Das Recht der Uebersetzung in fremde Sprachen behält sich die
Verlagsbuchhandlung vor.
Druck von C. A. Wagner in Freiburg i. Br.
Dieses Buch will, indem es die Meinungen der Griechen
von dem Leben der menschlichen Seele nach dem Tode darlegt,
einen Beitrag zu einer Geschichte griechischer Religion geben.
Ein solches Unternehmen hat in besonderem Maasse mit den
Schwierigkeiten zu kämpfen, die einer jeden Untersuchung des
religiösen Gedankenlebens der Griechen sich entgegenstellen. Die
griechische Religion, als eine gewordene, nicht gestiftete Reli-
gion, hat den Gedanken und Gefühlen, die sie von innen be-
stimmen und nach aussen gestalten, niemals begrifflichen Aus-
druck gegeben. In religiösen Handlungen allein stellte sie sich
dar; sie hat keine Religionsbücher, aus denen der tiefste Sinn
und der Zusammenhang der Gedanken, in denen der Grieche zu
den göttlichen Mächten, die sein Glaube ihm schuf, in Beziehung
trat, sich ablesen liesse. Gedanken und Phantasie griechischer
Dichter umspielen den, trotz des Mangels begrifflicher Entwick-
lung, oder vielleicht eben deswegen, wunderbar sicher bei seiner
ursprünglichen Art verharrenden Kern griechischer Volksreligion.
Dichter und Philosophen bieten in dem, was von ihren Schriften
auf unsere Zeit gekommen ist, die einzigen Urkunden griechi-
schen religiösen Gedankenlebens dar. Sie mussten auch bei der
hier unternommenen Forschung auf lange Strecken die Führer
sein. Aber wenn auch, in griechischen Lebensverhältnissen, die
religiösen Anschauungen der Dichter und Philosophen schon an
und für sich einen wichtigen Theil griechischer Religion über-
haupt darstellen, so lassen sie doch immer nur die Stellung er-
kennen, die der Einzelne, in voller Freiheit der Entscheidung,
[IV] zu der Religion der Väter sich gab. Wohl konnte dieser, so-
weit es der Gang seiner eigenen Gedanken zuliess, mit der
schlichten Empfindung, die den Volksglauben und die Hand-
lungen volksthümlicher εὐσέβεια gestaltet hatte und bestimmte,
sich durchdringen. Und in der That, wie wenig wüssten wir
von den religiösen Gedanken, die dem gläubigen Griechen das
Herz bewegten, ohne die Aussagen der Philosophen und Dichter
(dazu noch einiger attischer Redner), in denen diese sorst in
stummem Gefühl verschlossenen Gedanken Stimme gewinnen.
Aber der würde ja stark im Irrthum sein und zu wunderlichen
Ergebnissen kommen, der aus dem, was in griechischer Litte-
ratur an religiösen Gedanken hervortritt, ohne Umstände eine
„Theologie des griechischen Volksglaubens“ herausziehen zu
können vermeinte. Wo litterarische Aussagen und Andeutungen
uns im Stich lassen, stehen wir der griechischen Religion und
ihren innersten Motiven nur ahnend gegenüber. Es fehlt ja
nicht an Solchen, die aus dem eigenen wackeren Herzen und
dienstwilliger Phantasie uns allen gewünschten Aufschluss herauf-
holen zu können sicher sind; oder die dem alten Götterglauben
zu rechter Verdeutlichung die Regungen christlicher Frömmigkeit
mehr oder weniger harmlos unterschieben. Hiebei wird beiden
Religionsweisen Unrecht gethan, und ein Erfassen des inneren
Sinnes griechischer Gläubigkeit nach seiner selbständigen Art
vollends unmöglich gemacht. Besonders an dem, mehr selbst
als er verdiente von der Aufmerksamkeit der Religionsforschung
bevorzugten Punkte einer Verschmelzung der Götterverehrung und
des Seelenglaubens, den Eleusinischen Mysterien, hat sich die
vollkommene Unerspriesslichkeit der Unterschiebung wechselnder
Gedanken oder Stimmungen moderner Welt und Cultur für die
Aufhellung des inneren Lebenstriebes dieser bedeutungsvollen Cult-
handlungen wieder und wieder gezeigt. Besonders an diesem Punkte
hat die gegenwärtige Darstellung darauf verzichtet, durch Hinein-
stellung eines selbstgegossenen Lichtleins über das ehrwürdige
Dunkel einen zweideutigen Flackerglanz zu verbreiten. Es wird
nicht geleugnet, dass es hier, und so in antiker εὐσέβεια an vielen
[V] Stellen, ein Tiefstes und Bestes gab, das unserer Erkenntniss
sich entzieht. Aber das aufklärende Wort, niemals aufgezeich-
net, ist uns verloren. Besser als in modernen Schlagworten ein
Surrogat zu suchen, ist die schichte Hinstellung der uns be-
kannten äusseren Erscheinungen griechischer Frömmigkeit in der
scheinbaren Kälte ihrer Thatsächlichkeit. Es wird hierbei an
Anregung zu eigenen Gedanken und Vermuthungen, die nicht
immer sich hervorzudrängen brauchen, nicht fehlen. Die That-
sachen des griechischen Seelencultes und des, auch nur theilweise
seinen innersten Impulsen nach unserem nachempfindenden Ver-
ständniss zugänglichen Unsterblichkeitsglaubens deutlich heraus-
zustellen, nach Ursprung und Entwicklung, Wandlung und Ver-
schwisterung mit verwandten Gedankenrichtungen zu bestimmter
Anschauung zu bringen, war die eigentliche Aufgabe. Die ein-
zelnen Fäden sehr verschiedener Gedankenläufe aus der wirren
Verhedderung, in der sie in mancher Vorstellung (und Darstel-
lung) sich ineinander verwickeln, herauszulösen und reinlich
nebeneinander laufen zu lassen, schien besonders erforderlich.
Warum diesen Aufgaben nicht überall mit gleichen Mitteln, bald
in knapperer Zusammenfassung des Wesentlichen, bald in aus-
führlicher Darlegung und weiter ausgedehnter, bisweilen scheinbar
selbst fernhin abschweifender Verfolgung aller Zusammenhänge
nachgegangen worden ist, wird Kennern des Gegenstandes leicht
verständlich sein. Wo einmal tiefer in die überfliessende Fülle
der Einzelthatsachen eingegangen worden war, bot sich in den
„Nachträgen“ (S. 692 ff.) Gelegenheit, die (freilich immer nur
relative) Vollständigkeit der Darstellung zu ergänzen. Hierzu
gab die lange Frist, die zwischen der Veröffentlichung der zwei
Abtheilungen dieses Buches lag, die Möglichkeit. Die erste
Hälfte (bis S. 294) ist schon im Frühjahr 1890 ausgegeben
worden, die Vollendung des Uebrigen hat sich, unter ungünstigen
Umständen, bis heute hinausgezogen. Die beiden Theile liessen
sich, so wie geschehen, gesondert halten: ihre Themen gehen in
der Hauptsache nach den zwei, im Titel des Buches bezeich-
neten Seiten des „Seelencultes“ und des „Unsterblichkeits-
[VI] glaubens“ auseinander. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube
verschlingen sich wohl zuletzt an einzelnen Stellen; aber sie
nehmen ihren Ausgang von verschiedenen Punkten und gehen
zumeist gesonderte Wege. Der Unsterblichkeitsgedanke ins-
besondere geht aus von einer begeisterten Anschauung, der die
Seele des Menschen als den ewigen Göttern verwandtschaftlich
nahestehend, ja wesensgleich sich offenbart, und gleichzeitig die
Götter als der Seele gleich, d. h. als freie, des Körperlichen
und Sichtbaren nicht bedürftige Geister (diese Vergeistigung des
Götterglaubens, nicht eigentlich, wie Aristoteles in jenen merk-
würdigen Ausführungen bei Sext. Empir. adv. math. III 20 ff.
annimmt, der Götterglaube überhaupt, hat seinen Ursprung in
dem, was die Seele καϑ̕ ἑαυτήν, frei geworden vom Leibe,
in ἐνϑουσιασμοί und μαντεῖαι von ihrer Gottnatur selbst erfährt).
Das führt weit ab von den Vorstellungen, die dem Seelencult
zu Grunde liegen.
Einen Uebelstand, den ich die günstigen Leser (deren die
erste Hälfte des Buches, wie ich dankbar anzuerkennen habe,
eine grosse Zahl gefunden hat) entschuldigend hinzunehmen bitte,
hat die Ausgabe des Buches in zwei Hälften nach sich gezogen.
Die sechzehn Excurse des Anhangs, die in der ersten Hälfte
angekündigt sind, haben, als in der zweiten Häfte der Umfang
des Buches über Vermuthen angewachsen war und das μέτρον
αὔταρκες fast schon überschritten hatte, nicht mehr ausgeführt
werden können. Das Buch vertrug keine weitere Belastung.
Die Excurse werden, soweit sie noch ein selbständiges Interesse
darbieten, an anderer Stelle eine Unterkunft finden. Das Ver-
ständniss des Buches selbst wird durch das Fehlen dieser, als
wahre Abschweifungen gedachten Ausführungen nirgends be-
einträchtigt.
Heidelberg, 1. Nov. 1893.
Erwin Rohde.
Der unmittelbaren Empfindung des Menschen scheint nichts
so wenig einer Erklärung oder eines Beweises bedürftig, nichts
so selbstverständlich wie die Erscheinung des Lebens, die That-
sache seines eigenen Lebens. Dagegen das Aufhören dieses
so selbstverständlichen Daseins erregt, wo immer es ihm vor
Augen tritt, immer aufs Neue sein Erstaunen. Es giebt Völker-
stämme, denen jeder Todesfall als eine willkürliche Verkürzung
des Lebens erscheint, wenn nicht durch offene Gewalt, so durch
versteckte Zaubermacht herbeigeführt. So unfassbar bleibt ihnen,
dass dieser Zustand des Lebens und Selbstbewusstseins von
selbst aufhören könne.
Ist einmal das Nachdenken über so bedenkliche Dinge er-
wacht, so findet es bald das Leben, eben weil es schon an
der Schwelle aller Empfindung und Erfahrung steht, nicht
weniger räthselhaft als den Tod, bis in dessen Bereich keine
Erfahrung führt. Es kann begegnen, dass bei allzu langem
Hinblicken Licht und Dunkel ihre Stellen zu tauschen scheinen.
Ein griechischer Dichter war es, dem die Frage aufstieg:
Von solcher müden Weisheit und ihren Zweifeln finden wir
das Griechenthum noch weit entfernt da, wo es zuerst, aber
schon auf einem der Höhepuncte seiner Entwicklung, zu uns
redet: in den homerischen Gedichten. Mit Lebhaftigkeit redet
der Dichter, reden seine Helden von den Schmerzen und Sorgen
Rohde, Seelencult. 1
[2] des Lebens in seinen einzelnen Wechselfällen, ja nach seiner
gesammten Anlage, denn so haben es ja die Götter beschieden
den armen Menschen, in Mühsal und Leid zu leben, sie selber
aber sind frei von Kummer. Aber von dem Leben im Ganzen
sich abzuwenden, kommt keinem homerischen Menschen in den
Sinn. Von dem Glück und der Freudigkeit des Lebens wird
nur darum nicht ausdrücklich geredet, weil sich das von selbst
versteht bei einem rüstigen, in aufwärts steigender Bewegung
begriffenen Volke, in wenig verschlungenen Verhältnissen, in
denen die Bedingungen des Glückes in Thätigkeit und Genuss
dem Starken leicht zufallen. Und freilich, nur für die Starken,
Klugen und Mächtigen ist diese homerische Welt eingerichtet.
Leben und Dasein auf dieser Erde ist ihnen so gewiss ein
Gut, als es zur Erreichung aller einzelnen Güter unentbehrliche
Bedingung ist. Denn der Tod, der Zustand, der nach dem
Leben folgen mag, — es ist keine Gefahr, dass man ihn mit
dem Leben verwechsle. „Wolle mir doch den Tod nicht weg-
reden“, so würde, wie Achill im Hades dem Odysseus, der home-
rische Mensch jenem grübelnden Dichter antworten, wenn er
ihm den Zustand nach Ablauf des Erdenlebens als das wahre
Leben vorspiegeln wollte. Nichts ist dem Menschen so ver-
hasst wie der Tod und die Thore des Hades. Denn eben das
Leben, dieses liebe Leben im Sonnenlichte, ist sicher dahin mit
dem Tode, mag nun folgen was will.
Aber was folgt nun? Was geschieht, wenn das Leben
für immer aus dem entseelten Leibe entweicht?
Befremdlich ist es, dass neuerdings hat behauptet werden
können 1), es zeige sich auf irgend einer Stufe der Entwicklung
homerischer Dichtung der Glaube, dass mit dem Augenblick
des Todes Alles zu Ende sei, nichts den Tod überdaure. Keine
Aussage in den beiden homerischen Gedichten (etwa in deren
ältesten Theilen, wie man meint), auch nicht ein beredtes Still-
[3] schweigen berechtigt uns, dem Dichter und seinem Zeitalter
eine solche Vorstellung zuzuschreiben. Immer wieder wird ja,
wo von eingetretenem Tode berichtet worden ist, erzählt, wie
der, noch immer mit seinem Namen bezeichnete Todte, oder
wie dessen „Psyche“ enteile in das Haus des Aïdes, in das
Reich des Aïdes und der grausen Persephoneia, in die unter-
irdische Finsterniss, den Erebos, oder, unbestimmter, in die
Erde versinke. Ein Nichts ist es jedenfalls nicht, was in
die finstre Tiefe eingehen kann, über ein Nichts kann, sollte
man denken, das Götterpaar drunten nicht herrschen.
Aber wie hat man sich diese „Psyche“ zu denken, die,
bei Leibesleben unbemerkt geblieben, nun erst wenn sie „ge-
löst“ ist, kenntlich geworden, zu unzähligen ihresgleichen ver-
sammelt im dumpfigen Reiche des „Unsichtbaren“ (Aïdes)
schwebt? Ihr Name bezeichnet sie, wie in den Sprachen vieler
andrer Völker die Benennungen der „Seele“, als ein Luft-
artiges, Hauchartiges, im Athem des Lebenden sich kund
Gebendes. Sie entweicht aus dem Munde, auch wohl aus der
klaffenden Wunde des Sterbenden — und nun wird sie, frei
geworden, auch wohl genannt „Abbild“ (εἴδωλον). Am Rande
des Hades sieht Odysseus schweben „die Abbilder derer, die
sich (im Leben) gemüht haben“. Diese Abbilder, körperlos,
dem Griffe des Lebenden sich entziehend, wie ein Rauch (Il. 23,
100), wie ein Schatten (Od. 11, 207. 10, 495), müssen wohl
die Umrisse des einst Lebenden kenntlich wiedergeben: ohne
Weiteres erkennt Odysseus in solchen Schattenbildern seine
Mutter Antikleia, den jüngst verstorbenen Elpenor, die voran-
gegangenen Gefährten aus dem troischen Kriege wieder. Die
Psyche des Patroklos, dem Achilleus nächtlich erscheinend,
gleicht dem Verstorbenen völlig an Grösse und Gestalt und
am Blicke der Augen. Die Art dieses schattenhaften Eben-
bildes des Menschen, das im Tode sich von diesem ablöst und
schwebend enteilt, wird man am ersten verstehen, wenn man
sich klar macht, welche Eigenschaften ihm nicht zukommen.
Die Psyche nach homerischer Vorstellung ist nichts, was dem
1*
[4] irgendwie ähnlich wäre, was wir, im Gegensatz zum Körper,
„Geist“ zu nennen pflegen. Alle Functionen des menschlichen
„Geistes“ im weitesten Sinne, für welche es dem Dichter an
mannichfachen Benennungen nicht fehlt, sind in Thätigkeit, ja
sind vorhanden, nur so lange der Mensch im Leben steht.
Tritt der Tod ein, so ist der volle Mensch nicht länger bei-
sammen: der Leib, d. i. der Leichnam, nun „unempfindliche
Erde“ geworden, zerfällt, die Psyche bleibt unversehrt. Aber
sie ist nun nicht etwa Bergerin des „Geistes“ und seiner Kräfte,
nicht mehr als der Leichnam. Sie heisst besinnungslos, vom Geist
und seinen Organen verlassen; alle Kräfte des Wollens, Em-
pfindens, Denkens sind verschwunden mit der Auflösung des
Menschen in seine Bestandtheile. Man kann so wenig der Psyche
die Eigenschaften des „Geistes“ zuschreiben, dass man viel
eher von einem Gegensatz zwischen Geist und Psyche des
Menschen reden könnte. Der Mensch ist lebendig, seiner selbst
bewusst, geistig thätig nur so lange die Psyche in ihm ver-
weilt, aber nicht sie ist es, die durch Mittheilung ihrer eigenen
Kräfte dem Menschen Leben, Bewusstsein, Willen, Erkennt-
nissvermögen verleiht, sondern während der Vereinigung des
lebendigen Leibes mit seiner Psyche liegen alle Kräfte des
Lebens und der Thätigkeit im Bereiche des Leibes, dessen
Functionen sie sind. Nicht ohne Anwesenheit der Psyche kann
der Leib wahrnehmen, empfinden und wollen, aber er übt diese
und alle seine Thätigkeiten nicht aus durch oder vermittelst
der Psyche. Nirgends schreibt Homer der Psyche solche
Thätigkeit im lebendigen Menschen zu; sie wird überhaupt erst
genannt, wenn ihre Scheidung vom lebendigen Menschen bevor-
steht oder geschehen ist: als sein Schattenbild überdauert sie
ihn und alle seine Lebenskräfte.
Fragt man nun (wie es bei unseren homerischen Psycho-
logen üblich ist), welches, bei dieser räthselhaften Vereinigung
eines lebendigen Leibes und seines Abbildes, der Psyche, der
„eigentliche Mensch“ sei, so giebt Homer freilich widerspruchs-
volle Antworten. Nicht selten (und gleich in den ersten Versen
[5] der Ilias) wird die sichtbare Leiblichkeit des Menschen als „Er
selbst“ der Psyche (welche darnach jedenfalls kein Organ, kein
Theil dieser Leiblichkeit sein kann) entgegengesetzt 1). Andrer-
seits wird auch wohl der im Tode zum Reiche des Hades
Forteilende mit dem Eigennamen des Lebenden, als „er selbst“,
bezeichnet 2), dem Schattenbild der Psyche also — denn dieses
allein geht doch in den Hades ein — Name und Werth der
vollen Persönlichkeit, des „Selbst“ des Menschen zugestanden.
Wenn man aber aus solchen Bezeichnungen geschlossen hat,
entweder dass „der Leib“, oder dass vielmehr die Psyche der
„eigentliche Mensch“ sei 3), so hat man in jedem Falle die
eine Hälfte der Aussagen unbeachtet oder unerklärt gelassen.
Unbefangen angehört, lehren jene, einander scheinbar wider-
sprechenden Ausdrucksweisen, dass sowohl der sichtbare Mensch
(der Leib und die in ihm wirksamen Lebenskräfte) als die
diesem innewohnende Psyche als das „Selbst“ des Menschen be-
zeichnet werden können. Der Mensch ist nach homerischer
Auffassung zweimal da, in seiner wahrnehmbaren Erscheinung
und in seinem unsichtbaren Abbild, welches frei wird erst im
Tode. Dies und nichts anderes ist seine Psyche.
Eine solche Vorstellung, nach welcher in dem lebendigen,
voll beseelten Menschen, wie ein fremder Gast, ein schwächerer
Doppelgänger, sein anderes Ich, als seine „Psyche“ wohnt,
will uns freilich sehr fremdartig erscheinen. Aber genau dieses
[6] ist der Glaube der sogenannten „Naturvölker“ der ganzen Erde 1),
wie ihn mit eindringlicher Schärfe namentlich Herbert Spencer
ergründet hat. Es hat nichts Auffallendes, auch die Griechen
eine Vorstellungsart theilen zu sehen, die dem Sinne uranfäng-
licher Menschheit so nahe liegt. Die Beobachtungen, welche
auf dem Wege einer phantastischen Logik zu der Annahme
des Doppellebens im Menschen führten, können der Vorzeit,
welche den Griechen Homers ihren Glauben überlieferte, nicht
ferner gelegen haben als anderen Völkern. Nicht aus den Er-
scheinungen des Empfindens, Wollens, Wahrnehmens und
Denkens im wachen und bewussten Menschen, sondern aus den
Erfahrungen eines scheinbaren Doppellebens im Traum, in der
Ohnmacht und Ekstase ist der Schluss auf das Dasein eines
zwiefachen Lebendigen im Menschen, auf die Existenz eines
selbständig ablösbaren „Zweiten Ich“ in dem Innern des täg-
lich sichtbaren Ich gewonnen worden. Man höre nur die Worte
eines griechischen Zeugen, der, in viel späterer Zeit, klarer als
Homer irgendwo, das Wesen der Psyche ausspricht und zu-
gleich die Herkunft des Glaubens an solches Wesen erkennen
lässt. Pindar (fr. 131) lehrt: der Leib folgt dem Tode, dem
allgewaltigen. Lebendig aber bleibt das Abbild des Lebenden
(„denn dieses allein stammt von den Göttern“: das ist freilich
nicht homerischer Glaube), es schläft aber (dieses Eidolon)
wenn die Glieder thätig sind, aber dem Schlafenden oft im
Traume zeigt es Zukünftiges. — Deutlicher kann nicht gesagt
werden, dass an der Thätigkeit des wachen und vollbewussten
Menschen sein Seelenabbild keinen Theil hat. Dessen Reich
ist die Traumwelt; wenn das andre Ich, seiner selbst unbewusst,
im Schlafe liegt, wirkt und wacht der Doppelgänger. In der
That, während der Leib des Schlafenden unbeweglich verharrt,
sieht und erlebt Er selbst, im Traume, Vieles und Seltsames —
[7] Er selbst (daran kann er nicht zweifeln) und doch nicht sein,
ihm und Anderen wohlbekanntes sichtbares Ich, denn dieses lag
ja wie todt, allen Eindrücken unzugänglich. Es lebt also in
ihm ein zweites Ich, das im Traume thätig ist. Dass die
Traumerlebnisse thatsächliche Vorgänge sind, nicht leere Ein-
bildungen, steht auch für Homer noch fest. Nie heisst es bei
ihm, wie doch oft bei späteren Dichtern, dass der Träumende
dies und jenes zu sehen „meinte“: was er im Traume wahr-
nimmt, sind wirkliche Gestalten, der Götter selbst oder eines
Traumdämons, den sie absenden, oder eines flüchtigen „Ab-
bildes“ (Eidolon), das sie für den Augenblick entstehen lassen;
wie das Sehen des Träumenden ein realer Vorgang ist, so das,
was er sieht, ein realer Gegenstand. So ist es auch ein Wirk-
liches, was dem Träumenden erscheint als Gestalt eines jüngst
Verstorbenen. Kann diese Gestalt dem Träumenden sich zeigen,
so muss sie eben auch noch vorhanden sein: sie überdauert
also den Tod, aber freilich nur als ein luftartiges Abbild, so
wie wir wohl unser eignes Bild im Wasserspiegel 1) gesehen
haben. Denn greifen und halten, wie einst das sichtbare Ich,
lässt sich dieses Luftwesen nicht, darum eben heisst es „Psyche“.
Den uralten Schluss auf das Dasein solches Doppelgängers
im Menschen wiederholt, als der todte Freund ihm im Traume
erschienen und wieder entschwunden ist, Achilleus (Il. 23, 103 f.):
ihr Götter, so bleibt denn wirklich auch noch in des Hades
Behausung eine Psyche und ein Schattenbild (des Menschen),
doch es fehlt ihm das Zwerchfell (und damit alle Kräfte, die
den sichtbaren Menschen am Leben erhalten).
Der Träumende also und was er im Traume sieht, be-
stätigt das Dasein eines für sich existirenden zweiten Ich 2).
[8] Der Mensch macht aber auch die Erfahrung, dass sein Leib
todesähnlicher Erstarrung verfallen kann, ohne dass Traum-
erlebnisse das zweite Selbst beschäftigten. In solcher „Ohn-
macht“ hat nach griechischer Vorstellung und homerischem
Ausdruck „die Psyche den Leib verlassen“ 1). Wo war sie?
Man weiss es nicht. Aber sie kommt für dieses Mal noch
wieder, und mit ihr wird „der Geist in das Zwerchfell wieder
versammelt“. Wird sie einst, im Tode, sich für immer von dem
sichtbaren Leibe trennen, so wird also diesem der „Geist“
niemals wiederkehren 2); sie selbst, wie sie damals, zeitweise
vom Leibe getrennt, nicht unterging, wird auch dann nicht in
Nichts zerfliessen.
Soweit gehen die Erfahrungen, aus denen eine Urweltlogik
überall die gleichen Folgerungen gewonnen hat. Nun aber:
wohin entfliegt die frei gewordene Psyche? was wird mit ihr?
Hier beginnt the undiscovered country, und es kann scheinen,
als liefen an ihrem Eingang die Wege völlig auseinander.
Die „Naturvölker“ pflegen den vom Leibe getrennten „See-
len“ eine gewaltige, unsichtbar zwar, aber um so schrecklicher
wirkende Macht zuzuschreiben, ja sie leiten zum Theil alle
unsichtbare Gewalt von den „Seelen“ ab, und sind angstvoll
bedacht, durch möglichst reiche Gaben das Wohlwollen dieser
mächtigen Geisterwesen sich zu sichern. Homer dagegen kennt
2)
[9]keine Wirkung der Psychen auf das Reich des Sichtbaren,
daher auch kaum irgend einen Cult derselben. Wie sollten
auch die Seelen (wie ich nunmehr wohl, ohne Missverständniss
zu befürchten, sagen darf) wirken? Sie sind alle versammelt
im Reiche des Aïdes, fern von den lebenden Menschen, Okeanos,
Acheron trennt sie von ihnen, der Gott selbst, der unerbittliche,
unbezwingliche Thorhüter, hält sie fest. Kaum dass einmal
ein Märchenheld, wie Odysseus, lebend bis an den Eingang
des grausigen Reiches gelangt; sie selbst, die Seelen, sobald
sie den Fluss überschritten haben, kommen nie mehr zurück:
so versichert die Seele des Patroklos dem Freunde. Wie
gelangen sie dahin? Die Voraussetzung scheint zu sein, dass
die Seele beim Verlassen des Leibes, wiewohl ungern, „ihr
Geschick bejammernd“, doch ohne alle Umstände zum Hades
entschwebt, nach Vernichtung des Leibes durch Feuer für
immer in den Tiefen des Erebos verschwindet. Ein später
Dichter erst, der der Odyssee ihren letzten Abschluss gab,
bedurfte des Hermes, des „Seelengeleiters“. Ob das eine
Erfindung jenes Dichters oder (was viel wahrscheinlicher ist)
nur eine Entlehnung aus altem Volksglauben einer einzelnen
Gegend Griechenlands ist: gegenüber Homers festgeschlos-
senem Vorstellungskreise ist es eine Neuerung, und eine be-
deutungsvolle. Schon beginnt man, scheint es, an der Noth-
wendigkeit des Hinabschwebens aller Seelen in das Haus
der Unsichtbarkeit zu zweifeln, weist ihnen einen göttlichen
Geleitsmann an, der sie durch magisch zwingenden „Abruf“
(Od. 24, 1) und die Kraft seines Zauberstabes ihm zu folgen
nöthigt 1).
Drunten, im dumpfigen Höhlenbereich, schweben sie nun,
bewusstlos, oder höchstens in dämmerndem Halbbewusstsein,
mit halber Stimme begabt, schwach, gleichgültig: natürlich, denn
Fleisch, Knochen und Sehnen 1), das Zwerchfell, der Sitz aller
Geistes- und Willenskräfte — alles dieses ist dahin; es war
an den jetzt vernichteten, einst sichtbaren Doppelgänger der
Psyche gebunden. Von einem „unsterblichen Leben“ dieser
Seelen zu reden, mit alten und neueren Gelehrten, ist unrichtig.
Sie leben ja kaum mehr als das Bild des Lebenden im Spiegel;
und dass sie ihr schattenhaftes Abbilddasein auch nur ewig
fortführen werden, wo stünde das bei Homer? Ueberdauert
die Psyche ihren sichtbaren Genossen, so ist sie doch kraft-
los ohne ihn: kann man sich vorstellen, dass ein sinnlich empfin-
dendes Volk sich die ewig gedacht habe, denen, wenn einmal
die Bestattung beendigt ist, weiter keinerlei Nahrung (im
Cultus oder sonst) zukommt und zukommen kann? —
So ist die homerische helle Welt befreit von Nacht-
gespenstern (denn selbst im Traume zeigt sich die Psyche nach
der Verbrennung des Leibes nicht mehr), von jenen unbegreif-
1)
[11] lich spukhaft wirkenden Seelengeistern, vor deren unheimlichem
Treiben der Aberglaube aller Zeiten zittert. Der Lebende
hat Ruhe vor den Todten. Es herrschen in der Welt nur die
Götter, keine blassen Gespenster, sondern leibhaft fest gegründete
Gestalten, durch alle Weiten wirkend, wohnhaft auf heiterer
Berghöhe „und hell läuft drüber der Glanz hin“. Keine dämo-
nische Macht ist neben ihnen, ihnen zuwider, wirksam; auch
die Nacht giebt die entflogenen Seelen der Verstorbenen nicht
frei. Man erschrickt unwillkürlich, und spürt schon die Witte-
rung einer andern Zeit, wenn man in einer, von später Hand
eingedichteten Partie des 20. Buches der Odyssee erzählt findet,
wie kurz vor dem Ende der Freier der hellsichtige Wahrsager
in Halle und Vorhof schweben sieht in Schaaren die Seelen-
gestalten (Eidola), die hinabstreben in das Dunkel unter der
Erde; die Sonne erlischt am Himmel und schlimmes Dunkel
schleicht herauf. Das Grauen einer tragischen Vorahnung hat
dieser Spätling sehr wirksam hervorzurufen verstanden, aber
solches Grauen vor gespenstischem Geistertreiben ist nicht mehr
homerisch.
Waren die Griechen von jeher so frei von aller Beängsti-
gung durch die Seelen der Verstorbenen? Haben sie nie den
abgeschiedenen Seelen einen Cultus gewidmet, wie ihn die
„Naturvölker“ der ganzen Erde kennen, wie er aber auch den
Urverwandten des Griechenvolkes, den Indern, den Persern,
wohl vertraut war? Die Frage und ihre Beantwortung hat
ein allgemeineres Interesse. In späterer Zeit, lange nach Homer,
finden wir auch in Griechenland einen lebhaften Ahnencult, ein
allgemeiner Seelencult ist in Uebung. Wenn sich beweisen
liesse — was man meist ohne Beweis annimmt — dass so
spät erst unter Griechen eine religiöse Verehrung der Seelen
sich zum ersten Mal entwickelt habe, so könnte man hier eine
starke Unterstützung der oft geäusserten Meinung, nach welcher
Seelencult erst aus dem Verfall ursprünglichen Göttercultes
[12] entstehen soll, zu finden hoffen. Die Ethnographen pflegen
dieser Meinung zu widersprechen, den Seelencult als eines der
ersten und ältesten Elemente (wo nicht gar als das ursprüng-
lich allein vorhandene) einer Verehrung unsichtbarer Mächte
zu betrachten. Aber die „Naturvölker“, aus deren Zuständen
und Vorstellungen sie ihre Ansichten herzuleiten pflegen, haben
zwar eine lange Vergangenheit, aber keine Geschichte: es kann
der reinen Vermuthung oder theoretischen Construction nicht
verwehrt werden, entsprechend jener eben berührten, vielen
Religionshistorikern fast zu einer Art von Orthodoxie gewor-
denen Voraussetzung, auch in die gänzlich dunklen Uranfänge
der „Naturvölker“ einen, später erst zum Seelencult entarteten
Göttercultus zu verlegen. Dagegen können wir die Entwicklung
der griechischen Religion von Homer an auf lange Strecken
verfolgen; und da bleibt denn freilich die beachtenswerthe That-
sache bestehen, dass ein Seelencult, dem Homer unbekannt,
erst bei weiterer lebhafter Fortbildung der religiösen Vor-
stellungen sich herausbildet oder jedenfalls deutlicher hervor-
tritt, wenn auch — was doch sehr zu beherzigen ist — nicht
als Niederschlag einer Zersetzung des Götterglaubens und
Götterdienstes, vielmehr als Nebenschössling gerade der auf’s
Höchste entwickelten Verehrung der Götter.
Soll man also wirklich glauben, dass dem vorhomerischen
Griechenthum ein Cult der abgeschiedenen Seelen fremd war?
Dies so unbedingt anzunehmen, verbieten uns, bei ge-
nauerer Betrachtung, die homerischen Gedichte selbst.
Es ist wahr, die homerischen Gedichte bezeichnen für
uns den frühesten, deutlicher Kunde erreichbaren Punct grie-
chischer Culturentwicklung. Aber sie stehen ja keineswegs
am ersten Beginn dieser Entwicklung überhaupt. Selbst am
Anfang griechischer Heldendichtung, soweit diese der Nach-
welt bekannt geworden ist, stehen sie nur darum, weil sie zu-
erst, wegen ihrer inneren Herrlichkeit und Volksbeliebtheit, der
dauernden Aufbewahrung durch die Schrift gewürdigt worden
sind. Ihr Dasein schon und die Höhe ihrer künstlerischen
[13] Vollendung nöthigen uns anzunehmen, dass ihnen eine lange
und lebhafte Entwicklung poetischer Sage und Sagendichtung
voranliege; die Zustände, welche sie als bestehend darstellen
und voraussetzen, zeigen den langen Weg vom Wanderleben zur
städtischen Ansiedelung, vom patriarchalischen Regiment zum
Organismus der griechischen Polis als völlig durchmessen, und
wie die Reife der äusseren Entwicklung, so beweist die Reife
und Milde der Bildung, die Tiefe zugleich und Freiheit der
Weltvorstellung, die Klarheit und Einfachheit der Gedanken-
welt, die diese Gedichte widerspiegeln, dass vor Homer, um
bis zu Homer zu gelangen, das Griechenthum viel gedacht und
gelernt, mehr noch überwunden und abgethan haben muss.
Wie in der Kunst so in aller Cultur ist das einfach Angemessene
und wahrhaft Treffende nicht das Uranfängliche, sondern der
Gewinn langer Mühe. Es ist von vorne herein undenkbar,
dass auf dem langen Wege griechischer Entwicklung vor Homer
einzig die Religion, das Verhältniss des Menschen zu unsicht-
baren Gewalten, stets auf Einem Puncte beharrt sein sollte.
Nicht aus Vergleichung der Glaubensentwicklung bei stamm-
verwandten Völkern, auch nicht aus der Beachtung uralter-
thümlich scheinender Vorstellungen und Gebräuche des religiösen
Lebens griechischer Stämme, die uns in späterer Zeit begegnen,
wollen wir Aufschlüsse über die Cultgebräuche jener ältesten
griechischen Vorzeit zu gewinnen suchen, in welche eben Homers
Gedichte, sich mächtig vorschiebend, uns den Einblick ver-
sperren. Solche Hülfsmittel, an sich unverächtlich, dürfen nur
zur Unterstützung einer aus weniger trüglichen Betrachtungen
gewonnenen Einsicht verwendet werden. Unsere einzige zuver-
lässige Quelle der Kenntniss des vorhomerischen Griechenthums
ist Homer selbst. Wir dürfen, ja wir müssen auf eine Wand-
lung der Vorstellungen und Sitten schliessen, wenn in der sonst
so einheitlich abgeschlossenen homerischen Welt einzelne Vor-
gänge, Sitten, Redewendungen uns begegnen, die ihre zureichende
Erklärung nicht aus der im Homer sonst herrschenden, sondern
allein aus einer wesentlich anders gearteten, bei Homer sonst
[14] zurückgedrängten Allgemeinansicht gewinnen können. Es gilt
nur, die Augen nicht, in vorgefasster Meinung, zu verschliessen
vor diesen „Rudimenten“ (survivals nennen sie deutlicher eng-
lische Gelehrte) einer abgethanen Culturstufe mitten im Homer.
Es fehlt in den homerischen Gedichten nicht an Rudi-
menten eines einst sehr lebhaften Seelencultes. Vor Allem ist
hier dessen zu gedenken, was die Ilias von der Behandlung
der Leiche des Patroklos erzählt. Man führe sich nur die
Hauptzüge dieser Erzählung vor das Gedächtniss. Am Abend
des Tages, an dem Hektor erschlagen ist, stimmt Achill mit
seinen Myrmidonen die Todtenklage um den Freund an; drei-
mal umfahren sie die Leiche, Achill, dem Patroklos die „mör-
derischen Hände“ auf die Brust legend, ruft ihm zu: „Gruss
dir, mein Patroklos, noch an des Aïdes Wohnung“; was ich
dir zuvor gelobt, das wird jetzt alles vollbracht. Hektor liegt
erschlagen als Beute der Hunde, und zwölf edle Troerjüng-
linge werde ich an deinem Todtenfeuer enthaupten. Nach Ab-
legung der Waffen rüstet er den Seinen das Todtenmahl,
Stiere, Schafe, Ziegen und Schweine werden geschlachtet, „und
rings strömte, mit Bechern zu schöpfen, das Blut um den
Leichnam“. — In der Nacht erscheint dem Achill im Traume
die Seele des Patroklos, zu eiliger Bestattung mahnend. Am
Morgen zieht das Myrmidonenheer in Waffen aus, die Leiche
in der Mitte führend; die Krieger streuen ihr abgeschnittenes
Haupthaar auf die Leiche, zuletzt legt Achill sein eignes Haar
dem Freunde in die Hand: einst war es vom Vater dem Fluss-
gott Spercheios gelobt, nun soll, da Heimkehr dem Achill doch
nicht bescheert ist, es Patroklos mit sich nehmen. Der Scheiter-
haufen wird geschichtet, viele Schafe und Rinder geschlachtet,
mit deren Fett wird der Leichnam umhüllt, ihre Leiber werden
umher gelegt, Krüge voll Honig und Oel um die Leiche ge-
stellt. Nun schlachtet man vier Pferde, zwei dem Patroklos
gehörige Hunde, zuletzt zwölf, von Achill zu diesem Zwecke
[15] lebendig gefangene troische Jünglinge; Alles wird mit dem
Leichnam verbrannt; die ganze Nacht hindurch giesst Achill
dunklen Wein auf die Erde, die Psyche des Patroklos herbei-
rufend. Erst am Morgen löscht man mit Wein das Feuer,
die Gebeine des Patroklos werden gesammelt, in einen goldenen
Krug gelegt und im Hügel beigesetzt.
Hier hat man die Schilderung einer Fürstenbestattung vor
sich, die schon durch die Feierlichkeit und Umständlichkeit
ihrer mannichfachen Begehungen gegen die bei Homer sonst
hervortretenden Vorstellungen von der Nichtigkeit der aus dem
Leibe geschiedenen Seele seltsam absticht. Hier werden einer
solchen Seele volle und reiche Opfer dargebracht. Unverständ-
lich sind diese Darbringungen, wenn die Seele, nach ihrer Tren-
nung vom Leibe, alsbald bewusstlos, kraftlos und ohnmächtig
davon flattert, also auch keinen Genuss vom Opfer haben kann.
Und so ist es ja begreiflich, dass eine den Homer möglichst
isolirende und in dem deutlich bestimmten Kreise seiner Vor-
stellungen festhaltende Betrachtungsweise sich zu sträuben pflegt,
den Opfercharakter der hier dargebrachten Gaben anzuerkennen 1).
Man fragt aber vergebens, was denn anders als ein Opfer, d. h.
eine beabsichtigte Labung des Gefeierten, hier der Psyche, sein
könne das Umrieseln der Leiche mit Blut, das Abschlachten
und Verbrennen der Rinder und Schafe, Pferde und Hunde
und zuletzt der zwölf troischen Gefangenen an und auf dem
Scheiterhaufen? Von der Erweisung reiner Pietätspflichten,
wie man sonst wohl bei Erörterung mancher Gräuelbilder
griechischen Opferrituals zu thun liebt, wird man uns hier ja
nicht reden wollen. Homer kennt allerdings manche Begehungen
reiner Pietät an der Leiche, aber die zeigen ein ganz andres
Gesicht. Und nicht etwa zur Stillung der Rachbegier des
Achill werden hier, das Grausigste, Menschen geschlachtet:
zweimal ruft Achill der Seele des Patroklos zu, ihr bringe
er dar, was er vordem ihr gelobt habe. (Il. 23, 20 ff. 180 ff.) 2).
[16] Die ganze Reihe dieser Opfer ist völlig von der Art, die man
für die älteste Art der Opferung halten darf, und die uns
später in griechischem Ritual vielfach im Cult der Unterirdischen
begegnet. Nur dem Dämon, nicht der Gemeinde, gleich an-
deren Opfern, zum Genuss, wird das Opferthier völlig verbrannt.
Sieht man in solchen Holokausten für die chthonischen und
manche olympische Gottheiten Opfergaben, so hat man kein Recht,
den Begehungen am Scheiterhaufen des Patroklos einen anderen
Sinn unterzuschieben. Die Darbringungen von Wein, Oel und
Honig sind ebenfalls späterem Opferritus geläufig. Selbst das
abgeschnittene Haar, dem Todten auf den Leib gestreut, in
die starre Hand gelegt, ist eine Opfergabe, hier so gut wie in
späterem griechischen Cultus und in dem Cultus vieler Völker 1).
Ja ganz besonders diese Gabe, als symbolische Vertretung
werthvollen Opfers durch einen an sich nutzlosen Gegenstand
(bei dessen Darbringung einzig der gute Wille geschätzt sein
will) lässt, wie alle solche symbolische Opfergaben, auf eine
lange Dauer und Entwicklung des Cultes, dem sie eingefügt ist,
hier also des Seelencultes in vorhomerischer Zeit schliessen.
Der ganzen Erzählung liegt die Vorstellung zu Grunde,
2)
[17] dass durch Ausgiessung fliessenden Blutes, durch Weinspenden
und Verbrennung menschlicher und thierischer Leichen die
Psyche eines jüngst Verstorbenen erquickt werden könne.
Jedenfalls wird sie hierbei als menschlichem Gebete noch er-
reichbar, als in der Nähe der Opfer verweilend gedacht. Das
widerspricht sonstiger homerischer Darstellung, und eben um
eine solche, seinen Hörern schon nicht mehr geläufige Vor-
stellung sinnfällig und im einzelnen Falle annehmbar zu machen,
hat wohl — wozu sonst durch den Verlauf der Erzählung
keine Veranlassung gegeben war 1) — der Dichter die Psyche
des Patroklos Nachts dem Achilleus erscheinen lassen. So ruft
denn auch bis zum Ende der ganzen Begehung Achill der
Seele des Patroklos, wie einer anwesenden, seinen Gruss wieder-
holt zu 2). Es scheint freilich in der Art, wie Homer diese,
von seiner sonstigen Auffassung sich entfernenden Handlungen
durchführt, eine gewisse Unklarheit über die eigentlich zu
Grunde liegenden, alterthümlich rohen Vorstellungen durch,
eine gewisse Zaghaftigkeit des Dichters lässt sich in der,
sonstiger homerischer Art gar nicht entsprechenden Kürze
spüren, mit der das Grässlichste, die Hinschlachtung der Men-
schen sammt den Pferden und Hunden erzählt wird. Man
merkt überall: er ist es wahrlich nicht, der so grausige Vor-
gänge zum ersten Mal aus seiner Phantasie erzeugt; übernom-
men (woher auch immer 3), nicht erfunden hat Homer diese
Rohde, Seelencult. 2
[18] Bilder heroischen Seelencultes. Sie müssen ihm dienen, um
jene Reihe von Scenen wild aufgestachelter Leidenschaft, die
mit dem tragischen Tode des Patroklos begann, mit dem Fall
und der Schleifung des troischen Vorkämpfers endigte, in einem
letzten Fortissimo zum Schluss zu bringen. Nach so heftiger
Erregung aller Empfindungen sollten die überspannten Kräfte
nicht auf einmal zusammensinken; noch ein letzter Rest des
übermenschlichen Pathos, mit dem Achill unter den Feinden
gewüthet hat, lebt sich in der Ausrichtung dieses gräuelvollen
Opfermahles für die Seele des Freundes aus. Es ist als ob
uralte, längst gebändigte Rohheit ein letztes Mal hervorbräche.
Nun erst, nachdem Alles vollendet ist, sinkt Achills Seele zu
wehmüthiger Ergebung herab; in gleichmüthigerer Stimmung
heisst er nun die Achäer „in weitem Ringe“ niedersitzen; es
folgen jene herrlichen Wettkämpfe, deren belebte Schilderung
das Entzücken jedes erfahrenen Agonisten — und wer war
das unter Griechen nicht? — erregen musste. Gewiss stehen
in dem homerischen Gedichte diese Wettkämpfe wesentlich um
des zugleich künstlerischen und stofflichen Interesses, das ihre
Darstellung gewährte; dass als Abschluss der Bestattungsfeier
solche Kampfspiele vorgenommen werden, ist gleichwohl nur
verständlich als Rudiment eines alten lebhafteren Seelencultes.
Solche Wettspiele zu Ehren jüngst verstorbener Fürsten wer-
den bei Homer noch mehrmals erwähnt 1), ja Homer kennt als
Gelegenheiten zu wetteifernder Bemühung um ausgesetzte
Preise nur Leichenspiele 2). Die Sitte ist nie völlig abgekom-
3)
[19] men, und es hat sich in nachhomerischer Zeit die Sitte, Feste
der Heroen, dann erst solche der Götter mit Wettspielen,
die allmählich in regelmässiger Wiederholung gefeiert wurden,
zu begehen, hervorgebildet eben aus dem Herkommen, mit
Kampfspielen die Bestattungsfeier vornehmer Männer zu be-
schliessen. Dass nun der Agon am Heroen- oder Götterfest
einen Theil des Cultus des Gottes oder Heros ausmachte, ist
unbezweifelt; man sollte vernünftiger Weise es ebenso unzweifel-
haft finden, dass die nur einmal begangenen Leichenspiele bei
der Bestattung eines fürstlichen Todten zum Cultus des Ver-
storbenen gehörten, und dass man solchen Cultus eingesetzt
haben kann nur zu einer Zeit, wo man der Seele, welcher
die Feier galt, einen sinnlichen Mitgenuss an den Spielen zu-
schrieb. Noch Homer hat das deutliche Bewusstsein, dass
nicht reiner Ergötzlichkeit der Lebenden, sondern dem Todten
die Spiele, wie andere Darbringungen auch, geweiht sind 1);
wir dürfen uns der Meinung des Varro 2) anschliessen, dass Ver-
storbene, denen man Leichenspiele widmete, damit ursprünglich
wenn nicht als göttlich doch als gottähnlich gedacht bezeichnet
sind. Allerdings konnte dieser Theil des alten Seelencultes seines
wahren Sinnes am leichtesten entkleidet werden: er gefiel auch
ohne das Bewusstsein seines religiösen Grundes; ebendarum
blieb er länger als andere Begehungen in allgemeiner Uebung 3).
Nun aber, die ganze Reihe der zu Ehren der Seele des
Patroklos vorgenommenen Begehungen überblickend, schliesse
man aus all diesen gewaltigen Anstalten zur Befriedigung der
2*
[20] abgeschiedenen Seele zurück auf die Mächtigkeit der ur-
sprünglichen Vorstellung von kräftig gebliebener Empfindung,
von Macht und Furchtbarkeit der Psyche, der ein solcher Cult
gewidmet wurde. Für den Cult der Seele gilt, wie für allen
Opfergebrauch, dass seine Ausübung sich nur aus der Hoffnung,
Schädigung von Seiten der Unsichtbaren abzuwenden, Nutzen
zu gewinnen, erklärt 1). Eine Zeit, die keinen Nutzen und
Schaden mehr von der „Seele“ erwartete, konnte aus freier
Pietät dem entseelten Leibe allerlei letzte Dienste erweisen,
dem Verstorbenen gewisse herkömmliche „Ehren“ bezeigen,
mehr den Schmerz der Hinterbliebenen als eine Verehrung des
Abgeschiedenen bezeichnend 2). Und so geschieht es bei Homer
zumeist. Nicht aus dem, was wir Pietät nennen, sondern aus
Angst vor einem, durch sein Abscheiden vom Leibe mächtiger
gewordenen „Geiste“ erklären sich so überschwängliche Leichen-
spenden, wie sie beim Begräbniss des Patroklos aufgewendet
werden. Aus der dem Homer sonst geläufigen Vorstellungs-
art erklären sie sich auf keine Weise. Dass dieser Vorstellung
freilich die Angst vor den unsichtbaren Seelen völlig fremd
geworden war, zeigt sich besonders noch daran, dass auch die
Verehrung eines so hochgefeierten Todten wie Patroklos auf
die einzige Gelegenheit seiner Bestattung beschränkt ist. Nach
vollendeter Verbrennung des Leibes, so verkündigt die Psyche
des Patroklos selbst dem Achill, wird diese Psyche in den
Hades abscheiden, um nie wiederzukehren 3). Man begreift
wohl, dass zu einem fortgesetzten Cultus der Seele (wie ihn
[21] das spätere Griechenthum eifrig übte) auf diesem Standpunkte
alle Veranlassung fehlte. Man bemerke aber auch, dass die
überreiche Labung der Seele des Patroklos beim Leichen-
begängniss keinen vollen Sinn mehr hat, wenn das Wohlwollen
der Seele, das hierdurch gesichert werden soll, später gar keine
Gelegenheit sich zu bethätigen hat. Aus der Incongruenz der
homerischen Glaubenswelt mit diesen eindrucksvollen Vorgängen
ist mit Bestimmtheit zu entnehmen, dass die herkömmliche
Meinung, nach welcher die Darstellung des Seelencultes am
Scheiterhaufen des Patroklos Ansätzen zu neuen und leben-
digeren Vorstellungen vom Leben der abgeschiedenen Seele
entsprechen soll, unmöglich richtig sein kann. Wo neu hervor-
drängende Ahnungen, Wünsche und Meinungen sich einen
Ausdruck in äusseren Formen suchen, da pflegen die neuen
Gedanken unvollständiger in den unfertigen äusseren Formen,
klarer und bewusster, mit einem gewissen Ueberschuss, in den
schneller voraneilenden Worten und Aeusserungen der Menschen
sich darzustellen. Hier ist es umgekehrt: einem reich ent-
wickelten Ceremoniell widersprechen alle Aussagen des Dichters
über die Verhältnisse, deren Ausdruck die Ceremonie sein
müsste, nirgends — oder wo etwa? — tritt ein Zug nach der
Richtung des Glaubens hervor, den das Ceremoniell vertritt,
die Tendenz ist eher eine entschieden und mit Bewusstsein
entgegengesetzte. Es kann nicht der geringste Zweifel darüber
bestehen, dass in der Bestattungsfeier für Patroklos nicht ein
Keim neuer Bildungen, sondern ein „Rudiment“ des lebhafteren
Seelencultes einer vergangenen Zeit zu erkennen ist, eines Cultus,
der einst der völlig entsprechende Ausdruck für den Glauben
an grosse und dauernde Macht der abgeschiedenen Seelen
gewesen sein muss, nun aber in einer Zeit sich unversehrt
erhalten hat, die, aus anders gewordenem Glauben heraus, den
Sinn solcher Culthandlungen nur halb oder auch gar nicht
mehr versteht. So pflegt ja überall der Brauch die Stim-
mung und den Glauben, die ihn entstehen liessen, zu über-
leben.
Die beiden Gedichte enthalten nichts, was als Rudiment
alten Seelencultes den Scenen bei der Bestattung des Patroklos
an Mächtigkeit verglichen werden könnte. Gänzlich fehlen
solche Rudimente auch unter den Vorgängen der gewöhnlichen
Todtenbestattung nicht. Man schliesst dem Verstorbenen Augen
und Mund 1), bettet ihn, nachdem er gewaschen und gesalbt,
in ein reines Leintuch gehüllt ist, auf dem Lager 2), und es
[23] beginnt die Todtenklage 1). In diesen Gebräuchen, wie in den
auf die Verbrennung folgenden sehr einfachen Beisetzungs-
sitten (die Gebeine werden in einen Krug oder einen Kasten
gesammelt und in einem Hügel vergraben, den ein Mal als
Grabhügel bezeichnet 2]) wird man kaum einen leisesten Nach-
klang an ehemals lebhafteren Cultus der Seele verspüren
können. Wenn aber mit dem Elpenor, wie dessen Seele
den Odysseus geheissen hat (Od. 11, 74), seine Waffen ver-
brannt werden (Od. 12, 13), wenn auch Achill mit dem er-
legten Feinde zugleich dessen Waffen auf dem Scheiterhaufen
verbrennt (Il. 6, 418), so lässt sich wiederum das Rudiment
alten Glaubens nicht verkennen, nach welchem die Seele in
irgend einer geheimnissvollen Weise noch Gebrauch von dem
gleich ihrer Leibeshülle verbrannten Geräth machen kann.
Niemand zweifelt daran, dass, wo gleiche Sitte bei anderen
Völkern sich findet, eben dies der Grund der Sitte sei; auch
bei den Griechen hatte sie einst einen völlig zureichenden
Grund, den sie freilich im homerischen Seelenglauben nicht
mehr finden kann. Der Brauch, in diesen einzelnen Fällen
genauer bezeichnet, stand übrigens in allgemeiner Uebung;
mehrfach ist davon die Rede, wie zu einem vollständigen Be-
gräbniss das Verbrennen der Habe des Todten gehöre 3). Wie
2)
[24] weit die ursprünglich ohne Zweifel wörtlich genommene Ver-
pflichtung, dem Todten seinen gesammten beweglichen Besitz
mitzugeben, in homerischer Zeit schon zu symbolischer Be-
deutung (deren unterste Stufe die später übliche Mitgebung
eines Obols „für den Todtenfährmann“ war) herabgemindert
war, wissen wir nicht. Endlich wird das Leichenmahl,
welches nach beendigtem Begräbniss eines Fürsten (Il. 24,
802. 665) oder auch vor der Verbrennung der Leiche (Il. 23,
29 ff.) dem leidtragenden Volke von dem König ausgerichtet
wird, seinen vollen Sinn wohl nur aus alten Vorstellungen,
welche der Seele des also Geehrten einen Antheil an dem
Mahle zuschrieben, genommen haben. An dem Mahl zu
Patroklos’ Ehren nimmt ersichtlich der Todte, dessen Leib mit
dem Blut der geschlachteten Thiere umrieselt wird (Il. 23, 34),
seinen Theil. Aehnlich den Leichenspielen scheint dieses Todten-
mahl bestimmt zu sein, die Seele des Verstorbenen freundlich
zu stimmen: daher selbst Orest, nachdem er den Aegisthos,
seines Vaters Mörder, erschlagen hat, das Leichenmahl aus-
richtet (Od. 3, 309), sicherlich doch nicht aus harmloser „Pie-
tät“. Die Sitte solcher Volksspeisungen bei fürstlichen Be-
gräbnissen begegnet in späterer Zeit nicht mehr; sie ist den
später üblichen Leichenmahlen der Familie des Verstorbenen
(περίδειπνα) weniger ähnlich als den, neben den silicernia in
Rom vorkommenden grossen cenae ferales, zu denen Ver-
wandte vornehmer Verstorbener das ganze Volk luden 1). Im
Grunde ist die hierbei vorausgesetzte Betheiligung der Seele
an dem Leichenmahle des Volkes nicht schwerer zu verstehen
als die vorausgesetzte Theilnahme des Gottes an einem grossen
Opfermahle, das, von den Menschen genossen, doch „das Mahl
der Götter“ (Od. 3, 336) heisst und sein soll.
So weit reichen die Rudimente alten Seelencultes inmitten
der homerischen Welt. Länger, über die Bestattung hinaus fort-
gesetzte Sorge um die Seelen der Verstorbenen schneidet die
tief eingeprägte Vorstellung ab, dass nach der Verbrennung des
Leibes die Psyche aufgenommen sei in eine unerreichbare Welt
der Unsichtbarkeit, aus der keine Rückkehr ist. Für dieses
völlige Abscheiden der Seele ist allerdings die Verbrennung
des Leibes unerlässliche Voraussetzung. Wenn in Ilias oder
Odyssee bisweilen gesagt wird, unmittelbar nachdem der Tod
eingetreten und noch ehe der Leib verbrannt ist: „und die
Psyche ging zum Hades“ 1), so darf man hierin einen nicht
ganz genauen Ausdruck erkennen: nach dem Hades zu ent-
fliegt allerdings die Seele sofort, aber sie schwebt nun zwischen
dem Reiche der Lebenden und dem der Todten, bis dieses sie
zu endgiltigem Verschluss aufnimmt nach Verbrennung des
Leibes. So sagt es die Psyche des Patroklos, als sie nächtens
dem Achill erscheint: sie fleht um schnelle Bestattung, damit
sie durch das Thor des Hades eingehen könne; noch wehren
die anderen Schattenbilder ihr den Eingang, den Uebergang
über den Fluss, unstätt irre sie um das weitthorige Haus des
Aïs (Il. 23, 71 ff.). Nur dieses Enteilen nach dem Hades zu
bedeutete es also, wenn auch von Patroklos erzählt wurde: als
er starb, entflog die Psyche aus den Gliedern zum Hause des
Hades (Il. 16, 856). Ganz ebenso heisst es von Elpenor, dem
Genossen des Odysseus, dass seine Seele „zum Hades hinab-
ging“ (Od. 10, 560), sie begegnet aber nachher dem Freunde
am Eingang des Schattenreiches, noch nicht ihres Bewusstseins,
[26] gleich den Bewohnern des finstern Hauses selbst, beraubt, und
bedarf noch der Vernichtung ihres leiblichen Doppelgängers,
ehe sie im Hades Ruhe finden kann. Erst durch das Feuer
werden die Todten „besänftigt“ (Il. 7, 410); so lange die
Psyche ein „Erdenrest“ festhält, hat sie also noch eine Em-
pfindung, ein Bewusstsein von den Vorgängen unter den Le-
benden 1).
Nun endlich ist der Leib vernichtet im Feuer, die Psyche
ist in den Hades gebannt, keine Rückkehr zur Oberwelt ist
ihr gestattet, kein Hauch der Oberwelt dringt zu ihr; sie kann
selbst nicht hinauf mit ihren Gedanken, sie denkt ja nicht mehr,
sie weiss nichts mehr vom Jenseits. Und der Lebende ver-
gisst die so völlig von ihm getrennte (Il. 22, 389). Wie sollte
er durch einen Cult im ferneren Leben eine Verbindung mit
ihr herstellen zu wollen sich vermessen?
Vielleicht giebt eben die Sitte des Verbrennens der Leiche
ein letztes Zeugniss dafür, dass einst die Vorstellung eines
dauernden Haftens der Seele am Reiche der Lebenden, einer
Einwirkung derselben auf die Ueberlebenden unter den Griechen
in Kraft stand. Homer weiss von keiner anderen Art der Be-
stattung als der durch Feuer. Mit feierlichen Begehungen
wird der todte König oder Fürst, mit weniger Umständlichkeit
die Masse der im Kriege Gefallenen verbrannt; begraben wird
Niemand. Man darf sich wohl fragen: woher stammt dieser
Gebrauch, welchen Sinn hatte er für die Griechen des home-
rischen Zeitalters? Nicht von vorne herein die nächstliegende ist
diese Art, die Leiche zu beseitigen; einfacher zu bewerkstelligen,
weniger kostspielig ist doch das Eingraben in die Erde.
[27] Man hat vermuthet, das Brennen, wie es Perser, Germanen,
Slaven u. a. Volksstämme übten, stamme aus einer Zeit des
Nomadenlebens. Die wandernde Horde hat keine bleibende
Wohnstätte, in welcher oder bei welcher die Leiche des geliebten
Todten eingegraben, seiner Seele dauernde Nahrung geboten
werden könnte; sollte nicht, nach der Art einiger Nomaden-
stämme, der todte Leib den Lüften und Thieren preisgegeben
werden, so konnte man wohl darauf verfallen, ihn zu Asche zu ver-
brennen und im leichten Krug die Reste auf die weitere Wanderung
mitzunehmen 1). Ob solche Zweckmässigkeitsgründe gerade auf
diesem Gebiet, das zumeist einer, aller Zweckmässigkeit spottenden
Phantastik preisgegeben ist, sonderlich viel ausgerichtet haben
mögen, lasse ich unerörtert. Wollte man unter Griechen die
Sitte des Leichenbrandes aus ehemaligem Nomadenleben ableiten,
so würde man doch in allzu entlegene Zeitfernen zurückgreifen
müssen, um eine Sitte zu erklären, die, ehedem unter Griechen
keineswegs ausschliesslich herrschend, uns, als allein in Uebung
stehend, in Zeiten längst befestigter Sesshaftigkeit begegnet.
Die asiatischen Griechen, die Jonier zumal, deren Volksglauben
und Sitten, im zusammenfassenden und verallgemeinernden Bilde
allerdings, Homers Gedichte wiederspiegeln, waren aus einem
sesshaften Leben aufgebrochen, um sich in neuer Heimath ein
nicht minder sesshaftes Leben zu begründen. Und doch muss
[28] die Sitte des Leichenbrandes ihnen so ausschliesslich geläufig
gewesen sein, dass eine andere Weise der Bestattung ihnen
gar nicht in den Sinn kam. In den homerischen Gedichten
werden nicht nur die Griechen vor Troja, nicht nur Elpenor
fern der Heimath, nach dem Tode verbrannt; auch den Eetion
bestattet in dessen Vaterstadt Achill durch Feuer (Il. 6, 418),
auch Hektor wird ja mitten in Troja durch Feuer bestattet,
auch die Troer überhaupt verbrennen ja, im eigenen Lande,
ihre Todten (Il. 7). Die Lade oder Urne, welche die ver-
brannten Gebeine enthält, wird im Hügel geborgen, in der Fremde
ruht die Asche des Patroklos, des Achill, des Antilochos, des
Ajas (Od. 3, 109 ff.; 24, 76 ff.), Agamemnon denkt nicht daran,
dass, wenn sein Bruder Menelaos vor Ilios sterbe, dessen Grab
anderswo sein könne, als in Troja (Il. 4, 174 ff.). Es besteht
also nicht die Absicht, die Reste des Leichnams nach der
Heimath mitzunehmen 1), nicht dies kann der Grund des Brennens
sein. Man wird sich nach einem anderen, alterthümlicher
Empfindungsweise näher als die Rücksicht auf einfache Zweck-
mässigkeit liegenden Grunde umsehen müssen. Jakob Grimm 2)
hat die Vermuthung ausgesprochen, dass der Brand der Leiche
eine Opferung des Gestorbenen für den Gott bedeute. In
Griechenland könnte dies nur ein Opfer für die Unterirdischen
sein; aber nichts weist in griechischem Glauben und Brauch
auf eine so grausige Vorstellung hin 3). Den wahren Zweck
des Leichenverbrennens wird man nicht so weit zu suchen
haben. Wenn als Folge der Vernichtung des Leibes durch
[29] Feuer die gänzliche Abtrennung der Seele vom Lande der
Lebenden gedacht wird 1), so muss man doch annehmen, dass
eben dieser Erfolg von den Ueberlebenden, die ihn selbst her-
beiführen, gewollt werde, dass also diese gänzliche Verbannung
der Psyche in den Hades der Zweck, die Absicht, dies zu
erreichen, der Entstehungsgrund des Leichenverbrennens war.
Vereinzelte Aussagen aus der Mitte solcher Völker, welche
an Verbrennung der Leichen gewöhnt waren, bezeichnen als
die hiebei verfolgte Absicht geradezu die schnelle und völlige
Scheidung der Seele vom Leibe 2). Je nach dem Stande des
Seelenglaubens färbt sich diese Absicht verschieden. Als die
Inder von der Sitte des Begrabens zu der der Verbrennung
des Leichnams übergingen, scheinen sie von der Vorstellung
geleitet worden zu sein, dass die Seele, vom Leibe und dessen
Mängeln schnell und völlig befreit, um so leichter zu der jen-
seitigen Welt der Frommen getragen werde 3). Von einer
„reinigenden“ Kraft des Feuers, wie sie hier vorausgesetzt
wird, weiss in Griechenland erst späterer Glaube 4); die
[30] Griechen des homerischen Zeitalters, denen ähnliche kathar-
tische Gedanken noch sehr ferne lagen, denken nur an die ver-
nichtende Gewalt des Elementes, dem sie den todten Leib an-
vertrauen. Schneller als Feuer kann nichts den sichtbaren
Doppelgänger der Psyche verzehren: ist dies geschehen, und
sind auch die liebsten Besitzthümer des Verstorbenen im Feuer
vernichtet, so hält kein Haft die Seele mehr im Diesseits fest.
So sorgt man durch Verbrennung des Leibes für die
Todten, die nun nicht mehr rastlos umherschweifen, mehr noch
für die Lebenden, denen die Seelen, in die Erdtiefe verbannt,
nie mehr begegnen können. Homers Griechen, seit Langem
an die Leichenverbrennung gewöhnt, sind aller Furcht vor „um-
gehenden“ Geistern ledig. Aber als man sich zuerst der Feuer-
bestattung zuwandte, da muss man das, was die Vernichtung des
Leibes in Zukunft verhüten sollte, doch wohl gefürchtet
haben 1). Die man so eifrig nach dem unsichtbaren Jenseits
abdrängte, die Seelen, muss man als unheimliche Mitbewohner
der Oberwelt gefürchtet haben. Und somit enthält auch die
Sitte des Leichenbrandes (mag sie woher auch immer den
Griechen zugekommen sein) 2), eine Bestätigung der Meinung,
dass einst ein Glaube an Macht und Einwirkung der Seelen
auf die Lebenden — mehr Furcht als Verehrung — unter
Griechen lebendig gewesen sein muss, von dem in den homeri-
schen Gedichten nur wenige Rudimente noch Zeugniss geben.
Und Zeugnisse dieses alten Glaubens können wir jetzt mit
Augen sehen und mit Händen greifen. Durch unschätzbare
Glücksfügungen ist es uns verstattet, in eine ferne Vorzeit des
Griechenthums einen Blick zu thun, auf deren Hintergrund
Homer, nun nicht mehr der früheste Zeuge von griechischem
Leben und Glauben, uns plötzlich viel näher als bisher,
vielleicht trügerisch nahe gerückt erscheint. Das letzte Jahr-
zehent hat auf der Burg und in der Unterstadt Mykenae, an
anderen Orten des Peloponnes, in Attika und bis nach
Thessalien hinauf Gräber erschlossen, Schachte, Kammern und
kunstreiche Gewölbe, die in der Zeit vor der dorischen Wande-
rung gebaut und zugemauert sind. Diese Gräber lehren uns,
dass (worauf selbst in Homers Gedichten einzelne Spuren
führen) 1) dem homerischen „Brennalter“ auch bei den Griechen 2)
eine Zeit voranging, in der, wie einst auch bei Persern, Indern,
Deutschen, die Todten unversehrt begraben wurden. Begraben
sind die Fürsten und Frauen der goldreichen Mykene, nicht
minder (in den Gräbern bei Nauplia, in Attika u. s. w.) geringeres
Volk. Den Fürsten ist reicher Vorrath an kostbarem Geräth
und Schmuck mitgegeben, unverbrannt, wie ihre eigenen Leichen
nicht verbrannt worden sind; sie ruhen auf Kieseln, und sind
mit einer Lehmschicht und Kiesellage bedeckt 3); Spuren von
Rauch, Reste von Asche und Kohlen weisen darauf hin, dass
man die Körper gebettet hat auf die Brandstelle der Todten-
opfer, die man in dem Grabraume vorher dargebracht hatte 4).
Dies mag uralter Bestattungsgebrauch sein. In den ältesten
unserer „Hünengräber“, deren Schätze noch keinerlei Metall
zeigen, und die man darum für vorgermanisch halten will, hat
man gleiche Anlage gefunden. Auf dem Boden, bisweilen auf
einer gelegten Schicht von Feuersteinen ist der Opferbrand ent-
[32] zündet worden, und dann auf den verloschenen Brand der Opfer-
stelle die Leiche gebettet und mit Sand, Lehm und Steinen zu-
gedeckt worden 1). Reste von verbrannten Opferthieren (Schafen
und Ziegen) sind auch in den Gräbern bei Nauplia und anders-
wo gefunden worden 2). Es entsprach also dem verschiedenen
Bestattungsgebrauch auch eine von der homerischen ver-
schiedene Vorstellung von dem Wesen und Wirken der abge-
schiedenen Seelen. Ein Todtenopfer bei der Bestattung, wie es
bei Homer nur noch bei seltenster Gelegenheit nach veraltetem,
unverstandenem Gebrauche vereinzelt dargebracht wird, tritt
uns hier, in prunkvollen wie in armen Gräbern als herrschende
Sitte entgegen. Wie sollte aber ein Volk, das seinen Todten
Opfer darbrachte, nicht an deren Macht geglaubt haben? Und
wie sollte man Gold und Geschmeide, und Kunstgeräthe aller
Art, in erstaunlicher Menge den Lebenden entzogen, den
Todten mit in’s Grab gegeben haben, wenn man nicht geglaubt
hätte, dass an seinem alten Besitz noch in der Grabeshöhle
der Todte sich freuen könne? Wo der Leib unaufgelöst ruht,
dahin kann auch das zweite Ich wenigstens zeitweise wieder-
kehren; dass es nicht auf der Oberwelt ungerufen erscheine,
verhütet die Mitbeisetzung seiner besten Schätze in der Gruft 3).
Kann aber die Seele zurückkehren, wohin es sie zieht, so
wird man auch den Seelencult nicht auf die Begehungen bei
der Bestattung beschränkt haben. Und wirklich, wovon wir bei
[33] Homer bisher nicht einmal ein Rudiment gefunden haben, von
einem Seelencult nach beendigter Bestattung, auch hiervon
hat, wie mir scheint, das vorhomerische Mykenae uns eine
Spur bewahrt. Ueber der Mitte des vierten der auf der Burg
gefundenen Schachtgräber hat sich ein Altar gefunden, der
dort erst aufgerichtet sein kann, als das Grab zugeschüttet
und geschlossen war 1). Es ist ein runder Altar, hohl in der
Mitte, auch im untersten Grunde nicht durch eine Platte ab-
geschlossen. Also eine Art Röhre, direct auf der Erde auf-
stehend. Liess man etwa das Blut des Opferthieres, die ge-
mischte Flüssigkeit des Trankopfers in diese Röhre hineinfliessen,
so rieselte das Nass direct in die Erde hinein, hinunter zu
den Todten, die drunten gebettet waren. Dies ist kein Altar
(βωμός) für die Götter, sondern ein Opferheerd (ἐσχάρα) für
die Unterirdischen: genau entspricht dies Bauwerk den Be-
schreibungen solcher Heerde, an denen man die „Heroen“,
d. h. die verklärten Seelen später zu verehren pflegte 2). Wir
sehen hier also eine Einrichtung für dauernden und wieder-
holten Seelencult vor uns; denn nur solchem Dienste kann
diese Stätte bestimmt gewesen sein; das Todtenopfer bei der
Bestattung war ja bereits im Inneren des Grabes vollzogen.
Und so scheint auch in den Kuppelgräbern der gewölbte Haupt-
raum, neben dem die Leichen in kleinerer Kammer ruhten,
zur Darbringung der Todtenopfer, und sicherlich nicht nur ein-
maliger, bestimmt gewesen zu sein. Wenigstens dient anderswo
in Gräbern mit doppelter Kammer der Vorderraum solchem
Rohde, Seelencult. 3
[34] Zwecke. Durch den Augenschein bestätigt sich also, was aus
Homers Gedichten nur mühsam erschlossen werden konnte: es
gab eine Zeit, in der auch die Griechen glaubten, dass nach
der Trennung vom Leibe die Psyche nicht gänzlich abscheide
von allem Verkehr mit der Oberwelt, in der solcher Glaube
auch bei ihnen einen Seelencult, auch über die Zeit der Bestattung
des Leibes hinaus, hervorrief, der freilich in homerischer Zeit,
bei veränderter Glaubensansicht, sinnlos geworden war.
Die homerische Dichtung macht Ernst mit der Ueber-
zeugung von dem Abscheiden der Seelen in ein bewusstloses
Halbleben im unerreichbaren Todtenlande. Ohne helles Be-
wusstsein, daher auch ohne Streben und Wollen, ohne Einfluss
auf das Leben der Oberwelt, daher auch der Verehrung der
Lebenden nicht länger theilhaftig, sind die Todten der Angst
wie der Liebe gleich ferne gerückt. Es giebt kein Mittel, sie
herbei zu zwingen oder zu locken, von Todtenbeschwörungen,
Todtenorakeln 1), den späteren Griechen so wohl bekannt, ver-
räth Homer keine Kenntniss. Auch in die Dichtung selbst,
die Führung der poetischen Handlung, greifen wohl die Götter
ein, die Seelen der Abgeschiedenen niemals. Gleich die nächsten
Fortsetzer der homerischen Heldendichtung halten es hierin
ganz anders. Für Homer hat die Seele, einmal gebannt in
den Hades, keine Bedeutung mehr.
Bedenkt man, wie es in vorhomerischer Zeit anders ge-
wesen sein muss, wie es nach Homer so ganz anders wurde,
so wird man wenigstens der Verwunderung Ausdruck geben
[35] müssen, dass in dieser Frühzeit griechischer Bildung eine
solche Freiheit von ängstlichem Wahn auf dem Gebiete, in dem
der Wahn seine festesten Wurzeln zu haben pflegt, erreicht
werden konnte. Die Frage nach den Entstehungsgründen so
freier Ansichten wird man nur sehr vorsichtig berühren dürfen;
eine ausreichende Antwort ist ja nicht zu erwarten. Vor Allem
muss man sich vorhalten, dass uns in diesen Dichtungen zu-
nächst und unmittelbar doch eben nur der Dichter und seine
Genossen entgegentreten. „Volksdichtung“ ist das homerische
Epos nur darum zu nennen, weil es so geartet ist, dass das
Volk, das gesammte Volk griechischer Zunge es willig aufnahm
und in sein Eigenthum verwandeln konnte, nicht, weil in irgend
einer mystischen Weise das „Volk“ bei seiner Hervorbringung
betheiligt gewesen wäre. Viele Hände sind an den beiden
Gedichten thätig gewesen, alle aber in der Richtung und dem
Sinne, die ihnen angab nicht das „Volk“ oder „die Sage“, wie
man wohl versichern hört, sondern die Gewalt des grössten
Dichtergenius der Griechen und wohl der Menschheit, und die
Ueberlieferung des festen Verbandes von Meistern und Schülern,
der sein Werk bewahrte, verbreitete, fortführte und nachahmte.
Wenn nun, bei manchen Abirrungen im Einzelnen, im Ganzen
doch Ein Bild von Göttern, Mensch und Welt, Leben und
Tod aus beiden Dichtungen uns entgegenscheint, so ist dies das
Bild, wie es sich im Geiste Homers gestaltet, in seinem Gedichte
ausgeprägt hatte und von den Homeriden festgehalten wurde.
Es versteht sich eigentlich von selbst, dass die Freiheit,
fast Freigeistigkeit, mit der in diesen Dichtungen alle Dinge
und Verhältnisse der Welt aufgefasst werden, nicht Eigenthum
eines ganzen Volkes oder Volksstammes gewesen sein kann.
Aber nicht nur der beseelende Geist, auch die äussere Ge-
staltung der idealen Welt, welche das Menschenwesen umschliesst
und über ihm waltet, ist, wie sie in den Gedichten sich dar-
stellt, das Werk des Dichters. Keine Priesterlehre hatte ihm
seine „Theologie“ vorgebildet, der Volksglaube, sich selbst
überlassen, muss damals, nach Landschaften, Kantonen, Städten,
3*
[36] in widerspruchsvolle Einzelvorstellungen sich noch mehr zer-
splittert haben als später, wo einzelne allgemein hellenische
Institute Vereinigungspuncte abgaben. Nur des Dichters Werk
kann die Ausbildung und consequente Durchführung des Bildes
eines geordneten Götterstaates sein, aus einer beschränkten
Anzahl scharf charakterisirter Götter gebildet, in fester Grup-
pirung aufgebaut, um Einen überirdischen Wohnplatz versam-
melt. Es ist, wenn man nur dem Homer vertrauen wollte, als
ob die zahllosen Localculte Griechenlands, mit ihren local ge-
bundenen Göttern kaum existirt hätten: Homer ignorirt sie fast
völlig. Seine Götter sind panhellenische, olympische. So hat
er die eigentlich dichterische That, die Vereinfachung und Aus-
gleichung des Verworrenen und Ueberreichen, auf der aller
Idealismus der griechischen Kunst beruht, am Bilde der Götter-
welt am Grossartigsten durchgeführt. Und in seinem Spiegel
scheint Griechenland einig und einheitlich im Götterglauben,
wie im Dialekt, in Verfassungszuständen, in Sitte und Sitt-
lichkeit. In Wirklichkeit kann — das darf man kühn be-
haupten — diese Einheit nicht vorhanden gewesen sein; die
Grundzüge des panhellenischen Wesens waren zweifellos vor-
handen, aber gesammelt und verschmolzen zu einem nur vor-
gestellten Ganzen hat sie einzig der Genius des Dichters. Das
Landschaftliche als solches kümmert ihn nicht. Wenn er nun
auf dem Gebiet, das unsere Betrachtung in’s Auge fasst, nur
Ein Reich der Unterwelt von Einem Götterpaar beherrscht,
als Sammelplatz aller Seelen, kennt, und dieses Reich von den
Menschen und ihren Städten so weit abrückt wie nach der an-
deren Seite die olympischen Wohnungen der Seligen — wer
will bestimmen, wie weit er darin naivem Volksglauben folgt?
Dort der Olymp als Versammlungsort aller im Lichte walten-
den Götter 1), — hier das Reich des Hades, das alle unsicht-
[37] baren Geister, die aus dem Leben geschieden sind, umfasst:
die Parallele ist zu sichtlich, als dass nicht eine gleiche ord-
nende und constituirende Thätigkeit hier wie dort angenommen
werden sollte.
Man würde gleichwohl die Stellung der homerischen Dich-
tung zum Volksglauben völlig missverstehen, wenn man sie sich
als einen Gegensatz dächte, wenn man auch nur annähme, dass
sie der Stellung des Pindar oder der athenischen Tragiker zu
den Volksmeinungen ihrer Zeit gleiche. Jene späteren Dichter
lassen bewussten Gegensatz ihres geläuterten Denkens zu ver-
breiteten Vorstellungen oft genug deutlich merken; Homer
dagegen zeigt von Polemik so wenig eine Spur wie von Dog-
matik. Wie er seine Vorstellungen von Gott, Welt und
Schicksal nicht wie sein besonderes Eigenthum giebt, so wird
man auch glauben dürfen, dass in ihnen sein Publicum die
eigenen Ansichten wiedererkannte. Nicht Alles, was das Volk
glaubte, hat der Dichter sich angeeignet, aber was er vor-
bringt, muss auch zum Volksglauben gehört haben: die Aus-
wahl, die Zusammenfügung zum übereinstimmenden Ganzen
wird des Dichters Werk sein. Wäre nicht der homerische
Glaube so geartet, dass er, in seinen wesentlichen Zügen, Volks-
glaube seiner Zeit war oder sein konnte, so wäre auch, trotz
aller Schulüberlieferung, die Uebereinstimmung der vielen, an
den zwei Gedichten thätigen Dichter fast unerklärlich. In
diesem eingeschränkten Sinne kann man sagen, dass Homers
Gedichte uns den Volksglauben wiedererkennen lassen, wie er
zu der Zeit der Gedichte sich gestaltet hatte — nicht überall
1)
[38] im vielgestaltigen Griechenland, aber doch gewiss in den
ionischen Städten der kleinasiatischen Küste und Inselwelt,
in denen Dichter und Dichtung zu Hause sind. Mit ähnlicher
Einschränkung darf man in den Bildern der äusseren Cultur-
verhältnisse, wie sie Ilias und Odyssee zeigen, ein Abbild des
damaligen griechischen, speciell des ionischen Lebens erkennen.
Dieses Leben muss sich in vielen Beziehungen von der „myke-
näischen Cultur“ unterschieden haben. Man kann nicht im
Zweifel darüber sein, dass die Gründe für diesen Unterschied
zu suchen sind in den langanhaltenden Bewegungen der Jahr-
hunderte, die Homer von jener mykenäischen Periode trennen,
insbesondere der griechischen Völkerwanderung, in dem was sie
zerstörte und was sie neu schuf. Der gewaltsame Einbruch
nordgriechischer Stämme in Mittelgriechenland und den Pelo-
ponnes, die Zerstörung der alten Reiche und ihrer Cultur-
bedingungen, die Neubegründung dorischer Staaten auf Grund
des Eroberungsrechtes, die grosse Auswanderung nach den
asiatischen Küsten und Begründung eines neuen Lebens auf
fremdem Boden — diese Umwälzung aller Lebensverhältnisse
musste den gesammten Bildungszustand in heftiges Schwanken
bringen. Sehen wir nun, dass der Seelencult und ohne Zweifel
auch die diesen Cult bestimmenden Vorstellungen vom Schicksal
der abgeschiedenen Seelen in den ionischen Ländern, deren
Glauben die homerischen Gedichte wiederspiegeln, nicht mehr
dieselben geblieben sind, wie einst in der Blüthezeit der „myke-
näischen Cultur“, so darf man wohl fragen, ob nicht auch zu
dieser Veränderung, wie zu anderen, die Kämpfe und Wan-
derungen der Zwischenzeit einigen Anlass gegeben haben. Der
freie, über die Grenzen des Götterkreises und Göttercultes der
Stadt, ja des Stammes weit hinaus dringende Blick des Homer
wäre doch schwerlich denkbar ohne die freiere Bewegung
ausserhalb der alten Landesgrenzen, die Berührung mit Genossen
anderer Stämme, die Erweiterung der Kenntniss fremder Zu-
stände auf allen Gebieten, wie sie die Völkerverschiebungen
und Wanderungen mit sich gebracht haben müssen. Haben
[39] auch die Jonier Kleinasiens nachweislich manchen Götterdienst
ihrer alten Heimath in das neue Land verpflanzt, so muss doch
diese Auswanderung (die ja überhaupt die Bande zwischen
dem alten und dem neuen Lande keineswegs so eng bestehen
liess, wie Colonieführungen späterer Zeit) viele locale Culte
zugleich mit der Preisgebung des Locals, an das sie gebunden
waren, abgerissen haben. Ein Localcult, an die Grabstätten
der Vorfahren gebunden, war aber vor Allem der Ahnen-
cult. Verpflanzen liess sich wohl das Andenken der Ahnen,
aber nicht der religiöse Dienst, der nur an dem Orte ihnen
gewidmet werden konnte, der ihre Leiber barg, und den man
zurückgelassen hatte im Feindesland. Die Thaten der Vor-
fahren lebten im Gesange weiter, aber sie selbst verfielen nun
eben der Poesie, die Phantasie schmückte ihr irdisches Leben,
aber der Verehrung ihrer abgeschiedenen Seelen entwöhnte sich
eine Welt, die durch keine regelmässig wiederholten Begehungen
mehr an deren Macht erinnert wurde. Und wenn so die ge-
steigerte Art des Seelencultes, die Ahnenverehrung, abstarb, so
wird für die Erhaltung und kräftigere Ausbildung des allgemeinen
Seelencultes, des Cultes der Seelen der drüben im neuen Lande
gestorbenen und begrabenen Geschlechter, das stärkste Hinder-
niss in der Gewöhnung an die Verbrennung der Leichen gelegen
haben. Wenn wahrscheinlich der Grund der Einführung dieser
Art der Bestattung, wie oben ausgeführt ist, in dem Wunsche
lag, die Seelen völlig und schnell aus dem Bereiche der Leben-
den abzudrängen, so ist ganz zweifellos die Folge dieser Sitte
diese gewesen, dass der Glaube an die Nähe der abgeschie-
denen Seelen, an die Verpflichtung zu deren religiöser Ver-
ehrung keinen Halt mehr fand und abwelkte.
So lässt sich wenigstens ahnend verstehen, wie durch die
eigenen Erlebnisse, durch die veränderte Sitte der Bestattung
das ionische Volk des homerischen Zeitalters zu derjenigen
Ansicht vom Seelenwesen gelangen konnte, die wir aus den
[40] Gedichten seiner Sänger als die seinige herauslesen, und die von
dem alten Seelencult nur wenige Rudimente bewahren mochte.
Den eigentlichen Grund der Veränderung in Glauben und
Brauch würden wir dennoch erst erfassen können, wenn wir
Kenntniss und Verständniss von den geistigen Bewegungen
hätten, die zu der Ausbildung der homerischen Weltauffassung
geführt haben, in deren Rahmen auch der Seelenglaube sich
fügt. Hier geziemt es sich völlig zu entsagen. Wir sehen
einzig die Ergebnisse dieser Bewegungen vor uns. Und da
können wir so viel immerhin wahrnehmen, dass die religiöse
Phantasie der Griechen, in deren Mitte Homer dichtet, eine
Richtung genommen hatte, die dem Geister- und Seelenglauben
wenig Spielraum bot. Der Grieche Homers fühlt im tiefsten
Herzen seine Bedingtheit, seine Abhängigkeit von Mächten,
die ausser ihm walten; sich dessen zu erinnern, sich zu be-
scheiden in sein Loos, das ist seine Frömmigkeit. Ueber ihm
walten die Götter, mit Zaubers Kraft, oft nach unweisem
Gutdünken, aber die Vorstellung einer allgemeinen Weltord-
nung, einer Fügung der sich durchkreuzenden Ereignisse des
Lebens der Einzelnen und der Gesammtheit nach zubemessenem
Theile (μοῖρα) ist erwacht, die Willkür des einzelnen Dämons
ist doch beschränkt, beschränkt auch durch den Willen des
höchsten der Götter. Es kündigt sich der Glaube an, dass
die Welt ein Kosmos sei, eine Wohlordnung, wie sie die
Staaten der Menschen einzurichten suchen. Neben solchen
Vorstellungen konnte der Glaube an wirres Gespenstertreiben
nicht gedeihen, welches, im Gegensatz zum ächten Götterwesen,
stets daran kenntlich ist, dass es ausserhalb jeder zum Ganzen
sich zusammenschliessenden Thätigkeit steht, dem Gelüste, der
Bosheit des einzelnen unsichtbaren Mächtigen allen Spielraum
lässt. Das Irrationelle, Unerklärliche ist das Element des
Seelen- und Geisterglaubens, hierauf beruht das eigenthümlich
Schauerliche dieses Gebietes des Glaubens oder Wahns, und
auf dem unstät Schwankenden seiner Gestaltungen. Die home-
rische Religion lebt im Rationellen, ihre Götter sind völlig be-
[41] greiflich griechischem Sinn, in Gestalt und Gebahren völlig
deutlich und hell erkennbar griechischer Phantasie. Je greif-
barer sie sich gestalteten, um so mehr schwanden die Seelen-
bilder zu leeren Schatten zusammen. Es war auch Niemand
da, der ein Interesse an der Erhaltung und Vermehrung
religiöser Wahnvorstellungen gehabt hätte, es fehlte völlig ein
lehrender oder durch Alleinbesitz der Kenntniss ritualen Formel-
wesens und Geisterzwanges mächtiger Priesterstand. Wenn es
einen Lehrstand gab, so war es, in diesem Zeitalter, in dem
noch alle höchsten Geisteskräfte ihren gesammelten Ausdruck
in der Poesie fanden, der Stand der Dichter und Sänger. Und
dieser zeigt eine durchaus „weltliche“ Richtung, auch im
Religiösen. Ja diese hellsten Köpfe desjenigen griechischen
Stammes, der in späteren Jahrhunderten die Naturwissenschaft
und Philosophie „erfand“ (wie man hier einmal sagen darf)
lassen bereits eine Vorstellungsart erkennen, die von Weitem
eine Gefährdung der ganzen Welt plastischer Gestaltungen
geistiger Kräfte droht, welche das höhere Alterthum aufge-
baut hatte.
Die ursprüngliche Auffassung des „Naturmenschen“ weiss
die Regungen des Willens, Gemüthes, Verstandes nur als Hand-
lungen eines innerhalb des sichtbaren Menschen Wollenden,
den sie in irgend einem Organ des menschlichen Leibes ver-
körpert sieht, zu verstehen. Auch die homerischen Gedichte
benennen noch mit dem Namen des „Zwerchfelles“ (φρήν,
φρένες) geradezu die Mehrzahl der Willens- und Gemüths-
regungen, auch wohl die Verstandesthätigkeit; das „Herz“ (ἦτορ,
κῆρ) ist auch der Name der Gemüthsbewegungen, den man in
ihm localisirt denkt, eigentlich mit ihm identificirt. Aber
schon wird diese Bezeichnung eine formelhafte, sie ist oft nicht
eigentlich zu verstehen, die Worte des Dichters lassen erkennen,
dass er in der That sich die, immer noch nach Körpertheilen
benannten Triebe und Regungen körperfrei dachte 1). Und so
[42] findet man neben dem „Zwerchfell“, mit ihm oft in engster
Vereinigung genannt den ϑυμός, dessen Name, von keinem
Körpertheil hergenommen, schon eine rein geistige Function
bezeichnet. So bezeichnen mancherlei andere Worte (νόος, —
νοεῖν, νόημα — βουλή, μένος, μῆτις) Fähigkeiten und Thätigkeiten
des Wollens, des Sinnes und Sinnens mit Namen, die deren frei
und körperlos wirkende Art anerkennen. Der Dichter hängt
noch mit Einem Faden an der Anschauungsweise und Aus-
drucksweise der Vorzeit, aber schon ist er in das Reich rein
geistiger Vorgänge entdeckend weit vorgedrungen. Während
bei geringer ausgerüsteten Völkern die Wahrnehmung der ein-
zelnen Functionen des Willens und Intellects nur dazu führt,
diese Functionen in der Vorstellung zu eigenen körperhaften
Wesen zu verdichten, und so dem schattenhaften Doppelgänger
des Menschen, seinem andern Ich, noch weitere „Seelen“ in
Gestalt etwa des Gewissens, des Willens zu gesellen 1), bewegt
sich die Auffassung der homerischen Sänger bereits in ent-
gegengesetzter Richtung: die Mythologie des innern Menschen
schwindet zusammen. Sie hätten nur wenig auf dem gleichen
Wege weiter gehen dürfen, um auch die Psyche entbehr-
lich zu finden. Der Glaube an die Psyche war die älteste
Urhypothese, durch die man die Erscheinungen des Traumes,
der Ohnmacht, der ekstatischen Vision vermittelst der Annahme
eines besonderen körperhaften Acteurs in diesen dunklen Hand-
lungen erklärte. Homer hat für das Ahnungsvolle und gar
das Ekstatische wenig Interesse und gar keine eigene Neigung,
er kann also die Beweise für das Dasein der Psyche im leben-
digen Menschen sich nicht oft einleuchtend gemacht haben.
[43] Der letzte Beweis dafür, dass eine Psyche im Lebenden ge-
haust haben muss, ist der, dass sie im Tode Abschied nimmt.
Der Mensch stirbt, wenn er den letzten Athem verhaucht:
eben dieser Hauch, ein Luftwesen, nicht ein Nichts (so wenig
wie etwa die Winde, seine Verwandten), sondern ein gestalteter,
wenn auch wachen Augen unsichtbarer Körper ist die Psyche,
deren Art, als Abbild des Menschen, man ja aus dem Traum-
gesicht kennt. Wer nun aber schon gewöhnt ist, körperfrei
wirkende Kräfte im Inneren des Menschen anzuerkennen, der
wird auch bei dieser letzten Gelegenheit, bei der Kräfte im
Menschen sich regen, leicht zu der Annahme geführt werden,
dass, was den Tod des Menschen herbeiführe, nicht ein körper-
liches Wesen sei, das aus ihm entweiche, sondern eine Kraft,
eine Qualität, die zu wirken aufhöre: keine andere als eben
„das Leben“. Einem nackten Begriff wie „Leben“ ein selb-
ständiges Dasein nach der Auflösung des Leibes zuzuschreiben,
daran könnte er natürlich nicht denken. So weit ist nun der
homerische Dichter nicht vorgeschritten: allermeist ist und
bleibt ihm die Psyche ein reales Wesen, des Menschen zweites
Ich. Aber dass er den gefährlichen Weg, bei dessen Verfol-
gung sich die Seele zu einer Abstraction, zum Lebensbegriff
verflüchtigt, doch schon angefangen hat zu beschreiten, das
zeigt sich daran, dass er bisweilen ganz unverkennbar „Psyche“
sagt, wo wir „Leben“ sagen würden 1). Es ist im Grunde die
[44] gleiche Vorstellungsart, die ihn veranlasst hatte, hier und da
„Zwerchfell“ (φρένες) zu sagen, wo er nicht mehr das körper-
liche Zwerchfell, sondern den abstracten Begriff des Wollens
oder Denkens dachte. Wer statt „Leben“ Psyche sagt, wird
darum noch nicht sofort auch statt Psyche „Leben“ sagen
(und der Dichter thut es nicht), aber offenbar ist ihm, auf
dem Wege der Entkörperung der Begriffe, auch das einst so
höchst inhaltvolle Gebilde der Psyche schon stark verblasst und
verflüchtigt. —
Die Trennung vom Lande der Vorfahren, die Gewöhnung
an die Sitte des Leichenbrandes, die Richtung der religiösen
Vorstellungen, die Neigung, die einst körperlich vorgestellten
Principien des inneren Lebens des Menschen in Abstracta zu
verwandeln, haben beigetragen, den Glauben an inhaltvolles,
machtvolles Leben der abgeschiedenen Seelen, an ihre Ver-
bindung mit den Vorgängen der diesseitigen Welt zu schwächen,
den Seelencult zu beschränken. So viel, glaube ich, dürfen wir
behaupten. Die innersten und stärksten Gründe für diese Ab-
schwächung des Glaubens und des Cultus mögen sich unserer
Kenntniss entziehen, wie es sich unserer Kenntniss entzieht,
wie weit im Einzelnen die homerische Dichtung den Glauben des
Volkes, das ihr zuerst lauschte, darstellt, wo die freie Thätig-
keit des Dichters beginnt. Dass die Zusammenordnung der
einzelnen Elemente des Glaubens zu einem Ganzen, das man, wie-
wohl es von dem Charakter eines streng geschlossenen Systems
weit genug entfernt ist, nicht unpassend die homerische Theologie
nennt, des Dichters eigenes Werk ist, darf man als sehr wahr-
scheinlich ansehen. Seine Gesammtansicht von göttlichen Dingen
kann sich mit grosser Unbefangenheit darstellen, sie gerieth mit
keiner Volksansicht in Streit, denn die Religion des Volkes,
damals ohne Zweifel ebenso wie stets in Griechenland in der
rechten Verehrung der Landesgötter, nicht im Dogma sich
vollendend, wird schwerlich eine geordnete Gesammtvorstellung
von Göttern und Göttlichem gehabt haben, mit der der Dichter
sich hätte auseinandersetzen müssen oder können. Dass seiner-
[45] seits das Gesammtbild der unsichtbaren Welt, wie es die home-
rische Dichtung aufgebaut hatte, der Vorstellung des Volkes sich
tief einprägte, zeigt alle kommende Entwicklung griechischer
Cultur und Religion. Wenn sich abweichende Vorstellungen da-
neben erhielten, so zogen diese ihre Kraft nicht sowohl aus einer
anders gestalteten Dogmatik als aus den Voraussetzungen des
durch keine Dichterphantasie beeinflussten Cultus. Sie vor-
nehmlich konnten auch wohl einmal dahin wirken, dass inmitten
der Dichtung das dichterische Bild vom Reiche und Leben der
Unsichtbaren eine Trübung erfuhr.
Eine Probe auf die Geschlossenheit und dauerhafte Zu-
sammenfügung der in homerischer Dichtung ausgebildeten Vor-
stellungen von Wesen und Zuständen der abgeschiedenen Seelen
wird noch innerhalb des Rahmens dieser Dichtung gemacht
mit der Erzählung von der Hadesfahrt des Odysseus. Eine
gefährliche Probe, sollte man denken. Wie mag sich bei einer
Schilderung des Verkehrs des lebenden Helden mit den Be-
wohnern des Schattenreichs das Wesenlose, Traumartige der
homerischen Seelenbilder festhalten lassen, das sich entschlossener
Berührung zu entziehen, jedes thätige Verhältniss zu Anderen
auszuschliessen schien? Kaum versteht man, wie es einen
Dichter reizen konnte, mit der Fackel der Phantasie in dieses
Höhlenreich ohnmächtiger Schatten hineinzuleuchten. Man be-
greift das leichter, wenn man sich deutlich macht, wie die Er-
zählung entstanden, wie sie allmählich durch Zusätze von fremder
Hand sich selber unähnlich geworden ist 1).
Es darf als eines der wenigen sicheren Ergebnisse einer
kritischen Analyse der homerischen Gedichte betrachtet werden,
[46] dass die Erzählung von der Fahrt des Odysseus in die Unter-
welt im Zusammenhang der Odyssee ursprünglich nicht vor-
handen war. Kirke heisst den Odysseus zum Hades fahren,
damit ihm dort Tiresias „den Weg und die Maasse der Rück-
kehr weise, und wie er heimgelangen könne über das fisch-
reiche Meer“ (Od. 10, 539 f.). Tiresias, im Schattenreiche
aufgesucht, erfüllt diese Bitte nur ganz unvollständig und oben-
hin; dem Zurückgekehrten giebt dann Kirke selbst eine voll-
ständigere und in dem Einen auch von Tiresias berührten Puncte
deutlichere Auskunft über die Gefahren, die auf der Rück-
kehr noch bevorstehen 1). Die Fahrt in’s Todtenreich war also
unnöthig; es ist kein Zweifel, dass sie ursprünglich ganz fehlte.
Es ist aber auch klar, dass der Dichter dieser Abenteuer sich
der (überflüssigen) Erkundung bei Tiresias nur als eines lockeren
Vorwandes bediente, um doch irgend einen äusseren Anlass zu
haben, seine Erzählung in das Ganze der Odyssee einzuhängen.
Der wahre Zweck des Dichters, die eigentliche Veranlassung
der Dichtung muss anderswo gesucht werden als in der Weis-
sagung des Tiresias, die denn auch auffallend kurz und nüch-
tern abgemacht wird. Es läge ja nahe anzunehmen, dass die
Absicht des Dichters gewesen sei, der Phantasie einen Ein-
blick in die Wunder und Schrecken des dunkeln Reiches, in
das alle Menschen eingehen müssen, zu eröffnen. Eine solche
Absicht, wie bei mittelalterlichen, so bei griechischen Höllen-
poeten späterer Zeit (deren es eine erhebliche Zahl gab) 2)
sehr begreiflich, wäre nur eben bei einem Dichter homerischer
Schule schwer verständlich: ihm konnte ja das Seelenreich und
seine Bewohner kaum ein Gegenstand irgend welcher Schilde-
rung sein. Und in der That hat der Dichter der Hadesfahrt
[47] des Odysseus einen ganz anderen Zweck verfolgt; er war nichts
weniger als ein antiker Dante. Man erkennt die Absicht, die
ihn bestimmte, sobald man seine Dichtung von den Zusätzen
mancherlei Art säubert, mit denen spätere Zeiten sie umbaut
haben. Es bleibt dann als ursprünglicher Kern des Gedichtes
nichts übrig als eine Reihe von Gesprächen des Odysseus mit
Seelen solcher Verstorbenen, zu denen er in enger persönlicher
Beziehung gestanden hat; ausser mit Tiresias redet er mit
seinem eben aus dem Leben geschiedenen Schiffsgenossen Elpe-
nor, mit seiner Mutter Antikleia, mit Agamemnon und Achill, und
versucht vergeblich mit dem grollenden Ajas ein versöhnendes
Gespräch anzuknüpfen. Diese Unterredungen im Todtenreiche
sind für die Bewegung und Bestimmung der Handlung des Ge-
sammtgedichtes von Odysseus’ Fahrt und Heimkehr in keiner
Weise nothwendig, sie dienen aber auch nur in ganz geringem
Maasse und nur nebenbei einer Aufklärung über die Zustände
und Stimmungen im räthselhaften Jenseits; denn Fragen und
Antworten beziehen sich durchweg auf Angelegenheiten der
oberen Welt. Sie bringen den Odysseus, der nun schon so
lange fern von den Reichen der thätigen Menschheit einsam
umirrt, in geistige Verbindung mit den Kreisen der Wirklich-
keit, zu denen seine Gedanken streben, in denen er einst selbst
wirksam gewesen ist und bald wieder kraftvoll thätig sein wird.
Die Mutter berichtet ihm von den zerstörten Lebensverhält-
nissen auf Ithaka, Agamemnon von der frevelhaften That des
Aegisth und der Beihülfe der Klytaemnestra, Odysseus selbst
kann dem Achill Tröstliches sagen von den Heldenthaten des
Sohnes, der noch droben im Lichte ist; den auch im Hades
grollenden Ajas vermag er nicht zu versöhnen. So klingt das
Thema des zweiten Theils der Odyssee bereits vor, von den
grossen Thaten des troischen Krieges, den Abenteuern der
Rückkehr, die damals aller Sänger Sinne beschäftigte, tönt
ein Nachhall bis zu den Schatten hinunter. Die Ausführung
dieser, im Gespräch der betheiligten Personen mitgetheilten
Erzählungen ist dem Dichter eigentlich die Hauptsache. Der
[48] lebhafte Trieb, den Sagenkreis, in dessen Mittelpunct die
Abenteuer der Ilias lagen, nach allen Richtungen auszuführen
und mit anderen Sagenkreisen zu verschlingen, hat sich später
in besonderen Dichtungen, den Heldengedichten des epischen
Cyklus, genug gethan. Als die Odyssee entstand, waren diese
Sagen bereits in strömend vordringender Bewegung; noch hatten
sie kein eigenes Bette gefunden, aber sie drangen in einzelnen
Ergiessungen in die ausgeführte Erzählung von der Heimkehr
des zuletzt allein noch umirrenden Helden (der sie, ihren Gegen-
ständen nach, alle zeitlich voran lagen) ein. Ein Hauptzweck
der Erzählung von der Fahrt des Telemachos zu Nestor und
Menelaos (im dritten und vierten Buch der Odyssee) ist ersicht-
lich der, den Sohn in Berührung mit alten Kriegsgenossen des
Vaters zu bringen, und so zu mannichfachen Erzählungen Ge-
legenheit zu schaffen, in denen von den zwischen Ilias und
Odyssee liegenden Abenteuern einzelne bereits deutlichere Ge-
stalt gewinnen. Demodokos, der Sänger bei den Phäaken, muss
zwei Ereignisse des Feldzugs in Andeutungen vorführen. Auch
wo solche Berichte nicht unmittelbar von den Thaten und der
Sinnesart des Odysseus melden, dienen sie doch, an den grossen
Hintergrund zu mahnen, vor dem die Abenteuer des zuletzt
auf seinen Irrfahrten völlig vereinzelten Dulders stehen, diese in
den idealen Zusammenhang zu rücken, in dem sie erst ihre
rechte Bedeutung gewinnen 1). Auch den Dichter der Hades-
fahrt nun bewegt dieser quellende Sagenbildungstrieb. Auch
er sieht die Abenteuer des Odysseus nicht vereinzelt, sondern
im lebendigen Zusammenhang aller von Troja ausgehenden
Abenteuer; er fasste den Gedanken, den Helden in Rath und
Kampf noch einmal, ein letztes Mal, zu Rede und Gegenrede
zusammenzuführen mit dem mächtigsten Könige, dem hehrsten
[49] Helden jener Kriegszüge, und dazu musste er ihn freilich in
das Reich der Schatten führen, das jene längst umschloss, er
durfte einem Ton der Wehmuth nicht wehren, der aus diesen
Gesprächen am Rande des Reiches der Nichtigkeit klingt, zu
der alle Lust und Macht des Lebens zusammensinken muss.
Die Befragung des Tiresias ist ihm, wie gesagt, nur ein Vor-
wand, um diesen Verkehr des Odysseus mit der Mutter und
den alten Genossen, auf den es ihm einzig ankam, herbeizu-
führen. Vielleicht ist gerade diese Wendung ihm eingegeben
worden durch Erinnerung an die Erzählung des Menelaos
(Od. 4, 351 ff.), von seinem Verkehr mit Proteus dem Meer-
greis 1): auch da wird ja die Befragung des der Zukunft Kun-
digen über die Mittel zur Heimkehr nur als flüchtige Einleitung
zu Berichten über Heimkehrabenteuer des Ajas, des Agamemnon
und Odysseus verwendet.
Gewiss kann die Absicht dieses Dichters nicht gewesen
sein, eine Darstellung der Unterwelt um ihrer selbst willen zu
geben. Selbst die Scenerie dieser fremdartigen Vorgänge, die
am ersten noch seine Phantasie reizen mochte, wird nur in
kurzen Andeutungen bezeichnet. Ueber den Okeanos fährt
das Schiff bis zu dem Volke der Kimmerier 2), das nie die
Sonne sieht, und gelangt bis zu der „rauhen Küste“ und dem
Hain der Persephone aus Schwarzpappeln und Weiden. Odysseus
mit zwei Gefährten dringt vor bis zum Eingang in den Erebos,
wo Pyriphlegethon und Kokytos, der Styx Abfluss, in den Acheron
münden. Dort gräbt er seine Opfergrube, zu der die Seelen
aus des Erebos Tiefe über die Asphodeloswiese heranschweben.
Rohde, Seelencult. 4
[50] Es ist dasselbe Reich der Erdtiefe, das auch die Ilias als den
Aufenthalt der Seelen voraussetzt, nur genauer vorgestellt und
vergegenwärtigt 1). Die einzelnen Züge des Bildes werden so
flüchtig erwähnt, dass man fast glauben möchte, auch sie habe
der Dichter bereits in älterer Sagendichtung vorgefunden. Jeden-
falls hat er ja die, auch der Ilias wohlbekannte Styx über-
nommen und so vermuthlich auch die anderen Flüsse, die vom
Feuerbrande (der Leichen? 2), von Wehklagen und Leid leicht
verständliche Namen haben 3). Der Dichter selbst, auf das
Ethische allein sein Augenmerk richtend, ist dem Reiz des leer
Phantastischen geradezu abgeneigt; er begnügt sich mit spar-
samster Zeichnung. So giebt er denn auch von den Bewohnern
des Erebos keine verweilende Schilderung; was er von ihnen
sagt, hält sich völlig in den Grenzen des homerischen Glaubens.
Die Seelen sind Schatten- und Traumbildern gleich, dem Griff
des Lebenden unfassbar 4); sie nahen bewusstlos; einzig Elpenor,
dessen Leib noch unverbrannt liegt, hat eben darum das Be-
wusstsein bewahrt, ja er zeigt eine Art von erhöhetem Bewusst-
sein, das der Prophetengabe nahekommt, nicht anders als
[51] Patroklos und Hektor im Augenblick der Loslösung der Psyche
vom Leibe 1). Alles dieses wird auch ihn verlassen, sobald sein
Leib vernichtet ist. Tiresias allein, der Seher, den die Theba-
nische Sage berühmt vor allen gemacht hatte, hat Bewusst-
sein und sogar Sehergabe auch unter den Schatten, durch
Gnade der Persephone, bewahrt; aber das ist eine Ausnahme,
welche die Regel nur bestätigt. Fast wie absichtliche Bekräf-
tigung orthodox homerischer Ansicht nimmt sich aus, was
Antikleia dem Sohne von der Kraft- und Wesenlosigkeit der
Seele nach Verbrennung des Leibes sagt 2). Alles in der Dar-
stellung dieses Dichters bestätigt die Wahrheit dieses Glaubens;
und wenn die Lebenden freilich Ruhe haben vor den macht-
los in’s Dunkle gebannten Seelen, so tönt hier aus dem Erebos
selbst in dumpfem Klange uns das Traurige dieser Vorstellung
entgegen, in der Klage des Achill, mit der er den Trost-
zuspruch des Freundes abweist — Jeder kennt die unvergess-
lichen Worte.
Dennoch wagt der Dichter einen bedeutsamen Schritt über
Homer hinaus zu thun. Was er von dem Zuständlichen im
Reiche des Hades mehr andeutet als sagt, streitet ja in keinem
Puncte mit der homerischen Darstellung. Aber neu ist doch,
dass dieser Zustand, wenn auch nur auf eine kurze Weile, unter-
brochen werden kann. Der Bluttrunk giebt den Seelen momen-
tanes Bewusstsein zurück, es strömt das Andenken an die obere
Welt ihnen wieder zu; ihr Bewusstsein ist also, müssen wir
4*
[52] glauben, für gewöhnlich nicht todt, es schläft nur. Zweifellos
wollte der Dichter, der solche Fiction für seine Dichtung nicht
entbehren konnte, damit nicht ein neues Dogma aufgerichtet
haben. Aber um seinen rein dichterischen Zweck zu erreichen,
muss er in seine Erzählung einzelne Züge verflechten, die, aus
seinem eigenen Glauben nicht erklärlich, hinüber oder eigentlich
zurück leiten in alten, ganz anders gearteten Glauben und auf
diesem errichteten Brauch. Er lässt den Odysseus, nach An-
weisung der Kirke, am Eingang des Hades eine Grube graben,
einen Weiheguss „für alle Todten“ herumgiessen, zuerst eine
Mischung von Milch und Honig, dann Wein, Wasser, darauf
wird weisses Mehl gestreut. Nachher schlachtet er einen Widder
und ein schwarzes Mutterschaf, ihre Köpfe in die Grube
drückend 1); die Leiber der Thiere werden verbrannt, um das
Blut versammeln sich die heranschwebenden Seelen, die des Odys-
seus Schwert fern zu halten vermag 2), bis Tiresias als erster
getrunken hat. — Hier ist der Weiheguss ganz unzweifelhaft
eine Opfergabe, den Seelen zur Labung ausgegossen. Die
Schlachtung der Thiere will der Dichter allerdings nicht als
Opfer angesehen wissen, der Genuss des Blutes soll nur den
Seelen das Bewusstsein (dem Tiresias, dessen Bewusstsein un-
verletzt ist, die Gabe des vorausschauenden Seherblickes) wieder-
geben. Aber man sieht wohl, dass dies eben nur eine Fiction
des Dichters ist; was er darstellt, ist bis in alle Einzelheiten
hinein ein Todtenopfer, wie es uns unverhohlen als solches in
[53] Berichten späterer Zeit oft genug begegnet. Die Witterung
des Blutes zieht die Seelen an, die „Blutsättigung“ (αίμακουρία)
ist der eigentliche Zweck solcher Darbringungen, wie sie dem
Dichter als Vorbild vorschweben. Erfunden hat er in dieser
Darstellung nichts, aber auch nicht etwa, wie man wohl an-
nimmt, neuen, zu der Annahme energischeren Lebens der ab-
geschiedenen Seelen vorgedrungenen Vorstellungen seine Opfer-
ceremonien angepasst. Denn hier wie bei der Schilderung des
Opfercultes bei der Bestattung des Patroklos ist ja die Vor-
stellung des Dichters von dem Seelenleben durchaus nicht der
Art, dass sie neuen kräftigeren Brauch begründen könnte,
sie steht vielmehr mit den Resten eines Cultus, die sie vor-
führt, im Widerspruch. Auch hier also sehen wir versteinerte,
sinnlos gewordene Rudimente eines einstmals im Glauben voll
begründeten Brauches vor uns, vom Dichter um dichterischer
Zwecke willen hervorgezogen und nicht nach ihrem ursprüng-
lichen Sinne verwendet. Die Opferhandlung, durch welche
hier die Seelen herangelockt werden, gleicht auffallend den Ge-
bräuchen, mit denen man später an solchen Stellen, an denen
man einen Zugang zum Seelenreiche im Inneren der Erde zu
haben glaubte, Todtenbeschwörung übte. Es ist an sich durchaus
nicht undenkbar, dass auch zu der Zeit des Dichters der Hades-
fahrt in irgend einem Winkel Griechenlands solche Beschwö-
rungen, als Reste alten Glaubens, sich erhalten hätten. Sollte
aber auch der Dichter von solchem localen Todtencult Kunde
gehabt und hiernach seine Darstellung gebildet haben 1), so
[54] wäre nur um so bemerkenswerther, wie er, den Ursprung seiner
Schilderung verwischend, als correcter Homeriker jeden Ge-
danken an die Möglichkeit, die Seelen der Verstorbenen, als
wären sie den Wohnungen der Lebenden noch nahe, herauf
an’s Licht der Sonne zu locken, streng fern hält 1). Er weiss
nur von Einem allgemeinen Reiche der Todten, fern im dunklen
Westen, jenseits der Meere und des Oceans, der Held des
Märchens kann wohl bis an seinen Eingang dringen, aber eben
nur dort kann er mit den Seelen in Verkehr treten, denn nie-
mals giebt das Haus des Hades seine Bewohner frei.
Hiermit ist nun freilich unverträglich das Opfer, das der
Dichter, man kann kaum anders sagen als gedankenlos, den
Odysseus allen Todten und dem Tiresias im Besonderen ge-
loben lässt, wenn er nach Hause zurückgekehrt sein werde
(Od. 10, 521—526; 11, 29—33). Was soll den Todten das
Opfer einer unfruchtbaren Kuh und die Verbrennung von
„Gutem“ auf einem Scheiterhaufen, dem Tiresias die Schlach-
tung eines schwarzen Schafes, fern in Ithaka, wenn sie doch
in den Erebos gebannt sind, und der Genuss des Opfers ihnen
unmöglich ist? Hier haben wir das merkwürdigste und be-
deutendste aller Rudimente alten Seelencultes vor uns, welches
ganz unwidersprechlich beweist, dass in vorhomerischer Zeit der
Glaube bestand, dass auch nach der Bestattung des Leibes die
Seele nicht für ewig verbannt sei in ein unerreichbares Schatten-
reich, sondern dem Opfernden sich nahen, am Opfer sich laben
könne, so gut wie die Götter. Eine einzige dunkle Hindeutung
in der Ilias 2) lässt uns erkennen, was hier viel deutlicher
1)
[55] und mit unbedachter Naivetät hervortritt, dass auch zu der
Zeit der Herrschaft des homerischen Glaubens an völlige
Nichtigkeit der für ewig abgeschiedenen Seelen die Darbringung
von Todtenopfern lange nach der Bestattung (wenigstens ausser-
ordentlicher, wenn auch nicht regelmässig wiederholter) nicht
ganz in Vergessenheit gerathen war.
Zeigt sich an den Inconsequenzen, zu welchen den Dichter
die Darstellung der Einleitung eines Verkehrs des Lebenden
mit den Todten verleitet, dass sein Unternehmen für einen
Homeriker strenger Observanz ein Wagniss war, so ist er
doch in dem, was ihm die Hauptsache war, der Schilderung
der Begegnung des Odysseus mit Mutter und Genossen, kaum
merklich von der homerischen Bahn abgewichen. Hier nun aber
hatte er dichterisch begabten Lesern oder Hörern seines Ge-
dichts nicht genug gethan. Was ihm selbst, der auf den im
Mittelpunct stehenden lebenden Helden alles bezog und nur
solche Seelen herantreten liess, die zu diesem in innerlich be-
gründetem Verhältniss stehen, gleichgültig war, eine Musterung
des wirren Getümmels der Unterirdischen in ihrer Masse, das
eben meinten Spätere nicht entbehren zu können. Sein Gedicht
weiter ausführend, liessen sie theils Todte jeden Alters her-
anschweben, die Krieger darunter noch mit sichtbarer Wunde,
in blutiger Rüstung 1), theils führen sie, mehr hesiodisch auf-
zählend für die Erinnerung als homerisch für die Anschauung
belebend, eine Schaar von Heldenmüttern grosser Geschlechter
2)
[56] an Odysseus vorüber, die doch nicht mehr Recht als andere
auf seine Theilnahme hatten und die man auch mit ihm in
irgend einen Zusammenhang zu setzen nur schwache Versuche
machte 1). Schien hiermit die Masse der Todten, in aus-
erwählten Vertretern, besser vergegenwärtigt, so sollten nun
auch die Zustände dort unten wenigstens in Beispielen dar-
gestellt werden. Odysseus thut einen Blick in das Innere des
Todtenreiches (was ihm eigentlich bei seiner Stellung am
äussersten Eingange unmöglich war 2) und erblickt da solche
Heldengestalten, welche die Thätigkeit ihres einstigen Lebens,
als rechte „Abbilder“ (εἴδωλα) der Lebendigen, fortsetzen:
Minos richtend unter den Seelen, Orion jagend, Herakles immer
noch den Bogen in der Hand, den Pfeil auf der Sehne einem
„stets Abschnellenden ähnlich“. Das ist nicht Herakles, der
„Heros-Gott“, wie ihn die Späteren kennen; der Dichter weiss
noch nichts von der Erhöhung des Zeussohnes über das Loos
aller Sterblichen, so wenig wie der erste Dichter der Hades-
fahrt von einer Entrückung des Achill aus dem Hades etwas
weiss. Späteren Lesern musste freilich dies ein Versäumniss
dünken. Solche haben denn auch mit kecker Hand drei Verse
eingelegt, in denen berichtet wird, wie „er selbst“, der wahre
Herakles, unter den Göttern wohne; was Odysseus im Hades
sah, sei nur sein „Abbild“. Der dies schrieb, trieb Theologie
auf eigene Hand: von einem solchen Gegensatz zwischen einem
volllebendigen, also Leib und Seele des Menschen vereinigt
enthaltenden „Selbst“ und einem, in den Hades gebannten
leeren „Abbild“, welches aber nicht die Psyche sein kann,
weiss weder Homer etwas noch das Griechenthum späterer
Zeit 3). Es ist eine Verlegenheitsauskunft ältester Harmonistik.
[57] Den Herakles sucht der Dichter mit Odysseus durch ein Ge-
spräch in Verbindung zu setzen, in Nachahmung der Gespräche
des Odysseus mit Agamemnon und Achill: man merkt aber
bald, dass diese zwei einander nichts zu sagen haben (wie denn
auch Odysseus schweigt); es besteht keine Beziehung zwischen
ihnen, höchstens eine Analogie, insofern auch Herakles einst
lebendig in den Hades eingedrungen ist. Es scheint, dass einzig
diese Analogie den Dichter veranlasst hat, den Herakles hier
einzuschieben 1).
Es bleiben noch (zwischen Minos und Orion und Herakles
gestellt und vermuthlich von derselben Hand gebildet, die auch
jene beiden gezeichnet hat) die jedem Leser unvergesslichen
Gestalten der drei „Büsser“, des Tityos, dessen Riesenleib
zwei Geier zerhacken, des Tantalos, der mitten im Teich ver-
schmachtet und die überhangenden Zweige der Obstbäume
nicht erreichen kann, des Sisyphos, der den immer wieder ab-
wärts rollenden Stein immer wieder in die Höhe wälzen muss.
In diesen Schilderungen ist die Grenze der homerischen Vor-
stellungen, mit denen sich die Bilder des Minos, Orion und
Herakles immer noch ausgleichen liessen, entschieden über-
schritten. Den Seelen dieser drei Unglücklichen wird volles
und dauerndes Bewusstsein zugetraut, ohne welches ja die
Strafe nicht empfunden werden könnte und also nicht ausgeübt
werden würde. Und wenn man die ausserordentlich sichere,
knappe, den Grund der Strafe nur bei Tityos andeutende, sonst
einfach als bekannt voraussetzende Darstellung beachtet, wird
man den Eindruck haben, als ob diese Beispiele der Strafen
im Jenseits nicht zum ersten Male von dem Dichter dieser
Verse gebildet, den überraschten Hörern als kühne Neuerung
dargeboten, sondern mehr diesen nur in’s Gedächtniss zurück-
gerufen, vielleicht aus einer grösseren Anzahl solcher Bilder ge-
rade diese drei ausgewählt seien. Hatten also bereits ältere
Dichter (die immer noch jünger sein konnten als der Dichter
[58] des ältesten Theils der Hadesfahrt) den Boden homerischen
Seelenglaubens kühn verlassen?
Gleichwohl dürfen wir dies festhalten, dass die Strafen
der drei „Büsser“ nicht etwa die homerische Vorstellung von
der Bewusstlosigkeit und Nichtigkeit der Schatten überhaupt
umstossen sollten: sie stünden sonst ja auch nicht so friedlich
inmitten des Gedichtes, welches diese Vorstellungen zur Vor-
aussetzung hat. Sie lassen die Regel bestehen, da sie selbst
nur eine Ausnahme darstellen und darstellen wollen. Das
könnten sie freilich nicht, wenn man ein Recht hätte, die
dichterische Schilderung so auszulegen, dass die drei Unglück-
lichen typische Vertreter einzelner Laster und Classen von
Lasterhaften sein sollten, etwa „zügelloser Begierde (Tityos),
unersättlicher Schwelgerei (Tantalos), und des Hochmuths des
Verstandes (Sisyphos)“ 1). Dann würde ja an ihnen eine Ver-
geltung nur exemplificirt, die man sich eigentlich auf die un-
übersehbaren Schaaren der mit gleichen Lastern befleckten
Seelen ausgedehnt denken müsste. Nichts aber in den Schil-
derungen selbst spricht für eine solche theologisirende Aus-
legung, und von vorne herein etwa eine solche Forderung aus-
gleichender Vergeltung im Jenseits, die dem Homer vollständig
fremd ist und in griechischen Glauben, soweit sie sich über-
haupt jemals in ihn eingedrängt hat, erst von grübelnder Mystik
spät hineingetragen ist, gerade diesem Dichter aufzudrängen,
haben wir kein Recht und keinen Anlass. Allmacht der Gott-
heit, das soll uns diese Schilderung offenbar sagen, kann in
einzelnen Fällen dem Seelenbild die Besinnung erhalten, wie dem
Tiresias zum Lohne, so jenen drei den Göttern Verhassten,
damit sie der Strafempfindung zugänglich bleiben. Was eigent-
lich an ihnen bestraft wird, lässt sich nach der eigenen An-
gabe des Dichters für Tityos leicht vermuthen: es ist ein be-
sonderes Vergehen, das jeder von ihnen dereinst gegen Götter
begangen hat. Was dem Tantalos zur Last fällt, lässt sich
nach sonstiger Ueberlieferung errathen; weniger bestimmt sind
[59] die Angaben über die Verfehlung, die an dem schlauen Sisyphos
geahndet wird 1). Auf jeden Fall wird an allen Dreien Rache
genommen für Verletzungen der Götter selbst, deren Menschen
späterer Zeit gar nicht schuldig werden können; eben darum
haben ihre Thaten so gut wie ihre Strafen nichts Vorbildliches
und Typisches, beide stellen vielmehr völlig vereinzelte Aus-
nahmen dar, gerade dadurch sind sie dem Dichter merkwürdig.
Von irgend einer ganzen Classe von Lasterhaften, die im
Hades bestraft würden, weiss die Dichtung von der Hades-
fahrt des Odysseus nichts, auch nicht in ihren jüngsten Theilen.
Sie hätte sich sogar noch an ächt homerische Andeutungen
halten können, wenn sie wenigstens die unterweltlichen Strafen
der Meineidigen erwähnt hätte. Zweimal werden in der
Ilias bei feierlichen Eidschwüren neben Göttern der Oberwelt
[60] auch die Erinyen angerufen, welche unter der Erde diejenigen
strafen, die einen Meineid schwören 1). Nicht mit Unrecht hat
man in diesen Stellen einen Beweis dafür gefunden, „dass die
homerische Vorstellung von einem gespenstischen Scheinleben
der Seelen in der Unterwelt ohne Empfindung und Bewusstsein
nicht allgemeiner Volksglaube war“ 2). Man muss aber wohl
hinzusetzen, dass im Glauben der homerischen Zeit der Ge-
danke einer Bestrafung der Meineidigen im Schattenreiche
kaum noch recht lebendig gewesen sein kann, da er den Sieg
jener, mit ihm unverträglichen Vorstellung von empfindungs-
loser Nichtigkeit der abgeschiedenen Seelen nicht hat hindern
können. In einer feierlichen Schwurformel hat sich (wie denn
in Formeln sich überall manches Alterthum, unlebendig, lange
fortschleppt) eine Anspielung auf jenen, homerischer Zeit fremd
gewordenen Glauben erhalten, auch ein Rudiment verschollener
Vorstellungsweise. Selbst damals übrigens, als man an eine
Bestrafung des Meineids im Jenseits noch wirklich und wört-
lich glaubte, mag man wohl Bewusstsein allen Seelen im Hades
zugestanden haben, keinenfalls aber hat man an eine Vergel-
tung irdischer Verfehlungen im Hades ganz im Allgemeinen
geglaubt, von denen etwa der Meineid nur ein einzelnes Bei-
spiel wäre. Denn an dem Meineidigen wird nicht etwa eine
besonders anstössige sittliche Verfehlung bestraft — man darf
zweifeln, ob die Griechen eine solche in dem Meineid über-
haupt fanden und empfanden —, sondern er, und nicht irgend
ein anderer Frevler, verfällt den unterirdischen Quälgeistern
einfach darum, weil er im Schwur, um seinen Abscheu vor
Trug auf’s Fürchterlichste zu bekräftigen, sich das Grässlichste,
die Peinigung im Reiche des Hades, aus dem kein Entrinnen ist,
selber angewünscht hat, wenn er falsch schwöre 3). Denen er
[61] sich gelobt hat, den Höllengeistern verfällt er, wenn er Meineid
schwört. Glaube an die bindende Zauberkraft solcher Ver-
wünschungen, nicht absonderliche sittliche Hochhaltung der
Wahrheit, die dem höheren Alterthum ganz fremd ist, gab
dem Eid seine Furchtbarkeit.
Ein letztes Anzeichen der Zähigkeit, mit welcher die Sitte
den sie begründenden Glauben überlebt, bieten die homerischen
Gedichte in der Erzählung des Odysseus, wie er, von dem
Kikonenland fliehend, nicht eher abgefahren sei, als bis er die
im Kampf mit den Kikonen erschlagenen Gefährten dreimal
gerufen habe (Od. 9, 65. 66). Der Sinn solcher Anrufung
der Todten wird aus einzelnen Anspielungen auf die gleiche
Sitte in späterer Litteratur deutlich. Die Seele der in der
Fremde Gefallenen soll abgerufen werden 1), richtig vollzogen
zwingt sie der Ruf des Freundes ihm zu folgen nach der
Heimath, wo ein „leeres Grabmal“ sie erwartet, wie es auch
bei Homer regelmässig den Freunden errichtet wird, deren
Leichen zu richtiger Bestattung zu erreichen unmöglich ist 2).
3)
[62] Abrufung der Seele und Errichtung solches leeren Gehäuses
— für wen anders als die Seele, die dann der Verehrung ihrer
Angehörigen erreichbar bleibt — hat einen Sinn für diejenigen,
die an die Möglichkeit der Ansiedelung einer „Seele“ in der
Nähe der lebenden Freunde glauben, nicht aber für Anhänger
des homerischen Glaubens. Wir sehen zum letzten Male ein
bedeutsames Rudiment ältesten Glaubens in einem in veränderter
Zeit noch nicht ganz abgestorbenen Brauche vor uns. Todt war
auch hier der Glaube, der den Brauch einst hervorgerufen
hatte. Fragt man den homerischen Dichter, zu welchem
Zwecke dem Todten ein Grabhügel aufgeschüttet, ein Merk-
zeichen darauf errichtet werde, so antwortet er: damit sein
Ruhm unter den Menschen unvergänglich bleibe; damit auch
künftige Geschlechter von ihm Kunde haben 1). Das ist echt
homerischer Klang. Mit dem Tode entflieht die Seele in ein
Reich dämmernden Traumlebens, der Leib, der sichtbare
Mensch, zerfällt; was lebendig bleibt, ist im Grunde nichts
als der grosse Name. Von ihm redet der Nachwelt noch das
ehrenvolle Denkzeichen auf dem Grabhügel — und das Lied
des Sängers. Es ist begreiflich, dass ein Dichter zu solchen
Vorstellungen neigen konnte.
Die homerische Vorstellung vom Schattenleben der abge-
schiedenen Seelen ist das Werk der Resignation, nicht des
Wunsches. Der Wunsch würde nicht diese Zustände sich als
thatsächlich vorhanden vorgespiegelt haben, in denen es für
den Menschen nach dem Tode weder ein Fortwirken giebt,
noch ein Ausruhen von den Mühen des Lebens, sondern ein
unruhiges, zweckloses Flattern und Schweben, ein Dasein zwar,
aber ohne jeden Inhalt, der es erst zum Leben machen
könnte.
Regte sich gar kein Wunsch nach tröstlicherer Gestaltung
der jenseitigen Welt? verzehrte die starke Lebensenergie jener
Zeiten wirklich ihr Feuer so völlig im Reiche des Zeus, dass
nicht einmal ein Flammenschein der Hoffnung bis in das Haus
des Hades fiel? Wir müssten es glauben — wenn nicht ein
einziger flüchtiger Ausblick uns von ferne ein seliges Wunsch-
land zeigte, wie es das noch unter dem Banne des homerischen
Weltbildes stehende Griechenthum sich erträumte.
Als Proteus, der in die Zukunft schauende Meergott, dem
Menelaos am Strande Aegyptens von den Bedingungen seiner
Heimkehr in’s Vaterland und von den Schicksalen seiner
liebsten Genossen berichtet hat, fügt er, — so erzählt Mene-
laos selbst im vierten Buche der Odyssee (v. 560 ff.) dem
Telemach — die weissagenden Worte hinzu:
Diese Verse lassen einen Blick thun in ein Reich, von
dem die homerischen Gedichte sonst keinerlei Kunde geben.
Am Ende der Erde, am Okeanos liegt das „Elysische Ge-
filde“, ein Land unter ewig heiterem Himmel, gleich dem
Götterlande 1). Dort wohnt der Held Rhadamanthys, nicht
allein, darf man denken: es ist ja von Menschen in der Mehr-
zahl die Rede (V. 565. 568). Dorthin werden dereinst die
Götter „senden“ den Menelaos: er wird nicht sterben (V. 562),
d. h. er wird lebendig dorthin gelangen, auch dort den Tod
nicht erleiden. Wohin er entrückt werden soll, das ist nicht
etwa ein Theil des Reiches des Hades, sondern ein Land auf
der Oberfläche der Erde, zum Aufenthalt bestimmt nicht ab-
geschiedenen Seelen, sondern Menschen, deren Seelen sich von
ihrem sichtbaren Ich nicht getrennt haben: denn nur so können
sie eben Gefühl und Genuss des Lebens (v. 565) haben.
Es ist das volle Gegentheil von einer seligen Unsterblichkeit
der Seele in ihrem Sonderdasein, was hier die Phantasie sich
ausmalt; eben weil eine solche homerischen Sängern völlig
undenkbar blieb, sucht und findet der Wunsch einen Ausgang
aus dem Reiche der Schatten, das alle Lebensenergie ver-
schlingt. Er ersieht sich ein Land am Ende der Welt, aber
doch noch von dieser Welt, in das einzelne Günstlinge der
Götter entrückt werden, ohne dass ihre Psyche vom Leibe
sich trennte und dem Erebos verfiele.
Die Hindeutung auf solche wunderbare Entrückung steht
in den homerischen Gedichten vereinzelt, und scheint auch in
die Odyssee erst von nachdichtender Hand eingelegt zu sein 2).
[65] Aber die Bedingungen für ein solches Wunder sind alle in
homerischen Vorstellungen gegeben. Menelaos wird durch
Göttermacht entrafft, und führt fern von der Welt der Sterb-
lichen ein ewiges Leben. Dass ein Gott seinen sterblichen
Schützling den Blicken der Menschen plötzlich entziehen und
ungesehen durch die Luft davon führen könne, ist ein Glaube,
der in nicht wenigen Vorgängen der Schlachten der Ilias seine
Anwendung findet 1). Die Götter können aber auch einen
Sterblichen auf lange Zeit „unsichtbar machen“. Da Odysseus
den Seinen so lange schon entschwunden ist, vermuthen
sie, dass die Götter ihn „unsichtbar gemacht“ haben (Od. 1,
235 ff.); er ist, meinen sie, nicht gestorben (v. 236), sondern
„die Harpyien haben ihn entrafft“, und so ist er aller Kunde
entrückt (Od. 1, 241 f.; 14, 371). Penelope in ihrem Jammer
wünscht sich entweder schnellen Tod durch die Geschosse
der Artemis, oder dass sie emporgerissen ein Sturmwind ent-
2)
Rohde, Seelencult. 5
[66] führe auf dunklen Pfaden und sie hinwerfe an den Mündungen
des Okeanos, d. h. am Eingang in’s Todtenreich (Od. 20, 61—65;
79 ff.) 1). Sie beruft sich zur Erläuterung dieses Wunsches
auf ein Märchen, von der Art, wie sie wohl in den Weiber-
gemächern oft erzählt werden mochten: von den Töchtern des
Pandareos, die nach dem gewaltsamen Tode der Eltern von
Aphrodite lieblich aufgenährt, von Hera, Artemis und Athene
mit allen Gaben und Kunstfertigkeiten ausgestattet, einst, da
Aphrodite in den Olymp gegangen war, um ihnen von Zeus
einen Ehebund zu erbitten, von den Harpyien entrafft und den
verhassten Erinyen zum Dienste gegeben worden seien 2). Diese
volksthümliche Erzählung lässt, deutlicher als sonst die ho-
merische Kunstdichtung, den Glauben erkennen, dass der
Mensch, auch ohne zu sterben, dauernd dem Bereiche der le-
benden Menschen entführt werden und an anderem Wohn-
platze weiter leben könne. Denn lebendig werden die Töchter
des Pandareos entrückt — freilich in das Reich der Todten,
denn dorthin gelangen sie, wenn sie den Erinyen, den Höllen-
geistern, dienen müssen 3). Dorthin wünscht auch Penelope,
[67] ohne doch zu sterben, entrückt zu werden aus dem Lande der
Lebendigen, das ihr unleidlich geworden ist. Die solche Ent-
führung bewirken, sind die „Harpyien“ oder der „Sturmwind“,
das ist dasselbe; denn nichts anderes als Windgeister einer
besonders unheimlichen Art sind die Harpyien, der Teufels-
braut oder „Windsbraut“ vergleichbar, die nach deutschem
Volksglauben im Wirbelwind daherfährt, auch wohl Menschen
mit sich entführt 1). Die Harpyien und was hier von ihnen
erzählt wird, gehören der bei Homer selten einmal durch-
blickenden „niederen Mythologie“ an, die von vielen Dingen
zwischen Himmel und Erde wissen mochte, von denen das
vornehme Epos keine Notiz nimmt. Bei Homer sind sie nicht
aus eigener Macht thätig; nur als Dienerinnen der Götter
oder eines Gottes entraffen sie Sterbliche dahin, wohin keine
menschliche Kunde und Macht dringt 2).
Nur ein weiteres Beispiel solcher Entrückung durch
Willen und Macht der Götter ist auch die dem Menelaos
vorausverkündigte Entsendung nach dem elysischen Gefilde
am Ende der Erde. Selbst dass ihm dauernder Aufenthalt
in jenem, lebendigen Menschen sonst unzugänglichen Wunsch-
lande zugesagt wird, unterscheidet sein Geschick noch nicht
wesentlich von dem der Töchter des Pandareos und dem ähn-
lichen, das Penelope sich selbst wünscht. Aber freilich nicht
im Hades oder an dessen Eingang, sondern an einem be-
sonderen Wohnplatze der Seligkeit wird dem Menelaos ewiges
3)
5*
[68] Leben verheissen, wie in einem anderen Götterreiche. Er soll
zum Gotte werden: denn wie den homerischen Dichtern „Gott“
und „Unsterblicher“ Wechselbegriffe sind, so wird ihnen auch
der Mensch, wenn ihm Unsterblichkeit verliehen ist (d. h. wenn
seine Psyche von seinem sichtbaren Ich sich niemals trennt),
zum Gotte.
Es ist homerischer Glaube, dass Götter auch Sterbliche
in ihr Reich, zur Unsterblichkeit erheben können. Kalypso
will den Odysseus, damit er ewig bei ihr bleibe, „unsterblich
und unalternd für alle Zeit“ machen (Od. 5, 135 f., 209 f.;
23, 335 f.), d. h. zu einem Gotte, wie sie selbst göttlich ist.
Die Unsterblichkeit der Götter ist durch den Genuss der
Zauberspeise, der Ambrosia und des Nektar, bedingt 1); auch
den Menschen macht der dauernde Genuss der Götterspeise
zum ewigen Gott. Was Odysseus, den Treue und Pflicht nach
der irdischen Heimath zurückziehen, verschmäht, ist anderen
Sterblichen zu Theil geworden. Die homerischen Gedichte
wissen von mehr als einer Erhebung eines Menschen zu un-
sterblichem Leben zu berichten.
Mitten im tosenden Meere erscheint dem Odysseus als
Retterin Ino Leukothea, einst des Kadmos Tochter, „die vor-
dem ein sterbliches Weib war, jetzt aber in der Meeresfluth
Theil hat an der Ehre der Götter“ (Od. 5, 333 ff.) 2). Hat
sie ein Gott des Meeres entrückt und in sein Element ewig
[69] gebannt? Es besteht der Glaube, dass auch wohl zu sterb-
lichen Mädchen ein Gott vom Himmel herabkommen und sie
für alle Zeit als seine Gattin sich holen könne (Od. 6, 280 f.) 1).
Ganymed, den schönsten der sterblichen Menschen, haben
die Götter in den Olymp entrückt 2), damit er als Mundschenk
des Zeus unter den Unsterblichen wohne (Il. 20, 232 ff.). Er
war ein Sprosse des alten troischen Königsgeschlechtes; eben
diesem gehört auch Tithonos an, den schon Ilias und Odyssee
als den Gatten der Eos kennen: von seiner Seite erhebt sich
die Göttin morgens, um das Licht des Tages Göttern und
Menschen zu bringen 3). Es scheint, dass sie den Geliebten
entrückt hat, nicht in den Olymp, sondern zu den fernen
Wohnplätzen am Okeanos, von wo sie morgens auffährt 4).
Eos auch war es, die einst den schönen Orion geraubt hatte,
und trotz des Neides der übrigen Götter sich seiner Liebe
erfreute, bis Artemis ihn „auf Ortygie“ mit gelindem Geschoss
tödtete (Od. 5, 122 ff.). Alte Sternsagen mögen hier zu
Grunde liegen, die eigentlich Vorgänge am Morgenhimmel
mythisch wiederspiegeln. Aber wie in solchen Sagen die Ele-
mente, die Himmelserscheinungen belebt und nach menschlicher
[70] Art beseelt gedacht waren, so sind, dem allgemeinen Zuge der
Sagenentwicklung folgend, dem homerischen Dichter die Stern-
geister längst zu irdischen Helden und Jünglingen herabge-
sunken: wenn die Göttin den Orion in ihr Reich erhebt, so
kann, nach dem Glauben der Zeit (und hierauf allein kommt
es hier an) dasselbe durch Gunst eines Gottes jedem Sterb-
lichen begegnen. Schon eine einfache Nachbildung der gleichen
Sage im rein und ursprünglich menschlichen Gebiete ist die
Erzählung von Kleitos, einem Jüngling aus dem Geschlechte
des Sehers Melampus, den Eos entrafft hat, um seiner Schön-
heit willen, damit er unter den Göttern wohne (Od. 15, 249 f.) 1).
Wenn also Menelaos lebendig entrückt wird nach einem
fernen Lande an den Grenzen der Erde, um dort in ewiger Selig-
keit zu leben, so ist das zwar ein Wunder, aber ein solches, das in
homerischem Glauben seine Rechtfertigung und seine Vorbilder
findet. Neu ist nur, dass ihm ein Aufenthalt bestimmt wird, nicht
im Götterlande, dem rechten Reiche der Ewigkeit, auch nicht
(wie dem Tithonos, nach Kalypsos Wunsch dem Odysseus) in der
Umgebung eines Gottes, sondern in einem besonderen Wohn-
platz, eigens den Entrückten bestimmt, dem elysischen Gefilde.
Auch dies scheint keine Erfindung des Dichters jener Zeilen
zu sein. Das „Land der Hingegangenen“ 2) und dessen Lieb-
[71] lichkeit erwähnt er nur so kurz, dass man glauben muss, nicht
er habe zum ersten Male eine so lockende Vision gehabt 1).
Er mag nur in Menelaos den Seligen einen neuen Genossen
zugeführt haben. Dass Rhadamanthys, der Gerechte, dort
wohne, muss ihm wohl als aus älterer Sage bekannt gelten,
denn er will offenbar nur daran erinnern, und hat eben nicht
für nöthig gehalten, diese Auszeichnung des Bruders des Minos
zu begründen 2). Man könnte glauben, zu Gunsten des Rhada-
manthys sei von Dichtern älterer Zeit die Vorstellung eines sol-
chen Wunschlandes erfunden und ausgeschmückt worden. Neu ist
nur, dass diese Vorstellung nun auch in den Kreis homerischer
2)
[72] Dichtung eingeführt, ein Held des troischen Kreises den nach
jenem Lande ewig ungetrübten Glückes Entrückten gesellt
wird. Die Verse sind, wie gesagt, in die Prophezeiung des
Proteus später eingelegt, und man wird wohl glauben müssen,
dass die ganze Vorstellung homerischen Sängern bis dahin
fern lag: schwerlich wäre doch die Blüthe der Heldenschaft,
selbst Achilleus, dem öden Schattenreich verfallen, in dem wir
sie, in der Nekyia der Odyssee, schweben sehen, wenn ein Aus-
weg in ein Leben frei vom Tode der Phantasie sich gezeigt
hätte schon damals, als die Sage von dem Ende der meisten
Helden durch die Dichtung festgestellt wurde. Den Menelaos,
über dessen Ende die Dichtung vom troischen Kriege und den
Abenteuern der Heimkehr noch nicht verfügt hatte, konnte
eben darum ein späterer Poet nach dem mittlerweile „ent-
deckten“ Lande der Hinkunft entrücken lassen. Es ist sehr
wahrscheinlich, dass selbst damals, als die Hadesfahrt des
Odysseus gedichtet wurde, diese, für die Entwicklung des grie-
chischen Unsterblichkeitsglaubens später so bedeutend gewor-
dene Phantasie eines verborgenen Aufenthaltes lebendig Ent-
rückter noch gar nicht ausgebildet war. Sie schliesst sich dem
in den homerischen Gedichten herrschenden Glauben ohne Zwang
an, aber sie wird durch diesen Glauben nicht mit Nothwendig-
keit gefordert. Man könnte daher wohl meinen, sie sei von
aussen her in den Bereich homerischer Dichtung hineingetragen
worden. Und wenn man sich der babylonischen Sage von Hasi-
sadra, der hebräischen von Henoch erinnert, die, ohne den Tod
zu schmecken, in ein Reich des ewigen Lebens, in den Himmel
oder „an das Ende der Ströme“ zu den Göttern entrückt
werden 1), so könnte man wohl gar, einer gegenwärtig hie und
[73] da herrschenden Neigung nachgebend, an Entlehnung dieser
ältesten griechischen Entrückungssagen aus semitischer Ueber-
lieferung glauben wollen. Gewonnen wäre mit einer solchen
mechanischen Herleitung wenig; es bliebe hier, wie in allen
ähnlichen Fällen, die Hauptsache, der Grund, aus welchem der
griechische Genius die bestimmte Vorstellung zu einer bestimmten
Zeit den Fremden entlehnen mochte, unaufgeklärt. Es spricht
aber auch im vorliegenden Falle nichts dafür, dass der Ent-
rückungsglaube von einem Volke dem anderen überliefert und
nicht vielmehr bei den verschiedenen Völkern aus gleichem Be-
dürfniss frei und selbständig entstanden sei. Die Grundvoraus-
setzungen, auf denen diese, den homerischen Seelenglauben
nicht aufhebende, sondern vielmehr voraussetzende und sanft
ergänzende neue Vorstellung sich aufbaut, waren, wie wir ge-
sehen haben, in einheimisch griechischem Glauben gegeben. Es
bedurfte durchaus keiner Anregung aus der Fremde, damit
aus diesen Elementen sich die allerdings neue und eigenthüm-
lich anziehende Vorstellung bilde, von der die Weissagung des
Proteus uns die erste Kunde bringt.
Je wichtiger die neue Schöpfung für die spätere Entwick-
lung griechischen Glaubens geworden ist, desto nothwendiger
ist es, sich klar zu machen, was eigentlich hier neu geschaffen
ist. Ist es ein Paradies für Fromme und Gerechte? eine Art
griechischer Walhall für die tapfersten Helden? oder soll eine
Ausgleichung von Tugend und Glück, wie sie das Leben nicht
1)
[74] kennt, in einem Lande der Verheissung der Hoffnung gezeigt
werden? Nichts derartiges kündigen jene Verse an. Mene-
laos, in keiner der Tugenden, die das homerische Zeitalter am
höchsten schätzt, sonderlich ausgezeichnet 1), soll nur darum
in’s Elysium entrückt werden, weil er Helena zur Gattin hat
und des Zeus Eidam ist: so verkündigt Proteus es ihm. Warum
Rhadamanthys an den Ort der Seligkeit gelangt ist, erfahren
wir nicht, auch nicht durch ein Beiwort, das ihn etwa, wie es
bei späteren Dichtern fast üblich ist, als den „Gerechten“ be-
zeichnete. Wir dürfen uns aber erinnern, dass er, als Bruder
des Minos, ein Sohn des Zeus ist 2). Nicht Tugend und Ver-
dienst geben ein Anrecht auf die zukünftige Seligkeit; von
einem Anrecht ist überhaupt keine Spur: wie die Erhaltung
der Psyche beim Leibe und damit die Abwendung des Todes
nur durch ein Wunder, einen Zauber, also nur in einem Aus-
nahmefall, geschehen kann, so bleibt die Entrückung in das
„Land des Hingangs“ ein Privilegium einzelner von der Gott-
heit besonders Begnadeter, aus dem man durchaus keinen Glau-
benssatz von allgemeiner Gültigkeit ableiten darf. Am ersten
liesse die, Einzelnen gewährte wunderbare Erhaltung des Lebens
im Lande seliger Ruhe sich vergleichen mit der ebenso wunder-
baren Erhaltung des Bewusstseins jener drei Götterfeinde im
Hades, von denen die Nekyia erzählt. Die Büsser im Erebos,
die Seligen im Elysium entsprechen einander; beide stellen
Ausnahmen dar, welche die Regel nicht aufheben, den homeri-
schen Glauben im Ganzen nicht beeinträchtigen. Die Allmacht
der Götter hat dort wie hier das Gesetz durchbrochen. Die
aber, welche besondere Göttergunst dem Tode enthebt und
in’s Elysium entrückt, sind nahe Verwandte der Götter; hierin
allein scheint die Gnade ihren Grund zu haben 3). Wenn irgend
[75] eine allgemeinere Begründung, über launenhafte Begünstigung
Einzelner durch einen Gott hinaus, den Entrückungen zukommt,
so könnte es allenfalls der Glaube sein, dass ein naher Zu-
sammenhang mit der Gottheit, d. h. eben der höchste Adel
der Abkunft vor dem Versinken in das allgemeine Reich der
trostlosen Nichtigkeit nach der Trennung der Psyche vom Leibe
schütze. So lässt der Glaube mancher „Naturvölker“ den ge-
meinen Mann nach dem Tode, wenn er nicht etwa ganz ver-
nichtet wird, in ein unerfreuliches Todtenreich, die Abkömm-
linge der Götter und Könige, d. h. den Adel, in ein Reich
ewiger Lust eingehen 1). Aber in der Verheissung, die dem
Menelaos zu Theil wird, scheint ein ähnlicher Wahn doch
höchstens ganz dunkel durch. Von einem allgemeinen Ge-
setz, aus dem der einzelne Fall abzuleiten wäre, ist nicht die
Rede. —
Die Einzelnen nun, denen in dem elysischen Lande am
Ende der Erde ein ewiges Leben geschenkt wird, sind von den
Wohnplätzen der Sterblichen viel zu weit abgerückt, als dass
man glauben könnte, dass ihnen irgend eine Einwirkung auf
die Menschenwelt gestattet wäre 2). Sie gleichen den Göttern nur
3)
[76] in der auch ihnen verliehenen Endlosigkeit bewussten Lebens;
aber von göttlicher Macht ist ihnen nichts verliehen 1), ihnen
nicht mehr als den Bewohnern des Erebos, deren Loos im
Uebrigen von dem ihrigen so verschieden ist. Man darf daher
auch nicht etwa glauben, dass der Grund für die Sagen von
Erhöhung einzelner Helden über ihre Genossen durch die Ver-
setzung in ein fernes Wonneland durch einen Cult gegeben
worden sei, der diesen Einzelnen an ihren ehemaligen irdischen
Wohnplätzen gewidmet worden wäre. Jeder Cult ist die Ver-
ehrung eines Wirksamen; die als wirksam verehrten Landes-
heroen hätte kein Volksglaube, keine Dichterphantasie in un-
erreichbarer Ferne angesiedelt.
Es ist freie Dichterthätigkeit, die diese letzte Zufluchts-
stätte menschlicher Hoffnung auf der elysischen Flur geschaffen
und ausgeschmückt hat, und poetische, nicht religiöse Bedürf-
nisse sind es, denen diese Schöpfung zunächst genügen sollte.
Das jüngere der zwei homerischen Epen steht dem heroi-
schen, nur in rastloser Bethätigung lebendiger Kraft sich ge-
nügenden Sinne der Ilias schon ferner. Anders mag die Stim-
mung der Eroberer eines neuen Heimathlandes an der asiatischen
Küste gewesen sein, anders die der zu ruhigem Besitze und
ungestörtem Genusse des Errungenen Gelangten: es ist als ob
die Odyssee die Sinnesart und die Wünsche der ionischen Stadt-
bürger dieser späteren Zeit wiederspiegelte. Ein ruheseliger
Geist zieht wie in einer Unterströmung durch das ganze Ge-
dicht, und hat sich inmitten der bewegten Handlung überall
seine Erholungsstätten geschaffen. Wo die Wünsche des Dichters
rechte Gestalt gewinnen, da zeigen sie uns Bilder idyllisch sich
im Genuss der Gegenwart genügender Zustände, glänzender
im Phäakenlande, froh beschränkter auf dem Hofe des Eumäos,
Scenen friedsamen Ausruhens nach den nur noch in behaglicher
2)
[77] Erinnerung lebenden Kämpfen der vergangenen Zeit, wie in
Nestors Hause, im Pallast des Menelaos und der wieder-
gewonnenen Helena. Oder Schilderung einer freiwillig milden
Natur, wie auf der Insel Syrie, der Jugendheimath des Eu-
mäos, auf der in reichem Besitze an Heerden, Wein und Korn ein
Volk lebt, frei von Noth und Krankheit bis zum hohen Alter,
wo dann Apollo und Artemis mit sanften Geschossen plötz-
lichen Tod bringen (Od. 15, 403 ff.). Fragst Du freilich, wo
diese glückliche Insel liege, so antwortet Dir der Dichter: sie
liegt über Ortygie, dort wo die Sonne sich wendet. Aber wo
ist Ortygie 1) und wer kann die Stelle zeigen wo, fern im
Westen, die Sonne sich zur Rückfahrt wendet? Das Land
idyllischen Genügens liegt fast schon ausserhalb der Welt.
Phönicische Händler wohl, die überall hinkommen, gelangen
auch dorthin (V. 415 ff.), und ionische Schiffer mochten wohl,
in dieser Zeit frühester griechischer Colonieführungen, in welche
die Odyssee noch hineinreicht, fern draussen im Meere solche
gedeihliche Wohnstätten neuen Lebens finden zu können hoffen.
So gleicht auch Land und Leben der Phäaken dem
Idealbilde einer ionischen Neugründung, fern von der Unruhe,
dem aufregenden Wettbewerb, frei von aller Beschränkung der
bekannten Griechenländer. Aber dieses Traumbild, schatten-
los, in eitel Licht getaucht, ist in unerreichbare Weite hinaus-
gerückt; nur durch Zufall wird einmal ein fremdes Schiff dort-
[78] hin verschlagen, und alsbald tragen die beseelten Schiffe der
Phäaken den Fremden durch Nacht und Nebel in seine Heimath
zurück. Zwar hat es keinen Grund, wenn man in den Phäaken
ein Volk von Todtenschiffern, dem elysischen Lande benach-
bart, gesehen hat; aber in der That steht wenigstens die dich-
terische Stimmung, die das Phäakenland geschaffen hat, der-
jenigen nahe genug, aus der die Vorstellung eines elysischen
Gefildes jenseits der bewohnten Erde entsprungen ist. Lässt
sich ein Leben ungestörten Glückes nur denken im entlegensten
Winkel der Erde, eifersüchtig behütet vor fremden Eindring-
lingen, so führt ein einziger Schritt weiter zu der Annahme,
dass solches Glück nur zu finden sei da, wohin keinen Menschen
weder Zufall noch eigener Entschluss tragen kann, ferner ab-
gelegen noch als die Phäaken, als das Land der gottgeliebten
Aethiopier oder die Abier im Norden, von denen schon die
Ilias weiss, — jenseits aller Wirklichkeit des Lebens. Es ist
ein idyllischer Wunsch, der sich in der Phantasie des elysischen
Landes befriedigt. Das Glück der zu ewigem Leben Entrückten
schien nur dann völlig gesichert, wenn ihr Wohnplatz aller For-
schung, aller vordringenden Erfahrung auf ewig entrückt war.
Dieses Glück ist gedacht als ein Zustand des Genusses unter
mildestem Himmel; mühelos, leicht ist dort, sagt der Dichter,
das Leben der Menschen, hierin dem Götterleben ähnlich, aber
freilich ohne Streben, ohne That. Es ist zweifelhaft, ob dem
Dichter der Ilias solche Zukunft seiner Helden würdig, solches
Glück als ein Glück erschienen wäre.
Wir mussten annehmen, dass der Dichter, der jene unbe-
schreiblich sanft fliessenden Verse in die Odyssee eingelegt hat,
nicht der erste Erfinder oder Entdecker des elysischen Wunsch-
landes jenseits der Sterblichkeit war. Aber folgte er auch anderen:
dadurch dass er in die homerischen Gedichte eine Hindeutung
auf den neuen Glauben einflocht, hat er erst dieser Vorstellung
in griechischer Phantasie eine dauernde Stelle gegeben. Andere
[79] Gedichte mochten verschwinden; was in Ilias und Odyssee stand,
war ewigem Gedächtniss anvertraut. Von da an liess die
Phantasie der griechischen Dichter und des griechischen Volkes
die schmeichelnde Vorstellung eines fernen Landes der Selig-
keit, in das einzelne Sterbliche durch Göttergunst entrückt
werden, nicht wieder los. Selbst die dürftigen Notizen, die
uns von dem Inhalt der Heldengedichte berichten, welche die
zwei homerischen Epen, vorbereitend, weiterführend, verknüpfend
in den vollen Kreis der thebanischen und troischen Heldensage
einschlossen, lassen uns erkennen, wie diese nachhomerische
Dichtung sich in der Ausführung weiterer Beispiele von Ent-
rückungen gefiel.
Die Kypria zuerst erzählten, wie Agamemnon, als das
Heer der Achäer zum zweiten Male in Aulis lag und durch
widrige Winde, die Artemis schickte, festgehalten wurde, auf
Geheiss des Kalchas der Göttin die eigene Tochter Iphigenia
opfern wollte. Artemis aber entraffte die Jungfrau und ent-
rückte sie in’s Land der Taurier und machte sie dort un-
sterblich 1).
Die Aethiopis, die Ilias fortsetzend, erzählte von der Hülfe,
die Penthesilea mit ihren Amazonen, nach deren Tod Memnon,
der Aethiopenfürst, ein phantastischer Vertreter der Königs-
macht östlicher Reiche im inneren Asien, den Troern brachte.
Im Kampfe fällt Antilochos, nach Patroklos’ Tode der neue Lieb-
ling des Achill; aber Achill erlegt den Memnon selbst: da
erbittet Eos, die Mutter des Memnon (und als solche schon
der Odyssee bekannt) den Zeus und gewährt dem Sohne Un-
sterblichkeit 2). Man darf annehmen, dass der Dichter erzählte,
was man auf Vasenbildern mehrfach dargestellt sieht: wie die
Mutter durch die Luft den Leichnam des Sohnes entführte.
[80] Aber wenn, nach einer Erzählung der Ilias, einst Apollo durch
Schlaf und Tod, die Zwillingsbrüder, den Leichnam des von
Achill erschlagenen Sarpedon, Sohnes des Zeus, nach seiner
lykischen Heimath tragen liess, nur damit er in der Heimath
bestattet werde, so überbietet der Dichter der Aethiopis jene
eindrucksvolle Erzählung der Ilias, die ihm offenbar das Vor-
bild zu seiner Schilderung wurde 1), indem er Eos den Todten,
mit Zeus’ Bewilligung, nicht nur nach der Heimath fern im
Osten entrücken, sondern dort zu ewigem Leben neu er-
wecken liess.
Bald nach Memnons Tode ereilt auch den Achill das Ge-
schick. Als aber sein, nach hartem Kampfe von den Freunden ge-
sicherter Leichnam auf dem Todtenbette ausgestellt ist, kommt
Thetis, die Mutter des Helden, mit den Musen und den anderen
Meergöttinnen, und stimmt die Leichenklage an. So berichtet
schon die Odyssee im letzten Buche (Od. 24, 47 ff.). Aber
während dort weiter erzählt wird, wie die Leiche verbrannt,
die Gebeine gesammelt und im Hügel beigesetzt worden seien,
die Psyche des Achill aber in das Haus des Hades eingegangen
ist — ihr selbst wird in der Unterwelt das alles von Aga-
memnons Psyche mitgetheilt — wagte der Dichter der Aethiopis,
[81] überhaupt besonders kühn in freier Weiterbildung der Sage,
eine bedeutende Neuerung. Aus dem Scheiterhaufen, erzählte
er, entrafft Thetis den Leichnam des Sohnes und bringt ihn
nach Leuke 1). Dass sie ihn dort neu belebt und unsterblich
gemacht habe, sagt der uns zufällig erhaltene dürre Auszug
nicht; ohne Frage aber erzählte so der Dichter; alle späteren
Berichte setzen das hinzu.
In deutlich erkennbarer Parallele sind die beiden Gegner,
Memnon und Achill, durch ihre göttlichen Mütter dem Loose
der Sterblichkeit enthoben; im wiederbeseelten Leibe leben sie
weiter, nicht unter den Menschen, auch nicht im Reiche der
Götter, sondern in einem fernen Wunderlande, Memnon im
Osten, Achill auf der „weissen Insel“, die der Dichter sich
schwerlich schon im Pontos Euxeinos liegend dachte, wo frei-
lich später griechische Schiffer das eigentlich rein sagenhafte
Local auffanden.
Der Entrückung des Menelaos tritt noch näher, was die
Telegonie, das letzte und auch wohl jüngste der Gedichte des
epischen Cyklus, von den Geschicken der Familie des Odysseus
berichtete. Nachdem Telegonos, der Sohn des Odysseus und
der Kirke, seinen Vater, ohne ihn zu kennen, erschlagen hat,
Rohde, Seelencult. 6
[82] wird er seinen Irrthum gewahr; er bringt darauf den Leich-
nam des Odysseus, sowie die Penelope und den Telemachos
zu seiner Mutter Kirke. Diese macht sie unsterblich, und es
wohnt nun (auf der Insel Aeaea, fern im Meere, muss man
denken) Penelope als Gattin mit Telegonos, Kirke mit Tele-
machos zusammen 1).
Ueberraschen kann, dass nirgends von Entrückung nach
einem allgemeinen Sammelpuncte der Entrückten, wie die
elysische Flur einer zu sein schien, berichtet wird. Man muss
eben darum dahingestellt sein lassen, wie weit gerade die Verse
der Odyssee, die von Menelaos’ Entrückung in’s Elysium er-
zählen, auf die Ausbildung der Entrückungssagen der nach-
homerischen Epen eingewirkt haben mögen. Wahrscheinlich
bleibt solche Einwirkung in hohem Maasse 2); und jedenfalls
ist dieselbe Richtung der Phantasie, welche das Elysium er-
schuf, auch in diesen Erzählungen von der Entrückung einzelner
Helden zu einsamem Weiterleben an verborgenen Wohnplätzen
der Unsterblichkeit thätig. Nicht mehr zu den Göttern erhebt
Eos den dem Hades entrissenen Sohn, wie doch einst den
Kleitos und andere Lieblinge: Memnon tritt in ein eigenes
Dasein ein, das ihn von den übrigen Menschen so gut wie
von den Göttern absondert; und ebenso Achill und die anderen
Entrückten. So bereichert die Dichtung die Zahl der Ange-
hörigen eines eigenen Zwischenreiches sterblich Geborener und
zur Unsterblichkeit, ausserhalb des olympischen Reiches, Er-
[83] korener. Immer bleiben es einzelne Begünstigte, die in dieses
Reich eingehen; es bleibt poetischer Wunsch, in dichterischer
Freiheit schaltend, der eine immer grössere Zahl der Licht-
gestalten der Sage in der Verklärung ewigen Lebens festzuhalten
trieb. Religiöse Verehrung kann bei der Ausbildung dieser
Sagen nicht mehr Einfluss gehabt haben als bei der Erzählung
von der Entrückung des Menelaos; wenn in späteren Zeiten z. B.
dem Achill auf einer, für Leuke erklärten Insel an den Donau-
mündungen ein Cult dargebracht wurde, so war der Cult eben
Folge, nicht Anlass und Ursache der Dichtung. Iphigenia
allerdings war der Beiname einer Mondgöttin; aber der Dichter,
der von der Entrückung der gleichnamigen Tochter Agamem-
nons erzählte, ahnte jedenfalls nichts von deren Identität mit
einer Göttin — sonst würde er sie eben nicht für Agamem-
nons Tochter gehalten haben — und ist keinenfalls durch
einen irgendwo angetroffenen Cult der göttlichen Iphigenia
veranlasst worden (wie man sich wohl denkt), seine sterbliche
Iphigenia jure postliminii durch den Entrückungsapparat wieder
unsterblich zu machen. Das gerade war ihm und seinen Zeit-
genossen das Bedeutende, der eigentliche Kern seiner, sei es
frei erfundenen oder aus vorhandenen Motiven zusammenge-
fügten Erzählung, dass sie Kunde gab von der Erhebung eines
sterblichen Mädchens, der Tochter sterblicher Eltern, zu un-
sterblichem Leben, — nicht zu religiöser Verehrung, die der,
in’s ferne Taurierland Gebannten sich auf keine Weise hätte
bemerklich machen können 1).
Wie weit übrigens die geschäftige Sagenausspinnung der
schliesslich in genealogische Poesie sich verlaufenden Helden-
dichtung das Motiv der Entrückung und Verklärung ausgenutzt
haben mag, können wir, bei unseren ganz ungenügenden Hülfs-
mitteln, nicht mehr ermessen. Wenn schon so leere Gestalten
wie Telegonos der Verewigung für würdig gehalten wurden,
so sollte man meinen, dass in der Vorstellung der Dichter
allen Helden der Sage fast ein Anspruch auf diese Art
6*
[84] von unsterblichem Weiterleben erwachsen war, der für die
Bedeutenderen erst recht nicht unbefriedigt bleiben konnte.
Wenigstens für die nicht, über deren Ende die homerischen
Gedichte nicht selbst andere Angaben gemacht hatten. Das
Gedicht von der Rückkehr der Helden von Troja mochte vor
anderen Raum bieten zu manchen Entrückungssagen 1). Man
könnte z. B. fragen, ob nicht mindestens den Diomedes,
von dessen Unsterblichkeit spätere Sagen oft berichten, bereits
die an Homer angeschlossene epische Dichtung in die Zahl
der ewig fortlebenden Helden aufgenommen hatte. Ein attisches
volksthümliches Lied des 5. Jahrhunderts weiss gerade von
Diomedes zu sagen, dass er nicht gestorben sei, sondern auf
den „Inseln der Seligen“ lebe 2). Und dass von den Helden
des troischen Krieges eine grössere Schaar, als wir aus den
zufällig uns erhaltenen Angaben über den Inhalt der nach-
homerischen Epen zusammenrechnen können, auf seligen Ei-
landen draussen im Meere bereits durch die Heldendichtung
homerischen Styles versammelt worden sein muss, haben wir
zu schliessen aus Versen eines hesiodischen Gedichtes, welche
über ältesten griechischen Seelencult und Unsterblichkeits-
glauben die merkwürdigsten Aufschlüsse geben und darum einer
genaueren Betrachtung zu unterziehen sind.
In dem aus mancherlei selbständigen Abschnitten belehren-
den und erzählenden Inhalts lose zusammengeschobenen hesiodi-
schen Gedichte der „Werke und Tage“ steht, nicht weit vom
Anfang, mit dem Vorausgehenden und Folgenden nur durch
einen kaum sichtbaren Faden des Gedankenzusammenhanges
[85] verbunden, der Form nach ganz für sich, die Erzählung
von den fünf Menschengeschlechtern (v. 109—201).
Im Anfang, heisst es da, schufen die Götter des Olymps
das goldene Geschlecht, dessen Angehörige wie die Götter
lebten, ohne Sorge, Krankheit und Altersmühe, im Genuss
reichen Besitzes. Nach ihrem Tode, der ihnen nahete wie
der Schlaf dem Müden, sind sie nach Zeus’ Willen zu Dä-
monen und Wächtern der Menschen geworden. Es folgte das
silberne Geschlecht, viel geringer als das erste, diesem weder
leiblich noch geistig gleich. Nach langer, hundert Jahre
währenden Kindheit folgte bei den Menschen dieses Ge-
schlechts eine kurze Jugend, in der sie durch Uebermuth gegen
einander und gegen die Götter sich viel Leiden schufen. Weil
sie den Göttern die schuldige Verehrung versagten, vertilgte
sie Zeus; nun sind sie unterirdische Dämonen, geehrt, wenn
auch weniger als die Dämonen des goldenen Geschlechts.
Zeus schuf ein drittes Geschlecht, das eherne, harten Sinnes
und von gewaltiger Kraft; der Krieg war ihre Lust; durch
ihre eigenen Hände bezwungen gingen sie unter, ruhmlos ge-
langten sie in das dumpfige Haus des Hades. Darnach er-
schuf Zeus ein viertes Geschlecht, das gerechter und besser
war, das Geschlecht der Heroen, die da „Halbgötter“ genannt
werden. Sie kämpften um Theben und Troja, einige starben,
andere siedelte Zeus an den Enden der Erde, auf den Inseln
der Seligen am Okeanos an, wo ihnen dreimal im Jahre die
Erde Frucht bringt. „Möchte ich doch nicht gehören zum
fünften Geschlecht; wäre ich lieber vorher gestorben oder später
erst geboren“ sagt der Dichter. „Denn jetzt ist das eiserne
Zeitalter“, wo Mühe und Sorge den Menschen nicht los lassen,
Feindschaft aller gegen alle herrscht, Gewalt das Recht beugt,
schadenfroher, übelredender, hässlich blickender Wettbewerb alle
antreibt. Nun entschweben Scham und die Göttin der Ver-
geltung, Nemesis, zu den Göttern, alle Uebel verbleiben den
Menschen, und es giebt keine Abwehr des Unheils. —
Es sind die Ergebnisse trüben Nachsinnens über Werden
[86] und Wachsen des Uebels in der Menschenwelt, die uns der
Dichter vorlegt. Von der Höhe göttergleichen Glückes sieht
er die Menschheit stufenweise zu tiefstem Elend und äusserster
Verworfenheit absteigen. Er folgt populären Vorstellungen.
In die Vorzeit den Zustand irdischer Vollkommenheit zu ver-
legen, ist allen Völkern natürlich, mindestens so lange nicht
scharfe geschichtliche Erinnerung, sondern freundliche Mär-
chen und glänzende Träume der Dichter ihnen von jener
Vorzeit berichten und die Neigung der Phantasie, nur die
angenehmen Züge der Vergangenheit dem Gedächtniss einzu-
prägen, unterstützen. Vom goldenen Zeitalter und wie all-
mählich die Menschheit sich hiervon immer weiter entfernt
habe, wissen manche Völker zu sagen; es ist nicht einmal ver-
wunderlich, dass phantastische Speculation, von dem gleichen
Ausgangspuncte in gleicher Richtung weitergehend, bei mehr
als einem Volke, ohne alle Einwirkung irgend welches geschicht-
lichen Zusammenhanges, zu Ausdichtungen des durch mehrere
Geschlechter abwärts steigenden Entwicklungsgangs zum Schlim-
meren geführt worden ist, die unter einander und mit der
hesiodischen Dichtung von den fünf Weltaltern die auffallendste
Aehnlichkeit zeigen. Selbst den Homer überfällt wohl einmal
eine Stimmung, wie sie solchen, die Vorzeit idealisirenden
Dichtungen zu Grunde liegt, wenn er mitten in der Schilderung
des heroischen Lebens daran denkt, „wie jetzt die Menschen
sind“, und „wie doch nur wenige Söhne den Vätern gleich sind
an Tugend; schlimmer die meisten, ganz wenige nur besser
sind als der Vater“ (Od. 2, 276 f.). Aber der epische Dichter
hält sich in der Höhe der heroischen Vergangenheit und der
dichterischen Phantasie gleichsam schwebend, nur flüchtig fällt
einmal sein Blick abwärts in die Niederungen des wirklichen
Lebens. Der Dichter der „Werke und Tage“ lebt mit allen
seinen Gedanken in eben diesen Niederungen der Wirklichkeit
und der Gegenwart; der Blick, den er einmal aufwärts richtet
auf die Gipfel gefabelter Vorzeit, ist der schmerzlichere.
Was er von dem Urzustande der Menschheit und dem
[87] Stufengange der Verschlimmerung zu erzählen weiss, giebt er
nicht als abstracte Darlegung dessen, was im nothwendigen
Verlauf der Dinge kommen musste, sondern, wie er selbst es
ohne Zweifel wahrzunehmen glaubte, als Ueberlieferung eines
thatsächlich Geschehenen, als Geschichte. Von geschichtlicher
Ueberlieferung ist gleichwohl, wenn man von einzelnen unbe-
stimmten Erinnerungen absieht, nichts enthalten in dem, was
er von der Art und den Thaten der früheren Geschlechter
sagt. Es bleibt ein Gedankenbild, was er uns giebt. Und
eben darum hat die Entwicklung, wie er sie zeichnet, einen
aus dem Gedanken einer stufenweise absteigenden Verschlim-
merung deutlich bestimmten und darnach geregelten Verlauf.
Auf die stille Seligkeit des ersten Geschlechts, das keine
Laster kennt und keine Tugend, folgt im zweiten Geschlecht,
nach langer Unmündigkeit, Uebermuth und Vernachlässigung
der Götter; im dritten, ehernen Geschlecht bricht active Un-
tugend hervor, mit Krieg und Mord; das letzte Geschlecht,
in dessen Anfang sich der Dichter selbst zu stehen scheint,
zeigt gänzliche Zerrüttung aller sittlichen Bande. Das vierte
Geschlecht, dem die Heroen des thebanischen und troischen
Krieges angehören, allein unter den übrigen nach keinem Me-
tall benannt und gewerthet, steht fremd inmitten dieser Ent-
wicklung; das Absteigen zum Schlimmen wird im vierten Ge-
schlecht gehemmt, und doch geht es im fünften Geschlecht so
weiter, als ob es nirgends unterbrochen wäre. Man sieht also
nicht ein, zu welchem Zwecke es unterbrochen worden ist.
Erkennt man aber (mit den meisten Auslegern) in der Erzäh-
lung vom vierten Geschlecht ein, der Dichtung von den Welt-
altern ursprünglich fremdes Stück, von Hesiod in diese Dich-
tung, die er ihrem wesentlichen Bestande nach älteren Dichtern
entlehnen mochte, selbständig eingelegt, so muss man freilich
fragen, was den Dichter zu einer solchen Störung und Zer-
störung des klaren Verlaufs jener speculativen Dichtung be-
wegen konnte. Es würde nicht genügen, zu sagen, dass der
Dichter, in homerischer Poesie aufgenährt, es unmöglich fand
[88] in einer Aufzählung der Geschlechter früherer Menschen die
Gestalten der heroischen Dichtung zu übergehen, die durch
die Macht des Gesanges für die Phantasie der Griechen mehr
Realität angenommen hatten als die Erscheinungen der derbsten
Wirklichkeit; oder dass er einer finsteren Abbildung der he-
roischen Periode, wie sie in der Schilderung des ehernen Ge-
schlechts von einem anderen Standpuncte, als dem des adels-
freundlichen Epos entworfen war, jenes verklärte Bild eben
jener Periode an die Seite stellen wollte, wie es ihm vor der
Seele schwebte. Bezieht sich wirklich die Schilderung des
ehernen Zeitalters auf die Heroenzeit, gleichsam deren Kehr-
seite darstellend 1), so scheint doch Hesiod das nicht gemerkt
zu haben. Er hat stärkere Gründe als die angeführten für
die Einschiebung seiner Schilderung gehabt. Er kann nicht
übersehen haben, dass er den folgerechten Gang der moralischen
Entartung durch Einschiebung des heroischen Geschlechts
unterbrach; wenn er diese Einschiebung doch für nothwendig
oder zulässig hielt, so muss er mit seiner Erzählung noch
einen anderen Zweck als die Darlegung der moralischen Ent-
artung verfolgt haben, den er durch Einschiebung dieses neuen
Abschnittes zu fördern meinte. Diesen Zweck wird man er-
kennen, wenn man zusieht, was eigentlich an dem heroischen
Geschlechte den Dichter interessirt. Es ist nicht seine, im
Verlaufe der moralisch immer tiefer absteigenden Geschlechter-
folge nur störende höhere Moralität: sonst würde er diese
nicht mit zwei Worten, die eben nur zur äusserlichen Ein-
fügung dieses Berichtes in die moralische Geschichtsentwicklung
genügen, abgethan haben. Es sind auch nicht die Kämpfe
und Thaten um Theben und Troja, von deren Herrlichkeit er
nichts sagt, während er gleich ankündigt, dass der schlimme
Krieg und das grause Getümmel die Helden vernichtete. Dies
[89] wiederum unterscheidet die Heroen nicht von den Menschen
des ehernen Geschlechts, die ebenfalls durch ihre eigenen Hände
bezwungen in den Hades eingehen mussten. Was das heroische
Zeitalter vor den anderen auszeichnet, ist die Art, wie einige
der Heroen, ohne zu sterben, aus dem Leben scheiden. Dies
ist es, was den Dichter interessirt, und dies auch wird ihn
hauptsächlich bewogen haben, den Bericht von diesem vierten
Geschlecht hier einzulegen. Deutlich genug verbindet er mit
dem Hauptzweck einer Darstellung des zunehmenden moralischen
Verfalls der Menschheit die Nebenabsicht, zu berichten, was
den Angehörigen der einander folgenden Geschlechter nach
dem Tode geschehen sei; bei der Einlegung des heroischen
Geschlechts ist diese Nebenabsicht zur Hauptabsicht, ihre
Ausführung zum rechtfertigenden Grunde der sonst vielmehr
störenden Einfügung geworden. Und eben um dieser Absicht
willen ist für unsere gegenwärtige Betrachtung die Erzählung
des Hesiod wichtig.
Die Menschen des goldenen Geschlechts sind, nachdem
sie wie vom Schlafe bezwungen gestorben und in die Erde ge-
legt sind, nach dem Willen des Zeus zu Dämonen geworden,
und zwar zu Dämonen auf der Erde, zu Wächtern der Menschen,
die in Wolken gehüllt über die Erde wandeln, Recht und Un-
recht beobachtend 1), Reichthum spendend wie Könige. Diese
Menschen der ältesten Zeit sind also zu wirksamen, nicht in’s
unerreichbare Jenseits abgeschiedenen, sondern auf der Erde,
in der Nähe der Menschen waltenden Wesen geworden. Hesiod
nennt sie in diesem erhöheten Zustande „Dämonen“, er be-
zeichnet sie also mit dem Namen, der sonst bei ihm so gut
[90] wie bei Homer die unsterblichen Götter bezeichnet. Der Name,
so verwendet, soll an und für sich keineswegs eine besondere
Gattung von Unsterblichen bezeichnen, etwa von Mittelwesen
zwischen Gott und Mensch, wie sie allerdings spätere Specu-
lation mit dem Namen der „Dämonen“ zu benennen pflegt 1).
Jene Mittelwesen werden, ebenso wie die Götter, als Wesen
ursprünglich unsterblicher Natur und als verweilend in einem
Zwischenreich gedacht; diese hesiodischen Dämonen sind einst
Menschen gewesen und zu unsichtbar 2) um die Erde schwe-
benden Unsterblichen erst nach ihrem Tode geworden. Wenn
sie „Dämonen“ genannt werden, so soll damit gewiss nichts
weiter ausgesagt werden, als eben dies, dass sie nun an dem
unsichtbaren Walten und ewigen Leben der Götter Theil
nehmen, insofern also selbst „Götter“ genannt werden können,
so gut wie etwa Ino Leukothea, die nach Homer aus einer
Sterblichen eine Göttin geworden ist, oder wie Phaethon, der
nach der hesiodischen Theogonie von Aphrodite dem Reich
der Sterblichen enthoben ist und nun „göttlicher Dämon“ heisst
(Theog. v. 99). Zur deutlichen Unterscheidung indess von den
ewigen Göttern, „welche die olympischen Wohnungen inne-
haben“, heissen diese unsterblich gewordenen Menschen „Dä-
monen, die auf der Erde walten“ 3). Und wenn sie auch mit
[91] dem aus Homer Jedermann geläufigen Namen die „Dämonen“,
d. i. Götter, genannt werden, so bilden sie doch eine Classe
von Wesen, die dem Homer gänzlich unbekannt ist. Homer
weiss von einzelnen Menschen, die, an Leib und Seele zugleich,
zu unsterblichem Leben erhöhet oder entrückt sind, das spätere
Epos auch von solchen, die (wie Memnon, Achill), nach dem
Tode neu belebt, nun weiterleben in untrennbarer Gemeinschaft
von Leib und Seele. Dass die Seele, allein für sich, ausser-
halb des Erebos ein bewusstes Leben weiterführen und auf die
lebenden Menschen einwirken könne, davon redet Homer nie.
Eben dieses aber ist nach der hesiodischen Dichtung geschehen.
Die Menschen des goldenen Zeitalters sind gestorben und leben
nun ausserhalb des Leibes weiter, unsichtbar, Göttern ähnlich,
daher mit dem Götternamen benannt; wie nach Homer die
Götter selbst, mannichfache Gestalt annehmend, die Städte
durchstreifen, der Menschen Frevel und Frömmigkeit beauf-
sichtigend 1), ähnlich hier die Seelen der Verstorbenen. Denn
Seelen sind es ja, die hier, nach ihrer Trennung vom Leibe,
zu „Dämonen“ geworden sind, d. h. auf jeden Fall in ein
höheres, mächtigeres Dasein eingetreten sind als sie während
ihrer Vereinigung mit dem Leibe hatten. Und dies ist eine
Vorstellung, die uns in den homerischen Gedichten nirgends
entgegengetreten ist.
Nun ist es völlig undenkbar, dass diese merkwürdige Vor-
stellung von dem böotischen Dichter frei und für den Augen-
blick erfunden wäre. Er kommt im weiteren Verlaufe seines
Gedichtes noch einmal zurück auf denselben Glauben. Dreissig-
tausend (d. h. unzählige) unsterbliche Wächter der sterblichen
3)
[92] Menschen wandeln im Dienste des Zeus unsichtbar über die
Erde, Recht und Frevel beachtend (W. u. T. 252 ff.). Die
Vorstellung ist ihm aus sittlichen Gründen wichtig; will er sich
auf sie stützen, so darf er sie nicht selbst beliebig erdichtet
haben; und in der That hat dieser ernsthafte Poet nichts er-
dichtet, was in den Bereich des Glaubens, des Cultus, auch
der niederen Superstition fällt. Die böotische Dichterschule,
der er angehört, steht der erfindsamen Freiheit schweifender
Phantasie, mit der die homerische Dichtung „viele Lügen vor-
zubringen weiss, so dass sie wie Wahrheit erscheinen“ (Theog. 27)
fern, ja feindlich gegenüber. Wie sie nicht frei ergötzen, sondern
in irgend einem Sinne stets belehren will, so erfindet sie selbst
im Gebiete des rein Mythischen nichts, sondern sie ordnet und
verbindet oder registrirt auch nur, was sie als Ueberlieferung
vorfindet. Im Religiösen vollends liegt ihr alle Erfindung fern,
wiewohl keineswegs selbständige Speculation über das Ueber-
lieferte. Was also Hesiod von Menschen der Vorzeit erzählt,
deren Seelen nach dem Tode zu „Dämonen“ geworden seien,
ist ihm aus der Ueberlieferung zugekommen. Man könnte immer
noch sagen: diese Vorstellung mag älter sein als Hesiod, sie kann
aber darum doch jünger als Homer und das Ergebniss nach-
homerischer Speculation sein. Es ist nicht nöthig, die Gründe,
welche eine solche Annahme unhaltbar machen, zu entwickeln.
Denn wir dürfen nach dem Verlauf unserer bisherigen Betrach-
tung mit aller Bestimmtheit behaupten, dass in dem, was Hesiod
hier berichtet, sich ein Stück uralten, weit über Homers Ge-
dichte hinaufreichenden Glaubens in dem weltfernen böotischen
Bauernlande erhalten hat. Wir haben ja aus Homers Gedichten
selbst Rudimente des Seelencultes genug hervorgezogen, die
uns anzunehmen zwangen, dass einst, in ferner Vorzeit, die
Griechen, gleich den meisten anderen Völkern, an ein bewusstes,
machtvoll auf die Menschenwelt einwirkendes Weiterleben der
vom Leibe getrennten Psyche geglaubt, und aus diesem Glauben
heraus den abgeschiedenen Seelen Verehrung von mancherlei
Art gewidmet haben. In Hesiods Bericht haben wir lediglich
[93] eine urkundliche Bestätigung dessen, was aus Homers Gedichten
mühsam zu erschliessen war. Hier begegnet uns noch lebendig
der Glaube an die Erhebung abgeschiedener Seelen zu höherem
Leben. Es sind — und das ist genau zu beachten — die
Seelen längst dahingeschiedener Geschlechter der Menschen,
von denen dies geglaubt wird; schon lange also wird der Glaube
an deren göttliches Weiterleben bestehen, und noch besteht
eine Verehrung dieser als mächtig Wirkenden gedachten. Denn
wenn von den Seelen des zweiten Geschlechts gesagt wird:
„Verehrung 1) folgt auch ihnen“ (v. 142), so liegt ja hierin
ausgesprochen, dass den Dämonen des ersten, goldenen Ge-
schlechts erst recht Verehrung zu Theil werde.
Die Menschen des silbernen Geschlechts, wegen Unehr-
erbietigkeit gegen die Olympier von Zeus in der Erde „ge-
borgen“, werden nun genannt „unterirdische sterbliche Selige,
die zweiten im Range, doch folgt auch ihnen Verehrung“ (v. 141.
142). Der Dichter weiss also von Seelen Verstorbener einer eben-
falls längst entschwundenen Zeit, die im Inneren der Erde hausen,
verehrt und also ohne Zweifel ebenfalls als mächtig gedacht
werden. Die Art ihrer Einwirkung auf die Oberwelt hat der
Dichter nicht genauer bezeichnet. Zwar nennt er die Geister
dieses zweiten Geschlechts nicht ausdrücklich „trefflich“, wie
die des ersten (v. 122), er leitet sie ja auch her aus dem weniger
vollkommenen silbernen Zeitalter und scheint ihnen einen ge-
ringeren Rang anzuweisen. Daraus folgt noch nicht, dass er,
viel späterer Speculation vorgreifend, sich die Geister des
zweiten Geschlechts als eine Classe böser und ihrer Natur
nach Schlimmes wirkender Dämonen gedacht habe 2). Nur zu
[94] den olympischen Göttern scheinen sie in einem loseren Ver-
hältniss, wenn nicht einer Art von Gegensatz zu stehen. Wie
sie einst den Göttern keine fromme Verehrung bezeugten, so
heissen sie jetzt nicht, gleich den Seelen des ersten Geschlechts,
Dämonen, nach Zeus’ Willen zu Wächtern der Menschen be-
stellt. Der Dichter nennt sie mit einer auffallenden Bezeich-
nung: „sterbliche Selige“, d. h. sterbliche Götter. Diese ganz
singuläre Benennung, deren zwei Bestandtheile eigentlich ein-
ander gegenseitig aufheben, lässt eine gewisse Verlegenheit er-
kennen, diese dem Homer nicht bekannte Classe der Wesen
mit einem dem homerischen Sprachvorrath, auf den sich der
Dichter angewiesen sah, entlehnten Ausdruck treffend und deut-
lich zu bezeichnen 1). Die Seelengeister aus dem ersten Ge-
schlecht hatte er kurzweg „Dämonen“ genannt. Aber diese
Benennung, welche jenen erst aus der Sterblichkeit zur Ewig-
keit übergegangenen Wesen mit den ewigen Göttern gemein-
sam war, liess den Wesensunterschied beider Classen der Un-
sterblichen unbezeichnet. Eben darum hat sie die spätere Zeit
niemals wieder in der gleichen Art wie hier Hesiod ver-
2)
[95] wendet 1). Man nannte später solche gewordene Unsterbliche
„Heroen“. Hesiod, der dies Wort in diesem Sinne noch nicht
verwenden konnte, nennt sie mit kühnem Oxymoron: sterbliche
Selige, menschliche Götter. Den Göttern ähnlich sind sie in
ihrem neuen Dasein als ewige Geister; sterblich ist ihre Natur,
da ja doch ihr Leib sterben musste, und hierin liegt der Unter-
schied dieser Geister von den ewigen Göttern 2).
Der Name also scheint keinen Wesensunterschied zwischen
diesen Seelengeistern des silbernen Geschlechts und den „Dä-
monen“ aus dem goldenen Zeitalter andeuten zu sollen. Ver-
schieden ist der Aufenthalt beider Classen von Geistern: die
Dämonen des silbernen Geschlechts hausen in den Tiefen der
Erde. Der Ausdruck „unterirdische“, von ihnen gebraucht,
ist unbestimmt, nur genügend, um den Gegensatz zu den „ober-
irdischen“ Geistern des ersten Geschlechts auszudrücken. Jeden-
falls ist aber als Aufenthalt der Seelen des silbernen Geschlechts
nicht der ferne Sammelplatz der bewusstlos vegetirenden Seelen-
schatten, das Haus des Hades, gedacht: die dort schwebenden
„Abbilder“ können nicht Dämonen oder „sterbliche Götter“
genannt werden; auch folgt ihnen keinerlei „Verehrung“.
Auch das silberne Geschlecht gehört einer längst ver-
sunkenen Vorzeit an 3). Die Recken des ehernen Geschlechts,
[96] von ihren eigenen Händen bezwungen, heisst es, gingen in das
dumpfige Haus des schauerlichen Hades ein, namenlos; der
Tod, der schwarze, ergriff sie, so furchtbar sie waren, und sie
verliessen das helle Licht der Sonne.
Wäre nicht der Zusatz „namenlos“, man könnte hier in
der That das Schicksal der Seelen der homerischen Helden
beschrieben glauben. Vielleicht soll aber mit jenem Worte 1)
gesagt sein, dass kein ehrender und bezeichnender Beiname,
wie doch den Seelen des ersten und zweiten und auch des
vierten Geschlechtes, diesen spurlos in die Nichtigkeit des
Schattenreiches versunkenen und selbst nichtig gewordenen
Seelen gegeben werde und werden könne.
Es folgt „der Heroen göttliches Geschlecht, die Halb-
götter genannt werden“. Sie verdarb der Krieg um Theben
und der um Troja. Einen Theil von ihnen „verhüllte des Todes
Erfüllung“; anderen gewährte, fern von den Menschen, Leben
und Aufenthalt Zeus der Kronide, und liess sie wohnen an
den Enden der Erde. Dort wohnen sie, sorgenfrei, auf den
Inseln der Seligen, am strömenden Okeanos, die beglückten
Heroen, denen süsse Frucht dreimal im Jahre (von selbst) die
Erde schenkt.
Hier zuerst sind wir herabgestiegen in einen deutlich be-
stimmbaren Abschnitt der Sagengeschichte. Von den Helden,
deren Abenteuer Thebaïs und Ilias und die hieran ange-
schlossenen Gedichte erzählten, will der Dichter berichten
Auffallend tritt hervor, wie geschichtlos noch das Griechen-
3)
[97] thum war: unmittelbar nach dem Abscheiden der Heroen hebt
dem Dichter das Zeitalter an, in dem er selbst leben muss; wo
das Reich der Dichtung aufhört, hört auch jede weitere Ueber-
lieferung auf, es folgt ein leerer Raum, so dass der Schein
entsteht, als schliesse sich die unmittelbare Gegenwart sogleich
an. Man versteht also wohl, warum das heroische Geschlecht
das letzte ist vor dem fünften, dem der Dichter selbst ange-
hört, warum es nicht etwa dem (zeitlosen) ehernen Geschlecht
voraufgeht. Es schliesst sich dem ehernen Geschlechte auch
durchaus passend an in dem, was von einem Theil seiner Ange-
hörigen zu melden war in Bezug auf das, was hier den Dichter
vornehmlich interessirt, das Schicksal der Abgeschiedenen.
Ein Theil der gefallenen Heroen stirbt einfach, d. h. ohne
Zweifel, er geht in das Reich des Hades ein, wie die Ange-
hörigen des ehernen Geschlechts, wie die Helden der Ilias.
Wenn nun von denen, die „der Tod ergriff“, andere unter-
schieden werden, die zu den „Inseln der Seligen“ gelangen, so
lässt sich nicht anders denken, als dass diese letzteren eben
nicht den Tod, d. h. Scheidung der Psyche vom sichtbaren Ich,
erlitten haben, sondern bei Leibes Leben entrückt worden sind.
Der Dichter denkt also an solche Beispiele, wie sie uns be-
gegnet sind in der Erzählung der Odyssee von Menelaos, der
Telegonie von Penelope, Telemachos und Telegonos. Diese
wenigen Ausnahmefälle würden ihm schwerlich so tiefen Eindruck
gemacht haben, dass er um ihretwillen eine ganze Classe von Ent-
rückten den einfach Gestorbenen entgegenstellen zu müssen ge-
meint hätte. Ohne allen Zweifel hatte er noch mehr Beispiele
derselben wunderbaren Art des Abscheidens aus dem Reiche der
Menschen, aber nicht aus dem Leben, vor Augen. Wir haben
gesehen, dass schon die Verse der Odyssee, in denen die Ent-
rückung des Menelaos vorausgesagt wird, auf andere, ältere
Dichtungen gleicher Art hinwiesen, und nach den in den Resten
der cyklischen Epen uns vorgekommenen Anzeichen glauben wir
ohne Schwierigkeit, dass die spätere Heldendichtung den Kreis der
Entrückten und Verklärten weit und weiter ausgedehnt haben mag.
Nur aus solcher Dichtung kann Hesiod die Vorstellung
eines allgemeinen Sammelplatzes, an dem die Entrückten ewig
ein müheloses Leben führen, gewonnen haben. Er nennt ihn
die „Inseln der Seligen“: sie liegen, fern von der Menschenwelt,
am Okeanos, an den Grenzen der Erde, also da, wo nach der
Odyssee auch die elysische Flur liegt, ein anderer Sammel-
platz lebendig Entrückter oder vielmehr derselbe, nur anders
benannt. Die „elysische Flur“ uns als eine Insel zu denken,
nöthigt der Name nicht, er verbietet es aber auch nicht.
So nennt Homer das Land der Phäaken nirgends deutlich
eine Insel 1), dennoch wird die Phantasie der meisten Leser
sich Scheria als eine Insel vorstellen, und ebenso thaten es,
vielleicht schon seit den Dichtern der hesiodischen Schule, die
Griechen. Ebenso mag ein Dichter das, in der Odyssee
flüchtig berührte „Land der Hinkunft“ sich als eine Insel oder
eine Gruppe von Inseln gedacht haben: nur eine Insel, rings
vom Meere umgeben, giebt das Bild eines völlig von der Welt
getrennten, Unberufenen unzugänglichen Zufluchtsortes. Eben
darum haben die Sagen vieler Völker, zumal solcher, die am
Meere wohnen, den Seelen der Abgeschiedenen ferne Inseln
als Wohnplatz angewiesen.
Die völlige Abgeschiedenheit ist das Wesentliche dieser
ganzen Entrückungsvorstellung, Hesiod hebt das auch deutlich
genug hervor. Ein Nachdichter hat formell nicht eben ge-
schickt 2) noch einen Vers eingelegt, der die Abgeschiedenheit
noch schärfen sollte: darnach wohnen diese Seligen nicht nur
[99] „ferne von den Menschen“ (v. 167), sondern auch (v. 169)
fern von den Unsterblichen, und Kronos herrscht über sie. Der
Dichter dieses Verses folgt einer schönen, aber erst nach
Hesiod ausgebildeten Sage, nach der Zeus den greisen Kronos
mit den anderen Titanen aus dem Tartaros frei gab 1), und
der alte Götterkönig, unter dessen Herrschaft einst das goldene
Zeitalter des Friedens und Glückes auf Erden bestanden hatte,
nun über die Seligen im Elysium wie in einem zweiten, ewigen
goldenen Zeitalter waltet, er selbst ein Bild der sorgenfreien
Beschaulichkeit, fern von der lärmenden Welt, deren Herr-
schaft ihm Zeus entrissen hat. Hesiod selbst hat zu dieser
Herüberziehung des Kronos aus dem goldenen Zeitalter in das
Land der Entrückten einen Anlass gegeben, indem er in den
wenigen Zeilen, in denen er das Leben der Seligen berührt,
deutlich einen Anklang an die Schilderung des mühelosen Da-
seins im goldenen Zeitalter vernehmen lässt. Beide Vorstel-
lungen, jene ein verlorenes Kindheitsparadies in der Vergangen-
heit, diese den Auserwählten ein vollkommenes Glück in der
Zukunft zeigend, sind einander nahe verwandt: es ist schwer
zu sagen, welche von ihnen die andere beeinflusst haben mag 2),
7*
[100] denn ganz von selber mussten die Farben ihrer Ausmalungen
zusammenfliessen: die reine Idylle ist ihrer Natur nach eintönig.
Von irgend einer Wirkung und Einwirkung der auf die
Inseln der Seligen Entrückten auf das Diesseits sagt Hesiod
nichts, wie doch bei den Dämonen des goldenen Geschlechts,
nichts auch von einer „Verehrung“, die eine Wirksamkeit
voraussetzen würde, wie bei den unterirdischen Geistern des
silbernen Zeitalters. Jeder Zusammenhang mit der Menschen-
welt ist abgebrochen; jede Wirkung zu ihr hinüber würde dem
Begriffe dieser selig Abgeschiedenen widersprechen. Hesiod
giebt getreulich das Bild der Entrückten wieder, wie es dich-
terische Phantasie ohne alle Einwirkung des Cultus und darauf
gegründeten Volksglaubens frei ausgebildet hatte.
Folgt er hier homerischer und nachhomerischer Dichtung,
woher hat er die Vorstellung von den Dämonen und Geistern
aus dem goldenen und silbernen Zeitalter entnommen, die er
aus homerischer und homerisirender Poesie nicht entnommen
hat, nicht entnommen haben kann, weil sie, anders als die Ent-
rückungsidee, den homerischen Seelenglauben nicht ergänzt,
sondern ihm widerspricht? Wir dürfen mit Bestimmtheit sagen:
aus dem Cultus. Es bestand, mindestens in den Gegenden
Mittelgriechenlands, in denen die hesiodische Poesie zu Hause
war, eine religiöse Verehrung der Seelen vergangener Menschen-
geschlechter fort, trotz Homer, und der Cultus erhielt, wenigstens
als dunkle Kunde, einen Glauben lebendig, den Homer verhüllt
und verdrängt hatte. Nur wie aus der Ferne dringt er noch
zu dem böotischen Dichter, dessen eigene Vorstellungen doch
ganz in dem Boden homerischen Glaubens wurzeln. Schon
seit dem ehernen Geschlecht, berichtet er ja, schluckt der
schaurige Hades die Seelen der Verstorbenen ein, das gilt
(mit wenigen wunderbaren Ausnahmen) auch für das heroische
Geschlecht; und dass dem Dichter am Ausgang des Lebens
im eisernen Geschlecht, dem er selbst angehört, nichts anderes
[101] steht als die Auflösung in die Nichtigkeit des Erebos, lässt
sein Stillschweigen über das, was diesem Geschlecht nach dem
Tode bevorsteht, erkennen, ein um so drückenderes Still-
schweigen, als das finstere Bild des Elends und der immer
noch zunehmenden Verworfenheit des wirklichen und gegen-
wärtigen Lebens, das er entwirft, ein lichteres Gegenbild aus-
gleichender Hoffnungen zu fordern scheint, um nur erträglich
zu werden. Aber er schweigt von solcher Ausgleichung; er
hat keine zu bieten. Wenn nach einer anderen Stelle des Ge-
dichtes von allen Gütern besserer Vergangenheit allein die Hoff-
nung bei den Menschen zurückgeblieben ist, so erhellt die
Hoffnung jedenfalls nicht mehr mit ihrem Strahle das Jenseits.
Der Dichter, der doch, von der gemeinen Wirklichkeit des
Lebens enger bedrängt, solche Hoffnungen keineswegs so ge-
trost entbehren kann wie der in den Zauberkreis der Dichtung
eingeschlossene Sänger der Heldenlieder, sieht Tröstliches nur
in dem, was Dichtung oder Cultussage ihm von längst ver-
gangener Zeit berichten. Dass das Wunder der lebendigen
Entrückung sich nach der heroischen Zeit, in der nüchternen
Gegenwart, wiederholen könne, liegt ihm fern zu glauben; und
die Zeit, in der nach einem, jetzt (wie es scheint) ausser Gel-
tung gekommenen Naturgesetz die Seelen der Verstorbenen
zu Dämonen auf und unter der Erde erhöhet wurden, liegt weit
ab in der Vergangenheit. Ein anderes Gesetz gilt jetzt; wohl
verehrt noch die Gegenwart die ewigen Geister des goldenen
und silbernen Geschlechts, aber sie selber vermehrt die Schaar
dieser verklärten und erhöheten Seelen nicht.
So giebt die hesiodische Erzählung von den fünf Welt-
altern uns die bedeutendsten Aufschlüsse über die Entwicklung
griechischen Seelenglaubens. Was sie uns von den Geistern
aus dem goldenen und silbernen Geschlecht berichtet, bezeugt,
dass aus grauer Vorzeit ein Ahnencult bis in die Gegenwart
des Dichters sich erhalten hatte, der auf dem einst lebendigen
[102] Glauben an eine Erhöhung abgeschiedener Seelen, in ihrem
Sonderdasein, zu mächtigen, bewusst wirkenden Geistern be-
gründet war. Aber die Schaaren dieser Geister gewinnen
keinen Zuwachs mehr aus der Gegenwart. Seit Langem ver-
fallen die Seelen der Todten dem Hades und seinem nichtigen
Schattenreiche. Der Seelencult stockt, er bezieht sich nur
noch auf die vor langer Zeit Verstorbenen, er vermehrt die
Gegenstände seiner Verehrung nicht. Das macht, der Glaube
hat sich verändert: es herrscht die in den homerischen
Gedichten ausgeprägte, durch sie bestätigte und gleichsam
sanctionirte Vorstellung, dass der einmal vom Leibe getrennten
Psyche Kraft und Bewusstsein entschwinde, ein fernes Höhlen-
reich die machtlosen Schatten aufnehme, denen keine Wirk-
samkeit, kein Hinüberwirken in das Reich der Lebenden mög-
lich ist, und darum auch kein Cultus gewidmet werden kann.
Nur am äussersten Horizont schimmern die Inseln der
Seligen, aber der Kreis der dorthin, nach dichterisch phan-
tastischer Vision, lebendig Entrückten ist abgeschlossen, wie
der Kreis der Heldendichtung abgeschlossen ist. Die Gegen-
wart sieht solche Wunder nicht mehr.
Es ist nichts, was dem aus den homerischen Gedichten
von uns Erschlossenen widerspräche in dieser, aus der hesiodi-
schen Darstellung deutlicher abzunehmenden Entwicklungsreihe.
Nur dieses Eine ist neu und vor Allem bedeutsam: dass eine
Erinnerung davon, wie einst doch die Seelen verstorbener
Geschlechter der Menschen höheres, ewiges Leben erlangt haben,
sich erhalten hat. Im Praesens redet Hesiod von ihrem Da-
sein und Wirken, und von der Ehre, die ihnen folge: glaubt
man sie unsterblich, so wird man sie natürlich auch fort-
während weiter verehren. Und umgekehrt: dauerte die Ver-
ehrung nicht noch in der Gegenwart fort, so würde man sie
nicht für unvergänglich und ewig wirksam halten.
Wir sind im alten, im festländischen Griechenland, im
Lande der böotischen Bauern und Ackerbürger, in abge-
schlossenen Lebenskreisen, die von der Seefahrt, die in die
[103] Fremde lockt und Fremdes heranbringt, wenig wissen und
wissen wollen. Hier im Binnenlande hatten sich Reste von
Brauch und Glauben erhalten, die in den Seestädten der neuen
Griechenländer an Asiens Küsten vergessen waren. Soweit hat
doch die neue Aufklärung auch hier eingewirkt, dass die Ge-
bilde des alten Glaubens, in die Vergangenheit zurückgeschoben,
nur noch wie eine halb verklungene Sage, mit Phantasieen über
die Uranfänge der Menschheit verflochten, im Gedächtniss
weiter leben. Aber der Seelencult ist doch noch nicht ganz
todt; die Möglichkeit besteht, dass er sich erneuere und sich
fortsetze, wenn einmal der Zauber homerischer Weltvorstellung
gebrochen sein sollte.
Die Geschichte der griechischen Cultur und Religion kennt
keinen Sprung, keinen Bruch in ihrem Fortgange. Weder hat
das Griechenthum jemals aus sich selbst eine Bewegung er-
regt, die es zu gewaltsamer Umkehr auf dem eingeschlagenen
Wege zwang, noch ist es zu irgend einer Zeit durch ein mit
Uebermacht hereinbrechendes Fremdes aus der natürlichen Bahn
seiner Entwicklung geworfen worden. Wohl hat dies gedanken-
reichste der Völker aus eigenem Sinn und Sinnen die wich-
tigsten der Gedanken hervorgebracht, von denen die Jahr-
hunderte zehren; sie haben der ganzen Menschheit vorgedacht;
die tiefsten und kühnsten, die frömmsten und die frechsten
Gedanken über Götter, Welt und Menschenwesen haben ihren
Ursprung in Griechenland. Aber in dieser überschwänglichen
Mannichfaltigkeit hielten die sich gegenseitig einschränkenden
oder aufhebenden Einzelerscheinungen einander im Gleich-
gewicht; die gewaltsamen Stösse und plötzlichen Umschwünge
im Culturleben gehen von den Völkern aus, die nur Einen
Gedanken festhalten und in der Beschränktheit des Fanatismus
alles Andere über den Haufen rennen.
Wohl stand das Griechenthum der Einwirkung fremder
Cultur und selbst Uncultur weit offen. Ununterbrochen drangen
namentlich von Osten her in sanfter Einströmung und Ueber-
strömung breite Wellen fremden Wesens über Griechenland;
an Einer Stelle wenigstens brach auch (in dem Aufregungs-
cult der thrakischen Dionysosdiener) in dunkler Vorzeit eine
heftige Springfluth durch alle Deiche. Viele fremde Elemente
mögen leicht wieder ausgeschieden worden sein aus griechischem
Wesen; manches gewann eine dauernde Stelle und tiefe Wir-
[105] kung in griechischer Cultur. Aber nirgends hat das Fremde
in Griechenland eine Uebermacht gewonnen, vergleichbar etwa
der umstürzenden und neubildenden Gewalt, die der Buddhis-
mus, das Christenthum, der Islam unter den Völkern ausgeübt
haben, die sie vordringend ergriffen. Inmitten aller fremden
Einwirkungen behauptete das griechische Wesen, gleich zäh wie
geschmeidig, in aller Gelassenheit seine eigene Natur und seine
geniale Naivetät. Fremdes und in eigener Bewegung erzeugtes
Neues wird aufgenommen und angepasst, aber das Alte tritt
darum nicht ab; langsam verschmilzt es mit dem Neuen, viel
wird neu gelernt, nichts ganz vergessen. In gelindem Weiter-
strömen bleibt es immer derselbe Fluss. Nec manet ut fuerat
nec formas servat easdem: sed tamen ipse idem est —
So kennt denn die griechische Culturgeschichte keine schroff
abgesetzten Zeiträume, keine scharf niederfahrenden Epochen-
jahre, mit denen ein Altes völlig abgethan wäre, ein ganz
Neues begönne. Zwar die tiefsten Umwälzungen griechischer
Geschichte, Cultur und Religion liegen ohne Frage vor der
Zeit des homerischen Epos, und in dieser Urzeit mögen heftigere
und stossweis eintretende Erschütterungen das griechische Volk
zu dem gemacht haben, als was wir es kennen. Uns beginnt
das Griechenthum wirklich kenntlich zu werden erst mit Homer.
Die einheitliche Geschlossenheit, die das in den homerischen
Gedichten abgespiegelte Griechenthum erlangt zu haben scheint,
löst sich freilich in der fortschreitenden Bewegung der fol-
genden Zeiten auf. Neue Triebe drängen empor, unter der
sich zersetzenden Decke der epischen, breit alles überziehenden
Vorstellungsart tritt manches Alte wieder an’s Licht heraus;
aus Aeltestem und Neuem bilden sich Erscheinungen, von
denen das Epos noch nichts ahnen liess. Aber es findet nirgends
in den nächsten heftig bewegten Jahrhunderten nach Homer
ein Bruch mit dem Epos und seiner Vorstellungswelt statt;
erst seit dem sechsten Jahrhundert sucht die Speculation ein-
zelner kühnen Geister mit Ungeduld aus der Atmosphäre der
homerischen Dichtung, in der ganz Griechenland immer noch
[106] athmete, herauszuspringen. Die volksthümliche Entwicklung
weiss nichts von einem Gegensatz zu Homer und seiner Welt.
Unmerklich vollzog sich die Verdrängung der homerischen Ethik
und Religion aus der Alleinherrschaft, niemals aber ist der
Zusammenhang mit dieser gewaltsam abgerissen worden.
So können auch wir, indem wir, Homer und das Epos
hinter uns lassend, in die vielverschlungenen Wege der weiteren
Entwicklung des Seelencultes und des Unsterblichkeitsglaubens
eindringen, noch eine Zeitlang uns an dem Ariadnefaden des
Epos leiten lassen. Auch hier reicht eine Verbindung aus der
epischen Zeit in die kommende Periode herunter. Bald freilich
lockert sich der Faden, und wir müssen in neues Gebiet selb-
ständig vorschreiten. —
Unter den Fürsten, die, von Adrast geführt, zu Gunsten
des Polyneikes Theben zu belagern kamen, ragt Amphiaraos
hervor, der argivische Held und Seher aus dem Geschlecht des
räthselhaften Priesters und Wahrsagers Melampus. Gezwungen
war er in den Krieg gezogen, dessen unglückliches Ende er
voraus wusste; und als in der Entscheidungsschlacht, nach dem
Wechselmord der feindlichen Brüder, das argivische Heer in’s
Weichen kam, da floh auch Amphiaraos; doch bevor Peri-
klymenos, der ihn verfolgte, ihm den Speer in den Rücken
stossen konnte, zerspaltete Zeus vor ihm durch einen Blitz-
strahl die Erde, und sammt Rossen und Wagen und Wagen-
lenker fuhr Amphiaraos in die Tiefe, wo ihn Zeus unsterb-
lich machte. — So lautet die Sage vom Ende des Amphiaraos,
wie sie von Pindar an uns zahlreiche Zeugen berichten 1); man
[107] darf mit Zuversicht annehmen, dass so schon erzählt war in
der Thebaïs, dem alten Heldengedicht vom Kriege der Sieben
gegen Theben, das in den epischen Cyklus aufgenommen war 1).
Bei Theben lebte nun Amphiaraos in der Erde ewig fort. —
Weiter nördlich im böotischen Lande, bei Lebadea, wusste man
von einem ähnlichen Wunder zu berichten. In einer Höhle
der Bergschlucht, vor der Lebadea liegt, lebte unsterblich
Trophonios. Die Sagen, welche sein wunderbares Höhlen-
leben erklären sollen, stimmen wenig mit einander überein, wie
es bei solchen Gestalten zu geschehen pflegt, die nicht von
1)
[108] der Dichtung früh ergriffen und in den weiten Zusammenhang
der Heldenabenteuer fest eingefügt sind. Aber alle Berichte
(deren älteste Wurzeln vielleicht noch in der „Telegonie“ lagen)
laufen darauf hinaus, dass auch Trophonios, wie Amphiaraos,
einst ein Mensch gewesen sei, ein berühmter Baumeister, der,
vor seinen Feinden fliehend, bei Lebadea in die Erde geschlüpft
sei, und nun in der Tiefe ewig lebe, denen, die ihn zu befragen
hinabfahren, die Zukunft verkündigend 1).
Diese Sagen wissen also von Menschen zu berichten, die
lebend von der Erde verschlungen sind, und dort, wo sie in die
Tiefe eingefahren sind, an ganz bestimmten Stellen griechischen
Landes, unsterblich weiterleben.
Es fehlt nicht völlig an anderen Sagen ähnlichen Inhalts.
Einer der wilden Recken des Lapithenvolkes in Thessalien,
Kaineus, von Poseidon, der ihn einst aus einem Weibe in
einen Mann verwandelt hatte, unverwundbar gemacht, wurde
von den Kentauren im Kampfe mit Baumstämmen zugedeckt;
unverwundet spaltet er „mit geradem Fusse“ (d. h. aufrecht
stehend, lebend, nicht hingestreckt wie ein Todter oder Tod-
wunder) die Erde und fährt lebendig in die Tiefe 2). — Auf
Rhodos verehrte man den Althaimenes als „Gründer“ der
[109] griechischen Städte der Insel: er war nicht gestorben, sondern
in einem Erdschlund verschwunden 1). — Wie von Amphiaraos,
so scheint auch von seinem Sohne Amphilochos, dem Erben
seiner Wahrsagekunst, die Sage gegangen zu sein, dass er (in
Akarnanien oder in Kilikien) noch lebendig in der Erde hause 2).
— Es liessen sich wohl noch einige Beispiele ähnlicher Art
beibringen. Aber die Zahl solcher Sagen bleibt eine kleine,
und nur wie zufällig tauchen sie hie und da in der Ueber-
lieferung auf. Die epische Dichtung, ohne deren Mitwirkung
locale Sagen selten verbreiteten und dauernden Ruhm erlangten,
liess, mit wenigen Ausnahmen, solche Geschichten bei Seite
liegen. Sie treten eben aus dem Vorstellungskreise homerischer
Dichtung heraus. Zwar der Glaube, dass Unsterblichkeit,
einzelnen Menschen durch Göttergnade wunderbar verliehen,
nur darin bestehen könne, dass der Tod, d. h. Scheidung der
Psyche vom sichtbaren Menschen, gar nicht eintrete, bestimmt
die Gestaltung auch dieser Sagen. Von einem unsterblichen
Leben der vom Leibe geschiedenen Seele für sich allein wissen
sie nichts. Insofern wurzeln sie fest im Boden epischen Glaubens.
Aber den Helden dieser Sagen wird ewiges Weiterleben zu
Theil an eigenen Wohnplätzen im Inneren der Erde, in unter-
irdischen Gemächern 3), nicht am allgemeinen Versammlungs-
[110] ort der Abgeschiedenen. Sie haben ihr Reich für sich, fern
vom Hause des Aïdoneus. Solche Absonderung einzelner Unter-
irdischen passt nicht zu homerischen Vorstellungen. Fast scheint
es, als ob ein leiser Nachklang der Sagen von lebend und mit
unversehrtem Bewusstsein entrückten Sehern, wie Amphiaraos,
Amphilochos, hörbar werde in der Erzählung der homerischen
Nekyia von Tiresias, dem thebanischen Seher, dem allein
unter den Schatten Persephone Bewusstsein und Verstand
(also eigentlich die Lebenskräfte) gelassen hatte 1). Aber auch
ihn hält das allgemeine Todtenreich des Erebos fest, von aller
Verbindung mit der Oberwelt ist er abgeschnitten: so will es
homerische Weltordnung. Amphiaraos dagegen und Trophonios
sind dem Hades entzogen; wie sie nicht gestorben sind, so
sind sie auch nicht in das Reich der kraftlosen Seelen einge-
gangen. Auch sie sind dem Leben (aber auch dem Hades)
entrückt. Aber diese Höhlenentrückung ist in ihrem
Wesen wie in ihrem Glaubensursprung sehr verschieden von
der Inselentrückung, von der wir im vorigen Abschnitt geredet
haben. Jene, einzeln oder in Gesellschaft auf seligen Eilanden
[111] fern im Meere wohnenden Helden sind vom menschlichen Leben
weit abgerückt, auch menschlichen Bitten und Wünschen un-
erreichbar, keine Einwirkung auf das Diesseits ist ihnen ge-
stattet, und so wird ihnen kein Cult gewidmet: nie hat ein
Cult der Bewohner des Elysiums als solcher bestanden.
Sie schweben in der Ferne wie Bilder dichterischer Phantasie,
von denen Niemand ein thätiges Eingreifen in die Wirklich-
keit erwartet. Anders diese Höhlenentrückten. Sie hausen ja
lebendig unter der Erdoberfläche, nicht im unerreichbaren Nebel-
reiche des Hades, sondern mitten in Griechenland; Fragen und
Bitten werden zu ihnen hinab, ihre Hülfe wird zu den Bitten-
den herauf dringen können. Ihnen widmet man denn auch,
als mächtigen und wirksamen Geistern, einen Cult.
Wir wissen Genaueres über die Art, in der man den
Amphiaraos verehrte, namentlich aus der späteren Zeit, als
neben dem Orte bei Theben, an welchem die Sage von seiner
Niederfahrt ursprünglich heimisch war, auch, und mit über-
wiegendem Erfolg, Oropos, der Grenzort von Böotien und Attika,
eine Stelle seines Gebietes als den Ort der Erdentrückung
des Amphiaraos bezeichnete 1). Von dem Cult des Trophonios
haben wir ebenfalls aus späterer Zeit einige Kunde. Unter
der im Laufe der Zeit angesammelten Mannichfaltigkeit der
Begehungen treten einige besonders charakteristisch hervor,
aus denen sich die zu Grunde liegende religiöse Vorstellung
erkennen lässt. Man brachte dem Amphiaraos und dem
Trophonios solche Opfer dar, wie sonst den chthonischen,
d. h. in der Erdtiefe wohnenden Göttern 2). Man erwartete
[112] von ihnen nicht etwa Hülfe im täglichen Leben des Einzelnen
oder des Staates; nur an der Stätte ihrer Niederfahrt waren
sie wirksam, und auch da nur, indem sie die Zukunft enthüllten.
Unter den berühmtesten Orakelgöttern 1) liess schon Kroesos,
nachher Mardonios den Amphiaraos an seiner alten Orakel-
stätte bei Theben, den Trophonios bei Lebadea befragen.
Von Amphiaraos glaubte man, er verkündige durch Traum-
gesichte die Zukunft denen, die sich, nach dargebrachten Opfern,
in seinem Tempel zum Schlafe niederlegten. Um Trophonios
zu befragen, fuhr man durch einen engen Schlund in seine
Höhle ein. Drinnen erwartete man, den Trophonios in Person
zu erblicken oder doch seine Weisungen zu hören 2). Er
2)
[113] wohnte eben, wie ein an den Ort seines zauberhaften Daseins
gefesselter Geist, körperlich in der Tiefe jener Höhle. Aber
auch die Incubation, der Tempelschlaf, durch den man Am-
phiaraos befragte (wie noch viele Dämonen und Heroen) be-
ruht eigentlich auf dem Glauben, dass der Dämon, der freilich
menschlichem Auge nur in der Seelenerhöhung des Traumes
sichtbar wird, seinen dauernden Wohnplatz an der Stelle des
Orakels habe 1). Eben darum kann nur an dieser Stelle und
2)
Rohde, Seelencult. 8
[114] nirgends sonst seine Erscheinung erwartet werden. Und ur-
sprünglich sind es ausschliesslich Bewohner der Erdtiefe, welche
Solchen, die sich über der Stelle ihres unterirdischen Wohn-
platzes zum Tempelschlafe niederlegen, im Traume sichtbar
werden können. Homer weiss nichts von Göttern oder Dä-
monen, die unter bestimmten Stellen der bewohnten Erde
dauernd hausen, nahe den Menschen; eben darum verräth er
auch keine Kenntniss von Incubationsorakeln 1). Es giebt Gründe
für die Meinung, dass diese Art, mit der Geisterwelt, der die
prophetische Kraft innewohnt, sich in Verbindung zu setzen,
zu den ältesten Weisen griechischer Orakelkunst gehört, jeden-
falls nicht jünger ist als die apollinische Inspirationsmantik.
Und gerade die Sage von Amphiaraos, wie wir sie schon in
der cyklischen Thebaïs erzählt glauben dürfen, beweist, dass
bereits zur Zeit des noch blühenden Epos homerischen Styls
1)
[115] der Glaube an höhlenhausende Unsterbliche und deren mantische
Kraft und Bethätigung lebendig war.
Denn das ist ja offenbar, dass der Cult des Amphiaraos
und der Glaube an seinen Aufenthalt in der Erdtiefe nicht
durch Einwirkung des Epos entstanden, sondern dass umgekehrt
die Erzählung des Epos durch den bereits vorher vorhandenen
Cult eines also vorgestellten dämonischen Wesens veranlasst
worden ist. Die epische Dichtung fand den lebendigen Cult
eines in der Erde hausenden mantischen Dämons bei Theben
vor. Sie macht sich diese Thatsache verständlich, indem sie
sie (und dies ist überhaupt vielfach das Verhältniss epischer
Dichtung zu den Thatsachen des religiösen Lebens) ableitet aus
einer Begebenheit der Sagengeschichte und so mit ihrem Vor-
stellungskreis in Verbindung bringt. Von Göttern, die so an
ein irdisches Local gebunden wären, weiss sie nichts; der im
Cultus Verehrte wurde ihrer Phantasie zum Helden und Seher,
der nicht von jeher in jener Erdtiefe hauste, sondern dorthin
erst versetzt worden ist durch einen wunderbaren Willensact
des höchsten Gottes, der dem Entrückten zugleich ewiges Leben
in der Tiefe verliehen hat 1).
Wir dürfen aus neuerer Sagenkunde ein Beispiel zur Er-
läuterung heranziehen. Unserer einheimischen Volkssage ist
die Vorstellung solcher, in Berghöhlen und unterirdischen Ge-
mächern ewig oder bis zum jüngsten Tage hausenden Helden
sehr geläufig. Karl der Grosse, oder auch Karl der Fünfte, sitzt
im Odenberg oder im Unterberg bei Salzburg, Friedrich II.
(in jüngerer Wendung der Sage Friedrich I. Rothbart) im Kyff-
häuser, Heinrich der Vogelsteller im Sudemerberg bei Goslar;
8*
[116] so haust auch König Artus, Holger Danske und noch manche
Lieblingsgestalt der Volkserinnerung in unterirdischen Höhlen 1).
Hie und da schimmert noch deutlich durch, wie es eigentlich
alte, nach heidnischem Glauben in hohlen Bergen hausende
Götter sind, an deren Stelle jene „bergentrückten Helden“
getreten sind 2). Auch die griechische Ueberlieferung lässt uns
noch wohl erkennen, dass jene höhlenentrückten Menschen der
Vorzeit, Amphiaraos und Trophonios, nur sagenhaft umgebildet
sind aus alten Göttergestalten, denen unsterbliches Leben und
ewiger Aufenthalt in der Erdtiefe nicht erst durch eine Gnaden-
that verliehen wurde, sondern von jeher eigen war. Wenigstens
am Orte der Verehrung wusste man, dass der die Zukunft ver-
kündende Höhlenbewohner ein Gott war: Zeus Trophonios
oder Trephonios nennen den Einen ausser gelehrten Zeugnissen
auch Inschriften aus Lebadea 3); auch Amphiaraos wird einmal
[117]Zeus Amphiaraos und öfter ein Gott genannt 1). In den Ent-
wicklungssagen christlich gewordener Völker haben sich den alten
Göttern Helden untergeschoben, weil die Götter selbst in Ver-
gessenheit gerathen, abgeschafft sind. Nicht ganz unähnlich
ist der Grund für die Heroisirung jener alten Götter auf griechi-
schem Boden.
Ueber der unendlichen Zersplitterung griechischen Götter-
wesens hatte in der Phantasie der epischen Dichter sich ein
Gesammtbild eines Götterstaates erhoben, in jenen Zeiten der
einzige Versuch, ein panhellenisches Göttersystem aufzubauen,
und darum von grösstem Einfluss auf die Vorstellungsart der
Griechen aller Stämme: denn an alle wendet sich der epische
Dichter. Er steht wie auf einer Höhe über den einengenden
Thälern, den engumschlossenen Gauen, der weiteste Gesichts-
kreis öffnet sich ihm und er sieht über die zahllosen, einander
widerstreitenden und aufhebenden Sonderbildungen des localen
Glaubens und Cultus hinweg in’s Allgemeine. Zersplitterte
sich der Name und Begriff des Zeus, des Apollo, Hermes,
der Athene und aller Götter in Sage und Religionsübung der
Städte und Stämme in unzählige einzelne Gestalten und ge-
sonderte Personen, nach örtlicher Wirkung und Art verschieden:
dem epischen Dichter schwebte Ein Zeus, Apollo u. s. w., in
3)
[118] einheitlicher Persönlichkeit geschlossen, vor. Und wie er über
die Götterzersplitterung der Localdienste hinwegsieht, so bindet
er auch seine Götter nicht an einzelne Wohnplätze und Wir-
kungsstätten in griechischen Landschaften: sie gehören dem einen
Local nicht mehr an als dem anderen. Sie walten und wirken
wohl auf der Erde, aber sie sind dennoch ortsfrei, sie wohnen
und versammeln sich auf den Gipfeln des Olympos, des pieri-
schen Götterberges, der aber schon dem Homer, von aller Orts-
bestimmtheit frei, stark in’s rein Ideale zu verschwimmen be-
ginnt. So ist das weite Meer der Wohnplatz des Poseidon,
ein einzelner Ort fesselt ihn nicht; und auch die Herrscher im
Reiche der Seelen, Aïdes und Persephoneia hausen, fern frei-
lich vom Olymp, aber nicht hier oder dort unter der Ober-
fläche des griechischen Landes, sondern in einem Ideallande
auch sie, an keinen einzelnen Ort im Lande der Wirklichkeit
gebunden. Wem sich so, bei dem grossen Werke der Ver-
einfachung und Idealisirung des unbegrenzt Mannichfaltigen,
aus all den ungezählten Einzelgestaltungen des Namens Zeus,
welche die einzelnen Gemeinschaften griechischer Länder, eine
jede nur in ihrem engbegrenzten Umkreis, verehrte, die Eine
übermächtige Gestalt des Zeus, Vaters der Götter und Men-
schen, erhoben hatte, dem konnte freilich ein Sonderzeus, der
sich Zeus Trophonios nannte und in einer Höhle bei Lebadea
sein unsterbliches Dasein verbrachte und nur dort seine Wir-
kungen ausüben konnte, kaum noch vorstellbar sein.
Dem Anwohner der heiligen Stätte freilich liess sich der
Glaube an das Dasein und die Anwesenheit des Gottes seiner
Heimath nicht rauben. Mochte er im Uebrigen, und fremdem
Localcultus gegenüber, noch so sehr nach homerischer Dar-
stellung seine Gesammtvorstellung vom Götterwesen regeln: die
Wirklichkeit und Heiligkeit seines, wenn auch der olympischen
Götterfamilie des Epos völlig fremden Heimathgottes stand
ihm unerschütterlich fest. Der Cultus in seinem ungestörten,
unveränderten Fortbestehen verbürgte ihm die Gegenständlich-
keit seines Glaubens. So erhielt sich, in engbeschränkter
[119] Geltung freilich, eine grosse Schaar von Localgöttern im
Glauben ihrer Verehrer lebendig; nicht mit zu den Höhen des
Olymps emporgehoben, haften sie treu im heimathlichen Boden 1),
Zeugen einer fernen Vergangenheit, in welcher die auf eigenem
Gebiet streng abgesonderte Ortsgemeinde auch ihren Gott in
die Enge der Heimath, über die ihre Gedanken nicht hinaus-
schweiften, einschloss. Wir werden sehen, wie in den nach-
homerischen Zeiten gar manche solche Erdgottheiten, d. h. in
der Erde wohnend gedachte Gottheiten des ältesten Glaubens
zu neuer, z. Th. auch zu verbreiteter Geltung gelangten. Dem
Epos in seiner Blüthezeit blieben diese erdhausenden Götter
fremd. Wo es nicht über sie hinwegsieht, verwandeln sie sich
ihm in entrückte Helden, und, ausserhalb des localen Cultus,
blieb in solchen Fällen dies die allen Griechen geläufige Vor-
stellung.
Und doch finden sich im Epos selbst, das ja auf folge-
rechte und ausnahmefreie Durchführung eines aus der Re-
flexion geborenen Systems keineswegs bedacht ist, wenigstens
einige dunkle Erinnerungen an den alten Glauben, dass in
Berghöhlen Götter dauernd wohnen können.
Die Odyssee (19, 178 f.) nennt Minos, des Zeus Sohn
(vgl. Il. 13, 450; 14, 322; Od. 11, 568), der in Knossos, der
kretischen Stadt, herrschte, „des grossen Zeus Gesprächs-
genossen“ 2). Sehr wahrscheinlich hat der Dichter selbst mit
[120] diesen Worten das andeuten wollen, was man später allgemein
aus ihnen herauslas: dass Minos mit Zeus persönlich verkehrt
habe, auf Erden natürlich, und zwar in der Höhle, die unweit
von Knossos im Idagebirge als „Höhle des Zeus“ verehrt
wurde 1). Auf Kreta, der früh von Griechen in Besitz ge-
nommenen Insel, die in ihrer abgesonderten Lage viel Uraltes
in Glauben und Sage bewahrte, wusste man, bald im Ida-, bald
im Diktegebirge (im Osten der Insel) eine heilige Höhle zu
zeigen, in der Zeus (wie schon Hesiod berichtet) geboren
worden sei 2). Nach heimischer Sage, die wohl schon dem
Dichter jener Verse der Odyssee vorschwebte, hauste aber auch
noch der voll erwachsene Gott in seinem unterirdischen Höhlen-
gemache, einzelnen Sterblichen zugänglich: wie einst Minos, so
war auch Epimenides dort der Weissagungen des Gottes theil-
haftig geworden 3). Dem im Ida hausenden Zeus war ein
[121] mystischer Cultus geweiht 1); alljährlich wurde ihm dort ein
„Thronsitz gebreitet“, d. h. wohl ein „Göttermahl“ (Theoxenion),
wie anderen, vornehmlich chthonischen Göttern gefeiert; in
schwarzen Wollenkleidern fuhren die Geweihten in die Höhle
ein und verweilten darinnen dreimal neun Tage 2). Alles weist
3)
[122] auf ganz ähnliche Vorstellungen hin, wie die sind, die wir im
Cult des Zeus Trophonios bei Lebadea wirksam fanden. Zeus,
als in der Tiefe der Höhle körperlich anwesend, kann den,
nach den gehörigen Weihen, in die Höhle Eindringenden in
eigener Person erscheinen.
Nun taucht seit dem vierten Jahrhundert v. Chr., ver-
muthlich durch Euhemeros hervorgezogen, der seltsame Bericht
auf, den in späterer Zeit Spötter wie Lucian und christliche
Gegner der alten Religion mit Vergnügen wiederholen, dass im
Ida Zeus begraben liege 1). Was hier das Grab des Gottes
heisst, ist nichts anderes als die Höhle, die man sonst als
seinen dauernden Sitz betrachtete 2). Diese, den Griechen stets
befremdliche 3) Annahme, dass ein Gott begraben liege an
irgend einer Stelle der Erde, für ewig oder auch wohl nur für
2)
[123] eine bestimmte Zeitdauer des Lebens beraubt, begegnet öfter
in Ueberlieferungen semitischer, auch bisweilen anderer nicht-
griechischer Völker 1). Was im Glauben dieser Völker solche
Sagen für einen tieferen, etwa allegorischen Sinn haben mögen,
bleibt hier dahingestellt: es ist kein Grund vorhanden, an Ein-
fluss derartiger fremdländischer Berichte auf griechische Sagen-
bildung zu denken. Auf griechischem Boden giebt die Ueber-
lieferung keinerlei Anlass zu der, neueren Mythologen geläufigen
Auslegung, wonach Tod und Begräbniss der Götter „das Ab-
sterben der Natur“ symbolisiren soll. Vor Augen liegt zu-
nächst, dass in der Sage vom Grabe des kretischen Zeus
das „Grab“, welches einfach an die Stelle der Höhle als
ewigen Aufenthaltes des ewig lebendigen Gottes tritt, in para-
doxem Ausdruck die unlösliche Gebundenheit an den Ort be-
zeichnet. Man erinnert sich leicht der nicht minder paradoxen
Berichte von dem Grabe eines Gottes in Delphi. Unter dem
Nabelstein (Omphalos) der Erdgöttin, einem kuppelförmigen,
an die Gestalt der uralten Kuppelgräber erinnernden Bauwerk
im Tempel des Apollo 2) lag ein göttliches Wesen begraben,
als welches gelehrtere Zeugen den Python, den Gegner des
Apollo, nur ein ganz unglaubwürdiger den Dionys nennen 3).
[124] Hier hat also Ein Gott über dem Grabe des anderen seinen
Tempelsitz aufgeschlagen. Ueber dem Erdgeist Python, dem
Sohne der Erdgöttin Gaia, thront Apollo, der Wahrsagegott.
Da uns alte und höchst glaubwürdige Ueberlieferungen sagen,
dass in Delphi einst ein altes Erdorakel bestand, an dessen
Stelle sich erst später Apollo und seine Art der Mantik setzte,
so darf man glauben, dass es eben diese religionsgeschichtliche
Thatsache sei, die ihren Ausdruck in der Sage findet, dass
Apollos Tempel und Orakelsitz sich über der Stelle erhebe,
an welcher der alte, abgeschaffte Orakeldämon „begraben“ lag 1).
3)
[125] So lange das alterthümliche Erdorakel in Kraft stand, wird
auch dessen Hüter nicht todt und begraben unter dem Om-
phalos der Erdgöttin gelegen, sondern lebendig dort gehaust
haben, in der Erdtiefe, wie Amphiaraos, wie Trophonios, wie
Zeus im Ida.
Das „Grab“ unter dem Omphalos bedeutet in dem Falle
des Python die Ueberwindung des in der Erdtiefe hausenden,
chthonischen Dämons durch den Apollinischen Cult. Das „Grab“
des Zeus, welches sich der älteren Sage vom Aufenthalt des
Zeus in der Berghöhle untergeschoben hatte, drückt dieselbe
Vorstellung wie diese Sage aus, in einer Form, welche der
späteren Zeit, die von vielen „Heroen“ wusste, die nach
ihrem Tode und aus ihrem Grabe hervor höheres Leben und
mächtige Wirksamkeit spüren lassen, geläufig war. Der ge-
storbene und begrabene Zeus ist ein zum Heros herabgesetzter
Gott 1); wunderlich und paradox ist einzig, dass dieser heroi-
1)
[126] sirte Zeus nicht, wie Zeus Amphiaraos, Zeus Trophonios
(auch Zeus Asklepios) in der gewöhnlichen Vorstellung, seinen
Gottesnamen abgelegt hat, der seiner Heroisirung laut wider-
spricht. Vermuthlich ist auf diesen, somit nur halb heroisirten
Höhlenzeus eine Vorstellung nur, nach Analogie, übertragen,
die auf andere, nach alter, unverständlich gewordener Vor-
stellung in der Erdtiefe hausende Götter mit besserem Rechte
angewandt war, seit man sie völlig zu Heroen verwandelt hatte.
Von Heroen, die in Göttertempeln begraben, z. Th. mit
dem höheren Gott, dem der Tempel geweiht war, in Cult-
gemeinschaft gesetzt waren, wird uns mancherlei berichtet.
Wie solche Sagen entstehen konnten, lehrt besonders deutlich
das Beispiel des Erechtheus.
Von Erechtheus erzählt der Schiffskatalog der Ilias
(Il. 2, 546 ff.), dass die Erde ihn geboren habe, Athene
aber ihn aufnährte und ihn „niedersetzte in ihrem reichen
Tempel“ 1), wo ihn die Athener alljährlich mit Opfern von
1)
[127] Schafen und Stieren ehren 1). Offenbar ist hier Erechtheus
als fortlebend gedacht: Todte durch solche, alljährlich wieder-
holte, von der ganzen Stadtgemeinde dargebrachte Opfer zu
ehren, ist ein den homerischen Gedichten völlig unbekannter
Gebrauch. Erechtheus ist also gedacht als lebendig hausend
in dem Tempel, in welchem Athene ihn niedergesetzt hat,
d. h. in dem alten Heiligthum der Akropolis, welches einge-
schlossen war in dem „festen Hause des Erechtheus“, nach
welchem die Odyssee (7, 81) die Athene als nach ihrer Be-
hausung sich begeben lässt. Herrschersitz und Heiligthum der
Göttin waren vereinigt in der alten Königsburg, deren Grund-
mauern man kürzlich aufgefunden hat an der Stelle, an der
später im „Erechtheion“ Athene und Erechtheus gemeinsame
Ehre genossen 2). Erechtheus wohnt in der Tiefe, in einer
Krypta jenes Tempels 3), gleich anderen Erdgeistern in Schlangen-
gestalt, ewig lebendig; er ist nicht todt, sondern, wie noch
Euripides, bei sonst anders gewendeter Sage, berichtet, „ein
Erdspalt verbirgt ihn“ 4), d. h. er lebt als in die Erdtiefe
Entrückter weiter. Die Verwandlung eines alten, von jeher
in einer Höhle des Burgfelsens hausend gedachten Localgottes 5)
in den dorthin, zu ewigem Leben, erst versetzten Heros liegt,
nach den bisher betrachteten Analogien, deutlich genug vor
Augen. Der Heroenglaube späterer Zeit suchte an der Stelle,
[128] an welche das Weiterleben und Wirken eines „Heros“ gebannt
war, dessen Grab: in ganz folgerechter Entwicklung verwandelt
sich auch der lebendig entrückte und verewigte Heros Erech-
theus in einen begrabenen. Den Erichthonios, den sie
ausdrücklich mit dem homerischen Erechtheus identificiren,
lassen Spätere in dem Tempel der Polias, d. i. eben jenem
ältesten Athenetempel der Burg, begraben sein 1). Völlig
klar liegt der Stufengang der Verwandlung vor uns, durch
welchen der alte, in der Tiefe hausende Stammgott, der Sohn
der Erde, zum sterblichen, aber zu ewigem Leben entrückten
Helden gemacht, in den Schutz der mächtiger gewordenen
olympischen Göttin gestellt, mitsammt seinem Höhlensitz in
deren Tempelbereich hineingezogen, endlich gar zu einem Heros
wie andere auch herabgedrückt wird, der gestorben und im
Frieden des Tempels der Burggöttin begraben sei.
Nach diesem Vorbilde wird man einige Berichte deuten
dürfen, in denen uns nur der letzte Punct der Entwicklung,
das Heroengrab im Tempel eines Gottes, unmittelbar gegeben
ist. Ein einziges Beispiel möge noch betrachtet werden.
Zu Amyklae unweit von Sparta, in dem heiligsten Tempel
des lakonischen Landes, stand das alterthümliche Erzbild des
Apollo über einem Untersatz in Altarform, in welchem, berichtete
die Sage, Hyakinthos begraben lag. Durch eine eherne Thüre
an der Seite des Altars sandte man alljährlich an den Hya-
kinthien dem „Begrabenen“ Todtenopfer hinab 2). Der so Ge-
[129] ehrte hatte keine Aehnlichkeit mit dem zarten Jüngling, von
dessen Liebesbund mit Apollo, Tod durch einen Diskoswurf
des Gottes und Verwandlung in eine Blume Dichter der helle-
nistischen Zeit eine, aus lauter geläufigen Motiven zusammen-
gesetzte, fast aller localen Beziehungen baare Fabel erzählen 1).
Die Bildwerke an jenem Altare stellten unter mancherlei
Göttern und Heroen den Hyakinthos dar, wie er sammt seiner
Schwester Polyboia in den Himmel hinaufgetragen wurde (wo-
mit die Verwandlungsfabel nicht stimmen will), und zwar war
er bärtig dargestellt, also nicht als jener geliebte Knabe des
Apoll, sondern als reifer Mann (von dessen Töchtern zudem
andere Sagen berichten 2]). Von der ächten Sage von diesem
2)
Rohde, Seelencult. 9
[130] Hyakinthos hat sich kaum eine Spur erhalten; es schimmern
aber dennoch durch die Berichte von jenem Denkmal und von
dem alljährlich zu Ehren des Hyakinthos begangenen Feste
Züge durch, welche vielleicht den wahren Charakter des in
Amyklae mit und, wie ausdrücklich berichtet wird, vor Apollo 1)
geehrten Dämons erkennen lassen. Man brachte dem Hya-
kinthos Opfer von der Art derer, die sonst den in der Unterwelt
waltenden Gottheiten gewidmet wurden 2) und sandte die Opfer-
gaben unmittelbar in die Tiefe hinab, in der man also den
Hyakinthos selbst sich hausend dachte. Das grosse Fest der
Hyakinthien zeigte in der Art, wie abwechselnd an ihm Hya-
kinthos (nach dem, als der Hauptperson, das Fest benannt
war) und Apollo verehrt wurden, deutlich die nicht zu rechter
Verschmelzung gediehene Vereinigung zweier ursprünglich ganz
verschiedener Culte, und liess in der schmucklos ernsten, fast
düsteren Feier der dem Hyakinthos geweiheten Tage, im Gegen-
satz zu der heiteren Verehrung des Apoll am mittleren Fest-
tag 3), den Charakter des Hyakinthos als eines den unterirdi-
2]
[131] schen Göttern verwandten Dämons deutlich hervortreten. Auf
den Bildwerken des Altars war denn auch als seine Schwester
dargestellt Polyboia, eine der Persephone ähnliche unterweltliche
Gottheit 1). Hyakinthos war ein alter, unter der Erde hausender
Localgott der Amykläischen Landschaft, sein Dienst in Amyklae
älter als der des Apollo. Aber seine Gestalt ist verblasst, der
olympische Gott, der sich (vielleicht erst nach der dorischen
Eroberung des achäischen Landes) neben und über dem alten
Erdgeiste festgesetzt hat, überstrahlt ihn, ohne doch seine Ver-
ehrung ganz zu verdrängen; sein göttliches Leben in der Tiefe
kann sich die spätere Zeit nur wie das Fortleben der Psyche
eines sterblichen und gestorbenen Heros denken, dessen Leib
im „Grabe“ ruht unter dem Bilde des Gottes, den, um die
enge Cultgemeinschaft zu erklären, Dichtersage zu seinem Lieb-
haber macht, wie sie denselben Gott aus ganz ähnlichem Grunde
zum Liebhaber der Daphne gemacht hat 2).
So mag unter der Gestalt noch manches Heros, dessen
Grab man in dem Tempel eines Gottes zeigte, ein alter Local-
gott sich verbergen, dessen Wohnung im Inneren der Erde zum
„Grabe“ umgedeutet wurde, seit er selbst aus einem göttlichen
Wesen höheren Ranges zum sterblichen Helden herabgesetzt
war 1). Von besonderen Umständen hing es ab, ob die Ent-
götterung eine vollständige wurde, ob etwa eine (im Localcult
erhaltene) Erinnerung an die alte Gottnatur eine nachträgliche
Wiedererhebung in’s Götterreich 2), wohl gar zu den, dem alten
Erddämon ursprünglich fremden olympischen Göttern bewirkt
hat. In der auffälligsten Weise spielen die nach örtlichen und
zeitlichen Verhältnissen wechselnden Auffassungen durcheinander
in den Vorstellungen von Asklepios. Dem Homer und den
Dichtern überhaupt gilt er als sterblicher Held, der die Heil-
kunst von Chiron erlernt habe. Im Cultus wird er zumeist
den oberen Göttern gleichgestellt. In Wahrheit ist ursprüng-
lich auch er ein in der Erde hausender thessalischer Ortsdämon
gewesen, der aus der Tiefe, wie viele solche Erdgeister, Heilung
von Krankheiten, Kenntniss der Zukunft 3) (beides in alter Zeit
eng verbunden) heraufsandte. Auch er hat den Uebergang zum
Heros leicht gemacht. Den Heros Asklepios trifft des Zeus
Blitzstrahl, der hier wie in manchen anderen Sagen nicht das
Leben völlig vernichtet, sondern den Getroffenen zu erhöhetem
Dasein aus der sichtbaren Welt entrückt 4). Wir verstehen
[133] jetzt leicht, was es heissen will, wenn dann auch dieser alte
Erdgott „begraben“ heisst: man zeigte sein Grab an verschie-
denen Orten 1). Den ursprünglichen Charakter des Asklepios
als eines im Erdinneren hausenden Gottes lassen noch manche
Eigenthümlichkeiten des ihm dargebrachten Cultus erkennen 2).
4)
[134] Es fehlt ihm freilich eine wesentliche Eigenschaft solcher Erd-
geister: die Gebundenheit an die bestimmte Stätte. Eine unter-
nehmende Priesterschaft hatte seinen Dienst weit verbreitet und
damit den Asklepios selbst an vielen Orten heimisch gemacht.
Ihm, dem Zeus Asklepios, auf’s Innigste verwandt, aber
ihrem ursprünglichen Charakter treuer geblieben sind jene böoti-
schen Erdgeister, von denen unsere Betrachtung ausging. Tro-
phonios, aber auch Amphiaraos, könnte man einen am Boden
und in seiner alten Höhlenbehausung haften gebliebenen As-
klepios nennen 1). Auch sie, Amphiaraos und Trophonios, sind
zu sterblichen Menschen der Vorzeit geworden in der Phantasie
einer Zeit, welche die wahre Art solcher Höhlengeister nicht
mehr fasste; aber man hat nie von ihren „Gräbern“ geredet,
weil die Zeit, die sie heroisirte, noch nichts wusste von mensch-
lichen Helden, die, gestorben und begraben, dennoch lebendig
und wirksam geblieben wären. Der Glaube aber an die ununter-
brochene Wirksamkeit war es, der jene seltsamen Höhlengötter
im Gedächtniss der Menschen erhielt. Sie gelten der epischen
und vom Epos inspirirten Sage als menschliche Wesen, nicht
gestorben, sondern ohne Trennung von Leib und Seele in die
2)
[135] Erdtiefe zu ewigem Leben entrückt. Und aller Zukunft haben
sie, auch wo man ihnen nicht nur ewiges Leben zusprach,
sondern sie geradezu Götter nannte, als Menschen gegolten,
die unsterblich oder gar den Göttern gleich erst geworden
seien 1). Und sie sind Vorbilder geworden eines Zustandes,
zu dem auch andere Sterbliche wohl erhöhet werden könnten.
In der Elektra des Sophokles (v. 836 ff.) beruft sich der
Chor, um die Hoffnung auf Fortdauer des Lebens der Ab-
geschiedenen zu bekräftigen, ausdrücklich auf das Beispiel des
Amphiaraos, der noch jetzt unter der Erde mit vollen Seelen-
kräften walte. Darum eben sind diese und andere, von der
alten Sage und Dichtung dargebotenen Beispiele von „Höhlen-
entrückung“ einzelner Helden auch für unsere Betrachtung
wichtig: in ihnen, wie nach anderer Richtung in den Sagen von
der Inselentrückung, weist das Epos selbst hinaus über seine
trübe und resignirte Vorstellung vom Dasein nach dem Tode
auf ein erhöhetes Leben nach dem Abscheiden aus dem Reiche
des Sichtbaren. Indem es einzelne unter den einst zahlreich
in griechischen Landschaften verehrten Höhlengöttern ihrer
ursprünglichen Göttlichkeit entkleidete, zu menschlicher Natur
herabzog und in die Heldensage verflocht, ihr übermenschliches
Weiterleben und (besonders mantisches) Wirken aber, wie es
Glaube und Cult der Landesbewohner behauptete, nicht auf-
hob, schuf es eine Classe von menschlichen Helden, die zu
göttlichem Leben erhöhet, von der Oberwelt zwar geschieden,
aber nicht dem allgemeinen Seelenreich zugetheilt waren, son-
[136] dern in unterirdischen Wohnungen an einer ganz bestimmten
Stelle einer griechischen Landschaft hausten, menschlichem
Leben hülfreich nahe. Die Herabziehung des Göttlichen in’s
Menschlich-Heroische schlug, da die Eigenschaft des ewigen
Fortlebens nicht abgestreift wurde, in eine Steigerung des
Menschlichen und Heroischen in das Göttliche um. So leitet
uns die epische Dichtung nahe heran an ein Reich von Vor-
stellungen, das sie selbst freilich, als wäre es nicht vorhanden,
nie betritt, und das nun plötzlich vor uns auftaucht.
Als um das Jahr 620 Drakon zu Athen das Gewohnheits-
recht seiner Vaterstadt zum ersten Mal in schriftlicher Auf-
zeichnung zusammenfasste, gab er auch die Weisung, die
Götter und die vaterländischen Heroen gemeinsam zu verehren
nach dem Brauch der Väter 1).
Hier zum ersten Mal begegnen uns als Wesen höherer
Art, neben den Göttern genannt, und gleich diesen durch regel-
mässige Opfer zu verehren, die Heroen. Ihr Cult, ebenso
wie der Göttercult, wird als längst bestehend vorausgesetzt; er
soll nicht neu eingerichtet werden, sondern nur erhalten bleiben,
wie ihn väterliche Satzungen gestaltet haben. Wir sehen hier,
an einem wichtigen Wendepunkte griechischer Religionsent-
wicklung, wie mangelhaft unsere Kenntniss der Geschichte
religiöser Ideen in Griechenlands älterer Zeit ist. Dieses
früheste, uns zufällig erhaltene Zeugniss von griechischem
Heroencult weist über sich selbst hinaus und zurück auf eine
lange Vorzeit der Verehrung solcher Landesschutzgeister; aber
wir haben kaum irgend eine Kunde hiervon aus älterer Zeit 2).
[138] Wir würden auch aus den geringen Resten der so bedeuten-
den Litteratur, namentlich der lyrischen Dichtung des 7. und
beginnenden 6. Jahrhunderts kaum eine Ahnung von dem
Vorhandensein dieses, dem Epos ganz fremden Elementes des
religiösen Lebens der Griechen gewinnen 1). Wo endlich der
Strom der bis auf unsere Zeit gelangten Litteratur breiter fluthet,
ist freilich auch von Heroen oft die Rede. Pindars Siegeslieder
und Herodots Geschichtswerk vertreten die Generationen, welche
die Perserkriege und die nächsten fünfzig Jahre durchlebten.
Sie lassen mit überraschender Bestimmtheit erkennen, wie
lebendig damals der Glaube an Dasein und Wirksamkeit der
Heroen auch bei gebildeten, aber von der neumodischen Auf-
klärung wenig berührten Männern war. Im Glauben des
Volkes, in der Religionsübung der Stämme und Städte haben
die heimischen Heroen neben den Göttern ihre unbestrittene
feste Stelle. Bei den Göttern und den Heroen des Landes
schwören die Vertreter der Staaten ihre Eide 2); die Götter
und Heroen Griechenlands sind es, denen frommer Sinn den
Sieg über die Barbaren zuschreibt 3). So anerkannt war die
Gültigkeit des griechischen Heroenglaubens, dass selbst die
persischen Magier im Heere des Xerxes in Troas den dort
begrabenen Heroen nächtliche Trankopfer darbrachten 4).
Fragt man nach Art und Natur dieser dem Epos noch
unbekannten Gattung höherer Wesen, so giebt uns hierüber
Auskunft zwar keine ausdrückliche Wesensbestimmung aus
alter Zeit, wohl aber Vieles, was uns von einzelnen Heroen
erzählt wird, und vor Allem das, was uns von der besonderen
Weise der religiösen Verehrung der Heroen bekannt ist.
Die Heroen wurden mit Opfern verehrt, so gut wie die
Götter; aber diese Opfer waren sehr verschieden von den
Gaben, die man den Olympiern darbrachte 1). Zeit, Ort und
Art sind andere. Man opferte den Göttern am hellen Tage,
den Heroen gegen Abend oder Nachts 2); nicht auf hohem
Altar, sondern auf niedrigem, dem Erdboden nahen, bisweilen
hohlen Opferheerd 3). Schwarzfarbige Thiere männlichen Ge-
schlechts schlachtete man ihnen 4), denen man nicht, wie den
für Götter bestimmten Opferthieren, den Kopf nach oben, zum
Himmel wendet, sondern auf den Boden drückt 5). Das Blut
der Thiere lässt man auf den Boden oder auf den Opferheerd
rieseln, den Heroen zur „Blutsättigung“ 6); der Leib wird
völlig verbrannt, kein lebender Mensch soll davon geniessen 7).
[140] Diese besondere Art der Heroenverehrung wird denn auch,
wo genau geredet wird, nicht mit demselben Worte wie die
Opfer für Götter bezeichnet 1). Bei besonderen Gelegenheiten
wird den Heroen ein Opfermahl aus gekochten Speisen hin-
gestellt, zu dem man sie zu Gaste ladet 2); sie sind in Erden-
nähe, nicht braucht man ihnen, wie den Olympiern, den Duft
der Opfergaben im Dampf nach oben zu schicken.
Dieses Opferritual ist gerade da, wo es von dem bei Ver-
ehrung der olympischen Götter üblichen verschieden ist, fast
völlig identisch mit der Weise, in der man die im Inneren der
Erde wohnenden Gottheiten und in späterer Zeit auch die
Seelen verstorbener Menschen verehrte; es wird voll verständ-
lich, wenn wir die Heroen als nahe verwandt den chthonischen
Göttern einerseits, den Todten andererseits erkennen. In der
That sind sie nichts anderes als die Geister verstorbener
Menschen, die im Inneren der Erde wohnen, ewig leben gleich
den Göttern da drunten und diesen an Macht nahe kommen.
Deutlich bezeichnet ihre Natur als verstorbener, aber der Em-
pfindung nicht beraubter Helden der Vorzeit eine Art der
Verehrung, die ihnen und ursprünglich nur ihnen dargebracht
wurde, die in regelmässiger Wiederkehr alljährlich gefeierten
Leichenspiele.
Wettkämpfe der Fürsten beim Begräbniss eines vornehmen
Todten kennt Homer: wir haben sie unter den, in epischer
Darstellung erhaltenen Ueberresten alten gewaltigen Seelen-
7)
[141] cultes erwähnt 1). Aber Homer weiss nichts von einer
Wiederholung, und gar einer alljährlich wiederholten Feier
solcher Leichenspiele 2). Regelmässig nach Ablauf einer be-
stimmten Frist neu begangene Festagone gab es in Griechen-
land erst, seit der Heroencult in Blüthe stand. Viele dieser
Wettspiele waren für immer mit den Jahresfesten einzelner
Heroen verbunden und bestimmt, deren Andenken zu feiern 3).
Noch in geschichtlich erkennbaren Zeiten sind, meist auf Ge-
heiss des delphischen Orakels, zu Ehren von Heroen jährliche
Kampfspiele eingerichtet worden 4). Es war die besondere Art
der Verehrung, die den Heroen zukam, und man wusste ganz
gut, dass man in solchen Spielen die Leichenfeier eines Ver-
storbenen wiederholte 5). Im Heroencult hat die für griechisches
Leben so eigen charakteristische, als Schule des Individualismus,
der Griechenland gross gemacht hat, bedeutende Einrichtung
des „Agon“ seine erste Wurzel; nicht sinnlos war es, dass
nachmals viele der Sieger an den grossen Agonen selbst durch
den Volksglauben in die Schaar der Heroen emporgehoben
wurden. Die höchsten, ganz Griechenland versammelnden
Agone der Pythien, Olympien, Nemeen, Isthmien sind in hi-
storisch bekannten Zeiten allerdings Göttern zu Ehren gefeiert
[142] worden; dass aber auch sie ursprünglich als Leichenspiele für
Heroen eingesetzt und erst nachträglich höheren Schutzherren
geweiht worden seien, war wenigstens im Alterthum allgemeine
Ueberzeugung 1).
Die Heroen sind also Geister Verstorbener, nicht etwa
eine Art Untergötter oder „Halbgötter“ 2), ganz verschieden
[143] von den „Dämonen“, wie sie spätere Speculation und dann
auch wohl der Volksglaube kennt. Diese sind göttliche Wesen
niederer Ordnung, aber von jeher des Todes überhoben, weil
sie nie in das endliche Leben der Menschen eingeschlossen
waren. Die Heroen dagegen haben einst als Menschen gelebt,
aus Menschen sind sie Heroen geworden, erst nach ihrem
Tode 1). Nunmehr sind sie in ein erhöhetes Leben eingetreten,
als eine besondere Classe der Wesen, die neben Göttern und
Menschen genannt wird 2). In ihnen treffen wir an, was den
homerischen Gedichten ganz fremd war, Seelen, die nach
dem Tode und der Trennung vom Leibe ein höheres, ewiges
Leben haben.
Aber wenn die Heroen aus Menschen geworden sind, so
werden doch nicht alle Menschen nach dem Tode zu Heroen.
Vielmehr, wenn auch die Schaar der Heroen nicht eine fest
begrenzte ist, wenn sie auch stetig ihre Reihen vermehrt —
die Heroen bilden eine Ausnahme, eine auserwählte Minder-
2)
[144] heit, die eben darum den Menschen schlechtweg entgegen-
gesetzt werden kann. Die Hauptgestalten, man kann sagen,
die vorbildlichen Vertreter dieser Heroenschaar sind Menschen,
deren Leben Sage oder Geschichte in ferne Vorzeit setzte,
Vorväter der später Lebenden. Nicht also Seelencult ist der
Heroendienst, sondern, in engerer Begrenzung, ein Ahnen-
cult. Ihr Name schon, so scheint es, bezeichnet die „Heroen“
als Menschen der Vorzeit. In Ilias und Odyssee ist „Heros“
ehrenvolle Benennung der Fürsten, auch freier Männer über-
haupt 1). Die Poesie späterer Jahrhunderte, soweit sie sich
in der Erzählung von Ereignissen der sagenhaften Vorzeit
bewegt, führt auch das Wort Heros in diesem Sinne in ihrem
Sprachgebrauch weiter. Stellt sich aber, in nachhomerischer
Zeit, der Redende, Dichter oder Prosaiker, auf den Standpunct
seiner eigenen Gegenwart, so sind ihm Heroen, soweit er
lebende Menschen mit diesem Namen bezeichnet, Menschen
jener Zeiten, in denen, nach Ausweis der homerischen Ge-
dichte, dieser Ehrentitel unter Lebenden noch üblich gewesen
zu sein schien, d. h. Menschen der von den Dichtern gefeierten
Vergangenheit2). In der hesiodischen Erzählung von den
[145] fünf Geschlechtern der Menschheit ist die Verwendung des
Heroennamens eingeschränkt auf die Helden der Kämpfe um
Theben und Troja: wie mit ihrem besonderen Namen werden
diese als „der Heroen göttliches Geschlecht“ bezeichnet 1).
Dem Hesiod sind „Heroen“ noch keineswegs verklärte Todte
der Vergangenheit 2). Er weiss wohl von solchen verklärten
Todten noch fernerer Vorzeit, aber diese nennt er „Dämonen“.
Wenn man nun in der folgenden Zeit jene begünstigten Ein-
zelnen, denen nach dem Tode erhöhetes Leben zu Theil wird,
„Heroen“ zu nennen sich gewöhnt, so soll dieser Name, in
welchem an sich eine Bezeichnung der höheren Natur solcher
abgeschiedenen Geister nicht liegt, wahrscheinlich ausdrücken,
dass man die Zeit des Lebens der nach dem Tode also Pri-
vilegirten in eine sagenhafte Vergangenheit legte. Wie sie einst
im Leben „Heroen“ hiessen, die Menschen der Vergangenheit,
so nennt man sie jetzt auch nach ihrem Tode. Aber der
Begriff des Wortes „Heros“ ist geändert, die Vorstellung un-
sterblichen, erhöheten Lebens hineingelegt. Als etwas Neues,
als eine Form des Glaubens und Cultus, von der wenigstens
die homerischen Gedichte keine Ahnung geben, tritt die Heroen-
verehrung hervor, und es muss wohl die Vorstellung solcher,
zu höherem Dasein verklärten Ahnenseelen etwas Neues an
sich gehabt haben, wenn man doch zu ihrer Bezeichnung kein
eigenes Wort alter Prägung vorfand, sondern ein längst vor-
handenes Wort des epischen Sprachschatzes in einem neuen
Sinne verwenden musste.
Woher entsprang dieses Neue? Sollte man es aus einer
ungehemmten Weiterentwicklung homerischer Weltvorstellung
ableiten, so würde man sehr in Verlegenheit um die Nach-
Rohde, Seelencult. 10
[146] weisung eines Bindegliedes zwischen zwei so weit getrennten
Vorstellungsweisen sein. Es würde nichts helfen, wenn man
sagte, der Glanz der epischen Dichtung habe die von diesen
Gefeierten so herrlich und ehrwürdig erscheinen lassen, dass
sie ganz natürlich in der Phantasie der späteren Geschlechter
sich zu Halbgöttern erhöhet hätten und als solche verehrt
worden seien. Die homerische Dichtung, alle Vorstellungen
von wahrem, bewusstem und thatkräftigem Leben der Seele
nach dem Tode streng abschneidend, konnte wahrlich nicht auf-
fordern, gerade ihre Helden, die ja todt und fernab zum Reiche
des Hades entschwunden sein sollten, als fortlebend und aus
ihren Gräbern heraus wirkend sich zu denken. Auch ist es
durchaus unwahrscheinlich, dass in der geschichtlichen Ent-
wicklung es gerade die Helden der epischen Dichtung gewesen
seien, von deren Verehrung der Heroencultus ausging: im
Cultus wenigstens haben (mit geringen Ausnahmen) diese keines-
wegs besonders tiefe Wurzeln geschlagen. Und dass ein Cultus
überhaupt aus den Anregungen der Phantasie, wie das Epos
sie bot, zuerst habe entstehen können, ist an sich schon wenig
einleuchtend. Der Cultus aber ist es, auf welchem der Heroen-
glaube eigentlich beruht.
Deutlich ist vielmehr, nach allem bisher Ausgeführten,
der Gegensatz des Heroenglaubens zu homerischen Vor-
stellungen. Der phantastische Gedanke der Inselentrückung,
auch der Höhlenentrückung einzelner Menschen, vertrug sich
noch mit den Voraussetzungen homerischer Eschatologie; bei
der wunderbaren Erhaltung gottgeliebter Menschen in ewigem
Leben trat mit der Bedingung der Trennung von Seele und
Leib auch deren Folge nicht ein. Anders das, was man von
den Heroen glaubte: eine Fortsetzung des bewussten Daseins,
in der Nähe der Lebendigen, nach dem Tode, nach und trotz
dem Abscheiden der Psyche vom sichtbaren Menschen. Dies
widerstritt geradezu homerischer Psychologie. Wir müssten
gänzlich darauf verzichten, diesen neuen Glauben mit der
früheren Entwicklung in irgend einen inneren Zusammenhang
[147] zu bringen — wenn wir uns nicht dessen erinnerten, was uns
unsere bisherige Betrachtung gelehrt hat. In den homerischen
Gedichten selbst, von den sonst in diesen herrschenden Vor-
stellungen von der Nichtigkeit der abgeschiedenen Seelen auf-
fallend abstechend, waren uns Rudimente eines einst sehr leben-
digen Seelencultes entgegengetreten, die einen entsprechenden
Glauben an bewusstes Fortleben der Seele, an deren nicht
völliges Abscheiden aus der Nähe der Lebenden voraussetzten.
Aus der Betrachtung der hesiodischen Schilderung der fünf
Geschlechter der Menschen ergab sich, dass in der That Reste
eines alten Glaubens an erhöhetes Weiterleben Verstorbener,
von dem Homer keine deutliche Spur mehr zeigte, sich min-
destens in einzelnen Gegenden des binnenländischen Griechen-
lands erhalten hatten. Aber nur die Verstorbenen sagenhafter
Urzeit galten dem Hesiod als erhöhet zu „Dämonen“; aus
späterer Zeit und gar aus seiner eigenen Gegenwart weiss der
Dichter nichts von solchen Wundern zu berichten. Spuren
also eines Ahnencultes begegneten uns hier; ein allgemeiner
Seelencult, sonst die natürliche Fortsetzung des Ahnencultes,
fehlte. Ein allgemeiner Seelencult ist es denn auch nicht,
sondern ein Ahnencult, der uns in der Heroenverehrung ent-
gegentritt. Und so dürfen wir es aussprechen: in dem Heroen-
wesen sind die noch glimmenden Funken alten Glaubens zur
neuen Flamme angefacht; nicht ein völlig und unbedingt Neues
und Fremdes tritt hervor, sondern ein längst Vorhandenes,
halb Vergessenes ist wieder belebt worden. Jene „Dämonen“,
aus Menschen früherer Geschlechter, des goldenen und silbernen,
entstanden, deren Lebenszeit die hesiodische Dichtung in graues
Alterthum zurückgeschoben hatte, was sind sie anders als die
„Heroen“, welche die spätere Zeit verehrte, nur unter einem
anderen Namen und an die eigene Gegenwart näher herangezogen?
Wie es nun freilich kam, dass der Ahnencult aus halber
und mehr als halber Vergessenheit zu neuer und dauernder
10*
[148] Bedeutung sich wieder erhob, das können wir nicht sagen.
Eine eigentliche, den Grund und Gang dieses wichtigen
Processes im griechischen Religionsleben nachweisende Erklä-
rung ist uns unmöglich. Wir kennen weder Zeit noch Ort des
ersten stärkeren Hervortretens des neu belebten alten Cultus,
nicht die Art und den Weg seiner Ausbreitung in jener dunklen
Zeit des 8. und 7. Jahrhunderts. Wir können aber wenig-
stens die Thatsache der Neubelebung des Ahnencultes in Eine
Reihe stellen mit anderen Thatsachen, die uns lehren, dass
in jenen Zeiten aus der Tiefe des Volksglaubens und eines
nie völlig verdrängten alten Götterdienstes manche bis dahin
verborgene oder verdunkelte Vorstellung über Götter- und
Menschenloos die herrschenden homerischen Anschauungen zwar
nicht verdrängte — denn das ist nie geschehen — aber doch
ihnen sich an die Seite stellte. Jene grosse Bewegung, von
der im nächsten Abschnitt einiges zu sagen ist, trug auch den
Heroenglauben empor. Mancherlei begünstigende Umstände
mögen im Besonderen diesen Glauben neu gestärkt haben. Das
Epos selbst war wenigstens an Einem Puncte nahe an die im
Heroenglauben neu auflebenden Vorstellungen heran gekommen.
Die Herabziehung vieler, durch die grossen Gottheiten des
allgemein hellenischen Glaubens verdunkelten Localgötter in
Menschenthum und heroische Abenteuer hatte in einigen Fällen,
in Folge einer Art Compromisses mit dem localen Cult solcher
Götter, die Dichtersage zur Erschaffung eigenthümlicher Ge-
stalten geführt, in denen Mensch und Gott wunderbar gemischt
war: einst Menschen unter Menschen sollten nun, nach ihrem
Abscheiden, diese alten Helden und Seher ewig leben und
wirken, wie die Götter. Man sieht wohl die grosse Aehnlich-
keit solcher Gestalten wie Amphiaraos und Trophonios mit den
Heroen des späteren Glaubens; in der That werden beide, wo
sie nicht Götter heissen, vielfach zu diesen Heroen gerechnet.
Und so mag noch manche der, von den Dichtern herab in’s
Menschliche gezogenen alten Göttergestalten später in der
Schaar der „Heroen“ eine Stelle gefunden haben. Aber man
[149] würde sehr irren, wenn man meinte, aus diesen von Dichtern
und der von den Dichtern geleiteten Phantasie des Volkes
depotenzirten Göttern sei die Heroenwelt erwachsen. Die
meisten der also ihrer Göttlichkeit entkleideten Götter waren
zu Menschen gemacht, denen auch nach dem Tode bewusstes
Geisterleben und Wirksamkeit nicht zukam, aus deren Art
also gerade das, was das Wesen der „Heroen“ ausmacht, sich
nicht erzeugen konnte. Jene zu ewig fortlebenden Helden um-
gewandelten alten Erdgötter aber, deren Hauptvertreter Am-
phiaraos ist, sind doch nur unächte „Heroen“; Vorbilder für
die wahren Heroen können auch sie nicht geworden sein. Sie
sind ja lebendig entrückt, und leben weiter, eben weil sie den
Tod nicht geschmeckt haben. Sie, mit den Inselentrückten zu-
sammen, zeigen die Unsterblichkeit in der Form, die homerische
Dichtung allein kennt. Die Heroen des neuen Glaubens da-
gegen sind völlig gestorben; des Leibes ledig, leben sie dennoch
fort. Von den Entrückten der epischen Sage sind sie von
Grund aus verschieden. Aus undeutlich dämmernder Erinne-
rung treten sie als etwas, der vom Epos beeinflussten Vor-
stellung Fremdes, ja ihr Entgegengesetztes hervor.
Nicht aus dichterischen Bildern und Geschichten hat sich
das Heroenwesen entwickelt, sondern aus den Resten eines
alten, vorhomerischen Glaubens, die der locale Cultus lebendig
erhalten hatte.
Ueberall knüpft sich die Verehrung eines Heros an die
Stätte seines Grabes. Das ist die allgemeine Regel, die sich
in ungezählten einzelnen Fällen bestätigt. Darum ist, wo ein
Heros besonders hoher Verehrung geniesst, sein Grab, als der
Mittelpunct dieser Verehrung, an ausgezeichneter und auszeich-
nender Stelle errichtet, auf dem Marktplatz der Stadt, im
Prytaneum 1), oder, wie das Grab des Pelops in der Altis zu
[150] Olympia, recht inmitten des heiligen Bezirks und seines Fest-
verkehrs 1). Oder man legte das Grab des Heros, der Stadt
und Land schützt, in das Thor der Stadt, oder an die äusserste
Grenze des Landes 2). Wo das Grab ist, da hält man den
Heros selbst fest, das Grab ist sein Aufenthalt 3): diese Vor-
stellung gilt überall, wenn sie sich auch nicht überall so derben
Ausdruck gab wie in Tronis im Phokerlande, wo man dem
Heros das Opferblut durch eine Röhre unmittelbar in seinen
Grabhügel hineingoss 4). Die Voraussetzung ist dabei in der
Regel diese, dass das Heroengrab die Gebeine des Heros ent-
halte. Die Gebeine, jeder Rest seiner Leiblichkeit, fesseln
den Heros an das Grab. Daher, wenn es galt, einen Heros
und seine schützende Macht an die Stadt zu binden, man viel-
fach, auf Geheiss des Orakels, die Gebeine des Heros oder
1)
[151] was man dafür nahm, aus der Ferne holte und in der Heimath
beisetzte. Manche Berichte erzählen uns von solchen Reliquien-
versetzungen 1). Die meisten fallen in dunkle Vorzeit; aber im
hellsten Licht der Geschichte liess ja, im Jahre 476, das auf-
geklärte Athen die Gebeine des Theseus von Skyros einholen 2),
[152] und erst als diese im Theseion beigesetzt waren, war auch
Theseus völlig an Athen gefesselt.
Weil der Besitz der körperlichen Ueberreste 1) eines Heros
auch den Besitz des Heros selbst verbürgte, schützten sich die
Städte vielfach vor Fremden, die ihnen die kostbaren Gebeine
entführen konnten, durch Geheimhaltung der Grabstätte 2). Ein
Grab ist immer nöthig, um den Heros an der bestimmten Stelle
festzuhalten, zum mindesten ein „leeres Grabmal“, mit dem
2)
[153] man sich bisweilen begnügen musste 1). In solchen Fällen dachte
man ihn sich vielleicht durch einen Zauber an jene Stelle
gebunden 2). Sonst ist es der Rest seines ehemaligen Leibes,
der ihn gebannt hält. Auch dieser Rest ist noch ein Stück
des Heros selbst; wenn auch todt und eine Mumie, heisst es
einmal 3), wirkt und handelt er immer noch; seine Psyche, sein
unsichtbarer Doppelgänger schwebt nahe der Leiche und dem
Grabe.
Dies sind durchweg sehr uranfängliche Vorstellungen, wie
sie sich sonst bei Völkern erhalten haben, die bei unentwickelter
Bildung auf niedrigem Standpunct stehen geblieben sind 4).
Finden wir solche unter Griechen der nachhomerischen Zeit
wirksam, so werden wir nicht glauben wollen, dass sie damals,
die Helligkeit und Freiheit der Menschen jener homerischen
Welt ablösend, sich ganz neu und zum ersten Mal entwickelt
hätten. Sie sind nur unter dem homerischen Rationalismus,
der sie früher verdeckte, neu hervorgedrungen. Man möchte
meinen, so, wie eben die dem Heroenglauben zu Grunde liegen-
den Vorstellungen gezeichnet sind, habe schon der Wahnglaube
der Griechen jener Urzeit ausgesehen, die in Mykenae und
anderswo die Leichen ihrer Fürsten so eifrig (wie es scheint,
sogar durch Einbalsamirung 5]) der Vernichtung zu entziehen
[154] bemüht war, ihnen Schmuck und Geräthe in’s Grab mitgab,
wie zu künftigem Gebrauch und Genuss. Es ist oben aus-
geführt worden, wie in den Zeiten, deren Abbild uns Homers
Gedichte geben, nächst dem Umschlag der Gesinnung, auch
die Gewöhnung an die völlige Vernichtung des Leichnams durch
Feuer den Glauben an das Haften der Seele im Diesseits, an
den Ueberresten der Leiblichkeit schwächen musste. Völlig
abgestorben ist dieser Glaube dennoch nicht. Er erhielt sich,
vielleicht eine Zeit lang nur in engeren Kreisen, lebendig da,
wo ein Gräbercult sich erhielt, der zwar nicht auf Verstorbene
neuerer Zeit sich ausdehnte, aber die längst bestehende Ver-
ehrung grosser Todten der Vergangenheit nicht völlig erlöschen
liess. Ueber den Königsgräbern auf der Burg zu Mykenae
stand ein Opferheerd 1), der von der Fortsetzung alten Cultes
der dort Begrabenen Zeugniss giebt. Der homerische Schiffs-
katalog erwähnt des „Grabes des Aepytos“, eines alten arkadi-
schen Landeskönigs, wie eines Mittelpunctes der Landschaft 2):
lässt das nicht an Heilighaltung jenes Grabes denken? Man
zeigte und verehrte allerdings an vielen Orten Gräber solcher
Heroen, die ihr Dasein nur dichterischer Phantasie verdankten,
oder wohl gar nur leere Personificationen waren, abstrahirt
aus den Namen von Orten und Ländern, deren Urväter sie
sein sollten. In solchen Fällen war der Heroendienst zum
Symbol, vielleicht vielfach zu einer kahlen Formalität geworden.
Aber von solchen Fictionen eines Ahnencultes kann der Heroen-
gräberdienst nicht ausgegangen sein, sie selbst sind nur Nach-
ahmungen eines lebensvolleren Dienstes, eines Cultus wirklicher
Ahnen. Hätte ein solcher Cult nicht in thatsächlicher Aus-
übung vor Augen gestanden, so bliebe unbegreiflich, wie man
auf die Nachbildung eines Ahnencultes in der Verehrung blosser
[155] Gedankengeschöpfe verfallen konnte. Die Nachbildung lässt
ein Urbild, das Symbol das gleichzeitige oder frühere Vor-
handensein der entsprechenden Wirklichkeit voraussetzen. Wir
wüssten gewiss mehr von dem Ahnencult in alten Königs-
geschlechtern, wenn nicht in fast allen griechischen Staaten das
Königthum frühzeitig verdrängt und seine Spuren verwischt
worden wären. Einzig Sparta mag uns eine Vorstellung geben
von dem, was einst an allen Sitzen königlicher Herrschaft her-
kömmlich sein mochte. Starb dort ein König, so wurde seine
Leichenfeier mit ausschweifendem Prunke begangen, sein Leich-
nam (den man, selbst wenn der Tod in der Fremde eingetreten
war, einbalsamirte und nach Sparta brachte) bei den Todten
seines Geschlechts beigesetzt, und Ehren dem Verstorbenen
erwiesen, nach Xenophons Worten, nicht wie einem Menschen,
sondern als einem Heros1). Hier haben wir, in einem unfrag-
lich aus hoher Vorzeit fortgepflanzten Brauch, die Grundlage
für die Heroisirung der Todten fürstlicher Familien. Auch die
[156] Angehörigen adlicher Geschlechter (die z. Th., wie die atheni-
schen Eupatriden, ihre Stammbäume auf alte Könige zurück-
führten 1]) werden einen Ahnencult aus alter Zeit erhalten
haben. Wie von allem nichtstaatlichen Culte, erfahren wir von
dem Culte der alten durch Verwandtschaft und Verschwägerung
verknüpften Geschlechtsverbände (γένη, πάτραι) wenig. Aber,
wie aus ihrem Zusammenwachsen die Dorfgemeinde und end-
lich der Organismus der griechischen Polis entstanden ist, so
hat auch der Cult, den sie den Ahnen ihrer Geschlechtsgemein-
schaft widmeten, für die mannichfachen Verbände, in welche
der voll entwickelte Staat zerfiel, ein Vorbild abgegeben 2).
Was uns in Athen und in anderen griechischen Staaten
als „Geschlechter“ entgegentritt, sind allermeist Vereinigungen,
für deren Mitglieder ein nachweislicher verwandtschaftlicher
Zusammenhang nicht mehr Bedingung ist. Die meisten solcher
staatlich anerkannten, in sich geschlossenen Geschlechter
schaaren sich um die gemeinsame Verehrung bestimmter Götter,
viele verehren daneben auch einen Heros, nach dem sich, in
solchem Falle, das Geschlecht benennt. Verehrten die Eteo-
butaden zu Athen den Butes, die Alkmeoniden den Alkmeon,
die Buzygen den Buzyges, in Sparta und Argos die Talthy-
biaden den Talthybios u. s. w., so galt ihnen, wie ja auch der
Name des Geschlechts selbst ausdrückt, der gemeinsam ver-
ehrte Heros als Ahn des Geschlechts 1). Und dieser Ahnen-
cult und der von dem, wenn auch nur fictiven, Ahnen her-
geleitete gemeinsame Name unterscheidet die Geschlechter von
den Cultgenossenschaften anderer Art, die seit Kleisthenes mit
den Geschlechtern in den Phratrien in rechtlich gleicher Stellung
2)
[158] vereinigt sind. Den Genossen dieser Verbände (Orgeonen) fehlte
der gemeinsame Name, der denn doch für die Angehörigen
eines Geschlechts einen engeren Zusammenhang bezeichnet als
den Zusammenhalt einer beliebig gewählten (nicht durch die
Geburt angewiesenen) Cultvereinigung.
Ueberall wird in solchen Geschlechtern die Form eines
Ahnencultes festgehalten. Und diese Form muss auch hier
einst einen vollen Sinn gehabt haben. Wie immer die vom
Staate anerkannten Geschlechter sich zu der ihnen eigenthüm-
lichen Gestalt entwickelt haben mögen, ihrem ersten Ursprung
nach müssen sie (nicht anders als die römischen gentes) auf
Geschlechtsverbände zurückgehen, die aus der, im Mannesstamm
erweiterten Familie hervorgewachsen und durch wirkliche Ver-
wandtschaft zusammengehalten waren. Auch der nur symbo-
lische Ahnencult der „Geschlechter“ späterer Zeit, von denen
wohl nicht eines den Grad seiner Abstammung von dem vor-
ausgesetzten Ahnherrn nachweisen konnte, muss entsprungen
sein aus dem ächten Ahnencult wirklicher Geschlechtsverbände.
Das Nachbild weist auch hier auf das einstige Dasein des Vor-
bildes hin.
Auch die grösseren Gruppen, in welche seit der Reform
des Kleisthenes der athenische Staat zerfiel, konnten nun der
Vereinigung um den Cult eines gemeinsam verehrten Heros
nicht entbehren; die Heroen der neu angeordneten Phylen 1)
hatten ihre Tempel, Landbesitz, Priester, Standbilder und
geregelten Cult, nicht minder die Heroen der kleineren, rein
localen Abtheilungen, der Demen. Die Fiction eines Ahnen-
cultes wurde auch hier festgehalten: die Namen der Phylen,
durchweg patronymisch gebildet, bezeichnen die Angehörigen
jeder Phyle als Nachkommen des Heros Eponymos oder
Archegetes der Phyle 2). Die Demen tragen zum Theil eben-
[159] falls patronymische Bezeichnungen, grösstentheils solche, die
wir auch als Namen adlicher Geschlechter kennen 1). Der (wirk-
liche oder auch bereits fingirte) Archeget des Geschlechts muss
dann doch wohl auch als Archeget des Demos gegolten haben,
und hier sieht man, wie der Cult eines Geschlechtsahnen, her-
übergenommen in den Cult einer grösseren Gemeinde, sich
erhalten und ausbreiten konnte; an Innigkeit wird freilich sein
Cult bei dieser politischen Ausweitung nicht gewonnen haben.
Ueberall zeigt der Heroencult die Form eines Ahnencultes;
mindestens die wichtigeren, von grösseren Gemeinschaften ver-
ehrten Heroen galten überall als Vorfahren und Stammväter
der Landes-, Stadt- und Geschlechtsgemeinden, die sie ver-
ehrten. Dass die Personen gerade dieser Urheroen fast ohne
Ausnahme nur in der Dichtung oder der Phantasie ein Dasein
hatten, lässt darauf schliessen, dass, als der Ahnencult im
Heroendienst sich neu belebte, das Gedächtniss der wahren
Archegeten des Landes, der Ahnen der herrschenden Familien
und Geschlechter, mit ihrem Cult in Vergessenheit gerathen
war. Man setzte einen grossen oder bedeutsamen Namen ein,
2)
[160] wo man den richtigen nicht mehr kannte, und widmete seine
Verehrung dem Scheinbild, oft nur dem Symbol eines Ahnen.
Immer hielt man an der Nachbildung eines wirklichen Ahnen-
cultes fest, die Ueberreste eines wirklichen Ahnendienstes gaben
das Vorbild, sie sind die wahre Wurzel, aus welcher der
Heroenglaube und Heroencult hervorsprossen.
Wie sich dann Ausbildung und Verbreitung des Heroen-
wesens im Einzelnen vollzog, können wir nicht mehr verfolgen.
Die uns erhaltenen Berichte zeigen uns den Zustand der vollen
Entwicklung, nicht die Stufen, die zu dieser Entwicklung führten.
Von der Menge der in Griechenlands blühendsten Zeiten vor-
handenen Heroendienste giebt am ersten eine Ahnung die
immer noch sehr grosse Zahl von Heroengräbern und Heroen-
culten, die Pausanias in dem Bericht über seine Wanderung
durch die wichtigsten Landschaften des alternden und in Trümmer
fallenden Griechenlands der Antoninenzeit nennt. Als Heroen
verehrt wurden fast alle durch die Heldendichtung verklärten
Gestalten der Sage, sowohl in ihrer Heimath (wie Achill in
Thessalien, Aias auf Salamis u. s. w.) als an anderen Orten,
die sich etwa rühmten, ihre Gräber zu besitzen (wie die Delpher
das des Neoptolemos, die Sybariten das des Philoktet u. s. w.)
oder durch genealogischen Zusammenhang vornehmer Ge-
schlechter der Stadt mit ihnen (wie z. B. Athen mit Aias und
dessen Söhnen) verbunden zu sein. In Colonien namentlich
mochten mit den Bestandtheilen der Bevölkerung auch die
Heroenculte sich oft bunt genug mischen: so verehrte man in
Tarent in gemeinsamem Heroencult die Atriden, Tydiden,
Aeakiden, Laërtiaden, im Besonderen noch die Agamemnoniden,
auch Achill hatte einen besonderen Tempel 1). Neben den
grossen Namen, denen in der Hauptsache doch der alte dich-
terische Ruhm in den Zeiten verbreiteten Heroendienstes zu
einer nachträglichen Heroisirung verholfen haben mag, begegnen
[161] zahlreiche dunkle Gestalten, deren Andenken einzig der Cult
lebendig erhalten haben kann, den seit Urväterzeit eine be-
schränkte Gau- oder Stadtgemeinde ihnen widmete. Dies sind
die wahren „Landesheroen“, von deren Verehrung schon Drakon
redet; als wahre Stammväter und rechte Ahnen ihrer Land-
schaft heissen sie auch „Archegeten“ 1). Von sieben „Arche-
geten“ von Plataeae, welche vor der Schlacht bei jener Stadt
zu verehren Aristides vom delphischen Orakel angewiesen wurde,
erfahren wir die Namen: keiner von ihnen ist sonst bekannt 2).
Es konnte vorkommen, dass der Name eines Heros, dem seit
alter Zeit Verehrung gewidmet wurde, den Anwohnern seines
Grabes selbst nicht mehr bekannt war. In Elis auf dem
Markte stand ein kleiner Tempel, von Holzsäulen getragen;
dass dies eine Grabcapelle sei, wusste man, den Namen aber
des dort beigesetzten Heros konnte man nicht angeben 3). Auf
dem Markte zu Heraklea am Pontus war ein Grabmal eines
Heros, von wilden Oelbäumen beschattet, es barg den Leichnam
desjenigen Heros, welchen einst das delphische Orakel die
Gründer von Heraklea zu „versöhnen“ geheissen hatte; über
seinen Namen waren die Gelehrten uneinig, die Einwohner von
Heraklea nannten ihn einfach „den heimischen Heros“ 4). Im
Hippodrom zu Olympia stand ein runder Altar, vor dem die
Rennpferde zu scheuen pflegten. Welcher Heros hier begraben
Rohde, Seelencult. 11
[162] liege, war streitig; das Volk nannte ihn kurzweg, weil er die
Pferde scheu machte, den Taraxippos 1). So wurden noch
manche Heroen, statt mit Eigennamen, mit Beinamen benannt,
die ihre Art, ihre Wirksamkeit, ein äusseres Merkmal ihrer
Erscheinung bezeichneten. In Athen verehrte man einen Heros
Arzt, einen Heros Feldherr, einen Heros Kranzträger 2).
Mancher Heros mag der Nachbarschaft, die ihn verehrte, ein-
fach als „der Heros“ bekannt gewesen sein 3). In solchen
[163] Fällen hat ersichtlich nur das Grab und der Cultus am Grabe
des Heros dessen Andenken erhalten; es mochten wohl Le-
genden von seinem Thun und Treiben als „Geist“ umlaufen, aber
was ihn einst im Leben ausgezeichnet und zur Heroenwürde
hatte gelangen lassen, war vergessen. Gewiss sind gerade dies
sehr alte Heroenculte gewesen. Und wie man in den ange-
führten Fällen zu Elis, Heraklea, Olympia unter dem namen-
losen Grabstein bald diesen, bald jenen Helden der Vorzeit
vermuthungsweise begraben sein liess, so mag man oft genug
sich nicht auf Vermuthungen beschränkt, sondern willkürlich
aber erfolgreich irgend einen glänzenden Namen aus der Helden-
sage zum Inhaber eines solchen herrenlos gewordenen alten
Grabheiligthums gemacht haben.
Im Ganzen war man um grosse oder bedeutungsvolle
Namen nicht verlegen, wenn es galt, die Stadtheroen zu be-
nennen. Namentlich der Begründer der Stadt und ihrer Götter-
dienste und des ganzen geheiligten Kreises, der das Leben
der Bürger umschloss, genoss regelmässig als Heros Archegetes
hoher Verehrung 1). Natürlich waren es meist mythische, auch
wohl willkürlich fingirte Gestalten, welche die Städte und
Städtchen Griechenlands und auch die Pflanzstädte in der
Fremde als ihre „Begründer“ verehrten. Seit man aber nach
überlegtem Plane Colonien unter einem, meist mit Beirath des
Orakels bestimmten, weite Machtvollkommenheit geniessen-
den 2) Führer aussandte und anlegte, rückten auch diese wirk-
lichen Oikisten nach dem Tode regelmässig in den Rang der
Heroen ein. Von dem Ehrengrab des heroisirten Gründers von
Kyrene auf dem Marktplatz der Stadt redet Pindar 3); die
Bewohner des thracischen Chersones opferten dem Miltiades,
Sohn des Kypselos als ihrem Oikisten, „wie es Sitte ist“, und
feierten ihm jährliche Wettspiele 4); in Katana auf Sicilien lag
Hieron von Syrakus begraben und wurde als Gründer der Stadt
mit heroischen Ehren gefeiert 5). In Abdera setzten die Teïer,
als sie die Stadt neu gründeten, den alten Gründer Timesios
auf’s Neue in die Ehren des Heros ein 6). Dagegen konnte
auch einmal der alte und wahre Oikistes von der, der Mutter-
stadt feindlich gewordenen Bevölkerung einer Colonie seiner
Ehren entsetzt, statt seiner ein anderer in die höchsten Heroen-
ehren, als nachträglich erwählter „Gründer“ eingesetzt werden:
[165] wie es im Jahr 422 mit Hagnon und Brasidas in Amphipolis
geschah 1).
Hier sieht man die Heroisirung schon aus dem heiligen
Dunkel der Vorzeit in die nächste Gegenwart herübergezogen
und bemerkt die Profanirung des Glaubens und Cultes durch
politische Nebengedanken. Der Name „Heros“, ursprünglich
einen Verklärten aus längst vergangener Zeit bezeichnend,
musste schon den allgemeineren Sinn eines auch nach dem
Tode höherer Natur und Lebenskraft Geniessenden ange-
nommen haben, wenn solche Heroisirung jüngst Verstorbener
möglich wurde. Wirklich schien zuletzt jede Art von Aus-
zeichnung im Leben eine Anwartschaft auf die Heroenwürde
nach dem Tode zu geben. Als Heroen galten nun grosse
Könige, wie Gelon von Syrakus, Gesetzgeber wie Lykurg von
Sparta 2), auch die Genien der Dichtkunst, von Homer bis
Aeschylus und Sophokles 3), nicht weniger die hervorragendsten
unter den Siegern in Wettkämpfen der Körperkraft. Einem
der Sieger zu Olympia, dem Philippos von Kroton, dem
schönsten Manne Griechenlands zu seiner Zeit, errichteten, wie
Herodot (5, 47) erzählt, die Egestäer auf Sicilien einen Heroen-
tempel über seinem Grabe, eben seiner grossen Schönheit
wegen, und verehrten ihn mit Heroenopfern.
Religiöse oder superstitiöse Motive fehlten dennoch nicht
immer. Sie waren vorzugsweise im Spiel in den zahlreichen
Fällen, in denen die Heroenwelt einen Zuwachs gewann durch
[166] die Weisungen des delphischen Orakels. Seit aus dunkeln An-
fängen der delphische Priesterstaat sich zu der Würde einer
anerkannten höchsten Autorität in allen Angelegenheiten des
geistlichen Rechtes emporgeschwungen hatte, wurde das Orakel,
wie bei allen Begebenheiten, die auf Zusammenhang mit einem
Reiche unsichtbarer Mächte hinzuweisen schienen, so namentlich
auch bei dauernder Unfruchtbarkeit und Dürre des Bodens
und bei pestartigen Krankheiten, die eine Landschaft betroffen
hatten, um die Ursache des Unglücks befragt. Sehr häufig
lautete die Antwort dahin, dass Grund des Leidens der Zorn
eines Heros sei, den man durch Opfer und Stiftung eines
dauernden Dienstes zu versöhnen habe; oder es wurde empfohlen,
zur Abwendung des Unheils die Gebeine eines Heros aus der
Fremde zu holen, daheim beizusetzen, und dem Heros eine
geregelte Verehrung zu widmen 1). Zahlreiche Heroenculte
sind auf diese Weise gestiftet worden: die Beispiele gehören
nicht nur einer halb sagenhaften Vorzeit an. Als nach dem
Tode des Kimon auf Cypern Pest und Unfruchtbarkeit aus-
brach, befahl das Orakel den Bewohnern von Kition, den
Kimon „nicht zu vernachlässigen“, sondern ihn als einen
„Höheren“, d. h. als Heros zu verehren 2). Auch wenn ängstliche
Religiosität das Orakel wegen wunderbarer Gesichte, die Je-
mand gehabt hatte, oder etwa wegen seltsamer Erscheinungen
an der Leiche eines jüngst Verstorbenen 3) um Auskunft fragte,
deutete die Antwort auf die Thätigkeit eines Heros, dem nun
[167] ein geregelter Cultus zu stiften sei. Standen wichtige Unter-
nehmungen eines Staates bevor, Eroberung fremden Landes,
Entscheidungsschlachten im Kriege, so hiess das Orakel die
Anfragenden, die Heroen des Landes, dem die Eroberung
galt oder in dem die Schlacht geschlagen werden sollte, vorher
zu versöhnen 1). Selbst ohne besonderen Anlass hiess bisweilen
das Orakel einen Verstorbenen als Heros ehren 2).
Eigenthümlich ist der Fall des Kleomedes von Asty-
palaea. Dieser hatte bei der 71. Olympienfeier (496) seinen
Gegner im Faustkampf getödtet, und war, von den Hellanodiken
seines Siegeskranzes für verlustig erklärt, tief gekränkt nach
Astypalaea zurückgekehrt. Dort riss er die Säule ein, welche
die Decke einer Knabenschule stützte, und floh, wegen des
Mordes der Knaben verfolgt, in den Athenetempel, wo er sich
in eine Kiste verbarg. Vergebens suchte man den Deckel
der Kiste zu öffnen, endlich erbrach man mit Gewalt die
Kiste, fand aber den Kleomedes nicht darin, weder lebend noch
als Leiche. Den Gesandten, welche die Stadt an das Orakel
schickte, wurde geantwortet, Kleomedes sei ein Heros ge-
worden, man solle ihn mit Opfern ehren, da er nicht mehr
sterblich sei 3). Und somit verehrten die Einwohner von Asty-
palaea den Kleomedes als Heros. Hier mischt sich in die
reine Vorstellung von Heroen als nach dem Tode zu gött-
lichem Leben Erhöheten der alte, von der Blüthezeit des Epos
[168] her unvergessene Glaube an die Entrückung einzelner
Menschen, die ohne zu sterben aus der Sichtbarkeit verschwin-
den, um mit Leib und Seele zu ewigem Leben einzugehen.
Mit Kleomedes schien ein solches Wunder sich wieder einmal
begeben zu haben, er war „verschwunden“, „entrafft“ 1); ein
„Heros“ konnte er gleichwohl nur darum heissen, weil man
für Entrückte, die nicht mehr sterbliche Menschen und doch
nicht Götter waren, keinen allgemeinen Namen hatte. Das
Orakel nennt den Kleomedes „den letzten der Heroen“; es
schien wohl an der Zeit, den übermässig weit gedehnten Kreis
der Heroisirten endlich zu schliessen. Das delphische Orakel 2)
selbst hatte mit Bedacht dazu beigetragen, ihre Zahl zu ver-
grössern; auch hielt es den Vorsatz, nun ein Ende zu machen,
keineswegs 3).
Auf welchen Voraussetzungen der Glaube an die unbe-
dingte Autorität beruhte, welche die Griechen aller Stämme
dem Orakel in Gegenständen, die mit dem Heroenwesen zu-
sammenhingen, einräumten, ist verständlich genug. Der Gott
erfindet nicht neue Heroen, er vermehrt nicht aus eigener Macht
und Willkür die Schaar der Ortsheiligen, er findet sie da, wo
[169] sie menschliche Augen nicht sehen können, er, der alles durch-
schaut, erkennt als Geist die Geister und sieht sie thätig, wo
der Mensch nur die Folgen ihrer Thätigkeit empfindet. So
leitet er die Fragenden an, den wahren Grund ihrer Leiden
zu heben, übernatürliche Ereignisse zu verstehen durch Aner-
kennung und Verehrung der Macht eines der Unsichtbaren.
Er ist dem Gläubigen, hier wie auf allen Gebieten religiösen
Lebens, der „wahre Ausleger“ 1), er deutet nur das wirklich
Vorhandene, er schafft nichts Neues, wenn auch den Menschen
die durch ihn ihnen zukommende Kunde völlig neu ist. Wir
freilich werden fragen dürfen, welches Motiv die kluge delphi-
sche Priesterschaft zu der Erschaffung und Erneuerung so vieler
Heroendienste bewogen haben mag. In ihrer Begünstigung
des Heroenglaubens ist unverkennbar System, wie durchweg
in der Thätigkeit des Orakels auf religions-politischem Gebiete.
War es Priesterpolitik, die sie hier, wie an so vielen anderen
Stellen, möglichst viele Objecte des Glaubens und des Cultus
aufzufinden und auszudenken bewog? Auf der immer weiteren
Ausbreitung, dem immer tieferen Eindringen einer ängstlichen
Scheu vor überall unsichtbar wirkenden Geistermächten, einer
Superstition, wie sie Homers Zeitalter noch nicht kannte, be-
ruhte zu einem grossen Theil die Macht des in diesem Wirr-
sal dämonischer Wirkungen einzig leitenden Orakels, und man
kann nicht verkennen, dass das Orakel diese Deisidämonie be-
günstigt und an seinem Theil gross gezogen hat. Unzweifel-
haft waren aber die Priester des Orakels selbst in dem Glauben
ihrer Zeit befangen, auch den Heroenglauben theilten sie jeden-
falls. Es wird ihnen ganz natürlich erschienen sein, wenn sie
die in den ängstlichen Anfragen wegen der Ursachen von Pest
und Dürre schon halb vorausgesetzte Herleitung des Unheils
von der Thätigkeit eines zürnenden Heros mehr bestätigten
als zu erdenken brauchten. Sie werden nur in den einzelnen
[170] Fällen (und allerdings mit freier Erfindung der besonderen
Einzelumstände) ausgeführt haben, was der verbreitete Volks-
glaube ihrer Zeit im Allgemeinen vorschrieb. Es kommt aber
hinzu, dass das Orakel Alles, was den Seelencult fördern und
stärken konnte, in seinen Schutz nahm; soweit man von einer
„delphischen Theologie“ reden kann, darf man den Unsterb-
lichkeitsglauben in seinen populären Formen und den Cult der
unsterblichen Seelen zu den wichtigsten Bestandtheilen dieser
Theologie rechnen. Wir haben hiervon später noch einiges
zu sagen. Lebten die Priester in solchen Vorstellungen, so
lag es ihnen sehr nahe, bei seltsamen Vorfällen, bei Noth und
schwerer Zeit, als wahre Urheber des Unheils die Geister ver-
storbener Helden der Sage, auch wohl Mächtiger der letzten
Zeiten thätig zu denken und in diesem Sinne die Gläubigen
zu bescheiden. So wurde der delphische Gott der Patron
des Heroenwesens, wie er als ein Patron der Heroen diese all-
jährlich am Theoxenienfeste zum Mahl in seinen Tempel zu-
sammenrief 1).
Von allen Seiten begünstigt, vermehrte der Heroenglaube
die Gegenstände seiner Anbetung in’s Unübersehbare. Nach
den grossen, alle heiligsten Gefühle der Griechen tief aufregen-
den Freiheitskämpfen gegen die Perser schien es nicht zu viel,
wenn selbst ganze Schaaren der für die Freiheit Gefallenen
zu Heroen erhöhet würden; bis in späte Zeit fand alljährlich
der feierliche Zug zu Ehren der bei Plataeae gebliebenen
Griechen statt und das Opfer, bei dem der Archon der Stadt
die Seelen „der wackeren Männer, die für Griechenland ge-
storben waren“, zum Mahl und Blutsättigung herbeirief 2). Auch
[171] bei Marathon verehrte man die dort einst im Kampfe Gefallenen
und Begrabenen als Heroen 1).
Aus der übergrossen Menge der Heroisirten schied sich
eine Aristokratie von Heroen höheren Ranges aus, vornehm-
lich solche Gestorbene, die, seit Alters durch Sage und Dich-
tung verherrlicht, über ganz Hellas hin einen Ruhm hatten,
etwa die, welche Pindar 2) einmal zusammen nennt: die Nach-
kommen des Oeneus in Aetolien, Iolaos in Theben, Perseus in
Argos, die Dioskuren in Sparta, das weitverzweigte Helden-
geschlecht der Aeakiden in Aegina, Salamis und an vielen
anderen Orten. Ja, von höherem Glanze umstrahlt, schienen
manche der grossen Heroen von der Menge der anderen Heroen
sogar dem Wesen nach verschieden zu werden. Zu den Göttern
erhob nun der Glaube den Herakles, den Homer noch nicht
einmal als „Heros“ in neuerem Sinne kannte, den manche Orte
auch ferner noch als „Heros“ verehrten 3). Asklepios galt bald
als Heros, bald als Gott, was er von Anbeginn an gewesen
war 4). Und noch manchem Heroisirten begann man „als einem
2)
[172] Gotte“ zu opfern 1), wohl nicht ohne Einfluss des delphischen
Orakels, das wenigstens bei Lykurg den Uebergang von heroi-
scher zu göttlicher Verehrung selbst angebahnt zu haben scheint 2).
Die Grenzen zwischen Heros und Gott fingen an, fliessend zu
werden, nicht selten wird ein Heros von beschränktester Local-
geltung als „Gott“ bezeichnet 3), ohne dass wir darum an eine
förmliche Erhöhung zum Götterrang und hiermit verbundene
Veränderung des Opferritus zu denken hätten. Die Heroen-
würde schien offenbar etwas entwerthet zu sein, wenn auch die
Zeit noch nicht eingetreten war, in der die Benennung eines
Verstorbenen als Heros kaum noch etwas diesen vor anderen
Todten Auszeichnendes bedeutete.
Bei aller Ausdehnung, ja Verflüchtigung des Heroen-
begriffes behielt im Volke der Heroenglaube lange Geltung
und kernhaften Inhalt. Wenig stand diese Art des Geister-
glaubens dem Glauben an die hohen Götter selbst an Bedeu-
tung nach. War der Kreis der Geltung der einzelnen Stadt-
heroen ein enger begrenzter, so standen ihren Verehrern diese
Ahnengeister, die ihnen und der Heimath allein gehörten,
näher und waren ihnen vertrauter als andere Unsichtbare
höheren Ranges. Ewig wie die Götter, stehen die Heroen
diesen in der Achtung nicht allzu fern, „nur dass sie ihnen
4)
[173] an Macht nicht gleich kommen“ 1). Denn sie sind auf einen
engeren Wirkungskreis beschränkt, auf ihre Heimath und den
begrenzten Kreis ihrer Verehrer. Sie sind local gebunden, wie
die olympischen Götter längst nicht mehr (ein Heros, der vom
Localen losgelöst ist, strebt schon in’s Göttliche hinüber).
Local gebunden sind ja sicherlich diejenigen Heroen, die aus
der Tiefe, in der sie wohnen, Hülfe in Krankheiten oder Ver-
kündigung der Zukunft heraufsenden. Nur an ihrem Grabe
kann man solche Wirkungen von ihnen erhoffen, denn nur da
ist ihr Aufenthalt. In ihnen tritt die Verwandtschaft des Heroen-
glaubens mit dem Glauben an jene in der Erde hausenden
Götter, von denen einiges im vorigen Abschnitt gesagt ist, be-
sonders deutlich hervor; ja, was die völlig an das Local ge-
bundene Wirksamkeit und deren Beschränkung auf die Iatro-
mantik betrifft, fallen beide Art von Geistern völlig zusammen.
Hülfe in Krankheiten erwartete man namentlich, wie von
Asklepios selbst, so von den Asklepiaden, Machaon, der
ein Grab und Heiligthum bei Gerenia an der Küste La-
koniens hatte, und Podalirios. Dieser war in Apulien, in der
Nähe des Berges Garganus, begraben. Hülfesuchende legten
sich auf dem Felle des als Opfer geschlachteten Widders im
Heroon des Podalirios zum Schlaf nieder und empfingen von
dem Heros sowohl andere Offenbarungen als Heilmittel für
Krankheiten von Mensch und Vieh 2). Auch der Sohn des
[174] Machaon, Polemokrates, heilte in seinem Heiligthum zu Eua
in Argolis 1). In Attika gab es einen Heros Iatros in der
Stadt, dessen Hülfe in Krankheiten zahlreiche, in sein Heilig-
thum gestiftete silberne Nachbildungen geheilter Gliedmassen
dankbar bezeugten 2). Ein anderer Heros Iatros, dessen Name
Aristomachos gewesen sein soll, hatte in Marathon ein Heil-
orakel 3). — Selten gewährten Heilung von Krankheiten andere
als diese Asklepiadischen Heroen. Traumweissagungen anderer
Art spendeten aus ihren Gräbern heraus vor Allem solche
Heroen, die einst im Leben Wahrsager gewesen waren, wie
Mopsos und Amphilochos zu Mallos in Kilikien, Amphilochos
auch in Akarnanien, Tiresias zu Orchomenos, Kalchas in
Apulien, in der Nähe des eben erwähnten Heroon des Poda-
lirios 4). Aber auch Odysseus hatte ein Traumorakel bei den
2)
[175] Eurytanen in Aetolien1), Protesilaos an seinem Grabmal bei
Elaius auf dem thracischen Chersones2), Sarpedon in Kilikien,
angeblich auch in Troas3), Menestheus, der athenische Heer-
4)
[176] führer, fern in Spanien1), Autolykos in Sinope2), vielleicht
auch Anios auf Delos3). Eine Heroïne, Hemithea genannt,
hatte ein Traumorakel, in dem sie auch Heilung von Krank-
heiten spendete, zu Kastabos in Karien4); Pasiphaë weissagte
in Träumen zu Thalamae an der lakonischen Küste5). — Da
für keinen dieser Heroen ein besonderer Grund in der Sage
3)
[177] gegeben war, der gerade von ihm mantische Thätigkeit erwarten
liess, so wird man glauben müssen, dass Kenntniss der Zukunft
und Vermittlung solcher Kenntniss an die noch Lebenden den
zum Geisterdasein erhobenen Seelen der Heroen überhaupt zu-
kam. Die uns zufällig erhaltenen Nachrichten lehren uns einige
völlig und dauernd eingerichtete Heroenorakel kennen; es mag
deren noch manche gegeben haben, von denen wir nichts hören,
und vereinzelte und gelegentlich ausgeübte mantische Thätig-
keit mag auch anderen Heroen nicht verwehrt gewesen sein1).
Sind die Orakelheroen durchaus an die Stätte ihres Grabes
gebunden, so zeigt auch, was uns an Legenden, die von Er-
scheinungen einzelner Heroen oder ihrem unsichtbaren Thun
erzählen, erhalten ist, diese Heroen, wie in unsern Volkssagen
die Geister alter Burgen und Höhlen, in die Grenzen ihrer
Heimath, in die Nähe ihrer Grab- und ihrer Cultstätten ge-
bannt. Es sind meist schmucklose Geschichten von dem Groll
eines Heros, wenn dessen Rechte gekränkt oder sein Cult ver-
nachlässigt war. In Tanagra2) war ein Heros Eunostos, der,
durch trügerische List eines Weibes um’s Leben gekommen,
Rohde, Seelencult. 12
[178] kein Weib in seinem Haine und an seinem Grabe duldete1);
kam doch eine von dem verhassten Geschlechte dorthin, so war
Erdbeben oder Dürre zu befürchten, oder man sah den Heros
zum Meere (das alle Befleckungen abwäscht) hinabgehen, sich
zu reinigen. In Orchomenos ging ein Geist „mit einem Steine“
um und verwüstete die Gegend. Es war Aktäon, dessen sterb-
liche Reste darauf, nach Geheiss des Orakels, feierlich bei-
gesetzt wurden; auch stiftete man ihm ein ehernes Bild, das
mit Ketten an einen Felsen angefesselt wurde, und beging all-
jährlich ein Todtenfest2). Von dem Groll des Minos gegen
die Kreter, weil sie seinen gewaltsamen Tod nicht gerächt,
dagegen dem Menelaos zu Hülfe gezogen waren, erzählt mit
ernstem Gesicht Herodot3). Schon ein tieferer Sinn liegt in
der ebenfalls von Herodot überlieferten Legende vom Heros
Talthybios, der, nicht eigene Unbill sondern ein Vergehen gegen
Recht und sittliche Satzung rächend, die Spartaner wegen der
Ermordung persischer Gesandten, selbst der Hort der Boten
und Gesandten, strafte4). Das furchtbarste Beispiel von der
Rache eines Heros hatte man an der Sage des Ortsheros der
attischen Gemeinde Anagyros. Einem Landmann, der seinen
heiligen Hain umgehauen hatte5), liess der Heros erst die Frau
[179] sterben, gab dann der neuen Gattin des Mannes eine sträfliche
Leidenschaft zu dessen Sohne, ihrem Stiefsohne, ein; dieser
widersteht ihrem Verlangen, wird von der Stiefmutter beim
Vater verklagt, von diesem geblendet und auf einer einsamen
Insel ausgesetzt: der Vater, aller Welt verhasst geworden,
erhängt sich selbst, die Stiefmutter stürzt sich in einen
Brunnen1).
An dieser Erzählung, die auch dadurch merkwürdig ist,
weil in ihr dem Heros, wie sonst wohl den Göttern, eine Ein-
wirkung auf das Innere des Menschen, seine Stimmung und
seine Entschlüsse zugetraut wird, mag ein an Poesie höheren
Styls gewöhnter Geschmack manches abgerundet haben2). Im
Allgemeinen tragen die Heroenlegenden einen völlig volksthüm-
lichen Charakter. Es ist eine Art von niederer Mythologie,
die in ihnen noch neue Schösslinge trieb, als die Götter- und
Heldensage nur noch in der Ueberlieferung sich erhielt, Dichtern
zu unerschöpflicher Combination überlassen, aber nicht mehr
aus dem Volksmunde frisch nachquellend. Die Götter schienen
zu fern gerückt, ihr sichtbares Eingreifen in das Menschenleben
schien nur in alten Sagen aus der Vorzeit glaublich. Die
Heroengeister schwebten näher den Lebenden, in Glück und
Unglück spürte man ihre Macht; in Märchen und Sagen des
Volkes, die sich an Ereignissen der eigenen Gegenwart erzeugen
konnten, bilden sie nun das übernatürliche Element, ohne dessen
Hereinspielen Leben und Geschichte für eine naive Auffassung
keinen Reiz und keine Bedeutung haben.
Wie solche Heroenmärchen aussehen mochten, kann statt
12*
[180] vieler, die wohl einst umliefen, ein uns zufällig erhaltenes Bei-
spiel lehren. Bei Temesa in Lucanien ging einst ein Heros
um, und erwürgte, wen er von den Einwohnern ergreifen
konnte. Die Bewohner von Temesa, welche schon an Aus-
wanderung aus Italien dachten, wandten sich in ihrer Noth an
das delphische Orakel, und erfuhren da, dass das Gespenst
der Geist eines einst von Einwohnern des Landes wegen Schän-
dung einer Jungfrau erschlagenen Fremden sei1); man solle ihm
einen heiligen Bezirk weihen, einen Tempel bauen und zum
Opfer ihm alljährlich die schönste der Jungfrauen von Temesa
preisgeben. So thaten die Bürger von Temesa, der Geist liess
ihnen im Uebrigen Ruhe, aber alljährlich fiel ihm das gräss-
liche Opfer. Da kam, in der 77. Olympiade, ein berühmter
Faustkämpfer, Euthymos aus Lokri, von Olympia sieggekränzt
nach Italien zurück; er hörte zu Temesa von dem eben bevor-
stehenden Opfer, drang in den Tempel ein, wo die auserlesene
Jungfrau auf den Heros wartete, Mitleid und Liebe ergriff
ihn. Und als der Heros nun herankam, liess der schon in so
vielen Zweikämpfen Siegreiche sich in einen Kampf mit ihm
ein, trieb ihn schliesslich in’s Meer, und befreite die Landschaft
von dem Ungethüm. Es ist wie in unsern Märchen von dem
Jungen, der auszog, das Gruseln zu lernen2); und natürlich,
[181] da nun das Land erlöst ist, feiert der Ritter „Wohlgemuth“
glänzende Hochzeit mit der befreiten Schönen. Er lebte bis
in das höchste Alter, da aber stirbt er nicht, sondern wird
lebend entrückt und ist nun selbst ein Heros1). —
Solche Helden der panhellenischen Kampfspiele wie Eu-
thymos einer war, sind Lieblingsgestalten der Volkssage, so-
wohl im Leben als in ihrem Geisterdasein als Heroen. Gleich
von dem Zeitgenossen des Euthymos, Theagenes von Thasos,
einem der gefeiertsten Sieger in allen grossen Wettkämpfen,
lief eine Geschichte um, wie nach seinem Tode ein Gegner sein
ehernes Standbild nächtlich gepeitscht habe, bis einst das Bild
auf ihn fiel und ihn erschlug, wie dann die Thasier das mörde-
rische Bild in’s Meer versenkten, aber nun (in Folge des Zornes
des Heros) durch Unfruchtbarkeit geplagt wurden, bis sie, auf
mehrmals wiederholte Anweisung des delphischen Orakels, das
versenkte Standbild wieder auffischten, neu aufrichteten, und
ihm „wie einem Gotte“ opferten2). — Merkwürdig ist diese Ge-
2)
[182] schichte auch dadurch, dass hier, im Gefolge des Heroenglaubens,
die alterthümlich rohe, bei allen der Idololatrie ergebenen Völ-
kern vorkommende Vorstellung, dass die Macht eines „Geistes“
in seinem Abbilde wohne, so unbefangen wie selten hervortritt.
Sie liegt noch manchen Sagen von der Rache stummer Bilder
an ihren Beleidigern zu Grunde1). Die Standbilder des Thea-
genes übrigens heilten noch in späten Zeiten Fieberkranke2),
ebenso die eines anderen berühmten Faustkämpfers, des Poly-
damas von Skotussa3). Ein achäischer Olympionike, Oibotas
von Dyme, hatte durch einen Fluch Jahrhunderte lang4) Siege
der Achäer im Wettkampf verhindert; als er versöhnt war,
knüpfte an sein Standbild sich die Verehrung der Achäer, die
in Olympia sich zu einem Wettkampf anschickten5).
Der Heroenglaube nahm doch auch einen höheren Schwung.
Nicht nur in freien Kampfspielen, auch in wahrer Noth, in den
Kämpfen um alle höchsten Güter, um Freiheit und Bestand
des Vaterlandes waren die Heroen den Griechen zur Seite.
Nirgends tritt uns so deutlich entgegen, wie wahr und lebendig
damals unter den Griechen der Heroenglaube war, als in dem
was uns von Anrufung der Heroen und ihrer Einwirkung in den
[183] Perserkriegen erzählt wird. Bei Marathon sahen viele, wie eine
Erscheinung des Theseus in voller Rüstung den Kämpfern voran
gegen die Barbaren stürmte1). In dem Gemälde des Panainos
(Bruders des Phidias) in der bunten Halle zu Athen trat
unter den Marathonkämpfern ein Heros Echetlos hervor, von
dessen Erscheinung in der Schlacht eine eigene Legende er-
zählt wurde2). In dem Kriege gegen Xerxes wurde Delphi
durch zwei der einheimischen Heroen gegen einen persischen
Streifzug vertheidigt3). Am Morgen vor Beginn der Seeschlacht
bei Salamis beteten die Griechen zu den Göttern, die Heroen
aber riefen sie unmittelbar zu thätlicher Hülfe: den Aias und
Telamon rief man von Salamis herbei, um Aeakos und die
anderen Aeakiden wurde ein Schiff nach Aegina ausgeschickt4).
So wenig waren den Griechen diese Heroengeister nur Symbole
oder grosse Namen; man erwartete ihr körperliches Eingreifen
in der Entscheidungsstunde. Und sie kamen und halfen5): nach
gewonnener Schlacht wurde, wie den Göttern, so auch dem
Heros Aias ein Dreiruderer aus der Kriegsbeute als Dankes-
opfer gewidmet6). Ein Salaminischer Localheros, Kychreus,
war den Griechen zu Hülfe gekommen, in Schlangengestalt,
in welcher die Heroen, wie die Erdgötter, oft erschienen7).
[184] Mit Ueberzeugung bekannte man nach der Schlacht, der Sieg
sei Göttern und Heroen zu verdanken1). Die Heroen und ihre
Hülfe sind es, wie Xenophon ausspricht, die im Kampfe gegen
die Barbaren „Griechenland unbesiegbar machten“2). Seltener
hören wir von thätigem Eintreten der Landesheroen bei Kämpfen
griechischer Staaten unter einander3).
Auch in das engste Leben der Einzelnen greifen, störend
oder fördernd, die Heroen ein, wie einst in der Fabelzeit die
Götter. Man wird sich an bekannte Göttersagen erinnert
fühlen, und doch den Abstand vom Erhabenen zum Idyllischen
ermessen, wenn man bei Herodot treuherzig und umständlich
erzählt findet, wie einst Helena, in eigener Gestalt einer
Amme begegnend, die an ihrem Grabe zu Therapne um
Schönheit für ihr hässliches Pflegekind gebetet hatte, das Kind
durch Bestreichen zum schönsten Mädchen in Sparta machte4);
oder wie der Heros Astrabakos in der Gestalt des Ariston,
Königs von Sparta, zu dessen Gemahlin schleicht und sie zur
Mutter des Demaratos macht5). Das Heroon dieses Astrabakos
[185] lag gleich vor der Thüre des Hauses des Ariston1); so legte man
oft gleich neben der Hausthür das Heiligthum eines Heroen an,
der dann wohl ein besonderer Beschützer seines Nachbarn wurde2).
In allen Lagen des Lebens, in Glück und Noth, sind die
Heroen den Menschen nahe, dem Einzelnen wie der Stadt.
Von dem Heros, den eine Stadt verehrt, wird jetzt oft (wie
sonst von den Stadtgöttern) gesagt, dass er sie beherrsche,
innehabe, über ihr walte3); er ist ihr rechter Schirmherr.
Es mochte wohl in mancher Stadt so sein, wie es von einigen
erzählt wird, dass der Glaube an den Stadtheros in ihnen
lebendiger war, als der an die allen gemeinsamen Götter4).
Das Verhältniss zu den Heroen ist ein näheres als das zu der
Majestät der oberen Götter, in anderer und innigerer Weise
5)
[186] verknüpft der Heroenglaube die Menschheit mit einer höheren
Geisterwelt. Von einem Ahnencult war der Heroenglaube
ausgegangen, ein Ahnencult war der Heroendienst in seinem
Kerne geblieben, aber er hatte sich ausgedehnt zu einem Cult
grosser und durch eigenthümliche Kräfte mannichfacher (und
keineswegs vorzugsweise sittlicher) Art über die Menge sich er-
hebender Seelen von Menschen auch späterer, ja der nächst-
vergangenen Zeiten. Hierin liegt seine eigentliche Bedeutung.
Die Geisterwelt ist nicht verschlossen, lehrt er; wieder und
wieder steigen einzelne Menschen nach Vollendung des irdischen
Lebens in ihre höheren Kreise empor. Der Tod endigt nicht
alles bewusste Leben, nicht alle Kraft schlingt die Dumpfheit
des Hades ein.
Dennoch ist es nicht der Heroenglaube, aus dem sich der
Glaube an eine, allen menschlichen Seelen ihrer Natur nach
zukommende Unsterblichkeit entwickelt hat. Dies konnte auch
seine Wirkung nicht sein. Wie von Anbeginn unter den
Schaaren der Seelen, die zum Hades strömen, die Heroen,
denen ein anderes Loos fiel, nur eine Minderheit von Aus-
erwählten bildeten, so blieb es. Mochte die Zahl der Heroi-
sirten noch so sehr anwachsen, in jedem einzelnen Falle des
Uebertrittes einer menschlichen Seele in die Heroenwürde be-
gab sich auf’s Neue ein Wunder, aus dessen noch so häufiger
Wiederholung eine Regel, ein für Alle gültiges Gesetz sich
nicht ergeben konnte.
Der Heroenglaube, wie er sich allmählich entwickelt und
ausgebreitet hatte, führt unstreitig weit ab von den Bahnen
homerischer Gedanken über die Dinge nach dem Tode; er
treibt nach der entgegengesetzten Richtung. Aber ein Glaube
an die, in ihrem Wesen begründete Unsterblichkeit der mensch-
lichen Seele, ein allgemeiner Seelencult waren mit dem Heroen-
glauben noch nicht gegeben. Damit diese, nach aber nicht
aus dem Heroenglauben, hervortreten und dann neben dem un-
geminderten Heroenglauben sich erhalten konnten, war eine Be-
wegung nöthig, die aus anderen Tiefen hervorströmte.
Die griechische Bildung tritt uns in den homerischen Ge-
dichten so allseitig entwickelt und in sich gerundet entgegen,
dass, wer keine weiter reichende Kunde hätte, meinen könnte,
hier sei die unter den gegebenen Bedingungen des eigenen
Volkswesens und der äusseren Verhältnisse den Griechen er-
reichbare Höhe eigenthümlicher Cultur endgültig erreicht. In
Wahrheit stehen die homerischen Dichtungen auf der Grenz-
scheide einer älteren, zu vollkommener Reife gelangten Ent-
wickelung und einer neuen, vielfach nach anderem Maasse be-
stimmten Ordnung der Dinge. Sie selbst spiegeln in einem
idealen Bilde die Vergangenheit ab, die im Begriff stand,
Abschied zu nehmen. Die tiefe Bewegung der darnach folgen-
den Zeiten können wir wohl an ihren endlichen Ergebnissen
ermessen, die in ihr wirksamen Kräfte an einzelnen Symptomen
errathen, in der Hauptsache aber gestattet die trümmerhafte
Ueberlieferung aus dieser Zeit der Umwandlungen uns kaum
mehr als das Vorhandensein aller Bedingungen einer gründ-
lichen Umgestaltung des griechischen Lebens deutlich zu er-
kennen. Wir sehen, wie bis dahin mehr zurückstehende
griechische Stämme in den Vordergrund der Geschichte treten,
auf den Trümmern des Alten neue Reiche, nach dem Rechte
der Eroberung gestaltet, errichten, ihre besondere Art der
Lebensstimmung zur Geltung bringen; wie in weit verbreiteten
Colonien das Griechenthum sich ausdehnt, in den Colonien,
wie es zu geschehen pflegt, den Stufengang der Culturentwicke-
lung in schnellerer Bewegung durchmisst. Handel und Gewerb-
thätigkeit blühen auf, gesteigerte Bedürfnisse hervorrufend und
befriedigend; neue Schichten der Bevölkerung dringen nach
[188] oben; das Regiment der Städte kommt in’s Wanken, die alten
Königsherrschaften werden abgelöst durch Aristokratie, Tyrannis,
Volksherrschaft; in friedlichen und (namentlich im Osten) feind-
lichen Berührungen tritt den Griechen fremdes Volksthum, auf
allen Stufen der Culturentwicklung stehend, näher als bisher
und übt mannichfachen Einfluss.
Inmitten dieser grossen Bewegung mussten auch dem
geistigen Leben neue Triebe zuwachsen. Dass man in der
That begann, von dem Herkömmlichen, der Ueberlieferung
der, in dem Abbild der homerischen Gedichte scheinbar so
fest auf sich selbst beruhenden alten Cultur sich abzulösen,
zeigt sich am deutlichsten eben auf dem Gebiete der Poesie.
Die Dichtung befreit sich von der Alleinherrschaft der epischen
Form. Sie lässt ab von dem fest geregelten Rhythmus des
epischen Verses; wie sie damit zugleich den gegebenen Vorrath
geprägter Worte, Formeln und Bilder aufgiebt, so verändert
und erweitert sich ihr nothwendig auch der Kreis der An-
schauungen. Der Dichter wendet nicht mehr den Blick ab von
der eigenen Zeit und der eigenen Person. Er selbst tritt in
den Mittelpunkt seiner Dichtung, und für den Ausdruck der
Schwingungen des eigenen Gemüthes findet er sich den eigen-
sten Rhythmus, im engen Bunde mit der Musik, die erst in
dieser Zeit ein wichtiges und selbständiges Element griechischen
Lebens wird. Es ist, als entdeckten die Griechen nun erst den
vollen Umfang ihrer Fähigkeiten, und wagten sich ihrer frei
zu bedienen. Die Hand gewinnt im Laufe der Jahrhunderte
immer voller die Macht, in jeder Art der Plastik jene Welt
der Schönheit aus der Phantasie in die Sichtbarkeit überzu-
führen, aus deren Trümmern noch uns sinnfälliger und ohne
vermittelnde Reflexion deutlicher als aus irgend welchen literari-
schen Leistungen das ewig Gültige griechischer Kunst ver-
ständlich wird.
Die Religion konnte nicht, allein unberührt von dem
allgemeinen Umschwung, im alten Zustande verharren. Noch
mehr freilich als auf anderen Gebieten ist uns hier das Innere
[189] der Bewegung verborgen. Wir sehen manche äussere Ver-
änderung, aber von dem treibenden Leben, das sie hervorrief,
schlagen kaum einzelne abgerissene Laute an unser Ohr. Leicht
erkennt man, bei einer Vergleichung der späteren Religions-
zustände mit den homerischen, wie sich die Objecte des
Cultus ungemein vermehrt haben, wie der Cultus sich reicher
und feierlicher gestaltet, im Bunde mit den musischen Künsten
das religiöse Festleben der griechischen Städte und Stämme
sich schön und vielgestaltig entwickelt. Tempel und Bildwerke
geben von der erhöheten Macht und Bedeutung der Religion
anschauliches Zeugniss. Dass im Inneren, im religiösen Glauben
und Denken, sich vieles neu gestaltete, müsste schon der weit-
hin sichtbare Glanz des jetzt erst zu voller Wirkung gelan-
genden Orakels zu Delphi mit allen aus diesem geistigen
Centrum bestimmten Neubildungen des griechischen Religions-
lebens vermuthen lassen. In dieser Zeit bildete sich, unter
dem Einfluss der vertieften moralischen Empfindung, jene Um-
bildung auch der religiösen Welterklärung aus, die uns dann
bei Aeschylus und Pindar vollendet entgegentritt. Die Zeit war
entschieden „religiöser“ als die, in deren Mitte Homer steht.
Es ist als ob die Griechen damals eine Periode durchlebt hätten,
wie sie Culturvölkern immer einmal wiederkehren, wie auch die
Griechen sie später wiederholt erlebten: in welchen der Sinn
aus einer wenigstens halb errungenen Freiheit von Beängstigung
und Beschränkung durch geglaubte unsichtbare Gewalten sich,
unter dem Einflusse schwerer Erlebnisse, zurücksehnt nach
einer Einhüllung in tröstliche, den Menschengeist mancher
eigenen Verantwortung entlastende Wahnvorstellungen.
Das Dunkel dieser Entwicklungszeiten verbirgt uns auch
das Werden und Wachsen eines von dem homerischen wesent-
lich verschiedenen Seelenglaubens. Die Ergebnisse der Ent-
wicklung liegen uns klar genug vor Augen; und wir können
noch unterscheiden, wie ein geregelter Seelencult und zuletzt
ein in vollem Sinne so zu nennender Unsterblichkeitsglaube
sich ausbilden im Gefolge von Erscheinungen, die theils das
[190] Emporkommen alter, in der vorigen Periode unterdrückter
Elemente des religiösen Lebens bedeuten, theils den Eintritt
ganz neuer Kräfte, die im Verein mit dem neugewordenen
Alten ein Drittes aus sich hervorgehen lassen.
Was der vergleichenden Betrachtung in der nachhomeri-
schen Religionsentwicklung wie ein neuer Bestandtheil entgegen-
tritt, ist vornehmlich der Cult der chthonischen, d. h. im
Inneren der Erde hausenden Götter. Und doch kann man
nicht daran zweifeln, dass diese Gottheiten zum ältesten Besitze
des griechischen Glaubens gehören, schon darum nicht, weil
sie, an den Boden der Landschaft, die sie verehrt, gebunden,
die ächtesten Localgötter, die wahren Heimathsgötter sind.
Es sind Gottheiten, die auch Homer kennt; aber die Dichtung
hat sie, aller landschaftlichen Beschränkung entkleidet, in ein
fernes, lebenden Menschen unzugängliches Höhlenreich jenseits
des Okeanos entrückt. Dort walten Aïdes und die schreck-
liche Persephoneia als Hüter der Seelen; auf das Leben und
Thun der Menschen auf Erden können sie aus jener unerreich-
baren Ferne keinen Einfluss üben. Der Cultus kennt auch
diese Gottheiten nur nach ihren besonderen Beziehungen auf
die einzelnen Landschaften, die einzelnen Cultusgemeinden. Von
diesen verehrt eine jede, unbekümmert um ausgleichende Vor-
stellungen von einem geschlossenen Götterreiche (wie sie das
Epos nährte), unbekümmert um gleiche, concurrirende An-
sprüche der Nachbargemeinden, die Unterirdischen als nur
ihrem Boden, ihrer Landschaft Angehörige; und erst in diesem
localen Cultus zeigen die chthonischen Götter ihr wahres Ge-
sicht, wie es der Glaube ihrer Verehrer schaute. Sie sind
Götter einer sesshaften, ackerbauenden, binnenländischen Be-
[191] völkerung; unter dem Erdboden wohnend, gewähren sie den
Bewohnern des Landes, das sie verehrt, ein Doppeltes: den
Lebenden segnen sie den Anbau des Ackers, die Zucht der
Feldfrüchte, und nehmen die Seelen der Todten auf in ihre
Tiefe1). An einzelnen Orten senden sie auch Wahrsagungen
von zukünftigen Dingen aus dem Geisterreiche empor.
Als der erhabenste Name unter diesen Unterirdischen be-
gegnet uns der des Zeus Chthonios. Dies ist zugleich die all-
gemeinste und exclusivste Bezeichnung des unterirdischen Gottes
schlechtweg: denn diesen generellen Sinn der Bezeichnung des
„Gottes“ überhaupt hat, in Verbindung mit näher bestimmenden
Beiwörtern, der Name „Zeus“ in vielen Localculten bewahrt.
Auch die Ilias nennt einmal den „unterirdischen Zeus“; aber
ihr ist er nichts anderes als der Herr im fernen Todtenreiche,
Hades, der auch in der hesiodischen Theogonie einmal „Zeus der
Chthonische“ heisst2). Aber das Ackerbaugedicht des Hesiod
heisst den böotischen Landmann bei der Bestellung des Ackers
um Segen beten zum chthonischen Zeus; „für die Feldfrucht“
opferte man dem Zeus Chthonios auf Mykonos3).
Häufiger als unter diesem allgemeinsten und erhabensten
Namen1) begegnet uns dieser Gott der Lebenden und Todten
unter mancherlei Verhüllungen. Man nannte die Gottheiten
der Erdtiefe am liebsten mit freundlichen Schmeichelnamen,
die zu Gunsten des Erhabenen oder des Segensreichen ihres
Waltens das Grauen, das die andere Seite ihres Wesens er-
regte, mit begütigendem Euphemismus verschleierten2). So hatte
Hades viele wohlklingende Benennungen und Beinamen3); so
verehrte man den unterirdischen Zeus an vielen Orten unter
dem Namen des Zeus Eubuleus, Buleus4), anderswo, besonders
3)
[193] in Hermione, als Klymenos1). Zeus Amphiaraos, Zeus Tro-
phonios, die wir vorhin in ihrer heroisirten Gestalt betrachtet
haben, sind nichts anderes als solche, mit ehrenvollen Beinamen
benannte Erdgötter, die von ihrer Würde als vollgültige Götter
einiges eingebüsst2) und nur die mantische Kraft desto stärker
entwickelt haben. Auch Hades, der Herrscher im entlegenen
Dunkelreiche, tritt in die Reihe dieser, je nach dem Orte
ihrer Verehrung verschieden benannten Gestaltungen des Zeus
Chthonios. Als dem Könige über die Schatten im Erebos,
wie ihn Homer kennt, sind ihm Altäre und Opfer nicht ge-
widmet3), wohl aber als dem Localgotte einzelner Landschaften.
Im Peloponnes hatte man Cultstätten des Hades in Elis, in
Triphylien4), Sitzen einer sehr alten Cultur; und es ist glaub-
lich genug, dass aus jenen Gegenden auswandernde Stämme
und Geschlechter zur Verbreitung des bei ihnen heimischen
Dienstes des chthonischen Gottes über andere griechische
4)
Rohde, Seelencult. 13
[194] Länder beigetragen haben1). Auch Hades wird seinen pelo-
ponnesischen Verehrern ein Gott des Erdsegens nicht minder
als der Todten gewesen sein2), sogut wie er Herr der Seelen
auch da ist, wo man, „aus Scheu vor dem Namen Hades“3),
ihn nur nach seiner segenspendenden Kraft benannte als Pluton,
Pluteus, Zeus Pluteus.
Die Sorge für die Lebenden und die Todten theilt die
weibliche Gottheit der Erdtiefe, mit dem Namen der Erde
selbst, Gaia, Ge, benannt. Wo sie verehrt wurde, hoffte man
von ihr Segen des Landbaues, aber auch die Herrschaft über
die Seelen stand ihr zu, mit denen gemeinsam man sie anrief
und ihr opferte4). Ihre Heiligthümer blieben in Ehren, nament-
lich zu Athen und an dem Stammsitze uralter Götterdienste,
zu Olympia5). Aber ihre Gestalt scheint aus der riesenhaften
Unbestimmtheit der Götter ältester Vorzeit nicht völlig zu
festerer Deutlichkeit umgebildet worden zu sein, Erdgöttinnen
jüngerer und klarerer Bildung verdrängen sie; am längsten hält
sie die mantische Kraft fest, die sie aus der Erdtiefe, dem Sitze
[195] der Geister und Seelen, an alten Orakelstätten heraufsendet,
aber auch hierin räumt sie Orakelgöttern anderer Art, wie
Zeus und Apollo, vielfach den Platz. Ein Dichter nennt sie
wohl einmal neben dem grossen Herrn der Unterwelt1); im
lebendigen Cultus begegnet sie selten in den Gruppen männ-
licher und weiblicher Gottheiten chthonischen Charakters, die
an vielen Orten gemeinsam verehrt wurden. Vor Allem in
Hermione blühte seit Alters ein heiliger Dienst der unterirdi-
schen Demeter, in Verbindung mit dem des unterirdischen Zeus
unter dem Namen Klymenos und der Kore2). An anderen
Orten verehrte man Pluton und dieselben zwei Göttinnen, oder
Zeus Eubuleus und die gleichen u. s. w.3). Die Benennungen
13*
[196] des unterirdischen Gottes wechseln und schwanken, unwandel-
bar kehren die Namen der Demeter und ihrer göttlichen Tochter
wieder. Einzeln oder zusammen, und im Verein mit anderen
verwandten Gottheiten verehrt, nehmen diese zwei Göttinnen bei
weitem die erste Stelle im Cult der Unterirdischen ein. Der
Glanz und die weite und dichte Verbreitung ihres Cultes über alle
griechischen Städte des Mutterlandes und der Colonien beweist
mehr als irgend etwas anderes, dass seit homerischer Zeit eine
Wandlung auf dem Gebiete des religiösen Gefühls und des
Gottesdienstes vorgegangen sein muss. Homer giebt weder
von der Art noch der Bedeutung des späteren Cultes der
Demeter und Persephone eine Ahnung. Ihm ist Persephone
einzig die ernste, unnahbare Königin im Todtenreiche, Demeter
durchaus nur eine Göttin des Ackersegens1), gesondert vom
Kreise der Olympier, aber auch von engerer Gemeinschaft mit
der Tochter fehlt jede Andeutung2). Jetzt treten, in bewegtem
3)
[197] Hin und Wieder, die beiden Göttinnen in nächste Verbindung,
und es ist als tauschten sie gegenseitig etwas von ihren früher
gesonderten Eigenschaften aus: beide sind nun chthonische Gott-
heiten, des Ackersegens und der Obhut der Seelen gemeinsam
waltend. Wie sich im Einzelnen die Wandlung vollzogen hat,
können wir nicht mehr erkennen. Von einzelnen Mittelpuncten
des Cultus der zwei Göttinnen, der namentlich im Peloponnes
seit uralter Zeit bestand1), mag sich in dem Jahrhundert der
grossen Völkerverschiebungen ein von dem homerisch-ionischen
wesentlich verschiedener Glaube verbreitet haben, wie denn in
späterer Zeit die besondere Gestaltung des in Eleusis gepflegten
Cultus der eng verbundenen Göttinnen sich durch förmliche
Missionen weithin ausgebreitet hat. Es scheint auch, dass
Demeter, in deren Namen schon man eine zweite „Mutter
Erde“ wiedererkennen wollte, sich hier und da im Cultus an die
Stelle der Gaia setzte und damit in innigere Beziehung zu
dem Reiche der Seelen in der Erdtiefe trat.
Wie sich die Zahl der Unterirdischen vermehrte, ihr Cult
sich hob und ausdehnte, gewannen diese Gottheiten eine ganz
2)
[198] andere Bedeutung für die Lebenden als einst für die Griechen
des homerischen Zeitalters. Oberwelt und Unterwelt sind
einander näher gerückt, das Reich der Lebenden grenzt an
jenes jenseitige Land, dessen die chthonischen Götter walten.
Der alte Glaube, dass in Erdhöhlen der eigenen Landschaft,
die man bewohnt und bebaut, der Gott, nicht unerreichbar,
hause, bricht hier und da hervor, nicht mehr völlig durch den
dichterischen Glanz der allein herrschenden olympischen Götter-
welt verschüchtert. Wir haben in einem früheren Abschnitt
von Amphiaraos bei Theben, von Trophonios in der Höhle
bei Lebadea, von dem Zeus in der idäischen Höhle geredet,
auch von jenem Zeus, den Hinabsteigende in einer Höhle in
Epirus thronen sahen. Dies sind Rudimente desselben Glaubens,
der ursprünglich allem localen Cultus der Unterirdischen zu
Grunde liegt. Das Reich der chthonischen Götter, der Geister
und Seelen schien in der Nähe zu sein. „Plutonien“, d. h.
directe Eingänge zur Unterwelt hatte man an manchen Stellen1),
[199] Psychopompeia, Felsschluchten, durch welche die Seelen herauf
an’s Licht gelangen konnten. Inmitten der Stadt Athen galt
die Schlucht am Areopag als Sitz der Unterirdischen1). Am
deutlichsten war die, in den homerischen Gedichten voraus-
gesetzte Trennung der Lebenden von den Unterirdischen auf-
gehoben in Hermione. Dort lag hinter dem Tempel der
Chthonia ein heiliger Bezirk des Pluton, des Klymenos mit
einer Schlucht, durch die einst Herakles den Kerberos herauf-
geholt hatte, und ein „Acherusischer See“2). So nahe schien
das Reich der Seelen, dass ihren Todten die Hermionenser
den üblichen Fährgroschen für Charon, den Fergen der Unter-
welt, nicht mitgaben3): für sie, denen der Acheron im eigenen
1)
[200] Lande lag, gab es kein trennendes Gewässer zwischen der
Heimath der Lebenden und der Abgeschiedenen.
Wichtiger als diese Näherrückung des dunklen Reiches
(dessen örtliche Fixirung doch zumeist der Phantasie überlassen
geblieben sein wird) ist, dass die Unterirdischen der Empfindung
wieder näher traten. Die Gedanken wenden, an so vielen Festen
und Gedenktagen, sich häufiger in’s Jenseits hinüber; die Götter,
die dort herrschen, verlangen und lohnen die Verehrung des
Einzelnen wie der Stadt. Und im Gefolge der chthonischen
Götter, stets nahe mit ihnen verbunden, finden die Seelen der
Todten einen Cult, der in Vielem über die Sitte der homeri-
schen Zeit hinausgeht.
Die nächste Verpflichtung der Ueberlebenden gegen den
Verstorbenen ist die, den Leib auf die übliche Weise zu be-
statten. Diese Zeit nimmt es hiermit ernster als die home-
rische: während bei Homer es vorkommt, dass im Kriege ge-
fallenen Feinden das Begräbniss versagt wird, gilt es jetzt als
eine religiöse Pflicht, die selten verletzt wird, die Leichen der
3)
[201] Feinde zur Bestattung auszuliefern. Vollends Angehörige der
eigenen Stadt der Grabesehren zu berauben, ist äusserster
Frevel; man weiss, wie furchtbar an den Feldherrn in der
Arginusenschlacht das aufgeregte Volk von Athen eine solche
Vernachlässigung rächte. Nichts entbindet den Sohn von der
Verpflichtung, den Vater zu bestatten und ihm die Grabes-
spenden zu widmen1). Entziehen sich dennoch die Angehörigen
dieser Pflicht, so gebietet in Athen dem Demarchen das Ge-
setz, für die Bestattung der Mitglieder seines Demos zu sorgen2).
Ueber das Gesetz hinaus reicht die religiöse Anforderung. Bei
dem heiligen Ackerfeste der Demeter rief der Buzyges zu
Athen einen Fluch aus über die, welche einen Leichnam un-
bestattet liegen liessen3). Was die chthonischen Götter so in
ihren Schutz stellten, ist nicht eine Maassregel der Gesundheits-
polizei; nicht dieser, sondern einzig den „ungeschriebenen
Satzungen“ der Religion genügt Antigone, wenn sie die Leiche
des Bruders mit leichtem Staube bedeckt: schon die symbo-
lische Bestattung wendet den „Greuel“ (ἄγος) ab. Regungen
reiner Pietät mögen sich angeschlossen haben; aber die eigent-
lich bestimmende Vorstellung war jene schon in der Ilias be-
gegnende4), dass die Seele des Unbestatteten im Jenseits keine
Ruhe finde. Sie geht als Gespenst um, ihr Zorn trifft das
Land, in dem sie widerwillig festgehalten ist, so dass die Ver-
hinderung des Begräbnisses „schlimmer wird für die Hindernden
als für die des Begräbnisses nicht theilhaftig Gewordenen“5).
Hingerichtete Verbrecher wirft der Staat wohl unbestattet in
eine Grube6), Vaterlandsverräthern und Tempelräubern versagt
[202] er die Bestattung in der Heimatherde1), und das ist eine furcht-
bare Strafe: denn, wird auch der Verbannte in der Fremde
bestattet2), so fehlt doch seiner Seele dort die dauernde Pflege,
wie sie, im Seelencult, nur die Familie ihren verstorbenen An-
gehörigen daheim widmet und nur an der Stelle, wo deren
Ueberreste ruhen, widmen kann3).
Was uns von einzelnen Gebräuchen der Bestattung be-
kannt ist, weicht in den Grundzügen von dem, was sich im
homerischen Zeitalter als durch den Glauben nicht mehr völlig
erklärte Sitte erhalten hatte, nicht wesentlich ab. Was uns
als Neues entgegentritt, mag zumeist auch nur neubelebter ur-
alter Gebrauch sein. In einzelnen Zügen macht sich die Heilig-
keit des Actes deutlicher bemerkbar.
Der Leichnam wird, nachdem Auge und Mund von der
Hand des nächsten Verwandten geschlossen sind, von den Frauen
aus der Verwandtschaft gewaschen und gesalbt, in reine Ge-
wänder gekleidet und zu feierlicher Ausstellung im Inneren
des Hauses auf dem Lager gebettet. In Athen breitete man,
wohl aus irgend einem superstitiösen Grunde, der Leiche Ori-
ganon und vier gebrochene Weinreben unter1), stellte unter
das Lager Salbgefässe jener schlanken Bildung, wie sie die
Gräber so zahlreich zurückgegeben haben, an die Thüre des
Gemaches zur Reinigung der durch die Annäherung an den
Leichnam religiös Befleckten, wenn sie das Haus wieder ver-
lassen, ein Wassergefäss voll reinen, aus fremdem Hause ent-
lehnten Wassers2). Cypressenzweige, an der Hausthür befestigt,
deuten von Aussen Aengstlichen an, dass eine Leiche drinnen
[204] ruhe1). Das Haupt des Todten pflegte man nach einer, dem
Homer noch unbekannten Sitte mit Kränzen und Binden zu
schmücken, wie es scheint zum Zeichen der Ehrfurcht vor der
höheren Weihe des nun Geschiedenen2).
Die Ausstellung der Leiche, einen ganzen Tag dauernd,
hatte gewiss nicht ursprünglich den Zweck einer öffentlichen
Leichenschau in polizeilichem Interesse, den ihr spätere Schrift-
steller zuschreiben3). An der aufgebahrten Leiche fand die
Todtenklage statt, und dieser Raum zu geben war der
Zweck der Ausstellung. Die Solonische Gesetzgebung musste
die Neigung, diese Klagefeier ungebührlich auszudehnen, ein-
schränken. Nur die Weiber aus der nächsten Verwandt-
schaft, der allein der Seelencult als Pflicht oblag, sollten
theilnehmen4), die gewaltsamen Ausbrüche des Schmerzes, das
[205] Kratzen der Wangen, das Schlagen der Brust und des Hauptes,
wurden untersagt1), ebenso das Anstimmen von „Gedichten“2),
d. h. wohl förmlichen Leichengesängen, dergleichen Homer an
Hektors Bahre die Weiber vortragen lässt. Alte Sitte war
es, noch im Hause, vor dem Hinaustragen der Leiche zur
Bestattung, Opferthiere zu schlachten: es scheint, dass auch
dies Solon verbot3). So hatte auch in anderen Staaten
die Gesetzgebung die Neigung zu ausschweifender Heftigkeit
der Todtenklage einzudämmen4), die im alten Griechenland so
4)
[206] gut wie bei so vielen „Naturvölkern“, bei denen sie sich in
voller Gewaltsamkeit austobt, nicht schlichter Pietät und
einfach menschlicher, zu Lärm und Ungestüm nie sonderlich
aufgelegter Trauer entsprang, sondern dem alten Glauben, dass
der unsichtbar anwesenden Seele des Geschiedenen die heftigsten
Aeusserungen des Schmerzes um seinen Verlust die liebsten
seien1). Die heftige Klage gehört bereits zum Cult der ab-
geschiedenen Seele. Die Einschränkung des herkömmlichen
Jammergeschreies mag sich ihrerseits — wenigstens soweit sie
wirksam wurde — auch nicht allein auf rationelle Erwägungen
(die in solchen Angelegenheiten wenig fruchten), sondern eben-
falls auf superstitiös-religiöse Gründe gestützt haben2).
Die Ausstellung der Leiche scheint durchweg nur einen
Tag gedauert zu haben3). Am frühen Morgen des dritten
4)
[207] Tages1) nach dem Tode wurde die Leiche mitsammt dem
Lager, auf dem sie gebettet war, aus dem Hause getragen.
Zu grossem Prunke der Ausstattung des Leichenzuges mussten
hier und da die Gesetze steuern2). Wie feierlich und glanz-
voll in älterer Zeit auch dieser Theil des Todtencultus sich
gestaltete, kann uns, wenn sie nur irgend der Wirklichkeit
entspricht, die Darstellung eines Leichenzuges auf einer der
hochalterthümlichen „Dipylonvasen“3) lehren. Hier ist die
Leiche auf einem von zwei Pferden gezogenen Wagen hoch
aufgebahrt, Männer mit Schwertern an der Seite, eine ganze
Schaar wehklagend das Haupt schlagender Weiber folgt. In
Athen beschränkte das Gesetz wenigstens für Weiber die
Leichenfolge auf die Nächstverwandten (bis in’s dritte Glied);
Männer, den Weibern vorangehend, scheinen ohne solche Ein-
schränkung zugelassen worden zu sein4). In Athen scheint
ein Gefolge gemietheter karischer Weiber und Männer, die
ihre heimischen Trauerweisen anstimmten, nicht verboten ge-
3)
[208] wesen zu sein 1). Auf Keos schreibt das Gesetz schweigenden
Zug zum Grabe vor 2). Im Ganzen war, in der Beschränkung
eng bürgerlichen Lebens, „das Wilde, Barbarische“ 3) der
Trauerbezeigungen, das in früheren Zeiten vorgeherrscht haben
soll, zu einer mässigen Symbolik abgedämpft.
Ueber die Einzelheiten der Bestattung sind wir ungenügend
unterrichtet. Gelegentliche Aussagen der Schriftsteller lassen
erkennen, was auch die Gräberfunde in griechischen Land-
schaften bestätigen, dass neben der in homerischer Zeit allein
üblichen Verbrennung auch die ältere Sitte, die Leichen un-
verbrannt beizusetzen, in Uebung blieb 4). Der Leib sollte
nicht spurlos vernichtet werden. Aus der Asche des Scheiter-
haufens sammelt der Sohn sorgfältig die Reste der Gebeine
4)
[209] des Vaters 1), um sie in einer Urne oder Kiste beizusetzen;
bleibt der Leib unverbrannt, so wird er nach einer, deutlich
als aus der Fremde herübergenommen sich verrathenden Sitte
in Särgen aus Thon oder Holz geborgen 2) oder auch wohl
(und das wird der ältere Brauch sein) ohne Sarg in die Erde
versenkt und auf eine Blätterlage gebettet 3), oder, wo es die
Bodenbeschaffenheit zuliess, in Felskammern frei auf ein steiner-
nes Lager gelegt 4).
Der frei gewordenen Seele bleibt ein Haft an dem Reste
des Leibes, den sie einst bewohnt; ihr zum Gebrauch und zur
Ergötzung sind die vielfachen Geschirre und Geräthe den
Leichen beigegeben, die uns geöffnete Gräber wiedergeschenkt
Rohde, Seelencult. 14
[210] haben. Aber auf eine Ewigkeit solches Schattenlebens dachten
die Griechen nicht hinaus. Aengstliche Veranstaltungen zur
dauernden Erhaltung der Leichen, durch Einbalsamirung und
ähnliche Mittel, wie sie an einzelnen Leichen der mykenäischen
Schachtgräber angewendet worden sind 1), waren in diesen
späteren Zeiten nur noch, als eine Alterthümlichkeit, bei der
Beerdigung der spartanischen Könige üblich.
Ist der Leib bestattet, so ist die Psyche des Verstorbenen
in die Schaar der unsichtbaren Wesen, der „besseren und
höheren“ 2) eingetreten. Dieser Glaube, der dem Aristoteles
seit undenklicher Vorzeit unter den Griechen lebendig zu sein
schien, tritt in dem Cult dieser nachhomerischen Jahrhunderte
aus der Trübung, die ihn in homerischer Zeit verhüllt hatte,
völlig deutlich hervor. Die Seele des Verstorbenen hat ihre
besondere Cultgemeinde, die sich naturgemäss aus dessen
Nachkommen und Familie zusammensetzt und auf diese sich
beschränkt. Es hatte sich die Erinnerung an eine älteste Zeit
erhalten, in welcher der Todte im Inneren seines Hauses, der
nächsten Stätte seines Cultes, beigesetzt wurde 3). Das muss
[211] einer Zeit ganz natürlich erschienen sein, die von dem später
bis zur Peinlichkeit ausgebildeten Begriff der ritualen „Rein-
heit“ noch nichts wusste: denn dass etwa der Grieche, wie es
viele „Naturvölker“, bei denen die gleiche Sitte des Begräbnisses
der Todten in der eigenen Hütte herrscht, machen, das un-
heimlich gewordene Haus nun geräumt und dem Geiste des
darin Begrabenen zu ausschliesslichem Besitz überlassen hätte 1),
haben wir keinen Grund zu glauben. Wenigstens innerhalb
der Stadt die Todten zu begraben, fand man auch später in
einigen dorischen Städten unbedenklich 2). Auch wo aus reli-
giöser Bedenklichkeit und aus Gründen bürgerlicher Zweck-
mässigkeit die Gräber vor die Mauern der Stadt verwiesen
waren, hielt die Familie ihre Gräber beisammen, oft in weit-
läufigen, ummauerten Bezirken 3); wo ein ländliches Grundstück
Familienbesitz war, umschloss dieses auch die Gräber der
Vorfahren 4).
Wo es auch lag, das Grab war heilig, als die Stätte, an
der die Nachkommen den Seelen der vorangegangenen Familien-
mitglieder Pflege und Verehrung widmeten. Die Grabsäule
bezeichnete die Heiligkeit des Ortes; Baumpflanzungen, bis-
weilen ganze Haine, die das Grab (gleich so vielen Altären und
Tempeln der Götter) umgaben 1), sollten den Seelchen als
Lustort dienen 2).
Die Opfergaben begannen wohl meistens gleich bei der
Bestattung. Hierbei Spendegüsse aus Wein, Oel und Honig
darzubringen, mag allgemein üblich gewesen sein 3). Blutige
Opfer, wie sie bei Homer am Scheiterhaufen des Patroklos,
auch des Achill, dargebracht werden, können nicht ungewöhn-
lich gewesen sein. Solon verbot ausdrücklich, ein Rind am
Grabe zu opfern 4), in Keos wird ebenso ausdrücklich durch
das Gesetz gestattet, bei der Bestattung „ein Voropfer darzu-
bringen, nach Vätersitte“ 5). Von der Bestattungsfeier zurück-
gekehrt, begehen die Familienangehörigen, nachdem sie sich
einer religiösen Reinigung 6) unterzogen haben, bekränzt (während
sie vorher der Bekränzung sich enthalten hatten 7]), das Leichen-
4)
[213] mahl 1). Auch dies war ein Theil des Seelencultes. Die Seele
des Verstorbenen galt als anwesend, ja als der Gastgeber 2);
Scheu vor dem unsichtbar Theilnehmenden war es, welche die
Sitte eingab, nur lobpreisend seiner bei dem Mahle zu gedenken 3).
Das Leichenmahl war eine Mahlzeit für die überlebenden An-
gehörigen, im Hause des Todten ausgerichtet. Dem Todten
allein wurde an seinem Grabe 4) eine Mahlzeit aufgetragen am
dritten und neunten Tage nach der Bestattung 5). Am neunten
scheint nach alter Sitte die eigentliche Trauerzeit ein Ende
gefunden zu haben 6). Wo diese länger ausgedehnt wurde, er-
streckte sich auch die Reihe der ersten Todtenspenden auf eine
[214] weitere Zeit. Sparta hatte eine Trauerzeit von elf Tagen 1);
in Athen schloss sich bisweilen dem Opfer am dritten und
neunten ein Opfermahl am dreissigsten Tage an 2); dieses Mahl
scheint auch mehrmals wiederholt worden zu sein 3).
War die Reihe der an das Begräbniss sich anschliessenden
Begehungen gänzlich vollendet, so lag die Pflege der Grab-
[215] stätte, aber nicht minder die Seelenpflege des vorangegangenen
Familienmitgliedes den Angehörigen ob; zumal der Sohn und
Erbe hatte keine heiligere Pflicht als die, der Seele des Vaters
„das Uebliche“ (τὰ νόμιμα) darzubringen. Ueblich waren zunächst
Todtenspenden an gewissen regelmässig wiederkehrenden Todten-
feiertagen. Am 30. des Monats fand herkömmlich ein Fest
der Todten statt 1). Regelmässig wird in jedem Jahre, an
den „Genesia“, die Wiederkehr des Geburtstages des Ver-
storbenen mit Opfern gefeiert 2). Der Tag, an dem er einst
in’s Leben eingetreten war, hat noch für die Psyche des nun
Verstorbenen Bedeutung. Man sieht wohl, dass zwischen Leben
und Tod keine unüberschreitbare Kluft liegt; es ist als wäre
das Leben gar nicht unterbrochen durch den Tod.
Neben diesen wechselnden Genesien der einzelnen Familien
bestand in Athen ein ebenfalls Genesia genanntes, von allen
[216] Bürgern zugleich den Seelen ihrer Angehörigen am 5. Boë-
dromion begangenes Fest 1). Wir hören noch von Nemesia als
einem (wohl zur Abwendung des stets gefürchteten Zornes
dieser Geister bestimmten) Fest der Seelen zu Athen 2), auch
von mancherlei Seelenfesten in anderen Staaten 3). In Athen
fiel das Hauptfest aller Seelen in den Schluss des dionysischen
Anthesterienfestes im Frühjahr, von dem es einen Theil bildete.
Es war die Zeit, zu der die Todten herauf kamen in das Reich
der Lebendigen, wie in Rom an den Tagen, an denen „mun-
dus patet“, wie in den Zwölfen, nach dem Glauben unseres
Volkes. Die Tage gehörten den Seelen (und ihrem Herrn,
[217] Dionysos) an, es waren „unreine Tage“ 1), zu bürgerlichen
Geschäften ungeeignet; die Tempel der Götter blieben da ge-
schlossen 2). Zum Schutz gegen die unsichtbar umgehenden
Geister wandte man allerlei erprobte Mittel an: man kaute
beim Morgenausgang Blätter von Weissdorn, man bestrich die
Thürpfosten mit Pech: so hielt man die Unheimlichen fern 3).
Den eigenen Todten brachte die Familie Gaben dar, den
Seelenopfern ähnlich, die an Seelentagen noch bis in unsere
3)
[218] Zeiten bei vielen Völkern den Verstorbenen gespendet wurden.
Man brachte Weihegüsse den Todten dar 1); am letzten Tage
des Festes, den Chytren, der keinem der Olympier, nur dem
unterirdischen Hermes dem Seelengeleiter geweiht war, stellte
man diesem Gott, aber „für die Todten“ in Töpfen (nach
denen der Tag benannt war) gekochte Erdfrüchte und Säme-
reien hin 2). Vielleicht warf man auch, als Seelenopfer, Honig-
kuchen in einen Erdschlund im Tempel der Ge Olympia 3).
Auch im Hause wird man die hereinschwärmenden Seelen
bewirthet haben; zuletzt wurden die nicht für die Dauer will-
kommenen Gäste ausgetrieben, ganz wie es am Schluss der
Seelenfeste bei Völkern alter und neuerer Zeiten zu geschehen
[219] pflegt 1). „Hinaus, ihr Keren, die Anthesterien sind zu Ende“
rief man den Seelchen zu, wobei man bemerkenswerther Weise
ihnen den uralten Namen gab, dessen ersten Sinn schon Homer
vergessen hat, nicht aber attische Volkssprache 2).
Der Einzelne mag noch viele Gelegenheiten gefunden
haben, seinen Todten Gaben darzubringen und Verehrung zu
bezeigen. Der Cult, den die Familie den Seelen ihrer Vor-
fahren widmet, unterscheidet sich von der Verehrung der unter-
irdischen Götter und der Heroen kaum durch etwas anderes
als die viel engere Begrenzung der Cultgemeinde. Die Natur
selbst verband hier die Opfernden und Verehrenden, und nur
sie, mit dem Gegenstand ihrer Andacht. Wie sich, unter dem
Einflusse einer alles Erhabene mehr und mehr zum Idyllischen
einebnenden Civilisation, der Seelencult zu einer eigenen Trau-
lichkeit ausbilden konnte, davon empfinden wir einiges bei dem
Anblick bildlicher Darstellungen solchen Cultes auf den,
freilich meist erst dem vierten Jahrhundert angehörigen Salb-
gefässen, wie sie in Attika bei der Bestattung gebraucht und
dann dem Todten in’s Grab mitgegeben wurden. Ein Hauch
schlichter Gemüthlichkeit liegt auf diesen skizzenhaften Bild-
chen. Man sieht die Trauernden mit Bändern und Gewinden
das Grabmal schmücken; die Verehrer nahen mit der Geberde
der Anbetung, sie bringen mancherlei Gegenstände des täg-
lichen Gebrauches, Spiegel, Fächer, Schwerter u. dgl. dem
Todten zur Ergötzung 1). Bisweilen sucht ein Lebender die
Seele durch Musik zu erfreuen 2). Auch Opfergaben, Kuchen,
Früchte, Wein werden dargebracht; es fehlen blutige Opfer 3).
Von einer erhabeneren Auffassung geben in der feierlichen
Haltung ihrer Darstellungen die viel älteren Reliefbilder Kunde,
die sich auf Grabstätten in Sparta gefunden haben. Dem thro-
nenden Elternpaar nähern sich, in kleinerer Bildung, die an-
betenden Familienmitglieder; sie bringen Blumen, Granatäpfel,
aber auch wohl ein Opferthier, einen Hahn, ein Schwein, einen
[221] Widder. Andere, jüngere Typen solcher „Todtenmahle“ zeigen
die Verstorbenen stehend (neben einem Pferde nicht selten)
oder auf einem Ruhebette liegend, und die Trankspende
der Ueberlebenden entgegennehmend 1). Diese Bildwerke lassen
uns den Abstand wahrnehmen, in welchen die abgeschiedenen
[222] Geister von den Lebenden gerückt schienen; die Todten er-
scheinen hier in der That wie „bessere und mächtigere“ Wesen;
bis zu ihrem Eintritt in heroische Würde ist der Weg nicht
mehr weit. Trankspenden, wie sie hier die Abgeschiedenen
empfangen, aus Honig, Wasser, Milch, auch Wein und anderen
Flüssigkeiten gemischt, nach einem genau geregelten Ritual
dargebracht, bildeten einen wesentlichen Theil der Todtenopfer 1).
Sonst auch blutige Opfer, namentlich Schafe (seltener Rinder)
schwarzer Farbe, die, den Seelen zum alleinigen Genuss, ganz
verbrannt werden mussten, wie das bei allen Opfern für unter-
irdische Geister geschah 2).
Dieser ganze Cult, sinnlich wie er war, beruht auf der
Voraussetzung, die auch bisweilen laut wird, dass die Seele
des Todten sinnlichen Genusses der dargebrachten Gaben fähig
und bedürftig sei 3). Sie ist auch sinnlicher Wahrnehmung
[223] nicht beraubt. Aus dem Grabe hervor hat sie noch Empfin-
dung von den Vorgängen in dessen Nähe 1), es ist nicht gut,
ihre Aufmerksamkeit zu erregen, besser thut man, schweigend
an Gräbern vorüber zu gehen 2). Um die Gräber, die Stätte
ihres Cultus, dachte sich das Volk, nach einem bekannten
Worte des Platon, die Seelen der Verstorbenen flattern und
schweben 3); die Bilder der attischen Salbgefässe illustriren
diesen Glauben, indem sie die Seelen der Todten um das
Grabmal fliegend darstellen, durch das winzige Maass dieser
Flügelgestalten aber zugleich deren etwas widerspruchsvolle
unkörperliche Körperlichkeit und ihre Unsichtbarkeit für ir-
dische Augen andeuten 4). Bisweilen werden auch die Seelen
sichtbar, am liebsten, gleich den unterirdischen Göttern und
den Heroen, in Schlangengestalt 5). Sie sind auch nicht unbe-
3)
[224] dingt an die Umgebung des Grabes gefesselt. Bisweilen kehren
sie in ihre alten Wohnstätten, unter die Lebenden zurück, auch
ausser jenen Seelentagen im Anthesterion. Auch die Griechen
kannten den Brauch, zu Boden Gefallenes nicht aufzuheben,
sondern es den im Hause umirrenden Seelen zum Raub zu
überlassen1). Ist sie unsichtbar den Lebenden nahe, so ver-
nimmt die Seele auch, was etwa Jemand Uebles von ihr redet;
sei es um ihrer Machtlosigkeit zu Hülfe zu kommen, oder um-
gekehrt um vor der Rache der unsichtbar Mächtigen zu warnen,
verbot ein Solonisches Gesetz das Schmähen eines Todten.
Das ist der wahre und im Volksglauben begründete Sinn des:
de mortuis nil nisi bene. Den Verleumder eines Todten haben
dessen Nachkommen gerichtlich zu verfolgen2). Auch dies
gehört zu ihren religiösen Pflichten gegen die Seele des Todten.
Wie aller Cult hat es der Seelencult mehr zu thun mit
dem Verhältniss des Dämons zu den Lebenden als mit dessen
Natur und Wesen, wie sie etwa an und für sich betrachtet
sich darstellen mögen. Eine dogmatische Bestimmung dieses
Wesens fordert er nicht und bietet er nicht. Doch liegt eine
allgemeine Vorstellung von der Natur der abgeschiedenen Seele,
die sich nur genauer Formulirung entzieht, dem Cult zu Grunde.
Man bringt den Seelen Opfer, wie den Göttern1) und Heroen
auch, weil man in ihnen unsichtbar Mächtige2) sieht, eine be-
sondere Art der „Seligen“, wie man schon im 5. Jahrhundert
die Verstorbenen nannte. Man will sie gnädig stimmen3), oder
auch ihren leicht gereizten Zorn4) abwenden. Man hofft auf
2)
Rohde, Seelencult. 15
[226] ihre Hülfe in aller Noth; ganz besonders aber, glaubt man,
können sie, ähnlich den chthonischen Göttern, in deren Reich
sie eingegangen sind, dem Ackerbau Segen bringen1), und bei
dem Eintritt einer neuen Seele in das Leben förderlich sein.
Daher den Seelen der Vorfahren bei der Hochzeit Trankopfer
dargebracht werden2). Auch die Tritopatoren, zu denen man
in Attika bei Gründung einer Ehe um Kindersegen flehte3),
sind nichts anderes als die Seelen der Ahnen4); wenn sie uns
4)
[227] zugleich als Windgeister bezeichnet werden1), so zeigt oder
verbirgt sich hier ein vereinzeltes Stück ältesten Volksglaubens:
die abgeschiedenen Seelen werden zu Geistern der Luft, die
im Winde fahrenden Geister sind frei gewordene Seelen. —
Aber wenn es im eigenen Interesse gut und gerathen ist,
diese unsichtbaren Seelenmächte sich durch Opfer geneigt zu
machen und wohlwollend zu erhalten, so ist doch in viel höherem
4)
15*
[228] Maasse ihre Verehrung eingegeben durch ein Gefühl der Pietät,
das nicht mehr auf eigenen Vortheil, sondern auf Ehre und
Nutzen der verehrten Todten bedacht ist, und diese freilich
eigenthümlich gefärbte Pietät giebt dem Seelencult und den
ihm zu Grunde liegenden Vorstellungen erst ihre besondere
Art. Die Seelen sind abhängig von dem Culte der noch im
Leben stehenden Mitglieder ihrer Familie, ihr Loos bestimmt
sich nach der Art dieses Cultes1). Völlig verschieden ist der
Glaube, in dem dieser Seelencult wurzelt, von der Vorstellungs-
weise der homerischen Gedichte, nach der die Seelen, fern
in das Reich des Hades gebannt, aller Pflege und Sorge der
Lebenden auf ewig entzogen sind; völlig verschieden auch von
dem Glauben, den die Mysterien ihren Gläubigen einpflanzten.
Denn nicht nach ihrem (religiösen oder moralischen) Ver-
dienste empfängt hier die abgeschiedene Seele Vergeltung
im Jenseits. In geschiedenem Bette fliessen diese Glaubens-
richtungen neben einander her. Am nächsten berührt sich
ohne Frage der Seelencult und sein Glaubenskreis mit dem
Heroencult, aber der Unterschied ist dennoch ein grosser. Hier
ist nicht mehr von irgend einem, durch göttliches Wunder ver-
liehenen Privilegium einzelner Bevorzugter die Rede; jede Seele
hat Anspruch auf die sorgende Pflege der Ihrigen, einer jeden
wird ihr Loos bestimmt nicht nach ihrem besonderen Wesen
und ihrem Thun bei Leibesleben, sondern je nach dem Ver-
halten der Ueberlebenden zu ihr. Darum denkt beim Heran-
nahen des Todes ein jeder an sein „Seelenheil“, das heisst aber,
an den Cult, den er seiner, vom Leibe geschiedenen Seele
sichern möchte. Bisweilen bestimmt er zu diesem Zwecke eine
[229] eigene, testamentarisch festgesetzte Stiftung1). Wenn er einen
Sohn hinterlässt, so wird für die Pflege seiner Seele hinreichend
gesorgt sein; bis zu der Mündigkeit des Sohnes wird dessen
Vormund die geziemenden Gaben darbringen2). Auch Sclaven,
die er freigelassen hat, werden sich dem Culte des einstigen
Herrn nicht entziehen3). Wer sterbend keinen Sohn hinter-
lässt, der denkt vor Allem daran, den Sohn einer anderen
Familie in die seinige aufzunehmen, dem mit seinem Vermögen
vor allem die Verpflichtung zufällt, dem Adoptivvater und
dessen Vorfahren dauernden und regelmässigen Cult zu widmen,
und so für deren Seelen Sorge zu tragen. Dies ist der wahre
und ursprüngliche Sinn aller Adoption; und wie ernstlich man
solche Sorge um die rechte Pflege der abgeschiedenen Seele
[230] nahm, das lässt am deutlichsten Isaeos erkennen in jenen Erb-
schaftsreden, in denen er mit vollendeter, fast unmerklicher
Kunst den einfachen und ächten Empfindungen schlichter,
von keiner Aufklärung bei dem Glauben der Väter gestörter
athenischer Bürgersleute Ausdruck giebt1).
Aller Cult, alle Aussicht auf volles Leben und — so darf
man die naive Vorstellung aussprechen — auf Wohlsein der
Seele beruht auf dem Zusammenhalt der Familie; für die
Familie sind die Seelen der vorangegangenen Eltern, in einem
eingeschränkten Sinne freilich, Götter — ihre Götter1). Man
kann kaum daran zweifeln, dass wir hier auf die Wurzeln alles
Seelenglaubens getroffen sind, und mag selbst geneigt sein, als
einer richtigen Ahnung der Meinung derjenigen Raum zu geben,
die in diesem ältesten Familien-Seelencult den Vorläufer alles
Cultes weiterer Cultgenossenschaften, der Verehrung der Götter
des Staates und der Volksgemeinde, auch der Heroen, als der
Seelen der Ahnherren weiterer Verbände des Volkes, erkennen.
Die Familie ist älter als der Staat2), und bei allen Völkern,
die über die Familienbildung nicht fortgeschritten sind bis zur
Staatenbildung, finden wir unfehlbar diese Gestaltung des Seelen-
glaubens wieder. Er hat sich bei den Griechen, die so viel
1)
[232] Neues im Verlauf der Geschichte aufgenommen haben, ohne
das Aeltere darum aufzugeben, im Schatten der grossen Götter
und ihres Cultes, mitten in der übermächtigen Ausbreitung
der Macht und der Ordnungen des Staates erhalten. Aber
er ist durch diese grösseren und weiterreichenden Gewalten
eingeschränkt und in seiner Entwicklung gehemmt worden. Bei
freierer Ausbildung wären wohl die Seelen der Hausväter zu
der Würde mächtig waltender Geister des Hauses, unter dessem
Heerde sie ehemals zur Ruhe bestattet wurden, gesteigert
worden. Aber die Griechen haben nichts, was dem italischen
Lar familiaris völlig entspräche1). Am nächsten kommt diesem
noch der „gute Dämon“, den das griechische Haus verehrte.
Seine ursprüngliche Natur als einer zum guten Geist seines
Hauses gewordenen Seele eines Hausvaters ist bei genauerem
Zusehen noch erkennbar: aber die Griechen hatten dies ver-
gessen2).
Wir können nicht mehr deutlich erkennen, wie der Seelen-
cult in nachhomerischer Zeit sich neu belebt und in auf- oder
absteigender Richtung entwickelt hat. Einzelne Thatsachen
2)
[234] treten immerhin deutlich hervor. An einzelnen, bereits bemerk-
lich gemachten Anzeichen können wir abnehmen, dass der Cult
der Todten in früheren Zeiten mit grösserem Aufwand und
lebhafterer Inbrunst betrieben wurde als in den Jahrhunderten,
über die unsere Kenntniss wenig hinaus reicht, dem sechsten
und fünften. Und wir müssen auf einen, der grösseren Stärke
des Cultus entsprechenden, lebhafteren Glauben an Kraft und
Würde der Seelen in jenen früheren Zeiten schliessen. Mit
grosser Macht scheint damals der alte Glaube und Brauch durch
die Verdunklung, die Gleichgültigkeit der in den homerischen
Gedichten zu uns redenden Zeit hervorgebrochen zu sein. Einem
einzelnen der griechischen Stämme hierbei eine besonders ein-
greifende Thätigkeit zuzuschreiben, haben wir keine Veran-
lassung. Je nach der Sinnesart und der Culturentwicklung der
Bewohner der einzelnen Landschaften zeigt freilich auch ihr
Seelencult wechselnde Züge. In Attika ist die Grundstimmung
die einer pietätvollen Vertraulichkeit; in Lakonien, in Böotien1)
treten uns höher gesteigerte Vorstellungen vom Dasein der
Abgeschiedenen entgegen. Anderswo, wie in Lokris, auf der
Insel Keos2), scheint nur eine sehr abgeschwächte Weise des
[235] Seelencultes sich erhalten zu haben. Seit vorrückende Cultur
den Einzelnen von der Ueberlieferung seines Volkes unab-
hängiger machte, werden auch innerhalb eines jeden Stammes
und Staates die Stimmungen und Meinungen der Einzelnen
mannigfach abgestuft gewesen sein. Homerische, aus der
Dichtung Jedermann geläufige Vorstellungen mögen sich trübend
eingeschoben haben: selbst wo mit voller Innigkeit der Seelen-
cult betrieben wird, bricht doch einmal unwillkürlich die, im
Grunde mit solchem Cult unverträgliche Meinung durch, dass
die Seele des also Geehrten „im Hades“ sei1). Schon in
früher Zeit wird die, noch über Homer hinausgehende Annahme
laut, dass den Tod überhaupt nichts überdaure; auch attische
Redner dürfen ihrem Publicum von der Hoffnung auf fort-
dauerndes Bewusstsein und Empfindungsfähigkeit nach dem
Tode mit einem Ausdruck des Zweifels reden. Aber solche
Zweifel beziehen sich auf die theoretische Ansicht von der Un-
sterblichkeit der Seele. Der Cult der Seelen bestand in den
Familien fort. Selbst ein Ungläubiger, wenn er sonst ein treuer
Sohn seiner Stadt und eingewurzelt in ihren alten Sitten war,
konnte in seinem letzten Willen ernstlich Sorge für den dauern-
den Cult seiner Seele und der Seelen seiner Angehörigen tragen:
wie es, zur Verwunderung der Späteren2), Epikur in seinem
[236] Testament macht. Selbst der Unglaube hielt sich eben an
den Cult, wie an anderes Herkömmliche, und der Cult er-
zeugte doch immer wieder bei Vielen den Glauben, der ihn
allein rechtfertigte.
Auf die Neubelebung und Ausbildung des Seelencultes
hat auch jene priesterliche Genossenschaft, welcher bei der
Ordnung der Verehrung unsichtbarer Mächte die griechischen
Staaten höchste Entscheidung zugestanden, die Priesterschaft
des delphischen Orakels, ihren Einfluss geübt. Auf Anfrage des
Staates bei bedrohlichen Himmelserscheinungen gab wohl der
Gott die Anweisung, neben den Opfern für Götter und Heroen
auch „den Todten an den richtigen Tagen durch ihre An-
gehörigen opfern zu lassen nach Brauch und Herkommen“1).
Was im einzelnen Falle bei Verehrung einer abgeschiedenen
Seele das heilige Recht fordere, lehrte zu Athen den Zweifeln-
den einer der „Exegeten“, vermuthlich aus demjenigen Exegeten-
collegium, das unter dem Einflusse des delphischen Orakels
eingesetzt war2). Auch das Recht der Todten schirmte der
2)
[237] Gott; dass seine Wahrsprüche die Heiligkeit des Seelencultes
bestätigten, musste zu dessen Erhaltung und Geltung in der
Ehrfurcht der Lebenden wirksam beitragen.
Tiefer haben die delphischen Satzungen eingegriffen, wo
es sich handelte um den Cult nicht eines friedlich Verstorbenen,
sondern eines durch Gewaltthat dem Leben Entrissenen. In
der Behandlung solcher Fälle zeigt sich die Wandlung, welche
in nachhomerischer Zeit der Seelenglaube durchgemacht hat,
in auffälliger Bestimmtheit.
Die homerischen Gedichte kennen bei der Tödtung eines
freien Mannes keinerlei Betheiligung des Staates an der Ver-
folgung des Mörders. Die nächsten Verwandten oder Freunde
des Erschlagenen1) haben die Pflicht, an dem Thäter Blut-
rache zu nehmen. In der Regel entzieht dieser sich der
Vergeltung durch die Flucht in ein fremdes, gegen seine That
gleichgültiges Land; von einem Unterschied in der Behandlung
2)
[238] vorbedachten Mordes, unfreiwilliger oder gar gerechtfertigter
Tödtung hört man nichts1), und es wurde vermuthlich, da
damals noch keine geordnete Untersuchung die besondere Art
des vorliegenden Falles feststellte, die Verschiedenheit der
einzelnen Arten des Todtschlages von den Verwandten des Er-
schlagenen gar nicht beachtet. Kann sich der Mörder den zur
Blutrache Berufenen durch die Flucht entziehen, so können
diese ihrerseits auf die rächende Vergeltung, die eigentlich den
Tod des Mörders forderte, verzichten, indem sie sich durch eine
Busse, die der Thäter erlegt, abfinden lassen, und dieser bleibt
dann ungestört daheim2). Es besteht also im Grundsatz die
Forderung der Blutrache, aber der vergeltende Mord des
Mörders kann abgekauft werden. Diese starke Abschwächung
des alten Blutrachegedankens kann nur entsprungen sein aus
ebenso starker Abschwächung des Glaubens an fortdauerndes
Bewusstsein, Macht und Recht der abgeschiedenen Seele des
Ermordeten, auf dem eben die Blutracheforderung begründet
war. Die Seele des Todten ist machtlos, ihre Ansprüche sind
leicht abzufinden mit einem Wergelde, das den Lebenden ent-
richtet wird. Im Grunde ist die abgeschiedene Seele bei
dieser Abfindung gar nicht mehr betheiligt, es bleibt nur ein
Geschäft unter Lebenden3). Bei der Verflüchtigung des Seelen-
[239] glaubens fast zu völliger Nichtigkeit, wie sie die homerischen Ge-
dichte überall zeigen, ist diese Abschwächung des Glaubens an
einem einzelnen Puncte nicht überraschend. Es tritt aber auch
hier, wie bei einer Betrachtung des homerischen Seelenglaubens
überall, hervor, dass die Vorstellung von Machtlosigkeit und
schattenhafter Schwäche der Seelen nicht die ursprüngliche ist,
sondern einer älteren, die den Seelen dauerndes Bewusstsein
und Einfluss auf die Zustände unter den Lebendigen zutraut,
erst im Laufe der Zeit sich untergeschoben hat. Von jener
älteren Vorstellung giebt die auch noch im homerischen
Griechenland unvergessene Verpflichtung zur Blutrache nach-
drücklich Zeugniss.
In späterer Zeit ist die Verfolgung und Bestrafung des
Todtschlags nach wesentlich anderen Grundsätzen geordnet.
Der Staat erkannte sein Interesse an der Ahndung des
Friedensbruches an; wir dürfen annehmen, dass in griechischen
Städten überall der Staat in seinen Gerichtshöfen an der ge-
regelten Untersuchung und Bestrafung des Mordes sich be-
theiligte1). Deutlicheren Einblick haben wir auch hier nur in
3)
[240] die athenischen Verhältnisse. In Athen haben nach altem, seit
der gesetzlichen Festsetzung durch Drakon niemals ausser
Geltung gekommenen Rechte zur gerichtlichen Verfolgung des
Mörders die nächsten Verwandten des Ermordeten (oder unter
Umständen die Genossen der Phratria, der er angehört hatte)
das ausschliessliche Recht, aber auch die unerlässliche Ver-
pflichtung. Offenbar hat sich in dieser Anklagepflicht der
Verwandten ein, nach den Anforderungen des Staatswohls um-
gestalteter Rest der alten Blutrachepflicht erhalten. Es ist
der gleiche, zu enger sacraler Gemeinschaft verbundene Kreis
der Verwandten bis in das dritte Glied, denen die Erbberech-
tigung zusteht zugleich mit der Pflicht des Seelencultes, die
hier dem durch Gewalt um’s Leben Gekommenen zu „helfen“
berufen sind. Der Grund dieser, aus der alten Blutrache ab-
geleiteten Verpflichtung versteht sich leicht: auch dies ist ein
Theil des, jenen Verwandtenkreisen obliegenden Seelencultes.
Nicht ein abstractes „Recht“, sondern die ganz persönlichen
Ansprüche des Verstorbenen haben seine Hinterbliebenen zu
vertreten. In voller Kraft lebte noch im fünften und vierten
Jahrhundert in Athen der Glaube, dass die Seele des gewaltsam
Getödteten, bevor das ihm geschehene Unrecht an dem Thäter
gerächt sei, unstät umirre 1), zürnend über den Frevel, zürnend
auch den zur Rache Berufenen, wenn sie ihre Pflicht ver-
säumen. Sie selber wird zum „Rachegeist“; ihr Groll kann auf
ganze Generationen hinaus furchtbar wirken 2). Für sie, als
1)
[241] ihre Vertreter und Vollstrecker ihres Wunsches, die Rache ohne
Säumen einzutreiben ist heilige Pflicht der zur Pflege der Seele
überhaupt Berufenen. Selbsthilfe verbietet diesen der Staat,
aber er fordert sie zur gerichtlichen Klage auf; er selbst über-
nimmt das Urtheil und die Bestrafung, so jedoch, dass er bei
der Ausführung den Verwandten des Erschlagenen einen ge-
wissen Einfluss gewährt. In genau geregeltem Rechtsverfahren
wird an den hierzu bestellten Gerichtshöfen entschieden, ob die
That sich als überlegter Mord, unfreiwilliger Todtschlag, oder
gerechtfertigte Tödtung darstelle. Mit dieser Unterscheidung
2)
Rohde, Seelencult. 16
[242] greift der Staat tief in das alte, lediglich der Familie des Ge-
tödteten anheimgestellte Blutracherecht ein, in welchem, wie
man aus Homer schliessen muss, einzig die Thatsache des
gewaltsam herbeigeführten Todes des Verwandten, nicht aber
die Art und die Motive der Tödtung in Betracht gezogen
wurden. Den Mörder trifft Todesstrafe, der er sich vor Fällung
des Urtheils durch Flucht, von der keine Rückkehr gestattet ist,
entziehen kann. Er weicht aus dem Lande; an der Grenze
des Staates hört dessen Macht auf; aber auch die Macht der
zürnenden Seele, beschränkt auf ihre Heimath, wie die aller
an das Local ihrer Verehrung gefesselten Geister, reicht über
die Landesgrenze nicht hinaus. Wenn durch Flucht über die
Grenze „der Thäter sich dem von ihm Verletzten — d. h. der
zürnenden Seele des Todten — entzieht“ 1), so ist er gerettet,
wenn auch nicht gerechtfertigt: dies allein ist der Sinn solcher
Erlaubniss freiwilliger Verbannung. Unfreiwillige Tödtung 2)
wird mit Verbannung auf eine begrenzte Zeit bestraft, nach
deren Ablauf die Verwandten des Erschlagenen dem Thäter,
bei seiner Rückkehr in’s Vaterland, Verzeihung zu gewähren
haben 3), die sie ihm nach einstimmig zu fassendem Beschluss 4)
sogar vor Antritt der Verbannung, so dass diese ganz er-
[243] lassen bleibt, gewähren können. Ohne Zweifel haben sie die
Verzeihung zugleich im Namen des Todten, dessen Recht sie
vertreten, auszusprechen: wie denn der tödtlich Getroffene vor
seinem Tode dem Thäter verzeihen konnte, selbst bei über-
legtem Mord, und damit den Verwandten die Pflicht zur An-
klage erlassen war 1). So sehr hatte man selbst im geordneten
Rechtsstaat bei Mordprocessen einzig und allein das Rache-
gefühl der beleidigten Seele im Auge, und gar nicht die, das
Recht verletzende That des Mörders als solche. Wo kein
Racheverlangen des Ermordeten zu stillen ist, bleibt der Mörder
straffrei; wird er bestraft, so geschieht dies, um der Seele des
Getödteten Genugthuung zu gewähren. Nicht mehr als Opfer
wird er ihr geschlachtet, aber wenn die Anverwandten des
Gemordeten von ihm die Rache in den staatlich vorgeschriebenen
Grenzen eintreiben, so ist auch dies ein Theil des dem Todten
gewidmeten Seelencultes.
Der Staat weist wohl die von den Verwandten des Ge-
tödteten geforderte Blutrache in gesetzliche, den Ordnungen des
Gemeinwohles nicht zuwiderlaufende Bahnen, aber er will keines-
wegs die Grundgedanken der alten Familienrache austilgen.
Eine Neuerstarkung der, mit dem Seelencult eng verbundenen
Vorstellungen von der gerechten Racheforderung des gewalt-
sam um das Leben Gebrachten erkennt auch der Staat an,
indem er jene, in homerischer Zeit übliche Abkaufung der
Blutschuld durch eine den Verwandten des Todten zu ent-
richtende Busse verbietet 2). Er hebt den religiösen Charakter
16*
[244] des ganzen Vorganges nicht auf, sondern übernimmt die reli-
giösen Forderungen auf seine Organe: ebendarum ist der Ge-
richtsvorsteher aller Blutgerichte der Archon König, der staat-
liche Verwalter der aus dem alten Königthum herübergenom-
menen religiösen Obliegenheiten. Deutlich ist besonders die
religiöse Grundlage des ältesten der athenischen Blutgerichte.
Es hat seinen Sitz auf dem Areopag, dem Hügel der Fluch-
göttinnen, über der heiligen Schlucht, in der sie selbst, die
„Ehrwürdigen“ hausen. Mit ihrem Dienst ist sein Richteramt
eng verbunden 1). Bei den Erinyen schwuren bei Beginn eines
Processes beide Parteien 2). Jeder der drei Tage am Monats-
2)
[245] ende, an dem hier Processe stattfanden 1), war je einer der
drei Göttinnen geweiht 2). Ihnen opferte, wer am Areopag
freigesprochen war 3): denn sie sind es, welche ihn freigeben,
wie sie es sind, die Bestrafung des Mörders heischen, stets,
2)
[246] wie einst in dem vorbildlichen Process des Orestes, in dem
sie die Klägerinnen waren 1). In diesem athenischen Dienst
hatten die Erinyen ihre wahre und ursprüngliche Natur noch
nicht so weit verloren, dass sie etwa zu Hüterinnen des Rechtes
schlechtweg geworden wären, als welche sie, in blassester Ver-
allgemeinerung ihrer von Anfang viel enger bestimmten Art,
bei Dichtern und Philosophen bisweilen dargestellt werden. Sie
sind furchtbare Dämonen, in der Erdtiefe hausend, aus der
sie durch die Flüche und Verwünschungen derjenigen herauf-
beschworen werden, denen kein irdischer Rächer lebt. Daher
sie vor Allem Mordthaten innerhalb der Familie rächen an
dem, der eben den erschlagen hat, dessen Bluträcher er, falls
ein anderer ihn erlegt hätte, hätte sein müssen. Hat der Sohn
den Vater oder die Mutter erschlagen, — wer soll da die
Blutrache vollstrecken, die dem nächsten Verwandten des Ge-
tödteten obliegt? Dieser nächste Verwandte ist der Mörder
selbst. Dass dennoch dem Gemordeten seine Genugthuung
werde, darüber wacht die Erinys des Vaters, der Mutter, die
aus dem Seelenreich hervorbricht, den Mörder zu fangen. An
seine Sohlen heftet sie sich, Tag und Nacht ihn ängstigend,
vampyrgleich saugt sie ihm das Blut aus 2); er ist ihr verfallen
als Opferthier 3). Und noch im geordneten Rechtsstaate sind
es die Erinyen, die vor den Blutgerichten Rache heischen gegen
[247] den Mörder. Ihre Machtvollkommenheit erstreckt sich, in er-
weitertem Umfang, auf alle Mörder, auch ausserhalb der eigenen
Familie. Nur philosophisch-dichterische Reflexion hat sie zu
Helfern alles Rechtes in Himmel und auf Erden umgebildet.
Im Cultus und begrenzten Glauben der einzelnen Stadt bleiben
sie Beistände der Seelen Ermordeter. Aus altem Seelencult
ist diese Vorstellung so grässlicher Dämonen erwachsen; in Be-
rührung mit dem lebendig gebliebenen Seelencult hat sie selbst
sich lebendig erhalten. Und sieht man genau hin, so schimmert
noch durch die getrübte Ueberlieferung eine Spur davon durch,
dass die Erinys eines Ermordeten nichts anderes war als seine
eigene zürnende, sich selbst ihre Rache holende Seele, die erst
in späterer Umbildung zu einem, den Zorn der Seele vertre-
tenden Höllengeist geworden ist 1).
Das ganze Verfahren bei Mordprocessen diente mehr noch
als dem Staate und seinen lebenden Bürgern der Befriedigung
unsichtbarer Gewalten, der beleidigten Seelen und ihrer dämoni-
schen Anwalte. Es war seiner Grundbedeutung nach ein reli-
giöser Act. So war auch mit der Ausführung des weltlichen
Urtheilsspruchs keineswegs Alles zu Ende. Bei seiner Rück-
kehr in’s Vaterland bedurfte, nach der Verzeihung von Seiten
der Verwandten des Todten, der wegen unfreiwilligen Todt-
schlags Verurtheilte noch eines Zwiefachen: der Reinigung
und der Sühnung 2). Die Reinigung vom Blute des Er-
schlagenen, deren auch der sonst straflose Thäter einer gesetz-
lich erlaubten Tödtung bedarf 3), giebt den bis dahin als „unrein“
Betrachteten der sacralen Gemeinschaft in Staat und Familie
[248] zurück, der ein Unreiner nicht nahen kann, ohne auch sie
zu beflecken. Die homerischen Gedichte wissen von einer
solchen religiösen Reinigung Blutbefleckter nichts 1). Sie er-
klärt sich aus den Vorstellungen einer späteren Zeit. Eher
könnte man glauben, dass die Gebräuche der Sühnung, in
hohem Alterthum entstanden, in homerischer Zeit nur ver-
dunkelt seien. Sie dienen, durch feierliche Opfer die zürnende
Seele und die Götter, die über ihr walten, zu versöhnen.
Die Handlungen der Reinigung und der Sühnung, jene
im Interesse des Staates und seiner Gottesdienste, diese als
letzte Beschwichtigung der gekränkten Unsichtbaren ausgeführt,
werden, wie sie in der Ausübung meist verbunden waren, so
in der Ueberlieferung vielfach vermischt; so dass eine ganz
strenge Scheidung sich nicht durchführen lässt. So viel wird
dennoch klar, dass die Gebräuche der nach Mordthaten noth-
wendigen Sühnung durchweg von derselben Art waren, wie
die im Cult der Unterirdischen üblichen 2). Und in der That
[249] gehören die Gottheiten, die man bei Sühnungen anrief, Zeus
Meilichios, Zeus Apotropaios u. A. zum Kreise der Unter-
weltsgötter 1). Ihnen wird, statt des Mörders selbst, ein Opfer-
thier geschlachtet, damit der Zorn sich sänftige, den sie als
Hüter der abgeschiedenen Seelen hegen. Auch den Erinyen
2)
[250] wird bei Sühnungen geopfert 1). Alles bezieht sich hier auf
das Seelenreich und seine Bewohner.
Das delphische Orakel aber war es, das über der Aus-
führung der Reinigung und Sühnung bei Mordfällen wachte.
Die Nothwendigkeit solcher Begehungen wurde eingeprägt durch
die vorbildliche Sage von Flucht und Reinigung des Apollo
selbst nach der Tödtung des Erdgeistes zu Pytho, die eben-
dort in geregelter Wiederkehr alle acht Jahre in symbolischem
Spiele dargestellt wurde 2). In Delphi reinigt auch, nach der
Dichtung des Aeschylos, Apollo selbst den Orest vom Mutter-
morde 3). In Athen war eine der ältesten Sühnungsstätten
nach einem Beinamen des Apollo benannt, das Delphinion 4).
Oft mag auf Anfragen das Orakel befohlen haben, wie die
Heroenseelen so auch die zürnenden Seelen ermordeter, nicht
heroisirter Männer zu versöhnen durch heilige Sühnopfer: wie es
dazu die Mörder des Archilochos, des spartanischen Königs Pau-
sanias anwies 5). — Die Sühnungsgebräuche gehören nicht dem
apollinischen Culte als Eigenbesitz an, sie sind anderen, zumeist
chthonischen Göttern geweiht; aber das apollinische Orakel be-
stätigte ihre Heiligkeit. In Athen waren die unter Mitwirkung
des delphischen Orakels bestellten Exegeten die Verwalter
[251] dieses Sühnungswesens 1); gewiss nach dem Brauche griechi-
scher Städte bestimmt Plato in den „Gesetzen“, dass die
Satzungen über Reinigung und Sühnung sein Staat aus Delphi
holen solle 2).
Dadurch nun, dass das Orakel des allwissenden Gottes
die Mordsühne heiligte und empfahl, der Staat die Verfolgung
des Mordes auf der Grundlage alter Familienblutrache regelte,
gewannen die Vorstellungen, auf denen diese Veranstaltungen
des Staates und der Religion begründet waren, die Ueber-
zeugung von dem bewussten Weiterleben der Seele des Er-
mordeten, ihrem Wissen um die Vorgänge unter den Ueber-
lebenden, ihrem Zorn und ihrer Macht, etwas von der Kraft
eines Glaubenssatzes. Die Sicherheit dieses Glaubens tritt uns
noch entgegen in den Reden bei Mordprocessen, in denen
Antiphon, der Sinnesart seines (wirklichen oder fingirten)
Publicums sich anpassend, mit der Anrufung der zürnenden
Seele des Todten und der dämonischen Rachegeister als mit
unbezweifelten Realitäten Schauer erregt 3). Um die Seelen
[252] Ermordeter, die man sich in besonders unruhiger Bewegung
dachte, bildete sich eine eigene Art unheimlicher Mythologie,
3)
[253] von der uns später einige Proben begegnen werden. Wie derb
der Glaube sich gestalten konnte, zeigen zur Ueberraschung
deutlich gelegentliche Erwähnungen gewisser, in solchem Glauben
wurzelnder, völlig kannibalischer Gebräuche 1), die unter dem
[254] Griechenthum dieser gebildeten Jahrhunderte unmöglich neu
entstanden sein können, sondern entweder aus urweltlicher Roh-
heit der griechischen Vorzeit jetzt neu aufgetaucht, oder von
barbarischen Nachbarn allzu willig entlehnt sind, immer aber
die sinnlichsten Vorstellungen von der Lebenskraft und Rache-
gewalt der Seelen Ermordeter voraussetzen lassen.
Und welche Bedeutung für die Ausbildung eines volks-
thümlich gestalteten allgemeineren Glaubens an die Unsterblich-
keit der freigewordenen Seele das, was man von den Seelen Er-
mordeter zu wissen glaubte, gewinnen konnte, das mag man
ermessen, wenn man beachtet, wie Xenophon seinen sterbenden
Kyros, zum stärksten Beweis für die Hoffnung auf das un-
sterbliche Weiterleben aller Seelen nach ihrer Trennung vom
Leibe, sich berufen lässt auf eben jene unbezweifelten That-
sachen, die das Fortleben der Seelen „derer, die Unrecht er-
litten haben“, zugestandener Maassen bewiesen. Daneben ist
ihm ein wichtiges Argument dieses, dass doch den Todten
nicht noch bis auf diesen Tag ihre Ehren unversehrt er-
halten geblieben wären, wenn ihre Seelen aller Wirkung
und Macht beraubt wären 1). Hier sieht man, wie der Cult
1)
[255] der Seelen es war, in dem der Glaube an ihr Fortleben
wurzelte.
Durch den Seelencult in seinem ungestörten Betrieb wurden
Vorstellungen von Lebendigkeit, Bewusstsein, Macht der, von
ihren alten irdischen Wohnplätzen nicht für immer abgeschie-
denen Seelen unterhalten und genährt, die den Griechen,
mindestens den ionischen Griechen homerischer Zeit fremd
geworden waren.
Aber deutliche Glaubensbilder von der Art des Lebens
der Verstorbenen konnten aus diesem Cult nicht hergeleitet
werden und sind daraus nicht hergeleitet worden. Alles bezog
sich hier auf das Verhältniss der Todten zu den Lebenden.
Durch Opfer und religiöse Begehungen sorgte die Familie für
die Seelen ihrer Todten; aber wie schon dieser Cult vorwiegend
ein abwehrender (apotropäischer) war, so hielt man auch die
Gedanken von forschender Ergründung der Art und des Zu-
standes der Todten, ausserhalb ihrer Berührung mit den
Lebenden, eher absichtlich fern.
Auf diesem Standpuncte ist bei vielen der geschichtslosen,
sogen. Naturvölkern der Seelencult und der Seelenglaube stehen
geblieben. Es kann kaum bezweifelt werden, dass er auch in
Griechenland bis zu diesem Puncte bereits vor Homer aus-
gebildet war. Trotz vorübergehender Trübung erhielt er sich
in Kraft: er hatte zähe Wurzeln in dem Zusammenhalte der
Familien und ihren altherkömmlichen Gebräuchen.
Es ist aber auch wohl verständlich, wie solche, so be-
gründete Vorstellungen, die dem Dasein der Seelen keinerlei
deutlichen Inhalt geben, sie fast nur vom Ufer der Lebenden
aus, und soweit sie diesem zugekehrt sind, betrachten, sich
leicht und ohne vielen Widerstand völlig verflüchtigen und
[257] verblassen konnten, wenn etwa die Empfindung der Einwirkung
der Todten auf die Lebenden sich abstumpfte und, aus welchem
Grunde immer, der Cult der Seelen an Lebhaftigkeit und
Stätigkeit verlor. Entzogen die Lebenden der abgeschiedenen
Seele ihre Beachtung und Sorge, so blieb der Vorstellung
kaum noch irgend ein Bild von ihr übrig; sie wurde zum
huschenden Schatten, wenig mehr als ein Nichts. Und so war
es geschehen in dem Zeitraum ionischer Bildung, in dessen
Mitte Homer steht.
Die Dichtung jener Zeit hatte aber aus sich selbst her-
vor auch den Wunsch erzeugt nach einem inhaltreicheren,
ausgefüllten Dasein in der langen, unabsehbaren Zukunft im
jenseitigen Lande. Und sie hatte dem Wunsche Gestalt gegeben
in den Bildern von der Entrückung einzelner Sterblichen
nach Elysion, nach den Inseln der Seligen.
Aber das war und blieb Poesie, nicht Glaubenssache.
Und selbst die Dichtung stellte den Menschen der lebenden
Geschlechter nicht in Aussicht, was einst Gnade der Götter
auserwählten Helden wunderreicher Vorzeit gewährt hatte. Aus
anderen Quellen musste, falls er erwachte, der Wunsch nach
hoffnungsvoller Aussicht über das Grab hinaus, über die leere
Existenz der im Cult der Familie verehrten Ahnen hinaus,
seinen Durst stillen. Solche Wünsche erwachten bei Vielen.
Die Triebe die sie entstehen liessen, die inneren Bewegungen
die sie emporhoben, verhüllt uns das Dunkel, das über der
wichtigsten Periode griechischer Entwicklung, dem achten und
siebenten Jahrhundert, liegt, und es hilft uns nicht, wenn
man aus eigener Eingebung die Lücke unserer Kenntniss
mit Banalitäten und unfruchtbaren Phantasieen zustopft. Dass
der Wunsch sich regte, dass er Macht gewann, zeigt die
Thatsache dass er sich eine (allerdings eigenthümlich ein-
geschränkte) Befriedigung zu verschaffen vermocht hat in einer
Einrichtung, deren, sobald von Unsterblichkeitsglauben der
Griechen die Rede ist, Jeder sich sofort erinnert, den eleusini-
schen Mysterien.
Wo immer der Cult der Gottheiten der Erde und der
Unterwelt, insonderheit der Demeter und ihrer Tochter, in
Blüthe stand, mögen für die Theilnehmer an solchem Gottes-
dienst leicht Hoffnungen auf ein besseres Loos im unterirdischen
Seelenreiche sich angeknüpft haben. Ansätze zu einer inner-
lichen Verbindung solcher Hoffnungen mit dem Gottesdienste
selbst mögen an manchen Orten gemacht worden sein. Zu
einer fest geordneten Institution sehen wir diese Verbindung
einzig in Eleusis (und den, wohl sämmtlich jungen Filialen der
eleusinischen Anstalt) ausgebildet. Wir können wenigstens in
einigen Hauptlinien das allmähliche Wachsthum der eleusinischen
gottesdienstlichen Einrichtungen wahrnehmen. Der Homerische
Hymnus auf die Demeter berichtet uns von den Ursprüngen
des Cultes nach einheimisch eleusinischer Sage. Im Lande der
Eleusinier war die von Aïdoneus in die Unterwelt entraffte gött-
liche Tochter der Demeter wieder an’s Licht der Sonne ge-
kommen und der Mutter wiedergegeben worden. Bevor sie, nach
dem Wunsche des Zeus, zum Olymp und den anderen Unsterb-
lichen sich aufschwang, stiftete Demeter, wie sie es verheissen
hatte, als die Eleusinier ihr den Tempel vor der Stadt,
über der Quelle Kallichoros, erbauten 1), den heiligen Dienst,
nach dessen Ordnungen man sie in Zukunft verehren sollte.
Sie selbst lehrte die Fürsten des Landes „die Begehung des
Cultes und gab ihnen die hehren Orgien an“, welche Anderen
mitzutheilen die Scheu vor der Gottheit verbietet. — Dieser
alteleusinische Demetercult ist also der Gottesdienst einer eng
geschlossenen Gemeinde, die Kunde der geheiligten Begehungen
und damit das Priesterthum der Göttinnen ist beschränkt auf
[259] die Nachkommen der vier eleusinischen Fürsten, denen einst
Demeter ihre Satzungen, zu erblichem Besitze mitgetheilt hat.
Der Cult ist demnach ein „geheimer“, nicht geheimer freilich als
der so vieler, gegen alle Unberechtigten streng abgeschlossener
Cultgenossenschaften Griechenlands 1). Eigenthümlich aber ist
die feierliche Verheissung, die sich an die Theilnahme an
solchem Dienst knüpft. „Selig der Mensch, der diese heiligen
Handlungen geschaut hat; wer aber uneingeweiht ist und un-
theilhaftig der heiligen Begehungen, der wird nicht gleiches
Loos haben nach seinem Tode, im dumpfigen Dunkel des
Hades“. Den Theilnehmern an dem eleusinischen Gottesdienst
wird also ein bevorzugtes Schicksal nach dem Tode verheissen;
aber schon im Leben, heisst es weiter 2), ist hoch beglückt,
wen die beiden Göttinnen lieben, sie schicken ihm Plutos, den
Reichthumspender, in’s Haus, als lieben Heerdgenossen. Da-
gegen wer Kore, die Herrin der Unterwelt, nicht ehrt durch
Opfer und Gaben, der wird allezeit Busse zu leisten haben
(V. 368 ff.).
Der enge Kreis derer, denen so Hohes verheissen war, er-
weiterte sich, seit Eleusis mit Athen vereinigt war (was etwa im
siebenten Jahrhundert geschehen sein mag) und der eleusinische
Cult zum athenischen Staatscult erhoben wurde. Nicht für
Attika allein, für ganz Griechenland gewann die eleusinische
Feier Bedeutung, seit Athen in den Mittelpunct griechischen
Lebens überhaupt trat. Ein feierlich angesagter Gottesfriede,
der den ungestörten Verlauf der heiligen Handlungen sicherte,
bezeichnete die Eleusinien, gleich den grossen Spielen und
Messen zu Olympia, auf dem Isthmus u. s. w., als eine pan-
hellenische Feier. Als zur Zeit des höchsten Glanzes athenischer
Macht (um 440) ein Volksbeschluss gefasst wurde, die jährliche
Spende der Erstlingsgaben von der Feldfrucht an den eleu-
17*
[260] sinischen Tempel von Athenern und Bundesgenossen zu fordern,
von allen griechischen Staaten zu erbitten, konnte man sich
bereits berufen auf alte Vätersitte und einen Spruch des delphi-
schen Gottes, der diese bestätigte 1). Von der inneren Ge-
schichte der Entwicklung des eleusinischen Festes ist wenig
bekannt. Die heilige Handlung behielt ihren Schauplatz in
Eleusis; eleusinische Adelsgeschlechter blieben betheiligt 2) an
dem, übrigens vom athenischen Staate geordneten Gottesdienst;
dennoch muss vieles geneuert worden sein. Jener oben er-
wähnte Volksbeschluss lehrt uns, als damals in Eleusis verehrt,
[261] zwei Triaden von je zwei Gottheiten und einem Heros kennen:
neben Demeter und Kore Triptolemos, dazu „der Gott, die
Göttin und Eubuleus“ 1). Weder von der dem Triptolemos
hier (und in zahlreichen anderen Berichten, auch auf bildlichen
Darstellungen) angewiesenen eigenthümlich bedeutenden Stellung
noch von der sonstigen Erweiterung des eleusinischen Götter-
kreises weiss der Homerische Hymnus. Es sind offenbar im
Laufe der Zeiten mit dem alten Dienst der zwei Göttinnen
mancherlei andere, aus localen Culten übernommene Gestalten
und Weisen der Verehrung verschmolzen worden, in denen
sich der Eine Typus der chthonischen Gottheit immer neu
differenzirte. Ihre Zahl ist mit den genannten Sechs noch
nicht erschöpft 2). Vor Allem ist zu dem Kreise eleusinischer
Gottheiten getreten Iakchos, der Sohn des Zeus (chthonios)
und der Persephone, ein Gott der Unterwelt auch er, von
dem Dionysos, wie ihn sonst attischer Cult auffasste, völlig
verschieden, wiewohl dennoch häufig diesem gleichgesetzt. Es
[262] ist eine sehr wahrscheinliche Vermuthung, dass diesen Gott,
der bald fast für die Hauptfigur jenes Götterkreises galt 1),
erst Athen dem Bunde der in Eleusis verehrten Götter zu-
geführt habe. Sein Tempelsitz war in Athen, nicht in Eleusis 2),
in der athenischen Vorstadt Agrae wurden ihm im Frühjahr
die „kleinen Mysterien“, als „Vorweihe“ der grossen, gefeiert;
an den Eleusinien selbst bildete der Festzug, in dem man das
Bild des jugendlichen Gottes von Athen nach Eleusis trug,
das Band zwischen den in Athen gefeierten und den in Eleusis
zu feiernden Abschnitten des Festes. Durch die Einfügung
des Iakchos in die eleusinische Feier ist nicht nur der Kreis
der an ihr betheiligten Götter äusserlich erweitert, sondern die
heilige Geschichte, deren Darstellung Ziel und Höhe des Festes
war, um einen Act ausgedehnt 3), und allem Vermuthen nach
doch auch innerlich bereichert und ausgestaltet worden. Uns
ist es freilich schlechterdings versagt, über den Sinn und Geist
der Wandlung, die im Laufe der Zeit die also erweiterte Feier
durchgemacht hat, auch nur eine bestimmte Vermuthung uns
zu bilden. Nur so viel dürfen wir behaupten, dass zu der
oft vorgebrachten Annahme, die Privatmysterien der orphi-
schen Conventikel hätten auf die Mysterienfeier des athenischen
Staates einen umgestaltenden Einfluss geübt, keinerlei Anlass
[263] besteht. Wer sich an feierlich nichtssagendem Gemunkel über
Orphiker und Verwandtes nicht genügen lässt, sondern die sehr
kenntlichen und bestimmten Unterscheidungslehren der Orphiker
über Götter und Menschenseelen in’s Auge fasst, wird leicht
erkennen, dass alles dagegen spricht, dass von diesen auch nur
irgend eine in den Kreis der zu Eleusis gepflegten Vorstellungen
eingedrungen sei 1).
Wuchs die Feier aus sich selbst heraus, an innerem
Gehalt und äusserer Würde der Darbietungen, so wuchs nicht
minder die Gemeinde der Festtheilnehmer. Ursprünglich war
das verheissungsreiche Fest nur den Bürgern von Eleusis, viel-
leicht sogar nur den Angehörigen einzelner priesterlicher Adels-
geschlechter in Eleusis zugänglich gewesen, und mochte eben
in dieser Abgeschlossenheit den Theilnehmern als eine besondere
Begnadigung erschienen sein. Es verwandelte sich hierin völlig.
Zugelassen wurden nicht nur Bürger Athens, sondern jeder
Grieche ohne Unterschied des Staates und Stammes, Männer
und Frauen (auch Hetären, die doch z. B. von dem Demeterfest
der athenischen Weiber an den Thesmophorien ausgeschlossen
blieben), selbst Kinder und Sklaven 2). Die athenische Liberalität,
[264] so rühmte man, wollte das Heil, das dieses Fest ohne Gleichen
den Theilnehmern verhiess, allen Griechen zugänglich machen 1).
Und nun hatte, im vollen Gegensatz zu den geschlossenen Cult-
vereinen, in die man, als Bürger einer Stadt, als Mitglied einer
Phratria, eines Geschlechts, einer Familie, hineingeboren sein
musste um an ihren Segnungen theilnehmen zu dürfen, die
einst ebenso eng umgrenzte Gemeinde der eleusinischen Ge-
heimfeier ihre Schranken so weit aufgethan, dass gerade die fast
unbedingte Zugänglichkeit die auszeichnende Besonderheit dieser
Feier wurde, und ein starker Reiz zur Betheiligung eben darin
lag, dass es rein freiwilliger Entschluss war, der den Einzelnen
bestimmte, durch ein Mitglied der beiden Geschlechter, denen
die höchsten Priesterthümer des Festes anvertraut waren 2),
sich der weiten Gemeinde zuführen zu lassen. Einzige Voraus-
setzung für die Aufnahme war rituale Reinheit; weil diese
Mördern fehlte, waren solche, aber auch einer Blutthat nur
2)
[265] Angeklagte, von den Mysterien ausgeschlossen, nicht anders
freilich als von allen gottesdienstlichen Handlungen des Staates 1).
Religiöse Reinigungen der Theilnehmer gingen dem Feste
voraus und begleiteten es; man darf annehmen, dass Manchen
unter den Gläubigen die ganze Feier vornehmlich als eine
grosse Reinigung und Weihe von besonderer Kraft erschien,
welche die Festgenossen (die „Reinen“ 2] nannten sie sich
selbst) der Gnade der Göttinnen würdig machen sollte.
Von den einzelnen Vorgängen und Handlungen bei dem
langgedehnten Feste kennen wir kaum das Aeusserlichste, und
auch dies nur sehr unvollständig. Ueber das, was im Inneren
des grossen Weihetempels vor sich ging, das eigentliche Myste-
rium, geben uns kaum einige Andeutungen später, nicht immer
zuverlässiger Schriftsteller dürftigen Bericht. Das Geheimniss,
welches den Mysten und Epopten auferlegt wurde 3), ist gut
[266] gewahrt worden. Dies wäre, bei der grossen Zahl wahllos zu-
gelassener Theilnehmer, ein wahres Wunder, wenn das geheim
zu Haltende die Form einer in Begriffe und Worte gefassten
und in Worten weiter mittheilbaren Belehrung gehabt hätte.
Seit Lobecks, in dem Wust der Meinungen gewaltig auf-
räumender Arbeit nimmt kein Verständiger dies mehr an. Es
war nicht leicht, das „Mysterium“ auszuplaudern, denn eigent-
lich auszuplaudern gab es nichts. Die Profanirung konnte nur
geschehen durch Handlungen, dadurch dass man „die Mysterien
agirte“ 1), wie es im J. 415 im Hause des Pulytion geschah.
Das Mysterium war eine dramatische Handlung, genauer ein
religiöser Pantomimus, begleitet von heiligen Gesängen 2) und
formelhaften Sprüchen, eine Darstellung, wie uns christliche
Autoren verrathen, der heiligen Geschichte vom Raub der
Kore, den Irren der Demeter, der Wiedervereinigung der
Göttinnen. Dies wäre an sich nichts Singuläres, eine derartige
dramatische Vergegenwärtigung der Göttererlebnisse, die zur
Stiftung der gerade begangenen Feier geführt hatten, war eine
sehr verbreitete Art griechischer Cultübung: solche kannten
auch Feste des Zeus, der Hera, des Apollo, der Artemis, des
Dionys, vor Allem auch andere Feiern zu Ehren der Demeter
selbst. Aber von allen ähnlichen Begehungen, auch den ebenso
geheim gehaltenen Demeterfesten der Thesmophorien und Ha-
loën, unterschied das eleusinische Fest sich durch die Hoff-
nungen, die es den an ihm Geweiheten eröffnete. Nach dem
3)
[267] Hymnus auf Demeter, hörten wir, darf der fromme Verehrer
der Göttinnen von Eleusis hoffen auf Reichthum im Leben
und besseres Loos nach dem Tode. Auch spätere Zeugen
reden noch von dem Glück im Leben, auf das die Weihe in
Eleusis gegründete Hoffnung mache. Weit nachdrücklicher
wird uns aber, von Pindar und Sophokles an, von zahlreichen
Zeugen verkündet, wie nur die, welche in diese Geheimnisse
eingeweiht seien, frohe Hoffnungen für das Leben im Jenseits
haben dürfen, nur ihnen sei verliehen, im Hades wahrhaft zu
„leben“, den Anderen stehe dort nur Uebles zu erwarten 1).
Diese Verheissungen einer seligen Unsterblichkeit sind es
gewesen, welche durch die Jahrhunderte so viele Theilnehmer
zu dem eleusinischen Feste zogen, nirgends so bestimmt, so
glaubhaft verbürgt konnten sie gewonnen werden. Die Forde-
rung der Geheimhaltung der Mysterien, die sich offenbar auf
ganz andere Dinge richtete, kann sich nicht auf diesen zu er-
hoffenden höchsten Ertrag der Weihe zu Eleusis bezogen haben.
Jeder redet laut und unbefangen davon; zugleich aber lauten
alle Aussagen so bestimmt und stimmen so völlig und ohne
Andeutung irgend eines Zweifels mit einander überein, dass
man annehmen muss, aus den geheim gehaltenen Begehungen
habe sich für die Gläubigen diese Verheissung, nicht als Ahnung
oder Vermuthung des Einzelnen, sondern als festes, aller Deu-
tung überhobenes Erträgniss herausgestellt.
Wie das bewirkt wurde, ist freilich räthselhaft. Seit die
alte „Symbolik“ im Creuzerschen Sinne abgethan ist, halten
manche neuere Mythologen und Religionshistoriker um so
[268] mehr daran fest, dass in den Darbietungen der eleusinischen
Mysterien die von ihnen entdeckte griechische „Naturreligion“
ihre wahren Orgien gefeiert habe. Demeter sei die Erde, Kora-
Persephone, ihre Tochter, das Saatkorn; Raub und Wieder-
kehr der Kore bedeute die Versenkung des Samenkorns in die
Erde und das Aufkeimen der Saat aus der Tiefe, oder, in
weiterer Fassung, „den jährlichen Untergang und die Erneue-
rung der Vegetation“. Irgendwie muss nun den Mysten der
eigentliche Sinn der „natursymbolischen“, mythisch eingekleideten
Handlung zu verstehen gegeben worden sein: denn sie sollen
durch deren Anschauung zu der Einsicht gefördert worden sein,
dass das Schicksal des, in Persephone personificirten Samen-
korns, sein Verschwinden in der Erde und Wiederaufkeimen,
ein Vorbild des Schicksals der menschlichen Seele sei, die eben-
falls verschwinde um wieder aufzuleben. Und dies wäre denn
der wahre Inhalt dieser heiligen Geheimnisse.
Nun steht überhaupt noch zu beweisen, dass in solcher
sinnbildlichen Vermummung einzelner Erscheinungen und Vor-
gänge in der Natur unter der Hülle menschenähnlicher Gott-
heiten die Griechen 1) irgend etwas Religiöses oder gar ihre
[269] eigene Religion wiedererkannt haben würden. Im Besonderen
würde — auch die Berechtigung zu solchen Umdeutungen im
Allgemeinen für einen Augenblick zugestanden — die Gleich-
setzung der Kore und ihres Geschicks mit dem Samenkorn,
sobald man über die unbestimmteste Allgemeinheit hinaus-
geht, nur zu den unleidlichsten Absurditäten führen. Wie
aber vollends (was hier die Hauptsache wäre) aus der Ana-
logie der Seele mit dem Samenkorn sich ein Unsterblichkeits-
glaube, der sich, wie es scheinen muss, auf directem Wege
nicht hervorbringen liess, habe entwickeln können, ist schwer
zu begreifen. Welchen Eindruck konnte eine entfernte, will-
kürlich herbeigezogene Aehnlichkeit zwischen den Erscheinungen
zweier völlig von einander getrennten Gebiete des Lebens
machen, wo zu einem leidlich haltbaren Schluss von dem Wahr-
nehmbaren und Gewissen (den Zuständen des Saatkorns) auf
das Unsichtbare und Unbekannte (den Zustand der Seelen nach
dem Tode) mindestens doch erforderlich gewesen wäre, dass ein
ursächlicher Zusammenhang zwischen diesem und jenem nach-
gewiesen würde. Solche Worte mögen trocken scheinen, wo
es sich um die sublimsten Ahnungen des Gemüths handeln
soll. Ich wüsste aber nicht, dass man die Griechen so leicht
mit nebelhaften Ahnungen von dem Wege logischer Klarheit
habe ablocken, und damit gar noch besonders „beseligen“ können.
Zuletzt trifft ja die (nichts beweisende) Analogie gar nicht
einmal zu. Sie wäre nur vorhanden, wenn der Seele, wie dem
Samenkorn, nach vorübergehendem Eingehen in die Erdtiefe,
ein neues Dasein auf der Erde, also eine Palingenesie, ver-
heissen worden wäre. Dass aber dies nicht der in den von
Staatswegen begangenen Mysterien Athens genährte Glaube
war, giebt jetzt Jedermann zu.
Nicht haltbarer ist die Vorstellung, dass die dramatische
Vergegenwärtigung des Raubes und der Wiederkehr der Kore
(diese als göttliche Person, nicht als personificirtes Samenkorn
gefasst) in den Mysterien die Hoffnung auf analoges Schicksal
der menschlichen Seele erweckt habe, vermöge einer mystischen
Ineinssetzung des Lebens des Menschen mit dem Leben der
Gottheit der er huldigt 1). Diese Art mystischer Empfindung
ist allerdings dem Culte des Dionysos, und somit griechischer
Religionsweise nicht fremd; damit sie wirksam werde, ist aber
eine ekstatische Erregung und Ueberspannung des Gefühls
nöthig, wie sie dem dionysischen Cultus eigenthümlich, der
eleusinischen Feier aber ganz fremd war. Und auch hier
würde die durch die vorbildlichen Schicksale der Kore genährte
Hoffnung nur auf Palingenesie des Menschen, nicht (was doch
der eleusinische Glaube war und blieb) auf ein bevorzugtes
Loos im unterirdischen Bereiche haben führen können.
Man ist auf falscher Fährte, wenn man dem tieferen Sinne
nachspürt, welchen die mimische Darstellung der Göttersage zu
Eleusis gehabt haben müsse, damit aus ihr die Hoffnung auf
Unsterblichkeit der menschlichen Seele gewonnen werden konnte.
Ueberzeugung von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele
als solcher, ihrer eigensten Natur nach, wurde in Eleusis gar
nicht gewonnen: schon darum ist es nichts mit jenen Analogie-
spielen zwischen Saatkorn oder Göttin des Erdelebens und
menschlicher Seele, aus denen, wenn irgend etwas, doch höchstens
die in allem Wechsel erhaltene Unvergänglichkeit des Lebens der
Menschenseelen, aller Menschenseelen erschlossen werden konnte.
[271] Nicht diese aber lehrte Eleusis. Das bewusste Fortleben der
Seele nach ihrer Trennung vom Leibe wird hier nicht gelehrt,
sondern vorausgesetzt; es konnte vorausgesetzt werden, da eben
dieser Glaube dem allgemein verbreiteten Seelencult zu Grunde
lag 1). Was die in Eleusis Geweiheten gewannen, war eine leb-
haftere Vorstellung von dem Inhalte dieser, in den, den Seelen-
cult begründenden Vorstellungen leer gelassenen Existenz der
abgeschiedenen Seelen. Wir hören es ja: nur die in Eleusis
Geweiheten werden im Jenseits ein wirkliches „Leben“ haben,
„den Anderen“ wird es schlimm ergehen 2). Nicht dass die
des Leibes ledige Seele lebe, wie sie leben werde, erfuhr man
in Eleusis. Mit der unbeirrten Zuversicht, die allen fest um-
schriebenen Religionsvereinen eigen ist, zerlegt die eleusinische
Gemeinde die Menschheit in zwei Classen, die Reinen, in Eleusis
Geweiheten, und die unermessliche Mehrheit der nicht Ge-
weiheten. Nur den Mitgliedern der Mysteriengemeinde ist das
Heil in Aussicht gestellt. Sie haben sichere Anwartschaft
darauf, aber das ist ein Privilegium, das man sich nicht anders
als durch Theilnahme an dem, von Athen verwalteten gnaden-
reichen Feste und seinen Begehungen erwerben kann. Im Laufe
der Zeit werden, bei der liberalen Weitherzigkeit in der Zu-
lassung zur Weihe, eine sehr grosse Zahl von Hellenen (und
Römern, in späterer Zeit) sich dieses Privilegium erworben
haben; niemals aber versteht sich die Aussicht auf ein seliges
Leben im Jenseits von selber; nicht als Mensch, auch nicht
[272] als tugendhafter und frommer Mensch hat man Anwartschaft
darauf, sondern einzig als Mitglied der eleusinischen Cult-
gemeinde und Theilnehmer an dem geheimen Dienste der
Göttinnen 1).
Durch welche Veranstaltungen aber diese Hoffnung, die
sichere Erwartung vielmehr, seligen Looses im Hades unter den
Mysten lebendig gemacht wurde? Wir müssen gestehen, hier-
über nichts leidlich Sicheres sagen zu können. Nur, dass diese
Hoffnungen auf symbolische Darstellungen irgend welcher
Art begründet waren, darf man bestimmt in Abrede stellen.
Und doch ist dies die verbreitete Meinung. „Symbole“ mögen
bei der dramatischen oder pantomimischen Vorführung der
Sage vom Raub und der Rückkehr der Kore manche gedient
haben 2), aber kaum in einem anderen Sinne denn als sinn-
bildliche, den Theil statt des Ganzen setzende, in dem Theil
auf das Ganze hinweisende Abkürzungen der, unmöglich in
voller Ausdehnung zu vergegenwärtigenden Scenen. Im Laufe
der Jahrhunderte ist zweifellos, bei dem Mangel einer schrift-
lich festgehaltenen Aufklärung über Sinn und inneren Zusammen-
hang des Rituals, von solchen Symbolen manches unverständ-
lich geworden, wie übrigens in allen Theilen des griechischen
Cultus. Wenn nun seit dem Beginn selbständiger Reflexion
über religiöse Dinge vielfach allegorische oder symbolische Deu-
tungen auf Vorgänge bei den Mysterienaufführungen angewendet
worden sind, folgt daraus, dass die Mysterien der Erdgottheiten,
[273] wie Manche zu glauben geneigt sind, von vorneherein einen
symbolischen oder allegorischen Charakter trugen, und eben
hiermit von anderem griechischen Gottesdienst sich unterschie-
den? 1) Aehnliche Deutungen haben griechische Philosophen
und Halbphilosophen auch den Götterfabeln Homers und der
Volkssage angedeihen lassen; von einem Vorrang der Mysterien
in dieser Beziehung ist gerade den Liebhabern der Mythen-
ausdeutung im Alterthum wenig bewusst. Wenn man den
eleusinischen Darstellungen mit einer gewissen Vorliebe einen
„tieferen Sinn“ unterschob, so folgt daraus im Grunde nichts
als dass Vieles an diesen Darstellungen unverständlich geworden
war oder dem Geiste der philosophirenden Jahrhunderte, eigent-
lich verstanden, nicht mehr zusagte, zugleich aber dass man
diesem, mit beispiellosem Glanz, unter der, ehrfürchtige Er-
wartung weckenden Hülle der Nacht und des gebotenen Ge-
heimnisses 2), nach alterthümlichem, in stufenweisem Fortschritt
der Weihungen aufsteigendem Ritual, unter Betheiligung von
ganz Griechenland begangenem Feste und dem, was es dem
Auge und Ohr darbot, ungewöhnlich guten Willen entgegen-
Rohde, Seelencult. 18
[274] brachte, und einen befriedigenden Sinn aus seinen Bildern und
Klängen zu gewinnen sich ernstlich bemühete. Und es ist
schliesslich glaublich genug, dass Vielen der von ihnen selbst,
nach eigenmächtiger Deutung, hineingelegte „Sinn“ die Mysterien
werthvoll machte. Insofern liesse sich sagen, dass zuletzt die
Symbolik ein historischer Factor in dem Mysterienwesen ge-
worden ist.
Wäre aber auch wirklich in den Darstellungen der ge-
heimen Feier manches von den Veranstaltern des Festes selbst
mit Plan und Absicht symbolischer Ausdeutung, und damit
der Möglichkeit einer immer gesteigerten Sublimirung des Ver-
ständnisses, dargeboten worden: auf die den Mysten eröffnete
Hoffnung seliger Unsterblichkeit kann sich dies nicht erstreckt
haben. Die symbolisch-allegorische Deutung, dem Einzelnen
überlassen, musste stets schwankend und wechselnd sein 1).
Ueber das, den Geweiheten bevorstehende selige Loos im Jen-
seits reden die Zeugen verschiedenster Zeiten viel zu bestimmt,
zu übereinstimmend, als dass wir glauben könnten, hier die
Ergebnisse irgend welcher Ausdeutung vieldeutiger Vorgänge,
etwa die umdeutende Uebertragung einer aus der Anschauung
der Erlebnisse der Gottheit gewonnenen Ahnung auf ein ganz
anderes Gebiet, das des menschlichen Seelenlebens, vor uns zu
haben. Es muss ganz unumwunden, ganz handgreiflich das,
was jene Zeugen schlicht und ohne sonderliches „Mysterium“
mittheilen: die Aussicht auf jenseitiges Glück, den Theilnehmern
an den Mysterien dargeboten worden sein. Am Ersten liesse sich
wohl denken, dass die Darstellung des „mystischen Dramas“
eben auch die Schlussscene, wie sie in dem homerischen Hymnus
angedeutet wird, umfasste: die Stiftung des eleusinischen Festes
durch die Göttin selbst, und dass, wie einst der kleinen Stadt-
[275] gemeinde, so nun den grossen Schaaren der in die eleusinische
Festgemeinde Aufgenommenen, als höchster Gewinn der Be-
theiligung an diesem Cultacte sonder Gleichen, verkündigt
wurde 1), was der Hymnus als solchen geradezu bezeichnet:
die besondere Gnade der Unterweltsgötter und ein zukünftiges
seliges Leben in ihrem Reiche. Die Standbilder der Göttinnen
wurden in strahlendem Lichte sichtbar 2); der Gläubige ahnte,
an diesem Gnadenfeste der Erinnerung an ihre Leiden, ihr
Glück und ihre Wohlthaten, ihre unsichtbare Gegenwart. Die
Verheissungen zukünftiger Seligkeit schienen von ihnen selbst
verbürgt zu sein.
Wir haben, trotz mancher hyperbolischen Angaben aus dem
Alterthum, keine Mittel zu beurtheilen, wie weit in Wahrheit
sich die Theilnahme an den eleusinischen Mysterien (in Eleusis
selbst und späterhin auch in den zahlreichen Filialen von Eleusis)
ausgebreitet haben mag. Immerhin ist es glaublich, dass grosse
Schaaren von Athenern nicht allein, sondern von Griechen aller
Stämme in den zu Eleusis verheissenen Gnadenstand zu treten
sich beeiferten, und so die belebtere Vorstellung von dem Da-
sein der Seelen im Jenseits allmählich fast zu einem Gemein-
besitz griechischer Phantasie wurde.
Im Uebrigen wird man sich hüten müssen, von der Wir-
kung dieser Mysterien eine zu grosse Meinung zu fassen. Von
einer sittlichen Wirkung wird kaum zu reden sein; die Alten
selbst, bei aller Ueberschwänglichkeit im Preise der Mysterien
und ihres Werthes, wissen davon so gut wie nichts 3), und man
18*
[276] sieht auch nicht, wo in dem Mysterienwesen die Organe zu
einer sittlichen Einwirkung gewesen sein könnten. Ein festes
Dogma in religiösem Gebiet dienten die Mysterien herzustellen
sowenig wie irgend ein anderer griechischer Götterdienst. Auch
hatte der Mysteriencult nichts Ausschliessendes, neben und
nach ihm nahmen die Mysten an anderem Götterdienst theil,
nach der Weise ihrer Heimath. Und es blieb nach vollendetem
Feste kein Stachel im Herzen der Geweiheten. Keine Auf-
forderung zu veränderter Lebensführung, keine neue und eigene
Bestimmung der Gesinnung trug man von dannen, keine von
der herkömmlichen abweichende Schätzung der Werthe des
Lebens hatte man gelernt; es fehlte gänzlich das, was (wenn
man das Wort richtig verstehen will) religiösen Sectenlehren
erst Wirkung und Macht giebt: das Paradoxe. Auch was
dem Geweiheten an jenseitigem Glück in Aussicht gestellt
wurde, riss ihn nicht aus seinen gewohnten Bahnen. Es war
ein sanfter Ausblick, keine an sich ziehende, aus dem Leben
ziehende Aufforderung. So hell strahlte das Licht von drüben
nicht, dass vor seinem Glanz das irdische Dasein trübe und
gering erschienen wäre. Wenn seit den Zeiten der Ueberreife
griechischer Bildung auch unter dem Volke Homers der lebens-
feindliche Gedanke auftauchte und nicht geringe Macht ge-
wann, dass Sterben besser sei als Leben, dass dieses Leben,
das einzige, dessen wir gewiss sind, nur eine Vorbereitung sei,
ein Durchgang zu einem höheren Leben in einer unsichtbaren
Welt: — die Mysterien von Eleusis sind daran unschuldig.
Nicht sie, nicht die aus ihren Bildern und Darstellungen ge-
wonnenen Ahnungen und Stimmungen sind es gewesen, die
„jenseitstrunkenen“ Schwärmern dieses irdische Dasein ent-
werthet und sie den lebendigen Instincten des alten, un-
gebrochenen Griechenthums entfremdet haben.
Nach einzelnen Andeutungen bei Plutarch und Lucian 1)
muss man annehmen, dass in dem „mystischen Drama“ zu
Eleusis auch eine anschauliche Darstellung der Unterwelt und
ihrer seligen oder unseligen Bewohner vorgeführt wurde. Aber
diese Zeitgenossen einer letzten üppigen Nachblüthe alles Myste-
rienwesens können gültiges Zeugniss nur für ihre eigene Zeit
ablegen, in der die eleusinische Feier, vielleicht im Wettbewerb
mit den in die griechisch-römische Welt immer zahlreicher
eindringenden anderen Geheimweihen, manche Aenderung und
Erweiterung ihrer altüberlieferten Gestaltung erfahren zu haben
scheint. Man darf bezweifeln, dass in früherer, classischer Zeit
die Eleusinien mit einer, stets kleinlichen Beschränkung der
Phantasie das jenseits aller Erfahrung Liegende in enge Formen
haben zwingen wollen. Aber durch die feierliche Verheissung
zukünftiger Seligkeit wird das mystische Fest allerdings die
Phantasie der Theilnehmer angeregt, ihrem freien Spiel in Aus-
malung des Lebens im Jenseits bestimmtere Richtung gewiesen
haben. Unverkennbar haben die in Eleusis genährten Vor-
stellungen dazu beigetragen, dass das Bild des Hades Farbe
und deutlichere Umrisse gewann. Aber auch ohne solche An-
regung wirkte der allem Griechischen eingeborene Trieb, auch
das Gestaltlose zu gestalten, in derselben Richtung. Was inner-
halb der Grenzen homerischer Glaubensvorstellungen ein, in
der Hadesfahrt der Odyssee vorsichtig unternommenes Wagniss
gewesen war, eine phantasievolle Vergegenwärtigung des unsicht-
[278] baren Reiches der Schatten, das wurde zu einer ganz unver-
fänglich scheinenden Beschäftigung dichterischer Laune, seit sich
der Glaube an bewusstes Weiterleben der abgeschiedenen Seelen
neu befestigt hatte.
Der Hadesfahrt des Odysseus und ihrer Ausdichtung im
Sinne allmählich lebhafter werdender Vorstellungen vom jen-
seitigen Leben waren in epischer Dichtung frühzeitig Erzäh-
lungen von ähnlichen Fahrten anderer Helden gefolgt. Ein
hesiodisches Gedicht schilderte des Theseus und Peirithoos
Gang in die Unterwelt 1). Eine Nekyia (unbekannten Inhalts)
kam in dem Gedichte von der Rückkehr der Helden von Troja
vor. In dem „Minyas“ benannten Epos scheint eine Hades-
fahrt einen breiten Raum eingenommen zu haben 2). Bei solcher
[279] wiederholten und wetteifernden Darstellung des Gegenstandes
muss sich allmählich ein immer grösserer Reichthum der Ge-
stalten und Erscheinungen im Hades angesammelt haben. Wir
wissen zufällig von der sonst wenig bekannten Minyas, wie sie
den Vorrath vermehrte. Wie weit hier volksthümliche Phan-
tasie und Sage, wie weit dichterische Erfindung thätig war,
würde man vergeblich fragen. Vermuthlich war es, wie in
griechischer Sagenbildung zumeist, ein Hin und Wieder, in
welchem doch das Uebergewicht der Erfindsamkeit auf Seiten
der Poesie war. Rein dichterische Bilder oder Visionen, wie
die von der Entrückung lebender Helden nach Elysion oder
nach den Inseln der Seligen, konnten sich allmählich popu-
lärem Glauben einschmeicheln. „Liebster Harmodios,“ sagt
das athenische Skolion, „du bist wohl nicht gestorben, sondern
auf den Inseln der Seligen, sagt man, seist du.“ Dogmatisch
festgesetzt war damit nichts: in der Leichenrede des Hyperides
wird ausgemalt, wie die Tyrannenmörder, Harmodios und
Aristogeiton, dem Leosthenes und seinen Kampfgenossen unter
anderen grossen Todten drunten im Hades begegnen 1).
Manches, was von einzelnen Dichtern zur Ausfüllung oder
Ausstattung des öden Reiches erfunden sein mochte, prägte
sich der Vorstellung so fest ein, dass es zuletzt wie ein Er-
2)
[280] zeugniss des volksthümlichen Gemeinglaubens erschien. Der
Hüter der Pforte des Pluton, der schlimme Hund des Hades,
der Jedermann einlässt und Keinen wieder hinaus, aus dem
Abenteuer des Herakles altbekannt, schon von Hesiod „Ker-
beros“ benannt, war Jedermann vertraut 1). Wie das Thor
[281] und den Thorhüter, so die Gewässer, die den Erebos abtrennen
von der Welt der Lebenden, kennt schon Homer; jetzt hatte
man auch einen Fährmann, den grämlichen greisen Charon,
der, wie ein zweiter Kerberos, alle sicher hinübergeleitet, aber
Niemand zurückkehren lässt 1). Die Minyas zuerst erwähnte
ihn; dass er wirklich eine Gottheit des Volksglaubens wurde
(wie er es ja, wenn auch in veränderter Bedeutung, bis heute
in Griechenland ist), lassen die Bilder auf attischen, den Todten
in’s Grab mitgegebenen Gefässen erkennen, auf denen die Seele
dargestellt ist, wie sie am schilfigen Ufer auf den Fährmann
trifft, der sie hinüberfahren soll, von wo Niemand wiederkehrt 2).
Auch erklärte man sich die Sitte, dem Todten eine kleine
Münze, zwischen die Zähne geklemmt, mit in’s Grab zu geben,
aus der Fürsorge für das dem Charon zu entrichtende Fähr-
geld 3).
War die Seele am jenseitigen Ufer angelangt, am Kerberos
vorbeigekommen, was wartete ihrer dort? Nun, die in die
Mysterien Eingeweiheten durften auf ein heiteres Fortleben, wie
es eben ihre Wünsche sich ausmalen mochten, rechnen. Im
Grunde war dieses selige Loos, das die Gnade der drunten
3)
[283] waltenden Gottheiten verlieh, leicht zu erringen. So Viele
waren geweiht und göttlicher Gunst empfohlen, dass der einst
so trübe Hades sich freundlicher färbte. Früh schon be-
gegnet der allgemeine Name der „Seligkeit“ als Bezeichnung
des Jenseits; die Todten ohne viel Unterschied heissen die
„Seligen“ 1).
Wer freilich die Weihen thöricht versäumt oder verschmäht
hatte, hat „nicht gleiches Loos“ da drunten, wie der Demeter-
hymnus sich gelassen ausdrückt. Nur die Geweiheten haben
Leben, sagt Sophokles; die Ungeweiheten, denen es dort unten
übel geht, wird man sich kaum anders gedacht haben, denn
schwebend in dem dämmernden Halbleben der Schatten des
homerischen Erebos. Wohlmeinende moderne Ethisirung des
Griechenthums wünscht, einen recht kräftigen Glauben an unter-
weltliches Gericht und Vergeltung für Thaten und Charakter
des nun Verstorbenen auch bei den Griechen als Volksüber-
zeugung anzutreffen. Homer zeigt kaum die schwächsten An-
klänge an einen solchen Glauben. Einzig die Meineidigen ver-
fallen bei ihm der Strafe der Unterweltsgötter, denen sie sich
selbst, im Eidschwur, gelobt hatten. Auch die „Büsser“ und
[284] ihre Strafen, deren Schilderung spätere Nachdichtung dem
Gedichte von der Hadesfahrt des Odysseus eingefügt hat, dienen,
unbefangen betrachtet, nicht, die Meinung, dass homerische
Dichtung den Vergeltungsglauben kenne, zu stärken. Nur
diesem Vorbilde folgten spätere Dichter, wenn sie noch einige
andere Götterfeinde im Hades ewige Strafen erleiden liessen,
etwa den Thamyris, den Amphion (wie die Minyas erzählte),
später namentlich den Ixion 1). Zu einer Illustrirung eines
allgemeinen Vergeltungsglaubens liegt hierin nicht einmal ein
Ansatz. — Von dem Gericht, das im Hades „Einer“ halte,
redet allerdings Pindar (Ol. 2, 45) aber im Zusammenhang
einer Schilderung der letzten Dinge, die er den Lehren mysti-
scher Separatisten entlehnt. Von einem Gericht des Hades
selbst weiss Aeschylus 2); aber seine Gedanken über göttliche
Strafgerechtigkeit entnimmt er seinem eigenen, von dem Popular-
glauben streng abgekehrten Geiste. Vollends die drei Hades-
richter, Minos, Rhadamanthys und Aeakos, die über das im
Leben auf Erden Begangene drunten Gericht halten, begegnen
zuerst bei Platon, in einer Ausmalung jenseitiger Dinge, die
alles eher als den Volksglauben seiner Zeit wiedergiebt 3).
[285] Später ist, wie auch andere Züge der Platonischen eschato-
logischen Mythen, das Bild der Hadesrichter (denen man auch
3)
[286] Triptolemos gesellte 1]) auch populärer Phantasie vertraut ge-
worden, wie Anspielungen in später Literatur, vielleicht auch
Darstellungen der Unterwelt auf Bildern unteritalischer Vasen
merken lassen. Aber dass in der Blüthezeit griechischer Bildung
der Glaube an Richter und Gericht über die im Leben auf
Erden begangenen Thaten, das im Hades über Alle gehalten
werde, im Volke Wurzeln geschlagen habe, ist unbewiesen,
und liesse sich durch einen Beweis ex silentio als völlig irrig
nachweisen. Wo aber keine Richter sind, da findet auch kein
Gericht statt.
Man kann wohl oft versichert sehen, der Glaube an eine
jenseitige Vergeltung guter und böser Thaten sei den Griechen
aus den eleusinischen Mysterien zugeflossen. Es ist aber im
Gegentheil zu sagen: wenn und soweit die Griechen solchen
Vergeltungsglauben gehabt und gehegt haben, sind die Myste-
3)
[287] rien von Eleusis daran gänzlich unbetheiligt gewesen. Man
bedenke doch: Eleusis weiht, mit einziger Ausnahme der
Mordbefleckten, Griechen aller Arten, ohne ihre Thaten, ihr
Leben oder gar ihren Charakter zu prüfen. Den Geweiheten
war seliges Leben im Jenseits verheissen, den Ungeweiheten
trübes Loos in Aussicht gestellt. Die Scheidung wurde nicht
nach Gut und Böse gemacht: „Pataekion der Dieb wird nach
seinem Tode ein besseres Loos haben, weil er in Eleusis ge-
weiht ist als Agesilaos und Epaminondas“ höhnte Diogenes der
Cyniker. Nicht das bürgerliche oder moralische, das „geist-
liche“ Verdienst allein entscheidet. Man wird sich darüber
nicht sehr verwundern: die meisten Religionen halten es so.
Jedenfalls aber: einem Gericht über Tugend und Laster im
Hades war durch die in den Mysterien nach ganz anderen Ge-
sichtspuncten ausgetheilten unterirdischen Belohnungen und
Strafen vorgegriffen. Wo die Mysterien ernst und wichtig ge-
nommen wurden, da konnten sie den Gedanken einer Vergeltung
guter und böser Thaten im Hades, falls er sich regen wollte,
eher zu unterdrücken beitragen: in ihnen ist nichts, was ihn
beförderte.
Nun schliesst sich freilich die religiöse Moral, unter geistig
beweglichen Völkern, gern und leicht der bürgerlichen Moral
und deren selbständiger Entwicklung an; nur so kann sie die
Leitung behalten. Und so mag sich in der Vorstellung
vieler Griechen an den Begriff der religiösen Rechtfertigung
(durch die Weihen) derjenige der bürgerlichen Rechtschaffen-
heit angelehnt, und neben die Schaaren Unseliger, die mit den
heiligen Weihen auch das Heil im Jenseits versäumt hatten,
sich die nicht geringe Anzahl solcher Menschen gestellt haben,
denen Verletzung des Rechtes der Götter, der Familie und der
bürgerlichen Gesellschaft im Hades schlimmen Lohn einbringt.
Solche die falsch geschworen, den eigenen Vater geschlagen, das
Gastrecht verletzt haben, lässt (in den „Fröschen“) Aristophanes
dort unten „im Schlamm liegen“, eine Strafandrohung, die
ursprünglich orphische Privatmysterien den Ungeweiheten in
[288] Aussicht stellten, auf moralische Verschuldung übertragend 1).
— Den Conflict, in den solche Annahmen mit den Verheis-
sungen der Mysterien gerathen mussten, wird man eben darum
weniger empfunden haben, weil man dem Gedanken einer Ver-
geltung nach moralischer Würdigung gar nicht ernstlich und
anhaltend nachging, sondern sich mit leichten Andeutungen be-
gnügte. In wirklicher Noth hat Niemanden in Griechenland
diese Vorstellung aufrecht erhalten. Auf Erden erwartete
man die Gerechtigkeit der Götter ausgleichend walten zu
sehn; wem daran die Erfahrung den Glauben wanken machte,
[289] den hat eine Anweisung auf ein besseres Jenseits nicht getroster
gemacht. Man kennt ja den typischen Fall des Diagoras des
„Gottesläugners“ 1).
Die Ausmalung des Jenseits, so ängstlich sie die An-
hänger gewisser mystischer Secten betreiben mochten, blieb
für Dichter und Publicum von Athen im fünften Jahrhundert
doch wenig mehr als eine Beschäftigung spielender Phantasie,
an der man sich mit aller Freiheit des Geistes ergötzen konnte.
Als Einrahmung einer burlesken Handlung schien den Komödien-
dichtern, von Pherekrates an, eine Fahrt in das unbekannte
Land eben recht 2). Ein Schlaraffenland, fabelten sie, wie es
einst, als Kronos noch, im goldenen Zeitalter, regierte, auf
Erden war, erwartet die „Seligen“ da unten 3), eine „Stadt der
Glückseligkeit“ 4), wie man sie sonst wohl am Ende der Welt
und noch auf dieser Oberwelt anzutreffen hoffte. Eine Komödie
ist es, die „Frösche“ des Aristophanes, in der wir, bei Gelegen-
heit der Hadesfahrt des athenischen Spiessbürgers, der diesmal
Rohde, Seelencult. 19
[290] den Dionysos vorstellt, die Geographie der Unterwelt in deut-
licheren Umrissen kennen lernen. Hinter dem acherusischen
See mit seinem grämlichen Fährmann lagern sich allerlei
Schlangen und Unthiere. An dem, im Finstern modernden
Schlammpfuhle vorbei, in dem die Meineidigen liegen und die
gegen Vater oder Fremdling sich vergangen haben, führt der
Weg zum Pallaste des Pluton, in dessen Nähe der Chor der in den
Mysterien Geweiheten wohnt. Ihnen spendet auch dort unten
im Hades die Sonne heiteres Licht, in Myrtenhainen tanzen
sie und singen zum Flötenschall Lieder zum Preise der unter-
weltlichen Götter 1). Eine Scheidung der Unterweltbewohner
in zwei Schaaren, wie sie die Mysterien lehrten, ist durch-
geführt, helles Bewusstsein wenigstens bei den Mysten voraus-
gesetzt, und hieran merkt man wohl den Umschwung seit der
Nekyia der Odyssee. Es giebt noch andere Oertlichkeiten im
Hades als die Wohnplätze der Geweiheten und der Unfrommen.
Auf das Gefilde der Lethe wird angespielt 2); auf die Stelle,
wo Oknos sein Seil flicht, das ihm sofort seine Eselin wieder
[291] zernagt. Dies ist eine Parodie, halb scherzhaft, halb weh-
müthig, auf jene homerischen Gestalten des Sisyphos und
Tantalos, ein kleinbürgerliches Gegenstück zu jener homerischen
Aristokratie der Götterfeinde, deren Strafen nach Goethes
Bemerkung Abbildungen ewig fruchtlosen Bemühens sind.
Aber was hat der gute Oknos begangen, dass auch ihn dieses
Schicksal ewig zielloser Mühen trifft? Er ist ein Mensch wie
andere. „Der bildet ab das menschliche Bestreben“. Dass
man solche Gestalten eines harmlos sinnreichen Witzes in den
Hades versetzen mochte, zeigt, wie weit man von schwerem
theologischen Ernst entfernt war.
Anschaulich müsste die Wandlung der Vorstellungen vom
jenseitigen Leben seit Homers Zeiten uns entgegentreten in
dem Bilde der Unterwelt, mit dem Polygnot von Thasos die
eine Wand der Halle der Knidier zu Delphi geschmückt
hatte. Den Inhalt dieser malerischen Schilderung kennen wir
ja genau aus dem Berichte des Pausanias. Da ist nun über-
raschend wahrzunehmen, wie schwach in dieser Zeit, um die
Mitte des fünften Jahrhunderts, die Höllenmythologie entwickelt
war. Dargestellt war die Befragung des Tiresias durch Odysseus;
die Schaaren der Heroen und Heroïnen der Dichtung nahmen
daher den breitesten Raum ein. Die Strafgerechtigkeit der
Götter illustrirten die Gestalten der homerischen „Büsser“,
Tityos, Tantalos, Sisyphos. Aus der heroischen Gesellschaft
heraus führt Oknos mit seiner Eselin. Nun aber der Lohn
der Tugend, die Strafe der Uebelthaten? Die schlimmsten
Vergehungen, gegen Götter und Eltern, werden geahndet an
einem Tempelräuber, dem eine Zauberin Gift zu trinken giebt 1),
und einem pietätlosen Sohne, den der eigne Vater würgt 2).
19*
[292] Von solchen Verbrechern geschieden sind die „Ungeweiheten“,
welche die eleusinischen Mysterien gering geachtet haben.
Weil sie die „Vollendung“ der Weihen versäumt haben, müssen
sie nun, Männer und Weiber, in zerbrochenen Scherben Wasser
in ein (durchlöchertes) Fass schöpfen, in nie zu vollendender
Mühe 1). Im Uebrigen sieht man keine Richter, welche die
Seelen in zwei Schaaren zu scheiden hätten, von den Schreck-
[293] nissen der Unterwelt nichts als den leichenfressenden Dämon
Eurynomos, der dem Maler wohl aus irgend einer localen
Sage bekannt geworden war 1). Von Belohnung der „Guten“
zeigt sich keine Spur; selbst die Hoffnungen der in den
Mysterien Geweiheten sind nur bescheiden angedeutet in dem
Kästchen, welches Kleoboia, mit Tellis in Charons Kahn eben
heranfahrend, auf den Knieen hält 2). Das ist ein Symbol der
heiligen Weihen der Demeter, welche Kleoboia einst von Paros
nach Thasos, der Heimath des Polygnot, gebracht hatte.
Von dieser, den homerischen Hades nur leise umgestalten-
den Bilderreihe 3) blicke man hinüber etwa auf die Marterscenen
etruskischer Unterweltbilder, oder auf die Pedanterien vom
[294] Todtengerichte am Tage der Rechtfertigung u. s. w., wie sie
die Aegypter in Bild und Schrift breit ausgeführt haben. Vor
der trüben Ernsthaftigkeit, mit der dort ein phantasiearmes
Volk aus einmal mit Anstrengung ergriffenen Speculationen
und Visionen sich ein starres, lastendes Dogma geschmiedet
hat, waren die Griechen durch ihren Genius bewahrt. Ihre
Phantasie ist eine geflügelte Gottheit, deren Art es ist,
schwebend die Dinge zu berühren, nicht wuchtig niederzu-
fallen und mit bleierner Schwere liegen zu bleiben. Auch
waren sie für die Infectionskrankheit des „Sündenbewusstseins“
in ihren guten Jahrhunderten sehr wenig empfänglich. Was
sollten ihnen Bilder unterweltlicher Reinigung und Peinigung
von Sündern aller erdenklichen Arten und Abstufungen, wie
in Dantes grauser Hölle? Wahr ist es, dass selbst solche
gräuliche christliche Höllenphantasien sich zum Theil aus
griechischen Quellen speisen. Aber es war der Wahn einzelner
sich absondernder Secten, der Bilder dieser Art hervorrief, und
sich einer philosophischen Speculation zu empfehlen vermochte,
die in ihren trübsten Stunden allen Grundtrieben griechischer
Cultur zürnend absagte. Das griechische Volk, seine Religion,
und auch die Mysterien, die der Staat verwaltete und heilig
hielt, darf man von solchen Abirrungen freisprechen.
Die volksthümlichen Vorstellungen von Fortdauer der
Seelen der Gestorbenen, auf den Seelencult begründet, mit
einigen, dem Seelencult im Grunde widersprechenden, aber als
solche nicht empfundenen Annahmen der homerischen Seelen-
kunde verwachsen, bleiben im Wesentlichen unverändert in Kraft
durch alle kommenden Jahrhunderte griechischen Lebens. Sie
enthielten in sich keinen Keim weiterer Ausbildung, keine Auf-
forderung zur Vertiefung in das Dasein und die Zustände der
nach ihrer Trennung vom Leibe selbständig gewordenen Seele,
insbesondere nichts, was den Glauben an selbständige Fort-
dauer der Seelen hätte steigern können zu der Vorstellung eines
unsterblichen, endlos ewigen Lebens. Ein endloses Weiterleben
der Seele wird auf diesem Standpunkte weder behauptet noch
geleugnet; dieser Gedanke fällt hier überhaupt gar nicht in
den Kreis der Betrachtung. Auf das Verhältniss der jedesmal
Lebenden zu den Seelen der vorangegangenen, zumeist der nächst-
vorhergehenden Geschlechter bedacht und den Blick darauf
einschränkend, hat der Cult der Seelen gar keine Veranlassung,
auf eine unbegrenzte Zukunft hinaus zu denken. Der Begriff
der Ewigkeit zudem, aus keiner Erfahrung zu gewinnen, gehört
der Speculation an oder der Vision: Vision aber und Specu-
lation liegen diesen Volkskreisen gleich fern.
Dennoch tritt seit einer gewissen Zeit in Griechenland der
Gedanke der Unsterblichkeit der Seele hervor, um von da
an, bejaht oder bestritten, nicht wieder aus dem Gedankenkreise
der von griechischen Anregungen (wenn auch oft unbewusst) be-
[296] stimmten Menschheit zu verschwinden. Es ist wichtig, gleich von
Anfang an sich klar zu machen, was, nach griechischer Vor-
stellungsweise, mit dem Satze, dass die Seele des Menschen
unsterblich sei, eigentlich behauptet wurde. Wer der Seele ewige
Dauer zusprach, der liess sie theilhaben an dem Vorrecht der
Götter, der ewig lebendigen. „Unsterblich“ und „göttlich“
sind Wechselbegriffe; das wesentliche Prädicat des Gottes und
nur des Gottes ist eben die Unsterblichkeit. Ueberträgt man
dieses Prädicat auf die Seele des Menschen, so erklärt man
diese damit für einen Gott (ϑεός, δαίμων) oder doch für ein
göttliches Wesen (ϑεῖον). Die Vorstellungen der Unsterblich-
keit und der Gottnatur der Seele waren untrennbar von An-
fang an, und sie sind es in Wahrheit geblieben auch unter
den mannichfachen Umhüllungen und Umbildungen, welche
theologisch-philosophische Speculation dem Unsterblichkeits-
glauben gegeben hat.
Die Unsterblichkeit ist nicht eine für sich stehende Eigen-
schaft der Seele; wo sie unter Griechen geglaubt wird, folgt
sie einfach aus dem Glauben an die göttliche Natur der Seele.
Ein Glaube, der sich auf göttliche Naturen bezieht, kann in
seinen Anfängen nur ein religiöser gewesen sein. Und so tritt
uns in der That die erste Spur der Vorstellung von unsterb-
lich-göttlichem Leben der Menschenseele als ein eigenthümlich
eingekleideter religiöser Glaubenssatz entgegen. Es war nicht
der Seelencult der Familien und Städte, nicht die öffentliche und
allgemeine Religion des Staates, die diesen Glauben erzeugten,
wie nicht sie es waren, die ihn nährten und lebendig erhielten.
Er taucht auf inmitten einer durch die Religion des Staates nicht
befriedigten, nach eigenen Satzungen das Leben religiös gestalten-
den Secte, die sich im Culte des Dionysos vereinigte.
Es gilt zu begreifen und begreiflich zu machen, wie in der
Verehrung gerade dieses Gottes, der im griechischen Olymp
erst spät eine Stelle fand, die Keime zur Entwicklung des
Glaubens an Göttlichkeit und Unvergänglichkeit der mensch-
lichen Seele gelegen waren.
Im Geistesleben der Menschen und Völker ist es nicht
eben das Ausschweifende, in irgend einem Sinne Abnorme, zu
dem das nachempfindende Verständniss am schwersten den
Zugang fände. Man macht, in einer herkömmlichen, zu engen
Formulirung griechischen Wesens befangen, es sich nicht immer
deutlich, aber, wenn man sich recht darauf besonnen hat, so
versteht man es im Grunde mit mässiger Mühe, wie in griechi-
scher Religion, zur Zeit ihrer vollsten Entwicklung, der
„Wahnsinn“ (μανία), eine zeitweilige Störung des psychischen
Gleichgewichtes, ein Zustand der Ueberwältigung des selbst-
bewussten Geistes, der „Besessenheit“ durch fremde Gewalten
(wie er uns beschrieben wird) als religiöse Erscheinung weit-
reichende Bedeutung habe gewinnen können. Tief wirkende
Bethätigung fand in Mantik und Telestik dieser Wahnsinn, der
„nicht durch menschliche Krankheiten, sondern durch gött-
liches Hinausversetzen aus den gewohnten Zuständen ent-
steht“ 1). Seine Wirkungen waren so häufig und anerkannt,
dass als eine Erfahrungsthatsache Wirklichkeit und Wirksam-
keit eines solchen, von körperlicher Krankheit völlig zu unter-
scheidenden religiösen Wahnsinns nicht nur von Philosophen,
sondern selbst von Aerzten 2) behandelt wird. Uns bleibt eigent-
lich nur die Einordnung solcher „göttlichen Manie“ in den
regelmässig arbeitenden Betrieb des religiösen Lebens räthsel-
haft; die diesem ganzen Wesen zu Grunde liegenden Em-
pfindungen und Erfahrungen sind uns nach zahlreichen Ana-
loga durchsichtig genug. Wollen wir die Wahrheit gestehen,
so ist unserem innerlichen Mitempfinden schwerer fast als
solches Ueberwallen der Empfindung und alles ihm Verwandte
der entgegengesetzte Pol griechischen religiösen Lebens zu-
gänglich, die in ruhiges Maass gefasste Gelassenheit, mit der
[298] Herz und Blick sich zu den Vorbildern alles Lebens, den
Göttern, und ihrer, wie der Aether unbewegt leuchtenden
Heiterkeit erhebt.
Aber wie vertrug sich in Einem Volke der Ueber-
schwang der Erregung mit dem in feste Schranken gefügten
Gleichmaass der Stimmung und Haltung? Diese Gegensätze
sind nicht aus Einer Wurzel erwachsen; sie waren nicht von
jeher in Griechenland verbunden. Die homerischen Gedichte
geben von einer Ueberspannung religiöser Gefühle, wie sie die
Griechen späterer Zeit als gottgesandten Wahnsinn kannten
und verehrten, noch kaum eine Ahnung. Sie breitete sich
unter Griechen aus in Folge einer religiösen Bewegung, man
könnte fast sagen Umwälzung, zu der bei Homer höchstens
die ersten Ansätze sich fühlbar machen. Sie stammt ihrem
Ursprunge nach aus der Dionysosreligion, und tritt mit dieser
als ein Fremdes und Neues in griechisches Leben.
Die homerischen Gedichte kennen Dionysos nicht als zu den
Göttern des Olymp gehörig. Aber sie wissen von ihm. Zwar
als den in heiterer Feier verehrten Weingott nennen sie ihn
nirgends deutlich 1); wohl aber liest man (in der Erzählung
von der Begegnung des Glaukos und Diomedes) von dem
„rasenden“ Dionys und seinen „Wärterinnen“, die Lykurgos
der Thraker überfiel 2); die Mainas, das im Cult des Dionysos
[299] „rasende“ Weib, ist eine bekannte Erscheinung, der Vorstellung
so vertraut, dass sie in einer Vergleichung zur Verdeutlichung
gebraucht werden kann 1). In dieser Gestalt trat der Cultus des
Gottes den Griechen zuerst vor Augen; dies war die Wurzel aller
anderen, später so mannichfaltig entwickelten Dionysosfeiern 2).
Den Dionysos Bakcheios „der die Menschen rasend macht“ 3)
lernten sie kennen, wie er in seiner Heimath verehrt wurde.
Dass die Heimath des Dionysoscultes Thrakien war, sein
Cult, wie bei anderen thrakischen Völkerschaften 4), so ins-
2)
[300] besondere blühte bei den, den Griechen am besten bekannten
südlichsten der zahlreichen thrakischen Stämme, die von der
Mündung des Hebros bis zu der des Axios an der Meeres-
küste und in den darüber liegenden Berglandschaften wohnten,
das haben die Griechen selbst oft und vielfach bezeugt 1). Der
Gott, den die Griechen mit graecisirtem Namen Dionysos
nannten, hatte, wie es scheint, bei den vielen gesonderten
Stämmen der Thraker wechselnde Benennungen, unter denen
Sabos, Sabazios, den Griechen die geläufigsten wurden 2). Wesen
[301] und Dienst des Gottes muss den Griechen früh bekannt und
auffallend geworden sein, sei es nun in thrakischen Landen
selbst, die sie, in ihre spätere Heimath wandernd, durchzogen
haben müssen und mit denen sie seit alter Zeit in vielfachem
Verkehr standen, sei es auf griechischem Boden, durch thra-
kische Stämme oder Haufen, denen in Urzeiten dauernde Sitze
in manchen Gegenden Mittelgriechenlands zugeschrieben wurden
in vereinzelten Sagen, deren ethnographische Voraussetzungen
die grossen Geschichtsschreiber des fünften und vierten Jahr-
hunderts als thatsächlich begründet nahmen 1).
Der Cult dieser thrakischen Gottheit, in allen Punkten
heftig abweichend von dem was wir etwa aus Homer als
griechischen Götterdienst kennen, dagegen aufs nächste ver-
wandt dem Culte, in welchem das, mit den Thrakern fast
identische Volk der Phrygier seine Bergmutter Kybele verehrte,
trug völlig orgiastischen Charakter. Die Feier ging auf Berg-
höhen vor sich, in dunkler Nacht, beim unsteten Licht der
2)
[302] Fackelbrände. Lärmende Musik erscholl, der schmetternde
Schall eherner Becken, der dumpfe Donner grosser Hand-
pauken und dazwischen hinein der „zum Wahnsinn lockende
Einklang“ der tieftönenden Flöten 1), deren Seele erst phry-
gische Auleten erweckt hatten. Von dieser wilden Musik erregt,
tanzt mit gellendem Jauchzen 2) die Schaar der Feiernden.
Wir hören nichts von Gesängen 3): zu solchen liess die Gewalt
des Tanzes keinen Athem. Denn dies war nicht der gemessen
bewegte Tanzschritt, in dem etwa Homers Griechen im Paean
sich vorwärts schwingen. Sondern im wüthenden, wirbelnden.
stürzenden Rundtanz 4) eilt die Schaar der Begeisterten über
die Berghalden dahin. Meist waren es Weiber, die bis zur
Erschöpfung 5) in diesen Wirbeltänzen sich umschwangen; selt-
sam verkleidet: sie trugen „Bassaren“, lang wallende Gewänder,
wie es scheint, aus Fuchspelzen genäht 6); sonst über dem Ge-
wande Rehfelle 7), auch wohl Hörner 8) auf dem Haupte. Wild
[303] flattern die Haare 1), Schlangen, dem Sabazios heilig 2), halten
die Hände, sie schwingen Dolche, oder Thyrsosstäbe, die unter
dem Epheu die Lanzenspitze verbergen 3). So toben sie bis
zur äussersten Aufregung aller Gefühle, und im „heiligen
Wahnsinn“ stürzen sie sich auf die zum Opfer erkorenen
Thiere, packen und zerreissen die eingeholte Beute 4), und
reissen mit den Zähnen das blutige Fleisch ab, das sie roh
verschlingen.
Man kann nach dichterischen Schilderungen und bildlichen
Darstellungen sich die Vorgänge dieser fanatischen Nachtfeiern
leicht weiter ausmalen. Aber welchen Sinn hatte das Alles?
Man wird ihm am ehesten nahekommen, wenn man, alle aus
fremdartigen Gedankenkreisen hineingetragenen Theorieen mög-
lichst fernhaltend, einzig das bei den Theilnehmern an der
Feier sich herausstellende Ergebniss als ein gewolltes, absicht-
lich herbeigeführtes und also als den Zweck, mindestens als
einen der Zwecke dieser auffallenden Begehungen anerkennt.
Die Theilnehmer an diesen Tanzfeiern versetzten sich selbst
in eine Art von Manie, eine ungeheure Ueberspannung ihres
8)
[304] Wesens; eine Verzückung ergriff sie, in der sie „rasend, be-
sessen“, sich und Anderen erschienen 1). Diese Ueberreizung der
Empfindung bis zu visionären Zuständen 2) bewirkten, bei hiefür
Empfänglichen, der rasende Tanzwirbel, die Musik, das Dunkel,
alle die Veranstaltungen dieses Aufregungscultes 3). Diese
äusserste Erregung war der Zweck, den man erreichen wollte.
Einen religiösen Sinn hatte die gewaltsam herbeigeführte Steige-
rung des Gefühls darin, dass nur durch solche Ueberspannung
und Ausweitung seines Wesens der Mensch in Verbindung und
Berührung treten zu können schien mit Wesen einer höheren
Ordnung, mit dem Gotte und seinen Geisterschaaren. Der
Gott ist unsichtbar anwesend unter seinen begeisterten Ver-
ehrern, oder er ist doch nahe, und das Getöse des Festes
dient, den Nahenden ganz heranzuziehen 4). Es gehen eigene
[305] Sagen von dem Verschwinden des Gottes in eine andere Welt
und seiner Wiederkehr zu den Menschen 1). Jedes zweite Jahr
4)
Rohde, Seelencult. 20
[306] feiert man seine Wiederkehr; eben diese seine Ankunft, seine
„Epiphanie“ ist Grund und Anlass des Festes. Der Stiergott,
wie ihn sich die rohe Alterthümlichkeit des Glaubens vorstellte,
erscheint mitten unter den Tanzenden 1); oder es liessen ver-
steckte „Mimen des Schreckens“ durch nachgeahmtes Stier-
gebrüll die Anwesenheit des Unsichtbaren spüren 2). Und die
Feiernden selbst, im wüthenden Ueberschwang der Begeisterung,
1)
[307] streben ihm zu, zur Vereinigung mit ihm; sie sprengen die
enge Leibeshaft ihrer Seele; Verzauberung packt sie, und sie
selbst fühlen sich, ihrem alltäglichen Dasein enthoben, als
Geister aus dem Schwarm, der den Gott umtost 1). Ja, sie
haben Theil an dem Leben des Gottes selbst: nichts anderes
kann es bedeuten, wenn sich die verzückten Diener des Gottes
mit dem Namen des Gottes benennen. Der mit dem Gotte
in der Begeisterung eins gewordene heisst nun selbst Sabos,
Sabazios 2). Uebermenschliches und Unmenschliches mischt
sich nun auch in ihnen: gleich dem wilden Gotte selbst 3)
stürzen sie sich auf das Opferthier, um es roh zu ver-
20*
[308] schlingen. Um solche Verwandlung ihres Wesens nach aussen
kenntlich zu machen, haben sich die Theilnehmer an dem
Taumelfeste verkleidet: sie gleichen in ihrem Aufzuge den
Genossen des schwärmenden Thiasos des Gottes 1); die Hörner,
die sie aufsetzen, erinnern an den hörnertragenden, stier-
gestalteten Gott selber 2) u. s. w. Das Ganze könnte man ein
religiöses Schauspiel nennen, denn mit Absicht sind die Mittel
zur Vergegenwärtigung der fremdartigen Gestalten aus dem
Geisterreiche vorbereitet. Zugleich aber ist es mehr als ein
Schauspiel: denn man kann nicht daran zweifeln, dass die
Schauspieler selbst von der Illusion des Lebens in einer fremden
Person ergriffen waren. Die Schauer der Nacht, die Musik,
namentlich jene phrygischen Flöten, deren Klängen die Griechen
die Kraft zuschrieben, die Hörer „des Gottes voll“ zu machen 3),
[309] der wirbelnde Tanz, dies alles konnte in geeigneten Naturen 1)
wirklich einen Zustand visionärer Ueberreizung hervorbringen,
in dem die Begeisterten alles ausser sich sahen was sie in sich
dachten und vorstellten. Berauschende Getränke, deren Ge-
nusse die Thraker sehr ergeben waren, mochten die Erregung
erhöhen 2), vielleicht auch der Rauch gewisser Samenkörner,
durch den sie, wie die Skythen und Massageten, sich zu be-
rauschen wussten 3). Man weiss ja, wie noch jetzt im Orient
3)
[310] der Haschischrausch Visionäre macht und religiöse Verzückungen
erregt 1). Die ganze Natur ist dem Verzückten verwandelt.
„Nur in der Besessenheit schöpfen die Bakchen aus den Flüssen
Milch und Honig, nicht aber wenn sie wieder bei sich sind“,
sagt Plato 2). Honig und Wein strömt ihnen die Erde; Syriens
Wohlgerüche umduften sie 3). Zu der Hallucination gesellt
sich ein Zustand des Gefühls, dem selbst der Schmerz nur ein
Reiz der Empfindung ist, oder eine Empfindungslosigkeit gegen
den Schmerz, wie sie bisweilen solche überspannte Zustände
begleitet 4).
Alles stellt uns eine gewaltsame Erregung des ganzen
Wesens vor Augen, bei der die Bedingungen des normalen
Lebens aufgehoben schienen. Man erläuterte sich diese aus
allen Bahnen des Gewohnten schweifenden Erscheinungen durch
die Annahme, dass die Seele dieser „Besessenen 1)“ nicht „bei
sich“ 2) sei, sondern „ausgetreten“ aus ihrem Leibe. Wörtlich
so verstand es der Grieche ursprünglich, wenn er von der
„Ekstasis“ der Seele in solchen orgiastischen Reizzuständen
sprach 3). Diese Ekstasis ist „ein vorübergehender Wahnsinn“,
4)
[312] wie der Wahnsinn eine dauernde Ekstasis ist 1). Aber die
Ekstasis, die zeitweilige alienatio mentis im dionysischen Cult
gilt nicht als ein flatterndes Umirren der Seele in Gebieten eines
leeren Wahnes, sondern als eine Hieromanie 2), ein heiliger
Wahnsinn, in welchem die Seele, dem Leibe entflogen, sich
mit der Gottheit vereinigt 3). Sie ist nun bei und in dem
Gotte, im Zustand des „Enthusiasmos“; die von diesem Er-
griffenen sind ἔνϑεοι, sie leben und sind in dem Gotte 4).
In der Ekstasis, der Befreiung der Seele aus der beengen-
den Haft des Leibes, ihrer Gemeinschaft mit dem Gotte,
wachsen ihr Kräfte zu, von denen sie im Tagesleben und
durch den Leib gehemmt nichts weiss. Wie sie jetzt frei als
3)
[313] Geist mit Geistern verkehrt, so vermag sie auch, von der Zeit-
lichkeit befreit, zu sehen was nur Geisteraugen erkennen, das
zeitlich und örtlich Entfernte. Aus dem enthusiastischen Cult
der thrakischen Dionysosdiener stammt die Begeisterungs-
mantik 1), jene Art der Weissagung, die nicht (wie die Wahr-
sager bei Homer durchweg) auf zufällig eintretende und von
aussen herantretende, mannichfach deutbare Zeichen des Götter-
willens warten muss, sondern sich unmittelbar, im Enthusias-
mus, mit der Götter- und Geisterwelt in Verbindung setzt und
so, in erhöhetem Geisteszustand, die Zukunft schaut und ver-
kündigt. Das gelingt dem Menschen nur in der Ekstasis, im
religiösen Wahnsinn, wenn „der Gott in den Menschen fährt“.
Mänaden sind die berufenen Trägerinnen der Begeisterungs-
mantik 2). Es ist gewiss und leicht verständlich, dass der
thrakische Dionysoscult, wie er durchweg eine Veranstaltung
zur Erregung eines gewaltsam überspannten Zustandes der
Menschen war, zum Zweck eines directen Verkehrs mit der
Geisterwelt, so auch die Wahrsagung verzückter, im Wahnsinn
hellsehender Propheten nährte. Bei den Satrern in Thrakien
[314] gab es Propheten aus dem Stamme der Bessen, welcher das
auf einem hohen Berge gelegene Orakel des Dionysos ver-
waltete. Die Prophetin jenes Tempels war eine Frau, welche
wahrsagte in derselben Weise, wie die Pythia in Delphi, d. h.
also in rasender Verzückung. So erzählt Herodot 1), und wir
hören noch manches von thrakischer Mantik und deren un-
mittelbarem Zusammenhang mit dem Orgiasmus des Dionysos-
cultes 2).
Griechischer Religionsweise ist, vielleicht von Hause aus,
jedenfalls auf der frühesten unserer Wahrnehmung erreich-
baren Stufe ihrer Entwicklung, derjenigen auf welcher wir sie
in den homerischen Gedichten stehn sehen, alles fremd, was
einem Aufregungscult nach der Art der dionysischen Orgien
der Thraker ähnlich sähe. Wie etwas barbarisch Wunderliches
[315] und nur durch den Reiz des Unerhörten Anziehendes müsste
dem homerischen Griechen dieses ganze Treiben, wo es ihm zu-
gänglich wurde, entgegengetreten sein. Dennoch — man weiss
es ja — weckten die enthusiastischen Klänge dieses Gottes-
dienstes im Herzen vieler Griechen einen aus tiefem Innern ant-
wortenden Widerhall; aus allem Fremdartigen muss ihnen doch
ein verwandter Ton entgegengeschlagen sein, der, noch so selt-
sam modulirt, zu allgemein menschlicher Empfindung sprechen
konnte.
In der That war jener thrakische Begeisterungscult nur
eine nach nationaler Besonderheit eigenthümlich gestaltete
Kundgebung eines religiösen Triebes, der über die ganze Erde
hin überall und immer wieder, auf allen Stufen der Cultur-
entwicklung, hervorbricht, und sonach wohl einem tief be-
gründeten Bedürfniss menschlicher Natur, physischer und psy-
chischer Anlage des Menschen, entstammen muss. Der mehr
als menschlichen Lebensmacht, die er um und über sich walten
und bis in sein eigenes persönliches Leben hinein sich aus-
breiten fühlt, möchte in Stunden höchster Erhebung der Mensch
nicht, wie sonst wohl, scheu anbetend, in sein eigenes Sonder-
dasein eingeschlossen, sich gegenüberstellen, sondern in in-
brünstigem Ueberschwang, alle Schranken durchbrechend, zu
voller Vereinigung sich ans Herz werfen. Die Menschheit
brauchte nicht zu warten, bis das Wunderkind des Gedankens
und der Phantasie, der Pantheismus, ihr heranwuchs, um diesen
Drang, auf Momente das eigene Leben in dem der Gottheit
zu verlieren, empfinden zu können. Es giebt ganze Völker-
stämme die, sonst in keiner Weise zu den bevorzugten Mit-
gliedern der Menschenfamilie gehörig, in besonderem Maasse
die Neigung und die Gabe einer Steigerung des Bewusstseins
ins Ueberpersönliche haben, einen Hang und Drang zu Ver-
zückungen und visionären Zuständen, deren reizvolle und
schreckliche Einbildungen sie als thatsächliche reale Erfah-
rungen aus einer anderen Welt nehmen, in welche ihre „Seelen“
auf kurze Zeit versetzt worden seien. Und es fehlt in allen
[316] Theilen der Erde nicht an Völkern, die solche ekstatische
Ueberspannungen als den eigentlich religiösen Vorgang, den
einzigen Weg zu einem Verkehr des Menschen mit einer
Geisterwelt ansehen, und ihre religiösen Handlungen daher
vornehmlich auf solche Veranstaltungen begründen, die erfah-
rungsgemäss Ekstase und Visionen herbeizuführen geeignet
sind. Ueberall dient bei solchen Völkern der Tanz, ein heftig
erregter Tanz, zur Nachtzeit bei dem Toben lärmender In-
strumente bis zur Erschöpfung aufgeführt, der gewollten Her-
beiführung äusserster Spannung und Ueberreizung der Em-
pfindung. Bald sind es ganze Schaaren des Volkes, die sich
durch wüthenden Tanz in religiöse Begeisterung hineintreiben 1),
häufiger noch einzelne Auserwählte, die ihre von allen Wal-
lungen leichter fortgerissene Seele durch Tanz, Musik und Er-
regungsmittel aller Art zum Ausfahren in die Welt der Geister
und Götter zwingen 2). Die ganze Erde hat solche „Zauberer“
[317] und Priester, die sich mit den Geistern in directe Seelen-
gemeinschaft setzen können: die Schamanen Asiens, die
„Medicinmänner“ Nordamerikas, die Angekoks der Grönländer,
die Butios der Antillenvölker, die Piajen der Karaïben sind
nur einzelne Typen der überall vertretenen, im wesentlichen
gleichen Gattung; auch Afrika und Australien und die Welt
der Inseln des stillen Oceans entbehrt ihrer nicht; sie gehören
sammt dem ihrem Thun zu Grunde liegenden Vorstellungskreise
zu den mit der Regelmässigkeit eines Naturvorganges sich
geltend machenden und insofern nicht abnorm zu nennenden
Erscheinungen menschlichen Religionswesens. Gedankenlose
Uebung des Ueberlieferten, auch Ersetzung ächter Empfindung
durch täuschende Mimik bleibt dieser Weise religiöser Ge-
fühlsbethätigung natürlich am wenigsten fremd. Die ruhigsten
Beobachter bestätigen gleichwohl 1), dass bei der gewaltsamen
Aufstachelung ihres ganzen Wesens solche „Zauberer“ oft,
sogar der Regel nach, in ungeheuchelte Verzückungszustände
2)
[318] gerathen. Je nach Gehalt und Inhalt der ihnen geläufigen
Glaubensbilder gestalten sich die Hallucinationen, von denen
die Zauberer überfallen werden, im Einzelnen verschieden.
Durchweg aber versetzt sie ihr Wahn in unmittelbaren Ver-
kehr, vielfach in völlige Wesensgemeinschaft mit den Göttern.
Nur so erklärt es sich, dass, wie die begeisterten Bakchen
Thrakiens, so die Zauberer und Priester vieler Völker mit
dem Namen der Gottheit benannt werden, zu der ihr Be-
geisterungscult sie emporhebt 1). Das Streben nach der Ver-
einigung mit Gott, dem Untergang des Individuums in der
Gottheit, ist es auch, was alle Mystik hoch begabter und ge-
bildeter Völker in der Wurzel zusammenbindet mit dem Auf-
regungscult der Naturvölker. Selbst der äusseren Mittel der
Erregung und Begeisterung mag diese Mystik nicht immer
entrathen 2), und stets sind es dieselben, die wir aus den reli-
giösen Orgien jener Völker kennen: Musik, wirbelnder Tanz,
narkotische Reizmittel. So schwingen sich, (um von vielen Bei-
spielen das auffallendste zu nehmen) zum „Schall der Trom-
mel, Hall der Flöte“ die Derwische des Orients im Wir-
beltanz herum bis zu äusserster Erregung und Erschöpfung;
[319] wozu das alles diene, verkündet im geistigsten Ausdruck der
furchtloseste der Mystiker, Dschelaleddin Rumi: „Wer die
Kraft des Reigens kennet, wohnt in Gott; denn er weiss wie
Liebe tödte. Allah hu!“ —
Ueberall nun, wo in Volksstämmen oder in Religions-
vereinen ein solcher Cultus Wurzel geschlagen hat, dessen Sinn
und Ziel die Herbeiführung ekstatischer Entzückungen ist, ver-
bindet sich mit ihm, sei es als Grund oder Folge oder beides,
ein besonders energischer Glaube an Leben und Kraft der vom
Leibe getrennten Seele des Menschen. Bei den thrakischen
Stämmen, deren dem „Dionysos“ gewidmeter Aufregungscult
sich der vergleichenden Uebersicht als eine einzelne Spielart
der mehr als der Hälfte der Menschheit vertrauten Weise, im
religiösen Enthusiasmus sich der Gottheit zu nähern, darstellt,
müsste man von vornherein erwarten, einen stark und eigen-
thümlich entwickelten Seelenglauben anzutreffen. In der That
erzählt ja Herodot von dem thrakischen Stamme der Geten,
deren Glaube „die Menschen unsterblich machte“ 1). Sie
hatten nur Einen Gott 2), Zalmoxis genannt; zu ihm, der in
[320] einem hohlen Berge sitzt, meinten sie, würden einst zu ewigem
Leben die Verstorbenen ihres Stammes gelangen 1). Den
gleichen Glauben hatten auch andere thrakische Stämme 2).
Dieser Glaube scheint eine „Umsiedlung“ 3) der Gestorbenen
zu einem seligen Leben im Jenseits verheissen zu haben.
Vielleicht aber sollte diese Umsiedlung keine endgültige sein.
Man hört, dass der Glaube bestand, der Todte werde aus dem
Jenseits „wiederkehren“ 4), und diesen Glauben setzt (dem Er-
zähler freilich nicht deutlich bewusst) als auch bei den Geten
bestehend die absurde pragmatisirende Fabel von Zalmoxis
voraus, die dem Herodot griechische Anwohner des Hellespont
und des Pontus mittheilten 5). Hier heisst (wie dann in späteren
2)
[321] Berichten oft) Zalmoxis bereits ein Sklave und Schüler
des Pythagoras von Samos. Wer auch immer dieses Märchen
5)
Rohde, Seelencult. 21
[322] ersonnen haben mag, er ist darauf geführt worden durch die
Wahrnehmung der nahen Verwandtschaft der Pythagoreischen
Seelenlehre mit dem thrakischen Seelenglauben; ebenso wie
durch dieselbe Wahrnehmung andere verführt worden sind, um-
gekehrt den Pythagoras zum Schüler der Thraker zu machen 1).
Es kann hiernach nicht zweifelhaft sein, dass man die, dem
Pythagoras eigene Lehre von der Seelenwanderung in
Thrakien wiedergefunden hatte, und dass der Glaube an die
„Wiederkehr“ der Seele so zu verstehen ist (wie er auch allein,
ohne durch den Augenschein widerlegt zu werden, sich be-
haupten konnte), dass die Seelen der Todten in immer neuen
Verkörperungen wiederkehrend ihr Leben auf Erden fortsetzen,
und insofern „unsterblich“ seien. Wirklich scheint auch eine
Andeutung des Euripides den Glauben an wiederholte Ein-
körperung der Seele als thrakischen bezeichnen zu wollen 2).
Es wäre eine gerechte Erwartung, dass zwischen diesem,
griechischen Berichterstattern sehr auffallenden Unsterblich-
5)
[323] keitsglauben der Thraker und deren Religion und enthusiasti-
schem Gottesdienst sich ein innerer Zusammenhang auffinden
lasse. Einige Spuren weisen auch auf eine engere Verbindung
des thrakischen Dionysoscultes und Seelencultes hin 1). Warum
aber an die Religion des thrakischen Dionysos ein Glaube an
das unvergängliche, selbständige und nicht auf die Dauer des
Aufenthalts in diesem Leibe, der sie gegenwärtig umschliesst,
beschränkte Leben der Seele sich anschloss, das werden wir
nicht sowohl aus der (uns zudem ungenügend bekannten) Natur
des Gottes, dem jener Cult gewidmet war, verstehen wollen
als aus der Art des Cultus selbst. Das Ziel, man kann sagen
die Aufgabe dieses Cultes war es, die Erregung der an ihm
Theilnehmenden bis zur „Ekstasis“ zu treiben, ihre „Seelen“
dem gewohnten Kreise ihres menschlich beschränkten Daseins
zu entreissen und als freie Geister in die Gemeinschaft des
Gottes und seines Geisterschwarms zu erheben. Die Ent-
zückungen dieser Orgiasmen schlossen denen die als wahre
„Bakchen“ 2) wirklich in den Zustand heiligen Wahnsinns ge-
21*
[324] riethen, ein Gebiet der Erfahrung auf, von dem ihnen ihr Da-
sein im vollbesonnenen Tagesleben keine Kunde geben konnte.
Denn als Erfahrungen gegenständlichen Inhalts mussten sie
die Empfindungen und Gesichte, die ihnen in der „Ekstasis“
zu Theil geworden waren, auffassen 1). Wenn nun der Glaube
an das Dasein und Leben eines von dem Leibe zu unter-
scheidenden und von ihm abtrennbaren zweiten Ich der Men-
schen schon durch die „Erfahrungen“ von dessen Sonderdasein
und selbständigem Handeln in Traum und Ohnmacht genährt
werden konnte 2), um wie viel mehr musste sich dieser Glaube
befestigen und erhöhen bei denjenigen, die in dem Rausch
jener Tanzorgien an sich selber „erfahren“ hatten, wie die
Seele, frei vom Leibe, an den Wonnen und Schrecken des
Götterdaseins theilhaben könne, sie aber allein, die Seele, das
unsichtbar im Menschen lebende Geisterwesen, nicht der
ganze, aus Leib und Seele gebildete Mensch. Das Gefühl ihrer
Göttlichkeit, ihrer Ewigkeit, das in der Ekstasis sich blitzartig
ihr selbst offenbart hatte, musste der Seele sich bald zu der
bleibenden Ueberzeugung fortbilden, dass sie göttlicher Natur
sei, zu göttlichem Leben berufen, sobald der Leib sie freilasse,
wie damals auf kurze Zeit, so dereinst für immer. Welche
Vernunftgründe könnten stärker einen solchen Spiritualismus
befestigen als die eigenste Erfahrung, die schon hier einen
2)
[325] Vorschmack gewährt hatte von dem, was einst für immer sein
werde?
Wo sich auf dem angedeuteten Wege die Ueberzeugung
von der selbständigen Fortdauer der Seele nach dem Tode
ihres Leibes zu dem Glauben an Göttlichkeit und Unsterb-
lichkeit der Seele steigert, da bildet sich aus der allen naiven
Völkern und Menschen naheliegenden Unterscheidung zwischen
„Leib“ und „Seele“ leicht ein Gegensatz zwischen diesen
beiden heraus. Allzu jäh war der Sturz von der Höhe tief-
erregter Lust der in der Ekstase frei gewordenen Seele hinab in
das nüchterne Dasein im leibumschlossenen Leben, als dass nicht
der Leib ein Hemmniss und eine Beschwerung, fast ein Feind
der gottentstammten Seele scheinen sollte. Entwerthung des
alltäglichen Lebens, Abwendung von diesem Leben wird die
Folge eines so gesteigerten Spiritualismus sein, auch schon da
wo solcher, weit entfernt von aller speculativen Begründung, den
Untergrund der religiösen Stimmung eines von den abstracten
Gedanken einer auf Wissenschaft begründeten Bildung noch
ungeplagten Volkes bildet. Eine Spur solcher Herabsetzung
des irdischen Lebens gegen das Glück eines freien Geister-
daseins zeigt sich in dem was Herodot und andere Erzähler
von einzelnen thrakischen Stämmen berichten 1), bei denen der
[326] Neugeborene von seinen Angehörigen mit Klagen empfangen,
der Verstorbene mit Freudenbezeugungen begraben wurde,
weil er nun, allem Leid entronnen, „in voller Glückseligkeit“
lebe 1). Aus der Ueberzeugung der Thraker, dass der Tod
nur der Uebergang zu einem erhöhten Leben der Seele sei,
leitete man die Freudigkeit ab, mit der diese im Kampf dem
Tode entgegen gingen 2). Ja, man schrieb ihnen ein wahres
Todesverlangen zu, weil ihnen „das Sterben schön zu sein
scheine“ 3).
Die Griechen haben, wie vielleicht Gestalt und Verehrung
des Ares, der Musen, von den Thrakern auch den Cult des
Dionysos übernommen und sich zu eigen gemacht. Alle
näheren Umstände der Aneignung entziehen sich unserer
Kunde: sie vollzog sich in jener Zeit jenseits der Schwelle
geschichtlicher Erinnerung, in welcher die Fülle eigener Triebe
und Gedanken, mit entlehnten Gestaltungen fremden Glaubens
unbefangen gemischt, zur griechischen Religion sich zusammen-
schloss.
Der fanatische Dionysosdienst ist schon dem Homer be-
kannt; schon bei ihm trägt der Gott den Namen, durch den
erst griechische Verehrer den Fremden sich vertraut gemacht
haben 1). Dennoch erscheint Dionysos im Epos kaum einige
Male flüchtig im Hintergrund. Er ist nicht der Spender
des Weintrunkes; er gehört nicht zu der Tafelrunde der im
Olymp versammelten grossen Götter; er greift auch in der
[328] Erzählung beider homerischen Gedichte in das Leben und die
Schicksale der Menschen nirgends ein. Es ist nicht nöthig,
für das Zurücktreten des Dionysos in der homerischen Dich-
tung weither geholte Gründe beizubringen. Homers Schweigen
sagt es deutlich genug, dass zu jener Zeit der thrakische Gott
im griechischen Leben und Glauben eine über local be-
schränkten Cult hinausgehende Bedeutung noch nicht ge-
wonnen hatte. Das ist leicht verständlich. Denn nur all-
mählich hat sich in Griechenland der Dienst des Dionysos
Geltung errungen. Von Kämpfen und Widerstand gegen
den fremden und fremdartigen Cult berichten mancherlei Sagen.
Es wird erzählt, wie dionysische Raserei, die Ekstase der dionysi-
schen Tanzfeste, das gesammte Weibervolk mancher Land-
schaften in Mittelgriechenland und dem Peloponnes ergriffen
habe 1). Einzelne Frauen weigern sich, den auf den Berghöhen
in bakchischer Raserei herumschweifenden Genossinnen sich an-
zuschliessen, hier und da widersetzt sich der König des Landes
dem Eindringen dieses tobenden Gottesdienstes. Was uns von
dem Widerstand der Töchter des Minyas in Orchomenos, des
Proitos in Tiryns, der Könige Pentheus von Theben, Perseus
von Argos 2) gegen die eindringende dionysische Cultweise er-
[329] zählt wird, hat freilich, in Wahrheit zeitlos, nur durch die
trügerischen Anordnungskünste der Mythengeschichtschreiber
gelehrter Zeit den Anschein zeitlich bestimmbarer Ereignisse
gewonnen. Und was den Ausgang und die Spitze der meisten
jener Erzählungen bildet: wie die Widerstrebenden selbst, von
um so wilderer Manie überfallen, in bakchischem Wahnsinn
statt des Opferthiers die eigenen Kinder erwürgen und zer-
reissen, oder (wie Pentheus) selbst den rasenden Weibern als
Opferthier gelten und von ihnen zerrissen werden — das sind
Sagen von der Art der vorbildlichen Mythen, durch welche
einzelne Vorgänge des Gottesdienstes, sei es in der Erinne-
rung lebende oder gar noch in der Wirklichkeit übliche Opfer
eines Menschen an dionysischen Festen, ein Vorbild und recht-
fertigende Erklärung an einem für geschichtlich wahr genom-
menen Vorgang der Sagenzeit gewinnen sollen 1). Dennoch liegt
ein Kern geschichtlicher Wahrheit in diesen Erzählungen. In
ihnen allen ist die Voraussetzung, dass der dionysische Cult
aus der Fremde und als ein Fremdes in Griechenland ein-
gedrungen sei. Wie diese Voraussetzung offenkundig dem
thatsächlichen Verlauf der Ereignisse entspricht, so kann es
auch nicht leere Erdichtung sein, was die Sage, hieran un-
mittelbar anschliessend, von dem heftigen Widerstand, den
dieser und eben nur dieser Cult an mehreren Stellen Griechen-
2)
[330] lands 1) gefunden habe, berichtet. Wir müssen anerkennen,
dass in solchen Sagen sich geschichtliche Erinnerungen er-
halten haben, in die Form gekleidet welche alle älteste grie-
chische Ueberlieferung annimmt, die mythische, die alle
Ereignisse der Wirklichkeit und ihre Zufälligkeiten zu Typen
von vorbildlicher Allgemeingiltigkeit verdichtet.
Nicht ohne Widerstand also scheint sich, von Norden her
nach Böotien, von Böotien nach dem Peloponnes vordringend,
der dionysische Cult ausgebreitet zu haben. In Wahrheit
müsste man, auch wenn keinerlei Berichte uns hiervon redeten,
voraussetzen, dass unter Griechen ein tief gewurzelter Wider-
wille sich gegen den verwirrenden Taumel des thrakischen
Cultes gewehrt, die Abneigung ursprünglichsten Instinctes sich
gesträubt haben werde, in diesen überschwänglichen Erregungen
sich ins Grenzenlose der Empfindung zu verlieren. Was
thrakischen Weibern anstehn mochte, das zügellose Herum-
schweifen in nächtlichen Bergfeiern, dem konnte, als einem
Bruche aller Sitte und Sittsamkeit, griechisches Bürgerthum
nicht ohne Kampf nachgeben 2). Die Weiber waren es, die
der neu eindringende Cult in einem wahren Taumel der Be-
geisterung fortgerissen zu haben scheint 3), ihnen zunächst mag
er seine Einführung zu verdanken gehabt haben. Was uns
von der Unwiderstehlichkeit und der allgemeinen Ausbreitung 4)
der bakchischen Tanzfeste und ihrer Aufregungen berichtet
wird, lässt an die Erscheinungen solcher religiösen Epidemien
denken, deren manche auch in neueren Zeiten bisweilen ganze
Länder überfluthet hat. Man mag sich namentlich der Be-
[331] richte von der gewaltsam sich verbreitenden Tanzwuth erinnern,
die bald nach den schweren körperlichen und seelischen Er-
schütterungen, mit denen der „schwarze Tod“ im 14. Jahr-
hundert Europa heimgesucht hatte, am Rhein ausbrach und
Jahrhunderte lang sich nicht ganz beschwichtigen liess. Ein
unwiderstehliches Verlangen trieb die von der Sucht Ergriffenen
zum Tanzen. Die Umstehenden wurden durch einen krankhaften
Zwang der Mitempfindung und Nachahmung ebenfalls in die
Wirbel des Tanzes gerissen. So breitete sich das Leiden
epidemisch aus; und es zogen grosse Schwärme der Tanzen-
den, Männer, Weiber und Mädchen, durch das Land. Un-
verkennbar lassen auch die erhaltenen dürftigen Berichte noch
den religiösen Charakter dieser Tanzerregung erkennen, welche
auch der Geistlichkeit als „eine Ketzerei“ galt. Die Tänzer
riefen den Namen des heiligen Johannes, oder auch die
Namen „gewisser Dämonen“ an; Hallucinationen und Visionen
religiöser Art begleiteten ihre Entzückungen 1). War es eine
ähnliche religiöse Volkskrankheit, die in Griechenland, vielleicht
im Gefolge der tiefen Beunruhigung des seelischen Gleich-
gewichts, welche die zerstörende Völkerwanderung, die man die
dorische nennt, mit sich bringen musste, die Gemüther für
die Aufnahme des thrakischen Dionysos und seiner enthusia-
stischen Tanzfeiern empfänglich machte? Auf jeden Fall brach
sich, anders als jene mittelalterliche Bewegung, diese Erregung
nicht an einer schon befestigten und abgeschlossenen, anders
gearteten Religion und Kirche. Das Eindringen und Vor-
schreiten der Dionysosreligion in Griechenland wird uns in dem
täuschenden Helldunkel des Mythus nur halb erkennbar. Das
aber liegt ja klar vor Augen, dass der bakchische Cult, wenn
[332] auch wohl nach Ueberwindung manches Hemmnisses, sich be-
festigte in Hellas, sich siegreich über Festland und Inseln
ausbreitete, und im Laufe der Zeit jene weit und tiefreichende
Bedeutung im griechischen Leben gewann, von der die home-
rischen Gedichte noch keine Vorstellung geben konnten.
Es war nicht mehr ganz der altthrakische Dionysos, der
den übrigen grossen Göttern des griechischen Olymps, als
einer ihresgleichen, zur Seite trat. Sein Wesen hellenisirt und
humanisirt sich. Städte und Staaten feiern ihm Jahresfeste,
in denen er als Spender des begeisternden Trankes der Rebe,
als dämonischer Schützer und Förderer alles Wachsthums und
Gedeihens im Pflanzenreiche und der ganzen Natur, als gött-
liche Verkörperung des ganzen Umfanges und Reichthums
natürlicher Lebensfülle, als Vorbild gesteigerter Lebensfreude
gefeiert wird. Die Kunst, als höchste Blüthe alles Muthes
und Uebermuthes zum Leben, gewinnt ins Unermessliche An-
schauung und Anregung aus dem dionysischen Cult. Der
letzte Gipfel griechischer Dichtung, das Drama, steigt aus den
Chören dionysischer Feste empor.
Wie aber die Kunst des Schauspielers, in einen fremden
Charakter einzugehn und aus diesem heraus zu reden und zu
handeln, immer noch in dunkler Tiefe zusammenhängt mit
ihrer letzten Wurzel, jener Verwandlung des eigenen Wesens,
die, in der Ekstasis, der wahrhaft begeisterte Theilnehmer an
den nächtlichen Tanzfesten des Dionysos an sich vorgehen fühlt:
so haben sich in allen Wandlungen und Umbildungen seines
ursprünglichen Wesens die Grundlinien des Dionysos, wie er
aus der Fremde zu den Griechen gekommen war, nicht völlig
verwischt. Es blieben, abseits von dem heiteren Getümmel der
dionysischen Tagesfeste, wie sie namentlich Athen beging,
Reste des alten enthusiastischen Cultes bestehen, der nächtlich
durch die thrakischen Berge tobte. An vielen Orten erhielten
[333] sich trieterische Feste 1), an denen in periodischer Wiederkehr
die „Epiphanie“ des Dionysos, seine Erscheinung auf der Ober-
welt, sein Aufsteigen aus dem unterweltlichen Reiche, bei
nächtlicher Weile gefeiert wurde. An die uranfängliche Art
des Dionysos, des Herrn der Geister und Seelen, der freilich
ein ganz anderes Gesicht zeigte, als der weiche und zärtliche
Weingott jüngerer Zeit, gemahnte noch mancher Zug dionysi-
scher Feste, besonders in Delphi, aber auch in Athen 2). Die
ekstatische Unbändigkeit, die finstere Wildheit der alten
Dionysosfeste verschwand nicht überall, an den trieterischen
Festen, an den Agrionien und Nyktelien die man an manchen
orten dem Gotte zu Ehren beging 3), hielten sich kenntliche
[334] Spuren davon, inmitten aller Feinheit griechischer Civilisation.
Hier fielen selbst Menschenopfer dem furchtbaren Gotte 1).
Die äusseren Zeichen der Verzücktheit, das Rohessen, das
Würgen und Zerreisen von Schlangen durch die Bakchen ver-
schwanden nicht 2). Und der bakchische Wahnsinn, durch
den die Feiernden sich in die Gemeinschaft des Gottes und
seiner Schaaren emporschwangen, verschwand so wenig vor
dem sanfteren Zauber des freundlichen Weingottes und seiner
Feste, dass nunmehr das Rasen und „Besessensein“ im Cult
des Dionysos fremden Völkern für eine eigenthümlich helleni-
sche Form des Gottesdienstes gelten konnte 3).
So verschwand auch Empfindung und Verständniss für den
Orgiasmus und seine zwingende Gewalt nicht. Noch schlägt
uns aus den „Bakchen“ des Euripides der Zauberdunst enthu-
siastischer Erregung entgegen, wie er sinnverwirrend, Bewusst-
sein und Willen bindend, Jeden umfing, der sich in den Macht-
bereich dionysischer Wirkung verirrte. Wie ein wüthender
Wirbel im Strome den Schwimmenden, wie die räthselhafte
Eigenmacht des Traumes den Schlafenden, so packt ihn der
Geisterzwang, der von der Gegenwart des Gottes ausgeht und
treibt ihn wie er will. Alles verwandelt sich ihm, er selbst
scheint sich verwandelt. Jede einzelne Gestalt des Dramas
verfällt, wie sie in diesen Bannkreis tritt, dem heiligen Wahn-
sinn; noch heute lebt in den Blättern des Gedichtes etwas von
der Macht der Seelenüberwältigung dionysischer Orgien und
lässt eine Ahnung von diesen fremdartigen Zuständen in den
Leser übergehn.
Wohl als eine Nachwirkung der tiefen bakchantischen Er-
regung, die einst als Epidemie Griechenland durchflammt hatte
und noch immer in periodischer Wiederkehr in dionysischen
Nachtfeiern aufzuckte, verblieb dem griechischen Naturell eine
morbide Anlage, eine Neigung zu plötzlich kommenden und
wieder gehenden Störungen des normalen Vermögens der Wahr-
nehmung und Empfindung. Vereinzelte Nachrichten reden
uns von epidemisch ganze Städte ergreifenden Anfällen solches
vorübergehenden Wahnsinns 1). Eine den Aerzten und Psycho-
logen ganz geläufige Erscheinung war jene, nach den dämoni-
schen Begleitern der phrygischen Bergmutter benannte, religiös
gefärbte 2) Wahnsinnsform des Korybantiasmus, in der ohne
äusseren Anlass der Leidende Gestalten seltsamer Art sah,
[336] Flötenklang hörte, in heftigste Aufregung gerieth und von un-
widerstehlicher Tanzwuth ergriffen wurde 1). Solchem enthusia-
stischen Drange zur Entladung und damit zur Heilung und
„Reinigung“ dienten die mit Tanz und Musik, vornehmlich den,
in empfänglichen Seelen Begeisterung weckenden Flötenweisen
der altphrygischen Meister, begangenen Weihefeste der phry-
gischen Gottheiten 2). Das Ekstatische soll in diesem Ver-
[337] fahren nicht unterdrückt und ausgerottet werden; es wird nur
in eine priesterlich-ärztliche Zucht genommen und wie ein be-
lebender Trieb dem Gottesdienste eingefügt.
In gleichem Sinne fand in Griechenlands hellster Zeit der
dionysische Enthusiasmus Duldung und Pflege. Auch die
schwärmerischen Nachtfeiern des thrakischen Gottes, den phry-
gischen Festen innerlich verwandt und bis zu vielfacher gegen-
seitiger Vermischung nahestehend, dienen der „Reinigung“ der
ekstatisch aufgeregten Seele. Der Theilnehmer an solchen
Festen „weiht, durch die Berge bakchisch rasend, seine Seele
in die Schaaren des Gottes ein, mit heiligen Reinigungen“ 1).
Die Reinigung geschieht auch hier durch Aufstachelung der
Seele zum Uebermaass religiöser Erregung; als „Bakcheus“
weckt Dionysos den heiligen Wahnsinn, den er selbst durch
dessen höchste Steigerung zuletzt, als Lysios, Meilichios, der
Lösung und Besänftigung zuführt 2). Dies ist eine auf griechi-
schem Boden und aus griechischer Sinnesweise heraus voll-
zogene Fortbildung des altthrakischen Aufregungscultes. Die
Sage setzt, in vorbildlich bedeutender Erzählung, diese voll-
endende Ausbildung des dionysischen Dienstes in fernste Vor-
zeit. Schon hesiodische Gedichte 3) erzählten, wie die Töchter
des Königs Proitos von Tiryns in dionysischem Wahnsinn 4)
2)
[339] durch die Gebirge des Peloponnes schweiften, zuletzt aber,
sammt den zahlreichen Weibern die sich ihnen angeschlossen
hatten, geheilt und „gereinigt“ wurden durch Melampus, den
sagenberühmten pythischen Seher 1). Die Heilung geschah durch
eine Steigerung der dionysischen Erregung „mit Jauchzen
und begeisternden Tänzen“ 2) und Anwendung gewisser kathar-
tischer Mittel 3). Melampus hebt den dionysischen Dienst und
4)
22*
[340] seinen Enthusiasmus nicht auf, er regelt und vollendet ihn
vielmehr; darum kann er dem Herodot als Begründer des
dionysischen Cultes in Griechenland gelten 1). Dabei kennt die
Sage diesen „Begründer“ der dionysischen Feste durchaus als
einen Anhänger apollinischer Religionsweise; „dem Apoll
besonders lieb“ hat er von Apoll die Sehergabe empfangen,
die sich in seinem Geschlechte vererbte 2). In ihm stellt die
Sage, typisch gestaltet, eine Versöhnung des Apollinischen
und Dionysischen dar, die als Thatsache völlig der Geschichte,
wenn auch nicht der Geschichte uralter Zeit, angehört.
Denn Apollo trat, wohl nach längerem Widerstreben, in
engen Bund mit dem so verschieden gearteten göttlichen Bruder,
3)
[341] dem griechisch gewordenen Dionysos. In Delphi muss der
Bund geschlossen sein. Dort ja, auf den Höhen des Parnass,
an der korykischen Höhle, fand zur Zeit der Wintersonnen-
wende jedes zweiten Jahres die trieterische Nachtfeier des
Dionysos statt, in der Nähe des über Delphi herrschenden
Apollo; ja, in dessen eigenem Tempel zeigte man das „Grab“
des Dionys 1), an dem, während die Thyiaden auf den Bergen
schwärmten, apollinische Priester eine geheime Feier begingen 2).
Das delphische Festjahr war, zu ungleichen Theilen zwar,
zwischen Apoll und Dionys getheilt 3). Dionysos hatte festen
Fuss in Delphi gefasst 4); so eng war die Gemeinschaft der
Götter, dass die Giebelfelder des Tempels, wie vorn den
Apoll, so hinten den Dionys, und zwar den Dionys der ek-
statischen nächtlichen Bergfeiern zeigten. Selbst an dem
trieterischen Feste hatte Apollo Antheil 5); Beiworte und Attri-
bute tauschen Beide aus; zuletzt schien gar alle Verschieden-
heit zwischen ihnen aufgehoben 6).
Es war im Alterthum unvergessen, dass in Delphi, dem
strahlenden Mittelpunkt seines Cultus, Apollo ein Eindringling
[342] war; unter den älteren Göttergewalten, die er dort zurückdrängte,
wird auch Dionysos genannt 1). Aber die delphische Priester-
schaft lernte die Nachbarschaft des ihrem Gotte ursprünglich
so fremdartigen ekstatischen Cultes des thrakischen Gottes
ertragen; er mag zu lebenskräftig gewesen sein, um, gleich
der Verehrung der im Traume Weissagung spendenden Erdgott-
heit, sich beseitigen zu lassen. Apoll wird der „Herr in
Delphi“, aber die Priesterschaft des delphischen Apollo nimmt,
ganz gemäss dem Streben nach religiöser Universalität das un-
verkennbar in ihr lebendig war, den dionysischen Cult in ihren
Schutz. Das delphische Orakel ist es gewesen, das den Cult
des Dionysos in Landschaften eingeführt hat, denen er bis
dahin fremd gewesen war, nirgends erfolgreicher und folgen-
reicher als in Attika 2). Diese Förderung der dionysischen
[343] Religionsweise durch die in religiösen Dingen unter Griechen
mächtigste Körperschaft hat jedenfalls mehr als alles andere
beigetragen, dem Gotte und seiner Verehrung jene weite Ver-
breitung und tiefe Einwurzelung in griechischem Religionswesen
zu geben, von der die homerischen Gedichte, die ja auch von
dem Einfluss des delphischen Orakels noch sehr wenig wissen,
nichts spüren liessen.
Aber es war ein gemilderter, gesittigter, aus der Ueber-
schwänglichkeit ekstatischer Entzückung zu der gemässigten
Empfindung bürgerlichen Tageslebens und der heiteren Helle
ländlicher und städtischer Festfeier hinübergeleiteter Cult des
Dionysos, den das delphische Orakel verbreiten und wohl selbst
ausgestalten half. Von dem altthrakischen Aufregungscult
zeigt das dionysische Festleben Athens kaum einen letzten
Schimmer. An anderen Orten, und nicht am wenigsten im
Bereich des delphischen Apollo selbst, hielt sich der Dionysos-
cult in der ursprünglichen Gestalt der enthusiastischen Nacht-
feier. Athen beschickte, auf Geheiss des Orakels, die delphi-
schen Trieterien mit einer Festgesandtschaft von erlesenen
Frauen. Aber Alles lässt uns merken, dass in diesen athenisch-
delphischen Festgebräuchen nur das, zu einer ritualen Her-
kömmlichkeit abgedämpfte, andeutende Nachbild der ehemals
aus tiefster Seelenbewegung geborenen Vorgänge der schwärme-
rischen Bergfeste des Dionysos erhalten blieb 1).
Bei aller Zähmung und Mässigung seines äusseren Ge-
bahrens blieb dem dionysischen Culte, als unterster Grund
seines Wesens, ein oft drohend oder lockend hervorscheinen-
der Zug ins ekstatisch Ueberschwängliche. Und so mächtig
war noch bei der Verschmelzung apollinischer und dionysischer
Religion, wie sie in Delphi sich vollzog, der ekstatische Trieb
in dem dionysischen Wesen, dass von ihm etwas in den, ur-
sprünglich aller Ekstase urfremden apollinischen Cult hinüber-
floss.
Die Begeisterungsmantik, welche durch Steigerung der
Seele des Menschen ins Göttliche dieser Kenntniss des Ver-
borgenen verleiht, ist nicht von jeher griechischer Religion eigen
gewesen. Homer kennt wohl die „kunstmässige“ Weissagung,
in der eigens geschulte Seher aus der Deutung frei erschei-
nender oder von Menschen absichtlich ins Spiel gebrachter
Zeichen den Willen der Götter in der Gegenwart und für die
Zukunft zu erforschen wissen. Und dies ist die Art der
Weissagung, die Apoll den Sehern verleiht 1). Aber die aus
momentaner Begeisterung kommende, „kunstlose und unlehr-
bare“ Wahrsagung 2) ist den homerischen Gedichten nicht
bekannt 3). Neben den selbständig thätigen zünftigen Wahr-
1)
[345] sagern kennt die Odyssee und wohl auch schon die Ilias auch
die geschlossenen, durch den Namen des Gottes, mit dessen
Dienst sie verbunden waren, die Bedeutung und Glaubhaftig-
keit ihrer Sprüche verbürgenden Orakelinstitute am Heilig-
thum des Zeus zu Dodona, am Tempel des Apollo zu Pytho 1).
Erst in der Odyssee wird einmal dem apollinischen Orakel ein
Einfluss auf die grossen Angelegenheiten des Völkerlebens zu-
getraut. Aber ob damals bereits in Delphi eine inspirirte
Prophetin weissagte, lassen die Gedichte nicht erkennen. Es
muss dort in alter Zeit ein Loosorakel unter dem Schutze des
Apollo bestanden haben 2); an dieses wird man wohl eher
denken wollen bei der Erwähnung des Orakels in einer Dich-
tung, die von den auffallenden Erscheinungen ekstatischer
Mantik nirgends 3) Kenntniss zeigt 4).
Auf jeden Fall ist dem apollinischen Cult das, was, in
überlegtester Ausbildung, dem delphischen Orakel später eine
3)
[346] so einzig wirksame Kraft gab, die Inspirationsmantik erst im
Laufe der Zeit zugewachsen. Einst hatte zu Pytho, über dem
Felsspalt, aus dem der erregende Erddunst aufstieg, ein Orakel
der Gaia bestanden, in dem vermuthlich die Rathsuchenden
durch nächtliche Wahrträume belehrt wurden 1). Apollo setzte
sich an die Stelle der Erdgöttin, hier wie an anderen Orakel-
stätten 2). Die Triftigkeit der Ueberlieferung, die dies berichtet,
bekräftigt die delphische Tempellegende selbst in dem, was sie
von der Erlegung des Erdorakelgeistes Python durch Apoll
erzählt 3). Der Wechsel mag sich allmählich vollzogen haben;
zuletzt weissagte, wo einst die Erdgottheit unmittelbar zu der
Seele des Träumenden geredet hatte, ebenfalls in unmittel-
barer, nicht hinter Zeichen versteckter Mittheilung Apollo den
Menschen, die ihn wachen Sinnes befragten, indem er selbst
aus dem Munde der ekstatisch erregten Priesterin sprach.
Diese delphische Inspirationsmantik steht von der alten
apollinischen Zeichendeutungskunst eben so weit ab, wie sie
der Weise der Mantik, die wir mit dem thrakischen Dionysos-
cult seit Alters verbunden fanden 1), nahekommt. In Griechen-
land hat Dionysos, wie es scheint, kaum hie und da eine
Priesterschaft gefunden, die ein bleibend an einen bestimmten
Ort und Tempel gebundenes Weissagungsinstitut errichtet und
unterhalten hätte. An dem einzigen dionysischen Orakel in
Griechenland aber, von dem wir sicher wissen, weissagte im
Enthusiasmus ein von dem Gotte „besessener“ Priester 2).
Enthusiasmus und Ekstase sind überall die erregenden Mächte,
wie aller religiösen Empfindung in dionysischem Cult, so auch
der Weissagung aus Dionysos. Wenn wir nun den Apollo
gerade in Delphi, an der Stätte seiner innigsten Verbindung
mit Dionys, seiner alten Art der Wahrsagung durch Zeichen-
deutung untreu geworden, sich der Weissagung in der Ek-
stase zuwenden sehen, so werden wir nicht im Zweifel darüber
sein, woher Apollo diese ihm neue Weise entlehnt hat 3).
Mit der mantischen Ekstase nimmt Apollo selbst in seine
Religion ein dionysisches Element auf. Von nun an kann er,
[348] der sonst so gehaltene, stolze und spröde, mit Beinamen be-
zeichnet werden, die bakchische Erregung und Selbstvergessen-
heit ausdrücken. Er heisst der Schwärmende, der Bakchische;
bezeichnend nennt ihn Aeschylus „den epheugeschmückten
Apollo, den bakchisch Erregten, den Wahrsager“ (fr. 341).
Nun ist es Apollo, der vor anderen Göttern die „Raserei“ in
menschlichen Seelen hervorruft 1), die sie hellsichtig macht
und das Verborgene erkennen lässt. An nicht wenigen Orten
gründen sich Orakelstätten, an denen Priester oder Prie-
sterinnen in rasender Verzückung verkünden, was ihnen Apollo
eingiebt. Vorbild blieb doch das pythische Orakel. Dort
wahrsagte die Pythia, eine jungfräuliche Priesterin, durch den
berauschenden Aushauch der Erdspalte, über der sie auf dem
Dreifuss sass, erregt, und von dem Gotte selbst und seinem
Geiste erfüllt 2). Der Gott, so war der Glaube, fährt in den
irdischen Leib, oder die Seele der Priesterin, von ihrem Leibe
„gelöst“, vernimmt mit Geistersinn die göttlichen Offenbarun-
gen 3). Was sie dann „mit rasendem Munde“ verkündigt, das
[349] spricht aus ihr der Gott; wo sie „ich“ sagt, da redet Apollo
von sich und dem was ihn betrifft 1). Was in ihr lebt, denkt
und redet, so lange sie rast, das ist der Gott selbst.
Aus unerforschten Tiefen muss die Bewegung religiösen
Verlangens mit Macht hervorgebrochen sein, die mitten im
Herzen griechischer Religion in der ekstatischen Weissagung
der delphischen Seherin einen mystischen Keim einpflanzen
konnte. Die Einführung der Ekstase in den geordneten Be-
3)
[350] stand des delphischen Religionswesens ist selbst nur ein Sym-
ptom einer solchen Bewegung, nicht ihre Ursache. Nun aber,
bestätigt durch den Gott selbst und die Erfahrungen, welche
die delphische Mantik vor Augen zu rücken schien, musste,
wie längst in dionysischem Glauben und Cult, auch in ächt
und ursprünglich griechischer Religion, der dieser von Anfang
an fremde Glaube sich vollends befestigen, dass ein Zustand
der aufs höchste angespannten Empfindung den Menschen über
den eingeschränkten Horizont seines gewöhnlichen Bewusstseins
zu der Höhe unbegrenzten Schauens und Wissens emporreissen
könne, dass menschlichen Seelen die Kraft, auf Momente,
wirklich und ohne Wahn mit dem Leben der Gottheit zu leben,
nicht versagt sei. Dieser Glaube ist der Quellpunkt aller
Mystik. Wie er in jenen Zeiten sich wirkend ausbreitete, lässt
die Ueberlieferung noch in einzelnen dunklen Spuren erkennen.
Zwar der öffentliche Gottesdienst griechischer Staaten hielt
sich, wo er nicht etwa durch fremdländische Einflüsse bestimmt
war, nach wie vor in engeren Schranken des Maasses und der
Klarheit. Wir hören wenig von dem Eindringen ekstatischer
Aufregung in altgriechischen Göttercult 1). Ein über jene
Schranken hinausstrebender religiöser Drang fand auf anderen
Wegen sein Genüge. Es standen Leute auf, die aus eigener
Bewegung unternahmen zwischen der Gottheit und dem be-
dürftigen einzelnen Menschen zu vermitteln, Naturen, muss
[351] man denken, von einer zum Schwärmerischen gesteigerten Er-
regbarkeit, einem heftigen Zug und Schwung aufwärts ins
Unerreichbare. Nichts in griechischer Religionsverfassung hin-
derte solche Männer oder Frauen, eine religiöse Wirksamkeit,
die ihnen nicht durch die Autorität der Religionsgemeinde des
Staates zugestanden war, einzig auf die Beglaubigung durch
ihr eigenes Bewusstsein, durch ihre eigene Erfahrung von gött-
licher Begnadung 1), von innigerem Zusammenhang mit gött-
lichen Mächten, zu begründen.
In dem Dunkel dieser gährenden Werdezeit vom achten
bis ins sechste Jahrhundert sehen wir schattenhaft sich manche
Gestalten solcher Art bewegen, die sich jenen, rein durch
unmittelbar göttliche Gnadengabe (χάρισμα) zu ihrem Werke
bestellten, ohne Anschluss an die bestehenden Gemeinden durch
die Länder wandernden Propheten, Asketen und Exorcisten
der ersten Werdezeiten des Christenthums vergleichen lassen.
Was uns von Sibyllen und Bakiden, einzeln und ohne
Auftrag bestehender Orakelinstitute wirkenden, aller Zukunft
kundigen, weissagend die Länder durchwandernden Weibern
und Männern berichtet wird, sind freilich nur Sagen, aber
solche die einen in voller Wirklichkeit bestehenden Zustand,
zu einzelnen Bildern verdichtet, festhalten. Die Benennungen
selbst: Sibyllen, Bakiden, nicht Eigennamen, sondern Bezeich-
nungen je einer ganzen Gattung ekstatischer Propheten 2),
[352] verbürgen uns das einstige Vorhandensein eben der mit diesen
Namen zu bezeichnenden Gattungen. Das Auftreten solcher,
von der Gottheit inspirirten Propheten in manchen Landschaften
des griechischen Kleinasiens und des alten Griechenlands ge-
hört zu den bezeichnenden Erscheinungen des Religionslebens
einer wohl bestimmbaren Zeit, jener verheissungsvollen Zeit,
welche dem philosophischen Zeitalter der Griechen unmittelbar
2)
[353] voranliegt. Die spätere, von philosophischem Aufklärungstriebe
beherrschte Zeit machte auf das Fortwirken der göttlichen
Begnadung, die einst die Sibylle und den Bakis zu ihren
Weisheitsblicken befähigt hatte, in der eigenen Gegenwart so
wenig Anspruch, dass sich Propheten aus zweiter Hand, wie
sie damals in Massen aufstanden, zu begnügen pflegten, ge-
schriebene Orakelsprüche, in denen die Vorhersagungen der
alten gottbegeisterten Seher festgehalten sein sollten, hervor
zu ziehen und bei nüchternen Sinnen auszulegen 1). Das Zeit-
alter der enthusiastischen Propheten lag also damals ab-
geschlossen in der Vergangenheit. Eben jene damals auf-
tauchende Litteratur der sibyllinisch-bakidischen Wahrsprüche,
die ja unendlichen Anwachsens fähig war, hat dann freilich
beigetragen, die Gestalten der Träger jener verschollenen Pro-
phetengabe vollends im mythischen Nebel zu verflüchtigen.
Immer höher schob sich hier die Reihe der Ereignisse hinauf,
die sie vorausgesagt haben sollten, und immer mehr wich die,
vor den frühesten vorausgesagten Ereignissen anzusetzende
Lebenszeit der Propheten in urälteste Vergangenheit zurück 2).
Rohde, Seelencult. 23
[354] Dennoch fand die wissenschaftliche Chronologie des Alterthums,
unbeirrt durch die trügerischen Anzeichen der prophetischen
Dichtungen, Anlass, die Lebenszeit einzelner Sibyllen, d. h.
für unsere Auffassung, das Zeitalter der griechischen Propheten
im Ganzen, auf voll geschichtliche Zeit, das achte und siebente
Jahrhundert, festzusetzen 1).
Wir dürfen in dem, was uns von der Art dieser Pro-
pheten berichtet wird, Schattenbilder einer einst sehr leben-
digen Wirklichkeit erkennen, Erinnerungen an sehr auffallende
und eben darum nie ganz dem Gedächtniss entschwundene
Erscheinungen des Religionslebens der Griechen. Die Bakiden
und Sibyllen sind einzelne, nicht ausserhalb alles Zusammen-
hanges mit geordnetem Göttercult stehende, aber an keinen
Tempelsitz gebundene, nach Bedürfniss den Rathsuchenden zu-
1)
23*
[356] wandernde Wahrsager, insoweit den homerischen Zeichendeutern
gleich 1) und Fortsetzer ihrer Thätigkeit. Aber sie sind von
diesen völlig verschieden in der Art ihrer Weissagung. Wie
der Gott sie ergreift, im ekstatischen Hellsehen, verkünden sie
alles Verborgene. Nicht zunftgerechtes Wissen lehrt sie An-
zeichen, die Jeder sehn kann, nach ihrer Bedeutung auslegen;
sie sehen was nur der Gott sieht und die Seele des Menschen,
die der Gott ausfüllt 2). In rauhen Tönen, in wilden Worten 3)
stösst, in göttlichem Wahnsinn, die Sibylle hervor, was nicht
eigene Willkür, sondern der Zwang der göttlichen Uebermacht
sie sagen lässt, der sie in Besitz genommen hat. Noch belebt
sich die Ahnung solches dämonischen Seelenzwanges in seiner,
für die von ihm Gepackten vollkommen wirklichen Furchtbar-
keit an den erschütternden Klängen, die im „Agamemnon“
Aeschylos seiner Kassandra geliehen hat, dem Urbild einer
[357] Sibylle, das die Dichtung der Zeitgenossen jenes griechischen
Prophetenzeitalters in sagenhafte Vorwelt zurückgespiegelt
hatte 1).
Die Thätigkeit des Sehers war nicht auf die Voraussicht
und Vorausverkündigung der Zukunft beschränkt. Von einem
Bakis wird erzählt, wie er in Sparta die Weiber von einer
epidemisch unter ihnen verbreiteten Raserei „gereinigt“ und
befreit habe 2). Aus jenem Prophetenzeitalter schreibt es sich
her, wenn auch später es zu den Obliegenheiten des „Sehers“
gehörte, bei Krankheiten, vornehmlich des Geistes, zur Heilung
mitzuwirken 3), Schaden aller Art durch seltsame Mittel ab-
zuwenden, namentlich bei „Reinigungen“ religiöser Art Rath
[358] und Hilfe zu bieten 1). Die Gabe oder Kunst der Wahrsagung,
der Reinigung des ‚Befleckten‘, der Heilung von Krankheiten
schien aus Einer Quelle zu fliessen. Man wird nicht lange im
Zweifel darüber sein, welches der einheitliche Grund der Be-
fähigung zu dieser dreifachen Thätigkeit ist. Die Welt un-
sichtbar den Menschen umschwebender Geister, den Gewöhn-
lichen nur in ihren Wirkungen empfindlich, ist dem ekstatisch
wahrsagenden Mantis, dem Geisterseher, vertraut und zugäng-
lich. Als Geisterbanner wirkt er da, wo er Krankheiten zu
heilen unternimmt 2). Abwehrung gefährlicher Wirkungen
aus dem Reiche der Geister ist ihrem Ursprung und Wesen
nach auch die Kathartik.
Die Ausbildung und wuchernde Ausbreitung der, in den
homerischen Gedichten kaum in den ersten leichten Andeu-
tungen 3) sich ankündigenden Vorstellungen von überall drohen-
[359] der „Befleckung“ und deren Beseitigung durch die Mittel einer
religiösen Reinigungskunst, ist ein Hauptkennzeichen der angst-
beflissenen, über die Heilsmittel des von den Vätern ererbten
Cultes hinausgreifenden Frömmigkeit nachhomerischer Zeit.
Denkt man vorzugsweise daran, dass nun auch solche Hand-
lungen eine Reinigung fordern, die, wie Mord und Blutver-
giessen, eine moralische Bedrückung des Thäters voraussetzen
lassen 1), so ist man leicht versucht, in der Entwicklung der
Kathartik ein Stück der Geschichte der griechischen Moral zu
sehen, als ihren Grund sich eine zartere und tiefere Ausbildung
des „Gewissens“ zu denken, das von den Flecken der „Sünde“
durch religiöse Hülfe rein zu werden sich gesehnt habe. Aber
eine solche (sehr beliebte) Auslegung der Kathartik verschliesst
sich selbst die Einsicht in deren wahren Sinn und wirkliches
Wesen. Mit einer selbständig entwickelten, auf den bleibenden
Forderungen eines über allem persönlichen Wollen und Be-
lieben, auch der dämonischen Machthaber, stehenden Sitten-
gesetzes begründeten Moral ist, in späteren Zeiten, die Ka-
thartik wohl in Wettstreit und Widerstreit, sehr selten in
förderlichen Einklang getreten. Ihrem Ursprung und Wesen
nach steht sie zur Sittlichkeit und dem, was wir die Stimme
des Gewissens nennen würden, in keiner Beziehung. Es be-
gleitet und fordert ihre Ausübung kein Gefühl der Schuld, der
eigenen inneren Verschuldung, der eigenen Verantwortlichkeit.
Alles, was uns von kathartischen Uebungen begegnet, lässt
dies erkennen und verstehen.
Ceremonien der „Reinigung“ begleiten das menschliche
Leben in seinem ganzen Verlauf. „Unrein“ ist die Wöchnerin
3)
[360] und wer sie berührt hat, unrein auch das neugeborene Kind 1);
die Hochzeit umgiebt eine Reihe von Reinigungsriten; unrein
ist der Todte und alles was ihm nahegekommen ist. Ein sitt-
licher Makel ist ja gewiss bei diesen verbreitetsten und all-
täglichen Reinigungsacten nicht abzuwischen, nicht einmal
symbolisch. Ebensowenig wenn man nach einem schlimmen
Traumgesicht 2), beim Eintreten von Prodigien 3), nach Ueber-
stehung einer Krankheit, nach Berührung von Opfern für die
Unterirdischen, oder von Denkmälern der Todten, oder wenn
[361] man für Haus und Heerde 1), für Wasser und Feuer 2), im
heiligen oder profanen Gebrauch, rituale Reinigungen für nöthig
hielt. Die Reinigung dessen, der Blut vergossen hat, steht
völlig auf derselben Linie. Sie war auch dem unerlässlich, der
im rechtmässigen Streit oder ohne Absicht und Vorwissen einen
Menschen erschlagen hatte; die sittliche Seite des Geschehenen,
sittliche Schuld oder Nichtschuld des Thäters blieb ganz un-
beachtet oder unbemerkt: auch wo überlegter Mord vorliegt,
wird doch Reue des Mörders oder sein „Wille sich zu be-
kehren“ 3) niemals zum vollen Gelingen der „Reinigung“ ge-
fordert.
Es konnte auch nicht anders sein. Denn die „Befleckung“,
welche hier mit religiösen, unbegreiflich wirksamen Mitteln
beseitigt werden soll, ist gar nicht „Menschen im Herzen“; sie
haftet dem Menschen als ein Fremdes und von aussen Kom-
mendes an, und kann sich von ihm wie der Gifthauch einer an-
steckenden Krankheit verbreiten. Darum ist auch die Reinigung
vollkommen zu bewirken durch die nach dem heiligen Brauch
richtig angewandten Mittel einer äusseren Abwaschung (durch
Wasser aus fliessenden Quellen, Flüssen oder dem Meere 1)) und
3)
[363] Abreibung 1), Austilgung des Schädlichen (durch Feuer oder
auch nur durch Räucherung), Aufsaugung (durch Wolle, Thier-
vliesse, Eier 2) u. s. w.
Ein Feindliches, dem Menschen Schädliches wird so ge-
tilgt: es muss, da es nur durch religiöse Mittel getroffen werden
kann, dem Dämonenreiche, auf welches allein die Religion und
ihre Heilwirkungen sich beziehen, angehören. Es giebt ein
Geistervolk, dessen Nähe und Berührung schon den Menschen
verunreinigt, indem sie ihn den Unheimlichen zu eigen giebt 1).
Wer ihre Wohnstätten, ihre Opfer berührt, ist ihnen verfallen,
sie können ihm Krankheit, Wahnsinn und Uebel aller Art an-
thun. Wie ein Geisterbanner wirkt der Reinigungspriester,
der von der Macht der umschweifenden Unholden den Leiden-
den befreit. Ganz deutlich wirkt er als solcher, wo er Krank-
heiten, d. h. die Krankheit sendenden Geister durch seine
Handhabung abwendet 2); wo er zu seinen Reinigungsvornahmen
2)
[365] Epoden, Beschwörungsformeln singt, die stets ein angeredetes
und hörendes unsichtbares Wesen voraussetzen 1); wo er Erz-
klang dazu ertönen lässt, dessen Kraft es ist, Gespenster zu
verscheuchen 2). Wo vergossenes Menschenblut eine „Reini-
gung“ nöthig macht, vollzieht diese der Reinigungspriester
2)
[366] „durch Mord den Mord vertreibend“1), indem er das Blut eines
Thieres dem Befleckten über die Hände rinnen lässt. Hier
ist der Reinigung deutlich der Charakter eines stellvertretenden
Opfers (des Thieres statt des menschlichen Thäters) erhalten2).
Damit wird der Groll des Todten abgespült, und dieser Groll
eben ist die Befleckung, die zu tilgen ist3). Opfer, bestimmt
von dem Zorn der Unsichtbaren, und eben damit von einer
„Befleckung“ eine ganze Stadtgemeinde zu befreien, waren auch
jene Sündenböcke, elende Menschen, die man, „zur Reinigung
der Stadt“, am Thargelienfeste oder auch bei ausserordent-
lichen Veranlassungen in ionischen Städten, auch in Athen,
in alter Zeit schlachtete oder steinigte, und verbrannte 4). Aber
2)
[367] dass auch die Reinigungsmittel, mit denen im Privatleben der
Einzelne und sein Haus von den Ansprüchen unsichtbarer
Mächte gelöst werden sollte, als Opfer für diese Mächte ge-
dacht wurden, lässt deutlich genug die Sitte erkennen, diese
Mittel, nachdem sie der „Reinigung“ gedient hatten, auf die
Dreiwege zu tragen, und den unheimlichen Geistern, die dort
ihr Wesen treiben, zu überlassen. So verwendete Reinigungs-
mittel sind geradezu identisch mit Seelenopfern, oder auch mit
den „Hekatemahlzeiten“ 1). Hieran ganz besonders lässt sich
4)
[368] merken, welche Einwirkungen eigentlich die Kathartik ab-
zuwenden strebt. Nicht einem im Herzen sich regenden Schuld-
bewusstsein, einer empfindlicher gewordenen Sittlichkeit hatte
sie genug zu thun; vielmehr war es abergläubische Angst vor
einer unheimlich die Menschen umschwebenden und mit tau-
send Händen drohend aus dem Dunkel nach ihnen langenden
Geisterwelt, die den Reiniger und Sühnepriester um Hilfe und
Abwehr der eigenen Phantasieschreckbilder anrief.
Es sind die „Unholden“ der Dämonenwelt griechischen
Glaubens, deren Eingriffe in menschliches Leben der hell-
sichtige Mantis durch seine „Reinigungen“ abwehren will.
Unter ihnen wird besonders kenntlich Hekate mit ihrem
Schwarm. Eine alte Schöpfung religiöser Phantasie, ohne
Zweifel, gleichwohl in den homerischen Gedichten nie erwähnt,
spät erst von örtlich beschränkter Verehrung zu allgemeiner
Anerkennung, nur an einzelnen Orten über häuslichen und
privaten Cult zu der Feier im öffentlichen Gottesdienst der
Städte vorgedrungen 1). Ihr Dienst scheut das Licht, wie der
ganze Wust unheimlicher Wahnvorstellungen, der ihn umrankt.
1)
[369] Hekate ist eine chthonische Göttin1), in der Unterwelt ist ihre
Stelle. Aber sie findet leichter als andere Unterirdische den
Weg zu den lebenden Menschen. Wo eine Seele sich mit
dem Leibe verbindet, bei Geburt und Wochenbett ist sie nahe2);
wo eine Seele sich vom Leibe scheidet, bei Leichenbegäng-
nissen, ist sie zur Stelle; unter den Wohnplätzen der Ab-
geschiedenen, inmitten der Grabsteine und dem Graus des
Todtencultes, vor dem die Himmlischen zurückscheuen, ist ihr
wohl3). Sie ist die Herrin der noch an die Oberwelt gebun-
Rohde, Seelencult. 24
[370] denen Seelen. Im Zusammenhang mit uraltem Seelencult am
Heerde des Hauses1) steht es, wenn Hekate selbst „in der
Tiefe des Heerdes“ wohnend gedacht2), und mit dem unter-
weltlichen Hermes, ihrem männlichen Gegenbilde, unter den
Hausgöttern, „die von den Vorfahren hinterlassen worden
waren“, verehrt wird3).
Dieser häusliche Cult mag ein Vermächtniss aus ältester Zeit
sein, in der man im traulichen Verkehr mit den Unterirdischen
noch nicht eine „Befleckung“ davon zu tragen fürchtete4). Spä-
teren Zeiten war Hekate Führerin und Anstifterin alles Spuks
und gespenstischen Gräuels. Sie begegnet dem Menschen oft
plötzlich zu seinem Schaden nachts oder in der träumenden
Oede blendender Mittagsgluth in schreckerregenden Gestalten,
3)
[371] die wie Traumerscheinungen unstät wechseln und wanken1).
Die Namen vieler weiblicher Höllengeister, von denen das Volk
zu erzählen wusste: Gorgyra (Gorgo), Mormo, Lamia, Gello
oder Empusa, das Mittagsgespenst, bezeichnen im Grunde nur
wechselnde Verwandlungen und Erscheinungen der Hekate2).
24*
[372] Am liebsten erscheint sie in der Nacht, beim halben Lichte
des Mondes, auf den Kreuzwegen; nicht allein: sie hat ihren
„Schwarm“, ihre Dienerinnen, die sie begleiten. Das sind die
Seelen derer, die der Bestattung und ihrer heiligen Gebräuche
nicht theilhaftig geworden sind, oder die mit Gewalt um das
2)
[373] Leben gebracht oder „vor der Zeit“ gestorben sind1). Solche
Seelen finden nach dem Tode keine Ruhe; sie fahren nun im
2)
[374] Winde daher mit der Hekate und ihren dämonischen Hun-
1)
[375] den1). Nicht ohne Grund fühlt man sich bei solchen Vorstellungen
an Sagen vom wilden Jäger und dem wüthenden Heere er-
innert2), wie sie in neueren Zeiten bei manchen Völkern um-
liefen. Gleicher Glaube hat hier wie dort die gleichen Bilder
hervorgerufen, die sich gegenseitig erläutern. Vielleicht fehlt
auch ein historischer Zusammenhang nicht3). Diese nächtlich
[376] umherschweifenden Seelengeister bringen allen denen sie be-
gegnen, oder die sie überfallen, „Befleckung“ und Unheil, angst-
volle Träume, Alpdrücken, nächtliche Schreckgesichte, Wahn-
sinn und Epilepsie1). Ihnen, den unruhigen Seelen und ihrer
Herrin Hekate, stellt man am letzten Monatstage die „Hekate-
mahle“ an die Kreuzwege2), ihnen wirft man, mit abgewen-
detem Gesicht, die Ueberreste der Reinigungsopfer hin3), um
3)
[377] sie abzuhalten von menschlichen Wohnungen; sowie man der
Hekate, zur „Reinigung“ und daher als „abwehrendes“ Opfer,
junge Hunde schlachtet.
Gräuelhafte Vorstellungen aller Art knüpfen sich hier
leicht an: dies ist eine der Quellen, aus denen, durch andere
griechische und zahlreiche fremdländische Wahngebilde an-
geschwellt, ein trüber Strom ängstigenden Aberglaubens durch
das ganze spätere Alterthum, und durch das Mittelalter bis
tief in neuere Zeiten sich ergossen hat.
Schutz und Abwehr suchte man bei den Sehern und
Reinigungspriestern, die, ausser mit Reinigungsceremonien und
Beschwörungen, mit mancherlei seltsamen Vorschriften und
Satzungen Hilfe brachten, die, ursprünglich nach der eigen-
thümlichen Logik des Aberglaubens ganz wohl begründet, auch
da noch, wo man ihren Sinn längst vergessen hatte, gläubig
festgehalten und weiter überliefert wurden, wie Zauberformeln.
Andere trieb schauernde Neugier, das Reich naheschwebender
Geister, von deren Treiben so manche Sage Wunderliches be-
richtete1), noch näher heranzuziehen. Durch Beschwörungs-
künste zwingen sie die irrenden Seelen und Hekate selbst zu
erscheinen2); die Macht des Zaubers soll sie nöthigen, den
Gelüsten des Beschwörers zu dienen, oder seinen Feinden zu
schaden3). Diese Gestalten aus dem Seelenreiche sind es,
[379] welche abzuhalten oder magisch heranzuziehen, die Zauberer
und Geisterbanner verhiessen. Der Glaube kam ihnen ent-
gegen; doch ist nicht denkbar, dass sie bei Durchführung ihrer
Verheissungen Betrug und Frevel fernhalten konnten.
Wir kennen die mantische und kathartische Bewegung
und was sich aus ihr entwickelte kaum anders als im Zustand
3)
[380] der Entartung. Auch in die hier versuchte andeutende Dar-
stellung dieser merkwürdigen Seitentriebe griechischer Religion
mussten Züge aus den Bildern aufgenommen werden, die von
diesem ganzen Wesen eine spätere, längst über Mantik und
Kathartik hinausgewachsene Zeit uns hinterlassen hat. Neben
einer, auf die wirklichen, von innen treibenden Gründe des
Werdens und Geschehens in der weiten Welt und dem be-
schränkten Menschendasein ernstlich den Blick richtenden
Wissenschaft; neben einer, nüchtern und vorsichtig den Be-
dingungen menschlichen Leibeslebens in Gesundheit und Krank-
heit nachforschenden Heilkunde, war die Kathartik, die Mantik
und die ganze aus ihnen hervorgequollene Fülle der Wahn-
ideen stehn geblieben, wie ein Erbstück überwundener Vor-
stellungsweise, immer noch in weiten Kreisen ungestört alt-
gläubigen Volkes lebendig und wirksam, aber von den Gebildeten
und frei Gewordenen als ein anstössiger Zaubertrödel und
Bettelpfaffenunfug verachtet.
So kann dieses Gebilde religiösen Triebes nicht von jeher
ausgesehen haben, so kann es nicht angesehen worden sein,
als es zuerst wirksam hervortrat. Eine Bewegung, deren sich
das delphische Orakel eifrig annahm, der griechische Staaten
vielfach Einfluss auf die Gestaltung ihrer Culteinrichtungen
gewährten, muss eine Zeit gehabt haben, in der sie volles
Recht zum Dasein hatte. Sie muss den Bedürfnissen einer
Zeit entsprochen haben, in der eine bereits erwachte Ahnung
tief verschlungener Zusammenhänge alles Seins und Werdens
sich noch an einer religiösen Deutung aller Geheimnisse ge-
nügen liess, und ein Eindringen in die, dunkel alles umwogende
Geisterwelt einzelnen Auserwählten ernsthaft gläubig zugestand.
Jede Zeit hat ihr eigenes Ideal der „Weisheit“. Es gab eine
Zeit, der das Vorbild des „Weisen“, des aus eigener Kraft
zu beherrschender Einsicht und Geistesmacht aufgestiegenen
Menschen sich verkörperte in einzelnen grossen Gestalten, in
denen die höchste Vorstellung von Wissen und Wirken des
ekstatischen Sehers und Reinigungspriesters sich vollendet dar-
[381] zustellen schien. In halb sagenhaften Berichten, in denen
spätere Zeit die Erinnerung an jene, der philosophischen
Naturergründung voranliegende Periode festgehalten hat, ist uns
von grossen Meistern geheimnissvoller Weisheit Kunde erhalten,
denen zwar mehr ein zauberhaftes Können als ein rein denkendes
Erfassen des dunklen Naturgrundes zugeschrieben wird, denen
aber doch, wie selbst die uns zugekommene dürftige Ueber-
lieferung noch erkennen lässt, aus ihrem Werk und Wirken
bereits Ansätze zu einer theoretisch rechtfertigenden Betrach-
tung erwuchsen. Man kann sie nicht Philosophen nennen,
auch nicht Vorläufer griechischer Philosophie, vielmehr geht
ihr Blick nach einer Richtung von der sich kräftig abzuwen-
den wichtigste und mit Bewusstsein, wenn auch nicht ohne
Schwanken und Rückfälle durchgeführte Aufgabe der philo-
sophischen Selbstbefreiung des Geistes wurde. Sie stellen sich
zu den Zauberern und Geisterbannern, die in der Lichtdäm-
merung der Geistesgeschichte der Culturvölker, als wunderliche
erste Typen des forschenden Menschen, dem Philosophen vor-
auszugehen pflegen. Alle gehören sie dem Kreise der eksta-
tischen Seher und Reinigungspriester an.
Von den Hyperboreern, aus dem fernen Wunderlande, in
das Apollo im Winter verschwindet, kam, der Sage nach,
Abaris, vom Gotte gesandt, nach Griechenland; ein heiliger
Mann, keiner menschlichen Nahrung bedürftig. Den goldenen
Pfeil, das Wahrzeichen seiner apollinischen Art, in der Hand,
zog er durch die Länder, Krankheiten abwendend durch Zauber-
opfer, Erdbeben und andere Noth voraussagend. Man las noch
in später Zeit Weissagungen und „Reinigungen“ unter seinem
Namen 1). — Wie seiner, so des Aristeas hatte schon Pindar
[382] gedacht 1). Aristeas, in seiner Vaterstadt Prokonnesos ein an-
gesehener Mann, hatte die Zaubergabe der lang andauernden
1)
[383] Ekstase. Wenn seine Seele „von Phoebos ergriffen“ seinen
Leib verliess, so erschien sie, als sein anderes Ich, sichtbar
an fernen Orten 1). So war er, als Gefolgsmann des Apollo,
1)
[384] mit diesem einst in Metapont erschienen; ein dauerndes Denk-
mal seiner Anwesenheit und des Erstaunens, das seine be-
geisterten Verkündigungen erweckt hatten, blieb ein ehernes
Standbild auf dem Markte der Stadt 1). — Ueber andere Ge-
1)
[385] stalten von verwandtem Typus 1) ragt hervor Hermotimos
von Klazomenae, dessen Seele „auf viele Jahre“ den Leib
1)
Rohde, Seelencult. 25
[386] verlassen konnte, und, zurückgekehrt von ihren ekstatischen
Fahrten, mantische Kunde des Zukünftigen mitbrachte. Zu-
letzt verbrannten Feinde den seelenlos daliegenden Leib des
Hermotimos, und seine Seele kehrte niemals wieder 1).
Als Grossmeister unter diesen zauberhaft begabten Män-
nern erscheint in der Ueberlieferung Epimenides, von Kreta,
einem alten Sitze kathartischer Weisheit 1) stammend, in dem
Culte des unterirdischen Zeus 2) in eben dieser Weisheit be-
festigt. In märchenhafter Einkleidung wird berichtet von seinem
langen Aufenthalt in der geheimnissvollen Höhle des Zeus auf
dem Ida, seinem Verkehr mit den Geistern des Dunkels, seinem
harten Fasten 3), den langen Ekstasen seiner Seele 4), und wie
1)
25*
[388] er dann, voll bewandert in „enthusiastischer Weisheit“ 1), aus
seiner Einsamkeit wieder ans Licht kam. Nun zog er durch
die Länder mit seiner heilbringenden Kunst, als ekstatischer
Seher Zukünftiges verkündend 2), verborgenen Sinn des Ver-
gangenen aufhellend, und als Reinigungspriester aus besonders
dunklen Frevelthaten erwachsenes dämönisches Unheil bannend.
Man wusste von kathartischer Thätigkeit des Epimenides auf
Delos und in anderen Städten 3). Unvergessen blieb nament-
lich, wie er, am Ende des siebenten Jahrhunderts, in Athen
den Abschluss der Sühnung des gottlosen Mordes der An-
[389] hänger des Kylon geleitet hatte 1). Mit wirksamen Ceremonien,
wie nur ihn geheime Weisheit sie kennen gelehrt hatte, mit
[390] Opfern von Thieren und Menschen, beschwichtigte er den
Groll der verletzten und mit diesem Groll die Stadt „be-
fleckenden“ und schädigenden Geister der Tiefe 1). —
Nicht sinnlos bringt spätere Ueberlieferung, um die chrono-
logische Möglichkeit unbekümmert, alle hier genannten Männer
in Verbindung mit Pythagoras oder seinen Anhängern 2), wie
sie denn den jüngsten aus dieser Reihe, Pherekydes von Syros,
geradezu zum Lehrer des Pythagoras zu machen pflegt. Nicht
zwar die Philosophie, wohl aber die Praxis der pythagoreischen
Secte wurzelt in den Vorstellungen dieser Männer und der
1)
[391] Zeit, die sie als Weise verehrte, in dem was man ihre Lehre
nennen kann. Noch lassen vereinzelte Spuren erkennen, dass
die Vorstellungen, die ihre Thätigkeit und ihr Leben bestimm-
ten, in den Köpfen dieser Visionäre, die doch mehr als nur
Praktiker eines zauberhaften Religionswesens waren, sich zu
einer Einheit zusammenzuschliessen strebten. Wie weit die
Phantasiebilder vom Werden der Welt und der Götter, die
Epimenides 1) und Pherekydes ausführten, mit dem Thun und
Wirken dieser Männer zusammenhängen mochten, wissen wir
nicht 2). Wenn aber von Hermotimos berichtet wird, dass er,
ähnlich wie später sein Landsmann Anaxagoras, eine Scheidung
zwischen dem reinen „Geiste“ und dem Stofflichen angenommen
habe 3), so sieht man deutlich, wie diese Theorie aus seinen
„Erfahrungen“ hervorging. Die Ekstasen der Seele, von denen
Hermotimos selbst und dies ganze Zeitalter der verzückten
Seher so vielfache Erfahrung machte, wiesen als auf eine stark
bezeugte Thatsache hin auf die Trennbarkeit der „Seele“ vom
Leibe, auf höheres Dasein der Seele in ihrem Sonderdasein 4).
[392] Leicht musste der Leib, in Gegensatz zu der nach Freiheit
strebenden Seele gestellt, als das Hindernde, Fesselnde, Ab-
zuthuende erscheinen. Die Vorstellungen der überall drohenden
4)
[393] „Befleckung“ und Verunreinigung, durch Lehre und Thätigkeit
eben der zahlreichen Sühnpriester, als deren höchsten Meister
wir Epimenides kennen, genährt, hatten allmählich selbst den
öffentlichen Cult so mit Reinigungsceremonien durchsetzt, dass
es den Anschein haben könnte, als sei die griechische Religion
auf dem Wege gewesen, sich zu einer Reinheitsreligion, einem
westlichen Brahmanismus oder Zoroastrismus zu entwickeln.
Wem einmal der Gegensatz zwischen Leib und Seele geläufig
geworden war, der musste, zumal wenn er selbst in kathar-
tischen Ideen und deren praktischer Ausübung lebte, fast noth-
wendig der Gedenke kommen, dass auch die Seele zu „reini-
gen“ sei vom Leibe als einem befleckenden Hemmniss. Fast
populär geworden, begegnet uns diese Vorstellung in einzelnen
Sagen und Redewendungen, in denen die Vernichtung des
Leibes im Feuer als eine „Reinigung“ des Menschen aufgefasst
und bezeichnet wird 1). Wo sich dieser Gedanke, das volle
Widerspiel zu der homerischen Auffassung des Verhältnisses
von Leib und Seelenabbild, tiefer einbohrte, musste er zu einer
Aufforderung werden, schon bei Leibesleben die Reinigung der
Seele vorzubereiten durch Verleugnung und Verwerfung des
Leibes und seiner Triebe. Zu einer rein negativen, nicht auf
innerer Umbildung des Willens, sondern allein auf Abwehr
des von aussen herantretenden störenden und befleckenden
Uebels von der Seele des Menschen bedachten Moral, einer
theologisch-asketischen Moral, wie sie später für eine wichtige
Geistesbewegung des Griechenthums bezeichnend wurde, ist
hier der Anstoss gegeben. So dürftig und abgerissen auch
[394] die Berichte über die Weisen dieser vorphilosophischen Zeit
sind, es schimmert doch noch hindurch, dass zur Askese
(wie sie in der Nahrungsenthaltung des Abaris und Epimenides
deutlich exemplificirt ist 1)) sie ihre Geistesrichtung geführt
hatte. Wie weit sie auf diesem Wege vorgeschritten waren,
ist freilich nicht zu sagen.
Das asketische Ideal fehlt auch Griechenland nicht. Aber
es bleibt, so mächtig es an einzelnen Stellen eingreift, unter
Griechen stets ein Fremdes, unter spiritualistischen Schwärmern
eingenistet, der allgemein herrschenden Lebensstimmung gegen-
über eine Paradoxie, fast eine Ketzerei. Die öffentliche Re-
ligion entbehrt nicht aller Keime einer asketischen Moral; aber
ihre volle Entwicklung aus einer religiösen Gesammtansicht hat
die Askese in Griechenland nur unter Minoritäten gefunden,
die sich in geschlossenen Conventikeln theologischer oder philo-
sophischer Richtung absonderten. Jene „Weisen“, deren Ideal-
bilder die Sagen von Abaris, Epimenides u. s. w. darstellen,
standen als Einzelne asketischen Idealen nicht fern. Bald
regte sich auch der Versuch, auf dem Boden dieser Ideale
eine Gemeinde zu gründen.
Von orphischen Secten und ihren Gebräuchen redet uns
kein älteres Zeugniss als das des Herodot (2, 81), der die
Uebereinstimmung ägyptischer Priester in gewissen priesterlich
asketischen Vorschriften mit den „orphischen und bakchischen“
Geheimdiensten hervorhebt, die in Wahrheit ägyptisch und
pythagoreisch, d. h. nach ägyptischem Vorbilde von Pythagoras
oder Pythagoreern eingerichtet seien, und somit, nach der
Meinung des Historikers, nicht vor den letzten Jahrzehnten
des sechsten Jahrhunderts begründet sein konnten. Herodot
hat also, sei es in Athen oder anderswo auf seinen Reisen,
von geschlossenen Gemeinden vernommen, die durch ihre Be-
nennung nach Orpheus, dem sagengepriesenen Vorbild thra-
kischer Sangeskunst, selbst die Herkunft ihres eigenthümlichen
Cultus und Glaubens aus Thrakiens Bergen bekannten, und
Bakchos, den thrakischen Gott, verehrten. Dass in der
That die griechischen Orphiker vor allen anderen Göttern dem
Dionysos, dem Herrn des Lebens und des Todes, ergeben
waren, bezeugen deutlich die Reste der, aus ihrer Mitte her-
vorgegangenen theologischen Dichtung. Orpheus selbst, als
Stifter der orphischen Secte gedacht, heisst der Begründer
dionysischer Weihen 1).
Was sich nun in Orpheus Namen zu einem eigenthüm-
lich gestalteten Cult des Dionysos zusammenthat, das waren
Secten, die in abgeschlossener Gemeinschaft einen Cultus
begingen, den der öffentliche Götterdienst des Staates nicht
kannte oder verschmähte. Es gab solcher, inmitten der Städte
und ihres geordneten Religionswesens abgesondert sich halten-
der, vom Staate geduldeter 1) Gemeinden viele und mannich-
faltige. Zumeist waren es „fremdländische Götter“ 2), denen
hier, wenn auch Einheimische nicht ausschliessend, Fremde
nach der Weise ihrer Heimath Verehrung darbrachten. Dio-
nysos nun, der Gott der orphischen Secten, war in griechi-
schen Ländern längst kein Fremder mehr; aus Thrakien ein-
gewandert, war er im Laufe der Zeit, geläutert und gereift
an der Sonne griechischer Menschlichkeit, ein griechischer Gott
geworden, ein würdiger Genosse des griechischen Olymps.
Aber in dieser Umwandlung mochte den Verehrern des alt-
thrakischen Dionysos der Gott sich selbst entfremdet scheinen,
[397] dem sie eben darum, vom öffentlichen Cult abgesondert, einen
eigenen Dienst zu widmen sich zusammenschlossen, in dem alle
Gedanken der heimischen Religion sich ungeschwächt ausprägen
konnten. Eine nachströmende Welle brachte noch einmal aus
Norden zu dem längst hellenisirten Dionysos den thrakischen
Gott nach Griechenland, den jetzt der öffentliche Cult noch-
mals sich zu assimiliren nicht die Kraft oder den Willen hatte.
So suchte er seine Verehrung in Secten, die nach eigenem
Gesetz die Gottheit ehrten. Ob es Thraker waren, die,
gleich dem ungemilderten Culte der Bendis 1), der Kotytto, so
auch ihren altheimischen Dionysoscult mitten in griechischen
Ländern aufs Neue aufrichteten, wissen wir nicht. Aber für
griechisches Leben hätte dieser Sondercult keine Bedeutung
gewonnen, wenn nicht griechische Männer, in den Gedanken-
kreisen griechischer Frömmigkeit heimisch, sich ihm angeschlos-
sen und unter dem Namen der „Orphiker“ doch wieder, wenn
auch auf andere Weise als vordem griechischer Staatscult, den
thrakischen Gott griechischer Empfindungsweise angeeignet
hätten. Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass orphische
Secten in griechischen Ländern sich gebildet haben vor der
zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts 2), vor jener Wende-
zeit, in der an mehr als Einer Stelle aus der mythischen Vor-
stellungsweise sich eine Theosophie hervorbildete, die zur Philo-
[398] sophie zu werden strebte. Auch die orphische Religionsdich-
tung ist merklich von diesem Bestreben erfüllt; aber im Be-
streben erstarrt sie, und gelangt nicht zu ihrem Ziele.
Der Punct des Hervorspringens dieser religiös-theosophi-
schen Bewegung, Gang und Art ihrer Ausbreitung bleiben uns
verborgen. Athen bildete einen Mittelpunct orphischen Wesens;
entstanden muss es nicht nothwendig dort sein, so wenig wie
vielfache Bestrebung und Thätigkeit in Kunst, Dichtung und
Wissenschaft, die seit der gleichen Zeit, wie durch einen gei-
stigen Zwang angezogen, nach Athen als dem gemeinsamen
Mittelpunct zu strömen begann. Onomakritos, heisst es, der
Orakelverkünder am Hofe des Peisistratos, habe „dem Dionysos
Geheimdienste gestiftet“ 1). Hiemit scheint die erste Begrün-
dung einer orphischen Secte in Athen bezeichnet zu sein.
Onomakritos begegnet auch unter den Verfassern orphischer
Gedichte. Aber deren Mehrzahl wird, als den wahren Ver-
fassern, Männern zugeschrieben, deren Heimath in Unteritalien
und Sicilien lag, und deren Verbindung mit den Kreisen des,
in jenen Gegenden in den letzten Jahrzehnten des sechsten,
den ersten des fünften Jahrhunderts blühenden Pythagoreer-
thums mehr oder weniger deutlich wird 2). Es scheint gewiss,
[399] dass in Unteritalien schon damals orphische Gemeinden bestan-
den: für wen anders könnten jene Männer ihre „orphischen“
Gedichte bestimmt haben? Man muss jedenfalls festhalten, dass
das Zusammentreffen orphischer und pythagoreischer Lehren auf
dem Gebiete der Seelenkunde nicht ein zufälliges sein kann. Fand
etwa Pythagoras, als er (um 532) nach Italien kam, orphische
Gemeinden in Kroton und Metapont bereits vor und trat in
deren Gedankenkreise ein? Oder verdanken (wie Herodot es
sich vorstellte 1)) die nach Orpheus benannten Sectirer ihre
Gedanken erst dem Pythagoras und dessen Schülern? 2) Wir
können nicht mehr mit voller Deutlichkeit unterscheiden, wie
hier die Fäden hin und wieder liefen. Wenn aber wirklich die
Pythagoreer allein die Gebenden gewesen wären, so würde
ohne Zweifel die gesammte orphische Lehre mit solchen Vor-
stellungen durchsetzt sein, die zu dem eigenthümlichen Besitz
der pythagoreischen Schule gehören. Jetzt finden wir in den
Trümmern orphischer Gedichte ausser geringfügigen Spuren
pythagoreischer Zahlenmystik 3) nichts, was nothwendiger Weise
[400] erst aus pythagoreischer Quelle den Orphikern zugeflossen sein
müsste 1). Die Seelenwanderungslehre und deren Ausführung
braucht am wenigsten solchen Ursprung zu haben. Es mag
also selbständig ausgebildete orphische Lehre auf Pythagoras
und seine Anhänger in Unteritalien gewirkt haben, wie es viel-
leicht aus Unteritalien hinübergebrachte, fertig entwickelte
orphische Lehren waren, in die (etwa zur gleichen Zeit wie
Pythagoras in Kroton) Onomakritos, der Stifter orphischen
Sectenwesens zu Athen, eintrat. Anders kann man doch kaum
das Verhältniss der Orphiker hüben und drüben zu einander
sich deuten, wenn man erfährt, dass am Hofe der Pisi-
stratiden neben Onomakritos zwei aus Unteritalien herbei-
3)
[401] gezogene Männer thätig waren, die als Urheber orphischer Ge-
dichte galten 1).
Die Orphiker, wo immer sie in griechischen Ländern auf-
traten, sind uns nur als Angehörige geschlossener Cultus-
gemeinden bekannt, die ein eigenthümlich begründeter und
geregelter Gottesdienst zusammenhielt. Der altthrakische Dio-
nysoscult, ins Grenzenlose strebend, schwärmte unter der Weite
des Nachthimmels durch Gebirg und Wald, fern von aller
Civilisation, in reiner Nähe unbezwungener Natur. Wie dieser
Cult sich in die enggezogenen Schranken bürgerlichen Wesens
fügen mochte, ist schwer vorzustellen 2), wenn sich auch denken
lässt, dass vieles ausschweifend Thatsächliche der nordischen
Nachtfeste hier nur in symbolisirender Nachbildung zusammen-
gefasst wurde. Etwas deutlicher tritt diejenige Seite religiös
praktischer Thätigkeit hervor, mit der, ausserhalb ihrer ge-
schlossenen Conventikel, die Orphiker sich der profanen Welt
zuwandten. Wie Orpheus selbst, als Vorbild der Seinen, in
Rohde, Seelencult. 26
[402] der Ueberlieferung nicht nur als gottbegeisterter Sänger, son-
dern auch als Seher, zauberhaft wirkender Arzt und Reini-
gungspriester erscheint 1), so waren die Orphiker auf allen
diesen Gebieten thätig 2). Mit dem altthrakischen Dionysos-
cult traten bei den griechischen Orphikern die, auf heimischem
Boden entwickelten kathartischen Vorstellungen in einen nicht
unnatürlichen Bund. Die orphischen Reinigungspriester wurden
von manchen Gläubigen anderen ihresgleichen vorgezogen 3).
Im Innern der orphischen Kreise aber hatten sich aus der
nicht vernachlässigten priesterlichen Thätigkeit der Reinigung
und Abwehr dämonischer Hemmnisse weiter und tiefer drin-
gende Ideen der Reinheit, der Ablösung vom irdisch Ver-
gänglichen, der Askese entwickelt, die, mit den Grundvorstel-
lungen der thrakischen Dionysosreligion verschmolzen, dem
Glauben und der Lebensstimmung der Anhänger dieser Secten
den besonderen Klang, ihrer Lebensführung die eigene Rich-
tung gaben.
Die orphische Secte hatte eine bestimmt festgestellte Lehre.
Hierdurch unterscheidet sie sich, wie vom staatlichen Religions-
wesen, so von den übrigen Cultgenossenschaften jener Zeit.
Die Eingrenzung des Glaubens in bestimmte Lehrsätze mag,
mehr als anderes, der orphischen Religionsweise eine Ge-
meinde von Glaubensbedürftigen zugeführt haben, wie sie
[403] freilich andere Theologen der Zeit, Epimenides, Pherekydes
u. A. nicht gefunden hatten. Ohne diese religiösen Grund-
lehren ist ein Orphikerthum in Griechenland nicht vorstellbar;
schon der Begründer der orphischen Secte in Athen, Onoma-
kritos, war es, der nach Aristoteles „die Lehren“ des Orpheus
in dichterischer Form dargestellt hatte 1). Wie weit die Thätig-
keit des Onomakritos bei der Ausbildung oder Zusammenord-
nung orphischer Lehrgedichte sich erstreckte, lassen unklare
Angaben später Berichterstatter nicht deutlich erkennen 2).
Bedeutsam ist, dass er mit Bestimmtheit der Verfasser des
Gedichtes der „Weihen“ genannt wird 3). Dieses Gedicht muss
zu den im engeren Sinne religiösen Grundschriften der
Secte gehört haben; in einer Schrift dieses Charakters kann
die Sage von der Zerreissung des Gottes durch die Titanen,
26*
[404] von der Onomakritos gedichtet haben soll, sehr wohl einen
Mittelpunkt gebildet haben 1).
Glaube und religiöser Gebrauch der Secte war auf den
Ausführungen sehr zahlreicher Schriften ritualen und theolo-
gischen Inhalts begründet, die, auf das Ansehen göttlicher
Offenbarungen Anspruch machend 2), sämmtlich als Werke des
Sängers thrakischer Vorzeit, des Orpheus selbst gelten wollten.
Die Hülle, welche die wahren Verfasser jener Dichtungen ver-
barg, muss nicht sehr dicht gewesen sein: noch gegen Ende
des vierten Jahrhunderts meinte man mit Bestimmtheit die
Urheber der einzelnen Gedichte nennen zu können. Eigent-
lich kanonisches Ansehen, vor dem jede abweichende Anschau-
ung und Darstellung zum Schweigen gekommen wäre, scheint
keine dieser Schriften genossen zu haben; insbesondere der
theogonischen Dichtungen, in denen sich die Grundvorstel-
lungen orphischer religiöser Speculation zu gestalten versuchten,
gab es manche 3), die bei aller Uebereinstimmung in der Haupt-
[405] richtung doch in der Ausführung weit auseinanderliefen. Dies
waren in immer neuer Steigerung wiederholte Versuche, die
orphische Lehre im Zusammenhang aufzubauen. In unver-
kennbarem Hinblick auf jene älteste griechische Theologie, die
sich in dem hesiodischen Gedichte niedergeschlagen hatte,
schilderten diese orphischen Theogonien Werden und Entwick-
lung der Welt aus dunklen Urtrieben zu der klar umschrie-
benen Mannichfaltigkeit des einheitlich geordneten Kosmos, als
die Geschichte einer langen Reihe göttlicher Mächte und Ge-
stalten, die aus einander hervorgehen, eine die andere über-
winden, in Weltbildung und Weltregierung ablösen, in sich
das All zurückschlingen, um es, aus Einem Geiste beseelt,
und in aller unendlichen Vielheit Eines, wieder aus sich heraus-
zusetzen. Diese Götter sind freilich nicht mehr Götter von
altgriechischem Typus. Nicht nur die von orphischer Phan-
tastik neu erschaffenen, unter symbolisch bedeutendem Beiwerk
deutlicher sinnlicher Vorstellung fast entzogenen Götterwesen,
auch die aus griechischer Götterwelt entlehnten Gestalten sind
hier wenig mehr als personificirte Begriffe. Wer könnte den
Gott Homers wiedererkennen in dem orphischen Zeus, der,
nachdem er den Allgott verschlungen und „in sich gefasst hat
die Kraft des Erikapaios“ 1) nun selbst das All der Welt ist:
„Anfang Zeus, Zeus Mitte, in Zeus ist Alles vollendet“ 2).
3)
[406] Der Begriff erweitert hier die Person so sehr, dass er sie zu zer-
sprengen droht; er löst die Umrisse der einzelnen Gestalten auf
und lässt sie in bewusster „Göttermischung“ zusammenfliessen 1).
Dennoch ist die mythische Schaale nicht abgeworfen.
Diese Dichter konnten sie nicht völlig abwerfen; ihre Götter
sehnen sich wohl zu reinen Begriffen zu werden, aber es ge-
lingt ihnen nicht ganz, alle Reste der Individualität und sinn-
lich begrenzten Gestaltung abzustreifen, es gelingt dem Begriff
noch nicht ganz unter den Schleiern des Mythus hervorzu-
brechen. Das halb Geschaute, halb Gedachte zugleich der
Phantasie und dem begrifflichen Denken gegenständlich zu
machen, mühten sich, einer den anderen in wechselnder Ein-
kleidung der gleichen Grundvorstellungen ablösend und über-
bietend, die Dichter der verschiedenen orphischen Theogonien
ab, bis als letztes, wie es scheint, das uns aus den Anführungen
der Neoplatoniker allein seinem Gehalte nach genauer bekannte
theogonische Gedicht der vierundzwanzig Rhapsodien einen
Abschluss brachte, in welchem die aufgespeicherten Motive
mythisch symbolischer Lehre bis zur Ueberladung vollständig
aufgenommen und endgiltig zusammengeordnet wurden 2).
Die Verbindung von Religion und einer halb philosophi-
schen Speculation war eine kennzeichnende Eigenthümlichkeit
2)
[408] der Orphiker und ihrer Schriftstellerei. In ihrer theogonischen
Dichtung war Religion nur insoweit die ethischen Persönlich-
2)
[409] keiten der Götter, von denen sie berichtete, nicht ganz zu
durchsichtigen allegorischen Schemen zergangen waren 1). In der
Hauptsache herrschte hier die Speculation, ohne Rücksicht auf
die Religion, und eben darum unbeschränkt im freien Wechsel
ihrer Gedankengebilde.
Aber die speculative Dichtung lief aus in eine religiöse,
für Glauben und Cult der Secte unmittelbar bedeutende Er-
zählung. Am Ende der genealogisch sich entwickelnden Götter-
reihe stand der Sohn des Zeus und der Persephone, Dionysos,
mit dem Namen des Unterweltgottes Zagreus benannt 2), dem
2)
[410] in kindlichem Alter schon Zeus die Herrschaft der Welt an-
vertraute. Ihm nahen, von Hera angestiftet, in trüglicher Ver-
kleidung die bösen Titanen, die Feinde des Zeus, die früher
schon Uranos überwunden 1), aber Zeus, so scheint es, aus der
Haft des Tartaros wieder frei gegeben hatte. Durch Geschenke
machen sie ihn zutraulich; als er im Spiegel, den sie ihm ge-
schenkt, den Widerschein seiner Gestalt betrachtet 2), über-
fallen sie ihn. Er entzieht sich ihnen in wechselnden Ver-
wandlungen; zuletzt wird er, unter der Gestalt eines Stieres 3),
überwältigt und in Stücke zerrissen, welche die wilden Feinde
verschlingen. Nur das Herz rettet Athene; sie bringt es dem
Zeus, der es verschlingt. Aus ihm entspringt der „neue Dio-
2)
[411] nysos“, des Zeus und der Semele Sohn, in dem Zagreus wieder
auflebt.
Die Sage von der Zerreissung des Zagreus durch die
Titanen hatte schon Onomakritos dichterisch dargestellt 1); sie
blieb der Zielpunkt auf den die orphischen Lehrdichtungen
ausliefen; nicht allein in den Rhapsodien 2), sondern auch in
älteren, von diesen ganz unabhängigen Ausbildungen orphischer
Sage kam sie vor 3). Dies ist eine im engeren Sinne religiöse
Sage. Deutlich tritt ihr aetiologischer Charakter hervor 4), ihre
Bestimmung, die heilige Handlung der Zerreissung des Gott-
stieres in den nächtlichen Bakchosfeiern aus der Legende von
den Leiden des Dionysos-Zagreus nach ihrer religiösen Be-
deutung zu erläutern.
Wurzelt aber hiernach die Sage in altthrakisch rohem
Opferbrauche 5), so steht sie mit ihrer Ausführung ganz in
[412] hellenischen Gedankenkreisen; und in dieser Verbindung erst
ist sie orphisch. Die schlimmen Titanen gehören ächt griechi-
scher Mythologie an 1). Hier zu Mördern des Gottes geworden,
stellen sie die Urkraft des Bösen vor 2). Sie zerreissen den
Einen in viele Theile: durch Frevel verliert sich das Eine
Gotteswesen in die Vielheit der Gestalten dieser Welt 3). Es
ersteht als Einheit wieder in dem neu aus Zeus entsprossenen
Dionysos. Die Titanen aber — so lautete die Sage weiter, —
welche die Glieder des Gottes verschlungen hatten, zerschmet-
tert Zeus durch seinen Blitzstrahl; aus ihrer Asche entsteht
das Geschlecht der Menschen, in denen nun, ihrem Ursprung
5)
[413] gemäss, das Gute, das aus Dionysos-Zagreus stammte, bei-
gemischt ist dem bösen, titanischen Elemente 1).
Mit der Herrschaft des neu erzeugten Dionysos und der
Entstehung der Menschen kam die Reihe der mythischen Be-
gebenheiten in orphischer Dichtung zu Ende 2). Wo der Mensch
[414] eintritt in die Schöpfung 1), da beginnt die gegenwärtige Welt-
periode; die Zeit der Weltrevolutionen ist abgeschlossen. Die
Dichtung wendet sich nun dem Menschen zu, ihm sein Loos,
seine Pflicht und sein Ziel offenbarend.
Dem Menschen ist nach der Mischung der Bestandtheile,
aus denen das Ganze seines Wesens zusammengesetzt ist, der
Weg vorgeschrieben, den sein Streben zu gehen hat. Er soll
sich befreien von dem titanischen Elemente, und rein zurück-
kehren zu dem Gotte, von dem in ihm ein Theil lebendig ist 2).
2)
[415] Die Unterscheidung des Titanischen und Dionysischen im Men-
schen drückt die volksthümliche Unterscheidung zwischen Leib
und Seele in allegorischer Einkleidung aus, die zugleich eine
tief begründete Werthabstufung dieser zwei Seiten mensch-
lichen Wesens bezeichnen will. Der Mensch soll, nach orphi-
scher Lehre, sich frei machen von den Banden des Körpers,
in denen die Seele liegt wie der Gefangene im Kerker 1). Sie
hat aber einen langen Weg bis zu ihrer Befreiung zu vollen-
den. Sie darf nicht selbst ihre Bande gewaltsam lösen 2); und
der natürliche Tod löst sie nur für kurze Zeit. Denn die Seele
muss aufs Neue sich in einen Körper verschliessen lassen. Wie
sie, ausgetreten aus ihrem Leibe, frei im Winde schwebt, wird
sie im Hauche des Athems in einen neuen Körper hinein-
gezogen 3); und so durchwandert sie, wechselnd zwischen fessel-
2)
[416] losem Sonderleben und immer neuer Einkörperung, den weiten
„Kreis der Nothwendigkeit“, als Lebensgenossin vieler Leiber
von Menschen und Thieren. Hoffnungslos scheint sich das
„Rad der Geburten“ 1) in sich selbst zurückzudrehen; in orphi-
scher Dichtung (und dort vielleicht zuerst) taucht der trost-
lose Gedanke einer, beim Zusammentreffen gleicher Bedin-
gungen immer gleichen Wiederholung aller schon durchlebten
Lebenszustände auf 2), eines auch den Menschen in den Wirbel
3)
[417] seiner ziellosen Selbstumkreisung ziehenden, ewig zum Anfang
zurückkehrenden Naturlaufes.
Aber es giebt für die Seele eine Möglichkeit, diesem Ge-
fängnisse der ewigen Wiederkunft aller Dinge zu entspringen;
sie hat die Hoffnung „aus dem Kreise zu scheiden und auf-
zuathmen vom Elend“ 1). Zu freier Seligkeit geschaffen, kann
sie den ihrer unwürdigen Daseinsformen auf Erden zuletzt sich
entschwingen. Es giebt eine „Lösung“; aber die Menschen,
blind und unbedacht, können sich selbst nicht helfen, kaum,
wenn das Heil zur Hand ist, sich ihm zuwenden 2).
Das Heil bringt Orpheus und seine bakchischen Weihen;
Dionysos selbst wird seine Verehrer aus dem Unheil und dem
2)
Rohde, Seelencult. 27
[418] endlosen Qualenweg erlösen. Nicht eigener Kraft, der Gnade
„erlösender Götter“ soll der Mensch seine Befreiung ver-
danken 1). Der Selbstverlass des alten Griechenthums ist hier
gebrochen; schwachmüthig sieht der Fromme nach fremder
Hilfe aus; es bedarf der Offenbarungen und Vermittlungen
„Orpheus des Gebieters“ 2), um den Weg zum Heil zu finden,
und ängstlicher Beachtung seiner Heilsordnung, damit man ihn
gehen könne.
Nicht die heiligen Orgien allein, wie sie Orpheus geordnet
hat, bereiten die Erlösung vor, ein ganzes „orphisches Leben“ 3)
muss sich aus ihnen entwickeln. Die Askese ist die Grund-
bedingung des frommen Lebens. Sie fordert nicht Uebung
bürgerlicher Tugenden, nicht Zucht und sittliche Umbildung
des Charakters ist nothwendig; die Summe der Moral ist hier
Hinwendung zum Gotte 4), Abkehr von allem, was in die Sterb-
lichkeit und das Leibesleben verstrickt. Der grimmige Ernst
freilich, mit dem die Büsser Indiens den eigenen Willen vom
Leben abreissen, an das er mit klammernden Organen sich
festhält, fand unter Griechen, dem Volke des Lebens, auch
bei weltverneinenden Asketen keine Stelle. Die Verschmähung
der Fleischnahrung war die stärkste und auffallendste Enthal-
tung der orphischen Asketen 5). Im Uebrigen hielten sie sich
im wesentlichen rein von solchen Dingen und Verhältnissen,
die das Hangen an der Welt des Todes und der Vergänglich-
[419] keit mehr in religiöser Symbolik vorstellten, als thatsächlich
in sich fassten. Die längst ausgebildeten Vorschriften des
priesterlichen Reinheitsrituals wurden hier ergriffen und ver-
mehrt 1); aber sie gewannen eine erweiterte Bedeutung. Nicht
von dämonischen Berührungen sollen sie den Menschen be-
freien und reinigen; sie machen die Seele selbst rein 2), rein
von dem Leibe und seiner befleckenden Gemeinschaft, rein
vom Tode und dem Gräuel seiner Herrschaft. Zur Busse
einer „Schuld“ ist die Seele in den Leib gebannt 3), der Sünde
Sold ist hier das Leben auf Erden, welches der Seele Tod ist.
Die ganze Mannichfaltigkeit des Daseins, der Unschuld ihrer
Folge von Ursache und Wirkung entkleidet, erscheint diesen
Eiferern unter der einförmigen Vorstellung einer Verknüpfung
von Schuld und Busse, Befleckung und Reinigung.
Und die Orphiker sind es, die sich allein oder vor An-
deren mit dem Namen der „Reinen“ grüssen dürfen 4). Den
27*
[420] nächsten Lohn seiner Frömmigkeit erntet der in den orphi-
schen Weihen Geheiligte in dem Zwischenreich, in das die
Menschen nach dem irdischen Tode einzugehn haben. Wenn
der Mensch gestorben ist, führt „die unsterbliche Seele“ Her-
mes in die Unterwelt 1). Schrecken und Wonnen des unter-
irdischen Reiches offenbarten eigene Dichtungen des orphischen
Kreises 2); was von diesen Verborgenheiten die orphischen
Weihepriester verkündigten, in grober Handgreiflichkeit die
Verheissungen der eleusinischen Mysterien überbietend, mag
der populärste, wenn auch nicht der originellste Theil der
orphischen Lehre gewesen sein 3). Im Hades wartet der Seele
ein Gericht: nicht volksthümlicher Vorstellung, sondern „hei-
liger Lehre“ 4) dieser Sectirer verdankt der Gedanke einer
ausgleichenden Gerechtigkeit im Seelenreiche seine Begründung
und Ausführung. Dem Frevler wird Strafe und Reinigung im
tiefsten Tartarus 5); die in orphischen Orgien nicht Gereinigten
[421] liegen im Schlammpfuhl 1); „Schreckliches erwartet“ 2) den
Verächter des heiligen Dienstes. Nach einer, in antiker Reli-
gion ganz vereinzelt stehenden Vorstellung können „Reinigung
und Lösung“ von Frevelthaten und den Strafen, die diesen
im Jenseits folgen, auch für vorangegangene Verwandte durch
Betheiligung der Nachkommen an orphischem Dienst von den
Göttern erlangt werden 3). Das aber ist der Lohn der eigenen
Theilnahme an den orphischen Weihen, dass wer in ihnen
nicht nur Narthexschwinger, sondern wahrer Bakchos 4) ge-
worden ist, „sanfteres Loos“ hat im Reiche der Unterirdischen,
die er verehrt hat auf Erden, „auf der schönen Wiese am
tiefströmenden Acheron“ 5). Die selige Zuflucht liegt nun, da
sie nur frei gewordene Seelen aufnimmt, nicht mehr, wie das
homerische Elysion, auf der Erde, sondern drunten im Reiche
der Seelen. Dort wird der Geweihete und Gereinigte in Ge-
meinschaft mit den Göttern der Tiefe wohnen 6). Man meint
nicht griechiche, sondern thrakische Idealvorstellungen zu ver-
nehmen, wenn man hört von dem „Mahl der Reinen“ und
der ununterbrochenen Trunkenheit, derer sie geniessen 7).
Aber die Tiefe giebt zuletzt die Seele dem Lichte zurück,
drunten ist ihres Bleibens nicht. Dort lebt sie nur in der
Zwischenzeit, die den Tod von der nächsten Wiedergeburt
trennt. Den Verworfenen ist dies eine Zeit der Läuterung
und Strafe; mit dem grässlich lastenden Gedanken ewiger
Höllenstrafen können die Orphiker ihre Gläubigen noch nicht
beschwert haben. Denn wieder und wieder steigt die Seele ans
Licht hinauf, um in immer neuen Verkörperungen den Kreis
der Geburten zu vollenden. Nach ihren Thaten im früheren
Leben wird ihr im nächsten Leben vergolten werden; was er
damals Anderen gethan, genau dieses wird der Mensch jetzt
erleiden müssen 1). So erst zahlt er volle Busse für alte Schuld;
der „dreimal alte Spruch“: was du gethan, erleide, bewahr-
heitet sich an ihm noch in ganz anderer Lebendigkeit als durch
alle Qualen im Schattenreiche geschehen könnte. So wird
sicherlich auch dem Reinen durch steigendes Glück in künf-
tigen Geburten gelohnt. Wie sich die Stufenleiter des Glückes
phantastisch aufbaute, entgeht unserer Kenntniss 2).
Die Seele ist unsterblich; auch der Sünder und Unerlöste
kann nicht untergehn, Hades und Erdenleben hält sie in
ewigem Kreislauf gebannt, und das ist ihre Strafe. Aber der
7)
[423] geheiligten Seele kann nicht Hades, nicht Erdenleben den höch-
sten Kranz bieten. Ist sie in orphischen Weihen und orphi-
schem Leben aller Flecken ledig geworden, so wird sie, von
Wiedergeburt befreit, aus dem Kreise des Werdens und Ver-
gehens ausscheiden. Nicht um ins Nichts zu vergehen in end-
gültigem Tode, denn nun erst lebt sie wahrhaft, im Leibe war
sie eingesenkt wie der Leichnam im Grabe 1). Das war ihr
Tod, wenn sie in den irdischen Leib eintrat. Nun ist sie frei
und wird nie mehr den Tod erleiden, sie lebt ewig wie Gott,
die sie selbst vom Gotte stammt. Ob die Phantasie dieser
Theosophen es wagte, sich in bestimmter Vergegenwärtigung
bis in die Höhen seligen Gottlebens zu verlieren, wissen wir
nicht 2). Wir hören in den Resten ihrer Erdichtungen von
Sternen und Mond als anderen Welten 3), vielleicht als Wohn-
plätzen der verklärten Geister 4). Vielleicht auch entliess der
Dichter die aus ihrer letzten Lebenshaft entfliehende Seele ohne
ihr nachblicken zu wollen in den ungebrochenen Glanz, den
kein irdisches Auge verträgt.
Dies ist im Aufbau der orphischen Religion der alles zu-
sammenhaltende Schlussstein: der Glaube an die göttlich un-
sterbliche Lebenskraft der Seele, der die Verbindung mit dem
Leibe und seinen Trieben eine hemmende Fessel, eine Strafe
ist, deren sie, zu vollem Verständniss ihrer selbst erweckt, ledig
zu werden strebt, um in freier Kraft ganz sich selbst anzu-
gehören. Deutlich ist der volle Gegensatz dieses Glaubens zu
den Vorstellungen homerischer Welt, die der von den Kräften
des Leibes verlassenen Seele nur ein schwaches Schattenleben
bei halbem Bewusstsein zutraute, und eine Ewigkeit götter-
gleich vollkräftigen Lebens nur da sich denken konnte, wo
Leib und Seele, das zwiefache Ich des Menschen in unlösbarer
Gemeinschaft dem Reiche der Sterblichkeit entrückt wäre.
Grund und Ursprung des so ganz anders gearteten orphischen
Seelenglaubens lehren die orphischen Sagen von der Entstehung
des Menschengeschlechts uns nicht kennen: denn sie zeigen
nur den Weg — einen von mehreren Wegen 1) — auf dem
[425] die schon feststehende Ueberzeugung von der Göttlichkeit der
Seele sich aus dem, was man die älteste Geschichte der Mensch-
heit nennen könnte, ableiten und mit der orphischen Götter-
sage in Zusammenhang bringen liess. Diese Ueberzeugung,
dass im Menschen ein Gott lebe, der frei erst wird, wenn er
die Fesseln des Leibes sprengen kann, war im Dionysoscult
und seinen Ekstasen tief begründet; man darf nicht zweifeln,
dass sie mit dem schwärmerischen Dienste des Gottes fertig und
ausgebildet von den orphischen Frommen übernommen worden
ist. Schon in der thrakischen Heimath des Dionysoscultes
haben wir Spuren dieses Glaubens angetroffen. Auch Spuren
einer asketischen Lebensrichtung, wie sie aus solchem Glauben
sich leicht und natürlich entwickelt, fehlen nicht ganz in dem
was uns von thrakischer Religionsübung berichtet wird 1).
1)
[426] Schon in jenen Nordländern fanden wir mit der Dionysosreligion
den Glauben an Seelenwanderung verknüpft, der, wo er naiv
auftritt, zu wesentlicher Voraussetzung die Vorstellung hat,
dass die Seele, um volles und den Tod im Leibe überdauern-
des Leben zu haben, die Verbindung mit einem neuen Leibe
nicht entbehren könne. Den Orphikern ist eben diese Vor-
aussetzung ganz fremd. Sie halten gleichwohl die Lehre von
der Seelenwanderung fest, und verknüpfen sie in eigenthüm-
licher Weise mit ihrem Glauben an die Göttlichkeit der Seele
und deren Berufung zu reiner Freiheit des Lebens. Aber dass
sie jene Lehre selbst erdacht haben, ist offenbar nicht wahr-
scheinlich: ihre Grundvorstellungen führten nicht mit Noth-
wendigkeit zu ihr hin. Herodot 1) behauptet bestimmt, dass
die Seelenwanderungslehre aus Aegypten nach Griechenland
gekommen, und also auch den Orphikern aus ägyptischer Ueber-
lieferung zugekommen sei. Diese Behauptung, um nichts gil-
tiger als so viele Aussagen des Herodot über ägyptische Her-
kunft griechischer Meinungen und Sagen, darf uns um so
1)
[427] weniger beirren, als es keineswegs gewiss und nicht einmal
wahrscheinlich ist, dass in Aegypten ein Seelenwanderungsglaube
überhaupt bestanden hat 1). Dieser Glaube hat sich an vielen
Stellen der Erde selbständig und ohne Ueberlieferung von Ort
zu Ort gebildet 2); er konnte überall leicht von selber ent-
stehen, wo die Vorstellung herrschte, dass die „Seele“ in ihrem
Leibe hause, wie ein fremder Gast in einer Herberge, mit der
ihn keine innere Nothwendigkeit dauernd verbinde. Das ist
aber die Vorstellung der Popularpsychologie aller Völker der
Erde 3). Wenn es gleichwohl wahrscheinlicher ist, dass den
Orphikern die Vorstellung einer Wanderung der Seele durch
viele Leiber nicht spontan entstanden, sondern aus fremder
Ueberlieferung zugekommen ist, so besteht gar kein Grund, der
[428] nächstliegenden Annahme auszuweichen, dass auch diese Vor-
stellung eine der Glaubenslehren war, die mit dem Dionysos-
cult die Orphiker aus Thrakien übernommen haben. Wie
andere Mystiker 1), so haben die orphischen Theologen den
Seelenwanderungsglauben aus populärer Ueberlieferung ange-
[nommen] und ihn dem Gebäude ihrer Lehre als ein dienen-
des Glied eingefügt 2). Er diente ihnen, um dem Gedanken
einer unauflöslichen Verkettung von Schuld und Busse, Be-
fleckung und läuternder Strafe, Frömmigkeit und seliger Zu-
kunft, an dem ihre ganze religiöse Moral hing, eindrucksvolle
sinnliche Gestaltung zu geben, wie sie zu gleichem Dienste
den altgriechischen Glauben an ein Seelenreich in der Tiefe
beibehielten und ausgestalteten.
Aber der Seelenwanderungsglaube behält hier nicht das
letzte Wort. Es giebt ein Reich der ewig freien göttlich leben-
digen Seelen, zu dem die Lebensläufe in irdischen Leibern nur
Durchgangsthore sind: zu ihm weist die Heilslehre orphischer
Mysterien, die Reinigung und Heiligung orphischer Askese den
Weg.
Die orphische Lehre, in der eine religiöse Bewegung, die
seit Langem Griechenland erregt hatte, sich einen zusammen-
gefassten Ausdruck gab, könnte fast wie ein Spätling erschei-
nen, hervorgetreten zu einer Zeit in der für religiöse Deutung
der Welt und des Menschenthums kaum noch eine Stelle war.
Denn schon war im Osten, an Ioniens Küsten, eine Weltbe-
trachtung aufgegangen, die, sich selber mündig sprechend, ohne
die Leitung altüberkommenen Glaubens ihr Ziel erreichen
wollte. Was in den ionischen Seestädten, den Sammelpunkten
alles Erfahrungswissens der Menschen, an Kunde und Kennt-
niss, fremder und selbsterworbener, der „Natur“, der Erde
und der Himmelskörper, der grossen Lebenserscheinungen in
dieser Welt erhabener Betrachtung zusammenströmte, das
strebte in den, ewiger Verehrung würdigen Geistern, in denen
sich damals die Naturwissenschaft und jede Wissenschaft über-
haupt zuerst begründete, nach Einheit und Gliederung, nach
Ordnung zu einem allumfassenden Ganzen. Aus Beobachtung
und ordnender Betrachtung wagte ein phantasievolles Denken
ein Bild der Welt und der gesammten Wirklichkeit sich auf-
zubauen. Und wie nun in dieser Welt nirgends ein für immer
Starres und Todtes angetroffen wurde, so drang der Gedanke
vor bis zu dem ewig Lebendigen, das dieses All erfüllt und
bewegt und immer neu erbaut, bis zu den Gesetzen, nach
denen es wirkt und wirken muss.
Hier schritt der Geist dieser ersten Pfadfinder der Welt-
weisheit voran, in voller Freiheit von aller Befangenheit in
mythisch-religiöser Vorstellungsweise. Wo der Mythus und
eine aus ihm erwachsene Theologie eine Geschichte höchster
Weltbegebenheiten sah, die sich in einzelnen und einmaligen
[430] Handlungen der bewussten Willkür göttlicher Persönlichkeiten
vollzog, da erkannte der Denker ein Spiel ewiger Kräfte, in
die einzelnen Acte einer historischen Handlung nicht zerlegbar,
weil es, anfangslos und endlos, von jeher in Bewegung war
und rastlos immer gleich sich abrollt nach unveränderlichem
Gesetze. Hier schien kein Raum zu bleiben für Göttergestalten,
die der Mensch nach seinem eigenen Bilde geschaffen hatte
und als lenkende Weltmächte verehrte. Und in der That wurde
hier der Anfang gemacht zu jener grossen Arbeit der freien
Forschung, der es endlich gelang, aus eigener Fülle neue Ge-
dankenwelten zu erbauen, in denen wohnen konnte, wer, da die
alte Religion, die eben damals auf der glänzendsten Höhe äus-
serer Entwicklung innerlich ins Wanken kam, ihm abgethan
und versunken war, doch nicht ins Nichts fallen mochte.
Dennoch hat eine grundsätzliche Auseinandersetzung und
vollbewusste Scheidung zwischen Religion und Wissenschaft in
Griechenland niemals stattgefunden. In wenigen einzelnen
Fällen drängte sich der Religion des Staates die Wahrnehmung
ihrer Unvereinbarkeit mit laut geäusserten Meinungen einzel-
ner Philosophen auf, und sie machte ihre Ansprüche auf Allein-
herrschaft gewaltsam geltend; zumeist flossen durch Jahrhun-
derte beide Strömungen in gesonderten Betten neben einander
her, ohne einander feindlich zu begegnen. Der Philosophie
fehlte von Anbeginn der propagandistische Zug (und auch wo
er spät, wie bei den Cynikern, hervortrat, that er der Herr-
schaft der Staatsreligion kaum erheblichen Eintrag); die Religion
wurde durch keine priesterliche Kaste vertreten, die mit dem
Glauben zugleich ihr eigenstes Interesse verfochten hätte.
Theoretische Gegensätze konnten um so leichter verhüllt und
unbeachtet bleiben, weil die Religion auf ein festes Dogma,
ein weltumspannendes Ganzes von Meinungen und Lehren sich
keineswegs stützte, Theologie, wo solche um die Götterver-
ehrung (εὐσέβεια), als den Kern der Religion, sich schlang, so
gut wie die Philosophie die Sache Einzelner und der An-
hänger war, welche diese ausserhalb des Bereiches der Staats-
[431] religion um sich sammeln mochten. Die Philosophie hat (von
einzelnen besonders gearteten Fällen abgesehen) den offenen
Kampf mit der Religion nicht gesucht, auch nicht etwa die
überwundene Religion in den Ueberzeugungen grosser Massen
abgelöst. Ja, das Nebeneinander von Philosophie und Religion,
selbst Theologie, erstreckte sich in manchen Fällen aus dem
thatsächlichen äusseren Leben bis in die abgeschlossene Ge-
dankenwelt des einzelnen Forschers. Es konnte scheinen, dass
Philosophie und religiöser Glaube Verschiedenes zwar, aber
eben auch aus verschiedenen Reichen des Daseins berichteten;
und auch ernstlich philosophisch Gesinnte konnten in aller
Ehrlichkeit glauben, der Philosophie nicht untreu zu werden,
wenn sie aus dem Glauben der Väter einzelne, selbst grund-
legende Vorstellungen entlehnten, um sie friedlich neben den
philosophischen Eigenmeinungen anzupflanzen.
Was die ionischen Philosophen im Zusammenhang ihrer
kosmologischen Betrachtungen über die menschliche Seele zu
sagen hatten, brachte sie, so neu und erstaunlich es auch war,
nicht unmittelbar in Gegensatz und Streit mit der religiösen Mei-
nung. Mit denselben Worten bezeichneten philosophische und
religiöse Ansicht ganz verschiedene Begriffe; es war nur natür-
lich, wenn von dem Verschiedenen Verschiedenes ausgesagt wurde.
Die volksthümliche Vorstellung, der die homerische Dich-
tung Ausdruck giebt, und mit welcher, bei allem Unterschied
in der Werthabschätzung von Seele und Leib, auch die religiöse
Theorie der Orphiker und anderer Theologen übereinstimmt,
kannte und bezeichnete als „Psyche“ ein geistig-körperliches
Eigenwesen das, woher immer gekommen, im Inneren des
lebendigen Menschen Wohnung genommen hatte, dort als
dessen zweites Ich sein besonderes Leben führte, von dem es
Kunde gab, wenn dem sichtbaren Ich das Bewusstsein ge-
schwunden war, im Traum, in der Ohnmacht, in der Ekstase 1).
[432] So werden Mond und Sterne sichtbar, wenn das hellere Licht
der Sonne sie nicht mehr verdunkelt. Dass dieser Doppel-
gänger des Menschen, von diesem zeitweilig getrennt, ein Son-
derdasein haben könne, war mit seinem Begriff schon gegeben;
dass er im Tode, welcher eben die dauernde Trennung des
sichtbaren Menschen vom unsichtbaren ist, nicht untergehe,
sondern nur frei werde, um allein für sich weiterzuleben, war
naheliegender Glaube.
Auf dieses Geisterwesen und die dunklen Kundgebungen
seiner Anwesenheit im lebendigen Menschen richtete die Philo-
sophie der Ionier ihre Aufmerksamkeit nicht. Sie lebt mit
ihren Gedanken im All der Welt; sie sucht nach den „Ur-
sprüngen“ (ἀρχαί) alles Gewordenen und Werdenden, nach den
einfachen Urbestandtheilen der vielgestaltigen Erscheinung, und
nach der Kraft, die aus dem Einfachen das Mannigfaltige bil-
det, indem sie die Urstoffe durchwaltet, bewegt und belebt.
Die Lebenskraft, die Kraft, sich selbst und anderes, das für
sich allein starr und regungslos wäre, zu bewegen, ist allem
Dasein verschmolzen; wo sie, im geschlossenen Einzelwesen,
sich am kenntlichsten darstellt, ist sie es, was diese Philosophen
„Psyche“ nennen.
So aufgefasst ist die Psyche etwas ganz anderes als jene
Psyche des Volksglaubens, die den Lebensäusserungen ihres
Leibes wie ein Fremdes müssig zusieht, und auf sich selbst
concentrirt ihr verborgenes Einzelleben führt. Der Name dieser
sehr verschiedenen Begriffe bleibt gleichwohl derselbe. Die
Kraft, die den sichtbaren Leib bewegt und belebt, die Lebens-
kraft des Menschen, seine „Psyche“ zu nennen, konnte die
Philosophen ein Sprachgebrauch veranlassen, der, wiewohl
homerischen Vorstellungen, genau genommen, widersprechend,
schon in den homerischen Gedichten bisweilen bemerklich ist
und später immer geläufiger geworden zu sein scheint 1). Ge-
[433] nauer betrachtet ist die „Psyche“ dieser Philosophen eine zu-
sammenfassende Benennung jener Kräfte des Sinnens, Stre-
bens, Wollens (νόος, μένος, μῆτις, βουλή), zu oberst des mit einem
Worte anderer Sprachen nicht zu bezeichnenden ϑυμός, die
nach homerisch-volksthümlicher Zutheilung ganz dem Bereiche
des sichtbaren Menschen und seines Leibes zufallen 1), Aeus-
1)
Rohde, Seelencult. 28
[434] serungen seiner, freilich erst durch den Zutritt der „Psyche“
zu wirklichem Leben erwachenden eigenen Lebenskraft, der
„Psyche“ des homerischen Sprachgebrauchs fast entgegenge-
setzt, im Tode vergehend, wenn die Psyche zu abgesondertem
Schattenleben von dannen schwebt.
Aber die Seele hat nach der Vorstellung der Physiologen
ein ganz anderes Verhältniss zu der Gesammtheit des Lebens
und des Lebendigen, als der homerische ϑυμός oder die home-
rische „Psyche“ haben konnten. Dieselbe Kraft, die in der
Psyche des Menschen, wie in einer örtlichen Anhäufung, be-
sonders bemerklich wird, wirkt und waltet in allem Stofflichen,
als das Eine Lebendige, das die Welt bildet und erhält. Die
Psyche verliert ihre unterscheidende Eigenthümlichkeit, die sie
von allen übrigen Dingen und Wesenheiten der Welt absonderte
und unvergleichbar machte. Mit Unrecht finden späte Bericht-
erstatter schon bei diesen ionischen Denkern, denen Lebens-
kraft und Stoff unmittelbar und unlöslich vereint erschienen,
die Vorstellung einer für sich bestehenden Weltseele. Nicht
als Ausstrahlung der Einen Seele der Welt erschien ihnen die
einzelne Menschenseele, aber auch nicht als ein schlechthin
für sich bestehendes, einzigartiges und mit nichts Anderem
vergleichbares Wesen. Was in ihr sich darstellt, das ist die
Eine Kraft, die überall, in allen Erscheinungen der Welt,
Leben wirkt und selbst das Leben ist. Dem Urgrund der
1)
[435] Dinge selbst seelische Eigenschaften leihend, konnte die Physio-
logie den „Hylozoisten“, zwischen ihm und der „Seele“ eine
gegensätzliche Unterscheidung nicht festhalten. So ihrer Son-
derung enthoben, gewinnt die Seele eine neue Würde; in einem
andern Sinne als bei den Mystikern und Theologen, kann sie
auch hier, als theilhabend an der Einen Kraft, die das Welt-
all baut und lenkt, als ein göttliches gedacht werden. Nicht
ein einzelner Dämon lebt in ihr, aber Gottnatur ist in ihr
lebendig.
Je inniger sie mit dem All zusammenhängt, desto weniger
wird freilich die Seele ihr Sonderdasein, das sie, solange sie
den Leib belebt und bewegt, nur zu Lehen trägt, bewahren
können, wenn der Leib, der Träger dieses Sonderdaseins, vom
Tode ereilt wird. Diese ältesten Philosophen, deren Blick
durchaus auf das grosse Gesammtleben der Natur gerichtet
blieb, werden es kaum als in ihrer Aufgabe gelegen betrachtet
haben, über die Schicksale der kleinen Einzelseele bei und nach
dem Tode des Leibes eine Lehrmeinung zu entwickeln. Keinen-
falls können sie von Unsterblichkeit der Seele in dem Sinne
geredet haben wie die Mystiker, welche der Psyche, von der
sie redeten, einem in die Leiblichkeit von aussen eingetretenen
und von dieser rein abtrennbaren Geisteswesen, eine Fähigkeit
gesonderten Weiterlebens zusprechen konnten, die sich einer
völlig dem Stoffe und dessen Bildungen inhaftenden Kraft der
Bewegung und Empfindung, welche den Physiologen Seele hiess,
unmöglich zuschreiben liess.
Dennoch behauptet alte Ueberlieferung, Thales von Milet,
dessen Geist zuerst den Weg philosophirender Naturbetrach-
tung betrat, habe als Erster „die Seelen (der Menschen) un-
sterblich genannt“ 1). In Wahrheit kann er, der „Seele“ auch
im Magneten, in der Pflanze erkannte 2), Stoff und Kraft der
28*
[436] „Seele“ die ihn bewegt, unzertrennlich dachte, von einer „Un-
sterblichkeit“ der menschlichen Seele in keinem anderen Sinne
geredet haben, als er auch von Unsterblichkeit aller Seelen-
kräfte der Natur hätte reden können. Wie der Urstoff, der
aus eigener Lebendigkeit wirkt und schafft, so ist die All-
kraft, die ihn erfüllt 1), unvergänglich, unverlierbar, wie sie un-
geworden ist. Sie ist ganz Leben, und kann niemals „ge-
storben“ sein.
Von dem „Unbestimmten“, aus dem alle Dinge sich durch
Ausscheidung entwickelt haben, das alles umfasst und lenkt,
sagt Anaximander, dass es nicht altere, unsterblich sei und
unvergänglich 2). Von der menschlichen Seele als Sonderwesen
kann dies nicht gelten sollen; denn wie alle Einzelbildungen
aus dem „Unbestimmten“ muss „nach der Ordnung der Zeit“
auch sie das „Unrecht“ ihres Einzeldaseins büssen 3) und in
dem Einen Urstoff sich wieder verlieren.
Nicht in anderem Sinne als Thales hätte der Dritte in
dieser Reihe, Anaximenes von Milet, die Seele „unsterblich“
nennen können, die ihm wesensgleich ist 4) mit dem göttlichen 5),
ewig bewegten, alles aus sich erzeugenden Urelement der Luft.
In der Lehre des Heraklit von Ephesus tritt stärker
als bei den älteren Ioniern in der unlöslich gedachten Ver-
bindung von Stoff und Bewegungskraft die lebendige Kraft des
Urwesens hervor, des All und Einen 1), aus dem durch Ver-
wandlung das Viele und Einzelne entsteht. Jenen gilt der
Stoff, bestimmt benannt oder nicht nach einer einzelnen Quali-
tät bestimmt, wie selbstverständlich zugleich als belebt und be-
wegt. Bei Heraklit ist der Urgrund aller Mannichfaltigkeit
der Bildungen die absolute Lebendigkeit, die Kraft des Wer-
dens selbst, die zugleich als ein bestimmter Stoff, oder einem
der bekannten Stoffe analog gedacht ist. Das Lebendige und
so auch diejenige Form des Lebendigen, die im Menschen er-
scheint, müssen ihm wichtiger werden als seinen Vorgängern.
Der Träger der nie ruhenden, anfanglosen und nie enden-
den Werdekraft und Werdethätigkeit ist das Heisse, Trockene,
benannt mit dem Namen des Elementarzustandes, der ohne
Bewegung nicht gedacht werden kann, des Feuers. Das stets
lebendige (ἀείζωον) Feuer, das periodisch sich entzündet und
periodisch erlischt (fr. 20), ist ganz Bewegung und Lebendig-
keit. Leben ist alles, Leben aber ist Werden, sich Wandeln,
anders werden ohne Rast. Jede Erscheinung treibt schon in
dem Moment ihres Hervortretens ihr Gegentheil aus sich her-
vor; Geburt, Leben und Tod und neue Geburt schlagen, wie
in den Gebilden des Blitzes (fr. 28), in Einem flammenden
Augenblick zusammen.
Was so in ewiger Lebendigkeit sich regt, im Werden allein
sein Sein hat, sich wandelt, und in „zurückstrebender Span-
nung“ sich selbst wiederfindet, ist ein vernunftbegabtes, nach
Vernunft und „Kunst“ bildendes, die Vernunft (λόγος) selbst.
Es verliert sich in der Weltbildung an die Elemente; sein
„Tod“ (fr. 66. 67) ist es, wenn es im „Wege abwärts“ zu
Wasser, zu Erde wird (fr. 21). Es giebt eine Werthabstufung
[438] in den Elementen, die sich nach ihrem Abstande von dem
bewegten und aus sich selbst lebendigen Feuer bestimmt. Was
in der Mannichfaltigkeit der Welterscheinungen seine Gottnatur,
die feurige noch bewahrt, das heisst dem Heraklit „Psyche“.
Psyche ist Feuer 1). Feuer und Psyche sind Wechselbegriffe 2).
Und so ist auch die Psyche des Menschen Feuer, ein Theil
der allgemeinen feurigen Lebensfülle, die sie umfangen hält,
durch deren „Einathmung“ sie sich selbst lebendig erhält 3),
der Weltvernunft, an der theilnehmend sie selbst vernünftig ist.
Im Menschen lebt der Gott 4). Nicht, wie nach der Lehre der
Theologen, senkt er sich als geschlossene Individualität in die
Hülle des einzelnen menschlich Lebendigen hernieder; als Ein-
heit umfluthet er den Menschen und reicht wie mit feurigen
Zungen in ihn hinein. Seiner Allweisheit ein Theil 5) lebt in
der Seele des Menschen; je „trockener“, feuriger, dem Allfeuer
näher, den unlebendigeren Elementen ferner geblieben diese ist,
um so weiser wird sie sein (fr. 74. 75. 76). Sich absondernd
von der Allvernunft wäre die Menschenseele nichts, sie soll,
im Denken wie im Handeln und sittlichen Thun, sich hingeben
dem Einen Lebendigen, das sie „ernährt“ und das Vernunft
und Gesetz der Welt ist (fr. 91. 92. 100. 103).
Aber auch die Seele ist ein solcher Theil des Allfeuers,
der bereits in den Wechsel der Daseinsformen hineingezogen
[439] ist, vom Leibe umfangen, in die Leiblichkeit verflochten. Es
besteht hier nicht der starre unvermittelbare Gegensatz zwischen
„Leib“ und „Seele“, wie er auf dem Standpunkt der theolo-
gischen Betrachtung erscheint. Die Elemente des Leibes,
Wasser und Erde, sind ja entstanden und entstehen fortwäh-
rend aus dem Feuer, das sich gegen alles umtauscht und gegen
alles eingetauscht wird (fr. 22). So ist es die „Seele“, das
bildende Feuer, die sich selbst den Körper baut. „Seele“,
d. i. Feuer, wandelt sich unaufhörlich in die niederen Elemente;
es findet nicht ein Gegensatz zwischen jenen und diesen, son-
dern ein fliessender Uebergang statt.
Auch im Leibe gefangen ist die „Seele“ in rastloser Um-
wandlung begriffen. Sie nicht minder als alles andere. Kein
Ding in der Welt kann sich auch nur einen Augenblick in dem
Bestand seiner Theile unverändert erhalten; an der stetigen
Bewegung und Wandlung seines Wesens hat es sein Leben.
Die Sonne selbst, der grösste Feuerkörper, wird jeden Tag
eine andere (fr. 32). So ist auch die Seele zwar, vom Leibe
unterschieden, eine für sich bestehende Substanz, aber eine
solche, die sich selbst niemals gleich bleibt. In unaufhörlichem
Stoffwechsel verändert, verschiebt sich immerfort ihr Bestand.
Sie verliert ihr Lebensfeuer an die niederen Elemente; sie
gewinnt neues Feuer hinzu aus dem lebendigen Feuer des Alls,
das sie umfängt. Von bleibender Identität der Seele, der see-
lischen Person mit sich selbst kann nicht die Rede sein. Was
in dem ununterbrochenen Process des Ab- und Zuströmens
wie Eine Person sich zu erhalten scheint, ist in Wahrheit eine
Reihe von Personen und Seelen, die sich ablösen, eine der
anderen sich nach und nach unterschieben.
So stirbt die Seele schon im Leben fortwährend, um
immer wieder neu aufzuleben, das abgehende Seelenleben durch
neues zu ergänzen, zu ersetzen. So lange sie sich aus dem
umgebenden Weltfeuer ergänzen kann, lebt das Individuum.
Absonderung von dem Quell alles Lebens, dem lebendigen All-
feuer der Welt, wäre sein Tod. Zeitweilig verliert die Einzel-
[440] seele den lebengebenden Zusammenhang mit der „gemein-
samen Welt“: im Schlaf und Traume, der sie in ihre eigene
Welt einschliesst (fr. 94. 95), und schon ein halber Tod ist.
Zeitweilig auch neigt die Seele zu einer nicht wieder durch
neues Feuer ersetzten Umbildung in Feuchtigkeit: der Trun-
kene hat eine „feuchte Seele“ (fr. 73). Und es kommt der
Augenblick, in dem die Seele des Menschen nicht mehr er-
setzen kann, was bei der Umwandlung der Stoffe ihr an Lebens-
feuer entzogen wird. Dann stirbt sie. Die letzte der An-
sammlungen lebendigen Feuers, die in ihrer Aufeinanderfolge
die menschliche „Seele“ darstellten, ereilt der Tod 1).
Einen Tod in absoluter Bedeutung, ein Ende, dem kein
Anfang wieder folgte, einen unbedingten Abschluss des Werdens
giebt es in Heraklit’s Welt nirgends. „Tod“ ist ihm nur der
[441] Punkt, an welchem ein Zustand in einen anderen umschlägt,
ein relatives Nichtsein, Tod des Einen, aber gleichzeitig Ge-
burt und Leben des Andern (fr. 25. [64]. 66. 67). Tod so-
gut wie Leben ist ihm ein positiver Zustand. „Es lebt das
Feuer der Erde Tod, und die Luft lebt des Feuers Tod; das
Wasser lebt den Tod der Luft, die Erde den Tod des Wassers“
(fr. 25). Das Eine, das in allem ist, ist zugleich todt und
lebendig (fr. 78), unsterblich und sterblich (fr. 67), ein ewiges
„Stirb und Werde“ bewegt es. Auch der „Tod“ des Men-
schen muss ein Uebertritt aus dem positiven Zustand seines
Lebens in einen anderen positiven Zustand sein. Der Tod
ist für den Menschen da, wenn die „Seele“ nicht mehr in ihm
ist. Es bleibt nur der Leib übrig, allein für sich nicht besser
als Dünger (fr. 85). Die Seele — wo blieb sie? Sie muss
sich gewandelt haben; Feuer war sie, nun hat sie „den Weg
abwärts“ beschritten, ist Wasser geworden, um dann Erde zu
werden. So muss es ja allem Feuer geschehn. Im Tode
„erlischt“ (fr. 77) das Feuer im Menschen. „Den Seelen ist
es Tod, Wasser zu werden“, sagt Heraklit bestimmt genug
(fr. 68) 1). Die Seele muss zuletzt diesen Weg beschreiten und
beschreitet ihn willig; der Wechsel ist ihr Lust und Erholung
(fr. 83). Die Seele hat sich also in die Elemente des Leibes
verwandelt, sich an den Leib verloren.
Aber sie kann auch in dieser Umwandlung nicht beharren.
„Den Seelen ist es Tod, Wasser zu werden; dem Wasser ist
es Tod, Erde zu werden. Aus Erde aber wird Wasser, aus
Wasser Seele“ (fr. 68). So stellt sich in dem rastlosen Ab
und Auf des Werdens, auf dem „Wege aufwärts“, aus den
niederen Elementen „Seele“ wieder her. Aber nicht die Seele,
die einst den bestimmten Menschen belebt hatte, von deren
[442] geschlossener Selbstgleichheit in dem Ab- und Zuströmen des
Feuergeistes schon im Leibesleben nicht geredet werden konnte.
Die Frage nach einer individuellen Unsterblichkeit oder auch
nur Fortdauer der Einzelseele hat für Heraklit kaum einen
Sinn. Auch unter der Form der „Seelenwanderung“ kann er
sie nicht bejaht haben 1). Dass Heraklit ein unverändertes
Bestehen der Seele des einzelnen Menschen, mitten in dem
nie gehemmten Strome des Werdens, in dem jedes Beharren
nur ein Sinnentrug ist, nicht ausdrücklich behauptet haben
kann, ist gewiss. Aber auch dass er, seiner eigensten Grund-
vorstellung zum Trotz, diese populäre Annahme, mit einer
Lässlichkeit, die seiner Art gar nicht entspricht, wenigstens
zugelassen habe, ist nicht glaublich 2). Was hätte ihn dazu
[443] verleiten können? Man beruft sich wohl auf die Mysterien,
aus denen er diese Meinung, als eine ihrer wichtigsten Lehren,
2)
[444] entlehnt habe 1). Aber auf die Mysterien, und das was man
ihre „Lehre“ nennen könnte, wirft (wie auch auf andere stark
hervortretende Erscheinungen des erregten religiösen Lebens
seiner Zeit 2) Heraklit nur vereinzelte Blicke, um sie mit seiner
eigenen Lehre, mehr unterlegend als auslegend, in Verbindung
zu setzen. Er zeigt, dass sie mit seiner Lehre, die ihm alle
Erscheinungen der Welt erklären zu können schien, sich in
Einklang setzen liessen 3); dass er umgekehrt seine Lehre mit
2)
[445] den Mysterien in Einklang zu setzen versucht, dass diese ihm
die Richtung seines Denkens gewiesen oder gar ihn verleitet
hätten, von seiner selbstgefundenen Strasse abzuweichen, davon
zeigt sich nirgends eine Spur.
Das Individuum in seiner Absonderung hat für Heraklit
keinen Werth und keine Bedeutung; ein Beharren in dieser
Absonderung (wenn es möglich wäre) würde ihm als Frevel er-
schienen sein 1). Unsterblich, unverlierbar ist ihm das Feuer als
Ganzes; nicht seine Absonderung in einzelnen Partikeln, sondern
allein der Eine Allgeist, der sich in Alles verwandelt, und alles
in sich zurücknimmt. Die Seele des Menschen hat nur als eine
Ausstrahlung dieser Allvernunft an deren Unvergänglichkeit
Antheil; auch sie, wenn sie sich an die Elemente verloren hat,
findet sich immer wieder. In „Bedürfniss“ und „Sättigung“
(fr. 24. 36) wechselt ewig dieser Process des Werdens. Einst
wird das Feuer alles „ereilen“ (fr. 26); der Gott wird dann
ganz bei sich sein. Aber das ist nicht das Ziel der Welt;
Verwandlung, Werden und Vergehen werden nie zum Ende
kommen. Und sie sollen es nicht; „der Streit“ (fr. 43), der die
Welt geschaffen hat und immer neu umgestaltet, ist das innerste
Wesen des Alllebendigen, das er bewegt in unersättlicher Werde-
lust. Denn eine Lust, eine Erholung ist allen Dingen der
Wechsel (fr. 72. 83), das Kommen und Gehen im Spiel des
Werdens.
Es ist das Gegentheil einer quietistischen Stimmung, was
aus der gesammten Lehre des Heraklit, aus dem in lauter
[446] starken Accenten fortschreitenden Posaunenklang seiner Rede
ertönt, in der er machtvoll gehobenen Geistes wie ein Pro-
phet das letzte Wort der Weisheit verkündigt. Er weiss wohl,
wie nur Mühe die Erquickung der Ruhe, Hunger die Sätti-
gung, Krankheit die Lust der Gesundheit hervorrufen kann
(fr. 104); das ist das Gesetz der Welt, welches die Gegen-
sätze, einen aus dem anderen erzeugend, innig und nothwendig
verknüpft. Ihm beugt er sich, ihm stimmt er zu; und so wäre
auch ein Beharren der Seele in that- und wandelloser Selig-
keit, selbst wenn es denkbar wäre 1), ihm nicht einmal ein Ziel
seiner Wünsche.
Von Ioniens Küsten war, schon vor der Zeit des Hera-
klit, das Licht philosophischer Betrachtung nach dem Westen
getragen worden durch Xenophanes von Kolophon, den ein
unstätes Leben nach Unteritalien und Sicilien verschlagen
hatte. Seinem feurigen Geiste wurde die abgezogenste Be-
trachtung zu Leben und Erlebniss, der Eine bleibende Grund
des Seins, auf den er unverwandt den Blick richtete, zur All-
gottheit, die ganz Wahrnehmen und Denken ist, ohne Ermü-
dung durch das Denken ihres Geistes alles umschwingt, ohne
Anfang und Ende, unverändert sich gleich bleibt. Was er
von dem Gotte, der ihm mit der Welt eines ist, aussagt, wird
die Grundlage für die ausgebildete Lehre der Philosophen von
Elea, die, im ausgesprochenen Gegensatz zu Heraklit 2), alle
Bewegung, Werden, Veränderung, Eingehn in die Vielheit von
dem Einen, ohne Rest den Raum füllenden Seienden aus-
schliessen, das, aller zeitlichen und räumlichen Entwicklung
enthoben, selbstgenugsam in sich geschlossen verharrt.
Dieser Vorstellung gilt die ganze Mannichfaltigkeit der
Dinge, die sich der Sinneswahrnehmung aufdrängt, als eine
Illusion. Illusion ist auch das Bestehen einer Vielheit beseelter
Wesen, wie die ganze Natur ein Trugbild ist. Nicht von der
„Natur“, von dem Inhalte der thatsächlichen Erfahrung, ging
die Philosophie des Parmenides aus. Ohne alle Hilfe der
Erfahrung, lediglich durch Schlussfolgerungen aus einem ein-
zigen zu Grunde gelegten, nur im Denken zu erfassenden Be-
griff (des „Seins“) will sie die ganze Fülle der Erkenntniss
gewinnen. Den philosophischen Naturforschern Ioniens war
auch die Seele ein Theil der Natur, die Seelenkunde ein
Theil der Naturkunde gewesen: und dieses Eintauchen des
Seelischen in das Physische war in ihrer Seelenlehre das
Eigenthümliche, das sie von volksthümlicher Psychologie wesent-
lich unterschied. Galt nun die ganze Natur nicht mehr als
Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntniss, so musste auch die
Herleitung der Psychologie aus der Physiologie dahinfallen.
Im Grunde konnte es bei diesen „Aphysikern“ 1) eine Seelen-
lehre überhaupt nicht geben.
Mit einer, neben der unerschrockenen Folgerichtigkeit
ihrer rein auf die übersinnliche Verstandeserkenntniss begrün-
deten Betrachtungsweise überraschenden Nachgiebigkeit räumten
gleichwohl die Eleaten dem Augenschein und dem Zwang sinn-
licher Wahrnehmung so viel ein, dass sie eine Theorie physi-
kalischer Entwicklung der Vielheit der Erscheinungen zwar aus
ihren eigenen Grundsätzen nicht ableiteten, aber doch, unver-
mittelt und unvermittelbar, neben ihre starre Seinslehre stellten.
Schon Xenophanes hatte eine, solchermaassen nur bedingt
giltige Physik entworfen. Parmenides entwickelte im zweiten
Theil seines Lehrgedichtes, in „trüglichem Schmucke der
Worte“, nicht verlässliche Rede über das wahre Wesen der
Dinge, sondern „menschliche Meinungen“ von dem Werden
[448] und Bilden in der Welt der Vielheit. Nicht anders können
die physiologischen Meinungen verstanden werden, die selbst
Zeno von Elea, der verwegenste dialektische Vorkämpfer der
Lehre vom unbewegten AllEinen, vorbrachte. Im Zusam-
menhang solcher Physiologie, aber auch unter dem gleichen
Vorbehalt, unter dem diese vorgetragen wurde, haben die ele-
atischen Philosophen von Wesen und Herkunft der Seele ge-
redet. Und wie sie ihre Physik ganz nach dem Vorbilde
älterer Naturphilosophie ausgestalten, so sehen sie auch das
Verhältniss des Seelischen zum Körperlichen ganz aus dem
Standpunkte dieser ihrer Vorgänger an. Dem Parmenides
(v. 146 ff. Mull.) ist der Geist (νόος) des Menschen abhängig
von der Mischung der zwei Bestandtheile, aus denen alles,
und auch sein Leib, sich zusammensetzt, dem „Licht“ und
der „Nacht“ (dem Warmen und Kalten, Feuer und Erde).
Denn das was geistig thätig ist, ist eben für den Menschen
die „Natur seiner Glieder“; die Art der Gedanken wird be-
stimmt durch den in dem einzelnen Menschen überwiegenden
der zwei Grundbestandtheile. Selbst der Todte hat noch (wie
er noch einen Leib hat) Empfindung und Wahrnehmung, aber,
verlassen von dem Warmen und Feurigen, nur noch des Kalten,
des Dunklen und des „Schweigens“. Alles Seiende hat einige
Erkenntnissfähigkeit 1). Man kann nicht völliger die „Seele“
in die Leiblichkeit verstricken, als hier der kühne Vernunft-
denker thut, der doch die Wahrnehmung durch die Sinne des
Leibes so bedingungslos verwarf. Die „Seele“ ist ihm hier
offenbar nicht mehr eine eigene Substanz, sondern nur ein
Ergebniss materieller Mischung, ein Thätigkeitszustand der ver-
bundenen Elemente. Nicht anders dem Zeno, dem „Seele“
eine gleichmässige Mischung aus den vier Grundeigenschaften
der Stoffe, dem Warmen, Kalten, Trockenen und Feuchten
hiess 2).
Neben solchen Ausführungen überrascht es, zu vernehmen,
dass Parmenides von der „Seele“ auch dieses ausgesagt habe,
dass die weltregierende Gottheit sie „bald aus dem Sichtbaren
in das Unsichtbare sende, bald umgekehrt“ 1). Hier wird die
Seele nicht mehr als ein Mischungsverhältniss der Stoffe ge-
dacht, sondern als ein selbständiges Wesen, dem eine Prae-
existenz vor seinem Eintritt in das „Sichtbare“, d. h. vor dem
Leben im Leibe zugetraut wird, und eine Fortdauer nach dem
Abscheiden aus dem Reiche der Sichtbarkeit, ja ein mehrmals
wechselnder Aufenthalt hier und dort. Unterscheidet Parme-
nides diese selbständig existirende Seele von dem, was in der
Mischung der Elemente wahrnimmt und als Geist (νόος) denkt,
an die Elemente und ihre Zusammenfügung zum Leibe aber
auch, mit seiner Existenz, gebunden ist? Offenbar ist jeden-
falls, dass von der, wechselnd im Sichtbaren und im Unsicht-
baren lebenden Psyche Parmenides nicht als Physiologe redet,
sondern wie ein Anhänger orphisch-pythagoreischer Theosophie.
Er konnte, indem er sein Wissen um die „Wahrheit“, das un-
veränderliche Sein, sich selbst vorbehielt, unter den „Meinungen
der Menschen“ da, wo er nur hypothetisch redete, eine beliebige
Auswahl treffen; wo er als Praktiker in ethisch gerichtetem Sinne
redete, mochte er sich den Vorstellungen der Pythagoreer an-
schliessen, mit denen er in engem Zusammenhang lebte 2).
Die ionische Physiologie, den Blick auf das Ganze der
Natur und die Erscheinungen des Lebens in allen Tiefen und
Fernen des Weltalls gerichtet, hatte den Menschen, eine kleine
Welle in diesem Ocean des Werdens und Gestaltens, fast aus
dem Auge verloren. Eine Philosophie, welche Erkenntniss des
Wesens menschlicher Natur zu einer ihrer Hauptaufgaben
machen, und mehr als dieses, dem Menschen aus der Ein-
gebung ihrer Weisheit Gang und Ziel des Lebens bestimmen
wollte, musste andere Wege einschlagen.
So that es Pythagoras von Samos. Was dieser seine
„Philosophie“ nannte 1), hatte im Wesentlichen ein praktisches
Ziel. Weil er einen bestimmten Weg der Lebensführung
wies, darum wurde Pythagoras so ausnehmend verehrt, sagt
Plato 2). Eine eigenthümliche Gestaltung des Lebens, auf
ethisch-religiöser Grundlage, bildete er aus. Wie weit seine
„Vielwisserei“ 3), die ohne Zweifel den Keim pythagoreischer
2)
[451] Wissenschaft bereits enthielt, sich in seinen eigenen Händen
systematisch entfaltet haben mag, ist unbestimmbar. Fest
steht, dass er in Kroton einen Bund stiftete, der in der Folge
sich und die strengen Formen, nach denen er die Lebensweise
seiner Mitglieder bestimmte, weit über die achäischen und dori-
schen Städte des italischen „Grossgriechenlandes“ ausbreitete.
In diesem Bunde gewann eine tiefbedachte Auffassung des
Menschenlebens und seiner Aufgaben eine sichtbare Bethäti-
gung ihrer Grundsätze; und dies ausgerichtet zu haben muss
als die That und das eigenthümliche Verdienst des Pythagoras
gelten. Die Grundlagen dieser Lebensauffassung, soweit sie
nicht etwa von Anfang an in mystischer Zahlenweisheit wurzelte,
waren keineswegs von Pythagoras zum ersten Mal gelegt; neu
und wirksam war die Macht der Persönlichkeit, die dem Ideal
Leben und Körper zu geben vermochte. Was verwandten
Bestrebungen im alten Griechenlande gefehlt haben muss, hier
fand es sich in einem hohen Menschen, der den Seinen Vor-
bild, Beispiel, zum Anschluss und zur Nacheiferung zwingen-
der Führer wurde. Eine centrale Persönlichkeit, um die sich
der Kreis einer Gemeinde wie durch innere Nöthigung zog.
Frühzeitig erschien dieser Gemeindestifter der Verehrung wie
ein Uebermensch, einzig und Niemanden vergleichbar. Verse
des Empedokles 1), der doch selbst zur pythagoreischen Ge-
meinde nicht gehörte, geben davon Kunde. Und den Anhängern
gar wurde Pythagoras in der Erinnerung zum Heiligen, ja zum
Gott in Menschengestalt, von dessen Wunderthaten die Legende
erzählte. Uns ist es schwer gemacht, unter dem Flimmer des
3)
29*
[452] Heiligenscheins die wirklichen Züge des Menschen noch einiger-
maassen zu erkennen.
Seine Lehre, kraft deren er freilich seine Anhänger zu
einer viel vollständigeren und engeren Lebensgemeinschaft zu-
sammenband als irgend eine orphische Secte, muss in allem
Wesentlichen übereingekommen sein mit dem, was in orphischer
Theologie unmittelbare Beziehung auf religiöses Leben hatte.
Auch er wies den Weg zum Heil der Seele; in der Seelen-
lehre also hat seine Weisheit vornehmlich ihre Wurzeln.
Soweit unsere dürftige und unsichere Kunde reicht, lässt
sich als Kern der pythagoreischen Seelenlehre Folgendes fest-
halten.
Die Seele des Menschen, hier wieder ganz als der
Doppelgänger des sichtbaren Leibes und seiner Kräfte gefasst,
ist ein dämonisch unsterbliches Wesen 1), aus Götterhöhe einst
herabgestürzt, und zur Strafe in die „Haft“ des Leibes ein-
[453] geschlossen 1). Sie hat zum Leibe keine innere Beziehung, ist
nicht das, was man die Persönlichkeit dieses einzelnen sicht-
baren Menschen nennen könnte: in einem beliebigen Leibe
wohnt eine beliebige Seele 2). Scheidet sie der Tod vom Leibe,
so muss sie nach einer Zeit der Läuterung im Hades 3) auf
die Oberwelt zurückkehren. Unsichtbar schweben die Seelen-
bilder um die Lebenden 4); in den Sonnenstäubchen und ihrer
zitternden Bewegung sahen Pythagoreer schwebende „Seelen“ 5).
Die ganze Luft ist voll von Seelen 6). — Auf Erden aber muss
die Seele einen neuen Leib aufsuchen, und das zu vielen
[454] Malen. So wandert sie durch Menschen- und Thierleiber einen
langen Weg 1). Wie Pythagoras selbst an die früheren Ver-
körperungen seiner Seele die Erinnerung bewahrt hatte (und
davon zu Lehr und Mahnung der Gläubigen Kunde gab), be-
richteten alte Legenden 2). Die Seelenwanderungslehre nahm
[455] auch hier eine Richtung auf religiös-sittliche Erweckung. Nach
den Thaten des früheren Lebens werden die Bedingungen der
2)
[456] neuen Verkörperung und der Inhalt des neuen Lebenslaufes
2)
[457] bestimmt. Was sie damals gethan, das muss sie nun, als
Mensch wiedergeboren, an sich erleiden 1).
Es ist daher für das gegenwärtige Leben und die künf-
tigen Lebensgestaltungen von höchstem Werthe, die Heilsord-
nung zu kennen und zu befolgen, die Pythagoras den Seinen
weist. In Reinigungen und Weihen, in einer ganz nach diesem
Zwecke geordneten „Pythagoreischen Lebensweise“ 2) „dem
Gotte zu folgen“ 3), leitet der Bund seine Getreuen an. Viel
von der altgeheiligten ritualen Symbolik muss in dieser pytha-
goreischen Askese eine Stelle gefunden haben 4). Die asketisch
[458] theologische Moral, ihrer Natur nach wesentlich negativ, war
auch hier auf eine Abwehr des von aussen her die Seele um-
strickenden und befleckenden Bösen eingeschränkt 1). Es gilt
nur, die Seele rein zu bewahren; nicht sie sittlich umzubilden,
nur sie von fremdem Uebel zu befreien. Unveränderlich steht
die Thatsache ihrer Unsterblichkeit, ihrer Ewigkeit fest: wie
sie von jeher war, so wird sie für immer sein und leben 2).
Sie aus diesem Erdenleben endlich ganz herauszuheben und
einem göttlich freien Dasein zurückzugeben, war jedenfalls
letztes Ziel 3). —
Die praktische Weisheit des Pythagoreerthums ist begrün-
det auf einer Vorstellung, welche die „Seele“ von der „Natur“
3)
[460] durchaus unterschieden, ja dieser entgegengesetzt sieht. Sie
ist in das natürliche Leben verstrickt, aber als in eine ihr
fremde Welt, in welcher sie sich als geschlossenes Einzelwesen
unvermindert erhält, aus der sie für sich allein sich ablöst, um
neue und immer neue Verbindungen einzugehen. Wie sie über-
weltlichen Ursprungs ist, so wird sie auch, aus den Banden
des Naturlebens befreit, zu einem übernatürlichen Geisterdasein
einst zurückkehren können.
Von allen diesen Vorstellungen ist keine auf dem Wege
wissenschaftlichen Denkens gewonnen. Die Physiologie, die
Wissenschaft von der Welt und allen ihren Erscheinungen,
konnte niemals zu dem Gedanken einer Lostrennung der Seele
von der Natur und ihrem Leben führen. Nicht aus griechi-
scher Wissenschaft, aber auch nicht, wie antike Ueberlieferung
uns will glauben machen, aus der Fremde hat Pythagoras
seine Glaubenssätze von der, aus überweltlicher Höhe in die
irdische Natur gesunkenen, durch viele Leiber ihre Pilgerschaft
vollendenden, zuletzt durch Reinigungen und Weihen zu be-
freienden Seele entlehnt. Er mag seinen Reisen manches zu ver-
danken gehabt haben, einem ägyptischen Aufenthalt etwa (wie
später Demokrit) mathematische Anregungen und sonst vieles
von der „Gelehrsamkeit“, die ihm Heraklit zuschreibt. Seine
Seelenlehre dagegen giebt in ihren wesentlichen Zügen nur die
Phantasmen alter volksthümlicher Psychologie wieder, in der
3)
[461] Steigerung und umgestaltenden Ausführung, die sie durch die
Theologen und Reinigungspriester, zuletzt durch die Orphiker
erfahren hatte. In diese Reihe stellt den Pythagoras mit rich-
tiger Schätzung die Ueberlieferung, wenn sie ihn zum Schüler
des Pherekydes von Syros, des Theologen, macht1).
Man kann nicht daran zweifeln, dass schon Pythagoras
den Grund auch zu der pythagoreischen Wissenschaft gelegt,
die Lehre vom Bau des Weltalls, auch wohl die Erklärung
alles Seins und Werdens in der Welt aus den Zahlen und
ihren Verhältnissen, als dem wesenhaften Untergrund der Dinge,
mindestens in den ersten Zügen seinen Anhängern vorgezeichnet
habe. Dann bewegte sich das lange nur in loser Fühlung
neben einander, die Lebensleitung nach mystisch-religiöser
Weisheit, die freilich ein weiteres Wachsthum kaum erfahren
konnte, und die Wissenschaft, die sich zu einem ansehnlichen
System auswuchs, je mehr, nach dem Zusammenbruch des
pythagoreischen Bundes und seiner Verzweigungen am Anfang
des fünften Jahrhunderts, die verstreuten Mitglieder des Ver-
eins, mit den wissenschaftlichen Bestrebungen anderer Kreise
in Berührung gebracht, von der, nur auf dem Boden der Ge-
meinde auszuübenden Verwirklichung des praktischen Ideals
pythagoreischen Lebens zu einsamer wissenschaftlicher Betrach-
tung abgedrängt wurden. Die pythagoreische Wissenschaft, ein
Bild der ganzen Welt aufbauend, zog, nicht anders als die
ionische Physiologie, die Seele aus der Vereinzelung, ja
gegensätzlichen Stellung gegenüber der Natur, in der sie pytha-
goreische Theologie festgehalten hatte. Mit einer, der mathema-
tisch-musikalischen Theorie entsprechenden Auffassung nannte
Philolaos die Seele die Harmonie der zum Körper vereinig-
ten entgegengesetzten Bestandtheile 1). Aber, wenn die Seele
1)
[463] nur die Bindung der Gegensätze zum Einklang und zur Ein-
heit ist, so wird sie mit der Lösung der zusammengebundenen
Elemente, im Tode, verschwunden und vergangen sein 1). Es
ist schwer verständlich, wie mit dieser Vorstellung der alt-
pythagoreische Glaubenssatz von der als selbständiges Wesen
im Leibe wohnenden und diesen überdauernden, ja ewig leben-
den Seele vereinigt werden konnte. Waren die zwei Vorstel-
lungen ursprünglich gar nicht bestimmt, mit einander vereinigt
zu werden, aber auch nicht, sich auszuschliessen? Alte Ueber-
lieferungen reden von geschiedenen Classen der Anhänger des
Pythagoras, die auch verschiedene Gegenstände, Weisen und
Ziele der Betrachtung hatten; und man kann geneigt sein,
diesen Ueberlieferungen nicht allen Glauben zu versagen, wenn
man beachtet, wie wenig in der That pythagoreische Wissen-
schaft und pythagoreischer Glaube zusammen hängen 2).
Aber freilich, derselbe Philolaos, der die Seele als Har-
monie ihres Körpers kennt, redet auch von den Seelen als
selbständigen und unvergänglichen Wesen. Man kann im Zwei-
fel sein, ob sich diese unvereinbaren Aussagen eines und des-
selben Mannes [überhaupt] auf den gleichen Gegenstand be-
ziehen. Der konnte ja von der Einen Seele sehr mannich-
faltig reden, der innerhalb der Seele verschiedene Theile, von
denen verschiedenes galt, unterschied: wie das zuerst in der
pythagoreischen Schule geschehen ist 1).
Empedokles von Akragas gehörte nicht zur pythagorei-
schen Schule (deren äusserer Verband zu seinen Lebzeiten
gelöst war); er kommt aber in seinen Meinungen und Lehren
von der Seele des Menschen, ihren Schicksalen und Aufgaben,
pythagoreischen Dogmen so nahe, dass an deren Einfluss auf
die Ausbildung dieses Theils seiner Ueberzeugungen nicht ge-
zweifelt werden kann. Er umfasste in seinem vielseitigen Be-
streben auch die Naturforschung, und hat die Studien der
ionischen Physiologen mit Eifer und einem ausgesprochenen
Sinn für Beobachtung und Combinirung der Naturerscheinun-
gen fortgesetzt. Aber die Wurzeln seiner eigenthümlichen Art,
des Pathos, das ihn hob und trug, lagen in einer, von wissen-
schaftlicher Naturergründung ganz abgewendeten Praxis, in der
er wie in einem glänzenden Nachspiel das Thun des Mantis,
Reinigungspriesters und Wunderarztes des sechsten Jahrhun-
derts in einer schon sehr veränderten Zeit darstellt. Wie er,
mit Kränzen und Binden geschmückt, von Stadt zu Stadt
zog, wie ein Gott geehrt, von Tausenden befragt, „wo doch
1)
Rohde, Seelencult. 30
[466] zum Heile die Strasse“, schildert der Eingang seiner „Reini-
gungen“ 1); seinen Jünger Pausanias will er, nach eigensten
Erfahrungen, lehren alle Heilmittel und ihre Kräfte, und die
Künste, Winde zu stillen und zu erregen, Trockenheit und
Regen zu bewirken, aus dem Hades die schon Verstorbenen
heraufzuführen 2). Er rühmt sich selbst, ein Zauberer zu sein,
und „zaubern“ sah ihn sein Schüler Gorgias 3). In ihm ge-
winnen jene Bestrebungen der Katharten, Sühnpriester und
Seher, die eine schon zur Vergangenheit versinkende Zeit als
höchste Weisheit verehrt hatte, Stimme und litterarischen Aus-
druck, den Ausdruck vollster persönlicher Ueberzeugung von
der Thatsächlichkeit ihrer die Natur überwältigenden Kräfte
und von der Gottähnlichkeit des zu dieser fast übermensch-
lichen Gewalt des Naturzwanges Aufgestiegenen. Als ein
Gott, ein unsterblicher, dem Tod nicht mehr drohe, ziehe er
durch das Land, so versichert Empedokles selbst 4). Er mag
vielerorten Glauben gefunden haben. Zwar eine geregelte Ge-
nossenschaft von Jüngern und Anhängern, eine Secte, hat er
nicht versammelt; dies scheint auch nicht in seiner Absicht
gelegen zu haben. Aber er, als Einzelner und Unvergleich-
licher, in der Wucht und Würde seiner selbstvertrauenden
Persönlichkeit, der als Mystiker und Politiker in die irdische
Gegenwart seiner Zeitgenossen regelnd eingriff, und über alle
Zeit und Zeitlichkeit hinaus in ein seliges Gottesdasein als
Ziel des Menschenlebens hinüberwies, muss einen tiefen Ein-
[467] druck gemacht haben auf die Menschen, unter denen er lebte 1),
und aus deren Mitte er freilich, wie ein Komet entschwindend,
schied, ohne dauernde Nachwirkung. Manche Legenden geben
noch Kunde von der Verwunderung, die seine Erscheinung
begleitete, zumal jene Sagen die, in wechselnder Gestalt, von
seinem Ende berichten 2). Alle wollen ausdrücken, dass er,
wie seine eigenen Verse es verkündet hatten, bei seinem Ab-
scheiden nicht mehr den Tod erlitten habe; er sei verschwun-
den, mit Leib und Seele zugleich entrückt worden zu gött-
lich ewigem Leben, wie einst Menelaos und so manche Helden
des Alterthums, wie einzelne Heroen auch jüngerer Zeit 3).
Wieder einmal zeigt sich in dieser Sage die alte Vorstellung
30*
[468] als immer noch lebendig, nach welcher unsterbliches Leben
nur bei nie gelöster Vereinigung der Psyche mit ihrem Leibe
gewonnen werden kann. Dem Sinne des Empedokles thaten
solche Sagen schwerlich genug. Wenn er sich selbst als einen
Gott pries, der nicht mehr sterben werde, so meinte er jeden-
falls nicht, dass seine Psyche ewig an seinen Leib gebunden
bleiben werde, sondern gerade im Gegentheil, dass sie, im
„Tode“, wie es die Menschen nennen 1), befreit von diesem
ihrem letzten Leibesgewande 2), niemals wieder in einen Leib
eingehen müsse, sondern in freier Göttlichkeit ewig leben werde.
Seine Vorstellung von dem bewussten Weiterleben der Psyche
war von der homerischen, auf der jene Entrückungssagen be-
ruhten, so verschieden wie nur möglich.
Empedokles vereinigt in sich in eigenthümlicher Weise
die nüchternsten Bestrebungen einer nach Kräften rationellen
Naturforschung mit ganz irrationalem Glauben und theologischer
Speculation. Bisweilen wirkt ein wissenschaftlicher Trieb auch
bis in den Bereich seines Glaubens hinüber 3). Zumeist aber
stehen in seiner Vorstellungswelt Theologie und Naturwissen-
schaft unverbunden neben einander. Als Physiolog der Erbe
einer schon reich und nach vielen Richtungen entwickelten
Gedankenarbeit der älteren Generationen von Forschern und
Denkern, weiss er Anregungen von den verschiedensten Seiten
zu einem, ihm selbst genugthuenden Ganzen selbständig zu
verknüpfen. Ein Werden und Vergehen, eine qualitative Ver-
änderung leugnet mit den Eleaten auch er, aber das behar-
rende Seiende ist ihm nicht ein untheilbar Eines. Es giebt
vier „Wurzeln“ der Dinge, die vier Massen der Elemente, die
in dieser Abgränzung er zuerst bestimmt unterschied. Mi-
schung und Trennung der, ihrer Art nach unveränderlichen
[469] Elementartheile sind es, die den Schein des Werdens und Ver-
gehens hervorrufen; beide werden bewirkt durch zwei, von den
Elementen sich bestimmt absondernde Kräfte der Anziehung
und Abstossung, Liebe und Hass, die in dem Werdeprozess
sich bekämpfen und besiegen, so dass zuletzt, bei völliger
Ueberwindung der einen der beiden Kräfte, entweder Alles
vereinigt oder Alles getrennt, in beiden Fällen eine gegliederte
Welt nicht vorhanden ist. Der gegenwärtige Weltzustand ist
ein solcher, in dem die „Liebe“, der Zug zur Verschmelzung
alles Geschiedenen, überwiegt; an seinem Ende steht eine völ-
lige Vereinigung alles Getrennten bevor, die Empedokles, auch
als Naturkundiger ein Quietist, als das wünschenswertheste
Ziel preist.
In dieser, nur mechanisch bewegten und veränderten Welt,
aus deren Entwicklung Empedokles durch eine geniale Wen-
dung jeden Gedanken an Zwecksetzung fern zu halten weiss,
giebt es auch Seelen, oder vielmehr seelische Kräfte, die ganz
in ihr wurzeln. Ausdrücklich unterscheidet Empedokles die
sinnliche Wahrnehmung von der Denkkraft 1). Jene kommt
zustande, indem von den Elementen, aus deren Mischung das
wahrnehmende Wesen gebildet ist, ein jedes mit dem gleichen
Elemente in den Gegenständen der Wahrnehmung durch die
„Wege“, die das Innere des Leibes mit dem Aeusseren ver-
binden, in Berührung tritt und seiner so gewahr wird 2). Das
„Denken“ hat seinen Sitz im Herzblute, in welchem die Ele-
[470] mente und ihre Kräfte am gleichmässigsten gemischt sind.
Vielmehr, eben dieses Blut ist das Denken und die Denk-
kraft 1); der Stoff und seine vitalen Functionen fallen auch
dem Empedokles noch völlig zusammen. Unter dem Denken-
den oder dem „Geiste“ ist hier ersichtlich nichts gedacht was
einer substantiell bestehenden „Seele“ gliche, sondern ein die
einzelnen Sinnesthätigkeiten zusammenfassendes und einigendes
Vermögen 2), das nicht minder als die einzelnen Kräfte der
Wahrnehmung an die Elemente, die Sinne, den Körper ge-
bunden ist 3). Mit der Beschaffenheit des Körpers wechseln
auch sie 4). Beide, Wahrnehmung und Denken, sind, als Lebens-
äusserungen der in den organischen Wesen gemischten Stoffe,
in allen Organismen vorhanden, im Menschen, in den Thieren
und selbst in den Pflanzen 5).
Benennt man die Summe solcher geistigen Kräfte mit
dem Namen der „Seele“ 6), der sonst einem gemeinsamen blei-
[471] benden Substrat der wechselnden seelischen Bethätigungen
vorbehalten bleibt, so kann man, in Verfolgung des Gedanken-
ganges des Philosophen, die „Seele“ nur für vergänglich er-
klären. Mit dem Tode und der Vernichtung eines Einzeldinges
lösen sich die Elementarbestandtheile aus der Verbindung, die
sie bisher zusammenhielt, und die „Seele“, die hier nichts als
ein oberstes Ergebniss jener Verbindung wäre, muss mit deren
Auflösung auch verschwinden, wie sie mit der Vereinigung der
Elemente einst entstanden war 1).
Es könnte scheinen, als ob Empedokles selbst weit ent-
fernt gewesen sei, solche Folgerungen aus seinen eigenen Vor-
aussetzungen zu ziehen. Niemand redet eindringlicher und
bestimmter von den, im Menschen und auch in anderen Ge-
bilden der Natur wohnenden seelischen Eigenwesen. Sie gel-
ten ihm als Dämonen, die, in die Körperwelt gesunken, viele
Lebensformen zu durchwandern haben, bis sie endlich auf Er-
lösung hoffen dürfen.
In der Einleitung seines Gedichtes von der Natur berich-
tete er, nach eigenen Erfahrungen und nach den Belehrungen
der Dämonen, die einst seine Seele in dieses irdische Jammer-
thal 2) herabgeleitet hatten, wie nach altem Götterschluss und
6)
[472] dem Zwang der Nothwendigkeit ein jeder Dämon, der sich
durch Blutvergiessen und Genuss des Fleisches lebender Wesen
„verunreinigt“ 1) oder einen Meineid geschworen hat 2), auf
lange Zeit 3) aus dem Kreise der Seligen verbannt werde. Er
stürzt herab auf die „Wiese des Unheils“, in das Reich der
Widersprüche 4), die Höhle des Elends auf dieser Erde, und
muss nun viele „beschwerliche Wege des Lebens“ 5) durch-
2)
[473] wandern in wechselnden Verkörperungen. „Und so war ich
selbst schon ein Knabe, so war ich ein Mädchen, war ein
Gesträuch und ein Vogel, ein sprachloser Fisch in der Salz-
fluth (V. 11. 12).“ Dieser Dämon, der zur Strafe seines
Frevels durch die Gestalten von Menschen und Thiere und
selbst Pflanzen wandern muss, ist offenbar nichts anderes als
was der Volksmund und auch die Theologen die „Psyche“
nennen, der Seelengeist 1). Was von dessen göttlichem Ur-
sprung, Verfehlung und Strafverbannung in irdische Leiber
die Anhänger der Seelenwanderungslehre längst zu berichten
wussten, wird von Empedokles in allem wesentlichen nur, wie-
wohl in deutlicherer Fassung, wiederholt 2). Auch wo er, als
Lehrer des Heils, die Mittel angiebt, durch die in der Reihen-
folge der Geburten günstigere Lebensformen und Lebensbedin-
gungen erlangt und zuletzt Befreiung von Wiedergeburt er-
reicht werden könne 3), folgt Empedokles dem Vorbild der
Reinigungspriester und Theologen älterer Zeit. Es gilt, den
Dämon in uns rein zu erhalten von Befleckungen, die ihn an
das irdische Leben fester binden. Hierzu dienen vor allem die
religiösen Reinheitsmittel, die Empedokles nicht anders als
jene alten Katharten verehrt. Es gilt, von jeder Art der
[474] „Sünde“ 1) den inneren Dämon fern zu halten, ganz besonders
von Blutvergiessen und dem Genuss von Fleischnahrung, dem
ein Mord verwandter Dämonen, die in den geschlachteten
Thieren wohnen, vorausgegangen sein müsste 2). Durch Rein-
heit und Askese (die auch hier eine positiv den Menschen
umbildende Moral unnöthig machen) wird ein Stufengang zu
reineren und besseren Geburten bereitet 3); zuletzt werden die
also Geheiligten wiedergeboren als Seher, Dichter, Aerzte, als
Führer unter den Menschen 4), und nach Ueberwindung auch
dieser obersten Stufen des Erdenlebens kehren sie zurück zu
[475] den anderen Unsterblichen, selbst Götter, von menschlichen
Leiden entbunden, vom Tode frei und unvergänglich 1). Sich
selbst sieht Empedokles auf der letzten Stufe schon angekom-
men; anderen weist er den Weg da hinauf.
Zwischen dem, was hier der Mystiker von den schon vor-
her in göttlichem Dasein lebendigen, in die Welt der Elemente
hineingeworfenen, aber an sie nicht für immer gebundenen
Seelen sagt, und dem was der Physiolog von den, den Ele-
menten innewohnenden, an den, aus Elementen aufgebauten
Körper gebundenen und mit dessen Auflösung vergehenden
Seelenkräften lehrte, scheint ein unlöslicher Widerspruch zu
zu bestehen. Man darf auch, um die ganze und wahre Mei-
nung des Empedokles zu fassen, weder einen Theil seiner Aus-
sagen bei Seite setzen 2), noch durch begütigende Auslegung
eine Einstimmigkeit des Philosophen mit sich selbst herstellen
wollen 3), wo doch deutlich zwei Stimmen laut werden. Die
zwei Stimmen sagen nicht dasselbe; dennoch besteht, im Sinne
des Empedokles, kein Widerspruch zwischen ihren Aussagen:
denn diese beziehen sich auf ganz verschiedene Gegenstände.
Die seelischen Kräfte und Vermögen des Empfindens und
Wahrnehmens, welche Functionen des Stoffes sind, in diesem
erzeugt und nach ihm bestimmt, das Denken, welches nichts
anderes ist als das Herzblut des Menschen, weder bilden sie
zusammen das Wesen und den Inhalt jenes Seelengeistes, der
in Mensch, Thier und Pflanze wohnt, noch sind sie dessen
Thätigkeitsäusserungen. Sie sind ganz an die Elemente und
deren Mischung, im Menschen an den Leib und seine Organe
gebunden, Kräfte und Vermögen dieses Leibes, nicht eines
eigenen unsichtbaren Seelenwesens. Der Seelendämon ist nicht
aus den Elementen erzeugt, nicht ewig an sie gefesselt. Er
[476] fällt in diese Welt, in der als bleibende Bestandtheile nur die
drei Elemente und die zwei Kräfte der Liebe und des Hasses
anzutreffen sind 1), herein aus einer andern Welt, der Welt der
Geister und Götter, zu seinem Unheil, als in ein Fremdes;
die Elemente werfen ihn einander zu, „und hassen ihn alle“
(V. 35). Wohl tritt diese, mitten in feindlich fremder Um-
gebung für sich allein lebende Seele nur in solche irdische
Gebilde ein, die selbst schon Sinne, Empfindung und Wahr-
nehmung, auch Verstand oder Denkkraft als Blüthe ihrer ma-
teriellen Zusammenfügung haben; aber sie ist mit diesen seeli-
schen Kräften so wenig identisch wie mit den Stoffmischungen
und im besonderen, im Menschen, mit dem Herzblut. Sie be-
steht unvermischt und unvermischbar neben dem Leibe und
seinen Kräften, die allerdings erst mit ihr vereint Leben haben
„was man so Leben nennt“ (V. 117), von ihr getrennt der
Vernichtung verfallen, aber nicht auch sie, die zu anderen
Wohnplätzen weiter wandert, in die Vernichtung reissen.
In dieser eigenthümlich dualistischen Lehre spiegelt sich
die zwiefache Sinnesrichtung des Empedokles wieder; er meinte
wohl, in dieser Weise die Einsichten des Physiologen und
des Theologen vereinigen zu können. Unter Griechen mag der
Gedanke einer solcher Zwiespältigkeit des inneren Lebens
weniger befremdlich erschienen sein als er uns erscheinen muss.
Die Vorstellung einer „Seele“, die als selbständiges, einheit-
lich geschlossenes Geisteswesen in dem Leibe wohnt, der die
geistigen Thätigkeiten des Wahrnehmens, Empfindens, Wol-
lens und Denkens nicht von ihr empfängt, sondern durch seine
eigene Kraft verrichtet — diese Vorstellung stimmt ja im
Grunde überein mit den Annahmen volksthümlicher Seelen-
kunde, die in Homers Gedichten überall dargelegt oder voraus-
gesetzt werden 2). Nur dass diese dichterisch-volksthümliche
Ansicht nach den Eingebungen theologisch-philosophischer Spe-
[477] culation näher bestimmt und gestaltet ist. Wie tief griechi-
schem Geiste jene im letzten Grunde aus Homer ererbte An-
schauungsweise eingeprägt war, zeigt sich daran, dass eine der
empedokleischen nahe verwandte Vorstellung von dem zwie-
fachen Ursprung, Wesen und Wirkungskreis seelischer Thätig-
keit auch in geläuterter Philosophie immer wieder auftaucht,
nicht nur bei Plato, sondern sogar bei Aristoteles, welcher
neben der, in der leiblich-organischen Natur des Menschen
waltenden und sich darstellenden „Seele“ noch einen, aus gött-
lichem Geschlecht stammenden, in den Menschen „von aussen“
hineingetretenen, von der Seele und dem Leibe trennbarem
„Geist“ (νοῦς) anerkennt, der allein auch den Tod des Menschen,
dem er zuertheilt war, überdauern soll 1). Auch bei Empe-
dokles ist es ein fremder Gast aus fernem Götterland, der in
den Menschen eintritt, ihn zu beseelen. Er steht dem „Geist“
des Aristoteles weit nach an philosophischer Würde; dennoch
hat auch in der Einführung dieses Fremdlings in die aus den
Elementen und deren Lebenskräften aufgebaute Welt ein Ge-
fühl von der völligen Unvergleichbarkeit des Geistes mit allem
Materiellen, seiner wesenhaften Verschiedenheit von diesem sich
einen, wenn auch theologisch eingeschränkten Ausdruck ge-
geben.
In dem Lichte theologischer Betrachtung erscheint freilich
dem Empedokles die Seele wesentlich verschieden auch von
ihrem Urbilde, der homerischen Psyche, die nach der Trennung
vom Leibe nur noch ein schattenhaftes Traumdasein verdäm-
mert. Sie ist ihm göttlichen Geschlechts, zu edel für diese Welt
der Sichtbarkeit, aus der geschieden sie erst volles und wirk-
liches Leben haben wird. In den Leib gebannt, hat sie darin
ihr abgesondertes Wesen; nicht die alltägliche Wahrnehmung
und Empfindung fällt ihr zu, auch nicht das Denken, das ja
nichts anderes ist als das Herzblut; allenfalls in der „höheren“
[478] Erkenntnissweise der ekstatischen Erregung ist sie thätig 1),
ihr allein ist wohl auch der philosophische Tiefblick eigen, der,
über die sinnliche Auffassung eines beschränkten Erfahrungs-
gebietes hinausdringend, die Gesammtheit des Weltwesens nach
seiner wahren Beschaffenheit erkennt 2). Auf sie allein be-
ziehen sich alle Forderungen sittlich-religiöser Art; Pflichten
in diesem höheren Sinne hat nur sie; sie hat etwas von der
Natur des „Gewissens“. Ihre oberste Pflicht ist, sich selbst
zu erlösen aus der unseligen Vereinigung mit dem Leibe und
[479] den Elementen dieser Welt; die Vorschriften der Reinigung
und Askese gelten nur ihr.
Zwischen diesem Seelendämon, der nach seiner Götter-
heimath zurückstrebt, und der Welt der Elemente besteht kein
inneres und nothwendiges Band; dennoch aber, da sie einmal
mit einander verflochten sind, ein gewisser Parallelismus der
Bestimmung und des Schicksals. Auch in der mechanisch be-
wegten Naturwelt streben die gesonderten Einzelerscheinungen
zurück zu ihrem Ursprung, zu der innig verschmolzenen Einheit,
von der sie einst ausgegangen sind. Einst wird, nach Ver-
drängung alles Streites, volle „Liebe“ herrschen, und das ist
dem Dichter, dem sich auch in die Schilderung dieser Welt
mechanischer Anziehung und Abstossung, ethische Untergedan-
ken einschleichen 1), der Zustand voller Güte und Seligkeit.
Giebt es einst keine Welt mehr, so wird, bis sich aufs neue
eine solche bildet, auch kein Seelendämon mehr an die Einzel-
organismen einer Welt gefesselt sein können. Sind sie dann
alle zurückgekehrt zu der seligen Gemeinschaft der ewigen
Götter? Es scheint, dass auch die Götter und Dämonen (und
demnach auch die in die Welt als „Seelen“ eingeschlossenen
Geister) dem Empedokles nicht ein ewiges Leben haben sollen:
„lang lebend“ nennt er sie wiederholt, Ewigkeit schreibt er
ihnen mit Bestimmtheit nirgends zu 2). Auch sie sollen eine
[480] Zeit lang „tiefsten Ruhens Glück“ geniessen, indem, wie die
Elemente und Kräfte zu der Einheit des Sphairos, sie in der
Einheit des göttlichen Allgeistes zusammengehen, um erst bei
einer neuen Weltbildung auch ihrerseits aufs neue zu indivi-
duellem Sonderdasein hervorzutreten 1).
Aus dem Versuche des Empedokles, ein vollentwickeltes
hylozoistisches System (das indessen, in der Einfügung der
treibenden Mächte des Streites und der Liebe, selbst schon
einen dualistischen Keim aufgenommen hatte) mit einem aus-
schweifenden Spiritualismus zu verschwistern, lässt sich sehr
2)
[481] deutlich die Wahrnehmung erläutern, dass eine philosophirende
Naturwissenschaft für sich allein zu einer Bekräftigung des
Axioms der Fortdauer oder gar Unvergänglichkeit der indivi-
duellen „Seele“ nach ihrer Trennung vom Leibe nicht führen
konnte. Wem die Behauptung dieses Axioms ein Bedürfniss
blieb, der konnte ihm eine Stütze nur dadurch geben, dass er
die Physiologie durch theologische Speculation verdrängte,
oder, wie es Empedokles versuchte, ergänzte.
Dieser Versuch, das Unvereinbare zu vereinigen, der auch
in den Kreisen, die einer wissenschaftlichen Betrachtung zu-
gänglich waren, wenig Anhänger gefunden haben kann, war
nicht geeignet, die physiologische Philosophie von ihren bis
dahin verfolgten Bahnen abzulenken. Bald nach Empedokles,
und in den Grundgedanken kaum beeinflusst durch ihn, ent-
wickelten Anaxagoras und Demokrit ihre Lehrsysteme, in denen
die selbständige ionische Denkarbeit ihre letzten Blüthen trieb.
Demokrit, der Begründer und Vollender der Atomenlehre,
nach der es „in Wirklichkeit“ nur die untheilbaren kleinsten,
qualitativ nicht gesonderten, aber nach Gestalt, Lage und Ord-
nung im Raume, auch nach Grösse und Gewicht verschiede-
nen materiellen Körper, und den leeren Raum giebt, musste
auch die „Seele“, die gerade dem Materialisten leicht als ein sub-
stantiell für sich bestehendes Eigending erscheinen mag, unter
jenen kleinsten Körpern suchen, aus denen sich alle Gebilde der
Erscheinungswelt zusammensetzen. Die Seele ist das, was den
aus eigener Kraft nicht bewegbaren Körpermassen die Bewegung
verleiht. Sie besteht aus den runden und glatten Atomen,
welche in der allgemeinen Unruhe, die alle Atome umtreibt,
die beweglichsten, weil der Ortsveränderung den wenigsten
Widerstand entgegensetzenden, überall am leichtesten eindrin-
genden sind. Diese Atome bilden das Feuer und die Seele.
Zwischen je zwei andere Atome eingeschaltet 1), ist es das
Seelenatom, welches diesen seine Bewegung mittheilt; und so
Rohde, Seelencult. 31
[482] geht von den gesammten, durch den Leib gleichmässig ver-
theilten seelischen Atomen die Bewegung des Körpers aus,
zugleich aber (in einer freilich unfassbaren Weise) die ebenfalls
auf einer Bewegung beruhende Wahrnehmung und das darauf
begründete Denken eben dieses Körpers. Bei Leibesleben er-
hält sich der Bestand der Seelenatome durch die Athmung,
welche die, durch den Druck der umgebenden Atmosphäre
fortwährend aus dem Ganzen des Atomencomplexes hinausge-
pressten glatten Seelentheile ersetzt, indem sie aus der Luft,
die von schwebenden Seelenatomen erfüllt ist, immer neuen
Seelenstoff einzieht und dem Körper zuführt. Einmal aber
genügt der Athem diesem Dienste nicht mehr. Dann tritt der
Tod ein, welcher eben eine Folge der mangelnden Zuführung
der bewegenden und beseelenden Atome ist 1). Mit dem Tode
löst sich die Verbindung der Atome, deren Vereinigung diesen
einzelnen lebenden Organismus bildete. Die Seelenatome, nicht
anders als alle übrigen Atome, vergehen nicht, sie wandeln
ihre Art nicht, aber aus der lockeren Anhäufung, in der sie,
auch im lebendigen Leibe, kaum eine geschlossene, unter Einem
Gesammtnamen zusammenzufassende Einheit bildeten, lösen
sie sich nun gänzlich. Es ist, bei dieser Vorstellung von dem
Wesen des Seelischen und Lebengebenden, schwer begreiflich,
wie, als eine Resultante von lauter selbständigen Einzelwir-
kungen unverbundener Einzelkörper, die Einheit des lebendi-
gen Organismus und des seelischen Wesens entstehen könne;
[483] um so einleuchtender ist es, dass eine einheitliche „Seele“ sich
nach der Lösung der zum Organismus vereinigten Atome,
die der Tod bringt, unmöglich erhalten könne. Die Seelen-
atome zerstreuen sich 1), sie treten zurück in die schwebende
Masse der Weltenstoffe. Der Mensch vergeht nach dieser Be-
trachtungsweise im Tode gänzlich 2). Die Stoffe, aus denen er
31*
[484] gebildet und gebaut war, sind unvergänglich und neuen Bil-
dungen vorbehalten, seine Persönlichkeit aber, wie seine sicht-
bare so seine unsichtbare, seine „Seele“, hat nur ein einmaliges,
zeitlich begrenztes Dasein. Eine Fortdauer der Seele nach
dem Tode, eine Unsterblichkeit, in welchem Sinne man sie
auch verstehen mag, wird hier zum ersten Male in der Ge-
schichte des griechischen Denkens ausdrücklich geleugnet; der
Atomist zieht mit der ehrlichen Bestimmtheit, die ihn aus-
zeichnet, die Consequenzen seiner Voraussetzungen.
Anaxagoras schlägt dieser materialistischen Lehre fast
entgegengesetzte Wege ein. Als erster entschiedener und be-
wusster Dualist unter den griechischen Denkern, setzt er dem
materiellen Untergrund des Seins, der unendlichen Menge der
nach ihren Eigenschaften bestimmten und von einander ver-
schiedenen, ununterscheidbar aber durch einander gemischten
„Saamen“ der Dinge eine Kraft gegenüber, die er offenbar aus
ihnen nicht abzuleiten wusste, benannt wie sonst das Denk-
vermögen des einzelnen Menschen, und jedenfalls nach Analogie
dieses Vermögens vorgestellt 1). Dieser „Geist“, einfach, un-
vermischt und unveränderlich, wird mit solchen Beiwörtern be-
2)
[485] schrieben, dass man das Bestreben des Anaxagoras, ihn von
allem Materiellen verschieden, selbst immateriell und unkörper-
lich zu denken, nicht verkennen kann 1). Er ist zugleich Denk-
vermögen und Willenskraft; von ihm ist bei der Weltbildung
die erste wirbelnde Bewegung der an sich bewegungslosen
Masse der Stoffe mitgetheilt, und die Bildung bestimmter Ge-
stalten nach bewusster Zweckmässigkeit begonnen, deren Durch-
führung dann freilich nach rein mechanischen Gesetzen, ohne
Zuthun des „Geistes“ sich vollziehen soll. Dieser, die Welt
nicht schaffende aber planvoll ordnende „Geist“, der nach der
bewussten Einsicht seiner Allweisheit 2) die Stoffe beeinflusst,
selbst von ihnen unbeeinflusst bleibt, sie bewegt ohne selbst
bewegt zu sein 3), der Vielheit der Dinge als untheilbar Einer
gegenübersteht 4), „mit nichts ausser ihm etwas gemein hat“ 5),
sondern sich allein für sich hält 6) — wie soll man ihn sich
anders denken denn als eine, fast persönlich vorgestellte,
ausserweltliche Gotteskraft, der Welt des Stofflichen fremd
entgegenstehend, von aussen (magisch, nicht mechanisch) sie
beherrschend?
Aber dieser Jenseitige ist zugleich ein völlig Diesseitiger.
1)
[486] Wo in dieser Welt sich Leben und selbständige Bewegung
zeigt, da muss der Geist, als deren Ursache, thätig sein. „Alles
was Seele hat, beherrscht der Geist“, sagt Anaxagoras 1). Hier-
mit ist noch nicht die Anwesenheit des „Geistes“ in dem be-
seelten Wesen behauptet, auch nicht Wesensgleichheit von
Seele und Geist. Aber wenn es heisst, dass der Geist „durch
alles hindurchgehe“ 2), dass in jedem Dinge ein Theil von allen
Dingen sei, ausser vom Geiste, in einigen aber auch Geist
sei 3), so wird damit doch eine Durchdringung mancher Stoff-
verbindungen durch den, hier kaum noch körperlos zu denken-
den „Geist“ behauptet, bei der dessen Jenseitigkeit aufgehoben
scheint. Als solche Verbindungen, in denen „Geist“ ist, sind
jedenfalls die lebenden, beseelten Wesen gedacht. Sie sind es,
in denen der „Geist“ stets in gleicher Beschaffenheit aber in
verschiedenen Mengen 4) anwesend ist, ja der Geist ist oder
[487] bildet wohl eben das, was man die „Seele“ eines Lebewesens
nennt 1). Solche Lebewesen, deren es, wie auf der Erde, auch auf
dem Monde giebt 2), sind nicht nur Menschen und Thiere, son-
dern auch die Pflanzen 3). In allen diesen ist der „Geist“ wirk-
sam, ihnen ist er, ohne selbst seine Reinheit und Einheitlichkeit
zu verlieren, beigemischt 4). Wie man es sich vorzustellen habe,
dass der weltbeherrschende Geist, dessen Einheitlichkeit und
Fürsichbleiben so nachdrücklich eingeprägt wird, dennoch gleich-
zeitig in die Unendlichkeit der Individuation eingehe, das bleibt
undeutlich. Gewiss ist aber, dass bei dieser Ableitung aller Be-
seelung aus dem Einen Weltgeiste Anaxagoras von der Fort-
[488] dauer individuell für sich bestehender Seelen nach dem Zer-
fall der stofflichen Bildungen, in denen bewegende und belebende
Seelenkraft gewohnt hatte, nicht reden konnte. Es wird ihm
ausdrücklich die Meinung zugeschrieben, dass die Scheidung
vom Leibe auch „der Seele Tod“ sei 1). Zwar es vergeht nichts
von den Bestandtheilen des Alls, es verwandelt auch nichts
seine Natur, und so erhält sich der „Geist“, dessen Erschei-
nungsform die „Seele“ war, unverändert und unvermindert,
aber nach der Scheidung des Vereinigten, die „den Hellenen“
als dessen Vernichtung erscheint 2), bleiben wohl die Bestand-
theile des Einzelwesens, aber nicht mehr diese Mischung in der
das besondere Wesen des Einzelnen lag; es bleibt der „Geist“,
aber nicht die Seele. —
Die erste bestimmte Abtrennung eines Geistigen, Denken-
den von der Materie, mit der es nicht verschmolzen, noch
weniger identisch sein, dem es vielmehr selbständig und be-
herrschend gegenüberstehen soll, führte nicht zur Anerkennung
der Unvergänglichkeit des individuellen Geistes.
Ob dem Materiellen und Körperlichen gegenübergestellt,
[489] oder ihm untrennbar eingesenkt, das Geistige, Selbstbewegte,
Lebengebende ist dem Physiologen durchaus ein Allgemeines,
das wahrhaft Seiende ein Unpersönliches. Das Individuelle,
die ihrer selbst und des Aeusseren bewusste Persönlichkeit,
kann ihnen nur eine Erscheinungsform des Allgemeinen sein,
sei dieses ein ruhendes, oder ein lebendig processirendes, sich
unablässig entwickelndes, zersetzendes und zu immer neuen Ge-
bilden zusammenfügendes. Bleibend, unvergänglich ist nur das
Allgemeine, das in allem Einzelnen erscheint, aus ihm hervor-
tönt, in Wahrheit in ihm allein wirkt [und] lebt. Die einzelne
Menschenseele hat ihre Unvergänglichkeit nur an der Wesens-
gleicheit mit dem Allgemeinen, das in ihr sich darstellt. Die
einzelne Erscheinungsform, in sich unselbständig, kann sich
dauernd nicht erhalten.
Zu der Annahme eines unvergänglichen Lebens der Einzel-
seele konnte nur eine Vorstellung leiten, die die Realität des
Individualgeistes (dessen Erscheinen und Verschwinden inmitten
des grossen Alllebens des Einen im Grunde für die Physio-
logen das wahre, begrifflich nicht aufzulösende Wunder blieb)
als eine Thatsache hinnahm und festhielt. Einen Individualis-
mus dieser Art, den Glauben an selbständig seiende, unge-
wordene und darum auch unvergängliche individuelle Substan-
zen, brachte, wenn auch in noch so phantastischer Gestaltung,
die Reflexion der Theologen heran. Ihnen reicht die innere
Ewigkeit, die Kraft der zeitlich unbegrenzten substantiellen
Dauer bis in die Individualität hinein. Die einzelne Seele ist
ihnen ein, in sich bestehendes einzelnes göttliches Wesen, un-
vergänglich, weil es göttlich ist.
Je nachdem griechische Philosophie, in den mannichfaltigen
Wendungen, die ihre Betrachtung in den folgenden Zeiten sich
gab, an theologischen Elementen mehr oder weniger in sich
aufnahm oder solche ganz verschmähte, hat sie eine Unsterb-
lichkeit der Einzelseelen grundsätzlich bekräftigt, oder halb und
zögernd zugelassen, oder gänzlich abgelehnt.
Theologie und Philosophie, jede in ihrer Weise hinaus-
strebend über einen nicht befriedigenden Volksglauben, konn-
ten ihrerseits nur langsam, jenseits der engen Genossenschaf-
ten, an deren Theilnahme sie sich zunächst wandten, einen
Einfluss auf solche Kreise gewinnen, deren Vorstellungen in
eben jenem Volksglauben wurzelten. Während der ersten
Blüthezeit der theologischen und philosophischen Bestrebungen
wird kaum hier und da einmal eine Stimme laut, welche die Er-
wartung wecken könnte, dass der Glaube an Unvergänglichkeit
und göttliche Natur der Menschenseele oder an die Einwurze-
lung alles Seelischen in einem unvergänglichen Urgrunde, aus
einer Erkenntniss der Weisen und Erleuchteten eine Ueber-
zeugung des Volkes und der Ungelehrten werden möge. „Es
bleibt nach dem Tode des Leibes lebendig des Lebens Abbild:
denn das allein stammt von den Göttern“ verkündet Pindar.
Aber so sicher und wie keines Widerspruches gewärtig er hier
die Annahme der Unsterblichkeit der Seele hinstellt und aus
ihrer Gottnatur begründet: damals kann dies nur eine Ueber-
zeugung abgesonderter, eigens so belehrter Vereinigungen ge-
wesen sein. Es kann nicht Zufall sein 1), dass in den auf uns
gekommenen Bruchstücken der lyrischen und halblyrischen (ele-
[491] gisch-iambischen) Dichtung, die, für ein weites und unge-
sichtetes Publikum bestimmt, dem Fühlen und Sinnen einen,
Allen verständlichen Ausdruck giebt, kaum jemals jene ge-
steigerte Vorstellung von Würde und Bestimmung der Seele
sich ausspricht. Die Betrachtung verweilt nicht auf diesem
dunklen Gebiete; wo sie dennoch ein flüchtiges Licht dorthin
wirft, da zeigen sich noch immer Umrisse der Gestaltungen
einer Geisterwelt, so wie homerische Phantasie sie gebildet
hatte. —
Leben und Licht ist nur auf dieser Welt 1); der Tod, dem
wir alle uns schuldig sind 2), führt die Seelen in ein Reich der
Nichtigkeit 3). Sprachlos, lautlos wie ein Steinbild liegt der
Todte im Grabe 4). Auf Erden, nicht in einem schattenhaften
Jenseits, vollzieht die göttliche Gerechtigkeit ihr Gericht 5), an
dem Frevler selbst oder seinen Nachkommen, in denen von
ihm etwas fortlebt, deren entbehren zu müssen der kinderlos
aus dem Leben Scheidende als tiefsten Schmerz mit sich in den
Hades nimmt 6).
Lauter und schmerzlicher tönt in diesen Zeiten unter dem
Drucke einer, alle Empfindung schärfer eingrabenden Steige-
rung der Cultur, die Klage um Mühsal und Noth des Lebens,
die Dunkelheit seiner Wege und die Ungewissheit seiner Er-
folge 1). Silen, der hellsichtige Waldgeist, so ging alte Sage,
hatte vom König Midas, der ihn in seinen Rosengärten am
Bermios fing, sich gelöst mit dem Wahrspruch schwermüthiger
Weisheit, den man in wechselnder Gestaltung sich einzuprägen
nicht müde wurde: nicht geboren zu werden, sei dem Menschen
das Beste, und sei er geboren, so müsse er wünschen, so
bald als möglich in das Reich der Nacht 2) und des Hades
wiedereinzugehn 3). Die Freudigkeit des Lebens im Lichte ist
nicht mehr, in naiver Zuversicht, ihrer selbst so gewiss wie
einst; dennoch wird kein Ersatz, keine Ausgleichung gesucht
in einem jenseitigen Reiche der Gerechtigkeit und des mühe-
losen Glücks. Eher klingt eine Stimmung vor, der die Ruhe
das beste scheint von allem Glück der Welt: und Ruhe bringt
der Tod. Aber noch bedarf es kaum der Tröstungen; ein
starkes männliches Lebensgefühl, das auch das Böse und
Schwere im Gleichmuth der Gesundheit trägt und austrägt,
6)
[493] steht in Kraft, und blickt uns ohne Prahlen an vielen Stellen
dieses dichterischen Nachlasses entgegen. Nicht durch Ver-
schleiern der Härte und Grausamkeit des Lebens sucht man
sich zu helfen. Gering ist des Menschen Kraft, seine Sorge
erreicht nicht ihr Ziel, in kurzem Leben häufet sich Noth auf
Noth; und allen gleichmässig ist der unentfliehbare Tod ver-
hängt. Alles gelangt zuletzt zu dem grässlichen Schlunde, die
hohe Tugend und die Macht der Welt 1). Aber das Leben
ist doch gut, und der Tod ein Uebel: wäre er dies nicht, wa-
rum stürben die seligen Götter nicht? fragt frauenhaft naiv
Sappho 2), die der Lebensgang doch durch tiefe Schattenthäler
des Leids geführt hatte. Selbst der Todte, wenn er wünscht,
dass sein Dasein nicht ganz ausgelöscht sein möge, ist auf die
Welt der Lebenden, als das einzige Reich der Wirklichkeit
angewiesen: einzig der Ruhm seiner Tugenden und seiner Tha-
ten überdauert seinen Tod 3). Vielleicht steigt eine Empfindung
hievon bis zu den Todten hinab 4). Sie selbst sind für die
Lebenden so gut wie ins Nichts versunken: man sollte, meint
ein Dichter, ihrer nach geschehener Bestattung nicht weiter
gedenken 5).
Selbst die Herkömmlichkeiten des Seelencultes scheinen
hier unmuthig verworfen zu werden. Im Uebrigen hat die
freier umblickende Betrachtung der Dichter selten Veranlas-
sung, des Seelencults, den die engeren Genossenschaften der
Familie und der bürgerlichen Gemeinde ihren Verstorbenen
widmen, und der auf ihn begründeten Vorstellungen vom
Fortleben ihrer Abgeschiedenen zu gedenken. Hier treten er-
gänzend die attischen Redner des fünften und vierten Jahr-
hunderts ein mit dem, was sie von den jenseitigen Dingen sa-
gen und verschweigen. Die Blüthe der lyrischen Dichtung war
damals schon abgewelkt, aber noch immer konnte, wer als
Redner vor einer Bürgerversammlung allgemeinem Verständniss
und Empfinden entgegenkommen wollte, von seliger Unsterb-
lichkeit, von Ewigkeit und Göttlichkeit der Seele nicht reden.
Ueber die Vorstellungen von Fortdauer, Macht und Recht
der abgeschiedenen Seelen, wie sie der Seelencult hervorrief
und lebendig erhielt, gehen die Gedanken der Redner nicht
hinaus 1). Nicht ein Fortleben der Seelen im Jenseits wird in
Frage gestellt, wohl aber wird die Annahme, dass den Seelen
Bewusstsein und Empfindung von den Vorgängen auf dieser
Erde bleibe, nur mit vorsichtiger Unbestimmtheit ausge-
sprochen 2). Was den Todten, abgesehen von den Opfergaben
5)
[495] seiner Angehörigen, mit dem Leben auf Erden noch verbindet,
ist nicht viel mehr als der Nachruhm unter den Ueberlebenden 1).
Selbst in der gehobenen Sprache feierlicher Grabreden fehlt
unter den Trostgründen für die Hinterbliebenen jede Hinwei-
sung auf einen erhöheten Zustand, ein ewiges Leben in voll-
empfundener Seligkeit, das die ruhmreich Verstorbenen aufge-
nommen habe 2). Das Volk hatte, scheint es, nach solchen ver-
klärenden Ausblicken, für die Seinigen und für sich selbst,
noch damals so wenig ein gemüthliches Bedürfniss wie einst zur
Zeit der grossen Freiheitskämpfe 3). Den theuren Todten, die
in diesen Kämpfen für das Vaterland gefallen sind, auch vielen
Anderen, die der Tod ereilt hat, widmet Simonides, der Meister
[496] sinnreich zusammenfassender Aufschriften, seine Epigramme.
Aber niemals findet er ein Wort das in ein Land seliger Un-
vergänglichkeit den Geschiedenen hinüberwiese. Ganz im Dies-
seits wurzelt die Unsterblichkeit der Todten: nur das Ge-
dächtniss und der grosse Name bei der Nachwelt giebt ihnen
Dauer. —
Es trifft wie ein Klang aus einer andern Welt, wenn (um
die Mitte des fünften Jahrhunderts) Melanippides, der Dithy-
rambendichter, einen Gott anruft: „höre mich Vater, Staunen
der Sterblichen, der du der ewig lebendigen Seele waltest“.
Der Anruf galt jedenfalls dem Dionysos 1). Wer in den Zauber-
kreis seiner Nachtfeste trat, dem belebten sich die Gesichte
von der Unvergänglichkeit der Menschenseele und ihrer Gottes-
kraft. Die Tagesansicht derer, die nicht in den Gedanken
theologischer oder philosophirender Sondergemeinden lebten,
brachte solcher Weisheit nur halbe Theilnahme entgegen.
Eine eigene Stellung nimmt Pindar ein. Zwei, einander
entgegengesetzte Vorstellungen von Wesen, Herkunft und Be-
stimmung der Seele scheinen mit dem Anspruch auf gleiche
Geltung bei ihm aufzutreten.
In den Siegesliedern überwiegen Andeutungen, die auf
eine mit dem volksthümlichen, auf Dichterworten und den
Voraussetzungen des Seelencults und des Heroendienstes be-
ruhenden Glauben übereinstimmende Ansicht schliessen lassen.
Die Seele verschwindet nach ihrer Trennung vom Leibe in
der Unterwelt 2). Es bleibt wohl Pietät und treues Angeden-
[497] ken den Nachkommen, als ein Band zwischen dem Todten
und den Lebenden 1); ob die Seele selbst dort unten noch
von einem Zusammenhang mit dem Reiche der Lebenden
wisse, scheint nicht ganz sicher 2). Ihre Kraft ist dahin; es
ist sicherlich kein Zustand seligen Glücks, in den sie eingetreten
ist. Einzig der grosse Name, der Ruhm im Gesange ist nach
dem Tode der Lohn der Tugend und grosser Thaten 3).
Ein erhöhetes Dasein wird nach dem Abscheiden von der
Erde allein den Heroen zu Theil. Der Glaube an Dasein,
Würde und Macht solcher verklärter Geister steht in voller
Kraft 4); er spricht überall in gleicher Lebendigkeit aus Wor-
ten und Erzählungen des Dichters. Auch die, durch den
Heroenglauben im Grunde ausser Wirkung gesetzte alte Vor-
stellung, nach der volles Leben nur in ungetrennter Vereini-
gung von Leib und Seele denkbar ist, scheint noch durch in
einzelnen Anspielungen auf Entrückungssagen, die diese Vor-
stellung zur Voraussetzung haben. Der erlauchteste der zu
ewigem Leben Entrückten, Amphiaraos, dem thebanischen
Sänger besonders theuer, wird mehr als einmal in dem Tone
unverfälschten Glaubens an solche Wunder gepriesen 5). Aber
Rohde, Seelencult. 32
[498] auch nachdem der Tod dazwischen getreten ist, bleibt Erhö-
hung zu ewigem Leben, selbst über heroisches Dasein hinaus,
möglich. Semele lebt für immer unter den Olympiern, da
sie doch gestorben ist unter dem Krachen des Blitzstrahls 1).
Nicht unvereinbar geschieden sind Menschen und Götter; an
hohem Sinne, auch der Tüchtigkeit des Leibes nach können
wir den Unsterblichen von ferne ähnlich werden 2). Eine
Mutter gebar beide Geschlechter, aber freilich tief bleibt die
Kluft zwischen ihnen: der Mensch ist ein Nichts, eines Schattens
Traumerscheinung; jenen bleibt immer als unerschütterter Sitz
der eherne Himmel 3). Nur ein Wunder, ein göttlicher Eingriff
in den gesetzlichen Naturverlauf hebt einzelne Seelen zum ewi-
gen Leben der Heroen und Götter empor. —
In solchen Anschauungen konnte sich auch ergehn, wer
vollständig auf dem Boden volksthümlichen Glaubens blieb.
Ihnen stehen aber bei Pindar Darlegungen ganz andrer Art
entgegen, die in breiter Ausführung, mit dogmatischer Be-
stimmtheit vorgetragen, sich wie der Inbegriff einer festgepräg-
ten Lehre von Natur, Bestimmung und Schicksal der Seele
geben, und in der That, trotz einiger poetischen Freiheit in der
wechselnden Ausbildung einzelner Züge des Bildes, in der
Hauptsache sich zu einem wohlverbundenen Ganzen zusammen-
schliessen.
Die Seele, das „Abbild des Lebens“, das andere Ich des
lebenden und sichtbaren Menschen, „schläft“, während die
Glieder des Menschen thätig sind; dem Schlafenden zeigt sie
5)
[499] in Traumbildern das Zukünftige 1). Diese Psyche 2), die bei
wachem Bewusstsein des Menschen selbst im Dunkel des Un-
bewussten liegt, ist jedenfalls nicht die, zu einem einheitlichen
Wesen oder doch Begriff zusammengefasste Gesammtheit geisti-
ger Kräfte, die unter dem Namen der „Psyche“ der Philosoph
und auch schon der alltägliche Sprachgebrauch jener Zeit ver-
steht. Der Name bezeichnet auch hier noch den, im lebendigen
Menschen hausenden Doppelgänger, von dem uralter Volks-
glaube und die homerische Dichtung weiss. Aber ein theologi-
scher Gedanke hat sich eingedrängt. Dieses „Abbild“ des Men-
schen, heisst es, „stammt allein von den Göttern“, und hierin
wird der Grund dafür gefunden, dass nach der Vernichtung
des Leibes durch den Tod das Seelenbild lebendig bleibt 3).
Von den Göttern stammend und somit der Vernichtung
für immer entzogen, ewig, unsterblich, ist aber die Seele in
die Endlichkeit verstrickt; sie wohnt im sterblichen Leibe des
32*
[500] Menschen, das ist die Folge der „alten Schuld“ von der, ganz
im Sinne der theologischen Dichtung, auch Pindar redet 1).
Nach dem Tode des Leibes erwartet sie im Hades das Gericht,
in dem „Einer“ den strengen Spruch spricht über die Thaten
ihres Lebens 2). Die Verdammten erwartet „unanschaubare
[501] Mühsal“ 1) im tiefen Tartaros, „wo endlos Finsterniss ausspeien
die trägen Flüsse der dunklen Nacht“, und Vergessenheit die
Gestraften umfängt 2). Die Frommen gehen zu den unterirdi-
2)
[502] schen Sitzen der Wonne ein, wo die Sonne ihnen leuchtet,
wenn sie für die Erde untergegangen ist 1), und sie auf blumen-
reichen Wiesen ein Dasein edler Muse geniessen, wie es nur
griechische Phantasie, an Bildern griechischer Lebenskunst ge-
nährt, ausmalen konnte, ohne ins Nichtige und Leere zu ver-
fallen.
Aber die Seele hat dort ihre letzte Ruhestätte noch
nicht gefunden. Sie muss aufs Neue einen Körper beleben,
und erst nach einem dritten, auf Erden ohne Fehl vollbrachten
Leben kann sie auf ein Ende ihrer irdischen Laufbahn hoffen 2).
Die Bedingungen jeder neuen Erdenlebenszeit bestimmen sich
nach dem Grade der Reinheit, den die Seele im vorangehen-
den Lebenslaufe erreicht hat: wenn endlich die Herrin der
2)
[503] Unterwelt die „alte Schuld“ für gesühnt hält, so entlässt sie,
im neunten Jahre 1) nach ihrer letzten Ankunft im Hades, die
Seelen noch einmal auf die Oberwelt, zu glücklichem Loose:
sie vollbringen dort noch einen Lebenslauf als Könige, als
Helden in Körperkraft, und als Weise 2). Dann aber scheiden
[504] sie aus dem Zwang irdischer Wiedergeburten. Sie werden als
„Heroen“ unter den Menschen verehrt 1), sie sind also in ein
höheres Geisterleben eingetreten, wie es zu Pindars Zeit der
Volksglaube nicht nur den Seelen hoher Ahnen der Vorzeit,
sondern auch schon vielen nach einem thatenreichen und ver-
dienstvollen Leben in jüngster Zeit Verstorbenen zugestand 2).
Dem Hades sind sie nun ebenso wie dem Bereich des Men-
schenlebens enthoben. Der Glaube sucht sie auf der „Insel
der Seligen“, fern im Okeanos; dorthin, zur „Burg des Kro-
2)
[505] nos“ ziehen sie den „Weg des Zeus“ 1) und führen dort, in
Gemeinschaft mit den Helden der Vorzeit, unter der Obhut
des Kronos 2) und seines Beisitzers Rhadamanthys, ein nie mehr
gestörtes seliges Leben.
Diese Gedanken von der Abstammung, den Schicksalen
und der endlichen Bestimmung der Seele müssen, je weiter sie
2)
[507] von den im Volke verbreiteten Ansichten abweichen, um so ge-
wisser als der eignen und wahren Ueberzeugung des Dichters
angehörig gelten. Der Dichter, sonst, bei flüchtiger Berührung
der jenseitigen Dinge, sich den herkömmlichen Vorstellungen
anbequemend, giebt sich solchen Ahnungen und Hoffnungen
hin, wo der Gegenstand seines Liedes zur Vertiefung in die
Geheimnisse jenseitigen Lebens einlud, in Trauergesängen um
Verstorbene vornehmlich. Er mochte dabei Rücksicht nehmen
auf die Sinnesart derer, denen sein Lied zuerst erklingen sollte.
Theron, der Herr von Akragas, dem das zweite, in Seligkeits-
hoffnungen sich ergehende olympische Siegeslied gewidmet ist,
war ein greiser Mann, dem Gedanken an das Leben nach
dem Tode naheliegen mochten1). Auch lässt sich in diesem
Falle vielleicht besondere Neigung des Gefeierten, auf diese,
vom gemeingültigen Seelenglauben fernabführenden Gedanken
einzugehn, voraussetzen2). Nur dass Pindar, der stolze, eigen-
richtige, sehr bewusster Weisheit frohe, mit dem Vortrage sol-
cher, populärem Bewusstsein so fremdartiger Lehren sich ledig-
lich fremden Wünschen gefügt, fremdem Glauben gefällig sollte
Ausdruck gegeben haben, das ist undenkbar. Es ist der In-
2)
[508] halt eigner Ueberzeugung, selbsterrungener Einsicht, in die er
gleichgesinnten Freunden, in geweiheter Stunde, einen Blick
eröffnet.
Die Bestandtheile, aus denen Pindar seine Ansicht zu-
sammengefügt hat, sind leicht zu scheiden. Er folgt theologi-
schen Lehren in dem was er von der göttlichen Herkunft der
Seele, ihren Wanderungen durch mehr als einen Leib, von dem
Gericht im Hades, dem Ort der Gottlosen und dem der From-
men in der Unterwelt berichtet. Aber es ist Laientheologie
die er vorträgt; sie bindet sich nicht an eine unabänderliche
Formel und lässt überall spüren, dass ihr Vertreter ein Dichter
ist. In seiner gesammten dichterischen Thätigkeit übt Pindar
das Amt des Sängers zugleich wie ein Lehramt aus, besonders
wo er von den Dingen einer unsichtbaren, göttlichen Welt zu
reden hat. Aber er bleibt bei aller Lehrhaftigkeit ein Dichter,
der, als Wahrer und Walter des Mythus, die Ueberlieferung
in Sage und Glauben nicht fortzuwerfen hat, sondern das
Ueberlieferte reinigen, vertiefen, auch wohl ergänzen und mit
all’ diesem rechtfertigen will. So schlingt sich selbst in seine
theologisirende Seelenlehre ihm Dichtersage und Volksglaube
hinein: die Insel der Seligen, die Erhebung des Menschen zum
Heros hat er nicht aufgeben mögen.
Von welcher Seite dem Pindar die theologischen Anre-
gungen gekommen sein mögen, lässt sich nicht sicher bestimmen.
Orphische sowohl wie pythagoreische Doctrinen können ihm in
Sicilien entgegengetreten sein, wo er seit 477 zu wiederholten
Malen sich aufgehalten hat1). Für beide Secten waren jene
Gegenden der wahre Nährboden.
Vielleicht traf der Dichter dort auch schon solche Spiel-
arten der mystischen Lehre an, in denen orphische Theologie,
ähnlich wie dann in seiner eigenen Auffassung, mit Bestand-
theilen der verbreiteten Mythologie versetzt war. Proben
eines solchen, mit fremden Elementen vermischten orphischen
Mysticismus bieten die Versreihen, die, auf goldenen Täfelchen
eingegraben, vor nicht langer Zeit in Gräbern nahe dem alten
Sybaris gefunden worden sind1). In dreien dieser Gedichte
kehren zu Anfang gleiche Wendungen, die gleichen Grund-
darstellungen aussprechend, wieder; im Fortgang treten sie
nach zwei verschiedenen Richtungen auseinander. Die Seele des
Todten2) redet die Königin der Unterirdischen und die andern
Götter der Tiefe an: ich nahe mich euch, rein, von Reinen ge-
boren3). Sie gehört also einem Sterblichen an, der selbst,
wie schon seine Eltern, in den heiligen Weihen einer Cult-
genossenschaft „gereinigt“ war4). Sie rühmt sich selbst, aus
[510] dem seligen Geschlecht der unterirdischen Götter zu stammen1).
Blitzstrahl, sagt sie in der einen Fassung der Verse, raubte
mir das Leben2). „Und so entflog ich dem Kreise, dem schmerz-
lichen, kummerbeschwerten.“ Hier herrscht rein orphischer
Glaube: aus dem „Kreise der Geburten“3) ist die Seele nun
endlich ausgeschieden: sie tritt, wie sie sagt, „mit hurtigen
Füssen in den ersehnten Bezirk“4); und schmiegt sich in den
[511] Schooss der Herrin der Unterwelt. Vermuthlich diese ist es,
die zuletzt die erlöste Seele mit den Worten begrüsst: Glück-
liche, Seligzupreisende du, nun wirst du statt eines Sterblichen
ein Gott sein.
Viel weniger hoch fliegen die Hoffnungen in den zwei an-
deren, wesentlich einander gleichen Fassungen der mystischen
Urkunde. Die Seele versichert dort, Busse gezahlt zu haben
für ungerechte Werke; nun komme sie flehend zur hehren
Persephoneia, dass diese sie gnädig sende zu den Wohnplätzen
der Reinen und Heiligen1).
Wie soll man diese Unterschiede verstehn? Möglich
wäre ja, dass die bescheidenere Fassung den Glauben einer
weniger kühn der eigenen Gottnatur und der Nothwendigkeit
endlicher Rückkehr der Seele zu freiem Gottesdasein ver-
trauenden Secte ausspräche. Viel wahrscheinlicher ist aber
doch, — da zumal die Voraussetzung göttlicher Natur der
Seele und ihrer Gottesverwandtschaft in beiden Fällen die
4)
[512] gleiche ist und mit gleichen Worten ausgesprochen wird —
dass wir überall in dem Glaubenskreise einer und derselben
Secte festgehalten werden, und die zu verschiedenen Höhen
der Seligkeit aufstrebenden Hoffnungen verschiedenen Stufen
des Erlösungsganges entsprechen. Wer, durch seine Theilnahme
an den heiligen Weihen, die alte Schuld gesühnt hat, den kann
die Göttin zu dem Lustorte der Reinen im Inneren des Hades zu-
lassen. Aber er muss in nachfolgenden Geburten auf der Erde
erst den Kreis völlig durchmessen haben, ehe er gänzlich von
Wiedergeburt befreit wird und nun ganz wieder ist, was er von
Anbeginn war, ein Gott. Der Todte der ersten Tafel ist an dem
Ziel seiner Wallfahrt angekommen, die der zwei andern Tafeln
erst auf einer Zwischenstation1). Eine andere Inschrift, in
einem Grabe derselben Gegend gefunden2), giebt sich schon
durch Wiederholung einer, auch der ersten Fassung jener Vers-
gruppen angehängten mystischen Formel3) als eine Glaubens-
äusserung aus gleicher Secte wie jene zu erkennen. Sie enthält,
unter allerlei unzusammenhängend und ohne Ordnung durch-
einander geworfenen Anweisungen und Anrufungen an den
Todten4), abermals die Versicherung: ein Gott bist du nun
[513] geworden aus einem Menschen. Dies blieb die Krone der Heils-
verheissungen der Secte.
In dem Cult und Glauben dieser Secte, die in abgerissenen
Lauten aus jenen Versen zu uns redet, war mit der Verehrung
4)
Rohde, Seelencult. 33
[514] der altgriechischen Gottheiten der Unterwelt (unter denen
hier Dionysos nicht erscheint) der kühnste Gedanke der or-
phischen Dionysosmysterien, die Zuversicht auf die, durch alle
irdische Trübung zuletzt rein und siegreich durchbrechende
Gottesnatur der Seele, verschmolzen. Pindar hat in andrer,
aber nicht unähnlicher Weise die gleichen Elemente verbunden.
Man möchte wohl die Wirkung ermessen können, die seine,
ihm selbst innig am Herzen liegenden Lehren unter Hörern
und Lesern seiner Gedichte gehabt haben mögen. Er war
zugleich mehr und weniger als ein theologischer Lehrer. Nie-
mals wieder ist unter Griechen von dem Wonnedasein der ge-
heiligten Seele mit solcher Majestät und in solcher Fülle des
Wohllauts gerecht werden, wie sie sich aus diesem reichen
Dichterherzen ergiesst. Aber, rührt der Dichter auch das Ge-
müth des Hörers, zwingt er auch dessen Phantasie, sich Bil-
der zu gestalten nach seinen Eingebungen, dennoch wird nicht
leicht, und fast je mehr ihm sein Zauberwerk gelingt um so
weniger, der goldene Schein seiner Dichtung mit dem Sonnen-
licht der Wirklichkeit verwechselt werden. Man könnte wohl
zweifeln, ob die Gedichte in denen Pindar seine Seligkeits-
träume erzählt, viele Hörer gefunden haben, denen sie nicht nur
ein ästhetisches Wohlgefallen, sondern den Glauben an den
thatsächlichen Grund solcher Lehren, an die Wirklichkeit der
mit so schimmerndem Lichte umkleideten Gesichte erweckten.
Aber vielleicht wird mit dem Ausdruck solcher Bedenken
die Wirkung unterschätzt, die ein griechischer Dichter auf
Ansichten und Gesinnung seiner Hörer ausüben konnte. Grie-
chische Volksmeinung war sehr geneigt, dem Dichter eine
Stellung einzuräumen, die in unsrer Zeit der Dichter kaum
wünschen möchte einzunehmen, jedenfalls nicht erreichen kann.
Der rein künstlerischen Würde und Bedeutung eines Gedich-
tes schien nichts abgebrochen zu werden, wenn man zugleich
[515] eine lehrende, erziehende Einwirkung von ihm erwartete. Der
Dichter sollte der Lehrer des Volkes sein, zu dem, in griechi-
schen Lebensverhältnissen, Niemand sonst als Lehrer sprach.
Im höchsten Sinne sollte er belehren, wo seine Rede, in er-
habener Poesie, auf die Fragen und Gewissheiten der Reli-
gion deutete, und auf das Verhältniss der Sittlichkeit zur
Religion. Hier konnte er durch die Betrachtung seines tief-
blickenden Geistes ergänzen, was der Mangel eines religiös
bestätigten Grundbuches der Volksmoral vermissen liess. Den
Gemeinbesitz sittlicher Gedanken, der sich im bürgerlichen
Leben herausgebildet hat, begründet der Dichter fester, indem
er ihm fasslichen, unvergesslichen Ausdruck, festere Zusammen-
fügung zum Ganzen giebt. Er kann auch die Gedanken der
Volksmoral weiterführen und vertiefen, in dem Feuer strenge-
ren Sinnes härten, aus dem Geiste eines erhabeneren Gottes-
verständnisses läutern und erläutern. Und was er dann, mit
dem Stempel seiner ganz persönlichen Art und Meinung ge-
prägt, dem Volke zurückgiebt, das wird nicht flüchtige Ansicht
eines Einzelnen bleiben, sondern in empfänglichen Gemüthern
Wurzel schlagen und von Vielen zu dauerndem Besitze in den
Schatz ihrer Ueberzeugungen aufgenommen werden.
Erst die voll ausgewachsene, zu einer alles umfassenden
Lebensdeutung entwickelte Philosophie einer späteren Zeit
hat die Dichtung in diesem Amte einer Lehrmeisterin der
Strebenden im Volke abgelöst1). Von jeher zwar, niemals aber
so nachdrücklich und mit so voll bewusster Absicht hat die
Dichtung dieses Amtes walten wollen, wie in der Zeit des
Ueberganges — an deren Anfang schon Pindar steht — des
Ueberganges von unbefangenem Vertrauen auf die überlieferte
33*
[516] Auffassung aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge zu einer,
auf dem Boden philosophischen Bekenntnisses neugewonnenen
Beruhigung der Ueberzeugung. Ein Bedürfniss der Berichti-
gung oder der Bestätigung der von den Vätern überlieferten
Meinungen war lebhaft erwacht; noch war es allein die Dich-
tung, die das Licht ihrer Belehrung weit genug warf, um die
Gedanken breiter Volksschaaren erhellen zu können. Ihre Ein-
wirkung musste in dem Maasse zunehmen als die Kreise der
Theilnehmenden sich weiter ausdehnten, an die, nach der be-
sonderen Art ihrer Darbietungen, sie sich wenden konnte.
Darf man schon den Einfluss, den auch als Lehrer des Volks
Pindar, der panhellenische Festdichter, ausüben konnte, nicht
gering anschlagen, so war vollends, bei geringerer räumlicher
Ausbreitung, in der um so vieles grösseren, an einem Orte
zusammengeströmten Volksmenge, vor der die attischen Tra-
giker ihre Dichtungen sich entwickeln lassen durften, der
Aussaat fruchtbarer Gedanken das breiteste Feld geboten.
Sie selbst lassen vielfach merken, wie sehr sie sich als Lehrer
dieser Volksschaaren fühlen; das Volk liess sie als solche gel-
ten, ja, es erwartete und forderte von dem Dichterworte Be-
lehrung, die höchste von der erhabensten Dichtung1). Wir
werden nicht irren, wenn wir annehmen, dass Ansichten und
Einsichten, denen Aeschylos, Sophokles und nicht am wenigsten
Euripides [in]/choice\> ihren tragischen Festspielen Worte leihen, nicht
alleiniges Eigenthum des Einzelnen blieben, in dessen Geiste
sie entstanden waren.
Die attische Tragödie des fünften Jahrhunderts musste
sich, selbst wenn dichterische Absicht sie nicht dahin gelenkt
hätte, entwickeln zu einem Kunstwerk psychologischen Gehal-
[517] tes. Der eigentliche Schauplatz ihrer Handlungen konnte nur
das Innere ihrer Helden sein.
Der Bühnendichter wagt etwas bis dahin Unerhörtes. Er
lässt die, vor den Lesern und Hörern aller früheren Dichtung
nur in den Nebelbildern ihrer eigenen, mannigfach beschränkten
und bedingten Phantasie vorüberziehenden Gestalten und Ereig-
nisse der alten Sagen und Geschichten in sichtbarer Leiblich-
keit allen Zuschauern gleichmässig deutlich vor Augen treten.
Was der Phantasie nur wie ein Traumbild, von ihr selbst er-
schaffen, sich zeigte, wird nun dem Auge ein unabänderlich
bestimmter, unabhängig von der Vorstellungskraft des Schauen-
den dastehender und sich bewegender Gegenstand der Wahr-
nehmung wacher Sinne. So zu greifbarer, voll lebendiger Ge-
stalt erweckt, tritt der Mythus in ein ganz neues Licht. Was
an ihm nur Ereigniss ist, verliert an Interesse gegen den
sichtbar sich vor uns bewegenden Träger des Ereignisses, dessen
Bedeutung und Gehalt nicht mit dieser einen That erschöpft
ist. In der räumlichen und zeitlichen Ausbreitung der zum
Bühnenspiel gewordenen alten Sage füllt schon äusserlich die,
in einzelnen Thatmomenten sich entladende Handlung den
geringsten Raum aus. Die Reden und Widerreden des Hel-
den und sämmtlicher an der Handlung Betheiligten müssen
die Breite des zeitlichen Verlaufes einnehmen. Die Motive
der Handlung, in den Reden ausgesprochen, bestritten und
durchgekämpft, werden wichtiger als ihr letztes Ergebniss in
leidenschaftlicher That und tödlichem Leid. Und bei höherer
Entwicklung des Kunstvermögens sucht der Blick des Geistes
die bleibenden Linien des Charakters zu erfassen, den im ein-
zelnen Falle solche Motive zu solcher That bestimmen konn-
ten. So führt die volle Verleiblichung des Mythus zu dessen
höchster Vergeistigung. Der Blick und Sinn des Zuschauers
wird gelenkt weniger auf das äussere Geschehen (dessen Ablauf
zudem, aus alter Sagenüberlieferung bekannt, ohne viel Span-
nung erwartet werden kann), als auf den inneren Sinn dessen,
was der Held thut und erleidet.
Hier nun erwuchs dem Dichter die eigenthümlichste Auf-
gabe. Was in seinem Drama zu geschehen habe, steht ohne
sein Zuthun fest durch den Verlauf der alten Sage (in wenigen
Fällen, des geschichtlichen Ereignisses), der ihm den Gang
seiner Dichtung vorzeichnet. Die Beseelung der handelnden
Gestalten, die Motivirung und Rechtfertigung des Geschehen-
den muss sein eigenes Werk sein. Hierbei aber hat er ganz
aus dem Eigensten zu schöpfen. Könnte er auch, er dürfte
nicht die inneren Beweggründe der Handlung aus der Sinnes-
art und dem Vorstellungskreise jener längst entschwundenen
Zeit ableiten, die einst den Mythus selbst gestaltet hatte: sie
würden den Zuschauern unverständlich bleiben, und sein Werk
wäre todtgeboren. Wie aber wird es ihm gelingen, Handlungen,
die aus den Voraussetzungen und Forderungen der Sitte und
Sittlichkeit einer seit langem überholten Vorzeit entsprungen
sind, aus den umgewandelten und anders gewordenen Gedan-
ken und Empfindungen der eigenen Zeit glaublich abzuleiten
und zu rechtfertigen? Er kann (wenn er nicht überhaupt eine
leblose Historie vorbeiziehen lassen will, die ganz im Stofflichen
ihrer Vorgänge aufgeht) die, durch den Mythus festgesetzte
That und den mit dem Herzen eines Menschen neuerer Zeit
empfindenden Thäter, auf dessen Seele jene That gelegt ist,
zu einander in das Verhältniss eines unversöhnten Gegensatzes
bringen, und so den feinsten und schmerzlichsten tragischen
Conflict hervorrufen. Die Regel kann dieses Auseinandertreten
von Gesinnung und Handlung, das den Helden — einen an-
deren Hamlet — und den Dichter in eine polemische Stellung
zu dem thatsächlichen Inhalte des Mythus drängt, nicht werden.
Der Dichter hat den Geist, der diese harten und finstern
Sagen der Vorzeit hervortrieb, so weit er es vermag, in sich
aufzunehmen, ohne doch die Sinnesweise der eigenen Zeit
zu verleugnen. Es muss ihm gelingen, den vollen ursprüng-
lichen Sinn des mythischen Vorgangs bestehen zu lassen, ihn
durch die Vermählung mit dem Geiste einer neueren Zeit
nicht aufzuheben sondern zu vertiefen. Er ist auf eine
[519] Ausgleichung zwischen der Denkweise alter und neuer Zeit
angewiesen.
Dem Aeschylos gelingt ein solcher Ausgleich am leich-
testen zu eigener Befriedigung. In dem Athen der Zeit vor
den Perserkriegen aufgewachsen, hat er selbst noch Wurzeln
in dem Boden altüberlieferter Denkweise. Er bildet diese nach
den Antrieben eigenen Denkens und Empfindens zu einem
höheren Ganzen weiter; und was sich ihm so ergab als Gesetz
der sittlichen Welt, in vorbildlichen Beispielen an den Mythen
die er mit tiefem Bedacht zum Gegenstand seiner Bühnen-
dichtung erwählt, zu bestätigen, ist ihm ein Hauptanliegen seiner
Kunst. Auf die Handlung und ihren sittlichen, ja religiösen
Sinn sind alle seine Gedanken gerichtet; die Charaktere der
Handelnden werden nur von diesem Brennpunkte des Interes-
ses aus einseitig beleuchtet; die selbständige Bedeutung ihres
vollen Wesens ausserhalb der Handlung von der sie umfangen
sind, soll den Blick nicht auf sich ziehen. Er giebt uns selbst
das Recht, bei der Betrachtung seiner Dramen von der an-
schaulichen Gestaltung des Einzelnen und Besonderen, und
damit von dem eigentlich künstlerischen Gehalt, zeitweilig ab-
zusehen, um die Unterströmung allgemeiner Gedanken, das was
man die Ethik und Theologie des Dichters nennen kann, zu
ergründen.
Aeschylos lässt unter dem verzweigten Geäder seiner
dichterischen Gestaltungen das Grundgerüste ethisch-theologi-
scher Anschauungen zumeist in derben Linien, leicht erkenn-
bar, hervortreten. Er verschmilzt gegebene Grundbestandtheile
mit dem, was er aus eigenem Geiste herzubringt. Gegeben ist
ihm in den Sagen, die er mit Vorliebe dramatisch gestaltet,
und am liebsten in trilogischem, hier der Natur des Gegen-
standes unvergleichlich angemessenem Aufbau sich voll ent-
wickeln lässt, eine Geschichte, die von dem Fortwirken des
Unheils und Leides in mehreren Generationen eines Hauses,
in einer Reihe von Vater, Sohn und Enkel berichtet. Gege-
ben ist ihm auch der Glaube an solche Verkettung mensch-
[520] licher Geschicke. Dass der Frevel des Ahnen an seinen Nach-
kommen hier auf der Erde bestraft werde, war alte, in Attika
besonders tief eingewurzelte Glaubensmeinung1). Was aber
Aeschylos selbst hinzubringt, ist die unbeirrte Ueberzeugung,
dass auch im Sohn und Enkel des Frevlers deren eigene Schuld
gestraft werde. Leid ist Strafe2); es würde den Oedipus, den
Sohn des Oedipus nicht treffen, wenn Laïos allein der Frev-
ler wäre, nicht eigene Schuld an ihnen zu strafen wäre.
Aber es steht gar nicht in ihrer Wahl, ob sie schuldig
werden wollen; sie konnten der Frevelthat gar nicht aus-
weichen. Wie nun eine Frevelthat zugleich nothwendig, dem
Frevler durch höhere Macht und Satzung aufgezwungen, und
doch, als wäre sie nach freier Wahl begangen, der Verant-
wortung und Strafe unterstellt sein kann, das ist eine Frage,
deren drohender Ernst dem Dichter keineswegs verborgen ge-
blieben ist. Hinter dem Nebel mythischer Verhüllung ist ihm
die Frage nach Freiheit oder Gebundenheit des menschlichen
Willens, der sich, bei höherer Entwicklung der Cultur und des
geistigen Lebens, in jedem Fall für seine Entscheidung mora-
[521] lisch verantwortlich fühlt, entgegengetreten. Er hilft sich da-
mit, dass er annimmt, nicht nur die böse That, sondern auch
der bewusste Entschluss zur bösen That entstehe mit Noth-
wendigkeit in dem Erben alten Familienfrevels. Mit dem be-
wusst, wenn auch nothwendig gefassten Entschluss schien die
eigene Schuld und Verantwortlichkeit des Thäters völlig nach-
gewiesen1). Die Wolke des Unheils, in der That des Ahnen
aufgegangen, hängt auch über dem Gemüthe des Sohnes und
Enkels. Nicht aus seinem eigenen Sinn und Charakter stammt
der Wille zur Frevelthat. Der Edle, Reine und Feste, Eteo-
kles, das Bild besonnener Mannhaftigkeit, der Hort und treue
Schutz der Seinen, erliegt im entscheidenden Augenblick dem
drohenden Geschick; sein heller Geist verfinstert sich, er giebt
sich selbst, sein besseres Selbst, verloren2), und stürzt dem gräss-
lichen Entschlusse zu. „Die von den Vorfahren herstammenden
Verfehlungen“3) treiben ihn dahin. So erst ist volle Busse für
den Frevel des Ahnen eingebracht4); die Nachkommen haften
auch für sein Vergehen, um des Ahnen willen werden sie
schuldig und leiden nun für seine und ihre Schuld die Strafe.
Die Gottheit selbst, oder ein von ihr gesandter Rachegeist
treibt die mit erblichem Frevelsinn Belasteten zur bösen That;
nicht, wie alter, fest haftender Glaube des Volkes war, aus
persönlichem Rachgefühl, Zorn oder Bosheit5), sondern aus
[522] Gerechtigkeit, mit „gerechtem Trug“1), damit das Maass des
Frevels voll werde, und die göttliche Strafgerechtigkeit eine
Handhabe finde zu voller Befriedigung. Der böse Geist des
Hauses half der Klytaemnestra, den Gedanken des Gatten-
mordes zu fassen2); die Gottheit selbst mahnt und zwingt den
Orest zum Muttermorde, den er in vollbewusstem Entschlusse
vorbereitet und ausführt, — einen Frevel, der zugleich eine
Pflicht ist. Denn dem Dichter sind die uralten Gedanken der
Blutrachepflicht noch voll lebendig. Das Recht der Seelen auf
Cult und Verehrung, ihr Anspruch auf Rache, wenn sie ge-
waltsam aus dem Leben gedrängt sind, ihr geisterhaftes
Herüberwirken aus dem Dunkel in das Leben und Schicksal
ihrer Nächstverwandten, denen die Rachepflicht aufliegt: —
dies alles sind ihm nicht überwundene Einbildungen der Vor-
zeit, sondern furchtbar reale Thatsachen3). Ganze Dramen,
5)
[523] wie die Choëphoren und die Eumeniden, wären ein nichtiges
Schattenspiel, wenn ihnen nicht ungebrochener Glaube an Recht
und Macht der Seelen, an Wirklichkeit und Wirksamkeit der
dämonischen Anwalte der ermordeten Mutter, der Erinyen 1),
Leben und Bedeutung gäbe. Hier erhellt sich jedoch zuletzt
der finster hereinhängende Wolkenhimmel grausigen Wahns.
Wo Pflicht und Frevel sich unentwirrbar verstrickt haben,
findet die Gottheit eine Lösung in ihrer Gnade, die doch dem
Rechte nichts vergiebt.
Alles dieses aber, Conflict und Lösung, Frevelthat und
deren Sühnung in immer erneuetem Frevel und daraus ent-
sprungenem Leiden, vollzieht sich hier in dieser Welt. Alle
Schuld rächt sich auf Erden. Das Jenseits ist in der Kette
dieser Vorstellungen und Bilder nicht ein unentbehrliches Glied.
Selten fällt des Dichters Blick dorthin. Speculationen über das
Dasein der Seele nach dem Tode, ein seliges Leben im Geister-
reiche 1), liegen ihm ganz fern. Nur das, was moralischer Er-
weckung und Kräftigung dienen kann an den eschatologischen
Phantasien der Theologen, fand des tragischen Dichters Theil-
nahme. Auf das Gericht, das im Jenseits ein anderer Zeus
halte über die Thaten des Erdenlebens, wird bisweilen hinge-
deutet 2). Aber es bleibt bei dunklen Andeutungen. Es wird
nicht aufgehellt, in welcher Beziehung dieses Hadesgericht zu
der vollen Ausgleichung von Schuld und Schicksal stehen könne,
die schon hier auf Erden Zeus und die Moira bewirken an
dem Thäter selbst und, über seinen Tod hinaus, an seinen
Nachkommen. Und neben den Hindeutungen auf Rechtspre-
chung in der Unterwelt, die ein volles Empfinden des Todten
voraussetzen, stehen Aussprüche, die Vorstellungen von einem
gefühllosen Dämmerleben der Seele im Hades hervorrufen, nicht
anders als Homer es schildert 3). Der Dichter, dem alle in
[525] dem Seelencult wurzelnden, auf das Verhältniss der abgeschie-
denen Seelen zu der Welt der Erdenbewohner bezüglichen Ge-
danken höchst lebendig gegenwärtig sind, hat auf die Art und
Zustände der Verstorbenen in ihrer jenseitigen Abgeschieden-
heit den Blick nicht anhaltend richten wollen. Die Versitt-
lichung und Vertiefung alten Volksglaubens, die er sich ange-
legen sein liess, erwächst ihm doch völlig aus dem Boden dieses
Volksglaubens selbst, nicht anders als die streng erhabene
Gottesidee, die im Hintergrunde seines Weltbildes steht. In
dieser Generation der Männer, die bei Marathon gekämpft
hatten, bedurfte ein tiefer, ja herber Ernst der Betrachtung
von Welt und Schicksal noch kaum der Unterstützung durch
theologische Sectenmeinungen, die aus den Härten und Dunkel-
heiten dieser ungenügenden Wirklichkeit sich nur durch die
Flucht der Gedanken in ein geahntes Jenseits zu retten ver-
mochten.
Zu den Grundproblemen einer Philosophie des Dramas,
den dunklen Fragen nach Freiheit und Gebundenheit des Wil-
lens, Schuld und Schicksal des Menschen, hat Sophokles
eine wesentlich andere Stellung als sein grosser Vorgänger.
Reifere, gelassener sich hingebende Beobachtung des Lebens
und seiner Irrgänge macht ihm einfache, schematische Auf-
lösungen der Verwicklungen weniger leicht, lässt ihn andere
und mannichfaltigere Wege des Verständnisses aufsuchen. Der
3)
[526] einzelne Mensch in der nur ihm allein eigenen Prägung seines
Wesens löst sich ihm freier ab von dem Hintergrunde über-
persönlich allgemeiner Weltmächte und Weltsatzungen; er findet
in sich selbst das Gesetz seiner Handlungen, den Grund seiner
Erfolge oder seines heroischen Unterganges. Es sind nicht
egoistische Absichten, die Antigone zu ihrer That bewegen,
oder Elektren: sie genügen altem, ungeschriebenem Göttergebot.
Aber ihm zu genügen zwingt sie einzig der Zug und Trieb
ihres eigenen Inneren; kein Anderer konnte ihre Thaten ver-
richten, ihr Leid erleiden; wir verstehen die Nothwendigkeit
und innere Berechtigung dessen was sie thun und leiden, rein
aus dem Einblick in die Kräfte und Beschränkungen ihres
Einzelwesens, wie es die Bühnenhandlung vor uns entwickelt.
Bis zum Auffallenden sind in der „Elektra“ die Motive zurück-
gedrängt, die aus allgemein verbindlichen Satzungen, der Blut-
rachepflicht, dem Recht der beleidigten Seelen zu gewinnen
waren: dieser einzelne Fall soll seine Rechtfertigung ganz in
sich selbst tragen, und rechtfertigt sich in der That aus Ge-
sinnung und Gebahren der leidend und thätig an der Hand-
lung betheiligten Menschen so vollständig, dass, anders als bei
Aeschylos, keine Qual des Zweifels während der That, keine
Seelenangst nach dem Morde der ruchlosen Mörderin den Orest
zu überfallen braucht. Wieder, wie einst in der homerischen
Erzählung, ist mit der „gerechten Blutthat“ 1) des Orestes der
Kreis des Unheils geschlossen; keine Erinys steigt auf, auch
seinen Untergang zu fordern 2).
Auch wo Leid und Unheil dem Sterblichen nicht aus
eigenem bewussten Entschluss und Willen, sondern durch dunkle
Schicksalsmacht entsteht, ist es doch der besondere Charakter
des Helden, der, wie seine Entfaltung unseren Antheil vor-
wiegend fordert, so den Verlauf der Ereignisse allein bestimmt
und genügend erklärt. Das gleiche Missgeschick könnte Andere
treffen, aber seine innere und äussere Wirkung würde nicht
dieselbe sein wie für Oedipus und Aias. Nur tragisch unbe-
dingte Charaktere können tragisches Geschick haben.
Und doch entspringt in diesen und anderen Tragödien
das, was der Handlung Anstoss und Richtung giebt, nicht aus
Willen und Sinnesart der Helden. Aias hat in Unfreiheit des
Geistes die That vollbracht, die ihn in den Tod treibt. Oedi-
pus, Deianira rächen an sich selber die Gräuelthaten die sie
begangen haben ohne zu wissen was sie thun. So völlig im
„Philoktet“ das Interesse auf dem lebendigen Widerspiel der
kräftig von einander sich abhebenden Charaktere des Philoktet,
Neoptolemos und Odysseus beruht: die Situation, die sie im
Widerstreit zusammenführt, ist durch ein Ereigniss gestaltet,
das zu bewirken oder zu verhindern in keines Menschen Ab-
sicht oder Macht lag. Eine dunkle Gewalt stürzt den Menschen
in Leiden, treibt ihn zu Thaten, vor deren Anblick das schnell
bereite Urtheil über seine „Schuld“ oder den Zusammenhang
von Leid und Verschuldung verstummt. Es ist nicht altver-
erbter Familienfrevel, der hier Sohn und Enkel des Frevlers
Thaten begehen lässt, die kaum seine eigenen heissen können.
Der Dichter weiss von dieser, in der Dichtung des Aeschylos
so wirksamen Vorstellung 1), aber sie ist ihm nur wie eine
historische Ueberlieferung, nicht lebendiges Motiv seiner Dich-
tung. Auch nicht irrationaler Zufall, nicht unpersönlich, will-
kürlos nothwendig wirkendes Schicksal ist es, was dem unfreien
Thäter Gedanken und Hand zwingt. Heller oder dunkler scheint
im Hintergrund des Geschehenden der bewusste Wille einer
[528] Gottesmacht durch, der, unentfliehbar wie das Schicksal 1), die
Thaten und Geschicke der Menschen nach seinen Zwecken
lenkt.
Die Gottheit bringt einen Plan zur Ausführung, in dem
der einzelne Mensch und sein Geschick ihr nur als Werkzeug
dient. Damit das Vorbedachte in dieser planmässigen Leitung
der menschlichen Dinge bemerklich werde, wird mit Voraus-
sagungen der Zukunft, göttlichen Orakelsprüchen und den Ver-
kündigungen der Seher so oft und nachdrücklich in die Hand-
lung eingegriffen. Liegt nun in dem Plan der Gottheit die
verhängnissvolle That, das unverschuldete Leiden des Einzelnen,
so erfüllt sich der Plan, mag dabei des Menschen Glück in
Trümmer gehn, Schmerz, Frevel, Seelenqual und Tod über ihn
hereinbrechen. Das Wohlergehen der Einzelnen kommt nicht in
Betracht, wo die Absicht der über sein kleines Dasein weit
hinaus blickenden Gottheit erfüllt werden soll. Ein reiner
guter naiver Mensch, ohne Falsch und Fehl, wie Philoktet,
wird lange Jahre hindurch allen Qualen preisgegeben, damit
er mit den Wunderwaffen, die er besitzt, nicht vorzeitig in den
Gang der Entwicklung des Krieges um Troja eingreifen
könne 2). Er ist ein unfreiwilliger Märtyrer für das Wohl der
Gesammtheit. Damit in dem, von der Gottheit festgesetzten
Zeitpunkte Herakles aus dem irdischen Leben gelöst werde 3),
muss Deianira, die innigste Frauenseele, die Athens Bühne be-
schritten hat, aus liebendem Herzen dem Geliebten unwissend
furchtbare Todesnoth bereiten und selbst in den Tod gehen.
[529] Einfach weil es so der Wille der Gottheit war 1), musste
Oedipus, unbewusst und schuldlos, den Vater erschlagen, die
Mutter zum Weib nehmen, sich selbst in tiefstes Elend
stürzen.
So leitet aus dem Verborgenen die stärkere Hand der
Gottheit das menschliche Schicksal, Willen und Thun der
Menschen nach ihren Absichten. Das Problematische des
Menschenlebens, das Missverhältniss zwischen persönlicher
Schuld und Leiden, das tägliche Erfahrung vor Augen stellt,
schien dem Dichter durch diese Vorstellung begreiflicher zu
werden. Er lehrt diese Fügungen einer höheren Gewalt mit
Ergebung hinzunehmen. Er selbst ist von den specifisch
Frommen 2), denen die Wahrnehmung des Götterwillens genügt,
um ihre Verehrung aufzurufen, eine Rechtfertigung dieses
mächtigen Willens nach menschlichen Begriffen von Sittlichkeit
und Güte nicht Bedürfniss ist 3). Die Heiligkeit dieses gött-
lichen Wollens mag vorausgesetzt werden, aber es bedarf nicht
ihres Nachweises für menschliche Prüfung; ja auch wo in der
Wahrung ihrer Vorrechte vor den Menschen, deren erste
Pflicht Anerkennung der Schranken ihres Dürfens und Kön-
nens ist, Grausamkeit und kalte Rachsucht der Gottheit offen
hervortritt (wie in dem Verhalten der Athene im „Aias“ 4),
Rohde, Seelencult. 34
[530] findet sich die Frömmigkeit nicht gestört in ihrer Verehrung
der Mächtigen. Das giebt der Kunst und der Lebensstim-
mung des Sophokles ihren ganz persönlich eigenthümlichen,
rationell nicht aufzulösenden Charakter, wie hier Auffassung
und Darstellung der freien Individualität und ihrer Berechti-
gung mit ehrfürchtigster religiöser Gebundenheit des Sinnes
zusammenbestehen kann. Selten einmal reisst sich ein anklagen-
der Schrei aus der Brust der, um ihnen fremder Zwecke willen
fühllos Gequälten los 1). Zumeist scheut sich Blick und Ur-
theil bis zu den letzten Gründen göttlichen Willens vordringen
zu wollen; aus künstlerischer Absicht, aber auch in religiöser
Behutsamkeit lässt der Dichter ein halbes Dunkel bestehen 2).
Durchaus bleibt die Majestät göttlichen Waltens im Hinter-
grund, mischt sich nicht vertraulich und derb eingreifend in
die menschlichen Geschicke 3).
Aber der Einzelne, der mit seinem Leiden Zwecken dienen
muss, die nicht seine eigenen sind, die Menschheit, die unter so
hartem Gesetze lebt, — wie könnte der Anblick ihrer Geschicke
erhebende und tröstliche Gefühle erwecken! Der Dichter setzt
4)
[531] alle Mittel seiner herzbewegenden Kunst ein, um das unver-
schuldete Leiden, den Wahn wohlmeinender aber beschränkter
Einsicht, die seitab vom erstrebten Ziele irren muss, mitleiden-
der Empfindung des Hörers tief einzuprägen. „Das bist du“
empfindet selbst der Feind, wenn er den Edlen in verstörtem
Sinne irren und freveln sieht 1). Was hier die Starken, die
Weisen, die Guten und Freundlichen ohne ihre Schuld betrifft,
das kann auf jeden aus menschlischem Geschlecht herabfahren.
So sind der Menschheit die Loose geworfen. Um die Nichtig-
keit und das Leid des Lebens, um sein kurzes Glück und die
Unsicherheit seines Friedens erhebt sich in unvergesslichen
Versen die Klage 2). Sie tönt in einem Klang der Entsagung
aus, der die Grundstimmung des Dichters anschlägt. Aber es
bleibt ein herber Geschmack zurück.
Es liesse sich denken, dass einer Sinnesweise, die auf
einen Ausgleich zwischen Werth und Thaten des Menschen
und seinem Schicksal im irdischen Leben verzichtet, es um-
somehr Bedürfniss gewesen sein möge, die Hoffnung auf eine
alles gut machende Gerechtigkeit in einem zukünftigen Da-
sein bei sich und anderen zu kräftigen. Aber der Dichter
lässt wenig von einem solchen Bedürfniss verspüren. Der Ge-
danke an das, was nach dem Tode kommen könne, ist in ihm
nicht von besonderer Lebhaftigkeit. Den Handelnden und
Leidenden in seinen Dramen wird er nirgends zum bestimmen-
den Motiv ihres Verhaltens 3).
Wo dennoch ein Seitenblick auf das unbekannte Land
jenseits des Grabes fällt, da zeigen sich der Phantasie kaum
andere Bilder, als einst den Gedanken homerischer Sänger.
Der Abgeschiedenen wartet der Hades 1), das unerfreuliche,
öde Todtenland 2), in dem die Seele kraftlos, schattengleich,
wenig mehr als ein Nichts 3), dahin dämmert, freudlos, aber
auch leidlos 4) in einem Zustande der Empfindungslosigkeit,
den der im Leben Geplagte oft als ersehnten Hafen der Ruhe
herbeiwünscht 5). Pluton, Persephone, alle Götter der Erd-
tiefe 6) walten der dorthin Abgeschiedenen. Aber nicht Gnade,
nicht Gunst gelten dort, nur Recht, gleiches Recht für Alle
[533] fordert Hades 1). Die fromme Verehrung der Götter bleibt
auch im Jenseits unvergessen 2); im übrigen hört man nichts
von Lohn oder Strafe, einer nachträglichen Ergänzung der auf
Erden nicht voll ausgetragenen vergeltenden Gerechtigkeit im
Lande der Seelen.
Abgeschieden in den Hades hat aber der Todte doch
noch Ansprüche an die Oberwelt und die dort Lebenden. Mit
den homerischen Unterweltsbildern verbindet sich der Seelen-
cult und was sich aus ihm an Vorstellungen vom Nachleben
der Todten ergab. Die Nächstverwandten schulden dem Ver-
storbenen die feierliche Bestattung, als erste Erweisung from-
mer Pflege seines Seelenheils 3). Zweimal, im „Aias“ und in
der „Antigone“, muss Liebe und Treue der Nachgebliebenen,
dieses Recht der Todten in schwerem Widerstreit gegen irdi-
sche Gewalt, und selbst mit Preisgebung des eigenen Lebens
erkämpfend, es erhärten, dass nicht eine bedeutungslose Her-
kömmlichkeit hier vertheidigt und durchgesetzt werde. — Auch
die vollendete Bestattung schneidet den Todten nicht völlig
von dem Zusammenhang mit der Oberwelt ab. Auch später
noch vermögen ihm Opfergaben an seinem Grabe 4) wohlzuthun;
[534] Kunde von irdischen Ereignissen kann bis zu ihm hinab-
dringen 1); er selbst kann, im Schutz der unterirdischen Götter
und ihrer Beisitzerin, Dike, die seine Ansprüche wahrnehmen 2),
in das Leben herübergreifen, als „Fluchgeist“ für solche die
seinen Willen gering achten 3), in Sendung schwerer Traum-
gesichte für seine Feinde 4), als Helfer und unsichtbar wirken-
der Kampfgenoss der Seinigen in höchster Noth 5).
Von einer Ewigkeit seligen Lebens, das der Seele, des
Gottes im Menschen, nach ihrer völligen Lösung aus Leibes-
banden warte, weiss der Dichter nichts, so wenig wie von
ewiger Verdammniss der Unfrommen. Nur des ganz beson-
deren Gnadenstandes, in den der in den Weihen der Göt-
tinnen zu Eleusis Gereinigte in dem unterirdischen Nachleben
eintreten werde, thut er Erwähnung 6), wie er denn dieser Krone
4)
[535] attischer Götterverehrung in patriotischem Hochgefühl gerne
gedenkt 1). Aber nur einer Minderheit der Frommen gewährt
hiemit die Gnade der Göttinnen ein bevorzugtes „Leben“ im
Schattenreiche. Nur einen Einzigen enthebt die Gnade der
Gottheit dem Loose menschlicher Vergänglichkeit, wenn sie
den schwergeprüften Oedipus im Haine der Erinyen ohne Tod
dem irdischen Leben entrückt 2). So lebendig war in dem alt-
gläubigen Dichter die Ueberzeugung von der Thatsächlichkeit
göttlicher Entrückungswunder 3), dass er einem ganzen Drama
diesen unbegreiflichen Vorgang zum alleinigen Ziel geben
mochte, dessen Erreichung alle übrigen Scenen nicht einmal
vorzubereiten, sondern lediglich zu verzögern und der Erwar-
tung um so dringlicher erwünscht zu machen dienen. Es ist
nicht gesteigerte Tugend, die dem Oedipus die Unsterblichkeit
erringt und sie etwa auch anderen, ähnlich Tugendhaften er-
ringen könnte. Er zeigt sich uns zwar als schuldlos Leiden-
der 4), aber als verhärtet in seiner reizbar jähen Gemüthsart,
[536] rachgierig, starr und eigensüchtig, durch sein Unglück nicht
geläutert, sondern verwildert 1). Dennoch erhöht ihn die Gott-
heit zum ewig lebendigen Heros, minder fast ihm selbst zu
seliger Genugthuung als zum Heil des attischen Landes, des
Landes der Menschlichkeit, das den Unglücklichen schützt und
aufnimmt 2), und für immer seine Segenskraft festhalten wird 3).
Wie es einst der Gottheit gefallen hat, den Schuldlosen in
Frevel und Leiden zu verstricken, so gefällt es ihr nun, den
Leidgeschlagenen, ohne neues und hohes Verdienst von seiner
Seite, zu übermenschlichem Glückesloose zu erhöhen 4). An
ihm geschieht ein göttliches Wunder, dessen innerer Veran-
anlassung nachzuforschen nicht frommt.
Nichts liegt in allem, was uns Sophokles von seiner Auf-
fassung eines jenseitigen Daseins wahrnehmen lässt, was von
dem Glauben derer, die nach der Väter Weise das Leben
verstanden und die Götter verehrten, sich unterschiede. Der
grosse Dichter menschlicher Trauergeschicke, der tief sinnende
Betrachter göttlichen Waltens auf der dunklen Erde, wollte
dieser dennoch ein helleres Gegenbild in einem Gedanken-
reiche des Geisterlebens nicht tröstlich zur Seite stellen. Er
bescheidet sich auch hierin; er weiss von diesen Geheimnissen
nichts mehr und nichts anderes als „irgend ein anderer
wackerer Bürger von Athen“ 1).
Sophokles konnte in langem Lebensgange zum vollendeten
Meister der Kunst, zum ganzen Mann und Menschen sich aus-
bilden, ohne die Leitung und Hilfe theologischer oder philo-
sophischer Reflexion. Die Theologie suchte er in ihrem Ver-
steck, im Dunkel abgesonderter Secten, nicht auf; die Philo-
sophie war in der Zeit seiner bildsamen Jugend nach Athen
kaum vorgedrungen; in reiferen Jahren konnte der erhabenen
Einfalt seiner Sinnesweise keine, aus dem Gedanken geborene
Weisheit oder Thorheit der jüngeren Geschlechter förderlich
oder gefährlich werden. Unberührt schreitet er mitten durch
das Gedränge und den Streit des Marktes.
Der Trieb und Zug, der seit dem Ausgange des sechsten
Jahrhunderts alle geistigen Kräfte griechischer Landschaften
nach Athen zu einer letzten und höchsten Steigerung ihres
Vermögens zusammenführte, ergriff, wie vorlängst die musischen
Künste, um die Mitte des fünften Jahrhunderts auch die Philo-
sophie. Athen sah die letzten Vertreter ionischer Physio-
logie in seinen Mauern, dauernd niedergelassen, und den vor-
nehmsten Geistern tiefe Spuren ihrer Lehre einprägend, wie
Anaxagoras, oder zu kürzerem Aufenthalt anwesend, wie jene
[538] Männer die, in bewusstem Gegensatz zu neueren Gedanken-
richtungen, die alten Grundsätze des philosophischen Monis-
mus und Hylozoismus aufrecht erhielten, Diogenes aus Apol-
lonia, auch Hippon von Samos, oder eine Vermittelung alter
und neuer ionischer Lehre versuchten, wie Archelaos. Dann
wurde für die Wanderlehrer neuester Weisheit, die Sophisten,
Athen ein Hauptquartier. Nirgends fand die Kühnheit un-
beschränkter Discussion kunstgerechteres Verständniss als
hier, nirgends so begierige Aufnahme das dialektische Spiel,
das sich selbst Zweck zu sein schien, und doch aller eigenen
athenischen Philosophie fruchtbarster Nährboden werden sollte.
Alle Ueberlieferung in Glauben und Sitte, nicht aus der Re-
flexion geboren und nicht aus ihr zu rechtfertigen, war schon
verloren, sobald sie, wie alles herkömmlich Feststehende in
Welt und Leben, der kalte Blick dieser selbstherrlichen Dia-
lektik des Schutzes selbstverständlicher Giltigkeit entkleidete.
Und wie nun die Sophisten, diese Plänkler einer neuen, noch
unerkennbaren Philosophie, auch die alten Truppen positiver
philosophischer Lehren zerstreut und zurückgeworfen hatten,
so boten sie dem Einzelnen, den sie ganz auf seine eigene
Einsicht anwiesen, zwar Anregungen zum Nachdenken in Fülle,
aber nichts in dem Hin und Her der Meinungen Standhalten-
des. Es würde sich doch nur aus dem obersten Grundsatze
der Grundsatzlosigkeit rechtfertigen, wenn vielleicht diese So-
phistik auch einmal erbaulich reden und z. B. einzelnen Sätzen
einer positiveren Lehre vom Wesen und Leben der Seele den
Schutz ihrer Wohlredenheit hätte leihen wollen 1).
Ist Sophokles dieser ganzen Bewegung, die in Athen ihre
höchsten Wellen schlug, ferngeblieben, so hat sie den Euri-
pides völlig in ihre Wirbel gezogen. Philosophen und So-
phisten hat er persönlich und in ihren Schriften aufgesucht;
sein nach Wahrheit drängender Geist folgt jedem sich dar-
bietenden Führer zu Wahrheit und Weisheit eine Strecke. Aber
er vermag nicht, Eine Richtung einzuhalten; in der Rastlosig-
keit und Rathlosigkeit des Suchens und Versuchens ist er der
rechte Sohn seiner Zeit.
Er ist soweit in Philosophie und Sophistik eingewurzelt,
dass ihm in Glauben und Herkommen seines Volkes nichts
ohne Prüfung giltig scheint. So weit es in den Schranken
dramatischer Kunst irgend möglich ist, übt er, unbedenklich
1)
[540] und kühn, an dem Bestehenden eine Kritik, mit der er der
Empfindung und dem Witze der Vorfahren sich unbedingt
überlegen fühlt. Aber er thut sich niemals genug. Er kann in
der Negative nicht beharren, weil jede Einseitigkeit ihm gegen
die Natur ist. Der grossen Ehrlichkeit seines Geistes ist jener
Zusatz von Frivolität versagt, der die Sophistik und das freie
Spiel dialektischer Zernichtung alles Festen so einfach und er-
götzlich, und daneben fast harmlos macht. Er seinerseits
kann nichts leicht nehmen; und so wird er seiner Sophistik
selbst nicht froh. Er muss neben und nach ihr auch allen
möglichen anderen Stimmen wieder Gehör geben; er hat selbst
Stunden, in denen er in der Beschränkung altüberlieferter
Frömmigkeit auszuruhen sich sehnt. Aber ein Beharren in
dauernden Gedanken ist ihm nicht gegeben; alle seine Ueber-
zeugungen sind nur vorläufig, wie zum Versuch, festgestellt;
auf schwankender Fläche lässt er von jedem Winde gemüth-
licher Regung oder künstlerischen Bedürfnisses sich hin und
her treiben.
Wo alle Ueberzeugungen in gleitende Bewegung gerathen
sind, werden die Vorstellungen von Sein und Wesen der
menschlichen Seele und ihrem Verhältniss zu den Mächten des
Lebens und des Todes nicht allein in dogmatischer Bestimmt-
heit verharren können.
Der Dichter kann, wo dies Inhalt und Sinn der zum
Gegenstande seines Dramas erwählten Fabel erfordern, treu-
herzig auf volksthümliche Annahmen über Bestimmung und
Schicksal der abgeschiedenen Seelen, deren Macht und An-
sprüche auf Verehrung durch die Nachgebliebenen eingehen.
In dem Märchenspiele der „Alkestis“ muss der ganze Apparat
des Volksglaubens mitwirken; vom Todesgotte und seinem
schrecklichen Amte, von dem Aufenthalt der Todten in der
Unterwelt ist wie von Thatsachen und Gestalten der Erfahrung
und Wirklichkeit die Rede 1); der den Todten schuldige Trauer-
[541] cult wird mit Ernst und Nachdruck behandelt 1). Ein ganzes
Drama, die Schutzflehenden, kann die geheiligte Bedeutung
eines ritualen Begräbnisses zum wesentlichen Anlass oder doch
zum Vorwand seiner Handlung haben 2); an einzelnen Aus-
sprüchen, in denen die Wichtigkeit der Bestattung und der
Ehrung des Grabes hervorgehoben wird, fehlt es nicht 3). Die
1)
[542] Nachgebliebenen erfreuen den Todten durch Grabspenden 1);
so gewinnen sie sein Wohlwollen und Hoffnung auf seinen
Beistand 2). Denn Macht und Ehre geniessen nicht nur die zu
höherem Dasein entrückten Helden der Vorzeit 3); nicht nur die
„Heroen“ können aus dem Grabe herüberwirken in das irdische
Leben 4); auch von der Seele des erschlagenen Vaters erwartet
der Sohn Hilfe und Rettung in der Noth. Und für die er-
mordete Mutter treiben die furchtbaren Gestalten alten Glau-
bens, die Erinyen, die Rache ein 5).
Aber an diesem Punkte bricht es doch durch, dass in
3)
[543] diesen Kreis altgeheiligten Volkswahnes der Dichter sich nur
willkürlich einschliesst, so lange dies der Haltung, die er sich
und den Figuren seiner Dramen geben will, entspricht. Die
Erinyen sind ihm gut genug zur Bühnenwirkung; dass in der
That ihre grässlichen Gestalten nur in der Einbildung des
seelisch Kranken vorhanden sind, wird im „Orestes“ geradezu
ausgesprochen 1). Und die ganze Kette dieser Vorstellungen
und Forderungen, vom Mord der nach der Blutrachepflicht
immer neuen Mord hervorrufen muss, von den blutlechzenden
Anwälten der ohne nachgebliebene Bluträcher Ermordeten,
den Erinyen, hat dem Dichter keine Giltigkeit mehr. Das
„Thierische und Bluttriefende“ dieser alten Glaubensbilder er-
regt, in der Zeit geordneter Rechtspflege und menschlich milder
Sitte, seinen Abscheu 2). Er glaubt nicht an solches Blutrecht
der Seelen; die alten Sagen, die in diesem wurzeln, sind ihm
ein Gräuel; nur um sich durch die Art der Behandlung an
diesen, durch eine Herkömmlichkeit der tragischen Bühne ihm
fast aufgedrungenen Stoffen zu rächen, scheint er sie dichte-
risch zu gestalten. — So wird denn auch die Verpflichtung
der Lebenden, den vorangegangenen Seelen einen Cult zu wid-
men, zweifelhaft. Der Ernst, mit dem solcher Cult sonst ge-
fordert wird, wird zerstört durch Betrachtungen wie diese:
dass dem Todten doch sicherlich an reichen Mitgaben ins Grab
[544] nichts liege, in denen allein die Eitelkeit der Ueberlebenden
sich gefalle 1); dass Ehre oder Unehre den Todten nicht mehr
kümmere 2). Wie sollte das auch geschehen, wenn doch der
Verstorbene Schmerz und Lust nicht mehr empfindet, ein
Nichts ist, wie das sogar mitten in der „Alkestis“ wiederholt
ausgesprochen wird 3).
Es ist klar, dass nur aus einem willkürlich eingenommenen
Standpunkte gesehen, dem Dichter die Bilder des volksthüm-
lichen Seelenglaubens und Seelencultes den Schein der Wirk-
lichkeit hatten, sonst aber ihm wie Traumbilder leicht zer-
flatterten 4). Die Lehren der Theologen gewähren ihm keinen
[545] Ersatz, sie geben ihm höchstens flüchtige Anregung. Zwar
seiner Aufmerksamkeit waren auch diese Erscheinungen des
geistigen Lebens der Zeit nicht entgangen. Es finden sich
Anspielungen auf orphische Dichtung, auf die Askese der Or-
phiker, die er der spröden Tugend seines Hippolytos leiht 1).
Der Gedanke, dass die Seele aus einem höheren Dasein herab-
gesunken, in diesem Leibe eingeschlossen sei wie der Todte im
Sarge, nimmt einen Augenblick seine Phantasie gefangen.
„Wer weiss denn, ob das Leben nicht ein Sterben ist“, und
im Tode die Seele zu ihrem wahren Leben erwache? 2) Die
trübe Ansicht vom Menschenschicksal in diesem irdischen Leben,
4)
Rohde, Seelencult. 35
[546] die der Dichter so oft kundgiebt, könnte nach einem Trost in
einem voller befriedigenden Jenseits zu winken scheinen. Aber
nach dem Trost, den die Theologen darboten, hat ihn nicht
verlangt. Unter den mannichfach gewendeten Gedanken des
Dichters über ein Dasein das hinter dem Vorhang des Todes
sich aufthun könnte, tritt doch nie die, allen theologischen Ver-
heissungen zu Grunde liegende Vorstellung hervor, dass dem
seelischen Einzelwesen unvergängliches Leben gewiss sei, weil
es in seiner Individualität göttlicher Natur und selbst ein Gott
sei 1). Wohl ist er es, der das kühne, in späterer Zeit so oft
wiederholte und variirte Wort ausspricht, dass Gott nichts
andres sei als der in jedem Menschen wohnende Geist 2). Aber
hier ist keineswegs an die nach theologischer Lehre in das
Menschenleben verbannte Vielheit einzelner Götter oder Dä-
monen gedacht, sondern es wird hingedeutet auf eine halb
philosophische Seelenlehre, in der man am ersten eine bleibende
Ueberzeugung des Dichters ausgesprochen finden kann.
Mitten in ganz fremdartigen Zusammenhängen lässt Euri-
pides zuweilen Hindeutungen auf eine philosophische Ansicht
von Welt und Menschheit durchbrechen, die um so gewisser
als eigene Bekenntnisse des Dichters gelten müssen, weil sie
der Art der im Drama redenden Person kaum entsprechen,
aus ihrer Lage nicht hervorgehen. Aus Erde und dem „Aether
des Zeus“ sind alle Dinge der Welt hervorgegangen; jene ist
der Mutterschoss, aus dem der Aether alles erzeugt 3). Beide
Grundbestandtheile treten zusammen zur Mannichfaltigkeit der
Erscheinungen; sie verschmelzen nicht miteinander, sie sind
nicht aus einem gemeinsamen Urelemente abzuleiten 4), sie
[547] bleiben dualistisch neben einander bestehen 1). Der Dualismus
in dieser Weltbildungsphantasie war es wohl, der die Alten an
Anaxagoras erinnerte. Aber einfach als eine Poetisirung der
Lehre des Anaxagoras können diese Aussprüche nicht gelten 2),
4)
35*
[548] nach denen aus dem einfachen Element der „Erde“ die Viel-
heit der Stoffe und Dinge nicht anders als durch Wandlung
und Umbildung entstanden gedacht werden kann, während aus
der „Samenmischung“ des Anaxagoras die in sich unveränder-
lichen „Samen“ aller Dinge sich nur ausscheiden und durch
mechanische Neuverbindungen alle wahrnehmbaren Gestaltungen
der Welt entstehen lassen. Der „Aether“ ist in dieser Ver-
bindung mit der „Erde“, wie das thätige, so das geistige und
beseelte Element. Die Aussonderung eines solchen von der
übrigen Materie erinnert ja allerdings an den Vorgang des
Anaxagoras. Aber der Aether ist dem Dichter doch immer
ein Element, wenn auch ein beseeltes, geisterfülltes, nicht ein
allem Elementaren in wesenhafter Verschiedenheit gegenüber-
stehendes Geistiges, wie jener Nûs des Anaxagoras. Dass es
das Element des Aethers, d. h. der trockenen und heissen
Luft ist, dem das Denkende innewohnen soll, mag man als
eine Entlehnung von Diogenes aus Apollonia, dem in Athen
damals vielbeachteten, auch dem Euripides wohlbekannten 1)
Denker betrachten, in dessen Lehre die Luft (die freilich,
ganz anders als bei Euripides, alles Uebrige allein aus sich
hervorbringt) ausdrücklich auch der „Seele“ gleichgesetzt, und
selbst als „Verstand habend“ bezeichnet wird 2).
Diese, aus philosophischen Anregungen schwer vereinbarer
Art gebildete Ansicht von den Urkräften und Urbestandtheilen
des Alls, in der zuletzt doch der dualistische Zug stark über-
wiegt, schwebt dem Dichter vor, wo er in gehobener Stimmung
von der endlichen Bestimmung der Seele des Menschen redet.
Dem „Aether“ wird sich die vom Leibe getrennte Seele ge-
sellen. Es ist indessen nicht immer die philosophisch-dichte-
rische Phantasie, die sich in solchen Ausblicken ergeht. Bis-
weilen gesellt sich ihr und vertritt sie, nur äusserlich ähnlich,
aber zu gleichem Ziele führend, eine volksthümlichere An-
schauung. Wenn hie und da der Aether, der lichte Luftraum
oberhalb der Wolken, nur als Aufenthaltsort der abgeschiedenen
Seelen bezeichnet wird 1), scheint die mehr theologische als
philosophische Vorstellung vorzuwalten, dass nach dem Tode
die frei gewordene Seele zu dem Sitze der Götter 2), den man
längst nicht mehr auf dem Olymp, sondern im „Himmel“ oder
eben im Aether suchte, aufschweben werde. In keinem andern
Sinne wird in einem der, unter Epicharms, des philosophie-
kundigen sicilischen Komikers Namen überlieferten Sprüche
dem Frommen verheissen, dass er im Tode kein Uebel erleiden
werde, denn sein „Geist“ werde dauernd „im Himmel“ ver-
weilen 3). Frühzeitig muss diese, in den Grabgedichten späterer
Zeit so häufig hervortretende Vorstellung in Athen volksthüm-
liche Verbreitung gefunden haben, wenn doch bereits ein, vom
Staate selbst den, im Jahre 432 vor Potidäa gefallenen Athe-
nern gewidmetes Grabepigramm die Ueberzeugung, dass die
Seelen dieser Tapferen „der Aether“ aufgenommen habe, wie
die Erde ihre Leiber, wie eine allgemein zugestandene Meinung
[550] gelassen aussprechen kann 1). Auch die Grundbegriffe popu-
lärer Seelenkunde konnten zu gleichen Gedanken führen. Von
jeher hatte dem Volksglauben die Psyche, vom Hauch und
Athem benannt, als nahe verwandt den Winden, der bewegten
Luft und ihren Geistern gegolten. Leicht mochte sich die
Vorstellung einstellen, dass sie, wenn sie frei über sich ver-
fügen konnte, den verwandten Elementargeistern sich gesellen
werde. Vielleicht nichts anderes will Epicharm sagen, wenn
er ein anderes Mal ausspricht, dass im Tode, bei der Sonde-
rung des Vereinigten, ein jedes zurückkehre, woher es gekom-
men, der Leib zur Erde, nach oben aber, zur Höhe die Seele,
die er, ihre Natur bestimmter andeutend, nach dem Vorgang
des Xenophanes mit einem, später sehr üblich gewordenen
Namen als Hauch oder Wind (πνεῦμα) bezeichnet 2).
Vielleicht aber liegt eben in dieser Benennung eine An-
deutung, dass auch diesem Dichter schon die Menschenseele
zu dem Aether, der sie nach ihrer Befreiung vom Leibe auf-
zunehmen bestimmt ist, in innerlicher Beziehung und Verwandt-
schaft stehe. Und auch von dieser Seite könnte — wie anderer-
seits von der eben betrachteten volksthümlicheren Vorstellung
[551] — Euripides angeregt worden sein 1), der physiologischen Theorie
des Diogenes die eigenthümliche Gestaltung zu geben, die wir
bei ihm antreffen. Die Seele hat ihm Theil an der Natur des
Aethers. Mehr noch aber bedeutet es, dass der Aether Theil
hat an der Natur und wahren Wesenheit der Seele, an Leben,
Bewusstsein, Denkkraft. Beide sind Eines Geschlechts. Der
Aether wird dem Dichter — und hier ist der Einfluss der
durch Diogenes erneuten Speculation des Anaximenes nicht
zu verkennen 2) — zu einer wahren Lebensluft, einem alles
umfluthenden Seelenelement, nicht nur zum Träger des „Geistes“,
sondern zum Allgeist selber. Die Vorstellung von ihm ver-
dichtet sich zu halbpersönlicher Gestaltung; er wird mit dem
Namen der höchsten Gotteskraft Zeus benannt 3), wie von
[552] einem persönlichen Gotte redend, nennt ihn der Dichter „un-
sterblich“ 1). Und der Menschengeist, wesensgleich dem All-
gotte und Allgeist, erscheint, wie es bei Diogenes ausgesprochen
war 2), als ein Theil dieses Gottes und Allverstandes. Gott ist
der Geist, und der Geist und Verstand in uns, so spricht es
der Dichter deutlich aus, ist Gott 3). Im Tode wird, nach der
Trennung von den irdischen Elementen, der Geist, das Pneuma
des Menschen zwar „nicht leben“, in der Weise, wie es in
dem Sonderdasein des Einzelmenschen gelebt hatte, aber es
wird „unsterbliches Bewusstsein behalten“, indem es in den
unsterblichen Aether eingeht, mit dem Alllebendigen und All-
vernünftigen sich verschmilzt 4). Keiner der Physiologen, denen
die gleiche Vorstellung einer die persönliche Unsterblichkeit
des Einzelnen ausschliessenden Unvergänglichkeit des im Men-
3)
[553] schen lebendigen Allgemeinen vorschwebte, hat seine Meinung
so bestimmt ausgesprochen wie dieser philosophische Laie.
Auf der Höhe dieser pantheistischen Erhabenheit der An-
schauung sich zu erhalten, mag der Wunsch des Dichters ge-
wesen sein. Er musste doch im eignen, vieles umfassenden,
nichts in dauernder Umarmung festhaltenden Geiste die Wahr-
heit des Protagoreischen Satzes, dass jede Behauptung ihr gleich-
berechtigtes Gegentheil aufrufe 1), zu oft erfahren, um irgend
einer Meinung zu jeder Zeit anhängen zu können. Vom Tode
und dem was hinter ihm sich aufthun mag, hat doch Niemand
eine Erfahrung 2). Es mag sein, dass völliges Versinken ins
Nichts erfolgt, der Todte ganz zunichte wird 3). In der Un-
vergänglichkeit des Menschengeschlechtes mag der grosse Name,
der Nachruhm grosser Thaten unsterblich fortbestehen 4). Ob
sonst noch, in einer Geisterwelt, sich ein Rest des Lebens er-
hält, wer weiss es? Kaum sollte man es wünschen 5). Das ist
ja das Tröstliche am Tode, dass er aller Empfindung, und so
[554] auch allem Leid und Kummer ein Ende macht. Wir dürfen
uns nicht beklagen, wenn, den Ernten gleich die sich im Laufe
der Jahre folgen, ein Geschlecht der Menschen nach dem an-
deren aufblüht, welkt und dahingerafft wird. So ist der Lauf
der Natur geordnet, und nichts darf uns schrecken, was ihre
Gesetze nothwendig machen 1).
Der Unsterblichkeitsgedanke, in theologischer oder in
philosophischer Fassung, war in jenen Zeiten kaum hie und
da einzeln in Laienkreise eingedrungen. Sokrates selbst, der
auf solche Fragen nach dem Unerforschlichen sich keiner an-
deren Antwort rühmen wollte, als die Mehrzahl seiner Mit-
bürger aus Urväterweisheit bereit hielt, weiss da, wo er bei
Plato sich in seiner unverstellten schlichten Tüchtigkeit geben
darf, in der „Apologie“, wenig von einer Hoffnung auf ewiges
Leben der Seele zu sagen. Entweder, meint er, bringe der
Tod dem Menschen volle Bewusstlosigkeit, wie ein traum-
loser Schlaf, oder einen Uebergang der Seele in ein anderes
Leben, in dem Seelenreiche, das nach seinen Andeutungen mit
dem homerischen Hades weit mehr Aehnlichkeit zu haben
scheint als mit den schimmernden Phantasieländern der Theo-
logen und theologisirenden Dichter 1). Beide Möglichkeiten
nimmt er getrost hin, auf die Gerechtigkeit der waltenden
Götter bauend 2), und blickt nicht nach weiterem aus. Wie
sollte er sicher wissen, was Niemand weiss? 3)
Mit gleicher Gelassenheit mag die Mehrzahl auch der Ge-
bildeten (die damals aus der Menge sich auszusondern anfingen)
das Unbekannte haben dahingestellt sein lassen 4). Plato ver-
[556] sichert, es sei zu seiner Zeit eine verbreitete Volksmeinung
gewesen, dass der ausfahrende Seelenhauch des Sterbenden
vom Winde, besonders wenn er gerade im Sturme daherfuhr,
ergriffen, zerstreut, in’s Nichts zerblasen werde 1). Sonst
schwebt dem Altgläubigen wohl, wenn sein Ende herannaht,
der Gedanke an das vor, was jenseits der Schwelle des Todes
seiner Seele warten könnte 2). Aber der Gedanke an ein ewiges,
endloses wie anfangsloses Leben seines Seelengeistes kam ihm
gewiss nicht. Plato selbst lässt uns erkennen, wie fremd eine
derartige Vorstellung auch solchen Männern war, die philo-
sophischen Untersuchungen mit Verständniss folgen konnten.
Gegen Ende der langen Unterredung über den besten Staat
fragt sein Sokrates ziemlich unvermittelt den Glaukon: ist dir
nicht bewusst, dass unsere Seele unsterblich ist und nie zu
Grunde geht? Da, heisst es, blickte ihn Glaukon verwundert
an und sagte: nein, wahrhaftig, das ist mir nicht bewusst;
kannst denn Du dergleichen behaupten? 3)
Ein paradoxer Einfall scheint dem, theologischer Seelen-
lehre Fernstehenden die Annahme, dass die Seele des Men-
4)
[557] schen ewig und unvergänglich sein möge. Wenn in späteren
Zeiten das anders wurde, so hat dazu Niemand stärker und
dauernder gewirkt als der grosse Denker und Dichter, der den
theologischen Gedanken der persönlichen Unsterblichkeit mitten
im Herzen der Philosophie anpflanzte, und, wenn er ihn so
den Philosophen vertraut machte, den Theologen tiefer be-
gründet zurückgab, ihn zugleich weit über die Schranken der
Schule oder der Secte hinaustrug, so weit wie seine nie ver-
altenden Schriften wirkten, die nicht der Schulstube, sondern
der höchsten Litteratur des Griechenthums und der Mensch-
heit angehören. Es ist unberechenbar, wie viel, seit sie ent-
standen sind, Plato’s Dialoge zur Kräftigung, Verbreitung und
bestimmenden Ausgestaltung des Unsterblichkeitsglaubens, wech-
selnd im Laufe der Jahrhunderte, aber ununterbrochen bis in
unsere Zeit, gewirkt haben.
Plato hat nicht von jeher den Unsterblichkeitsgedanken
bei sich gehegt. Mindestens sehr im Hintergrunde seines
Denkens und Glaubens muss dieser Gedanke gestanden haben,
solange er selbst die Welt aus dem Gesichtspunkte eines wenig
weitergebildeten Sokratismus betrachtete. Nicht nur seinen
Sokrates lässt er damals (in der Apologie) ohne jeden Anklang
an eine Ueberzeugung von unvergänglicher Lebenskraft seiner
Seele in den Tod gehn; auch in dem ersten, noch in dem
Boden sokratischer Lebensweisheit wurzelnden Entwurfe seines
Staatsideals wird der Unsterblichkeitsglaube nicht zugelassen,
ja ausgeschlossen 1).
Es scheint, dass die höchste Vorstellung von Wesen und
Würde, Herkunft und über alles Zeitmaass hinaus sich in die
1)
[559] Ewigkeit erstreckender Bestimmung der Seele Plato erst ge-
wann, als die grosse Wendung seiner Philosophie sich vollendete.
Ueber der Welt der, im Ab- und Zuströmen des Werdens
schwankenden, sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen, deren
unfassbare Wesenlosigkeit er dem Heraklit preisgab, erhob
sich ihm, was sein eigenstes Verlangen forderte und die so-
kratische Forderung nach begrifflichem Wissen als ihren realen
Gegenstand bereits vorauszusetzen schien, — eine Welt des
unentstandenen, unvergänglichen, unveränderlichen Seins, aus
der alle Erscheinung dieser unteren Welt, was sie an Sein in
sich hat, zu Lehen trägt. Selbst bleibt das Sein, die Ge-
sammtheit der Ideen, unvermischt mit dem Werdenden und
1)
[560] Vergehenden, wie ein höchstes Ziel, ein oberster Zweck über
jenem schwebend, das ihm zustrebt, nach der vollen un-
bedingten Fülle des Seins sich emporsehnt 1). Nicht in dem
Flusse der Erscheinungen, ausserhalb dessen es sich erhält,
ist dieses ewige Sein zu ergreifen; nicht der trügerischen, un-
stät wechselnden Wahrnehmung der Sinne stellt es sich dar,
noch der „Meinung“, die sich auf ihr begründet; einzig von
der Vernunfterkenntniss, ohne alle Mitwirkung der Sinne,
kann es erfasst werden 2). Ausserhalb des Denkens und Wis-
sens der Seele besteht diese Welt ewig gleich sich bleibender
Wesenheiten; aber sie entdeckt sich dem Menschen doch erst
in der Thätigkeit seines Denkens 3), und zugleich entdeckt sich
ihm eine höchste Kraft seiner Seele, das Vermögen, nicht nur
wesenlose Allgemeinbegriffe aus der Vielheit der Erscheinungen
bei sich abstrahirend zu bilden, sondern über alle Erfahrung
hinaus mit unfehlbarem Wissen 4) in ein jenseitiges Reich blei-
benden, allerrealsten Seins selbständig sich aufzuschwingen. Die
höchste Kraft des Menschen, die Seele seiner Seele, ist nicht
eingeschlossen in diese Welt, die unstät die Sinne umfluthet.
Wie die letzten Ziele ihrer Betrachtung ist die Seele selbst
[561] nun erhöhet, erst drüben kann sie die würdige Bethätigung
ihrer Lebenskraft finden. Sie gewinnt eine neue Würde, eine
priesterliche Hoheit, als die Mittlerin zwischen den zwei Welten,
denen beiden sie angehört.
Die Seele ist ein rein geistiges Wesen; von dem Materiellen,
als dem „Orte“, in dem das Werdende zu trüben Nachbildern
des Seins ausgeprägt wird, ist nichts in ihr 1). Körperlos ist
sie; sie gehört dem Reiche des „unsichtbaren“ an, das in dieser
immaterialistischen Lehre als das allerrealste gilt, realer als
die wuchtigste Materie 2). Sie ist nicht eine der Ideen, viel-
mehr hat sie, scheint es, an einer Idee, der Idee des Lebens,
nicht anders theil 3), als sonst die Erscheinungen an ihren Ideen.
Aber sie steht dem gesammten Reiche der ewigen Ideen näher
als irgend sonst etwas, was nicht selbst Idee ist, sie ist der
Idee unter den Dingen der Welt am „ähnlichsten“ 4).
Aber sie hat auch am Werdenden theil. Sie kann nicht,
gleich den Ideen, in unveränderter Jenseitigkeit verharren. Auch
sie stammt aus jenem Lande jenseits der Erscheinung. Sie war
von jeher, ungeworden 5), gleich den Ideen, gleich der allge-
Rohde, Seelencult. 36
[562] meinen Seele der Welt, der sie verwandt ist 1). Sie ist „älter
als der Leib“ 2), mit dem sie sich verbinden muss, mit dessen
Entstehung sie nicht etwa gleichzeitig selbst entsteht, sondern
nur aus ihrem Geisterdasein in das Reich der Materie und des
Werdens gezogen wird. Im „Phaedros“ erscheint dieser „Sturz
in die Geburt“ als die nothwendige Folge eines intellectuellen
Sündenfalles, der sich in der Seele selbst vollzieht 3). Im
„Timaeos“ muss, in der Betrachtung des Gesammtlebens im
Organismus der Welt, auch die Beseelung der lebenden Wesen
aus dem Plane, nicht aus einem Abfall von dem Plane des
Weltbildners erklärt werden 4). Die Seele erscheint dort von
[563] Anfang an als dazu bestimmt, einen Leib zu beleben. Sie ist
nicht nur das Erkennende und Denkende mitten in der Welt
des Unbeseelten, sie ist auch die Quelle aller Bewegung. Selbst
von jeher bewegt, theilt sie dem Leibe, dem sie gesellt ist, die
Bewegungskraft mit; ohne sie wäre in der Welt keine Bewegung
und also kein Leben 1).
Sie ist aber in den Leib nur eingeschlossen wie ein frem-
des Wesen. Sie ihrerseits ist des Leibes nicht bedürftig und
nicht durch ihn bedingt. Sie steht als ein Selbständiges neben
ihm, als seine Herrin und Lenkerin 2). Auch in ihrem Zu-
sammenwohnen bleibt Seele und alles Unbeseelte durch eine
tiefe Kluft geschieden 3); nie verschmelzen Leib und Seele, die
doch mit einander eng verklammert sind. Gleichwohl hat der
Leib und seine Triebe die Macht, auf das in ihm wohnende
Ewige einen starken Einfluss zu üben. Durch die Vereinigung
mit dem Leibe kann die Seele verunreinigt werden; Krank-
4)
36*
[564] heiten, wie Unverstand, wilde Leidenschaft, kommen ihr vom
Leibe 1). Sie ist nicht unveränderlich, wie die Ideen, denen
sie nur verwandt, nicht gleichartig ist; vielmehr kann sie völlig
entarten. In ihr Inneres dringen die bösen Einflüsse des
Leibes ein; sie selbst, das ewige, immaterielle Geisteswesen,
kann etwas „körperartiges“ annehmen 2) durch so schlimme
Nachbarschaft.
Sie ist an den Leib gebunden durch Triebe einer niede-
ren Art, die sich zu der ihr allein eigenen Erkenntnisskraft
gesellen. In den Anfängen seiner Speculation waren Plato die
sich von einander unterscheidenden und wechselnd einander
bekämpfenden oder unterstützenden Kräfte der Seele, ähnlich
wie vor ihm anderen Denkern 3), als Theile ungleichen Ranges
und Werthes, in der Seele des Menschen mit einander ver-
bunden, erschienen 4). Schon im Vorleben der Seele im Jen-
seits sieht der „Phaedros“ die Denkkraft in ihr verkoppelt mit
„Muth“ und „Begierde“: diese eben sind es, welche die Seele
in das Reich der Sinnlichkeit herunterziehen; untrennbar bleiben
die drei Theile auch in dem ewigen Leben vereinigt, das der
Seele nach ihrer Lösung vom Leibe wartet.
Je höher aber der Philosoph seine Vorstellung von der
Seele steigert, je leuchtender ihm die Erkenntniss ihrer Be-
stimmung zu ewig seligem Leben im Reiche des unveränder-
lichen Seins aufgeht, um so undenkbarer wird ihm, dass die
zu unsterblichem Dasein im Reich der ewigen Gestalten Be-
rufene ein Zusammengesetztes, und also der Theilung und Auf-
lösung Ausgesetztes sein könne 1), dass der erkennenden Kraft
der Seele für immer Streben und Begierde gesellt sein können,
die sie in die Sinnlichkeit immer wieder hinabzuziehen drohen.
Die Seele in ihrem reinen und ursprünglichen Wesen gilt ihm
nun als einfach und untheilbar 2). Erst bei ihrer Einschliessung
in den Leib wachsen der ewigen, auf Ewiges gerichteten,
denkenden Seele Triebe und Begierden an 3), die aus dem Leibe
[566] stammen, dem Leibe eigen sind 1), nur während des irdischen
Lebens der Seele anhaften, mit ihrem Ausscheiden aber von
der Unsterblichen, selber sterblich und mit dem Leibe vergäng-
lich, abfallen werden.
Die Seele, an die sinnliche Wahrnehmung 2), Empfindung,
Affecte, Begehren nur von aussen herantreten, ist ihrem eigenen,
unvergänglichen Wesen nach nur reine Kraft des Denkens und
Erkennens, mit welchem freilich das Wollen des im Wissen
Ergriffenen unmittelbar auch gesetzt zu sein schien. Sie ist
auf das Jenseits, auf die Erkenntnis und getreue Wieder-
spiegelung der körperlosen Wesenheiten in ihrem Bewusstsein
angelegt. Hienieden aber, in den ruhelosen Wechsel des Wer-
dens gebannt, und von den unreinen Mächten des Leibeslebens
nicht unbeeinflusst, durchlebt sie ein kurzes Dasein 3). Nicht
unbeschädigt verlässt sie im Tode ihren ungleichen Genossen,
den Leib 4). Sie geht in ein Zwischenreich körperlosen Da-
seins über, in dem sie von den Verfehlungen ihres Erdenlebens
durch Busse sich zu lösen hat 5). Abermals wird sie in einen
[567] Leib gezwungen, in einen neuen Zustand irdischen Lebens ver-
setzt, den sie nach eigener Wahl, entsprechend dem besonderen
Wesen, das sie in dem früheren Erdendasein sich erworben
hat, ergreift 1). Nicht ein organischer Zusammenhang, aber
5)
[568] doch ein „Ebenmaass“ 1) besteht nun zwischen der einzelnen
Seele und dem ihr verliehenen Leibe.
So durchlebt die Seele eine Reihe von irdischen Lebens-
läufen 2) verschiedenster Art: bis zum Thier hinab kann sie
sinken in ihren Verkörperungen 3). Von ihren eigenen Ver-
1)
[569] diensten, ihrem erfolgreichen Kampfe gegen Leidenschaften und
Begierden des Leibes wird es abhängen, ob ihre Lebensläufe
sie aufwärts führen zu edleren Daseinsformen. Sie hat ein
gewiesenes Ziel: lösen soll sie sich von dem unreinen Ge-
fährten, der sinnlichen Lust, der Verdunkelung der Erkenntniss-
kraft. Wenn sie das vermag, so wird sie allmählich den „Auf-
weg“ 1) wieder finden, der sie zuletzt zur völligen Freiheit von
dem Zwange einer neuen Einschliessung in einen Leib führt,
und sie heimgeleitet in das Reich des ewig ungetrübten Seins.
Es ist offenbar, wie Plato in seiner philosophischen Dich-
tung von Art, Herkunft, Schicksal und Bestimmung der Seele,
die zeitlos und doch in die Zeitlichkeit gestellt, unräumlich
und doch die Ursache aller Bewegung im Raume sein soll,
den Spuren der Theologen älterer Zeit folgt. Nicht in der
Lehre der Physiologen, nur in Dichtung und Speculation der
Theologen fand er Vorstellungen, ganz in der Richtung der
auch er folgt phantasievoll ausgeführt, von einer Vielheit
3)
[570] selbständig seit Ewigkeit lebendiger, nicht in der Welt der
Sinnlichkeit bei der Bildung eines lebenden Wesens erst ent-
stehender Seelen, die in die Leiblichkeit wie in ein fremdes,
feindliches Element verschlossen, diese Gemeinschaft mit dem
Leibe überleben, viele Leiber durchwandern, immer aber nach
dem Zerfall eines jeden Leibes unversehrt sich erhalten, ewig,
endlos, wie sie anfangslos 1) und seit Ewigkeit lebendig sind.
Und zwar lebendig als geschlossene, untheilbare, persönlich be-
stimmte Einzelwesen, nicht als unselbständige Ausstrahlungen
eines einzigen allgemeinsamen Lebendigen.
Die Lehre von der Ewigkeit und Unvergänglichkeit der
individuellen Seelen, von der persönlichen Unsterblichkeit der
Seelen ist mit Platos eigenster Speculation, mit der Ideenlehre,
schwer in Einklang zu bringen 2). Gleichwohl ist unbestreitbar,
dass er diese Lehre, seit er sie, und gerade in Verbindung
[571] mit der Ideenphilosophie, in den Kreis seiner Gedanken auf-
genommen hatte, unverbrüchlich und in ihrem eigentlichsten
Sinne festgehalten hat. Der Weg, auf dem er zu ihr gelangt
ist, ist nicht zu erkennen aus den „Beweisen“, mit denen er
im „Phaedon“ die bei ihm selbst damals bereits feststehende
Annahme der Unsterblichkeit der Seele zu stützen sucht.
Wenn diese Beweise das, was sie beweisen sollen (und was als
eine gegebene Thatsache nicht nachweisbar, als eine nothwendig
zu denkende Wahrheit niemals erweisbar ist) nicht wirklich
beweisen, so können sie es auch nicht sein, die den Philo-
sophen selbst zu seiner Ueberzeugung geführt haben. Er hat
in Wahrheit diesen Glaubenssatz entlehnt von den Glaubens-
lehrern, die ihn fertig darboten. Er selbst verhehlt das kaum.
Für die Hauptzüge der Geschichte der Seele, wie er sie aus-
führt, beruft er sich, fast entschuldigend und wie zum Ersatz
für eine philosophische Begründung, vielfach auf die Autorität
der Theologen und Mysterienpriester 1). Er selbst wird völlig
und unverstellt zum theologischen Dichter, wo er, nach dem
Vorbild der erbaulichen Dichtung, die Erlebnisse der Seele
zwischen zwei Stationen der irdischen Wallfahrt ausmalt, oder
die Stufengänge irdischer Lebensläufe beschreibt 2), die bis zum
Thier die Seele hinunterführen.
Für solche sagenhafte Ausführungen des Unsagbaren
nimmt der Philosoph selbst keine andere als symbolische Wahr-
[572] heit in Anspruch 1). Völlig ernst ist es ihm mit der Grund-
anschauung von der Seele als einer selbständigen Substanz,
die aus dem Raumlosen jenseits der sinnlich wahrnehmbaren
Welt eintritt in diesen Raum und diese Zeitlichkeit, mit dem
Leibe nicht in organischem Zusammenhang, sondern nur in
äusserlicher Verbindung steht, als immaterielles Geisteswesen
inmitten der Flucht und Vergänglichkeit des Sinnlichen sich
erhält, gleichwohl eine Trübung und Verdunklung ihres reinen
Lichtes in dieser Verbindung erfährt, von der sie aber sich
reinigen soll und sich befreien kann 2), bis zu völligem Aus-
scheiden aus der Umklammerung des Stofflichen und Wahr-
nehmbaren. Er entlehnt das Wesentliche dieser Grundanschau-
ungen den Theologen; aber er bringt sie in nahe Beziehung
zu seiner eigensten Philosophie, die durch die Ueberzeugung
von dem schroffen Gegensatz zwischen Werden und Sein, der
Zwiespältigkeit der Welt nach Geist und Materie, die sich
auch in dem Verhältniss der Seele zum Leibe und zu dem
ganzen Bereiche der Erscheinung ausprägt, völlig bestimmt ist.
Die Seele, in der Mitte stehend zwischen dem einheitlichen,
unveränderlichen Sein und der schwankenden Vielheit des
Körperlichen, hat im Gebiete des Getheilten und Unbeständigen,
in das sie zeitweilig gebannt ist, allein die Fähigkeit, die
„Ideen“ ungetrübt und rein für sich in ihrem Bewusstsein
wieder abzuspiegeln und darzustellen. Sie allein, ohne alle
Mitwirkung der sinnlichen Wahrnehmung und darauf erbauten
Vorstellung, kann der „Jagd nach dem Seienden“ 3) nachgehen.
Der Leib, mit dem sie verkoppelt ist, ist ihr dabei nur ein
Hinderniss, und ein mächtiges. Mit seinen Trieben, so fremd
sie ihr gegenüberstehen, hat sie hart zu ringen. Wie in der
[573] Weltbildung der Stoff nicht zwar die Ursache, aber eine Mit-
ursache ist, durch deren Zwang und Nöthigung der „Geist“,
der die Welt bildet und ordnet, mannichfach gehemmt wird 1),
so ist dem Seelengeiste diese vergängliche, ewig schwankende,
wie in trüber Gährung wallende Stofflichkeit ein schweres
Hemmniss bei seinem eigensten Thun. Sie ist das Böse oder
doch die Ursache des Bösen 2), das überwunden werden muss,
damit der Geist zu seiner Freiheit gelangen, in das Reich des
reinen Seins sich völlig retten könne. Oft redet Plato von der
„Katharsis“, der Reinigung, nach der der Mensch zu trachten
habe 3). Er nimmt auch hier Wort und Begriff von den Theo-
logen an; aber er steigert sie zu einer erhöheten Bedeutung,
in der indessen immer noch die Analogie zu der Katharsis der
Theologen und Weihepriester deutlich hervortritt. Nicht die
Befleckung, die von der Berührung unheimlicher Dämonen und
dessen, was ihr Eigen ist, droht, gilt es zu verhüten; sondern
die Trübung der Erkenntnisskraft und des damit als gleich-
zeitig gesetzt gedachten Wollens des Erkannten, durch die
Sinnenwelt und ihre wilden Triebe 4). Statt nach ritualer Rein-
heit ist zu streben nach der Reinhaltung der Erkenntniss des
[574] Ewigen von der Verdunkelung durch täuschenden Sinnentrug,
nach der Sammlung, dem Zusammenziehen der Seele auf sich
selbst 1), ihrer Zurückhaltung von der Berührung des Vergäng-
lichen als des Unreinen und Herabziehenden.
Auch in dieser philosophischen Umdeutung der ritualen
Enthaltung zu geistiger Ablösung und Erlösung behält das
Streben nach „Reinheit“ einen religiösen Sinn. Denn das
Reich der Ideen, das Reich des reinen Seins, an das nur die
reine Seele rühren kann 2), ist das Reich des Göttlichen. Das
„Gute“, als die oberste Idee, das höchste Vorbild, der letzte
Zweck, dem alles Sein und Werden zustrebt, zugleich mehr
als alle Ideen, der erste Grund alles Seins und alles Wissens,
ist die Gottheit selbst 3). Die Seele, der in ihrem sehnsüch-
tigen Trachten nach dem vollen Sein der Idee zuletzt die Er-
kenntniss des „Guten“ die „höchste Wissenschaft“ 4) wird,
tritt eben hiemit in die innerlichste Gemeinschaft mit Gott.
Die „Umwendung“ der Seele vom farbigen Abglanz zur Sonne
der höchsten Idee selber 5), ist eine Hinwendung zur Gottheit,
zu der Lichtquelle alles Seins und alles Erkennens.
Auf dieser Höhe wird die philosophische Forschung zum
[575] Enthusiasmus 1). Den Weg, der hinaufführt von den Niede-
rungen des Werdenden zum Sein, weist die Dialektik, welche
die zerfahrene, rastlos fliessende Vielheit der Erscheinung „zu-
sammenschaut“ 2) zum ewig Bleibenden, Einheitlichen der Idee,
die jene abbildet, von der einzelnen Idee zur stufenweise sich
übereinander erhebenden Gesammtheit der Ideen, zur letzten,
allgemeinsten der Ideen aufsteigt, in strenger logischer Arbeit
den ganzen Aufbau der höchsten Begriffe aufsteigend durch-
misst 3). Plato ist der scharfsinnigste, ja spitzfindigste, eifrig
allen Verschlingungen der Logik, auch des Paralogismus nach-
spürende Dialektiker. Aber, wie sich in seiner Natur die Be-
sonnenheit und Kälte des Logikers in einer unvergleichlichen
Art mit dem enthusiastischen Aufschwung des Sehers und
Propheten verbindet, so reisst auch seine Dialektik selbst sich
über das mühselige, stufenweis fortschreitende Aufwärtsstreben
von Begriff zu Begriff zuletzt empor an ihr Ziel in einem
einzigen mächtigen Schwunge, der das sehnsüchtig erstrebte
Ideenreich auf einmal und unmittelbar vor ihr aufleuchten
lässt. So wird in der Ekstasis dem Bakchen die Gottheit in
plötzlicher Vision offenbar, so in den Mysteriennächten dem
Epopten das Bild der hohen Göttinnen im Fackelglanz von
Eleusis 4).
Die Dialektik, zu diesem höchsten Gipfel führend, der den
Ausblick auf das, sinnlicher Wahrnehmung unerreichbare, „farb-
lose und gestaltlose und der Berührung unzugängliche Sein“
eröffnet, wird zum Heilswege, auf dem die Seele ihre eigene
Göttlichkeit und ihre göttliche Heimath wiederfindet. Denn
sie ist dem Göttlichen nächstverwandt und ähnlich 1); sie ist
selbst ein Göttliches. Göttlich ist an ihr die Vernunft 2), die
das ewige Sein unmittelbar denkend ergreift. Wär’ nicht das
Auge sonnenhaft, die Sonne könnt’ es nie erblicken 3); wäre
nicht der Geist dem Guten, der höchsten Idee im Wesen ver-
wandt 4), nie könnte er das Gute, das Schöne, alles Vollkom-
mene und Ewige umfassen. In ihrer Fähigkeit, das Ewige zu
erkennen, trägt die Seele die sicherste Gewähr in sich, selbst
ewig zu sein 5).
Die „Reinigung“, durch welche die Seele sich löst 1) von
der Entstellung, die in diesem irdischen Leben sich ihr an-
geheftet hat, stellt das Göttliche im Menschen in seinem
reinen Lichte wieder her. Schon auf Erden macht sie den
wahren Philosophen unsterblich und göttlich 2); so lange er
sich in reiner Vernunfterkenntniss und Umfassung des Ewigen
erhalten kann, lebt er schon hier „auf den Inseln der Seligen“ 3).
Mehr und mehr soll er durch Abstreifen des Vergänglichen
und Sterblichen in sich und an sich, „dem Gotte ähnlich wer-
den“ 4), um nach der letzten Lösung seiner Seele aus dem
irdischen Dasein einzugehn zu dem Göttlichen, Unsichtbaren,
dem Reinen, immer sich selbst Gleichen, und als körperfreier
Geist ewig bei dem ihm Verwandten zu sein 5). Hier versagt
Rohde, Seelencult. 37
[578] die Sprache, die nur in sinnlichen Bildern reden kann, ihre
Hilfe 1). Ein Ziel ist der Seele gewiesen, das ausser aller
Sinnlichkeit liegt, ausser Raum und Zeitverlauf, ohne Ver-
gangenheit und Zukunft ein ewiges Jetzt 2).
Die einzelne Seele kann aus Zeit und Raum sich retten
in die Ewigkeit, ohne doch ihr Selbst an das über Zeit und
Raum erhabene Allgemeine zu verlieren. Man darf hierbei
nicht fragen, was denn in der Einzelseele, wenn sie Streben
und Begierde, sinnliche Wahrnehmung, und alles, was sie zu
der Welt des Veränderlichen und Mannichfaltigen in Bezieh-
ung setzt, abgestreift hat, wiederum ganz Spiegel des Ewigen
geworden ist, noch Persönliches und individuell Bestimmtes
sich erhalten haben könne; wie ein über Raum und Zeit und
alle Vielheit der Sinnlichkeit erhabener und dennoch persön-
licher, in seiner Persönlichkeit sich absondernder Geist sich
denken lasse 3). Als Sonderwesen ihres Selbst sich bewusst,
5)
[579] wie sie von Anbeginn gelebt haben, leben nach Plato die
Seelen in endloser Zeit und ausser aller Zeit. Er lehrt eine
persönliche Unsterblichkeit.
Ein weltflüchtiger Sinn spricht aus dieser Philosophie und
ihrer Seelenlehre. Fern jenseits der Welt, in die das Leben
den Menschen gestellt hat, liegt das Reich des wahren Seins,
des Guten und ungetrübt Vollkommenen; in jenes Reich hin-
überzustreben, von der Unruhe und dem Trug der Sinne den
Geist frei zu machen, von den Begierden und Affecten, die
ihn hier unten „annageln“ 1) wollen, sich zu lösen, sich abzu-
scheiden 2) von dem Leibe und dem Leibesleben, das ist die
höchste Aufgabe der Seele. Sie ist in diese Welt nur gebannt,
um desto gründlicher von ihr sich abzuwenden. Zu sterben,
innerlich allem Sichtbaren, sinnlich Materiellen abzusterben,
3)
37*
[580] das ist das Ziel, die Frucht der Philosophie 1). „Reif sein
zum Sterben“, ist das Kennzeichen des vollendeten Philosophen.
Ihm ist die Philosophie die Erlöserin, die ihn vom Leibe für
alle Zeit befreit 2), von seinen Begierden, seiner Hast und
wilden Erregung 3), und ihn ganz dem Ewigen und seiner Stille
zurückgiebt.
Rein werden, sich ablösen von dem Uebel, sterben schon
in dieser Zeitlichkeit, das sind die immer wiederholten Mah-
nungen, die der Philosoph an die unsterbliche Seele richtet;
ein durchaus negirendes Verhalten fordert auch hier, ihrem
innersten Wesen entsprechend, die asketische Moral von ihr.
Zwar soll diese Verneinung der Welt nur hinüberleiten zu
höchst positivem Verhalten. Die Katharsis eröffnet nur
den Zugang zur Philosophie selbst, die das allein Positive,
allein unbedingt und in wahrer Bedeutung Seiende, allein in
völlig hellem Verständniss als bleibendes Gut von der Ver-
nunft zu Ergreifende zu erreichen, mit ihm ganz zu verschmel-
zen 4) lehrt. Nach dem Seienden hinüber sehnt sich die Seele
des Denkers 5); der Tod ist ihr nicht nur eine Vernichtung
der Leibesbande, die sie hemmten, sondern sehr positiv „Ge-
winn der Vernunfterkenntniss“ 6), auf die sie, ihrem blei-
benden Wesen nach, angelegt ist, also Erfüllung ihrer wahren
Aufgabe. So ist die Abwendung vom Sinnlichen und Ver-
gänglichen zugleich und ohne Uebergang eine Hinwendung zum
Ewigen und Göttlichen. Die Flucht vor dem Diesseits ist in
sich schon ein Ergreifen des Jenseitigen, ein Aehnlichwerden
mit dem Göttlichen 7).
Aber die wahren Wesenheiten sind nicht in dieser Welt
zu finden. Um sie denkend rein zu erfassen, um ungetrübtes
Geistesauge wieder zu werden, muss die Seele der Angst und
Verwirrung des Irdischen sich ganz entschlagen. Für diese,
die Sinne umgaukelnde Erdenwelt hat der Philosoph nur Ver-
neinung. Wahrer Erkenntniss nicht standhaltend, hat das ganze
Gebiet des Werdens für seine Wissenschaft keine selbständige
Bedeutung. Nur als Anreiz und Aufforderung, zu dem Ab-
soluten vorzudringen, dient die Wahrnehmung des immer nur
Relativen, gleichzeitig entgegengesetzte Eigenschaften an sich
Zeigenden 1). Nur dunkle Erinnerungszeichen an das, was sie
einst hell erschaut hatte, findet die Seele in diesem Reiche
trüber Schatten wieder. Die Schönheit dieser Sinnenwelt, von
dem edelsten Sinne, dem Auge, aufgefasst, dient wohl, das
Schöne an und für sich, das hier in entstelltem Abbild sicht-
bar wird, der Seele in’s Gedächtniss zu rufen, ihren eigensten
Besitz, den sie aus einem früheren Leben ausserhalb aller
Leiblichkeit fertig herübergebracht hat, ihr selber aufzudecken 2).
Aber die Wahrnehmung der Schönheit hienieden muss alsbald
über sich selbst hinausführen, hoch über die Welt der Er-
scheinung hinaus, zu den reinen Formen des Ideenlandes. Der
Process des Werdens lehrt nichts kennen von dem Seienden,
das in ihm nicht ist, nichts lernt der Denker aus ihm, er ge-
winnt überhaupt in diesem Leben nichts Neues an Wissen und
Weisheit, er kann nur herauffördern, was er vordem besass
und, in latentem Zustand, immer besessen hat 3). Aber dieser
[582] Besitz liegt im Jenseits. Von den Schattenbildern an der
Wand der Höhle dieser Welt soll er den Blick abwenden, ihn
umwenden zu der Sonne des Ewigen 1). In das Reich des
Veränderlichen gestellt, hierauf zunächst mit Sinnen und Vor-
stellung angewiesen, soll er Alles, was sich hier ihm darbietet,
verschmähen, überspringen, überfliegen, sich unmittelbar dem
Unsichtbaren ganz hingeben, fliehen von hier dort hinüber, wo
er, Gott ähnlich werdend, gerecht und rein sein wird durch
Kraft seiner Erkenntniss 2).
Das irdische Leben, wie es ist, wird ihm fremd und un-
heimlich bleiben, er selbst ein Fremder sein auf Erden, in
irdischen Geschäften unbewandert 3), als ein Thor geachtet von
der hierin so gewandten Menge der Menschen 4). Er hat für
Höheres zu sorgen, für das Heil seiner Seele; nicht der Ge-
sammtheit, sich selbst und seinen Aufgaben wird er leben 5).
Das menschliche Treiben scheint ihm grossen Ernstes nicht
werth 6), das Staatswesen heillos verdorben, auf Wahn und
3)
[583] Begierde und Unrecht begründet. Er allein freilich wäre der
wahre Staatsmann 1), der die Bürger zu ihrem Heil anleiten
könnte, nicht als ein Diener ihrer Gelüste, sondern wie ein
Arzt, der Kranken hilft 2). Nicht „Häfen und Schiffshäuser
und Mauern und Steuern und andere solche Nichtigkeiten“ 3)
würde er der Stadt zuwege bringen, sondern Gerechtigkeit und
Heiligkeit und alles was nach diesem Leben vor dem strengen
Gericht im Jenseits bestehen kann 4). Das wäre die beste Art
der Lebensführung 5), zu der Er anleiten könnte; alle Macht
und Herrlichkeit der Welt verhilft zu ihr nicht; alle die gros-
sen Staatsmänner der Vergangenheit, Themistokles und Kimon
und Perikles verstanden hievon nichts, ihr Treiben war eine
einzige lange Verirrung 6).
Auf der Höhe seines Lebens und Denkens vollendete Plato
ein Idealbild des Staates nach den Grundsätzen und Forde-
rungen seiner Weisheit. Ueber dem breiten Unterbau eines
streng nach Ständen gegliederten Volksthumes, das in sich und
den Einrichtungen seines Lebens die Tugend der Gerechtig-
keit in weithin leuchtender Erscheinung darstellen sollte, und
einst dem Philosophen den ganzen Umkreis des besten Staates
voll auszufüllen geschienen hatte, erhebt sich ihm jetzt, in
überirdischen Aether hinaufweisend, eine oberste Bekrönung,
der alles Untere nur als Träger und zur Ermöglichung ihres
Daseins in luftiger Höhe dient. Ein kleiner Ausschuss der
[584] Bürger, die Philosophen, bilden diese letzte Spitze der Staats-
pyramide. Hier, in diesem, nach den Zwecken der Sittlich-
keit geordneten Staate, werden auch sie, nicht freudig zwar,
aber um der Pflicht willen, am Regiment theilnehmen 1); so-
bald die Pflicht sie entlässt, werden sie eilen, zurückzukehren
zu der überirdischen Contemplation, die Zweck und Inhalt ihrer
Lebensthätigkeit ist. Um diesen Contemplativen eine Stätte
zu bereiten, um die Möglichkeit zu bieten, sie zu ihrem, dem
höchsten Beruf heranzubilden, um die Dialektik als eine
Lebensform, als Ziel des menschlichen Bestrebens 2) in den
Betrieb des irdischen Culturlebens einfügen zu können, ist im
Grunde der ganze Idealstaat stufenweise aufgebaut. Die bürger-
lichen, gesellschaftlichen Tugenden, um deren fester Begrün-
dung in rechtem Ineinandergreifen willen der ganze Staatsbau
von unten auf errichtet zu sein schien, haben auf dieser Höhe
keine selbständige Geltung mehr. „Die sogenannten Tugenden“
treten alle in Schatten vor der höchsten Kraft der Seele, der
mystischen Anschauung des Ewigen 3). Der vollendete Weise
hat nicht mehr die oberste Bestimmung, den Andern, draussen
Stehenden, Pflichten zu erweisen; sein eigenes inneres Leben
reif machen zur Selbsterlösung, das ist seine wahre und nächste
Pflicht. Der guten Werke braucht’s nicht mehr, wo der Geist
[585] mit dem Gebiet irdischen Thuns und Handelns keinen Zu-
sammenhang mehr hat. Soll es sich dennoch um wirkendes
Gestalten der Welt handeln, so werden dem Weisen, der das
Höhere hat, die „Tugenden“ von selbst zufallen 1).
Wenigen ist diese Höhe des Daseins zugänglich. Gott
allein und von den Sterblichen eine kleine Schaar 2) vermag in
reinem Denken das ewig Seiende, den einzigen Gegenstand
sicheren, hellen, unveränderlichen Wissens zu berühren. Nie
kann die Menge der Menschen zu Philosophen werden 3). Den
Philosophen allein aber reicht diese Lehre die Krone des
Lebens. Hier ist nicht eine Religion für die Armen im Geiste;
die Wissenschaft, das höchste Wissen um das wahrhaft
Seiende ist Bedingung der Erlösung. Gott erkennen ist gött-
lich werden 4). Es ist verständlich, warum diese Heilsverkün-
dung eine weite Gemeinde um sich nicht sammeln konnte. Sie
durfte es nicht, ohne sich selbst ungetreu zu werden. Seltenen
hohen Menschen reicht sie den Preis, der von jenseits winkt.
Der Preis ist die Befreiung vom Leben im vergänglichen Leibe,
die Vereinigung mit dem wahrhaft Seienden für immer, die
Rückkehr zu allem Ewigen und Göttlichen. Ein Symbol dessen,
was der Philosoph nach seinem Tode erreicht haben wird, wird
die Gemeinde darin aufrichten, dass sie den Abgeschiedenen
unter den Dämonen verehrt 5).
So sieht das Idealbild einer Cultur aus, in der mit dem
Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und ihrer Berufung
zu ewigem Leben im Götterreiche ein tiefer und schwärme-
rischer Ernst gemacht würde. Der Unsterblichkeitsglaube wird
[586] hier der Schlussstein in einem Aufbau des Lebens, dessen
Baumeister alles Irdische, als nur für einstweilen gültig, tief
entwerthet sieht, da ihm allein der Himmel der geistigen Welt
der ewig bleibenden Gesetze und Vorbilder dauernd im Ge-
müthe steht. Ueber das Griechenthum, wie es sich in Staat
und Gesellschaft, in Lebenssitte und Kunst, einer Kunst, die
ewig ist soweit die Menschheit ewig sein mag, entwickelt hatte,
wird hier achtlos hinausgeschritten; eine Aristokratie wird hier
gefordert, nach einem Maassstab dessen, was das „Beste“ sei,
angelegt, dem keine unter Menschen denkbare Culturform, und
wäre sie so tief in aristokratischen Gedanken eingewurzelt,
wie die griechische allezeit war, genug thun könnte. Und das
letzte Wunschziel dieser Organisation des irdischen Lebens
wäre die Aufhebung alles Lebens auf Erden. —
Platos in Geben und Empfangen gleich reicher Geist,
nicht dazu angethan, in einem einzigen mystischen Tiefblick zu
erstarren, hat auch nach Vollendung der Bücher vom Staate
nicht abgelassen, das System seiner Gedanken mannichfach
weiterbildend umzugestalten, einzelne Probleme in erneuerter
Forschung und hin- und hergehenden Versuchen auszuführen;
selbst einen zweiten Aufriss eines Staatsgebäudes hat er hinter-
lassen, in dem er, die höchsten Aufgaben menschlichen Be-
strebens fast ausser Augen lassend, die Lebensführung der
Vielen, denen das Reich der ewigen Gestalten stets verschlos-
sen bleiben wird, durch feste Satzungen zum erreichbaren
Besseren zu leiten für seine Pflicht hielt. Er hatte in vielen
Stücken Entsagung gelernt. Aber der tiefe Grund seiner Ge-
danken blieb unbewegt der gleiche, die Forderungen, die er
an Welt und Menschengeist stellt, sind in ihrem innersten
Sinne unverändert geblieben. Mit richtigem Verständniss hat
die Nachwelt sein Bild festgehalten, als das des priesterlichen
Weisen, der mit mahnender Hand dem unsterblichen Menschen-
geiste aufwärts den Weg weisen will, von dieser armen Erde
hinauf zum ewigen Lichte.
Plato und seine Verkündigung von Wesen, Herkunft und
Bestimmung der Seele bildet einen Abschluss, den Abschluss
jener spiritualistischen, theologischen Bewegung, von deren
Tiefe und Mächtigkeit nichts eine bedeutendere Vorstellung er-
weckt, als dass sie einen solchen Abschluss sich geben konnte.
Sie kommt dann zur Ruhe. Wenigstens zieht sie sich von der
Oberfläche griechischen Lebens zurück; gleich einem jener
Ströme Asiens, von denen die Alten wussten, verschwindet ihr
Lauf für lange in unterirdischen Klüften, um fern von seinem
Ursprung um so erstaunlicher wieder ans Licht zu kommen.
Selbst Platos Schule wendete, bald nachdem der gebietende
Geist des Meisters geschieden war, sich nach ganz anderen
Richtungen als Jener ihr gewiesen hatte 1). Sie hätte, an
[588] Platos Sinnesart festhaltend, gar zu einsam gestanden in einer
veränderten Zeit, einsamer noch als er selbst schon in der
seinigen stand.
Das Griechenthum trat in einen neuen, den letzten Ab-
schnitt seiner Entwicklung. Der griechischen Volkskraft, die
bei dem drohenden Zusammensturz der alten politischen Ge-
bilde am Ende des vierten Jahrhunderts schon nahezu ge-
brochen scheinen konnte, wuchsen nach der Eroberung des
Orients durch Makedonier und Griechen neue Aufgaben zu, und
mit den Aufgaben neue Fähigkeiten. Die Polis zwar, der
ächteste Ausdruck organisirenden Vermögens des Griechen-
thums, liess sich nicht neu beleben. Was von den alten, eng
geschlossenen Stadtrepubliken nicht in stürmischem Anprall
zusammenbrach, siechte in faulem Frieden dahin. Selten sind
die Ausnahmen, in denen sich (wie namentlich auf Rhodus)
ein kräftigeres Leben selbständig erhielt. Die neuen Grossstädte
der makedonischen Reiche, mit ihrer aus vielerlei Volk zu-
sammengemischten Bevölkerung, boten keinen Ersatz für das
Verlorene; die Bünde, in denen Griechenland eine eigene
Staatsform von weiterer Spannung begründen zu wollen schien,
erlagen frühzeitig innerer Verderbniss und äusserer Gewalt.
Auch im innerlichen Wesen liess die schrankenlose Ausbrei-
tung griechischen Lebens nach Osten und Westen den alten
Nationalgeist, der in der Begrenzung des Eigenen seine
Stärke hatte, nicht unbeschädigt. Immer blieb es ein unver-
gleichlicher Vorzug, ein Grieche zu sein; aber Grieche war
1)
[589] nun, wer an dem Einzigen theil hatte, was die Griechen
in unterscheidender Eigenthümlichkeit zusammenhielt, der
griechischen Bildung; und diese war eine national abgeschlos-
sene nicht mehr. Es war nicht Schuld dieser griechischen
Humanität, wenn von ganzen Völkerschaften im Osten keine
einzige, im Westen zuletzt allein die römische diese aller Welt
dargebotene Bildung zu einem Bestandtheil ihres eigenen
Wesens machte und dort zu Griechen wurden, soviele zu
freien Menschen werden konnten. Aber aus allen Stämmen
und Völkern traten ungezählte Einzelne in die Gemeinschaft
dieses erweiterten Griechenthums ein. Allen wäre der Zugang
möglich gewesen, die eine nationale Bestimmtheit des Lebens
und der Empfindung entbehren konnten: denn die Cultur, die
jetzt Griechen und Griechengenossen vereinigte, beruhte auf
der Wissenschaft, die keine nationale Einschränkung kennt.
Es musste eine in sich zur Ruhe, wenn auch nicht zum
letzten Abschluss gekommene Wissenschaft sein, die sich der
mannichfach gemischten Schaar der Gebildeten zur Führerin
anbieten durfte. Nach dem Drang und Streben der vergangenen
Jahrhunderte war sie zu einer genügsameren Befriedigung in
sich selbst gelangt; sie meinte, nach langem und unruhigem
Suchen nun gefunden zu haben. In der Philosophie zumal liess
mehr und mehr der nie befriedigte Trieb der kühnen Einzelnen
nach, auf immer neue Fragen Antwort zu erzwingen, für die
alten Fragen immer neue Lösungen zu suchen. Wenige grosse Ge-
bäude, nach den festgesetzten Formeln der Schulen aufgerichtet,
boten den nach Gewissheit und Stätigkeit der Erkenntniss Ver-
langenden Obdach; für Jahrhunderte hielten sie, ohne erheb-
liche Umbauten, vor, bis auch sie zuletzt aus den Fugen gingen.
Selbständiger wechselnd war die Bewegung in den Einzel-
wissenschaften, die, von der Philosophie jetzt erst völlig los-
gerungen, nach eigenen Gesetzen sich reich entwickelten. Die
Kunst, an Geist und Anmuth auch jetzt nicht arm, selbst
nach den übermächtigen Leistungen der Vergangenheit nicht
durchaus zu nachbildendem Epigonenthum eingeschüchtert, war
[590] doch nicht mehr, im Bunde mit Sitte und Lebensart des
Volkes, Erzieherin zu Weisheit und Welterkenntniss. Sie wird
ein spielendes Nebenher; Gehalt und Form der Bildung be-
stimmt die Wissenschaft. Und diese, auf verbreiteter Wissen-
schaft beruhende Bildung nimmt von dem Wesen aller Wissen-
schaft an. Die Wissenschaft hält im Leben fest; sie giebt im
Diesseitigen dem Geiste zu thun; sie fühlt geringen Drang,
über den Kreis des Erkennbaren, nie genügend Erkannten,
hinaus in das Unfassbare, der Forschung Unzugängliche zu
streben. Ein gelassener Rationalismus, ein heiteres Beharren
im vernünftig Denkbaren, ohne Sehnsucht nach den Schauern
einer geheimnissvollen Hinterwelt — eine solche Stimmung be-
herrscht Wissenschaft und Bildung der hellenistischen Zeit
mehr als die irgend eines andern Abschnittes griechischer
Culturentwicklung. Was an Mystik lebendig und triebkräftig
blieb in dieser Zeit, hielt sich scheu im Hintergrunde; in deut-
lichem Lichte nimmt man eher ihr volles Gegentheil wahr, die
unerfreulichen Ergebnisse des herrschenden Rationalismus, eine
kahle Verständigkeit, einen altklugen und nüchternen Sinn, wie
er aus der Geschichtserzählung des Polybius uns matten Auges
entgegenblickt, als die Seelenstimmung des Erzählers selbst und
derer von denen er erzählt. Das war nicht eine Zeit der
Heroën und des Heroismus. Das schwächer und feiner ge-
wordene Geschlecht hängt am Leben. Wie nie zuvor hatte
der Einzelne, bei dem Niedergang des politischen Lebens und
seiner Pflichtforderungen, nun Freiheit, sich selbst zu leben 1).
Und er geniesst seiner Freiheit, seiner Bildung, der Schätze
einer durch allen Schmuck und Reiz einer vollendeten Cultur
bereicherten Innerlichkeit. Alle Vorzeit hat für ihn gedacht
und gearbeitet; nicht müssig, aber ohne Hast beschäftigt, ruht
er aus auf seinem Erbe, im halb verkühlten Sonnenscheine des
lang hinausgesponnenen Herbstes des Griechenthums. Noch
[591] grämt ihn wenig, zu wissen, was denn sein möge, wenn alle
Farben und Töne dieser reich entfalteten Welt ihm entschwun-
den sein werden. Diese Welt ist ihm alles. Die Hoffnung oder
Furcht der Unsterblichkeit hat wenig Macht unter den Gebil-
deten dieser Zeit 1). Die Philosophie, der in irgend einer Ge-
stalt sie alle, inniger oder loser, anhangen, lehrt sie, je nach-
dem, diese Hoffnung ehren oder kühl bei Seite setzen: in
keiner der verbreiteten Secten hat die Lehre von der Ewig-
keit und Unvergänglichkeit der Seele im Mittelpunkt des
Systems eine bestimmende Bedeutung. Die Physik hat in
ihnen überall die Führung; die Theologie steht im Hintergrund,
und kann ihre Verkündigung von göttlicher Herkunft und
ewigem Leben der Seelen nur undeutlich oder gar nicht zu
Gehör bringen.
Am Eingang dieser Zeit, weit in sie hinein das Licht
seines Geistes werfend, steht Aristoteles. In dem was dieser
Lehrer di color’ che sanno von der Seele, ihrem Wesen und
ihrem Schicksal zu sagen weiss, werden neben einander zwei
Stimmen vernehmlich. Die Seele, lehrt er, ist in einem leben-
digen, organischen Naturkörper das die Möglichkeit des Lebens
zur Verwirklichung Bringende, die Form in dem Stofflichen
[592] seines Leibes, die Vollendung der, in diesem Leibe angelegten
Fähigkeit selbständigen Lebens. Sie ist, selbst völlig körperlos
und stofflos, nicht das Ergebniss der Mischung stofflicher Be-
standtheile des Leibes; sie ist der Grund, nicht das Resultat
der Lebensfunctionen ihres Leibes, der um ihretwillen da ist,
als ihr „Werkzeug“ 1). Selbst unbewegt, bewegt sie, einem
Naturorganismus innewohnend, diesen als die Kraft des Wachs-
thums und der Ernährung, der Begehrung und der Ortsbewe-
gung, der Empfindung und Anschauung, in den obersten Or-
ganismen als die Zusammenfassung aller dieser Kräfte. Sie
ist von dem Leibe, von ihrem Leibe getrennt so wenig zu
denken, wie die Sehkraft vom Auge, wie die Form vom ge-
formten Wachsbilde 2). Man kann wohl begrifflich unterschei-
den zwischen Leib und Seele, aber thatsächlich scheiden kann
man im belebten Organismus beide nicht. Stirbt das Lebe-
wesen, so verliert der Stoff seine Bestimmtheit zum zweck-
mässigen Organismus, der sein Leben war, ohne den er ein
selbständiges „Wesen“ (οὐσία) nicht ist 3); die Form, die
Functionskraft dieses einst belebten Organismus, seine „Seele“
ist für sich allein nichts mehr.
So redet Aristoteles der Physiolog und innerhalb der
naturwissenschaftlichen Lehre, der die Betrachtung der Seele
zufällt, „soweit sie nicht ohne den Stoff vorkommt“ 4). Ari-
[593] stoteles der Metaphysiker führt uns weiter. In der Seele des
Menschen ist über den Lebenskräften des Organismus noch
ein Geisteswesen lebendig, von übernatürlicher Art und Her-
kunft, der „Geist“, das was „in uns denkt und meint“ 1).
Dieser denkende Geist ist nicht an den Leib und dessen Leben
gebunden 2). Er ist nicht mit dem menschlichen Organismus,
den sein Hinzutreten vollendet, entstanden. Ungeworden, un-
erschaffen, war er von je 3); „von aussen“ tritt er bei der Bil-
dung der Menschen in diesen ein 4). Er bleibt, auch im Leibe
wohnend, unvermischt mit dem Leibe und seinen Kräften, un-
beeinflusst von ihm 5); er führt, in sich verschlossen, ein Son-
derdasein, von der „Seele“, von der er doch ein „Theil“ ge-
nannt wird 6), als ein ganz anderes, wie durch eine Kluft ge-
trennt. Dem Gotte der Aristotelischen Welt vergleichbar, ist
er, wie man sagen könnte, seiner kleinen Welt 7), dem leben-
digen Organismus des Menschen, transcendent; einwirkend auf
sie, ohne eine Gegenwirkung zu erfahren. Dem Gotte ist er
nächstverwandt; er heisst „das Göttliche“ im Menschen 8).
Rohde, Seelencult. 38
[594] Seine Thätigkeit ist die des Gottes 1). Gott, die reine Wesen-
heit, die unbedingte, oberste, ewige Wirklichkeit, ist absolute
stets wirkliche Denkthätigkeit 2). Jede wirkende Thätigkeit,
Thun und Erschaffen bleibt ihm fern 3). So ist auch der „Geist“
ganz im Denken beschäftigt (wiewohl zwischen Möglichkeit und
Verwirklichung bei ihm noch eine Abwechslung stattfindet) 4).
Er ergreift in unfehlbar richtiger, intellectueller Anschauung 5),
das „Unvermittelte“, die ersten und höchsten, nicht aus höhe-
ren Obersätzen abzuleitenden unmittelbar gewissen Begriffe und
Grundsätze, aus denen alles Wissen und alle Philosophie sich
herleitet 6).
In der Vereinigung mit dem Leibe und dessen „Seele“
lebt diese denkende Vernunft als „das Herrschende“ 7) über
beides, doch nicht als die „Verwirklichung“ dieses besonderen,
einzelnen Lebewesens. Der Geist heisst zwar das, was der
einzelne Mensch „ist“ 8), und ohne sein Hinzutreten wäre dieser
[595] Mensch nicht; aber das persönlich Bestimmte des Einzelnen
kann nicht in diesem Vernunftgeiste gefunden werden 1), der,
absondernder Qualitäten überhaupt baar, überall wo er er-
scheint, sich selbst gleich, dem Sonderwesen der einzelnen
Menschen, denen er beigegeben ist, gleichmässig fremd ist, und
kaum wie ein selbständiges Besitzthum des Einzelnen erscheint.
Wenn nun der Tod eintritt, so wird der denkende „Geist“
in den Untergang des menschlichen Organismus, dem er bei-
gesellt war, nicht hineingerissen. Ihn trifft der Tod nicht.
Wie alles Ungewordene ist auch er unvergänglich 2). Er ge-
winnt sein Sonderdasein wieder; wie der grosse Weltgeist, die
Gottheit, neben ihr, nicht aus ihr fliessend, noch in sie zurück-
fliessend, erhält sich der Individualgeist des Menschen in ewigem
Leben 3). Er entschwindet nun in undurchdringliches Dunkel.
Unserer Wahrnehmung nicht nur, auch unserer Vorstellung ent-
zieht sich dieses Sonderleben des Geistes völlig: für sich allein
8)
38*
[596] verharrend, hat der Geist keine Denkthätigkeit, keine Erinne-
rung, ja kein Bewusstsein; es ist nicht zu sagen, was ihm,
ausser dem Prädicat der Lebendigkeit, des Seins, noch für eine
Eigenschaft oder Thätigkeit zugeschrieben werden könne 1).
In der Lehre von diesem Denkgeist, der „von aussen“ zu
der Menschenseele hinzutritt, ohne mit ihr zu verschmelzen,
seiner Praeexistenz von Ewigkeit her, seiner Gottverwandtschaft
und seinem unvergänglichen Leben nach der Trennung von
dem menschlichen Organismus, hat Aristoteles ein mythologi-
sches Element aus Platonischer Dogmatik bewahrt.
Einst war er gerade in der Seelenkunde voller Platoniker
gewesen. In jungen Jahren hatte auch er, gleich anderen
Mitgliedern der Akademie, dem Reize nachgegeben 2), in künst-
lerisch gebildeter Rede schimmernde Phantasien von Herkunft,
Art und Schicksal der Seele, dem göttlichen Dämon 3) in sterb-
licher Hülle, auszuführen. Später schien ihm die Vorstellung,
dass „in einem beliebigen Leibe eine beliebige Seele“ wohne,
undenkbar 4); er konnte die „Seele“ des einzelnen Menschen
[597] nur verstehn als eine Verwirklichung des Lebens dieses ganz
bestimmten leiblichen Organismus, diesem untrennbar verbun-
den, wie Zweck und Gestalt dem bestimmten Werkzeug; alle
Lebenskräfte, auch Begierde, Wahrnehmung, Gedächtniss, reflek-
tirendes Denken schienen ihm nur Wirkungsweisen des beseel-
ten, von seiner „Seele“ nicht getrennt denkbaren Leibes. Aber
es blieb ihm doch ein Rest der alten dualistischen Entgegen-
setzung des Leibes und der, als besondere Substanz gedachten
Seele, derselbe im Grunde, an dem in der späteren Zeit seines
Denkerlebens Plato allein festhielt: der betrachtende, in in-
tellectueller Anschauung die obersten Wahrheiten ergreifende
„Geist“, den er nicht in die „Seele“ hineinziehen, sondern als
ein eigenes, aus göttlicher Höhe herabgestiegenes Wesen von
ihr trennen, und ihr nur äusserlich und für eine engbegrenzte
Lebenszeit anfügen wollte. Der Ursprung dieser Vorstellung
einer Seelenverdoppelung aus Platonischen Erinnerungen, und
weiterhin aus theologischen Lehren, die zuletzt nur eine ver-
geistigende Umdeutung altvolksthümlicher Phantasien von dem
Dasein der Psyche im belebten Leibe darboten, ist deutlich.
Aber der Sinn, in dem die Theologie diese Lehre ausgeführt,
die Folgerungen und Mahnungen, zu denen sie von ihr aus
gelangt war, sind nicht mit übernommen. Von einer „Reini-
gung“ des göttlichen Geistes im Menschen ist nicht mehr die
Rede. Er trägt nichts Unreines und Böses in sich, auch von
aussen kann kein verunreinigender Hauch ihn treffen. Der
Drang ins reine Jenseits hinüber, die Verleugnung und Ver-
werfung des irdischen Genossen, des belebten Leibes, ist dem
„Geiste“ des Aristoteles fremd 1); er hat keinen Trieb zur
4)
[598] „Erlösung“, zur Selbstbefreiung; er kennt keine dahinweisende
Aufgabe. Nur eine festgestellte Thatsache ist die Anwesen-
heit dieses „abtrennbaren“ Geistes im lebendigen Menschen;
es folgt für die Ziele des Lebens nichts aus ihr. Die That-
sache schien sich darin kundzugeben, dass dem Menschen ein
springendes Ergreifen eines unbeweisbaren obersten Erkennt-
nissinhaltes möglich ist, nicht infolge der denkenden Thätig-
keit seiner „Seele“, der dieses Ergreifen schon vorausliegt,
also nur durch Kraft eines höheren Geistesvermögens, eines
eigenen Geisteswesens, dessen Sein und Dasein im Menschen
sich eben hiermit anzukündigen schien. Eine erkenntnisstheo-
retische, nicht eine theologische Betrachtung führte zu der
Unterscheidung des „Geistes“ von der „Seele“. Aber was
sich so neu bestätigte, war im Grunde doch die alte theolo-
gische Lehre. Ein gottverwandtes Wesen schien auch dieser
„Geist“ dem Denker zu sein. Ihm gilt das rein betrachtende
Verhalten, ein Leben in der Betrachtung der letzten Gegen-
stände der Einsicht als ein Vorrecht der Gottheit und gött-
licher Wesen, als das wahre Ziel der Bethätigung lebendiger
Kraft, in dessen Schilderung die nüchterne Kargheit seines
Lehrvortrags von dem Glanz und der Wärme einer ächten und
ganz persönlichen Empfindung des Höchsten überstrahlt und
wie verklärt wird 1). Diese, in sich selbst ihr Ziel und ihre
1)
[599] tiefste Lust findende rein betrachtende Thätigkeit fällt dem
Göttlichen im Menschen, dem Geiste zu; sein ganzes Leben
liegt in ihr. Aber diese Thätigkeit vollendet in Wahrheit der
Geist in diesem Leben, in der Vereinigung mit dem Leibe und
dessen „Seele“. Es bleibt nichts übrig was als Inhalt des
Lebens und Thuns des Geistes in seinem Sonderdasein, nach
vollendetem irdischen Lebenslaufe, sich denken liesse. Der
Geist, und der Mensch dem er zugesellt ist, kann nicht wohl
einen lebhaften Drang nach Erlangung jener, für unsere Vor-
stellung inhaltlos gelassenen jenseitigen Freiheit haben; der
Unsterblichkeitsgedanke, so gestaltet, kann für den Menschen
keinen inneren Werth, keine ethische Bedeutung haben 1). Er
1)
[600] entspringt einer logischen Folgerung, metaphysischen Erwä-
gungen, nicht einer Forderung des Gemüthes. Es fehlt ihm, wie
an sinnfälliger, die Phantasie bestimmender Deutlichkeit, so an
der Kraft (aber auch an der Absicht), auf Haltung und Rich-
tung des irdischen Lebens lenkend einzuwirken. Kein Antrieb
geht von dieser Lehre aus, keiner selbst für die Philosophen,
von denen und deren Thun und Streben in der Schilderung
und begeisterten Lobpreisung des „Geistes“, dieses Philosophen
im Menschen, im Grunde allein die Rede war.
Man konnte an Aristotelischer, ganz auf Erfassung und
Deutung diesseitiger Wirklichkeit gerichteter Philosophie fest-
halten, und doch das Aussenwerk der Lehre von dem, aus
göttlichem Jenseits herabgestiegenen und zu ewig göttlichem
Leben, aber kaum zur Fortsetzung individuellen Daseins nach
dem Tode des Menschen wieder ausscheidenden „Geiste“
preisgeben. An diesem Punkte am meisten erhielt sich in der
Schule freie Discussion der Lehre des Meisters; es waren nicht
die Geringsten unter den Nachfolgern des Aristoteles, die
eine Unsterblichkeit, in welcher Gestalt immer, leugneten 1).
Was die Dogmatiker der stoischen Schule von der mensch-
lichen Seele zu sagen wussten, hängt aufs innigste zusammen
1)
[602] mit dem materialistischen Pantheismus, der ihnen alle Erschei-
nungen des Lebens, des Seins und Werdens in der Welt er-
klärt. Die Gottheit ist das All und nichts ausserhalb des zur
Welt entfalteten Alls; das Weltall ist die Gottheit. Die Gott-
heit ist so Stoff als Form, Leben und Kraft der Welt. Sie
ist der Urstoff, das ätherische Feuer, der feurige „Hauch“,
der sich erhält oder wandelt, in tausend Gestalten zur Welt
sich bildet. Sie ist auch die zwecksetzende und nach Zwecken
wirkende Kraft, die Vernunft und das Gesetz in dieser Welt.
Stoff, Geist und Formprincip zugleich entlässt, in wechselnden
Perioden, die Gottheit aus sich die Mannichfaltigkeit der Er-
scheinungen und nimmt alles Vielfache und Unterschiedene zu
der Einheit ihres feurigen Lebenshauches wieder zurück. So
ist denn in allem Gestalteten, in allem Lebendigen und Beweg-
ten Inhalt und einheitgebende Form der Gott; er ist und wirkt
als „Verhältniss“ im Unorganischen, als „Natur“ in den Pflan-
zen, als „unvernünftige Seele“ in den übrigen Lebewesen, als
vernünftige und denkende Seele in den Menschen 1).
Die vernunftbegabte Menschenseele ist ein abgetrenntes
Stück der Gottheit 2), göttlich wie alles in der Welt, aber in
1)
[603] einem reineren Sinne als anderes; sie ist dem ersten und ur-
sprünglichen Wesen der Gottheit, als eines „bildenden Feuers“
(πῦρ τεχνικόν), näher geblieben 1) als der irdische Feuerhauch,
der an Reinheit und Feinheit viel verloren hat; als die niedere
Materie auf ihren, durch Nachlassen der im Urfeuer lebendig
wirkenden Spannkraft (τόνος) von diesem sich weiter und weiter
entfernenden Wandlungsstufen; als die Stoffe des eigenen Leibes,
in dem sie wohnt und waltet. Als ein wesentlich Unterschiedenes
also entsteht inmitten der Elemente ihres Leibes die einzelne
Seele bei der Zeugung; sie entwickelt sich zu ihrem vollen Wesen
nach der Geburt des Menschen 2). Immer ist sie, auch in
ihrem individuell abgesonderten Dasein, von dem Alllebendigen,
das in ihr gegenwärtig ist, nicht völlig freigegeben, dem „all-
gemeinsamen Gesetz“ der Welt, welches die Gottheit ist,
unterworfen, vom „Schicksal“, dem „Verhängniss“ (πεπρωμένη,
εἱμαρμένη), das der Gesammtheit des Lebens und damit allem
einzelnen Lebenden den Verlauf ihres Daseins bestimmt, um-
fangen und gelenkt 3). Dennoch hat sie die Gabe und Aufgabe
der freien Selbstbestimmung, die Verantwortlichkeit für die
eigenen Entschlüsse und Thaten; sie hat auch, wiewohl reiner,
mit keinem vernunftlosen Bestandtheil verbundenen Ausfluss
2)
[604] der Allvernunft 1), die Möglichkeit der unvernünftigen Wahl
und der Entscheidung für das Böse. Sehr verschieden sind
nach Art, Einsicht und Willensrichtung die doch der einen
und gleichen Urquelle entflossenen Seelenindividuen. Unver-
nunft im Verstehen, Wollen und Handeln ist verbreitet im
Menschenwesen; wenig sind der wirklich Einsichtigen, ja, der
Weise, der den eigenen Willen in völliger Uebereinstimmung
mit dem allgemeinen und göttlichen Gesetze der Welt hielte,
ist nur ein Idealbild, naturae humanae exemplar, in der Wirk-
lichkeit niemals völlig rein dargestellt.
Es besteht ein Widerspruch zwischen der, im ethischen
Interesse geforderten Freiheit und Selbständigkeit der sitt-
lichen Einzelperson und ihres Willens, der nur in Selbstüber-
windung und Niederkämpfung unsittlicher Triebe den Forde-
rungen der Pflicht genügen kann, und der pantheistischen
Grundlehre stoischer Metaphysik, der die Welt (und die Seele
in ihr) nur die nothwendige Selbstentfaltung eines einzigen,
alle absondernde Mannichfaltigkeit ausschliessenden, absoluten
Wesens ist; die neben der reinen Gotteskraft ein widerver-
nünftiges, Böses bewirkendes und zu Bösem lockendes, den
Einzelnen zum eigenmächtigen Ausweichen aus den Bahnen
der allumfangenden Weltsatzung fähig und bereit machendes
Princip nicht kennt. Vergeblich müht sich der Scharfsinn der
Dogmatiker der Stoa, hier einen Ausgleich zu finden.
Zwei Strömungen flossen von Anbeginn der Schule in
ihren, von sehr verschiedenen Seiten her zusammengekommenen
[605] Dogmen neben einander her. Die kynische Ethik, der die
Stoa ihre stärksten praktischen Grundtriebe verdankte, wies,
den Einzelnen ganz auf sich stellend und alles von seiner eigen-
sten Willensbestimmung fordernd, in die Bahn des abgeschlos-
sensten Individualismus, eines ethischen Atomismus. Die hera-
klitische Physik, das Individuum in dem All-Einen, seiner All-
macht und Allgegenwart völlig untertauchend, forderte auch
eine Ethik, die dieser Stellung des Einzelnen zu dem allgemein-
samen Logos der Welt Ausdruck gäbe in einem Leben völlig
ex ductu rationis, in unbedingter Hingebung des Einzelwillens
an die Allvernunft, welche die Welt und die Gottheit ist 1).
Thatsächlich gab auf dem ethischen Gebiete der Cynismus die
stärkeren Impulse. Die weltweite Ordnung und Gesetzmässig-
keit des Alls, auch für das Individuum oberste Norm seines
sittlichen Wollens, vermochte in seinen allzuweit gezogenen
Schranken dem engen Dasein des Einzelnen sich nicht dicht
genug anzuschmiegen; keine praktische Ethik konnte in einer
Kette geregelter Selbstthätigkeit den Menschen mit diesem
letzten und fernsten Ziele verbinden. Das vermittelnde Glied
zwischen dem All und seinen Gesetzen und dem Einzelnen in
seiner Willkür, die griechische Polis mit ihrer Satzung und
Sitte, hatte für diese Söhne eines kosmopolitischen Zeitalters,
[606] die Stoiker sogut wie schon die Cyniker, kaum noch erziehende
Kraft. Der Einzelne sah sich auf sich selbst und seine eigene
Einsicht zurückgewiesen; nach eigenem Maass und Gesetz musste
er leben. Den Individualismus, der diese Zeit, mehr noch als
alle frühere griechische Cultur, bestimmt, gewinnt auch in
diesem pantheistischen System Boden; in dem „Weisen“, der
in völliger Freiheit sich aus sich selber bestimmt 1), allein mit
den ihm Gleichen sich verbunden fühlt 2), erreicht er seinen
Gipfel.
Die Seele aber, die in diesem Einen so Hohes vermochte,
was ihren ungezählten Schwestern nur unvollkommen oder gar
nicht erreichbar war, gewann mehr und mehr das Ansehen,
doch noch etwas anderes zu sein als ein unselbständiger Aus-
fluss der Einen, überall gleichen Gotteskraft. Als ein selb-
ständiges, in eigenem Wesen geschlossenes Göttliches wird sie
vorgestellt, wo sie, ähnlich wie einst bei den Theologen, auch
in stoischen Schriften ein „Dämon“ heisst, der in diesem be-
sonderen Menschen wohnende, ihm zugesellte Dämon 3). Und
[607] im Tode, der auch dieser monistisch angelegten Lehre doch
wieder, nach einer, eigentlich nur einem naiven oder bewussten
3)
[608] Spiritualismus anstehenden Auffassung, als eine Scheidung der
Seele von ihrem Leibe gilt 1), soll dieses, während des Lebens
so selbständig gestellte Seelenwesen nicht mit dem Leibe ver-
gehen, nicht in das All, aus dem es einst entflossen ist, sich
wieder auflösen. Eine Unendlichkeit des Sonderlebens steht
den einzelnen Seelen nicht zu; unvergänglich in Ewigkeit ist
nur die Eine Seele des Weltalls, die Gottheit 2). Aber die
Seelen, die sich aus der Einen, allverbreiteten Gottheit einst
abgesondert haben, überdauern den Zerfall ihres Leibes; bis
zur Auflösung im Feuer, welche die gegenwärtige Periode der
Weltbildung abschliessen wird, erhalten sie sich in ihrem ge-
sonderten Dasein, entweder alle (wie die ältere Lehre der
Schule war), oder doch, wie Chrysipp, der Meister des ortho-
doxen Lehrgebäudes der Stoa bestimmte, die Seelen der
„Weisen“, während die anderen sich schon vorher in das All-
3)
[609] lebendige verlieren 1). Die stärkere ethische Persönlichkeit hält
sich länger in sich selbst zusammen 2).
Von der physisch-materialistischen Seite aus betrachtet 3),
schien es undenkbar, dass die, aus reinem Feuerhauch gebil-
dete Seele, die schon zu Lebzeiten nicht vom Leibe zusammen-
gehalten wurde, sondern ihrerseits den Leib zusammenhielt 4),
nach Auflösung dieses Leibes alsbald vergehen sollte: wie einst
den Leib, so hält sie nun, und um so mehr, sich selbst zur
Einheit zusammen. Ihre Leichtigkeit führt sie aufwärts in die
reinere Luft unter dem Monde, wo der von unten aufsteigende
Hauch sie nährt und nichts ist, was sie zerstören könnte 5).
Eine „Unterwelt“, wie sie das Volk und die Theologen glaubten,
leugnet der Stoiker ausdrücklich 6). Eher konnte er seine
Rohde, Seelencult. 39
[610] Phantasie in einer Ausdenkung des Lebens im Aether, der ihm
nun das Seelenreich geworden war, spielen lassen 1). Es scheint
6)
[611] aber, dass man sich von solchen Erdichtungen zumeist doch
zurückhielt. Das jenseitige Leben der Seelen, der weisen und
der unweisen, blieb inhaltlos 1) in der Vorstellung der noch auf
Erden Zurückgehaltenen.
Und die Lehre von der Fortdauer der Seelenpersönlich-
keit (die zu der Annahme einer persönlichen Unsterblichkeit
ohnehin niemals fortgebildet wurde) — wie sie durch die meta-
physischen Grundvoraussetzungen der Schule, mit denen sie
doch in Verbindung gesetzt wurde, in Wahrheit nicht gefordert
war, ja kaum neben ihnen bestehen konnte, so hatte sie für
den Sinn und Zusammenhalt stoischer Doctrin keine wesent-
lich bestimmende Bedeutung, am wenigsten für die Ethik und
Lebensführung. Die Weisheit der Stoa ist Betrachtung des
Lebens, nicht des Todes. Im irdischen Leben und allein in
ihm kann, im Kampfe mit widerstrebenden Trieben, das Ziel
des menschlichen Bestrebens, die Wiedererzeugung göttlicher
1)
39*
[612] Weisheit und Tugend im menschlichen Geiste, erreicht werden,
soweit dies dem vereinzelt abgerissenen Bruchstück der Gott-
heit 1) überhaupt möglich ist.
Die Tugend aber ist sich selbst genug zur Erringung der
Glückseligkeit, und dieser Glückseligkeit wird durch Kürze ihrer
Dauer nichts abgebrochen, durch längere Dauer nichts zu-
gesetzt 2). Es ist nichts in stoischer Lehre, was den Menschen,
den Weisen, auf Vollendung seines Wesens und seiner Auf-
gaben in einem Leben ausserhalb des Leibes und des irdischen
Pflichtenbereiches hinwiese.
Der nicht aus dem innersten Kern stoischer Lehre er-
wachsene, bedingte Unsterblichkeitsglaube kam ins Wanken, als
auch die starre Dogmatik dieser Schule dem Schicksale erlag,
in allzu naher Berührung mit der Kritik und den Lehrbehaup-
tungen anderer Schulen an ihrer Alleingiltigkeit irre zu werden.
Die streng gezogenen Grenzlinien der Sectenlehren wurden
flüssig, hin und her fand ein Austausch, fast eine Ausgleichung
statt. Panaetius, der erste Schriftsteller unter den stoischen
Schulpedanten, auf weitere Wirkung seiner Schriften bedacht,
der Lehrer und Freund namentlich jener edelsten Römer seiner
Zeit, denen griechische Philosophie den Keim einer Humanität
ins Herz pflanzte, die Roms harter Boden aus sich nicht her-
vorbringen konnte, stand in mehr als einem Punkte von der
Rechtgläubigkeit altstoischer Lehre ab. Die Menschenseele ist
ihm aus zwei Elementen gestaltet 3); sie ist nicht einheitlich,
[613] sondern aus „Natur“ und „Seele“ im engeren Sinne zusammen-
gesetzt 1); im Tode trennen sich ihre Elemente und wandeln sich
zu anderen Gebilden. Die Seele, wie sie einst in der Zeit ent-
standen ist, stirbt und vergeht in der Zeit; wie sie leidensfähig
und zerstörender Schmerzempfindung unterworfen ist, so erliegt
sie endlich ihrem letzten Schmerze. Panaetius lehrte, inmitten
der stoischen Schule, die Vergänglichkeit der Seele, ihren Tod
und Untergang gleichzeitig mit dem Tode des Leibes 2).
Sein Schüler Posidonius, als Schriftsteller noch mehr als
jener wirksam in den Kreisen frei, und nicht schulmässig be-
schränkt Gebildeter, kehrt zu der altstoischen Annahme der
Einheitlichkeit der Seele als feurigen Hauches zurück. Er
3)
[614] unterscheidet wohl drei Kräfte, aber nicht verschiedene Bestand-
theile in der menschlichen Seele; er hatte somit auch keinen
Anlass mehr, an eine Auflösung der Seele in ihre Bestand-
theile im Tode zu glauben. Auch die Entstehung der einzelnen
Seele in der Zeit, aus der ihre Vergänglichkeit in der Zeit zu
folgen schien, leugnete er; er griff zurück auf die alttheologische
Vorstellung einer Praeexistenz der Seele, ihres Lebens seit An-
beginn der Weltbildung, und konnte so auch ihre Fortdauer,
mindestens bis zur nächsten Weltvernichtung im allbeherrschen-
den Feuer, weiter behaupten 1).
Nicht eigener innerer Drang trieb zu diesen Umgestaltungen
der alten Schullehre. Zweifeln und Einwendungen, die gegen
diese Lehre von aussen her, aus fremder Skepsis, erhoben waren,
wurde hier nachgegeben, indem man entweder die Partie ver-
loren gab, oder die Figuren des dialektischen Spiels verschob
1)
[616] und durch Herbeiziehung anderer Figuren Deckung suchte 1).
Mit gleicher Kälte konnte hierbei die Unsterblichkeit aufgegeben
oder neu bestätigt werden. Die platonisirende und poetisirende
Ausführung des Posidonius mag weiter verbreiteten Anklang
gefunden haben unter der Mehrzahl der Leser in einer hoch-
gebildeten Gesellschaft, denen der Gedanke der Seelenfortdauer
ein Bedürfniss mehr der Phantasie als des Gemüthes und
tieferen Sinnes war. Cicero, als beredtester Vertreter des hel-
lenisirten Römerthums der Zeit, mag uns die künstlerisch ästhe-
tische Vorliebe, mit der man diesem Gedanken nachhing, ver-
gegenwärtigen in den Ausführungen, die er, wesentlich nach
Posidonius, dem Glauben an ein Fortleben im göttlichen Ele-
ment des Aethers giebt, im Traum des Scipio, und im ersten
Buche der Tusculanen 2). —
Der Stoicismus blieb lange Zeit lebendig. Mehr als je-
mals zuvor hat er während des ersten und zweiten Jahrhunderts
unserer Zeitrechnung seiner wahren Aufgabe genügt, als eine
Lebensweisheit, nicht als todte Gelehrsamkeit zu wirken, in
[617] Bedrängniss und Mangel, und erst recht in des Lebens Ueber-
fluss seinen Anhängern die Freiheit und Selbstbestimmung des
auf der eigenen Tugend ruhenden Geistes zu bewahren. Es
war nicht immer nur die Nachahmung einer litterarischen Mode
oder die Lust an der Prahlerei tugendhafter Paradoxien, was
die Edelsten der hohen römischen Gesellschaft der stoischen
Lehre zuführte. Nicht wenige haben nach deren Grundsätzen
gelebt, und sind für ihre Ueberzeugung gestorben. Nicht ganz
„ohne tragisches Pathos“, wie der stoische Kaiser es wünscht,
aber mit überlegtem Entschluss, nicht in verblendeter Hart-
näckigkeit 1) gingen diese Blutzeugen des Stoicismus in den Tod.
Es war nicht die unbeirrte Gewissheit des Fortlebens in höherer
Daseinsform, was ihnen leicht machte, das irdische Leben preis-
zugeben 2). Noch reden zu uns, ein jeder in den besonderen
Tönen, die ihnen Temperament und Lebenslage eingaben, die
Vertreter dieses römischen Stoicismus, Seneca, der Philosoph
für die Welt und Mark Aurel der Kaiser, und die Lehrer und
Vorbilder hochstrebender römischer Jugend, Musonius und
Epiktet. Aber die ernstlich anhaltende Bemühung dieser Weisen
um Selbsterziehung zu Ruhe, Freiheit und Frieden, Reinheit
und Güte des Sinnes, die sie uns alle (und nicht am wenigsten
Seneca, dem die Schulung zur Weisheit ein steter Kriegsgang
mit seiner eigenen Natur und allzu empfänglichen Phantasie
sein musste) so ehrwürdig macht, — wie sie nicht nach einem
überirdischen Helfer und Erlöser ausspäht, sondern aus der
Kraft des eigenen Geistes das Vertrauen auf die Erreichung
[618] des Ziels gewinnt, so bedarf sie auch der Anweisung auf eine
Vollendung des Strebens in jenseitigem Leben des Geistes
nicht. In dieser Welt liegt der ganze Umfang ihrer Aufgaben.
Der alte stoische Glaube an die Fortdauer der Einzelseele bis
zu der Vernichtung aller Einzelgebilde im Weltbrande 1) gilt
höchstens als eine Vermuthung neben anderen 2); vielleicht ist
dies nur ein „schöner Traum“ 3). Mag nun der Tod ein Ueber-
gang sein zu einem anderen Dasein, oder ein letztes Ende des
persönlichen Lebens: dem Weisen ist er gleich willkommen,
der nicht nach der Dauer, sondern nach der Fülle des Inhalts
seines Lebens Werth ermisst. Im Grunde neigt Seneca doch
zu der Ansicht, dass der Tod dem Menschen ein Ende bringe,
nach dem der „ewige Friede“ den unruhigen Geist erwarte 4).
Dem stoischen Kaiser steht nicht fest, ob der Tod (wie
die Atomisten meinen) eine Zerstreuung der Seelentheile sei,
oder ob der Geist sich erhalte, sei es bewusstlos oder in einem
bewussten Dasein, das doch bald in das Leben des Alls ver-
fliesse. Alles ist in ewigem Wechsel, so will es das Gesetz
der Welt; auch die Person des Menschen wird sich nicht un-
gewandelt erhalten können; — mag denn der Tod ein „Er-
löschen“ dieser kleinen Seelenflamme des Einzelnen sein, er
schreckt den Weisen nicht, dem in der Schwermuth, die den
Grundton seiner in zarter Reinheit hochgestimmten Seele bildet,
der Tod, der Vernichter, wie ein Freund zu winken scheint 1).
Der derbere Lebensmuth des phrygischen Sklaven und
Freigelassenen bedarf der Annahme einer persönlichen Fort-
dauer nicht, um mit Tapferkeit und Fassung den Kampf des
irdischen Lebens zu bestehn. Das Gewordene muss vergehn;
ohne Zögern und Bedauern ergiebt der Weise sich dem Gesetz
des vernunftbestimmten Weltalls, in dem das Gegenwärtige dem
Kommenden Platz machen muss, nicht um in nichts zu ver-
schwinden, aber um sich zu wandeln und an andere Bildungen
des lebendigen Stoffes sein besonderes Wesen, sein kleines Ich
zu verlieren. Das All erhält sich, aber seine Theile wandeln
sich und tauschen sich unter einander aus 1). Die pantheistische
Grundvorstellung der Schule, von Heraklit übernommen, der
die dauernde Aussonderung kleiner Lebensfunken zu selbst-
ständigem Dasein ausserhalb des feurig fluthenden Alllebens
der Welt undenkbar blieb, war zur Ueberzeugung, das Pathos
1)
[621] der Hingebung des eigenen kurzlebigen Ich an das ewige All
und Eine zur Gesinnung geworden. Der Gedanke der Ver-
gänglichkeit des Einzellebens nach kurzer Dauer schien nicht
mehr unerträglich. Man konnte ein Stoiker bleiben, und doch,
wie Cornutus (der Lehrer des Persius), bestimmt aussprechen,
dass mit ihrem Leibe zugleich die Einzelseele sterbe und ver-
gehe 1).
Der in Epikurs Lehre erneuerte Atomismus wies seine
Anhänger nachdrücklichst an, auf Unvergänglichkeit persön-
lichen Lebens zu verzichten.
Die Seele ist ihm ein Körperliches, zusammengesetzt aus
den beweglichsten Atomen, aus denen sich die dehnbaren Ele-
mente, Luft und Feuerhauch, bilden, durch den ganzen Leib
erstreckt, von ihm zusammengeschlossen, dennoch von dem
Leibe in wesentlicher Verschiedenheit sich erhaltend 2). Auch
Epikur redet von der „Seele“ als einer im Leibe, den sie re-
giert, beharrenden, eigenen Substanz, einem „Theile“ der Leib-
lichkeit, nicht nur der „Harmonie“ der Bestandtheile des
Leibes 3). Ja, von zwei Theilen oder Erscheinungsweisen der
„Seele“, dem Vernunftlosen, das den ganzen Leib durchwalte,
als dessen Lebenskraft, und dem Vernünftigen in der Brust,
dem Träger des Verstandes und Willens, dem eigentlich letzten
Kern des Lebens im Lebendigen, ohne dessen ungetheilte An-
wesenheit der Tod eintrete 4). Anima und animus (wie Lucrez
[622] sie nennt), verschieden von einander, aber untrennbar vereint 1),
entstehen im Lebenskeime des Menschen erst bei der Zeugung;
sie wachsen, altern und nehmen ab mit dem Leibe 2); tritt der
Tod ein, so bedeutet dies eine Scheidung der im Leibe ver-
einten Atome, ein Ausscheiden der Seelenatome; noch vor dem
Zerfall des Leibes vergeht die aus ihm geschiedene „Seele“,
im Windhauch wird die vom Leibe nicht mehr zusammen-
gehaltene zerblasen, sie verfliegt „wie ein Rauch“ an der Luft 3).
Die Seele, diese Seele des einzelnen Menschen, ist nun nicht
mehr 4). Ihre Stofftheile sind unvergänglich; vielleicht dass sie
mit Leibesstoffen einst zu völlig gleicher Verbindung wie ehe-
mals in dem lebendigen Menschen wieder zusammentreten, und
aufs neue Leben und Bewusstsein erzeugen. Aber das wäre
ein neues Wesen, das so entstünde; der frühere Mensch ist im
Tode endgiltig vernichtet, es schlingt sich kein Band zusammen-
hängend erhaltenen Bewusstseins von ihm zu dem neuen Ge-
bilde herüber 5). Die Lebenskräfte der Welt erhalten sich, un-
vermindert, unzerstörbar, aber zur Bildung des einzelnen Lebe-
wesens leihen sie sich nur einmal her, für eine kurze Zeit, um
sich ihm dann für immer wieder zu entziehen. Vitaque man-
cipio nulli datur, omnibus usu.
Den Einzelnen berührt nach seinem Tode so wenig wie
das Schicksal seines entseelten Leibes 6) der Gedanke an das,
4)
[623] was etwa mit den Atomen seiner Seele geschehen mag. Der
Tod betrifft ihn nicht; denn Er ist nur so lange als der Tod
nicht da ist; wo der Tod ist, ist Er nicht länger 1). Empfin-
dung und Bewusstsein sind ihm bei Lösung von Leib und Seele
erloschen; was ihm keine Empfindung erregt, betrifft ihn nicht.
Immer wieder schärfen Epikureische Lehrsprüche dieses: Der
Tod bezieht sich nicht auf uns, ein 2) Von allen Seiten be-
weist, aus abstracten Sätzen und aus den Erfahrungen im Ge-
biet der Lebendigen, Lucrez diesen Satz 3), mit nicht minderem
Eifer als andere Philosophen dessen Gegentheil beweisen. Die
Naturkunde hat keinen wichtigeren Nutzen, als dass sie zu
dieser Einsicht führe 4). Hat Epikurs Weisheit überhaupt kein
anderes Ziel, als dem Menschen, dem schmerzfähigsten Wesen,
Schmerz und Qual fernzuhalten — und selbst ihre „Lust“ ist
nur aufgehobener Schmerz — so dient sie vornehmlich mit der
Vernichtung der Angst vor dem Tode, der Sehnsucht nach
einem endlosen Fortleben, diesem endlichen Leben 5), das ein-
mal nur, nicht vielfach uns vergönnt ist 6). Wenn der Mensch
6)
[624] klar erkannt hat, dass er mit dem Augenblick des eintretenden
Todes aufhören wird zu sein, so kann ihm weder der Schauder
vor drohender Empfindungslosigkeit, noch das Beben vor den
Schrecken der Ewigkeit 1) oder den gefabelten Ungeheuern einer
Seelenwelt in der Tiefe 2) das Leben verfinstern, alles mit dem
Dunkel des Todes überschattend 3). Er wird dem Leben sich
getrost zuwenden, den Tod nicht fürchtend noch ihn suchend 4).
Das Leben wird er allein, der epikureische Weise als der
wahre Lebenskünstler 5), recht zu fassen wissen, nicht in Zaudern
und Vorbereitungen die Zeit vergehen lassen 6), in den Moment
alle Lebensfülle zusammendrängend, so dass ihm das kurze
Leben allen Inhalt eines langen gewinne. Und ein langes
Leben, selbst ein unaufhörliches Leben würde ihn nicht glück-
licher, nicht reicher machen. Was das Leben ihm gewähren
kann, hat es bald gewährt; es könnte sich fortan nur wieder-
holen. eadem sunt omnia semper7). Auf eine Ewigkeit gar
des Lebens hinauszublicken, hat der Weise keinen Grund 8).
Er trägt in seiner Persönlichkeit und dem was ihr Gegenwart
ist, alle Bedingungen des Glückes; je vergänglicher auch dieses
[625] höchste Glück der Menschenkinder ist, um so werthvoller wird
es ihm. Der Ausbildung, der Befriedigung dieses ihm allein
Eigenen darf er sich ganz widmen. Auch im Ethischen gilt
der Atomismus: es giebt nur Einzelne, eine im Wesen der
Dinge gegründete Gemeinsamkeit der Menschen und gar der
Menschheit kennt die Natur nicht 1). In frei gewählter Ge-
nossenhaft mag der Einzelne sich dem Einzelnen, als Freund,
eng anschliessen; die Staatsgemeinschaften, wie sie die Men-
schen erdacht und eingerichtet haben, verpflichten den Weisen
nicht. Der Mittelpunkt und eigentlich der ganze Umkreis der
Welt, die ihn angeht, liegt in ihm selbst. Staat und Gesell-
schaft sind gut und sind vorhanden, um durch ihre schützende
Umfassung den freien Eigenwuchs des Einzelnen zu ermög-
lichen 2), aber der Einzelne ist nicht für Staat und Gesellschaft
da, sondern für sich selbst. „Nicht mehr gilt es, die Hellenen
zu retten und zu bewahren, noch im Weisheitswettkampf Kränze
von ihnen zu erringen“ 3). So redet, mit befreiendem Seufzer,
die grosse Müdigkeit, von der eine am Ziel ihrer Entwicklung
angelangte Cultur überfallen wird, die sich neue Aufgaben nicht
mehr stellt, und es sich leicht macht, wie das Alter darf. Und
diese Müdigkeit hat nicht mehr die Hoffnung, aber in aller
Aufrichtigkeit auch den Wunsch nicht mehr nach einer Ver-
längerung des bewussten Daseins über dieses irdische Leben
hinaus. Ruhig heiter sieht sie das Leben, so lieb es war, ent-
schwinden, wenn es Abschied nimmt, und lässt sich sinken ins
Nichts.
Philosophische Lehren und Lebensanschauungen blieben
in jenen Zeiten nicht ausschliesslich Besitz eng gezogener Schul-
kreise. Niemals wieder in dem Maasse und Umfang wie in dieser
hellenistischen Periode hat Philosophie in irgend einer Gestalt
zur Grundlage und zum einheitgebendem Zusammenhalt einer
allgemeinen Bildung gedient, deren in freierer Lebensstellung
Niemand entbehren mochte. Was an zusammenhängenden und
in fester Formel abgeschlossenen Gedanken über Gebiete des
Seins und Lebens, die sich unmittelbarer Wahrnehmung ent-
ziehen, unter den Gebildeten der Zeit in Umlauf war, war
philosophischer Lehre entlehnt. In einem gewissen Maasse gilt
dies auch von den verbreiteten Vorstellungen über Wesen und
Schicksal der menschlichen Seele. Aber auf dem Gebiet des
Unerforschlichen kann es der Philosophie nie gelingen, den
Glauben, einen irrationalen Glauben, der aber hier auf seinem
wahren Mutterboden steht, völlig zu ersetzen oder zu ver-
drängen, selbst bei den philosophisch Gebildeten nicht, und gar
nicht bei den Vielen, denen ein Streben nach uninteressirter
Erkenntniss allezeit unverständlich bleibt. Auch in dieser
Blüthezeit philosophischer Allerweltsbildung erhielt sich der
Seelenglaube des Volkes, unberührt durch philosophische Be-
trachtung und Belehrung.
Er hatte seine Wurzeln nicht in irgendwelcher Speculation,
sondern in den thatsächlichen Vorgängen des Seelencults. Der
Seelencult aber, wie er für eine frühere Zeit griechischen Lebens
oben geschildert ist 1), blieb ungeschwächt und unverändert in
[627] Uebung. Man darf dies behaupten, auch ohne aus den Resten
der Litteratur dieser späteren Periode erhebliche Zeugnisse hie-
für beibringen zu können, dergleichen, nach Inhalt und Art
dieser Litteratur, man dort anzutreffen kaum erwarten kann.
Zu einem grossen Theil gelten übrigens, nach der Art, wie sie
abgegeben werden, die litterarischen Zeugnisse, aus denen der
Seelencult älterer Zeit sich erläutern liess, ohne Weiteres auch
für unsere Periode. Noch an ihrem letzten Ausgang zeugt
Lucians Schrift „Von der Trauer“ ausdrücklich für das Fort-
bestehen der altgeheiligten Gebräuche in ihrem vollen Umfange,
von der Waschung, Salbung, Bekränzung der Leiche und ihrer
feierlichen Ausstellung auf dem Todtenbette, der ausschweifend
heftigen Klage an der Leiche und ihren im Brauche fest-
stehenden Herkömmlichkeiten, bis zur feierlichen Bestattung,
den im Brande dem Todten mitgegebenen oder mit ihm in die
Gruft versenkten Prunkstücken aus seinem Besitz, an denen
er auch nach dem Tode noch sich erfreuen soll, der Nährung
der hilflosen Seele durch Weingüsse und Brandopfer, dem
rituellen Fasten der Angehörigen, das erst nach drei Tagen
durch das Todtenmahl gebrochen wird 1).
Nichts von allem „Gebräuchlichen“ (νόμιμα) darf dem
Todten vorenthalten werden; nur so ist für sein Heil voll ge-
sorgt 2). Das Wichtigste ist die feierliche Beisetzung der Leiche;
40*
[628] für sie sorgt nicht nur die Familie, sondern vielfach auch die
Genossenschaft, der etwa der Verstorbene angehört hatte 1).
Verdienten Bürgern wird in diesen Zeiten, in denen die Städte
für den Mangel grosser Lebensinteressen in einer oft rührenden
Fürsorge für das Nächstliegende und Beschränkte Ersatz suchen,
nicht selten feierliches Grabgeleite und Begräbniss durch die
Bürgerschaft zuerkannt 2); die Hinterbliebenen, beschliessen dann
wohl die Väter der Stadt, sollen durch bestellte Trostredner
der Theilnahme an ihrem Verlust versichert und über den
Schmerz hinweggeleitet werden 3).
Das rituale Begräbniss, für das man so eifrig sorgte, schien
nichts weniger als eine gleichgiltige Sache, wie es die Philo-
sophen darzustellen lieben 1). Auch die Heiligkeit der Ruhe-
stätte des Todten ist für diesen und für die Familie, die in
abgesondertem Grabbezirke (meistens ausserhalb der Stadt, sehr
selten drinnen 2), bisweilen vielleicht selbst jetzt noch im Inneren
3)
[630] der Häuser) 1), noch im Geisterleben beisammen sein will, von
tiefer Bedeutung. Gegen Profanirung dieses Familienheilig-
thums, durch Einbettung fremder Leichen, oder durch Berau-
bung des Grabgewölbes, wie sie im sinkenden Alterthum immer
häufiger vorkam 2), suchen sich die Berechtigten zu sichern durch
religiöse und bürgerlich rechtliche Schutzmittel. Zahlreich sind
die Aufschriften der Gräber, die nach altem Gesetz der Stadt
den Verletzern der Grabruhe eine Geldstrafe androhen, die an
eine öffentliche Kasse zu zahlen ist 3). Nicht weniger häufig
2)
[631] finden sich Aufschriften, die das Grab und seinen Frieden unter
den Schutz der unterirdischen Götter stellen, dem Schänder
des Grabheiligthums in furchtbarer Verfluchung alle zeitlichen
und ewigen Plagen anwünschen 1). Besonders die Bewohner
[632] einiger nothdürftig hellenisirten Landschaften Kleinasiens er-
gehen sich in Anhäufungen solcher gräulichen Drohungen; dort
mag finsterer Wahn des altheimischen Götter- und Geister-
glaubens auch die Hellenen angeweht haben: wie denn unter
diesen starren Barbarenbevölkerungen vielfach eher die Griechen
zu Barbaren als die Barbaren zu Griechen geworden sind 1).
1)
[633] Doch finden auch in Ländern einer reiner griechisch gehaltenen
Bevölkerung sich hie und da auf Inschriften ähnliche Grabes-
flüche.
Auf jede Weise suchte man die jetzt stärker gefährdete
Heiligkeit und Ruhe des Grabes zu schützen. Das Grab ist
nicht eine leere Moderhöhle; die Seelen der Todten wohnen
in ihm 1); darum ist es ein Heiligthum, ganz geheiligt erst, wenn
es das letzte Mitglied der Familie aufgenommen hat und nun
für immer geschlossen ist 2). Die Familie bringt, so lange sie
besteht, ihren Vorfahren regelmässigen Seelencult am Grabe
dar 3); bisweilen sichern eigene Stiftungen den Seelen den Cult,
dessen sie bedürftig sind 4), für alle Zukunft 5).
Die Voraussetzung alles Seelencultes, dass an der Stätte
ihrer letzten Wohnung die Seele wenigstens in dumpfem Grabes-
leben fortdauere, ist durchaus verbreitet. Sie spricht, mit an-
tiker Naivetät, zu uns noch aus der ungezählten Menge der
Grabsteine, auf denen der Todte, als menschlichen Laut noch
vernehmend und verstehend, mit dem üblichen Worte des
Grusses angeredet wird 1). Aber auch ihm selbst wird bis-
weilen ein ähnlicher Gruss an die Vorbeigehenden in den Mund
gelegt 2). Und es entspinnt sich wohl zwischen ihm, der hier
festgebannt ist, und den noch im Lichte Wandelnden ein Zwie-
gespräch 3). Noch ist dem Todten nicht aller Zusammenhang
mit der Oberwelt abgeschnitten. Es ist ihm eine Erquickung,
wenn ihm sein Name, den er einst im Leben führte, den jetzt
nur sein Leichenstein noch dem Gedächtniss aufbewahrt, zu-
gerufen wird. Die Mitbürger rufen wohl bei der Bestattung
ihm dreimal den Namen nach 4). Aber auch im Grabe ver-
5)
[635] nimmt er noch den theuren Klang. Auf einem athenischen
Grabsteine 1) fordert der Todte die Genossen der Schauspieler-
zunft, der er angehört, die ihn bestattet hatte, auf, beim Vor-
überwandeln an seinem Grabe im Chor seinen Namen auszu-
rufen und ihn (wie er es im Leben gewohnt war) durch Hände-
klatschen zu erfreuen. Sonst wirft wohl der Vorübergehende
dem Todten eine Kusshand zu 2); das ist eine Gebärde, die
Verehrung eines Höheren ausdrückt 3). Nicht nur lebendig ist
die Seele; sie gehört nun, wie der uralte Glaube es aussprach,
zu den Höheren und Mächtigeren 4). Vielleicht, dass diese
Steigerung ihrer Würde und Macht sich ausdrücken will in der
Benennung der Todten als der Guten, Wackeren (χρηστοί), die
schon in alter Zeit üblich gewesen sein muss 5), erst in diesen
späteren Zeiten aber im Anruf des Verstorbenen auf Grab-
steinen sehr gewöhnlich zu dem schlichten Grussworte hinzu-
tritt, nicht überall gleich häufig: seltener in Attika (wenigstens
auf Grabsteinen dort Eingeborener); in Böotien, Thessalien, in
kleinasiatischen Landschaften sehr oft und fast regelmässig 6).
Es liegt in der That nahe, anzunehmen 7), dass diese ursprüng-
4)
[636] lich wohl euphemistisch gemeinte Anrufung des Seelengeistes,
der seine Macht auch benutzen könnte, um das Gegentheil der
ihm hiemit zugetrauten Güte auszuüben, eben die Macht des
also Angeredeten, als eines nun in eine höhere Natur Hinauf-
gehobenen, scheu verehrend bezeichnend soll 1).
Deutlicher und bewusster spricht sich die Vorstellung einer
Erhebung des abgeschiedenen Geistes zu höherer Würde und
Macht aus, wo der Verstorbene ein Heros genannt wird.
Jenes Reich der Zwischennaturen, auf die Grenze der
Menschheit und der Gottheit gestellt, die Welt der Heroen,
entschwand auch in dieser Periode griechischem Glauben keines-
wegs. Die Vorstellungsweise, die einzelne, aus dem sichtbaren
Leben ausgeschiedene Seelen in ein bevorzugtes Geisterdasein
erhoben denken konnte, erhielt sich in Kraft, selbst in fort-
zeugender Kraft.
Seinem wahren und urprünglichen Sinne nach bezeichnet
der Name eines „Heros“ niemals einen einzeln für sich stehen-
den Geist. „Archegetes“, der Anführer, der Anfänger, ist
seine eigentlich kennzeichnende Benennung. Der Heros steht
an der Spitze einer mit ihm anhebenden Reihe von Sterblichen,
die er führt, als ihr „Ahn.“ Ahnen einer Familie, eines Ge-
schlechts, wirkliche oder nur gedachte, sind die ächten Heroen;
Archegeten der Gemeinden, der Stämme, ja ganzer Völker, wenn
auch nur postulirte, verehren in den „Heroen“, nach denen
7)
[637] sie benannt sein wollen, die Angehörigen solcher Gemein-
schaften. Immer sind es mächtig hervorragende, vor anderen
ausgezeichnete Gestorbene, die nach dem Tode in heroisches
Leben eingegangen gedacht werden. Auch Heroen einer
jüngeren Prägung sind, wiewohl nicht mehr die Führer ihnen
angeschlossener Reihen von Nachkommen, doch aus der Masse
des Volkes, das sie verehrt, durch hohe Tugend und Trefflich-
keit ausgesondert. Heros zu werden nach dem Tode war ein
Vorrecht grosser und seltener Naturen, die schon zu Lebzeiten
nicht mit der Menge der Menschen verwechselt werden konnten.
Die Schaaren dieser alten auserlesenen Heroen verfielen
nicht der Vergessenheit, die ihr zweiter und wahrer Tod ge-
wesen wäre. Die Liebe zu Vaterland und Vaterstadt, unver-
welklich unter Griechen, fasste sich in verehrendem Gedächt-
niss der verklärten Helden zusammen, die jene einst befestigt
und beschirmt hatten. Als Messene im vierten Jahrhundert
neu gegründet wurde, wurden die Landesheroen feierlich herbei-
gerufen, dass sie wieder Mitbewohner der Stadt würden, vor
allen anderen Aristomenes, der unvergessliche Vorkämpfer
messenischer Freiheit 1). Noch bei Leuktra war er im Schlacht-
getümmel, den Thebanern vorstreitend, erschienen 2). Vor der
Schlacht hatte Epaminondes Heroinen des Ortes, die Töchter
des Skedasos, durch Gebet und Opfer sich gewonnen 3). Dies
war noch im letzten Heldenalter des Griechenthums. Aber
viel tiefer herunter erhielt sich Andenken und Cult der Landes-
heroen. Bis in späte Zeit verehrten die Bewohner von Sparta
ihren Leonidas 4). Die Helden der Perserkriege, die Erretter
[638] von Hellas, genossen heroische Ehren noch bei späten Nach-
kommen 1). Noch in der Kaiserzeit verehrten die Bewohner
der Insel Kos die, bei der Vertheidigung ihrer Freiheit vor
Jahrhunderten Gefallenen 2). An einzelnen Beispielen ersehen
wir, was allgemein gilt, dass Andenken und Cult der Heroen
so lange in Kraft blieb als die Gemeinde bestand, die ihren
Dienst zu pflegen hatte. Selbst die Heroen — eine eigene
Classe — die nur aus der Kraft alter Dichtung ihr ewiges
Leben gewonnen hatten 3), blieben im Cultus unvergessen.
Hektors heroische Gestalt behielt für seine Verehrer in Troas
und in Theben ihre lebendige Wirklichkeit 4). Noch im dritten
Jahrhundert unserer Zeitrechnung bewahrte die troische Land-
schaft und die benachbarten Küsten Europas Cult und Anden-
ken der Heroen der epischen Gesänge 5). Von Achill, dem
4)
[639] ein besonderes Loos gefallen war, muss in einem anderen Zu-
sammenhang geredet werden 1).
Auch unscheinbarere Gestalten verschwinden nicht aus dem
Gedächtniss ihrer enger beschränkten Gemeinde. Autolykos,
der Begründer von Sinope, forderte noch zu Luculls Zeiten
seine Verehrung 1). An die Reliquien der besonders populären
Heroen der panhellenischen Wettspiele knüpfte noch spät sich
mannichfacher Aberglaube 2), der ihre dauernde Macht bestä-
tigt. Heilkräftige Heroen blieben wirksam und verehrt; ihre
Zahl vermehrte sich noch 3). Harmlose Localgeister, die sogar
ihre Namen verloren hatten, verloren nichts von der Verehrung
ihrer wohlthätigen Wunderkraft: wie jener Philopregmon bei
Potidaea, den noch ein Dichter späterer Zeit feiert 4), oder der
Heros Euodos, der zu Apollinopolis in Aegypten den im Vor-
beiwandeln an seinem Denkmal ihn Verehrenden „guten Weg“
verlieh 5).
Noch verfielen nicht alle Heroen solcher beiläufigen Be-
grüssung durch gelegentlich Vorüberziehende. Die geordneten
Opferfeste auch für Heroen erhielten sich vieler Orten 1); selbst
Menschenopfer fielen bisweilen solchen Geistern, die man wohl
besonderer Machtbethätigung für fähig hielt 2). Das Heroen-
fest ist hie und da das höchste der Jahresfeste einer Stadt 3).
Bei den Heroen nicht minder als bei den Göttern beschwören,
so lange sie selbständig über sich verfügen können, griechische
Städte ihre Verträge 4). Göttern und Heroen gemeinsam
werden Stiftungen geweiht 5). Cultvereine nennen sich nach
den Heroen, die sie gemeinsam verehren 6). Eigene Priester
bestimmter Heroen werden regelmässig bestellt 7). Und noch
im zweiten Jahrhundert weiss uns, in seinem Wanderbuche,
Rohde, Seelencult. 41
[642] Pausanias von nicht wenigen Heroen zu melden, denen, wie
er ausdrücklich sagt, bis zu seinen Tagen die Städte den alten
Cult ununterbrochen darbrachten 1). In vollem Glanze erhielt
sich die alljährlich wiederholte Feier der bei Plataeae gefalle-
nen Heroen bis in die Zeit des Plutarch, der sie mit allen
Umständen ihrer alterthümlichen Festlichkeit beschreibt 2). Noch
beging man damals alljährlich in Sikyon die heroische Feier
für Arat, den Begründer des achäischen Bundes, wenn auch
die Jahrhunderte hier manche Zier des Festes hatten abfallen
lassen 3).
In allen solchen Begehungen widmete man seine Andacht
ganz bestimmten einzelnen Geisterwesen; einem jeden wurde
[643] der Cult dargebracht der ihm gebührte nach den besonderen
Festsetzungen alter heiliger Stiftung. Man war weit entfernt
von der verwaschenen Vorstellung, die einzelne Litteraten aus-
sprechen, dass als „Heroen“ ohne weiteres zu gelten haben
alle wackeren Männer der Vorzeit, oder alle bedeutenden
Menschen irgend einer Zeit 1). Denn die Vorstellung erhielt
sich im Bewusstsein, dass das Aufsteigen zu heroischer Würde
nicht ein Vorgang sei, der sich für irgend eine Klasse von
Menschen ganz von selbst verstehe, sondern jedesmal, wo er
eintrete, Bestätigung ganz besonderer schon im Leben bethä-
tigter Kraft und Tugend sei. Aus dieser Vorstellung heraus hat
man noch in hellenistischer Zeit die Schaaren der Heroen ver-
mehrt um die Helden der eigenen Gegenwart. Wie nicht lange
zuvor Pelopidas, Timoleon, so stiegen nun in die Heroenglorie
empor die Gestalten des Leosthenes, Kleomenes, Philopoemen 2).
Selbst dem Arat, der Fleisch gewordenen Nüchternheit einer
überverständigen Zeit, traute, nach dem Ende seines, dem
Vaterlande innig, wenn auch ohne dauernden Erfolg gewid-
meten Lebens, sein Volk geheimnissvollen Uebergang in heroische
Halbgöttlichkeit zu 3).
Wie hier ganze Volksstämme, so haben auch wohl engere
und selbst gering geachtete Kreise noch in dieser rationalisti-
schen Zeit ihre Helfer und Schützer zu Heroen erhoben und als
41*
[644] solche verehrt. So die Sklaven auf Chios ihren ehemaligen
Genossen und Hauptmann Drimakos 1); anderswo gab es einen
Heros, der alle zu ihm Flüchtenden schützte 2); in Ephesos
einen Heros, der einst ein einfacher Schafhirt gewesen war 3).
Einen Wohlthäter der Stadt, Athenodor den Philosophen,
hat noch zur Zeit des Augustus seine dankbare Vaterstadt
Tarsos nach seinem Tode heroisirt 4). Es kommt vor, dass
einem Heros ferner Vorzeit die Gegenwart aus seinen Nach-
kommen einen ihm gleichnamigen unterschiebt und statt des
Ahnen weiter verehrt 5).
So weit also war man entfernt, dem Gedankenkreise des
[645] Heroencultes entwachsen zu sein, dass man, an immer gestei-
gerten Ueberschwang der Verehrung Mächtiger und Gütiger
überhaupt gewöhnt, die Zahl der Heroen aus den Menschen
des gegenwärtigen Lebens zu vermehren lebhaft geneigt blieb.
Selbst der Tod des Gefeierten wird nicht immer abgewartet,
um ihn als „Heros“ zu begrüssen; schon bei Lebzeiten sollte
er einen Vorschmack der Verehrung geniessen, die ihm nach
seinem Abscheiden bestimmt war. So war schon Lysander einst
von den Griechen, die er von Athens Uebermacht erlöst hatte,
nach seinem Siege als Heros gefeiert worden; so in hellenisti-
scher Zeit mancher glückliche Heerführer und mächtige König,
von Römern zuerst der Griechenfreund Flamininus 1). Dieser
Missbrauch des, auf Lebende angewendeten Heroencultes dehnt
sich weiter aus 2). Bisweilen mag wirkliche Verehrung hoher
Verdienste dem beweglichen Sinne griechischen Volkes den
Antrieb gegeben haben. Zuletzt aber wurde es eine fast ge-
dankenlos geübte Gewöhnung, selbst Privatpersonen bei Leb-
zeiten mit dem Heroentitel auszuzeichnen 3), heroische Ehren,
wohl gar die Stiftung jährlich zu wiederholender Wettspiele,
Lebenden zu widmen 4).
Wo es vollends einen Sterblichen zu ehren galt, den Liebe
und Schmerz eines Königs alsbald nach seinem Tode als Heros
ausrufen liess, konnte die Zeit in himmelhoher Aufthürmung
des Pompes und Ehrenschwalles sich kaum genug thun. Die
Todtenfeier für Hephaestion giebt davon ein gigantisches Bei-
spiel 1).
Wenn hier die Grenzen zwischen der Verehrung eines
Heros und der Anbetung eines Gottes fast schon überschritten
sind, so hat sich von einzelnen Fällen die Kunde erhalten, in
denen geliebten Todten, die doch den Heroen nicht angereiht
werden sollten, von den Hinterbliebenen ein Gedächtnisscult
gewidmet wurde, den auch eigentliche Heroenverehrung nicht
höher hätte treiben können 2). Nicht allein an solchen Bei-
4)
[647] spielen lässt sich eine Neigung erkennen, den Seelencult über-
haupt zu steigern, und der Ahnenverehrung im alten Heroen-
dienst anzunähern. Sie spricht sich, für die Nachwelt nur in
wortkarger Andeutung, aber deutlich genug in der grossen
Anzahl von Grabinschriften aus, auf denen Mitglieder schlich-
ter Bürgerfamilien mit dem Namen eines „Heros“ begrüsst
werden. Ein Hinaufheben des Verstorbenen zu höherer Würde
und Bedeutung soll es jedenfalls bedeuten, wenn auf dem
Leichenstein ausdrücklich gemeldet wird, dass die Stadt einen
einzelnen Mitbürger nach seinem Tode „heroisirt“ habe; wie
dies auf Thera frühzeitig, später auch an anderen Orten nicht
selten geschieht 1). Oder wenn eine Genossenschaft ein ver-
storbenes Mitglied zum „Heros“ erklärt 2); auf förmlichen An-
trag eines Einzelnen ein Todter von der Gemeinde als „Heros“
anerkannt wird 3). Auch die Familie nennt jetzt häufig einen
der Ihrigen, der den Uebrigen vorangegangen ist, einen Heros;
in ausdrücklicher Erklärung nennt oder ernennt der Sohn den
Vater, die Eltern den Sohn, die Gattin den Gatten u. s. w.
zum Heros 4). Ein höheres, mächtigeres Fortleben nach dem
2)
[648] Tode soll doch wohl anerkannt werden, wo so nachdrücklich
der Verstorbene von Todten im gewöhnlichen Sinne unter-
schieden wird, ganz gewiss ja da, wo etwa der Todte, in my-
stische Gemeinschaft mit höheren Lebensgestaltungen gesetzt,
seinen Namen verliert, und den Namen eines seit langem ver-
ehrten Heros, oder gar eines Gottes annimmt 1).
In allen uns erkennbaren Fällen scheint jetzt die Heroi-
sirung eines Verstorbenen, durch die Stadt, oder die Genossen-
schaft oder die Familie, der er angehört hat, aus eigener
Machtvollkommenheit vollzogen zu werden: das delphische
Orakel, ohne dessen Wahrspruch ehemals nicht leicht ein neuer
Heros zu der Schaar der Auserwählten Zutritt fand 2), wird
in diesen Zeiten, in denen sein Ansehen auf allen Gebieten
tief gesunken war, nicht mehr um seine Bestätigung ange-
gangen. Es konnte nicht ausbleiben, dass, so auf sich selbst
gestellt, das Belieben der Corporationen und der Familien die
Schranken der Heroenwelt immer weiter hinausschob. Zuletzt
4)
[649] werden sie ganz niedergelegt. Es gab Städte und Landschaf-
ten, in denen es zur Gewohnheit wurde, den ehrenden Bei-
namen eines „Heros“ den Verstorbenen schlechthin beizulegen.
In Böotien 1) scheint am frühesten die Heroisirung Verstor-
bener diese Ausdehnung gewonnen zu haben, auch hier nicht
überall geichmässig: Thespiae macht eine Ausnahme 2). Thes-
salien bietet auf seinen Grabsteinen die zahlreichsten Bei-
spiele für die Heroisirung der Todten jeden Standes und Alters.
Aber über alle, von Griechen bevölkerten Länder dehnt die
Sitte sich aus 3); einzig Athen ist sparsamer 4) in der Ausspen-
dung des Heroennamens an Todte, die von der, dort vermuth-
lich der Vorstellung fester eingeprägten Art eines Heros im
alten und ächten Sinne nichts an sich haben, als dass eben
auch sie todt sind 5).
Noch so freigiebig ausgetheilt, behält der Name „Heros“
dennoch etwas von einem Ehrenbeinamen. Eine Ehre freilich,
die jedermann ohne Unterschied zugesprochen wird, steht in
Gefahr, das Gegentheil einer Ehre zu werden. Aber es spricht
sich doch noch in vereinzelten Aeusserungen naiv volksthüm-
licher Empfindung aus, dass immer noch ein Unterschied zwischen
dem „Heros“ und dem, nicht mit diesem Beinamen geehrten
[650] Todten zu spüren war 1). Von dem Glanze, den der alte Be-
griff des „Heros“ verlieren musste, damit der Heroenname
nun nicht mehr in Ausnahmefällen, sondern der Regel nach,
jeden Verstorbenen bezeichnen konnte, muss der Verstorbene
etwas für sich gewonnen haben, um mit dem „Heros“ auf einer
mittleren Grenzlinie zusammentreffen zu können. Es liegt doch
auch in der Vergeudung des Heroennamens und seiner allzu
bereitwilligen Austheilung an Verstorbene aller Art noch ein
Anzeichen dafür, dass im sinkenden Alterthum die Vorstellung
von Macht und Würde der abgeschiedenen Seelen nicht ge-
sunken war, sondern sich gesteigert hatte.
Ihre Lebendigkeit und Kraft beweisen die abgeschiedenen
Seelen besonders in ihrer Einwirkung auf das Leben und die
Lebendigen. Der Seelencult denkt sie sich als festgehalten im
Bereich der bewohnten Erde, im Grabe oder in dessen Nähe
dauernd oder zeitweilig sich aufhaltend, und darum den Gaben
und Bitten der Ihrigen erreichbar. Es kann nicht zweifelhaft
sein, dass ein tröstlicher Zusammenhang der Familie mit den
vorangegangenen Geistern der Verwandtschaft, ein Austausch
von Todtenspenden seitens der Lebenden und Segnungen der
Unsichtbaren, wie seit Urzeiten, so auch in dieser späten Zeit
im Glauben feststand. Ausdrückliche Zeugnisse freilich geben
von diesem still gemüthlichen Familienglauben an das Fort-
[651] leben der Abgeschiedenen und dessen Bethätigung in dem
regelmässigen Ablauf der Alltäglichkeit nur spärlich Kunde.
Es giebt auch eine unheimlichere Weise des Verkehrs mit
den Seelengeistern. Sie können ungerufen den Lebenden er-
scheinen; sie können durch Zaubers Gewalt gezwungen werden,
im Dienst der Lebendigen ihre Macht zu brauchen. Beides
gilt vornehmlich von den unruhigen Seelen, die durch das
Schicksal oder durch eigene Gewaltthat dem Leben vorzeitig
entrissen sind, oder nicht in feierlicher Bestattung dem Frie-
den des Grabes anvertraut sind 1). An Gespenster, umirrende
Seelen, die um die Stätte ihres Unglücks schweben, sich den
Lebenden unliebsam bemerklich machen, will zwar die Auf-
klärung der Zeit nicht glauben 2). Aber das Volk hat solchen
Berichten, in denen sich das Dasein einer Geisterwelt, die bis-
weilen in das Leben der Lebendigen hinübergreift, unheimlich
offenbar zu machen schien, volles Vertrauen geschenkt, auch
in diesen erleuchteten Zeiten. Aus dem Volksmunde sind uns
einzelne Geschichten von Spukgeistern, umgehenden unseligen
Seelen, vampyrartigen Grabgespenstern 3), erhalten, zumeist
solche, an denen eine verirrte Philosophie, die insaniens sa-
pientia einer müden Zeit, ihre Ahnungen von einer unsicht-
baren Welt zwischen Himmel und Erde bestätigt fand. In
Lucians „Lügenfreund“ setzen graubärtige Weisheitslehrer mit
wichtiger Miene einander solche Nachrichten aus dem Geister-
[652] reiche vor 1). Plutarch ist ernstlich von der Thatsächlichkeit
einzelner Gespenstererscheinungen überzeugt 2); die zu Plato
zurücklenkende Philosophie findet, in ihrer Dämonenlehre, das
Mittel, jedes Ammenmärchen als denkbar und glaublich be-
stehen zu lassen.
Es kommt die Zeit, in der selbst das eigenmächtig ge-
waltsame Eingreifen in die unsichtbare Welt, der Geisterzwang,
ein Theil gläubiger Philosophie wird. Der griechische Volks-
glaube brauchte nicht auf die Belehrungen barbarischer Syste-
matisirung des Unsinns zu warten, um ein gewaltsames Heran-
ziehen der Geister der Tiefe für möglich zu halten. Solches
Zauberwerk ist uralt in Griechenland 1). Aber in der Ver-
einigung und Vermischung griechischen und barbarischen Lebens,
in der sich, in diesen hellenistischen Jahrhunderten, verwandte
Wahnvorstellungen aus allen Weltenden zusammenfanden und
gegenseitig steigerten, ist auch, aus fremdländischen noch mehr
als aus einheimischen Quellen gespeist, das Unwesen der Gei-
sterbannung und Seelenbeschwörung, die Praxis zu einer phan-
tastischen Theorie von Sein und Leben der körperfreien Seele,
zu einem trüben Strome angeschwollen. Die hohe Götterwelt
des alten Griechenlandes begann dem getrübten Blick zu ver-
schwimmen; mehr und mehr drängte sich statt ihrer ein Ge-
tümmel fremder Götzen und niedrig schwebender dämonischer
Mächte vor. Und in dem Wirrsal dieses griechisch-barbarischen
Pandämoniums fanden auch die Schaaren unruhiger Seelen-
geister ihre Stelle. Das Gespenst war unter Verwandten, wo
die Götter selbst zu Gespenstern wurden. Wo jetzt Götter
und Geister gerufen werden, fehlt auch das Seelengespenst
selten 2). Wir haben Ueberreste der Theorie des Geisterzwanges
vor uns, in den griechisch-ägyptischen Zauberbüchern. Proben
der praktischen Ausübung dieses Aberwitzes treten uns vor
Augen in den Zauberformeln und Bannflüchen, die, auf bleierne
oder goldene Täfelchen geritzt, in Gräbern, denen sie, als den
Sitzen der angerufenen Unheimlichen, anvertraut waren, sich
zahlreich vorgefunden haben. Regelmässig werden da unter
den zur Rache, zur Bestrafung und Beschädigung des Feindes
Beschworenen auch die unruhigen Seelen der Todten genannt.
[654] Es wird diesen Macht und Willen, in das Leben hemmend und
schädigend einzugreifen, nicht weniger zugetraut als den an-
deren Geistermächten Himmels und der Hölle, in deren Ge-
sellschaft man sie aufruft 1).
Vorstellungen von einem Dasein, das den Seelen der Ab-
geschiedenen für sich und, abgesehen von ihren Verhältnissen
zu den Ueberlebenden beschieden sein könne, bot der Seelen-
cult mit all seinen Auswüchsen keine Handhabe. Wer sich
hierüber Gedanken machte und nach Auskunft umsah, war,
wenn nicht auf die Lehre der Theologen und Philosophen,
angewiesen auf Bilder und Geschichten alter Dichtung und
Sagen.
Der Gedanke eines fern entlegenen Seelenreiches, das die
ohnmächtigen Schatten der aus dem Leben Entschwundenen
aufnehme, blieb, so übel er sich mit den Voraussetzungen der
im Cult üblichen Verehrung und Nährung der im Grabe ver-
[655] schlossenen Seelen vereinigen wollte 1), auch in dieser späteren
Zeit volksthümlicher Phantasie eingeprägt; dies muss die ver-
breitete Vorstellung gewesen sein, so gewiss die homerischen
Gedichte, nach deren Schilderungen sie sich gebildet und ent-
wickelt hatte, die ersten Lehr- und Lesebücher der Jugend und
die belehrende Ergötzung jedes Lebensalters blieben. Die
zornige Erregung, mit der die Philosophen so stoischer wie
epikureischer Observanz sich gegen diesen, auf homerischem
Boden erwachsenen Glauben wenden, wäre ganz gegenstandlos,
wenn nicht die Menge der philosophisch nicht Belehrten an
ihm und seinen Gebilden festgehalten hätten. Aeusserungen
späterer Schriftsteller lassen in der That die alten Hadesvor-
stellungen als keineswegs abgethan, vielmehr unter dem Volke
durchaus lebendig geblieben erkennen 2).
Wie es dort in der Tiefe aussehn und zugehen möge,
bemühten sich theologische und halbphilosophische Dichtungen,
je nach ihren Voraussetzungen und Absichten, wetteifernd aus-
zumalen 3). Aber diese Ausmalungen des Zuständlichen im
[656] Seelenreiche, aus denen schliesslich Virgil ein überreiches, wohl-
abgestuftes Gesammtgemälde aufbaut, blieben Uebungen eines
sinnreichen Spieles, und gaben sich zumeist auch nur als solche.
Einen festgeprägten, genauer bestimmten Volksglauben kann
es auf diesem Gebiet kaum gegeben haben, von dem die Reli-
gion des Staates sich mit dogmatischen Festsetzungen gänzlich
fern hielt.
Eher könnte man sich denken, dass, an die Annahme einer
Vereinigung der Seelen im Reiche der Unterweltsgötter ange-
schlossen, ein Glaube an ausgleichende Gerechtigkeit in diesem
Nachleben der Todten sich zu volksthümlicher Geltung ent-
wickelt habe. Gar zu gern denkt sich der Gedrückte und im
Genuss des Lebens Beschränkte, dass doch irgendwo einmal
auch ihm ein Glück reifen werde, das auf Erden statt seiner
nur Andere pflücken durften; und läge dieses Irgendwo auch
jenseits aller Erfahrung und Wirklichkeit. Die fromme Ver-
ehrung der Gottheit erwartet den Lohn, der auf Erden so oft
ausbleibt, im Reiche der Geister bestimmt zu erlangen. Wenn
eine solche Zuversicht auf eine ausgleichende Gerechtigkeit 1),
die Belohnung der Frommen, Bestrafung der Gottlosen im
Jenseits, in diesen Zeiten sich mehr als früher ausgebreitet
und befestigt haben mag 2), so wird hiezu der Cult der unter-
[657] irdischen Gottheiten, wie ihn die Mysterien des Staates und
einzelner religiösen Genossenschaften pflegten, erheblich mit-
gewirkt haben; sowie andererseits die Ueberzeugung, dass auch
noch im Jenseits die strafende und lohnende Gewalt der Gott-
heit empfunden werde, diesen Mysterien, die eben für das Leben
im Jenseits ihre Hilfe und Vermittlung anboten, ununterbrochen
Theilnehmer zuführte. Das Genauere von diesen, aller Er-
fahrung entzogenen Geheimnissen können nur diejenigen zu
wissen überzeugt gewesen sein, die sich der Dogmatik einer
geschlossenen Secte gefangen geben mochten. Ob die gräu-
lichen Phantasieen von einem Straforte im Hades, seinen ewigen
Qualen im lodernden Feuer und was sonst an ähnlichen Vor-
stellungen bei späteren Autoren bisweilen auftaucht, jemals
mehr als Wahngebilde, mit denen enge Conventikel ihre An-
gehörigen schreckten, gewesen sind, darf man bezweifeln 1). Die
2)
Rohde, Seelencult. 42
[658] freundlichen Bilder von einem „Orte der Hinkunft“, zu dem
die geplagten Menschenkinder der Tod entsende, mögen weiter
verbreiteten Glauben gefunden haben. Homer, der Lehrer
Aller, hatte sie dem Gedächtniss eingeprägt. Dem Dichter
hatte die elysische Flur als ein Ort auf der Oberfläche der
Erde gegolten, an den seltene Göttergunst bei Leibesleben
einzelne Lieblinge entrücken konnte, damit sie dort ohne Tod
ein ewiges Glück genössen 1). In seinem Sinne hatte die Dich-
tung der folgenden Zeiten den zu selig verborgenem Leben im
Elysion oder auf den Inseln der Seligen Entrückten noch
manchen Helden und manche Heldenfrau der alten Sage zu-
geführt 2). Wem das Elysion als der Ort der Verheissung
1)
[659] erschien, zu dem alle Menschen, die ihr Leben gottgefällig ver-
bracht hatten, nach dem Tode gewiesen würden 1), der dachte
sich Elysion oder auch die Inseln der Seligen im Innern der
Unterwelt gelegen, nur körperfreien Seelen zugänglich. Dies
war in späterer Zeit die übliche Ansicht. Aber die Vorstellung
blieb schwankend. Auf der Oberfläche der Erde, wenn auch
in fernen unentdeckten Weiten, muss die Phantasie doch auch
wieder die seligen Inseln, den Wohnplatz bevorzugter Geister
gesucht haben, wenn sie doch den Versuch machen konnte,
den Weg dorthin zu erkunden und lebendigen Menschen zu
weisen. Nur der bekannteste solcher Versuche ist der dem
Sertorius zugeschriebene 2). Warum auch sollten auf dem
2)
42*
[660] Erdenrund, das den Entdeckungen noch so vielen Raum bot,
diese Geisterinseln für immer unbekannt und unzugänglich
bleiben, da man doch, mitten im schwarzen Meer, von lebenden
Menschen oft aufgesucht, die Insel kannte, auf der Achill, das
hehrste Beispiel wunderbarer Entrückung, ewig lebte und seiner
Jugendkraft sich erfreute. Jahrhunderte lang ist Leuke, als
ein Sonderelysion für Achill und wenige auserwählte Helden,
von Verehrern scheu betreten und betrachtet worden 1). Hier
2)
[661] spürte man in unmittelbarer Wahrnehmung und sinnfälliger
Berührung etwas von dem geheimnissvollen Dasein seliger Geister.
1)
[662] Der Glaube an die Möglichkeit wunderbarer Entrückung zu
ewigem Beisammensein von Leib und Seele konnte, wo er sich
so handgreiflich und augenscheinlich bestätigt fand, auch in
prosaischer Zeit nicht ganz ersterben. Der Bildung zwar war
dieser Glaube so fremd und unverständlich geworden, dass sie,
auch wo von Entrückungssagen alter Zeit die Rede ist, nicht
einmal richtig zu beschreiben weiss was eigentlich das Alter-
thum sich als den Vorgang bei solchen Wunderereignissen ge-
dacht hatte 1). Aber das Volk, dem nichts leichter fällt, als
das Unmögliche zu glauben, liess auch hier das Wunder un-
befangen bestehn. Von Höhlenentrückung standen die Bei-
spiele des Amphiaraos und Trophonios vor Aller Augen, denen,
als ewig in ihren Erdschlüften Fortlebenden, Cult und Ver-
ehrung bis in späte Zeit dargebracht wurde 2). Von Entrückung
1)
[663] schöner Jünglinge zu ewigem Leben im Reiche der Nymphen
und Geister erzählte manche Volkssage 1). Und noch der gegen-
wärtigen Zeit schien das Wunder der Entrückung nicht ganz
versagt zu sein. Seit den Königen und Königsfrauen der make-
donischen Reiche des Ostens, nach dem Vorbilde des grossen
Alexander selbst, göttliche Ehren gezollt wurden, wagte sich
auch die Fabel hervor, dass der göttliche Herrscher am Ende
seines irdischen Daseins nicht gestorben sei, sondern, nur „ent-
rafft“ von der Gottheit, weiterlebe 2). Dem Gotte ist es, wie
2)
[664] noch Plato es deutlich ausspricht 1), eigen, in untrennbarer Ver-
einigung Leibes und der Seele ewig zu leben. Höfische Theo-
logie konnte wohl den Unterthanen den Glauben an solche
Wunder um so eher zumuthen, weil, wie im semitischen Orient,
so vielleicht auch in Aegypten die Vorstellung der Entrückung
gottgeliebter, göttlicher Natur näher stehender Menschen zu
unvergänglichem Leben einheimischer Sage vertraut war 2), wie
2)
[665] sie italischer Sage, wenn auch wohl erst unter griechischem
Einfluss, vertraut wurde 1). Dass unter Griechen und Halb-
griechen, auch ohne höfische Liebedienerei, volksthümlicher
Glaube dem Gedanken, dass Lieblinge ihrer Träume, wie Ale-
xander der Grosse, nicht dem Tode verfallen, sondern in ein
Reich unverlierbaren Leibeslebens entschwunden seien, nicht
widerstrebte 2), zeigte sich, als im Anfang des dritten Jahr-
hunderts nach Chr. ein Alexander in Moesien wieder erstand,
mit einem Gefolge von Bakchen die Länder durchzog und
überall Glauben an seine Identität mit dem grossen König
fand 3), nicht anders als früher der nicht gestorbene, sondern
nur verschwundene und wieder auf Erden erschienene Kaiser
Nero 4). Als Antinoos, der jugendschöne Geliebte des Hadrian,
in seinem Wellengrabe verschwunden war, galt der nun als
[666] Gott Verehrte als nicht gestorben, sondern entrückt 1). In
aller Feierlichkeit wird das Mirakel der Entrückung des Apol-
lonius von Tyana erzählt 2); es hat gewiss, wie die übrigen
Wunderthaten und Wundererlebnisse dieser problematischen
Prophetengestalt, Gläubige genug gefunden 3).
Die ununterbrochene Fortdauer des auf Erden begonnenen
leiblich-seelischen Lebens an einem verborgenen Aufenthalt der
Seligkeit, die älteste Gestaltung, in welcher die Vorstellung der
Unsterblichkeit des Menschen griechischem Gedanken aufge-
gangen war, gestand der Glaube allezeit nur wenigen Einzelnen,
wunderbar Begnadigten und Begabten, zu. Eine Unsterblich-
keit der Menschenseele als solcher, vermöge ihrer eigenen
Natur und Beschaffenheit, als der unvergänglichen Gotteskraft
[667] im sterblichen Leibe, ist niemals ein Gegenstand griechischen
Volksglaubens geworden. Wenn sich hie und da auch wo
volksthümliche Denkweise sich Ausdruck giebt, Anklänge an
solchen Glauben finden, so ist in den einzelnen Fällen aus den
Lehren der Theologen oder der allverbreiteten Philosophie bis
in die unteren Schichten ungelehrten Volkes ein Tropfen hinab-
gesickert. Der Theologie und der Philosophie blieb der Ge-
danke der Unsterblichkeit der Seele allein wirklich eigen. So
ist auch bei dem Zusammentreffen griechischer und fremd-
ländischer Bildung im hellenisirten Osten nicht aus griechischer
Volksüberlieferung, sondern einzig aus den Anregungen grie-
chischer, auch ausserhalb des nationalen Bodens leichter ver-
breiteter Philosophie der erstaunliche Gedanke göttlich unver-
gänglicher Lebendigkeit der Menschenseele Fremden zugekom-
men, und hat wenigstens unter dem bildsamen Volke der Juden
tiefere Wurzeln getrieben 1).
In der Vorstellungswelt des griechischen Volkes stand in
der Spätzeit seiner Reife der Glaube an das Fortleben der
menschlichen Seele nach dem Tode des Leibes auf allen Stufen
der Entwicklung und Ausgestaltung, die er im Laufe der Zeit
erreicht hatte, zugleich und nebeneinander in Geltung. Keine
formulirte Religionssatzung hatte, abschliessend und ausschlies-
[668] send, einer Vorstellung auf Kosten der anderen zum Sieg ver-
holfen.
Wie sich gleichwohl unter den mannichfachen Formen des
Glaubens und der Erwartung oder Hoffnung, die möglich und
Niemanden verwehrt blieben, die eine mehr und stärker als die
andere der Gemüther bemächtigt habe, möchte man wohl von
den zahlreichen Aufschriften griechischer Grabsteine, in denen,
vornehmlich in diesen späteren Zeiten, der Glaube des Volkes
sich ganz nach eigener Einsicht unbefangen ausspricht, ablesen
zu können glauben. Doch lässt nicht ohne vorsichtige Er-
wägung aus dieser Quelle sich zuverlässige Kunde schöpfen.
Wandeln wir in Gedanken durch die langen Reihen grie-
chischer Gräberstrassen, und lesen die Inschriften der Grab-
steine, die von diesen in unsere Schatzkammern griechischer
Epigraphik übergegangen sind, so muss uns zunächst auffallen,
wie vollständig schweigsam die übergrosse Mehrzahl dieser In-
schriften in Bezug auf jegliche, wie immer gestaltete Hoffnung
oder Erwartung eines Lebens der Seele nach dem Tode ist.
Sie begnügen sich mit Nennung des Namens, Vaternamens
und (wo sie in der Ferne liegt) der Heimath des Verstorbenen.
Kaum dass der Brauch einzelner Landschaften noch ein „Lebe
wohl“ hinzufügt. Es würde nicht genügen, zur Erklärung dieses
hartnäckigen Schweigens sich allein auf die Sparsamkeit der
Hinterbliebenen des Bestatteten (der hier und da wohl gar das
Gesetz der Stadt in einem Verbot wortreicher Grabschriften
zu Hilfe kam) 1), zu berufen. Das Schweigen dieser, in Prosa
und Versen redefrohesten Menschen hat seine eigene Beredt-
samkeit. Die tröstenden Hoffnungen, die ihnen auszusprechen
kein Bedürfniss war, können ihnen nicht wohl die Bedeutung
einer lebendig gegenwärtigen Ueberzeugung gehabt haben. Sie
entreissen der Vergänglichkeit allein was einst ihr ausschliess-
lich Eigenes war, den Namen, der sie von allen Anderen unter-
schied, jetzt die leerste Hülle der vordem lebendigen Persön-
[669] lichkeit. Die Inschriften, in denen bestimmte Hoffnungen auf
ein Fortleben im Jenseits sich aussprechen, machen von der
gesammten Menge der Grabschriften einen sehr kleinen Theil
aus. Und unter ihnen wiederum sind wenige in Prosa abge-
fasst. Nicht in der schlichten Fassung thatsächlich verbürgter
Mittheilung, sondern in der künstlicheren Gestalt, in der dich-
terische Phantasie und Aufschwung des Gemüthes ausserhalb
des Bereiches einer kahlen Wirklichkeit ihre Eingebungen hin-
stellen, treten Ansichten und Verkündigungen von einem ge-
hofften Jenseits hervor. Das ist gewiss bedeutsam. Auch
unter den poetischen Grabschriften überwiegen solche, die, auf
das vergangene Leben des nun Verstorbenen, seine Art, sein
Glück, seine Thaten zurückblickend, den Schmerz und die An-
hänglichkeit der Hinterbliebenen, oft in innigster Wahrhaftig-
keit, aussprechend, ganz im Diesseitigen die Gedanken fest-
halten. Wo sie doch in das Jenseits hinüberschweifen, da geht
der Zug am liebsten gleich in ein schimmerndes Land der Ver-
heissung, weit über alle Erfahrung und nüchterne Ueberlegung
hinaus. Wer so hochfliegende Gedanken hegte, musste vor
Anderen das Bedürfniss fühlen, ihnen im Verse gesteigerten
Ausdruck zu geben. Aber dass unter den Zeitgenossen ins-
gesammt solche Gedanken vorgeherrscht haben, würde man aus
ihrem Ueberwiegen unter den metrisch gefassten Grabschriften
nur auf die Gefahr, sich stark zu verrechnen, schliessen dürfen.
Schlicht alterthümliche, in homerischer Denkweise be-
harrende Auffassung, die, ohne weiteren Wunsch und Klage,
die Seele des Verstorbenen in den Erebos entschwunden sieht,
spricht sich am seltensten in diesen Grabgedichten aus 1).
Häufiger wird, in herkömmlicher Formel, der Wunsch: „Ruhe
sanft“ vernommen 2), eigentlich dem in das Grab gebetteten
[670] Todten geltend, doch aber auch auf die zum Hades entflohene
„Seele“ hinüberspielend 1). Denn die Vorstellung bleibt in
Geltung, dass ein Seelenreich die Abgeschiedenen aufnehme,
der Hades, als die Welt der unterirdischen Götter, der Saal
der Persephone, der Sitz der uralten Nacht 2). Einen Zustand
halben Lebens denkt man sich dort, im Banne der „Vergessen-
heit“, deren Trunk 3) der Seele das Bewusstsein verdunkelt.
Dort sind „die Meisten“ 4) versammelt; tröstlich schwebt dem
Verstorbenen vor, wie er dort auch Vorangegangene von den
Seinigen wieder begrüssen werde 5).
Strengere Vorstellungen treten hinzu. Ein Gericht wird
bisweilen angedeutet 6), das dort unten die Seelen scheide, nach
[671] ihren irdischen Verdiensten in zwei, wohl auch in drei Schaaren
sie sondere 1). Auf der Unseligkeit der Verworfenen, die theo-
logisirende Dichtung auszumalen liebte, verweilt der Gedanke
nicht 2). Harmloserer Sinn bedurfte nicht der pharisäischen
Erquickung an dem Elend der Sünder, um sich des Lohnes
eigener Vortrefflichkeit im Bewusstsein zu versichern. Von
Zerknirschung und Angst um sich selber ist nichts zu spüren.
Die Seele hofft, zu ihrem Rechte zu kommen 3), zu den „Seli-
gen“, auf die Inseln oder die Insel der Seligen zu gelangen,
in das Elysion, den Aufenthalt der Heroen, der Halbgötter 4).
Sehr häufig werden solche Hoffnungen ausgesprochen, aller-
meist nur mit einem kurzen verheissungsvollen Worte. Selten
begegnet wohlgefällig ausgeführte Schilderung des Aufenthaltes
der Seligen 5), der in diesen Andeutungen und Ausführungen
[672] zumeist wohl im Umkreis des unterweltlichen Seelenreiches ge-
sucht wird 1), gleich dem „Orte der Frommen“, den in mannich-
fachen Wendungen die Hoffnung sich als Wohnplatz zukünftigen
Lebens verspricht 2).
Es begegnet aber auch die Vorstellung, dass die Schaar
der Frommen dem unterirdischen Dunkel ganz enthoben sei 3).
Und dem einzelnen Verstorbenen wird in so vielfacher Wieder-
holung der Aufenthalt im Himmel, im leuchtenden Aether, in
der Sternenwelt gewünscht und verkündigt, dass dieser Glaube
an die Erhebung der körperfreien Seele in überirdische Regio-
nen wohl als der in späteren Zeiten unter solchen, die sich
bestimmteren Vorstellungen über ein jenseitiges Dasein hin-
5)
[673] geben mochten, am weitesten verbreitete gelten muss 1). Dieser
Glaube, der die Seele in die Nähe, ja in die Gemeinschaft der
himmlischen Götter erhebt 2), hat sowohl in religiösen Ahnungen
als in philosophischen Speculationen seine Wurzeln, die, tief
in die Vergangenheit zurückgreifend 3), in diesen späteren Zeiten
sich wesentlich, darf man glauben, unter dem Einfluss volks-
thümlicher Ausführungen stoischer Schriftsteller von dem
lebendigen „Hauch“ der Menschenseele und dessen Aufstreben
in obere Regionen ausbreiteten und kräftigten 4).
Ueber den, in vielen Fällen schon merklich zu einer nicht
mehr nach ihrer lebendigen Bedeutung voll empfundenen Redens-
art gewordenen Ausdruck dieser Hoffnung des Aufsteigens der
Seele zu himmlischen Höhen geht der Aufschwung der Be-
trachtung selten hinaus. Kaum dass hie und da in der Be-
zeichnung der Seele als einer „unsterblichen“ 1) (auch im Tode
nur schlafenden) 2), ein philosophisch-theologischer Gedanke
durchblickt. Die Inschriften sind bald gezählt, in denen der
Lehre der Theologen und theologisirenden Philosophen von der
göttlichen Natur der Seele, ihrer kurzen Wallfahrt durch
irdisches Leibesleben, und ihrer Bestimmung zur Heimkehr in
körperfreies Götterdasein Worte gegeben werden 3). Glaube
4)
[675] an eine Seelenwanderung tritt deutlich nirgends hervor 1). Von
einer Einwirkung Platonischer Lehre im besonderen findet sich
kaum eine Spur 2).
Nicht philosophischer Belehrung, sondern den Gedanken
volksthümlicher Religionsübung gehen diejenigen nach, die
einem seligen Leben nach dem Tode zugeführt zu werden
hoffen durch die eigene Fürsorge eines Gottes, vermuthlich
dessen, dem sie bei Lebzeiten besonders hingebende Verehrung
gewidmet haben. Er wird sie, so vertrauen sie, an seiner
eigenen Hand in das Land der Wonne und Reinheit einführen.
Wer so „einen Gott zum Führer erlangt hat“ 3), kann getrost
3)
43*
[676] der Zukunft warten. Nicht allein, aber nächst Hermes, dem
Boten der Persephoneia 1), am häufigsten wird unter den Ge-
leitsgöttern der Todten Persephone selbst genannt 2). Hier
kann man vielleicht einen Nachklang der in eleusinischen und
3)
[677] verwandten Mysterien erweckten und gepflegten Hoffnungen
vernehmen wollen 1), deren sonst auffallend selten in diesen
Grabschriften gedacht wird. Einen Hierophanten von Eleusis,
der „zu den Unsterblichen ging“, lässt seine Grabschrift —
allerdings in sehr später Zeit — als von den Göttern offen-
bartes Mysterium die alte, vor Zeiten in Sagen wie der von
Kleobis und Biton 2) zum Beispiel gewordene Weisheit preisen,
„dass nicht alleine Tod kein Uebel den Sterblichen bringt,
nein, dass er ein Glück ist“ 3). Eine trübsinnige Philosophie
hat sich in diesen letzten Zeiten des alten Götterglaubens
der, ihrem ursprünglichen Sinne nach so Lebensfeindliches
nicht anzudeuten bestimmten Mysterien bemächtigt 4). — Einen
geheimnissvollen Klang hat es, wenn dem Todten gewünscht
oder verheissen wird, dass ihm im Seelenreich das Wasser der
Vergessenheit zu trinken erspart bleiben, der Gott der Unter-
welt das kalte Wasser reichen werde, dass ihn die Quelle der
Mnemosyne, das Bad der Unsterblichkeit erquicken werde, die
Gedächtniss und Bewusstsein, die erste Bedingung vollen und
seligen Lebens, unversehrt erhalten 5). Es scheint, dass hier
[678] auf Verheissungen besonderer Geheimculte, durch die der Ver-
storbene sich den Mächten des Lebens und des Todes eigens
empfohlen hatte, angespielt werden soll; deutlich ist dies, wo,
statt des griechischen Aïdoneus, genannt wird Osiris, der
ägyptische Herr der Seelen. „Möge dir Osiris das kalte Was-
ser reichen“, ist auf Grabschriften später Zeit gern wieder-
holte vielsagende Wunschformel 1). — Von den zahlreichen,
5)
[679] selige Unsterblichkeit ihren Theilnehmern verheissenden Ge-
heimculten dieser letzten Zeiten wird im übrigen sehr selten
eine Andeutung in den Grabschriften gemacht; allenfalls wird
einmal auf die, auch nach dem Tode werthvollen Gnaden an-
gespielt, die der in den Mysterien des Mithras Eingeweihte
erreichen konnte 1).
Nicht an dunklen Verheissungen, an thatsächlichen Er-
fahrungen stärkt sich der Glaube der Hinterbliebenen, denen
eine Traumerscheinung des Vorangegangenen deutlich bewiesen
hat, dass dessen „Seele“ im Tode nicht vernichtet worden ist 2).
1)
[680] Der älteste Beweis für den Glauben an die Fortdauer der
Seele behält am längsten überzeugende Kraft. Höheres er-
wartet der Schüler von seinem im Tode entschwundenen
Meister, zu dem er betet, dass er, wie einst im Leben, auch
jetzt noch ihm in seiner ärztlichen Thätigkeit helfend zur Seite
stehe: du kannst es, denn jetzt hast du ja göttlicheres Lebens-
loos 1). —
Hoffnungen, mannichfach gestaltete, auf ein energisches
Fortleben der abgeschiedenen Seele sind verbreitet. Eine ein-
heitliche, dogmatisch festbestimmte Gestalt haben sie nicht
gewonnen. Und Niemanden ist es verwehrt, seinen ab-
weichenden Gedanken bei sich Gehör und auf seinem Leichen-
steine Stimme zu geben, wenn sie auch zu dem vollen Gegen-
pol jener Hoffnungen führen sollten 2).
Ein zweifelndes „Wenn —“ schiebt sich in den Grab-
schriften häufig vor den Ausdruck der Erwartung bewussten
Lebens, vollen Empfindens der Todten, Belohnung der Seelen
nach ihren Thaten; „wenn dort unten noch irgend etwas ist“
— ähnliches liest man oft 3). Auch der Zweifel wird bei Seite
2)
[681] geschoben, wo bestimmt ausgesprochen wird, dass nach dem
Tode nichts mehr lebendig bleibe an dem Menschen. Was
von dem Hades und seinen Schrecken und Tröstungen gesagt
wird, ist Dichterfabel; Dunkel und Nichtigkeit ist alles, was
uns drunten erwartet 1). Der Todte wird zu Asche oder zu
Erde 2); die Elemente, aus denen er gebildet war, nehmen das
Ihrige wieder an sich 3); das Leben war dem Menschen nur
geliehen, im Tode stattet er es zurück 4); er kann es nicht
dauernd besitzen. Mit dem Tode zahlt er den Zoll an die
Natur 5). Schmerzliche Anklagen der Nachgebliebenen an den
Tod, den wilden, lieblosen, der gefühllos, wie ein Raubthier,
das Liebste ihnen entrissen hat, lassen keinen Hoffnungs-
schimmer auf Erhaltung des entwichenen Lebens erkennen 6).
3)
[682] Aber die Klage, sagen uns Andere, ist nutzlos, für den
Todten wie für die Lebenden; Niemand kehrt wieder; der
Tod zwingt zu endgiltigem Abschied 1). Nur die Ergebung
bleibt übrig 2). Sei getrost, Kindlein, Niemand ist unsterblich,
lautet die volksthümliche Formel, die Mancher dem Entschwun-
denen auf’s Grab schreibt 3). Einst war ich noch nicht, dann
bin ich gewesen, nun bin ich nicht mehr: was ist’s weiter?
sagt den Lebenden, die bald das gleiche Loos treffen wird, der
Todte auf mehr als einem Leichenstein 4). „Lebe“, ruft er
dem Lesenden zu, „denn süsseres ist uns Sterblichen nimmer
beschieden, als dies Leben im Licht“ 5). Ein letzter Gedanke
wendet sich zurück zum irdischen Leben. Der Leib stirbt,
die Persönlichkeit entschwindet, es bleibt nichts lebendig als
[683] auf Erden ein Andenken an Tugend und Thaten des Ver-
blichenen 1). Kräftiger als im leeren Klang des Ruhmes lebt
in Anderen fort, wem Kinder und Kindeskinder auf Erden
zurückbleiben. An diesem Segen richtet, ächt antiken Sinnes,
auch in später Zeit Mancher sich auf, und bedarf keines
anderen Trostes für die eigene Vergänglichkeit 2).
Aber die antike Sinnesart zuckt nur noch selten einmal
auf. Die antike Cultur, deren Wurzel und Triebkraft sie ge-
wesen war, geht zu Grabe. Mit der Wende des dritten zum
vierten Jahrhundert tritt sie in ihre Agonie. Ein allgemeiner
Verfall der Kräfte, der Marasmus des Greisenalters, hatte sich
längst angekündigt unter den lose verbundenen Schaaren der
Bevölkerung des weiten hellenisch-römischen Culturkreises, in
der das edle Blut des ächten und unverfälschten griechischen
[684] und römischen Stammes nur noch sparsam floss. Jetzt bricht
die Entartung unaufhaltsam hervor. Die innere Entkräftung
war es, die den äusseren Ansturm fremder Gewalten für die
alte Welt so verhängnissvoll machte. Gründlicher und schneller
brach, zum Vortheil für neue Entwicklungen, das Abgelebte
im Westen zusammen, als im hellenisirten Osten. Nicht weil
hier das Alte weniger morsch gewesen wäre. Die ermattende
Hand, der sinkende Geist fühlt sich aus allen Aeusserungen
letzter Lebensgluth heraus, in denen Kunst und Litteratur des
absterbenden Griechenthums noch zu uns reden. Und die
Verarmung der Lebenskräfte, aus denen einst Griechenland die
Blüthe seines eigensten Wesens gezogen hatte, spricht sich in
der veränderten Stellung aus, die jetzt der Einzelne zum
Leben, die Gesammtheit des sichtbaren Lebens zu einem Reiche
unsichtbar geahnter Mächte sich giebt. Der Individualismus
hat seine Zeit gehabt. Nicht mehr der Befreiung des Ein-
zelnen, seiner ethischen Wappnung gegen alles, was nicht er
selbst ist und nicht im Bereich seines freien Entschlusses liegt,
gilt das Streben. Er ist nicht mehr stark genug, soll nicht
mehr stark genug sein, der eigenen selbstbewussten Vernunft
zu vertrauen; die Autorität, eine Autorität die allen das
Gleiche auferlegt, soll ihn leiten. Der Rationalismus ist todt.
Seit dem Ausgang des zweiten Jahrhunderts macht sich eine
religiöse Reaction stärker geltend; sie schiebt sich in den
folgenden Zeiten immer weiter vor. Auch die Philosophie
wird zuletzt eine Religion, aus dem Quell der Ahnung und
Offenbarung gespeist. Die unsichtbare Welt gewinnt es über
das durch einschränkende und mässigende Erfahrung be-
grenzte Reich diesseitigen Lebens. Nicht mehr frohgemuth
und gelassen sieht die Seele hinaus auf das, was hinter der
Wolke des Todes sich verbergen möge. Das Leben schien
eine Ergänzung zu fordern. Wie welk und greis war es ge-
worden 1); eine Verjüngung auf dieser Erde schien ihm nicht
[685] mehr beschieden. Um so heftiger wirft mit geschlossenen
Augen Wunsch und Sehnsucht sich hinüber in ein neues Da-
sein, und läge es jenseits der bekannten und erkennbaren Welt
der Lebendigen. Hoffnung und Verlangen, aber auch Angst
vor dem Ungewissen schrecklicher Geheimnisse erfüllt die
Seele. Niemals ist während des Verlaufs der alten Geschichte
und Cultur der Glaube an unsterbliches Leben der Seele nach
dem Tode so inbrünstig und ängstlich umklammert worden
wie in diesen letzten Zeiten, da diese antike Culturwelt selbst
sich anschickte, ihren letzten Seufzer zu verhauchen.
Weit im Volke verbreitete, mehr im Glauben als im
Denken wurzelnde Unsterblichkeitshoffnungen suchten ihre Be-
friedigung in religiösen Veranstaltungen, die weit dringender
noch als der alltäglich geübte Cult der Stadt den Göttern die zu
geheimer Feier Vereinigten empfehlen, und mehr als alles ein
seliges Leben im Jenseits ihren frommen Theilnehmern ver-
bürgen sollten. In diesen Zeiten leben die altgeheiligten Ge-
heimfeiern zu Eleusis noch einmal auf; sie erhalten sich bis
in späte Zeit lebendig 1). Orphische Conventikel müssen lange
1)
[686] Zeit Gläubige versammelt haben 1). Mannichfache Orgien ver-
wandter Art kannte der hellenisirte Osten.
Mehr als altgriechischer Götterdienst zogen, in der Völker-
mischung des Orients, die fremdländischen Religionen auch
Griechen an. Des Verpflichtenden, in Dogmen und Satzungen
Bindenden, das schwache suchende Individuum fest Umfangen-
den war weit mehr als im griechischen Glauben in diesen
fremden Götterdiensten zu finden, denen das starre Beharren
in uralten Vorstellungen und Cultübungen die Gewähr heiliger
Gewissheit zu geben schien. Alle forderten sie unbedingte Hin-
gebung an den Gott und seine Priester, Abwendung von der,
dualistisch dem Göttlichen entgegengesetzten Welt und ihrer
Lust, ceremonielle Reinigung und Heiligung, Sühnung und
Askese. So bereiteten sie den Gläubigen vor auf das Höchste,
was sie der Frömmigkeit in Aussicht stellen konnten, ein ewiges
seliges Leben fern von dieser unreinen Welt im Reiche der
Heiligen und Gottgeweihten. Dem Glauben an eine selige Un-
sterblichkeit boten auch diese fremdländischen Mysterien er-
sehnte Nahrung; um so eifriger drängte zu ihren Heilsverkün-
digungen sich das Volk, je mehr die bunten und vielsagenden,
von der Schlichtheit altgriechischen Gottesdienstes lebhaft ab-
stechenden Ceremonien und symbolischen Handlungen dieser
ausländischen Culte auf unklare Geheimnisse, auf die Macht
der von solchem Cult umstrahlten Götter, auch das Unglaub-
liche und Unerhörte zauberhaft bewirken zu können, hinzu-
deuten schienen. Seit Langem war der Cult der ägyptischen
1)
[687] Gottheiten in Osten und Westen verbreitet; er erhielt sich
und breitete sich immer weiter aus bis in die letzten Zeiten
des alten Glaubens. Die syrischen Gottheiten, der phrygisch-
thrakische Cult des Sabazios, des Atthis und der Kybele, der
persische Mithrascult, traten später hinzu, wurzelten dann aber
nicht minder tief ein und erstreckten sich überall durch das
weite Reich 1).
Die höhere Bildung dieser letzten Zeiten, gläubig und
wundersüchtig geworden, verschmähte die Theilnahme an diesen,
früher doch zumeist den niederen Schichten des Volkes über-
lassenen, Heilsübungen und Heiligungen keineswegs. Die
Höchstgebildeten der Zeit wussten sich, eben aus ihrer Bil-
dung, alles Mysteriöse und Unbegreifliche, selbst in sinnlichster
[688] Einkleidung, zu rechtfertigen. Den neu erwachten religiösen
Drang des Volkes hatte eine Rückwendung der Philosophie zu
Plato und seiner in das Religiöse hinüberleitenden Weisheit
begleitet. Platonismus war an einzelnen Stellen vielfach in
die Lehren fremder Schulen eingedrungen, er hatte sich auch
bereits eine eigene Stätte neu bereitetet in der Akademie, wo
vorher eine unplatonische Skepsis die alten Dogmen ver-
drängt hatte. Jetzt bricht, alles andere Weisheitsstreben über-
wältigend, ein erneuerter Platonismus hervor, die Lehre des
Aristoteles und Chrysipp, den er mit Plato versöhnen zu können
meinte, aufsaugend, mit der eigenen Lehre verschlingend, und
Alles zu einem subtil und weitläufig ausgesponnenen Gedanken-
system verwebend. Diese neoplatonische Speculation, in der
auch das müde Alter des Griechenthums noch viel Tiefsinn,
Geist und Scharfblick (neben einer wuchernden Fülle von
scholastischem Aberwitz) aufwandte, füllt die letzten Jahr-
hunderte griechischen Gedankenlebens. Auch ihr Grundzug
geht auf eine Abwendung vom natürlichen Leben, ein gewalt-
sames Hinüberdrängen in eine jenseitige rein geistige Welt;
eben hiemit that sie der Sehnsucht ihrer Zeit genug. Wie von
dem, über alles Sein und Denken hinausliegenden, in schöpfe-
rischen Ausstrahlungen dennoch unberührt und unvermindert
sich ewig jenseits erhaltenden Einen und Ersten Urwesen sich,
in ununterbrochener Kette, die Welten des Denkens und der
in ihr enthaltenen Ideen und reinen Gedanken, des Seelischen,
und des Materiellen entwickeln, dann aber wieder, im Zug der
Sehnsucht 1), alles Gewordene sich zurückwendet zum Urquell
des Seins: das zu schildern ist das in vielfachen Variationen
immer gleiche Thema dieser Philosophie. In Beharren des
Verursachten in seiner Ursache, Hervorgang aus ihr und Rück-
wendung zu ihr vollzieht sich alles Geschehen im Spiel von
[689] Ursache und Folge. Was im Laufe der Naturentwicklung,
von dem Einen ausstrahlend, ihm immer ferner tritt, bis zur
Dunkelheit und Verderbtheit der Materie, das wendet sich,
im Menschenwesen angelangt, in Ethik und Religion mit Be-
wusstsein wieder zurück zu dem Einen, unverlierbar Reinen
und Ewigen. Das Göttliche steigt nicht hernieder; der Mensch
muss zu göttlicher Höhe und Ferne hinaufstreben, um sich zu
vereinigen mit dem Einen vor aller Vielheit. Die Vereinigung
kann erreicht werden im reinen Denken des Menschengeistes,
und darüber hinaus in dem geheimnissvollen Zusammenklang
des Einzellebendigen mit dem Ersten, dem Uebervernünftigen,
in der Ekstase, die höher ist als alle Vernunft. Sie kann er-
reicht werden nach Ablauf der Kette der Wiedergeburten, an
deren Ende die reine Seele, das Göttliche im Menschen, ein-
tritt in die Göttlichkeit des All 1).
Flucht aus der Welt, nicht ein, das Bessere schaffendes
Wirken in der Welt lehrt und fordert diese letzte griechische
Philosophie. Aus allem getheilten, einzeln bestimmten Sein strebt
die Seele hinaus, hinüber zu dem ungebrochenen Lichte gött-
licher Lebenseinheit. Die Welt, diese sichtbare Körperwelt,
ist schön, sagt uns Plotin, denn sie ist das Werk und Abbild
des in ihr nach seiner Wirkung anwesenden höchsten Gött-
lichen. Ein letzter Sonnenblick des untergehenden Griechen-
sinnes bricht in den Worten hervor, mit denen er den christ-
lich-gnostischen Welthass abweist 2). Das Hässliche, sagt Plo-
tin, ist so Gott wie der Natur fremd und zuwider 3). Aber
im Reiche gestalteter Schönheit mag doch die Seele nicht mehr
verweilen 4). Sie ist sich ihrer Herkunft aus dem Uebersinn-
Rohde, Seelencult. 44
[690] lichen, ihrer Göttlichkeit und Ewigkeit so tief bewusst, dass sie,
über alles Gestaltete hinaus, nur trachten kann nach dem
Einen, das vor der Welt war und ausser ihr besteht 1). —
Diese Philosophie, so unbedingt sie sich innerlich von
altgriechischen Lebenstrieben, von dem weltfreudigen Sinn des
alten Griechenthums abwendet, meinte dennoch, in dem Kampfe
gegen die neue, unaufhaltsam heranfluthende Religionsströmung,
zum Schutz des alten Glaubens und der alten Cultur, mit der
jener unlöslich verbunden war, berufen zu sein. Die entschie-
densten ihrer Anhänger, voran der letzte altgläubige Kaiser
selbst, zogen am eifrigsten in den Kampf, vor ihnen her der
Genius des alten Griechenthums und Griechenglaubens. Aber
als die Schlacht geschlagen und verloren war, da wurde aller
Welt offenbar, dass es ein Leichnam gewesen war, was, auf
das Ross gebunden, den begeisterten Streitern vorangezogen
war, wie der todte Cid Campeador den Seinen im Mauren-
kampfe. Die alte Religion, mit ihr die ganze Cultur der
Griechenwelt, sank dahin und konnte nicht wieder belebt werden.
Ein neuer Glaube, ganz anders als alle ältere Religion mit der
Kraft begabt, das schwerbeladene Herz zu zerknirschen und in
Hingebung aufwärts, dem göttlichen Erbarmen entgegenzu-
tragen, blieb auf dem Plan. Seiner bedurfte die neu sich bil-
dende Welt. —
Und doch, — war das Griechenthum ganz abgethan, todt
für alle Zeit? Vieles, allzu vieles von der Weisheit seines
Greisenalters lebte weiter in den speculativen Ausgestaltungen
des Christenglaubens. Und in aller modernen Cultur, die sich
aus dem Christenthum und neben ihm her gebildet hat, in
jeder Wissenschaft und Kunst, ist vieles lebendig aus griechi-
4)
[691] scher Seelenkraft und griechischer Gedankenfülle. Die äussere
Gestalt des Griechenthums ist dahin; sein Geist ist unver-
gänglich. Was je im Gedankenleben der Menschen ganz
lebendig geworden ist, kann nie mehr zunichte werden; es lebt
ein Geisterdasein weiter; in das Geistesleben der Menschheit
eingegangen, hat es seine eigene Art der Unsterblichkeit. Nicht
immer in gleicher Stärke, nicht stets an derselben Stelle tritt
im Menschheitsleben der Quell griechischer Gedanken zutage.
Aber niemals versiegt er; er verschwindet um wiederzu-
kehren; er verbirgt sich, um wieder aufzutauchen. Desinunt
ista, non pereunt.
S. 22. Entweichen der „Seele“ aus dem Munde, aus der
Pupille des Sterbenden. Der Glaube scheint noch durch in Ver-
sen wie dem auf dem Grabmal der Pomptilla, Kaibel. Ep. lap.
547 (I. Gr. Sic. et It. 607, e), V. 9. 10: στᾶσα λιποψυχοῦντος ὑπὲρ γα-
μέτου Πώμπτιλλα τὴν κείνου ζωὴν ἀντέλαβεν ϑανάτου. Babrius 95, 35:
ψυχαὶ δ̕ ἐν ὀφϑαλμοῖσι τῶν τελευτώντων (s. Crusius, Rhein. Mus.
46, 319). Plinius n. h. 28, 64: augurium ex homine ipso est
non timendi mortem in aegritudine quamdiu oculorum pupillac
imaginem reddant.
S. 30. A. 1. Den Leib eines als Vampyr umgehenden Tod-
ten verbrennt man: dann ist die Seele gebannt und kann nicht
wiederkommen. S. die Berichte (nach Tournefort Voy. au Levant
1, 52 ff. u. A.) bei Meiners, Allgem. Gesch. d. Relig. 2, 788 f.;
C. Meyer, D. Abergl. des M. A. 346 f.
S. 66, Anm. 1. Entführung durch die Sturmgeister, sprich-
wörtlich. Il. Z 345 ff.: ὥς μ̕ ὄφελ̕ ἤματι τῷ ὅτε με πρῶτον τέκε
μήτηρ οἴχεσϑαι προφέρουσα κακὴ ἀνέμοιο ϑύελλα εἰς ὄρος ἢ εἰς
κῦμα πολυφλοίσβοιο ϑαλάσσης (d. h. in die Einöde. Orph. hymn.
19, 19; 36, 16; 71, 11). Entführung durch die Luft entgegen-
gesetzt dem Tode und Hadesaufenthalt: Soph. Trach. 953 ff.;
Ai. 1193 ff. (Phil. 1092 ff.?). Vgl. Eurip. Hippol. 1279 ff.,
Ion. 805 f.
S. 68, A, 1, Vgl. Aristot. Metaph. 1000 a, 12 ff.
S. 106 Anm. Den Amphiaraos ἐδέξατο ῥαγεῖσα Θηβαία κόνις
αὐτοῖσιν ὅπλοις καὶ τετραόρῳ δίφρῳ Sophocl. fr. 873. ἥρπασεν
χάρυβδις οἰωνοσκόπον, τέϑριππον ἅρμα περιβαλοῦσα χάσματι Eurip.
Suppl. 501 f.
S. 111, A. 2. Anrufen der χϑόνιοι, indem man auf die Erde
schlägt, unter deren Decke sie hausen. S. Nägelsbach, Nach-
homer. Theol. 102, 214. Skedasos in Sparta γῆν τύπτων ἀνεκα-
λεῖτο τὰς Ἐρινύας · Plut. amat. narr. 3 p. 774 B. In der Trauer
um seine gestorbene Tochter wirft sich Herodes Atticus zu
Boden, τὴν γῆν παίων καὶ βοῶν · τί σοι ϑύγατερ καϑαγίσι; τί σοι
ξυνϑάψω; Philostr. V. Soph. 2, 1, 10. Pythagoras ὅταν βροντήσῃ,
τῆς γῆς ἅψασϑαι παρήγγειλεν. Jamblich. V. Pyth. 156. — Am-
phiaraos gehört eben auch zu den χϑόνιοι. Ἀμφιάραε χϑόνιε wird
er, neben anderen χϑόνιοι, angerufen noch in dem Pariser Zauber-
buch, Z. 1446 f. (p. 81 Wess.).
S. 112, A. 2. Bei Ampelius 8, 3 stellt Jovis templum Ty-
phonis (statt hyphonis) her A. Dieterich, De hymn. Orph.
47. Aber dass Zeus irgendwo den Namen seines Feindes als
Beinamen getragen habe, müsste doch erst nachgewiesen wer-
den (bei der Beschaffenheit der Ueberlieferung des Ampelius
läge von hyphonis selbst: chthonii oder: hypochthonii nicht zu
weit ab).
S. 116, A. 3. Ins. beim Tempel des Apollon Ptoos gefunden
(Bull. corr. hell. 1890 p. 21): Καλλικλίδας Λοκρὸς — καταβὰς
ἐν Τρεφώνιον. — ὁ (ἱερεὺς) τοῦ Διὸς τοῦ Τροφωοίου in Lebadea:
I. Gr. sept. I n. 3077 (s. I/II nach Chr.).
S. 117, A. 1. Amphiaraos benannt ὁ ϑεὸς in Oropos, Saec. II,
I vor Chr.: I. Gr. sept. I 3498; 412. C. I. Gr. 1570 A, 25. 30.
52. Cic. de divin. 1, 88: Amphiaraum sic honoravit fama
Graeciae, deus ut haberetur.
S. 121, A. 2 (Z. 8 ff. v. u.). κλίνην στρῶσαι τῷ Πλούτινι: C.
I. A. II 948. 949. 950. Für Attis: C. I. A. II 622. Für Herakles
beim ξενισμός: Inscr. of Cos 36 b, 22. στρωννύειν ϑρόνους δύο
(wie hier einen ϑρόνος für Zeus χϑόνιος) für eine Göttin: C. I. A.
II 624, 9. 10. (So neben lectisternium auch, zumal für weib-
liche Gottheiten, sellisternium in Rom: Comment. lud. Saecul.
[Monum. ant. dell’ Acad. dei Lincei I] Z. 71; 101; 138
u. sonst.).
S. 123, A. 2. Der ὀμφαλός einem ϑόλος gleich: sowie die
ὀμφαλοί (an φίαλαι) καὶ τῶν βαλανείων οἱ ϑόλοι παρόμοιοι sind.
Athen. 11, 501 D. E. (Hesych. s. βαλανειομφάλους. Bekk. anecd.
225, 6).
S. 129. Dass Hyakinthos, auf dem amykläischen Altar
bärtig dargestellt (Paus. 3, 19, 4), nicht als der Geliebte des
Apollo gedacht werden könne, leugnet F. Hauser, Philol. 52,
218. Auch Apollo werde ja zuweilen bärtig dargestellt. Dabei
ist nur übersehen, dass, was dem ἐραστής wohl ansteht, bei den
παιδικά unmöglich ist. Wer hat je von παιδικά, φϑονεροῖς φρίσ-
σοντα γενείοις gehört? Wie oft beklagt τὴν ὥρην ἐκ τριχὸς ὀλλυμ-
ένην die Μοῦσα παιδική des Straton. — Wenn aber die ältere
Kunst und Sage von dem Liebesverhältniss des Apollo zu Hya-
kinthos nichts weiss, so auch nichts von dessen frühem Tode
u. s. w., mag diese, nach einem auch sonst verwendeten Schema
das nahe Verhältniss des Apoll zu Hyakinthos aus einem Liebes-
verhältniss erklärende Sage auch schon im 5. Jahrhundert sich
der älteren Sage an die Seite gestellt haben (wiewohl die von
Hauser auf die Geschichte von Hyakinthos, Zephyros und Apollo
gedeuteten bildlichen Darstellungen aus dem 5. Jahrhundert
keinerlei sichere Handhabe für eben diese Deutung bieten).
S. 135 Anm. Unter denen, qui immortales ex hominibus
facti sunt, nennt Varro bei Serv. Aen. 8, 275 auch den Amphia-
raos (quem Thebani colunt). [Ueberraschend ist, dass nach
Varro auch den Tyndareos die Lacedaemonii als Gott ver-
ehren. Vgl. Wide, Lakon. Culte 10. 11]. Vgl. auch Apuleius,
de deo Socr. 15 extr.
S. 137, A. 2. Ed. Meyer, Forsch. z. alten Gesch. (1892) 1,
222 besteht darauf, dass das durch Oenomaus bei Euseb. praep.
ev. 5, 28, 3 p. 223 B erhaltene Orakel auf Ephorus zurückgehe.
Denn in anderen Fällen lasse Uebereinstimmung des Oenomaus
mit Diodor darauf schliessen, dass die von Oen. benutzte Orakel-
sammlung einiges dem Ephorus verdanke. Eben dieses (oben-
drein ganz unsichere) Kriterium versagt aber hier, wo Oenomaus
mit Diodor nicht übereinstimmt. Die ihm vorliegende Samm-
lung war aus sehr verschiedenen Quellen zusammengekommen
(und schöpfte z. B. [Euseb.] V 27, 4 p. 221 D ersichtlich aus
einer ganz anderen Erzählung als der bei Diodor 8, 6 Dind. be-
nutzten, die ein mit Pausan. 4, 9, 4 inhaltlich übereinkommen-
des Orakel einschloss). Gerade auf Ephorus das in 5, 28, 3 er-
haltene Orakel zurückzuführen, giebt nichts uns Anlass und
Recht.
S. 151, A. 1. extr. Vgl. Philostrat. Heroic. p. 138, 6 —
19. Kays.
S. 151 f., A. 2. μνημεῖον τοῦ Ῥήσου in Amphipolis: Marsyas
ὁ νεώτερος in Schol. Rhes. 347 (p. 30, 3 Dind.).
S. 158, A. 1. Aus hundert ihr vorgeschlagenen Namen von
ἀρχηγέται erwählt die Pythia zehn als die der ἐπώνυμοι der
kleisthenischen Phylen: Aristot. Ἀϑ. πολ. 21, 6 (ἐκ πολλῶν ὀνο-
μάτων ἑλομένου τοῦ Πυϑίου. Poll. 8, 110).
S. 159, Z. 1. Benennung der δῆμοι durch Kleisthenes nach
den τόποι, nur subsidiär nach den κτίσαντες: Aristot. Ἀϑ. πολ.
21, 5. Aus dem Ortsnamen wurde dann eine möglichst zu einer
wirklichen Person erhobene Benennung eines Heros abstrahirt
(Vgl. Wachsmuth, Stadt Athen II 1, 248 ff.).
S. 159, Z. 15 ff. Die Tendenz war, den Heros ἀρχηγέτης
möglichst hoch hinaufzuschieben und so göttlichem Ursprung
möglichst nahe zu rücken. Darüber wurde, zu Gunsten eines
fictiven Urvaters, der Name des wirklichen Ahnen der Familie
bisweilen zurückgesetzt. Die Nachkommen des Bakchis in Ko-
rinth führen sich auf Aletes zurück (Diodor, 7, 9, 4; Paus. 2,
4, 3), die Nachkommen des Aepytos in Messenien auf Kresphontes
(Paus. 4, 3, 8); die Nachkommen des Agis und Eurypon in
Sparta auf Eurysthenes und Prokles. Die wahren Ahnen waren
in diesen Fällen wohlbekannt, liessen sich auch (als im Cult zu
fest eingewurzelt) nicht völlig verdunkeln: nach wie vor hiessen
jene Geschlechter Βακχίδαι, Αἰπυτίδαι, nicht Ἡρακλεῖδαι (Diod.
a. O.; Paus. 4, 3, 8), die spartanischen Königsfamilien Agiden,
Eurypontiden; und die fictiven Ahnen, Eurysthenes und Prokles,
brachten es nicht zu dem vollen Ansehen von ἀρχηγέται: Ephorus
bei Strabo 8, 366. In anderen Fällen mag aber doch der fingirte
Ahn den früher wohlbekannten wirklichen Stammvater ganz
aus dem Gedächtniss verdrängt haben.
S. 162, A. 2. Heroen nur durch Beinamen bezeichnet. Vgl.
noch S. 640, 4. 5. In Athen der ἥρως ὁ ἐπὶ βλαύτῃ: Pollux 7,
87. In Epidauros auf einem Architrav die Inschrift: ἥρωος
κλαϊκοφόρου (Fouilles d’ Épid. I n. 245.).
S. 163, Z. 13 v. u. Aus Scheu vor dem Furchtbaren nennt
man die Erinyen τὰς ἀνωνύμους ϑεάς. Eurip. I. T. 919 (ἃς τρέ-
μομεν λέγειν Soph. O. C. 129. So ἄῤῥητος κόρη öfter die Perse-
[696] phone.). Vielleicht darum auch ἀιώνυμοι die Seelengeister (auf
den kyprischen Defixionen: p. 654, 1).
S. 185, A. 2. Der durch seinen Blitztod heroisirte Ka-
paneus wird vor der Thüre des königlichen Hauses beigesetzt;
dort ist sein ἱερὸς τύμβος. Eurip. Suppl. 940. 984. Beisetzung
vor der Hausthüre ist Privileg der Heroen. Offenbar als solchen
werden auch den vom Blitz erschlagenen Tarentinern πρὸ
τῶν ϑυρῶν ihrer Häuser στῆλαι errichtet (und an ihren Ge-
dächtnisstagen keine Todtenklage und keine χοαί gewidmet):
Klearch. bei Athen. 12, 522 F.
S. 192, A. 2. Μελιτώδης, Μελίβοια Beinamen der Persephone,
Μειλινόη der Hekate (Orph. hymn. 71.). “Μελινδία“, Gattin des
Hades: Malalas p. 62, 10 (wohl: Μελίνοια). Ἀρίστη χϑονία; Pa-
riser Zauberbuch 1450.
S. 192 f. Dass Zeus Eubuleus erst nachträglich, als seine
„ursprüngliche Bedeutung vergessen“ war, zu einem χϑόνιος ge-
worden, mit Hades identificirt worden sei, nimmt doch wohl
mit Unrecht an O. Kern, Athen. Mittheil. 1891 p. 12. Nichts
weist darauf hin, dass Zeus Eubuleus jemals ein οὐράνιος gewesen
sei; eine solche völlige μετάβασις εἰς ἄλλο γένος, eines οὐράνιος
zu der Classe der χϑόνιοι, wäre auch ohne Beispiel. Ist also
der neben anderen χϑόνιοι, Persephone, Demeter u. A. (auch auf
Delos: Bull. corr. hell. 14, 505 A. 4) verehrte Zeus Eubuleus
(oder Buleus) durchaus und zu jeder Zeit der Herr der Unter-
welt, so kann der gemeinsam mit Pluton in Eleusis verehrte
Eubuleus nicht wohl (wie Kern annimmt) ein Zeus Eubuleus sein:
das wäre Pluton noch einmal. Es ist keineswegs so bedeutungs-
los, wie Kern p. 11 meint, dass der eleusinische Εὐβουλεύς stets
ohne den vorgesetzten Namen Ζεύς erscheint. Er ist eben eine
von dem Ζεὺς Εὐβουλεύς abgetrennte, zum Heros herabgesetzte
Gestalt, die so erst neben Pluton stehen kann. Den Heros
Eubuleus kennt nicht nur die orphische Fabel, sondern auch
die ächte athenische Legende, wie sie in Schol. Luc., Rhein.
Mus. 25, 549 und bei Clem. Al. protr. 11 C/D erhalten ist.
(Hieraus ist also gegen die Deutung des unbärtigen Jünglings-
kopfes aus Eleusis auf den Eubuleus des Praxiteles ein Argu-
ment nicht zu entnehmen, freilich auch noch keines dafür.)
S. 196 Anm. Unter ὁ ϑεός und ἡ ϑεά in Eleusis versteht
[697] Kern, Athen. Mittheil. 1891 p. 5. 6, Pluton und Persephone.
Lakrateides nennt sich einen Priester ϑεοῦ καὶ ϑεᾶς καὶ Εὐβου-
λέως (C. I. A. 2, 1620 c); auf dem Reliefbild, über dem seine
Weiheinschrift steht, sind, nach den Beischriften, dargestellt Πλού-
των, ϑεά, Τριπτόλεμος. Unter der Voraussetzung, dass das Relief
diejenigen numina darstelle, deren ἱερεύς Lakr. war, könnte ja,
wie Kern annimmt, der Πλούτων des Reliefs = dem ϑεός und dann
wahrscheinlich ἡ ϑεά keine andere als Persephone sein. Aber
die Voraussetzung ist unhaltbar. Das Relief zeigte ja den Tri-
ptolemos, dessen Priester L. nicht war, zeigt aber keine Spur
von Eubuleus, dessen Priester er war. Dazu heisst es oben, dass
Lak. sein χαριστήριον ἀνέϑηκε Δήμητρι καὶ κόρ[ῃ — — —: also
keinesfalls allein den Gottheiten, deren Priester er war (unter
denen nur Eine ϑεά ist). Da sich demnach die Gestalten des
Reliefs keineswegs mit denen, deren Priester L. war, decken,
spricht nichts dafür, das ὁ ϑεός = Πλούτων war, und dann
auch nichts dafür, dass ἡ ϑεά = Κόρη war. Kommt nun
hinzu, dass auf der Eleusinischen Inschrift, C. I. A. 4, 27 b (Dit-
tenb. Syll. 13), neben einander erwähnt und von einander unter-
schieden werden τοῖν ϑεοῖν ἑκατέρα (Demeter und Kore), Tripto-
lemos, ὁ ϑεός und ἡ ϑεά und Eubuleus: so bleibt es doch geradezu
unmöglich, unter ἡ ϑεά die Kore zu verstehn (was ja ohnehin,
da Kore nicht isolirt steht, sondern mit der Mutter zusammen
unter der Bezeichnung τὼ ϑεώ ganz regelmässig zusammengefasst
wird, kaum thunlich wäre). Es wird nicht möglich sein, der
ϑεά und dem ϑεός einen bestimmten Namen zu geben.
S. 202, A. 2. Vgl. noch Philodem. π. ϑανάτου p. 33 f.
Mekl.
S. 203, A. 1. Origanon (Doste, weisser Thymian) wird
doch wohl als apotropäisch, Geister verscheuchend, der Leiche
beigelegt. Die Alten wussten von der Kraft dieser Pflanze, Un-
geziefer, Ameisen, Schlangen abzuhalten (s. noch Aristot. h. an.
4, 8 p. 534 b, 22 [Plin. n. h. 10, 195]; Theophrast. Caus. Plant.
6, 5, 4; Geopon. 12, 19, 7). Neuerer Aberglaube verwendet sie,
um Wichtel und Nixen, Hexen und Gespenster fernzuhalten
(Grimm D. Myth.4 p. 1015; III p. 471, n. 980). Legt man
Doste und Tarant den Wöchnerinnen bei, so können ihnen die
Volande und Gespenster nichts thun „weil solche Kräuter diesen
[698] zuwider“. (J. Chr. Männlingen bei Alwin Schultz, Alltagsleben
einer d. Frau im 18. Jahrh. p. 195 f.). Beide Wirkungen hängen
zusammen. Durch scharfen Geruch von Kräutern und verbrann-
ten Stoffen werden so Schlangen wie nocentes spiritus, monstra
noxia verscheucht: Pallad. de re rust. 1, 35 (p. 45 Bip.). Die
monstra noxia wohl eben, sofern sie in Gestalt von Schlangen
oder Insekten der Leiche sich nähern möchten (wie jenes Leichen-
gespenst bei Apuleius Met. 2, 24 sich als Wiesel gestaltet heran-
macht, und dort die den Leichen gefährlichen versipelles et aves
et rursum canes et mures, immo vero etiam muscas indu-
unt: cap. 22). So ist auch das Origanon an der Leiche ein
kathartisches, d. h. unterirdische Geister verscheuchendes Mittel
(als Zauberkraut jedenfalls ist Origanon auch eines der Symbole
in Mysterien der Themis: Clem. Al. Protrept. p. 14 B.). — Wein-
reben, auf die man, nach Aristophanes, die Leiche bei der πρόϑεσις
bettete, dienten auch der Leiche im Grabe als Lager: wie sich
in einzelnen der neuerdings vor dem Dipylon in Athen aufgedeck-
ten Gräbern gezeigt hat (Athen. Mittheil. 1893 p. 165. 184).
Ein superstitiöser Grund auch dieser Sitte muss wohl voraus-
gesetzt werden (wie entschieden bei der Lagerung der Leiche
auf Olivenblättern: p. 209, 3; 360, 1). Nachzuweisen wüsste ich
ihn nicht.
S. 208 A. 4. Die jüngst vor dem Dipylon aufgedeckten
Gräber zeigen die Todten aus ältester Zeit (auf, nicht in deren
Gräbern die grossen sog. Dipylongefässe ihre Stelle hatten) durch-
weg begraben (ohne Sarg); nur in Einem Falle ist die Leiche
verbrannt; die folgenden Zeiten verbrannten (bis in’s 6. Jahr-
hundert) zumeist ihre Todten; später scheint Begraben häufiger
geworden zu sein. (S. den genauen Bericht über Anlage und
Inhalt dieser Gräber verschiedenster Zeiten von Brückner und
Pernice in den Athen. Mittheil. 1893 p. 73—191).
S. 211, 3. 4. Den Timarchos bittet seine Mutter, τὸ Ἀλω-
πέκῃσι χωρίον, (11—12 Stadien vor der Stadtmauer gelegen) ἐν-
ταφῆναι ὑπολιπεῖν αὐτῇ (dennoch verkauft er es): Aeschines,
g. Tim. § 99. — Beispiele ländlicher ummauerter Familiengräber
mit vielen Grabstellen sind in Ostattika erhalten (s. Belger, die
mykenische Localsage von den Gräbern Agamemnons u. d. Seinen
[Progr., Berlin 1893] p. 40. 42).
S. 212, A. 2. Das Grab in einem von Vögeln belebten Hain
(ὄφρα καὶ εἰν Ἀΐδῃ τερπνὸν ἔχοιμι τόπον): Kaib. ep. lapid. 546, 5—14.
S. 213, A. 3. Wohl auf das Umtrinken und dabei statt-
findende Lobpreisen des Verstorbenen beim περίδειπνον bezieht
sich, was vom πίνειν und λέγειν ἐπιδέξια ἐπὶ τεϑνηκότι sagt Ana-
xandridas bei Athen. 11, 464 A.
S. 214. In Argos gleich nach eingetretenem Todesfalle ein
Opfer an Apollo, dreissig Tage nachher eines an Hermes. Plut.
Q. Graec. 24.
S. 215, A. 2. Jährliches Gedenkfest für einen Verstorbenen
an dessen Geburtstag; s. noch p. 634 Anm.; 640, 3. Zwei-
mal jährlich, an einem besonders wichtigen Gedenktage und an
seinem Geburtstage wird in Sikyon dem Arat geopfert. S. p. 642, 3.
So zweimal jährlich dem Könige Antiochos von Komagene, am
Tage seines Regierungsantrittes und an seinem Geburtstage: Ins.
von Nemrud-Dagh II b, 10 ff. (Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1883).
— Allmonatlich wiederholte Gedenkfeiern für Verstorbene
begegnen öfter. Eine Freigelassene soll ihres ehemaligen Herrn
Bildniss zweimal monatlich, an der νουμηνία und am siebenten,
bekränzen: Collitz, Dialektins. 1801, 6. 7. (Delphi: Gedächt-
nissfeiern, ἀλλαϑεάδες, für den verstorbenen Herrn: ibid. 1731,
13; 1775, 29; 1796, 6). Allmonatliche Feier der εἰκάδες für
Epikur, nach seinem Testamente, Laert. 10, 18 (Cic. Fin. 2, 101.
Plin. n. h. 35, 5). κατὰ μῆνα Opfer für vergötterte Ptolemäer:
C. I. Gr. 4697, 48. — Ganz nach heidnischem Ritus feiern die
Kephallenier dem Epiphanes, Sohn des Karpokrates, κατὰ νουμη-
οίαν, γενέϑλιον ἀποϑέωσιν. Clem. Strom. III p. 428 B. C.
S. 216, Anm. 2. Νεμέσεια, Todtenfest. Φϑιμένων ὠκυτάτη
νέμεσις. Kaib. ep. lap. 119 (vgl. 195). ἔστι γὰρ ἐν φϑιμένοις Νέ-
μεσις μέγα ib. 367, 9.
S. 217, Anm. 3. Weissdorn, wie Gespenster verscheuchend,
so auch giftige Thiere abhaltend. φασὶ δέ, ὅτι περίαπτον ἐξ αὐτοῦ
ϑηρία διώκει Dioscor. mat. med. 3, 12. Dieselbe Verbindung wie
beim Origanon (oben p. 697 f.), übrigens auch bei der σκίλλα
(s. p. 363, 1) und sonst.
S. 221, Z. 15 v. u. Der Hahn wird bei Zauberwerk und
sacrificia magica häufig als Opferthier verwendet. S. Dieterich,
Papyr. magica p. 785 A. 3.
S. 224, A. 2. In einem besonderen Falle ἐν νόμῳ γράψας
ὁ δῆμος ἀπεῖπεν μήτε λέγειν ἐξεῖναι μηδενὶ κακῶς Ἁρμόδιον καὶ
Ἀριστογείτονα μήτ̕ ᾆσαι ἐπὶ τὰ κακίονα. „Hyperides“ κατὰ Φιλιπ-
πίδου (?) p. 47 (Kenyon).
S. 226 f. τριτοπάτορες könnten, der sprachlichen Form nach,
vielleicht auch sein: die dritte Väter Habenden. Etwa wie ὁμο-
πάτορες sind οἱ ἐκ τοῦ αὐτοῦ πατρός, εὐπάτορες die, welche edle
Väter haben. Aber dass die von Aristoteles (bei Pollux 3, 17)
u. A. vertretene Erklärung, nach der τριτοπάτορες sind οἱ τρίτοι
ἀπὸ τοῦ πατρός, ὅπερ ἐστὶ πρόπαπποι (Bekk. anecd. 307, 16),
sprachwidrig sei (wie behauptet wird; nur natürlich nicht von
Lobeck: s. dessen Agl. 760. 763; Prol. Path. 51), ist nicht
richtig. Wie μητροπάτωρ ist ὁ μητρὸς πατήρ, πατροπάτωρ ὁ πατρὸς
πατὴρ (προπάτωρ der Vorvater, ψευδοπάτωρ = ψευδὴς πατήρ), völlig
so ist ὁ τριτοπάτωρ der dritte Vorvater, der Vater des πατρο-
πάτωρ, der πρόπαππος. Die τριτοπάτορες sind die τρίτοι πατέρες
(sowie die τριτέγγονοι die τρίτοι ἔγγονοι, die ἔγγονοι in dritter Ge-
neration), d. h. dann aber (s. Lobeck Agl. 763) Urahnen über-
haupt, προπάτορες.
S. 229, A. 1. extr. καρποῦν = ὁλοκαυτοῦν. So auch auf
dem Opferkalender von Kos, Inscr. of Cos 37, Z. 35. Vgl.
Stengel, Hermes 27, 161 f.
S. 229, A. 3. τὰ ὥρια, von Todtenopfern gesagt (Collitz,
Dialektins. 1545. 1546; ὡραίων τυχεῖν Eurip. Suppl. 177) be-
deutet nicht unmittelbar die νομιζόμενα, sondern die καϑ̕ ὥραν
συντελούμενα ἱερά (Hesych. s. ὡραῖα), die in regelmässiger Wieder-
kehr (ταῖς ἱκνουμέναις ἡμέραις: s. p. 236, 1) zu begehenden Opfer.
(So τελεταὶ ὥριαι Pind. Pyth. 9, 98.) Gemeint sind wohl im
Besonderen die ἐνιαύσια ἱερά (s. p. 215, 2; 216, 3; 230 Anm.).
Bekränzung des Grabmals κατ̕ ἐνιαυτὸν ταῖς ὡρίοις (sc. ἁμέραις)
Collitz 1775, 21; κατ̕ ἐνιαυτὸν ὡραῖα ἱερὰ ἀπετέλουν (den Heroen)
Plat. Critias 116 C.
S. 230, A., Z. 5 f. Eurip. Med. 1019. Medea zu ihren
Kindern: εἶχον ἐλπίδας πολλὰς ἐν ἡμῖν γηροβοσκήσειν τ̕ ἐμὲ καὶ
κατϑανοῦσαν χερσὶν εὖ περιστελεῖν, ζηλωτὸν ἀνϑρώποισιν. Plat. Hipp.
mai. 291 D. E: κάλλιστον ist es dem Menschen — — ἀφικομένῳ
ἐς γῆρας, τοὺς αὑτοῦ γονέας τελευτήσαντας καλῶς περιστείλαντι
ὑπὸ τῶν αὑτοῦ ἐκγόνων καλῶς καὶ μεγαλοπρεπῶς ταφῆναι. Die Be-
[701] deutung des ritualen, den Familiencult sichernden Begräbnisses
durch die eigenen ἔκγονοι wird in dieser populären Definition des
Wünschenswerthesten mit besonderer Kraft ausgesprochen.
S. 232, A. 1. extr. οἱ Ἀλεξάνδρου δαίμονες u. ä. S. Lobeck
Agl. 769 Anm.
S. 233, A. Z. 2. Auf die Schlange an einem Zauber-
bild schreibt man τὸ ὄνομα τοῦ ἀγαϑοῦ δαίμονος. Pariser Zauber-
buch 2427 ff. — Z. 10 v. u. Δαιμόνων ἀγαϑῶν Εἰσιδότου u. ä.:
Inss. aus Mylasa, Athen. Mitth. 15 (1890) p. 276. 277 (n. 23.
24. 25. 27.). Selten der Singular. Δαίμονος ἀγαϑοῦ Ἀριστέου
τοῦ Δράκοντος κτλ. Bull. corr. hell. 1890 p. 628. (Karien). —
Auf einer Ins. aus dem Mylasa benachbarten Olymos, die
man auf die Wende des 2. Jahrhunderts vor Christus setzt:
Φαῖδρος Μοσχίωνος ἱερεὺς Δαιμόνων ἀγαϑῶν (Athen. Mittheil. 1889
p. 370; u. ö.: s. ebenda p. 394).
S. 237, Z. 1—3. So beruft sich Plutarch, de ser. num.
vind. 17 p. 560 C. D. ausdrücklich auf die Orakel des delphi-
schen Gottes, in denen ἱλασμοί, γέρα μεγάλα und τιμαί für Ver-
storbene verordnet würden, als ein starkes Argument dafür, dass
die Seelen der Verstorbenen im Tode nicht untergehen. Der
Gott selbst giebt dafür Zeugniss. ἄχρι τοῦ πολλὰ τοιαῦτα προ-
ϑεσπίζεσϑαι, οὐχ ὅσιόν ἐστι τῆς ψυχῆς καταγνῶναι ϑάνατον.
S. 245, A., Z. 17 v. u. Recht deutlich tritt das Neben-
einander der sofort eintretenden ζημία aus menschlichem Gericht
und die παρὰ τῶν ϑεῶν τιμωρία der ἐπίορκοι hervor in den
Worten des Isokrates, or. 18, 3. (ὃς γὰρ ἂν ὑμᾶς λάϑῃ, τοῦτον
ἀφίετε τοῖς ϑεοῖς κολάζειν: Demosth. de f. leg. 71. Vgl. 239. 240.
Lycurg. Leocr. 79.) — Obligater, vor der Verhandlung das Ma-
terielle ihrer Behauptungen bekräftigender Eid für beide Parteien
stellt allemal die Bestrafung des Frevlers der Gottheit anheim.
So im Mittelalter hie und da; auf Ceylon u. a. Meiners, All-
gem. Gesch. d. Relig. 2, 296. 297.
S. 249, A. 1. Die ϑεοὶ μειλίχιοι stets χϑόνιοι. Gegensatz
zwischen δαίμοσι μειλιχίοις und μακάρεσσιν οὐρανίοις in den Sibyllen-
versen bei Phlegon, Macrob. 4 (p. 204, 13 West.). — deis mi-
licheis Comm. de lud. saecul. Tavol. A, Z. 11.
S. 254, A. Aussaugen und Fortspeien von Blut des Er-
schlagenen durch den Mörder: Aeschylus fr. 354. Es ist ein
[702] kathartischer Act (ἀποπτύσαι δεῖ καὶ καϑήρασϑαι στόμα Aesch.)
Die verunreinigenden Rachegeister werden damit abgewiesen.
Plin. n. h. 28, 35: despuimus comitiales morbos, hoc est con-
tagia regerimus.
S. 262, A. 3, Z. 6 ff. v. u. Eine ähnliche Nachricht bei
Servius zur Aen. 6, 661.
S. 263, A. 2, Z. 4 v. u. Einweihung von δημόσιοι auch
C. I. A 2, 834 c, 24 (p. 531).
S. 275, A. 3. Auch bei Andocides de myst. 31 ist von mora-
lischer Verpflichtung der μεμυημένοι nichts gesagt: das ἵνα τι-
μωρήσητε κτλ. gehört nicht sowohl zu dem nur dazwischen-
geschobenen μεμύησϑε κτλ. als zu dem: οἵτινες ὅρκους μεγάλους
ὀμόσαντες κτλ., καὶ ἀρασάμενοι κτλ.
S. 280 Anm., Z. 22 v. u. Honigkuchen als Opfer für die
χϑόνιοι verkörpernden Schlangen. So für die Asklepiosschlange:
Herondas 4, 90. 91. Jedenfalls auch ein Opfer für unterirdische
(schlangengestaltete) Geister ist es, wenn man, das πάνακες ἀσκλη-
πίειον schneidend, nach der Lehre der ῥιζοτόμοι, zum Entgelt soll
ἀντεμβάλλειν τῇ γῇ παγκαρπίαν μελιτοῦτταν (d. h. den παγκ. ge-
nannten Honigkuchen: Ath. 14, 648 B); wenn man, die ξίρις (eine
Lilienart) ausgrabend, τριμήνου (aus Sommerweizen) μελιτούττας
ἐμβάλλει μισϑόν: Theophrast. Hist. plant. 9, 8, 7.
S. 282 Anm. Der Charongroschen ein Symbol des Ab-
kaufens der ursprünglich dem verstorbenen Hausherrn unverkürzt
mitzugebenden Gesammthabe des Hauses (ohne alle Symbolik wird
diese bei manchen „Naturvölkern“ dem Todten mitgegeben: so
gaben die Albaner im Kaukasus dem Todten alle seine Habe mit,
καὶ διὰ τοῦτο πένητες ζῶσιν, οὐδὲν ἔχοντες πατρῷον. Strabo 11, 503).
Deutlich redet noch J. Chr. Männlingen, Albertäten 353 (mir
nur im Auszug bei A. Schultz, Alltagsleben e. d. Frau p. 232 f.
zugänglich): „also haben unter den Christen diejenigen die Nach-
ahmung [der griechisch-römischen Todtenbestattung] gelernet,
welche den Verstorbenen einen Groschen mit in den Sarg geben,
welches soll seyn, dem Todten die Wirth-
schafft abkauffen, — wovor sie in ihrem Leben gut Glück
zu haben ihnen einbilden“. Hier hat sich einmal mit der Sitte
zugleich die Kunde von deren erster und tiefster Bedeutung,
von der antike Schriftsteller kaum irgend etwas andeuten, in
[703] volksthümlicher Ueberlieferung aus dem Alterthum in christliches
Volksleben herübergerettet und durch lange Jahrhunderte im
Bewusstsein erhalten.
S. 285, Anm., Z. 13 v. u. Pariser Zauberbuch Z. 1464 ff.:
Αἴακε πυλωρὲ κλείϑρων τῶν ἀειδίων κτλ.; Z. 1403 der Trimeter:
κλειδοῦχε Περσέφασσα, Ταρτάρου κόρη.
S. 292, Anm., Z. 14 ff. v. u. Das Unglück der ohne Kinder
Sterbenden beruht darauf, dass ihnen nach dem Tode kein Seelen-
cult gewidmet werden wird. Eurip. Troad. 382 ff.: χῆραί τ̕
ἔϑνησκον, οἱ δ̕ ἄπαιδες, ἐν δόμοις ἄλλως τέκν̕ ἐκϑρέψαντες, οὐδὲ
πρὸς τάψοις ἔσϑ̕ ὅστις αὐτοῖς αἷμα γῇ δωρήσεται. Die Kinder
haben den Eltern das Grab zu bereiten. Entschuldigung ist
nöthig, wenn, beim Mangel von Kindern, die Mutter dem Ver-
storbenen das Grabmal errichtet. Δαμοτίμοι τόδε σᾶμα φίλα Ϝερ-
γάσατο μάτερ Ἀνφιδάμα · οὐ γὰρ παῖδες ἐνὶ μεγάροις ἐγένοντο.
Bustrophedoninschr. aus Troezen, Bull. corr. hell. 1893 p. 85.
S. 365, A. 1. Die Gnostiker versprechen durch ἐπαοιδαί,
μέλη, ἦχοι u. dgl. Kranke zu heilen und καϑαίρεσϑαι νόσων, ὑπο-
στησάμενοι τὰς νόσους δαιμόνια εἶναι, καὶ ταῦτα ἐξαιρεῖν λόγῳ
φάσκοντες δύνασϑαι. Plotin. 30, 14 Kh. Hier tritt der wahre
Sinn der Anwendung von Epoden, als Beschwörung dämonischer
Wesen, deutlich hervor (sonst auch πῶς φωναῖς τὰ ἀσώματα
[ὑπακούει];); auch des καϑαίρεσϑαι als Geisterverscheuchung.
S. 629, A. 2. Den Herodes Atticus trösteten die Athener
beim Tode seiner Tochter Panathenaïs ἐν ἄστει τε αὐτὴν ϑά-
ψαντες καὶ ψηφισάμενοι τὴν ἡμέραν, ἐφ̕ ἧς ἀπέϑανεν, ἐξαιρεῖν τοῦ
ἔτους. Philostr. V. Soph. II 1, 10.
S. 650, A. 1. ἡ πόλις ἡ Τροιζηνίων (τὸν δεῖνα) ἀρετῆς ἕνεκεν
ἀφηρώισεν. Bull. corr. hell. 17, 98.
S. 559, Z. 7: statt: Forderung nach begrifflichem Wissen:
lies: Forschung n. b. W. — Andere Druckfehler werden den
Leser kaum aufhalten: sie mögen unverzeichnet bleiben.