blieb. da Sparta im herbst
476 in Leotychides gerade den einzigen könig wegen bestechung ver-
urteilen muſste42), wird man sich zunächst nicht einen zweiten arche-
getenprocess aufgeladen haben. als er dem rufe nach der heimat gefolgt
war, beeilte man sich keineswegs mit seinem processe, und Athen hatte
keine veranlassung mehr, auf die verurteilung des unschädlichen zu
dringen. erst als er eine verschwörung der Heloten anzettelte, ist es
zur katastrophe gekommen. wir wissen nicht wann; aber nichts hindert
uns, sie gemäſs dem processe des Themistokles auf 472/1 anzusetzen; sie
spricht höchstens dafür diesen so früh wie möglich zu datiren.
Nicht in der überlieferung von der flucht des Themistokles, son-
dern in der von seinen weiteren schicksalen liegt für viele die ver-
lockung tiefer hinab zu gehn. diese überlieferung richtig zu würdigen,
wollen wir uns in das Hellas der sechziger jahre versetzen.
Themistokles wagte nicht, sich dem gerichte zu stellen; wir haben
kein recht zu bezweifeln, daſs er wirklich compromittirt war. natürlich
wurde er nun verurteilt; verfehmt war er im ganzen Hellenenlande; sein
vermögen verfiel dem staate; doch gelang es seinen freunden, einen
groſsen teil des unredlich erworbenen gutes später in das ausland zu
retten.43) seine kinder erbten die ehrlosigkeit; doch sind sie irgend wann
restituirt44); er ist es rechtlich nie: daher die fabeln über sein grab.45)
Aus Argos war er schleunigst an die westküste geflohen; das muſste
man bald erfahren; von da nach Kerkyra, wo er auf asylrecht anspruch
hatte, da er den charakter als εὐεϱγέτης von der insel besaſs. aber
auch dort war seines bleibens nicht, da die insel nicht wünschte, dem
Hellenenbunde eine auslieferungsforderung abschlagen zu müssen, und nun
war jede spur von dem verloren, der zehn jahre früher Hellas gerettet
hatte. wie sollte die phantasie des volkes sich nicht mit ihm beschäf-
tigen, dem listenreichen und gewissenlosen, wie sollte sie nicht die lücken
des wissens ergänzen, die man peinlich empfand? es war ja noch die
zeit, wo die sage ihre ranken um jede hervorragende person schlang,
und jede ungeheure tat auf die einfach groſsen motive des epos und des
dramas zurückgeführt ward. damals muſste sich die Themistokleslegende
bilden. wer 464 erzählte, Themistokles sei in Susa, der fand eben so
leicht oder schwer glauben wie wenn er ihn in den fernen westen ver-
setzte. daſs er zu Hieron geflohen wäre, ist noch von Stesimbrotos er-
zählt worden, und da er den weg nach westen eingeschlagen hatte,
muſste das lange sehr wahrscheinlich klingen. endlich ward man sicher,
daſs er als herr von Magnesia am Maiandros vom groſskönig belehnt war,
mit ansprüchen auf Myus und Lampsakos, städte des Reiches, also eine
gefährliche person, von der man sich arger dinge versehen muſste. er
war wirklich ein tyrann und schlug auf eignen namen münze, auch
falsche. aber er war alt und satt. seinem vaterlande tat er nichts zu
liebe noch zu leide und lieſs die weltgeschichte gehn wie sie wollte.
auch ihm störte niemand seine kreise. schlieſslich starb er irgendwann;
für Hellas war er lange tot.
Aber seine groſsen taten lebten, und sein über verdienst dankbares
volk ruhte nicht, bis es für seine taten einen andern abschluſs gefunden
hatte als den schrillen misklang der flucht des geächteten oder den
schlimmeren der faulen paschaexistenz. da er ihnen das gefürchtete leid
nicht antat, erzählten sie, er wäre freiwillig gestorben, als er sich nicht
anders der forderung des barbaren entziehen konnte, wider Hellas zu
45)
[149]Die geschichte des Themistokles.
fechten. das glaubten die Athener schon, als Perikles starb. jeder der
die zeiten genug kannte, um zu wissen, daſs die flucht fünf jahre vor
dem tode des Xerxes stattgefunden hatte, und daſs Xerxes der letzte ge-
wesen war, der einen zug gegen Hellas unternommen hatte, konnte gar
nicht anders als Themistokles zu Xerxes kommen lassen. das ist sogar
die verbreitete ansicht geblieben46); es war ja auch ungleich wirkungs-
voller. wer dagegen auch das wuſste, das zwischen der flucht [und] der
belehnung mit Magnesia jahre lagen, der hatte eine leere zeit, in welcher
die alten fabeln bequem platz fanden und für jede neue raum blieb.
neben der verschönenden liebe schwieg auch der haſs nicht. sowol dem
philosophischen staatsmanne, der Samos gegen Athen mit erfolg vertei-
digte, wie dem philosophischen freunde des Perikles hängten die feinde
hochverräterische schlechtigkeit an, indem sie erzählten, daſs Themistokles
mit ihnen beziehungen unterhalten hätte. die oligarchen, die den er-
bauer des hafens und der flotte als stifter der verfluchten demokratie
betrachteten, mochten dem Ephialtes womöglich schon bei lebzeiten vor-
rücken, daſs er gegen den Areopag nur als werkzeug des Themistokles sich
erhübe. endlich als der Perser wieder in Lampsakos und Myus gebot, der
hafen geschleift war und die demokratie sich mühselig vom tiefsten falle
erhob, trat ein ganz neuer bericht über die flucht des Themistokles mit
dem entschiedensten anspruch auf wahrheit hervor. was Thukydides er-
zählt, hat sich im altertum neben der legende behauptet; heut zu tage
glaubt man ihm blindlings. darf man das, und wenn man’s darf, wo
hat Thukydides die wahrheit her?
Jahresangaben macht er nicht; aber er läſst den Themistokles zu
Artaxerxes kommen, der 464 den thron bestiegen hat: am kanon der
könige ist nichts zu deuteln. daſs er die flucht anders als die andern
datirt hätte, ist nicht glaublich, da er sie durch den tod des Pausanias
bedingt werden läſst, den wir wesentlich auf grund seiner erzählung an-
setzen. das gibt also sieben leere jahre, und trotzdem muſs jeder leser
annehmen, daſs Themistokles auf umwegen, aber ohne längeren aufent-
halt von Argos nach Persien geflohen wäre. wer will es den Ephoros
und Dinon verdenken, wenn sie durch diesen leeren zeitraum mistrauisch
wurden? wie sollen wir es nicht werden, da Thukydides ihn entweder
nicht bemerkt oder verheimlicht hat? ja, es ist ein zug in der ge-
schichte, der sich mit seiner umgebung schlechthin nicht verträgt. The-
[150]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
mistokles soll beinahe dem heere, das Naxos belagerte, in die hände ge-
fallen sein (I 137). diese belagerung ist von der eroberung von Skyros,
also frühjahr 475, nur durch die von Karystos getrennt, und muſs bald
auf sie gefolgt sein; erst längere zeit danach folgt die schlacht am
Eurymedon, die doch noch unter Xerxes fällt. man wird gern zugeben,
daſs Naxos 471 oder 470 erobert ist, als man auf Themistokles fahndete,
wird gern glauben, daſs die belagernden wähnten, ein schiff, das sie auf
der see laviren sahen und das ihnen mit mühe auswich, hätte den hoch-
verräter an bord gehabt. allein mit der thukydideischen chronologie
streitet dieser zug unbedingt. es ist sehr merkwürdig, daſs man ihn
schon im altertum zu beseitigen versucht hat. bei Plutarch fährt
Themistokles von Pydna über Thasos47) nach Kyme. es handelt sich also
nicht um eine buchstabenänderung im Thukydidestext, wo ihn offenbar
der nordwind verschlägt, denn er geht von Pydna über Naxos nach Ephesos;
aber es ist doch eine correctur an der erzählung des Thukydides, be-
stimmt, sie mit der chronologie in einklang zu bringen. denn die be-
lagerung von Thasos 465—63 paſst allerdings zu der ankunft am hofe
des Artaxerxes. leider wird dadurch die leere reihe von jahren seit der
flucht nur verlängert: so läſst sich der schaden nicht heilen.
Ich habe mich schon seit mehr als zehn jahren48) verwundert, wie
sehr den modernen das etikett über den inhalt der flasche geht. was
im Herodotos steht, auch die ganze geschichte von 479, betrachten sie
als eine mehr oder minder sagenhafte tradition, obwol der erzähler der
zeit sehr nahe steht und an auffassungsvermögen und wahrheitsliebe un-
übertroffen ist. aber die geschichte vom edlen könig Admetos, dem
biedern schiffsherrn u. s. w. einschlieſslich des briefes, den Themistokles
an Artaxerxes schreibt49), halten sie für so wahr wie die leitartikel ihrer
lieblingszeitung, weil Thukydides diese geschichten erzählt. und doch
[151]Die geschichte des Themistokles.
hat sich von 479 bis 470 nicht viel geändert, Thukydides aber steht der
zeit beträchtlich ferner als Herodotos. ich bin an dem glauben irre ge-
worden, weil die scene am hofe des Admetos ein altes sagenmotiv auf
neue personen überträgt: das ist Telephos in Argos. ich bezweifle
durchaus nicht, daſs Thukydides ziemlich so getreu wie Herodotos erzählt
was er gehört hat, aber er konnte die sage gar nicht von der geschichte
sondern, und daſs der schüler der sophisten zu zeiten sich auch ohne
berechtigung das air gibt, über die volle wahrheit zu verfügen, ist un-
bestreitbar; die ermordung des Hipparchos hat dafür ein lehrreiches bei-
spiel geliefert.
Es ist und bleibt also eine offene frage, ob die geschichten bei
Thukydides mehr wert sind als die von Nikogenes von Aigai, von Lysi-
theides u. dgl. bei anderen schriftstellern. das geht aber doch nur eine
anzahl einzelner züge an 50): wie Thukydides mit der verwerfung des
selbstmordes recht hat, so wird man ihm die hauptsache, daſs Themi-
stokles erst an den hof des Artaxerxes gekommen ist, glauben, um
so mehr, da Charon von Lampsakos dies auch erzählt hat, und das ver-
hilft uns wol dazu, seine quelle zu erschlieſsen. ich würde es für über-
eilt halten, wollte man sie in der lampsakenischen chronik Charons
suchen; weder würde Thukydides einem buche so viel nacherzählt haben,
noch würden die, welche die übereinstimmung beider in einem detail
berichten, verschwiegen haben, daſs sie durchweg stimmten. aber ge-
meinsame lampsakenische überlieferung scheint mir vorzuliegen. denn
das epigramm eines lampsakenischen grabsteines führt Thukydides in seiner
Peisistratidengeschichte an 51), und Lampsakos war ja dem Themistokles
vom groſskönig geschenkt 52); es ist ihm dort später ein heroisches fest
[152]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
gefeiert und seine familie hat dort ehrenrechte genossen 53); er muſs sich
also verdienste um die stadt, wenn auch vielleicht nur ideelle, erworben
haben. mir scheint trotz der schlechten bezeugung glaubhafte über-
lieferung 54), daſs Themistokles der stadt, die er doch nicht zinspflichtig
machen konnte, groſsmütig den tribut erlieſs. als die Perser wieder-
kamen, kann ihr dies geschenk eines königlichen freundes sogar wirk-
lich zu statten gekommen sein. in Lampsakos also, denke ich, hat Charon
und hat später Thukydides über Themistokles nachrichten eingezogen,
aus dessen kreisen, wodurch sie ihren wert, freilich auch ihre beleuch-
tung erhielten. damit wird er auch andere nachrichten verbunden haben,
die ihm glaublich schienen, und wie so oft hat er sich im hochgefühle
der überlegenheit hingesetzt und die irrtümer seines kritiklosen volkes
berichtigt. dabei ist er dem allgemeinen geschick des kritikers ver-
fallen, daſs er selbst der kritik eine blöſse bot. er würde verstimmt
sein, aber er müſste selbst zugeben, daſs seine Themistoklesgeschichte
τοῖς χϱόνοις οὐκ ἀκϱιβής ist. 55) wir brauchen nur unser gewissen
zu befragen, um auf den vater der historischen kritik deshalb keinen stein
zu werfen.
Wir haben die überlieferung geprüft; das ergebnis ist meines er-
achtens erfreulich. wir wissen das genügende für die chronologie und
die tatsachen, und wir erkennen die novellistischen und tendenziösen be-
standteile als solche. es ist zeitgenössische dichtung: in diese classe
gehört auch die fabel, die den Aristoteles getäuscht hat, vom sturze des
Areopages durch Themistokles. so wie er sie erzählt, kann sie freilich
erst gegen ende des jahrhunderts ausgestaltet sein: aber welcher zeit
käme auch der haſs gegen die demokratischen helden besser zu?
Diesem haſs hat Aristoteles auch über den das wort gegeben, den
[153]Die geschichte des Themistokles. Aristeides.
nicht nur Timokreon verherrlicht, sondern den selbst der unerbittliche
kritiker des Gorgias als den gerechten anerkannt hatte 56), der auch bei
Aristoteles selbst als unantastbarer charakter vorkommt (Rhet. 2, 1398 a).
das δοκεῖν δίκαιος gibt er ihm auch hier freilich zu und erzählt die stiftungAristeides.
des Reiches in übereinstimmung mit den bekannten tatsachen; dies letztere,
da eine jahreszahl dabei steht, vermutlich nach der chronik. 57) dann
aber tritt der σύμβουλος vor das volk und gibt ihm die weisung für
seine gesammte politik: seeherrschaft und dadurch lohnende beschäftigung
für die bürger, städtische centralisation um von diesen vorteilen nutzen
zu ziehen. das volk handelt danach. es ist gewissermaſsen ein neuer
synoikismos, und durch die ausnutzung der bündner wird erzielt, daſs
20000 Athener auf Reichskosten leben. über diese summe wird eine
genaue rechnung aufgestellt.
Die rechnung im einzelnen nachzuweisen, so weit der zerrüttete
text es gestattet, verschiebe ich auf später 58), weil sie hier allzusehr den
zusammenhang zerreiſsen würde. hier genügt es zu betonen, daſs sie im
fünften jahrhundert aufgestellt ist, da wieder πόλις für die burg vor-
kommt, und daſs sie selbst eingesteht die verhältnisse einer späteren zeit
zu berücksichtigen. das mildert den anachronismus, aber die beurteilung
des Aristeides ist darum nicht minder unrichtig und nicht minder un-
gerecht. es ist wahr, aber in ganz anderem sinne, als es Aristoteles
begriffen hat, daſs die jahre 479—77 die Athener vor die folgenschwersten
entscheidungen stellten, und daſs sie sich so entschieden, daſs ihr Reich
die folge war. dieses Reich ist auch darum die bedeutendste politische
schöpfung der Hellenen, weil nur in diesem gebilde ein groſser politischer
gedanke consequent durchgeführt ist. nicht Aristoteles hat ihn begriffen,
aber wol z. b. der verfasser der xenophontischen Politie. aber es ist
[154]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
mit einer solchen schöpfung wie mit einem gedichte: da kommen die
regeln der poetik auch erst nach dem poem, in dem sie erfüllt sind.
erwachsen ist das Reich. mit den politischen concreten aufgaben haben
sich ihre lösungen eingestellt, und damit wieder ist der politische ge-
danke immer klarer dem volke zum bewuſstsein gekommen, das durch
ihn lebte und herrschte. niemand hat diesen gedanken ausgeheckt, es
sei denn das volk, und auch das nicht auf einmal und nicht als ein pro-
gramm. politische programme haben das allesammt an sich, daſs sie sich
nicht verwirklichen, sie seien denn nach dem erfolge in die vergangen-
heit zurückprojicirt. [auch] dieser plan des Aristeides hat nur die realität
der reden des Agrippa und Maecenas über den principat bei Dion.
Es ist ganz besonders schwer, aber auch ganz besonders nötig, daſs
der historiker sich in die situation der vergangenheit so zurückversetze,
daſs er von dem absieht, was damals zukunft war. wie lag es 479 im
herbst? frei war nur Hellas bis zu den Thermopylen und die Perser-
flotte war fürs erste aus dem aegeischen meere vertrieben. angriffe waren
nicht zu erwarten, aber der anschluſs der groſsen inseln Lesbos, Chios,
Samos an den Hellenenbund forderte auch von Sparta, so wenig man
dort noch ein eignes interesse zu verteidigen hatte, einige weitere actionen.
Xanthippos wagte mehr, er segelte nach dem Hellespont und nahm Sestos.
dem Perser die verbindung mit seinen europäischen besitzungen bedrohen,
das hieſs, diese ihm abnehmen wollen. gewiſs war das nötig, wenn man
Asiens küstenstädte frei erhalten wollte, was Sparta vergeblich dem drängen
Athens abzustreiten versuchte. wenn die attische bürgerschaft auf den
wegen des Xanthippos wandeln wollte, so hieſs das zweierlei, fortsetzung
des krieges, bis Europa frei wäre, und überwindung des peloponnesischen
widerstrebens, das man vom frühjahr her kannte. auch gegen Sparta
muſste man sich rüsten. die heimkehrenden bürger mochten sich der
gefahr nicht aussetzen, die stadt wieder räumen zu müssen; die an-
geknüpften asiatischen beziehungen forderten den ausbau der flotte: so
zwang der moment zu der ummauerung der stadt und des hafens. an
die langen mauern, die ναυτικὴ ἀκοσμία, die vernachlässigung des atti-
schen landes hat damals niemand gedacht, und doch führt eine völlig
geradlinige entwickelung zu all dem, was später die γνώϱιμοι schelten
und beklagen. an die wirtschaftlichen folgen hat man natürlich schon
gedacht, und das konnte man mit viel gröſserer sicherheit. denn eine
industriestadt war Athen seit Peisistratos, und daſs es sich auf den Ky-
kladen, an den meerengen und mündungen der thrakischen flüsse fest-
setzen müſste, um die nordischen rohproducte einzuführen, seine in-
[155]Aristeides.
dustrieproducte abzusetzen, wo möglich landlose für die armen bürger
zu erwerben, war sogar schon im siebenten jahrhundert begriffen und
versucht: das hatte die angriffspolitik des Dareios und die vertreibung
der tyrannen zerstört. um so weit zu kommen, wie man vor zwei
menschenaltern gewesen war, muſste der krieg mehr erreichen als die
befreiung Attikas, während die Peloponnesier sich befriedigt fühlen konnten.
478 setzte der ehrgeiz des Pausanias in Sparta (wo es keine poli-
tischen gedanken in die ferne gibt) noch durch, daſs man eine unter-
nehmung zur see mitmachte. nach einer schwerlich berechtigten fahrt
gegen Kypros setzte er da ein, wo Xanthippos aufgehört hatte, und es ge-
lang ihm auch den Bosporos zu nehmen. damit waren die europäischen be-
sitzungen der Perser abgeschnitten. aber ihre macht stützte sich gerade
hier auf starke festungen und zuverlässige garnisonen. denn nicht der
zug des Xerxes, sondern der widerstand der Peloponnesier gegen ihn war
eine improvisation gewesen. Persien hatte gar keine veranlassung mutlos
zu sein. auch Pausanias selbst glaubte besser für sich zu sorgen, wenn
er seine eroberungen als persischer satrap besäſse, als wenn er unter
das joch der ephoren zurückkehrte oder mit dutzenden von vertretern
selbständiger gemeinden parlamentirte. sein verrat zwang den Aristeides
dazu, den bund mit den Ioniern zu schlieſsen: da war noch an kein
reich zu denken, sie muſsten zu schutz und trutz zusammenstehn, wenn
sie ihre existenz sichern wollten. die selbsterhaltung forderte den engen
zusammenschluſs, forderte den krieg ohne, vielleicht gegen Sparta, sicher
gegen Persien. es ist eine ungeheure summe, 460 talente, die sie sich
selbst auferlegten; sie bedeutet damals viel mehr als man 454—426 auf-
gebracht hat. die summe beweist, daſs man sich nicht scheute zu tun
was not tat, aber sie beweist auch die not. die not wuchs, als Pausanias
zurückkehrend sich wieder der Propontis bemächtigte. damit war alles
in frage gestellt. aber mit raschem schlage und zäher ausdauer gieng
Kimon vor: erst ward Pausanias beseitigt, dann gieng er den Persern
in Europa zu leibe. als nach einem winterfeldzuge und einer schweren
belagerung Eion fiel, da hatten die Barbaren die verzweiflung gelernt 59);
man durfte das nächste ziel als erreicht ansehn.
Aischylos, der einen dieser feldzüge in Thrakien mitgemacht hat,
konnte nun den sieg Europas über Asien als entschieden betrachten.
Sparta, das noch während der belagerung von Eion eine unrühmlich
verlaufende expedition gegen Thessalien gemacht hatte, verzichtete nun
auf die see; um der Perser willen konnte es das, und um seiner selbst willen
muſste es das, weil die beiden archegeten, könig Leotychides und regent
Pausanias ihren staat so schwer compromittirt hatten, daſs er die führung
im Hellenenbunde nicht mehr beanspruchen konnte; und im Peloponne-
sischen bunde erhob sich unbotmäſsigkeit. man sieht die not am besten
daran, daſs Sparta weder den Leotychides abzusetzen noch den Pausanias
vor gericht zu ziehen wagt: der sieger von Plataiai war immer noch
eine macht, deren man gelegentlich sich zu bedienen hoffen mochte. was
die verhältnisse so in Sparta erzwangen, stellt die rhetorische geschichts-
schreibung als das ergebnis einer überlegung dar und legt es als
actionsprogramm den Hetoimaridas in den mund. 60)
Eine andere aufgabe stellte sich den Athenern. die dringende ge-
fahr war beseitigt: jetzt muſsten andere mächte den bund zusammen-
halten. es war nebensächlich, daſs man ein par gemeinden, die in seinen
bereich geographisch gehörten, mit gewalt zum eintritte zwang. 61) die
60)
[158]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
hauptsache war seine innere consolidirung. sie hat sich in dem jahr-
zehnt vollzogen, das zwischen der eroberung von Eion und der schlacht
am Eurymedon liegt. mit vollstem rechte legt Thukydides zwischen
beide eine allgemein gehaltene schilderung. wir vermögen aber fast nur
das resultat zu erkennen, nicht sein werden, und es ist zu fürchten,
daſs sich darin auch künftig nicht viel ändern wird. aber schon des-
wegen weil offenbar militärische unternehmungen in groſsem stile nicht
gemacht sind, ist die politische tätigkeit auf das höchste anzuschlagen.
viele dutzende von verträgen, wie die mit Erythrai und Kolophon, deren
reste wir lesen, müssen in dieser zeit geschlossen worden sein. die ab-
wälzung der militärischen lasten von den vielen kleinen gemeinden auf den
vorort, zum entgelt dafür die militärische besetzung vieler städte durch
attische garnisonen, die verwaltung und einziehung der tribute, die nun
nicht mehr unmittelbar für den krieg verwendung fanden und sicher-
lich stark herabgesetzt wurden, die neuen formen des rechtes, die
nötig wurden um sowol zwischen den einzelnen gemeinden wie zwischen
einzelnen bürgern verschiedener gemeinden einen rechtsweg zu schaffen,
und die erst sehr allmählich zu der einführung der athenischen ge-
richtshoheit führten, all dies und unendlich viel anderes, was man
nicht einmal alles ahnen kann, zwangen die verhältnisse zu bedenken
und zu beschlieſsen. niemand konnte sich im voraus ein bild machen,
wie sich die dinge gestalten würden, wenn sich auch schlieſslich der
gemeinsame zug der entwickelung in allem zeigte, immer mehr pflichten
für die athenischen bürger und ihren staat, also auch immer gröſsere
macht für sie. dieses eine mal in der hellenischen geschichte war die
bewegung wirklich eine centripetale. 62)
Wie unhistorisch ist dem gegenüber die vorstellung, daſs Aristeides
vor das volk tritt und ihm erzählt was nachher geworden ist, zum guten
teile nach seinem tode. aber die aristotelische schilderung ist noch etwas
schlimmeres als unhistorisch, sie ist perfid. was ist der erfolg der eide,
für die die Ionier die metallklumpen auf der see versenkten? was ist
die lockende zukunft, die Aristeides der gerechte den Athenern vormalt
und verwirklicht? 20000 bürger leben auf kosten der bündner. der
gemeine profit des philisters und die gemeine volksschmeichelei des
demagogen. gewiſs, es hat auch in Athen der philister das ideal mit
dem bauche empfunden, er hat sich den spruch an den Erechtheussohn
αἰετὸς ἐν νεφέλῃσι γενήσεαι ἤματα πάντα gemütlich so gedeutet, er
sollte in Arkadien für 5 obolen den tag geschwornendienste tun. 63) aber
der philister repraesentirt nicht die nation und am wenigsten ihren poli-
tischen führer, der mit den instincten der gemeinheit rechnen muſs, weil
sie für ihn gegeben sind, der aber das groſse nur schafft, indem er den
edeln regungen der volksseele zur macht über die philisterinstincte ver-
hilft, und dem Aristeides soll kein giftiger witz diesen ruhm ver-
kümmern. es ist gewiſs witzig, aber es ist auch giftig, daſs die ge-
rechtigkeit des gerechtesten schlieſslich auf dasselbe hinausläuft wie die
staatskunst der Kallikles und Thrasymachos, auf τὸ τοῦ κϱείττονος
συμφέϱον. die scheinbare objectivität, mit der Aristoteles redet, macht
das gift nur ätzender, und es muſs zugestanden werden, daſs es in seinem
bewuſstsein und in seinem munde auch mehr besagt als in dem des
oligarchen, der die 20000 aus öffentlichen mitteln gespeisten männer
zusammengerechnet hat: jener verhöhnte nur das urteil der öffentlichen
meinung über Aristeides den gerechten, dem schon Timokreon diesen
preis gegeben hatte, und der als δίκαιος auf der bühne des Eupolis
erschienen war. Aristoteles dagegen hatte den Gorgias im gedächtnis,
in dem sein groſser lehrer zwar Miltiades und Themistokles und
Kimon und Perikles geprüft und verworfen hat, aber in dem groſs-
artigen schluſsbilde des jenseits den Aristeides allein namhaft macht als
einen, dem die schwere tat gelungen, in einer stellung gerecht zu bleiben,
die ihm die reichlichste gelegenheit bot, ungestraft unrecht zu tun, und
der sich dadurch bei den Hellenen einen hohen ruhm erworben (526).
und die gerechtigkeit (um diese ungenügende wiedergabe für die unübersetz-
62)
[160]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
bare δικαιοσύνη Platons zu brauchen) war ja für den platonischen Staat
die fundamentale tugend, und er hatte dort einen schönen vers des
Aischylos leise umformend den gerechten in dem gefunden, der οὐ
δοκεῖν δίκαιος ἀλλ̕ εἶναι ϑέλει.64) für die leser, auf die Aristoteles
rechnen konnte, lag also eine sehr spitze pointe darin, wenn er von
Aristeides sagte δοκῶν δικαιοσύνῃ τῶν καϑ̕ ἑαυτὸν διαφέϱειν. 65)
[161]Aristeides. die oligarchische grundschrift.
sein recht war es, der allgemeinen schätzung des mannes entgegen zu
treten, wenn sie falsch war. aber dann muſste er diesen nachweis
führen. amicus Plato, magis amica veritas, gewiſs. auch in solchem
kampfe zu irren ist menschlich. aber hier hat er nicht nach der wahr-
heit gefragt, sondern die verläumdung ungeprüft aufgenommen und
weiter gegeben.
Aber der protest gegen das verfahren des Aristoteles ist hier nochDie oligar-
chische
grund-
schrift.
nicht am platze; die eigne sympathie nötigte ihn mir nur ab. hier
fragen wir lediglich, nachdem wir erkannt haben, wes geistes sie sind,
wo Aristoteles diese kritiken der groſsen demagogen her hat. wir
haben schon mehrere stücke auf die oligarchische tendenzschriftstellerei
des ausgehenden fünften jahrhunderts zurückgeführt; einmal die öfter
auftauchende absprechende beurteilung Solons, die Aristoteles, dort
unbefangen prüfend, den βλασφημεῖν βουλόμενοι beilegt; sie hatte in
der erzählung von den dreiſsig ein zugehöriges stück. dann aber er-
schien gleicher herkunft der bericht über Drakon, wahrscheinlich auch
das actenmaterial, mit dem die thukydideische darstellung der revolution
von 411 berichtigt wird. es hat geschichtlich keine groſse bedeutung,
ob diese stücke alle auf dieselbe vorlage zurückgehen oder nicht; wichtig
ist es für die litterarische würdigung der schrift und die moralisch-
wissenschaftliche des Aristoteles. entscheidend wird dafür nicht die
gleiche entstehungszeit sein, zumal spuren der alten sprache ja auch in
den stücken vorliegen, die aus der chronik stammen, aber die tendenz
ist durchaus die gleiche, so daſs ich immer mehr auf die annahme einer
einzigen bestimmten schrift hingedrängt worden bin. eine art recon-
struction wird das am kürzesten erkennen lassen.
“Man feiert den Solon als begründer der attischen demokratie. das ist
er freilich, aber damit ist gesagt, daſs er der vater alles übels ist. die seisach-
thie hat er unternommen um sich und seine freunde zu bereichern, die
schleunigst ländereien kauften, wol wissend, daſs die hypothekenschulden
niedergeschlagen würden. aus dieser quelle stammt der reichtum der Kallias
und Alkibiades und Konon, dle sich jetzt gebärden, als repraesentirten
sie den alten und befestigten grundbesitz. 66) die wurzel der demokratie
65)
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 11
[162]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
ist, daſs die schlieſsliche entscheidung in allen sachen bei dem ge-
schwornengerichte liegt, zu dem alle bürger qualificirt sind. und diese
wurzel ist solonisch, er hat diesen heillosen zustand selbst beabsichtigt,
hat er doch sogar die gesetze absichtlich zweideutig gemacht, damit die
leute mehr prozessirten, z. b. die testirfreiheit durch eine menge captiöser
ausnahmen beschränkt. wie sollte es anders sein, als daſs dem herren,
dem in den gerichten ohne verantwortlichkeit schaltenden demos, zu liebe
immer gewissenlosere demagogen seine gelüste befriedigten? da ist
Themistokles, den sie wegen Salamis verherrlichen; nun um Salamis hat
das eigentliche verdienst der Areopag, und eben den hat Ephialtes auf
den antrieb des Themistokles gestürzt. der aufschwung Athens in jener
zeit hatte in wahrheit den grund, daſs der demos dem Areopage still-
schweigend das regiment lieſs: hätte man es ihm nur nicht genommen;
nun, den urhebern der änderung ist’s schlecht genug bekommen,
Themistokles ist landflüchtig bei den Persern gestorben, Ephialtes
durch einen Tanagraeer meuchlings ermordet. da loben sie den Ari-
steides als den gerechtesten der Hellenen: aber diese gerechtigkeit läuft
darauf hinaus, daſs jetzt 20000 bummler auf kosten der bündner futter
bekommen. natürlich paſst das den bündnern nicht, und wir haben
den krieg. schlieſslich hat Perikles (übrigens ein mensch ohne eigne
gedanken, so daſs sie ihm Damonides einblasen muſste) das maſs voll-
gemacht und den richtern für ihre staatsverderbende tätigkeit sold be-
zahlt. es war das unglück, daſs die anständigen leute in der kritischen
zeit keinen führer hatten 67); dem Kimon fehlte es am besten, um diese
stellung mehr als dem namen nach auszufüllen. nach Perikles, der immerhin
noch ein mann aus anständiger familie war, müssen wir die lohgerber
und lichtzieher in hemdsärmeln auf der tribüne schreien und schimpfen
hören. so geht das nicht weiter. die arge wurzel muſs ausgerodet werden.
das ist mit nichten ein abfall von den traditionen der väter, das ist im
gegenteil eine rückkehr zur πάτϱιος πολιτεία. wie war es zu Drakons
zeit? da beschränkte sich die teilnahme am staate auf die zum hopliten-
dienste befähigten: so muſs das wieder werden. damals waren die wich-
tigsten ämter an einen hohen census geknüpft; das wollen wir in
diesen schlechten zeiten nicht wieder einführen. damals fehlte eine
beschwerdeinstanz für jeden übergriff eines beamten keinesweges: nur
66)
[163]Die oligarchische grundschrift.
die verderbliche appellation an das gericht galt nicht, sondern der
Areopag entschied. ein rat, zu dem alle berechtigt waren, ward auch
ausgelost, aber nicht jetzt, wo die faulpelze sich zu den diäten drängen,
die anständigen leute sich zurückhalten, kommt das ganze volk in ihm
zu seinem gleichen rechte, sondern damals, wo jeder in festem turnus
hineinkam, und die tätige teilnahme durch strafen für die versäumnis
erzwungen ward: das müssen wir wieder herstellen. — eine revision der
bestehenden verfassung, die mit der rückkehr zu den ordnungen der
väter ernst macht, sieht so und so aus.”
An dieser stelle könnte der verfassungsentwurf der 100 nomotheten
von 411 stehn, und die ganze schrift würde geeignet sein, ihn zu be-
gründen. aber es ist ein wesentliches moment der drakontischen ver-
fassung, der rat der 400, erst in der provisorischen verfassung von 411
benutzt, die abschaffung der solonischen beschränkungen der freien ver-
erbung ist erst von den 30 beliebt, endlich hat Aristoteles die ganze
reihe der urkunden von 411 offenbar aus derselben quelle, also ist der
fortgang der schrift vielmehr so zu denken.
“In dem sinne haben die gesetzgeber von 411 die revision geplant.
denn den vorwurf staatsfeindlicher gesinnung verdienen sie nicht: die
anträge, auf grund deren die nomotheten erwählt wurden, und die ledig-
lich provisorische einsetzung der 400 gibt zu keinen solchen ausstellungen
anlaſs, man sehe nur die acten. schlechte leute, wie die hochverräter
Phrynichos und Antiphon, haben die gute unternehmung scheitern lassen,
und die sie gestürzt haben, sind eben dieselben, die für die πάτϱιος
πολιτεία nachdrücklich eingetreten waren, aber zu einer gesetzwidrig-
keit ihre hand nicht boten, Aristokrates und Theramenes. in diese
bahnen müssen wir zurückkehren.”
Ich habe nur ein par bindeglieder zwischen die sätze geschoben,
deren herkunft aus oligarchischer quelle sich herausgestellt hat, und
dann die tendenz zum ausdruck gebracht, die ein bindeglied zwischen
der historischen kritik der demokratie und den verfassungsplänen bildet.
das ist der satz, die πάτϱιος πολιτεία ist das richtige, die solonische
verfassung mit ihren consequenzen ist das falsche. es ist nun offenbar,
daſs dieser satz sowol 411 wie 404 das programm der gemäſsigten ge-
wesen ist, der oligarchen wie der demokraten. als verteidiger der
πάτϱιος πολιτεία fanden sich gegen die günstlinge des Lysandros leute
wie Archinos und Phormisios mit Theramenes zusammen (34, 3). sie
verstanden nur etwas verschiedenes darunter. Kleitophon nannte die
gesetze des Kleisthenes πάτϱιοι (29, 3), dagegen bezeichneten die
11*
[164]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
nomotheten die zahl von 400 für den rat als κατὰ τὰ πάτϱια. der
verfasser der parteischrift hat in der verfassung Drakons dem schlag-
worte einen concreten inhalt gegeben, und es unterliegt keinem zweifel,
daſs sie es gewesen ist, die auch jenen nomotheten von 411 zum muster
gedient hat. damals haben erst die ausschreitungen der ultras die un-
leugbar in der stadt vorhandenen sympathien für die neue ordnung ver-
scherzt. 68) 404 verhinderte Lysandros die entsprechende bewegung aller
ihren fanatismus beherrschenden vaterlandsfreunde. aber sowol unter
den 30 wie in ihrem rate saſsen doch eine gröſsere anzahl von an-
hängern der πάτϱιος πολιτεία, und sie wiederholten unter ungünstigeren
verhältnissen das spiel von 411, um es zu verlieren, zuerst an die herren
der situation, die tyrannen, dann an den demos: so kamen sie zwischen
zwei feuer und haben definitiv alle bedeutung verloren. die partei hat
403 nicht überlebt: schon deshalb muſs die darstellung des Aristoteles,
der ihre ideen durchaus billigt, aus ihrem eignen kreise stammen.
Wo er von der beurteilung der groſsen demagogen zu der dar-
stellung der letzten jahre des Reiches übergeht, tut er das mit dem
lobe des Theramenes und gibt das urteil ab, daſs eine nicht oberfläch-
liche betrachtung in diesem den letzten guten staatsmann anerkennen
müsse. er knüpft also an diesen namen die würdigung der oligarchi-
schen politik, der er sich auch in der beurteilung der vorzeit an-
geschlossen hat, mit ausnahme Solons: da stand ihm in den gedichten
ein sicheres correctiv zu gebote; da scheut er sich auch nicht die be-
schuldigung der geflissentlichen böswilligkeit gegen seine quelle aus-
zusprechen, der er doch alle böswilligkeiten gegen Perikles und Kimon
nachspricht — doch das ist vielleicht zu viel gesagt: wir können ja
nicht wissen, wie viel schlimmeres er unterdrückt hat. immerhin hat
er sich genug blasphemieen angeeignet. wenn er selbst die tätigkeit
und die person des Theramenes so sehr hervorhebt, wenn es offen zu
[165]Die oligarchische grundschrift. Theramenes.
tage liegt, daſs es durchaus in Theramenes sinne ist, wie er die ge-
schichte von 411 und 404 darstellt, so drängt sich dieser name auf
unsere lippen, sobald wir versuchen den verfasser jener oligarchischen
schrift zu benennen. schwerlich könnte man einen so geeigneten erfinden,
und Kritias z. b., der den vorzug hat eine πολιτεία Ἀϑηναίων ge-
schrieben zu haben und der zeit nach auch passen könnte, ist weniger
durch seine abweichende beurteilung Kimons ausgeschlossen als dadurch,
daſs er die revolution von 411 überhaupt nicht mitgemacht hat und 404
der führer der gegenpartei war. die verfassung der väter ist diesem ge-
sinnungslosen, der mit den penesten wider den adel conspirirt, als demo-
krat den Alkibiades heimgerufen und aus den händen des Lysandros die
tyrannis angenommen hat, dem dichter des Sisyphos gänzlich gleichgiltig
gewesen. ich bin kein freund von der benamsung hypothetischer schrift-
steller und weiſs das übergewicht dessen was wir nicht wissen können
über das was wir wissen einigermaſsen zu schätzen: trotzdem wage ich
den schluſs, daſs Aristoteles eine politische schrift des Theramenes be-
nutzt hat, die dieser als programm seiner partei unter den Dreiſsig im
herbst 404 verfaſst hatte.
Diesen schluſs wage ich deshalb, weil Aristoteles ein wort desThera-
menes.
Theramenes als solches anführt 36, 2. nachdem er erzählt hat, daſs
Theramenes die Dreiſsig gemahnt hätte, den βέλτιστοι an der ver-
waltung anteil zu geben, und sie eine liste von 3000 aufstellen wollten,
geht es weiter Θηϱαμένης δέ πάλιν ἐπιτιμᾷ καὶ τούτοις, πϱῶτον
μὲν ὅτι βουλόμενοι μεταδοῦναι τοῖς ἐπιεικέσι τϱισχιλίοις μόνοις
μεταδιδόασιν, ὡς ἐν τούτῳ τῷ πλήϑει τῆς ἀϱετῆς ὡϱισμένης,
ἔπειϑ̕ ὅτι δύο τὰ ἐναντιώτατα ποιοῦσιν, βίαιόν τε τὴν ἀϱχὴν
καὶ τῶν ἀϱχομένων ἥττω κατασκευάζοντες. es kann natürlich die
begründung einer maſsregel als rede dessen eingeführt werden, der sie
anregt; das ist griechische weise und geschieht z. b. 40, 2. hier zeigt
aber die zugespitzte form des ausdruckes, daſs wirklich worte des Thera-
menes angeführt werden, wozu das praesens gut paſst, obwol es an
sich gar nichts beweist. es kann sich immer noch um ein apo-
phthegma handeln, das im gedächtnis geblieben war. da tritt nun
aber Xenophon ein, der die ganze geschichte der tyrannenherrschaft
als einen persönlichen kampf zwischen Kritias und Theramenes darstellt.
er läſst den Theramenes zuerst schon in directer rede den Kritias vor
gewalttaten gegen die καλοὶ κἀγαϑοὶ warnen, und Kritias antwortet in
directer rede. die gewalttaten nehmen ihren fortgang, und Theramenes
spricht zum zweiten male und fordert die zuziehung von genügenden
[166]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
teilnehmern am staate. Kritias und genossen stellen den katalog der
3000 auf; da wendet Theramenes auch dagegen ein ὅτι ἄτοπον δοκοίη
ἑαυτῷ γε εἶναι τὸ πϱῶτον μὲν βουλομένους τοὺς βελτίστους τῶν
πολιτῶν κοινωνοὺς ποιήσασϑαι τϱισχιλίους, ὥσπεϱ τὸν ἀϱιϑμὸν
τοῦτον ἔχοντά τιοα ἀνάγκην καλοὺς κἀγαϑοὺς εἶναι καὶ οὔτ̕ ἔξω
τούτων σπουδαίους οὔτ̕ ἐντὸς πονηϱοὺς οἷόν τ̕ εἴη γεοέσϑαι.
ἔπειτα δ̕, ἔφη, ὁϱῶ ἔγωγε δύο ἡμᾶς τὰ ἐναντιώτατα πϱάττοντας
βίαιόο τε τὴο ἀϱχὴν καὶ ἥττονα τῶν ἀϱχομένων κατασκευαζομένους
(Hell. II 3, 19). darauf entwaffnen sie die bürgerschaft auſser den 3000,
verlangen daſs jeder der 30 einen metöken sich nehme, den er töten
lasse und sein vermögen confiscire, wogegen Theramenes wieder eine rede
hält; da geht Kritias gegen diesen direct vor; es folgen von beiden lange
reden, und so geht es fort in dramatischem stile bis zu Theramenes bekanntem
Κϱιτίᾳ τῷ καλῷ. bisher konnte man natürlich diese ganze darstellung nur
für xenophontische stilisirung halten. nun erscheint ein wort daraus bei
Aristoteles. daſs er den Xenophon, den er mit recht durchweg ignorirt
hat, hier ausschrieb, ist nicht denkbar: seine ganze erzählung steht ja
in widerspruch mit der xenophontischen. auch ist eben das worin sie
stimmen bei Aristoteles viel schärfer und kürzer ausgedrückt. es bleibt
also nur die erklärung für die auffällige übereinstimmung, daſs beide
schriftsteller dieselbe überlieferung vor augen haben, und diese kann
nur in worten des Theramenes bestehn, da die übereinstimmung sich
auf solche beschränkt. auch ist die benutzung eines geschichtlichen be-
richtes durch Xenophon wirklich nicht wol zu glauben. nun muſs freilich
zugestanden werden, daſs sich aus diesen wenigen worten oder sätzen
ein klares bild von der schrift nicht gewinnen läſst, die beiden schrift-
stellern vorlag; man wird aber an eine gehaltene oder schriftlich ver-
breitete rede am ehesten denken. und tut man das, so ergeben sich
die weiteren schlüsse fast mit notwendigkeit. Aristoteles hat eine schrift
des Theramenes benutzt: Aristoteles hat eine oligarchische schrift aus
Theramenes zeit benutzt: folglich sind diese beiden schriften identisch.
Aristoteles schlieſst sich dem politischen urteil des Theramenes über
dessen zeit an: das erklärt sich aus der benutzung einer schrift von ihm
am besten. Aristoteles gibt über die ältere zeit mit ausnahme des Solon
eine politische ansicht wieder, die nur von dem standpunkte der oligarchen
von 411 verständlich ist, und gerade bei Solon weist er eine ansicht ab,
welche eben von jenem standpunkte allein abgegeben sein kann und
nachweislich um 404 abgegeben ist: folglich gehört sowol der stand-
punkt wie die schrift dem Theramenes. Theramenes fordert unter den
[167]Theramenes.
Dreiſsig die beteiligung der ἐπιεικεῖς: die oligarchische schrift unterscheidet
durchgehends zwischen dieser partei und dem demos. er verwirft heftig
die abgrenzung durch die zahl: sowol die verfassung Drakons wie die
von 411 hat dafür die abgrenzung durch das ὅπλα παϱέχεσϑαι. es
steht diese verfassung, die Theramenes und Aristoteles gut heiſsen,
gleichermaſsen im gegensatze zu der tyrannis der Dreiſsig wie zu der
vollen demokratie. in der vorlage des Aristoteles stand eine persön-
liche verläumdung gegen Alkibiades und gegen Konon: das paſst auf 404.
Solon ward rückhaltlos angegriffen: das lieſs sich unter der demokratie
nicht wol aussprechen, ist fast nur 404 möglich. die beseitigung des
Areopages hieſs ein frevel: die dreiſsig haben die gesetze des Ephialtes
und Perikles beseitigt. daſs Athen der äuſsersten demokratie verfiel,
lag daran daſs die ἐπιεικεῖς führerlos waren: Theramenes wollte ihnen
die herrschaft verschaffen und natürlich selbst ihr führer sein.
Theramenes ὁ κομϋός (Ar. Frösch. 967) hat den ruhm der be-
redsamkeit bewahrt; hat man ihn doch sogar dem Isokrates zum lehrer
gegeben. aber daſs er reden herausgegeben hätte, ist nicht überliefert,
und in die bibliotheken des 3. jahrhunderts nichts unter seinem namen
gekommen.69) wenn also Aristoteles eine schrift von ihm benutzt haben
[168]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
soll, so heiſst das, er besaſs was ein menschenalter später verschollen
war. dafür gibt es analogien genug. Theophrastos hat in seiner ge-
schichte der naturphilosophie mehr als ein buch als letzter benutzt.
dithyramben des Lasos hat Herakleides vom Pontos citirt; später kennt man
nichts ächtes mehr von ihm. die musikalische schrift des Damon hat
den Chamaileon nicht überlebt. die Πολιτεία Ἀϑηναίων hat sich nur
erhalten, weil sie mit der lakedaemonischen des Xenophon verwachsen
war; sie hat allerdings nur in den katalogen gestanden und ist ein oder
das andere mal von einem lexikographen eingesehen. denn man be-
trachtete diese Athen feindliche schriftstellerei mit einer solchen misgunst,
daſs die prosaischen schriften des Kritias ein halbes jahrtausend verschollen
blieben und sogar ihre existenz oder ächtheit bestritten ward. weil die
schrift des Theramenes selbst verloren war, hat man die geschichten auf
die einzige autorität des Aristoteles stellen müssen, die dieser ihr ent-
lehnt hatte. das ist schon zu den zeiten geschehen, wo die biographische
compilation blühte, von der Plutarch abhängt. dagegen vor und neben
Aristoteles kennen wir zwei benutzer des Theramenes, den Xenophon,
der ein wort oder vielmehr eine gedankenreihe aus ihr citirt, vielleicht
auch sonst von ihr beeinfluſst ist, und den Theopompos, der für seine
schilderung von Kimon und Kleon züge aus ihr geborgt hat, in wahr-
heit recht viel von der stimmung seines excurses über die attischen dema-
gogen ihr verdankt.
Es ist nichts geringes, wenn Aristoteles uns also die möglichkeit
gibt, eine parteischrift aus dem jahre der Dreiſsig zurückzugewinnen.
vielleicht nicht minder wertvoll ist es, daſs die haltung des Aristoteles
gegenüber den gröſsen der demokratie sehr viel entschuldbarer wird,
wenn er das urteil dem Theramenes entlehnt hat. daſs er diesen her-
vorzog, lag daran, daſs er bei ihm seine eigene politische überzeugung
wiederfand. sein ideal war die πολιτεία, eine sorte demokratie oder
aristokratie, die freilich mehr in dem gewächshause der speculation als
in dem freien lande des politischen lebens gedieh: die πάτϱιος πολι-
τεία des Theramenes kam ihr am nächsten; daſs sie sich nicht viel
lebenskräftiger bewiesen hatte, focht den philosophen nicht an. so sym-
pathisirte er mit den praktischen tendenzen des Theramenes und kam
zu dem urteil, daſs dieser bei eindringender betrachtung als der beste
staatsmann anerkannt werden müſste. dann war auch seine kritik der
älteren staatsmänner höchst beachtenswert, da er ja den richtigen maſs-
stab für die beurteilung ihrer ziele besaſs. daſs er von Drakon etwas
wuſste, empfahl seine kenntnisse dem forscher. daſs er daneben ver-
[169]Theramenes. die politische litteratur Athens.
läumderisch war, sah derselbe an Solon, und da rügte er es. aber über
Themistokles und Perikles hat er ihm glauben geschenkt. diese in-
consequenz zu erklären, müssen wir noch zwei factoren in rechnung
setzen, den haſs des Aristoteles selbst gegen den demos und seine un-
fähigkeit, die attische Reichspolitik zu verstehn. das geht nur den
Aristoteles an und gehört an einen anderen platz: hier kann ich nicht
umhin, auszuführen, was meines erachtens geeignet ist, das buch des
Theramenes begreiflich zu machen. meine vermutung hat es doch erst
hervorgezogen; wenn sie falsch sein sollte, hat sie es erfunden. ich
will angeben, an welche stelle der litterarischen entwickelung und der
politischen kritik es gehört: ich will wenigstens stilgerecht erfunden
haben.
Die prosa ist in Ionien an die stelle des epos getreten. an dieDie
politische
litteratur
Athens.
stelle des heldenliedes trat die prosaische bearbeitung des sagenstoffes,
wie im Norden die saga, bei uns das volksbuch. an die stelle der
epischen dichtung über himmel und schöpfung, ferne länder und sitten,
lebensführung und lebensziel tritt das prosabuch über dieselben gegen-
stände. der epischen form bedient sich die ναυτικὴ ἀστϱολογία des
s. g. Thales und dann Kleostratos, episch sind die Ἀϱιμάσπεια, die
γνῶμαι des Phokylides, die ἀλήϑεια des Parmenides. die physik des
Anaximandros und seiner genossen, die ἱστοϱίη des Hekataios, der λόγος
des Herakleitos sind ihre prosaischen nachfolger. die prosa Ioniens
arbeitet sich zu einer kunstform durch70) und gewinnt wie das epos (im
mutterlande auch die chorische lyrik) panhellenische geltung. es hätte
sich gewiſs auch die prosaische politische rede und schrift an stelle der
politischen paraenese individueller art, wie sie Archilochos und Kallinos
geübt hatten, nicht ohne bedeutendere nachfolger im mutterlande zu
finden, entwickelt, wenn es bei den Ioniern noch ein politisches leben
gegeben hätte. aber Ionien war tot, oder vielmehr es erhielt sein leben
wo anders her, aus Athen, und deshalb ist in Athen die elegie des Solon
durch die politische schriftstellerei der Antiphon Theramenes Kritias
ersetzt worden.
Unsere tradition über den ursprung der beredsamkeit ist von Aristo-
teles begründet, und ganz derselbe fehler, der ihn der attischen politik
gegenüber ungerecht gemacht hat, hat ihn die bedeutung der politischen
[170]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
schriftstellerei der Athener unterschätzen lassen. er hat auf die technik,
wesentlich der gerichtsrede, den hauptwert gelegt, und so sehen wir die
wurzel der beredsamkeit in dem handbuche des Teisias von Syrakus. in
wahrheit ist die hellenische prosa die tochter der attischen prosa, und diese
ist im rathause und auf der pnyx entstanden; und die hellenische sprache
ist die tochter der attischen schriftsprache, die in den kanzleien Athens
entstanden ist. die sophistik Ioniens hat wol ammendienste getan: aber
das kind ist aus dem attischen boden entstanden, und die Jungfrau der
burg, die herrin des Reiches, ist seine pflegerin. daſs noch heute die
Hellenen von Trapezunt bis Bova, von Odessa bis Kairo eine sprache
reden und als ein volk sich fühlen, das verdanken sie den beiden groſsen
versuchen zu der politischen einigung dieses volkes, dem reiche Athenas
und dem reiche des Alexandros; beide hat Aristoteles nicht zu würdigen
vermocht.
Zu den zeiten, da Perikles ein alter mann war, ist die attische
sprache für die schriftstellerei geschmeidig gemacht, und nun beginnen die
leute sich ihrer für politische schriftstellerei zu bedienen, natürlich auch
für andere, wie Meton für seine astronomie, aber die politischen inter-
essen überwiegen alles andere. Perikles selbst wirkte schon durch die
rede mit bewuſster kunst; es mag sich mancher als hilfe des gedächt-
nisses manches von seiner leichenrede für die gefallenen von Samos auf-
gezeichnet haben: er selbst publicirte noch nicht. die blühende ionische
sophistik, die darauf anspruch erhob eine allerweltskunst zu sein und
gerade für das praktische leben tüchtig zu machen, griff auch in das
politische gebiet über, lehrte auch die praktische beredsamkeit, und die
Athener, die bei den sophisten lernten, folgten in vielem zunächst ihren
meistern. wenn Damon seine musik und metrik in die form einer rede
über jugenderziehung kleidete, so ist die berührung mit sophistischen
vorträgen unverkennbar; es ist auch wahrscheinlich, daſs Antiphon zu-
nächst musterstücke über fictive fälle publicirt hat71) wie Thrasymachos.
[171]Die politische litteratur Athens.
andererseits schrieb der thasische litterat Stesimbrotos 429 die erste
brochure mit einer praktisch politischen tendenz, wol auf bestellung.
die schilderung, die Ion von den besuchen berühmter leute in seiner
heimat entwirft, nicht ohne sonst vielerlei aus seinen erlebnissen mit-
zuteilen, ist eine uns sehr modern anmutende erscheinung derselben
ionischen ἱστοϱίη, die Skylax und Euthymenes zu ihren reiseberichten,
Herodot, der die politische tendenz in Athen erhielt, zu seiner ἵστο-
ϱίης ἀπόδεξις trieb.
Erst als der kampf der jungen gegen die alten beginnt, den uns
am besten die komoedien des jungen Aristophanes zeigen, der für die
alten schreibt, wird die neue waffe mit macht geschwungen. zwar be-
ginnt die reihe ein älterer. der oligarch, der bald nach Perikles tode mit
widerwilliger bewunderung die consequenz und die unüberwindlichkeit
des demos darlegt, ist kein jüngling: seine belege wählt er aus den
fünfziger jahren, und er misbilligt auch die praktischen pläne seiner
heiſsblütigen gesinnungsgenossen.72) jugend läſst sich nicht halten.
Andokides hetzt seinen clubb wider den demos mit leidenschaftlichster
persönlicher polemik. der bejahrtere Antiphon bereitet die revolution
vor, indem er sich der Reichsstädte vor dem volksgerichte annimmt und,
ähnlich wie Ephialtes vor dem angriffe auf den Areopag, die männer
der regierung mit processen verfolgt.73) man veröffentlicht jetzt vielfach
solche reden, auch wenn sie lediglich persönliches interesse erwecken,
nicht als sophistische schaustücke, sondern im interesse der personen
und um politisch zu wirken.74) das plaidoyer wird erst jetzt litterarisch;
nicht die fremden sophisten, die sie schrieben, sondern die bürger die
71)
[172]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
sie hielten, haben die reden zuerst veröffentlicht. die redegewaltigen
lehrer und schriftsteller von beruf treten mit reden allgemeinerer haltung
auf den plan, aber einen politischen inhalt zwingt ihnen die fieberhitze
des kampfes auf, in dem sich Hellas verzehrt. Gorgias, der Chalkidier
aus dem westen, selbst heimatlos durch den bürgerkrieg geworden, ver-
kündet im epitaphios die gröſse Athens, von dem er die herstellung
seiner heimatstadt hofft: dieser stolze hymnus gibt die stimmung wieder,
in der das volk sich für die kriegspläne des Alkibiades begeistern lieſs,
und ist ohne zweifel bald nach dem Nikiasfrieden veröffentlicht. im
sommer 408 hielt er in Olympia die rede, welche Hellas mahnte, lieber
gemeinsam gegen Persien vorzugehn als um die persische gunst zu
buhlen: es war die stimmung, die gerade damals spartanische anträge
nach Athen führte, und die Kallikratides bis zu seinem tode vertreten
hat.75) Thrasymachos, ebenfalls schon längst als lehrer und verfertiger
[173]Die politische litteratur Athens.
von musterstücken berühmt, schreibt einen συμβουλευτικός, in dem er
auf die 411 brennende prinzipienfrage nach der πάτϱιος πολιτεία ein-
geht.76) der sophist Antiphon erörtert neben den physischen problemen
der sophistik auch ethische, sociale.77) ihm stehen die prosaischen
75)
[174]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
schriften des Kritias nahe, der als ein in allen sätteln gerechter journalist
dem entsprechend nirgend gründlich, nirgend eigene gedanken, nirgend
consequente grundsätze vertretend, alles mögliche behandelt zu haben
scheint, und in den prosaischen πολιτεῖαι zwar die demokratie, zumal
die heimische, vor seinen thessalischen freunden in den staub zog,
77)
[175]Die politische litteratur Athens.
während er die lakonische erhob, aber, so viel wir erkennen können,
viel mehr das behandelte, was später βίοι heiſst, als die kritik oder die
darstellung der verfassungsformen oder gar sein eigenes politisches
programm78): das wäre ehrlich ausgesprochen nichts gewesen als τὸ
[176]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
τοῦ κϱείττονος συμφέϱον, wie es in Platons Staat die gegner der
δικαιοσύνη vertreten; aber selbstverständlich hat selbst von den dreiſsig
78)
[177]Die politische litteratur Athens.
auf der höhe ihrer frevelhaften tyrannis niemand etwas anderes behauptet,
als daſs die ὕβϱις des κατάϱατος δῆμος mit solchen gewaltmitteln allein
zur εὐνομία gebracht werden könnte, also die schlechtigkeit der andern
ihre tyrannis rechtfertigte.79) die wilde zeit muſs in und auſser Athen
eine flut von schriften hervorgebracht haben, sowol direct über die
brennenden fragen des tages wie in der form der politisch sophistischen
betrachtung. eine solche schrift, die eines Ioniers wider das attische Reich,
ist dank der widerlegung des Isokrates noch einigermaſsen kenntlich.80)
und bald werden sogar die Spartiaten dazu gedrängt, illiterat wie sie
sind, ihre verfassungskämpfe vor dem publicum mit den schriften ge-
dungener publicisten auszufechten, was sowol könig Pausanias wie Lysan-
dros getan haben81), während ein Archinos selbst die reform der ortho-
graphie durch eine rede vor dem volke vertritt, und Lysias als rede-
schreiber von beruf die alte vornehmere sophistische redekunst in den
hintergrund drängt, der erste advocat von jener sorte, die gerne Numa
Roumestan würden, schlieſslich aber auch als avkat Slus’uhr ihr schäfchen
ins trockne bringen. auch er schreibt im anfang noch politische brochuren.82)
so wenig uns also auch von dieser litteratur kenntlich ist: die entwickelung
läſst sich doch sehr wol verfolgen, vorausgesetzt, daſs man nur nicht be-
78)
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 12
[178]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
redsamkeit, womöglich gerichtsberedsamkeit für das wichtigste hält, die
es nur für die τέχνη ist, sondern die attische publicistik, die ihren
höhepunkt in Isokrates und Demosthenes hat. in diese reihe paſst
Theramenes und seine schrift: sie ist ein συμβουλευτικός wie die des
Andokides und Thrasymachos, sie teilt actenstücke mit wie die mysterien-
rede des Andokides, sie polemisirt aus praktischen rücksichten wider
Solon, den stifter der verfassung, wie könig Pausanias wider Lykurgos,
sie erlaubt sich persönlich gehässige verläumdungen wie Stesimbrotos
oder die gerichtsrede, und sie sucht in der geschichte eine consequente
entwickelung wie Thukydides.
Aber sie betrachtet die geschichte Athens als die einer anzahl von
demagogen, etwa wie später die geschichte der philosophie als eine
διαδοχὴ φιλοσόφων dargestellt wird. das steht mit der pentekontaetie
des Thukydides im grellsten widerspruche, und auch die reden des Iso-
krates wollen sich gar nicht damit reimen. und doch ist gerade darin
Theramenes viel mehr vertreter der regel als jene beiden, und wenn
wir tagtäglich von kimonischen tempeln und perikleischem zeitalter hören
müssen, so halten die so reden es mit Theramenes, nicht mit Thuky-
dides, was allerdings keine empfehlung ist.
Stesimbrotos schrieb die erste politische tendenzschrift: und wie
nennen sie die grammatiker? πεϱὶ Θεμιστοκλέους καὶ Θουκυδίδου καὶ
Πεϱικλέους. also die personen der demagogen stehn im mittelpunkt.
wenn Aristophanes die ursachen des krieges behandelt, so liegen sie in
Perikles Aspasia Pheidias Simaitha: die spätere geschichte folgt viel mehr
seinen spuren als denen des Thukydides. die fabel der Ritter konnte
gar nicht concipirt werden, wenn nicht die anschauung bereits fest
stand, daſs der demos seinen vertrauensmann, der souveräne herr seinen
πϱοστάτης haben müſste83), als wäre er ein weib oder ein fremder.
davon ist es kaum noch ein schritt zu der διαδοχὴ δημαγωγῶν, die
dem freien Athen eine folge von herren gibt; die vergleichung mit den
liebhabern einer schönen dame trifft noch besser zu, wird auch auf
attisch gezogen (Ritt. 737); für den souverän ist sie kaum schmeichel-
hafter. und im vierten jahrhundert ist ein gemeinplatz, den Isokrates
und Xenophon beide brauchen und beide nicht selbst gefunden haben,
οἷοι ἂν οἱ πϱοστάται ὦσι τοιαύτας καὶ τὰς πόλεις εἶναι. das kann
[179]Die politische litteratur Athens.
dem kritiker Athens in der tat das recht geben, die geschichte der
demokratie als die der demagogen anzusehn.
Am sinnfälligsten und eindrucksvollsten ist die athenische geschichte
als die seiner ‘Vertreter’ in der ‘Volkskomoedie’84) des Eupolis dar-
12*
[180]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
gestellt worden. so viel wenigstens wissen wir noch, daſs aus einer
gröſseren zahl von demagogen, über die scharfe persönliche worte fielen,
84)
[181]Die politische litteratur Athens.
vier ausgesucht wurden, die zur rettung der stadt aus der unterwelt
emporstiegen. da erschien der ‘könig’ Peisistratos; aber Athen will
keinen könig85); Miltiades dagegen ward um des einen tages von Marathon
willen (weiter hat er wirklich nichts getan) emporgeholt, während Themi-
stokles wegen seiner unreinen hände keine gnade fand. Aristeides selbst
sprach ihm das urteil86) und belehrte den Nikias darüber, wie er
durch ernstes streben die δικαιοσύνη erworben hätte; Nikias also hat
es zu dieser tugend nicht gebracht.87) dann stieg auch der ‘häuptling’
Perikles auf, und der harmlose alte spott über seinen zwiebelkopf ver-
schwand vor der glänzenden verherrlichung seiner hinreiſsenden und
nachhaltig wirkenden beredsamkeit; der biedere haudegen Myronides
84)
[182]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
stand ihm zur seite, trat aber vor ihm zurück. wer der vierte der auf-
erstandenen war, ist bisher noch nicht sicher ermittelt, so wenig wie
die eigentliche fabel der komoedie: daſs die Athener aber in ihr die
ganze geschichte ihrer demokratie verkörpert in den demagogen leibhaft
vor augen hatten, und die schöpfungen des dichters, dem es wie wenigen
gegeben war, unvergeſsliche schlagworte zu prägen, und der zwar im
freien reiche der phantasie dem fluge des Aristophanes nicht folgen
kann, aber den politischen und persönlichen kampf ungleich kühner
und patriotischer führt als jener, auf alle die, welche die Demen ge-
sehen hatten, eine macht ausübten, auch wenn sie seinem urteil über
die personen nicht folgen mochten: das ist deutlich. so wirkt die ächte
poesie, und der dichter der Demen τὸ κέντϱον ἐγκατέλειπε τοῖς
ἀκϱοωμένοις.88) mich dünkt es frappant, daſs die schrift des Theramenes
ein oligarchisches widerspiel zu den Δῆμοι des demokratischen dichters ist.
Bald nachdem die restaurirte demokratie den Sokrates getötet hatte,
zogen seine schüler sie zur verantwortung. Platon schrieb den Gorgias:
da haben wir die vier groſsen demagogen, Miltiades und Komon von der
partei der vornehmen, Themistokles und Perikles von den demokraten;
Aristeides wird ihnen als der einzige ehrenmann entgegengestellt. Anti-
sthenes schrieb den Politikos, der ἁπάντων καταδϱομὴν πεϱιέχει τῶν
Ἀϑήνησι δημαγωγῶν (Herodikos bei Athen. V 220), und Aischines
verflocht Miltiades und Themistokles, Perikles und Rhinon in seine dialoge,
deren verlust die geschichte und die poesie viel empfindlicher getroffen
hat als die philosophie. war schon die stellung der Sokratiker zu der
demokratie und ihren führern nicht bei allen dieselbe, so konnte nicht aus-
bleiben, daſs die rhetorik auch verteidiger auf den plan führte: die an-
klageschrift des Polykrates hat den Sokrates als lehrer von Kritias und
Alkibiades, wovon 399 nicht die rede gewesen war, wesentlich um des
Gorgias willen angegriffen89), und so tobt der kampf, der eigentlich prin-
cipien gilt, um die personen weiter. in den Philippika hat Theopompos
die entwickelung der athenischen demokratie ganz ähnlich wie Aristo-
teles in dem berufenen excurse πεϱὶ τῶν Ἀϑήνησι δημαγωγῶν ge-
geben, und noch in der schule Epikurs Idomeneus die berechtigung,
sich von dem öffentlichen leben zurückzuziehen, in einer gleichnamigen
schrift bewiesen, die reichlichen stoff für gehässige verkleinerung schon
vorfand. es ist das fünfte jahrhundert, das sich allein einer solchen
διαδοχὴ πϱοστατῶν fügt, eigentlich sogar nur bis zum Nikiasfrieden.
der späteren zeit fehlen die beherrschenden personen, fehlen auch die
parteien; es ist ja auch der ostrakismos nicht mehr durchführbar, und
die oligarchische partei oder vielmehr jede tendenz, die radikal demo-
88)
[184]I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
kratische verfassung zu mäſsigen, ist nach 403 erstorben. das ist aller-
dings von bedeutung; aber wenn der athenische staat von der zeit ab,
wo wir seine parteien und deren kämpfe genauer kennen, vom tode
des Perikles ab, sich weder dem schematismus des Aristoteles und der
modernen, die nach römischem und englischem vorbilde zwei parteien
suchen, fügt90), vorher ein so überwiegend einfluſsreicher mann da steht,
daſs parteien höchstens unter ihm vorhanden sein können, wenn wir
weiter sehen, daſs bis dicht an die Perserkriege nicht politische auf schlag-
wörter eingeschworne parteien, sondern die groſsen familien und ihr
anhang einander gegenüberstehen, bis auf Ephialtes aber nicht eine
partei, sondern eine politische körperschaft den ausschlag gibt, deren
sturz dann eine andere körperschaft zur herrschaft bringt, den rat der
500 statt des areopagitischen, so muſs der moderne beurteiler zu der
für die geschichtsbetrachtung allerdings entscheidenden einsicht kommen,
daſs die ganze διαδοχὴ δημαγωγῶν eine vollkommen ungeschicht-
liche erfindung ist, uns äuſserst wertvoll, weil die schätzung der personen
und die politische theorie sie noch im fünften jahrhundert aufgebracht
hat, von dem niemand eine gerechte selbstbeurteilung fordern wird, aber
um so weniger für uns verbindlich, als die urteilsvollsten männer schon
damals zu tief geblickt haben, um sich dabei zu beruhigen. hoch
erhaben über dieser kleinlichkeit steht Thukydides: seinen horizont bildet
eben nicht die pnyx, sondern das Reich. und Platon teilt freilich die
ungerechtigkeit der persönlichen urteile über die staatsmänner als jüng-
ling; aber schon damals hat er sie, die nur volksschmeichler sind, hinter
dem volke selbst zurücktreten lassen. bald drang er zu der tiefsinnigen
auffassung durch, daſs die verfassungen bedingt sind durch die ganze
geistige disposition der menschen, die sie sich machen, und demgemäſs
die veränderungen in der volksseele den wandel der verfassungen bedingen:
der ἀϱιστοκϱατικὸς τιμοκϱατικὸς δημοκϱατικὸς ἀνήϱ schafft sich seine
gesellschafts- und staatsordnung. wir reden anders als der Sokrates der
letzten bücher des Staates, und unserer redeweise ist die der aristoteli-
schen Politik viel näher verwandt: aber wer sich in jene ächthellenischen
[185]Die politische litteratur Athens.
gedanken und bilder hineingefunden hat, wird, zumal wenn er die kritik
der geschriebenen verfassung im Politikos und die skizze einer allgemeinen
culturgeschichte in den Gesetzen dazu nimmt, nicht im zweifel sein, wo
die tiefste offenbarung über die ethisch-politischen probleme, nicht sowol
der athenischen als der menschengeschichte überhaupt, zu finden ist.
Aristoteles hat diese offenbarung noch aus des meisters munde
vernommen. schon die erste seite seiner Politik setzt sich mit Platons
Politikos auseinander, und wo er in der Politie über Perikles spricht, hat
er den Gorgias im gedächtnis. aber die Politik zeigt auch, wie er in
seiner eigenen speculation immer weiter von Platon abgeführt worden
war. darauf hatte das leben mindestens eben so stark hingewirkt, das
ihn erst in ganz andere kreise, dann in das demosthenische Athen führte.
deshalb hat er auch das Athen des Sokrates nicht mehr mit den augen
Platons angesehn. woher ihm die schrift des Theramenes zugekommen
ist, können wir nicht ahnen: die platonische schule hat sie ihm jeden-
falls nicht geliefert. vielleicht war er selbst überrascht, als er hier
ansichten vertreten fand, die seiner vorliebe für die πολιτεία nahe zu
stehen schienen. jedenfalls hat er sich etwas darauf zu gute getan, den
mann zu rehabilitiren, μὴ παϱέϱγως ἀποφαινόμενος, wie er sich selbst
das zeugnis gibt. wir werden ihn darum nicht loben, und werden weder
ihm noch dem Theramenes folgen. aber trotz alle dem bleiben diese
capitel das fesselndste stück des aristotelischen buches, und Theramenes,
wenn er es denn war, dankt dem Aristoteles was besser ist als eine
rehabilitation, daſs er selbst seine sache vor uns führen kann.
Die
elf ver-
fassungen.Der geschichtliche teil des buches erhält seinen abschluſs durch die
aufzählung der elf verfassungen (41), an sich eine jener langweiligen
recapitulationen, an denen die akroamatischen schriften so reich sind, und
man möchte auch mit Aristoteles über einzelne seiner ansätze rechten.1)
aber es liegt eine scharfe schweigende kritik der demokratie in der
kühlen sachlichkeit, mit der diese liste dem attischen glauben an die
continuität der theseisch-solonischen demokratie widerspricht. sehr viel
gerechter würde die kritik freilich sein, wenn Aristoteles dargelegt hätte,
wie unendlich viel seit 403 an der verfassung im einzelnen herum-
experimentirt war; aber das war ihm bedenklich: hatten doch gerade
in den jüngsten zeiten durch Lykurgos die einschneidendsten änderungen
stattgefunden, und schwerlich war die verfassung von 330 der von 390
so ähnlich wie die von 460 der von 478. aber hier beschränkt sich
Aristoteles darauf, die restaurirte demokratie als eine einheit zu be-
[187]Die elf verfassungen.
zeichnen, weil ihre veränderungen sich auf die eine tendenz zurück
führen lieſsen, daſs das plenum der volksversammlung und die durch
fiction dem plenum gleichgesetzten geschwornengerichte die entscheidung
in allem, groſsem und kleinem, selbst immer mehr in die hand nahmen2):
die ἐσχάτη δημοκϱατία erfüllte immer mehr ihre φύσις, in der sprache
der Politik zu reden. an autorität verloren hatte dadurch namentlich
der rat, und mit unverholenem hohne erkennt Aristoteles an, daſs diese
körperschaft es nicht besser verdient hätte, weil sie sich in unredlicher
weise beeinflussen lieſs. die illustration dieses satzes wird später an
vielen stellen gegeben, wo der früheren weiter gehenden competenzen
des rates erwähnung geschieht. Aristoteles hat aber durch das studium
der geschichte etwas billiger urteilen gelernt. denn in seinen politischen
vorträgen motivirte er diese übergriffe der volksversammlung mit der
habsucht des volkes, das die diaeten des rates selbst begehre, sobald die
finanzen es gestatteten.3) hier gibt er zu, daſs es vielmehr der mangel-
[188]I. 7. Die verfassung.
hafte besuch der volksversammlungen war, der zu der erteilung von
diaeten zwang und sogar nicht eher nachlieſs, als bis die diaeten eine
halbe drachme betrugen. da diese auf den finanzen schwer lastende
ausgabe gerade in der ärmsten zeit Athens, dem jahrzehnt nach 4034),
3)
[189]Die elf verfassungen. die ephebie.
eingeführt war, hatte Aristoteles allerdings einsehen müssen, daſs sein
früheres urteil falsch war; aber nur weil er früher die zurückdrängung
des rates mit den diaeten des volkes combinirt hatte, steht hier über
beides eine bemerkung. denn so verständlich diese verbindung psycho-
logisch ist, so wenig ist sie objectiv berechtigt, da eben kein zusammen-
hang zwischen den beiden maſsnahmen ist, die hier neben einander
stehn. wer gern interpretirt, d. h. fremden gedanken folgt, wird sich
an der stelle ein exempel nehmen: unzählige male wird in den akro-
amatischen schriften athetirt und umgestellt, um der dürren logik genüge
zu schaffen; wie aber reden wir denn auf dem katheder?
Nun geht es an den wichtigsten teil des ganzen buches, die geltende
staatsordnung. und da die πολιτεία durch die πολῖται gebildet wird,
steht eine definition dieses begriffes an der spitze, natürlich die juristische,
die er im dritten buche der Politik hinter der begrifflichen zurückstellt
(1275b). wenn sich daran die modalitäten schlieſsen, wie die bürger-
qualität des einzelnen festgestellt wird, so mag das noch her zu gehören
scheinen. aber die ausführliche schilderung der ephebie fällt eigentlich
aus der staatsordnung heraus. sie sondert sich auch durch die bequeme
und wortreiche behandlung von der knappheit des folgenden.
Die prüfung der jungen bürger ist den alten geschlechtern und bruder-Die ephebie.
schaften ganz entzogen: die φϱάτεϱες spielen schlechthin keine rolle mehr,
wenn sich die parteien auch vor gericht auf ihr urteil noch berufen mögen.5)
über den sohn eines Keryx haben nicht die über viele gemeinden verstreuten
Keryken, sondern die gemeinde seines vaters die entscheidung. offenbar
war die alte organisation so verfallen, daſs die zugehörigkeit zu einer
phratrie, ob sie gleich noch länger in den bürgerrechtsverleihungen berück-
sichtigt ward, gänzlich indifferent war. die groſse menge wird davon
4)
[190]I. 7. Die verfassung.
nichts mehr gewuſst haben, wie die turba minuta in Rom ihre curie nicht
kannte. aber auch die demenregister sind nicht mehr rechtsverbindliche
urkunden: das treiben von gemeinden wie Halimus hat es dahin gebracht,
daſs die διαψήφισις, die 346 noch eine ausnahmemaſsregel war, jetzt
eine dauernde institution ist. um die kinder kümmert sich selbst die
gemeinde nicht eher als bis der jüngling 18 jahre ist, und daſs er das
ist, wird nicht bewiesen mit einer geburtsurkunde, sondern kraft eines
majoritätsbeschlusses der gemeinde festgestellt; wer ihnen nicht nach
18 jahren aussieht, mag übers jahr wiederkommen, vielleicht erfährt er
dann, wann er geboren ist. aber selbst darin traut man der gemeinde
nicht; der rat hat die superrevision, und wenn die gemeinde sich
nach seiner meinung über das alter getäuscht hat, zahlt sie strafe.6)
die frage nach der ächtbürtigkeit entscheidet positiv die gemeinde, nach
ihrem negativen vorurteil ein gericht. doch verliert der an dieses
appellirende die freiheit, ganz ebenso wie in jedem andern processe
ξενίας. so instruiren denn auch in allen diesen fällen die thesmotheten
den proceſs. überlegt man sich diese bestimmungen, so sieht man, daſs
die Athener jener zeit zwar ein officielles lebensalter hatten, aber ihr
factisches geburtsjahr keinesweges fest stand; vielleicht beherzigt das die
litteraturgeschichte. geburtstage können nur gelegentlich wie bei Epikur
und in seinem kreise geschichtlich sein; Sokrates und Platon haben
mythische. die frauen kommen für den staat nicht in betracht. über
die ächtbürtigkeit seiner braut mag sich jeder selbst informiren, wichtig
wird sie erst, wenn der älteste sohn soldat werden soll, oder wenn der
mann ein amt bekleiden will, das eine vollgültige ehe fordert. es ist
eine herzlich unvollkommene ordnung, gar nicht zu vergleichen mit der
des geschlechterstaates. aber davor war man allerdings sicher, daſs eine
allgemeine prüfung der bürgerlisten erforderlich würde: die 42 tafeln vor
dem rathause enthielten die namen der gesammten bürgerschaft zwischen 18
und 60 jahren.7) aber vielleicht standen 325 noch keine 42 da: denn diese
[191]Die ephebie.
neue ordnung ist notwendig später als die letzte nachweisliche διαψήφισις,
346. das δοκιμάζεσϑαι εἰς ἄνδϱας, das ἐγγϱάφεσϑαι εἰς τὸ ληξι-
αϱχικὸν γϱαμματεῖον hat freilich immer schon am eintritte in das 18
jahr stattgefunden, und zwar auch am anfange des bürgerlichen jahres
im demos, und die ἔφεσις εἰς δικαστήϱιον hat dem ausgeschlossenen
natürlich freigestanden. aber von einer beteiligung des rates verlautet
nichts, und Euxitheos konnte dem Eubulides nicht durch die stele vor
dem rathause den nachweis erbringen, daſs er ein Halimusier wäre; die
zerstörung der gemeindeacten von Halimus hatte ihm den nachweis
seiner dokimasie unmöglich gemacht. vor allem aber, die jungen leute
wurden mit der dokimasie männer, sie verwalteten ihr vermögen und
führten processe; um nur einen zu nennen: so hat es Demosthenes
gehalten.8) die ephebenordnung, die Aristoteles schildert, verwehrt ihnen
zwei jahre lang jedes processiren, und nur darin, daſs sie für den anfall
eines erbes oder einer erbtochter oder eines priestertums mit 18 jahren
mündig sind, zeigt sich die nachwirkung des älteren rechtes.
Diese ephebenordnung ist ein wunderbares ding. ein vom volke
gewählter ‘ordnungswart’ an der spitze, 10 ‘zuchtmeister’ unter ihm,
gewählt auch vom volke, je einer aus 3 von den vätern aus einer phyle
durch wahl bestimmten candidaten in dem alter, das für die choregen der
knabenchöre erfordert war, zwei turnlehrer, je ein lehrer für die ver-
schiedenen waffen9), erziehung in casernen, auf staatskosten, streng von
der corruption des lebens entfernt, am anfang und ende des recruten-
jahres eine feierliche ceremonie, dann ein jahr garnisonwachtdienst und
patrouillendienst: das ist eine institution, die grell von der ἐλευϑεϱία,
der παϱϱησία, dem ζῆν ὡς ἄν τις βούληται absticht, auf die die dema-
gogen Athens damals so stolz sind. wer über diese institution nicht
zuerst den kopf schüttelt, dem ist das athenische leben und denken
vollkommen fremd geblieben, mag er auch dicke bücher darüber ge-
schrieben haben. noch vor wenigen jahren würde man auf den ersten
blick sich berechtigt gehalten haben, das capitel oder das buch zu athe-
tiren, weil es eine jüngere institution schilderte. wer sie kennt, muſs
wissen, daſs Platon und Isokrates davon nichts gewuſst haben, daſs der
[192]I. 7. Die verfassung.
staat die erziehung in der hand hielt und studienräte erwählte. es lassen sich
schlecht für eine negative behauptung stellen anführen, aber man lese
den Areopagiticus, der die sorge für die εὐκοσμία an der alten zeit und
dem Areopage preist: konnten damals in Athen sophronisten sein? man
lese das siebente buch oder besser alle der platonischen Gesetze, die
immerfort die jugenderziehung im auge haben und die genauesten vor-
schriften geben: hat Platon auch nur eine ahnung davon, daſs in Athen
gar in besonders feierlicher weise, noch sorgsamer als die feldherrn,
beamte gewählt würden, die κοσμιότης und σωφϱοσύνη der jugend
pflegen? ganz zu schweigen von der zeit, deren abbild in den sokra-
tischen dialogen10) und der älteren komoedie lebt, die doch allerorten
diese verhältnisse berühren müſsten: nur der Axiochos tut es, ein schrift-
stück schwerlich noch des dritten jahrhunderts. man überlege sich die
jugendgeschichte aller bekannten personen: erst für Epikuros und
Menandros macht ihre ephebie oder besser synephebie epoche, und
συνέφηβοι wird in der neuen komoedie ein beliebter titel. aber noch
mehr: man lese Aischines gegen Timarchos, wie kratzt er aus allen
ecken der gesetze die belege für zucht und ehrbarkeit der jugend zu-
sammen, hätte er wol die σωφϱονισταί vergessen? und wie replicirt
Demosthenes (19, 285), als er um den bösen stein des anstoſses herum-
laviren will, den der process des Timarchos für ihn bildete “nicht
eure jugend hat Aischines tugendhaft machen wollen (σώφϱονας). das
sind sie noch, gott sei dank, und möge es dem vaterlande nie so
schlecht gehn, daſs sie Aischines und seine sippe zu tugendpredigern
(σωφϱονισταί) brauchte.” als witz braucht er das wort σωφϱονισταί,
durch die moraltriefende rede ist Aischines einer geworden: damals gab
es kein durch eine doppelwahl besetztes öffentliches amt des titels, und
gab es überhaupt die sache nicht in Athen. und noch mehr: Aristoteles
zählt am schlusse des siebenten buches der Politik die ämter für er-
ziehung auf, παιδονόμοι, γυμνασίαϱχοι u. a., die in einigen städten,
die es sich erlauben könnten, existirten: da ist keine spur von der
attischen ephebie und ihren organen. es gehört das buch wol zu den
ältesten teilen der Politik, aber es ist doch immer nach 338 geschrieben.
Man kann es Schoemann nicht verdenken, wenn er die sophronisten
der zeit des freien Athens absprach; wir können jetzt sagen, daſs die
grammatikerzeugnisse über sie einfach auf unsere Politie zurückgehn,
und auſser dieser existirt in der litteratur vor Demetrios eine einzige
stelle, die auf die ephebie in dieser gestalt bezug nimmt: in einer
rede des harpalischen processes.11) da ist es denn ein glück, daſs die
inschriften jüngst zu hilfe gekommen sind. denn während Köhler 1879
immer noch keine belege aus der zeit der 10 phylen hatte12), kennen
wir jetzt ein weihgeschenk, das die epheben der Kekropis (zweiter jahr-
gang) unter Ktesikles (334/3) auf der burg bei ihrem phylenheros auf-
gestellt hatten, und das die belobigungen für sie und ihren sophronisten
enthält, die ihnen vom rate, der phyle, der gemeinde Eleusis, wo sie
in garnison gelegen hatten13), und der heimatgemeinde des sophronisten
zuerkannt waren. ihre kameraden von der Hippothontis hatten den
eleusinischen göttinnen ein entsprechendes denkmal geweiht14), ebenfalls
vom rate und sogar, wie es scheint, vom volke bekränzt, und auf diesem
steht ein lobdecret der Eleusinier, ausführlicher, weil ihre eigenen
jungen darunter waren.15) damit sind wir mit der unteren grenze für
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 13
[194]I. 7. Die verfassung.
die einführung dieser ephebie bis auf 335 gekommen, für das gesetz
auf das vorjahr. das ist so nahe an der oberen grenze, daſs ich nicht
anstehe, diese auf lange zeit ohne analogie dastehende ehrung der aus-
gedienten epheben der freude über den ersten glücklichen abschluſs
eines curses zuzuschreiben und die wichtige tatsache zu erschlieſsen,
daſs die zeit der groſsen reformen im jahre von Philippos tode den ver-
such einer reform der jugend, der verstaatlichung des militärisch-sitt-
lichen erziehungswesens, gemacht hat. die säuberung und sicherung
der bürgerschaft sollte bei wege mit erreicht werden. auch der antrag-
steller scheint noch kenntlich. Harpokration hat unter Ἐπικϱάτης nach
dem demagogen, gegen den Lysias geschrieben hat, ἕτεϱος οὗ μνημονεύει
Λυκοῦϱγος ἐν τῷ πεϱὶ διοικήσεως λέγων ὡς χαλκοῦς ἐστάϑη διὰ
τὸν νόμον τὸν πεϱὶ τῶν ἐφήβων, ὅν φασι κεκτῆσϑαι ταλάντων
ἑξακοσίων οὐσίαν. wie würde sich der alte Isokrates gefreut haben,
wie merkwürdig muſste es aber auch dem Aristoteles sein: denn un-
möglich kann man verkennen, daſs es die forderungen der Sokratiker
waren, die jetzt die demagogen in ihrer weise zu erfüllen suchten.
Platons Gesetze haben die ephebie erzeugt. das demokratische Athen
hat sie freilich nicht mehr retten können; sie hat in wenig jahren den
obligatorischen charakter verloren, auch ein dienstjahr eingebüſst, ist
im dritten jahrhundert immer mehr verfallen: aber im zweiten neu-
belebt hat sie wesentlich das gedeihen Athens begründet, nicht bloſs
das materielle, sondern auch seine geistige stellung bis auf die tage
Iustinians. es ist hübsch, daſs doch die leute des Lykurgischen kreises
mit hand angelegt haben, den alten freistaat der Athener umzuformen
in die universitätsstadt und die stadt der freien wissenschaft. aber die
geschichtliche bedeutung der neuerung zu beleuchten wird sich noch
eine andere gelegenheit bieten: hier ist das wichtige, daſs Aristoteles
eine vor seinen augen neu eingeführte institution schildert, natürlich
auf grund eigener beobachtung. auch ist nirgend formelhafte urkunden-
sprache; das capitel klingt viel frischer und lebhafter als alles folgende.
Die darstellung der verfassung reicht in gleichem tone von 43—61.
das 62 capitel bringt dann einige wichtige allgemeine punkte nach,
erstens über die art, wie die losung der beamten statt fand, zweitens
Besol-
dungen.über die besoldungen, die der staat an einzelne beamte zahlt, drittens
das verbot der iteration aller civilämter mit ausnahme des rates, in dem
man auch nur zweimal sitzen darf. es sind das alles fundamentalsätze
für die demokratie, wie schon die vergleichung des oben citirten capitels
der Politik zeigt. sie correspondiren auch mit der bemerkung am
[195]Besoldungen.
schlusse des historischen teiles, daſs das demokratische prinzip stätig
gewachsen wäre, wofür die besoldung der ekklesie ein beleg war. ohne
daſs direct darauf zurückgedeutet würde, lernen wir hier die steigerung
von ½ drachme zu Agyrrhios zeit auf eine ganze, und für die κυϱία
ἐκκλησία gar 1½. die beteiligung war also immer noch nicht stark
genug gewesen, und es ist sehr begreiflich, daſs man einen starken
besuch wenigstens für die sitzungen herbeizuführen strebte, in denen
sonst eine geschickte agitation die absetzung eines beamten oder die
annahme einer tollen eisangelie mit leichtigkeit durchsetzen konnte,
wenn nur eine genügende herde stimmvieh aufgetrieben war. aber die
sätze sind allerdings überraschend hoch, und leider fragt man vergeblich,
seit wann sie galten.16) das herabdrücken des rates spricht sich auch
in seinem gegen die ältere zeit um einen obol verringerten solde aus,
und kläglich erscheint uns, daſs der könig von Athen statt der alten
γέϱα auf 4 obolen gesetzt ist. die naturalverpflegung ist durchgehends
beseitigt; für die apparitores der archonten hat man sie nur bestehn
lassen, weil sie da den beamten oblag. sie bestand dagegen für die
ehrenstellen der σιτούμενοι ἐν πϱυτανείῳ, sowol die dauernden wie
die gelegentlich geladenen gäste des volkes, und es ist ein unwider-
sprechliches zeichen für die flüchtigkeit, mit der Aristoteles hier zu-
sammenstellt was ihm gerade einfällt, daſs er von dieser kategorie nur
die athlotheten nennt, die doch nur alle vier jahre 3½ wochen gespeist
wurden. sie waren ihm von der kurz vorher gehenden schilderung ihrer
amtsbefugnisse im gedächtnis17), und ein gleiches gilt von dem salami-
nischen archon (vorher erwähnt 54, 8), dessen erwähnung die andern
provinzialbeamten nach sich zog, ohne daſs doch auch nur deren titel
genau angegeben würden, obwol 61, 6 nur der ἵππαϱχος εἰς Λῆμνον
erwähnt war.18) somit ist leider dieser paragraph weder für die be-
13*
[196]I. 7. Die verfassung.
rechnung des budgets 19) noch für eine schätzung der amtseinkünfte der
attischen beamten 20) zu grunde zu legen. wie grell er mit den 20000
18)
[197]Besoldungen. iteration der ämter.
kostgängern des reiches contrastirte, die in der geschichtlichen übersicht
zusammengezählt sind, ist dem schriftsteller nicht zum bewuſstsein ge-
kommen.
Die abhandlung über die beamten schlieſst mit dem grundsatze, daſsIteration der
ämter.
die iteration nur für die ratsherrn, für alle andern civilbeamten nicht
einmal sie gestattet war. Aristoteles hatte dies prinzip schon früher als
charakteristisch für die demokratie erfaſst (anm. 3), darum stellt er es
an diesen bedeutsamen platz, aus seiner kenntnis, nicht aus einem gesetze.
denn schwerlich formulirten die gesetze diese allgemeinen grundsätze, deren
es noch andere gab, die hier füglich auch stehn sollten, das verbot der
cumulirung 21) und die forderung des zurückgelegten dreiſsigsten lebens-
jahres. 22) diese bestimmungen müssen allerdings in den verordnungen
über jedes einzelne amt gestanden haben 23), aber daſs die redner sie
20)
[198]I. 7. Die verfassung.
immer nur von einzelnen erwähnen, zeigt, daſs die aristotelische ab-
straction schon mehr war, als das allgemeine bewuſstsein selbst der
gesetzeskundigen enthielt.
Auch den ersten paragraphen dieses capitels sehe ich als eine selb-
ständige bemerkung des Aristoteles an. er unterscheidet darin zwei
classen von losbeamten, die mit den archonten, er sagt nicht wo, er-
losten, die aus der ganzen phyle, d. h. wenigstens die archonten auf
praesentation der phylen 24), erlosten, und die im Theseion auf praesen-
tation der demen erlosten. für uns ist die unterscheidung dieser classen
ungemein wichtig, er aber wollte nur die neuerung hervorheben, daſs
die letztere classe jetzt auf die ratsherrn und die wächter beschränkt
wäre, weil die demen sich bestechen lieſsen. das ist ihm wertvoll, weil
es seinen satz (41, 2) bestätigt, daſs die demokratie gezwungen war, alles
im plenum abzumachen, da die kleineren kreise unzuverlässig waren,
und weil in der beseitigung der praesentation der candidaten eine
stärkung des demokratischen prinzipes liegt.
Wächter.Für uns ist hier zunächst überraschend, daſs es eine zahlreiche
durch auslosung auf praesentation der demen bestellte wächterkörper-
schaft gegeben hat, die φϱουϱοί, von denen wir gar nichts gewuſst
hatten. Kenyon hat sie mit den φϱουϱοὶ νεωϱίων identificirt, die in
der übersicht der reichskostgänger für das fünfte jahrhundert vorkommen.
aber da gerade der diakritische genetiv fehlt, so verlangt man einen
weiteren wirkungskreis. und es geht auch hier wie meistens; sobald
man ein neues licht hat, sieht man spuren, die man vorher verkannte.
Aristoteles lobt es, daſs in Athen die gehässige aufgabe der sicherheits-
23)
[199]Wächter.
polizei auf viele ämter verteilt sei, z. b. die elf die leibesstrafen voll-
strecken, die geldstrafen andere einziehen. es wäre gut, wo es epheben
oder φϱουϱοί gäbe, einen teil des wächteramtes diesen zu übertragen
(Ζ 1322a 28). Xenophon erwartet von seinen finanzvorschlägen (4, 52)
einen so hohen ertrag, daſs man den jungen leuten die praemien der
fackelläufe erhöhen könnte, und οἱ φϱουϱεῖν ἐν τοῖς φϱουϱίοις οἵ τε
πελτάζειν καὶ πεϱιπολεῖν τὴν χώϱαν τεταγμένοι würden auch ihres
soldes sicher sein. Platon verordnet für seinen staat (760b), dessen land
unter die 12 phylen verteilt ist, die wahl von 5 ἀγϱονόμοι ἢ φϱούϱαϱχοι,
von denen wieder jeder sich 12 junge leute aus den altersclassen 25—30
als φϱουϱοί wählen kann, die den sicherheitsdienst und weitere, speciell
platonische, pflichten des öffentlichen interesses auf zwei jahre zu ver-
sehen haben. diese stellen kann man nicht auf die epheben allein be-
ziehen, die erst in der späteren ordnung, die Aristoteles schildert, zwei
jahre φϱουϱοῦσι (42, 4), das erste im Peiraieus stationirt, das zweite
in den andern festungen und als patrouillen. denn in der Politik unter-
scheidet er sie von den φϱουϱοί, und Platon gibt ein höheres lebens-
alter an, fordert den dienst auch nicht allgemein. noch viel weniger
kann man bei Xenophon an rekruten denken. dagegen würde eine
mannschaft, ausgehoben wie es Platon fordert und beschäftigt nur im
gebiete der phyle, keinesweges bloſs für militärische zwecke, auf das
vollkommenste zu dem passen, was man von den φϱουϱοί erwartet, die
auf praesentation der demen ausgelost wurden. ein mobiles heer hat
Athen nicht auſser den rekruten; die polizeimannschaft der Σκύϑαι spielt
im vierten jahrhundert keine rolle mehr, die schützen zu pferde waren
sicherlich abgekommen. andererseits hat das land jetzt viel mehr grenz-
wachen nötig, seit Boeotien eine macht und auch die see nicht mehr
athenisch ist. es müssen die festungen im nordgebirge und die ostküste
hinunter, am saronischen meere auſser den groſsen plätzen Eleusis und
Peiraieus noch Anaphlystos, besetzt sein, und gegen Megara giengen
wenigstens patrouillen. 25) mag man dazu zunächst die rekruten ver-
[200]I. 7. Die verfassung.
wenden, in notfällen der στϱατηγὸς ἐπὶ τὰ ὅπλα ein aufgebot machen,
wie es Demosthenes gegen Konon schildert, es bleibt ein mangel: die
landgensdarmen fehlen. wozu stehn über ganz Attika die warttürme, be-
stimmt feuerzeichen zu geben, zu telegraphiren, wenn keine leute da
sind, die aufpassen? wer greift den entlaufenen sclaven, den dieb oder
mörder? ist alles der selbsthilfe oder dem guten willen der nachbarn
freigegeben? ferner, wer paſst auf die landstraſsen, die wasserläufe,
die capellen? soll auch das nur der einzelne tun oder lassen, wie er
will? denn die gemeinde hat oft genug ein dem allgemeinen entgegen-
laufendes interesse, fängt sich gern das wasser ab und wünscht, daſs
die reisenden wegen schlechten weges station machen. da ist eine lücke
in der attischen organisation. es ist mir zweifelhaft, ob die wächter sie
gut gefüllt haben, denn die demokratie denkt immer vorwiegend an die
städter. Platon hat erkannt, was not tat; aber er bildet nur eine
heimische institution weiter. es war ja auch nicht schwer, eine mäſsige
zahl aus den jüngeren jahrgängen des katalogs auszulosen, die in den
demen, zum teil auch an warttürmen und castellen, den sicherheitsdienst
und die aufsicht über die anlagen des staates führten; verteilung nach
demen und sold waren dabei selbstverständlich. daſs wir diese leute
selten erwähnt finden, noch seltener von wirklich militärischem auf-
gebote sprechen können, ist nicht wunderbar; vielleicht findet man auch
noch mehr belege.
Zwei classen
von
losbeamten.Daſs wir zwei classen von losbeamten kennen lernen, ist noch viel
merkwürdiger; ich kann nicht umhin, dabei zu verweilen. die vertretung
der demen im rate war freilich jüngst durch die prytanenlisten bekannt
geworden, aber man fragt nun, welches sind die beamten, die früher
25)
[201]Zwei classen von losbeamten.
ebenso bestellt wurden? zehnercollegien können es natürlich nicht ge-
wesen sein, sondern nur zahlreichere. von denen stehn jedoch nur die
vierzig männer (früher dreiſsig männer), im fünften jahrhundert die
dreiſsig logisten und etwa die lexiarchen und trittyarchen zur verfügung:
d. h. die, in denen eigentlich die trittyen zur vertretung kamen. 26) nur
eine kategorie, allerdings eine sehr wichtige, kann man hierherziehn 27):
die 6000 richter, die zu Aristoteles zeit aus den phylen genommen
wurden, aber dann in 10 abteilungen verlost, so daſs in jeder die phylen
gleichmäſsig vertreten waren; die richtertäfelchen tragen den demosnamen
und den abteilungsbuchstaben, auf die phyle kommt nichts an. für die
6000 lag eine praesentation durch die demen so nahe wie bei dem
rate, lag wegen des einträglichen und vielbegehrten geschäftes der ambitus
auch nahe, und die complicirte verteilung der richter sammt ihren
täfelchen ist ja notorisch erst im vierten jahrhundert eingeführt. nimmt
man nun an, daſs die richter ursprünglich von den demen praesentirt
wurden, so erstreckt sich diese art der bestellung in wahrheit noch viel
weiter. denn die festordnung der Hephaistien (CIA IV p. 64) hat ge-
lehrt, daſs für sie die ἱεϱοποιοί aus den richtern genommen wurden,
und diese analogie darf man verfolgen. mindestens alle nur für einen
bestimmten engbegrenzten zeitraum tätigen beamten, bleiben wir zunächst
bei den ἱεϱοποιοί und den ἐπιμεληταί, so weit diese nicht gewählt
wurden, dürfen als richter angesehen werden, und es ist für diese leute
damit auch die frage nach ihren diaeten erledigt. da wir aus dem
vierten jahrhundert nichts mehr von dieser verwendung von richtern
hören, auch nunmehr die phylen für das gericht keine rolle mehr spielen,
sondern die misbräuchlich phylen genannten abteilungen, ist diese ein-
richtung in fortfall gekommen, und sind jene behörden auf andrem wege
erlost oder gewählt. sehr passend ist auch das wahllocal für ihre auslosung.
es ist das Theseion, nicht der tempel, in dem immerhin die urnen gestanden
haben mögen, sondern der appellplatz: man bedurfte eines groſsen freien
platzes für die menschenmenge. aber nun scheinen sich schwierigkeiten
zu erheben. erstens steht im richtereide, daſs niemand zu einem amte
zugelassen werden soll, der rechenschaft schuldete ἑτέϱας ἀϱχῆς, καὶ τῶν
ἐννέα ἀϱχόντων καὶ τοῦ ἱεϱομνήμονος καὶ ὅσοι μετὰ τῶν ἐννέα
[202]I. 7. Die verfassung.
ἀϱχόντων κυαμεύονται τῇ αὐτῇ (Reiske für ταύτῃ τῇ) ἡμέϱᾳ καὶ
κήϱυκος καὶ πϱεσβείας καὶ συνέδϱων. d. h. es ist nicht wählbar, wer
zu den beamten der ersten aristotelischen kategorie gehört, oder in
diplomatischer mission auſserhalb 28) oder in dem in Athen sitzenden
bundesrate 29) verwandt ist. es fehlt also die zweite kategorie. das tut
[203]Zwei classen von losbeamten.
noch nichts; denn wenn der eid ächt und der rede gleichzeitig ist, so
gab es in dieser nur rat und wächter: wir schlieſsen nur, daſs ein rats-
herr nicht verhindert war, sich zu einem andern amte zu melden, und
das ist correct, da er als einzelner nicht rechenschaftspflichtig ist. wir
lernen zu, daſs die ganze auslosung an einem tage vollzogen ward, natür-
lich nur die dieser einen kategorie. zweitens wird als local der ἀϱχαι-
ϱεσίαι die Heliaia angegeben (Bekk. An. 310). das ist auch noch nicht
schlimm, obwol der ausdruck ἀϱχαιϱεσίαι eigentlich den directen wahlen
gilt, die das volk auf der pnyx vornimmt; dem grammatiker ist der
ungenaue ausdruck wol zu verzeihen. natürlich muſs die losung der
archonten u. s. w. verstanden werden, über deren local Aristoteles
nichts sagt, und die geräumige Heliaia, in der 1500 menschen sitzen
und eine zahlreiche corona stehn konnte, paſst gut. aus dem locale
folgt der vorsitz der thesmotheten oder aller archonten: und das ist
bei einer procedur, die in die alte zeit hinaufreicht, auch nur das
normale. aber nun wird es schlimm. Aischines 3, 13 unterscheidet
die ämter ἃς οἱ ϑεσμοϑέται ἀποκληϱοῦσιν ἐν Θησείῳ, κἀκείνας ἃς
ὁ δῆμος εἴωϑε χειϱοτονεῖν ἐν ἀϱχαιϱεσίαις, alles andere wären com-
missionen. daſs er an die zweite aristotelische kategorie nicht denkt,
ist in der ordnung, denn ihr gehört nur noch der rat an, und um den
handelt es sich für ihn so wenig wie für den richtereid. daſs die thes-
motheten diese losung besorgt haben, stimmt gut zu dem, was eben aus der
grammatikerstelle gefolgert ward: aber das local stimmt nicht. Aischines
nennt das Theseion für die ämter, die nach Aristoteles eben nicht dort erlost
wurden, nach jenem grammatiker in der Heliaia. da Aischines ein par jahre
vor Aristoteles, aber unter derselben verfassung so redet, ist an irgend
welchen ausgleich nicht zu denken. so übel mir dabei zu mute ist, ich
muſs einen irrtum des redners annehmen. wann die losung in der Heliaia
29)
[204]I. 7. Die verfassung.
war, wissen wir nicht: im jahre 382 war sie erst im Skirophorion gehalten,
wofür Lysias die archonten verantwortlich macht (26, 7), und so bestätigt,
daſs sie die losung besorgten. wenn man ihm trauen dürfte, wäre der
schluſs sicher, daſs sie zur anberaumung des termines competent waren 30),
also nicht etwa ein volksbeschluſs vorhergehen muſste, während die directen
wahlen selbst ein volksbeschluſs sind. er erinnert auch daran, daſs fälle
vorgekommen sind, in denen am ersten hekatombaion kein archon da
war. 31) davon, ob diese losung mit der im Theseion oder mit den wahlen
in irgend welcher zeitlicher verbindung stünde, ist nichts bekannt.
Gerichts-
wesen.Mit dem capitel 63 beginnt die beschreibung des gerichtswesens,
ein umfänglicher in sich abgeschlossener teil, der bis zum schlusse des
buches reicht. die schilderung geht bis auf die kleinsten einzelheiten
ein, jedes instrument wird beschrieben, und der äuſsere gang der ge-
richtsverhandlung schritt für schritt verfolgt. der contrast ist peinlich,
in dem diese redseligkeit über bagatellen zu der knappheit in dem wich-
tigen steht. der stil wird deshalb nicht gefälliger, im gegenteil, man
glaubt, trotz der zerstörung der meisten columnen, starke härten zu
bemerken; die hiate z. b. häufen sich. zu dieser partie fehlen parallelen
bei andern darstellern der attischen verfassung; die grammatiker haben
diese dinge offenbar nur bei Aristoteles gefunden und ihn nicht immer
genau verstanden; es entstehn auch wirklich durch die groſse um-
ständlichkeit der schilderung unklarheiten. historische rückblicke oder
sonstige einlagen scheinen nirgend vorzukommen. die geltende praxis
ist ersichtlich nach dem leben copirt, nicht nach dem schema des ge-
setzes. also hat Aristoteles das attische geschwornengericht wie es gerade
war beschrieben und diese beschreibung in sein buch einfach über-
nommen, unbekümmert um das schreiende misverhältnis, in das sie zu
andern stücken trat. eine ratssitzung oder volksversammlung in dem-
selben stile beschrieben würde auch viele seiten füllen, und wir würden
[205]Gerichtswesen.
sie ungleich lieber lesen und die insignien der einzelnen beamten
lieber beschrieben hören als die leisten, auf denen die richtertäfelchen
bei der losung aufgesteckt wurden, oder die unförmlichen bronzenen
kreisel (so etwa sieht solch ein ding aus), mit denen die heliasten über
Timarchos und Demosthenes abgestimmt haben. Aristoteles der schrift-
steller hat somit auch hier wie in allen erhaltenen schriften bewiesen, daſs
er auf gleichförmigkeit des stiles und der composition kein gewicht legte,
vielleicht wenig gefühl dafür hatte; wobei es ganz gleichgiltig ist, ob er
irgend einen studenten des peripatos auf den markt und in die heliaia
geschickt hat, um diese beschreibung für ihn anzufertigen: das werden
wir nie herausbringen, und er hat die verantwortung selbst übernommen.
Aristoteles der politiker aber hat bewiesen, daſs er in der überschätzung
der richterlichen tätigkeit, die für ihn zum wesen der bürgerlichen frei-
heit eines jeden individuums gehört 32), sich über die vorurteile der zeit-
genossen kaum erhob. Platon würde keines von beiden getan haben.
Nachdem wir so das kleine oder unbedeutende beiwerk beseitigt
haben, bleibt als ein zusammenhängendes und woldisponirtes ganzes die
abhandlung über die beamten und ihre pflichten übrig 43—61.
Die
einzelnen
beamten;
disposition.Aristoteles schickt voraus, daſs er nur die regelmäſsigen verwaltungs-
ämter aufführen wolle; wir haben also kein recht, weder über die ge-
sandten noch über die zahlreichen commissionen etwas zu erwarten.
gleichwol muſs eine wirkliche darstellung der verwaltung betonen, daſs die
Athener ihren regelmäſsigen beamten nicht allzu viel trauten. wenn
tempelschätze zu revidiren waren, womit finanzoperationen verbunden
zu sein pflegten, wenn die mauern armirt, werften gebaut, heilige geräte
angeschafft, rückständige steuern beigetrieben werden sollten, so pflegte
man statt der erlosten beamten besondere commissionen zu wählen:
so corrigirte der wille des souveränen volkes als tyrann das prinzip der
gleichheit und des loses. es gab unter diesen ἐπιμέλειαι manche die
geradezu ständig geworden waren, so wichtige wie die werftbeamten,
deren übergabeurkunden wir besitzen, und die wahrlich wichtiger sind
als die ἱεϱῶν ἐπισκευασταί oder die ὁδοποιοί. wenn sie fehlen, so hat
das lediglich den grund, daſs sie nicht zu der ἐγκύκλιος τιοίκησις ge-
hören, wenigstens formell; sie werden nicht mit den andern erlost oder mit
den strategen gewählt worden sein, sondern jedesmal durch specialgesetz;
mitwirkt natürlich, daſs Aristoteles auf die flotte noch weniger augen-
merk richtet als auf das heer. wie der richtereid lehrt, waren die im
diplomatischen auftrage tätigen, κήϱυκες und πϱεσβεῖαι, darin den regel-
mäſsigen behörden völlig gleichgeachtet, daſs sie zu keinem andern amte
wählbar waren. von den theoren, die unter diese kategorie fallen, steht
es zufällig fest, daſs sie schon zur zeit der naukraren diäten aus
öffentlichen mitteln erhielten, und sie sind keinesweges weniger ständig
als die athlotheten, die Aristoteles ausführlich behandelt. dennoch
fehlen sie und fehlt ihr sold. da wirkt wieder mit, daſs alle rein
religiösen chargen von Aristoteles fern gehalten sind, selbst der ἱεϱο-
μνήμων, wie 411 (30, 1), so im richtereide der nächste nach den
archonten. wo er fehlt, der doch politische bedeutung hatte, zumal zu
Aristoteles zeit, dürfen wir vollends rein religiöse beamte wie die eleu-
sinischen ἱεϱοποιοί, die ἐξηγηταί und alle priester hier nicht suchen.
endlich fehlt leider jede behandlung der verfassung und verwaltung in
phyle und demos. das ist niemals im altertum zur darstellung gebracht,
und doch steckt das leben der besten elemente des attischen wie jedes
staates nicht in der stadt, geschweige in den gerichten und amtsstuben,
sondern da wo der mensch in stäter berührung mit der mutter erde
die elementare volkskraft erhält und erneut. aber daſs wir viel mehr
von der schilderung eines staates verlangen, soll uns nicht abhalten,
dankbar das viele gute hinzunehmen, das uns hier geboten wird.
Die beamten zerfallen nach der art ihrer bestellung in drei classen,
auf vier jahre gewählte, auf ein jahr gewählte und erloste. so disponirt
Aristoteles, zählt die unter die beiden ersten kategorien fallenden auf,
beginnt aber mit der dritten. in ihr hat der rat den vortritt; es schlieſsen
die neun archonten; dann klappen scheinbar nach die athlotheten (60). 33)
sie können an diese stelle nur gebracht sein, weil sie auf vier jahre erlost
werden, um so den übergang zu der ersten classe zu bilden, den auf vier
jahre gewählten, die cap. 43 vorab aufgezählt, also versprochen sind.
in dem jetzigen zustande des buches ist dies versprechen nirgend erfüllt.
wir sehen nun, wo die lücke ist, und zum glück verrät sie sich auch
darin, daſs die restirende zweite classe, die auf ein jahr erwählten, mit
χειϱοτονοῦσι δὲ καὶ (61) auf κληϱοῦσι δὲ καὶ folgt. 34) wir sind durch
den ausfall um ein besonders wertvolles stück gekommen; zwar den
beamten der die cura aquarum hatte 35), können wir zur not verschmerzen,
[208]I. 7. Die verfassung.
aber in dem schatzmeister der kriegscasse und dem collegium der ver-
walter der spielcasse (wir können das der cura annonae vergleichen; in
den asianischen communen der εὐετηϱίας) fehlen uns die gerade in der
zeit wo Aristoteles schrieb einfluſsreichsten posten: Lykurgos, Mene-
saichmos, Demades 36) haben diese stellen inne gehabt, die so erst seit
338 bestehen. immerhin ist die peinliche frage nach dem ἐπὶ τῇ διοι-
κήσει aus der welt geschafft: er gehört erst der demokratie der 12 phylen
an. ich beabsichtige aber nicht die lücke zu füllen, was mit einer ver-
fassungsgeschichte der jahre 354—21 identisch sein würde.
Militärische
ämter.Die militärischen ämter sind äuſserst kümmerlich behandelt, die
recrutirung der infanterie kaum 37), die der flotte gar nicht 38): die der
35)
[209]Militärische ämter. der rat.
reiterei unverhältnismäſsig gut, weil sie in die ratscompetenz fällt, ebenso
der flottenbau. wir wussten schon aus der Politik, daſs Aristoteles alles
militärische vollkommen aussondert; er bleibt auf dem standpunkte seiner
gegenwart stehn, daſs der politiker und der feldherr immer getrennte
personen sind 39), und er hat deshalb weder den Perikles würdigen können
noch den Philippos. er hat die condottieri seiner zeit gewiſs mit recht
für den besten staat nicht mitgezählt, aber dem wahn gehuldigt, daſs
der turnplatz soldaten bildete und die routine den feldherrn. daſs er
in Sparta den kriegerstaat als solchen anerkennt, verdankt er dem Platon,
der als echter Athener, stolz auf den waffenruhm seines volkes und seiner
familie, den wehrstand, die φύλακες, vor allem bilden will. Aristoteles
war offenbar ganz so unmilitärisch wie Demosthenes und Isokrates.
Die erlosten beamten sind dem Aristoteles am wichtigsten erschienenDer rat.
und werden demzufolge zuerst abgehandelt. voran steht der rat, in der tat
die hauptbehörde, und seine zusammensetzung und die allgemeine geschäfts-
ordnung eröffnet die darstellung seiner competenzen, wobei passend die
38)
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 14
[210]I. 7. Die verfassung.
prytanen und proedren mit ihren obmännern vorgeführt werden, und
die verpflichtung die wahlen zu bestimmtem termine beim volke erst zu
beantragen, dann abzuhalten 40), steht hier auch an passender stelle
(42, 2—44, 4). befremden muſs dagegen, daſs die volksversammlungen,
in denen der souverän des staates selbst in action tritt, nur in so weit
sie die geschäftsleitung des vorsitzenden angehn, gegenstand der dar-
stellung geworden sind. 41)
Es folgen die allgemeinen competenzen des rates (45), jedoch in
der form, daſs angegeben wird, wozu der rat nicht mehr competent ist,
so daſs man geneigt wird, sich diesen abschnitt durch vergleichung
einer älteren darstellung der verfassung mit der geltenden praxis ent-
standen zu denken. 42) daran schlieſst sich, ohne daſs ein zusammen-
[211]Der rat.
hang ersichtlich wäre, die sorge des rates für den bau von schiffen und
schiffshäusern43), und die abnahme der öffentlichen bauten überhaupt (48).
es sind das von alters seine pflichten, aber sie sind genau für die gegenwart
revidirt.44)
Das folgende wird zusammengefaſst als cooperation des rates mit den
anderen beamten (47. 48). und so steht denn hier eine lichtvolle über-
sicht der finanzverwaltung. die schatzmeister der göttin45) übernehmen
die ihnen unterstellten schätze in gegenwart des rates; poleten und apo-
dekten walten ihres amtes ebenfalls unter seiner controlle, zumeist im
rathause, und das geld kommt unter seine augen, sowol wenn es
ein wie wenn es ausgeht, so daſs er seine controlle (κϱίνειν, wenn
nötig καταγιγνώσκειν) wirksam ausüben kann. die rechnungen fast
aller behörden überhaupt führt eine ratscommission, und eine andere
ist an der rechnungsablage der beamten beteiligt.46) das hängt auf das
trefflichste zusammen.47)
Auch in dem folgenden abschnitte (49) erkennt man den leitenden
gesichtspunkt; er behandelt die dokimasien die dem rate zustehn. zuerst
steht die der cavalleriepferde, der equi publici, deren besitzer verpflegungs-
gelder erhielten, so daſs in der pferdehaltung ihre hauptpflicht lag.48)
dann die prüfung der für den cavalleriedienst ausgehobenen leute, bei
der es auch vornehmlich auf das vermögen ankam.49) dann die prüfung
44)
[213]Der rat.
der baupläne50) und des peplos, der von bestimmten frauen für die
Panathenaeen gewoben ward[.] diese beiden letzten pflichten waren dem
rate freilich zu gunsten des gerichtes abgenommen; dafür hatte er aber an
den vorbereitungen für die Panathenaeen in sofern anteil, als er neben
dem kriegsschatzmeister bei der beschaffung von Niken und paradegeräten
mitwirkte. endlich die prüfung der gesuche um armenunterstützung.51)
So wie ich das reproducirt habe, ist der zusammenhang gut: so
steht es aber nicht da, sondern es heiſst 49, 3 “früher hatte der rat die
entscheidung über baupläne und peplos, jetzt aber hat sie ein gericht.
auch an der beschaffung der Niken wirkt der rat mit”. wer das list,
fragt verwundert, weshalb steht diese beseitigte competenz nicht bei den
andern beseitigten 45, 3, und die fürsorge für die Niken nicht bei der
49)
[214]I. 7. Die verfassung.
für die schiffe 46? nun ist die beschaffung der Niken ein novum, nicht
älter als 335, die ordnung der Panathenaeen ist auch kürzlich revidirt
(CIA II 162), und erst seit den vierziger jahren hat eine neue periode
lebhafter bautätigkeit begonnen. erst wenn man sich zu der annahme
entschlieſst, daſs Aristoteles auf grund dieser neuordnungen eine ältere
darstellung der ratsbefugnisse durchcorrigirt hat, wird es vollkommen
verständlich, wie er zu seiner seltsamen anordnung gekommen ist.
Es folgt die abgerissene bemerkung, daſs der rat aus sich einen
schatzmeister auslost: das ist erst nach 343/2 bestimmt, denn damals
waren es noch zwei.52) wir möchten von den befugnissen dieses rats-
mitgliedes mehr hören, da ein rendant durch seine existenz nur eine
casse bezeugt, weiter nichts53); aber solche wünsche steigen aller orten
auf, und daſs sie so oft unbefriedigt bleiben, muſs eine überall zutreffende
erklärung finden.
Es geht weiter “der rat cooperirt auch so ziemlich mit allen andern
beamten”, worauf eine diesen abschnitt abschlieſsende phrase folgt, die
zu den andern behörden, erst dem bauamt für die unterhaltung der
öffentlichen heiligtümer, dann den polizeibeamten überführt. jener satz
ist auf den ersten blick anstöſsig, und natürlich ist schon der böse inter-
polator citirt worden. Aristoteles weist uns auf den satz zurück, der die
[215]Der rat.
finanzverwaltung einleitete (47 anf.), denn er braucht dieselben worte.
anstöſsig ist nur, daſs sie hier stehn, unmittelbar vor dem formellen
abschlusse des abschnittes und ohne daſs unmittelbar vorher von einem
zusammenwirken des rates mit andern beamten die rede gewesen wäre.
was will also Aristoteles mit diesem satze hier? denken wir uns, daſs
ihm eine ausführliche darstellung der pflichten des rates vorlag, so
muſste darin unweigerlich erörtert sein, wie der rat als oberste polizei-
behörde mit den andern organen der executivpolizei, als oberste ver-
waltungsbehörde mit allen beamten, die geld des volkes ausgaben oder
im auftrage des volkes handlungen vollzogen (z. b. ὁδοποιοί ἱεϱοποιοί),
endlich als der unvermeidliche vermittler aller anträge an das volk
schlechthin mit allen beamten cooperirte. es versteht sich, daſs das meiste
sich in ein detail verlief, das für Aristoteles keine bedeutung hatte und
am ende in der allgemeinen stellung des rates begründet erscheinen
konnte. der satz, mit dem Aristoteles darüber hinweggeht, ist nur der
ausdruck für das was er damit tut “ich unterdrücke hier noch eine
menge unwesentliches”. es ist ein stilisirtes ‘u. s. w.’ das lehrt uns
für die sachen nichts, aber es lehrt von neuem sehr eindringlich, daſs
Aristoteles einen auszug liefert.
Daſs diese voraussetzung, unter der seine ganze darstellung erst
verständlich wird, wirklich zutrifft, bestätigt sich dadurch, daſs die
zunächst behandelten behörden eben solche sind, die, obwol Aristoteles
nichts davon sagt, notwendigerweise mit dem rate in naher berührung
standen.54) denn es folgt zunächst eine baubehörde, 10 männer für
die unterhaltung der heiligen gebäude.55) schon weil diese eine feste
[216]I. 7. Die verfassung.
summe auszugeben haben, dann aber auch, weil sie contracte ab-
schlieſsen, baupläne veranlassen, endlich im falle daſs ihre etatsmäſsigen
mittel nicht zureichen, extraordinäre bewilligungen beim volke beantragen
müssen, stehn sie notwendigerweise mit dem rate in beständiger be-
rührung. ganz dasselbe gilt von den polizeibehörden: denn der rat, oder
vielmehr die prytanen, ist die centralstelle für die polizei; deswegen ist
dieser ausschuſs in permanenz versammelt und verfügt über die skythische
polizeiwache. wie sollten die marktaufseher und stadtaufseher seiner
entraten können? und es bedarf nur geringer überlegung, um ganz
denselben schluſs für die folgenden behörden zu ziehen: man muſs sich
nur die verwaltung in tätigkeit denken.
Genaue prüfung der aristotelischen darstellung führt also darauf,
daſs er eine bereits schriftlich fixirte aber viel ausführlichere behandlung
vor augen hat, die er für seine zwecke zusammenzieht, hier und da mit
eignen lichtern versieht, durchgehends aber auf die höhe der gegenwart
hebt, mit der sie nicht mehr völlig stimmte. auf diese voraussetzung
hin muſs nun das übrige durchgesehen werden.
Erste reihe
der
losbeamten.Die stadtaufseher haben zu sorgen, erstens daſs die μουσουϱγοὶ
γυναῖκες, mit einem ionischen worte diese classe öffentlicher dirnen
zusammenzufassen, die taxe innehalten56), zweitens daſs die abfuhr weit
55)
[217]Erste reihe der losbeamten.
genug von der stadt geschieht57), drittens daſs die straſsen nicht durch
vorbauten, balcons, dachrinnen, nach auſsen aufschlagende fenster un-
gangbar werden58), endlich daſs leichen, die sich auf der straſse finden,
fortgeschafft werden.59) das sind einzelheiten, mit denen die amtsprovinz
der astynomen unmöglich erschöpft sein kann. auch die Politik (Ζ 1321)
behandelt sie und weist ihnen zu 1) die wahrung des richtigen ver-
hältnisses zwischen öffentlichem und privatinteresse in der stadt 2) straſsen
und gebäudepolizei 3) erhaltung der grenzen60) 4) dergleichen mehr.
[218]I. 7. Die verfassung.
das sind alles allgemeine wendungen, während in der Politie die tech-
nisch attischen stehn; aber die philosophische behandlung bestrebt sich
allgemein zu fassen, was einer solchen behörde ihrem wesen nach zu-
fällt: hier werden ein par besonders interessante einzelheiten heraus-
gegriffen, das allgemeine aber bleibt fort, weil das ein Hellene mit dem
worte ἀστυνόμοι bereits hört. im attischen gesetze stand es natürlich:
Aristoteles kürzt.
Mit den marktwächtern steht es ebenso. sie hatten bekanntlich
die marktpolizei im weitesten umfange61); aber Aristoteles verzeichnet
davon nur, was etwa unserem nahrungsmittelgesetze entspricht, denn
ihre sorge für ‘reine und unverfälschte waare’ geht zumeist die nahrungs-
mittel an. übrigens hat er hier eine sicherlich anerkennenswerte leistung
der demokratie hervorgehoben. denn daſs im interesse der consumenten
die polizei von amtswegen den betrügereien entgegentritt, also auch die
händler controlliren darf, ist wirklich volksfreundlich, verstöſst aber
gegen die allgemeine rechtsanschauung, die genug getan zu haben meint,
wenn der geschädigte sich recht suchen kann.
An den wächtern über maſs und gewicht war schwerlich etwas
einzelnes hervorzuheben, um so mehr aber, daſs es in Athen eine solche
behörde gab, die die maſse und gewichte der händler controllirte, denn
das war gewiſs nichts gewöhnliches in Hellas. wir verdanken dieser
stelle alles was wir von den metronomen wissen.62)
An den getreideaufsehern, die den verkehr mit getreide mehl und
brot überwachen, fällt nicht die formulirung ihrer pflichten auf, die viel-
mehr ersichtlich aus dem gesetze stammt63), aber wol die verzeichnung
einer bedeutenden vermehrung der zahl64), und daſs nicht einfach an-
gegeben, sondern in einem besonderen satze nachdrücklich noch einmal
eingeschärft wird, diesen beamten stünde die fixirung der preise und
des entsprechenden gewichtes jener waaren zu. nach der erfahrung
mit der ähnlich stilisirten angabe über die belohnung des abtretenden
rates (oben anm. 44) vermutet man darin eine latente polemik, eine be-
richtigung. und wirklich, zu Xenophons zeit ward das gewicht des brotes
[220]I. 7. Die verfassung.
von den agoranomen geprüft.65) 386, d. h. zu derselben zeit, bestand
noch die zehnzahl der beamten für das getreide66): sie sind also einmal
beträchtlich vermehrt worden, als man ihnen zur aufsicht über die ge-
treidehändler auch die über müller und bäcker anvertraute, und min-
destens sehr nahe liegt es, dies geschehen zu denken, als die groſse
teuerung der ersten zwanziger jahre die Athener zu allen möglichen
maſsnahmen antrieb. nur damals begegnet uns auch die amtliche
notierung des getreidepreises, die Aristoteles hier erwähnt67); zu Lysias
zeiten hat sie nicht bestanden. die σιτοφύλακες, das sagt ihr name,
hatten eigentlich das getreide zu beaufsichtigen, seine entfremdung und
seinen misbrauch zu verhüten, und dem entspricht es, daſs wir sie bei
Lysias beschäftigt finden, den einkauf des getreides von den importeuren
zu überwachen, die verproviantirung der bürgerschaft. die pflichten, die
Aristoteles angibt, und die selbst beim ungemalenen korn auf den ver-
kauf an das publicum sich beschränken, sind mit dem namen gar nicht
mehr congruent, und schwerlich bloſs weil Aristoteles sie unvollständig
angibt, gerade nach der bezeichnenden seite enger als bei Lysias. denn es
folgt bei Aristoteles die besondere behörde der hafeninspectoren, ἐμποϱίου
ἐπιμεληταί, die aus einer commission ein ordentliches amt geworden
sind, und diesen liegt, wie er lehrt und wie sonst feststeht, gerade die
verproviantirung der stadt ob. sie halten das eingeführte getreide fest68),
[221]Erste reihe der losbeamten.
sorgen dafür, daſs die attische rhederei und das in ihr angelegte capital
dem attischen getreidehandel zu gute kommt, natürlich auch für das was
ohne zeugnis der name lehrt, Aristoteles deshalb wegläſst, für die εὐκοσμία
im emporium und die erhebung der zölle. man kann nicht anders an-
nehmen, als daſs die von Lysias erwähnte bestimmung, daſs niemand
mehr als 50 körbe getreide auf einmal kaufen durfte, ihnen zufallen
muſste, da doch das getreide im emporium lagerte. mit andern
worten, diese behörde scheint später eingeführt zu sein und einen teil der
φυλακὴ τοῦ σίτου übernommen zu haben. die σιτοφύλακες bestanden
386 schon lange zeit; wie lange, ist unbekannt. die ἐμποϱίου ἐπιμε-
ληταί sind nur aus demosthenischer zeit belegt, seit der rede gegen
Lakritos. vielleicht sind sie unter Eubulos errichtet, als der staat die
politik verwirklichte, für die Xenophon seine Πόϱοι geschrieben hatte.69)
Diese reihe verwandter ämter wird passend beendet durch die exe-
cutivpolizei, deren organ, die elfmänner, wirklich seit Solon und länger
bestand70) und seine feste competenz hatte, die auch hier scharf be-
stimmt wird. nur ein punkt, ihr vorsitz in gewissen von einer denun-
tiation hervorgerufenen gerichtsverhandlungen, wird mit der nun schon
mehrfach bemerkten geflissentlichen bekräftigung, daſs eben die elf dies
zu tun hätten, hervorgehoben, die auch hier dafür zeugnis ablegt, daſs
Aristoteles eine andere behandlung des gegenstandes vor augen hat.71)
Passend folgen auf die polizei die richter, in attischem sinne also
die beamten, welche lediglich dazu erlost werden, gewisse rechtshändel
teils kurzer hand zu erledigen, vornehmlich aber sie einem geschwornen-
gerichte vorzulegen. zuerst stehn die fünf männer für das einbringen
der schleunigen klagen, die schon um die mitte des fünften jahrhunderts
geschaffen waren, als die processe der bundesgenossen den gewöhnlichen
69)
[223]Erste reihe der losbeamten.
beamten zu viel arbeit machten, und deren bestimmung ursprünglich
nicht gewesen zu sein scheint, die schleunigen processe, sondern die
auf bestimmte monate angewiesenen bündner- und kolonistensachen zu—
erledigen, was dann freilich in der vorgesehenen frist nötig war.72) das
vierte jahrhundert hat sie dann in seinen beschränkten verhältnissen
für etliche schleunige sachen verwandt. wir wissen freilich nicht, ob
sie immer fortbestanden haben, was ich nicht bezweifele. dagegen haben
die ναυτοδίκαι, die dem namen nach für die spätern ἐμποϱικαὶ δίκαι
bestimmt gewesen sein müssen, einzeln auch so vorkommen73) und mit
den εἰσαγωγεῖς die schleunige entscheidung teilen, nur noch kurze zeit
nach 403 bestanden, vorher aber sind ihnen sowol sachen einzelner städte
zugeteilt gewesen74), wie, doch wol nur in einem besondern falle,
klagen ξενίας75), die unter normalen verhältnissen den thesmotheten gehört
[224]I. 7. Die verfassung.
haben müssen, wie es Aristoteles angibt: denn die sicherung der ge-
schlechter vor fremden eindringlingen ist gerade für die adelszeit ein
wichtiges ding und geht die an, die damals die rechtsprechung übten.
Die
diaeteten.Die vierzigmänner, für die sich Aristoteles auch in dem geschicht-
lichen abschnitte interessirt, sind so wie sie hier erscheinen erst eine
schöpfung der demokratischen restauration, und die schiedsmänner hat
sie überhaupt erst zu einer staatlichen einrichtung gemacht: sie folgen also
gut auf die εἰσαγωγεῖς. die schiedsmänner behandelt Aristoteles mit der
sorgfalt und in dem breiten stile, den später die darstellung des gerichts-
wesens zeigt. es interessirte ihn mit recht der geistreiche versuch, die
heliasten und beamten dadurch zu entlasten, daſs alle privatprocesse
zunächst einem schiedsmanne vorgelegt werden muſsten, der sogar ge-
halten war, einen vergleich zu versuchen, dann aber die verhandlung,
so weit sie untersuchung war, abschloſs: denn kam die sache vor ein
gericht, so waren erneute beweismittel nicht mehr zulässig, sondern es
handelte sich nur um das urteil. also gab es erstens weniger processe
überhaupt, also auch viel weniger kosten für die staatscasse, denn der
schiedsmann bekam nur sporteln von den parteien, und dann muſste
die verhandlung vor gericht eigentlich sehr viel weniger zeit kosten, da
die vernehmung der zeugen fortfiel — da hat freilich die attische mund-
fertigkeit und die grassirende rhetorik das werk ziemlich vereitelt, und
die sechzigjährigen einzelrichter haben überhaupt geringe autorität er-
langt, weshalb man wol schon 323 die schiedsmänner definitiv beseitigt
hat.76) noch geistreicher ist es, wie man sich die schiedsmänner ohne
kosten für den staat beschaffte, nämlich indem man den letzten jahr-
gang der militärpflichtigen dazu aushob77), also einen im kriege doch
75)
[225]Die diaeteten.
lieber nicht verwandten teil der bürgerschaft zu einem geschäfte heran-
zog, für das alter und erfahrung ihn geeignet erscheinen lieſsen. die
institution zeigt den guten willen der biedern männer, die neben den
radicalen schreiern in der schweren zeit von 403 ab tätig zu sehen
woltut. ihre namen sind verschollen.78)
In dem aristotelischen capitel fällt die einmischung der phylen-
eponymen auf. ist das nicht seltsame rede “wer 60 jahr alt ist, das weiſs
man durch die eponyme. es gibt nämlich zwei arten eponyme, 10 der
phylen, 42 der jahrgänge u. s. w.” wer so weit bei Aristoteles gelesen hat,
braucht die phyleneponyme wahrlich nicht erst kennen zu lernen; als
bekannt sind sie noch eben 48, 4 erwähnt, und im nächsten satze wird
die bronzetafel vor dem rathause παϱὰ τοὺς ἐπωνύμους gestellt, ohne
daſs diese einen diakritischen zusatz erhalten. die einführung der 10 epo-
nymen, die der gott aus 100 vorgeschlagenen gewählt hatte, ist, wo sie
hingehört, unter Kleisthenes erzählt (21, 6). woher also diese redeweise
hier? vergleichen wir die zweite glosse des Etym. M. ἐπώνυμοι: διττοί
77)
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 15
[226]I. 7. Die verfassung.
εἰσιν οὗτοι, οἳ μὲν λεγόμενοι (l. λέγονται) τῶν ἡλικιῶν καί εἰσι
μβ΄, οἳ καλοῦνται καὶ λήξεων ἐπώνυμοι, οἳ δὲ δέκα, ἀφ̕ ὧν αἱ
φυλαὶ πϱοσηγοϱεύϑησαν (folgen alle zehn in richtiger ordnung), ταῦτα
δὲ τὰ δέκα ὀνόματα ἀπὸ ϱ΄ (Kaibel für ἀπόϱων: die conjectur ist zu
schön, als daſs ich das κοινὰ τὰ τῶν φίλων auf sie ausdehnen könnte),
Κλεισϑένους οὕτω διαταξαμένου (überliefert sind nominative) τὸ πᾶν
πλῆϑος εἰς δέκα φυλάς.79) bei Harpokration entspricht der artikel
unter demselben lemma, den man eben so gut auf diese glosse wie auf
die aristotelische stelle zurückführen kann; unter στϱατεία ἐκ τῶν
ἐπωνύμων schreibt er nur Aristoteles ab, führt ihn an und gibt am
schlusse die verweisung auf das vierte buch des Philochoros. nun ist
wol deutlich, daſs jene glosse im Et. M. aus Aristoteles nicht stammt:
die λήξεων ἐπώνυμοι beweisen das allein; aber es ist auch klar, daſs
die unterweisung über die doppelten eponyme dort unanstöſsig ist, bei
Aristoteles nicht, und daſs in der glosse vereinigt steht, was Aristoteles
an verschiedenen stellen hat. Aristoteles ist also in seiner schilderung
beeinfluſst von einer fremden darstellung, und diese ist freilich nicht
Philochoros, auf den Harpokration hinweist, sondern der ebenso von
Philochoros wie vorher von Aristoteles benutzte atthidograph. das ver-
hältnis beider ist hier in der darstellung der verfassung kein anderes
als wir es in der erzählung der geschichte gefunden haben.
Zweite reihe
der
losbeamten.Das capitel 54 fängt an κληϱοῦσι δὲ καὶ τάσδε τὰς ἀϱχάς, und
wirklich ist auſser dem lose keine verbindung zwischen diesen beamten
und den vorher behandelten; unter ihnen selbst aber auch nicht, denn
da stehn zuerst 5 wegebaumeister80), die ihren platz besser vor den
astynomen haben würden, und dann die rechnungsbehörde, die angemessen
unmittelbar hinter den richtern stünde. sie ist natürlich die des vierten
jahrhunderts und nimmt keine rücksicht auf die 30 logisten des fünften.81)
[227]Zweite reihe der losbeamten.
aber wol steht hier wieder ein polemischer satz, die logisten wären
es allein, die die rechenschaftspflichtigen vor gericht führten. wohin
diese spitze zielt, läſst sich noch erkennen, denn bei Harpokration wird
die prüfung den euthynen beigelegt, und der gelehrte, von dem er
abhängt, hat sogar gefühlt, daſs Aristoteles eine verschiedene lehre gäbe.82)
aber ich weiſs nicht, wen Aristoteles meint.
Dann kommen die schreiber, die uns eine überraschung bereiten,
obwol der gröſsere teil des artikels aus der grammatikerüberlieferung
richtig gewonnen war, wenn auch nicht für die ‘herrschende’ meinung
der handbücher, und obwol für jeden, der die zeugnisse der inschriften ver-
folgt hatte, seit einigen jahren klar sein muſste, daſs es so einfach nicht
gienge, wie wir geglaubt hatten, und Aristoteles sich längst nicht mit
allen urkunden vertrug. ich habe die specialuntersuchung nicht gemacht,
die erforderlich ist, obwol das material schwerlich ganz feste ergebnisse
gestatten wird. so viel aber steht fest, daſs Aristoteles keinen ἀντιγϱαφεύς
als beamten kennt, also diese kategorie damals nichts mehr bedeutete
als andere subalternbeamte (ὑπηϱέται), was die ἀντιγϱαφεῖς meistens
auch auf den steinen sind83), daſs er zweitens abgesehen von dem vorleser,
dessen bedeutung nicht mehr groſs war, zwar einen γϱαμματεὺς κατὰ
πϱυτανείαν aber keinen γϱαμματεὺς τῆς βουλῆς oder τῆς βουλῆς καὶ
τοῦ δήμου kennt, während die steine diese beiden titel neben dem des
γϱαμματεὺς κατὰ πϱυτανείαν kennen, und dafür nichts von dem ἐπὶ
τοὺς νόμους des Aristoteles wissen.84) fest steht weiter, daſs der schreiber,
15*
[228]I. 7. Die verfassung.
der für die actenstücke verantwortlich ist und von dem protokollführer
in den sitzungen des rates und volkes nicht getrennt werden kann, ὁ
κατὰ πϱυτανείαν ist, der den namen beibehalten hat, weil er bis in die
sechziger jahre prytanienweise wechselte, wovon Aristoteles nichts mehr
sagt. das wichtigste aber und ganz neue ist, daſs es nicht der rat,
sondern das volk ist, welches diese beamten jetzt erlost, früher wählte,
wir wissen nicht bis wann.85) Aristoteles sagt nicht das mindeste davon,
daſs sie ratsherren waren, woran doch nicht zu zweifeln ist. jedenfalls
aber gilt für dieses amt im gegensatze zu dem der ratsherrn, daſs die
iteration untersagt ist.86)
Nun kommen die opfermänner, zwei gleichnamige collegien, von
denen das zweite den zusatz κατ̕ ἐνιαυτόν trägt, der es doch von dem
ersten ebenfalls jährigen nicht unterscheiden kann. er ist ihm vielmehr
schon im fünften jahrhundert gegeben, im gegensatze zu den zahlreichen
gleichnamigen collegien, die sei es aus dem rate, sei es aus den richtern
für einzelne feste gelegentlich ausgelost wurden.87) die jährigen opfer-
84)
[229]Zweite reihe der losbeamten.
männer hatten zu Aristoteles zeit mit den kleinen Panathenaeen noch
immer etwas zu tun, früher auch mit den groſsen88), was nun beseitigt
war. ihre hauptpflicht war die ausstattung der penteterischen feste, so
weit sie noch bestanden und staatsfeste waren. leider ist die stelle
zerstört, die allein einen archon nennt, so daſs man nicht mehr sicher
erkennt, ob diese ganze anordnung erst durch Lykurg 329/28 getroffen
war, oder Aristoteles einen zusatz macht, der eine ganz frische verord-
nung berücksichtigt.89)
Die andern ἱεϱοποιοί, die ἐπὶ τὰ ἐκϑύματα, sind eigentlich eine
jener für einen einzelfall gebildeten commissionen. denn jedes der sühn-
opfer, die sie ausrichten, ist durch eine besondere äuſserung des gött-
lichen willens hervorgerufen, mag diesen ein orakel oder ein seherspruch
verkünden, und nur, weil erfahrungsgemäſs der staat solche äuſserungen
alljährlich öfter empfängt oder einholt, ist einmal beliebt worden, eine
ständige behörde dafür zu schaffen. ich kann nicht angeben, wann das
geschehen ist.
Endlich sind erloste beamte noch der archon von Salamis und der
demarch des Peiraieus, von denen Aristoteles so redet, als hätten sie
lediglich spiele dort auszurichten. allein für die eine gelegenheit sind
doch keine jährigen beamten erlost, geschweige ein so hoch bezahlter
wie der archon von Salamis. Aristoteles gibt hier also wieder nur ein
par besonderheiten an, das wichtigste aber läſst er fort, weil es teils
im namen liegt, theils die localverwaltung angeht, die er nicht berück-
sichtigen will. der archon von Salamis erscheint später neben den an-
dern beamten, die Athen in seine auswärtigen besitzungen schickt; nur
weil Salamis längst pacificirt ist, verwaltet es ein bürgerlicher erloster
mann, während die ferner liegenden inseln unter gewählten, zum teil
durch ihre namen als militärisch kenntlichen leuten stehn.90) der archon
von Salamis, an dem Aristoteles befremdend findet, daſs er für die insel
89)
[231]Zweite reihe der losbeamten.
eponym ist, war offenbar schon im sechsten jahrhundert dorthin ge-
sandt und trug seinen namen als träger des vollen imperiums wie seine
collegen in Athen, bestimmt die insel zu verteidigen und verwaltung
und gericht über kleruchen und untertanen zu üben. nach mehr als
zweihundert jahren mochte die insel freilich den eindruck machen, nicht
anders attisch zu sein als die tetrapolis, deren bewohner es zu den
ordentlichen behörden und gerichten der stadt weiter hatten. da war
der archon von Salamis nur noch eine pfründe.
Dagegen lernen wir in dem staatlich ernannten demarchen des
Peiraieus eine sehr merkwürdige neuerung kennen. Aristoteles sagt von
ihm nur, daſs er, wie der archon in Salamis, Dionysien ausrichtet und
choregen für sie bestellt, und es ist ganz logisch, daſs der staat, wenn
er ein gemeindefest übernimmt, auch selbst den spielleitenden beamten
bestimmt. aber daſs die ländlichen Dionysien der gemeinde Peiraieus
staatsfest sind, können wir erst aus der lykurgischen zeit belegen.91) nun
kann doch aber unmöglich neben diesem von den Athenern gesetzten
demarchen noch ein von den Piraeern gesetzter bestanden haben, zumal
für die festleitung der name demarch sehr wenig paſst. der staat hat
also hier in die selbstverwaltung einer einzelgemeinde eingegriffen und
getan, was auch der unsere ausnahmsweise tut, den bürgermeister selbst
ernannt. mag ihm das fest den anlaſs gegeben haben, die sache hat
viel tiefere bedeutung. die hafenstadt war zu groſs und zu wichtig, als
daſs man ihre executivbeamten den gefahren der vetterschaft und der
corruption aussetzen durfte, die eine dorfwahl mit sich bringt. da der
hafen vom staate erbaut war, die stadt durch volksbeschluſs angelegt,
nach festem plan ihre straſsen tracirt, wasserleitungen gebaut waren,
das ganze in den festungswerken lag, so war die polizeiverwaltung in
den händen staatlicher behörden, strategen, astynomen, agoranomen u. s. w.
[232]I. 7. Die verfassung.
man kann sagen, das war mit Kollytos und Melite nicht anders, von
deren demarchen und demosverwaltung wir so gut wie nichts wissen. aber
schon weil im asty eine ganze anzahl gemeinden lagen, war hier die gefahr
geringer, und dann waren so viel mehr staatliche behörden im asty, vor
allen dingen die centralbehörde des rates, daſs es praktisch ein ganz anderes
ding war. im Peiraieus saſsen sicherlich um 350 mehr andere Athener als
Piraeer und mehr metöken und fremde als Athener. und der demarch des
Peiraieus hatte doch eine mindestens concurrirende polizeigewalt über
alle eingesessenen seiner gemeinde. man wird nicht leugnen, daſs das
richtige war, daſs er unmittelbarer staatsbeamter ward; wir wissen nicht,
ob ἐκ Πειϱαέων oder ἐξ Ἀϑηναίων ἁπάντων, aber das letztere ist un-
gleich wahrscheinlicher. übrigens hat Aristoteles hier wol etwas ver-
gessen: den zehnten des getreides aus dem oropischen gebiete zieht
329/28 δήμαϱχος Πϱοκλῆς Σουνιεύς ein92): nach der analogie, die der
demarch des Peiraieus jetzt bietet, darf man das dahin verstehn, daſs
für die kleruchen, denen jenes land abgegeben war, und die ein jeder
rechtlich in seiner alten gemeinde blieben, der staat einen demarchen
als ortsvorstand der colonie bestellte, ohne daſs doch eine wirkliche
neue gemeinde gebildet ward. der mann hatte allerdings geringe autorität;
etwa ein drittel so viel wie er haben die kleruchen ohne seine ver-
mittelung direct abgeliefert. es ist nicht wunderbar, daſs Aristoteles
diesen posten als unwesentlich fortlieſs; hat er doch diese ganze be-
amtenreihe äuſserst flüchtig behandelt.93)
Ein solches chaos gibt Aristoteles statt einer ordnung. soll man
annehmen, er klebe einen haufen zettel, wie sie ihm in die hände fallen,
hinter einander? sonst ist doch alles wol disponirt, und schwer war es
wahrlich nicht, eine erträgliche reihenfolge zu finden. oder ist er von
einer vorlage abhängig? dann verschiebt sich nur die frage von Aristo-
teles auf jemand anders. sehen wir uns lieber diese reihe von äm-
tern auf ihren wahlmodus an, wie er früher gewesen sein muſs. der
prytanienschreiber ist noch über 403 hinaus gewählt worden, und ein
gewählter steht noch neben ihm. der archon von Salamis kann auch
nur gewählt worden sein, so lange er bedeutendere militärische befug-
nisse hatte. der demarch ist eine neue schöpfung und steht passend
neben diesem collegen. die συνήγοϱοι sind im fünften jahundert ohne
zweifel immer erwählt94), und sie muſsten es wahrlich sein, so lange
ihnen die führung der anklage wesentlich zufiel, die später die rede-
gewandtheit der politiker oder die redeschreiberei übernahm. die opfer-
männer für die sühnopfer haben nur einzelne tage zu tun, die wege-
bauer auch; man bessert doch höchstens zweimal im jahre die straſsen.
auch die andern opfermänner sind zwar für das jahr erlost, aber sie
haben doch keine perennirenden pflichten: das sind also alles behörden,
die wie dazu geschaffen sind, in der für die opfermänner der Hephai-
stien bezeugten weise aus den richtern ausgelost zu werden (oben s. 201).
die logisten waren ehedem dreiſsig und entsprachen also den trittyen,
ebenso die dreiſsig demenrichter. mit andern worten, es steht in der
ganzen reihe keine einzige behörde, die im fünften jahrhundert mit den
archonten gewählt wäre, sondern es sind teils die im Theseion mit
richtern und rat erlosten, teils wahlämter. die ordnung, die Aristo-
[234]I. 7. Die verfassung.
teles befolgt, ist also auch in diesem teile wie in der ganzen abhand-
lung auf den wahlmodus gegründet. zuerst steht der rat, die vertre-
tung der gemeinden95), dann die als phylenvertreter erlosten beamten,
aber unter denen treten zwischen die εἰσαγωγεῖς96) und die archonten
eine anzahl von beamten, die ehedem in eine andere kategorie fielen.
für den leser ist der übergang zunächst gar nicht zu merken, und so
habe ich vorhin auch ruhig anerkannt, daſs die vierzig auf die εἰσα-
γωγεῖς passend folgten; es sind je vier auf die phyle, eingesetzt un-
mittelbar nach den Dreiſsig, also schon damals in diese classe geschoben.
den folgenden übergang κληϱοῦσι δὲ καὶ τάσδε τὰς ἀϱχάς aber fanden
wir befremdlich: er läſst sich nur als ein nachtrag auffassen, und
schlieſst so disparates wie wegebauer und logisten zusammen. wenn wir
nun erkennen, daſs diese reihe von behörden wirklich den mit den
archonten erlosten erst allmählich angefügt sind, so werden wir aufhören,
eine sachliche ordnung zu verlangen97), haben damit aber wieder das
ergebnis erreicht, daſs Aristoteles den stoff nicht selbst geformt und
verteilt hat, sondern daſs er nur einen bereits geformten stoff redigirt.
in diesem falle ist für ihn die losordnung der beamten maſsgebend ge-
wesen: ich meine, man kann ihn billigerweise nicht tadeln.
Politik Z 8.In seinen politischen vorträgen hatte er schon einmal eine über-
sicht der für einen staat notwendigen beamten gegeben. es hat be-
deutendes interesse, diesen abschnitt (Z 8) zur vergleichung heranzu-
ziehen. er fängt mit der polizei an, ἀγοϱανόμοι ἀστυνόμοι ἀγϱονόμοι.
dann kommen die einnehmer und verwalter der steuern, ἀποδέκται und
ταμίαι. dann eine behörde, welche die acte der freiwilligen gerichts-
barkeit aufnimmt und die privatprocesse instruirt, ἱεϱομνήμονες oder
[235]Politik Z 8.
wie sie heiſst. dann die executiv- und sicherheitspolizei, executoren,
gefängniswärter u. dgl., wobei er der elf und der φϱουϱοί Athens
gedenkt.98) dann die militärischen beamten, der rechnungshof, endlich
der rat. damit sind die politischen behörden erschöpft. es folgen die
kirchlichen, denen einerseits die unterhaltung der heiligtümer und des
kirchengutes, andererseits das opferwesen zufällt; unter diesen figuriren
archonten und könige. ein anhang verzeichnet noch die mancher orten
vorkommenden behörden für erhaltung der guten sitte einerseits, für
öffentliche lustbarkeiten andererseits, von denen die ersteren besondern
sinn für zucht, die letzteren wolstand voraussetzen. es liegt hierin eine
bittere kritik Athens, die kaum dadurch abgeschwächt wird, daſs Aristo-
teles hinzufügt, eine beschränkung der arbeitsfreiheit von frauen und
kindern wäre mit dem demokratischen prinzipe nicht vereinbar.99) De-
[236]I. 7. Die verfassung.
metrios von Phaleron hat sich diese anregungen seines lehrers sehr zu
herzen genommen.
Wie in dem letzten satze, so spürt man die berücksichtigung Athens
durch das ganze capitel. allein zu grunde gelegt hat Aristoteles keines-
wegs die attischen ämter, ja er zählt behörden als notwendig auf, die
in Athen gar nicht existiren, wie die hieromnemonen100) oder wie sie
sonst hieſsen, und die agronomen101), und er ist überall bestrebt, auch
99)
[237]Politik Z 8.
andere verhältnisse zu berücksichtigen: den studien, deren niederschlag
die Politien sind, hat er längst ein auge zugewandt, wenn er auch selbst
von den attischen verhältnissen schwerlich schon eine volle kenntnis hat.
ausgegangen aber ist er nicht von der realität der concreten tatsachen,
sondern von Platon, der im sechsten buche der Gesetze den anfang
einer solchen ämtertafel gegeben hat, leider unvollendet, denn 772d reiſst
es ab, und nirgend steht eine fortsetzung. er beginnt mit den νομο-
φύλακες eigener erfindung, dann kommen die militärischen chargen
(genau die attischen, strategen hipparchen, taxiarchen phylarchen), rat
und prytanen (nach athenischem vorbilde sehr praktisch abgeändert),
astynomen und agoranomen, priester und schatzmeister, agronomen und
phrurarchen, über deren straf und amtsgewalt viel merkwürdiges bei-
gebracht wird.102) gerade die sorge für das land und seine bedürfnisse
ist von Platon nicht vergessen: man merkt, daſs er auf dem väterlichen
gutshof in Iphistiadai augen und ohren aufgemacht hat. es folgt das
101)
[238]I. 7. Die verfassung.
erziehungswesen, für das er eine staatliche aufsicht einführt; dann aber
verwirrt sich der faden und reiſst bald ganz ab.103) gerade mit agoranomen,
astynomen und agronomen beginnt auch Aristoteles, gesetzeswächter und
die über der öffentlichen zucht stehenden erwähnt er auch, so wenig sie
für seine darstellung nötig waren: daſs er von Platon angeregt ist, ist
offenbar. ihm folgt er darin, daſs er versucht, begrifflich zu sondern,
welche ämter durch die verschiedenen notwendigen kreise der staats-
verwaltung gefordert werden; er hat darin mit minder attischen augen
gesehen als Platon, und doch mit ganz hellenischen: man braucht nur auf
Rom zu blicken, wo die aussonderung der rein militärischen ämter, die
forderung eines rechnungshofes, der rat als träger jeder initiative nicht oder
doch nicht ursprünglich existiren. von dieser auf die abstraction des all-
gemein giltigen und notwendigen gerichteten speculation hat sich Aristoteles
abgewandt, als er die lediglich registrirende bearbeitung der Politien
vornahm. wir dürfen das bedauern, denn wie belehrend würde es sein,
wenn er so disponirt hätte: die verwaltung des staates erstreckt sich
über die und die gebiete, bedarf dazu der und der organe: wie ist in
Athen dem bedürfnis genügt, und wie functioniren diese organe? dafür
lesen wir nur, wie in der Politik so hier, zwischen den zeilen ein wort
der kritik; aber was uns gegeben wird, ist das zuverlässigste material
für unsere eigene kritik: es redet nicht sowol Aristoteles als die gesetze
selbst, deren summe er wiedergibt. er ist unser wichtigster zeuge, aber
die staatshaushaltung von Athen müssen wir uns selber schreiben.
Athlotheten.Wir haben noch die capitel über archonten und athlotheten zu
betrachten. um die letzten (60) vorweg abzutun, so ist schon klar
geworden, wie sie an den seltsamen platz geraten sind (s. 207). weshalb
sie Aristoteles überhaupt so breit behandelt hat, fragt man vergebens.
es mag ihn die archaische gesetzgebung und noch mehr der wider-
[239]Athlotheten.
spruch zwischen gesetzgebung und praxis, den er anmerkt, gereizt
haben. auch sei daran erinnert, daſs die Panathenäeenfeier jüngst
durch Lykurgos neu geordnet war. die athlotheten sind beamte, denn
sie unterliegen der dokimasie; zu tun haben sie aber mit eigener
verantwortlichkeit wenig. sie stehn den jährigen opferherrn darin gleich,
daſs sie ein staatsfest ausrichten ohne die oberaufsicht eines der hohen
würdenträger, die die Lenaeen Dionysien Thargelien Mysterien be-
sorgen und denen auch eine zehnercommission zur seite steht, sogar
zum teil eine gewählte. aber sie heiſsen “preissetzer”, und ausgesetzt
sind allerdings hohe preise, goldne kränze, geld104), schilde und das be-
rühmte attische öl in den panathenäischen henkelkrügen105); aber diese
preise gibt, spätestens seit der officielle tarif (CIA II 965) in der ersten
hälfte des vierten jahrhunderts aufgestellt ist, der staat. ich denke aber
auch erst seitdem. denn es versteht sich von selbst, daſs die ἀϑλοϑέται
so benannt sind, weil sie ἆϑλα ἐτίϑεσαν, und weil sie diese liturgie
leisteten, hatten sie die ehre, das fest im namen Athenas und Athens
auszurichten; Athena gab nur für die körperlichen leistungen, die von
alters her allein herkömmlichen agone, ihr öl zum preise: mit dem
sollten sich die ἀϑληταί salben. darin ist logik, und so wird der archon
Hippokleides 566 das fest geordnet haben, mag er auch selbst athlothet
gewesen sein. zehnzahl und volkswahl sind natürlich erst kleisthenisch
oder jünger. damals war die athlothesie eine besonders vornehme liturgie.
sie belohnten die rhapsoden106) und musiker und das volk selbst für
seine εὐανδϱία. als der privatwolstand gebrochen war, hat man, ohne
[240]I. 7. Die verfassung.
doch der persönlichen munifizenz der athlotheten schranken zu setzen, die
preise auf den staat übernommen und konnte die beamten dann ruhig
erlosen. ganz ebenso ist an den Dionysien die directe wahl der epimeleten
durch das los ersetzt und ihre liturgie auf den staat übernommen (56, 4),
und ist später die volkschoregie und agonothesie eingeführt.
Die ölpreise setzen den staatsbesitz von oliven voraus, dieser
wieder eine starke initiative und consequenz der staatlichen landwirt-
schaft. der pflanzgarten, aus dem die jungen bäume kamen, stand in der
Akademie, wo der erste ableger des heiligen ölbaumes gepflanzt war, den
Athena selbst zum zeichen, daſs ihr das land gehörte, auf der burg
hatte sprieſsen lassen, wo Pandrosos in ihrem garten seiner pflegte.
nichts beweist so deutlich die energische fürsorge für den ölbau wie der
pachtvertrag des Neleusgartens, dessen formeln 418, als man ihn erneute,
längst archaisch geworden waren (CIA IV p. 67). die ölbäume gehören
Athena; ihre schatzmeister nehmen das öl in empfang und bewahren es auf;
es wird damit handel zu gunsten des staates getrieben.107) ganz offen liegt
hier noch die identität des staates und der göttin, ihres schatzes und des
staatsschatzes: man hat sie damals noch nicht unterscheiden können. ganz
offen liegt noch die directe bewirtschaftung, so zu sagen, an stelle des
späteren pachtsystems, die in den verträgen der ἑκτήμοϱοι ihre analogie hat.
die besitzer des landes, auf dem die bäume wachsen, müssen sie in
stand halten und 1 ½ kotylen öl an Athena pacht zahlen; was sie mehr
ernten, ist ihr gewinn. es ist eine höcht ausgebildete, aber immerhin
ausschlieſsliche naturalwirtschaft.108) der träger dieser wirtschaftsordnung
ist der Areopag, denn er hält den executivbeamten, den archon109) zur
[241]Athlotheten.
sorge für die pünktliche zahlung der pacht an, da er ihnen sonst
den eintritt in seinen kreis versagt. er schickt seine γνώμονες110) über
land, legt nachlässigen grundbesitzern ordnungsstrafen auf (ζημίαι),
richtet über die anzeigen wider solche, die jeder erheben kann, und
straft den tod eines olivenstammes an dem leben des schuldigen. dieses
‘drakonische’ und sicherlich vordrakontische gesetz ist rechtlich nie be-
seitigt und konnte es nicht werden, da Athena die verletzte war; tat-
sächlich lieſs man um 395 dem verurteilten dieselbe freiheit zum fliehen
wie dem mörder, so daſs im bewuſstsein der leute nur verbannung und
vermögensverlust die strafe war.111) bald darauf ist die ganze alte ordnung
faktisch beseitigt, indem die lieferung von einer bestimmten menge öl
als reallast der grundstücke angesehen ward, auf denen heilige bäume
gestanden hatten. der grundbesitzer haftet für die zahlung mit seinem
vermögen; auf die bäume selbst kommt nichts mehr an.112) daſs man die
reallieferung nicht in geld umgesetzt hat, liegt daran, daſs der staat öl
brauchte.
Als man den ölbau so einführte, war der Areopag herr in Athen.
das liegt am tage, und man könnte seine vorsolonische macht von dieser
ecke aus sicher erreichen. die schöne sage von Athenas besitzergreifung
durch das wahrzeichen der olive ist erst auf grund dieser maſsregel
109)
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 16
[242]I. 7. Die verfassung.
entstanden; ihre rationalistische umbildung, daſs ehedem Athen allein
oliven gebaut hätte, lesen wir schon bei Herodotos 5, 82. natürlich
kannte man den wert dieser cultur und vertraute auf ihre rentabilität,
als man sie also von staatswegen betrieb; es gab damals in Hellas ölbäume
schon vieler orten, aber in Eleusis führt der Demeterhymnus ihre nymphen
als gespielinnen der Kore ein (23): dort standen sie nicht zu hunderten.
in Boeotien rechnet der bauer des Hesiodos nicht mit ihnen: wie alt wird
der attische ölbau sein? älter als Drakon, viel älter, nun ja, dafür
zeugt die macht des Areopages und die todesstrafe. aber wie viel?
wüssten wir, welche grundstücke mit oliven Athenas besetzt waren, so
wäre eine antwort gegeben. da sagt nun der sprecher der Lysiasrede 7, 24
ἐπίστασϑε ἐν τῷ πεδίῳ πολλὰς μοϱίας οὔσας καὶ πυϱκαιάς (ustrinas)
ἐν τοῖς ἄλλοις τοῖς ἐμοῖς χωϱίοις. wenn der mann bloſs suburbane
grundstücke hatte, so lehrt das nichts; aber so pflegt attischer besitz
nicht zu liegen. sowol die δημιόπϱατα wie die redner wie Platons
Gesetze zeigen die bürger im besitze von meist weit von einander gelegnen
parzellen. standen etwa μοϱίαι nur im πεδίον?113) so waren sie gesetzt
zu einer zeit, wo den herren des burgfelsens nur das πεδίον gehorchte,
wie das attische regengebet nur diesem gilt.114) es wäre vermessen, das
behaupten zu wollen: aber in eine altersgraue zeit tun wir hier einen
blick. und die Areopagiten die die olive zum baume Athenas machten haben
es verdient, daſs Goethes Pandora in ihrer tat die potenzirt prometheische
schöpfung, von kunst und wissenschaft, gefeiert hat: an der μοϱία der
Akademie hat sich die kypsele geöffnet, die weder die μωϱία der modernen
banausen noch der Moriah der Juden je verdrängen oder ersetzen können.
Archonten.Den archonten sind wenigstens ein par seiten gewidmet, und doch
tritt hier ganz besonders deutlich hervor, daſs eine vorlage von Aristo-
teles zu grunde gelegt und gekürzt ist. er hat so disponirt, daſs er
erst die formalitäten des amtsantrittes ziemlich breit beschreibt (55.
56, 1), dann die befugnisse der einzelnen mitglieder des collegiums,
endlich die ihnen allen gleich zustehende auslosung der richter (59, 7).
[243]Archonten.
wir haben dies letzte verkannt und den paragraphen gestrichen, weil
ziemlich dieselben worte die beschreibung der gerichte einleiten (63, 1).
aber sobald man die disposition erfasst hat, erscheint die wiederholung
angemessen; man muſs nur den paragraphen als einen besonderen absatz
drucken.115)
Nun ist schon die gemeinsame tätigkeit und die für alle neun
gleiche competenz schwerlich mit der auslosung der richter erschöpft;
einen punkt, daſs ihnen der zuschlag zukommt, wenn die poleten die
güter der wegen blutschuld flüchtigen versteigert haben (47, 2), hat
Aristoteles selbst erwähnt. unmöglich ist das das einzige, was die neun
schon unter Solon in demselben amtshause vereinigten gleichnamigen
beamten als collegium zu tun hatten, zumal die sechs thesmotheten wegen
der geraden zahl unmöglich allein zu gericht gesessen haben. indessen das
mögen kleinigkeiten gewesen sein, und die allgemeinen competenzen ge-
hören eher in den abschnitt über wahl und dokimasie. man vermiſst z. b.
auch die amtstracht des kranzes, da doch vom könige erzählt wird, daſs
er ihn in den blutgerichtshöfen absetzt; bei andern berichterstattern
wird er erwähnt.116)
Thesmo-
theten.Von den thesmotheten (59) gibt Aristoteles nach der verfügung über
gerichtstage und gerichtshöfe die vorstandschaft in folgenden proceſs-
gattungen an: 1) in allen, deren einleitung auf besondern volksbeschluſs
geschieht, oder die sich auf die verhandlungen des volkes beziehen117);
dazu steht als corollar die rechenschaft der strategen, weil sie sehr oft
in der form der καταχειϱοτονία verordnet ward.118) 2) die schrift-
klagen, für die ein succumbenzgeld erlegt wird. 3) wahlprüfungen und
vorurteile der einzelgemeinden oder des rates: die analogie mit 1 ist
klar, und sie stünden besser vereinigt. 4) ein par privatklagen. 5) die
klagen auf grund der cartellverträge mit andern staaten, deren formeller
abschluſs den thesmotheten auch noch zufiel, 6) die in areopagitischen
processen anhängig gemachten klagen wegen falschen zeugnisses.
Es ist auf den ersten blick klar, daſs eine classe fehlt, γϱαφαὶ
ὧν παϱάστασις οὐ τίϑεται, und abgesehen von dem einen titel ὕβϱεως,
der in einigen grammatikercitaten der aristotelischen aufzählung fälsch-
lich eingereiht zu sein scheint119), aber vielmehr hierher gehört, genügt
ein blick in den Attischen proceſs, um sich zu überzeugen, daſs Aristo-
[245]Thesmotheten.
teles mehreres weggelassen hat. und wenn wir vielleicht nicht im stande
sind, dasselbe für die privatklagen zu beweisen120), so ist doch das ver-
trauen in die vollständigkeit der aristotelischen angabe notwendig gering.
fehlt doch von den allgemeinen competenzen die sehr bedeutsame, daſs
die thesmotheten die losung der beamten vornehmen (vgl. s. 203). also
dies capitel gibt nicht das ganze tatsächliche material, es gibt eine nicht
einmal in den capiteln vollständige aufzählung der klagen, für die die
thesmotheten den proceſs instruiren. wir würden einem systematiker
wie diesem philosophen eher zutrauen, daſs er zwar das unwesentliche
detail verachtet hätte, aber dafür den leitenden gesichtspunkt angäbe.
das würde nicht mehr worte erfordert haben. die thesmotheten, ge-
schaffen für die gesetzgebung, haben von daher nur noch die formelle
sanktion der cartellverträge mit fremden staaten, aber sie haben noch
immer die auf grund derselben anhängigen klagen. sie bildeten vor
alters das recht findende collegium für die im eigentlichen sinne öffent-
lichen sachen, d. h. die wo der souverän partei war. daher stehn
ihnen die klagen zu, welche auf grund eines vorurteils von rat oder
volk gegen einzelne bürger oder gegen beamte zu entscheiden sind;
dazu gehören, wenn auch unter bestimmten beschränkungen, die rechen-
schaftsklagen gegen alle beamte, unbedingt die gegen die strategen, und
die klagen wegen gesetzwidrigkeit in der amtsführung der mitglieder
und vorsitzenden des rates und der volksversammlung.121) wenn der
[246]I. 7. Die verfassung.
rat auf dem Areshügel oder der untere rat in seiner geschäftsführung
auf händel geführt wird, die richterliche entscheidung fordern, so fällt
sie consequenterweise den thesmotheten zu, ehedem zur entscheidung,
jetzt zur einleitung. von dem ersten ist jetzt nur die privatklage ge-
blieben, die eine partei auf dem Areshügel im mordproceſs wegen
falscher zeugnisse erhoben hat.122) die vorurteile des rates der 500 gehn
aber noch alle an die thesmotheten; eine abzweigung sind die privat-
klagen in sachen der vom rate verwalteten staatlichen bergwerke. die
privatprocesse mögen die rechtsetzer ehedem alle gehabt haben; seit
die demenrichter und klageeinführer geschaffen sind, sind sie sie alle
los; die zuweisung der sachen der groſshändler ist eine anomale neue-
rung. wol aber stehn ihnen noch wichtige schriftklagen zu. das heilige
recht ist des königs, das familienrecht des archons, die polizeiliche auf-
sicht und die staatsfinanzen stehn bei dem rate, erst dem oberen, dann
dem unteren, und ihren organen. die meldung an die sammtgemeinde,
eigentlich nur statthaft bei laesa maiestas populi, ist nur für notfälle da.
aber nun bleiben doch noch schwere verbrechen (im antiken sinne), deren
ahndung jedem bürger zusteht, weil die gesammtheit sich geschädigt fühlt.
sie ergeben sich wesentlich dadurch, daſs ein bürger so lebt, daſs er
den friedenszustand stört, den der staat garantirt, oder daſs er die per-
sönliche integrität an leib und gut einbüſst und nicht mehr ein gleicher
unter gleichen leben darf. in diesen fällen geht eine meldung wider
ihn an die thesmotheten, die die ϑέσμια bewahren πϱὸς τὴν τῶν παϱα-
νομούντων κϱίσιν (3, 4). sie haben ihn ehedem selbst gerichtet, jetzt be-
rufen sie geschworne. um leichtsinniger anrufung der behörde zu steuern,
ist für eine anzahl dieser sachen die hinterlegung eines succumbenz-
geldes gefordert. eine gruppe dieser klagen geht dahin, daſs einem
bürger die rechtsfähigkeit abgestritten wird: er soll nicht mehr zu den
Ἀϑηναῖοι οἷς δίκαι εἰσὶν gehören; oder aber er soll sich bei dem
rechtsuchen einer dolosen handlung schuldig gemacht haben.123) man
121)
[247]Thesmotheten.
spürt die mühen der alten zeit, die statt der selbsthilfe die staatshilfe
schuf, diesen neuen weg zu sichern. anderes und wichtigeres geht die
bürgerliche und sittliche qualität an. vor allem soll sich kein fremder
eindrängen: diese sachen gehören nicht in das familienrecht, aber es
fordert sie als complement. so muſs neben dem archon das collegium
der thesmotheten stehn.124) aber der bürger soll sich auch dem ent-
sprechend führen. der Athener, der sich zur hure macht oder je ge-
macht hat (ἑταιϱήσεως), der bürgerliche personen verkuppelt (πϱοα-
γωγείας), der die familienehre des bürgers angreift (μοιχείας, an welchem
der körper, die im frieden des attischen rechtes stehn, er sich vergriffen
hat und wie, ist gleichgiltig)125), der gegen bürger eine frevelhafte unbill
sich erlaubt (ὕβϱεως, worin sie besteht ist einerlei), ist ein verbrecher
wider das gemeinwesen der Athener. auf die gesinnung, die sittliche
führung des deliquenten kommt es an, deshalb ist das wesentliche bei
der rechtsfindung, sie zu fassen; nicht die tat an sich qualificirt das
verbrechen. eine ohrfeige kann ὕβϱις sein, ein dolchstich braucht es
nicht zu sein. und nicht auf die geschädigte person kommt es an.
mag ein monsieur Alphonse sehr zufrieden sein, wenn seine frau einen
jungen reichen herrn anlockt: jeder Athener kann sie beide, den kup-
pelnden ehemann und den ehebrecher vor die thesmotheten holen; aber
die ehefrau nicht. denn der staat übt keine γυναικονομία, so scharf
er die standesehre der bürger wahrt. das weib ist ein teil des κλῆϱος
123)
[248]I. 7. Die verfassung.
und ein teil der ehre des bürgers: ihr κύϱιος mag sehen, wie er sie
zieht. nur die attische φιλανϑϱωπία nimmt sich ihrer an, wie des
fremden und des sclaven, und die αἰδώς der götter schützt sie; für den
staat ist sie kein subject des rechtes.126) so straft er auch ihre laster
nicht, während die tempel sieh der ehebrecherin verschlieſsen mögen
und die gesellschaftliche ächtung sie ereilen mag.
Der späteren entwickelung des rechtes geht diese anschauung, die
cura morum durch den staat, immer mehr verloren, zumal die demo-
kratie das ζῆν ὥς τις βούλεται als ihren ruhm hochhält. tatsächlich sind die
klagen ὕβϱεως abgekommen; man hat die privatklage αἰκίας an ihre
stelle gesetzt, und der schmähliche vorgang des handels um die ohrfeige
des Demosthenes und dessen hübsche rede wider Konon lehren auf das
deutlichste, daſs die γϱαφὴ ὕβϱεως nur noch auf dem papiere stand;
war doch auch die γϱαφὴ ἑταιϱήσεως eine rarität, und man verlangte
von den staatsmännern vielleicht nur besonders, daſs sie darauf scharf
angesehn würden, weil nach einem witzwort schon der alten komödie
bei ihnen der verdacht besonders nahe lag. auch der ehebruch ward
nur noch als schädigung des ehemanns oder sonstigen κύϱιος (μοιχεία
geht ja nicht nur die ehe an) empfunden, und man hört von schei-
dungen und ehebrüchen genug, aber kaum von klagen.127)
So weit reicht die richterliche tätigkeit der ‘rechtsetzer’. für die
verwaltung waren sie von vorn herein nicht geschaffen, und was sie da
zu tun hatten, hängt nah zusammen mit der richterlichen function, die
ihnen blieb, seit sie das recht nur durch befragung eines geschwornen-
gerichtes fanden. sie verfügen über die locale der gerichtshöfe, das
album der geschwornen128) und die gerichtstage, so daſs jeder beamte,
der ein gericht berufen will, ihrer vermittelung bedarf. aus dem album
der geschwornen ward eine anzahl beamte ausgelost: sie besorgen
diese losung. sie tun dasselbe für die andern ämter, wo die phylen
ihnen die candidatenlisten übermitteln: so steht ihnen die renuntiation
der neuen archonten zu; mit dieser hängt das examen auf die für dieses
amt geforderten qualitäten zusammen, mit dieser die dokimasie. diese
[249]Thesmotheten. Polemarch.
selbst fiel später einem gerichte zu, das der thesmothet berief; das an-
dere war eine wesenlose formel. aber beides zeigt, daſs bei dieser ge-
legenheit die thesmotheten in der alten zeit wirklich bedeutend in die
staatsverwaltung eingriffen. die analogie hat ihnen die instruction der
dokimasieprocesse gegeben, die eine berufung von der einzelgemeinde
an ein gericht nötig machte.
So erkennt man an dem schatten, den Aristoteles gibt, die gestalt
der alten leibhaften thesmothetenmacht.
Der polemarch hat nach der schilderung des Aristoteles nur nochPolemarch.
die privatklagen der quasibürger (metöken, isotelen, proxenen) und das
diesen von der attischen liberalen bürgerschaft zugestandene familien-
recht, sammt den auf ihren personalstand bezüglichen sachen. die
privatklagen bringt er aber auch nicht vor gericht, sondern weist sie nur
den vierzigmännern zu.129) er hat also nicht viel zu tun, und in der
alten zeit, wo diese aus der privaten clientel erwachsene plebs unmög-
lich zahlreich gewesen sein kann, muſs er noch weniger arbeit davon
gehabt haben. die leichenopfer für die tyrannenmörder und die andern
vom vaterlande funere censorio bestatteten130), und die leichenspiele sind
eine stiftung der groſsen zeit kurz nach Plataiai, die spiele stammen
wol erst aus der kleinen, als die trauerfeier selbst ihrer weihe verlustig
gegangen war.131) das opfer an die Artemis ist vielleicht auch erst aus
[250]I. 7. Die verfassung.
dem gelübde des polemarchen Kallimachos 490 erwachsen.132) so bleibt
als πάτϱιον dem kriegsherrn nichts als das unbedeutende opfer an
Enyalios.133) mit diesem belege konnte Aristoteles schwerlich erhärten, daſs
der archon jünger als der polemarch gewesen wäre, weil jener keine
πάτϱια zu besorgen hätte (3, 3). der polemarch war eben bis 487,
wo ihn das los zu besetzen begann, ein beamter ersten ranges als
kriegsherr. als ihm die strategen die militärischen befugnisse nahmen,
war er doch wenigstens noch etwas wie der praetor inter peregrinos,
und er muſs noch andere polizeiliche competenzen besessen haben, die
wir nicht mehr durchschauen.134) aber die entziehung der gesammten
131)
[251]Polemarch. König.
privatprocesse der metöken macht sein bureau lediglich zu einer sam-
melstelle gewisser klaganmeldungen für die vierzigmänner, und nur für
die sachen, die aus der specifisch attischen rechtsstellung der metöken
hervorgehn, bleibt er der gerichtsherr. so mag Aristoteles, obwol er in
diesem capitel so wenig gibt, doch hier am wenigsten fortgelassen haben.
Von den religiösen pflichten des königs greift Aristoteles nur zweiKönig.
hervor, die ausrichtung der Mysterien und Lenaeen, läſst also sogar die
Anthesterien fort, von denen er doch einen besonders heiligen gebrauch
im anfang seines buches als beweismittel verwendet hat, allerdings fremde
worte reproducirend (3, 5); dann wird ihm das ganze zu langweilig,
und er macht es mit der kurzen wendung ab, daſs der könig alle fackel-
läufe und überhaupt ziemlich alle πάτϱια besorge.135) von der fürsorge
für die religion, so weit sie rechtsprechung erfordert, nennt er dann
die hauptsachen, übergeht jedoch die ganze keineswegs gleichgiltige ver-
waltungstätigkeit, von der er doch die verpachtung des kirchengutes
selbst vorher erwähnt hatte (47, 4). ausführlicher, aber auch sehr kurz,
streng auf seine zeit hinblickend und in einer kleinigkeit eine recht
schlechte rationalistisch verballhornte namensform anwendend136), behan-
delt er nur die blutprocesse. uns ist es sehr wertvoll, daſs nun fest-
steht, 330 richtet der Areopag nichts weiter als vorsätzlichen mord
eines Atheners vollzogen oder zufällig nicht bis zu ende geführt (ὅταν
τϱαύσῃ ἐπὶ ϑανάτῳ ἐκ πϱονοίας), vergiftung mit tötlichem ausgang
(hier entscheidet also der erfolg) und brandstiftung. an drei richtstätten
richten heliasten unter dem namen epheten137), am Palladion über unvor-
134)
[252]I. 7. Die verfassung.
sätzlichen totschlag begangen an Athenern, dies auch in dem falle, daſs
der tod die unbeabsichtigte folge einer nicht von dem angeklagten eigen-
händig vollzogenen aber allerdings von ihm (rechtlich) vollzogenen und
beabsichtigten handlung war138), endlich über mord und totschlag von nicht-
bürgern; am Delphinion über gerechten totschlag, an der Phreattys über
den einerlei welcher bluttat geziehenen wegen blutes landflüchtigen. von
allen vier gerichtsstätten gilt, daſs die verhandlung unter freiem himmel,
aber in heiligem bezirke vor sich geht, und daſs der könig seinen kranz
ablegt: offenbar nach der analogie der trauer.139) das gericht, das der
137)
[253]König.
könig in Athen mit den königen der phylen am prytaneion abhielt, macht
den schluſs; die worte sind verstümmelt.140)
In dieser darstellung, die die spuren der kürzung überall trägt,
ist doch an zwei stellen latente polemik kenntlich. es wird betont, daſs
der könig es ist, der durch öffentliche proclamation den mordes be-
schuldigten anweist, sich von ἱεϱά und ὅσια fern zu halten. daſs sich
die mordrächer selbst dieses recht vindicirten, zeigte Antiphon 6, 34 u. ö.,
ohne daſs darin eine ungesetzlichkeit gefunden wird. also war der be-
richterstatter, den Aristoteles bekämpft, in seinem rechte, sei es daſs
die sitte mittlerweile gewechselt hatte, sei es daſs das gesetz die eigne
action des bluträchers noch weiter zu gunsten des staates beschränkt
hatte.141) ferner betont Aristoteles, daſs nur noch φόνου τϱαύματος
139)
[254]I. 7. Die verfassung.
φαϱμάκου πυϱκαιᾶς auf dem Areopag gerichtet ward: darin liegt, daſs
es früher mehr gab, und die klage auf zerstörung eines heiligen öl-
baums gibt er selbst an (60, 2). mehr als Aristoteles führt auch De-
mosthenes (23, 22) nicht an. aber daſs es früher viel mehr war und
in schwerer zeit mehr werden konnte, davon hatten sich noch jüngst
beispiele gezeigt.142) möglich, daſs Aristoteles auch im rechte war; der
ältere gewährsmann, den er berichtigt, war es gewiſs. damit ist aber
Aristoteles jedenfalls nicht im rechte, daſs er von einer andern tätigkeit
des Areopages gar nichts sagt als der richterlichen. das liegt aber daran,
daſs dieser rat bei ihm gar nicht mehr als ein selbständiges glied der magi-
stratur erscheint, sondern als ein von dem könige berufenes gericht143), eben
so vernachlässigt, wie das volk neben den prytanen. es ist allbekannt,
daſs sich rudimente der administrativen tätigkeit des Areopages immer
erhalten hatten, und seine moralische autorität bereitete gerade damals
die spätere vermehrung seiner administrativen macht vor.
Archon.Dem archon ist seine erste stelle zu statten gekommen. alle die
feste, die er auszurichten hat, sind mit leidlicher genauigkeit behandelt,
auch mit rückblicken auf die frühere zeit144) und mit einflechtung der
liturgienordnung145), und ebenso wird das familienrecht, das ihm zufällt, durch
141)
[255]Archon.
alle seine specialitäten146) verfolgt, auch über die einzelnen klagen nicht
weniges zur erklärung der formulae iuris beigebracht. im nächsten capitel,
beim könige, ist das religiöse dem Aristoteles schon langweilig geworden;
bei den strategen hat er ihre opfer ganz und gar fortgelassen. und die
namen der klagen, die der erklärung wahrlich oft bedürfen, sind nur
noch ganz vereinzelt, wie δίκαιος φόνος147) und δωϱοξενίας erklärt:
145)
[256]I. 7. Die verfassung.
τϱαύματος, βουλεύσεως, ψευδοκλητείας nicht; schwerlich kann jemand
darin eine weise oder überlegte beschränkung finden. das ist die willkür
des epitomators; aber Aristoteles ist es, der sie sich erlaubt.
Von den beisitzern sagt er überhaupt nicht, was sie zu tun haben;
das soll sich ebenso wie bei dem schreiber der archonten aus ihrem
namen ergeben. 148) recht ausführlich ist dagegen die ceremonie des
amtsantrittes beschrieben, mit einfügung vieler formeln, an denen doch
auch gekürzt ist 149), und nicht nur in ihnen, sondern auch in der
schilderung finden sich wendungen, die Aristoteles aus sich unmöglich
gesetzt haben würde, wie das unpersönliche ἐπεϱωτᾷ (55, 3. 4) von
der handlung des vorsitzenden beamten, der nirgend als thesmothet
vorgestellt wird.
An diesem punkte nun ist schon in dem capitel über Solon (s. 51)
Ergebnis.klar geworden, daſs Aristoteles von einer fremden erzählung abhängt,
und weil es hier so besonders deutlich ist, und auch das schon feststeht,
daſs dieselbe erzählung hier in der schiderung und oben in der geschicht-
lichen darstellung zu grunde liegt, habe ich mir dies auf den schluſs
aufgespart. es hat für mich völlig ausgereicht, zu schlieſsen, daſs die
ganze darstellung der verfassung nichts ist als eine stark und ungleich
kürzende, einzeln natürlich besondere lichter aufsetzende, namentlich latent
polemisirende, und wie sich für einen schriftsteller von reputation, der
in Athen schreibt, schickt, durchgehends auf den zustand des derzeit
147)
[257]Ergebnis.
geltenden rechtes hin revidirte wiedergabe fremder arbeit. ich habe
mich der mühe nicht verdrieſsen lassen, die ganze partie stück für stück
durchzusprechen, und bedaure die monotonie meiner darstellung nicht;
aber ich wuſste von vorn herein, daſs das ergebnis kein anderes sein
könnte, als was das eine exempel auch schon erkennen lieſs. ich kann
nicht in jedem einzelnen falle beschwören, daſs Aristoteles und nicht
ein abschreiber etwas weggelassen hat. ich kann häufig nicht ent-
scheiden, ob unsere grammatikerüberlieferung den aristotelischen be-
richt zu grunde gelegt und aus anderer paralleler überlieferung ergänzt
hat, oder aber die grammatikerüberlieferung auf dieselbe tradition direct
zurückgeht, die auch Aristoteles ausgezogen hatte. vorgekommen ist
beides. 150) ich kann fast nie sagen, ob Aristoteles die attischen gesetze
selbst benutzt hat, oder, was ich persönlich für das ziemlich immer zu-
treffende halte, wie bei der ϑεσμοϑετῶν ἀνάκϱισις eine schriftliche
verarbeitung. ich kann keine sonderung seiner vorlagen vornehmen, und
ich hüte mich wol mit dem namen Androtion oder anderen zu spielen.
das ist alles für mich als schriftsteller unbehaglich: aber für die sache,
die einsicht in die verfassung Athens, ist es gleichgiltig, und so bin ich
auch zufrieden. das dagegen ist eine hauptsache von eben so grund-
legender bedeutung wie die würdigung der attischen chronik es für die
geschichte ist, daſs Aristoteles auch hier im zusammenhang mit den be-
richten der Atthidographen benutzt werden muſs, von denen er abhängt,
und daſs trotz aller verschiedenheit der personen eine feste unbedingt
zuverlässige tradition zu grunde liegt, die urkunden, die gesetze selbst.
sie standen jedem einzelnen Atthidographen und dem Aristoteles und
seinen schülern, ja zum teile noch den grammatikern zur verfügung; es
ist also zum glück eben so gleichgiltig wie es unmöglich ist, die be-
richterstatter zu nennen, die die gesetze wirklich eingesehen haben.
Auf die urkundlichkeit kommt es an, und ein leidlich besonnener
wird selten in zweifel sein, wie viel er auf die gesetze zurückführen
darf. die gesetze aber sind durch ihre anordnung und ihre form für
alle diese darstellungen der attischen verfassung maſsgebend gewesen.
in dem gesetze über die ἐπιχειϱοτονία νόμων (Dem. 24, 20) steht gleich
am anfang, daſs sie beginnen soll mit den βουλευτικοί, dann den κοινοί,
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 17
[258]I. 7. Die verfassung.
dann denen der neun archonten u. s. w. in der erläuterung dieses ge-
setzes hat Schöll sehr schön dargelegt, daſs die gesetze nichts anderes sind
als instructionen der beamten, und daſs Solon selbst sie in dieser form und
dem entsprechend in dieser reihenfolge aufgezeichnet hatte. wir kennen
ja auch citate aus den νόμοι βασιλικοί, ἀγοϱανομικοί u. s. w. die stellen
sind denen geläufig, die von attischer verfassung etwas wissen, sind auch
zum teil in diesem capitel gelegentlich angeführt. jede darstellung der
attischen verfassung muſste also von selbst sich gewissermaſsen als ein
auszug und eine erläuterung dieser alljährlich neu revidirten, alljährlich
auch geänderten gesetze darstellen. zu Aristoteles zeit war ein eigener
secretär dafür angestellt, dies gesetzbuch, das in erster linie beamten-
instruction war, auf dem laufenden zu erhalten, und Aristoteles war
gewiſs in der lage, sich eine copie zu verschaffen, oder doch das jetzt
geltende recht sicher daraus zu constatiren, wo er das für nötig hielt.
jeder advocat und redner bedurfte dieser gesetze für sein handwerk.
abschriften können gar nicht selten in Athen gewesen sein, ganz ab-
gesehen von den publicationen auf stein, die mancher orten standen,
aber natürlich nur teile umfaſsten. eben deshalb waren die gesetze
auch von den vielen benutzt, die Athens stadtgeschichte mit ausgiebiger
berücksichtigung seiner institutionen geschrieben hatten. was nirgend
stand, weder bei Solon noch in den acten des archivs, war das staats-
recht. ganz wie in Rom. für die competenz des souveräns gab es
keine gesetze; die rechtlichen gedanken, die alles beherrschten, waren nie
und nirgends codificirt. wir mögen uns frei machen von der agglutini-
renden sprache der alten darstellungen und das staatsrecht Athens orga-
nisch entwickeln: eine geschriebene verfassung hat es darum doch in
Athen gegeben; wozu waren denn auch Drakon und Solon aufgestanden?
und ein staatsrecht hat es auch gegeben, obwol das nicht geschrieben
worden ist, von niemandem bis auf diesen tag. den Aristoteles wollen
wir nicht schelten, daſs er nur wieder gegeben hat, was in den gesetzen
stand, sehr viel kürzer und für unsere wünsche minder brauchbar als
z. b. Philochoros. aber erst wenn wir dieses verhältnis erfaſst haben,
können wir ihn verstehen und seine angaben richtig benutzen.
Eine probe will ich als corollar geben, weil einmal ein stückchen der
wirklichen gesetze erhalten ist. der sehr sykophantische und stilistisch
wenig gewandte verfertiger der rede gegen Makartatos hat uns einen
groſsen gefallen getan, indem er nicht nur die zeugenaussagen, wie sie
der diaetet protocollirt und in die kapsel gesteckt hatte, sondern auch
eine menge gesetze, die zum teil sehr wenig zu seiner sache gehören,
[259]Ergebnis.
mit publicirt hat; diese urkundlichkeit soll über seine rabulistereien täu-
schen. 151) da steht denn auch 75 ὁ ἄϱχων ἐπιμελέσϑω τῶν ὀϱφανῶν
καὶ τῶν ἐπικλήϱων καὶ τῶν οἴκων τῶν ἐξεϱημουμένων καὶ τῶν γυναι-
κῶν ὅσαι μένουσιν ἐν τοῖς οἴκοις τῶν ἀνδϱῶν [τῶν] τεϑνηκότων
φάσκουσαι κυεῖν · τούτων ἐπιμελέσϑω καὶ μὴ ἐάτω ὑβϱίζειν μηδένα
πεϱὶ τούτους · ἐὰν δέ τις ὑβϱίζη ἢ ποιῇ τι παϱάνομον, κύϱιος ἔστω
ἐπιβάλλειν κατὰ τὸ τέλος · ἐὰν δὲ μείζονος ζημίας δοκῇ ἄξιος εἶναι,
πϱοσκαλεσάμενος πϱόπεμπτα καὶ τίμημα ἐπιγϱαψάμενος ὅτι ἂν δοκῇ
αὐτῷ, εἰσαγαγέτω εἰς τὴν ἡλιαίαν, ἐὰν δὲ ἁλῷ, τιμάτω ἡ ἡλιαία πεϱὶ
τοῦ ἁλόντος ὅ τι χϱὴ αὐτὸν παϑεῖν ἢ ἀποτεῖσαι · und 54 über die
erbtöchter; ich schreibe nur den schluſs aus, ἐὰν δὲ μὴ ἔχῃ ὁ ἐγγυ-
τάτω γένους ἢ μὴ ἐκδῷ, ὁ ἄϱχων ἐπαναγκαζέτω ἢ αὐτὸν ἔχειν ἢ
ἐκδοῦναι · ἐὰν δὲ μὴ ἐπαναγκάσῃ ὁ ἄϱχων, ὀφειλέτω χιλίας δϱαχ-
μὰς ἱεϱὰς τῇ Ἥϱᾳ · ἀπογϱαφέτω δὲ τὸν μὴ ποιοῦντα ταῦτα ὁ βου-
λόμενος πϱὸς τὸν ἄϱχοντα. dazu halte man was Aristoteles gibt ἐπι-
μελεῖται δὲ καὶ τῶν ὀϱφανῶν καὶ τῶν ἐπικλήϱων καὶ τῶν γυναι-
κῶν, ὅσαι ἂν τελευτήσαντος τοῦ ἀνδϱὸς σκήπτωνται κυεῖν · καὶ
κύϱιός ἐστι τοῖς ἀδικοῦσιν ἐπιβάλλειν ἢ εἰσάγειν εἰς τὸ δικαστή-
ϱιον. und vorher gehn die klagformeln ὀϱφανῶν κακώσεως, ἐπικλήϱου
κακώσεως, οἴκου ὀϱφανικοῦ κακώσεως mit kurzen erklärungen. es ist
offenbar, daſs das aristotelische capitel ein summarium der νόμοι ἄϱ-
χοντος ist. aber nicht er erst hat sie ausgezogen, denn das verbum
σκήπτεσϑαι ist ein technisches des attischen rechtes, das man im index
Aristotelicus weder erwarten noch finden kann, es steht hier bei ihm,
aber es steht nicht in dem gesetze. zwischen dem gesetze und Aristo-
teles steht also ein unbekannter vermittler, der sich des attischen wortes
bedient hat.
Unsere untersuchung hat gleich damit [begonnen], das chrono-
logische gerippe der aristotelischen erzählung auf die attische chronik
zurückzuführen, und in jedem capitel ist nach ausscheidung eines be-
stimmten autors, dem wir gerade nachgiengen, ein rest geblieben, der
jedesmal wieder derselben chronik zufiel. sie hat also wirklich dem
Aristoteles den grundstock seiner erzählung geliefert. die ganze älteste
zeit, ausschlieſslich der verfassung Drakons, die sachlich bedeutendsten
stücke über Solon (6, 1. 7—10), die erzählung der jahre 594—80
(13) und 507—480 (22), die den trocknen stil des jahrbuches an sich
trägt, sind ihr ganz zugefallen; später freilich auſser einer kurzen ein-
lage (26, 2—4) mit sicherheit kaum noch etwas über die chronologie
hinaus. anders stellte es sich in der geschichte der Peisistratiden und
des Kleisthenes, wo zwar eine anzahl wertvoller tatsachen aus ihr nach-
getragen sind, aber sie den einschlag bildet, Herodotos den zettel. und
einiges, namentlich in der geschichte des Peisistratos haben wir oben
(s. 30) mit absicht auf diesen platz aufgespart. diese reste sollen zu-
nächst erledigt werden, dann wollen wir uns diese hauptquelle des Aristo-
teles selbst ansehn, in wie weit sie eine einheit ist: die hoffnung, daſs
wir einen autornamen finden werden, bitte ich jedoch den leser von
vorn herein fern zu halten.
Peisistratos
und Solon.Wir beginnen also mit der erzählung, wie Peisistratos erst eine
leibwache, dann die herrschaft sich verschafft (14, 1. 2). zu grunde
liegt Herodotos (I 59), aber Aristoteles übertrifft ihn erstens durch die
genauen zeitangaben: die zeugen genugsam für ihre herkunft; sodann durch
den namen des antragstellers Aristion. dieser mitsamt der ganzen ge-
schichte kehrt in Plutarchs Solon wieder (30), mit der minderwertigen
variante Ariston. Plutarch ist schon deshalb von Aristoteles unabhängig,
weil er die stärke der leibwache auf fünfzig knüttelträger angibt, sehr
[261]Peisistratos und Solon.
glaublich, während weder Herodotos noch Aristoteles eine zahl nennen. 1)
der name des antragstellers wird schwerlich in den protokollen ge-
standen haben, wenigstens fehlt er auf den publicirten volksbeschlüssen
der ältesten zeit, die wir kennen. es liegt mir auch fern, an die er-
haltung oder benutzung der acten des jahres 561 zu glauben. aber
daſs der name des mannes, der den verhängnisvollen antrag gestellt
hatte, im gedächtnis blieb, ist um so mehr glaublich, weil er sicher-
lich ein mann von gewicht und ein freund der tyrannen war, der die
folgen seiner tat in lohn und strafe getragen haben wird. ich glaube,
wir kennen den mann sehr gut von seinem grabstein. die stele des
Aristion hat auf einem groſsen vornehmen grabe in Velanideza gestan-
den, nicht weit nördlich von Brauron, der Peisistratidenburg. der wehr-
hafte Aristion war also ein begüterter Diakrier, verstorben unter Pei-
sistratos späterer regierung: zeit, name, gegend stimmt. aber wie dem
auch sei: erhalten konnte sich der name nur in attischer tradition; er
gehört in die chronik.
Das verhalten des greisen Solon bei dieser gelegenheit ist von Ari-
stoteles als anekdote durch ein λέγεται gekennzeichnet, aber er erzählt
es doch, und er hat die anekdote ebendaher entnommen, wo er den
Aristion fand, denn sie stehn in der parallelerzählung Plutarchs bei
einander. die vergleichung der varianten dieser geschichte ist recht
belehrend.
Aristoteles berichtet, daſs Solon dem gesuche des Peisistratos vor
dem volke vergeblich widersprach, dann seine kritik in einem scharf
zugespitzten worte zusammenfaſste, nach hause gieng und, da sein greisen-
alter ihm tätigen widerstand verbot, doch dazu aufforderte, indem
er seine rüstung vor die tür stellte. wie Peisistratos sich dazu verhielt,
wird nicht ausdrücklich gesagt, aber man ergänzt es mit sicherheit daraus,
daſs unmittelbar darauf hervorgehoben wird, wie wenig er den tyrannen
gespielt hätte. auf diese charakteristik greift Aristoteles zurück, nach-
dem er die äuſsere geschichte seiner herrschaften, wesentlich nach He-
rodot erzählt hat (16, 1) und nochmals (16, 8), am schlusse der schil-
[262]I. 8. Die Atthis.
derung seiner herrschaft, wobei als letztes exempel nachgetragen wird,
daſs er einer ladung wegen mordes auf den Areopag folge leistete.
diese letzte geschichte kehrt auch in der Politik (E 11) wieder.
Am nächsten dieser erzählung steht ein capitel Aelians (V. H. 8, 16),
über dessen quelle sich nichts sagen läſst. 2) der untergeordnete scribent
verwässert seinen bericht, aber dieser ist vortrefflich. er gibt über So-
lons verhalten bei jener gelegenheit genau dasselbe an und ergänzt
die aristotelische erzählung sehr gut, indem er hinzufügt, daſs Peisistratos
dem Solon nichts zu leide tat, aus respect, oder auch vielleicht weil er
vor jahren sein geliebter gewesen war. kurze zeit darauf starb Solon,
man errichtete ihm eine statue auf dem markte und begrub ihn an der
mauer rechts vom eingang in das stadttor; das grab ist vermauert. 3)
Dies alles dürfen wir so ziemlich der vorlage des Aristoteles zu-
rechnen. denn er sagt selbst, das Solon 561 hochbetagt war, kannte
sein todesjahr und weist eben damit die fabel scharf zurück, daſs Peisi-
stratos zu Solon in einem liebesverhältnisse gestanden hätte (17, 2).
wir kennen das todesjahr Solons, 560/59 aus Phainias bei Plutarch,
der den archon nennt (Sol. ende): mit dem jahre haben wir die chronik
als quelle erreicht.
Ebendieselbe erschlieſsen wir für das letzte stück der aelianischen
erzählung, zu dem freilich bei Aristoteles keine parallele vorliegt. denn
die berufung auf zwei attische monumente, statue und grab am tor,
führt auf localattische tradition, allerdings schwerlich voraristotelische.
denn eine statue hat Solon erst von der restaurirten demokratie des
vierten jahrhunderts erhalten. 4) früher konnte man sich füglich auch
[263]Peisistratos und Solon.
nicht darüber wundern, daſs er einer ehre entbehrte, die beinahe uner-
hört war. 5) aber darüber wunderte man sich längst, daſs Solons grab
verschollen war, und die sage, daſs seine asche um Salamis ins meer
zerstreut wäre, hat wol schon gegolten, als man den staatsfriedhof am
Dipylon einrichtete: so würde sich gut erklären, weshalb dort zwar
Kleisthenes und die tyrannenmörder, aber nicht Solon ein grab hat. 6)
erwähnt hat die sage schon Kratinos, und auch bei Aristoteles hat sie
irgendwo gestanden. eine minder naive zeit hat später dasselbe problem
mit dem autoschediasma beantwortet, das bei Aelian steht: begraben ist
Solon freilich im Kerameikos, nur findet man das grab nicht mehr, weil
es in den türmen an der mauer verbaut ist. daſs auf diese weise wirklich
viele gräber zugleich unkenntlich gemacht und erhalten sind, weiſs nicht
nur jeder besucher Roms vom bäcker Eurysaces und knaben Sulpicius
Maximus, sondern es lehrt auch am Dipylon selbst der augenschein. die
antiquarischen forschungen πεϱὶ μνημάτων sind von Diodoros 7) höchstens
[264]I. 8. Die Atthis.
20 jahre nach Aristoteles als specialität betrieben. damals, als man das
grab des Themistokles suchte (was auch nicht so kindisch war, wie
wenn man’s jetzt tut), war man auch berechtigt nach dem des Solon
zu fragen, und wer fragt, erhält eine antwort.
Von derselben tradition der Atthis, die bei Aristoteles und Aelian
vorliegt, gibt Plutarch (30) eine weiterbildung. er erzählt den anschlag
des Peisistratos und den antrag Aristions eben so wie Aristoteles; Solon
widerspricht (im sinne seiner verse, fügt Plutarch hinzu und führt etliche
an) und geht dann unter abgabe des bekannten apophthegmas nach
hause. Peisistratos wird tyrann, die Alkmeoniden fliehen, Solon geht
noch einmal auf den markt und hält wieder eine rede, die in wahrheit
nur eine paraphrase von anderen versen ist (das ist also eine verdoppe-
lung desselben motivs 8) ohne wert), geht wieder nach hause und setzt
die waffen vor die tür (was nun eine zwecklose demonstration ist, da
es zum bewaffneten widerstande zu spät ist). aber er flieht nicht, macht
auch noch immer scheltverse (von denen eine probe mitgeteilt wird),
und erklärt so zu handeln im vertrauen auf sein alter. Peisistratos
schont seiner, hält sich überhaupt sehr gesetzlich, so daſs er selbst einer
7)
[265]Peisistratos und Solon.
ladung auf den Areopag folge leistet, und bildet die solonischen gesetze
weiter aus. 9) Solon aber stirbt schon im nächsten jahre.
Die erotische verbindung zwischen Solon und Peisistratos ist von
Plutarch schon im ersten capitel behandelt, auch nur auf ἔνιοι zurück-
geführt, wie bei Aristoteles, aber in feiner weise dadurch glaublich ge-
macht, daſs erstens ihr verhältnis im alter doch noch dafür zeugte,
daſs ‘die flamme unter der asche weiterglomm’, und daſs Solons verse
seine erotische empfänglichkeit belegten, wie denn auch Peisistratos
einen geliebten Charmos gehabt habe. 10) diese gelehrsamkeit und auch
die psychologische finesse ist nicht Plutarchs eigentum, sondern es ge-
hört alles zusammen demjenigen an, der auf grund vornehmlich der
solonischen gedichte ein ‘portrait’ Solons zu entwerfen versuchte: es ist
ein stück der peripatetischen psychologischen geschichtsschreibung, die
man sehr unbilliger weise verachtet. so wird denn auch Phainias citirt,
für den archon, unter dem Solon starb: also nur durch diese peripate-
tische vermittelung ist die Atthis benutzt. auch Theophrast wird citirt
und gegen den Pontiker Herakleides polemisirt, der von der verbindung
der beiden alten Athener mehr hatte wissen wollen und Solon noch
lange unter Peisistratos leben lieſs. 11) es liegt also eine durchgreifende
überarbeitung der erzählung der chronik vor, und daneben zeigt sich
die autorität des Aristoteles, nicht indem sein buch benutzt wird, son-
dern sein beispiel wirkt in der noch ausgiebigeren verwertung der solo-
nischen gedichte.
Eine noch stärkere verschlechterung der geschichte, aber auch noch
mehr solonische verse liefern Diogenes I 49. 50. 52 12) und Diodor IX 21 13),
von charakterlosen wiederholungen einzelner züge (z. b. bei Aristides
41, 765 Ddf.) zu schweigen.
Überblickt man das ganze, so kann kein zweifel bleiben, daſs Ari-
stoteles bereits eine ausführliche lebensvolle erzählung vor sich hatte,
die von der benutzung der solonischen verse ganz frei war, aber apo-
phthegmen lieferte, deren eines er mitteilt, während er das schönere
τίνι πιστεύεις; τῷ γήϱᾳ 14), wegläſst. in diesem berichte folgte auf
den chronologisch genau fixirten tod Solons eine zusammenfassende
schilderung der regierungsart des Peisistratos, die Aristoteles nur durch
den einschub der äuſsern geschichte seiner herrschaft unterbrochen hat.
das apophthegma, das er mit λέγεται absondert, gehörte mit zu dem
bestande; wir werden gleich sehen, daſs es mit den anderen geschichten
aus Peisistratos zeit eben so steht. nur sei vorher noch etwas behandelt,
das für Solon von belang ist.
Daſs Peisistratos sich in dem kriege wider Megara sein persön-Die
erwerbung
von
Salamis.
liches ansehn erworben hat, erzählt Aristoteles 14, 1 nach Herodotos
1, 59. aber er erklärt es für einen lächerlichen verstoſs wider die zeit-
rechnung, wenn man ihm die strategie in dem kriege mit Megara um
Salamis zutrauen wollte (17, 2). er verwarf also die geschichte, die
Plutarch Sol. 8 als δημώδης λόγος erzählt, nach der Peisistratos der
ist, den des jungen Solon elegie Salamis vor allen zu kühner tat und
zu der erwerbung der insel entflammt. aber diese erwerbung und die
solonische elegie hat er in das siebente jahrhundert gerückt. die um-
sichtige prüfung der reichlich vorliegenden tradition hat nun bekannt-
lich viele verständige menschen dazu geführt, als geschichtlich anzunehmen,
daſs Salamis, ursprünglich entweder selbständig (Κυχϱεύς) oder aeginetisch
(Αἴας), im siebenten jahrhundert in Megaras händen war, als demos
Κυνόσουϱα (oder Κόλουϱα, ‘hundeschwanz’ und ‘stumpfschwanz’, beides
paſst für die dem Peiraieus zugewandte spitze) megarischen kleruchen
übergeben. seit den Athenern Eleusis gehörte, werden sie oft genug
versuche gemacht haben, den für ihre παϱαλία unentbehrlichen besitz zu
erwerben; aber gelungen ist das erst, als Peisistratos durch einen hand-
streich Nisaia genommen hatte, und die entscheidung hat ein schieds-
gericht von 5 Spartiaten gegeben, deren namen, wie manches gute
detail, die chronik bewahrt hatte. das ist um 570 gewesen. auſserdem
gab es eine solonische elegie, welche die Athener in lebhaftester weise
anfeuerte ihre insel (wenn sie sie haben wollten, wie hätten sie nicht
geschworen, daſs sie von alters und rechts wegen die ihre wäre) nicht
fahren zu lassen. da Solon in diesem gedichte sich einen herold nannte,
nahm man das wörtlich, erzählte, er hätte sie vom heroldstein herab
hergesagt, und wenn er ‘den schmuck der verse, poesie statt der an-
sprache’ bot, sollte die ansprache verboten gewesen sein, und da er
irgendwo seinen ‘wahnsinn’ erwähnte 15), so ward die erheuchelung des
wahnsinns daraus: das ende muſste natürlich der triumph des volks-
freundlichen dichters und die befreiung von Salamis sein. diese novelle
ist vollkommen zeitlos. sobald man die unerfreuliche geschichtliche wahr-
heit mit ihr zu combiniren begann, daſs erst Peisistratos die insel er-
obert hatte, war man gezwungen, entweder den Peisistratos bloſs als
helfer Solons auftreten zu lassen, wobei dieser doch um den besten teil
seines ruhmes kam, und sein lebensalter störend ward, oder aber man
[268]I. 8. Die Atthis.
muſste die geschichte möglichst in Solons jugend schieben, wobei not-
gedrungen irgendwie ein späterer verlust von Salamis eingeschoben
werden muſste. daſs beides versucht ist, spürt man in den verschiedenen
berichten; schon der eine Plutarch zeigt es genugsam. Aristoteles be-
trachtet seinerseits als sicher, daſs die geschichte in Solons jugend fällt,
und weist demnach die beteiligung des Peisistratos zurück: die also auch
schon erzählt war. dies schlieſst in sich, daſs er die ganze novelle ernst
genommen hat. dies nun hier zu finden ist für die, welche es auch
früher schon bei ihm gelesen hatten, nicht überraschend. er operirt
mit Solons wahnsinn in den Homerischen fragen, bei Porphyrios zu
B 183. aber die sich durch seine autorität früher nicht haben beirren
lassen, werden es nun erst recht nicht tun, wo am tage liegt, daſs er
einfach von der Atthis abhängig ist. diese kann auf keine höhere gel-
tung anspruch machen als ihr niederschlag, die geschichten, wie sie
z. b. Demosthenes erzählt, weil sie hier ja nicht mit festen daten und
schlichten facten operirt, sondern eine ausdeutung eines gedichtes liefert,
die wir durchschauen und damit beseitigen. es bleibt nach wie vor die
frage, wann hat Solon jenes gedicht gemacht? und die einfache ant-
wort, damals als die Athener um Salamis stritten, als greis, ist nicht
um ein atom unwahrscheinlicher geworden. soll etwa nicht ein dichter
sagen ‘wolan denn, ziehen wir in den kampf’, auch wenn er selbst
nicht mehr den harnisch tragen wird? und wer weiſs denn, ob er
15 jahre ehe er nur die rüstung vor die tür stellte, nicht zu felde zog
wie Nestor oder 411 Polystratos? das stilgefühl, zehn versen anzuriechen,
daſs sie nur ein jüngling geschrieben haben könne, ist etwas was ich
auch nur von den göttern zu erbitten für überhebung halten würde.
aber ich weiſs, wie das vermeintliche stilgefühl die urkundliche über-
lieferung hat zerstören wollen, weil der Oedipus auf Kolonos nicht das
werk eines neunzigjährigen sein sollte. und ich weiſs, daſs kriegslieder
anders klingen als selbstbetrachtungen. so bleibt es denn dabei: in
Solons jugend, wo Athen an den schwersten classenkämpfen krankt,
Megara mächtig dasteht, pflanzstädte in beide meere sendet, wo im ver-
trauen auf Megaras hilfe Kylon nach der gewaltherrschaft Athens strebt,
hat Athen Salamis noch nicht erworben. erst mit seinem wirtschaft-
lichen aufschwunge hat es sich energisch daran gemacht: nach Solon.
die kämpfe mit Megara (in denen dieses Eleusis gern erworben hätte; in
dessen verteidigung ist Tellos 16) gefallen) haben Athens kraft gestärkt;
[269]Die erwerbung von Salamis. das strategem des Peisistratos.
aber dem der Salamis erwarb fiel die tyrannis zu. was den Aristoteles
angeht, so ist sein πεϱιφανῶς ληϱοῦσι etwas übereilt. Peisistratos ist
wirklich stratege im megarischen kriege um Salamis gewesen, und wes-
halb Solon den vierzig jahre jüngeren Peisistratos nicht hätte lieben
können, wie Euripides den Agathon oder Platon den ‘Aster’ oder, um
in minder reine regionen hinabzusteigen, Anakreon den Bathyllos, ist auch
nicht abzusehen.
Über die erzählung von der dreimaligen tyrannis des PeisistratosDas
strategem
des Peisistratos.
ist schon bei verschiedenen gelegenheiten gehandelt. sie verarbeitet
Herodotos mit einer anderen an wertvollen daten reichen überlieferung,
und die archontennamen lassen an der chronik keinen zweifel. es steht
aber noch eine hübsche anekdote darin, wie Peisistratos das volk ent-
waffnet (15, 4). dieselbe findet sich wesentlich gleich bei Polyaen (I
21, 2). nur das heiligtum ist verschieden, in dem die musterung statt-
findet, die dem tyrannen die waffen in die hände spielt. bei Polyaen
ist es das Anakeion, bei Aristoteles das Theseion. 17) dem entspricht es,
daſs die waffen bei diesem in die gebäude in der nähe des Theseions
gebracht werden, bei Polyaen in das Agraulion. gemeinsam aber ist
beiden, daſs Peisistratos das volk auffordert, ihm hinauf bis an das
äuſsere burgtor zu folgen, um seine ansprache besser zu vernehmen.
dieser zug ist topographisch von belang. sie gehn offenbar auf den
groſsen platz, der schon aus rücksicht auf die verteidigung vor der
mündung der ‘neun pforten’ frei sein muſste 18); daſs die alte burg sich
in der einsattelung zwischen burg und Areshügel öffnete, entsprechend
dem terrain und dem gange der feststraſsen und der lage der alten
regierungsgebäude bestätigt sich wieder, wie immer. sonst sind beide
localisirungen an sich möglich. das heiligtum der Anakes, noch später
der appellplatz für die reiterei 19), war für eine musterung vorzüglich
16)
[270]I. 8. Die Atthis.
geeignet. das heiligtum der Agraulos, wo die rekruten den fahneneid
schworen, stieſs südlich daran, und dorthin die waffen zu bringen war
um so geschickter, als bekanntlich damals noch ein gang von dort auf
die burg führte, die Peisistratos besetzt hielt. aber möglich ist auch
die aristotelische fassung, und wie sollte er in Athen etwas erzählen,
was die attischen örtlichkeiten ausgeschlossen hätten? Aristoteles würde
also die identification des ‘s. g. Theseions’ mit dem wirklichen nach 475
erbauten Theseustempel ausschlieſsen, wenn diese nicht bereits durch
das, was über das alter des erhaltenen tempels und seiner sculpturen er-
mittelt ist, beseitigt wäre. 20) das Theseion lag, wie die reihenfolge in der
beschreibung des Pausanias lehrt, unterhalb des Anakeions; raum für die
musterung der hopliten bot es auch, da es ebenfalls als appellplatz benutzt
worden ist (Thuk. 6, 61), und viele buden auf seinem areale standen,
die hier als τὰ πλησίον τοῦ Θησείου οἰκήματα bezeichnet werden. der
einzige unterschied ist, daſs Peisistratos von hier sehr viel weiter mit
seiner corona hinaufgehen muſste als vom Anakeion. mich wenigstens
beirrt der einwand nicht, daſs Theseus erst 475 ein heiligtum erhalten
habe. 21) denn an sich ist eben so möglich, daſs man die gebeine des
19)
[271]Das strategem des Peisistratos.
heros in dem bezirke beisetzte, den der stadtgründer nicht wol entbehrt
haben kann, seit er zu dieser würde erhoben war 22); und wer das dem
sechsten jahrhundert trotz den sagen, z. b. der oschophorienlegende,
absprechen wollte, den widerlegen die vasenbilder. auch die erlosung
von bestimmten beamten, insbesondere des rates, im Theseion stehe ich
nicht an für so alt zu halten wie die erlosung überhaupt, da diese demo-
kratische ordnung zu dem könig, der zuerst ἀκούετε λεῴ gerufen hat,
vorzüglich paſst. so will ich denn nicht unbedingt entscheiden, welche
localisirung jener geschichte den vorzug verdient. aber ich gestehe mich
selbst viel mehr zu der bei Polyaen hingezogen zu fühlen, deren locale
näher bei einander liegen und altertümlicher sind. insbesondere meine
ich, daſs die οἰκήματα πλησίον τοῦ Θησείου viel eher nach dem vierten
21)
[272]I. 8. Die Atthis.
als dem sechsten jahrhundert aussehen. das aber ist klar: die geschichte
ist eine gute und specifisch stadtathenische.
Das ἀτελὲς
χωϱίον.Die schilderung von dem milden regimente des Peisistratos führt,
wie die wiederholung der allgemeinen charakteristik lehrt (16, 1 = 14, 3),
die erzählung von seiner ersten herrschaft fort. und daſs die günstige
beurteilung des tyrannen auf die forschung der letzten generation vor
Aristoteles zurückzuführen ist, hat sich oben gezeigt (s. 120). aber diese
bedurfte doch selbst der beweise, und sie fand sie in einzelnen zügen,
die unbeschadet der tyrannenfurcht und des tyrannenhasses im volke
fortgelebt hatten. das hatte man selbst zu Aristophanes zeiten nicht ver-
gessen, daſs Peisistratos dahin drängte, das volk bei ländlichen sitten zu
erhalten, nur daſs man darin eine knechtung sah. 23) Aristoteles begründet
das mit der geschichte vom ἀτελὲς χωϱίον am Hymettos, die er zwar
durch φασί als anekdote kennzeichnet, aber mit γάϱ anschlieſst, weil
sie wirklich begründet. wir lesen die geschichte bei Diodor (IX 37),
wo sie auf eine andere probe von der leutseligkeit des tyrannen folgt,
der beide male lacht, als man einen ausdruck seines unwillens erwartet.
die verbindung hat der excerptor beseitigt, allein, wenn wir lesen διαπο-
ϱευόμενός ποτε διὰ τῆς χώϱας, so werden wir an eine inspections-
reise denken wie bei Aristoteles. der bauer, der in seinen steinen gräbt,
gibt als seinen ertrag an κακὰς ὀδύνας, ἀλλ̕ οὐδὲν αὑτῷ μέλειν.
τούτων γὰϱ τὸ μέϱος Πεισιστϱάτῳ διδόναι. sehr viel besser als bei
Aristoteles ὅσα κακὰ καὶ ὀδύναι · καὶ τούτων τῶν κακῶν καὶ ὀδυ-
νῶν Πεισίστϱατον δεῖ λαβεῖν τὴν δεκάτην, wo der witz gar nicht
herauskommt, der doch in der antwort liegt “nichts als plackerei; ist
mir aber ganz recht: der herr bekommt seinen teil davon”, ein vor-
[273]Das ἀτελὲς χωϱίον. einzelne züge der tyrannis.
wurf wegen der ertragssteuer und zugleich eine kritik des ‘tyrannen-
glückes’. aber die ächte fassung ist selbst das noch nicht; Diodor ver-
rät sie, indem er auf ein sprüchwort verweist καὶ σφάκελοι ποιοῦσιν
ἀτέλειαν. dies sprüchwort mit derselben geschichte und dem apoph-
thegma in der verstümmelten form ὀδύνας καὶ σφακέλους · καὶ τούτων
δεκάτην Πεισίστϱατος φέϱει, steht im interpolirten Zenobius IV 76,
stand im ächten II 4, d. h. in der reihe, die Crusius mit sicherheit auf
den atthidographen Demon zurückgeführt hat. 24) es ist natürlich ver-
kehrt die fassungen des Aristoteles oder Diodor durch conjectur mit
den σφάκελοι auszustatten oder sonst auszugleichen. die geschichte ist
veranlassung sowol zu dem namen des χωϱίον ἀτελές wie zu dem sprüch-
worte καὶ σφάκελοι ποιοῦσιν ἀτέλειαν, und nur die zweite bedarf in der
antwort des bauern der σφάκελοι. von dem sprüchwort weiſs Aristoteles
nichts. die combination beider wird dem gehören, der zugleich atthidograph
und paroemiograph ist, und bei Diodor ist die contamination der ge-
schichte in der fassung ohne σφάκελοι, wie sie Aristoteles hat, mit der
Demons noch wahrnehmbar, für die freilich Ephoros nicht verantwort-
lich gemacht werden darf. 25) aber daſs er und Aristoteles gemeinsam
auf einen autor zurückgehn, und daſs dies eine ältere Atthis ist, die
Demon verbessert hat, indem er das sprüchwort heranzog, ist unabweis-
bar. die geschichte haftete an dem bestimmten ἀτελὲς χωϱίον, das auf
den allerdings sehr steinigen westlichen abhängen des Hymettos lag;
sie erklärte dessen namen, entweder aus glaubhafter tradition, wie ich
annehme, oder aus aetiologischer dichtung, die aber schwerlich einen
leutseligen tyrannen eingeführt haben würde.
Die andern belege für die leutseligkeit des Peisistratos sind, daſs erEinzelne
züge der
tyrannis.
einer vorladung auf den Areopag folge leistete: das hat Aristoteles aus der
ihm mit Plutarch gemeinsamen quelle; daſs er die demenrichter ein-
führte: deren herstellung durch Perikles ist 26, 3 aus der Atthis ge-
nommen; endlich das apophthegma von dem kronischen zeitalter, das
oben (s. 119) besprochen ist. so wird unbeschadet des politischen und
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 18
[274]I. 8. Die Atthis.
persönlichen urteils der eigentliche erzählungsstoff in der geschichte des
Peisistratos der Atthis zugerechnet werden dürfen. nicht anders steht
es mit dem berichte über die ermordung des Hipparchos (vgl. oben 109).
auch hier steht zu einem zuge der aristotelischen erzählung eine parallele
bei Polyaen (I 22). Aristogeiton nennt auf der folter freunde des Hip-
pias und gesteht dem tyrannen höhnisch seinen trug, nachdem dieser
die angeschuldigten getötet hat. 26) Aristoteles gibt den letzten teil in
einer noch viel packenderen, aber deshalb nicht glaubwürdigeren fassung,
nach der Hippias selbst den Aristogeiton niederstöſst. ob die ange-
schuldigten tyrannenfreunde wirklich so unschuldig waren, wie sie bei
Polyaen erscheinen, ist ihm dagegen zweifelhaft; er nennt das die demo-
kratische tradition, der er eine andere gegenüberstellt, die er bevorzugt
hat. 27) allerdings schwindet der nimbus der freiheitshelden, wenn sie
mit vielen leuten aus der umgebung der tyrannen verschworen waren;
aber da sie notorisch selbst zu deren gesellschaft gehört hatten, ist die
auswahl, die Aristoteles aus verschiedenen berichten getroffen hat, richtig,
vorausgesetzt daſs wir diese ganze geschichte acceptiren. das ist mir
bedenklich: aber was dem Aristoteles vorlag, waren hier ganz offenbar
eine reihe nur im detail abweichender brechungen einer volkstümlichen
überlieferung.
Der
sturz der
tyrannen.In der geschichte vom sturze des Hippias und der reform des
Kleisthenes überwiegt Herodotos, aber es sind doch schon einige züge
der Atthis ausgesondert (s. 32 und 37), ebendahin gehört sicher die
befestigung Munichias (19, 2), da sie ihre überraschende bestätigung
dadurch erhält, daſs die sprüche des Epimenides vor einem solchen unter-
fangen warnten, Hermippos aber, der dies überliefert (bei Plutarch Sol.
12, Diogen. I 114), wie für das dritte jahrhundert natürlich war, das
orakel erst durch die Makedonen erfüllt glaubt; seine wirkliche ver-
anlassung war ihm unbekannt. um so sicherer ist sie geschichtlich und
[275]Der sturz der tyrannen. das strategem des Themistokles.
dann eines schlages mit den übrigen vortrefflichen zusätzen zu Hero-
dotos. auch von dem berichte über die einsetzung und benennung der
neuen phylen und demen läſst sich die herleitung aus der chronik
feststellen. 28) damit ist der anschluſs an das groſse stück, die jahre
507—480, erreicht, das mit am reinsten den stil der einfachen chronik
trägt, lauter kurze sachliche einzelangaben, und doch eine anekdote
darunter, die flottengründung des Themistokles. sie steht ziemlich iden-Das
strategem
des Themi-
stokles.
tisch, doch nur im allgemeinen auf den aeginetischen krieg, nicht wie
hier auf einen archon datiert, bei Polyaen (I 30, 6), bei dem sich also
ein nicht verächtliches quantum von geschichten der chronik erkennen
läſst. 29) diese anekdote selbst ist nun freilich sehr ohne grund auf treu
und glauben als wahr angenommen worden. Themistokles läſst sich
vom volke ohne seine absicht zu verraten 100 talente übergeben. sollten
die Athener den händen des Themistokles wirklich so viel vertraut haben?
er gibt dann den hundert reichsten bürgern je ein talent und läſst sie
dafür eine triere bauen, auf das risico hin, sie zu behalten, wenn der
staat sie ihnen nicht abnähme. was sollten sie in dem falle mit dem
kriegsschiffe anfangen? piraten wollten sie doch nicht werden. von den
ausrüstungsgegenständen und der bemannung wird klüglich geschwiegen.
man braucht die geschichte nur in die realität umgesetzt zu denken,
um ihre unmöglichkeit einzusehen; aber es ist eine unerlaubte be-
handlung einer guten geschichte, wenn man sie als real behandelt. was
sie soll, tut sie sehr gut, sie illustrirt die überlegne klugheit des The-
mistokles. und sie ist, auch wenn man sie nicht überschätzt, keines-
18*
[276]I. 8. Die Atthis.
weges wertlos. dazu braucht man nur Herodots bericht hinzuzunehmen,
den er in einem excurse 7, 144 gelegentlich der themistokleischen orakel-
deutung von 480 nachträgt. da steht freilich nichts von der anekdote,
sondern Themistokles bestimmt das volk, die überschüsse statt zu ver-
teilen zum schiffsbau zu verwenden, und das ist dasselbe richtige, was
sich unter der anekdote der Atthis verbirgt. dafür liefert diese die ge-
naue zeitbestimmung während Herodot nur allgemein an den aegi-
netischen krieg anknüpft, und die richtige zahl von 100 trieren statt 200
bei Herodot, der auf die übertriebene zahl durch die stärke der flotte
von 480 gekommen ist, aus der nur folgt, ganz ebenso wie aus der
gründung des kriegshafens, daſs Athen die flottengründung viel früher
ins auge gefaſst und begonnen hat als 482, wo Themistokles, den Perser-
krieg im auge, die pachtgelder für eine auſserordentliche vermehrung
der flotte zu verwenden durchsetzte. so verliert die geschichte, die
Aristoteles erzählt, ihren wert für uns keinesweges, wenn wir das anek-
dotenhafte gewand ihr abstreifen; es ist allerdings zu fürchten, daſs ihn
gerade dieses gereizt hat.
Ergebnis.Die analyse ist vollendet, und es ist ein sehr beträchtlicher teil der
aristotelischen nachrichten auf die Atthis oder die chronik, welches wort
mir gerade in die feder kam, zurückgeführt. die beweise sind nur zum
teil durch parallele benannte citate geliefert, von denen noch dazu einige
aus jüngeren chronisten, Demon und Philochoros, genommen waren,
zum gröſseren teile dagegen lediglich durch die qualität der berichte. es
erhebt sich nun die frage, was waren das für bücher die dem Aristoteles
vorlagen. bücher waren es, nicht ein buch: das ist das erste. denn
er beruft sich auf πλείους und ἔνιοι (3, 3. 7, 4) oder auf ἔνιοι (14, 4
im gegensatze zu Herodotos), δημοτικοί und ἔνιοι (18, 5), οἵ μέν- οἳ
δέ (17, 4); 6, 2 δημοτικοί und βλασφημεῖν βουλομένοι, wo das letzte
die oligarchische tendenzschrift meint; auch ein φασίν und οἴονταί
τινες (9) geht auf diese gruppen, während in andern fällen ein λέγεται
oder φασί nur die verantwortung des schriftstellers selbst für eine anek-
dote ablehnt (14, 1. 16, 6). was ein solcher ausdruck bedeutet, muſs
in jedem einzelnen falle besonders untersucht werden, ist doch selbst
Thukydides unter einem λεγόμενος λόγος verborgen (18, 4). aus allem
dem folgt unweigerlich, daſs Aristoteles das was wir unter dem allge-
meinen namen der Atthis notgedrungen zusammenfassen, aus einer mehr-
zahl von büchern genommen hat. bei dem stande unserer kenntnis ist
es vollkommen aussichtslos nach namen zu suchen oder mit den uns
bekannten älteren atthidographen zu operiren. unzweifelhaft ist, was
[277]Ergebnis. urkundlichkeit der Atthis.
auch ohne beweis angenommen werden müſste, daſs Aristoteles die jüngste
und stilistisch anspruchsvollste Atthis des Androtion benutzt hat, nicht
ohne eigne schwere irrtümer, aber auch nicht ohne berechtigte kritik.
es ist verlockend aber gefährlich, den weiteren anteil Androtions zu
verfolgen. daſs die Atthiden, die ja alle in dem demokratischen Athen
geschrieben waren, die nationale, also demokratische färbung trugen,
ist natürlich. daher nennt sie Aristoteles ‘die demokraten’, hat zu ihrer
ergänzung parteischriften anderer richtung herangezogen und seiner
politischen überzeugung gemäſs für die geschichte nach 480 fast aus-
schlieſslich zu grunde gelegt.
Die differenzen, die Aristoteles notirt, gehn immer nur nebendinge
an; in den hauptsachen und ganz besonders in der chronologie, die in
chroniken das fundament ist, meint er auf völlig sicherem boden zu
stehn, wenigstens von Solon an; die einzige schwankung geht die königs-
zeit an und macht nach dem eignen geständnis des Aristoteles wenig
aus. aber auch mit Herodotos hat sich diese keinesweges von ihm ab-
hängige tradition ganz bequem vereinigen lassen. ich wüſste mir das
schlechterdings nicht zu erklären, wenn nicht in den verschiedenen be-
arbeitungen ein gemeinsames, eben das feste chronologische gerüst vor-
handen war. und deshalb bedeutet es freilich häufig nur die jeweilen
benutzte bearbeitung, häufig jedoch die meiner ansicht nach allen zu
grunde liegende urschrift, wenn ich den namen Atthis brauche. es ist
die frage nach der existenz solcher urschrift, die das höchste interesse
hat. aber stellen wir sie zunächst noch einmal bei seite und sehen wir
uns die qualität der geschichtlichen nachrichten an, die wir den atthi-
dographen verdanken, deren ältester, der ausländer Hellanikos, doch erst
nach 404 geschrieben hat.
Gewiſs befanden sich in den archiven des rates und der beamten soUrkundlich-
keit der
Atthis.
viele urkunden, daſs ein historiker mit fleiſs und methode daraus unend-
lich kostbares entnehmen konnte. die überlieferung über die dramati-
schen spiele, deren reste uns vorliegen, genügt zu dem beweise. man mag
geneigt sein, auf diese urkunden alles zurückzuführen, was wir für die zeit
nach 480 den atthidographen verdanken. das ist nicht wenig, denn daſs
z. b. gerade das wertvollste, was Ephoros über Thukydides hinaus über
diese zeit, selbst den archidamischen krieg, bietet, auf die Atthis zurück-
geht, ist wol zugestanden oder muſs doch zugestanden werden. auch
die biographische litteratur, auf die uns Plutarch zurückweist, hat sehr
stark aus dieser quelle geschöpft. ich gestehe indessen, daſs ich mir
die anschauliche schilderung des erdbebens in Sparta, die genauen daten
[278]I. 8. Die Atthis.
für den tod des Simonides und Aischylos, den fall eines meteorsteins
am Ziegenflusse und der sonnenfinsternis von 463 ohne eine gleich-
zeitige schriftliche aufzeichnung nicht denken kann. der ausweg einer
auſserattischen überlieferung ist für manches, aber durchaus nicht für
alles vorhanden. eine litteratur aber gab es damals noch nicht in Athen.
nun aber die ostrakismen der achtziger jahre und die angabe, daſs ihnen
kein anderer vorhergegangen war, während das gesetz doch älter war:
soll die jemand aus den ratsprotokollen der sämmtlichen sechsten pry-
tanien geholt haben? noch viel weniger kann die genealogie und die
chronologie des Peisistratos, das todesjahr Solons, die tyrannis des
Damasias, das schiedsgericht der fünf Spartiaten über Salamis, das adels-
gericht der 300 und der ankläger Myron von Phlya in den acten ge-
standen haben. wer seine augen nicht selbst zumacht, kann hier die
gleichzeitigen aufzeichnungen nicht verkennen. für den geschichtlichen
wert macht es wenig aus, ob man nun eine mehrheit solcher aufzeich-
nungen annimmt oder den grundstock einer chronik: und über den
wert entscheidet die chronologie, die namenliste in ihrer einheitlichkeit
und zuverlässigkeit. daſs es nur misverständnisse und die trägheit des
vorurteils sind, die an dieser rütteln, hat sich bisher schon jedesmal
gezeigt, und die beilage über die chronologie der pentekontaetie wird
weitere belege bieten. und keinesweges bloſs die beamten, die dem
jahre den namen gaben, waren bekannt. die strategenliste von 441/0
gibt uns Androtion noch. Plutarchs gewährsmann konnte angeben, daſs
Perikles nie ein archon gewesen ist, und Kleidemos bezeichnet den
tyrannenfreund Charmos als ὁ πολεμαϱχήσας (Athen. XIII 609). 30) wie
denkt man sich das eigentlich, daſs eine solche beamtenliste existirt und
ihr keine geschichtlichen angaben beigefügt sein sollen? wenn sie es
waren, auch nur in der ausdehnung, wie wir es bei Aristoteles für die
jahre 590—80 lesen, was ist das anders als eine chronik von Athen?
Es kommen nun indicien hinzu, die eine gewisse schriftstellerische
haltung erkennen lassen. erst unter Solon fand Aristoteles eine schil-
derung der verfassung, zum teil auf rückschlüsse aufgebaut, und sie
ignorirte die verfassung Drakons, Solon aber war der groſse volksmann.
das hat seine bedeutung, einmal negativ: die zeitgenössische chronik
gab für ihn noch bitter wenig, was wir wol beherzigen müssen; zum
[279]Urkundlichkeit der Atthis.
andern positiv: die Atthis steht auf dem demokratischen standpunkt der
zeit, in der ihre litterarischen verarbeiter leben, was freilich so wenig
befremden sollte, als daſs die römische chronik, die es doch im anschluſs
an priesterliche zusätze zur beamtenliste gegeben hat, den politischen
standpunkt der scipionischen und dann der sullanischen zeit, je nach
den bearbeitern, trägt. Solon und Kleisthenes, das sind die groſsen
namen der Atthis, und in der vorzeit der demokratenkönig Theseus.
sonst ist sie dem königtum entschieden feindselig. die legenden von
Melanthos und Kodros, die der institution und dem geschlechte der
könige ungünstig sind, werden bevorzugt. aber auch adelsfeindlich ist
die Atthis. sie gibt zwar die stammbäume einzelner schon in Solons
zeit bedeutender häuser wie der Philaiden und des hauses, aus dem
Andokides stammte, aber die personen und die familien des adels und,
was mehr ist, die ganze organisation des geschlechterstaates sind in ganz
auffälliger weise in den hintergrund gedrängt. alle hundert namen
waren verzeichnet, aus denen der gott 507 die 10 phylenheroen wählte,
aber, das können wir dem schweigen der grammatiker mit bestimmtheit
entnehmen, keine einzige phratrie: die hätten die atthidographen, zwar
kaum noch im dritten, aber sicher. am anfang des vierten jahrhunderts
aus dem lebendigen gebrauche nehmen können. auch die doch noch
über Kleisthenes hinaus geltenden naukrarien 31) und selbst die verkümmert
fortlebenden trittyen scheinen nicht aufgezeichnet worden zu sein. und
noch eins ist greifbar: die chronik ist städtisch. nur die königsnamen
der stadt sind in ihre liste gekommen, und man hat lieber nach fictionen
gegriffen, als die zahlreichen traditionen der andern orte zu verwerten.
namen wie Kolainos Porphyrion Munichos verdanken wir ihr oder ein-
zelnen ihrer bearbeiter freilich, aber was will das besagen gegenüber
der fülle von lebendiger überlieferung, die z. b. in Marathon vorhanden
gewesen sein muſs. und ganz besonders fällt ins auge, daſs zwar der
krieg wider Eleusis geschichtlich nicht mehr vorkommt, aber der eleu-
sinische cult und adel geflissentlich vernachlässigt ist: die Eumolpiden
und Kerykes hätten wahrlich etwas zu berichten gehabt. das ist um so
auffälliger, als die chronik sich ganz besonders angelegen sein lieſs, die
altertümer des städtischen cultes im weitesten sinne zu fixiren und,
meist durch aetiologische sagen, zu erläutern. weitaus das meiste was
wir von ihr besitzen gehört ja dieser kategorie an. wer sich dies alles
[280]I. 8. Die Atthis.
überlegt, mag noch so viel auf die litteraturgattung schieben, mag auch
die allerdings bemerkbare differenz der einzelnen schriftsteller noch so
hoch veranschlagen: wodurch hat sich denn der bestimmte charakter
dieser litteraturgattung anders gebildet, als indem einer ein schema für
sie schuf? von den bekannten atthidographen hat keiner dazu das zeug
gehabt: wo steckt er also?
Der exeget.Gerade diese ganz eben so sehr die erläuterung der πάτϱια wie
die heimische geschichte verfolgende tendenz der chronik weist uns,
wie ich meine, dahin, wo wir ihre entstehung zu suchen haben. daſs
sie officiell war, in dem sinne, daſs ein beamter den auftrag hatte, sie
zu führen, ist undenkbar: daran wäre das gedächtnis nicht verloren.
unwillkürlich richtet man seinen blick nach den heiligtümern, da doch
der Zeus von Olympia, die Hera von Argos, der Apollon Karneios von
Sikyon und Sparta die chronisten des Peloponneses sind. aber in Athen
wohnt kein solcher gott. die göttin ist zwar mit dem staate identisch,
aber ihr heiligtum ist eben deshalb in den händen staatlicher beamten.
die göttermutter hat später das archiv erhalten, aber sie hat überhaupt
keinen einfluſs. wer wacht in Athen über den πάτϱια, wo stecken
die pontifices Athens? das sind die exegeten, insbesondere die ἐξηγηταὶ
ἐξ Εὐπατϱιδῶν, denn die eumolpidischen fallen hier sicher fort, die
pythischen haben, seit der directe verkehr mit dem gotte regel war,
wenig bedeutet. ich weiſs nicht, ob ich U. Köhler unrecht tue, wenn
ich auch bei ihm (Herm. 26, 45) den gedanken voraussetze, daſs die
ἐξήγησις τῶν πατϱίων zu der aufzeichnung und erläuterung der πάτϱια
geführt hat und so [zu] der Atthis, aber ich wünschte sehr, daſs meine
freude mich nicht getäuscht hätte, und ich auf einige übereinstimmung mit
meiner ansicht daraus schlieſsen dürfte, daſs er die tatsache betont, daſs
die chronisten Kleidemos Antikleides Philochoros exegeten gewesen sind.
ich füge hinzu, daſs es sogar auch Androtion vielleicht gewesen ist 32),
daſs Demon über opfer geschrieben hat, Melanthios über mysterien. der
exeget, Lampon der genosse des Perikles, um einen bekannten namen
zu nennen, hat zunächst die fragen zu beantworten, die ihm die ge-
wissensangst des einzelnen oder des volkes stellt, also z. b. über pro-
[281]Der exeget.
digien. er pflegt in seinem bescheide opfer an die grollenden götter
oder daemonen vorzuschreiben; aber es kommen auch wirkliche ge-
wissensfragen vor, wie die von Platon im Euthyphron vom standpunkte
einer überlegenen sittlichkeit beleuchtete. so weist ihn sein geschäft an
die götter und lieben vorfahren, und daſs einige kenntnis der vater-
ländischen geschichte erfordert war, leuchtet ein. von da bis zu der
führung einer chronik, zunächst zum gebrauche für sich und die nach-
folger im amte, ist noch ein weiter weg. aber daſs es die sorge für
das heilige recht gewesen ist, die auch in Athen zur annalistik geführt
hat, darauf scheint mir sowol die lebensstellung der späteren atthido-
graphen wie die qualität ihrer bücher zu deuten.
Ich habe wenigen, aber wertvollen beifall und vielen widerspruch
und spott, nicht bloſs von leuten, wo er mir lieber als beifall ist, ge-
erntet, als ich vor jahren die attische chronik als eine und zwar die
beste quelle der athenischen geschichte hinstellte. damals stand sie noch
völlig im schatten der groſsen schriftsteller so ganz anderer art, des
Herodotos und Thukydides. nun hat sich das geändert, denn Aristoteles
bringt sie uns ganz anders nahe, und es wird nicht mehr lange dauern,
bis sie zu den trivialsten tatsachen der ‘quellenkunde’ gehören wird.
es gibt freilich unter den historikern eine richtung, der alle und jede
griechische annalistische überlieferung ein greuel ist, und mit dieser
muſs ich leider auf eine [verständigung] verzichten. denn ich sehe, wie
überaus bequem es sich ihr consequentester und scharfsinnigster ver-
treter macht, das unbequeme buch des Aristoteles zu beseitigen, damit
der noch viel bequemere glaube bestehen bleibe, daſs am anfange Homer
steht, an den sich Herodotos und Thukydides schlieſsen, neben denen
das übrige so ziemlich schwindel ist. Niese hat die beiden wichtigsten
chroniken des Hellanikos, die von Argos und Athen, einer besprechung
unterzogen, die, wenn ich ihn richtig verstehe, zeigen soll, daſs das er-
zeugnisse ihres verfassers waren, nicht anders als das buch des Herodot
diesem gehört, und in ihnen die s. g. mythische zeit sehr ausführlich
auf grund der poeten behandelt war. das sind für Niese wertlose
πλάσματα τῶν πϱοτέϱων, die jüngste vergangenheit auf grund münd-
licher erkundigung des verfassers, etwa wie Herodot, zum teil nach
Herodot, alles in eine annalistische form gebracht, auf die Niese nicht
viel zu geben scheint. 33) in der tat ist was wir von Hellanikos haben
[282]I. 8. Die Atthis.
so wenig und so zertrümmert, daſs es keine groſse mühe ist, es völlig
zu zerkrümeln. mit den resten von Melanthios, Kleidemos u. s. w. ge-
traue ich mich es auf verlangen ebenso zu machen. aber ich habe es
nicht so gemacht und halte die ganze methode für falsch. was mich
zur annahme einer wirklichen attischen annalistik, einer urkundlichen
überlieferung bis in sehr hohe zeit hinauf veranlaſst, steht teils hier,
teils durch die meisten capitel dieses buches zerstreut. was mir aber
noch wichtiger ist, die ansicht, die ich mir über die ganze überlieferung
und das ganze litteraturleben der Hellenen bis Aristoteles und über ihn
hinaus gebildet habe, weil ich das ganze vor dem einzelnen zu verstehn
trachte, ist in dem eingangscapitel des nächsten buches dargelegt. hier
nur noch die wenigen worte, die ich angesichts unserer traurigen über-
lieferung von den einzelnen Atthiden zu sagen wage.
Die
einzelnen
Atthido-
graphen.So lange die Athener geschichte machten, hatten ihre politiker keine
zeit, sie zu schreiben, und ihre schriftstellerischen talente hatten keine
zeit dazu, so lange die tragoedie lebte. so ist es gekommen, daſs der
fremde litterat Hellanikos die erste attische chronik geschrieben hat. da
er mehrere andere chroniken, namentlich die von Argos, vorher schon
behandelt hatte, war er auf synchronismen aus, und es kann sein, daſs
er die entscheidenden punkte, den fall von Ilios und die erste olympiade
33)
[283]Die einzelnen Atthidographen.
bereits in der attischen namenreihe fixirt hat, letzteres natürlich nur in
dem falle, daſs Hippias die olympischen listen vorher edirt hatte. jedenfalls
ist nachher gar kein attisches jahrbuch denkbar, das nicht diese feste
verbindung zu der allgemeinen chronologie geschlagen hätte; sie muſs
einmal durch rechnung gefunden sein, und zwar sehr früh, da es
nennenswerte schwankungen nicht gibt. das reich der chronologischen
spielerei der einzelnen beginnt erst, wenn es gilt die epochenjahre,
Ilios fall unter könig Demophon, ionische wanderung unter Neleus, zu
einander und zu dem festen unteren datum, erste olympiade im zweiten
jahre des königs Aischylos, in verbindung zu setzen. denn da muſs die
attische rechnung der allgemeinen chronologie folgen. und selbstverständ-
lich ist in der periode von erschaffung der welt bis auf Ilios fall alles
dem belieben jedes einzelnen schriftstellers [freigegeben]. da die Hellenen
an hohen ziffern, zahlenschematismus und leeren namen nur eine
mäſsige freude empfunden haben, so hatten Juden und andere orientalen
hier das hochgefühl, ihren herren weit über zu sein. es bildet das ein
stehendes capitel bei den christlichen apologeten, das sie den Juden
danken, und so finden wir es denn am gelehrtesten ausgeführt bei Jo-
sephus (c. Apion. I 6—23), der mit voller berechtigung der starren con-
sequenz seiner nationalen schwindelchronologie die widersprüche der
attischen und argolischen listen gegenüber stellt: natürlich gilt das der
zeit von Ogygos und Phoroneus bis auf Troias fall oder allenfalls bis
auf die erste olympiade, einer periode, für die wir so wenig nach zahlen
verlangen wie für die zeit vor David bei den Hebräern; mag auch der
Jude den mund sehr voll nehmen und in demselben atem die kritische
polemik des Ephoros und Timaios nennen, d. h. die hellenische wissen-
schaft gegenüber der barbarischen dumpfheit herabsetzen. 34)
Hellanikos hat seine erkundigungen natürlich in Athen eingezogen,
hat die stammbäume der Eumolpiden (Harp. ἱεϱοφάντης) und Andokiden
[284]I. 8. Die Atthis.
(wenn ich mir den namen erlauben darf, Plut. Alk. 25) aufgezeichnet,
hat die legende vom könig Munichos vielleicht um des ersten attischen
olympioniken Pantakles willen gegeben (Munichos war sohn eines Pan-
takles, Harp. Μουνυχία). das ist eine forschung mit anderer tendenz
als die des Herodotos, aber sie ist ihr analog. ebenso mag man über
die notwendigerweise auf directer erkundung beruhende darstellung
der jüngsten vergangenheit urteilen, von welcher wir kaum ein par
splitter haben. nur die annalistische form macht einen charakteristischen
unterschied, und sie, sollte man meinen, konnte er ohne die benutzung
der archontenliste, weiter hinauf der königsliste, nicht herstellen. aber
da liegt ja die bittere kritik des Thukydides vor, der seine zeitrechnung
gerade in der jüngsten vergangenheit ungenau fand. da uns gerade
für die entscheidenden zeiten, vom archon Kreon etwa bis zum archon
Konon, daten des Hellanikos fehlen, ist es müſsig, in dieser richtung
etwas sagen zu wollen. ob er also bereits zugang zu dem exegeten und
seinen aufzeichnungen hatte, muſs um so mehr dahinstehn, als eine er-
läuterung alter attischer institutionen, religiöser sowol wie politischer,
so gut wie ganz fehlt. die gründungssage des Areopages und die ge-
richte über Kephalos, Orestes u. s. w. auf demselben konnte er wol
ziemlich von jedermann in Athen erfahren. auf keinen fall ist Hella-
nikos derjenige gewesen, der an Solons gesetzgebung eine darstellung
der πάτϱιος πολιτεία knüpfte.
Erst ein Athener, und zwar ein Athener der restaurirten demo-
kratie hat das tun können, und diesen nehme ich für den herausgeber
der exegetenchronik in anspruch. das ist schon etwas groſses, aber ich
will ihn deshalb keinesweges für ihren verfasser ausgeben. schon die
sprachlichen indicien, wie πόλις und καταφατίζω noch bei Aristoteles,
scheinen mir höher hinauf zu weisen, und ich bin geneigt, mir in seiner
vorlage, den ὑπομνήματα des exegeten, schon sehr viel mehr auch von
ausgeführten, zum teil ganz novellistischen erzählungen zu denken. daſs
das nicht als etwas ungeheuerliches erscheine, erinnere ich an eine
hauptquelle des Herodotos. wer ihn kennt, dem müssen die ὑπομνή-
ματα des delphischen orakels eine bekannte gröſse sein, eine sammlung
von sprüchen des gottes mit den zugehörigen erzählungen, die sowol
die veranlassung wie die erfüllung der einzelnen orakel enthielt, ein
wunderbarer schatz geschichtlicher und religiöser belehrung, über die
ganze hellenische welt und noch darüber hinaus sich erstreckend, ge-
mäſs der macht des gottes, die gewaltigsten katastrophen der welt-
geschichte, wie den sturz des Kroisos, und die geschicke merkwürdiger
[285]Die einzelnen Atthidographen.
menschen, wie des Spartiaten Glaukos, der seinen gastfreund betrog,
umfassend. das ist das surrogat für eine delphische chronik. Herodotos
hat aus dieser quelle das herrlichste geschöpft, aber auch Ephoros, oder
wer zuerst die orakel über die westhellenischen gründungen, über Sparta,
ja schon über die dorische wanderung in die litteratur eingeführt hat,
ist im stande gewesen, sehr viel von dort zu nehmen: ein groſser teil
unserer vulgären tradition trägt dieses delphische gepräge. es ist freilich
eine methodelosigkeit sonder gleichen, wenn man den priestern sich
darin unterwirft, daſs man den delphischen gott zum herren oder besser
zum pabst von Hellas macht; um sie zu verwerten muſs man diesen
geschichten ihre appretur in maiorem dei gloriam auswaschen: aber eine
exegetenüberlieferung, der Atthis analog, ein buch von unschätzbarem
geschichtlichem und poetischem werte, und doch kein edirtes buch, ist
hier vollkommen kenntlich. 35) der attische exeget hatte nicht so weit
über die welt zu blicken und konnte nicht viel für die religiöse er-
bauung tun. um so mehr lieferte er für die vaterländische geschichte.
hinter Apollon steht eine priesterschaft, hinter Athena ein staat.
So erschien denn also in den tagen des Platon und des Isokrates,
die beide schon in sich zu fertig waren, um stark mit ihr zu rechnen,
die erste wirklich attische chronik und erschloſs dem publicum eine
reiche fülle ächter überlieferung und anmutiger erzählung und gelehrter
construction: alles ist darin. nur muſs man die gelehrsamkeit und die
construction billig nach dem wollen und können der zeit abschätzen.
eine solche forschung, wie ich sie oben allzuliberal den feinden der
echten alten chronik zugestand, die aus den archiven die beamtenlisten
[286]I. 8. Die Atthis.
zusammenstellt, die antragsteller und die gesetze aufstöbert und stamm-
bäume aufbaut, ist um 380 wahrlich nicht zu erwarten. gerade darum
muſs jener erste atthidograph über ein älteres material verfügt haben.
wir dürfen uns wol zutrauen, daſs wir über Solons verfassung etwas
zuverlässigeres aus den ratsacten und den ἄξονες und den inschriften
der königshalle, des Areopages und anderer orte hätten zusammenstellen
können, als wir jetzt bei Aristoteles lesen. die erste Atthis blieb deshalb
auch nur kurze zeit die einzige, und ich zweifle durchaus nicht, daſs
es viel mehr bearbeitungen gegeben hat, als uns zufällig namen bekannt
sind. aber der grundstock ist derselbe geblieben: das ist die weise des
hellenischen handwerkes; und wenn wir vielleicht am liebsten das älteste
buch lesen möchten, so ist dabei immer zu beherzigen, daſs die neu-
bearbeitungen alle keineswegs bloſs eine stilistische umformung in livia-
nischer weise oder gar eine durchgreifende tendenzfälschung, wie die
herren Antias und Macer, vorgenommen haben, obwol auch stücke der art
eingang finden mochten, zumal anekdoten, sondern neues urkundliches
material erschlossen, an dem in den tempeln aller orten kein mangel
war. so hat denn auch dies werk, wie es die bedeutenden zu tun
pflegen, seinen meister in den schatten gestellt. ich kenne ihn nicht.
Pausanias bezeichnet allerdings den Kleidemos, oder wie er schreibt
Kleitodemos, als den ältesten atthidographen, aber wir wissen nicht,
welche gewähr das hat, können auch seine zeit nicht genauer bestim-
men: aber dem volke hat er allerdings zu danke geschrieben, denn sie
haben ihm, wie ehedem dem Herodotos, ein ehrengeschenk verliehen.36)
neben ihm, dem exegeten, der auch über seine kunst eine an-
weisung schrieb, ist noch Melanthios in die erste hälfte des vierten
jahrhunderts zu setzen, der von den modernen vergessen zu werden
[287]Die einzelnen Atthidographen.
pflegt37); vielleicht auch Phanodemos.38) einen sehr bedeutenden fort-
schritt bedeutete es, daſs der praktische staatsmann Androtion von Gar-
[288]I. 8. Die Atthis.
gettos die unfreiwillige muſse seiner verbannung in Megara dazu be-
nutzte, die chronik mit entschiedener bevorzugung des politischen
teiles39) und in dem rhetorischen geschmacke der zeit zu schreiben,
frühestens in den vierziger jahren. so stand diese überlieferung, als
Aristoteles und Ephoros beide sie für ihre zwecke ausgenutzt haben.
dann ist noch Demon gekommen, bei welchem jedoch das interesse
weit über Athen sich ausdehnt und die aetiologische erfindung sich breit
macht; die politische tendenz tritt auffallend zurück. den würdigen
abschluſs hat endlich der exeget Philochoros seiner vaterländischen chronik
gegeben, gelehrter als alle vorgänger, zuweilen selbst mit kritik, aber
immer mit jener edelen liebe zur heimat, ihren göttern und ihrer freiheit,
die er im leben und im sterben bewährt hat.
Verhältnis
zu Hero-
dotos.Es konnte natürlich nicht ausbleiben, daſs der geschichtliche inhalt
der chronik sich in vielem mit dem wissen von der eigenen vergangen-
heit deckte oder nahe berührte, das die unterrichteten Athener jeweilig
besaſsen. später muſste die veröffentlichte chronik den lernbegierigen
selbst dieses wissen vermitteln. das erste gilt vom fünften jahrhundert.
was Herodotos über die Peisistratiden und Kleisthenes erzählt (I 59—64,
V 55—57. 62—66. 69—78) hat der Atthis ohne zweifel sehr nahe
gestanden: sonst hätte ja Aristoteles nicht so bequem beide zusammen
arbeiten können. was Aristoteles aussondert, sind meistens dinge, die
den stempel der tendenz an sich tragen, wie die bemäkelung des adels
der Gephyraeer und des Isagoras, oder es hängt mit sehersprüchen
zusammen, die Aristoteles von sich fern hält. dagegen z. b. was über
38)
[289]Verhältnis zu Herodotos. verhältnis zu Thukydides.
die kleisthenischen reformen bei Herodot steht, nimmt sich fast wie
der auszug eines fremden aus dem aristotelischen berichte aus; er hat
wirklich nur wiedergegeben, was er in Athen von leuten hörte, die
so sachverständig waren wie der exeget. geschichten dagegen, wie die
erste usurpation des Peisistratos mit dem greisen Solon als hauptacteur,
oder das gericht über die Alkmeoniden könnten zwar eben so gut bei
ihm stehn; er hat sie aber nicht gehört oder verschmäht: wir müssen
sie genau so beurteilen wie seine hübschen erzählungen aus dem sech-
sten jahrhundert. nur ein tor kann sich einbilden, Herodot hätte all dieses
material erschöpft gehabt, und was später aufgezeichnet wäre, müſste als
erfindung weggeworfen werden.
Das attentat Kylons erzählt Thukydides in seinem stile, aber soVerhältnis
zu Thu-
kydides.
daſs der charakter der geschichten nicht wesentlich anders ist. und sein
excurs über Kekrops, Theseus und den συνοικισμός (II 15) trägt in
allem den stempel derselben historischen methode sogar wie die be-
richte der atthidographen über die urzeit. dem sophisten lagen Anthe-
sterien und Diasien eigentlich fern: die exegeten lebten in ihnen.
deshalb habe ich schon früher diesen bericht für die chronik in an-
spruch genommen, obwol ich keinen chronisten der zeit kenne. ἐξη-
γοῦντο δὲ ταῦτα οἱ σαφέστατα τὰ τῶν Ἀϑηναίων εἰδότες, müsste er
antworten, wenn man ihn nach seinen gewährsmännern fragte. auch
hier kann ich keinerlei sinn darin finden, sich vor seiner historischen
methode zu verbeugen und eben dieselbe gering zu achten, wenn sie
Kleidemos übt.
Die wilden politischen kämpfe von 412—400 haben die vaterlän-
dische geschichte auch als waffe gebraucht; wir haben das im sechsten
capitel verfolgt. aber glücklicherweise hat das die chronik nicht beein-
fluſst: erst Aristoteles leitet jenen schlammigen strom in ihr ruhiges
bette. auch die rhetorischen fictionen schwirrten in der luft: während
die Athener vor dem throne des Artaxerxes mit Thebanern und Spar-
tanern um die wette krochen, erfand zu hause die renommage mehr als die
sehnsucht nach einer groſsen und bessern vergangenheit die fabeln vom
eide bei Plataiai und vom frieden des Kimon.40) aber auch sie herrsch-
ten viel mehr in der rhetorenschule als in den chroniken. den Klei-
demos beschenkten die Athener, aber sehr viel scheinen sie ihn nicht
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 19
[290]I. 8. Die Atthis.
gelesen zu haben. selbst Lykurgos der Eteobutade zieht es vor, die
fabeln nachzuschwatzen; nur bei Aischines haben wir einige spuren des
studiums der Atthis getroffen. die advocaten regieren, und sie ver-
flüchtigen Solon zu dem patron ihrer geliebten freiheit und gleichheit,
ἐλευϑεϱία und παϱϱησία, die ihnen gestattete, ihr unsauberes hand-
werk zu treiben, den demos zu lenken (βουκολεῖν τὸ δήμιον) und
jeden harmlosen bürger zu schinden und zu schröpfen, so lange bis
einer kam, der ihnen, gefühllos auch für die alte gröſse der attischen
demokratie, dies handwerk legte, Antipatros, der freund des Aristoteles.
Der Londoner papyrus ist eine abschrift zu privatem gebrauche,Die
erhaltenen
exemplare.
die ein student sich auf der rückseite ausrangirter acten teils selbst
geschrieben hat, teils hat schreiben lassen und dann selbst revidirt. daſs
es ein student war, folgt daraus, daſs er auf einem der blätter schon
ein colleg über die Midiana nachzuschreiben oder abzuschreiben ange-
fangen hatte. das exemplar, das er abschreiben lieſs, hatte einen guten
text, aber der anfang war abgerissen.1) er hat wert auf seinen besitz
gelegt, denn er hat es mit ins grab genommen.
Die beiden Berliner blätter sind der irgendwie in den kehricht
geratene rest eines buches, eines für den handel hergestellten exemplares.
es war in buchform und konnte sich um die regeln für papyrusrollen
gar nicht kümmern; die blätter gehörten einem quinio an.2) ich kann
19*
[292]I. 9. Die geltung des buches in der späteren zeit.
das alter palaeographisch nicht schätzen und habe sehr wenig vertrauen
zu solchen schätzungen; das buch mag also in die zeit zwischen Marcus
und Theodosius I fallen.
Von einem dritten exemplare in Aegypten wissen wir durch den
Zindealschen katalog.3)
Erhaltung
in der
Byzantiner-
zeit.Daſs die Aristoteliker bis in das sechste jahrhundert die Politien
besessen haben, ist nach ihren klaren und verständigen angaben nicht
zu bezweifeln.4) zu derselben zeit hat einige von ihnen der sophist
Sopater excerpirt.5) in der lobrede auf den kaiser Anastasius hat der sophist
Prokopius von Gaza die geschichte des ἀτελὲς χωϱίον dem Aristoteles
nacherzählt.6) damals oder auch ein par jahrhunderte früher mag ein
gewisser Herakleides den auszug gemacht haben, den wir noch ver-
einigt mit einem auszuge aus den Miscellaneen des Aelian besitzen.7)
2)
[293]Erhaltung in der Byzantinerzeit.
denn da nun offenbar ist, daſs das erste capitel rein aristotelisch ist, so
hat die ansicht gewiſsheit erlangt, die in diesem büchlein die wenn auch
bis auf die gröſste armseligkeit zusammengestrichene gelehrsamkeit des
Aristoteles sah. es ist eine miserable ausflucht, daſs möglicherweise in
andern capiteln fremdartige zusätze stehen könnten: nichts steht darin,
das als solches auf spätere zeit wiese. eben so gegenstandslos sind aber
auch die an sich windigen vermutungen geworden, daſs einer oder der
andere der bekannten träger des gewöhnlichen namens Herakleides der
excerptor wäre. übrigens kommt auf den menschen nichts an, der doch
nur die bedeutung einer schere hat, und auch darauf nicht, ob mehrere
scheren bei der verstümmelung beteiligt gewesen sind: das vielmehr
ist das wichtige, daſs ein auszug aus vielen Politien sich immer erhal-
ten hat.
Hieraus folgt, daſs wir mit der möglichkeit rechnen dürfen, selbst
in späterer byzantinischer zeit noch auszüge aus den Politien zu finden.8)
und speciell für die athenische liegt ein merkwürdiges stück bei Michael
Psellus vor, in einem kleinen tractat über staatsrechtliche wörter der
alten, der sonst wenig gelehrsamkeit, namentlich keine abhängigkeit von
den geläufigen rhetorischen lexica, zeigt, so daſs die aristotelische an-
gabe von den modernen verworfen werden muſste.9) wie Psellus zu ihr
[294]I. 9. Die geltung des buches in der späteren zeit.
gekommen ist, entzieht sich meiner kenntnis. ein wirkliches citat und
daneben durch unverständiges gerede ganz unbrauchbar gemachte aus-
züge aus dem schluſsteile über die gerichtsverfassung sind in der Aristo-
phanesausgabe Giuntas (zu Plut. 277. 278) veröffentlicht; sie fehlen in
den alten handschriften der scholien gänzlich, zu denen sie auch nicht
gehören, und scheinen überhaupt noch nicht handschriftlich wiederge-
funden zu sein. solche funde darf man also noch erhoffen.
Hesych-
glossen.Ein schulbuch ist die Politie niemals gewesen; es hat sich also an
sie keine gelehrsamheit angesetzt, weder von antiquarischem noch von
rhetorischem gehalte: es hat keine scholien zu ihr gegeben. die nicht
ganz geringe zahl eingeschwärzter wörter, die zum teil nur verschiedene
lesarten sind, stammen nicht aus dem schulbetriebe. hätten wir eine
anzahl unabhängiger handschriften, so würden wir diese leservermerke
leicht entfernen; es gibt ja stellen, wo das schon mit unsern geringen
mitteln möglich ist.10) sehr sonderbar ist es, daſs sich in dem lexicon
des Hesychius ein par artikel vorfinden, die eigentlich nichts sind als
sätze der Politie, die unter ein lemma gestellt sind, ein schlagwort, das
nach dem verständnis des excerptors aus dem zusammenhange irgend
wie erklärt wird. der art sind ἕδϱαι βουλῆς αἳ ἐγίνοντο κατὰ πεν-
ταήμεϱον (30, 4 im verfassungsentwurfe von 411), das als probe genügt,
Διονύσου γάμος (3, 5), ἐμπήκτης (p. 37)11), εἰσαγωγῆς (52, 2), χαλ-
9)
[295]Hesychglossen. Pollux.
κοῦν πινάκιον (63, 4), die beiden letzten erst jetzt aus der Politie ver-
bessert. mit den rhetorischen glossen, die zur erläuterung technischer
wörter bei den rednern aristotelische gelehrsamkeit verwenden, haben
diese nichts zu tun; sie sind aber von jenen nicht immer leicht zu son-
dern, weil die rhetorischen glossen in diesem lexicon so jämmerlich
verstümmelt sind. selbst sie gehören nicht zu dem ursprünglichen
diogenianischen bestande (was fälschlich meist geglaubt wird), sondern zu
den zusätzen des Hesych oder wer immer das Cyrilllexicon (das auſser
sehr viel christlichem zu der Bibel Clemens protrepticus, Gregor von
Nazianz u. a., römische juristische wörter, Homer- und Euripidesglossen
geliefert hat) die schimpfwörter aus Sueton, die sprüchwörter aus Zeno-
bius und vielerlei sonst eingefügt hat. also irgend wer hat in später
zeit aus einem exemplar der Politie eine anzahl wörter, die ihm be-
deutsam schienen, diesem groſsen lexicon eingefügt.
So ist das buch in der kaiserzeit ein verbreitetes gewesen, und es
ist offenbar die reiche fülle antiquarischer belehrung bei kleinem um-
fange gewesen, die es den kreisen des atticismus empfahl. die groſse
masse der citate steckt eben in den rhetorischen wörterbüchern, deren
maſsgebende grundbücher im zweiten jahrhundert verfaſst sind, von
Telephus, Aelius Dionysius, Pausanias, Harpokration, Pollux an. ich
glaube zu bemerken, daſs namentlich im fünften Bekkerschen lexicon
sich eine darstellung der attischen ämter und gerichtseinrichtungen in
einzelne artikel zerteilt befindet, die auf Aristoteles aufgebaut ist, aus
combination, aber auch aus anderer guter überlieferung erweiternd und
stilistisch natürlich durch modernisirung verderbend. aber da das für
Aristoteles nichts ausgibt, habe ich die untersuchung nicht zu ende ge-
führt. es ist für sie wie überhaupt wichtig zu wissen, daſs nicht nur
diese leute, sondern noch ihre viel späteren compilatoren, die schwerlich
mehr in der lage waren Androtion oder Philochoros einzusehen, den
Aristoteles gehabt haben können. aber es ist weder möglich noch wich-
tig für das einzelne citat den zu benennen der es ausgehoben hat. selbst
die früher so bedeutende frage, wie viel von der darstellung des Pollux
auf Aristoteles zurückgehe, ist mit dem augenblicke für die sache ziem-
lich geringfügig geworden, wo sie gelöst ist. für Pollux ist das ergebnis
allerdings im höchsten grade bezeichnend.
Er hat den Aristoteles selbst gehabt. denn wenn er 8, 87 denPollux.
archonten beilegt κληϱοῦν δικαστὰς καὶ ἀϑλοϑέτας ἕνα κατὰ φυλὴν
11)
[296]I. 9. Die geltung des buches in der späteren zeit.
ἑκάστην καὶ στϱατηγοὺς χειϱοτονεῖν ἐξ ἁπάντων καὶ καϑ᾽ ἑκάστην
πϱυτανείαν ἐπεϱωτᾶν εἰ δοκεῖ καλῶς ἄϱχειν ἕκαστος (τὸν δ᾽ ἀπο-
χειϱοτονηϑέντα κϱίνουσιν) καὶ ἱππάϱχους δύο καὶ φυλάϱχους δέκα καὶ
ταξιάϱχους δέκα· so ist dieser unsinn so entstanden, daſs er Ar. 59, 7
das losen der richter als befugnis aller archonten las12), und nun sie
als subject von κληϱοῦσι ἀϑλοϑέτας δέκα 60, 1 χειϱοτονοῦσι στϱα-
τηγούς (61, 1) ταξιάϱχους (3) ἱππάϱχους (4) φυλάϱχους (5) törichter
weise nahm; die noch viel törichter eingefügte epicheirotonie nahm er
aus 61, 2. eine bloſse folge von redactionellem ungeschick ist es, daſs
92 die angabe über die beisitzer der archonten aus 56, 1 vorangestellt
ist, die angabe über die dokimasie der archonten und des schreibers der
thesmotheten aber (55, 2) so angeschlossen, daſs man das subject αὐτοὺς
notwendig auf die beisitzer beziehen muſste. auch die vollkommen un-
verständliche darstellung der jurisdiction des polemarchen (91) ist le-
diglich durch den gedankenlosen unverstand des Pollux hervorgerufen,
und die entdeckung des originales (Ar. 58) überhebt uns aller bes-
serungsversuche. anderwärts hat Pollux durch das hineinarbeiten an-
derer angaben verwirrung angestiftet. so hat er die aristotelische be-
handlung der schreiber (54, 3. 4) dadurch verdorben, daſs er den aus-
druck ἀντιγϱάφεται aufgriff und eine fremde bemerkung einmischte,
die wir auch in der form ἀντιγϱαφεῖς δύο ἦσαν, ὃ μὲν τῆς βουλῆς,
ὃ δὲ τῆς διοικήσεως vielleicht noch nicht richtig aussondern; es kann
auch bloſs einen ἀντιγϱαφεὺς τῆς διοικήσεως gegeben haben, natür-
lich seit es die stelle ἐπὶ τῇ διοικήσει gab, d. h. seit 306, und die
ἀντιγϱαφεῖς können zu Aristoteles zeit subalterne gewesen sein, weshalb
er sie nicht erwähnt.
Pollux verfügte also über anderes material, das zum teil den De-
metrios von Phaleron, zum teil die zeit der 12 phylen angieng. aber selbst
wo solche zeitlichen kennzeichen vorhanden sind, ist die entscheidung
keinesweges immer leicht. z. b. 102 οἱ ἕνδεκα· εἷς ἀφ᾽ ἑκάστης φυλῆς
ἐγίνετο καὶ γϱαμματεὺς αὐτοῖς συνηϱιϑμεῖτο, also nach 307, νομο-
φύλακες δὲ κατὰ τὸν Φαληϱέα μετωνομάσϑησαν. danach mit Aristo-
teles (52, 1) stimmend eine darstellung ihrer wichtigsten competenz.
τοῦ δὲ νομοφυλακίου ϑύϱα μία χαϱώνειον ἐκαλεῖτο, δι᾽ ἧς τὴν ἐπὶ
ϑανάτῳ ἀπήγοντο. das ist eine atticistenglosse, die ebenso bei Hesych,
interpolirt als Zenob. VI 41, verwebt in eine längere durchaus nicht
[297]Pollux.
antiquarisch gelehrte auseinandersetzung über den Areopag in dem com-
mentar zum Panathenaikos des Aristides (III 65 Ddf.) steht. da hätten
wir also drei vorlagen des Pollux, und die letzte, die lexicalische, hatte
er ja immer zur hand. aus ihr hat er in diesen abschnitten z. b. die
fehlerhafte angabe, daſs die frau des königs βασίλισσα heiſse (90). ob
aber die angabe über die competenz der elfmänner aus Aristoteles ge-
nommen ist, oder der gewährsmann, der über sie zur zeit der 12
phylen berichtete, dieselben amtlichen quellen wie Aristoteles benutzt
hatte, können wir nicht mehr entscheiden. es ist auch nach dem was
im siebenten capitel ausgeführt ist, sachlich ohne bedeutung. hier ist
beides gleich möglich; aber von § 100 χίλιοι καὶ διακόσιοι an ist
das meiste unzweifelhaft nicht aristotelisch, könnte auſser dem stückchen
über die elfmänner sogar nur noch der artikel über die ἱεϱοποιοί (107)
aristotelisch sein.13) 87—100 τετταϱάκοντα kommt man einiger-
maſsen so aus, daſs der grundstock aristotelisch sei, mit gröſseren und
kleineren zusätzen, ganzen artikeln, νομοφύλακες (94) κωλακϱέται (97)
ἀποστολεῖς (98), einigermaſsen selbständigen stückchen (über den vor-
sitzenden der poleten 99, die eponymie des archons 89 am ende) aber
auch ganz kleinen erweiterungen. so sagt Aristoteles vom archon nur
daſs er den einer blutschuld bezichtigten heiſst εἴϱγεσϑαι τῶν νομί-
μων, bei Pollux steht (90) μυστηϱίων καὶ τῶν ἄλλων νομίμων. in
der schilderung der κυϱία ἐκκλησία sagt Aristoteles unbestimmt, daſs
der katalog der confiscirten grundstücke verlesen werde (43, 4): bei
Pollux tun das οἱ πϱὸς ταῖς δίκαις, in dieser form mindestens etwas
ganz unverständliches. gleich darauf ist die angabe, daſs in der zweiten
ekklesie jeder, der als bittflehender auftritt, jeden gegenstand vor das
volk bringen kann, durch den einschub eines an sich passenden ἀδεῶς
erweitert.14) daſs die dreiſsig demenrichter nach der oligarchie der 30
auf vierzig erhöht sind, sagt Aristoteles so schlicht (53, 1) und läſst
den grund erraten, den Pollux 100 mit μίσει τοῦ ἀϱιϑμοῦ ausspricht.
dem entspricht in einem schönen scholion zu Aischines 1, 39 οὕτως
[298]I. 9. Die geltung des buches in der späteren zeit.
ἐμίσησεν ὁ δῆμος τοὺς λ΄ ὥστε καὶ πϱὸς τὴν ὀνομασίαν τοῦ ἀϱιϑ-
μοῦ δυσχεϱαίνειν. vereinzelt können mehrere dieser stellen zu der
annahme verführen, daſs unser Aristotelestext lückenhaft wäre; wenn man
sie alle überblickt, kommt man davon zurück. endlich die paragraphen
85. 86 berühren sich zwar ganz eng mit Ar. 55, allein es steht manches
anders da, manches hat Aristoteles an anderm orte (8), endlich hat er
das amtsinsigne des kranzes als unwesentlich, das recht der archonten,
einen der einen verbotenen ort betritt zu töten, ohne zweifel deshalb
übergangen, weil es obsolet war; mindestens die ἔφεσις εἰς δικαστή-
ϱιον konnte nicht ausgeschlossen sein. hier also ist vielmehr der fall
zu constatiren, daſs die beiden vorlagen des Pollux im wesentlichen
stimmten, weil sie dasselbe officielle material verarbeiteten.
Die professoren der rhetorik, wie Pollux einer war, deren aufgabe
es war, die liebe jugend mit dem griechisch und den attischen antiqui-
täten bekannt zu machen, deren sie bedurfte, um im zeitgeschmack zu
reden und zu schreiben, hatten den Aristoteles in ihrer bibliothek. aber
wer es selbst als productiver ‘redner und schriftsteller’ zu etwas brachte,
brauchte sich mit diesem wie mit jedem über die phrase und den stil
hinausgehenden wissen nicht zu bemühen. selbst bei leuten wie Lucian,
den Philostraten, Aelian15), fehlen seine spuren. classisch war das
buch doch nicht geworden. der gefeierteste aller sophisten, Aristides,
hat allerdings einmal hineingesehen und eine phrase über Solon in die
rede für die vier staatsmänner hinübergenommen16), ohne doch beim
Themistokles mit einem worte auf Aristoteles zu deuten, und als er die
für seine bornirte eitelkeit vielleicht bezeichnendste rede über das
selbstlob (πεϱὶ τοῦ παϱαφϑέγματος) schrieb, fiel ihm ein, daſs an eben
der stelle solonische verse stünden, die er als ein selbstlob auffassen durfte.
da hat er denn eine ganze reihe citate aus cap. 12 abgeschrieben.17)
[299]Pollux. Plutarch.
aber das ist auch alles — wenigstens habe ich bei wiederholter durch-
sicht nichts gefunden.
Von Plutarch behauptet Kenyon und behaupten die meisten ebenso,Plutarch.
daſs er ganz offenbar die Politie benutzt hätte.18) ganz offenbar ist das
gegenteil der fall: er hat sie nie gesehen. als er also nach 100 mit
wirklich höchst anerkennenswertem eifer das beste material für seine
lebensbeschreibungen zusammentrug, war dieses buch in seinen kreisen
nicht geläufig. Ion Stesimbrotos Krateros Panaitios Didymos, sehr gern
auch Theophrastos hat er herangezogen, und gerade von dem sind in seiner
theoretisch politischen schriftstellerei zahlreiche spuren vorhanden. wenn
Plutarch also die Politie nicht benutzt hat, so ist ihre geltung um
100 n. Chr. gewiſs nach dieser probe zu bemessen. es lohnt also die
mühe eines beweises.
Sofort klar ist es im Themistokles. zwei solche prachtstücke wie
die strategeme für die flotte und wider den Areopag würde ein ethiker
wie er mit besonderer freude aufgenommen haben. aber es würde auch
in der aufzählung der historiker, die Themistokles zu Xerxes oder Arta-
xerxes kommen lieſsen, der berühmte name nicht fehlen. so figurirt
einzig das citat über das verdienst des rates um den auszug nach Sala-
mis neben dem entgegenstehenden zeugnisse des Kleidemos, hinter einer
auf ein trozenisches und ein attisches actenstück zurückgehenden er-
zählung.19) das ist also ein sehr wertvolles und gelehrtes stück, aber
solche nester von gelehrten citaten gehören niemals leuten vom schlage
des Plutarch.20)
Im Aristeides ist überhaupt nichts aristotelisches, und wo sein poli-
tischer charakter ähnlich beurteilt wird (23), steht als zeuge der name
des Theophrast.
Im Kimon (10) wird dessen liberalität geschildert, und zwar nach-
weislich nach Theopompos (Athen. XII 533a); daneben wird für einen
nebenumstand eine variante aus Aristoteles beigebracht. es folgen be-
stätigende urteile aus Gorgias Kratinos Kritias. da haben wir wieder
ein citatennest, und gerade die aristotelische fassung der geschichte war
durch Theophrastos verbreitet (Cic. de off. II 64). in wahrheit ganz
dieselbe schilderung Kimons steht im Perikles (9), und daran schlieſst
sich, wie dieser um ihn zu übertrumpfen auf die besoldungen der ämter
geriet. das stimmt im allgemeinen zu dem gedankengange des Aristoteles;
aber es stammt nicht aus ihm, denn die liberalität Kimons trägt die
farben der theopompischen übertreibung, und neben dem richtersolde
steht das theorikon, von dem Aristoteles nichts sagt, wie denn überhaupt
hier viel mehr und recht wertvolles steht, und wieder erscheint ein citat
aus Aristoteles über Damonides als eine einlage. unmöglich kann man
es anders beurteilen als das im Kimon. Plutarch hat offenbar einen
nnd denselben historischen bericht mit varianten und citaten in beiden
biographien zu grunde gelegt, natürlich aber jedesmal nur für seinen
helden das nebenwerk mit herangezogen. solche historischen vorlagen
sind in den biographien der Griechen oft bei ihm kenntlich, am besten
im Themistokles, wo wir im Thukydides die grundschrift besitzen, (Herm.
XIV, 152); hier ist sie Theopomp gewesen. man könnte vermuten, daſs
die varianten in Plutarchs exemplaren als scholien am rande standen;
aber spuren von solchen scholien sind in den historikern sehr rar (Herod.
III 61, Thuk. nur zur archäologie), und die analogie der mythographischen
überlieferung weist vielmehr auf gelehrte verarbeitungen: das ist bio-
graphische litteratur. der Perikles liefert noch zwei belege derselben art.
über den tod des Ephialtes steht (10) erst die version des Idomeneus,
die verworfen wird, dann die des Aristoteles, daſs die oligarchen ihn
durch Aristodikos umbringen lieſsen: aber Aristoteles nennt zwar die
namen, aber von einer schuld der oligarchen sagt er nichts. da hat also
Plutarch die varianten mit dem hauptberichte ungeschickt verschmolzen.
und in einem citatenneste (4) wird nach Aristoteles Pythokleides lehrer
des Perikles genannt, was immerhin aristotelisch sein mag, nur steht es
nicht in der Politie. zwei citate über den samischen krieg (26. 28), in
denen das letztere eine schaudergeschichte des Duris mit dem schweigen
von Thukydides Ephoros Aristoteles widerlegt, sind schon von Rose mit
recht auf die Politie der Samier bezogen worden. deren benutzung mag
glauben, wer will: für die athenische würde sie nichts beweisen. Plutarch,
wie er ist, würde sowol im Kimon wie im Perikles gerade das gesammt-
[301]Plutarch.
urteil des philosophen über die männer angeführt haben, wenn er ihn
gelesen hätte.
Im Nikias (2) stellt er das lob des Aristoteles (28, 5) an die spitze,
und es klingen die worte der Politie durch. trotzdem stammt das citat
nicht direct daher. denn, mag man auch darüber hinwegsehen, daſs
Plutarch den schein erweckt, als hätte Aristoteles den Nikias dem The-
ramenes vorgezogen, weil das vielleicht nicht beabsichtigt ist, auch bei
flüchtiger einsicht der Politie leicht einem leser zutreffend scheinen konnte,
so muſs man doch nach aller analogie das Aristotelescitat eben so be-
urteilen wie die folgenden. das sind komikerstellen, mit denen sofort das
urteil des Aristoteles über Theramenes eingeschränkt wird, und von denen
eine anzahl auch über Nikias beigebracht wird, ferner ein so rares buch
wie ein dialog des Pasiphon21) und inschriften, darunter delische, die zu
Plutarchs zeiten längst nicht mehr zugänglich waren. so geht es fort
bis zu der eigentlichen erzählung (6, 2), die aus Thukydides stammt.
Plutarch hat also hier ein citatennest stilistisch etwas ausgeführt und
umgearbeitet.
Im Theseus (25) wird die aristotelische schilderung der ältesten
demokratie nacherzählt. niemand kann bezweifeln, daſs Plutarch diese
ganze biographie, die voll von citaten steckt, die eben so gelehrt sind
wie seinem studienkreise fern liegen, der compilatorischen gelehrsamkeit
der Alexandriner verdankt.
Von hoher bedeutung ist die ganze frage nur für die biographie
Solons, die sich mit Aristoteles in so überaus vielen stücken berührt,
ihn für eine vocabel, κύϱβεις, ersichtlich nach Didymos (25) und für
einen zug nennt, der nicht in der Politie steht, die ausstreuung der
asche (32), auſserdem die Pythioniken, ersichtlich aus Hermippos, anführt.
da hat nun unsere untersuchung an den verschiedensten stellen bereits
das verhältnis festgestellt, und es erübrigt nur die summe zu ziehen.
Es berühren sich ganz nah Plut. 15 und Ar. 6, der betrug von Solons
freunden bei der seisachthie. aber Plutarch ist reicher, und zu seinem
berichte gehört ein citat aus Polyzelos von Rhodos, der ohne frage jünger
als Aristoteles ist. es steht die abschaffung der drakontischen gesetze bei
beiden (Plut. 17, Ar. 7, 1), und wie sollte sie fehlen? aber von Drakons
verfassung weiſs Plutarch nichts, und wie hätte er (19) die ältere existenz
des Areopages als fraglich hinstellen können, wenn er die Politie vor sich
gehabt hätte? das ganze achtzehnte capitel führt das aristotelische urteil
[302]I. 9. Die geltung des buches in der späteren zeit.
nicht nur über die classen, sondern auch über die hauptstücke der soloni-
schen demokratie aus, einschlieſslich des oligarchischen vorwurfs, daſs Solon
die gesetze mit absicht dunkel geschrieben hätte, und es unterliegt keinem
zweifel, daſs die aristotelische doctrin für diese darstellung maſsgebend
gewesen ist. aber wie der wortlaut sich viel weiter von Aristoteles ent-
fernt, als denkbar wäre, wenn Plutarch die Politie selbst vor augen gehabt
haben sollte, so ist auch hier ein plus auf seiten Plutarchs anzuerkennen.
der brave delphische priester war wirklich nicht im stande, aus ἐξεῖναι
τῷ βουλομένῳ τιμωϱεῖν ὑπὲϱ τῶν ἀδικουμένων (Ar. 9, 1) zu machen
παντὶ λαβεῖν δίκην ὑπὲϱ τοῦ κακῶς πεπονϑότος ἔδωκεν · καὶ γὰϱ πλη-
γέντος ἑτέϱου καὶ βιασϑέντος ἢ βλαβέντος ἐξῆν τῷ δυναμένῳ καὶ
βουλομένῳ γϱάφεσϑαι τὸν ἀδικοῦντα καὶ διώκειν, oder von selbst auf
den guten gedanken zu geraten, daſs Solon die ämter den bemittelten
hätte bewahren wollen, τὴν δ̕ ἄλλην μεῖξαι πολιτείαν, und darum die
classen eingeführt hätte. sobald der census maſsgebend ist, haben die
ständischen unterschiede aufgehört. im gegensatze dazu hat Theseus
keine μεμειγμένη δημοκϱατία gestiftet, sondern die drei stände χωϱὶς
ἀποκϱίνας hingestellt (Ar. fragm. 2). es fügt sich also der gedanke, den
Plutarch vorträgt, gut in den aristotelischen gedankenkreis: nur hat
Aristoteles diesen gedanken weder ausgesprochen noch gehabt, sintemalen
er wuſste, daſs die classen nicht erst von Solon geschaffen waren.
Die vereidigung der archonten (25, 2) stammt sicher mit Aristoteles
aus derselben quelle (vgl. oben s. 47), ebenso das verhalten Solons zu
Peisistratos (30, vgl. oben s. 264). der bericht über die ermordung
Kylons und das gericht über seine mörder (12) steht dem Aristoteles
sehr nahe, ist aber um die ohne zweifel ungeschichtliche intervention
Solons erweitert. es ist monoton, an jeder kleinigkeit dasselbe auf-
zuzeigen, und wenn hier oder da bei Plutarch kein kenntliches plus vor-
handen sein sollte, so entscheidet die masse. nur über die solonischen
gedichte noch ein wort. Plutarch hat in seinen quellen, sagen wir nur
ruhig bei seinem hauptgewährsmann Hermippos, viele verse vorgefunden,
und darunter viele die auch Aristoteles gibt (15, 5. 16, 2. 18, 4; auch 14, 2
muſs die widerlegung des Phainias durch einen solonischen vers, den
Aristoteles 5, 3 gibt, hermippisch sein). aber er citirt ja viel mehr verse,
darunter nicht wenige, die die vorlage gab (2, 2. 8, 2. 26. 30), was zum
teil die parallelen bei Diodor und Diogenes erhärten. er hat aber auch
selbst die gedichte nachgesehen, wie von einem manne seiner bildung
und seiner sinnesart nicht anders erwartet werden konnte. so ist er in
der lage, die zeilenzahl der elegie Salamis anzugeben sammt ihrem an-
[303]Plutarch. geringe benutzung in älterer zeit.
fange, wie eben bibliographisch genaue citate im altertum lauten müssen,
und eine beurteilung ihres poetischen stiles beizufügen (8); und ebenso
citirt er mit dem titel die trochaeen an Phokos (14), die er dann aus-
giebig benutzt. für ihn also macht die übereinstimmung solonischer
citate mit Aristoteles gar nichts aus.22) seine quelle, die peripatetische
biographie, ist dagegen von der Politie in der auswahl der verse und
sonst stark beeinfluſst worden, hat also die aristotelische skizze vielfältig
erweitert, namentlich aus der chronik, die auch Aristoteles selbst zu
grunde gelegt hatte. wenn also gerade der Solon trotz ausgedehntester
berührung mit der Politie ohne sie verfaſst ist, so kann man gar nicht
anders schlieſsen, als daſs Plutarch weder diese noch irgend eine ihrer
schwestern jemals gelesen hat.
Das aber ist das bedeutsame, daſs Plutarch die Politien überhauptGeringe be-
nutzung in
älterer zeit.
sich nicht verschafft hat, trotzdem unter unzähligen andern büchern
auch sie in den biographischen quellen, von denen er jedesmal ausgeht,
einzeln citirt waren. und die verfasser jener biographischen grundbücher
haben eine sehr berechtigte zurückhaltung namentlich gegen die oligar-
chische tendenz der attischen Politie geübt: erst bei einem rhetor der
allerspätesten zeit ist eine spur der schlimmsten Themistoklesanekdote.
aber so stehn überhaupt die hellenistischen jahrhunderte zu diesem
aristotelischen buche. Cicero und Dionysios von Halikarnaſs und Ciceros
philosophische gewährsmänner haben ihr politisches raisonnement von
Theophrastos und anderen peripatetikern zumeist geborgt, aber die
athenische Politie kennen sie nicht. weder bei Panaitios noch bei
Polybios ist eine spur von ihr. Apollodoros von Athen, dessen historische
gelehrsamkeit nach dem strabonischen auszuge sich gut schätzen läſst,
[304]I. 9. Die geltung des buches in der späteren zeit.
hatte von der attischen Politie keine veranlassung zu reden, vornehmlich
deshalb, weil er die Atthis selbst zu rate zog; aber auch die kretische
hat er so wenig herangezogen wie Polybios-Panaitios, sondern Ephoros
ist ihr gewährsmann. die lokrische hat die angriffe des Timaios erfahren
und deshalb die verteidigung des Polybios, und es konnte nicht aus-
bleiben, daſs einzelne nummern der groſsen sammlung nicht durch
reichere oder bequemere concurrenzbücher in den schatten gestellt
wurden, und hie und da mancherlei aus ihnen angeführt ward. im
ganzen jedoch sind die Politien als fundgrube der alten localgeschichte
noch einigermaſsen, ihre staatsrechtlichen teile und die aus ihnen abzu-
leitenden politischen gedanken kaum irgendwo, die der attischen nirgend
benutzt worden.
Dies erklärt sich freilich von selbst für jene jahrhunderte, wo die
groſsen königreiche und dann die gröſsere römische republik dem prakti-
schen politiker ungleich bedeutendere objecte der forschung oder betrach-
tung boten, die politische theorie aber in den bahnen des kosmopolitismus
oder der negation des staates, sei es vom epikureischen, sei es vom ky-
nischen standpunkte aus sich bewegte. ist aber die wirkung des buches
unmittelbar nach seinem erscheinen stärker gewesen? das buch läſst
sich von der lehre nicht trennen, und die lehre des Aristoteles hat
durch Antipatros und Demetrios gerade in Athen selbst triumphirt. die
Politik aber und die Politien und die Barbarensitten haben in der peri-
patetischen schriftstellerei der nächsten generation ihre fortsetzung und
umbildung erfahren, und insofern ist ihre wirkung ungeheuer. allein
ein so epochemachendes ereignis wie das erscheinen der groſsen werke
von Herodotos Hellanikos Thukydides Ephoros sind sie nicht gewesen.
vor dem publicum hat ersichtlich die isokrateische schule über die peri-
patetische auf dem gebiete der historiographie den sieg davongetragen,
die zusammenfassende weltgeschichte über die monographieen. im 2.
jahrhundert n. Chr. verschwindet Ephoros ziemlich gleichzeitig mit dem
aufkommen der Politien; leider kann man darin nicht einen sieg der
wissenschaftlichkeit sehen, da es vielmehr der matte archaismus ist, dem
Ephoros zu voluminös für die schule war.
Gerade das verhältnis der Politien zu Ephoros ist in diametral
entgegengesetztem sinne mit gleich apodiktischer sicherheit mehrfach be-
urteilt worden. die entdeckung der Politie der Athener läſst auch in
dieser streitfrage ein urteil zu, über die ich noch kurz zuvor auf dem
katheder ein entschiedenes ἐπέχω gesprochen hatte, weil ich nicht bloſs
eine partei gehört hatte.
Für die einen ist es ausgemacht, daſs Ephoros von Aristoteles ab-Verhältnis
zu Ephoros.
hängt, z. b. soll er die kretische politie ziemlich ungenirt ausgeschrieben
haben. es war das eine notwendige folge der hohen meinung, die wir
(ich muſs mich mit einrechnen) von der historischen forschung des
Aristoteles hatten, und von der misachtung der Isokrateer. Usener ist
sogar so weit gegangen, sich den jungen Aristoteles durch seine histo-
risch-philosophischen tendenzen anregend auf den greisen Platon zu
denken, weil dessen Gesetze in der tat nicht ohne ein fundament ge-
schichtlicher studien denkbar sind. gerade hierin liegt ein hauptunter-
schied zwischen seiner schätzung der Akademie und der meinen. ich
habe nie begriffen, wie gerade er so urteilen konnte, der die einschläg-
lichen unächten dialoge Minos und Hipparchos doch noch dem schul-
regimente des Speusippos zuschreibt. diese ganze ansicht ist nun nicht
mehr zu halten, seitdem es feststeht, daſs die Politie der Athener, von
der nur willkür ihre schwestern trennen kann, ebenso wie die politi-
schen vorträge und die Δικαιώματα23) der letzten lebenszeit des Aristo-
teles angehören. denn gesetzt auch, daſs Ephoros noch in den zwan-
ziger jahren geschrieben hätte, so kann man seine ersten bücher doch
unmöglich so spät ansetzen, und er konnte auch wahrlich nicht auf die
publication aus dem feindlichen lager warten, um aus ihr material für
seine eigene arbeit zu gewinnen. übrigens kenne ich in seinen resten
nichts was auf die zeit Alexanders mit sicherheit führte.
Da scheint nun die entgegengesetzte ansicht die oberhand zu ge-
winnen, die in Ephoros die oder eine hauptquelle für die geschichtlichen
angaben der Politik sieht. gerade die kretische verfassung hat man auch
dafür als beleg angeführt, und wer die auszüge beider vergleicht, muſs
zugestehen, daſs der augenschein eher für eine abhängigkeit des Aristo-
teles spricht. nun ist freilich Ephoros in der athenischen Politie nicht
benutzt; aber das erklärt sich aus dem gegensatze der politischen partei-
stellung, und ein anderer Isokrateer, Androtion, hat dem Aristoteles ver-
mutlich sehr viel mehr geliefert als wir noch beweisen können. ich
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 20
[306]I. 9. Die geltung des buches in der späteren zeit.
möchte es nicht von vorn herein als unmöglich bezeichnen, daſs Aristo-
teles für irgend eine Politie oder für ein historisches exempel seiner
vorträge das dickleibige buch des Ephoros eingesehen habe, glaube aber
persönlich vielmehr, daſs er es gar nicht gelesen haben wird, und mit
einer gewissen gruppe unserer historiker den forscher in Ephoros zu
sehen, in Aristoteles den ausschreiber, halte ich allerdings nach wie vor
für noch weniger denkbar als das umgekehrte verhältnis. der grund,
dächte ich, müſste einleuchten. hier die Politien, eine summe von ein-
zelheiten, dort die universalgeschichte: was ist das frühere, nicht der
zeit nach, sondern das πϱότεϱον φύσει? hat Aristoteles und der Peri-
patos das gewebe des Ephoros aufgedröselt, oder hat Ephoros die menge
der einzelgeschichten zu seinem werke verwoben? die attische Politie
des Aristoteles liefert nun aber keine eigene forschung, sondern ver-
arbeitet gegebenes material. wir können die andern nur nach dieser
probe beurteilen. da das material vorhanden war, bedurfte Ephoros
der Politien nicht. Aristoteles war kein forscher gewesen, aber den
Ephoros werden wir nun doch nicht dazu machen und ihm die lob-
sprüche zuerkennen, die wir früher dem Aristoteles nur zu bereit-
willig gespendet haben. gerade der universalhistoriker stöbert nicht
nach alten inschriftsteinen in den fuſsböden der tempel24), sammelt
keine sprüchwörter und macht keine topographischen studien, nicht nur
weil er keine zeit hat, sondern weil seine geistesrichtung ins weite geht.
und Ephoros war noch dazu ein rhetor. aber wozu bedurfte er auch
der eignen forschung? dasselbe material, das der Peripatos verarbeitete,
stand auch ihm zur verfügung. mit der erkenntnis, daſs die aristote-
lische Politie der Athener eine compilation aus vorhandenem litterarischem
materiale ist, haben wir auch das material kennen gelernt, aus dem der
Isokrateer sein gebäude errichtet hat. was wir für die Atthis gelernt
haben, ist damit für Κϱητικὰ Μιλησιακὰ Σαμιακά auch gesagt. die
bedeutung der localen überlieferung und der localhistorie wächst ganz
ungemein, während die der groſsen werke sinkt, in denen diese locale
überlieferung verarbeitet worden ist. oder vielmehr daſs sie sänke, ist
zu viel gesagt; sie wird nur richtiger geschätzt. denn ohne das sam-
meln und verarbeiten des Peripatos und der Isokrateer würde aus dem
chaos der localliteratur wenig erhalten geblieben sein. Ephoros und
[307]Verhältnis zu Ephoros.
Aristoteles stehn zu ihr wie die sammler und redactoren, die die un-
endliche fülle der alten epen seit dem sechsten jahrhundert umformend
erhalten, Ephoros wie der letzte bearbeiter der Odyssee oder der der
Eoeen, Aristoteles wie der sammler des κύκλος, wenn es einen gegeben
haben sollte.
Doch diese namentlich für die methode unserer geschichtlichen for-
schung fundamental wichtigen gedanken fordern eine gesonderte betrach-
tung, der im nächsten buche ein eigener abschnitt gewidmet ist. hier kam
es darauf an, zu zeigen, daſs das altertum die Politie gemäſs dem werte,
den das büchlein wirklich hat, so lange geschätzt hat, als es noch seine
andern schätze zu nutzen wuſste. erst als der wissenschaftliche sinn
abstirbt, haben der geringe umfang und daneben der hochberühmte ver-
fassername zusammengewirkt, ihm eine geltung zu verschaffen, die uns
verleiten muſste, mehr zu erwarten, als nicht nur geleistet ist, sondern
auch als Aristoteles wollte und konnte.
Was ist die
Politie?Wir hatten uns in unsern träumen dieses buch gewünscht, auf daſs
wir eine authentische belehrung darüber erhielten, was der athenische
staat gewesen sei. wir muſsten so oft mehrdeutige auszüge daraus als
die beste überlieferung anerkennen, wir waren gewohnt, in Aristoteles den
unvergleichlichen an wissen und an urteil zu verehren, daſs der wunsch
sich mit notwendigkeit einstellte: o daſs er doch zu uns sprechen könnte.
der traum ist wahrheit geworden: er spricht zu uns. als das neue licht
erschien, muſste jeder zunächst geblendet sein; bald aber, unheimlich
bald, wurden die verschiedensten urteile laut. sie waren durch drei fac-
toren gebildet, alle von einem stark subjectiven charakter, den eindruck
des neuen buches, die autorität des verfassernamens und die vorstellung,
die sich der urteilende von der attischen geschichte vorher gebildet
hatte. durch die combination so variabler factoren lassen sich noch
eine anzahl anderer wahrsprüche über das neue buch gewinnen; aber
die vorliegenden könnten genügen, um einem von fern herantretenden
das ganze buch zu verekeln. was sowol als eitel gold wie als eitel kot
bezeichnet werden kann, wird wol überhaupt nichts besonderes sein.
dem gegenüber verlangte die wissenschaft zunächst, das buch wie es
ist zu verstehen. der erste text konnte nur ein provisorischer sein;
die erste übersetzung war es noch mehr: trotzdem formulirten schnell-
fertige historiker ihr urteil. was auf solchem boden errichtet wird,
braucht man nicht erst anzugreifen, das fällt von selbst ein. also die
textkritik war die erste aufgabe. dann kam die zweite, die berichte des
Aristoteles auf ihre herkunft zu untersuchen, womit die frage nach
ihrer qualität nicht notwendig, aber tatsächlich verbunden ist. denn
es zeigte sich bald, daſs in diesem buche wirklich geschichtliche for-
schung so gut wie gar nicht steckt, also nicht Aristoteles, sondern
[309]Was ist die Politie?
seine gewährsmänner die verantwortung für den inhalt tragen, er nur
für die auswahl jener gewährsmänner, und es sind deren darunter,
die es mit der wahrheit leicht genommen haben, die er also nicht
hätte heranziehen dürfen, wenn er es mit der geschichtlichen forschung
ernster genommen hätte. gerade das was so sehr neu und über-
raschend in dem buche ist, ist es zumeist deshalb für uns gewesen,
weil ihm schon die schüler des Aristoteles wegen seiner herkunft oder
seines inhaltes nicht getraut haben. die arbeit der analyse ist nun auch
geschehen. es könnte scheinen, als wären wir fertig und ich brauchte
höchstens stilistisch noch eine recapitulation. vielleicht machte es sich
gut, mit einem überlegenen ‘du hast nichts als eine compilation ge-
liefert; du bist gewogen und zu leicht befunden: ein historiker bist du
nicht’ den groſsen philosophen zu entlassen wie einen schulknaben. ge-
wiſs, es ist wichtig und ist wahr, daſs er kein historiker gewesen ist,
in dem sinne wie Herodotos oder Thukydides oder Polybios diesen namen
verdienen. gewiſs gilt fortan die regel, du sollst auch bei einer aristo-
telischen nachricht nach ihrem wirklichen gewährsmann fragen, sein
urteil ist durchaus nicht entscheidend. aber mit dem buche sind wir
mit nichten zu ende. man braucht es doch nur zu lesen, wieder einmal
frisch sich dem erquickenden sprudel dieses silberklaren periodenstromes
hinzugeben, um recht bescheiden von dem zu denken, was die quellen-
analyse eigentlich von dem schriftstellerruhme abbricht. dies buch will
etwas und wirkt etwas; meiner empfindung nach erreicht es das auch.
es will in dem leser ein urteil über die verfassung erzeugen, die es be-
schreibt, und zwar um überhaupt politisches urteil in ihm zu erzeugen.
die geschichtliche belehrung ist nicht der zweck: sonst würde doch etwas
mehr davon geboten sein; es wird vielmehr vorausgesetzt, daſs der leser
von der geschichte im ganzen unterrichtet sei, den Herodotos kenne
und latente polemik gegen ihn und Thukydides verstehe. eine dogmatik
der verfassung ist auch nicht der zweck: sonst würde nicht so viel des
wichtigsten fehlen. wenn von sehr vielen beamten der kreis ihrer ob-
liegenheiten gar nicht angegeben wird, oder ein par unwesentliche, aber
aus irgend einem grunde bemerkenswerte punkte allein angeführt werden,
so liegt darin, daſs auf leser gerechnet wird, für die der name des amtes
genügt, um seine bedeutung in das gedächtnis zu rufen. auf einen
solchen leserkreis ist das buch berechnet, und diesen kreis denkt sich
Aristoteles sehr weit. denn der umfang und die stilistische form des
buches zeigen, daſs es für alle gebildeten geschrieben ist. wir haben
uns geirrt, wenn wir früher nur eine stoffsammlung in den Politien such-
[310]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
ten1): dies ist kein ‘hypomnema’, kein hilfsmittel für das gedächtnis, son-
dern stilisirte, meisterhaft stilisirte rede. und es fehlt die ganze termi-
nologie der schule, es fehlt das specifisch peripatetische, ja sogar das
sokratische. der verfasser will also im groſsen publicum durch dieses
buch das seiner ansicht nach richtige urteil über die athenische verfas-
sung erwecken. er formulirt dieses urteil nirgend; trotzdem kann ein
aufmerksamer leser die winke nicht übersehen, die mit kalter sicherheit
gelegentlich gegeben werden. auch heute genügt das, um einen schluſs
auf die politische überzeugung des Aristoteles zu machen. dieser aber
schreibt für einen leser, der in der lage ist dutzende ähnlicher bücher
neben diesem vor sich zu haben, also sich über so gut wie alle helle-
nischen staaten ebenso sicher zu unterrichten. er wird dann wissen,
was er von ihnen zu halten hat, und er wird etwas besseres besitzen
als tausend einzelheiten aus der verfassungsgeschichte, ein aus der fülle
des concreten lebens geschöpftes politisches urteil. wol ihm und seinem
vaterlande, wenn er darnach handelt.
Auf der höhe seiner irdischen wirksamkeit, nicht als greis, was er
nie geworden ist, wol aber als der hochberühmte schriftsteller und als haupt
der einfluſsreichsten wissenschaftlichen genossenschaft ist Aristoteles auf-
getreten als politischer lehrer der nation: das ist das neue, was die
Politie uns für Aristoteles gelehrt hat. wie eine jede wirklich groſse
entdeckung hat auch diese unser meinen und vermuten in seiner un-
zulänglichkeit gezeigt, und statt dessen was wir erwarteten etwas un-
gleich bedeutenderes offenbart. in jedem solchen falle steht ein sinn
der in der gewohnheit eingerostet ist ratlos, schmählt die beschämte eitel-
keit, die immer recht gehabt haben will: die wissenschaft aber tut was
ihres amtes ist: sie ergibt sich willig dem neuen, um ihr urteil zu
befreien.
Aristoteles als person tritt nirgend hervor; er schreibt mit einer
so vornehmen überlegenheit, daſs er das nicht nötig hat. aber der hier
zu den Hellenen redet ist doch der lehrer des Lykeions, der erzieher
des königs, der in den fabelländern des ostens auf den bahnen des
Dionysos wandelt, der freund des statthalters Antipatros. für das publicum
ist der verfasser des buches mit nichten irrelevant: und er müſste nicht
der mann gewesen sein, der wirken konnte und wollte, wenn er nicht
mit der autorität seines namens gerechnet hätte. in anderem sinne noch
[311]Was ist die Politie? leben des Aristoteles. herkunft und heimat.
rechnen wir mit der person des verfassers. wir wollen über ihm stehen.
vieles von dem was ihm tatsache schien ist nicht wahr, viele seiner
urteile sind ungerecht, und wenn es für uns auch unschätzbaren wert
hat, zu wissen wie ein Aristoteles über Athen geurteilt hat, so sind das
doch zwei ganz verschiedene dinge, die verfassung und geschichte Athens,
und ihr abbild in der seele des Aristoteles. auch für unser politisches
urteil ist es, wenn wir uns wirklich eins erarbeitet haben, unschätzbar
zu wissen, wie ein Aristoteles vom staate gedacht hat; aber auch da
wollen und müssen wir selbständig dastehen und fragen, wie ist er zu
seiner ansicht gelangt?
So werden wir vor die aufgabe gestellt, das persönliche moment für
dieses buch zu erwägen. die gewährsmänner seiner berichte haben wir:
damit haben wir das buch noch lange nicht. nur bücher die mit kleister-
topf und schere gemacht werden, sind durch eine quellenanalyse erledigt.
in so tiefem range stehen weder die dialoge Ciceros noch die biographien
Plutarchs, geschweige ein werk eines Aristoteles. das ist sein kind und
bleibt sein kind: den vater müssen wir uns ansehn. den Aristoteles,
den die scholastik verehrt und die candidaten verfluchen, die sein system
sich aus dürren compendien einpauken, den fürsten der logik und den
vollender der althellenischen physik, den erfinder jener famosen natur-
erklärung, die in den händen geistloser nachfolger mit warm und kalt
und trocken und feucht und fünf elementen auf jede frage eine antwort
oder vielmehr eine ganze reihe von μήποτε zur verfügung hat, den
Aristoteles des τὸ τί ἦν εἶναι und der andern formeln des terminolo-
gischen höllenzwanges brauchen wir hier freilich nicht, wol aber einen
Aristoteles, der für die scholastik und die candidaten und das system
nebensache ist, den sohn des Nikomachos aus Stagira. und da ich
nun einmal glaube, daſs die zeit vor der ἀκμή uns sterbliche bestimmt,
so muſs ich viele jahre zurückgreifen, um verständlich zu machen, wie
er dies buch so hat schreiben können.
Aristoteles war ein sproſs von heroischen ahnen, Asklepiade vonLeben des
Aristoteles.
herkunft
und heimat.
vaters und von mutters seite; der vater hatte offenbar der sitte gemäſs
eine verwandte aus gleichem hause geheiratet.2) der name Nikomachos
bezeugt die herleitung dieser Asklepiaden aus Messene, denn in Pharai
ist der sohn Machaons Nikomachos mit seinem bruder Gorgasos zu
hause3), und es ist evident, daſs eben nur durch diesen localcult der
[312]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
name des seinem wesen nach im kampfe und nicht wider die krankheit
siegenden heros in die Asklepiadengenealogie geraten ist. da liegt es
nahe, den ahn des Aristoteles in einem jener Messenier zu sehen, die als
letzte der vordorischen bevölkerung vor den Dorern Spartas wichen und
sich über die ganze Hellenenwelt verbreiteten, so weit sie nicht zu Sparta
hielt, am liebsten aber zu stammesverwandten flohen, die nun schon den
Ioniernamen führten, also nach Chalkis so gut wie nach Athen. das war
ende des achten oder im siebenten jahrhundert. Aristoteles hat seinen
unehelichen sohn Nikomachos genannt; aber auf sein geschlecht hat er
nichts gehalten. ganz anders als Platon, der nie aufgehört hat, sich als
Kekropide und Nelide zu fühlen, ist er ein entschiedener feind des ge-
burtsadels und der heroischen genealogie. kein wort in seinem letzten
willen gilt seinem geschlechte; keine briefstelle, keinen vers von ihm
haben seine biographen beibringen können. er will kein Asklepiade sein.
Aber ein Stagirite war er und ist er immer geblieben. er hat
seinen ererbten besitz in dem kleinen städtchen behalten, und sein
dortiges bürgerrecht mit keinem anderen vertauschen mögen. und der
boden, auf dem sie wuchs, ist auch für diese edele pflanze von bedeutung.
Stagiros oder, wie man damals schon sagte, Stagira, führt einen thra-
kischen namen. an der nordostecke der Chalkidike gelegen blickt es
auf das Strymontal, das erst die macht des attischen Reiches den
Thrakern abgerungen hat, und auf die thasische see; hafenlos, wie es
ist, hat es nie eine gröſsere bedeutung erlangt, und der nordwind, dem
es ausgesetzt ist, brachte die kalten winter, über die Aristoteles in seinen
briefen klagte. in der ganzen Chalkidike war auf thrakischem unter-
grunde aus euboeischen, inselgriechischen und andern colonisten eine
hellenische bevölkerung erwachsen, die zwar die unterschiede der abstam-
mung ihrer bürger verwischt hatte, aber keine neue charakteristische
eigenart entwickelt. Thasos, hinter dessen bergen den Stagiriten die sonne
aufgeht, hatte bis an das ende des fünften jahrhunderts eine bedeutende
rolle im geistesleben der nation gespielt; die übermacht Athens hatte
seine kraft gebrochen, und die wirren, die der sturz dieser macht im
gefolge hatte, den niedergang vollendet. die insel hat kaum noch etwas
zu bedeuten. Poteidaia, das die energie Korinths als ein streng dorisches
reis in den kranz der chalkidischen städte eingedrängt hatte, war von
Athen zerstört und hatte sein Dorertum definitiv verloren. am wich-
tigsten für Stagiros war die attische neugründung von 437 am Strymon,
Amphipolis, wohin sich gerade Hellenen der umgegend viel gezogen
hatten. Brasidas hatte diese günstig gelegene stadt freilich den Athenern
[313]Leben des Aristoteles. herkunft und heimat.
abwendig gemacht, und sie blieb selbständig, während Stagiros, das dem
abfalle gefolgt war, sich wieder fügen muſste. aber auch für Amphi-
polis war die freiheit mit der ohnmacht identisch. die abneigung gegen
die athenische herrschaft war in den städten der Chalkidike vielleicht
besonders kurzsichtig, sicherlich aber besonders stark gewesen. als sie
von ihr loskamen, versuchten sie notgedrungen eine art von staaten-
bund zu gründen, in dem Olynthos die führerrolle zufiel; aber Spartas
intervention trat ihnen herrisch entgegen, und einen wirklichen bundes-
staat hat Olynthos selbst in den bescheidenen grenzen, die die Chal-
kidike verstattete, nie erzielt. die einzelnen gemeinden werden in ihren
verfassungen nur spielarten desselben typus dargestellt haben; ihr recht
führt Aristoteles selbst auf einen alten gesetzgeber Androdamas von
Rhegion zurück4); auch ihre sprache wird sich zu einem gemeinsamen
dialekte, einem ionisch von euboeischem oder auch nesiotischem typus
abgeschliffen haben: sie waren doch als einzelne staatswesen unfähig zum
leben, ermangelnd der αὐτάϱκεια, in der einst Aristoteles die haupt-
bedingung des staates sehen sollte, unfähig aber gleichermaſsen zu dem
entschlusse, sich zusammenzuschlieſsen oder unterzuordnen. wir können
nicht anders sagen, als sie warteten auf einen herren, und werden be-
dauern, daſs Athen es nicht verstanden hat, dieser herr zu bleiben. der
knabe, der 384/35) in Stagira geboren ward, wuchs unter den vorur-
teilen dieser chalkidischen verkommenden kleinstaaterei auf. den verfall
muſste er sehen; wenn sie ihm aber von älteren besseren zeiten erzählten,
so waren die Athener und ihr reich nicht die woltäter, denen man jene
zeiten dankte, sondern die väter alles übels. abneigung und argwohn
gegen Athen, furcht haſs und widerstand, als die flotten des zweiten
seebundes in jene gewässer kamen, hat er in seiner heimat allein sehen
können.
Die thrakische bevölkerung nicht nur auf der Chalkidike selbst,
sondern überhaupt landeinwärts zwischen den fluſstälern des Axios und
Strymon besaſs kein kräftiges volkstum mehr; vermutlich war sie
schon so gut wie ganz verschwunden, aufgesogen hier von den Hellenen,
dort von den Makedonen. schon erschien das ganze hinterland den
[314]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
Hellenen makedonisch, und obwol nicht nur der adel dieses volkes sich
rasch hellenisirte, so daſs es eine makedonische schrift- und geschäfts-
sprache gar nicht gab, so sahen die Hellenen und vollends die näch-
sten nachbarn in den kriegerischen und ihrer nationalität frohen Make-
donen ein fremdes volk. Aristoteles ist zu nah an Makedonien aufge-
wachsen, um nicht die vorurteile mit der muttermilch einzusaugen, die
eine höher civilisirte bevölkerung von älterer cultur doppelt stark gegen
den nachbar nährt, wenn dessen frischere und rohere volkskraft sich ihrer
materiellen überlegenheit bewuſst wird. der vater des Aristoteles, Niko-
machos, ist als leibarzt am hofe des Amyntas II. gewesen. wann und
wo das war, wie nah die beziehungen waren, sind wir auſser stande
zu schätzen.6) als der sohn des Nikomachos von dem sohne des Amyntas
berufen ward und dem rufe folgte, wird dieser präcedenzfall so oder so
mitgespielt haben. allein jene berufung ist auch ohne ihn sehr erklär-
lich. nicht nach Makedonien, sondern nach Stagira gehört die jugend
des Aristoteles. seines vaters gedenkt weder er in seinem testamente,
noch wissen seine biographen mehr von ihm zu erzählen, wol aber daſs
nicht er die erziehung des sohnes bestimmt und dessen dank geerntet
hat. auch dieser groſse mann hat nichts erkennbares von seinem vater
an sich. das Makedonien aber, das er in seiner knabenzeit sehen
konnte, war von allen greueln der barbarenhöfe und der bürgerkriege
verwüstet. er hat höchstens eine so starke aversion dagegen mit in
das leben genommen, daſs er später die unvergleichliche gelegenheit
versäumt hat, einblick in den staat und das volksleben Makedoniens
zu tun.
Kindheit.Nach dem herkommen der Asklepiaden hätte Aristoteles zum arzt
ausgebildet werden sollen; da wäre das erste die handwerksmäſsige an-
leitung in der klinik (dem ἰητϱεῖον) des vaters gewesen, wo denn die
handreichungen und dienste des gehilfen, auch das ‘pillendrehen’ (φάϱ-
μακα τϱίβειν) für ihn eben so wenig entwürdigend sein konnten, wie
für seinen heroischen ahn Machaon, den assistenten (ὑπηϱέτης) seines
vaters Asklepios. es war für einen Hellenen so selbstverständlich, daſs
der sohn des arztes dem vater folgte und zur hand gieng, daſs Epikuros
und Timaios nur mit gehässiger übertreibung ihn ‘eine apotheke halten’
[315]Kindheit.
und dann ‘eine obscure arztstube zumachen’ lassen7), womit sie die wahr-
heit aussprechen, daſs er dem ererbten berufe untreu geworden ist.
damit ist die tradition nicht gerechtfertigt, daſs er ihn je begonnen hat.
und wenn seine naturwissenschaftlichen studien ihn selbst zur ana-
tomie getrieben haben, so haben wir leider keinen anhalt, zu er-
kennen, ob er schon als knabe solche beschäftigungen getrieben oder
gesehen hat oder erst in der schule Platons auf sie geführt ist, wo die
anregung ihm sicher geboten ward. eben so wenig können wir
uns vermessen, die gerechte würdigung des Demokritos auf jugendein-
drücke zurückzuführen. jedenfalls aber war der siebzehnjährige willens
alles andere eher zu werden als arzt, und zogen ihn vielmehr die geistes-
wissenschaften an, denn er gieng nach Athen: für den studenten der
medicin war da nicht viel zu holen.
Nikomachos war damals lange tot; ob auch die mutter, ist fraglich;
geschwister aber lebten noch. die verantwortung für die erziehung des
Aristoteles, also auch für die erlaubnis zu der entscheidenden reise, hat
ein gewisser Proxenos getragen, dem sein mündel die volle dankbarkeit
eines sohnes bewahrt hat. er verordnet in seinem testamente für Pro-
xenos wie für seine mutter, seinen ohne descendenz vor ihm verstorbenen
bruder und seine frau stiftungen zu ihrem ehrenden gedächtnis (für
seinen vater nicht), vor allem aber hat er dem sohne des Proxenos,
Nikanor, die hand seiner einzigen ehelichen tochter, die damals noch
nicht mannbar war, bestimmt. das sollte für diese eine sichere ver-
sorgung sein und jenem das vermögen zusichern, beides sofort, nicht
erst nach der hochzeit und mit den beschränkungen, welche frauengut
und gar erbtochtergut mit sich bringt. deshalb hat Aristoteles die fiction
gewählt, daſs er Nikanor für diesen fall adoptirte. er hat das offen-
bar mit ihm abgemacht, und zwar juristisch bindend abgemacht8), als
jener im sommer 324 vom hoflager des königs nach Hellas gekommen
war. denn er war ein officier bereits in hoher stellung, natürlich auch
kein jüngling mehr, da er der sohn von Aristoteles’ vormund war, be-
[316]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
sonders ergeben der familie des Antipatros, und dieser als freund und
testamentsvollstrecker des Aristoteles hat offenbar das etwas complicirte
rechtsgeschäft vermittelt, das mit attischem familienrechte nicht gemessen
werden darf. dem Aristoteles lag daran, seine unmündige tochter zu
versorgen; sie bedurfte eines starken schutzes, den die familie selbst ihr
nicht geben konnte; auſserdem war die concubine Herpyllis zu befrie-
digen, der Aristoteles alles gute gönnte, deren sohn er aber nicht im
entferntesten gewillt war zu legitimiren, da er sonst Pythias schwer be-
einträchtig hätte. zu bieten hatte er ein offenbar recht ansehnliches
vermögen, das er gern dem sohne des Proxenos zuwandte. der ehr-
geizige officier ist auf das in der tat beiden teilen vorteilhafte geschäft
eingegangen, das auch allen beteiligten durchaus wol ansteht; man muſs
nur mit antiken begriffen vertraut sein.
Nikanor war Stagirit: das ist unanfechtbar gesichert; die heimat
ist für diesen träger des damals nicht seltenen namens das kennzeichen.
folglich ist es sein vater auch gewesen, was ja auch das verhältnis der
beiden familien am nächsten legt. folglich ist eine in sich bedenkliche
nachricht falsch, die ihn mit Atarneus in verbindung bringt.9) man möchte
am liebsten glauben, daſs Proxenos die verwittwete Phaistias geheiratet
hätte; jedenfalls ist er ein getreuer vormund gewesen. Aristoteles hat sein
lebtag nahrungssorgen nicht gekannt, sich seinem studium mit aller
kraft und in voller freiheit hingeben können, und hat sowol seiner
schule in seinem wissenschaftlichen nachlasse wie seiner tochter etwas
ansehnliches hinterlassen. er war offenbar von klein auf an eine be-
queme lebensführung gewöhnt, mit viel bedienung, solidem hausrat und
guter verpflegung; und er blieb dabei, trotzdem er ein philosoph ward,
und in Athen die lebensführung im allgemeinen bescheidener war als
[317]Kindheit. auf der hohen schule.
bei den Ioniern. den spott und die verleumdung, die ihm daraus er-
wachsen ist, konnte er verachten, und wenn ihm die hundephilosophie
und das schmierige Pythagoristentum zeitlebens zuwider gewesen sind,
so trug dazu das meiste seine höhere anschauung von der menschlichen
gesellschaft und ihrer gesittung und wissenschaft bei. aber es gehört
zu dem bilde des menschen, daſs wir ihn zwar den adel des blutes
und des geldes verachten sehen, aber in seinen lebensgewohnheiten und
seiner lebensführung, dem entsprechend auch in der maſsvollen schätzung
der güter dieser welt, niemals den mann verleugnen, der mit den groſsen
der welt und des praktischen, politischen und militärischen lebens wie
mit seines gleichen verkehrt.
So kam der blutjunge student 368/7 nach Athen, in die groſseAuf
der hohen
schule.
stadt, in die groſse welt. er hat später erzählt, wie sie bei ihm zu
hause das Pythion befragten, und dieses ihm den weg zu der philosophie
wies: wir sehen die familie den reiseplan erwägen und in alter weise
die entscheidung suchen. wenn ein jüngling fragte, εἰ λῷον καὶ
ἄμεινο[ν] εἴη Ἀϑήναζε πλεῖν φιλοσοφήσοντα, so muſste der gott wol
ja sagen; aber er dachte dabei schwerlich an die gedanken des aristo-
telischen protreptikos. ebenso wäre es sehr verkehrt sich vorzustellen,
daſs der jungling deshalb als student der philosophie nach Athen ge-
zogen sein müſste, weil er der groſse philosoph geworden ist. die hohe
schule bezog er freilich um παιδεία und φιλοσοφία zu treiben. aber
was er werden sollte, war damit keinesweges gesagt. sein vormund wird
wol eher an eine politisch-diplomatische zukunft gedacht haben, eine
carriere, wie sie sein eigner sohn Nikanor nachmals gemacht hat. rede-
und federgewandte Hellenen fanden allerorten, zumal aber an den
kleinen höfen in Thrakien und Makedonien einträgliche und einfluſs-
reiche stellungen. die eminente begabung und allseitige tüchtigkeit
seines mündels wird Proxenos erkannt haben: die mittel zu der besten
ausbildung waren vorhanden, und der einsichtige mann knauserte nicht
mit ihnen. in Stagira oder überhaupt in dem chalkidischen winkel ver-
kümmern, die von der hippokratischen wissenschaft längst überholte
väterliche praxis treiben wollte und sollte Aristoteles nicht. darum sollte
er sich in Athen der φιλοσοφία bemächtigen.
Es war die zeit, wo man nicht mehr darüber stritt, ob der junge
mann mehr lernen sollte, als die schule ihm bis zum ephebenalter dar-
bot. hatte die alte nationale bildung der Hellenen weiter nur noch für
die körperliche ausbildung gesorgt, weil der sohn der herrschenden classe
soldat sein muſste, sonst aber nur der beruf und das erwerbsleben den
[318]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
landmann oder kaufmann oder industriellen in ihren engen kreisen er-
zogen, so war jetzt zwar die militärische ausbildung selbst in Athen ver-
kümmert (Aristoteles hat sein lebtag weder neigung noch verständnis
dafür erlangt), aber der mahnruf der sophisten und der sokratiker “denkt an
die seelen eurer kinder” ward nachgerade von allen höher strebenden
befolgt. um tüchtig zu sein, bedarf man des wissens, zur ἀϱετή gehört
die σοφία, und die menschen, zumal die jugend, haben φιλοσοφεῖν nötig,
um ἀϱετή oder καλοκἀγαϑία zu erlangen, das war ein anerkannter satz.
er schloſs aber keineswegs in sich, daſs diese philosophie mehr als ein
mittel zum zweck sein sollte, geschweige daſs sie das leben füllen könnte.
und über den inhalt dessen was eigentlich zu treiben und zu lernen
wäre, war das publicum völlig im unklaren. denn es waren sehr ver-
schiedene waaren die sich unter dasselbe etikett stellten, und ein jeg-
licher, der sie vertrieb, behauptete natürlich die einzig ächte waare zu
liefern.
Uns erscheint der gegensatz der damals in ewig vorbildlicher weise
(ganz wie gerade heute wieder) mit einander ringenden mächte un-
verkennbar. hier philosophie, dort rhetorik, hier die ächte bildung der
menschenseele für die ewigkeit, dort die abrichtung für die welt des
tages, hier wissenschaft, dort allgemeine bildung, hier Platon, dort Isokrates.
aber das verdict, das die geschichte gesprochen hat, konnten die mit-
lebenden nicht ahnen: scheint es doch für die mächtigen des heutigen
tages auch vergebens gesprochen zu sein. und dann begehen wir selbst
nur zu leicht den fehler, zu wähnen, die philosophie hätte gleich von
vorn herein sich dabei bescheiden wollen, im schatten der hallen und
gärten einzelne zu erwecken, die welt aber ihrem schicksale anheim zu
geben. als Aristoteles den boden Athens betrat, bekannten sich groſse
massen, und gerade auch politisch und praktisch leitende männer zu der
‘philosophie’, die Isokrates als die allein für das leben geeignete zu lehren
verstand. die Akademie aber sah den morgen der neuen zeit, wo sie
höchst real die herrschaft in dem mächtigsten hellenischen reiche an-
treten wollte, gerade anbrechen, denn Dionysios I starb im winter 368/7.
Platon selbst brach nach Syrakus auf; wenn ihn Aristoteles noch vor-
her kennen gelernt hat, so ist doch in der nächsten zeit eine unter-
brechung in ihrem verkehre eingetreten, und Aristoteles hat sich selbst
helfen müssen oder andere lehrer gesucht.
Isokrates
und die
Rhetorik.Wenn er unterricht bei Isokrates genommen hätte, so würden das
dessen schüler, zumal Kephisodoros, so nachdrücklich in ihren streitschriften
betont haben, daſs wir es hören würden. aber studirt hat er ihn aller-
[319]Isokrates und die Rhetorik.
dings sehr eifrig und hat alles wirklich bedeutende, was der rhetor
lehren konnte, in sich aufgenommen. das ist jetzt ganz unverkennbar.
nicht der dialog Platons, sondern die isokrateische rede hat dem verfasser
der Politie die feder so flüssig gemacht. und der theoretiker der Rhe-
torik hat den gröſsten meister künstlicher rede immer vor augen; der
Panegyrikos und die Helene sind die musterstücke, die er auch später
mit vorliebe anführt: sie konnte er schon 368 studiren.
Aristoteles brachte aus Stagira ein entartetes ionisch mit; daſs seine
zunge, wenn er ihr freien lauf lieſs, immer im wortschatze auf vulgär
ionisches zurück griff, lehren seine schriften, so weit er sie nicht stili-
sirt hat. die oberflächliche manier, die ihn unter die hellenistischen schrift-
steller lieber als unter die Attiker rechnet und auf sein griechisch schilt,
verkennt, daſs die Hellenen, und zumal die des ionischen sprachgebietes,
unmöglich reden konnten wie die attischen autochthonen, oder wie jeder
stilistisch gebildete schrieb, auch der Syrakusier Philistos und der Aeoler
Alkidamas. wenn er sich gehen läſst, schreibt Aristoteles eben wie die
gebildeten Ionier, die die wortformen des attischen zumeist angenommen
hatten, aber im wortschatze sich die prüde und wählerische attische
manier gar nicht aufzwängen konnten.10) aber um so mehr muſs Ari-
stoteles stilistisch und rhetorisch gearbeitet haben, da er ein schriftsteller
von höchster vollkommenheit und der wissenschaftliche begründer der
rhetorik geworden ist. dazu hat er sich an Isokrates gebildet. was der
konnte und lehrte war mehr als die rede glatt machen und hiate ver-
meiden: er lehrte eine tektonik des λόγος, wol vergleichbar und mit
recht verglichen der architektonik; er lehrte stil. es war auch eine gei-
stige disciplin darin, den eigenen gedanken so lange zu drehen und zu
wenden, bis er in seine teile gesondert und diese in eine feste und doch
nicht schematische ordnung gebracht waren.11) aber wissenschaft war
[320]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
freilich etwas was Isokrates weder lehrte noch überhaupt begriff, son-
dern instinctiv hassen muſste, weil sie einer andern welt angehört, als
die er allein kannte und für die einzige hielt. Platon hatte alle rhetorik
kurzer hand verworfen. wenn er stilistische kunstwerke schuf, die dem
rhetorischen gemächte überlegen waren wie die centifolie der georgine,
so schuf er sie als dichter. wenn es ihm gerade einfiel, konnte er auch
dem rhetor seine künste nachmachen, aber auch das tat er als meister
der μίμησις, allein so durfte nur der überlegene schöpferische künstler
handeln. der wissenschaftliche fortschritt war erst dann gesichert, wenn
aus der routine eine methode ward, wenn die Analytik, die Topik, die
Rhetorik so geschrieben wurden, wie es Aristoteles getan hat. gewiſs
hat er die platonische dialektik dazu nötig gehabt, und hat sie ihm das
beste geliefert; die σοφιστικοὶ ἔλεγχοι zeigen, daſs er auch die eristik,
mit der Isokrates so gern die Sokratik zusammenwirft, zu beachten nicht
unter seiner würde gehalten hat: aber es ist eine einseitige und unge-
rechte auffassung, wenn man verkennt, daſs Isokrates der nächste und
der bedeutendste vorgänger des Aristoteles gewesen ist. gewiſs steht
dieser unendlich höher, aber er steht auf jenes schultern. der leiden-
schaftliche haſs des Kephisodoros lehrt, wie tief die rhetorische schule
sich verwundet fühlte; aber auch darin zeigt sich der wahre zusammen-
hang. ohne zweifel hat Aristoteles auch die ἀπόϱϱητα Ἰσοκϱάτους, die
esoterische lehre, für die man den teuren cursus bezahlte12), einiger-
maſsen gekannt. an die logik angegliedert ist die rhetorik erst durch das
werk, das Aristoteles auf der höhe des lebens in unsern beiden ersten
büchern schrieb. also hat er in den vorträgen, die er dem Theodektes
zur herausgabe überlieſs, sich noch viel näher an Isokrates gehalten.
und der gemeinsame freund bildete auch persönlich ein bindeglied zwi-
11)
[321]Isokrates und die Rhetorik. attische poesie und die poetik.
schen dem greisen rhetor und dem aufstrebenden Platoniker: zu einem
conflicte zwischen diesen beiden ist es nicht gekommen.13)
Theodektes war dichter und rhetor, und vielleicht noch mehr alsAttische
poesie und
die Poetik.
die prosa stand damals die hohe poesie unter dem einflusse des Isokrates.
Aristoteles hat diese rhetorische tragödie, die nur ein ephemeres leben
geführt hat, hoch geschätzt; ihm fast allein danken wir die verse die
wir noch lesen. er findet nichts dabei, daſs die tragiker statt der
unübersehbaren fülle der stoffe, die Sophokles und Euripides behandelt
hatten, nur noch ein par vorwürfe immer wieder vornehmen, lauter
grelle grausame sujets, muttermord, kindermord, wahnsinn, blutschande.
die kunst des dichters war also eine fast nur formale: das dramatische
konnte gar nicht mehr die tragödie machen, macht es ja auch nicht in
der theorie des Aristoteles. aber ein fester stil war da, wie wir nach
der analogie der prosa gern glauben, mit höchstem raffinement aus-
gebildet. dieser stil zog den Aristoteles an. einen ganz anderen, der
logischen strenge und verständigen klarheit der rhetorischen poesie ab-
sichtlich entgegengesetzten, hatte die lyrik der zeit, der dithyrambus,
ausgebildet. neben den lediglich die sinne reizenden effecten der musik
und des tanzes wirkte aber auch hier der stil, keinesweges der inhalt:
auch den dithyrambus hat Aristoteles als etwas gegebenes und berech-
tigtes seiner aufmerksamkeit gewürdigt. er kam aus einem thrakischen
winkel in die capitale, und er war blutjung: es war nur recht, daſs er
die genüsse des attischen theaters nicht verschmähte: die wirkung der
tragödie hat er an sich selbst erlebt. Homer und Archilochos, auch wol
Simonides kannte er aus den schulen seiner heimat; Alkman und Pindar,
von den dorischen weiblein zu schweigen, sind ihm zeitlebens fremd
geblieben. er hatte sehr starke aesthetische neigungen, wie wir das
nennen, und ist dadurch zum begründer der litteraturgeschichte geworden,
zu der er in seinem dialoge über die dichter die grundlinien gezogen
hat.14) allein die geschichte war ihm auch hier nur mittel zum zwecke,
der theorie des stiles. es ist ihm nicht eingefallen, als gesetzgeber auf-
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 21
[322]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
zutreten, sonst hätte er nicht die gattungen der poesie hinnehmen können,
wie sie eben geschichtlich, das heiſst mehr oder minder zufällig, für ihn
gegeben waren, und seine Poetik sogar nur auf die zur zeit gepflegten
dichtungsarten beschränken können. er hat den bedeutenden schritt
des überlegenen verstandes getan und die theorie des stiles, die Isokrates
für die prosa vollendet hatte, auf alle menschliche rede, also auch die
poesie ausgedehnt. er geht auch hier so vor, daſs er die dem dichter
praktisch gestellten aufgaben15) und die vorhandenen lösungen derselben,
die poetische litteratur, zur grundlage nimmt; für ihre beurteilung hat
er, wie für alles menschliche ποιεῖν und πϱάττειν die richtigen ge-
sichtspunkte gefunden, er fragt nach ἔϱγον und ὄϱγανα, nach οὗ ἕνεκα
und δι̕ ὧν. gewiſs ist dabei etwas bedeutendes herausgekommen. allein
das spürt man auch noch in der Poetik, daſs ihn der stil, die grenzen
zwischen poesie und prosa und zwischen den einzelnen gattungen, zu-
erst überwiegend beschäftigt hatten16); es ist das seinen fortschreitenden
[323]Attische poesie und die Poetik.
rhetorischen studien analog. und schwerlich würde so viel ganz unaristo-
telisches und ungriechisches in die Poetik hineingelegt worden sein,
wenn die aesthetiker an die ἔλεοι des Thrasymachos und die wirkung
des λόγος der stilkünstler gedacht hätten, die mit dem zauber von Sirenen
Kirke und Gorgo oft genug verglichen wird.
Wer die stilistischen formen so hoch schätzt und so feines gefühl
für sie besitzt, der hat sich auch selbst in ihnen zu bewegen versucht.
nur die eigene übung lehrt verstehen, wie es gemacht wird. wenn die
vorträge des Aristoteles neben den tagebüchern des Hippokrates für uns
die ersten proben einer griechischen rede geben, die wirklich nur zeichen
für den gedanken ist, so enthalten sie doch auch schon fast die ganze
skala der darstellungsarten, die ein vortrag durchlaufen kann, bis zu der
groſsen schlichten erhabenheit, z. b. im letzten buche der Ethik, die zu
den schwersten aufgaben gehört. groſse partien, z. b. der Tiergeschichte,
geben in ihrer vornehmen einfachheit ein muster wissenschaftlicher dar-
stellung, zu dem ich wieder nur hippokratische werke als vorläufer an-
führen kann, auch ein höchstes und schwerstes der stilistik. das ist der
echte Aristoteles, wie er auf eigenen füſsen steht. nicht minder tut es
der einfach aber kunstvoll erzählende verfasser der Politie. sehr ver-
schiedene und meist fremde töne hat der jüngling angeschlagen. er
hat mit Platon wetteifern wollen, und zwar dem Platon des Phaidros,
und er hat sich auch in den formen der poesie versucht17): wir merken
überall den klugen des stiles sicheren kunstrichter, freuen uns an dem
menschen und bewundern die hellenische Muse, die es den ihren leicht
machte, zu sagen was sie litten. aber ein dichter ist Aristoteles nicht
gewesen, wie er es ja nicht hat sein wollen. ein gedicht, wie Platons
epigramme auf Dion oder Aster ist ihm nicht gelungen.
Neben Isokrates stand die eigentlich advocatische beredsamkeit, die
specifisch attische, die in Lysias ihren begründer hatte, einen wahrhaft
bewundernswerten meister in Hypereides finden sollte. für manche und
wahrlich unverächtliche kunstrichter ist dieser stil, der durch seine
16)
21*
[324]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
scheinbare einfachheit und schmucklosigkeit wirkt, ungleich genieſsbarer
als die aufdringliche pracht des Isokrates. aber weil sie fester regeln
und strenger technik entbehrt, hat Aristoteles sich wenig für sie in-
teressirt. inhaltlich konnte sie ihm überhaupt nichts bieten. die ko-
moedie, die er als junger mann spielen sah, war nicht mehr die groſs-
artig phantastische des Aristophanes und war noch nicht das bürgerliche
lustspiel, das vielmehr erst durch die scharfe menschen- und charakter-
beobachtung, die er selbst lehren sollte, zu seiner vollen entfaltung ge-
langt ist. wer dem Menandros den weg geebnet hat wird für Aristo-
phanes wenig neigung besessen haben. so ist es. Aristoteles fand an
den grobianischen späſsen gar kein gefallen, und das leichtfertige spiel
der phantasie, das seine glänzendsten erfindungen plötzlich irgend einem
andern einfalle preis gibt, das weder eine handlung noch einen charakter
durchzuführen sich bemüht, das mit voller virtuosität die verschiedensten
töne anschlägt, aber keinen eigenen besitzt, es sei denn die ächt attische
χάϱις, die freilich über allem schwebt: das alles bildete zwar für Platon
trotz seiner asketischen moral den gegenstand vollster bewunderung,
aber Aristoteles, verfügend über den feinen witz des mannes von welt,
war zwar für die einzelne glückliche situation oder das einzelne witz-
wort empfänglich: im ganzen vermiſst er eben den stil, und so hat er
mehr wie Isokrates denn wie Platon zur alten komoedie gestanden. die
reste seiner theoretischen betrachtung geben sehr vieles über das lächer-
liche, aber gar nichts über die komoedie als ganzes, und schwerlich
liegt das bloſs an der unfähigkeit der excerptoren.18) wir aber dürfen
wol sagen, daſs wer in der alten komoedie bloſs zoten und possen,
zuweilen eine gelungene situationskomik und viele glückliche worte an-
erkennt, aber ihre persönliche polemik als ἰαμβικὴ ἰδέα ganz verwirft
und dafür ganz unempfänglich ist, daſs dieser zauberspiegel das glän-
zende bild einer groſsen zeit und eines ganzen volkslebens fest gehalten
hat, auch für diese zeit und ihr volksleben kein verständniſs besessen
haben kann.
Für seine poetik verdankt Aristoteles überhaupt so ziemlich alle
bedeutenden grundgedanken dem Platon19), insbesondere den frucht-
barsten der μίμησις; nur das stilkritische und alles was die λέξις an-
geht, hatte jener verschmäht. für die rhetorik hatte Isokrates selbst
schon, so viel in seinen kopf gieng, aus dem Phaidros gelernt, mehr
noch aus dem verkehre mit dem ihm damals geneigten verfasser.20) dann
aber konnte Aristoteles die isokrateische routine nur dadurch wissen-
schaftlich machen, daſs er aus der platonischen begriffsphilosophie eine
wirkliche logik entwickelte: was denn doch wol für alle zeiten sein
gröſstes absolutes verdienst bleiben wird. denn weil er diese schuf, ward
er der vater aller wissenschaftlichen methode.
Platons lehre ist es also, ohne die selbst auf diesen gebieten, zuPlaton und
das wahre
lebensideal.
denen er ihn nicht direct geführt hat, Aristoteles seine erfolge gar nicht
hätte erringen können. es ist der in wahrheit entscheidende moment
in seinem leben gewesen, als dieses lehrers rede sein junges herz er-
weckte: er vernahm die stimme die ihn berief, er gelobte sich dem be-
rufe, und er hat das gelübde gehalten. schwerlich hat ein zweites mal
auf dieser erde ein solcher meister einen solchen jünger geworben. was
jener moment für die menschheit bedeutet: dafür genügt es Raffaels
schule von Athen zu betrachten. aber es geziemt sich auch zu bedenken,
was er für die beiden groſsen und guten menschen bedeutet hat. ver-
gebens fragen wir, ob Platons seele von Eros zu Aristoteles hin-
gezogen worden ist: Aristoteles hat sich von dem munde des meisters
nicht wieder losreiſsen können, so lange noch ein wort und ein atem-
zug diese lippen bewegte. er fand bei Platon nicht nur die lehre sieg-
reich behauptet, daſs der mensch nur glücklich ist, wenn er gut ist, daſs
er aber, wenn er gut ist auch glücklich ist: dies hohe wort sah er in
[326]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
Platons person wahr gemacht. wenn Apollon geschwankt hatte, als
Lykurgos sein haus betrat, ob er ihn als gott oder menschen begrüſsen
sollte, wenn Platon seinem sterbenden meister den besitz des vollen,
auf dem frieden mit gott und dem eigenen gewissen beruhenden glückes
zugesprochen hatte, so schaute der junge Aristoteles zu Platon in der
tat als zu einem gotte auf.21) damit hatte er auch für sein eigenes leben
den inhalt und das ziel gefunden: der inhalt eitel arbeit und mühe für
die wissenschaft, das ziel die wonne, das ewige anzuschauen und das gött-
liche in der eigenen seele frei und mächtig werden zu lassen. selbst
Platon hat für die würde des ϑεωϱητικὸς βίος keine eindringlicheren
worte heiliger begeisterung gefunden als Aristoteles am schlusse der
Ethik: die πειϑανάγκη des unwiderleglichen logikers erreicht dasselbe
wie das hehre dichterwort des propheten. sie würden es aber beide nicht
erreichen, wenn wir nicht die guten und groſsen menschen darin zu
uns reden hörten, die also gelebt, entsagungsvoll gearbeitet haben und
glücklich geworden sind. doch dies unser wort sagt zu viel und zu
wenig: εὐδαίμονες sind sie geworden, obwol die εὐτυχία ihnen in vielem
gefehlt hat.
Als Aristoteles sich für die wissenschaft entschied und in den verein
des Platon eintrat, entschied er für sein leben. mit plänen, wie sie
sein vormund etwa gehabt haben mochte, mit einem leben voll ansehn
macht ehren reichtum und genüssen, wie es die welt suchte und Iso-
krates es allein begriff, hatte er gebrochen. er hatte am scheidewege ge-
standen und sich für den schmalen pfad entschieden. das hat er, der
verständige, mit dem vollsten bewuſstsein seines schrittes getan, und in
einer seiner jugendschriften hat er davon rechenschaft gegeben. ist es
doch das schöne recht des jünglings, für das ideal, das er sich gewählt
hat, zu werben: so schrieb denn Aristoteles seinen ‘Mahnruf zur wissen-
schaft’, seinen πϱοτϱεπτικὸς εἰς φιλοσοφίαν. dies buch zu lesen
sehnt sich am meisten, wer zu Aristoteles ein persönliches verhältnis
gewonnen hat: hier redete hinreiſsend der apostel des platonischen gottes-
reiches. und die unvergänglichen gedanken haben ihre macht trotz allen
metamorphosen der worte bewiesen an den verschiedensten menschen-
seelen.
Als Marcus Cicero die unzulänglichkeit des φιλότιμος βίος fühlte
und sein warmes und edeles herz an der rhetorik kein genüge mehr
fand, da hat er dem worte willig sein ohr geliehen, das ihn zu höherem
[327]Platon und das wahre lebensideal.
und reinerem streben rief. er hat das aristotelische gold umgemünzt
für sein volk und seine zeit, und in dieser form hat es den Augustinus
zur einkehr in sich selbst gebracht, hat es den Boethius im kerker ruhig
sterben gelehrt. und wie vielen herzen haben diese beiden vermitteler
kraft und trost gespendet, indem sie ihnen den letzten nachhall der
aristotelischen rede zuführten. wie ganz anders würden auf uns die
vollen töne der echten rede wirken.
Aristoteles hatte die form einer rede an einen kleinen und obscuren
kyprischen fürsten Themison gewählt.22) das war keine platonische form,
sondern eine isokrateische, und so wird uns offenbar, daſs er in der tat
die concurrenz mit Isokrates gesucht hat. denn an den kyprischen
fürsten Nikokles hatte jener seine hochgefeierte rede über die aufgabe
des königtums gerichtet, die zugleich das wesentliche von dem entwickelte,
was der rhetor als moral begriffen hatte und verkündete. daſs die pla-
tonische schule, die selbst auf die mächtigen der erde rechnete, den
Isokrates auf diesem gebiete überbieten mochte, ist verständlich. Aristo-
teles aber konnte aus den erfahrungen seiner eigenen seele die über-
windung des niedern lebensideals durch das höchste des wissenschaft-
lichen lebens schildern. er tat es durchaus in der verfolgung platonischer
gedanken und mit der nämlichen übertreibung, die Platon praktisch
oder auch unpraktisch in Sicilien betätigt hatte, als er auf den tischen
des jungen Dionysios, die sonst von wein schwammen, mathematische
figuren zeichnete, im glauben, so den ächten fürsten zu erziehen.
Denn so fern auch ihre ganze geistesrichtung und arbeit dem poli-
tischen leben zu liegen scheinen mag, die philosophen dachten darüber
anders: die könige sollten philosophen werden, auf daſs die menschen
gut und glücklich würden. sie wollten wirklich bekehren: herrschen
wollten sie nicht selbst, aber doch herrschen lehren. Aristoteles hat es
mit angesehen, wie Platon die ganze moralische und auch die materielle
macht der Akademie aufbot, um erst durch, dann gegen Dionysios II Syrakus
für seine politischen plane zu erobern. die trümmerhafte überlieferung
versagt uns gerade die vorbereitung der expeditionen Dions zu über-
schauen, aber dieser hat unmöglich in Athen seine rüstungen machen,
Athener und andere wider eine vom staate Athen anerkannte regierung
[328]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
anwerben, ja nur als prinz und praetendent dort leben können, ohne
daſs der staat Athen davon notiz nahm, von dessen seite duldung schon
eine mächtige unterstützung war. in der tat wäre es für die macht-
stellung des athenischen staates etwas ungeheures gewesen, wenn in
Syrakus eine herrschaft sich festgesetzt hätte, die ihre moralische stütze
in Athen hatte. es war keine wiederholung der expedition des Alkibiades,
aber man konnte doch hoffnungen hegen, die sich zu denen von 416
verhielten wie der seebund von 365 zu dem attischen Reiche. so lieſsen
denn Kallistratos und Timotheos den Dion und den Platon gewähren.
so hoch die hoffnungen geflogen waren, so tief war der fall. Platon
hat an den glänzenden aber blendenden mann, den er als letzten am
heiſsesten geliebt hatte, den glauben nicht verloren: aber er ist ver-
düstert und verbittert worden, fast möchte man sagen, er hat lieber den
glauben an die allmacht des guten verlieren wollen.
Freund-
schaft und
liebe.Aristoteles hatte durch den verlust eines zärtlich geliebten persön-
lichen freundes, des Kypriers Eudemos, der in Syrakus fiel, eine erschütte-
rung seiner seele zu erfahren, die uns besonders wertvoll geworden ist,
weil sie uns wieder einen einblick in das empfindungsleben des jünglings
verstattet. Eudemos war mit todesahnungen in den krieg gezogen, und
Aristoteles hat den wundern geheimnisvoller seelenkraft nicht nur nicht
den glauben versagt, sondern den schmerz zugleich und den trost, den
ihm sein platonischer glaube gewährte, in einem ergreifenden buche nieder-
gelegt, seinem hohen liede von dem göttlichen adel der menschenseele. so
dringt doch ein hauch zu uns von jenem unendlich reichen leben ge-
mütstiefer jünglingsfreundschaft und mannestreue, das in dem garten
um den Erosaltar keusch und still geblüht hat. man muſs freilich
hellenisch und sokratisch zu empfinden gelernt haben, wenn man das
würdigen soll. man wird es ja nicht beschönigen, daſs es ein miston
ist, wenn wir Aristoteles später aus pietät gegen einen verstorbenen
freund und aus mitleid ein weib nehmen sehen, dem er das zeugnis
ausstellt, ‘sie wäre übrigens auch brav und gut’23), und ein weiterer
miston, wenn wir am sterbebette des groſsen mannes eine concubine
finden, die er auch für den fall, daſs sie heiraten wolle, im testament
bedenkt, die aber mit ihrem und seinem sohne nichts mehr zu tun
haben wird. es ist das die stellung des weibes in der welt des Aristo-
[329]freundschaft und liebe. bestreitung der ideenlehre.
teles.24) aber die menschliche seele fordert sich ihr recht zu lieben und
zu schwärmen und dadurch zu leiden. so hat sie es auch in dem kreise
der Akademie getan, anders und doch ähnlich wie in den hallen und
auf den ringplätzen nebenan. und menschlich näher rückt uns der
übermenschliche weisheitslehrer, wenn wir ihn die regungen der maien-
zeit des seelenlebens auch erfahren sehen.25)
Und nun erlebte er was ihn zum manne machte. den EudemosBestreitung
der ideen-
lehre.
hatte noch der gläubige jünger Platons geschrieben; bald aber kam eine
krisis für seine wissenschaftliche überzeugung: er ward an der ideen-
lehre irre, er fand, daſs er sie widerlegen könnte, und, wie seine pflicht
war, widerlegte er sie. es war sein gutes recht, wenn er trotzdem nicht
aufhörte, Platoniker zu sein und sein zu wollen, so wenig Platon den
Sokrates verleugnet hatte, weil er ihn überwand. aber es war doch für
die Akademie ein aufstand im eigenen lager, und wie hätte es an kleinen
geistern fehlen sollen, die zum mindesten über pietätlosigkeit schrien?
wenn Aristoteles noch im Protreptikos selbst die erwartung ausgesprochen
hatte, die philosophie würde binnen kurzem abgeschlossen sein (ein
allerdings für die jugendlichkeit des verfassers mehr als alles andere be-
weisendes wort), so war jetzt, wenn die realität der ideen fiel, die meta-
[330]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
physik neu zu machen: wer diese negation wagte, zog damit einen
wechsel auf die zukunft, in der er etwas besseres an ihre stelle setzen
würde. er konnte nur entweder der nachfolger Platons werden oder
eine neue schule gründen: so sehen wir es an. die leidenschaften der
gegenwart werden minder klar und ruhig und gerecht geurteilt haben,
und namentlich er selbst fühlte sich menschlich dem greisen lehrer viel
zu tief verbunden, als daſs er einen bruch für möglich gehalten hätte.
Der
alte Platon.Das letzte jahrzehnt Platons muſs jedem der ihn liebt ins herz
schneiden. wenn der jüngling seine blütenträume welken sieht, so lernt
er durch leiden, auf daſs er ein mann werde. aber wenn der greis
irre wird an dem besten was er selbst sieghaft erstritten hat, was trotz
seinem abfalle bestand haben wird, nur weil er nicht mehr die kraft
hat, einen schlag zu verwinden, der doch nur das irdisch vergängliche
seines lebenswerkes getroffen hat, so beweist das einen herberen leidens-
kelch, als der schierling des Sokrates war. Platon hat es lernen müssen,
daſs das reich, das er gestiftet hatte, nicht von dieser welt war. wie
das ende des Dion und des Kallippos war, könnte man ihm nicht ver-
denken, wenn er statt an die idee des guten an die herrschaft des
radikalen bösen im menschen geglaubt hätte. welchen schwall von hohn
und gemeinheit und wolweisheit die welt drauſsen über die Akademie
ausgegossen haben mag, die sich vermessen hatte politik zu machen,
kann man sich denken: ohne den vergleich weiter gelten zu lassen,
braucht man nur an die beurteilung zu denken, die das immer strebend
sich bemühende geschlecht der staatsmänner von gestern und heute
für die hohe und reine vaterlandsliebe der professoren in der Pauls-
kirche hat. wie schal und flach und unerquicklich ist doch das ganze
treiben dieser welt: so klagt Hamlet, weil er nicht die energie in sich
fühlt, die welt in ihre fugen einzurichten, wie er müſste. Platon hatte
es versucht, und hatte es nicht vermocht. was wunders, daſs ihm der
heraklitische spruch in den sinn kam, das weltenregiment ist das eines
spielenden kindes, αἰὼν παῖς ἐστι παίζων πεσσεύων, παιδὸς ἡ βασιλῄη.
spiel ist unser erdenleben: lasset uns nur dafür sorgen, daſs wir gott
wolgefällig spielen, so sagt er nun mehr als einmal. oder es steigt
ihm auch der gedanke auf, daſs neben der idee des guten nicht bloſs
die tote und in ihrer trägheit widerstrebende materie stünde, sondern
eine negativ wirkende kraft, eine böse seele der welt: das gespenst des
teufels erscheint dem höchsten propheten der allmacht des guten.26)
[331]Der alte Platon.
oder es flüchtet sich die speculation immer tiefer in das reich des
abstractesten denkens; die abstrusen wahngebilde der Pythagoreer, die
realität der zahlen, drängen sich vor die realität der form, des begriffs:
das hexeneinmaleins, der tiefsinn des absurden, steigt wie eine schwarze
wolke an dem aetherklaren himmel dieses attischen geistes auf. dazwischen
aber rafft er sich wieder empor, schaut der wahrheit klar ins auge, daſs
er zu hoch gestrebt, der welt zu viel zugemutet habe, und nun mit
bescheideneren formen und in engeren grenzen den neubau versuchen
müſste. so versucht er den neuen staat. auf neuem lande will er ihn
bauen, wie die entsagenden Auswanderer Goethes; aber er schlieſst sich
doch dem altheimisch gegebenen weit enger an als vorher. die gesetze
der eigenen vaterstadt studirt er jetzt und findet gar vieles, das er bei-
behalten kann; liebevoll versenkt er sich in die bedürfnisse des lebens,
auch der geringen und der kleinen, sinnt über die kleinkinderschule,
über das lesebuch und den mathematischen unterricht der kinder, pflanzt
bäume und umfriedigt quellen, und verbietet fischefangen und vogel-
stellen, weil es manchen guten gesellen verdirbt. auch über das höchste
sinnt er: die weltgeschichte vermag er als eine fortschreitende ent-
wickelung auch aus der art und lage der siedelungen zu betrachten,
und die beiden wurzeln der gottesverehrung, das rätsel des seelenlebens
und die wunder der gesetzmäſsigen naturerscheinungen, werden ihm
offenbar.27) so lebt er weiter, lehrt er weiter, schreibt er weiter. es
ist greisenhaft: γῆϱας, γῆϱας δ̕ ὅμως Ὁμήϱου würde der schriftsteller
26)
[332]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
vom Erhabnen sagen. Platon weiſs es selbst, es ist μυϑολογία, ein
gott wolgefälliges spiel mit märchen. weit gefehlt, daſs das realität
werden könnte oder sollte: die künstlerische kraft, vielleicht sogar der
wille ist nicht mehr vorhanden, diese skizzen zu einer einheit oder dem
scheine einer einheit zu formen. er schreibt nur weiter und weiter,
bis ihm der tod die feder aus der hand nimmt. wir aber ehren und
lieben auch des greises werk als ein heiliges vermächtnis; in seinen
sprüngen widersprüchen und wunderlichkeiten können wir den greis
nicht verkennen, und wenn auch hier goldes genug vorhanden ist um
dutzende von armen schächern reich zu machen: der Platon, der uns
den weg zum himmel weiset, ist der des Staates, nicht der der Gesetze.
So hat auch Aristoteles geurteilt, der sogar den Gesetzen, so viel
anregung für das einzelne sie ihm gegeben haben, im ganzen vielleicht
weniger studium zugewandt hat, als sie verdienen28); sie erschienen ja
auch erst, als er von Athen schon entfernt war, und für die leute die
damals in der Akademie geboten, hatte er wenig übrig. aber so lange
Platon lebte, hat er treulich ausgehalten, unbeirrt dadurch, daſs er die
ganze letzte phase von Platons philosophiren innerlich nicht mitmachen
konnte, und je mehr er seiner selbst sich bewuſst ward, auch das durch-
schaute, was ihn zu seinem lehrer in gegensatz stellt.29) seine logik
[333]Der alte Platon. Platons tod.
bewahrte ihn vor der zahlenspielerei und der mystik; seine kräftige
männlichkeit fühlte sich nur zu weiterem und immer weiterem forschen
durch alle reiche der natur angeregt, erfaſste das problem des lebens
aller wesen von den sternengöttern bis zum niedrigsten wurme nur um
so energischer, wenn die politischen pläne gescheitert waren. die wissen-
schaft hatte ja keine niederlage erlitten, und er war dabei ihre grund-
festen neu und sicherer zu legen. so hat er die letzten jahre bereits
als ein stern von eignem lichte neben dem meister gestanden. wir erfahren
(auſser dummem klatsch) auch über diese jahre nichts: aber die tatsache,
daſs er aushielt, legt für des jüngers treue pietät das schönste zeugnis ab.
Als Platon 347 starb, folgte ihm sein neffe Speusippos als schul-Platons tod.
haupt. Aristoteles und Xenokrates folgten der einladung eines schul-
genossen, des tyrannen Hermias von Aterneus. der asketische welt-
flüchtige Xenokrates hat mit Aristoteles seiner ganzen natur nach
wenig gemein gehabt, und je mehr sie sich entwickelten, je ferner
sind sie einander innerlich gekommen; Platon selber hatte schon be-
merkt, daſs an der wiege des Xenokrates die Grazien ausgeblieben
waren. Speusippos war in die sicilischen dinge am tiefsten ver-
wickelt gewesen und wol den beiden, die 347 fortgiengen, gleich wenig
angenehm. Herakleides, so glänzend begabt und so vielseitig inter-
essirt er war, kam von der philosophie immer weiter ab; vielleicht selbst
von der ernsten wissenschaft, denn der wahre entdecker des helio-
centrischen systemes ist zugleich der verfasser wundersüchtiger romane.
an ursachen der reibung fehlte es wahrlich nicht: trotzdem ist in dieser
generation die eintracht vor der öffentlichkeit gewahrt geblieben; erst
Aristoteles hat unter seinen schülern in Aristoxenos einen unwürdigen ge-
habt, der den schulklatsch hervorzog und mit dem was er andeutete viel-
leicht am giftigsten verläumdete. einen wirklichen einfluſs auf Aristoteles
hat von seinen genossen wol nur der geograph und astronom Eudoxos ge-
habt, den er als gefeierten schriftsteller wenigstens noch in seinen ersten
jahren gekannt haben muſs. wenn er dessen ethische lehren berück-
sichtigt, die doch nicht eben bedeutend sind, so findet das wol nur
durch die persönliche beziehung eine erklärung. Eudoxos aber war der
rechte mann, dem Aristoteles die naturwissenschaft der Ionier zuzuführen:
und einen solchen vermittler suchen wir doch, wenn wir das lebens-
werk des Aristoteles als ganzes überschauen.30)
Bei
Hermias.Die lehrjahre waren vorüber; die wanderjahre begannen. bei
Hermias hat sich Aristoteles offenbar sehr wol gefühlt; er schätzte
den mann und hat ihm, als er der neu sich aufraffenden energie des
Perserreiches zum opfer fiel, die freundschaft vergolten, indem er
sich seiner pflegetochter annahm, die er später geheiratet hat.31) gelebt
hat Aristoteles nicht in Atarneus, sondern in Assos, der aeolischen stadt
am südfuſse des Ida.32) und so hat er wol hier die verbindungen an-
geknüpft, die ihm bei der katastrophe des Hermias in Mytilene nicht nur
einen zufluchtsort gewährten, sondern eine stätte für seine eigene tätig-
keit. die beziehungen der platonischen schule wirkten überall mit. wenn
wir Hermias seine macht bis an den Ida erstrecken sehen, so ist zu be-
denken, daſs in Skepsis zwei vertraute jünger Platons, Erastos und Koriskos,
lebten, deren verbindungen mit Hermias und Aristoteles auch noch von
ferne kenntlich sind.33) auf Lesbos konnte Theophrastos, vielleicht auch
Phainias, dem berühmten schulgenossen den boden bereiten: wenigstens
der erstere gehörte der Akademie an.34) die insel litt wie alle andern
30)
[335]Bei Hermias. Erziehung Alexanders.
darunter, daſs keine mächtige vormacht über ihr stand; tyrannen und
oligarchien stritten sich, und Athen, die beschützerin der demokratien,
sah sich genötigt mit den tyrannen mehr als einmal zu transigiren. für
Eresos, die heimat seiner jungen freunde, hat Aristoteles später bei
Philippos intervenirt: wir wissen ja durch die steine, wie heillos gerade
dort die verhältnisse zerrüttet waren. so war denn Lesbos, so hoch wir
auch die geistige regsamkeit der Aeoler schätzen müssen, die eine unver-
hältnismäſsig groſse zahl von philosophen gestellt haben35), aus äuſseren
gründen kein günstiger boden für eine schule, wie sie Aristoteles plante.
das erleichterte ihm den entschluſs, als könig Philippos ihn 343/2
aufforderte die erziehung seines dreizehnjährigen sohnes zu übernehmen.
durch die erwerbung der Chalkidike war Philippos der landesherr des
Aristoteles geworden, und seine herrschaft war keine leichte für die
Chalkidier36); bei seiner liebe zur heimat mochte dieser gern auch für sie
etwas gutes tun, hat es ja auch versucht und auch undank geerntet.37)
eine dauernde stellung konnte das hofmeisteramt nicht werden; anderer-
seits suchte Philippos seinen hof auf jede weise der bildung, die er
schätzte, zu öffnen, wie er denn sein volk energisch hellenisirte: hier
konnte ein feld für eine tätigkeit im sinne der Akademie sich eröffnen.
so nahm Aristoteles die berufung an, obgleich es wahrlich unter seiner
würde lag, knabenunterricht zu erteilen.
So war die situation, wie sie 343/2 den beteiligten erscheinenErziehung
Alexanders.
[336]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
muſste. ein hervorragender schüler Platons, ein glänzender schriftsteller,
aber immerhin noch kein berühmter mann, der in der welt trotz seinen
40 jahren noch keine stellung hatte, übernahm den unterricht eines
makedonischen prinzen. dieser war der erbe des königreiches; aber das
erbrecht hatte in Makedonien sehr selten auch den besitz garantirt. das
königreich war durch die energie des Philippos der mächtigste staat
Europas; aber es war keine sicherheit vorhanden, daſs seine gröſse auf
mehr als auf den beiden augen stand, und die entscheidenden gänge mit
den hellenischen staaten und mit Persien standen noch aus. daſs könig
Philippos seinen erben so gut wie möglich zu erziehen bestrebt war,
ehrt ihn gewiſs; aber kein junge von vierzehn jahren braucht den ersten
gelehrten der zeit zum erzieher, ja es pflegt der gelehrte für dieses
lebensalter nicht der rechte lehrmeister zu sein.
Da saſsen sie nun und lasen mit einander Homer und Euripides,
der trotzige königssohn mit dem ungebändigten löwenhare und löwen-
herzen und der lehrer, der gerade auf der höhe der ἀκμή stand, der
überlegene dialektiker, der feind jeder übertreibung, dem jegliche tugend
ein richtiger mittelweg schien. wie haben sie zu einander gestanden?
was hat der knabe gelernt? unsere phantasie kann unmöglich davon
absehen, was beide damals noch nicht waren, aber wenig jahre darauf
geworden sind. uns erscheint in ihnen eine wiedergeburt der schönen
gruppe Chiron und Achilleus. der zukunftkundige sohn des Kronos be-
müht sich durch die töne seiner laute und seiner weisheit die helden-
seele des halbgottes zu sänftigen und zu bändigen und facht damit nur
das feuer der begeisterung an, das diesen hinauslockt in den frühen tod,
in das ewige leben, zur ἀϑάνατος ἀϱετή. hier stand der erhabene
prophet der seligkeit des ϑεωϱητικὸς βίος vor einem schüler, der sich
das evangelium in seine sprache übersetzte und dabei blieb ‘im anfang
war die tat’. so ist er hinausgestürmt auf die pfade des Achilleus und
Dionysos, hat der welt neue bahnen gewiesen und sich mitten in einem
verständigen und aufgeklärten jahrhundert den eingang erfochten in das
reich der wunder und der märchen. das hat der lehrer nicht gewollt;
so stand es nicht in seinem Protreptikos, und wenn er auch seinen jugend-
überschwang stark gemildert hatte, so ist Alexandros doch wahrlich nicht
der könig geworden, den die Akademie oder der Peripatos wünschte. und
doch sind seiner seele die flügel gewachsen durch die lehre der weis-
heit: zu diesem adlersjüngling redete sie nicht wie eine taube. das
ungeheure streben zum göttlichen, den οὐϱάνιος ἔϱως, hat ihm der
schüler Platons mitgegeben:
[337]Erziehung Alexanders. verhältnis zu Alexander.
Ἀϱετὰ πολύμοχϑε γένει βϱοτείῳ
ϑήϱαμα κάλλιστον βίῳ,
σᾶς πέϱι παϱϑένε μοϱφᾶς
καὶ ϑανεῖν ζηλωτὸς ἐν Ἑλλάδι πότμος.
Aber in ihrem persönlichen verhältnisse hat Eros nicht gewaltet;Verhältnis
zu
Alexander.
unmöglich konnten sie einander verstehn. sobald Alexandros den thron
bestieg, zog Aristoteles aus dem unmittelbaren machtgebiete des königs
fort in eine stadt, die ihm das freie wort und die einwirkung auf das
ganze publicum, also statt der erziehung des königs die erziehung seiner
nation am besten gestattete. äuſserlich freilich ist niemals ein bruch er-
folgt; dazu waren beide männer viel zu feinfühlig und kannten auch
die formen und rücksichten der gesellschaft viel zu gut. sie haben
sogar einen briefwechsel unterhalten. aber je höher beide stiegen, je
mehr sie ihre eigenste natur zur geltung brachten, je weiter kamen sie
innerlich von einander ab. das ist das schicksal der gröſsten männer;
sie müssen vereinsamen. daſs ein entfernter verwandter des Aristoteles,
Kallisthenes, sich in eine verschwörung wider das leben des königs ein-
gelassen hatte und einer grausamen strafe verfiel, hat dazu kaum etwas
getan. daſs Alexandros für seine person göttliche verehrung forderte,
erscheint den philistern von heute ganz entsetzlich, und sie geraten in
entzücken über die opposition der philister von Athen: Aristoteles hat
sich eben den officier, der diese königliche verordnung nach Hellas
brachte, zum eidam ausgesucht. er wird die maſsregel nicht für politisch
gehalten haben, aber entrüsten konnte sie ihn so wenig wie irgend
einen hellenisch empfindenden menschen.38) der gegensatz lag vielmehr
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 22
[338]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
tiefer. das reich, das Alexandros gründen wollte, erschien dem Aristo-
teles, der die Politik geschrieben hat, notwendigerweise chimärisch, und
wo es sich um die wahrheit handelte, kannte er keine rücksicht. er
mag seine bedenken in privatbriefen geäuſsert haben; davon wissen wir
nichts: er hat sie aber auch vor dem publicum in einem offenen briefe
dargelegt. da sprach der, der nunmehr unbestritten der erste schrift-
steller der nation war, die forderung des vorranges der Hellenen vor
den barbaren, den protest gegen die auf eine verschmelzung der nationen
gerichteten plane des königs aus, und er sprach der weitaus über-
wiegenden majorität von Hellenen und Makedonen aus der seele. aber
dem groſsen könige war es auch um die sache zu tun, und so sehr er
geneigt sein mochte, die person davon zu sondern, muſste er um so
38)
[339]Verhältnis zu Alexander. verhältnis zu Antipatros.
empfindlicher verletzt werden, weil er mit worten und gründen nicht
erwidern konnte. er fuhr in seinen taten unbeirrt, vielleicht leidenschaft-
licher und hastiger fort; dann verhinderte sein tod den austrag des sach-
lichen und des persönlichen zwistes. aber daſs Aristoteles das geistige
haupt der opposition gewesen war, die Makedonen und Hellenen ihm
gemacht hatten, war so bekannt, daſs Olympias bald darauf die lüge
verbreiten konnte, Aristoteles hätte das gift gemischt, das Iollas, der
sohn des Antipatros, dem könige gereicht hätte.39)
Olympias wollte mit dieser erfindung nicht den toten philosophen,Verhältnis
zu
Antipatros.
sondern den Antipatros und seine familie treffen und zog deshalb dessen
freund hinein. diese freundschaft ist das wertvollste was Aristoteles in
Makedonien gefunden hat. der nüchterne, besonnen wägende aber dann
rücksichtslos handelnde staatsmann hat zu dem jüngeren philosophen
ein auf der inneren verwandtschaft ihres wesens begründetes herzliches
verhältnis gewonnen, das bis zu ihrem tode ungetrübt geblieben ist,
und das beide ehrt. daſs der freund des Aristoteles während der ganzen
zeit, die diesem als schulhaupt zu wirken vergönnt war, der herr der
Hellenen war und mit wunderbarem geschicke ordnung und ruhe fast
überall und immer zu erhalten wuſste, hat notwendiger weise auch die
äuſsere stellung des philosophen gehoben. trotz der gegensätze, die
zwischen Alexandros und Antipatros entstanden waren, muſste sich die
22*
[340]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
empörung, die der tod des königs weckte, in Hellas wider Antipatros
richten, und eben deshalb auch wider Aristoteles. so kommt das rück-
sichtslose strafgericht, das Antipatros über Athen verhängte, auch für
die beurteilung des Aristoteles in betracht, obwol er es nicht mehr er-
lebt hat. beide männer haben ohne zweifel von einander gelernt; aber
fertige männer waren sie, als sie sich kennen lernten, und sie besaſsen
beide zu viel eigenes, als daſs sie nicht geblieben wären, was sie waren,
Makedone und Hellene, staatsmann und gelehrter.
Verhältnis
zu
Philippos.König Philippos hatte zu viel zu tun, um sich dem hofmeister
seines sohnes nähern zu können. die ungezügelte sinnlichkeit, der
er im gegensatze zu Antipatros fröhnte, die lärmende und zum teil
wirklich schlechte gesellschaft, in der er sich wol fühlte, und die Theo-
pompos trotz aller bewunderung des königs gebrandmarkt hat, die
soldatische natur des Makedonen überhaupt konnte den Aristoteles nur
abstoſsen. trotz aller väterlichen sorge für den sohn wuſste der vater
auch zu diesem kein verhältnis zu gewinnen, weil er dessen mutter in
ihren frauenrechten kränkte. die schuld war vielleicht mehr auf der
seite der herrschsüchtigen und adelsstolzen frau aus dem stamme des
Achilleus, und sicherlich hat Alexandros noch mehr als kronprinzen
überhaupt und selbst als geniale kronprinzen dürfen die pietät ver-
letzt. aber in solcher nähe, wie der erzieher sie sieht, gesehen zerstören
diese familienverhältnisse nur zu leicht die achtung vor den hochgestellten
personen, zumal wenn keine eingebornen loyalitätsgefühle mitsprechen.
so hat denn tatsächlich Aristoteles von dem makedonischen hofe nur eine
anzahl häſslicher anekdoten mitgebracht. der staat Makedonien ist ihm
vielleicht ganz fremd geblieben; wenigstens sein politisches urteil trägt
keine spuren davon, daſs er das wesen einer feudalmonarchie oder auch
nur die organisation des land- und hofadels, der garde, des cadetten-
corps u. dgl. beachtet hätte, so viel er im groſsen und kleinen davon
hätte brauchen können. auch seine politisch-geschichtlichen und selbst
seine naturwissenschaftlichen werke scheinen nicht zu beweisen, daſs
er seine kenntnisse durch die makedonischen jahre stark erweitert hätte.
wol aber hat er zum denken und arbeiten ohne zweifel sehr viel muſse
gehabt. gerade in den jahren, wo sein zögling für tiefere studien reif
gewesen wäre, ward dieser in die kriege und die politik, zuletzt sogar
in üble palastintriguen gezogen; ob Aristoteles damals überhaupt noch
am hofe war, ist gar nicht einmal sicher. die freie arbeitszeit war jetzt
das einzig angenehme in seiner stellung; aber er war nun 48 jahre alt:
er war auch des wanderns und lernens müde, er wollte handeln, das
[341]Verhältnis zu Philippos. gründung der schule.
hieſs für ihn, lehren. so gieng er nach Athen und gründete die schule
im Lykeion, sobald Alexandros den thron bestiegen hatte. die meister-
jahre begannen.
Vorträge hatte Aristoteles schon zu Platons zeit gehalten. das hätteGründung
der schule.
er auch neben Xenokrates in der Akademie tun können; er würde selbst
als nachfolger Platons dort nicht anders zu reden gebraucht haben, als
er im Lykeion getan hat. wenn er einen neuen wissenschaftlichen
verein gebildet hat, so liegt darin trotz aller pietät für Platon und aller
rücksicht gegen Xenokrates, daſs er den beruf zum schulhaupt in sich
fand und der ansicht war, die Akademie genüge nicht mehr für die
bedürfnisse der wissenschaft und der nation. zwar der wissenschaft
hätte sie ja sicherlich wieder genügt, wenn Aristoteles nur in ihre hallen
zurückgekehrt wäre. zoologie und botanik, dialektik und metaphysik
konnte er auch dort lehren; mathematik und astronomie ist so wie so
mehr dort als unter ihm getrieben worden. aber seit dem scheitern
der sicilischen plane war die Akademie dem praktischen leben ent-
fremdet. mehr noch als der greise Platon, der doch immer Athener
blieb, war der Chalkedonier Xenokrates gesonnen, nunmehr sich in der
reinen sphaere der wissenschaft zu halten und die welt drauſsen ihren
sünden und lüsten zu überlassen. er lebte selbst als loyaler schutz-
verwandter des staates Athen, geachtet als charakter und gelehrter, aber
er war keine macht im öffentlichen leben und wollte es nicht sein.
zwei menschenalter hat die Akademie diesen klösterlichen charakter be-
wahrt40). das lärmende und nervöse volk des marktes erkannte wol
einen stolz der stadt auch darin, daſs ein par tausend schritt vor dem
stadttore in einem der gärten des ölwaldes eine anzahl seltsamer greise
und männer wohnten, die man kaum je auf der straſse oder im theater
sah, und die eine fabelhafte weisheit und frömmigkeit besaſsen, gute
leute, die jedes verlaufene rebhuhn pflegten und schützten und für
jedermann schöne worte des trostes und der erbauung hatten. aus den
fernsten ländern kamen die jünglinge um sie zu hören, und auch die
athenischen väter hatten es gern, wenn ihre söhne eine weile an den
disputirübungen und vorträgen der Akademie teil nahmen, denn da war
viel unnützes aber nichts schädliches zu lernen. aber das war alles:
[342]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
es war eben niemand da, der mit mund und feder zu seinen Athenern
und seinen Hellenen zu reden vermocht hätte wie Platon oder auch
Herakleides und Aristoteles als junge Akademiker.41) und wenn in
der diadochenzeit diese abkehr von der welt vielleicht berechtigt scheinen
konnte, (wo denn ein par schritte weiter der garten des Epikuros dem
weltflüchtigen einen eben so sichern hafen bot): in der demosthenischen
zeit war weder Athen noch Hellas so klein und so schwach, daſs eine
philosophie die würdige fortsetzerin der Platonischen Akademie hätte
scheinen dürfen, die Sokrates, den mann des lebens und des tages, den
bürger und den ratsherrn, völlig verläugnete. das war nur die hälfte
der Sokratik: die andere gehörte dann dem hunde Diogenes, der die
wissenschaft preis gab, auch den staat preis gab, aber dafür unter das
volk des marktes sich mischte, als arzt der kranken seelen und gewissen,
als prediger der tugend auf der gasse.
Zwischen beide, über beide trat als ächter erbe Platons Aristoteles
und seine schule, in der Theophrastos und Demetrios, Aristoxenos und
Dikaiarchos, Duris und Menandros gebildet sind. er hat freilich für die
ewigkeit vornehmlich durch die streng wissenschaftliche specifisch philo-
sophische forschung gearbeitet, die ‘grundlegende wissenschaft’, wie er
es nannte, metaphysik, wie wir es in übeler umkehrung des verhält-
nisses nennen und betreiben, und die daran sich schlieſsende physik
und logik: aber für die absichten und die erfolge des Aristoteles in
seiner zeit und unter seinem volke ist dem mindestens gleichwertig, was
er politik nennt, der sich ethik und rhetorik unterordnen. er erzieht
eben die menschen für das leben, und das leben im staate gehört für
ihn zum menschen seiner natur nach. auch das individuum, das sich
den wonnen des anschauens, dem ϑεωϱητικὸς βίος ergibt, braucht als
hintergrund den staat, und ist kein ganzer mensch, wenn es sich gegen
diesen indifferent verhält. von der mannestugend ist die bürgertugend
ein teil. zu den menschenrechten gehört mit der freiheit auch die teil-
nahme an dem staatlichen leben: ethik und politik gehören zusammen.
der lehrer, der seinen schülern den weg zur ἠϑικὴ ἀϱετὴ weist, muſs
ihn auch zur πολιτικὴ ἀϱετὴ weisen. die ethik kommt vom ἦϑος
[343]Gründung der schule. verhältnis zu Athen. Athen 370—50.
her, das ist dem menschen individuell eigen; aber der mensch steht in
der gemeinschaft, der πόλις, ist ᾗ ἄνϑϱωπος auch πολίτης. und weil
das ganze gegenüber dem teile πϱότεϱον φύσει ist, geht die politische,
die bürgertüchtigkeit, der ethischen, der individuellen charaktertüchtig-
keit voraus und ist ihr übergeordnet. die tüchtigkeit des bürgers, des
πολίτης, ist bedingt durch die qualität der gemeinschaft, der πόλις,
der er angehört. wer also vollkommene menschen schaffen will, muſs
vollkommene bürger schaffen, wer vollkommene bürger, einen voll-
kommenen staat. das sind zwingende schlüsse, die jeder, der die ethik
und politik griechisch lesen kann und bei griechischen worten die grie-
chische, nicht die abgeblaſste philosophische bedeutung, in der wir sie
anwenden, hört, dem Aristoteles zugeben muſs. dann erwuchs aber
für den lehrer der menschen und der nation die aufgabe, zum politi-
schen urteilen und handeln zu erziehen, ganz von selbst. das erbe
Platons schloſs sie ebenfalls in sich. Aristoteles wirkt durch die poli-
tische theorie nicht um der theorie allein, sondern auch um der praxis
willen, so gewiſs er die menschen nicht bloſs das wesen der tugend er-
fassen, sondern tugendhaft handeln lehrt.
Er lehrt in Athen, der geistigen capitale von Hellas, der capitaleVerhältnis
zu Athen.
der demokratie. dorthin kehrt er 335 zurück, nach zwölfjähriger ab-
wesenheit, die ihn nirgend heimisch gemacht hat, an den ort, wo er
zwanzig jahre, vom zarten jünglingsalter bis zur mannesreife gelebt
hatte. es könnte gar nicht anders sein, als daſs das politische leben,
das er in theorie und praxis hier vor augen gehabt hatte, das ihn nun
wieder umgab, von der gröſsten bedeutung für sein eigenes urteil ge-
worden wäre. daſs er als fremder niemals auch nur in die ver-
suchung geführt werden konnte, in dieses leben einzugreifen, eine ver-
suchung, der Platon nur mit selbstüberwindung stand gehalten hat,
konnte ihm wenigstens subjectiv die zuversicht gewähren, daſs er ganz
unbefangen urteilen könnte.
Das Athen der sechziger und funfziger jahre hat ihm zuerst eineAthen
370—50.
ganz erbärmliche ideenlose und kraftlose staatsverwaltung gezeigt. der
achtungswerte aufschwung, den Athen bald nach der schande des königs-
friedens nimmt, und dessen litterarischer ausdruck der panegyrikos des Iso-
krates ist, hatte nur etwa bis zur schlacht von Leuktra vorgehalten. als
Epaminondas einen thebanischen staat bildet und bald die peloponne-
sische machtstellung Spartas zertrümmert, verlor die athenische politik
gänzlich die bussole. wer eingeschworen war auf den glauben an die
landmacht Sparta und die seemacht Athen, wie Isokrates, und über die
[344]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
schatten der welt seiner jugend nicht herr werden konnte, der sah in
Theben den feind und trieb die reactionäre politik, die in der hilſs-
sendung nach Mantineia ihren deutlichsten ausdruck gefunden hat. das
zwang Theben zu dem versuche einer flottengründung, zum anschlusse
an Persien und der bedrohung des attischen bundes. die boeotische
partei in Athen empfieng in wahrheit ihren impuls von dem über-
legenen genie des Epaminondas und blieb fast immer in der oppo-
sition. Theben selbst aber kam auch zu keiner festen stellung gegen-
über Athen, mit recht, da es diese macht zunächst nur möglichst auſser
action halten muſste. der tag von Mantineia zeigte, daſs in den Boeotern
die eigene kraft nicht wohnte, die dominirende stellung, die sie einem
groſsen manne verdankten, zu behaupten. die internationalen verhältnisse
der hellenischen staaten versumpften. der hoffnungsvolle anfang des
attischen bundes war unterdessen so wenig zielbewuſst fortgesetzt worden,
Athen hatte so wenig verstanden, entweder die bundespolitik von 378 oder
die reichspolitik des fünften jahrhunderts, die sich einander ausschlossen,
rein zu verfolgen, hatte die pflicht, die hellenischen städte des ostens vor
den barbaren nach auſsen, vor den tyrannen nach innen zu schützen,
so arg versäumt, daſs die schmachvolle katastrophe des bundesgenossen-
krieges eben da eintrat, als Athen vom festlande her freie hand hatte.
was nach dem frieden von 355 blieb, war kein wirklicher bund mehr,
sondern eine anzahl abhängiger, zum teil wirklich so verwalteter inseln
und etliche allerdings wichtige kolonien, die Athen die verpflichtung
auferlegten, eine flotte zur sicherung des meeres zu halten, und daneben
an allen ecken die gefahr schwerer kriegerischer verwickelungen mit
sich brachten. dabei stand der staat vor dem bankerott, die namhaften
feldherren und demagogen schieden fast alle, zum teil durch schwere
processe, aus dem politischen leben: man war wieder einmal so weit,
daſs man genau wuſste, so gienge es nicht weiter, anders müſste es
werden, aber wie es werden sollte, wohin der staat seinen curs nehmen
sollte, das wuſste im grunde niemand.
Isokrates, der doch der beredte herold der politik des neuen bundes
im Panegyrikos gewesen war, gab sich dazu her, die neue richtung in
der Friedensrede (eigentlich dem συμμαχικός, wie ihn auch Aristoteles
nennt) und dem Areopagitikos zu verteidigen, mit andern worten zu
lästern was er 25 jahre früher gepriesen hatte. sein alter dorfgenosse
Xenophon, der mehr als den alten haſs gegen Theben innerlich mit
ihm gemein hatte, traute sich zu, praktische volkswirtschaftliche vor-
schläge machen zu können. die staatsmänner, die ans ruder kamen,
[345]Athen 370—50.
Eubulos an der spitze, verfügten über das ehrliche streben, landwirt-
schaft, industrie und handel trotz der krisis zu erhalten und die finanzen
zu reorganisiren, was ihnen auch gelungen ist. es fehlte ihnen nicht
an der einsicht, daſs dazu eine zurückhaltende politik nötig wäre: ver-
gebens versuchten es die radikalen, Athen für die demokraten von Rhodos,
für Megalopolis oder Phokis zu engagiren. sie sahen auch ein, daſs
der herkömmliche schlendrian in der verwaltung des schatzes und der
steuern abgestellt werden müſste, was den radikalen ein eingriff in
das heilige recht der demokratie schien, das ζῆν ὥς τις βούλεται.
aber so sehr wir anerkennen müssen, daſs diese zeit die arsenale gebaut
und gefüllt hat, die schiffe armirt und die schätze gesammelt, mit denen
Demosthenes krieg geführt hat, und daſs sie auch dem Lykurgos für
seine bautätigkeit vorgearbeitet hat: eine halbheit war diese politik
dennoch und muſste sie bleiben. der rest des bundes war für Athen viel
mehr eine last als ein vorteil, und selbst die wichtigsten auswärtigen
besitzungen, die Chersones und Samos, hätte Athen mit vorteil aufgeben
können, wenn dafür die unterhaltung der kriegsflotte überflüssig ge-
worden wäre. die tausende von talenten, die diese mit allem was dazu
gehört von 355 bis 322 verschlungen hat, sind tatsächlich doch verloren
gewesen. so besaſs Athen weiter nur den schatten und die aspirationen
seiner alten stellung, und die radikalen hatten nur zu oft gelegenheit,
zumal seit Philipp die küsten vor seinem reiche zu unterwerfen begann,
forderungen zu erheben, die sehr schön noch 365 gepaſst hätten, jetzt
aber mit den tatsächlichen machtverhältnissen in schreiendem wider-
spruche standen. Eubulos hätte indessen gar nicht die macht gehabt,
gesetzt es wäre ihm in den sinn gekommen, die herrschaft des vom
staate beköstigten städtischen pöbels zu beseitigen: er konnte sich nur
halten, indem er dem volke die überschüsse der friedlichen politik und
der energischen finanzverwaltung als spielgelder in den allezeit begehr-
lichen rachen warf. die radikalen fanden, so weit sie wirkliche patrioten
waren wie Demosthenes, auch das schädlich und schändlich, aber sie
hüteten sich wol, daran zu rütteln. der demos herrschte und wollte
etwas davon haben; mit dem ruhme und dem einflusse drauſsen war es
knapp geworden, von den schönen phrasen ward er nicht satt. und die
spielgelder und löhne für ratsherrn, gerichte und volksversammlung
waren auch keinesweges bloſs den wirklich mittellosen, sondern einem
guten teile von denen angenehm und fast bedürfnis, die im kriegsfalle
als hopliten hätten dienen sollen, wenn es nicht längst abgekommen
gewesen wäre, die dienstpflicht wirklich zu leisten.
So viele unterschiede auch durch die kleineren verhältnisse, die
gesunkene volkskraft und die immer mehr abgebrauchten phrasen hervor-
gerufen werden: die ähnlichkeit der situation mit 412 nach dem
abfalle der Ionier läſst sich nicht verkennen. damals fand sich eine
menge meist wirklich patriotischer männer darin zusammen, daſs sie
frieden und erhaltung der stadt und der landschaft auch um den
preis eines verzichtes auf die groſsmachtstellung herbeiführen wollten,
daſs sie dazu eine starke beschränkung der ausgaben, ins besondere
der besoldungen, und eine vereinfachung der finanzverwaltung für
nötig hielten, was eine entschiedene einschränkung der demokratie
notwendiger weise in sich schloſs. das hat man damals ausgesprochen
und auszuführen versucht, wenn auch vergeblich. man tat es unter
dem rufe, rückkehr zur verfassung der väter, zu Solon und Drakon.
man war ehrlich genug eine verfassungsänderung zu fordern und
zu versuchen, und man wuſste genau genug, daſs die demokratie
der väter, die doch Solon selber und Homer auch eine demokratie ge-
nannt hatten, von der zur zeit geltenden verfassung recht weit ver-
schieden gewesen war. das wuſsten die Athener um 355 nur noch sehr
ungenau, wenn auch die vorstellungen in ihren umrissen und nament-
lich die schlagworte dem Isokrates wenigstens nicht entschwunden sein
konnten, der selbst zur partei des Theramenes gehört hatte. den mut,
direct dahin zu drängen, daſs die verfassung auch nur auf den zustand
von 403 zurückgeführt würde, hatte niemand. welch geheul der ent-
rüstung würde die radicale meute erhoben haben, wenn man die be-
soldungen auch nur für die volksversammlung hätte beseitigen wollen,
wo die abschaffung der persönlichen steuerfreiheit für athenische bürger,
eines misbrauches, der um so schreiender war, als das privileg oft erb-
lich verliehen ward, auf die stärkste opposition stieſs. dennoch ist der
gedanke, ob nicht eine beschränkung der demokratie im sinne der
altvordern angezeigt wäre, selbst dem Isokrates gekommen, und wenn
er ihn, wie zaghaft auch immer, im Areopagitikos behandelt, so kann
man sicher sein, daſs der beifall weiter kreise dem redner sicher
war, und in der unterhaltung werden diese, wie man sagte, oli-
garchischen gelüste sich sehr viel offener hervorgewagt haben als in
der brochüre eines litteraten, der manchmal mit der unterströmung,
aber nie gegen den vollen strom der öffentlichen meinung schwamm.
Diese zeit hat Aristoteles in Athen erlebt; daſs er auf das öffent-
liche leben, die gerichtsverhandlungen und volksversammlungen sehr
wol geachtet und die politischen brochuren des Isokrates studirt hat,
[347]Athen 370—50.
lehrt seine Rhetorik.42) er hat daneben die stimmungen seiner heimat
mitgebracht und die traditionen und urteile der platonischen schule in
sich aufgenommen. diese verschiedenen anregungen führten alle zu
dem einen ergebnis, der verurteilung des Reichsgedankens, des groſs-
staates, sowol theoretisch und geschichtlich wie für die praktische politik
der gegenwart. was er sah und was er hörte muſste ihn ferner zu der
verwerfung der attischen demokratie führen. hohe diaeten, um die be-
teiligung derjenigen an der über alles wichtige entscheidenden volks-
versammlung zu bewirken, die schlechterdings nichts davon verstanden
noch verstehen konnten, waren ein so schreiender widersinn. daſs ihn
füglich jeder halbwegs urteilsfähige durchschauen muſste; sie existirten ja
auch erst seit Agyrrhios. aber sie waren die unvermeidliche consequenz
der gleichberechtigung aller Athener und waren nur mit dieser zu be-
seitigen. das konnte vielleicht kein staatsmann Athens planen, jeden-
falls nicht laut sagen: für den philosophen und fremden war es eine
selbstverständliche forderung. das dritte war der hinweis auf die ältere
attische verfassung, von der der rat auf dem Areshügel, mochte er auch
jetzt nur noch ein gerichtshof sein, in seinem namen immer noch zeugnis
für jedermann ablegte. aber auch Isokrates erzählte von der guten alten
zeit, wo der Areopag für die guten gesetze und guten sitten gesorgt
hätte, und wenn das auch meist nur allgemeine phrasen waren: die
anregung, nach der altattischen verfassung zu forschen, lag darin. diese
untersuchung und die eigene überzeugung, daſs eine einschränkung des
bürgerrechtes und ein verzicht auf die seeherrschaft und ihr instrument,
die seemacht, die vorbedingungen für das gedeihen Athens wären, führten
nun wieder beide auf die beschäftigung mit den planen und versuchen
der partei, die am ende des fünften jahrhunderts die demokratie hatte
beseitigen wollen und sich dafür eben auf die altattische verfassung
berufen hatte. die platonische schule hatte das andenken des Kritias
und des Theramenes keinesweges geächtet; das harmonirte hiermit. so
müssen wir sagen, daſs Aristoteles bereits als jüngling eben in den
jahren der bildsamkeit alle die anregungen und eindrücke in sich auf-
[348]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
genommen hat, die für seine beurteilung der attischen geschichte und
verfassung maſsgebend geworden sind.
Bei aller abneigung gegen die demokratie hat er ein anderes poli-
tisches leben als das der athenischen demokratie überhaupt nicht gekannt.
in den lebensunfähigen nestern der Chalkidike oder an dem tyrannen-
hofe in Assos war keins, Lesbos war im zustande der revolution, und
in Makedonien hat Aristoteles nur das regiment über ein ἔϑνος, ein
noch nicht zum politischen leben fortgeschrittenes volk gefunden. es
gehört eben die πόλις zur πολιτεία, davon heiſst sie. da nun aber
der mensch seiner natur nach zum politischen leben befähigt und be-
rufen ist, also zu einem vollkommenen leben der staat gehört, und zwar
ein staat, an dem jeder bürger tätigen anteil hat, so kann nur ein staats-
wesen, das diese voraussetzungen erfüllt, für Aristoteles überhaupt diesen
namen verdienen. und menschlicherweise konnte es nicht ausbleiben,
daſs der staat, in dem er, wenn auch als fremder, gelebt hat, weil er
der einzige war, den er aus eigner anschauung kannte, mit seinen
prinzipien und seinen institutionen mehr oder weniger identisch mit
dem staate überhaupt für ihn werden muſste. das gilt für den Stagi-
riten Aristoteles mindestens eben so sehr wie für den Athener Platon:
zu seiner πολιτεία hat die πολιτεία Ἀϑηναίων noch mehr modell ge-
standen, als zu Platons νόμοι die νόμοι Ἀϑηναίων. unbewuſst steht
er im banne der attischen vorstellungen, ungleich stärker noch, als er
bewuſst ein feind der attischen demokratie ist.43)
Athen
338—323.Als er 335 nach Athen zurückkehrte, waren die würfel über die
groſsmachtspolitik des Demosthenes gefallen. gerade während der jahre,
die wir dank den politischen reden dieses demagogen genau kennen,
war Aristoteles teils fern, teils im feindlichen lager gewesen[.] das letzte
was er noch kurz vor Platons tode erlebt hatte, war die annexion seiner
chalkidischen heimatsprovinz an Makedonien gewesen, die Demosthenes
mit aller macht einer bisher unerhörten redekunst abzuwenden versucht
hatte. das war das vorspiel zu dem letzten versuche gewesen, den Athen
mit der groſsmachtspolitik machte, die Aristoteles schon vorher zu ver-
dammen gelernt hatte. jetzt war es mit dieser ein für alle mal vorbei.
[349]Athen 338—323.
die ereignisse hatten den theoretikern recht gegeben. das verblendete
und von den demagogen misleitete volk (mit der aristotelischen Politie
zu sprechen) hatte einen schweren fehler gemacht, den es mit dem ver-
luste der letzten bundesstädte und dem eintritte in die gefolgschaft
Makedoniens bezahlen muſste. aber Athen war autonom und befand
sich 335 in wahrheit viel besser als 355. auch das stimmte zu der
theorie. die jahre 347—338, die für uns durch die beredsamkeit des
Demosthenes hell beleuchtet von der fast nur durch trübe historische
berichte bekannten umgebung so glänzend sich abheben, sind in wahr-
heit nur eine kurze episode, und dem mitlebenden muſsten sie noch
mehr so erscheinen. Aristoteles hat es für einen fehlschluſs gehalten,
daſs die politik des Demosthenes an dem unheil von Chaironeia schuld
sein sollte. 44) die modernen, die den demagogen in den himmel er-
heben, weil der redner allerdings über jedem vergleiche steht, sollten das
eigentlich bestreiten; jedenfalls hat Aristoteles nicht damit sagen wollen,
daſs die demosthenische politik berechtigt gewesen und nur durch die
ungunst der verhältnisse gescheitert wäre. es ist nur ein gerechtes
wort, das die überschätzung der persönlichen bedeutung des demagogen
nach der guten seite eben so einzuschränken geeignet ist, wie es ihn
vor unberechtigter verantwortung schützt. gern wüſsten wir, wie Ari-
stoteles den Demosthenes moralisch beurteilt hat; aber darauf erhalten
wir keine antwort. 45) die Rhetorik aber zeigt das eine ganz deutlich,
[350]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
daſs Aristoteles die beredsamkeit seiner zeitgenossen nicht mehr ein-
gehend studirt hat, weder Demosthenes noch Aischines, weder Demades
noch Hypereides. er war eben innerlich fertig, Isokrates und Platon
blieben für ihn die muster, an die seine stillehre und sein eigener
stil anknüpfte. die rhetorik ist voll von einzelnen schlagwörtern, die
weit mehr aus der mündlichen tradition, aus den parlamentarischen
debatten so zu sagen, genommen sind als aus den flugschriften. er
gibt deren auch viele aus den jahren seiner abwesenheit und sogar aus
der gegenwart: selbst gesellen wie Moirokles und Polyeuktos erscheinen.
das lehrt uns das sehr beherzigenswerte, daſs die unterhaltungen des
Lykeions von dem notiz nahmen, was auf dem markte und im rathause
vorgieng. aber die maſsgebenden personen, Lykurgos Demades Phokion
Demosthenes erscheinen kaum je 46) und nie für irgend etwas bedeutendes.
45)
[351]Athen 338—323.
darin hat allerdings wol die rücksicht auf die eigene stellung als fremder
und makedonischer untertan den freimut des Aristoteles gebunden. aber
wie der beredsamkeit, so spürt man auch dem attischen staate gegen-
über, daſs er als ein fertiger mann mit fertigen urteilen 335 zurück-
gekehrt war. er hat höchstens noch ein äuſserliches auge für die neu-
bildungen des politischen lebens um sich her gehabt. und doch bot die
lykurgische zeit, in der er lebte, gerade für den theoretiker der ver-
fassung Athens des merkwürdigen ungleich mehr als die ideenarme zeit
des Kallistratos und Aristophon.
Es ist dies nicht der ort und ich wäre auch nicht genügend vor-
bereitet die restaurationspolitik zu schildern, die 338 anhebt; es wird
eine eben so anziehende wie lohnende aufgabe sein, die einzelnen züge
die man den inschriften massenweise entnehmen kann, zu einem vollen
bilde zu vereinen. Athen hatte seine groſsmachtstellung verloren, aber
wenn es aus sich selbst noch die kraft schöpfen konnte, auf eine solche
berechtigten anspruch zu erheben, so war ihm dazu der weg nicht ver-
legt. die makedonische partei in Athen hat weder 338 selbst noch
nachher je das heft in die hände bekommen; Demades ist mit nichten
bloſs ein söldling der könige, so wenig wie Demosthenes ein söldling
Persiens ist, von wo er geld genug bekommen hat. aber auch die radikalen
patrioten wurden nicht nur 338 beiseite geschoben, sondern auch weiter-
hin niedergehalten. selbstverständlich mochte man sie nicht preisgeben,
denn patriotisch war auch die regierung; aber sie war besonnen genug,
sich auf den boden der verträge zu stellen und die kräfte zu wägen.
nur besaſs sie nicht die macht, das souveräne volk zu verhindern,
sich an den groſsen worten zu berauschen, und so gab es immer
wieder krisen, und in der letzten, nach Alexandros tod, ist der
staat zu grunde gegangen. die politik der restauration ist weder von
Phokion und Aischines noch von Demosthenes und Hypereides ge-
46)
[352]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
macht worden. insbesondere Demosthenes ist seit 338 ein stummer
mann; eine macht für sich, tief verflochten in alle unterirdische arbeit
wider Makedonien, aber weder in der magistratur noch publicistisch
tätig. 47) die regierung sammelte die materiellen kräfte Athens natürlich
in der hoffnung, sie zur zurückeroberung der verlorenen macht der-
einst zu verwenden. sie füllte die arsenale und brachte die flotte auf
eine höhe, wie sie seit den zeiten des Reiches nie erhört gewesen war.
Persiens sturz und das fehlen einer ebenbürtigen makedonischen see-
macht muſste allerdings den gedanken wecken, mit den ionischen städten
und dem Pontos, dessen südküste auch noch nicht makedonisch war, die
alten beziehungen aufzunehmen. ein Miltiades fährt gar in ein fernes
meer zur gründung einer colonie. auf die vergangenheit war der blick
gerichtet, auf eine fernere noch als die zeit des Perikles, mit der die im-
ponirende bautätigkeit und die organisation der tempelschätze wetteiferte.
die restauration war eine religiöse: unsere urkunden über attische heilig-
tümer und feste pflegen entweder aus der zeit des Perikles oder der
des Lykurgos zu stammen. die göttinnen von Eleusis, der neu erworbene
Amphiaraos von Oropos, der Dionysos der stadt, der Poseidon des hafens,
Zeus Ammon und Athena beschäftigen rat und volk. ja selbst in Do-
dona, unter den augen der Olympias, erhebt sich ein weihgeschenk Athens
wie zu den zeiten des Tolmides. 48) auch im staatsleben sucht man gern
die alten feierlichen formen auf. wenn ein kümmerlicher lohnschreiber,
noch dazu ein fremder, wie Deinarchos, seine bombastischen brandreden
mit den obsoleten eidschwüren der archontenprüfung und den eben so
obsoleten erfordernissen für die strategie zu schmücken meint, so äfft
er selbst nur nach, was bei dem Eteobutaden Lykurgos ächt war, der
mit vorliebe streitfragen des heiligen rechtes bearbeitete. ächt freilich war
es auch da nur, insofern dem catonischen manne diese religion herzens-
sache war: im übrigen war es die religiösität der restauration, die die
schalen heiligt, weil sie den wert des kernes zu würdigen weiſs, der
nun doch einmal verschwunden ist. das ist eine richtung, die wol eine
zeit lang wichtig war, aber für die Aristoteles so wenig wie Demosthe-
nes empfänglich waren: beide durchaus moderne menschen, der eine
indifferent, der andere erhaben über die alte religion. aber auch im
staate ist die umkehr zu dem alten hie und da bemerkbar, die Isokrates
[353]Athen 338—323.
im Areopagitikos mit allgemeinen redensarten gepredigt hatte. der nim-
bus der heiligkeit und unsträflichkeit, der jenen alten rat umschwebte,
gewann in zeiten tiefer erregung stärkeren glanz. man erwartete und
ertrug, ja man forderte sein eingreifen, gleich als ob er noch die ver-
fassungsmäſsigen rechte hätte wie 480, und der Areopagit Autolykos
muſste es bitter büſsen, dass er nicht die persönliche haltung in der
stunde der gefahr bewährt hatte, die man von dem hohen rate verlangte.
die sitten der altvordern muſsten wiederkehren, das ahnte man, wenn
taten erwachsen sollten, die die alte herrlichkeit zurückführten. die
restauratoren werden es oft schwer empfunden haben, daſs die demokra-
tischen prinzipien eine energische sittencontrolle und scharfe luxusgesetze
nicht verstatteten, und dem Lykurgos kam der wunsch nach einer derben
peitsche für den demos über die lippen. auf einem gebiete brachte
man es aber zu einer wirklichen reform, und da trug man sogar der
Sokratik rechnung. der staat organisirte die erziehung der epheben. er
belastete das budget mit ihrer unterhaltung, casernirte sie, stellte lehrer
für sie an und suchte die väter selbst an dem erziehungswerke zu in-
teressiren; es ist als ob sie, wenn nicht gerade den ächten Platon, so doch
den Kleitophon gelesen hätten. σώφϱονες sollen die attischen jünglinge
werden, es soll nicht mehr zugehn, wie es Demosthenes in der rede
wider Konon von einer militärischen übung erzählt: deshalb werden
σωφϱονισταί angestellt. κόσμιοι sollen sie werden, wie es historiker
und philosophen von den dorischen jünglingsherden rühmten: deshalb
wird ein κοσμητής gewählt. aber im dienste der heimischen götter
soll es geschehen, nicht wie der sophist Sokrates mit neuen göttern die
jünglinge verdarb und einen Kritias erzog: der zweijährige dienst be-
ginnt mit einer besichtigung der öffentlichen heiligtümer. es ist Ari-
stoteles, dem wir die schilderung dieser institution verdanken: er hat sie
in die Politie eingelegt; aber in der Politik kommt sie nicht vor, einen
wert hat er ihr also nicht beigemessen. das praktisch bedeutungsvollste
jedoch waren neuordnungen der magistratur, die sich von den altdemo-
kratischen traditionen sehr weit entfernten. man brach mit der jährigen
befristung für die eigentlich entscheidenden finanzämter, die verwalter
der spielgelder und den schatzmeister der kriegscasse, und daſs dieser
nur einer war, schlieſst den noch viel bedeutenderen bruch mit der colle-
gialität in sich. man gab für diese stellen das los in jeder form
auf, erwählte sie vielmehr ganz wie die offiziere. diese beamten coope-
rirten aber mit dem rate; sie hatten bei der verpachtung der zölle steuern
und bergwerke mitzuwirken, der schatzmeister auch bei den neuan-
v. Wilamowitz, Aristoteles. I. 23
[354]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
schaffungen für den goldenen schmuck der göttin und die goldenen
preise der Panathenaeen. wer vier jahre im amte blieb, muſste die factisch
ausschlaggebende stimme erhalten. der durch das los bestimmte jährige rat
war somit auf dem gebiete der finanzen durch die magistratur ebenso
beschränkt, wie er es in der sonstigen verwaltung und zumal der hohen
politik durch das plenum der volksversammlung und ihre leiter, die redner,
war. das waren in der tat verordnungen, die äuſserst weitgehende conse-
quenzen in sich schlossen: wenn der schatzmeister zugleich der leitende
demagoge war, so konnte einerseits diese letztere formlose vertrauens-
stellung eine wirkliche magistratur werden, andererseits in Athen ein ein-
zelner mann kraft seines amtes das heft des staates in die hand bekommen:
der keim nicht sowol zur tyrannis als zum prinzipate war vorhanden.
die späteren haben in der tat von einer zwölfjährigen herrschaft des
Lykurgos (oder auch Demades) ähnlich wie von der herrschaft des Phale-
reers Demetrios geredet. das ist eine übertreibung, vergleichbar der
vierzigjährigen oder fünfzehnjährigen herrschaft des Perikles, aber etwas
wahres liegt all diesem zu grunde: die dauernde vorstandschaft bestimmter
personen, die dem staate schon wegen der stätigkeit regelmäſsig gut be-
kommt. jetzt aber versuchten die regierenden diese tätigkeit durch gesetz
zu sichern. wir können von dem demokratischen standpunkte aus wol be-
greifen, wie die opposition über den druck klagte, den eine kleine
gruppe ausübte. 49) wir können uns andererseits nicht verhehlen, daſs
alle solche versuche so lange prekär bleiben muſsten, als die allmacht
der volksversammlung und der gerichte bestehen blieb; was für tolle
sprünge das volk machen konnte, dafür liefert Hypereides in der
rede für Euxenippos gleich zu anfang ein par grelle beispiele. aber ge-
rade für den theoretiker hätten diese versuche in wahrheit wol das
gleiche interesse haben sollen wie die niemals in kraft getretene ver-
fassung der 400. Aristoteles hat ihnen in der theorie keinerlei berück-
[355]Athen 338—323. die Politik.
sichtigung gegönnt; für seine vorstellung gehören annuität und collegialität
unweigerlich zu dem beamten des rechtsstaates. in der Politie, wenigstens
wie wir sie lesen, ist an der stelle, wo die vierjährigen beamten be-
handelt werden sollten, eine lücke.
Athen ist für ihn die demokratie par excellence geblieben, und daſs
es mit der nicht gienge, stand ihm fest. daſs Athen keine groſsmacht
mehr war, überhaupt in Hellas nirgend mehr eine einzelne stadt eine
nennenswerte herrschaft über andere städte ausübte, konnte dem poli-
tiker nur recht sein, der in der kleinen autonomen stadt den staat fand.
die suprematie Makedoniens beinträchtigte rechtlich und faktisch die
städtische autonomie zunächst viel weniger als die Athener und Lake-
daimonier auf der höhe ihrer macht das getan hatten; von den ver-
pflichtungen, die sie auferlegte, konnte der theoretiker füglich absehen.
aber die erschütterung, die durch die verschiebungen der groſsmächte
hervorgerufen wurde und sich über die ganze hellenische welt verbrei-
tete, legte dem lehrer der nation die aufgabe doppelt an das herz,
die frage nach dem besten und bestmöglichen staate zu behandeln.
Wir dürften geneigt sein der frage eine andere formulirung zuDie Politik.
geben, allein Platons vorbild hatte sie nun einmal so abstract formulirt,
und Aristoteles hielt sich zunächst an seinen lehrer. er hat die vor-
träge über politik öfter gehalten, selbstverständlich erst seit er überhaupt
vorträge hielt, und der zustand, in dem wir seine aufzeichnungen lesen, ge-
stattet nicht, die einzelnen schichten scharf zu sondern, noch auch die zeit-
bestimmungen zu verallgemeinern, die sich aus einzelnen stellen ergeben.
aber das allgemeine ist deutlich, daſs wir einen gemeinsamen unterbau
haben (ΑΒΓ), auf dem sich zwei selbständige lehrgebäude erheben, die
darstellung von dem wesen, den unterschieden und den wandelungen
(μεταβολαί) der verfassungen (ΔΕΖ), und die lehre vom besten staate.
(ΗΘ). beide untersuchungen sind nicht im entferntesten bis zum ab-
schlusse geführt. ihre reihenfolge ist nicht von groſser bedeutung, da
sie eben in wahrheit neben einander stehen. daſs Aristoteles die über-
lieferte ordnung beabsichtigt hat, bezeugt er selbst, wenn er den schluſs
der Ethik geschrieben hat, und sollte er das nicht getan haben, so
würde immer noch der herausgeber der Ethik, also sein sohn Niko-
machos, die ordnung für die mitterweile herausgegebene Politik bezeugen,
und auch dann wäre die umstellung, in der unsere ausgaben die bücher
vorlegen, schlechthin verwerflich. 50) auch in diesem falle ist die gewalt
23*
[356]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
eine schlechte lösung für die schwierigkeiten, die in der überlieferung
aufgezeigt zu haben Spengels bleibendes verdienst ist. im groſsen ganzen
erklärt sich das befremdliche verhältnis dadurch, daſs Aristoteles zuerst
unmittelbar nach erledigung der grundlegenden fragen zu der haupt-
aufgabe, dem besten staate, fortschritt, später aber vor diesem eine
eingehende behandlung der bestehenden typen des staates und auf den
voraussetzungen des bestehenden teils empirische teils theoretische regeln
gab, wobei er denn, wie es bei vorlesungen zu gehen pflegt, zu dem
besten staate gar nicht mehr gekommen, ja nicht einmal mit diesem
zweiten teile fertig geworden ist. zeitlich also ist ΗΘ das frühere, und
es ist geschrieben um an ΑΒΓ (in dem zustande, den diese bücher da-
mals hatten, und der nur in Γ sehr stark geändert ist) anzusetzen.
Der beste
staat.Die skizze des besten staates (ΗΘ) ist in sich einheitlich, verständ-
lich und glatt geschrieben, zum teil wunderschön und ersichtlich für
die publication, aber freilich gänzlich unfertig. daſs Aristoteles kaum
irgendwo sonst so sehr Platoniker ist wie hier, ist mit recht bemerkt
worden, wie er denn trotz Β wieder in die auseinandersetzung mit
Platon hineingerät. er construirt sich seine stadt κατ̕ εὐχήν, ze
wunsche, aber er construirt auch sehr ins blaue. man möchte kaum
glauben, daſs er bereits die umfassenden geschichtlichen studien ge-
macht hätte, auf denen ΔΕΖ fuſsen 51); dagegen liegen ihm seine aesthe-
tischen und rhetorischen speculationen im sinne und drängen sich vor.
50)
[357]Der beste staat.
was wir hier lesen, ist der platonische staat, der in Platons Gesetzen
schon einmal auf das unter den gegebenen verhältnissen mögliche herab-
gestimmt war, und hier noch einmal einer solchen procedur unterzogen
wird. wir sehen die gröſse und die bevölkerung, oder vielmehr die
zahl der bürger fixirt; es kommt ein kümmerlicher kleinstaat heraus.
wir sehen die familie durch die regulirung der ehe und der kinder-
zeugung reglementirt, nur weit abstoſsender als bei Platon, weil jener
mit einem menschengeschlechte rechnen darf, das über das fleischliche
völlig herr geworden ist. wir sehen das eigentum durch einen halben
communismus beseitigt und daneben weiter bestehend, und sehen die
consequenz rücksichtslos gezogen, daſs um der auserwählten willen, die
sich der übung der tugend und der glückseligkeit in musse ausschlieſs-
lich hingeben, eine unbestimmte masse von sclaven und rechtlosen freien
in einem unwürdigen zustande beharren und arbeiten müssen; selbst der
ackerbau ist kein bürgerlicher beruf mehr. 52) wie diese untergeordnete
bevölkerung sowol im zustande des gehorsams wie in dem der unwür-
digkeit gehalten werden soll, wird dagegen mit nichten klar. die vor-
bedingungen der lage und des klimas werden nach Hippokrates und
Platon des näheren erörtert und der mittelweg gesucht, der zwar die
verbindung mit dem meere gestatte, aber die schädlichen folgen des
handels und der seefahrt ausschlieſse. hier gibt er geradezu an, was
noch ein par mal durchleuchtet, daſs er selbst für dieses erzeugnis seiner
freien phantasie eine bestimmte anlehnung an das existirende gesucht
hat, an das pontische Herakleia. 53) schlieſslich verliert sich der gesetz-
[358]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
geber in an sich interessantes detail über die erziehung, was den leser
aber doch nicht darüber trösten kann, daſs er von der eigentlichen
verfassung des musterstaates gar nichts erfährt. so schön diese
bücher geschrieben sind, dürften sie als ganzes doch ziemlich das
unbefriedigendste sein, was wir von ihm lesen. es ist eben eine
häſsliche halbheit, diese wunschstadt. wünschen muſs man mehr, mög-
lich ist auch dies nicht, ja wahrhaftig nicht wert, daſs man sichs wünsche.
welche consequenz liegt darin, daſs dieser staat die zahl der geburten
normiren wird, aber die ausübung unzüchtiger culte nicht zu verbieten
wagt? in wahrheit hat Aristoteles es gar nicht ernsthaft angefaſst,
sich einen festen plan für eine in der phantasie einheitliche stadt
zu entwerfen. ihm fiel der an das mögliche mahnende verstand
immer wieder in den arm, wenn er zu einem kräftigen zuge ansetzen
wollte, wie ihn die consequenz der ideellen voraussetzungen forderte.
er versuchte sich hier an einer aufgabe, für die er weder seiner begabung
noch seiner methode nach geschaffen war. den versuch aber machte
er lediglich, weil Platon, der dichter, diese form für die politische spe-
culation gewählt hatte. aber schon die Gesetze selbst tun keine reine
wirkung, weil das contagium der materie ihnen anhaftet. das reich,
das Platon stiftete, durfte nicht von dieser welt sein, es war die βασι-
λεία τοῦ ϑεοῦ. er hatte diese welt zerschlagen, der mächtige, und
baute sie prächtiger in seinem busen wieder auf. zu dem staate und
der gesellschaft wie sie war, stand er schlechthin verneinend, ohne die
illusion des Demosthenes, die reaction des Theramenes, die biedermän-
nische kurzsichtigkeit des Isokrates und Xenophon. er möchte nicht die
schwerkranke gesellschaft bestehen lassen und nur als arzt dem einzelnen
53)
[359]Der beste staat. der schluſs der Ethik.
sich nahen, menschenfreundlich aber im dünkel der persönlichen über-
legenen herablassung, wie die kyniker, noch sich davon nehmen, was
dem eigenen wolbefinden genügte, selbstsüchtig ausscheidend wie die
hedoniker. er fühlte sich dem staate wie er war gegenüber so fremd
wie der philosoph des Theaetet, aber sein herz schlug warm von menschen-
liebe und vaterlandsliebe, er fühlte sich als der wissende, der nicht
helfen darf, als der steuermann, der das schiff nicht retten darf, weil
man ihn nicht an das ruder läſst. so rief er der welt sein μετανοεῖτε
zu und schuf eine gesellschaft, in der eine seele, eine reine seele, seine
seele wohnen sollte, nach seinem bilde, frei aus seinem geiste. das ist
ein ἕν geworden, wie es werden sollte; das schwebt und leuchtet, wie
die sternengötter droben, im reinen aether mit ewig jungem glanze.
so etwas läſst sich nicht nachmachen. aber es erträgt, ja es fordert
neben sich die ergänzung durch die beobachtung, prüfung und würdi-
gung des bestehenden. diese ergänzung zu liefern war Aristoteles der
rechte mann, und darum kam er erst in sein rechtes fahrwasser, als er
die fülle der gegebenen erscheinungen überschaute, verglich und nach
dem maſsstabe der grundlegenden begriffsbestimmungen abschätzte. mit
andern worten, er muſste die Politien schreiben oder doch den stoff
für sie sammeln und auf diesem materiale die untersuchungen anstellen,
die in den büchern ΔΕΖ vorliegen: daſs diese die Politien voraussetzen,
zeigen sie selbst auf schritt und tritt. wir müssen nur nie vergessen,
daſs einmal auch hier ältere partien, in ΑΒΓ auch jüngere stehen, und
daſs die vorlesungen mit dem als vorhanden rechnen, was für die schule
vorhanden ist, deshalb aber noch nicht auch für das publikum vorhanden
zu sein brauchte.
Sowol über dieses verhältnis zwischen den Politien und der Politik
wie über das was er mit beiden leisten wollte unterrichtet uns der
schluſs der Ethik mit aller wünschenswerten bestimmtheit. die erörte-Der schluſs
der Ethik.
rungen, die er mit dem namen ethik umfaſst, haben ihn schlieſslich zu
dem geständnis geführt, daſs es eigentlich doch auf das sittliche handeln
ankomme. wie aber wird das erzielt? dazu braucht man die zucht
des staates, der gesetze. wer also das volk zur sittlichkeit und dem-
nach auch zum glücke führen will, muſs sich darauf verstehen gesetze
zu geben, muſs ein νομοϑετικός sein. Aristoteles hätte gleich sagen können,
er müſste ein πολιτικός sein, wenn er nicht eine scharf polemische
auseinandersetzung mit zwei anderen richtungen neben sich in sinne
hätte. deshalb fährt er vielmehr so fort: “man sollte annehmen, gesetze
zu geben, könnte man bei den berufspolitikern, den πολιτικοί, lernen.
[360]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
aber dagegen spricht die erfahrung, die den anomalen zustand constatirt
hat, daſs die politiker zwar die praxis, aber nicht die theorie verstehn.
sonst hätten sie, wie alle andern die ein metier treiben, ihre kunst
auf ihre kinder vererbt, was notorisch nicht der fall ist (die alte seit
Sokrates und den sophisten erhobene klage und anklage) und hätten
auch über sie geschrieben, was doch mehr wert wäre als ihre staats-
und processreden (hier ist ein seitenblick auf Demosthenes und die
anderen politiker der restauration unverkennbar). die sophisten dagegen
(d. i. wie Spengel gesehen hat, Isokrates) erheben zwar den anspruch,
politik lehren zu können, aber ihnen fehlt erstens die praktische er-
fahrung, die notorisch eine unerläſsliche bedingung ist, zweitens unter-
schätzen sie die politik, da sie sie entweder mit der rhetorik identifi-
ciren oder gar tiefer stellen, drittens bilden sie sich ein, es wäre leicht
gesetze zu geben, man brauchte ja nur die vorhandenen zu sammeln
und die besten auszuwählen (Isokr. 15, 83): als ob nicht gerade ein
fertiges urteil bereits gebildet sein müſste, um diese auswahl treffen zu
können. die sammlungen von gesetzen und verfassungen haben ihren
wirklichen nutzen also erst für den der bereits politisches urteil besitzt.
ihre lectüre allein kann ein solches nicht gewähren, wenn sie auch wol
das verständnis der politik vorbereitet und erleichtert. so ist denn also
die aufgabe noch ungelöst, die gesetzgebung oder besser die politik
überhaupt wissenschaftlich zu untersuchen und zu lehren”. zu dieser
also wendet sich Aristoteles “um so den schluſsstein zu dem gebäude
der wissenschaft von den menschlichen dingen zu legen”. 54)
Dies selbstzeugnis ist wol wert, daſs man es sich überlege. erstens
bezeugt es die existenz der Politien als eine vorbedingung der poli-
tischen vorträge. darin liegt zwar nicht die vollendung und herausgabe
der ganzen sammlung; es werden ja auch die Gesetze daneben genannt,
[361]Der schluſs der Ethik.
die erst Theophrast vollendet hat; aber für die wissenschaftliche arbeit
ist die schluſsredaction und veröffentlichung von geringer bedeutung.
sodann warnt Aristoteles davor, daſs diese materialien an sich schon
genügten um das politische urteil zur reife zu bringen, also vor einer
überschätzung ihres wertes; aber er meint mit diesem zugeständnisse
seiner autorenbescheidenheit sicherlich so viel, daſs sie allerdings geeig-
net wären, dem wissenschaftlich, d. i. philosophisch gebildeten zu einem
solchen urteile zu verhelfen, wenn er das in ihnen implicite enthaltene sich
nur selbst zu entwickeln vermöge. mit nichten als geschichtliches material,
sondern als substrat der politischen speculation mit wesentlich prak-
tischer tendenz hat er seine Politien verfaſst: er hat also anspruch darauf,
sie dem entsprechend beurteilt zu sehen. er hat aber diese groſse arbeit
aufgewandt, um das inductive material für seine politische theorie zu
gewinnen, oder vielmehr (denn diese theorie stand ihm ja vorher fest,
und sie war nichts absolut neues) um seine schüler zu νομοϑετικοί zu
machen, sie zu befähigen, in dem praktisch politischen leben die ge-
eigneten maſsnahmen zu treffen, auf daſs die lehren der Ethik über
tugend und glückseligkeit in die leibhafte erscheinung übergeführt
würden. mit andern worten, er wollte ein geschlecht heranziehen,
das unter den tausendfach verschiedenen bedingungen, welche die helle-
nischen staaten boten, durch die wissenschaftliche einsicht in das wesen,
die aufgabe und die erscheinungsformen des staates befähigt wäre, im
rechten sinne praktisch zu wirken. wer das leistete, eben in einer zeit
des politischen umschwunges, der erfüllte was die sophistik hundert
jahre vorher trügerisch und vergeblich versprochen hatte. daran hat
Aristoteles seine kraft gesetzt, und er dachte nicht gering von seiner
leistung. er sah dies als etwas vollkommen neues an, denn er machte
gegen politiker und sophisten front, nicht gegen Platon, von dem sein bester
staat doch gänzlich abhieng. wir werden nicht bestreiten dürfen, daſs
er seine originalität sehr weit überschätzt hat 55), aber da er sich eben erst
von der speculation über den staat des wunsches mühselig auf den boden
der realität und geschichte selbst den rückweg erarbeitet hatte, steht
ihm subjectiv diese selbstüberschätzung an. als ergänzung zu Platon preisen
[362]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
ja auch wir die Politik, die ihn freilich sehr oft durch das ergänzt, was
in wahrheit die praxis des attischen verfassungslebens an politischer
theorie erzeugt hatte. in höherem sinne dürfen wir sogar sagen, daſs
Aristoteles erst jetzt, wo er ihm innerlich ganz frei gegenüberstand, der
rechte nachfolger Platons geworden ist, der ja auch nicht bloſse gelehrte
oder gar philosophen hatte bilden wollen.
Praktische
wirkungen.Der erfolg ist nicht ausgeblieben, trotzdem in den diadochenstaaten
neue groſsartige politische bildungen entstanden, die er nicht geahnt
hatte, und die seine kleinstädtchen zertrümmerten. seine eigene schule
ist freilich dem fanatiker des ϑεωϱητικὸς βίος anheimgefallen, dem Theo-
phrastos, der trotz seiner politischen schriftstellerei nur ein mann des
katheders ist. aber ihm steht der vertreter des πϱακτικὸς βίος als
aristotelischer schüler ebenbürtig zur seite, Dikaiarchos, der die macht
der königshöfe für die wissenschaft nutzbar macht. ganz besonders
aber hat Athen die praktische anwendung der aristotelischen Politik
erfahren. sein freund Antipatros schlägt die demokratie nieder; sie
hatte ihn selbst zu dieser execution gezwungen. dann aber greift er
energisch, ja wir müssen sagen grausam, durch, mit vollkommener scho-
nung des privateigentumes, aber mit der einführung eines census für
das effective bürgerrecht. eine aristotelische forderung, die zugleich die
des Theramenes und Phormisios gewesen war, wird erfüllt, daſs der staat
den besitzenden, den ὅπλα παϱεχόμενοι oder anders ausgedrückt den
τὰ τιμήματα παϱεχόμενοι gehören soll. die bisherigen kostgänger des
staates, die gründlinge der volksversammlung und der gerichte, sind
damit freilich dem elend preisgegeben, σκάπτειν γὰϱ οὐκ ἐπίστανται.
diese radicale reaction erwies sich auch dieses mal als undurchführbar, und
man wird angesichts des elends der masse über die grauenvollen zuckungen
der nächsten jahre milder urteilen. stätigkeit kommt erst in die verhält-
nisse, als Demetrios von Phaleron den staat in die hände bekommt. 56) da
wird nur die niederste schicht der bürger ausgeschlossen, indem der census
tiefer gegriffen wird, gesetzeswächter werden als eine nach ansicht des
Aristoteles oligarchische behörde eingesetzt, und das archontenamt, das
Demetrios selbst bekleidet, soll wieder etwas bedeuten, also auch der
Areopag wieder ein wirklicher rat werden; luxusgesetze ergehen und die
zucht der frauen und kinder nimmt der staat in die hand. das kostspielige
und gefährliche schoſskind der demokratie, die flotte, verfällt allerdings,
[363]Praktische wirkungen. Die πολιτεία des Aristoteles.
und der staat ist nicht einmal in stande Delos zu behaupten, aber er soll ja
keine macht auſser landes mehr anstreben, und im innern herrscht ord-
nung, frieden und wolstand. so über Athen zu herrschen hat Demetrios
bei Aristoteles gelernt: er ist der νομοϑετικὸς ἀνήϱ, den die Politik
erzogen hat. gerade an Athen hat sie ihre praktische probe bestanden.
wüſsten wir nur mehr über die verfassung und verwaltung des Deme-
trios, so würden wir das noch im einzelnen verfolgen können, aber für
jeden, der nicht durch phrasen geblendet ist oder auf ein modernes
politisches credo eingeschworen, gibt die würdelosigkeit des volkes und
seiner demagogen, die vor den füſsen des Demetrios Poliorketes hündisch
schwänzeln, der schmutz mit dem der elende Demochares das gedächtnis
des Platon und Aristoteles bewirft und das elend der neunziger jahre
eine folie ab, dunkel genug, daſs sich auch bei dem trüben lichte
unserer überlieferung die segensreiche verwaltung des Demetrios deut-
lich abhebt.
Wenn wir nun Politien und Politik zusammenhalten, wie sie zuDie
πολιτεία
des
Aristoteles.
einander gehören und im ganzen gleichzeitig verfaſst sind 57), so wird das
urteil ohne zweifel dadurch etwas einseitig ausfallen, daſs wir ja nur
das erste buch der Politien lesen. allein Athen ist und bleibt doch die
hauptsache. gewiſs hat sich Aristoteles ein sehr groſses verdienst dadurch er-
worben, daſs er die spartanische legende, die auf Platon und Xenophon
eine so starke macht ausgeübt hatte, mitleidslos zerstört hat, das sehen
wir auch noch genügend in der Politik. aber davon war der ertrag, daſs
die politische theorie begriff, von Sparta positiv so gut wie nichts lernen
zu können. Athen dagegen hat dem Aristoteles unbewuſst fast immer vor-
geschwebt, keinesweges bloſs, wo er von der ἐσχάτη δημοκϱατία redet.
der staat, den er im auge hat, wenn wir von dem seines wunsches ab-
sehen, ist der nach seinem urteil über die geschichte und die verfassung
Athens umgeformte athenische. königtum und aristokratie figuriren
nur noch gleichsam als überschriften, weil das überlieferte system sie
fordert: das buch der welt hat diese capitel verloren. oligarchie und
demokratie sind die einzigen tatsächlich noch vorkommenden gattungen
(von der schlechthin verwerflichen und niemals dauernden tyrannis ab-
gesehen), die πολιτεία ist die rechte mitte zwischen ihnen. so paſst es
zumal dem ethiker, der auch darin die alte volksmoral codificirt, παντὶ
μέσῳ τὸ κϱάτος ϑεὸς ὤπασεν. in diesem sinne kann er auch von einer
[364]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
richtigen mischung oligarchischer und demokratischer institutionen reden.
diese boten ihm die Politien in reichster fülle, aber der untergrund aller
seiner speculationen ist und bleibt doch der staat, in dem er lebt, der
das reichste leben und die meisten verfassungsänderungen durchgemacht
hat, Athen.
Die wirtschaftliche freiheit des bürgers und seines eigentumes ist
überall vorausgesetzt. nirgend wird der versuch gemacht, den grund-
besitz zu binden oder zu beschränken, noch auch das bürgerrecht auf
ihm aufzubauen. Athen war eben kein bauernstaat mehr, und Aristo-
teles rechnete praktisch nicht mehr mit der bauernrepublik, er preist
Solon als den befreier der hörigen und zerstörer des groſsgrundbesitzes,
er verwirft jede beschränkung der freien vererbung. 58) er preist ihn auch
als den vertreter des mittelstandes; dieser aber ist für ihn durch den besitz
gebildet, die mitte zwischen arm und reich; da das schon bei Euripides
steht, war es ein altsophistisches schlagwort. welcher art der besitz aber
ist, darauf läſst er sich nicht viel ein: die leute sollen doch im wesent-
lichen von ihren zinsen leben können. die βάναυσοι, die körperliche
arbeit tun, um zu leben, schlieſst er von dem staate prinzipiell aus, ob-
wol er in praxi wie über alles auch über ihre abgrenzung mit sich
reden läſst. was er hier will, ist die forderung der attischen oligarchen.
denn einen eigentlichen census wollten sie so wenig wie er, und wer
bürger ist hat nach beiden das recht oder vielmehr die pflicht sich am
staatsleben zu beteiligen. darin liegt, daſs eigentlich keinerlei sold ge-
zahlt werden kann. auch da wird er billig sein; unerfreuliche ämter,
wie die der executoren und gefängnisauſseher, wird er durch sold an-
nehmlich machen, vielleicht auch unbemittelten bürgern, die er doch als
solche halten und heranziehen wird, diaeten bewilligen, andererseits die
beteiligung der höheren stände durch geldstrafen erzwingen (was er von
den 400 gelernt hat); aber das sind ausnahmen, die den eigentlichen
typus nicht verändern. seine πολιτεία hat eine πόλις: darin liegt die
städtische centralisirung des lebens, wie er es kannte, eine folge der demo-
kratie. er versucht das nicht zu redressiren, obwol er die tyrannen lobt,
[365]Die πολιτεία des Aristoteles.
die dagegen angestrebt hatten, und den Aristeides tadelt, der die groſsstadt
Athen geschaffen haben sollte. aber es war für seine praktischen plane
eben etwas gegebenes; er selbst fühlte sich als moderner mensch in
der groſsen stadt wol. sein staat hat natürlich geschriebene verfassung
und geschriebene gesetze. souverän ist die bürgerschaft, und jeder bürger
hat auf seinen teil der herrschaft anspruch. wahl und rechenschafts-
abnahme der beamten stehen notwendigerweise bei dem volke. es wird
auch kein rat gefehlt haben, und die beamten werden so ziemlich den
attischen entsprochen haben, nur mit freier bewegung innerhalb ihrer
sphäre. etwas über das athenische hinausgehendes sind nur die beamten,
die über die sitte und erziehung wachen. es ist freilich schwer, sich die
aristotelische πολιτεία zu construiren, da er ja nirgend dieses bild neben
seine wunschstadt gestellt hat, und jeder einzelne zug, den man sich
aufsucht, nur eine relative giltigkeit beanspruchen kann. die hauptsache
bleibt, daſs man beim lesen der Politik fortwährend an Athen und seine
publicisten, bald an Isokrates, bald an Demosthenes oder Aischines denkt,
wer einem gerade von ihnen im sinne liegt, ohne daſs doch diese an-
klänge jemals mehr bedeuteten, als daſs Aristoteles sich aus dem gedanken-
kreise der athenischen oder überhaupt der hellenisch-demokratischen
politik nicht loszuwinden vermag. halte man dagegen seine behandlung
des königtums: wie blaſs und abstract ist sie, weil er seine con-
creten beispiele eigentlich nur bei Homer finden kann, da er Kyros ver-
schmäht. an Philippos und gar Alexandros wird man nie und nirgend
erinnert, das gibt für seine politische bildung und für seine tendenz
den ausschlag.
Diese πολιτεία kann in beliebig vielen städten nebeneinander be-
stehen und kann es auch in beliebig vielen spielarten, je nach den
bedingungen der lage und der wirtschaftlichen verhältnisse und den tra-
ditionen, bald mehr demokratisch, bald mehr oligarchisch; darauf kommt
es dem realpolitiker nicht an. Hellas wird eben, wenn es von Aristo-
telikern regirt wird, eine summe solcher Politien bilden, die einander
nichts zu leide tun, zu gute allerdings auch nichts, denn sie sind zwar
wehrhaft, so daſs sie sich ihre existenz sichern können, aber sie streben
über den zustand des ‘guten lebens’ (τοῦ εὖ ζῆν) nicht hinaus, das ihnen
die πολιτεία unter den richtigen πολιτικοὶ gewährt. auf diesem ge-
meinsamen niveau werden sich Athen und Megara, Theben und Plataiai,
Amphipolis und Stagira vertragen und wol befinden.
Es ist ein mildes urteil, wenn man dieses Hellas gegenüber dem
attischen Reiche und dem reiche Alexanders kümmerlich nennt. wie hat
[366]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
nur der universelle denker bei etwas so kümmerlichem trotz beiden be-
harren können? von den subjectiven gründen ist genug geredet; die
wurzel seines theoretischen irrtums muſs man in der tiefe suchen. daſs
selbst dieser philosoph, der dem juristischen denken näher als ein anderer
Hellene gekommen ist, kein jurist war, erklärt schon vieles. er hat
darum den begriff des staatsrechtes gar nicht gefaſst, geschweige eins
geschrieben. so sind ihm denn die concreten verfassungsformen in
seinem staate ganz nebensächlich gegenüber dem geiste, der in ihnen
leben soll. mehr noch hat es zu besagen, daſs er kein historiker war.
wenn er selbst es für der mühe wert gehalten hätte, zu forschen, so würde
er in der lage gewesen sein, ein bild von der verfassung des Kleisthe-
nes oder auch nur der um 432 geltenden zu entwerfen. wir würden
lesen: damals gab es die und die ämter noch gar nicht, wurden die ge-
schäfte tatsächlich so und so geführt, und die und die misstände der
jetzigen demokratie vermieden. wir würden die ansätze zu einer aus-
dehnung des bürgerrechtes auf weitere kreise und die abstufungen der
rechte und pflichten im Reiche lesen: die gerechtigkeit des Aristoteles
würde dann auch zu anderen urteilen gelangt sein. so aber misachtet
er schlechthin die verhältnisse der nichtbürgerlichen bevölkerung in der
Politie, sieht also nur die staaten vereinzelt und folgt in betreff der
geschichte des fünften jahrhunderts tendenziösen urteilen und vorurteilen.
aber ganz besonders bedeutsam erscheint mir ein bestimmter punkt.
list man die Politie, so fällt am meisten auf, daſs er die organische glie-
derung des attischen staates kaum einer beachtung würdigt. von den
resten des geschlechterstaates mag man absehen: ihm ist trotz allen
Politien dieser typus des althellenischen staates gar nicht als solcher
klar geworden; aber die phyle war doch der träger äuſserst wichtiger
staatlicher functionen, und der demos war es noch viel mehr. die demoten
und demarchen hatten wahrlich mehr zu tun als die epheben zu prüfen,
das einzige was er von ihnen sagt. noch immer war der rat eine ver-
tretung der demen und die zehnstelligen collegien eine vertretung der
phylen. ohne diese gliederung hätte Attika, das doch weit mehr bürger
zählte als die idealstadt des Aristoteles, gar nicht verwaltet werden
können, und ohne diese vertretung würde entweder der regionalismus
oder der gegensatz zwischen stadt und land das parteileben Athens be-
stimmt haben. erst die kleisthenische gemeindeordnung hat Attika von
diesen übeln befreit, die es im sechsten jahrhundert schwer heimgesucht
hatten. es ist wahr, die entwickelung namentlich des vierten jahrhunderts
hatte die centralisirung so weit getrieben, daſs die organe jener sinn-
[367]Die πολιτεία des Aristoteles.
reichen verfassung und namentlich das repraesentative prinzip verkümmert
waren. aber den theoretiker konnte dieses prinzip wahrhaftig etwas
groſses lehren: die möglichkeit eines staates, der über den krähwinkel-
zustand hinauskommt, wo jeder bürger jeden bürger persönlich kennt.
das hat er aber nicht gesehen und dem entsprechend in seiner theorie
nicht beachtet.
Wir können nicht anders als staunen und bedauern, daſs weder
die verfassung des attischen Reiches noch die des zweiten bundes
irgendwie in der Politie beachtung findet. das geht aber weiter.
so viel wir wissen hat weder die delische noch die pythische amphik-
tionie eine behandlung in den Politien gefunden. die gemeinsame
arkadische verfassung stand freilich darin, aber das war auch eine ge-
schriebene von Epaminondas künstlich gemachte. sonst waren die κοιναὶ
πολιτεῖαι zumeist solche von ἔϑνη wie Thessalern und Lykiern, also
nach Aristoteles unvollkommene vorstufen des politischen lebens. die
Politik bestätigt auch hier, daſs er den gedanken schlechthin abgewiesen
hat, die vereinigung selbständiger glieder zu einem gröſseren ganzen zu
verfolgen. man sollte meinen, bundesstaat und staatenbund hätten dem
Hellenen wahrlich nahe genug gelegen: die geschichte Boeotiens und
die bedeutende gestalt eines Epaminondas hätte doch schon den ober-
flächlich die geschichte überlegenden darauf bringen sollen. und war der
bestehende rechtszustand, der friede in Hellas, in dessen schutze Aristo-
teles selbst lebte, nicht durch einen staatenbund begründet? er dagegen
hat kein wort und keinen blick dafür, weder in Politik noch Politie. es
leuchtet ein, daſs es dieselbe beschränktheit ist hie und da, die ihn
die gliederung des staates nach unten und seine angliederung an gleich
selbständige staaten zu einem bunde schlechthin übersehen läſst. wahr-
lich die politiker Kleisthenes und Aristeides oder auch Epaminondas
und Philippos sind dem philosophen sehr überlegen. er zeigt zwar die
stufenleiter von der familie zum staate auf, aber er benutzt sie nur zu
seiner geschichtlichen und begrifflichen ableitung des staates. der
staat wie er ist bleibt für ihn, es kurz zu sagen, ein κοινόν, ein
ἔϱανος. die mitglieder sind zusammengetreten um für sich das gedeihliche
leben zu finden; frauen und kinder und sclaven und hörige sind nur
um der mitglieder willen da und werden behandelt, wie es der zweck
der genossenschaft verlangt. es ist eine vergröſserte nachbildung der
Akademie. in solcher genossenschaft hat Aristoteles gelebt, er selbst
hat eine solche gestiftet: das ist für ihn bestimmend gewesen. auch
wenn er gesetze für Stagira gegeben haben sollte, sind es doch nicht
[368]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
diese, übrigens wenig ermutigenden, erfahrungen, sondern die in der
Akademie und im Lykeion gewesen, welche er statt der mangelnden
wirklich politischen erfahrung befolgt hat.59)
Er war kein rhetor, aber sehr empfänglich für die künste der
rhetoren, er verachtete die taschenspielerkünste der eristiker nicht, son-
dern er überwand sie nur: so war er zwar kein staatsmann, aber es
imponirte ihm doch die praktische geschicklichkeit der staatsmänner, auch
wenn sie die hohen ziele seiner lebensanschauung nicht verstanden oder
nicht anstrebten. und so wird der staatsmann seiner Politik etwas sehr
verschiedenes von dem königlichen herrscher, den seine übermenschliche
weisheit und güte über das gesetz erhebt, wie ihn der platonische dialog
des namens darstellt, an dem sich wol ein Alexandros begeistern konnte.
er ist auch nicht ein staatsmann, wie wir ihn in Kleisthenes und Ari-
steides bewundern und selbst in Kleon und Eubulos anerkennen müssen,
das werkzeug oder der werkmeister, wie man das ansehen will, für ein
bestimmtes und notwendiges stück in der geschichte seines volkes: er
hat keine mission zu erfüllen, sondern er besitzt und übt eine kunst,
die πολιτικὴ τέχνη. er ist der virtuose, der diese virtù besitzt, und er-
innert allerdings an die zöglinge der sophistik oder der renaissance.
so hat denn Aristoteles selbst freude an den kunststücken der politik,
wie er sie von Themistokles erzählt, ohne rücksicht auf ihre sittliche
berechtigung, und da es ihm auf das exempel allein ankommt, auch ohne
prüfung ihrer geschichtlichen wahrheit. das ist die politik πϱὸς τοὺς
καιϱούς, die mit seinem materiale Theophrastos bearbeitet hat, und die
von solchen exempeln voll war. auch die zweite Oekonomik ist für die peri-
patetische Politik immerhin ein sehr belehrendes document. gerade nach
dieser seite hat der Peripatos auf die praktische politik der diadochen
stark eingewirkt: Nikanor, der schwiegersohn des Aristoteles, und Kas-
sandros, der sohn seines nächsten freundes, und Duris der tyrann von
Samos, verlangen neben Dikaiarchos und Demetrios auch ihre erwähnung.
es hilft schon nichts, wir müssen zugestehn, daſs auf dem boden der ari-
stotelischen Politik eine staatskunst wachsen kann, die wir macchiavellistisch
zu nennen gewohnt sind, und es sind eben die partien des Principe, gegen
[369]Die πολιτεία des Aristoteles.
die der jugendliche Friedrich seine stark rhetorische polemik richtet,
welche an Aristoteles gemahnen. ohne zweifel darf man die künste der
tyrannis weder dem hellenischen noch dem florentiner denker zum vorwurfe
machen, ohne zweifel ist das sittliche ideal des Hellenen das unendlich
höhere: aber es gibt doch einen gesichtspunkt, von dem aus der Italiener
die anerkennung fordert, wärmer empfunden und höher gedacht zu haben.
Macchiavelli ist ein patriot, seines vaterlandes, Italiens, einheit, freiheit
und gröſse hat er vor augen, und diese glühende liebe macht ihn dem
groſsen könige, der ihn bekämpft hat, ähnlicher als dem philosophen.
Aristoteles zeigt genug von stolz und selbst von hochmut als Hellene;
ungleich anspruchsvoller tritt der Stagirite auf als der athenische eu-
patride Platon, hat er sich doch durch seine verachtung der barbaren
sogar mit Alexandros entzweit. racenhochmut ist wahrlich nicht minder
häſslich als geschlechtsstolz. aber eine politische bedeutung hat sein
nationalgefühl nicht. Hellas ist ihm lediglich ein ethnographischer
begriff, und er würde ganz befriedigt sein, wenn seine kleinstaaten
in ihrer selbstgenugsamkeit (αὐτάϱκεια) neben einander existirten,
κυκλωπικῶς, sein eigenes wort zu brauchen. es kommt ihm nicht
in den sinn, daſs die höhere culturstufe höhere anforderungen an
die staatliche gemeinschaft stellt, daſs der maſsstab für das εὖ ζῆν,
den zweck des staates, steigt, und daſs somit die materiellen mittel des
staates steigen müssen. aber ganz abgesehen von dem wissenschaftlich
unvollkommenen seiner lehre: es fehlt an dem gefühle im herzen. ihm
hat es nicht höher geschlagen, als der hellenische speer in Susa und
in Memphis gebot; der barbar ist ihm immer der sclave: der feind ist
er ihm nur in der conventionellen phrase des epigrammes. hätte es
ihn gelüstet in den rhetorischen wettkampf mit Isokrates einzutreten,
so würde er die heroen von Salamis und Plataiai auch aufgeboten haben,
als rhetorischen schmuck; aber der begriff der nation, der nationalen
macht und ehre spielt in seiner Politik keine rolle. so steht er auch
zu der vaterländischen geschichte. er hat sie stückweise in den Politien
erzählen müssen, aber das ganze ist dem Stagiriten nie zu herzen ge-
drungen. wir sind vielleicht, da wir in einer zeit der übertreibung des
nationalen momentes in jeder richtung leben, leicht dem ausgesetzt, zu
hart über die söhne anders gearteter zeiten zu urteilen. aber Platon
und Demosthenes und Alexandros lebten doch in derselben zeit, und
der Makedone Antipatros kann diese gesinnung seines freundes doch
nur als etwas ihm fremdes, hellenisches, angesehen haben. begreiflich
ist es an dem vaterlandslosen, denn Stagira war keines, so wenig eine
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 24
[370]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
aristotelische stadt es sein würde; aber traurig ist es auch. und es
diene uns hier dazu, die häſsliche ungerechtigkeit der Politie gegen die
groſse zeit Athens, den höhepunkt der griechischen geschichte, leider
als ganz besonders aristotelisch zu begreifen. wer die vereinzelten klein-
staaten zum ideale hatte, der konnte ja gegenüber den einheitsbestrebungen
schlechthin kein anderes gefühl als haſs empfinden. die geschichte
hatte sie ja auch gerichtet, so wähnte er: daſs sich vielmehr vor seinen
augen das werk Athens durch seine vollendung rechtfertigte, sah er
nicht und wollte er nicht sehen. aber die geschichte ist gröſser und
gerechter als selbst ein Aristoteles. und so ist es ein gebot der ge-
rechtigkeit, daſs wir die hellenische geschichte, die völker und die männer,
die sie gemacht haben, nicht mit den augen des Aristoteles betrachten.
dieses gebot hat die antike historie erfüllt, denn die Politie der Athener
hat tatsächlich in der beurteilung der personen das urteil der nachwelt
nicht bestimmt.
Die bedeu-
tung der
politischen
lehre.Wir haben den weg der persönlichen betrachtung durchmessen und
sind zu dem ausgangspunkte zurückgekehrt. um dem gebäude seiner
‘menschenwissenschaft’ den schluſsstein aufzulegen, behandelt Aristoteles
die politik: so sagt er selbst. um nicht bloſs philosophen und gelehrte
zu ziehen, sondern um die menschen zu der tugend und dem glücke zu
führen, das er theoretisch erfaſst hat, hält er diese vorträge, die wirk-
liche politiker erziehen sollen. als material für seine auf dem boden
des gegebenen beginnende forschung über die verfassungen und die
wahre verfassung bedurfte er der kenntnis der gewesenen oder be-
stehenden verfassungen, gesetze, gebräuche, schiedssprüche. nicht um
ihrer selbst willen, sondern als ein hilfsmittel brauchte er die geschichte.
aber er tat auch den weiteren schritt und schrieb die Politien, nicht
für die schule, sondern für das publicum, nicht um über die tatsachen
zu belehren, auch nicht weil er, wie Isokrates gewähnt hatte, dem der
gedanke einer sammlung der gesetze schon gekommen war, dadurch
unmittelbar urteilsfähige politiker erziehen wollte, aber allerdings in der
sichern erwartung, daſs das verständnis der Politik, die er ohne zweifel
auch zu schreiben gedachte, erleichtert und vorbereitet würde. auch
das sagt er selbst. wahrlich, es ist eine gewaltige zeit, und Aristoteles
steht in ihr als ein gewaltiger mann. fern in Susa feiert der junge
herr der welt seine hochzeit mit Rhoxane, das symbol des friedens und
der versöhnung des alten völkerzwistes, den Homer und Herodot ge-
schildert hatten. es ist für den wiedergebornen Achilleus die hochzeit
mit Polyxene. aber der junge tag des Hellenismus bricht dennoch an:
[371]Die bedeutung der politischen lehre.
das kind aus dieser ehe der völker ist das christentum geworden. fern
aus Athen dagegen dringt die unerschrockene stimme des weisen und doch
in seiner weisheit kleingläubigen, der die möglichkeit dieser vereinigung
leugnet und die überlegenheit der hellenischen race rücksichtslos wider
die barbaren und den makedonischen könig behauptet. in Athen selbst
und in ganz Hellas liegt der alpdruck auf allen vaterlandsliebenden ge-
mütern, daſs die lieben alten kleinen heimatsstädte nun aufhören sollen
die welt zu bedeuten. mit doppelter wärme empfinden sie die heiligkeit
ihrer heimischen götter und sitten und einrichtungen, gedenken sie all
des groſsen, das die väter mit diesen und durch diese geleistet haben.
ganz besonders aber wird in Athen die demokratie, die freiheit des
staates und des einzelnen, die stolze freiheit des wortes und des lebens
empfunden gegenüber dem makedonisch-barbarischen groſsstaate mit
höfischem ceremoniell, mit uniformen, subordination und soldatenarro-
ganz, mit dem culte des allmächtigen königs. da könnte Aristoteles ein
wortführer dieser gefühle scheinen. so weit sie hellenisch sind, teilt er
sie, aber nicht so weit sie athenisch oder boeotisch oder megarisch,
demokratisch oder oligarchisch sind. und auch das führt er mit frei-
mütiger überlegenheit dem publicum vor, das die Politien zu lesen be-
kommt. die staatswesen wie sie sind bestehn die prüfung nicht, die
staatsmänner die sie geschaffen haben noch weniger, die groſse ver-
gangenheit, die nationale gröſse erhält nicht einmal einen warmen nachruf.
der weise steht unbeirrt von dem fernen grolle des königs wie von dem
nahen toben der menge auf dem festen grunde seiner wissenschaftlichen
überzeugung, groſs fürwahr und erhaben, aber auch kalt, vor lauter
klugheit irrend und ungerecht nach beiden seiten. man muſs das auge
der phantasie mühsam zwingen, die lage der welt und der personen
für das jahr 325 genügend isolirt von der nächsten zukunft zu schauen:
denn wenige jahre später ist der groſse könig tot und mit ihm das welt-
reich, ist die athenische demokratie zertrümmert und hat Aristoteles den
haſs der demokratie erfahren, für die er als antwort nur einen überlegnen
spott hatte. die grausame strafe aber, die sein freund über die stadt ver-
hängte, die trotz allem seine zweite heimat geworden war, brauchte er nicht
mehr mit anzusehen. Antipatros hatte in den tagen, da er Athen nieder-
warf und die todesurteile über Demosthenes und die andern demagogen
aussprach, das testament seines eben verstorbenen freundes Aristoteles
zu vollstrecken. in der zeitlichkeit schlossen sie einander aus, die
nationale demokratie Athens, das völkerversöhnende weltreich des Ale-
xandros und die wissenschaft des Aristoteles. für uns aber ist es ein
24*
[372]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
gebot der pietät und der wissenschaft, sie alle neben einander zu be-
greifen und zu verehren: denn erst in ihrer vereinigung offenbart sich
die ganze politische gröſse des hellenischen volkes, die wahrlich in dem
reichtum der formen und der gedanken die sie erzeugt hat unvergleich-
bar dasteht bis auf den heutigen tag, mag auch die einseitigkeit allein
befähigt sein, irdisch dauerhaftes zu erzeugen.
Die bedeutung eines solchen mannes auch nur nach einer seite
seines wesens im verhältnis zu wiederum so ungeheuren gröſsen wie
die hellenische cultur des vierten jahrhunderts und Athen und Alexandros
genügend darzustellen geht in wahrheit über jedes menschen kraft.
hier zumal galt es besonders auch die unvollkommenheiten hervorzuheben,
die das subject und die zeit dem werke mitgegeben haben, da sie für
die Politie, die gewürdigt werden sollte, besonders wichtig sind. für
meine auffassung des Aristoteles und seines verhältnisses zur hellenischen
geschichte60) war es unmittelbar einleuchtend, daſs ganz derselbe geist,
der sehr besondere geist dieses mannes, in der Politie wehe wie in der
Politik. so etwas beweist niemand mit zwei drei übereinstimmungen,
so wenig wie zwei drei widersprüche im einzelnen dagegen etwas aus-
machen.61) denn auf etwas ganzes, das gesammte politische und ge-
schichtliche urteil kommt es an; das sieht überhaupt nur, wer τὰ καϑ̕
ὅλου zu erkennen gelernt hat, mit Aristoteles zu reden. mit der klein-
krämerei gegen einander über gedruckter stellen ist es nicht getan, auf
συνιδεῖν und συνεῖναι kommt es an: ich kann das nur auf griechisch
scharf bezeichnen. das brachte mich, der ich doch das aristotelische
in der Politie zeigen sollte und muſste, in arge verlegenheit, so lebhaft
ich es empfand. so habe ich wieder bei dem meister der methode an-
gefragt und darzustellen versucht, wie Aristoteles zu der politischen und
historischen überzeugung gekommen ist, die er in der Politie nieder-
gelegt hat, damit so zur klarheit komme, welches diese überzeugung
und daſs sie aristotelisch sei. darin liegt die überhebung, daſs ich so
[373]Die bedeutung des buches für die historie.
tun muſste, als verstünde ich den Aristoteles ganz: sie liegt mir wahr-
haftig fern, und auch für den schein bitte ich um vergebung. aber
ich wuſste das was ich verstand schlechterdings auf keine andere weise
darzustellen: und der groſse mann wird damit eher zufrieden sein, als
wenn ich statt des waldes ein par bäume gesehen und gezeigt hätte.
Von dem buche und der person des Aristoteles darf ich nun wol
abschied nehmen. er hat vielleicht etwas von seiner unheimlichen gröſse
verloren, weil er fortan nicht mehr als historiker gelten darf, und für
manchen wird es auch ein verlust erscheinen, daſs der philosoph nicht
nur mitverstrickt in die tagespolitik, sondern auch in die vorurteile
seiner zeit erschienen ist. dagegen dürfte es doch nicht an solchen
fehlen, die den groſsen und edlen mann, gerade weil er menschlicher
erscheint, weil wir ihn auch irren sehen, nun besser begreifen und
nicht minder verehren werden. alle aber, die so viel griechisch können,
werden als einen bleibenden gewinn rechnen, daſs wir ein so schönes
buch lesen können, zu künstlerischem genusse; die chance, einen solchen
frischen zuwachs des lesenswerten und zugleich künstlerisch befriedigen-
den zu erhalten, ist heute zu tage immer noch gröſser, wenn man in
den gräbern Aegyptens sucht, als wenn man den meſskatalog durchsieht.
Aber ich bin noch die antwort auf die andere frage schuldig, nachBedeutung
des buches
für die
historie.
dem relativen werte des buches für unsere kenntnis von der geschichte
und der verfassung Athens. auch da ist von wichtigkeit zunächst der
methodische fortschritt, daſs Aristoteles kein geschichtlicher forscher ist;
allein das kann zunächst vielmehr ein rückschlag scheinen. dafür ist
die Atthis ungleich deutlicher geworden, und der wert der art von über-
lieferung, die in Athen Atthis heiſst, aber entsprechend in den meisten
hellenischen städten vorhanden war, ist in ungleich helleres licht gerückt
und damit ein fortschritt der methode getan, der zu sehr reichen posi-
tiven ergebnissen führen muſs. diese folgerung ist mir so wichtig er-
schienen, daſs ich ihr einen eigenen abschnitt gewidmet habe (II 1).
Daſs wir so viel absolut neues erfahren, liegt nicht an dem absoluten
werte der Politie. wenn wir Androtion und Philochoros lesen könnten,
so würden wir in den wichtigsten partien die Politie nicht als quelle
rechnen, so wenig wir es in dem tun, was sie dem Herodotos und
Thukydides entnommen hat. wir würden sie dann behandeln, wie die
forschung der hellenistischen zeit es getan hat. aber für uns ist es schon
ein gewaltiger gewinn, daſs wir die masse der grammatikercitate über
die attischen ämter einfach fortwerfen können, weil wir ihr original
besitzen, und wenn die erweiterte bearbeitung der attischen altertümer,
[374]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
die in der kaiserzeit auf grund der Politie in einen onomastikon ge-
fertigt ist, erst wieder hergestellt sein wird (was wieder erst durch die
entdeckung der Politie möglich geworden ist), so werden wir erst recht
gewahr werden, wie unvergleichlich viel sicherer der boden unter unseren
füſsen geworden ist. es ist auch kein geringer fortschritt, daſs eine
menge irrlehren, die trotz allen widerlegungen immer wieder einmal
spukten, nun definitiv beseitigt sind. wenigstens wird man nunmehr
von niemandem mehr notiz zu nehmen brauchen, der von den vier kasten-
phylen, dem ephetenrate, der kleisthenischen einführung des loses, der
perikleischen der geschwornengerichte, der ekklesie der reifen männer,
der doppelten lesung, dem ταμίας τῆς κοινῆς πϱοσόδου u. dgl. redet.
aber auch positiv steht für uns so viel neues bei Aristoteles, und wirkt
die überraschung, eine verfassungsgeschichte Athens von seiner hand zu
lesen, an sich so stark, daſs jeder, der wirklich über Athen und über
die Politie mitreden will, sich nicht sowol auf grund als im kampfe mit
Aristoteles ein eigenes bild dieser verfassungsgeschichte entwerfen muſs,
und wenn er’s tut, wird er erst recht fühlen, wie viel er dem neuen
buche verdankt. so habe ich es denn auch getan und stelle die skizze
meiner verfassungsgeschichte Athens (II 2—4) neben Aristoteles, ver-
einigt mit den folgenden einzelabhandlungen, deren noch unübersehbar
viele geschrieben werden müssen, unter dem gemeinsamen titel von
untersuchungen auf grund des aristotelischen buches. das will mehr
besagen, als das subjective verhältnis, daſs mir Aristoteles den anstoſs
gegeben hat, sie zu führen oder doch zu vollenden: ich hätte sie gar
nicht oder doch nicht so schreiben können ohne das was ich ihm
danke, sowol an positiver wie namentlich an methodischer belehrung.
das gilt mit nichten bloſs subjectiv von meiner person: die entdeckung
der Politie muſs überhaupt in der attischen geschichtsforschung epoche
machen.
Daſs dem so sein würde, war unsere erwartung, ehe wir sie wieder
hatten, sie war es auch noch in der ersten freude. wenn man aber
die historiker reden hört, so ist das ein irrtum gewesen. sollten sie
recht behalten, ihre art die geschichte zu treiben maſsgebend für die
wissenschaft bleiben oder vielmehr werden, so hätte das buch freilich
in dem grabe seines besitzers weiter schlummern sollen; die letzten 20
capitel scheinen ja auch für jene kritiker noch nicht entdeckt zu sein.
in wahrheit wird die Politie dadurch epoche machen, daſs die sorte
historie, die nichts mit ihr anzufangen weiſs, überwunden wird. wenn
die bauleute den stein verwerfen, so wird die πέτϱα σκανδάλου ihnen
[375]Wege und ziele der griechischen historie.
πέτϱα πϱοσκόμματος; aber es werden andere kommen, die sie zum
ecksteine eines neuen gebäudes nehmen.
Als Niebuhr die römische geschichte begründet hatte, erschien zur
rechten zeit der Gaius und Cicero de republica: als Boeckh die attische
geschichte begründet hatte, erschien erst die menge der attischen steine
und nun die aristotelische Politie. das gefühl ist mir oft gekommen “hätte
doch der groſse meister noch dieses buch lesen können”. diesen wunsch
erzeugte die pietät und die bewunderung des einzelnen groſsen mannes,
der allerdings ein ganz anderer historiker gewesen ist als Aristoteles.
es geschieht nicht ohne dankbare und fromme gefühle, aber mit der
sicherheit das einfach wahre zu sagen, wenn ich erkläre: für die wissen-
schaft erscheint die Politie jetzt genau zur rechten zeit.
Vor Boeckh hat es gar keine hellenische geschichtsforschung ge-Wege und
ziele der
griechischen
historie.
geben. wer heute an ihr teil nimmt, wird ohne zweifel den ersten
versuch einer πολιτεία Ἀϑηναίων mit interesse betrachten, und er
möge beherzigen, daſs es die beschäftigung mit dem römischen staate
und dem römischen rechte war, die den Sigonius zu diesem versuche
angetrieben hat. Sigonius machte sich sofort daran, ein verzeichnis
der demen und ihrer verteilung auf die phylen anzulegen: so scharf
sah er, daſs er etwas bedeutendes bemerkte, das Aristoteles verkannt
hatte. erfreulich und belehrend ist es auch, daſs es ein freier Friese,
Ubbo Emmius, war, der sich zuerst zu den πολιτεῖαι der freien kleinen
gemeinwesen der Hellenen hingezogen fühlte. die französische philologie
zeigt noch in der zeit, da sie sich von dem hellenischen abzukehren
beginnt, ihre universelle wissenschaftlichkeit darin, daſs G. Hérault und
Cl. Saumaise sich über fragen des attischen rechtes streiten. aber das
sind doch alles nur noch curiositäten. weder Scaliger noch Bentley,
weder H. Stephanus noch T. Hemsterhuys, ja selbst weder Dodwell noch
Perizonius kommen für die griechische geschichte heute noch in betracht.
die citatenschachteln des alten Meursius sind sehr nützlich gewesen und
vorbildlich für die sorte ‘altertümer’, die eine schachtel citate für ein
buch hält. aber wer könnte besser lehren als Aristoteles, daſs es damit
nicht getan ist. die typische bedeutung, welche die helden der grie-
chischen geschichte oder besser die helden Plutarchs für das zeitalter
der aufklärung und der revolution gewannen, ist für jene zeit sehr
charakteristisch und für die schriftstellerische kunst Plutarchs sehr ehren-
voll, den Goethe etwas richtiger schätzte als die historiker, die ihre
schüler auf die quellensuche geschickt haben: aber um Phokions und
der Athener willen braucht man die litteratur nicht aufzustöbern, die
[376]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
Bernays zu seinem letzten büchlein anlaſs gegeben hat, in dem er denn
auch jener moralisirenden und tendenziösen geschichtsbetrachtung selbst
verfallen ist. erst mit Niebuhr und Boeckh beginnt die wirklich wissen-
schaftliche historie der Griechen.
Niebuhr wirkt überhaupt und namentlich hier wesentlich durch
das ethos seiner ganzen person. weil er ein ganzer mann ist, gibt er
sich willig der wirkung eines ganzen mannes hin, einem Thukydides
und Demosthenes. weil er ein guter bürger ist und ein staatsmann
dazu, erkennt er das groſse auch in dem staate der Athener, so fern er
auch selbst den demokratischen tendenzen steht, und er erhebt die forde-
rungen auch des attischen staates auf die mitarbeit seiner söhne als ein
recht des staates. so wagt er es denn mitten in der matten zeit, da
die erschlaffende romantik und die verknöchernde philosophie mit der
reaction transigirt, den Platon keinen guten, den Xenophon einen
schlechten bürger zu nennen. den staatsgedanken wirft der geschichts-
schreiber Roms in die geschichte von Hellas hinüber, die seiner über
den künsten und philosophemen, dem cultus des schönen und der idee
der freien menschlichkeit gänzlich vergessen hatte. das problem war
gestellt; aber zu seiner lösung war es noch nicht an der zeit.
Boeckh gieng an die schwere arbeit, die zunächst getan werden
muſste. ein langes und reiches leben hat er ihr gewidmet, aber das
entscheidende war doch, was er bis zur ἀκμή vollbrachte oder begann.
die überlieferung bietet uns nun einmal einen unendlichen reichtum
von zügen für alle erscheinungen des lebens, aber sie bietet uns weder
einen rahmen für das gesammtbild noch feste gesichtspunkte, die züge
zu diesem zu ordnen. es fehlt eine centralisirte überlieferung, wie die
römische chronik, ein system des rechtes, es fehlen chronologie und
metrologie und was man sich sonst von sog. hilfsdisciplinen construiren
mag. mochte in diesen Boeckh zuweilen bis zur systematik fortschreiten,
zumeist hielt er sich an das, was der stand der überlieferung zunächst
forderte und allein gestattete, die in wahrheit unendlich schwierigere
aufgabe, das leben, wie es in der summe der einzelerscheinungen sich
offenbart, zu erfassen, eine maschine in der arbeit darzustellen, deren
construction er nicht kannte und die erst aus dieser darstellung er-
schlossen werden sollte. Staatshaushaltung der Athener hat er mit
recht sein buch über den staat der Athener genannt, und die preisfrage
nach dem attischen rechte formulirte er richtig als die frage nach dem
attischen processe. unzählige male aber griff er die concrete aufgabe
an, die ein einzelnes zeugnis ihm stellte, mochte es nun ein pindarisches
[377]Wege und ziele der griechischen historie.
gedicht oder eine inschrift oder ein gewichtstück sein, und erstrebte ihre
volle lösung: die erschöpfung des geschichtlichen inhaltes.
Griechenland ward frei; der alte boden selbst begann jene belehrung
zu geben, die Italien stets wenigstens den Italienern geboten hatte, und
seinem schoſse entstiegen und entsteigen noch immer reichlicher die
zeugnisse in so verwirrender menge, in so blendender frische und um
so viel reicher an problemen denn an lösungen, daſs die arbeit nicht
nur in der weise Boeckhs, sondern selbst die ganz gedankenlose sammlung
und registrirung schon unerläſslich und verdienstlich ist und bleibt. es
wäre nur wünschenswert, daſs sich nachgerade eine organisation dieser
registrirenden arbeit nach dem muster dessen ausbildete, was für Rom
erzielt ist.
Aber die im engeren sinne politische geschichte kommt darüber
leicht zu kurz; Boeckh selbst hat über die wichtigsten phasen der atti-
schen verfassungsgeschichte und die bedeutendsten personen kein ent-
schiedenes noch entscheidendes urteil gesprochen. wer die kurzen
einleitungen Droysens zu seiner Aristophanesübersetzung mit der über-
reichen erklärung vergleicht, die Boeckh den Olympien und Pythien
Pindars hat angedeihen lassen, kann sich leicht überzeugen, wo der
mann mit wirklich politischem blicke redet. der geschichtsschreiber
Alexanders und der preuſsischen politik hatte für das attische Reich
freilich in ganz anderer art das innere verständnis, das ihm die
anteilnahme an dem staatsgedanken des eigenen gemeinwesens verlieh.
obwol beträchtlich später erschienen ist die griechische geschichte von
E. Curtius dennoch gerade in dem was sie wirksam gemacht hat der
ausdruck der stimmung, mit dem das vormärzliche Deutschland die grie-
chische geschichte ansah. es ist ein werk der isokrateischen stilrichtung,
welche die geschichte unter die epideiktische beredsamkeit zählt, bestimmt
das edle zu loben, das schlechte zu tadeln, und zu dieser panegyrischen
haltung gesellt sich ein weicher oft elegischer ton, die leise trauer um
die verlorne schönheit. und da diese stimmung, der vergleichbar, wie
sie die ruinenstätten in uns wecken, ächt ist, wirklich gewonnen auf dem
alten boden, dessen durchforschung ernstlich in angriff genommen zu
haben das höhere verdienst des verfassers ist, da ferner die stilistischen
mittel bedeutende sind, so daſs der leser, der überhaupt diesen ton ver-
trägt (und hoffentlich ist das jeder jüngling) nicht müde wird, so hat
das werk sehr stark auf die vorstellungen eingewirkt, die in Deutsch-
land und weit darüber hinaus von der hellenischen geschichte herrschen;
wo denn freilich die mittlerweile selbst sehr stark von politischen leiden-
[378]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
schaften und kämpfen erregte jüngere generation geneigt geworden ist
über die Hellenen und ihre staaten die achseln zu zucken, wie sie es
über die vormärzliche zeit tut, obgleich beide es nicht verdienen. den
sehr notwendigen schritt, von einem energisch festgehaltenen politischen
standpunkte die griechische geschichte zu prüfen, tat ein Engländer,
der nicht nur als solcher die bürgerpflichten kannte, die die selbst-
regierung des volkes verlangt, sondern überhaupt auſserhalb der ge-
lehrten zunft stand. offenbar war er so für das wesentliche seiner
leistung vortrefflich vorbereitet, und es tut ihr wenig abbruch, daſs
er kein gelehrter forscher war. G. Grote nahm die überlieferung,
wie sie ihm von den alten historikern und der deutschen gelehr-
samkeit bequem geboten war, brachte von sich einen sehr gesunden
menschenverstand und daneben einen unbedingten glauben an die doctrin
des liberalismus mit und maſs daran die griechische geschichte, die er
nach landesart in wolgefälliger breite nacherzählte. es war ein plumper
und den Hellenen selbst fremder maſsstab, aber es war doch einer.
weder die empfindung für das individuelle, ohne die sich selbst die
dichter, die doch sagen können, was sie leiden und verlangen, dem ver-
ständnis entziehen, noch die empfindung für das allgemeine, die allein
in der welt der sage, der religion und des rechtes zu atmen ermöglicht,
war ihm gegeben; aber er besaſs, ganz naiv und daher niemals un-
liebenswürdig, trotzdem die kühnheit sich über alles dieses, selbst über
die götter und über Homer und Platon weitläuftig zu verbreiten. daſs
selbst diese in wahrheit gänzlich ungenügenden teile, in Deutschland
zumal, zwar kaum auf die wissenschaft einfluſs erhielten, aber im publicum,
das sich damals noch für die hellenischen dinge interessirte, weite ver-
breitung fanden, lag daran, daſs sich auch diese gebiete dem politischen
sinne unterordneten, von dem aus das publicum mit recht geschichte
beurteilt wissen will. wirklichen wert hat fast nur die geschichte der
athenischen demokratie, deshalb weil sie hier als das erscheint was sie
ist, das rückgrat der griechischen geschichte. es war die rettung, die
rehabilitirung dieser demokratie ziemlich in allen stücken und in allen
zeiten. demzufolge ward auch eine entwickelung der verfassung ge-
geben, mit gewalttätiger hand, radikal und im feineren sinne unhistorisch,
wie dieser liberalismus vorzugehn pflegt. gerade in der unerschrockenen
consequenz lag der fortschritt. und niemand darf leugnen, daſs gegen-
über der minder von Plutarch als von Cornelius Nepos eingegebenen
klage über den undankbaren demos und überhaupt der platt morali-
sirenden manier, aber auch gegenüber der vorstellung von einem
[379]Wege und ziele der griechischen historie.
Griechenland schöner und hochgesinnter männer und knaben, die sich
im culte der schönheit ergehn und den traum des schönsten lebens
träumen, während über ihnen der ewigblaue himmel lacht, auch gegen-
über den romantischen gemälden von biderber Dorerweisheit und tugend
die grausame realität des leidenschaftlichsten politischen kampfes, ja
die berechtigung dieser leidenschaften mit recht zu worte kam. aber
das kann jetzt auch niemand mehr leugnen, daſs die philologie, die fest
auf ihren zeugnissen stand und die überlieferung der gewaltsamen con-
struction nicht preis gab, recht behalten hat. dazu brauchte Aristoteles
nicht zu erscheinen; aber wie unangenehm er den radikaleren nach-
fahrern Grotes ist, hat ihr zorn wider sein buch gezeigt.
Grotes werk wird abgesehen von den partien, wo es wesentlich
eine raisonnirende wiedergabe der antiken erzählungen ist und für das
verständnis des Herodot, Xenophon, Diodor bedeutendes beiträgt, bald
nur noch wenig benutzt werden; der adel der künstlerischen form war
ihm wie dem Polybios versagt, mit dem er manche verwandtschaft hat.
aber der anstoſs, den er der wissenschaft gegeben hat, wird fortwirken,
welche bahnen sie auch immer einschlagen wird.62)
Ein menschenalter reich an arbeit und auch an ertrag ist hin-
gegangen, und das bedürfnis einer neuen darstellung der griechischen ge-
schichte und der griechischen ‘altertümer’ wird nun sehr lebhaft em-
pfunden. es erscheinen auch bearbeitungen von beiden, nützliche und
unnütze. aber die altertümer sind immer noch im wesentlichen samm-
lungen von einzelheiten, und die geschichte läuft gefahr, das auch zu
werden. das sind gewiſs nötige und nützliche dinge, aber πουλυμαϑίη
νόον οὐ διδάσκει. schlimmer ist es, wenn die historie sich selbst
zerstört. die mühlsteine der kritik drehen sich auch hier, genau wie
sie es in der textkritik getan haben, mit aller wucht weiter, ohne daſs
korn nachgeschüttet wird, wie soll’s da mehl geben? wenn das er-
gebnis der kritik ist, daſs es keine verfassungsgeschichte Athens gibt,
so sollte man doch meinen, daſs es sehr überflüssig wäre, athenische
[380]I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
geschichte zu treiben. wenn wir bloſs Herodot und Thukydides haben,
so wollen wir die lieber selber lesen. Kleon war so lange ein rothariger
theaterbösewicht und Demosthenes ein idealmensch; das kann man auch
umdrehen und Perikles von dem standpunkte eines sommerlieutenants
um den feldherrnruhm bringen, Alexander den Groſsen einen trunkenen
tyrannen oder eine bestie schimpfen oder in Aischines einen retter
Athens erblicken. mühsam ist das nicht, es läſst sich auch mit einigem
geschicke ganz plausibel darstellen. aber was ist es anders als sophistik?
Warum ist es nicht so auf dem römischen gebiete? weil das
staatsrecht da ist. die institutionen selbst tragen ihre logik in sich,
und diese verbietet die sophistischen spielereien. die livianischen annalen
geben keine geschichte (auſser wo sie Polybios übersetzen), und doch
dürfen wir uns schmeicheln, daſs die zeit der adelsherrschaft uns richtiger
bekannt ist als dem Cicero. von der kaiserzeit gibt es seit dem ende
des Tacitus bis ins vierte jahrhundert hinein nur eine jämmerliche über-
lieferung, und doch wissen wir, wie es zu Hadrians und Severus zeit
im römischen reiche aussah, besser als es irgend ein mitlebender dar-
gestellt hat. auch da ist eine überfülle der mittelbaren geschichtlichen
zeugnisse vorhanden, aber das recht, das staatsrecht wie das civilrecht,
liefert die ordnenden gedanken.
Eine rechtswissenschaft fehlt den Athenern und den Hellenen über-
haupt freilich, während die mittelbar geschichtliche überlieferung um so
viel ergiebiger ist als die reden des Demosthenes und Hypereides über
Aristides und Fronto stehn, und die attischen psephismen über den
römischen ehreninschriften. das recht der Hellenen steckt in der philo-
sophie. und da tritt die Politie nun zur rechten zeit ein: die logik des
rechtes muſs die ordnenden gedanken schaffen für die stoffmassen der
antiquitäten, und sie muſs im staate und seinem leben ein würdigeres
object dem historischen urteile geben als die schuld des Thukydides
oder die unschuld des Demosthenes. die Politie selbst ist dazu freilich
kaum allein im stande; sie krankt selbst nur zu tief an der verwechselung
des staates und der demagogen. aber sie zwingt doch dazu, den staat
der Athener als ein organisches und gewordenes ganzes zu betrachten,
und vor allem, sie weist, richtig aufgefaſst, auf die Politik und die Ge-
setze Platons. die beiden fürsten der philosophie haben die demokratie
Athens in ihrer geschichtlichen bedeutung und berechtigung verkannt:
sie sind dazu bestimmt, dem spätgebornen geschlechte, das gerecht
abwägen und würdigen kann und soll, die besten mittel dazu zu ge-
währen, indem sie uns lehren, was der antike staat sein wollte und
[381]Wege und ziele der griechischen historie.
war. das römische vorbild wird der forschung auch zu hilfe kommen;
schon ertönen die angstrufe, daſs man die römische folgerichtigkeit in
Hellas verlange, weil es dann mit den irrlichteliren aus ist. aber der
unterschied muſs allerdings bleiben: was für Rom die logik des rechtes,
das ist für Hellas die der philosophie; die juristische speculation der
sophistenzeit hat nun einmal diese wege eingeschlagen. wer in grie-
chischer geschichte zu hause sein will, der muſs, was die alte zeit an-
langt, in Homer und Pindar, was die spätere anlangt, in Platon und
Aristoteles zu hause sein: bei denen lernt er denken und empfinden
wie die leute, deren staat und geschichte er verstehn soll. die nächsten
aufgaben stellen sich von selbst: die verfassungsgeschichte von 403—322
vermittelst der logik, die Aristoteles lehrt, aus den inschriften und rednern
gewinnen, die übrigen Politien, so gut es mit allen mitteln geht,
restituiren, und von ihnen vorwärts, von der Römerzeit rückwärts
schlieſsend die verfassung und verwaltung der hellenistischen königreiche
wenigstens in den umrissen feststellen. dazu kann Aristoteles nicht sehr
viel helfen; aber die gräber und schutthalden Aegyptens und die trümmer-
stätten Asiens liefern auch dazu die documente; die römische forschung,
auch die des rechtes, wie das schöne werk von Mitteis zeigt, reicht die
fördernde hand: wenn sie nur die arbeit daransetzt und den καιϱός
bei der locke faſst, so kann’s der griechischen historie nicht fehlen:
eine neue epoche muſs beginnen. eine epoche vorbereitender arbeit
wird es immer noch sein: der geschichtsschreiber der Hellenen, der
dann erst mit dem römischen prinzipate aufhören wird, kann noch nicht
wol geboren sein. wir die wir ihm die werksteine brechen und be-
hauen müssen uns bescheiden zu arbeiten im anschlusse und in der
weise der aristotelischen Politien, die auch keine geschichte gewesen
sind. mögen wir an Aristoteles lernen was mehr ist als der bloſse stoff,
zu denken und zu urteilen. unsere πουλυμαϑίη hat sein buch nicht
befriedigt, aber νόον φύει: dazu wollen wir’s gebrauchen.
Druck von J. B. Hirschfeld in Leipzig.