Es ist Nichts Neues unter der Sonne! Diesem Spruche
der Volksweisheit steht das Wort des Dichterfürsten gegen-
über: „Gar manche Dinge giebt es zwischen Himmel und
Erde, von denen sich die Philosophen nichts träumen lassen“.
Noch nichts, müsste es heissen. Denn eines schönen Tages
oder in einer stillen, ruhigen Nacht kommt es über sie im
Traum, — in keimschwangerer Mutternacht vielleicht (jener
modranecht, die dem Morgen vorhergeht), — und was sich
dann in dunkler Nacht traumhaft vor dem Geist erhoben,
das, unter den Arbeiten im Tageslicht, beginnt sodann Ge-
stalt zu gewinnen, dem Verständniss sich zu nahen in klareren
Anschauungen.
Sie sind ein Neues zwar; neu aber nur in dem Grade
der Entfaltung, denn jedem Traume schon liegt ein Wirk-
liches voran, das dorthin seine Schatten geworfen, und dem
Keime nach war das Neue also bereits vorhanden gewesen,
mithin nichts neues an sich, neu nur im zeugenden Gang
der Entwicklung. Und so bliebe es wahr, „nichts Neues
unter der Sonne“, weil nichts Neues sein kann, innerhalb
eines fest geregelten Abschlusses, wo Alles nach nothwendiger
Gesetzlichkeit zusammenwirkt. Wie tief das menschliche
Auge dort hineinblickt, bleibt von seiner Geübtheit und
Ausbildung abhängig, und ihm mag dennoch manch Neues
auftauchen, neu nicht deshalb, weil vorher nicht vorhanden,
sondern neu insofern, als bis dahin nicht gesehen.
Auch für den in der Nähe bereits geschärften Blick,
muss Manches unsichtbar bleiben, wenn der Standpunkt einer
weiten Umschau fehlt. Dies zeigt sich in den in überraschender
Fülle immer neu vermehrten Entdeckungen, wie sie aus
dem in der Ethnologie angesammelten Material hervortreten,
und innerhalb des früheren den Hauptlinien nach auf den alten
Orbis terrarum beschränkten Horizont, schon deshalb nicht
gesehen sein konnten, weil eben ausserhalb des Gesichtskreises
fallend, — Neues überall, und doch wieder nichts Neues, da
vielmehr die Ethnologie im Gegentheil das Gleiche durchweg
in Gleichungen bestätigt. Aus neuen Gleichungen freilich
werden neu veränderte Resultate herauszurechnen sein.
Manche der bisher als grundlegend geltenden Prinzipien
in der Religions-1) oder Rechtsgeschichte werden eine durch-
greifende Umgestaltung zu erfahren haben, seitdem in den
aus allen Theilen des Globus zusammenströmenden Betrach-
tungen Gelegenheit gegeben ist, die verschiedenen Entwick-
lungsstufen in mannigfachsten Wandlungen unter und gegen
einander nach relativen Gültigkeitswerthen abzuschätzen und
zu bestimmen.
Es stehen hier vielerlei Reformen bevor, die auch in
das practische Leben vielleicht, tief werden eingreifen müssen,
wenn die naturgemäss geschichtliche Entwicklung der gesell-
schaftlichen Zustände betreffend. Die dafür leitenden Maximen
sind auf der eigentlichen Grundlage unserer Gelehrtenbildung,
in der classischen Alterthumskunde festgestellt, und in keine
sorgsamere Hände hätte die Hut der socialen Palladien gelegt
werden können. Dass indess im Fach-Collegium selbst über
Verschiedenheiten Verschiedenheit der Meinungen herrscht,
kann auch dem Profanen nicht verborgen bleiben, und, im
Gefühl eigener Unfähigkeit zum selbstständigen Urtheil, wird
dann die Auswahl schwer, wenn gleichberechtigte Autoritäten
gegen einander abzuwiegen. Für die Allgemeinheiten funda-
mentaler Sätze ist in der Hauptsache Uebereinstimmung
herstellbar, aber nicht immer solche zugleich mit den neu
[V] hinzutretenden Resultaten aus vorgeschichtlichen und ausser-
geschichtlichen Forschungen, so dass Debatten über Dieses
und Jenes nicht mehr lange ausbleiben können und vom
philosophischen Gebiete bald auf die benachbarten überspielen
werden.
Für rechtliche Verhältnisse haben besonders Morgan’s
Arbeiten, in internationaler Wechselseitigkeit des Zusammen-
arbeitens gefördert, Zersetzungskeime liefern müssen, und
damit beginnen Fragen allerlei Art sich zuzuspitzen, die
früher eine Beachtung, soweit überhaupt, nur in den Er-
holungsstunden fanden.
In Locke’s Gesellschaftsvertrag lag noch ganz die rö-
mische Auffassung, wie aus dem Gang der Culturgeschichte
gewonnen, als natürliche Grundlage unter, wogegen Montes-
quieus, seit den neuen Entdeckungen, seinen Blick über die
Erde erweiterte, und klärlich genug, sich zunächst von
Abweichungen getroffen fühlte, von mehr weniger sonderbaren
Excentricitäten, und so folgte von selbst das Ueberwiegen des
der äusseren Umgebung (in klimatischen oder politischen
Verhältnissen 2)) zugeschriebenen Einflusses (während Bentham
subjective Verbesserungen mitreden lassen wollte).
Die Aufgabe der inductiven Ethnologie liegt nun
indess darin, unter diesen gewissermaassen oberflächlichen
Localfärbungen, die ihre spätere Erklärung geographisch oder
historisch zu finden haben, vor Allem und zunächst die
gleichartigen3)Wachsthumsgesetze der menschlichen
Völkergedanken festzustellen, und dies am einfachsten nach
genetischer Methode, von den Naturvölkern, als niedersten, und
deshalb durchsichtigsten, Organismen ausgehend. Und wie
aus solchen Keimen dann die Entwickelung fortschreitet zu
den erhabensten Errungenschaften des Geistes, muss sich
aus Vergleichung der nebeneinander verlaufenden Reihen
nach allgemein 4) gültigen Grundlinien in der Naturlehre
selbst herausstellen.
Die Ethnologie hat vor ihren biologischen Schwestern
[VI] den Vorzug, sich frei halten zu können von den Gefahren
nebliger Umstrickung, die bei Speculationen über den ma-
terialistischen Ursprung auch den Nüchternsten bedrohen
müssen. Sie beginnt mit dem Menschen als deutlich um-
schriebenes Object im Gesellschaftszustand, für den ersten
Ansatz bereits im vollen Tageslicht, und dieses klärt sich
dann lichter und glänzender, beim Aufsteigen zu den freieren
Aether-Regionen des Denkens, von dem primitiven Anfange
der Naturstämme bis zu den höchsten Idealen der Cultur.
In der Scholastik (auch der botanischen künstlicher
Systeme) besteht die geistige Arbeit „ganz wesentlich in dem
Drehen und Wenden der Thatsachen“, um sich dem „fertigen
Gedankensystem“ zu fügen, so dass „Erfahrung im Sinn der
Naturforschung“ dadurch unmöglich gemacht wird, und statt
im scholastischen „Spiel mit abstracten Begriffen“ vorhandene
Widersprüche zu verdecken, „geht die echte Forschung gerade
darauf aus, etwa vorhandene Widersprüche schonungslos
aufzudecken und die Thatsachen so lange zu befragen5), bis
die Begriffe sich berichtigen“ (s. Sachs). So also auch, wie
oft erwähnt, in der Ethnologie als Naturwissenschaft.
Thatsachen sind zu sammeln6), nicht durch Speculation
zu schaffen (nach Baco), denn der Mensch, als „Dolmetscher“
und Diener der Natur kann nur durch Beobachtung in der
Induction die Wahrheit erlangen. „Wir haben die Seelen-
lehre vor Allem zu betrachten, als eine Wissenschaft der
Erfahrung“ (Wundt), und um inductiv vom Einzelnen zum
Allgemeinen aufbauen zu können, muss vorher das Bau-
material selbst beschafft sein. Unter Theilung der Arbeit,
und Ausverfolgung des genetischen Prinzip’s (im Aufsteigen
von Niederen und Einfachen zum höher Zusammengesetzten),
wird es der Völkerkunde aufliegen, ihr massenhaftes Material
zu bewältigen.
Nägeli (s. Sachs) knüpfte die morphologischen Unter-
suchungen möglichst an die niederen Kryptogamen an, um
sie an den höheren und an den Phanerogamen weiter zu
[VII] führen, von den einfachen klaren Thatsachen zu den schwieri-
geren übergehend, wobei die Kryptogamen nicht nur in den
Bereich methodischer Forschung hineingezogen, sondern
geradezu zum Ausgangspunkt derselben erhoben wurden
(indem die bisher an den Phanerogamen 7) abstrahirten mor-
phologischen Begriffe an den niederen Kryptogamen ent-
wickelungsgeschichtlich untersucht werden).
Und wie hier jeder neu eingeschlagene Forschungsweg
einen neuen neu eröffnet, so in der Ethnologie gleichfalls, mit
welcher das Studium der Kryptogamen, in den Naturstämmen,
für die Geschichte beginnt. Doch hatte auch für die
(phanerogamischen) Culturvölker bereits die Ansammlung und
Vorbereitung des Stoffes vorherzugehen. Auf Petrarca’s
geniale Anregung zur Wiederweckung des Humanismus
folgt Boccacio, der („mit seiner Belesenheit und seinem
Sammelfleiss“) die „Wissenschaft mit dem stofflichen Inter-
esse“ ergreifend, „rüstig in die Breite gearbeitet“ hat („aus
der Lectüre der Alten einen ungeheuren Haufen von Excerpten
gezogen und sie dann nach äusserlichen Gesichtspunkten
geordnet, zu Werken compilirt“), in seinem „wüsten und
geschmacklosen Notizenmagazin“ aber zugleich „das erste zu-
sammenfassende Handbuch einer Alterthumsdisciplin“ geliefert
(s. Voigt), bis es dann mit der von Poggio angeregten „Bücher-
jagd“ (um „von den Resten des Alterthums zu retten, was
noch zu retten war“) besser und klarer wurde, als aus den
„Ergastula“ verstäubter Klosterbibliotheken 8) (von Monte
Cassino, St. Gallen u. s. w.) einer der alten Weltweisen nach
dem andern wieder an’s Tageslicht emporstieg. So vermochte
dann die Gelehrsamkeit ihren Tempel der Classicität 9) zu er-
richten, was ohne jene Vorbedingungen unmöglich gewesen,
was unter der Gunst derselben jedoch sich ermöglicht hat,
obwohl auch hier noch manche Lücken bleiben.
Nach Ambrosch fehlt es noch immer „an solchen That-
sachen, deren Combination zu einer in den Grenzen der
Möglichkeit liegenden Darstellung der römischen Religion
[VIII] führen könnte“ und erst nach „Erkenntniss des inneren Zu-
sammenhanges“ durch Bearbeitung von einzelnen Gebieten
„werden sich grössere Darstellungen einzelner Hauptab-
theilungen derselben mit Hoffnung auf bedeutende Erfolge
unternehmen lassen“. Wenn so auf ältestem, nächstem, wich-
tigstem Culturgebiete, einem räumlich und zeitlich fest um-
grenztem, was lässt sich dann auf den kaum betretenen Weiten
erhoffen, die der Ethnologie zufallen sollen.
Sie mag indess unter einem günstigeren Stern geboren
sein, weil für ingenia cultiora, (und in deren Augen), mit
ursprünglicher Simplicität bevorzugt erscheinend, in der
Naivität des Naturzustandes, um diesem zu entsprechen. Wer
Lustanwandlung spürt, sich die Völker Amerika’s anzu-
schauen, in der durch der Zonen fünfe fast erstreckten Reihe,
stellt als selbstverständlich erste Forderung eine Revision
der Pässe, um über Herkunft und Heimathsrecht das Nöthige
regelrecht constatirt zu sehen, und der Fremdenführer hätte
sich zu schämen, wenn er auf einer Weltkarte beider He-
misphären die Etappen nicht anzutüpfeln vermöchte, längs
der durch die Windrichtungen bereits erleichterten Heer-
strassen, die aus jenem Omphalos zwiebligen 10) Tsoungling’s,
durch eine Göttin Panda gleichsam, nach allen Seiten ge-
breitet sind. Und auch auf den Wasserwegen ist kein
testimonium paupertatis zu fürchten, wenn mit geologischen
Hülfen die (in Guttland’s Mythen anmuthenderen) Taucher-
künste der Lemurien gelernt wurden, um im Einvernehmen
mit dem jedesmaligen Stand kraniologischer Sammlungen
oder den im philologischen Hader bald geschlossenen, bald
gelösten Verwandtschaften, die Inselstämme in Reihe und
Glied zu stellen, jeden derselben in marschgerechter Ord-
nung an zugehörigem Platz (wie am leichtesten im Register
zu finden, um von exotischen Ausflügen dahin baldigst wieder
zu Hause zu sein). Ein Handbuch mässigen Bandumfanges
vereinigt daher als Vademecum in der Ethnologie das Erforder-
liche, um über Alles, was auf ungeschichtlicher Erde passirt,
[IX] oder früher passirt ist, kurze und bündige Auskunft zu ertheilen,
mit der man sich zufrieden geben kann, (und dies zu thun froh ist
im Genuss der reinlich vorgesetzten Wissensspeise, die hier
geboten wird). Wer seinen Geschmackssinn mit solchen
Näschereien verwöhnte, der hat für jede Frage in der Völker-
kunde seine Antwort bereit, in allen fünf Erdtheilen, und
am wenigsten kann es bei den vier ausländischen fehlen, je
weiter, desto leichter. Man führe solchen Oedipus vor die
Thore Berlin’s, zu den Zpriawani im Spreewald, mit einer
Specialkarte oder (bei Losius) Particular-Charten, „welche
die gelehrte Welt | Immer mehr und mehr vorstellt“ (seit
(1708), und — er wird sich schon hinter den Ohren kratzen,
bei diesen Lusici des Luch 11), oder Lutizer und Weleter,
mit Weltae, Weletabi, Wilzen, Wilten, Wilken bis in sagen-
hafte Verschwimmung aus Schattenbildern nordischer Epen.
Ja, wie mit den Wenden überhaupt etwa, mit der Winidorum
natio populosa eines Wenäjänmaa’s, mit Veneter, Wanen,
Wandalen zu Anten und Sclavinen hinüber? Oder, um von
barbarisch nebligem Norden und „reliqua litora incerta“ nicht
zu reden, wie an den blühenden Gestaden des Mittelmeeres?
mit Joniern, Jaonen, Javanen, mit Dorer dreigetheilt wieder
und Τριχάϊκες, wenn hinblickend schärfer auf bestimmte
Localitäten, auf Kydoner und Eteokreter phrygischen Ida’s,
oder andere Inselpunkte im griechischen Archipel, der sich
mit zunehmender Schärfe des Mikroskop’s mehr und mehr
in Detail zerfächert, während innerhalb des indischen, ein
bieg- und dehnsamer Name, gleich dem der Malayen, den
dort bescheideneren Ansprüchen, das Nöthigste deckt, und
ähnliche Generalisationen für zugehörige Halbinsel genügen
mögen, wogegen wir in Italien’s näherer und kleinerer, bald
schon auf Verstecke der Aborigines 12) stossen, in arces (ante-
selenischer) Arcader (unter βασιλεύς Ἀβοριγίνων Λατῖνος, ὁ
Φὰυνον), auf Phrygibus junctos Latinos, auf gens universa
Veneti appellata (von Troja hier), und Rutiler (xanthischen
Scamandros’), Siculer (vorrömischen Rom’s am Anio und
[X] Tiber), Ligurer (bis iberische Doppelgänger), Opiker
(Apia’s) oder Osker, Teutanes oder Teutones (Graece lo-
quentes), Umbrer vorfluthlichen Schichtungen (die mexicani-
schen von Tolteken rückwärts auf Olmeken, und darüber
hinaus, wiederholend), im Herzen sodann (mit troischem
Kapys) auf samnitische Fragezeichen 13) frommer Sabiner
(im Cult des Semo Sancus) und zahllos andere, geschweige
der turdetanischen gar, mit baskischen Sprachbeziehungen
nach Westen hin zur Atlantis, oder vom Süden her in
Mauretanien’s dunklen Zügen zu den Siluren, und aus der
Nachbarschaft mit fenischen Finnen wieder zurück, wenn’s
beliebt, zu gleichfalls benachbarten Aestyer und Esthen
oder — im Vorübergehen (phrygischer) Frisones oder Vriezen
(mit Saxones im exercitus Alexandri) — hin nach Diwo’s
Pruzzen, den Prussi oder Prusi, und (nachbarlichen Gefühlen
und dem Drange der Schädelgräber zu entsprechen) zur „Race
prussienne“, πᾶν γένοιτο έν τῷ μακρῷ χρόνῳ.
Für Alles dies, auf dem seit grauestem Alterthum best-
erforschten Terrain des Menschengeschlecht’s ist zur Stillung
des Wissensdurstes jede Erquickung geboten, es lässt sich
hier auf stattliche Bänderreihen verweisen, auf eine Biblio-
thek, in gediegenster Gelehrsamkeit aufgenährt, aber, je ge-
diegener und besonnener der Gelehrte selbst, desto mehr
bleibt ihm ein „non liquet“.
Die Forschungen in der Ethnologie zählen noch lange
nicht so viele Jahrzehnte, wie die geschichtlichen Jahr-
hunderte (ungefähr soviel Jahrzehnte, wie jene Jahrtausende),
und was den räumlichen Unterschied betrifft, so vermag ihn
auf der Karte Jeder sich selbst auszumessen, — und brauchte
sich dabei dann betreffs der weissen Punkte in Afrika, und
sonst, keine weissen oder grauen Haare wachsen zu lassen,
da wenn sie vorläufig auch vielleicht der Behandlung noch
entfallen, doch deshalb für Sorgen über Mangel an Stoff,
ernstlicher Anlass nicht grade vorliegt.
Immerhin gestatte man also der Ethnologie noch ein
[XI] Weilchen für ihre Materialbeschaffung, denn nur beim sorg-
samen Verbleiben dabei, wird sie die in verwandten Ge-
schichtsläuften, wie die der Medicin 14), warnend vorge-
haltenen Fehler vermeiden, wird sie im allmählig langsamen
Fortschritt zur Reife herangedeihen, gleich den übrigen
Naturwissenschaften.
Erst mit Boyle, der unbefriedigt durch die drei Elemente
der Alchemisten (oder die vier der Philosophen seit Empe-
dokles) vorausfühlte, dass mehr Grundstoffe in der Natur
vorhanden, begann mit dem Suchen nach denselben eine
chemische Wissenschaft 15), begann die Zeit, „innerhalb welcher
die Chemie als besondere Naturwissenschaft betrieben wurde“
(s. Kopp). Man weiss wie wild und verworren es lange in
ihren Büchern aussah, und jetzt steht sie vor uns, das Muster
inductiver Naturwissenschaft, in praktischen Resultaten be-
währt.
Wie würden wir jetzt, wo in ihren Vorstadien eine
neue Wissenschaft zu keimen beginnt, die aus der Geschichte
anderer und älterer zu entnehmenden Lehren ignoriren dürfen?
Klar und schlagend liegen die Parallelen, in den nothwen-
digen Phasen organischer Entwicklung vor uns, mögen sie
uns also helfen, im Zusammenwirken Aller, die Allen einst
in ferner Zukunft ihren Abschluss versprechende Wissen-
schaft vom Menschen, zu seines, und somit zu eigenem,
Nutz und Frommen, richtig zu fördern.
So rasch wie der Wunsch, wie die drängende Noth in
dieser späten (und verspäteten) Arbeitsstunde es erheischen
würde, wird es freilich nicht gehen, denn noch liegen überall
ausgedehnteste Beobachtungsfelder unangebrochen und brach.
Selbstberäucherung, wenn allzu reichlich gespendet, droht zu
umnebeln, und noch bedarf es frischen Blickes und unge-
schwächter Kraft, bereit zum Tagewerk.
Wir sind mit der Welt wohl noch nicht ganz so fertig,
wie es die Lust zum Feierabend gern sich vorspiegelt, denn
trotz uralter Cultur, mit der wir uns zum Neide der Barbaren-
[XII] Völker zu schmücken lieben, trotz der in ihren Lehren ein-
gesogenen Weisheit, kommt es sonderbarerweise noch immer
einmal vor, dass die Natur entgegensträubt, sich dem, was wir
im bessern Wissen decretirten, geziemender Weise zu fügen.
Kaum hatte zum Besten gleichsam der in den Volks-
kalendern fortlebenden Astrologen, in den ersten Jahren des
Jahrhunderts, ein Grosser unter den Philosophen die Noth-
wendigkeit der (heiligen) Planetenzahl gerade für logisch
bewiesen festgestellt, als das Teleskop zu addiren begann,
und ein erster Kopf sich zeigte, mit langem Schwanz dahinter.
Dann feierte die Genauigkeit der Methode ihren glänzenden
Triumph in der Entdeckung des neuen Wandlers an der für
Deckung der Störungen gewünschten Stelle. Seitdem indess
haben sich die gerufenen Planetengeister unaufhaltsam ver-
mehrt, ob in solchen Mengen nöthig? für das System oder
vielleicht (bei befangloser Ungestörtheit durch ihre Störungen)
überflüssig? wenn vorher schon Alles bereits genügend ge-
stimmt hatte, — das bleibt Sache der Zionswächter auf ihren
Warten.
Auch sonst mehren sich die Fälle von Störungen, unter
dadurch bedingten Rectificationen der Theorien in allen Clau-
suren naturwissenschaftlicher Kopfarbeiten nicht nur, sondern
auch historischer hie und da, und wer sich allzu exclusiv in
privilegirten Deductionshäuschen abzuschliessen vorzieht,
läuft Gefahr, dieselben unversehens zusammenratteln zu
hören, wenn eine für den inductiven Aufbau der Völkerkunde
bedürftige Thatsache sich in der Quere dazwischenschöbe.
Die Weltgeschichte 16), innerhalb des von den classischen
Autoritäten bereits abgesteckten Bezirkes wohnlich einge-
richtet, baute denselben nach den glänzenden Belebungen der
Archäologie an manchen der in zweifelhafte Grenzen ver-
laufenden Vorsprüngen stattlich genug aus, sah aber, in den
weiten Fernen Asien’s, der Siner oder Chineser Land nicht
viel grösser und deutlicher, wie deren Annalen westliches
Tahtsin, und mit Indien ging es eine Zeit lang nicht besser.
Als dieses jedoch, unter dem Schutze glänzender Dios-
curenpaare, der Schlegel und der Humboldt, mit schwer-
wiegenden Gelehrtenschätzen seine Aufnahme unter die Bil-
dungsklassen erkaufte, fand sich die Historie bei genauerer
Beschäftigung mit der indischen Halbinsel von ihren Reizen
so angezogen, so reichlich belohnt durch Anpflanzung des
indogermanischen Sprachstammes im Schmucke vergleichender
Mythologie, dass sich keine besonderen Schwierigkeiten er-
hoben, ihr ein, wenn auch bescheidenes, doch wohlanständiges
Stübchen im Geschichtsgebäude anzuweisen.
Das war die Vorderansicht, im verlockenden Schmuck
der Brahmanen und Bayaderen. Die Pars posterior im
Hinteren Indien blieb ausser Acht, als ultragangetisch jen-
seits des heiligen Bezirks gelegen, eine pars aversa, für den
conventionellen Ton ungeziemend, sich damit abzugeben, und
wandte man sich naserümpfend ab.
So sassen die hinterindischen Völker da, in Sack und
Asche trauernd, denn eine hochachtbare Autorität hatte sie
eindringlich und scharf verwarnt, dass sie eines vollen
Blickes des Historikers sich nicht würdig bezeugt hätten
(méritent à peine les regards de l’histoire).
Dies war im Jahre 1861, und damals gerade gelangte
nach Europa die Trauerkunde von dem Hinscheiden des
Reisenden Mouhot. Er hatte sich jene gleichgültig erachteten
Länder „Hinterindiens“ zum Forschungsfelde erwählt und
dort verdanken wir ihm: die Wieder-Entdeckung des alten
Kambodia.
Als dann in seinen und seiner Nachfolger Veröffent-
lichungen die Pracht der alten Monumente ans Licht trat,
da erklärte, mit dem Gewicht massgebendster Stimme, der
Geschichtsschreiber der Architectur: 17) „Seit der Enthüllung
der in Assyrien begrabenen Städte, ist die Auffindung der
kambodischen Ruinenstätte als die wichtigste Thatsache zu
betrachten, die sich für die Kunstgeschichte des
Orientes verwirklicht hat“. So 1867. Und mit jedem Jahre
[XIV] seitdem, wie wir mehr und besser in die Einzelnheiten blicken,
wächst das Staunen über die ungeahnte Pracht, die wir hier vor
uns sehen, — aus bis jetzt zwar dunkler Vergangenheit noch,
schwankend erst hervorschimmernd, aber im strahlenden Hoff-
nungsscheine bereits ihre Lichtesstrahlen hinaussendend,
nach China 18) auf der einen, nach Indien auf der andern
Seite, und weit über Java jenseits, in des Grossen Oceanes
Weiten.
Vielleicht wenn es ihnen unter guter Aufführung einst
gelingen sollte, das strenge Urtheil des Historiker gnädig
umzustimmen, vielleicht werden dann diese Tempel als Mittel-
punkt 19) einer Geschichtsbewegung dastehen, von räumlich
mächtigerem Umfange, wie je eine andere vor ihr oder neben
ihr, und innerhalb des dadurch mitgewölbten Riesenbaues einer
Weltgeschichte würde die europäische, auch wenn man ihr,
unter gebührenden Ehren, die ganze Suite der Staatszimmer
im besten Stock zur Verfügung stellte, doch immer nur
mässigste Räume, verhältnissmässig, beanspruchen.
So scheint für uns, die wir mit dem für uns historischen
Winkel des Erdballs ziemlich schon genug zu thun zu haben
meinten, noch manche Riesenaufgabe herantreten zu wollen,
und willkommen wäre es deshalb vor Allem, dieselbe durch
Vervollkommnung der Rechnungsmethoden 20) einigermaassen
zu erleichtern.
Mit inductiver Bearbeitung des in den Gesellschafts-
gedanken vorliegenden Materials wird die naturwissenschaft-
liche Psychologie durch die vergleichende Methode auf
statistische Grundlagen geführt, um einen ethnischen Gesammt-
überblick unseres Globus zu gewinnen.
Schon hat man die bei methodischen Massenbeobach-
tungen (s. Engel) unter Herbeiziehung des Calcül 21) zuerst
auf die „Ratio Status“ staatswissenschaftlich zur Anwendung
gekommene Statistik zur Demographie (s. Guillard) erweitern
zu sollen gemeint oder zu (Quetelet’s) Social-Statistik, und noch
gleichzeitig fast mit Achenbach’s sorgsamer Prüfung erster
[XV] und unterster Fundamente, sprach Gatterer von dem „Ideal
einer allgemeinen Weltstatistik“ oder Süssmilch von „Gött-
licher Ordnung in den Veränderungen des menschlichen
Geschlechts“. Die Statistik hat für den Staat den Zweck
„of ascertaining the quantum of happiness enjoyed by its
inhabitants and the means of its future improvement“ (s. Sin-
claïr), den Zustand der Gesundheit zu wahren, als „Physio-
logie der Staaten“ (s. Fischer) und zugleich „la connaissance
approfondie de la société (s. Moreau de Jonnés), als „Wissen-
schaft ewig neu quellenden Lebens“ (bei Fr. Meyer). Die
„Verwirklichung der das Leben der Menschheit beherr-
schenden Entwicklungsgesetze und dadurch den wirk-
lichen Fortschritt oder Rückschritt im Leben, den Stand-
punkt der menschlichen Cultur nachzuweisen“ bildet die
höchste Aufgabe der Statistik 22)“ (s. Jonák) und (nach
Wörl) „aus dem vielfach Wandelbaren das Constante zu
ermitteln, und im wieder Neuen ein bestehendes Gesetz zu
erkennen“.
In Beobachtung und Erforschung der Thatsachen sind
die „physischen und ethnischen Factoren“ (s. Wappäus) in
ihren Combinationen für die Einzelwirkungen und in ihren
Wechselwirkungen zu erforschen, die Causalverknüpfungen
der einzelnen Erscheinungen des öffentlichen Lebens, die
Regel in den scheinbar „zufälligen und willkührlichen Er-
scheinungen“.
Die Möglichkeit einer „politischen Arithmetik“ beweist
nun eben das Organische des Status als Staat, weil sie darin
liegen muss und darin allein liegen kann, denn nur indem
in dem aufgestellten Exempel ein innerlich in sich abgeschlos-
senes Ganze gegeben ist, lässt sich Gesetzliches heraus-
rechnen, durch waltende Einheit in der Vielheit.
Wie im Staat haben wir in jeder Gesellschaft, in jedem
der jenen zusammensetzenden Kreisungen, einen Organismus
vor uns, einen Organismus dann aber auch in der höchsten
und letzten Kreislinie die das Ganze umschliesst, in der
[XVI] Menschheit als Gesellschaftskreis der mit ihr abgerundeten
Erde.
„Wollte sich die Statistik die Auffindung von Gesetzen,
d. h. allgemein gültiger Regeln für das Leben der Mensch-
heit zur Aufgabe setzen, so müsste sie vorläufig zur Fest-
stellung ihrer Resultate noch so viele geschichtliche Gesichts-
punkte herbeiziehen, dass damit ihr eigenthümlicher Character
verloren ginge“ (Jonák), aber ein ethnographischer gewonnen
wäre.
Die allgemein vergleichende Statistik (neben der Special-
Statistik) trägt vielleicht noch „die Elemente oder die Keime
von neuen besonderen Disciplinen in sich, deren Begriff bis
jetzt mehr geahnt als klar erkannt worden, wenn man ge-
sprochen hat von einer exacten Gesellschaftswissenschaft oder
einer Mechanik der Gesellschaft oder einer Physique sociale,
die Quetelet erstrebt, oder was man auch wohl bezeichnet
hat, als Naturlehre des Staats oder der Gesellschaft oder
als „Gesellschaft-Psychologie“ sagt Wappäus (s. Gandil)
über die „Zukunftswissenschaft“. Zu dieser wird die jüngste
der Wissenschaften zu rechnen sein, die Ethnologie, in natur-
wissenschaftlicher Durchbildung der Psychologie zur Wissen-
schaft vom Menschen.
Seit der mit dem Weltverkehr eingeleiteten Krisis wird
in der Ethnologie der Zögernde die eigene Schuld zu zahlen
haben, wie bei den sibyllischen Büchern, den τρία ἣ ἐννέα.
Wie aus alten Weisthümern hervor, wie in den Versen Hero-
phyle’s, als marpessischer Sibylle (oder Amalthea’s, der Amme
des idäischen Zeus in ihrer Beziehung zu Adrastea, als
Nemesis), Traumerinnerungen klangen, wie dort in dunkler
Orakeldeutungen mancher aus eigenem Alterthum, so hallt es
ahnungsvoll wundersam, in vorzeitlichen Mythen, rings um
den Erdball, gleichsam auch hier heilige Palladien kündend,
worin bei jenen die „fata romana“ 23) eingeschlossen lagen.
Nicht jedoch hier im acrostichischen Spiel dürfen die Inter-
essen des Wissens aufs Spiel 24) gesetzt werden, sondern
[XVII] eine allgemein verständliche Auslegung gilt es, um in er-
gänzenden Zusammenwirken gemeinsam zu zehren vom
Gemeingut der Menschheit und dessen zu geniessen. Vor
dem Genuss freilich die Arbeit, und solche wächst, statt zu
mindern. Vacuna in Sabinis dea, quae sub incerta est specie
formata (Varro). Ungewiss! gewiss. Sobald wird es Musse
noch nicht geben. Nicht eher wenigstens, als bis in den
Sammlungen ein erstes Fundament gelegt ist, für den Ansatz-
punkt und die Stütze der inductiven Studien (um den Epi-
gonen ihre Erbschaft zu sichern).
Seitdem die verfliessenden Gradunterschiede früherer
Psychologie, (die für die Entwickelung von Aristoteles bis
zur Scholastik erklärende Parallelen im Abhidharma besitzt),
verneinend, Cartesius (im Wesen der Ausdehnung und des
Denkens) den „specifischen Unterschied 25) von Geist und
Materie“ erkannt, sinkt im Animismus (und mit dem Suchen
bis zu einem punktuellen Sitz der Seele) die Vorstellungs-
weise wieder auf das Niveau niederen Grades in den Natur-
stämmen zurück, aber doch Gewinn bringend, weil jetzt in
schärfer abgrenzenden Umrissen eine Arbeitstheilung (ohne
frühzeitige Störungen zwischen einander) eintreten kann, und
das Primat der Res cogitans („omnium prima et certissima“
im Ego, wogegen nach Lichtenberg: „cogitat ergo est“) die
Ausbildung einer empirischen Psychologie (seit Locke) er-
leichterte. Jetzt, nachdem auf jedem der beiden Gebiete,
feste Anhalte für selbstständige Forschung gewonnen sind,
wird man es wagen dürfen, sich gegenseitig wieder zu nähern,
um (ohne allzu grosse Furcht vor bedenklichen Missver-
ständnissen) Vereinbarungen für einheitliche Auffassung zu
versuchen, ehe der beständig weiter klaffende Riss civilisa-
torischer Weltanschauung eine Ueberbrückung in Frage stellt.
In den unendlich-klein dunklen Vorstellungen, aus denen
das Bewusstsein erst hervorgeht, wird (nach Leibnitz) die
„Harmonie zwischen der materiellen und moralischen Welt“
(s. Erdmann) zu erklären sein, und dass nach solchen An-
Bastian, Völkergedanke. b
[XVIII] fängen zunächst in den primitiven 26) Stadien der Natur-
stämme zu suchen, wird durch die Natur der Sache selbst
an die Hand gegeben.
Eine Wissenschaft muss einen Gegenstand haben, den
sie erkennt; sie beginnt mit der Entdeckung ihres Gegen-
standes, der ihre Voraussetzung und die Bedingung ihrer
Möglichkeit ist (Harms). „Die Entdeckung ihres Grund-
begriff’s ist der positive Anfang der Wissenschaft“ (wie
jetzt für die Ethnologie der Völkergedanke einer inductiven
Psychologie, als Naturwissenschaft). La vraie science et le
vrai étude de l’homme c’est l’homme, so schon Montaigne,
der Vorläufer jener Periode, mit der in der Geschichte
der Philosophie die „Neuzeit“ anhebt.
Berlin, im September 1881. A. Bastian.
Seite 14, Zeile 1: Geschichtsphilosophie statt Gesichtsphilosophie.
‒ 14, ‒ 25: eine statt ein.
‒ 35, ‒ 15: simulacrum statt simulaerum.
‒ 36, ‒ 6: Hingabe statt Hergabe.
‒ 36, ‒ 14 ist hinter Gottheiten zu setzen: „spiegelnd“.
‒ 36, ‒ 19: unter statt oder.
‒ 37, ‒ 17: Wie statt Die.
‒ 38, ‒ 13: den statt dem.
‒ 45, Anmerkung *** Zeile 2 another statt anotther.
‒ 47, Zeile 2: Matchi-manitou statt maniton.
‒ 48, ‒ 11: Geschichtsentwickelung statt Gesichtsentwickelung.
‒ 48, Anmerkung * Zeile 3: speech statt sprach.
‒ 52, ‒ ** ‒ 3: bedeckend statt bedenkend.
‒ 53, ‒ ** ‒ 1: ϑεός statt δεός.
‒ 59, Zeile 9: Berosus statt Bersus.
‒ 62, ‒ 16: der statt den.
‒ 62, Anmerkung *** Zeile 1: den statt dem.
‒ 63, ‒ ‒ 1: rühmen statt rühren.
‒ 63, ‒ ‒ 4: mit statt unter.
‒ 64, Zeile 5: ϑεοί statt δεοί.
‒ 65, Anmerkung, Zeile 5: keine statt eine.
‒ 70, Zeile 7: terrestrischen statt terristrischen.
‒ 72, Anmerkung ** Zeile 2: various statt varions.
‒ 74, Zeile 24: kleinsten statt kleinste.
‒ 76, ‒ 1: Zahl statt Ziel.
‒ 86, ‒ 24: des statt das.
‒ 87, Anmerkung, Zeile 16: bietet statt bereitet.
‒ 92, ‒ ** ‒ 5: within statt coithin.
‒ 99, ‒ *** ‒ 2: gelten statt gelte.
‒ 107, Zeile 12: gigantic statt gigantie.
‒ 108, ‒ 19: ferreus statt fererus.
‒ 126, Anmerkung ** Zeile 11: dasjenige statt desjenigen.
‒ 129, ‒ * ‒ 9: hunc ipsum mundum esse.
‒ 135, Anmerkung, Zeile 24: Einzelne statt Einzelse.
‒ 136, ‒ Zeile 3: Reis statt Kreis.
‒ 137, Zeile 1: . statt,
‒ 138, Anmerkung, Zeile 2 von unten: kleinen statt kleineren.
Der in unserer Gegenwart unter accumulirenden Pro-
gressionen gesteigerte Fortschritt der Ethnologie, diese rasche
Popularisirung einer vorher kaum beachteten, ja kaum existi-
renden Wissenschaft beweist dieselbe, als natürliche Conse-
quenz des Zeitgeistes, als eine in geschichtlicher Entwicklung
naturgemäss herangereifte Frucht. Und diese in Fülle der
Entfaltung plötzlich aufbrechend, breitet Licht nach allen
Seiten, neue Ausblicke eröffnend, — so Verheissungen kündend,
auf die in dunkeln Vorahnungen bereits gewartet war. Die
Vorzeichen, bis in das vergangene Jahrhundert zurückzu-
verfolgen, zuckten schon länger durch die Luft, allmählig
beginnen sie in schärferen Zügen hervorzutreten, ihre Um-
risse deutlicher zu umschreiben, eine neue Bildung ringt sich
zu fester Gestaltung empor, und man erkennt in ihr, was
alte Orakel bereits gefordert, die Wissenschaft vom Menschen.
Indem sich diese, in der inductiven Behandlung einer
auf die allseitigen Wandlungen des Völkergedanken, auf den
Menschen als Gesellschaftswesen begründeten, Psychologie all-
mählig vorbereitet, ergiebt sich die Ethnologie als die natur-
gemässe Completirung jener gegenwärtig massgebenden Zeit-
richtung, die sich von der philosophischen der Septem Artes
Liberales, mehr und mehr einer realistischen zuwendet, um die
Forschungsergebnisse der Theilarbeit, in esoterisch abge-
schlossenen Kasten, fortan dem Grossen und Ganzen zu Gute
kommen zu lassen.
Die weiten geographischen Horizonte, wie sie, in heutiger
Ueberschau des Globus in seiner ganzen Weite, für die ge-
deihliche Entwicklung unseres Staats- und Volkslebens noth-
wendig verlangt werden (wie sie von weiter und klarerblicken-
den, bereits so vielfach bedauernd vermisst sind), sie werden,
weil in der Ethnologie dem allgemein menschlichen Verständniss
am Nächsten stehend, auch in ihr am leichtesten ihre volle An-
erkennung erhalten, mit all den practischen Folgen, die sich für
die Politiker und Diplomaten nicht nur, sondern für Kauf-
leute, Seefahrer, Fabrikanten und jeder Art der Gewerbe-
thätigkeit zum Nutz und Frommen Aller werden ziehen lassen.
Die Geographie, als vielbrüstige Mutter all dieser über
den Erdball gesponnenen Verzweigungen, hat auch hier
bereits vorgearbeitet, der Ethnologie den Boden zu ebnen,
und indem diese dann den in der Physiologie eingebetteten
Wurzeln der Psychologie unter den Phasen ihres organischen
Wachsthumsprocesses bis zu der geschichtlichen Bewegung
der Völkergedanken nachgeht, wird der Materialismus den
soweit formlosen Torso seiner Weltanschauung durch die in ein-
heitlicher Forschungsmethode geweihte Vermählung mit dem
Idealismus (in Zufügung des denkenden Hauptes) zu der-
jenigen Vollendung gebracht sehen, welche bisher ermangelte,
um dem in der Tiefe der Menschenbrust schlummernden
Sehnen harmonische Befriedigung zu gewähren.
Man spricht von der Wissenschaft, die ihrer selbst Willen
zu betreiben, und das war ein volltönendes Wort so lange
unfruchtbare*) Wissenschaften in dem Vordergrund standen.
[3] Jetzt indess erkennt sich, dass jede Wissenschaft, die des
Wissens werth ist, in das wirkliche Leben, auf directem oder
indirectem Wege, eingreifen muss. Manche jener anschei-
nendlich unfruchtbaren sind durch die Fortleitung natürlicher
Verknüpfungsfäden bereits in fruchtbringende Quellen über-
geführt, und nicht am schlechtesten wird solche Proben die
Ethnologie bestehen, auf Grund der von ihr für unsere recht-
lichen und socialen Verhältnisse gelieferten Controlle, be-
gründet in ihren bis zu den Praeexistenzen der religiösen
Vorgedanken vertieften Schachten, in tiefste Gründe hinab,
um die für Selbsterkenntniss angeschlagenen Schätze zu heben.
Aus den (nach der in allgemeine Natur verschlungenen
des Menschen) im Geiste liegenden Keimen wächst durch
die sinnliche Wahrnehmung genährt, der Denkorganismus
unter den Formen der Categorien in den Phasen seiner
Entwickelung zur Gestaltung empor, zur Gestaltung der
an dem ethnischen Horizont projicirten Schöpfungen.
Von dem Sinnlichen in Raum und Zeit gebannt, trägt
die Spuren ihrer Fesseln der Denkprocess, doch wenn in
allen seinen Fäden durch drängende Reize erregt, dann
schwillt er an im Gegenstrom, und im vollen Schwunge des
Wachsthums ringt er sich frei, fortschreitend hinüber, bis
zu ahnender Annäherung an das Unendliche und Ewige.
Indem uns überall mit eiserner Nothwendigkeit der
gleichartige Gedanke unter seinen localen Variationen aus
den fünf Continenten entgegentritt, lässt sich hier die Con-
trolle der Identität direct schon auf die Gesetze prüfen, die
zu Grunde liegen, und auch bei dem freieren Schwung der
an Kraft gewinnenden Entwickelung würde sich die Fort-
leitung*) festhalten lassen müssen, soweit die mit den Com-
1*
[4] plicationen wachsenden Schwierigkeiten noch ihre Bewältigung
erlauben werden.
Bei dem raschen Eroberungszug der Induction liess
sich, als die Scheidelinie der Physiologie erreicht war, vor-
aussehen*), dass bald auch die Psychologie von den Natur-
wissenschaften würde beansprucht werden. Dies geschah
dann, als die richtige Zeit gekommen war, in der Biologie,
im Widerstreit gewissermassen zum philosophischen Stand-
punkt.
Doch hatte auch von ihm aus bereits neben Fries und
Apelt, besonders Beneke diese Reform anzustreben gewünscht.
An thatsächlichem Material, das richtig als unumgängliche
Vorbedingung erkannt wurde**), dachte er nicht zu ermangeln,
da es nöthigenfalls aus der Selbstbeobachtung reichlich zu
vermehren.
Aber in Betreff dieser eben — vor welcher nicht nur
Kant gewarnt, sondern deretwegen Comte die Psychologie
überhaupt, für den von der Phrenologie zu liefernden Ersatz,
beseitigt — eben in Betreff dieser war im Voraus ein
Fragezeichen voraufzusetzen. Mit dem Denken, im eigenen
Denken sich selbst zu denken, schien man nicht weiter zu
kommen, als mit dem Herausziehen am Schopfe. „Vom
seelischen Leben selbst haben wir keine Vorstellung mehr“
(H. Wolff), indem wir es eben leben in der Seele (oder
als Seele). „Die Vorstellungen sind unbestimmte Grössen,
welche einer exacten Betrachtung erst zugänglich werden,
wenn sie in bestimmte Grössen verwandelt und gemessen
sind“ (Wundt). Wie würden also die Aufgaben der Psycho-
logie zu formuliren sein, damit der Mensch sich selbst
verstehe? in Autopsie.
Da er in dem von ihm selbst gelebten Process subjectiv
verschlungen ist, kann er ihn nicht während dieses Werdens
anschauen, sondern nur in dem daraus Gewordenen; und dann
aus diesem Seienden, (aus diesem Sein) vielleicht durch Recon-
structionen später wieder dahingelangen auch in jenem gene-
tischen Flusse*) Gesetzlichkeiten zu fixiren. Hier würde
nun in individueller Psychologie (um Differenzirungen zu
gewinnen), das Material auf pathologische Abweichungen, in
den Geistesstörungen, beschränkt sein, oder auf die abgestuften
Phasen der Kinderseele, mit manch lehrreichem Seitenblick,
unter vorsichtiger Controlle auf die Thierseele**).
Innerhalb all’ dieser Beschränkung steht aber ausserdem
noch ein anderes Fragezeichen voran, das die Beschränkung
in der Individualität selbst schon betrifft.
Der Gedanke des Einzelwesen ist ein steriler, erst der
gesellschaftliche*) produktiv, erst dieser ruft psychische
Schöpfungen hervor, welche der Geist anschauen und im
Studium zu erforschen vermag. Und mehr: Der Gedanke
des Einzelnen erhält die Möglichkeit seiner Existenz erst nach,
und innerhalb, dem Gesellschaftsgedanken. Wenn indess
dann der Mensch als Gesellschaftswesen am ethnischen
Horizonte gespiegelt ist, für seine Selbstbeobachtung, so wird
sich jedwede Individualität wieder enthüllen bei richtig ver-
wandter Methode der Zerlegung. In den Völkergedanken
lassen sich also nach Maass und Zahl geordnete Schöpfungen
der Betrachtung unterwerfen, und nachdem sie als Krystalle
in ihren Umrissen constatirt sind, mögen sie auch wieder
in die Mutterlauge elementarer Gedankengährungen, aus deren
embryonalen Vorstudien sie hervorgeschossen sind, zersetzt
und analysirt werden.
Hier wäre nun kein Mangel zu fürchten, und eher würde
(bei der Nothwendigkeit statistischer Umschau über den
Globus) Ueberfülle des Stoffes, ein embarras des richesses
drohen, bis fortschreitende Erkenntniss anordnende Gruppi-
rung, zur Verdichtung unter höheren Einheiten, erlaubt.
Wenn die Psychologie bisher von Vorstellungen, Ge-
fühlen, Abstractionen u. s. w. handelte, so wird sich Alles
das in einer vergleichenden Psychologie noch weit ausgiebiger
zur Verhandlung bringen lassen, und neben den Idealen in
Kunst und Wissenschaft würden sie der Religion practische
Aufschlüsse gewähren, und auch den socialen Institutionen
zur Beurtheilung der eigenen, wenn in einer allgemeinen
[7] Menschheitsgeschichte die, vielleicht fossil bereits verknöcher-
ten, Typen complicirter Culturen sich mit dem Einblick in
niedrige Entwicklungsstufen durchsichtigerer Einfachheit*) mit
dem Schlüsel, der von dort erlangt ist, gesetzlich klären
und so im eigenem Kreise zum Verständniss gelangen. Inner-
halb des als abgeschlossenes Ganze vor Augen stehenden
Gesellschafsgedanken lassen sich dann wieder durch Theil-
striche die componirenden Einzelgedanken**) markiren und auf
die physiologische Basis zurückführen, unter Schliessung der
Kette im Natur-Mechanismus. Und vielleicht werden dann
die organischen Wachsthumsgesetze, die in den im Gesichts-
kreis vergrösserten Reflexbildern in ihren Zeugungen erkannt
sind für mikrokosmische Schöpfungen, gelegentliche Streif-
lichte zu werfen im Stande sein auf die makrokosmischen
im Universum.
Wenn wir in einem Ueberblick des Globus die ge-
sammten Wandlungen des Menschheitsgedanken in allen seinen
[8] Phasen vor uns haben, wird damit dann das Gesammtbild
des Wachsthumsgesetzes, — wie es webt, wie es lebt, wie
in Entwicklung emporstrebend, wie es unter localer Modifi-
cation in seiner Phaemenologie buntschillernd variirt, — der
Reflex des geistigen Mikrokosmos, den Augen entgegenge-
treten sein, zur Kenntniss und, durch sie, zum Verständniss.
Während die Culturgeschichte das abgeschlossen voll-
endete Product in umrundeter Formung erzeugt, — strahlende
Kunstideale oft, denen der von Bewunderung umfangene
Geist sich mit des Forschers nüchternem Blick kaum zu
nahen wagt, — überrascht uns in der Ethnologie der Mensch-
heitsbaum in den jugendlich wild und frisch zur Geltung
drängenden Stadien der Vorentwicklung. Wir treffen ihn,
wenn eben und kaum leichte Schossen aus der Erde spriessen,
wenn das Stämmchen Blätter ansetzt, wenn es sich in Blüthen
entfaltet, in Blumen prangt, mitunter selbst wenn schon
Früchtchen gewährend — und wo wir ihn so treffen, da mögen
wir ihn packen, ihn greifen und zausen, zerblättern, zer-
pflücken zum Besten der Wissenschaft, auch viviseciren,
denn es handelt sich ja doch nur um den verachteten Wilden,
der aber in solchem Opfer geweiht, mit Fülle des Wissens
bereichert.
Diese Anknüpfung an die Naturvölker mag auf dem Ge-
biete der Culturgeschichte eine ähnliche Umwälzung hervor-
rufen, wie Hofmeister’s vergleichende Untersuchungen auf
dem der Botanik, seitdem Nägeli „die Kryptogamen nicht nur
in den Bereich methodischer Forschung hineingezogen,
sondern geradezu zum Ausgangspunkt derselben erhoben“.
(s. Sachs), indem er seine morphologischen Untersuchungen
möglichst an die niederen Kryptogamen anknüpfte, um sie
„an den höheren und an den Phanerogamen weiterzuführen“
(unter den niederen Kryptogamen lehrreiche Beispiele für
allgemein morphologische Sätze aufsuchend).
Wie wir in einem Kunstwerk die Züge des begabten
Genius zu erkennen streben, der dasselbe geschaffen hat, so
[9] mögen wir in der socialen Institution den anfänglich unbe-
wussten Regungen im Organismus des Durchschnittsmenschen,
der sich darin verwirklicht hat, nachgehen, um aus dem ob-
jectiv niedergelegten Grundriss auf die subjectiven Processe,
welche durch diese hervorgerufen, zurückzuschliessen. Auch
in der weiteren Entwicklung des Staates bleibt derselbe der
Abdruck seiner Nationalität, aber unter den geschichtlichen
Complicationen, die sich im Gang der Ereignisse mit einander
verschlingen, klären sich dann die Willensäusserungen be-
wusster Eingriffe.
Wir leben innerhalb eines Gebäudes von Anschauungen,
das von uns selbst errichtet, auf unbewusst in dunkler Vor-
zeit gelegten Fundamenten, die sich so lange der Einsicht
entziehen, bis aus dem Verständniss der deutlich im Tages-
licht emporsteigenden Constructionen, der nothwendige Zu-
sammenhang derselben mit der stützenden Grundlage begriffen
werden kann.
In der Metaphysik soll die Ontologie (derjenige Inhalt,
den wir aus den logischen Formen herüberzunehmen haben)
zur Kosmologie hinüberführen, „deren Aufgabe ist, zu zeigen,
wie aus den Verhältnissen und Beziehungen der einzelnen
Seienden nebst ihren Veränderungen das Weltall hervorgehe“
(v. Lotze), aber in unserem Existenz-Winkel vermögen wir
nicht einmal im Planetenreiche den nächst zugewiesenen
Theil in genügender Abrundung zu überblicken, so dass die
leisen Fäden, welche sich hie und da bis zu Anknüpfungen
mit dem Fixsternhimmel verfolgen lassen, kaum die unbe-
stimmtesten Ahnungen rechtfertigen.
Die Welt, welche wir uns für ersten Ansatz zum Ver-
ständniss zu schaffen vermögen, ist eine rein psychologische,
die, wo sie sich mit dem materiellen Dasein rings um uns
her berührt, die Formen dieses unter subjectiver Auffassung
reflectirt. So weit sich dann für das in diesen objectiv
Realisirte aus dem Product die Componenten der Factoren
herausrechnen lassen, erhalten wir ein Ganzes in innerlich ab-
[10] geschlossener Wechselwirkung, das damit allerdings die Keime
zu höheren Offenbarungen wird einschliessen müssen.
In den Culturvölkern haben wir die Meisterstücke der
Menschenbildung vor uns, in vollkommenster, doch deshalb
auch complicirter, Gestaltung, der Blick trifft in ihnen glän-
zende Spitzen, aber somit seltene Ausnahmsfälle, die in dem
Durchschnittsmassstab eher ab, als hinleiten. Dieser ist schwer
in unserer eigenen Gesellschaftsform zu finden, wo die vie-
lerlei fremden Einströmungen, die unter mächtiger Geschichts-
bewegung durch einander gerüttelt sind, überall verschwim-
mende oder in einander verstrickte Uebergangszustände hervor-
gerufen haben, die es oft unmöglich bleibt (für die Eliminirung,
wie sie gefordert sein würde) aus solchem Zusammengewirr
deutlich und bestimmt in ihre Componenten wieder aus-
einander und frei zu legen.
Dafür nun, um den Durchschnittsmenschen zu finden,
werden die einfachen Verhältnisse der Naturvölker zur Aus-
hülfe eintreten, indem sie in ihrer klaren Durchsichtigkeit
leicht durchschaut werden, und uns das Gesuchte, das all-
gemeine Niveau der Menschennatur um so umfassender zu
gewähren vermögen, weil zugleich unter vergleichender Zu-
sammenstellung sämmtlicher Wandlungen in den geographi-
schen Provinzen über den Globus, das Allgemeingültige, als
Gleichartiges, von selbst zusammenfällt, und somit dann,
ebenfalls von selbst, das Particuläre, also Singuläre, als
solches für sich allein stehen bleibend, dadurch mar-
kirt ist.
Die Verwicklungen unserer socialen Zustände beruhen
zum grossen Theil darauf, dass dem zu sehr durch die Cultur-
fragen gebundenen Blick, unserem durch das Gelärm der
Tagesinteressen betäubtem Ohr, der Durchschnittsmensch ver-
loren gegangen ist, und wenn sein Verständniss zunächst
aus den Naturvölkern wieder gewonnen würde, hätte damit
bereits die Ethnologie einen Dienst geleistet, der befähigen
mag, die Gesellschaftsbedürfnisse auf gesetzlicher Natur-
[11] grundlage, und (unter den daraus gezogenen Lehren) also
naturgemäss, in Behandlung zu ziehen.
Als Vorbereitung, eine gesicherte Grundlage zu breiten,
bieten sich die ethnologischen Sammlungen, wenn sie zu dem
für statistische Ueberschau erforderlichen Grad der Voll-
ständigkeit gelangt. Sie haben die Materialien vorzuführen,
um die ethnischen Typen in der psychischen Welt zu ge-
winnen, und von den schriftlosen Völkern werden sich in
ihnen allein die einzigen Documente bewahren. So ist Acht
zu haben, dass wie diese, dem Entwicklungsgange der Ge-
schichte gemäss, nacheinander in das Grab steigen, keins
derselben aus dem Leben entlassen werde, ehe nicht seine
Zeugen im Tempel der Völkerkunde niedergelegt sind, um
dem künftigen Studium bewahrt zu bleiben.
Längst schon besitzen wir, wie recht und billig, Museen
für Steine, Pflanzen und Thiere und erkennen dieselbe als
eine conditio sine qua non für das wissenschaftliche Studium.
Für das inductive Studium des Menschen ist im laufenden
Jahre erst zum ersten Museum ein erster Baustein gelegt.
„Wir mahnen daran, dass wir Menschen sind, und das
Studium des höchsten Geschöpf’s der Natur, billig dem der
Mäuse, Käfer und all des übrigen zoologischen Ungeziefers
voranstehen sollte.“ So nicht etwa ein Ethnologe, der hier
pro domo kämpfen könnte (für die eigene Behausung, die so
noththut), sondern ein Zoologe, einer der kenntnissreichsten und
geachtetsten seines Faches. Dabei der Nachsatz: „Eile thut
Noth, da mit jedem Jahre die Grenzen sich mehr verwischen.“
Das war im Jahre 1847 gesagt. Wie viel Tage sind seitdem
vergangen? und bei den uns (in Europa) räumlich nächsten
Objecten ethnologischer Beobachtung „müssen wir beschämt
gestehen, dass wir wohl die Mäuse des von den Samojeden
bewohnten europäischen Landstrichs scharf zu unterscheiden
wissen, die Menschen aber noch nicht ethnographisch be-
stimmt haben.“ Darin ist in der Zwischenzeit noch wenig
geändert.
Was der Mensch in socialen Institutionen schafft, geschieht
anfänglich unbewusst, als nothwendige Verkörperungen der in
dem gesellschaftlichen Zustande (seiner innerlichen Organi-
sation) liegenden Bedürfnisse.
So lange der Geist in halbträumerischer Naturheit da-
hinlebt, umgiebt er sich (aus unbestimmt verschwimmenden
Schöpfungen der Sinnesauffassungen und ihren sprachlichen
Deutungen im Gedankenaustausch) mit einer mythologischen
Gespensterwelt, aus der sich, bei tiefer auftauchenden
Ahnungen, zum befriedigenden Ausgleich mit dem All, die
Götter verklären in der Religion, in künstlerische Gestaltungen
eingekörpert.
Wenn klar das Bewusstsein erwacht, so zersetzt die
Wissenschaft die magischen Operationen der Mythologie in
controllirbare Experimente, sie verscheucht die Phantasien
der Todtenseelen und Dämone und definirt aus der Religion
das soweit Verständliche, sowie von dem Rest das Warum
des noch Unverständlichen, indem zugleich im Staat die ge-
setzliche Grundlage gesellschaftlicher Existenz erkannt wird.
Die Welt, soweit wir sie kennen, besteht nur aus unseren
Vorstellungen, sagt Wundt, und wenn Schopenhauer mit dem
Gehirn, worin die höchste Objectivation des Willens sich
zeigt, die Welt als Vorstellung geschaffen sein lässt, mit
Raum, Zeit, Formen, Vielheit, Causalität, so hätten auch die
(objectiven) Einkörperungen (subjectiver) Abstraction hinzu-
zutreten. Der immenente Zweck der Seele, als Entelechie,
die (neben der Vergleichung mit der Flötenkunst) dem
Leibe das ist, was das Sehen für das Auge (bei Aristoteles),
würde sich, wie individuell im Körper, gesellschaftlich dann
in dem ethnischen Horizont verwirklichen, wohin sie (wie
die Netzhaut in der Richtung bestimmter Graden) ihre Vor-
stellungen projicirt hätte, welche im Total-Abschluss aus der
Gesammtheit der Sinnesempfindungen (unter ordnendem Zu-
tritt des νοῦς von Jenseitsher oder ϑύραϑεν) als Resultat ge-
staltet, demnach, über das Sprachliche noch hinaus, ὁμοιώματα
[13] τῶν πραγμάτων darstellen würden, als Verwirklichungen des
Geisteslebens. Mit diesem im Aussen erkannten Ganzen
fänden dann wieder die Einzelnheiten ihre Erklärung, denn
(bei Aristoteles): „Wer das Allgemeine weiss, weiss auch
das Einzelne“ und zum Wissen des Allgemeinen wieder wird
erst durch allmählige (oftmals, weil noch vergleichungslose,
damit vorläufig unverständliche) Bemeisterungen der Einzeln-
heiten gelangt, während dann nach dem Abschluss des Ge-
sammtbau’s allerdings die Möglichkeit gegeben ist, rückwärts
das richtige Theilverhältniss jedes Einzelnen (aus den zu-
sammengetragenen Materialien der Bausteine) innerhalb des
Ganzen zu verstehen.
In einer für die spätere Behandlungsweise nach inductiver
Methode vorbedeutenden Eintheilung wurde die Psychologie
längere Zeit unter die Physik gestellt, während sie im eth-
nischen Gesammtresultat, bei objectiver Verwirklichung des
psychologischen Processes (in dem aus den Componenten
der Individualitäten zusammengetretenen Organismus der
Gesellschaft*) die Metaphysik beanspruchen würde. Als
Lehre von den Völkergedanken gefasst, repräsentirt die
Psychologie damit den geistigen Horizont, sowie der Mensch
(in dem ihm zugehörigen Mikrokosmos) lebt, soweit dieser
sich als reine Schöpfung ethnischer (social-psychologischer)
Thätigkeit ergiebt, — nicht jedoch (in supponirter Identität
des Denkens und Sein’s) den Makrokosmos im Grossen und
Ganzen, da die aus dem Bythos oder Hades eines Nicht-
seins hervorgetretene Materie nur in ihren Vorstellungen
darüber begriffen wird, ohne das Ding an sich zu berühren.
Rosenkranz nennt es eine „Monomanie“, (bei dem Anstreben
[14] einer „Gesichtsphilosophie“) „Alles unter dem Gesichtspunkt
des psychischen Processes zu begreifen“ („Alles auf die Psy-
chologie zurückzuführen“), denn „das Psychologische ist hier
nur noch ein Moment, nicht aber das tonangebende Element“.
So freilich bei individueller Auffassung der Psychologie, wo-
gegen die dem Zoon politikon angehörige Psyche, wenn die
im Gesellschaftsorganismus aufsteigende Spirale seines Wachs-
thumsprocesses verfolgend, sich auch in der ganzen Weite
realisirt, an den Zweigen des Menschheitsbaumes in Früchten
schwellend, und diese, nach den Verschiedenheiten ethnolo-
gischer Kreise, unter all den auf der Rundung des Globus
möglichen Formgebungen gewandelt.
Indem der Mensch in dem aus eigenem Mikrokosmos
reflectirten Horizont seiner Vorstellungen*) lebt, ergeben sich
die an demselben umherbewegten Gestaltungen als die in der
Umgebungswelt projicirten Schöpfungen innerer Denkthätig-
keiten (für die Psychologie).
Da nun als früheste Grundlage dafür die sinnlichen
Empfindungen und Wahrnehmungen*) unterliegen, so ent-
halten die nach Aussen geworfenen (und dort für objective
Auffassung verkörperten) Vorstellungen bereits ein Element
aus dem (im vorläufigen Gegensatz materiellen) Makrokosmos
in sich eingeschlossen.
Das ideell Gestaltete ist deshalb als ein Product des
psychischen Wachsthumsprocesses aufzufassen, als ein nach
dem Gesetze des menschlichen Organismus durch äusserlich
einfallenden Reiz angeregte Bildung**), und zwar der (für
[15] den Begriff der Menschheit charakteristischen) Gesellschafts-
natur gemäss, in den Völkergedanken (worin sich rück-
schliessend erst wieder Theilstriche für die Einzelngedanken*),
nach ihren Verhältnisswerthen zum Ganzen, würden ziehen
lassen). „Das Vorstellen stellen wir gar nicht wieder vor,
sondern indem wir vorstellen, ist ohne Weiteres dadurch dem
Vorstellen gewiss, dass es vorstellt“ (sagt Baumann), oder
(naturwissenschaftlich ausgedrückt), die Vorstellung**) ist das
aus dem zum Denken angeregten Geist, unter der Nothwendig-
keit organischer Gesetze, hervorspringende Erzeugniss, das
nach der Gewohnheit des, unter den Sinnen überwiegenden,
Sehorgans nach Aussen hin projicirt wird, und dort dem
geistigen Auge ebenso deutlich gegenübersteht, wie der
optische Gegenstand dem körperlichen. Das materielle Ding,
das in den Anreizen zu dieser Gestaltungsthätigkeit des
Geistes verborgen liegt, wird durch die Vorstellung als
solche, weder erklärt noch begriffen, und hat direct mit der-
selben, seiner Besonderheit nach, nicht viel mehr zu thun,
als die in den Magen eingeführte Speise mit den Ernährungs-
functionen, die sich aus den verschiedenartigsten Gerichten
überall dieselben Zellcomplexe bilden, wie sie den einzelnen
Gliedmaassen, ihrer speciellen Aufgabe nach, entsprechen,
obwohl bei Zusatz stärkerer Stoffe, narkotischer oder sonst
medicinischer, diese ausserdem ihre specifische Wirkung zu
äussern vermögen.
Aehnlich bei den Vorstellungen. Nachdem durch den
einfallenden (in der Majorität der Fälle die Netzhaut treffen-
den) Sinnesreiz der Denkapparat in dem Einzelnindividuum
[16] in Bewegung gesetzt ist und die aufgährenden Elementar-
vorgänge der Gedanken im sprachlichen Austausch unter
Hinzugesellung der Hörbilder weiter durchgearbeitet*) sind,
tritt in dieser wogenden Mutterlauge derjenige Moment ein,
wo die Affinitäten der Wahlverwandtschaft in einem rationellen
Proportionsgesetz zu einander stehen, und dann springt,
krystallartig messbar und umschreibbar, die Vorstellung, als
in sich abgeschlossen hervor, und steht jetzt dem Studium
gegenüber.
Ebenso wie hier die componirenden Molecüle bald für
die Krystallform gleichgültig, oder wenigstens nicht aus-
schliessend specifisch, sein mögen, bald wieder (in gewisser
Ausdehnung) bedingend für dieselbe, in dimorphischen, iso-
morphischen, isomerischen, polymerischen und anderen Er-
scheinungen; so (um einen Vergleich zu ziehen) hängt es
von den begleitenden Umständen ab, ob in der Vorstellung
das äusserliche Ding, das allein für sich, oder neben und
mit andern zusammen, dazu mitgewirkt hat, dominirend
daraus hervortritt, oder unter den sonstigen Herumbildungen
vorläufig verschwindet, bis es etwa durch geistige Analyse
später darin wieder aufgefunden werden mag.
Knüpft sich die Vorstellung direct an das sinnliche
Substrat, an den Baum, den Hügel, den Fluss, den Mond,
die Sonne, den Donner u. s. w., so wird das Haupt-Interesse
auch von diesem selbst absorbirt und so mag unmittelbar
bereits eine Art von Verständniss gewonnen sein, die eine
Zeitfrist hindurch genügt, bis das Bedürfniss zu schärferem
Eindringen erwacht und sich aus der mythischen Umhüllung,
die anfangs auch hier gefangen hält, bald herauswickelt.
[17] Anders dagegen, wenn es sich um solche Mythen und Vor-
stellungen handeln würde, wie die Krankheit, die Gottheit,
die Entstehung u. s. w. Auch hier finden sich überall
die sinnlich-körperliche Andeutungen zwischeneingesprenkelt,
welche, anregend und fördernd, während des gegenseitig
geistigen Verkehrs absorbirt wurden, als sich aus embryonalen
Vorbereitungsstadien jene Denkverkörperung bildete, die,
seitdem zu temporärer Lebensfähigkeit gelangt, damit dann
am ethnischen Horizonte schwebt und in ihren vergrösserten*)
Umrissen dort studirt werden kann (um auf den inneren Ge-
staltungsprocess zurückzuschliessen, Anhalt gewährend). Eine
Identificirung oder Definirung dieser aus den Agentien ma-
krokosmischer Aussenwelt in die psychischen Processe ein-
gewickelten Realien, wird erst nach statistisch angestrebter
Umschau aller ethnischen Wandlungen, (durch die ver-
gleichende Methode) einer inductiven Behandlung (der
Psychologie als Naturwissenschaft) ermöglicht werden. Der
so in Betrachtung der Naturvölker (im Studium der, weil
niedersten, einfachsten Anfänge) gewonnene Einblick in die
Wachsthumsprocesse des Menschengeistes (in dem physiolo-
gischen Gesetze der innerlich emporstrebenden Spirale so-
wohl, wie für den Contact nach Aussen) wird dann auch
für seine höheren Stadien Leitungsfäden abgeben, bis zur
vollen Entfaltung in den Culturvölkern.
Manche der primären Vorstellungen sind im Gange
civilisatorischer Entwickelung so völlig eliminirt, dass der
Zusammenhang mit den gegenwärtig geltenden fast gänzlich
abgeschnitten ist, und jene also nur die Bedeutung archäisti-
Bastian, Völkergedanke. 2
[18] scher Ueberbleibsel bewahren (aber eben auch die volle
Bedeutung derselben, als für unerwartete Aufschlüsse oft
folgenreich). So würde es unter den oben angeführten Bei-
spielen für die Vorstellungen von der Krankheit gelten (die
allerdings im Anschluss an ethnologische Analogien noch im
Volksglauben spuken, für wissenschaftliche Theorien der
Pathologie und Therapie dagegen practische Verwerthung
verloren haben), während die andern beiden, die von der
Gottheit oder die der Entstehung, mit ihren Verzweigungen
noch tief in unsere heutige Weltanschauung hineinragen, für
Religion sowohl, wie für Philosophie. Und dies liesse sich
in den Vorstellungsreihen an vielerlei Parallelen weiter ver-
folgen.
Manche derjenigen, die die wichtigsten Interessen des
Lebens berühren (oder vielmehr alle die für das irdische
Leben wichtigsten, nächst individueller Selbsterhaltung), be-
rühren den gesellschaftlichen Zustand in seinen mit dem
Staat zusammenfallenden*), und sich übereinander verschie-
benden**) Kreisungen (in Ständen, Kasten, Gilden, Gemein-
den, Genossenschaften u. s. w.).
Ehe die Ethnologie indess Aussicht haben könnte, die
hier herrschenden Vorstellungen methodisch zu durchforschen,
wird sie, εἰκότως γε, den Organismus, innerhalb welcher sie
zum Ausdruck kommen, vorher begriffen zu haben, als ihre
erste Aufgabe erkennen müssen, also den gesellschaftlichen
Organismus selbst, dessen Verständniss (wie an sich ver-
ständlich) seiner Physiologie vorherzugehen hat, wie der des
somatischen Körpers in der Anthropologie seine Anatomie.
Der Staat (die Verwirklichung des Staatsbewusstseins)
„ist ein Organismus höchster Art, eine Person, d. h. ein
selbstbewusstlos, sich selbst beherrschendes, sich selbst aus-
sprechendes, mit eigenem Willen handelndes Wesen“ (Blunt-
schli) und es käme nun darauf an, seine Structur und Biologie
zu erforschen, denn die Fragen über seine Entstehung haben,
bei der dem Menschen immanenten Gesellschaftsnatur, vor
der Thatsache des Vorhandenseins zunächst zurückzutreten*),
in diesem Falle ebensowohl, wie bei dem Einzelmenschen, oder
anderen Producten der Naturreihe, innerhalb der Peripherie
deutlicher Relationsforschungen, nachdem die Gespenster eines
**)
2*
[20] mythischen Frühmorgens daraus vertrieben sind (und ehe
noch die Kraft genugsam gewachsen, um den in das Unend-
liche fortstreichenden Tangenten zu folgen). Vorläufig ist
das an sich Gegebene entgegenzunehmen, um die Total-
bedeutung aus den Verhältnisswerthen (die sich, mit fort-
schreitender Auflösung der Unbekannten, in Formeln fixiren
lassen) herauszurechnen. Wenn dann einst ein höherer Calcül
(für psychologische Arithmetik) erfunden, wird sich auch das
Uebrige schon finden.
Die Gesellschaft nun (die in ihrer Morphologie auf
Familie, Stamm, Staat, in ihrer Biologie auf Sippe, Volk,
Nation führen würde) steht, ob gross oder klein, überall
vor Augen, wo dieses den Menschen schaut, denn in der
Realität existirt dieser als Gesellschaftswesen, als Einzelwesen*)
nur in der Abstraction, und noch in der Paarung, der für
Arterhaltung erforderlichen Ehe, kaum sporadisch (von
der Bedeutung als Theilgrösse innerhalb höherer Ganzen
abgesehen).
Mancherlei Missverständnisse entstehen hier aus unbe-
stimmter Terminologie, wie in Verwendung von „Stamm“
(Clan, Geschlecht, Bande u. s. w.), für Tribus und Phyle
(von Curie und Phratrie abgesehen) für γενος (ganas) und
gens, dann auch aus den in der Behandlung der Cultur-
geschichte nächstvorliegenden Prototypen in der römischen
Gens (und ihrer patria potestas mit den daraus fliessenden
Folgen), da gerade diese einen auffälligen (einen für das
Uebergewicht der dadurch bedingten Geschichtsentwickelung
desto bedeutungsvolleren) Ausnahmsfall unter der ungeheuren
Masse des in der Ethnologie zusammenströmenden Beweis-
materials bildet, mit äusserst wenigen Coincidenzen (wie bei
[21] den Khond, oder sonst patriarchalisch). Auch ist die unter
den vorwaltenden Theorien als Grundstock der ganzen Entwick-
lung untergelegte Familie für solche Betrachtung in Wegfall
zu kommen, da so lange, wie in der Mehrzahl der Paradig-
men eine exogame Ehe herrscht, so lange es sich um Ge-
schwister (in den Cognaten) handelt, (während die Gebrüder
im agnatischen Mannesstamm zur Geltung kämen) die Familie
noch nicht existirt*), und wenn weiterhin Mann und Frau ver-
schiedenen Gentes angehören (und so für die Kinder das
Neffenrecht folgt, oft in gynocratischen Weiterergebnissen),
kann sich eine Familie, klärlich genug, eben noch nicht
zusammenschliessen, und eher mag sie sogar ausserdem in
Geschlechtsklassen (wie bei den Kamilaroi) auseinanderfallen,
(also eine Art Anticipation der Geschlechter, in Wortbedeutung).
Unser heutiger Begriff der Familie (seit Singuli singulas
familias incipiunt habere) ist natürlich ein fest umschriebener
und bestimmt erfasster, weil eben (mit den heutigen Hilfs-
mitteln logischen Denkens) aus dem heute bei uns factisch
Vorliegendem abstrahirt (und so innerhalb des Gesellschafts-
ganzen an dem zukommenden Platz localisirt). Als dem-
gemäss aus den Factoren herausgerechnetes Product, muss
hier deshalb die Probe richtig zutreffen, nicht jedoch, wenn
diese anderswo angelegt wird, etwa bei der römischen Fa-
milia (mit Zurückgehen auf oscisches famel) oder der im οἷκος
begriffenen Familie der Griechen, (neben dem in fictitiver
Adoption herausgebildeten Clan), von fremden Fernen gar
nicht zu reden.
Wir haben allerdings die schematischen Formen von
Familie und Stamm vor uns, die wir uns auseinander ent-
standen denken können, weil sie sich ineinander zerlegen
lassen, aber eine thatsächliche Einheit tritt erst in der Sippe
[22] hervor (der Phratrie, oder irokesisch, De-a-non-da-a-yoh), bei
der sich bereits die Spuren halbbewussten Eingreifens spür-
bar machen, die im „Contrat*)social“ dann zum Staat führen
sollen (der schon φύσει zu setzen).
Dieser gelangt aber nicht mehr zu seiner ideal berech-
tigten Verwirklichung, zu der Weihe eines in monumentaler
Ruhe thronenden Kunstwerkes, weil das jetzt brausend er-
wachende Leben des Volksgeistes in immer gewaltigeren
Fluthen anschwillt, um seine ethnischen Gefühlsströmungen
mit politischer Machtstellung in der Nation zu einen
und vermählen. Aristoteles Hauptformen der Regierung
im Königthum (oder Monarchie), Aristokratie und Politie
(neben Tyrannis, Oligarchie und Demokratie oder Ochlokratie)
war bereits, bei Heranziehung des semitischen Gesichtskreises
zu dem classischen, die Theokratie zuzufügen und bei dem
jetzt über den ganzen Globus erweiterten Blick drängen
sich so vielfache Modificationen der Berücksichtigung auf,
dass vergleichende Zusammenstellung der characteristischen
Typen tiefeingreifende Umgestaltungen der bisherigen Systeme
mit sich bringen würde.
Die Priesterkönige gliedern sich unter vielfachen Masken
(neben den archaistischen Formen im Basileus und Rex) von
dem in Cochin und Meroe, in Kioto, Tonga, Sogamoso
zum Muata-Yamvo oder östlichen Regenmachern, der
Herzog ex virtute, (auch ein Archonten zugegebener
Stratege) findet, wie in Lucian’s Scythenland (und Asien
vielfach) seine Analogien in Amerika des Nordens und Südens,
die Orang kaya des indischen Archipelagos treffen ihre
[23] Seitenstücke*) bei den Beluchen sowohl, wie bei den Aht
und Benachbarten, zu dem Senat (kirgisischer) Weissbärte
weisen auch die Weisen und Greise**) in den Gnekbade unter
den Altersstufen der Kru, und die Ariki, die vor den poly-
nesischen Fahrten jenseits des Gesichtskreises lagen, führen
ins Jenseits hinüber in der bei Mikronesiern schon im Leben
eintretenden Apotheose.
Bei Stämmen, die (nach Art der Celten am macedonischen
Hofe) nichts fürchten, als dass der Himmel etwa einfalle, die
den Todesgott höhnend schelten (wie die Anghami und
Sumba) und ihn zum Kampf herausfordern, ob des Mordes
ihres Freundes, die, gleich den Abor, die sonst sorgsam in
heiligen Hainen gepflegten Walddämone durch Baumumhauen
zu schrecken suchen — bei dieser Art wilden Gesellen wird
von Regierung***) nicht viel die Rede sein, und nur der priester-
lichen Festordner bedürfen sie vielleicht, um die für den
Lebensunterhalt unentbehrlichen Mächte (wie die des Pflanzen-
wachsthums, der Aussaat und Ernte) in guter Stimmung zu
halten. Abgesehen von diesen Spruchmännern für die un-
sichtbare Welt, finden sich in den Dörfern der Naga (soweit
nicht bereits aus der Zeit der Ahom-Raja Assam’s beeinflusst)
z. B. nur solche Beamte, welche die öffentlichen Arbeiten
(besonders an den Wegen) versehen und beaufsichtigen.
Ausserdem bietet das Gebot der Selbsterhaltung, um, inner-
halb der Befestigungen des auf steiler Höhe liegenden
Dorfes, sich der Existenz gegen die ringsumgebenden Feinde
[24] zu wahren, das festeste Band eines Zusammenschlusses, und
für die Vertheidigung sind dann die im Langhaus (nach
spartanischer Einrichtung) zusammenschlafenden Jünglinge,
nach ihren Rotten, streng militärisch organisirt. Da bei Ge-
meinsamkeit des Landbesitzes und Beschränktheit des Handels
(in der Isolirung) Anhäufung von Privatbesitz nicht (oder doch
nur in der, ovale Hausform gestattenden, Maassbeschränkung)
statthaben kann, werden vorkommende Zwistigkeiten beim
gemeinsamen Mahle erledigt*), auf Einladung des Klägers
und, wenn Appellation zulässig scheint, auch des Beklagten.
Im Uebrigen herrscht bei diesen (vom Fremden oder
Hostis) gefürchteten Kopfabschneidern friedliche Einigkeit
innerhalb der Gemeinde, und wenn derartige oder andere Wilden,
die bezüglich des eigenen Kreises gewissenhaft ihre Moral-
gebote beobachten, solche dem Barbaren gegenüber nicht
kennen, behandelten die Hellenen diesen nicht viel besser.
Dem Volke der Thora ist der Handelsverkehr mit den
Heiden gestattet, sofern diesen daraus nicht Vortheile, sondern
Schaden erwächst (nach Aboda Sara).
Das in den Buddhisten ihrem Decalog zugefügte Verbot
des Lügens, wird in Senegambien und andern Theilen Afrikas
sowohl, wie bei den Khond u. A. m. als Gebot die Wahr-
heit zu reden, auf das unverbrüchlichste gehalten**).
Die Mari fliehen bei dem Nahen von Fremden, und bei
den Maria geht das Princip des stummen Handels bis auf
die Tributzahlung*) über, die Gond bringen die (englischen)
Richter durch Selbstgeständnisse oft in Verlegenheit, und
gleiche Aufrichtigkeit und Treue (gegen den Herrn) wird
von den Khond gerühmt, die aber dann wieder in den
blutigen Opfern der Meriah sich an Martern ergötzen. Die
scrupulöse Gewissenhaftigkeit übertreibt bei den Gond die
Ceremonialgesetze, wo sie solche von den Hindu angenommen,
bis zum Waschen des Holzes vor Verwendung zur Feuerung,
und da sie doch auch wieder die einheimischen Götter nicht
entbehren können, bedecken sie das Kuhfleisch, wenn für
die Riten erforderlich mit Tuch, ehe sie es an den Mund
bringen**).
Bei den Samojeden, die (des Kleider-Trocknens wegen)
nackt zusammen im Zelte liegen, würde es doch gegen den
Anstand sein, wenn ein Mädchen den blossen Fuss (beim
Wechseln der Fussbekleidung) zeigte (in chinesischen Weiter-
führungen der Vorstellung), wie ähnliche Vorschriften im
malayischen Pomali. Bei den Kamtschadalen ist es Sünde,
Schnee mit einem Messer von den Schuhen zu schaben,
Feuer damit zu berühren u. s. w., bei den Awam-Samojeden
muss der Kopf des erlegten Wild-Rennthiers roh gegessen
werden, da es Sünde sein würde, ihn zu kochen (s. Midden-
dorf), und bei den Kurnai (s. Howitt) bestehen genaue Be-
stimmungen über Vertheilung der Jagdbeute, je nach dem
Thiere. Solche Vorschriften würden nie gebrochen werden.
Ein junger Kroatun gefragt, ob er das ihm verbotene Opossum-
Weibchen nicht essen würde, wenn kein Alter in der Nähe,
dies zu sehen: replied „J could not do that, it would not
be right“. Er würde daran ebensowenig gedacht haben, als,
wenn es von ihm verlangt wäre, über das Wasser zu gehen,
ohne im Stande oder veranlasst zu sein, deshalb über die
Gesetze der Schwere, die dies nicht erlaubten, eine Erklärung
zu geben*).
Aehnlich den Scheidungen der κάκοι und ἄγαϑοι in
Megara (durch Theognis), bilden die Begüterten (boni homines
oder Godos) die Guten, und entsprechend wird bei Samojeden
und Jakuten (s. Middendorf) „arm“ und „schlecht“ durch
dasselbe Wort ausgedrückt, wie im Schwedischen (das schlechte
Volk) und im Esthnischen.
In solchen durch die Natur der Sache nun gegebenen
Gesellschaftsverbindungen, wie z. B. (zur Wiederholung obiger
Darlegung) in den Nagadörfern, wo ohne eigentliche Regierung
(von den gemeinsamen Nutzen dienenden Beamten öffentlicher
Arbeiten abgesehen) nur etwa gegen die Feinde der unsicht-
baren Welt (schädigende Dämone) durch priesterliche Func-
tionen (der Festordner in besonderer Rücksicht auf Ernte-
gottheiten) vorgesehen*) ist (denn gegen die greifbaren Feinde
schützt die militärische Jünglingsschaft), in solchem bei den
vom Kläger und Beklagten veranstalteten Mahlzeiten in gegen-
seitiger Besprechung etwaige Zwistigkeiten schlichtendem
Communismus, da (neben der geschlechtlich aufliegenden
Blutrache) nur wenig Anlass zu rechtlichen Entscheidungen**)
unter gemeinsamem Eigenthum gegeben ist, wird der durch
aussergewöhnliche Gunstfälle, in glücklicher Handelsoperation
etwa, oder (wenn Vorsprecher für die Verhandlungen nach
Aussen) durch Geschenke Fremder zum Privatbesitz Gelangte,
diejenige vorwiegende Stellung (in Erlaubniss eines ovalen
Hauses, wenn durch Liberalität populär) erhalten, wie sie sich
in den erwähnten Orang kaya des Archipelagos und sonst aus-
spricht (und unter den Haidah dann wieder freigebiges Ver-
schenken bis zu eigener Verarmung verlangt).
Wenn dann etwa eine Amphictyonie, gleich der der
Irokesen, sich in solcher Einigung***) für weitere Kriegs-
[28] züge stark genug fühlt, und für Organisation derselben ein
Tapferster an die Spitze gestellt werden muss, lehrt es die
Vorsicht (wie bei dem Zweikönigthum Sparta’s oder in
den beiden Consuln Roms) die neben den (unter den durch
die Bundesbegründung festgestellten Namen fungirenden)
Sachem (den Ho-yar-ra-go-war mit ihren Gehülfen in den
Ha-sa-no-wä-na) erforderten Würde des Kriegshäuptlings
(Hos-gä-a-geh-da-go-wä) zu verdoppeln, um der Gefahr
vorzubeugen, dass der triumphirend von Siegen Heimkehrende
sich als Dictator proclamire, eine Tyrannis auszuüben, und
den Rath der Gerousia missachten sollte.
Diese in der „Civitas“, als solche, regelrechte Entwicke-
lung kann nun hie und da abgelenkt werden, durch Keime,
welche noch aus früherer „Societas“ her in derselben einge-
streut liegen mögen.
Ein umschriebener Ansatzpunkt der Betrachtung mag
sich hier in den Wanderungen der Maori ergeben, an den
verschiedenen Landungspunkten der neu zu besiedelnden
Insel in getrennten Canoe’s anlangend, die dann später in
Iwi und Hapu den Stamm repräsentiren (mit seinen in,
wenigstens fictitiver, Verwandtschaft gedachten Ngati oder
Mitglieder), in Naukrarien (s. Phot.) gleichsam.
Hier hatte die für längere Seefahrt erforderliche Orga-
nisation unter einheitlicher Leitung hervorragende Persönlich-
keiten, wie Turi, Tama-te-kapua, u. s. w. an die Spitze gestellt,
und auf diese (in den durch das Wappen des Moko im Whare-
Runanga als Eupatriden dauernden gekennzeichneten Familien)
übertrug sich dann naturgemäss der Titel eines Rangatira-nui
unter den Rangatiras (den in Tahiti bereits herabgedrückten
Ratira entsprechend).
Indem nun in der Familie des Häuptlings der älteste
Sohn zur Bewahrung der (bei Herkunft aus entschwindender
Fremde desto wichtigeren) Stammestraditionen (unter Ver-
knüpfung der Genealogie mit Theogonien) ausgewählt und
meist durch den bei seiner Mündigkeit noch vollkräftigen
(und also dem Ansehen des Vaters noch voranstehenden)
Grossvater unterrichtet wurde, so gewann derselbe (gleich-
sam im Koiranos oder Basileus, dem Zeus das Scepter
ertheilt) in solcher Communication mit dem Göttlichen (und
als geeignetes Gefäss, um Tu beim Krieg oder Rongo beim
Ernten herabsteigen zu lassen), jene Heiligkeit, die sich in
Nukahiva bereits in der Bezeichnung Atua für die Taoua
(den Tiou, als Arii tabu in Tahiti) beweist, hier dann neben
(und über) den Akai-ki oder Hakaiki (als Häuptlingen),
während priesterliche Ceremonien (wie im tahitischen Tempel-
dienst der Tahua) den Tahuna (Tohunga bei den Maori)
überlassen bleiben, für kriegerische Unternehmungen aber ein
jugendkräftiger Tua berufen wird, indem auch die Priester-
fürsten der Maori (als sie mit Fütterung ihrer, als Kai be-
zeichneten, Söhne durch die Priester verweichlichten) eines
für die Gelegenheit eintretenden Major-domus, als Rangatira-
toa im Kriege, bedurften.
Bei der mystisch die Ahnenreihe einleitenden Thierform,
wie sie sich, indianischem Totem oder australischem Kobong
entsprechend, auch in Afrika (bei Beschuanen und sonst)
findet, stellte sich dann die Verbindung mit dem (zugleich als
Eponymos auftretenden Heros) her, wie ebenso bei dem in
Roms Vorgeschichte (in der Glorie heiliger Aeneaden aus
mythischem Troja) spielendem Prototyp des Rex sacrificulus
ein Wolf (mit den zu Romulus’ Ehren gefeierten Lupercalien)
und dem von Picus durch Faunus zum alten Saturnus
führenden Specht, der bei der Speisung mithalf (während
bei Koloschen dem Wolf der Rabe zugesellt ist in der Ab-
stammung, mit Bildern nördlicher Sagas).
Wie dann in geschichtlicher Bewegung weltliche und
geistliche Macht auseinanderbricht, liegt bei Ergamenes und
dem Perimaul vor Augen, und wie dasjenige geworden, was
in späterer Auffassung für das Königthum besonders zum
Paradigma diente, ist aus der Entwickelung des Feudalismus
zu ersehen, in historischer Begründung auch bei Azteken
(und mit vielfachen Analogien aus den übrigen Erdtheilen
zu dem uns bereits in Europa bekannten Verlauf).
Während in geschichtlichen Epochen ein Eponymus,
als Vorfahr, an der Spitze des Stammes steht, und als Heros
im Halbgottthum den (innerhalb der Familie meist auf 3 Gene-
rationen beschränkten) Ahnencultus*) erweitert, findet sich
in den Vorstadien des Totem das Wappenthier (wie in
Amerika bei Basuto, in Africa, bei Khasya, Jakuten, dann
in Australien u. s. w.) mit den Essverboten, wodurch von
dem (grönländischen) Verbieter die Erlaubniss sonstigen
Genusses gesucht wird, wie in den Mokissos zu Loango,
während die kühnen Maoris die, Tiki’s Nachkommen zu-
stehende, Herrschaft auf Tu’s Siege zurückführen.
Auf die Zeit, wo Menschen und Thiere friedlich noch
zusammenlebten (in Birma), gingen auch die Peruaner
zurück, und bis auf die thierischen Vorbilder in den Con-
stellationen (gleich den Abiponen).
Die Irokesen führen die Emblemen der Stämme als
Thiere**) (mit Bär und Reh als ursprünglichen bei den Seneca),
[31] wie die Odjibways, als Totem (Dodaim), und so die Azteken
auf ihren Heereszügen. Bei den Jakuten hielt jedes Geschlecht
ein Thier heilig, das nicht gegessen werden durfte (Yves).
Wie der Einzelne*) seinen Schutzgeist, besitzt bei den
Narrinyeri (am Lake Alexandrina) jeder Stamm (Clan oder
Lakalingeri) sein Wappen oder Ngaitye (nach Thieren,
auch Insecten, benannt), gegen die Brupar oder Dämone,
und sonst. Den Kili der Ho ist das Essen des (thierischen)
Namensvetter verboten, wie den Fahinga Tonga’s.
Die den dii Penates (des Haus-Inneren) entsprechenden
ϑεοί μύχιοι (als verborgen) in den sacrificia occulta (s. Cicero)
bei den Sacra gentilicia, bekundeten, als ϑεοὶ ἐγγενεῖς der am
Heerd**) Vereinigten jene Eifersucht gegen Fremde, wie sie
sich in Samoa selbst auf Mitbenutzung des Canoe ausdehnt
**)
[32] und bei den Naga die Abschliessung durch Genna verlangt,
nach dem Grundsatz: Suo quisque in ritu sacrificia faciat
(s. Varro). Die Franken waren ἐξ ἡγεμόνος genannt (s. Laur.
Lydus).
Neben dem Aitu fale (Hausgott) wurde das Kind in
Samoa auch dem Dorfgott geweiht (wie in Griechenland
unter Opfern in der von dem φρατριάρχος presidirten Phratrie
ihrem Heros Eponymus) und stand dann ohnedem unter dem
über den District wachendem Gotte, dessen Zeichen getragen
wurde, sowie, je nach eigenen Neigungen oder Prädilectionen
der Grossen, unter den Grossen Göttern, über und unter
der Erde, und in Betreff ihrer Schöpferkräfte jedenfalls für
die Ernte (also O-Le-Sa etwa, der deshalb Heilige κατ̕ ἐξοχήν
in Samoa) von practischem Interesse, oder dem Fischfang
auch in Naturbeherrschung (wofür sich Karakia lernen liessen
gegen Wind und Wellen).
Wie im Ahnen-Cult der Chinesen handelte es sich auch
am Heerde der Griechen und Römer (im πατριάζειν oder
parentare) um Vorfahren, die unter begünstigten Verhält-
nissen zu Heroen aufsteigen*) mochten (gleich siamesischen
Chao) oder weiteren Deificationen, obwohl in der Zwischen-
zeit gewöhnlich (nach Uebergang der Societas in Civitas)
der Staatscult Auswahl genug bot, für jede Art Bedürfnisse.
Wie Buseliden von Buselos (Claudier von Clausus, Cloelier
von Cloelus) von Eumolpos stammend, wandten sich die Eumol-
piden noch im Besondern der Demeter von Eleusis zu oder
die Butaden (des Butes) ihrer Athena auf der Burg (dann
Nautii ihrer Minerva, Potitii dem Hercules u. s. w.), indem
die Gestalten physischer oder politischer Götter unter den
[33] ἑστιοῦχοι oder ἑφεστιοι eingeführt wurden. Bei den Zulu hat
jede Familie und jeder Stamm einen Ahn, neben dem Ahn des
ganzen Geschlechts, des Ukulunkulu (Ururgrossvater) aus
einem Rohr entstanden (s. Callaway) neben der Frau Uth-
langa (Schössling).
Im Allgemeinen reicht das genealogische Band im Privat-
kult von der Familie etwa bis zur Phratrie, während es sich
darüber hinaus dann nicht mehr festhalten lässt, und in
Polynesien reisst es bei den Atua fanau po ab, als Atua-
faka-Bolotu in Tonga mit den mythischen Wanderungen ver-
knüpft, und so in andere Vorstellungskreise überleitend.
Der polynesische Todtencult indessen, obwohl Gebete
an den Gräbern gesprochen werden (freilich zur Abwehr
nur von Krankheiten), kann sich (von einigen abortiven Ver-
suchen in Häuptlingsgeschlechtern, und formlosen Idolen, ab-
gesehen) nie zu eigentlichen Deificirungen entwickeln, da
dem ursprünglichen System nach die Seele (wie im Reinga
der Maori) mit jeder tieferen Stufe an Kraft verliert und
sich endlich in Gestank*) (im Meto des Reinga) auflöst,
also keine Kraft für wirksame Hülfe (höchstens die Fähig-
keit zu gelegentlichem Entschlüpfen, um Unheil zu stiften)
besitzen kann (wie ja in Griechenland ebensowenig, wenn
nicht als Halbgott nach oben**) erhoben und durch Theil-
nahme am Unsterblichkeitstrank bevollmächtigt). Die Ver-
ehrung ging also zurück (auch die individuelle, wie im
Bastian, Völkergedanke. 3
[34] indianischen Totem gleichfalls) bis auf den mythischen Ahn-
herrn im Thier, und in Thierform erscheint daher der Atua-
fale sowohl, wie der Districtsgott (mit seinem Tattoo oder
Wappen), während in der classischen Zeit auch bei den
Grossen Göttern die heiligen Thiere als Symbole verblieben.
Im Volksglauben hat sich noch die wahrsagende Kraft
der Thiere*) erhalten (beim Hund, als Todtenreder, beim
Kuckuck, Storch, Hahn u. s. w.), aber der frühere Thier-
Cultus, der sich von Aegypten aus durch ganz Afrika re-
flectirt (während er in Indien zu den halbthierischen Formen
der Avataren entstellt ist), war am Mittelmeer bereits er-
blichen, als die dortigen Volksstämme in die Geschichte
eintraten, und mit letzten Resten (wie in den Sagen von
Io u. s. w.) bald von mythologisirenden Dichtungen verflüchtigt,
oder reducirte auf den Namen (s. Varro) ab utroque pecore
(Porcius, Ovilius, Caprilius oder Equitius, Taurus). Dagegen
finden wir wieder weiter im Binnenlande die Thiere in Tempel-
hainen (publice aluntur), der Pferde praesagia ac monitus (bei
Tacitus), und später noch bis an den Strand der Ostsee bei
den Preussen (bei Lutizer, Rugier, Liven) und die Pferde-
köpfe auf den Bauernhäusern mögen „mit dem heidnischen
Glauben zusammenhängen“ (Grimm). Die Celten schworen
beim Stier (s. Plutarch) und der persische Urstier (mit
Gayomert erschaffen) führt auf scandinavische Audhumbla
(und ihr Wiederschein in heiliger Kuh der Brahmanen),
während dem „Heiligbär“ mit ostasiatischen Reminiscenzen
der Fuchs als (japanischer) Reineke zur Seite steht, und (von
gegenseitiger Küste, von Koloschen, herüber) der Fenris-Wolf
[35] weit in Wehrwölfen schweift. Dazu kommen dann Vögel in
Zahl, und die Schlangen wie überall.
Im Allgemeinen stehen die hochfliegenden Vögel in
directer Beziehung zu Himmelsgöttern, und entziehen sich
menschlicher Sorge, die sich dagegen den nähern zuwendet,
und auf Samoa das Tödten der (wie in Babylon einst, bei
den Mandan unverletzlichen) Tauben, zum Besten der Häupt-
linge, verbietet. Wer eine sterzmeise fahet, der ist umb leib
und guet und unsers herrn ungnad. Wie auch: „Wer da
fehet ein bermeisen“ (in den Weisthümern) und „wer eine
kolmeise fienge“, wird mit höchster „Busse“ (s. Grimm) be-
straft. Bei den Letten heisst der Wahrsager Schlneeks
(von sihle, Meise oder Zaunkönig gleich dem Papagei Ha-
waiki’s).
Die Langobarden verehrten Viperae simulaerum, und
den Unken giebt man „Kuhmilch zu saufen“, wenn mit
Goldkronen einer Schlangenkönigin (in Immeneich). Das
Weibchen des Schröter erscheint in Böhmen als Babka
(Grossmütterchen) und der Sonnenkäfer in seinem Namen.
In Uebertragung der Kobong auf umfangreichere Ver-
hältnisse ergeben sich bei Bulgaren (s. Schafarik) der Türke
als Schlange, der Russe als Fischotter, der Litauer als Auer-
ochse (Tur), der Bulgare als Stier (Bulgarin byk), der Serbe
als Wolf. Neben Adler und Wolf führten die Römer den
Mannstier in den Feldzeichen. Wie die Könige Abyssiniens von
urweltlicher Schlange, stammen*) die Ashantie vom Schlangen-
mensch, Bore, und in Indien blicken Naga überall hervor.
Während der Atua, der, wenn böswillig gesinnt, in Thier-
gestalt in den Körper eingeht, um Krankheiten zu erregen,
auch die Seele verschlingt, liegt der Thiergestalt des Wiesels**)
3*
[36] oder der Maus, worin die Seele (bei den Longobarden) aus dem
Munde des Träumenden hervorgeht, die Beschützung schon
zur Selbsterhaltung nahe. An einen derartig (nicht nur be-
rathend) begleitenden Dämon als Haltia der Seele, sondern
als diese selbst gewissermaassen, würde dann die unbedingte
Hergabe folgen, in geweihter Uebereinkunft, als unauflöslich
verbunden.
In der mystischen Verknüpfung mit einem Natur-Object
aus nächster Umgebung (nach Art des Fetisch, subjectiv oder
objectiv, zum neuen Abgleich gewonnen) liegt vorerst das
eigentlich religiöse Element, während die grossen Natur-
erscheinungen nur die durch aufragende Geister in ihnen er-
kannten (in poetischen Schilderungen vielgestaltig ver-
schönerten) Gottheiten den kleinen Mann kalt lassen, so
lange sie nicht zu ἑστιούχοι geworden, und sich so an Ort
und Stelle nützlich beweisen, besonders mit den in ihrer
specifischen Natur liegenden Influenzen, so dass sich Local-
formen gewinnen (wie für Athene, Hera, Apollo u. s. w.)
oder Herbeiziehung der in der Pracht des olympischen Hof-
staates Aufgewachsenen für die Dienste des Feldbaues*),
wo einem Stercutius oder (bei St. Augustin) Sterces keine
Prüdereien erlaubt sein konnten, und der Λικμητής oder
Λικνίτης (s. Klausen) die Hände zu rühren hatte, wie
Pilumnus oder andere „Dreschdämone“.
Dass während bei passivem Verhalten für den Fetisch
ein Stein oder Klotz genügen mag, bei activer Thätigkeit,
wo auch selbstständig actives Eingreifen erforderlich werden
könnte (wie in den vielfachen Gefahren des Jägerlebens), eine
**)
[37] thierische Form des Schutzgeistes (gleich den lappischen
Saivathieren) wird vorgezogen werden, ist psychologisch
begreiflich genug und nebenher thatsächlich überall con-
statirt*).
Nach Plinius sterben die Frösche im Winter, um im
Frühjahr wieder aufzuleben, und konnten so (gleich häutenden
Schlangen am Orinoco) zum Bild der Unsterblichkeit dienen,
wie der Mond (bei Hottentotten, Eskimo u. s. w.). Im
Rigveda wird Indu (der Mond) durch das Gequiek der
Frösche herabgezogen, um mit Indra über den Regen zu
verhandeln (s. Gubernatis). Unter Emblemen findet sich
(1591) der Frosch unter der Umschrift: spes alterae vitae
(s. Friedreich). In Lykien und Aegypten (mit der Lebens-
mutter als Hek) diente der Frosch als Sinnbild des Früh-
lings, wogegen (in der Altmark) giftige Pilze als Poggen-
stühle.
Die bei den Amakosa als Schlangen, kommen bei den
Maori die Seelen der Vorfahren (auch um Vergehen zu
strafen) als Eidechsen zurück. Als Verwandlung des Aska-
balos durch Demeter, war die Eidechse Göttern und Menschen
verhasst (μεμίσηται).
Indem die heidnischen Priester in den Eingeweiden der
Bauchhöhle die Zeichen der Divination abgeprägt fanden,
so ergab sich daraus, in der Beziehung zur Astrologie
(s. Onosander) und als deren Ausdruck aufgefasst, der Mikro-
kosmus, den die Philosophen dann im Gehirn, dem Inhalt
des Schädels, suchten, unter späterer Zustimmung der Phy-
siologie. Nach Plato war vor Allem die Leber der Spiegel
göttlicher Betrachtung, und so sollte sie, so oft wieder-
wachsend, in Prometheus zerstört werden, ehe der ihm be-
[38] kannt gewordene Geheimbeschluss Zeus’ den Menschen ver-
rathen sei.
Der Ahnencultus*) gliedert sich in seiner Abhängigkeit
von den eschatologischen Vorstellungen und zunächst dem
Schicksal der Seele nach dem Tode. Wenn bei Maori die
Wairua mit jedem weiten Absteig in Reinga schwächer und
ohnmächtiger werden, verlieren sie damit auch mehr und
mehr die Macht, den Hinterbliebenen sich hülfreich zu be-
weisen, sie als Atua mit schützendem „Schatten“ zu überdecken,
wie auch bei den Zulu (s. Callaway) der Todte schattenlos
erscheint.
Auf Samoa folgen die durch das Tafa genannte Thor
in die Unterwelt eingetretenen Seelen, dort (gleich dem
ἀριστῆες) den Beschäftigungen des Pflanzen und Fischen
bei Tage, zerstreuen sich aber bei Nacht in Feuerfunken,
um auf der Erde durch die Luft zu sprühen, und sind
dann, weil als Krankheitsbringer gefährlich (wie die von den
Abiponern in den „Lokal“ gefürchteten Todtenseelen), in guter
Stimmung zu halten.
Unter solchen Verhältnissen reducirt sich der Cultus
der Manen (als Penaten) auf eine Sühnung derselben, um sie
unschädlich zu machen, und erst wenn der Lar (durch mytho-
logische Verknüpfung mit dem Himmel) zum Heros gewor-
den, vermag er thatkräftige Unterstützung zu gewähren, wie
dem Schamanen seine Ahnengeister, die er in Beschwörungen
anruft (oder inspirirende Seelen der Egi aus Bolotu in Tonga).
Die Gebete Elia’s (um Feuer am Himmel) wurden
erst erhört, als er der Todten*) erwähnte (heisst es in
Schemoth rabba). Bei den Brahmanen und anderen Priester-
genossenschaften wird die heilige Kraft durch die Weihe
übertragen, obwohl sie sich indess auch erblich**) fort-
pflanzen kann.
Die Buddhistischen Staaten erhalten sich im Wohlsein
durch das Speisen der Mönchsbrüderschaft in heiliger Sangha
innerhalb der Trias, und der Dahingegangene, Tathagata, er-
hält die Welt durch seine moralische Kräfte bis zur Erneue-
rung des Dharma in neuer Kalpe. Die Gerechten eines
Zeitalter’s treten für die Erhaltung ihres Geschlecht’s ein
(nach Bereschith rabba) und „Abraham erhält durch sein
Verdienst die Welt“ (s. F. Weber). Wenn die Sonne eines
[40] Gerechten untergeht, geht die Sonne*) eines andern auf“
(in Nacheinanderfolge). Von solchen Gerechten (wie R. Cha-
nina) liess es sich dann mit den Worten des Kaisers Antoninus
(in Aboda sara) sagen, dass es „ein Kleines ist, Todte zu
erwecken“ (s. F. Weber). Wie für Baal, bedurfte es in
Nukahiva einer Erweckung der Götter durch die Priester,
erst der Ru’s (Gott des Morgens), dann Tane’s, Tau’s,
Tuaratao’s u. s. w. Sie sind also weniger zuverlässig, als
die Gerechten, die (von selbst) früh aufstehen, um betend
für die Bedürfnisse der Gemeinde zu sorgen (nach Perikta).
Im Grunde wissen die Späteren über die ἀπαλλαγή τοῦ
βίου (ἡ τοῦ βίου καταστροφή) keinen Deut mehr, als früheste
Vorfahren, und keinen Deut besser, als die rohesten Wilden.
Alles, was wir leben, fühlen und sind, im warmen Körper-
blut des Daseins, muss dahin, der Vernichtung verfallend,
in unabänderlicher Nothwendigkeit, ob auch für eine Zeitfrist
(nach Abschweben der ψυχη) in den σκιαι gedacht (als
ἰδωλα, oder Abbilder), über deren schliesslichen Verbleib es
dem Griechen nicht der Mühe gelohnt zu haben scheint im
[41] Einzelnen weiter fort zu denken), während der Maori die
mehr und mehr entkräfteten *) καμοντες, unter dem Herab-
sinken im Reinga, schliesslich wieder zu dem Wurm redu-
cirte, aus dem auch schon der Erste Mensch als entstanden
gedacht werden konnte (im Teaka Mangaia’s).
Diese Auffassungsweise wird durch die classischen Bei-
spiele allzusehr, als die durchgehende des Durschnittsmen-
schen documentirt, um für Prasat und sonstige Palläste, die
hier und da angetroffen werden, eine andere Geltung zuzu-
lassen, als sie für Zufügungen subjectiver Ausnahmsfälle ein-
geräumt werden kann.
Und über solche Auffassung ist man auch heute im
Durchschnitt nicht hinaus, von denen abgesehen, die sich in
den Himmeln der einen oder anderen Offenbarungsreligion ihre
privilegirten Plätze reservirt haben. Und über diese Auf-
fassung würde sich auch überhaupt niemals herausgelangen
lassen, da unser auf die irdische Menschen-Organisation
begründetes Denken im Denken von dem Nichtsein das
Kunststück des Selbstverschlucken’s vorher zu lernen hätte.
Vom Jenseits kein Gedanke, so wenig wie von der Negation
des Nirwana. Die Gedanken führen nur bis zum Tode, um
dort in Nacht zu erlöschen, ein βίος ἀβίωτος, wie es nicht
Chrysostomos allein erschienen.
Der Unterschied nun aber liegt in jener harmonischen
Weltanschauung, die uns die Inductionswissenschaften vor
Augen geführt haben, in jenem Kosmos, wo aus dem Ent-
standenen nichts vergeht, wo es zwar Verwandlungen, aber
keine Vernichtungen giebt, wo also jeder der schöpferisch-
zeugenden Gedanken weiter zeugen wird, jenseits jener Nacht,
die irdischen Augen dunkel erscheint, in Folge blendendster
Helle. Während so bei den Griechen die Psyche mit den
Winden verwehte, bei den Maori die letzte Zuckung mit
[42] dem Wurm*) erstirbt, lebt der denkende Geist auch hienieden
bereits in jenen transcendentalen Welten ewiger Unendlichkeit,
die er zu ahnen befähigt, und so im Sehnsuchts-Streben auch
zu erweisen vermag, als neue Heimath des eigenen Selbst.
Das εἴδωλον ist der von dem σῶμα (als Leichnam) in
die Unterwelt geworfene Schatten, jetzt dort (wie früher der
Leib) die ψυχή einschliessend (und dieser beim Herunter-
steigen angebildet), während Heracles als αὐτός (leib-
haftiger) unter den Göttern weilt, und Menelaos (neben
Rhadamanthys) die Unsterblichkeit in den elysäischen Feldern
geniesst, in Hades dagegen, wo Minos sein Richtamt unter
den Todten (bei Homer) und über sie (bei Pindar) fortsetzt,
Teiresias durch die φρένες **) ἔμπεδοι zur Erkennung des
Odysseus befähigt wird, schon vor dem Bluttrinken, dessen
auch Elpenor (weil sein Körper noch nicht verbrannt ist)
nicht bedarf, um mit ihm zu sprechen. Die aristokratischen
Egi-Seelen Tonga’s kehrten zum Hofstaat ihres Ahnengottes
in Bolotu zurück, also zur Heimath, von der sie ausgefahren.
Der Negersklave erhängt sich in solcher Hoffnung.
Indem der Indianer von seinem Lebenstraum***) ein
Geheimniss für mysteriöse Entwickelung auf die Natur ge-
wonnen hat, kann er dieses individuelle Eigenthum auch im
[43] Kauf*) oder Tausch verwerthen, wie im Handel über ihre
zauberkräftigen Reliquien (s. Kohl) die Häuptlinge Kiguasch
und Schinguakonse.
Je mehr solcher unter dem Schütteln der Schischiguas
oder Ratteln zu murmelnder Liedformeln ein Priesterarzt fähig
ist, um so höher steht er in Ansehen und Macht, so dass
sich die Grade in diesen auf das Mysteriöse selbst gegrün-
deten Mysterien spontan ergeben, und ebenso die Weiter-
führung zu solchen Orden, wie (bei den Odjibbewä) die
Midewiwin (La Grande Medicine) die Mideh genannten Mit-
glieder im Midewi-gamig (Medicinhaus oder Tempel) verbindet.
Die Grundidee liegt darin, sich durch gegenseitigen
Austausch der individuell gewonnenen Special-Mächte mit-
einander zu stärken, indem eben jeder Einzelne die Stärke
der Gesammtheit (die Totalsumme der verschiedenen Einzeln-
heiten) gewinnt, so dass sich in dieser freundschaftlichen
Hülfsunterstützung alle Mitglieder des Bundes als Verwandte
bezeichnen.
Wenn bei dem unter Trommelschlag gefeierten Fest
Aufnahme stattfindet, lässt jeder der Eingeweihten seinen aus
dem Fell des heiligen Thieres gefertigten Pindjigossan (Me-
dicinsack) in seiner vollen Influenz ausströmen, die bis zum
betäubenden Niederschlagen wirken muss, um dann beim
Wiedererwecken gewissermaassen mit neuem Geist zu durch-
strömen.
Solche Ceremonien stehen unter dem Schutze**) des
[44] dafür angerufenen Kitsche-manitu, wärend der Matchi-manitu
durch einen Schlussstein in der Erde festgehalten wird, bis
sich jeder mit dem unter Zuckungen ausgebrochenen Bösen
(in Muschelform) gereinigt hat.
Wie meist bei der Aufnahme in die Geheimorden findet
oft auch bei der Pubertätsweihe (in den Quimbe Loango’s
und im Belli-Paro, wie bei den Alfuren Ceram’s u. s. w.)
eine regenerirende Wiedergeburt statt und auch qualvolle
Prüfungen fehlen nicht, weder bei Mandan noch in Australien.
Daraus, je nach der Ertragungsfähigkeit, ergeben sich Stufen-
grade (vom Waubeno an), wie bei Mithra’s Löwen,
Raben u. s. w.
Die von den Brahmanen durch das Tragen der Janeo
bekundete Wiedergeburt (in Australien die Reinigung bis
auf die Eingeweide ausdehnend) wurde bei den Eskimo durch
das Verschlungenwerden im Seeungeheuer erreicht, das den
prophetischen Jonas dann wieder ausspie.
Wenn bei den Dacota (s. Pond) das prophetische Be-
wusstsein erwacht, fluthet, von den vier Winden getragen,
die beflügelte Seele bei den verschiedenen Naturbeseelungen
umher, ihre Geheimnisse zu lernen, und besitzt dann die
Fähigkeit, sich viermal, zur Offenbarung der erworbenen
Kräfte, einzukörpern, um dann (gleichsam nach Verbrauch
derselben) in ein Nirwana*) zu verschwinden**).
Indem der Mensch um sich herum die Schöpfung
walten sieht, in Entfaltung von Kräften, welche die seinen
[45] übersteigen oder von diesen nicht erreichbar sind, so fühlt
er sich (in subjectiver Umdunkelung seine Gleichstellung
mit dem Uebrigen vergessend) von Staunen und Bewunderung
ergriffen, so dass wenn in dem zu Exaltation (durch Fasten*))
und Kasteiung) gesteigerten Träumen das Lebensgeheimniss
(in conventionell mythologischer Umgebung) erschaut wird,
sich dasselbe für individuelle Bestimmung in einen Natur-
gegenstand manifestirt, und meistens (bei den auf Jagd hin-
gewiesenen Indianer) unter den, besonders die Aufmerksam-
keit auf sich ziehenden, Thiere (obwohl auch als Pflanzen,
Steine oder andere Objecte).
Die Abiponer über die Schöpfung befragt, konnten
Nichts darüber berichten, da keiner**) dabei gewesen, und
da sie sich im Leben fühlten, meinten sie den Tod von
rechtswegen negiren zu dürfen, so dass selbst wenn Jemand
stirbt, von Wunden bedeckt (wie Dobrizkoffer bemerkt),
dies doch immer die Folge eines feindlichbösen Zauber’s***)
ist. Dies feindlich Böse ist stets drohend, und nahe
[46] umher*), wie der Fetisch in Afrika, wogegen dort Njan-
cupong oben im Himmel zu weit entfernt ist, um Gebete
zu hören, oder sich dadurch auch nicht in seiner Gemüth-
lichkeit stören lassen würde, gleich epicuräischen Göttern.
Doch wurden trotzdem noachische und andere Gebote
geachtet, unter Zufügung des Verbotes der Lüge, am
schärfsten verpönt, wie z. B. in Senegambien (s. Mungo Pork),
bei Veddahs als „proverbially truthful“ (s. Bayley) und sonst
vielfach. Many of the natives of Tonga **) think, that the
pleasurable feeling accompanying virtuous actions is a quite
sufficient motive for their performance, apart from all thought
of future reward (Mariner).
Indem Kitschi-Manito (bei den Odjibwä) am Seestrande
wandelnd, die (nicht von ihm erzeugte, sondern) am Wege
vorgefundene Wurzel pflanzt, zum Schaffen der Bäume und
für den ihm bereits entgegentretenden Schuppenmensch nur
eine Frau auf der Insel hinzubildet, beschränkt sich seine
Thätigkeit auf weitere Organisirung, ähnlich wie bei zweiter
Schöpfung die Menaboschu’s, dem als Prototyp des land-
bewohnenden Menschen ein feindlicher Gegensatz aus dem
Wasser (in Schildkröten***) und Schlangen repräsentirt)
[47] gegenübersteht, dann in die Allgemeinheit des bösen Prin-
cipes, als Matchi-maniton, verlaufend.
Um vor seinem das gesammte All mehr und mehr
durchdringenden Gifteinfluss zu schützen, baut Menaboshu*)
(auf des Grossen Geistes Geheiss) den (einem vorweltlichen
Steinhaus der Jakuten entsprechenden) Schutzwall des Wakin
oder Wakwi genannten Paradieses für den Menschen (wie
Jemshid bei Eraniern), und ebenso wird der gnädigen Güte
Kitschi-manitu’s für Zusendung der in den Medä gewährten
Heilgeschenken gedankt.
Ueber die ursprünglichen Wasser fliegen Tauben (bei
den Muscogee), bis sie einen umherfluthenden Strohhalm er-
spähen und sich darauf niederlassen, als erster Ansatzpunkt
für die zu bildende Erde. Zur Wiederherstellung dagegen,
nachdem in der Fluth die erste Weltperiode untergegangen,
erhält für die zweite Michabo (der Algonkin) von der Wasser-
ratte das Körnchen**) Erde heraufgebracht, woraus das Land
dann gebildet wird.
Die bannende Kraft*) der Zaubersprüche (als Karakia
bei den Maori) wandelt sich zum Gebet, und schon der
Indianer verbindet den in die Worte gelegten Wunsch (die
Natur zu beeinflussen oder selbst zu zwingen) mit der ihm
offenbarten Schutzgottheit zur volleren Kraft, wie sie dem in
der Gesetzeserfüllung**) Vollkommen gewährt werden muss.
Um den Menschen zum Gegenstand des Studiums zu
machen, müssen wir ihn zuvor kennen gelernt haben, und
zwar seinem besten Theile nach, dem geistigen. Bisher war
uns nur ein Bruchtheil des menschlichen Denkens bekannt,
aus derjenigen Gesichtsentwickelung, welche direct oder indirect,
im engen oder weitesten Kreise, wir selbst angehören. Jetzt
haben wir die Schöpfungen des Menschengeistes in all’ seinen
Wandlungen über den Globus vor uns, und erst nach ihrer
allseitigen Erforschung wird die erste Grundlage für ver-
gleichende Betrachtung gewonnen sein (unter gleichzeitiger
Aufhellung archaistisch verdunkelter Ueberlebsel). Welch
mannigfache Umgestaltungen hier zu erfolgen haben werden,
lässt sich bereits aus dem neuen Aufschlusse über die Ver-
hältnisse von Stamm und Familie, im Gegensatz zu bis-
herigen Systemen ersehen, und während wir früher unter
den Wilden einen rohen Aberglauben verschmäheten, finden
wir nun, dass überall über die tiefsten und geheimnissvollen
Fragen des Menschengeistes mit mehr oder weniger erfolg-
reicher Geisteskraft (und bei ungestörtem Stillleben unter
**)
[49] relativ günstigen Verhältnissen) gedacht ist, so dass die
Religionsphilosophie unerwartetes Material gewinnt (und
weiterhin die psychologische Betrachtung überhaupt).
Indem auf den Inseln der Südsee, und anderswo unter
gleichartiger Umgebung, die Gedankenbäume in vererbten
Traditionen vieler Generationen ungestört fortwuchsen, ent-
wickelten sie sich zu solchen Waldriesen, wie wir sie botanisch
in Californien oder Australien vorfinden, während sie in unserer
unruhigen Vergangenheit längst zerstört sein würden. So
gross sie sind, so kommen sie allerdings entfernt nicht an
Werth den edlen Fruchtbäumen gleich, die wir gezüchtet,
aber dennoch haben sie für Kenntniss der Naturproductionen
ein eigenartiges Interesse, das in anderer Weise nicht ge-
währt werden könnte. Und Aehnliches gilt für die Natur-
stämme im Vergleich zu den Culturvölkern.
Gestaltungen, die einer jahrhundertjährigen Entwickelung
bedürfen, können selbstverständlich nicht da erwartet werden,
wo die Entwickelung nicht bis zu solcher Dauer zu gelangen
vermag, und werden ohne dafür gegebene Bedingungen nicht
hervorgerufen werden können, (wenn auch vielleicht unter
künstlichen Mitteln etwas früher gezeitigt, doch nie nach dem
Bedürfniss des Augenblicks). Insofern schlossen die polynesi-
schen Vorstellungskreise wunderbar eigenartige Geistespro-
ductionen ein, die sich in gleicher Weise auf der Erde nie
wiederholen werden. Auch die Indianer Amerika’s sind
ihrer Naturanlage nach zu tiefsinnigen Mythen und Betrach-
tungen geneigt. Aber bei ihnen war das unruhige Wander-
leben fester Durchbildung von Schulen hinderlich, und ihre
religiösen Bedürfnisse schöpfen in der Hauptsache aus dem
individuellen Lebenstraum, obwohl dann auch hier manchmal
Geheimnisse erlangt werden, die der Eigenthümer hoch genug
im Werthe schätzt, um sie theuer zu verkaufen oder wenig-
stens für sich selbst unter hohem Preis zu valuiren.
Auf den engen Inseln Polynesiens dagegen concentrirte
sich das Denken im gegenseitigen Austausch innerhalb des
Bastian, Völkergedanke. 4
[50] um einen lebenden Atua zusammengezogenen Schülerkreis, dort
in abgeschlossener Einsamkeit wurden die gewonnenen Schluss-
resultate zu fernerer Verdichtung der nächsten Generation über-
geben, und so bei der dem Unbegrenzten entgegenstrebenden
Entwickelungsfähigkeit des Geistes zu beständig neuer Aus-
dehnung des Gefeder in der Denkspirale hinaufgedrängt
Indem Zeit und Gelegenheit gegeben war, höhere Alters-
stufen zu erreichen, konnten die diesen adäquaten Manifesta-
tionen zur Entfaltung gelangen, während sie (wie an sich
verständlich) mit jüngerer Lebensdauer abschliessenden Volks-
geistern versagt bleiben mussten.
Wenn solche in meditirender Beschaulichkeit gereifte
Früchte durch einen aus esoterischer Kaste (die sie mit dem
accumulirten Gemeingut vorangegangener Generationen er-
nährt hatte) hervortretenden Propheten dem Volke dann zum
allgemeinen Mitgenuss überlassen, wurde sein Name dankbar
mit den Schätzen der Religionslehren verknüpft, die von ihm
gespendet.
Das erste, was den Naturmenschen im Denken interessirt,
ist bei der Gebrechlichkeit des Körpers, für die daraus fol-
genden Leiden, die Ursache des Uebels auszufinden, und
deshalb entweder in den allgemein verbreiteten Reinigungs-
festen auszutreiben oder wie der (kühne) Zauber der Pampa
(statt gleich dem Fetizero durch nachgesuchte Vermittelung
Hülfe und Schonung zu erlangen) den Dämon Gualicho
im Ringkampf (combate con el demonio) zu besiegen, bis zum
Hörbarwerden der Voz chillona y dolorida como imitando
la de un espiritu, que ha sido vencido (s. Barbara), und die
(unter dem Gegensatz des bösen Sasabonsam zum Sofo oder
Priester bei den Odschi) dadurch eingeleitete Vorstellung
des Uebels findet dann weiter moralisch ihre Durchbildung.
Für die Herkunft der Dinge oder Schöpfung, wenn sie
überhaupt in die Gedanken kommt (da man eigentlich, weil
Niemand dabei gewesen, nichts davon wissen könne, nach
Ansicht der Californier), so bieten sich (von einem unbestimmten
[51] Princip, wie Souchy bei den Pampas abgesehen) am nächsten
Himmel und Erde, in Rangi und Papa (Polynesien’s) oder
Uranos und Gaea, und je nach der über die Trennung ge-
bildeten Mythen, mag dann der Himmel mit Erhellung der
Urmächte oder Po, vor den jüngeren Gottheiten (die Atua a
te ra) später zurücktreten, oder als Wohnsitz eines in ver-
schiedener Form (auch vielleicht euhemeristisch, wie Fecha
Huentu oder el hombre mas grande y poderoso) betrachteten
Wesens aufgefasst werden, das indess, gleich Njankupong
zu weit entfernt sein wird, Gebete zu hören, oder sich um
diese, die seine Gemüthlichkeit stören würden, zu kümmern,
wenn nicht etwa, wie bei Samojeden und sonst in Avataren
niedersteigend.
Die directesten und lebendigsten Fragen werden dann
in der Lebensfrage selbst gestellt, in Betreff der Fraglich-
keit dieser, indem unter den Gefahren aus der umdrängenden
Welt die abgeschiedenen Seelen und ihre (ausser bei her-
vorragend bewahrten Ahnen) meist feindlichen Dispositionen,
der Tod in steter Erinnerung bleibt, obwohl er eigentlich
nicht sein sollte, wenn nicht die Schwarzkünstler da wären,
(wie die Abiponer meinten), so dass diese überall vogelfrei
sind, sofern nicht gerade, in dieser Furcht vor ihnen, die
Stärkeren. Ein fortwirkender Gedankengang dagegen rollt
bis zum ersten Menschen zurück, der durch irgend eine
Schuld den anfangs allen Wünschen entsprechenden Zustand
in den unseligen der actuellen Existenz verbrochen, und hier
bietet sich für Variationen der Mythen ein weites Feld, von
Indianern bis Persern mit manichäischem Urmensch, oder
dann, gleich diesem mit dem feindlichen Gegensatz berührten
Gayomart, sowie mit Yima oder Yama, und in weiteren
Anreihungen.
Mit diesem Ersten und Frühesten im Menschengeschlecht
verbinden sich dann auch leicht alle diejenigen Vorstellungs-
erscheinungen in der Natur, die als teleologisch gefärbt,
gern auf bewusste Eingriffe bezogen werden, neben der
4*
[52] dafür von selbst gebotenen Kunstfertigkeit menschlicher Er-
findung, und dann spielen solche Dämone ein, wie Maui
(in Oceanien) und Nanabosho (in America), oft zugleich in
Heroengestalten, die, gleich Herakles, Nimrud u. s. w. die
Erde überhaupt für den Menschen erst bewohnbar gemacht,
worauf ihnen von Halbgöttern, nach Art des Prometheus,
weitere Wohlthaten erwiesen werden mögen.
Zuweilen mögen sich diese Eingriffe ausser den Ver-
feinerungen*) der Gestaltungen der Schöpfung ex nihilo,
nicht darauf beschränken (wie bei den Tiki), sondern, wenn
es sich um Auffischen und dergleichen handelt, bis zur
einen oder andern Art secundärer Schöpfung führen.
Die Schöpfung (wenn darauf in priesterlichen Specula-
tionen weiter zurückgegangen wird) erhält (auch in den ersten
Regungen eines Tad) eine psychologische**) Entwickelung
(wie bei den Maori aus Kore***), in abgeschlossener Form
als Brahma’s Wort (im λόγος) gesprochen.
Wichtig ist stets diejenige Kenntniss, die bei der Ernte
günstige Einflüsse zu reguliren vermag, oder Glück zu gewähren
auf Jagd und Fischfang für den Lebensunterhalt, sowie der
Priester, der die Spruchformeln besitzt, nach Wunsch die
Naturerscheinungen zu beherrschen, während diese sonst nur
dem Volkswitz Anlass zu Erzählungen aller Art gewähren,
bald läppischer, bald poetisch angehauchter.
Wenn die Erntegötter segnend nahen, (leicht heran-
schwebend, über die Spitzen der Gräser hin, im alten Mexico),
sind sie in andachtsvoller Stille (auf Fiji) zu empfangen,
[53] unter Ruhen geräuschvoller Arbeit (bei den Nagas), um das
zarte Werk des Gedeihens nicht zu stören, und stets kehren
sie wieder, am äthiopischen Festmahl erfrischt oder aus
dunkler Unterwelt neu zur Luft aufsteigend, immer jung
und immer alt. „Er war nicht Kind und war nicht alt“
(Wold) in Schaumburg-Lippe (beim Erntefest), wie Apollo
als ἀειγεννήτης geehrt wurde, quod semper exoriens gignitur
(s. Macrobius). Jeder der im Cult aufgenommenen Götter
mag auch in der (wichtigsten) Gestalt (henotheistisch gleich-
sam) des Erntespender’s erscheinen, in Polynesien nicht
Rongo*) nur, dem diese Aufgabe am nächsten lag, sondern
auch der sich im Kriege freuende Tu (wie Mars oder Mamars
im arvalischen Liede neben den Lases oder Lares angerufen
wird). So heisst Zeus**) (bei Hesychius) φυτάλμιος (das
[54] Gedeihen der Pflanzen fördernd, als ἐπικάρπιος (auf Euboea)
und ἔνδενδρος (auf Rhodus), und Demeter empfängt Dank
für den Ackerbau und die Gesetze, gleich Hiawatha, im
Mais hervorwachsend und den Irokesen-Bund begründend, wie
Habis (unter den Thieren des Waldes aufgewachsen) den
Ackerbau und die Gesetze feststellt (in Lusitanien).
Das Jahresfest Okeepa (der Mandan) wurde, ausser für
den Mee-ne-ro-ka-ha-sha (the settling down of the waters)
für den Bel-lohk-napick (bull-dance) gefeiert, und zugleich
für die Prüfungen der Pubertätsweihe, eröffnet bei der An-
kunft des Nu-mohk-muck-a-nah (the first*) or only man),
als des allein aus der Fluth der grossen Wasser**) übrig
gebliebenen, zum Eröffnen des Medicin-Tempel’s, der sonst
während des Jahres verschlossen gehalten wurde. Der im
Zickzacklauf herbeikommenden Oke-hee-de (the owl or Evil
Spirit), vor dem Frauen und Kinder flohen, wird durch die
Medicin-Pfeife des Okee-ha-ka-see-ka (conductor of the cere-
monies) festgebannt***) und dann (unter Gelächter) aus dem
Dorf ausgetrieben. Die darauf für den Eeh-ke-nah-ka-na-
pick (the last run) an Fleisch-Einschnitten aufgehängten
**)
[55] Jünglinge wurden herumgedreht, bis zur Ohnmacht (unter
Abschneiden des linken Kleinfinger’s) und dann um die
Arche des „Big Canoe“ geschleppt (wohin der heilige Vogel*)
den Zweig gebracht). Nach Beendigung der Riten folgte
das Fest unter dem Vorsitz der Rah-to-co-puk-chee (the
governing woman) mit geschlechtlichen Orgien (s. Catlin).
Aus den Vorstellungen der Unreinigkeit folgt die Aus-
treibung des Uebels in den durchgehenden Jahresfesten, die
sich dann als der geeignete Beginn heilbringender Ceremonien
erweisen, und sich somit auch nahe mit der im Aufwachsen
der Generationen herantretenden Jünglingsweihe der Knaben
verknüpfen.
Der Jezer hara oder (böse) Sinnestrieb entsteht im
Leibe bereits vor der Geburt (nach Bereschith rabba), wo-
gegen die Seele sich erst nach der Geburt vereinigt. Die
eine Niere räth dem Menschen zum Guten, die andere zum
Bösen (nach Nedarim). Ahriman hat die gesammte Welt
mit seinem Gifte durchdrungen (von dem der Buddhist sich
deshalb abwendet, seit es der Blauhalsige für die Brahmanen
nicht überzuschlucken vermochte), auch den Himmel zum Ein-
dringen durchbohrend (bei Shahristani), wie die Asuren in
den Himmel einbrachen (im Kampf mit den Deva).
Die allgemeinen Reinigungsfeste verknüpfen sich, wie
im mexicanischen Lustrum (des 52 jährigen Cyclus) mit
der Feuerlöschung, so bei Enagismata der Sintier in der,
Hephästos beim Himmesfall aufnehmenden Insel Lemnos, wo-
hin das neue Feuer aus dem auch von Todten (die in Rhenia
begraben wurden) gereinigten Delos gebracht wurden, der
durch den Schlag des Dreizack aus dem Meere aufgestiegen
und dann von Zeus (als Zufluchtsort Latona’s) befestigten
[56] Insel. Erneuert wurde periodisch auch (von der Sonne, wie
in Cuzco) das vestalische Feuer, sonst unverlöschlich erhalten,
gleich dem der Damara, die es sich auf den Wanderungen
von einer Jungfrau vortragen liessen, die Spartaner dagegen
auf dem Feldzug durch die Pyrphoros (vom Altar entnom-
men, worauf der König dem Zeus Agetor geopfert hatte).
Wie in den Upanishad Indiens aus dem Asat*) (Nicht-
sein), entwickelt sich bei den Maori die Welt aus dem Kore
(noch nicht), in erster Ableitung, gleich der auf den in Or-
mazd Geist aufsteigenden Zweifel angeregten, auf den Wegen
buddhistischer Avixa (durch die Nidana).
Aus den Kreisungen unendlicher Po oder Urnächte, tritt
in Oceanien dieser Process in lebendige Wirkung, und so
strahlt der von Tane (beim Hervorblick aus dichter Umhül-
lung der Eltern) aus dem Jenseits erschauter Glanz in die-
jenigen Religionen ein, die einen Ausblick dahin eröffnen.
Bei Damascius bildet Kronos, nachdem er aus dem Chaos
Aether und Erebos geschaffen, das Ei, aus dem Phanes her-
vortritt. Nach dem Midrach Tanchuma hat Jehova durch
Weisheit**) die Erde gegründet, mit der Thora berathend
[57] (s. Jalkut), als präexistirend gedacht, wie der Koran. Im ur-
anfänglich Gedachten*) (τὸ νοητὸν ἅπαν), als τόπος oder
χρόνος, entstand das Gute und das Böse (s. Eudemos) bei
den Magiern, von (akkadischem) „Imga“ (ehrwürdig) abgeleitet.
Bei Orpheus ist die Natur ἀυτοπάτωρ und (wie in der Ge-
heimlehre der Inca) die Sonne in der höchsten ihrer drei
Phasen (als Quelle der Götter in der Gedankenwelt) αὐϑυ-
π΅οστατος oder selbst existirend (im Neu-Platonismus), als
ὁ βασιλεύς τῶν ὄλων (bei Julian).
Im iranischen Vorstellungskreis schieben sich zwei
Schöpfungsmythen durcheinander, die eine an Gajomert an-
geknüpft, die andere an Yima, und bei der Beziehung
dieses zum Lichtreich Ormazd’s (einem höheren civilisirten
Einwanderstamm angehörig), erscheint im Gegensatz Ahri-
man (dessen Repräsentant in Zohak direct wieder von
Gajomert abgeleitet wird) im Dunkel, obwohl (wie es auch
in der ihn unter den Destur verehrenden Secte, gleich denen
der Euchiten bei Psellus, ausgedrückt lag) an eingeborene
Elemente (schon in der Namensform) angeknüpft, in dem
πᾶν τὸ ἄριον γένος (bei Eudemos) mit den Magiern (s. Da-
mascius), wie Maui, als (dunkler) Schöpfergott (Polynesiens)
den Eingeborenen bedeutet (auf den Marquesas mit Anschluss
an Maori), und auf Tonga die Colonisten aus Bolotu ihren
**)
[58] (oft zweifelhaft gefärbten) Götterhimmel neben dem des Insel-
schöpfen bewahrten (im Unterschied vom Volk, dem sich,
als Nachkommen Ham’s, die Franken in ihren Wandersagen
aus mythischem Troja gegenüberstellten). Im Emporblühen
(pua) der Schöpfung (in Hawaii) schiessen die Menschen als
Blätter am Weltenbaume an, und mit einander verwachsen
treten Meschia und Meschiane hervor, unter Rückführung
der Geschlechtsdifferenz auf androgyne Bildung Siva’s, im
doppelgeschlechtlichen Leib (nach Bereschith Rabba).
Zarouam oder Zervan (in Minokhired)*), als die Zeit
(Kala des Atharva-Veda) traf in τυχη (bei Theodoros) das
Geschick (in Avesta) als Bakht (Zuertheilter) oder Bhaga
(Bogu)**), und Ahriman wirkt in den Planeten dem Bhago-
Bhaktem entgegen, während im Felek der von der Bewegung
des Himmelsgewölbes Umschlossene im Gefühl der Ohnmacht
sein Geschick verflucht.
Aus den Cyclen vorweltlicher Nächte beginnt mit Kore,
als erster Differenzirung***), die Entwicklung (bei den Maori)
[59] zu dem aus dem Wananga (heiligen Geheimniss) hervorstrah-
lenden Glorienglanz (Te Ahua), und so bei Menu. Als die
Welt noch in Finsterniss versenkt und unentdeckbar war,
macht (beim Erwachen aus chaotischem Schlummer) Aum
das Elementare anschaulich, seine Herrlichkeit entfaltend,
und in das aus dem Gedankenbeschluss gebildete Nara (des
Geistes oder Nara) oder Wasser die Keime legend, entwickeln
sich diese zum Ei Brahma’s (oder Purucha’s), der in Hälf-
ten theilt (wie bei Bersus), als Himmel und Erde oder (bei
Maori) Rangi und Papa beim Zerfall des Weltenei’s. Der
Demiurg (nachdem Alles vorbereitet) verfertigte τὸν οὐρανὸν
καὶ τήν γῆν (bei den Tyrrheniern), während in Polynesien
den Tii oder Tiki (wie den Maui) die feinere Ausbildung des
aus dem Bythos, als Urgrundes, Hervorgeblühten auferlegt
wird. Auch dort aber werden Tane und seine Brüder von
Himmel und Erde in ehelicher Umschlingung gezeugt, Djaus-
pitar und Prithivi-matar (in den Vedas). Nachdem die Eltern
durch die rebellischen Kinder zerrissen, steigen Papa’s Seufzer
in den Nebeln empor, während Rangi’s Thränen herabfallen
im Thau. Am Orinoco ist der Thau das Gespucke der Sterne,
und nach Einiger Ansicht im Archipelagos nehmen die Stern-
schnuppen beim Hinausfahren nicht die Richtung nach der
Nase, sondern eher umgekehrt. Dagegen gelten sie auch
als die leuchtend dahinfahrenden Seelen berühmter Häupt-
linge, und neugeborene Kinder wieder als Götterdreck, eine
natürliche Folge des Seelenfressen’s bei den Atua (die man
mit dewa und deus auf glänzende Wurzel zurückzuführen
versucht).
Bis dahin waren in der Ethnologie nur ganz allgemeine
Anschauungen gegeben, aus der Ferne gesehen, gleich den
Planeten etwa, über welche man sich mit den Bewegungs-
und Schweregesetzen, wie astronomisch berechenbar, zu be-
gnügen hatte. Wie aber, nachdem auf dem Mond Berge
erkannt, selbst auf dem Mars Schnee schon schimmert, sich
damit unübersehbar neue Arbeitsfelder für weiteres Detail
[60] öffnen, so in der Ethnologie, seit wir den fernen Stämmen,
in der Phänomenologie des Menschengeschlechtes auf dem
Erdball, näher getreten sind, und in Einzelnheiten blicken.
Noch immer indess erkennen wir sie kaum erst durch
das Telescop, und so macht sich oft ein Missverhältniss
fühlbar in der Forschungsmethode, wenn wir die ethnologi-
schen Ergebnisse gleichzeitig mit denjenigen behandeln sollen,
die aus unseren geschichtlichen oder vorgeschichtlichen
Forschungen erst mit der Lupe gewonnen sind.
Seit Götter und Menschen in Sicyon mit einander ge-
rechtet*), ist stets und überall der Rechtsstreit geblieben über
das, was diesen oder was jenen gehöre.
In Oceanien scheidet sich die ganze Natur in moa und
noa, und was immer von Einem der Tabuirten (die als Atua
unmerklich in die Götter übergehen) berührt ist, wird damit
sein Eigenthum**), wenn selbst nur von seinem Schatten
getroffen.
Im gesitteten Rom dagegen bedurfte es erst der gesetz-
lichen Einwilligung, denn so „Gallus Aelius ait: sacrum
esse, quodcunque more atque instituto civitatis consecratum
sit“ (s. Festus), und das zu Homer’s Zeit den damals, als
Halbheroen über die Volksheerde hervorstehenden Fürsten,
als Krongut, zum privaten Besitz zukommenden Temenos
wurde, nach der demokratischen Reaction des späteren
Griechenland’s nur dem ναος gelassen, der Behausung eines
Gottes, also Eines der dii certi wenigstens, wie sich mit
[61] Varro sagen liesse, oder eher der dii selecti in römischer
Auswahl aus der turba minutorum deorum oder turba quasi
plebejorum deorum (s. Aug.), als „Numa deos per familias
descripsit“ (s. Lact.).
Sacra begriff die gottesdienstlichen Handlungen in einem
sacer locus und sacer dies vollzogen (s. Scheiffele). Sacer-
dos qui sacrum dat (Varro). Cicero unterscheidet die Inter-
pretes futuri und der Ministri sacrorum (unter den Priestern),
wie ähnlich bei Karen und sonst.
Profanum est, quod fani religione non tenetur (s. Festus),
Sacrum (nach Trebatius) quidquid est quod deorum habetur
(s. Macrobius). Der Fluch des „Sacer esto“ schützte, wie
das Anathem die ὰναϑήματα oder die (zur Erfreuung der
Götter) in die ϑήσαυροι der Tempel niedergelegten ἀγάλματα,
unter der Hut der ἐπιμεληταί oder ἐπιγνώμονες im Temenos.
Für solch’ mannigfache und reiche Gaben wurden indess
auch Gegendienste verlangt, und diese hatten die Götter zu
leisten, indem sie die Hut der ihnen (in den res sanctae)
anvertrauten Plätze, vor den Stadtthoren, den Mauern u. s. w.
übernahmen, zum gesicherten Schutz des Gemeinwesen’s.
Was (unter öffentlicher Autorität mit Zuziehung der
Pontifices den Göttern geweiht) sacer gemacht, war damit
dem Privatverkehr entzogen, wogegen sanctus Dinge betraf,
die unter den Schutz der Götter gestellt waren und reli-
giosus sich auf die diis Manibus bezog (s. Rein). Quod per
se religiosum est, non utique sacrum est (s. Festus).
Hier allerdings die Crux der Pontifices (s. Macrobius):
Quid sacrum, quid sanctum, quid religiosum?
Im Gegensatz zu Res profanae werden (quodammodo
divini juris) neben den sanctae unterschieden (bei Gajus):
Res sacrae (quae diis superis consecratae sunt), und reli-
giosae, quae diis Manibus relictae sunt. Als Eigenthum der
unteren Götter war das Ding religiosum, und sacrum, als das
der oberen (aut sacrum aut publicum).
Die Bindung durch die Religion verwickelt in den von
der Natur (zwischen Ascendenten und Descendenten) ge-
sponnenen Faden*), der in dem (bei Indianern und Indiern)
zuerst Gestorbenen die Nachgeborenen nach sich zieht (am
Leichentuche saugend, wie das Ueberlebsel im Vampyr),
hinunter in jene Unterwelt, aus der, wenn der Mundus patet,
die Miasma der Manen emporsteigen, und so die zur Stillung
des Hunger’s (ceylonischer) Preta**) verpflichteten Hinter-
bliebenen mit all’ jenen Befleckungen treffen, welche (fünf-
jährig, oder einjährig) die Lustrationen (piacula, piamenta,
cerimoniae) oder καϑαρμοι (ἀγνισμοι, ίλασμοι, τελεταί) nöthig
machen, und jene durch alle Continente verbreiteten Reinigungs-
feste, die mit Verjagung***) der Dämone, zur elementaren
Sühne, die Erlöschung des Feuers† zu verbinden pflegen, um
καϑαίρειν τὴν πόλιν, wie durch Epimenides nach dem Blutbad
(dem Amanut entstiegen, wie in den, schreckbare Erinnerungen
von Siam bis Ceylon bewahrenden, Epidemie Vesali’s).
Den Pflichten des Todtencult konnte man sich nicht ent-
ziehen, nicht nur persönlicher Gefahren wegen (weil der in
seinen Rechten geschädigte Abgeschiedene mit Krankheit schla-
gen würde), sondern auch im Hinblick auf allgemeines Bestes.
Einen gentilicischen Cult untergehen zu lassen, war als
nefas gebrandmarkt, denn solcher Verlust traf das Ganze,
durch Ausfall von Verbündeten*), die sonst mit in den Kampf
gezogen wären, wie die streitbaren Vorfahren der Amakosa
(oder Ajax bei den Locrern). Je mehr unsichtbare Mächte
durch lege artis und rite vollzogene Culte in den Dienst
der Stadt gebannt waren, desto klarer war der Gewinn, und
deshalb wurden auch die evocirten Götter heimgebracht, oder
die besiegten, wenn es sein musste, in Ketten. Lag doch
selbst Ares in Ketten zu Sparta, um dort zu bleiben, und
die Athener waren verständig genug der Nike ihre Flügel
zu beschneiden, damit sie nicht fortfliege. Religionem eam,
quae in metu et caerimonia deorum est, appellant pietatem.
Religiosi dies dicuntur tristi omine impeditique (Cicero),
wie die Trauerfesttage. Religiosi dies dicuntur tristi omine,
infames, impeditique, in quibus et res divinas facere et rem
quampiam novam exordiri temperandum est, quos multitudo
imperitorum prave et perperam nefastos appellant (s. Gellius).
So hatte der Mensch diese trübe bedrückende Last
religiöser Verpflichtungen zu übernehmen, und blieb auch
nach der Klärung reinerer Götterverehrung, von ihnen be-
schwert, in den Ueberbleibseln des Aberglaubens. Super-
stitiosi vocantur (von supersto), aut ii qui superstitem me-
moriam defunctorum colunt, aut qui parentibus suis super-
stites colebant imagines eorum domi, tanquam deos Penates
(s. Lact.), in orthodox gerügter Rivalität.
Im Allgemeinen mochten, gleich den Oromatua in Tahiti,
die aus eigener Verwandtschaft vertrauten Hausgötter im
Hause selbst besorgt werden, Zeus auch als κτησιος, der
Mehrer der Habe, oder als Herkeios (und ἐφέστιος), als
τἔλειος dann, unter den δεοί τἔλειοι (als Ehegötter), da-
neben selbstverständlich der anspruchslose Hermes Strophaios
hinter der Thürangel*), aber in wichtigeren Fällen mochte
es der Hausvater gerathen finden, Einen der ϑυοσκόοι herbei-
zuziehen, wenn er sich nicht mit demjenigen der μάντεις
begnügen wollte, der der Eingeweideschau wegen für die
Opfer doch erforderlich war. Für den Tempelcult bedurfte
es dann des ίερευς, wofür unter den ἀρητῆρες (Beter) Sach-
kenner zu finden waren, um dem jedesmaligen Insassen des
Naos genehm zu sein (und im Adyton oder Megaron der
Cella zugelassen zu werden).
Hier konnte neben den gewöhnlichen Reinigungen (vivo
flumine**), um (beim Gebet) puras ad caelum tollere manus,
dann auch die mit den Vorrechten der Asyle (wie der Athene
Alea in Tegea, in Phlius, Kalauria u. s. w.) verknüpften
geübt werden, soweit sie in der Blutschuld***) gefordert
wurden, oder, da diese manchmal erst den schwarzen Künsten
der ψυχαγωγοί† (s. Pausanias) weichen wollte, jedenfalls die
[65] der Seelenleiden, wie Libri patris sacra ad purgationem
animae pertinebant, und häufig auch die Körperkrankheiten
in Verbindung der ἱατρική und μαντική*) mit den Func-
tionen des καταρτής in Heilmittelkenntniss. Eine Kenntniss
freilich, die wie zum heilen und helfen, dann auch zum Schaden
†
Bastian, Völkergedanke. 5
[66] befähigte, und gross ist deshalb überall der Schrecken vor
den Zauberern*), welche die Patagonier in periodischen
Hetzjagden abzuschlachten suchten (wie anderswo in den
Hexenprocessen verbrannt), ohne Aufhör das Geblase des
Muschelhorn’s in Melanesien, wenn der Nahak brennt.
Dann wird der Obi-Mann gegen seinen schwarzen Bruder
ins Leben gerufen, der weisse Theurge zu Hülfe, obwohl
meistens in der Minderzahl gelassen. Als Wesayo um die
Prinzessinnen freien ging, konnte ihm jede der neun das Uebel
nennen, mit dem sie zu schlagen vermochte, aber eine nur
erwies sich als heilkundig, und obwohl diese dann zur Ge-
mahlin gewählt, folgte die ganze Verwandtschaft nach der
Insel, die seitdem darunter zu seufzen hat. Flüche zu
schleudern auf Alkibiades, schüttelten alle Priester und
Priesterinnen Athen’s ihre blutrothen Gewänder, nur die
eine Priesterin Theano hielt zurück, da sie zum Beten, nicht
zum Fluchen berufen sei.
Die Segnungen machen sich dann fühlbar in den zum
Gedeihen der Ernte erforderlichen Cultushandlungen, obwohl
[67] auch dort nicht immer Alles friedlich*) ohne jeglichen Kampf
verlaufen kann. Und hier lässt sich dann im Mysteriencult
der Saamen für Hoffnungen ausstreuen, die ausser diesen
allegorischen, keinen Boden zum Spriessen gefunden, wenn
nicht in den Mond geflüchtet (bei Eskimo oder Hottentotten
sowohl, wie beim Fijier und vielfach Verwandten).
Die Alles verschlingende Zeit zieht jedes zeitlich Ent-
standene wieder in das Zeitliche hinab, aus dieser monoton
starren Raddrehung eines eisernen Geschickes**) ist kein
Entkommen möglich, das fühlt der Malagasse in seiner
Vintana (s. Ellis), der Perser im Felek, und einst in Bhaga
Zuertheilten. Die Gottheit, die die Welt ausgeathmet, muss
sie beim Einathmen wieder an sich ziehen, und dadurch
war Maui bedroht, als er sich Hinetepe näherte im dunklen
Urgrund Mahakala’s, der (fressenden) Schlange des rauchigen
Hauses (bei Pinto), als Lupanto (a serpe tragadoura do
concavo fundo da casa do fumo, von Tinagogo bekämpft).
Innerhalb der in der Unterwelt Abgrund öffnenden Höhle,
und selbst in Riesenschlangengeröllen hinabragend, liegt der
greisgraue Ndengei*), halbblind, halbstumm, halbtaub um-
täubt, laut- und bewegungslos, nur die Kinnbacken regend,
um zu essen, zu essen, zu fressen, ohn’ Unterlass, ohne
Ende; und Alles zieht er an sich, hinabtaumelnd in den
Schlund, Alles und Jedes auf der Erde, nicht die Seelen der
Menschen nur, sondern auch die der Thiere und Pflanzen,
ja jedes Werkzeug’s und Hausgeräth’s, wie sie die Fijier
auf den Wellen haben dahinfluthen sehen, zur Nimmer-
wiederkehr. Viconti erklärt Erikapäos (bei Orpheus) von
κάπτειν (auffressen) in Bezug auf Zeus (τῶν πάντων δἔμας
εἷχεν ἑῆ ἐνί γαστέρι κοίλη), als Phanes-Erikapäos**) (bei
Suidas), καί ὁ Ἡρικαπαιο̃ς ἔτερος καταπιών πάντας τοὺς
ϑεούς, ὡς τόν κρόνον (Gesner). Nach Eudemos (bei Damas-
cius) erkannte die orphische Theologie nichts Aelteres an,
als die Nacht (dem Po polynesischer Kosmogonie ent-
sprechend) und das unergründliche Dunkel, τό ἄγνωστον
σκότος, wurde in ägyptischer Kosmogonie (von Asklepiades
und Heraiskos in den alten Büchern der Priester aufgefunden)
als erstes oder Endprincip gesetzt (s. Zoega). In Tartarus,
aus Luft und Nacht gezeugt, bildete sich (wie Te Ao e
teretere noa ana bei den Maori) das Ei***), ein Ei, älter als
[69] die Henne (s. Plutarch), und aus ihm der ωὀγενης, als Phanes
(πρῶτος γαρ ἐφάνϑη) oder Protogonos. Wenn so für be-
ginnende Scheidungen die Schaale „geheim die ungeheure
Zeit umfangend“, zerbricht (wie beim Abwerfen durch Taaroa),
beginnt die Welt in Harmonien zu ordnen.
Aus der Zerstörung das Leben, das deshalb auch (im
Namen schon ausgedrückt) in Siva waltet, dem Vernichter
in der Trimurti, mit dem Lingam als Symbol, und so wird
„Erikapäos, der Vermehrer genannt, mit Priapos und Dio-
nysos“ (chthonischer Wandlungen).
In solcher Schöpferkraft durchdringt*) die Gottheit das
All, aber irdischer Existenz nur ihre Spanne Zeit gewährend,
aus Missverständniss**) freilich wie in Grönland und am
Orinoko gemeint wird, aber ob miss oder nicht, unmissbar
gewiss. Die Seele mag in Wiedergeburten rollen, zu Medita-
tionshimmeln, den Rupehimmeln auf den Megga emporsteigen,
die Essenz der Dinge zu erfassen***), sie mag in der Gottheit
absorbirt werden, in brahmanischer, oder von ihr gefressen†)
[70] werden, in polynesischer Auffassung, stets bleiben die deman-
tenen Kreise ungebrochen, bis etwa ein zum Bodhi Erwachter
sich zum Päan der Befreiung gestimmt fühlt.
In der Meditation, in andauernd fortgesetzter Steigerung
der Denkthätigkeit, unter Abhaltung äusserer Störungen, wird
das Heil angestrebt, bei den Naturvölkern*) zum Halt im
terristrischen Dasein, bei höherer Cultur den höher angeregten
Ahnungen gemäss.
In der innerhalb unserer Geschichtsbewegung durch
vielartig und verworren zusammenströmende Ringe ausein-
andergerissenen Weltanschauung, kann es nur freudig begrüsst
werden, in der Ethnologie Fingerzeige zu gewinnen, um den
Weg zur ursprünglich einfachen Einheit zurückzufinden, damit
dann in den von der Natur begründeten Anfängen aus, die
organische Entwicklung verfolgt werde. Es handelt sich
hier nicht um Reformen, die aus phantasie- und vielleicht
auch ideenreicher Gedankenwelt eines einzelnen Genius ent-
sprungen, in Vorschlag gebracht werden, sondern um Wie-
dergewinnung der elementaren Grundlagen des Denkens,
auf der weiten Basis thatsächlicher Beweisstücke. Um indess
in dieser eigenen Lebensfrage des Geistes, der im „geheimen
Bautrieb“ liegenden Neigung zu Ueberstürzungen vorzubeugen,
um nicht noch diese letzte Hoffnung, die allein nur noch,
könnte man sagen, für Selbsterkenntniss übrig bleibt, muth-
willig zu zerstören, dürfen die langen und mühsamen Um-
[71] wege andauernder Arbeit nicht gescheut werden, und unter
Anerkennung der Unmöglichkeit, der Richtigkeit der Rechnun-
gen, wenn sie allzu sehr beschleunigt werden sollten, sicher
sein zu können, muss die Methode zugegeben werden, der
Grundsatz: dass es vorher des Sammelns von Materialien be-
darf, ehe der Architekt erfolgreich sein Werk beginnen kann,
wenn dies ein dauerndes bleiben soll. Mirum minime id
quidem.
Seinen ursprünglichen Gedanken nach fühlt sich der
Mensch nicht in jener Freiheit, die man ihm hat zuschreiben
wollen, sondern in völliger Abhängigkeit von der umgebenden
Natur, und diese Unterthänigkeit anerkennend, sieht er über-
all um sich den Innerterrirsok oder Verbieter (der Eskimo),
um durch Gelübde in den Mokisso erst das Recht zur Nutz-
niessung für eigene Selbsterhaltung zu erwerben, indem er da-
bei dem Schutzgeist*), dem er sich in Opferungen geweiht,
als seiner Individualität offenbarten Naturform, sich hingiebt,
unter Ansätzen für mehrere der Ausführungen, welche später
astrologische Verwendung zu finden pflegen.
Wer für die Wichtigkeit ethnologischer Forschung auf
die Ausdehnung Brasiliens hinwiese, das fast einem halben
Continent gleichkommt, wie von Martius sagt, könnte auf den
Einwand stossen, dass ihm Varnhagen nur etwa eine Million
Einwohner zuertheilt. Im ethnischen Gesichtskreis indessen,
zählen nicht die Componenten der Gesellschaftsorganismen,
sondern diese, als solche, und so würde Brasilien mit einigen
seinen eigenartig umschriebenen Stämmen, in so vielen Ein-
[72] heiten zählen, neben anderen Einheiten, die obwohl ursprüng-
lich aus vielleicht noch mehrzähligeren Theilen erbaut, doch
dann einen einheitlichen Neudruck erlangten, eine hochgradige
Einheit, mit höherem Stellenwerth der Ziffer. Würden die
Geschichtsvölker etwa den majestätischen Repräsentanten
aus den Vertebrata in der Zoologie verglichen, so verkürzen
sich die Naturstämme zu Käfern oder sonstigen Insecten, die
zwar unscheinbar und klein, aber, in ihrer Art, für Entomologen
von specifisch gleicher Bedeutung sind, je nach den Ver-
hältnisswerthen.
Der in Brasiliens Urwäldern wandernde Jäger herrscht,
als Stärkerer seines Geschlecht’s, über die als Dienerin
begleitende Frau bei dem einsamen Umherziehen durch ein
verschlungenes Dickicht, wo nur der Einzelne*) seine Beute
erhaschen kann. Bei den weitaussehenden und zugleich
für Treibgehege gemeinsames Zusammenschliessen erfordern-
den Jagden der Algonkin verweilt die Frau in der Zelthütte
und tritt von dort aus dem rückkehrenden Mann mit ge-
wisser Selbstständigkeit der Rechte gegenüber, und ebenso
der Pflichten, die ihr zur Beschaffung der vegetabilischen, ihm
dagegen der animalischen, Nahrung aufliegen, für deren Ver-
theilung bei den Australiern**) wieder die Ansprüche der
verschiedenen Familienkreise in minutiösen Vorschriften ge-
regelt sind.
Um den geistigen Horizont der Naturvölker zu ver-
stehen, haben wir uns hineinzudenken, indem eine Beur-
theilung unter den uns geläufigen Combinations-Methoden
[73] (mit Zuschneidung nach denselben) nicht anders, als zu
Missverständnissen führen kann. Schon in den Sinnes-
auffassungen, als combinirten, bedarf es einer physiologischen
Analyse, um nicht unrichtig zu subsummiren. Die Ansichten
sog. Farbenblindheit sind bereits darnach zu modificiren,
indem z. B. die Farbenklassen nach Merkmalen des Stumpfen,
Schillernden oder anderen Eindruck’s auf das Auge zusammen-
gefasst sein können, und deshalb nicht mit derjenigen Farben-
scala zusammenfallen mögen, die nach der scharfen Scheidung
des Spectrum aufgestellt ist. Aehnlicherweise entstehen
Incongruenzen bei Uebertragung der aus Grammaticalisch
festgelegten Sprachen entnommenen Principien auf die im
gewöhnlichen Leben flüssigen. Indem wir mit dem Gesicht
vorzugsweise lernen, und deshalb aus Erinnerung des Buch-
stabirens die einzelnen Buchstaben scharf und bestimmt im
Gedächtniss tragen, sprechen wir sie mit festerer Präcision
im überdachten Reden aus, als der oft nach den augenblick-
lichen Eindrücken des Rythmus oder anderen Rücksichten
geleitete Naturmensch seine für ihn selbst (bei mangelnder
Schrift) nicht stereotyp festgelegten Worte.
Vor Allem ist dann, um den Ideenkreis eines Volkes
zu begreifen, zu unterscheiden zwischen den augenblicklichen
Eindrücken des gewöhnlichen Tagesleben (in kurz abge-
schlossener Frage und Antwort) und den Combinations-
ergebnissen andauernder Meditation, wie sie mit verschieden-
artigen Lebensverhältnissen dauernd verwachsen sind. Die
uns ferner stehenden Vorstellungen des Naturmenschen
machen zunächst häufig einfach den Eindruck des fremd-
artig Sonderbaren und mögen dann damit beseitigt werden,
wogegen sich beim weiteren Ueberdenken eine Menge auf-
klärender Analogien in vergleichender Methode ergeben würden.
Werden die Gedanken nicht (wie es in der Praxis häufig
verlangt wird) kurz und rasch abgeschnitten, überlässt man
sich vielmehr dem Fluss der Gedanken, so dass sie nach
ihrer ganzen Breite und Weite, so zu sagen, auswachsen
[74] können, so tauchen dann allerlei unerwartet neue Vorstel-
lungen auf, allmählig in natürlicher Weiterfolge oder auch
scheinbar so plötzlich, dass sie (wie in der Geschichte der
Religionen durch genugsame Beispiele zu Tage liegt) dem
darauf im eigenen Selbst Unvorbereiteten den Eindruck
übernatürlicher Offenbarungen zu machen im Stande sind.
Als in dem Wachsthum seines Geisteslebens mit dem Ge-
sammtgang der Naturentwickelung unauflöslich verwachsen
und verknüpft, vermag der Mensch, wenn er will, aus, inner-
lichst tiefstem Urgrund entsprudelten, Quellen in seinem
Denken zu schöpfen, und auf ihren Fluthen bis zu dem
jenseitigen Ocean des Ewig-Unendlichen zu folgen, worin die
Persönlichkeit, so lange in irdischen Banden gefesselt, sich ver-
lieren muss, verwehend unter den Ahnungen einstiger Freiheit.
In einem gesellschaftlichen Organismus, wie in jedem
Organismus überhaupt, müssen alle diejenigen Componenten
vereinigt sein, welche als Vorbedingungen organischer Existenz
(ohne welche diese eben überhaupt nicht zu existiren ver-
möchte) zu betrachten sind, so dass also alle diejenigen
Fragen, welche das Leben der vollendetsten Culturvölker
bewegen, in dem des niedrigsten Naturstamms bereits, irgend-
wie, wenn etwa auch erst in embryonalen Voranlagen, ihre
Andeutungen werden zeigen müssen, und indem es also in
solch kleinste Organismen, bei einfachster Durchsichtigkeit,
desto leichter ist, alle die characteristischen und kritischen
Wendungs- und Kreuzungspunkte an richtiger Stelle mit
einem kurzen Ueberblick zu markiren, mögen sie uns für
complicirtere Schöpfungswunder (wo auf den nach allen
Seiten geöffneten Abwegen der reinen Speculation beständige
Verirrung droht) einen Leitungsfaden*) abgeben, um die
gesetzlichen Daten zu normiren.
So gewährt ein Ueberblick der ethnischen Horizonte
die erforderlichen Materialien für das Studium der Vorstadien
in Familie und Stamm, die Vorstadien der Themistes für
den Codex, der religiösen Regungen mit mythologischen
Ausmalungen, der ethischen Bedürfnisse, und sonst socialer*)
Probleme, so viele ihrer überhaupt im Volksleben zur Frage-
stellung kommen können.
Während die Geschichtsvölker, sauber und glatt, und
oft in glänzender Schönheit strahlend, gleich einem Krystall
vor Augen stehen, der Maass und Zahl unterworfen werden
kann, haben wir es in der Ethnologie der Naturstämme mit
wüst und verworren gährender Mutterlauge zu thun, welche
indess, in einer Völkerchemie der Gedanken, uns auf geistige
Primär-Elemente führen wird (im Anschluss an die Physio-
logie, bei Fixirung des leiblichen Typus in der Anthropo-
logie).
Aus abgerundeten Schöpfungen lässt sich bei Erfassung
des Gesetzes zurückschliessen auf den Ausgangspunkt, als
den relativen Anfang, und so haben sich in der Geschichte
manche ihrer Principien feststellen lassen. Weiter mag dann
mikroskopische Zersetzung in der Ethnologie bis zur Grund-
lage der Zellen gelangen, und damit stehen Anhaltspunkte
in Aussicht über die Möglichkeiten, als Vorbedingungen der
Existenz über das Räthsel des Seins aus dem Werden, das
philosophisch bisher gesucht, das fortan in psychologischer
Induction auszuverfolgen.
Durch Versenkung in den Fluss des Denkens werden
aus den dunklen Tiefen nur die Mysterien der Mystik empor-
steigen, wogegen wenn wir, am objectiven Horizont, die
Verkörperungen in den Völkergedanken vor uns haben, wir
[76] solche packen und nach Maass und Ziel studiren können, um
dann, bei genügenden Analogien, auf das Entwickelungs-
gesetz, im Denken selbst, zurückzuschliessen.
So lange wir den Baum als unbekanntes Etwas vor uns
haben, bleibt damit schon ausgedrückt, dass der Weg man-
gelt, um in seine Wachsthumsprocesse einzudringen, sobald
dieselben indessen unter sämmtlichen Erscheinungsweisen der
Componenten in beschreibender Botanik begriffen sind, können
wir, nachdem uns die Bedeutung der Milchgefässe, der
Blätter, der Pollen u. s. w. deutlich geworden, auf das Studium
der Entwickelung selbst zurückgehen, und hierbei hat dann
die durchsichtige Einfachheit der Kryptogamen für die Zellen-
theorie diejenigen Dienste geleistet, die für das Studium der
primären Gedanken-Elemente aus den Naturvölkern in der
Ethnologie zu erhoffen sind.
Dazu bedarf es allerdings langer und umständlicher
Detailarbeit, für deren Ersparung man sich bei „dem Hang
des Menschen zum Grossen und seine Abneigung gegen das
Kleine“, gern auf Schleichwegen forthilft. Aber vor der
Formulirung (s. Baumann) hat man sich „über den allgemeinen
Begriff des Wissens an Beispielen erst gründlich zu belehren“,
wir haben das Material zu suchen und zu sammeln, in jeder
Inductionswissenschaft, und so auch, wenn sie zu solcher mit
Hülfe der Ethnologie gemacht werden soll, in der Psychologie.
In der Welt als Vorstellung kennen wir allerdings nur
Erscheinungen, aber diese (als äussere Projectionen innerer
Thätigkeit) sind nach den (mit den allgemeinen übereinstim-
menden) Gesetzen psychologischer Wachsthumsprocesse ge-
bildet, und also, als an sich nothwendig, damit in die Harmonie
des Kosmos eingefügt. Um hier ungescheuter, als es die für die
Ideale eigener Cultur geschuldete Ehrerbietung in manchen
Fällen erlauben würde, ein- und durchzudringen, bieten sich
der analytischen Zersetzung die Naturvölker, „quos utique perdi-
disse lucrum et vinci vincere fuit“ in mancher Ansicht, nach
der von Orosius über die Barbaren seiner Zeit gehegten.
„Ueber die Natur philosophiren, heisst die Natur schaffen“
(sagt Schelling), d. h. indem wir über das Geschaffen philo-
sophiren, lernen wir es kennen*). Und zunächst zwar berührt
uns das von menschlicher Natur Geschaffene in dem Reflex
des Makrokosmus aus seinem Mikrokosmus, wogegen der
Makrokosmus der grossen Natur, unter der Zerstückelung
der aus ihm im eigenen Mikrokosmus reflectirten Strahlen,
nicht abgeschlossen verstanden werden kann (bei den Be-
ziehungen mit von noch unübersehbarem Universum), sondern
nur in vorläufigen Feststellungen von Einzelnheiten, soweit
sie zu beherrschen.
„Begriff, Urtheil und Schluss sind die Elementarformen,
in welchen sich das Denken weiss und das Wissen beweist“
(nach Biedermann), aber das Wissen geht auf das Verständ-
niss des Geschaffenen selbst, wofür der logische Weg nur
den Eintritt öffnet, wie in der Botanik das practisch Be-
deutungsvolle die verwerthbaren Früchte oder Blumen selbst
sind, obwohl uns zur richtigen Pflege derselben die Kennt-
niss der Vorgänge im Wachsthum helfen werden (wenigstens
zur Verbesserung), während die Keimanlagen an sich schon
aus dem Urgrund der Natur hervortreiben.
Nach Aristoteles würde es sich der Mühe nicht lohnen,
mit denjenigen sich zu beschäftigen, die in mythischer Form
philosophiren (gleichsam in Comté’s, „état théologique ou
fictif“), und in den lege artis zusammengefügten Structuren
speculativ verfeinerter Schulwissenschaft dürfen sich so rohe
Gebilde anfangs nicht zwischenfügen. Dem mythischen Ur-
grund stehen sie aber trotz dessen (oder vielleicht gerade
wegen dessen) um so näher, und da sich in jedem als existi-
rend, damit dann auch seine Existenzfähigkeit**) beweisenden
[78] Gedankenkreis eines Naturvolks nothwendig alle die für or-
ganische Existenz in ethnischer Schöpfung*) erforderlichen
Componenten (also alle die den Gesellschaftskörper bedingenden
Grundideen) unumgänglich werden zusammenfinden müssen
(wenn auch etwa erst mikroskopisch), so erleichtert gerade die
Einfachheit den Durchblick, um jedes Einzelne an richtiger
Stelle, und so das Ganze im Zusammenhang, mit einem Blick
aufzufassen, und dann diese richtigen Stellen und den daraus
gesetzmässig folgenden Zusammenhang auch unter den com-
plicirten Labyrinthenwindungen gigantischer Culturschöpfun-
gen wieder aufzufinden (nachdem der Schlüssel einmal zu
Händen ist).
Nachdem in Cartesius’ Dualismus die Seele das Primat
erhalten, führte die Identität des Denkens und Seins zu dem
Idealismus, worin Hegel die Psychologie in die Philosophie
des Geistes (sowie unter dessen Phänomenologie, bis zum Ein-
schluss der Philosophie der Geschichte), Schelling dagegen
in der Naturphilosophie (mit mystischer Gespensterwelt) ein-
begriff. Locke’s empirische Psychologie (um — in der Ueber-
zeugung, dass der aristotelische Syllogismus nichts neues zu
lehren vermöge — Bacon’s Methode auf einer tabula rasa zur
Anwendung zu bringen) konnte, gleich dem, die Vorstellungen
an die Empfindungen anschliessenden, Sensualismus Hume’s
der scharfen Kritik Kant’s nicht genügen, so dass die Psy-
chologie fast aus der Philosophie ganz und gar verwiesen
wäre, ehe sie (im Weiterverfolg des damals eingeschlagenen
Weges) den mit den Siegen der inductiven Naturwissenschaften
geöffneten Rettungshafen der physiologischen Psychologie**)
[79] hätte erreichen können. Doch blieb sie dort noch mehr be-
schreibende Naturgeschichte, als erklärende Naturlehre, da
soweit kein natürlicher Anschluss gefunden ist für das ge-
netische Princip, dem Condillac*) in der Fingirung seiner
Statue zu genügen suchte, Beneke dagegen in seiner, mit Waitz
übereinstimmenden, Auffassung der Psychologie als Natur-
wissenschaft, während von Fichte (und Hegel, mit seiner in der
dialectischen Methode durch die Begriffe hindurchgeführten
Evolutionslehre) her, der Idealismus mit Herbart (unter An-
sätzen zu mathematischer Behandlung) in die Völker-Psycho-
logie verlief.
Im gäocentrischen Weltsystem hätte die anthropologische
Auffassung des Mikrokosmos die metaphysischen Reconstruc-
tionen des All’s (in der Naturphilosophie) entschuldigt, aber
auch excentrisch gestellt, konnte (bei Beneke) gesagt werden,
dass die (nicht meta-physisch, sondern physisch zu begrün-
dende) Psychologie „die tiefste Grundlage für alle übrigen
philosophischen Wissenschaften“ bildet**) (weil allein erst das
Verständniss ermittelnd). All the sciences have a relation
(s. Hume) to human nature (in the science of man).
Nach jonischer Allbeseelung schied Anaxagoras νοῦς
und ὕλη, und Pythagoras φρένες, νοῦς und ϑυμός. Nach
Plato hat die in der Sinnenwelt lebende Seele mittelst der Ver-
nunft zugleich Theil an der Ideenwelt und bei Aristoteles
(unter Einführung der Psychologie in die Philosophie)***) er-
[80] hielt die Seele (Entelechie*) ihres Leibes) Vermögen (δυνα-
μις) als Materie.
Nach Kant muss man vor Allem, ehe man Metaphysik
als Wissenschaft der letzten Principien mache, untersuchen,
was Wissen selbst sei (s. Baumann). Die Psychologie**)
(welche die Naturgesetze des Denkens kennen lehrt) ist „als
die naturgemässe und nothwendige Basis der Erkenntniss-
theorie zu betrachten“ (s. Göring).
Wenn Herbart die Metaphysik als Grundlage der Psy-
chologie ansieht (oder Lehren der rationalen Psychologie
aufzustellen, nur auf Grundlage der Metaphysik gestatten will),
so folgt dies aus dem Bestreben, die individuelle Psychologie
durch sich selbst zu verstehen, wogegen nach der Natur des
Menschen als Gesellschaftswesen das natürliche Gebiet der
Psychologie in dem Gesellschaftsgedanken (und dem Er-
kennen des Denkens darin) liegen muss, wodurch zugleich,
statt metaphysischer Abstractionen der normale Durchschnitts-
gedanken gewährt wird.
Im Uebrigen hat der gegen Kant’s kritische Philosophie
(welche vorher das Erkenntnissvermögen selbst zu unter-
suchen fordert) von Hegel erhobene Einwurf (dass die Unter-
suchung des Erkennens nicht anders als „erkennend“ ge-
schehen könne) seine Berechtigung in der dogmatischen
***)
[81] Philosophie, da das Werden erst rückläufig wieder aus dem
Sein, in dem Gewordenen verstanden werden kann, aber die
Dogmen selbst dürfen nicht aus den Abstractionen indivi-
dueller Psychologie gesucht werden, sondern sind als die ob-
jectiv vorliegenden Producte der Völkergedanken (in so-
cialer Psychologie) entgegenzunehmen.
„Die Moral muss sich gründen auf thatsächliche, einfach
im menschlichen Geiste gegebene Vorstellungen“ (bemerkt
Biedermann), und ehe also nicht dies Thatsächliche in der
ethnologischen Umschau über den Globus überall in abge-
schlossener Rundung specifischer Originalitäten für Einzeln-
heiten festgestellt ist, bleibt der Streit nutzlos über durch-
gehende Moralprincipien, da eine Erklärung, die ihren Gegen-
stand noch nicht klar sieht, nicht viel klären kann.
Ueberrascht von ihren eigenen Erfolgen, die nicht aus-
bleiben konnten, nachdem der richtige Weg der Forschung
einmal betreten war, überrascht davon und einigermassen be-
rauscht, hat die Induction, noch ehe auch die Psychologie
unter die Naturwissenschaften einführbar war, die enthu-
siastisch angelegten unter ihren Jüngern zu dem Versuche
fortgerissen, die klare Begrifflichkeit, die über die relativen
Verhältnisse gewonnen war, auch auf das Absolute zur An-
wendung zu bringen, und damit, in vermeintlich radicaler
Elimination des Wunders, die den Tiefen der Menschenseele
einwohnenden Ahnungen und Sehnungen allzu eilfertig über-
sehen. Das Wunder ist immer da, dicht um uns, in jedem
Athemzug, in jeder Fingerbewegung, wie an jenem frühsten
Schöpfungsmorgen des ersten Menschen, wenn wir solchen
setzen wollen, ja je weiter und überwältigender sich das All
für uns gestaltet, desto unbegreiflicher und wunderbarer ge-
staltet sich der Anblick. Schon die Dakota schlossen ihre
Weltanschauung ab, mit dem Wakan oder Unbegreiflichen*),
Bastian, Völkergedanke 6
[82] und dieses umdämmert auch in weitesten Dimensionen, bis
zum Unendlichen und Ewigen hin, die Unsrige. Das Un-
begreifliche widerspricht an sich dem Begriff des Begriff-
lichen*). Indem wir nun aber den gesetzlichen Wachsthums-
gesetzen nachgehen, wie sich in dem engen Horizont der
Naturstämme jene Vorstellung gestaltete, werden wir den
Leitungsfaden für unsere eigene, nachdem aus durchsich-
tiger Einfachheit gewonnen, auch unter complicirten Orna-
mentirungen festhalten können. Das Unbegreifliche an sich
kann nicht begrifflich werden (beim Umschlagen in den
Gegensatz damit negirt), indem wir es aber genetisch aus
dem Gewordenen begreifen, das Sein im Werden (in orga-
nischen Uebergangszuständen), verstehen wir damit, was
menschlichem Verständniss verstandbar, mit dem Anhalt für
Weiterverfolgungen.
Als Hauptaufgabe müssen in der Ethnologie, um diese
bisher unbekannte (und der Natur der Sache nach, früher
selbst unmögliche) Wissenschaft zu begründen, um sie über-
haupt nur ins Leben zu rufen, zunächst voranstehen die Ma-
terialbeschaffungen, die nothwendige Vorbedingung für jede
inductive Naturwissenschaft, und deshalb auch für die Psy-
chologie, wenn sie eine solche werden soll.
Indem wir selbst, innerhalb unserer Generation, in dies
Erwachen der Ethnologie erst hineingewachsen sind, ergiebt
sich als Consequenz, dass solche Materialbeschaffung**) nicht
*)
[83] nach einem vorherbedachten Plane angelegt und unternom-
men werden konnte, sondern nur eine successive und allmälig
zu vervollständigen sein konnte, unter entschiedener (oft genug
in der Entsagung schwerer) Rückweisung aller der in dem
Aufspringen überraschendster Parallelen lockenden Verfüh-
rungen zu schillernd blendenden Schlussfolgerungen, die indess
als unreife, oder jedenfalls allzu frühreife, in die gesunde
Entfaltung der Keime, später vielleicht unheilbare, Verirrun-
gen gelegt haben würden.
Besser deshalb vorläufige Verwirrung in dem objectiven
Material, das sich jeder Zeit, wenn die rechte Zeit gekom-
men, methodisch zurecht schieben lässt, als eine Verwirrung*)
in subjectiven Ansichten, die sich oft genug um so mehr
verwirren, je mehr (wenn ein Gefühl davon auftaucht) man
sie zu entwirren bemüht ist. Auch konnte ohnedem am Be-
ginn der Forschungen um so weniger an Ordnung und
Feilung gedacht werden, weil bei dem raschen Verschwinden
**)
6*
[84] der Sammelobjecte jede Minute kostbar war, wogegen, wenn
es nach solchem Verschwinden nichts mehr zu sammeln
giebt, in der dann herangebildeten Schule von Fachmännern,
nicht nur die Musse geboten sein wird, das aus dem frühern
Untergange Gerettete (und dadurch wenigstens Vorhan-
dene) systematisch durchzuarbeiten, sondern zugleich auch
das überlieferte Material (unter der mit der allgemeinen Um-
schau gewonnenen Berechtigung zur Kritik der Einzelheiten)
ferner zu sichten oder (wo erforderlich) zu purificiren.
Die Hauptgesichtspunkte der jetzigen Studien liegen also
in zweierlei: Einmal in derjenigen vollständigen Beschaffung
des Materiales, wie für eine Gedankenstatistik erforderlich
und deren Ansprüche genügend, in allseitiger Vergleichung*)
(nach den Bedürfnissen der comparativen Wissenschaften).
Erst wenn solcher Grenze angenähert, können die geistigen
Rechnungsoperationen mit einiger Aussicht auf verhältniss-
mässig richtige Resultate gewagt werden, während so lange
es sich um Pionirung kaum eines für seine letzte Ausdehnung
und seine allseitige Gestaltung, noch unbekannten Gebiets
handelt, nur hie und da an charakteristischen Kreuzungs-
punkten, erste Landmarken zur Orientirung aufgesteckt werden
können, um kritische Phasen der Entwicklung zu markiren.
Und dieses führt auf’s Zweite, auf solche Entwicklung, auf
das Organische im Menschheitsgedanken, der einheitlich
auf unserm Globus emporwächst, und damit: auf das gene-
tische Prinzip.
Indem wir in den Schöpfungen der Völkergedanken, im
Einzelnen sowohl, wie in der Totalität, einen Organismus**)
[85] erkennen, ergiebt sich daraus der Anreiz auch auf sie, den
mächtigsten Talisman in den Händen der inductiven Natur-
wissenschaft, ihre Genesis, zur Anwendung zu bringen.
In den einfach durchsichtigen Gebilden der Naturstämme*)
werden wir dadurch einen Schlüssel gewinnen, um auch die
complicirtesten Errungenschaften der Culturvölker aufzu-
schliessen —, und damit unser eigenes Selbst.
Dieser Punkt ist so vielfach in meinen Büchern berührt
worden, dass weiteres Eingehen diesmal erspart werden kann.
Bisher lebten wir in classischer Literatur, in elegant
ausgelegtem Garten, mit genau zugestutzten Baum-Alleen,
mit geometrisch regulirten Beeten, wo wir im Voraus wuss-
ten, hier und da einen Seitenweg anzutreffen, einen Pavillon,
ein Tempelchen im Gebüschlein. Diese traulichen Prome-
naden sind gestört. Die wirren und wüsten Materialmassen,
die jetzt plötzlich aus den Urwäldern der Ethnologie heran-
gewälzt werden, erregen Schrecken und Entsetzen. Die
wohlgeschulten Gärtner verwirren sich in einem Jungle mit
verschlungenen Zweigverwachsungen, mit modrigen Schling-
gewächsen, mit Unkraut aller Art für sie, aber freilich nicht
für den wissenschaftlichen Botaniker. Und so unverständlich
abschreckend das ungeordnete Ganze hier jetzt erscheint,
ebenso leicht wird es sich später anordnen, weil im allge-
meinen weit einfachere und durchsichtigere Verhältnisse be-
**)
[86] greifend, als die complicirten Ornamente der Cultur. Wäh-
rend jetzt die Lecture eine fast unmögliche scheint (und eben
auch nur für den speciellen Fachmann bestimmt sein kann,
der seine ganze Zeit darauf zu wenden beabsichtigt), wird
sie sich schliesslich zu einer der anziehendsten und mühe-
losesten gestalten, dann (wenn es sich um Ableitung oder
Erklärung socialer oder religiöser Institutionen handelt) wer-
den wir nicht länger dem Verfasser durch Folioseiten seiner
dicken Bände hindurch, in den Labyrinthen schwankender Ge-
dankenwanderungen zu folgen haben, wo wir jeden Augenblick
in Gefahr gerathen, durch absichtliche oder unabsichtliche Zu-
fügung subjectiver Färbung aus der Individualität irre ge-
führt zu werden, sondern dann werden die Facta realistischer
Bilder in ihrer Zusammenreihung selbst sprechen und alles
dem darlegen, der einige Worte zwischen den Zeilen zu lesen
gelernt hat. Freilich aber wird das bisher innerhalb eines eng
umschriebenen Horizonte’s an ästhetischen Gestaltungen er-
zogene Auge, sich erst adoptiren müssen an solch neue Per-
spectiven, durch optische Reformen sich an ihre Auffassung
gewöhnen.
Vorläufig bei dem Drängenden der Zeit, — ehe das letzte
verschwunden ist, aufzuraffen, was noch übrig, — kann nicht
an Politur der Einzelnheiten gedacht werden, am Wenigsten
jetzt bereits, wo selbst nicht einmal die Oberfläche das Terrain,
auch nur in einfachster Pionier-Arbeit, überschaut ist, wo also
noch jeden Augenblick Thatsachen durchgreifendster Art her-
vortreten mögen, die uns zwingen, dass auch sie Beachtung
verlangen, auch sie ihre Werthaufnahme in die Rechnungen,
weil diese sonst im Voraus für ihre Consequenz-Ziehung in
den Resultaten als falsch erklärt werden müssten.
Zunächst kann es sich nur um die Materialsammlungen
selbst handeln, ähnlich denen bei Beginn der Seefahrten*) in
[87] Brunfels Herbarium oder sonst zusammengeworfenen, aber auf
Grund darauf erst war es später Tournefort und dann Linné
ermöglicht, Licht in die Systeme zu bringen. In den Büchern
früherer Chemiker herrscht für uns ungeordnete Verwirrung,
aber ohne dieses Durchgangsstudium wären wir nicht zu der
jetzigen Klärung in Theorien gekommen.
Als Bacon es aussprach, dass der Syllogismus, der Vor-
*)
[88] handenes verbinde, nichts Neues lehren könne, dass es in
der auf Aristoteles Wegen folgenden Philosophie der Induction
bedürfe, da erkannte er zugleich, dass die Empirie (als an
sich nutzlos) nicht genüge, dass den Erfahrungen ein lei-
tender Gedanke vorherzugehen habe, um den gegebenen
Stoff kraft der Vermittlungen des Denkens durchzuarbeiten,
und so aus dem Besonderen das Allgemeine, aus den That-
sachen die Gesetze zu erfassen.
So bedarf es im Forschen klärender Anordnung unter
vorläufigen Hypothesen, die, wenn vor frühzeitiger Verknöche-
rung bewahrt, sich in weiterem Fortgang der Studien, mit
denselben erweitert, umgestaltet werden.
Daher wird in der Literatur die berechtigte Anforderung
an ein Buch gestellt, als in sich abgeschlossenes Kunstwerk
(wenn auch nur im Kleinen) hervorzutreten, durch die Kritik
gereinigt und äusserlich formgerecht.
Diese Grundsätze werden, wie in jeder Wissenschaft,
auch in der Ethnologie zu gelten haben, sobald sie nämlich
in dieser auch zur Anwendung zu bringen sind, sobald sie
zunächst also als Wissenschaft abgerundet ist.
Wie aber jetzt? in dieser plötzlich und unvermit-
telt, innerhalb weniger Decennien, hereinbrechenden Fluth
neuer Thatsachen und Beobachtungen, die blitzesschnell
dem überraschten Staunen vorüberfliegend, für immer
(ohne jemalige Wiederkehr) verloren sein werden, wenn
nicht jetzt auch, im Moment des Auftauchens, erhascht
und (so gut oder so schlecht es geht) einigermassen
fixirt.
Hier, wo sich jetzt, ein völlig unbekanntes Gebiet nach
dem andern den ersten Pionieren öffnet, kann keinem Führer
vertraut werden, und leitende Gedanken, die sich anböten,
möchten nur irre leiten. Hier muss auch Manches, ohne
sich selbst über die Absicht dabei [bestimmte] Rechenschaft
geben zu können, unterschiedslos aufgenommen werden, im
vielleicht nur dunklen Vorgefühl, dass sich spätere Anknüpfungs-
[89] punkte*) ergeben werden, und wenn diese, wie oft genug
geschehen, dann wirklich hervortreten, war der Instinct
glücklich zu preisen, der rettete, was nachher nicht mehr
nachzuholen gewesen wäre.
So rollen sich im Laufe der Jahre dieser Uebergangszeit
(die der Natur der Sache nach nur eine kurze sein kann)
Aufzeichnungen in oft formlosen Massen zusammen, um die
Materialien zu liefern für die Reihenanordnungen, wie sie
verlangt wurden in den tabulae essentiae et praesentiae,
tabulae declinationis et absentiae, tabulae graduum sive
comparativae, und wenn diese gefüllt sind, dann — (denn
dann wird es voraussichtlich auch wenig Neues mehr zu
sammeln geben, und Alles dann noch nicht Gesammelte wird
fortan leider verloren sein) — dann wird es ans Ordnen
gehen können, und dann wird sich hoffentlich auch eine
Schule von Ethnologen gebildet haben, die, indem sie diese
damit recipirte Wissenschaft zum Lebensstudium gewählt
haben, auch vor formlosen Büchern nicht zurückschrecken
werden, wenn sie ihnen thatsächliche Materialien zu liefern
vermögen.
Die Ethnologie hat so natürliche Anziehungen durch
ihre Beziehungen zum Menschen, dass sie in den mas-
kirten Vorformen, welche sie bisher in der Literatur ver-
hüllten, stets eine Lieblingslectüre für das grosse Publikum**)
[90] gebildet hat. Für dieses zu schreiben, bleibt allerdings der
Endzweck, aber jetzt, wo die Möglichkeit herantritt, die
Ethnologie zu einer Wissenschaft heranzubilden, stellt sich
damit die Frage, wann sie wird popularisirt werden dürfen.
Gewiss nicht, ehe sie sich selbst ihrer Principien klar be-
wusst geworden ist, gewiss noch nicht in diesem unklar
gährenden Uebergangsstadium, wo die Ansichten noch von
allen Winden umhergeworfen werden. Wollten wir jetzt
bereits einen βασιλικὸς ὁδος öffnen, würden darauf in langen
Reihen jene phantasiereichen Gefühlsmenschen herangezogen
werden, deren Phantasien allzuleicht in Phantastereien über-
gehen. Damit hätte sich dann die junge Wissenschaft, selbst
und von Vornherein, den Weg abgeschnitten, auf dem
sie einst ein entscheidendes Wort in der Geschichte der
Menschheit reden zu können hofft. Nichts wäre leichter
als ethnologische Bücher anziehend zu schreiben. Ver-
führerische Sirenengesänge auf allen Seiten. Man braucht
nur hineinzugreifen, Hypothesen billig, wie Brombeeren, aber
auch nur ebensoviel werth, wenn etwas werth. Darum jetzt
vor Allem Vorsicht, die Ohren verstopft, um unbeschadet
hindurchzuschiffen bis zum sichern Hafen. Dass also die
Bücher über Ethnologie vorläufig trocken und abstossend er-
scheinen sollten, dürfte vielleicht nicht das grosse Unglück
sein, um das so oft in den Kritiken gejammert wird. Wenn
darob mit Vorwürfen beworfen, so wird sich dies eher er-
tragen*) lassen, eher und lieber, als selbst, auch indirect nur,
**)
[91] mitzuhelfen, dass das zum Anpflanzen eines Wissenzweiges
umgebrochene Terrain ein bequemes Tummelfeld werde für
Etymologienwüther und Völkerflicker. Wir bekämen damit
einen Bettelmantel aus buntscheckigem Stückwerk zusammen-
geschneidert, wogegen, wenn ruhig wartend, bis die Thatsachen
zum abschliessenden Ueberblick angesammelt sind, sich ein
prächtiger Peplos weben wird, wie von Zeus über heilige
Eiche gebreitet, ein strahlend gespiegeltes Abbild wirk-
licher Welt. Darum, wie gesagt, mag der Zugang vorläufig
mühsam erscheinen, nur dem zugänglich, der bereit ist, einen
Theil seiner Kraft und ehrliche Arbeit darauf zu verwenden.
Wenn im Schweisse jener Anstrengungen, wie sie jede ernste
Wissenschaft von ihren Jüngern verlangt, einigermaassen
eingedrungen, wird er sich durch die Ergebnisse schon be-
lohnt fühlen. Vor Allem heisst es deshalb in der Ethnologie,
einen kühlen und klaren Kopf zu bewahren, um nicht von
der bald hier und da, bald auf allen Seiten in glänzenden
Versprechungen auftauchenden Ausblicken berauscht, wieder
von dem Strom der Speculation fortgerissen zu werden, auf
dem sich entzündbare Gemüther allzu gerne mühelos fort-
schwemmen lassen.
Indem es sich in der Ethnologie um den Menschen als
Zoon politikon handelt, nimmt sie ihren Ausgang vom Ge-
sellschaftszustande, dessen Einzel-Mitglieder zur Besorgung
der Anthropologie überlassen bleiben. Die Verhältnisse der
Geschlechter zu einander, die man bis auf einen Zustand
wilder Ehe*) (schon bei Anknüpfung an classische Notizen)
hat zurückführen wollen, werden zunächst durch die ethni-
schen Umstände bedingt werden, unter welchen sie sich
bilden.
Der brasilische Jäger, der lautlos im Urwalde wandert,
seine Beute zu beschleichen, wird sich, dem Stärkeren, die
Frau als Dienerin folgen sehen, und innerhalb der in den
offenen Lichtungen Australiens, auch für Treibjagden zu-
sammengehaltenen Horde wird gleichfalls das Recht des
Stärkeren den Vollerwachsenen das erste Anrecht auf die
Mädchen*) des Stammes geben, so dass Jüngere sich nur durch
(sabinischen) Raptus**) (oder Entführung) einer oder anderer
Art (aus der Fremdheit), einen Privatbesitz verschaffen können,
gewissermaassen ein peculium castrense (wie von Augustus
dem Sohne zugesprochen).
In den mühelos idyllischen Lebensverhältnissen Polysiens
hat sich aus freiem Verkehr***) der Geschlechter die Ver-
stellung gruppenweiser Verheirathungen in Morgan’s „punuluan
family“ gebildet, und dann wird unter der Herrschaft der
Sinnlichkeit, die Frau, als Hauptgewährerin, bald auf jenen
*)
[93] hohen Rang gestellt sein, den sie in Tonga einnimmt, sowie
in Hawaii, wo der Mann, dem sie sich als ihren Schützer
angeschlossen hat, ihren Kochofen besorgt, und den Poey-
Teig, während in Neuseeland bereits, wo kriegerische
Aspecten dem Manne ernstere Pflichten auferlegen, als mit
der Frau zu tändeln, diese eine, verhältnissmässig wenigstens,
herabgedrückte Stellung zeigt.
Der Fischfang, wenn nicht auf stürmischer See hinaus
führend, wird die Frau in Gleichstellung mit dem Mann
beschäftigen, und ihr jenes unabhängige Auftreten gewähren,
wie es die Fischermädchen in brahmanischen Legenden
zeigen.
Für den Ackerbau kommt die Arbeit der Frau zu
Hülfe und unter den amerikanischen Wanderstämmen, soweit
er dort zulässig ist, gehört er ihr allein, da in der Ver-
theilung der Nahrungsbeschaffung, ihr die vegetabilische
zufällt, wie die animalische dem Manne.
Der Neger kauft sich zum Anbau seines Ackerfeldes
eine Frau, statt einen Sklaven (oder Sklavin), und der Kru
vermehrt*) so, mit dem auf jeder Reise erworbenen Gewinn,
bei der Rückkehr sein Harem, hier nicht ein dolce farniente
mit sich bringend, wie beim Orientalen, der, wenn reich
genug, unter seinen übrigen Luxus-Artikeln auch seine Frauen
vermehrt in der Polygamie, (mit sanitären**) Gesichtspunkten
in beiden Fällen in Betreff der Säugezeit, des Beischlafs u. s. w.).
Polyandrische Verhältnisse entstehen, wie unter leicht-
lebigen Nairs im Anschluss italienischer Cicisbeat, dann auch
wieder unter Kargheit der Lebensbedürfnisse, bei Einschrän-
kung auf eine gemeinsame Haushälterin gewissermaassen,
unter gleichzeitiger Stumpfheit der Sensualität, wie sich in
der tibetischen*) Hinneigung zum Cölibat zeigt.
Ein durchgreifendes Gepräge wird der Stellung der Frau
in der Gesellschaft dann durch die, die Gestaltung derselben
begleitenden, Geschicke aufgedrückt werden, ob sie, als Beute
der Eroberer, wodurch die einheimischen Männer des Landes
erschlagen, durch das Thatsächliche selbst in Knechtschaft
herabgedrückt ist (vielleicht, wie bei Cariben, die eigene
Sprache bewahrend), oder ob, wenn die an die früher von
ihnen verwüsteten Küsten als Flüchtlinge anlangenden Wi-
kinger, es als Gunst, als Gnade so zu sagen, betrachten
müssen, wenn die Honoratioren des Landes diesen früher ge-
fürchtet und gehassten, — aber früher, wie später berühmten —
Helden ihre Töchter zur Ehe anbieten, sie beim Festmahl
wählen lassen (wie bei Phocäer in Massilia) oder im Bogen-
wettkampf erschiessen (wie von Chutia-Prinzen in Sudya**).
**)
[95] So bildeten sich die gynaikokratischen Verhältnisse unter
den nach Menangkabau verschlagenen Nachkommen Iskan-
der’s, und ähnlich finden manche der archäistischen*) Ueber-
lebsel ihre Deutung (aus Lykien u. s. w.).
In politischer Geschichte fixiren sich auch endogamische**)
Vorschriften, wenn aristokratisch stolze Ueberwinder das
blaue Blut der Kaste rein zu erhalten streben, bis zum
engsten „breeding in and in“ (wie in den Schwesterehen Peru’s
und Persien’s), wogegen exogamische Kreuzungen, in ihrer
weiten Verbreitung, von der Natur bereits den Naturvölkern
gelehrt zu sein scheinen.
So lange innerhalb der Horde Privatehen nicht durch
Sponsalia geweiht und umschrieben sind, werden als selbst-
verständliche Consequenz, die Kinder zur Mutter halten, da
der Vater vielleicht selbst dieser nicht mit Sicherheit bekannt
ist, und die Verwandtschaft kann nicht in verticaler Richtung
**)
[96] (in Ascendenz und Descendenz), sondern nur in der Breite*)
zum Ausdruck kommen, zwischen Geschwistern in Schwestern
und Brüdern. Für genaue Gliederung liegt kein Bedürfniss
vor, da die Horde auch gesellschaftlich, so lange durch den
Rath (oder vielmehr nur durch das Ansehen) der Alten
regiert, ohne bestimmtes Haupt ist.
Tritt nun etwa hier durch Katastrophen eine Zer-
streuung ein, so bleibt, als nächstliegend, die Geschwister-
schaft zusammen, und wenn sie sich dann als solche vielleicht
isolirt in Sicherheit wiederfindet, wird zwar dann in, Heroi-
den**) feiernder, Legende das Bild der Mutter bewahrt bleiben,
um welche sich an jenem Morgen des Schreckens die zittern-
den Kinder schaarten, aus diesen wird aber, der gleichen
Gefahr eben wegen, bald der muthigste und kräftigste, am
ehesten also der Aelteste***), an die Spitze gerufen werden,
und der Schutzgeist, dem er (als selbsterträumter bei den
Indianern) vertraut, wird in Australien dann gleichfalls (meist
in Thierform†) des Kobong (als Totem, wie auch bei Beschua-
nen, Kasya u. s. w.) als Wappen des jetzt unter ihm als
[97] Führer constituirten Stammes gelten (unter Fortführung
seiner Legenden durch die Scalden*).
Wenn dann im Laufe der Wanderungen solche Einzeln-
horden wieder zusammentreffend, sich zu gemeinsamen Horden
neu verschmelzen, werden die bereits der Geltung einer Häupt-
lingswürde angenäherten Autoritäten in jedem Specialfall aufs
Neue, in gegenseitiger Compensation, sich miteinander ab-
gleichen zu jenem früheren Altenrath, der, falls drohender
Krieg keinen Herzog ex virtute verlangt, genügen mag, aber
der bereits mit der Macht des Geheimnissvollen eingreifende
Privatcult des particularen Schutzgeistes wird, seit einmal
adoptirt, nun auch verbleiben, und, sofern noch nicht durch-
gehend vorhanden, Nachahmungen anregen, in allen (durch
irgend ein Band zusammengehaltenen) Kreisungen der Horde,
so dass deren primär gegebene Gleichartigkeit sich jetzt erst
wieder aus Theilstücken herzustellen hat.
Nachdem bei den Kurnai durch den Botenherold als
Lewinda-Jerra-alla die betheiligten Stämme zur Jerrail (Ein-
weihung) zusammengerufen sind, und jeder Knabe, dem ein
Mädchen (als Krau-un) zur Schwester gegeben war, durch
die aus dem Walde herbeigekommenen Männer (unter Weg-
nehmung von der Mutter) in die Reihen jener (und das
Geheimniss des Turndun oder Schwirrholzes) aufgenommen
ist, bleiben die in dieser Ceremonie gemeinsam**) reci-
pirten Jünglinge dann auch später im Lager in besonderer
Abtheilung zusammen wohnen, sie bilden also mit einander
eine Genossenschaft, die sich zugleich im Besondern auch (bei
Bastian Völkergedanke. 7
[98] der männlichen Abstammung vom Yeerung-Vogel*) und der
weiblichen vom Djeetgun-Vogel) den Frauen gegenüber mar-
kirt, und bei gegebener Veranlassung des Fortzug’s weiter als
selbstständiger Stamm auftreten könnte, nur aus männlichen**)
Mitgliedern bestehend, so dass dadurch von selbst auf Erwer-
bung von Frauen durch Raub hingewiesen, aus andern
(fremden) Stämmen, und also deshalb mit verschiedenen
Stammes-Emblemen. Daraus ergiebt sich in Weiterfolge die
Geschlechtsklassentheilung, indem (nach Schliessung der Ehe)
der Vater sein eigenes Symbol (in schwesterlicher Beziehung
zu dem des früher beigegebenen Mädchens) bewahrt, zugleich
im Anschluss an die (als ältere den jüngeren gegenüber-
stehenden) Symbole seines Vaters und seiner Mutter (in
deren Zeichen die eigenen Kinder dann wieder zurücktreten
könnten), und daneben die Frau gleichfalls ein eigenes, so
dass sich allerlei complicirte Vorschriften über Heiraths-
kreuzungen bilden können, wie bei den australischen Ver-
hältnissen weiter auseinanderzulegen.
Indem sich zwischen verschiedenen Stämmen, als inner-
halb derselben Horde, freundschaftliche Beziehungen ein-
geleitet haben, mögen mancherlei Anlässe vorliegen, weshalb
die (als werthvoller Besitz geltende, und deshalb gern zurück-
gehaltene) Frau bei einem andern Stamm gesucht wird, sei
es um durch knüpfende Bande Verstärkung zu erlangen, sei
es um durch gefälliges Entgegenkommen mit oder ohne
Schuld Gefürchtetes abzuwenden, und oft ist (nicht in
[99] australischen Klassen allein) dann gegenseitiger*) Austausch
bedingend, fast immer aber wird das Mädchen, auch als
Frau, ihrem eigenen Stamm verbleiben, der weder sie, noch
sonstiges Eigenthum, abzugeben denkt, und sogar noch die
Kinder für sich beansprucht, so dass diese der Mutter
folgend, in dem Avunculus**) ihren natürlichen Beschützer
finden (und damit Neffenrechte zur Geltung kommen).
Sollte wechselsweiser Austausch, wenn stattgefunden, dann
zur Gewohnheit werden, so würden sich permanent fixirte
Heirathsrichtungen, wie bei den Kamilaroi***) von selbst
erklären, und ebenso, dass einmal auf der Bahn der Zer-
splitterung eingelenkt, diese dann auch zu derartigen Extremen
führen mag, wodurch die Kinder†) wieder nach Knaben oder
Mädchen, in besondere Klassen eingereiht werden (in Ge-
schlechter-Trennungen).
Bis hierher wird also von Familie keine Rede sein
können, indem die Glieder überhaupt nicht zusammen-
7*
[100] halten*) oder schon dadurch auseinandergerissen werden, weil
die Eltern selbst zwei verschiedenen Stämmen angehören.
Die erste Einheit bildet also die ohne durchgreifendes
Oberhaupt wogende Horde, die sich von den Wanderungen
umhergeworfen, elastisch dehnen und engen muss. Sie mag
zerfallen, mag indess auch in fester Organisation einen Halt
bekommen.
Denn wie die Stämme sich zu kräftigendem Bündniss
zusammenschlossen, und ohne Prämeditirung die Horde ins
Dasein riefen, so mögen die politischen Aspecten fernerhin
wieder günstig sein, dass sich zwei oder mehrere Horden im
Trutz- und Schutzbündniss einigen, wenn schwere Masse,
der sie gegenüberstehen, für Erhaltung des Gleichgewichts,
eine in der Mehrheit vergrösserte Compensation verlangt.
Hierbei würde allerdings, um die Aufrichtung des Ge-
bäudes, trotz der bereits hervortretenden Complicationen, vor
Zusammensturz zu bewahren, ein bewusstes Abkommen vor-
auszusetzen sein, und in solchem Fálle bliebe nicht aus-
geschlossen, dass auch ein im socialen Leben wichtigster
Punkt, über die Vergebung der Mädchen, und die Ver-
pflichtungen der verschiedenen Stämme hierüber zu einander,
stipulirt würde.
Somit stellt sich dann ein Gerüst her, wie es bei den
Irokesen und Verwandten dasteht, in dem Hinüberkreuzen
der Heirathen aus einer Horde oder Phratie in die andere,
unter den correspondirenden Stämmen.
Nachdem eine derartige Sitte zur Gewohnheit geworden,
formulirte sie sich, mit der Verknöcherung zum Dogma, als
unverbrüchliches Princip, das nicht weit genug getrieben
werden konnte.
Weil es sich praktisch erwiesen hatte, in eine andere
Horde oder Phratrie zu heirathen, so durften jetzt die Mit-
glieder der eigenen nicht mehr untereinander heirathen, an-
fangs nur, weil es gegen den Brauch verstossen haben würde,
dann weil ein Verbot entgegenstand, und indem so das Heirathen
in der Verwandtschaft, unter Simulirung dieser, abgewiesen,
und immer weitere Grade absorbirt wurden, traf dies Veto
schliesslich alle, die denselben Namen führten, bei den Maya,
oder (als hsing der chia) bei den Chinesen.
Der Uebergang von der mütterlichen zur väterlichen
Geschlechtsfolge wird sich in historischer Entwicklung voll-
ziehen, indem eine aristokratische Kaste, die ohne Frauen
(oder mit ungenügender Zahl derselben) eingewandert, durch
das Schwert oder (gleich den Brahmanen) durch geistige
Ueberlegenheit zur Herrschaft gekommen ist, und nun, wenn
die Noth zu Frauen aus den verachteten Schichten der Ein-
geborenen zwingt, nicht zu deren Niveau, wie leicht begreif-
lich, die Kinder degradiren will, sondern sie in das Ge-
schlecht des Vaters*) erhebt. Dies, zur Gewohnheit gewor-
den, galt denn auch zwischen ebenbürtigen Geschlechtern.
Und mit solchem Vater an der Spitze der Familie, wird
dann in dieser die patria postestas**) geübt, in Rom sowohl
(wie anderswo), oder in freieren Gestaltungen.
Familiam ducere hiess es bei Verzweigung der Gens
(Singulis singulas familias). In Indien*) steht der Viçpati
(Hausherr) an der Spitze der Familie oder an der Spitze des
Dorfes (in Afrika) der Ahn, als Ifoumou (Quell). Der So-
mol, als ältester Mann des Stammes, nennt die Mitglieder
pui (Schwester oder Brüder) auf den Mortlock-Inseln.
Dann folgten jene Fictionen**), in Adoption und Auf-
nahme der Hausgenossen, Diener, Clienten u. s. w. zum
(schottischen) Clan, zu Sept der Iren, den Phis oder Phara
(der Albanier) u. s. w., das Ganze in Mehrzahl der Fälle im
religiösen Cult***) der Gens, und oft allein dadurch gehalten.
Daneben gestaltet sich dann der öffentliche Cultus, zu-
nächst, ehe die Special-Götter einzelner Priester zu allgemei-
nen (auch unter officieller Anerkennung oder Stützen) erhoben
sind, durch die Festordner, welche die für massgebende
Lebensbedingungen, wie Ernteertrag oder Krankheitsschutz
mächtigen Influenzen der unsichtbaren Welt in guter Stimmung
und Einvernehmen zu halten haben (pacem deorum quaerere)
und deshalb auch dort nicht, (so wenig wie mit den Todten-
geistern*) und deren Schicksale Vertraute), entbehrt werden
können, wo sonst der naturgemässe Zusammenschluss des
Gemeindewesens keiner anderen Regierung bedarf, ausser
etwa den für allgemeinnützige**) Arbeiten eingesetzten Beam-
ten (oder des Spruchmanns, für Verhandlungen nach Aussen)
und dann der Regulatoren des Jahresumlaufes***) mit den
[104] officiellen Opfern*) (wie in China durch den Kaiser im
Hofcult).
Unter Persönlichkeiten verschafft zuerst, wenn das Stu-
dium lucri erwacht ist, Reichthum Ansehen, so lange er
durch Freigebigkeit und (Ruhm verbreitende) Gastlichkeit
erhalten**) werden kann, bei Aht, sowohl wie bei Beluchen,
in der Orang Kaya der Malayen. Dann wird, bei dem in
den Altersstufen***) bereits zustehendem Vorrang, überlegenes
[105] Verständniss*) anerkannt, besonders bei den durch Erfah-
rungsschätze bereicherten Greisen**), als Weise (für Richter-
sprüche***) gesucht), und bei Kriegsgefahr bietet sich im
Tapfersten der Führer, (oft auch bereits als ständiger†) Stra-
tege neben dem Archonten) und dieser, wenn er nach sieg-
reichem Feldzug nicht zurückzutreten beliebt, mag dann den
Weg der Usurpatoren einschlagen, der besonders unter den für
Lehnverleihungen günstigen Umständen zum Fürsten führt,
während ein solcher in den auf die Götteranfänge zurückführen-
den Stammbaum der Ariki mit der Geburt bereits gegeben
ist, und (oft im Anschluss an die Leiter der Einwanderung
oder den Gründer††) des Dorfes) als Eponymos fortdauern
mag, bis zum Auseinanderfallen geistlicher und weltlicher
Macht. Seit Pseudo-Isidor, von Papst Nicolaus I. für echt
[106] erklärt, stand das corpus juris canonici über dem corpus
juris romani*) (und dann der weitere Streit**)).
In den einfachsten Zuständen ist für eine Regierung
weder Nachfrage noch Angebot und, wie von wilden Naga,
lässt von friedlichen Pescheräh sich sagen (bei Weddell):
Their behaviour, one to another, was most affectionate (and
all property possessed in common). Zwar gelten die νὸμοι
πολιτικοί (im jus civile) nur „entre membres d’une même cité
(s. Coulange), so dass jeder Fremde***) vogelfrei ist, aber
[107] die bei seinem Ansichtigwerden gelegentlich angeregten Leiden-
schaften glätten sich wieder im heimischen Kreise.
Sind freilich die Umgebungsverhältnisse drohender Art,
so bedarf es selbstverständlich eines festeren Zusammen-
schlusses (wie in militärischer Organisirung der Jüngling-
schaft in Assam) oder einer kräftigen*) Hand, die das Ganze
leitet. Dann mag wohl, wenn beunruhigt nach einem Hort
gesucht wird, der Vorlauteste an die Spitze sich drängen,
am liebsten aber wird man den dort sehen, der, gleich
jenem zur Salbung Ausersehenen, eine Kopfeslänge über
Alle hervorragt, wie in den Kriegen der Tasmanier**), „the
leader or chief was of gigantie size“ (Bonwick). Da bei dem
beständig herantretenden Hic Rhodus, hic saltus Jeder nur
das gilt, was er werth ist, so schliessen sich in natürlicher
Folge Prüfungen***) daran, um zu sehen, wer unter den
Guten sich als Bester erprobt, sei es im Tragen eines Baum-
***)
[108] stammes (wie in Chile), sei es im indischen Wettschiessen,
im Laufen u. s. w.
Mit Localisirung gentilischer Genossenschaft*) in den
Demen schloss sich an den φῦλον τοπικόν der Uebergang
der Societas in Civitas.
Während anfangs nur Patricier und Plebejer (oder no-
biles und ignobiles) sich unterschieden, wurden mit dem Ordo
equester (als der vorher temporäre Reiterdienst ein dauern-
der wurde) die Stände eingeführt, worin der uterque ordo,
als Senat (Senatus populusque Romanus) und Ritter, der
Plebs (und weiter dem ordo Libertinorum) gegenüberstand,
während dann noch ordo scribarum, aratorum u. s. w. hinzu-
traten. Auf die equites equo publico (unter dem Tribunus
Celerum der Celeres) folgten (mit den Equites illustres) die
suis equis dienenden Ritter und dann (seit den Gracchen)
ein dauernder Ritterstand (unter den Kaisern als Titel). Mit
dem Senat und den Magistraten trugen die Ritter (anfangs
nur die Primores) die Auszeichnung des Anulus aureus
(statt fererus anulus).
Als mit Gleichstellung der Patricier und Plebejer der
Geburtsadel fortgefallen, trat an die Stelle desselben ein Amts-
adel, der forterbend in den Familien wieder zu einem Ge-
burtsadel wurde, durch die curulischen Aemter verliehen,
***)
[109] und so unter der curulischen Aedilität erlangt (s. Becker),
bei Vereinigung der tituli (bei jus imaginum) im Stemma des
Hauses, in prima aedium parte (Val. Max.), wo bei Festen die
expressi cera vultus (s. Plin.) bekränzt wurden (mit Lorbeer).
Als aus dem römischen, dem letzten der sog. Weltreiche
die Germanischen Monarchieen hervortraten, als die Societas
eines Königs der Franken sich zur Civitas des Königs von Frank-
reich umbildete, da gliederte sich die persönliche (und als
solche mit Nutzniessung des Grundes verbundene) Abhän-
gigkeit aufwärts bis zu der mehr und mehr abgeschwächten
Fiction des römisch-germanischen Kaisers (unter entsprechen-
der Verstärkung der am alten Sitz verbliebenen Kirchen-
herrschaft, die seit Gratian’s Niederlegung des Pontificat
abgetrennt war) und erst nach dem Bruch durch die Re-
formation erhielten die immer deutlicher empfundenen Sou-
veränitätsrechte auf den Boden*) ihre Begründung in Grotius’
Werk, während seit Filmer das göttliche Recht der Könige
zur Durchbildung kam.
Gleich römischen Miterben (der älteste Sohn ebenfalls
nur als cohaeres, wenn auch für gesetzliche Beziehungen an
der Spitze der agnatischen Gruppe gedacht), gleich den in
Indien bereits mit Eigenthumsrechten an gemeinsames Familien-
gut geborenen Kindern**), erbten diese auch im Allodium zu-
sammen, und erst bei den für die Zwecke entfernter Kriegs-
[110] dienste durch die (wie früher an römische Soldaten) ver-
liehenen Beneficien (im Landbesitz) bildete sich der (militärische)
Hofadel*) durch Karl M., der unter dessen schwachen Nach-
folgern in Hausgesetzen oder „Pactes de famille“ das Recht
der Primogenitur im Feudalismus**) feststellte, da unter den
anfangs verschiedenen Vereinbarungen ausserdem die Sicherung
der Dienstverpflichtungen am geeignetsten erschien, wenn sie
in einer Hand verblieb und zugleich auf den ältesten Sohn,
als den am raschesten zu militärischer Tüchtigkeit heran-
gewachsenen, haftete. Auch in indischen Dorfcommunen
knüpfen sich (trotz Gemein-Erbschaft) die Aemter, wenn
erblich (wherever public office or political power devolves)
gern an den ältesten Sohn, und unter Hinweis auf die für
schottischen Clan geltenden Erstgeburtsrechte erkennt Morgan
darin, unter dem Sinken der fränkischen Monarchie eine
Retrogression (gleichsam eine Art Atavismus, liesse sich
sagen) auf archaistische Ueberlebsel aus patriarchalischen
Zuständen, wie sie sich am reinsten in polynesischen Ariki
zeigen würden. Bei geographisch-klimatisch gegebener Lang-
lebigkeit mag sich dann mitunter (besonders unter Ueber-
lieferung von Traditionen) die Kette***) zwischen Grossvater
[111] und Enkel (mit theilweisem Ueberspringen des Vaters)
schliessen.
In communalen Stammesverhältnissen fällt der Besitz,
der während des Lebens zur Nutzniessung stand, beim Tode
des Einzelnen*) wieder an das Gemeinwesen (oder im Allodium
an die Kinder, schon im Leben als Miteigenthümer) und nur
bei persönlich erworbenen und persönlich gebrauchten Gegen-
ständen, soweit sie nicht als an der Persönlichkeit haftend
besser mit in das Grab gegeben werden, (zur Ruhe der Seele),
könnten Geschenke fortgegeben werden. Erst wenn sich
die Universitas juris complicirt, durch allerlei legale Be-
ziehungen zu den Nebenmenschen, die durch plötzlich un-
vorhergesehene Unterbrechung nicht in Verwirrung gebracht
werden dürfen, tritt die Nothwendigkeit der Erbschafts-
bestimmungen (wie unter Solon in Athen) heran, und dann:
„Haereditas est successio in universum jus quod defunctus
habuit“, im Uebergang der Rechte und der Verpflichtungen.
Wenn dagegen die Persönlichkeit des Vaters im Sohne (wie
nach dem Traducianismus) für die Vorstellung fortdauert,
führen patriarchalische Ariki später zu der Thronfolge kraft
göttlichen Rechts. Anderswo konnte dann „bonorum possessio“
vom Erben verlangt werden, als „familiae emptor“.
Unter gemeinsamem Landbesitz haben die Miteigenthümer
eines indischen**) Dorfes besonders getrennte Rechte (the de
***)
[112] facto partition of the stock being checked by inveterate usage).
Im russischen Dorfe findet periodische Vertheilung des Landes
statt, das dann in der Zwischenzeit zur freien Verfügung
der einzelnen Familien in weiterer Vertheilung bleibt, bis
wiederum für neue Vertheilung zusammenfallend. Im kroati-
schen Dorfe wird das Land gemeinsam bebaut, um dann die
Producte nach den Ansprüchen der verschiedenen Familien
zu vertheilen. Die Speisenvertheilung „to the Sclavonian vil-
lagers of the Austrian and Turkish provinces by the elders
of their body“ (s. Maine) geschieht einmal jährlich, durch die
Häuptlinge schottischer Clans früher täglich.
Die auf dem römischen Recht basirenden Theorien nehmen
für das Eigenthum*) ihren Ausgang von Res nullius und der
Occupatio, mit weiterem Anschluss der Souveränitätsrechte
durch den ersten Entdecker**) neuer Länder in der Adprehensio,
und daraus folgenden Schwierigkeiten für die Bestimmung
des Umfangs. Zur Milderung der in damaligen Anschauungen
involvirten Unmenschlichkeit der Plünderungskriege kam das
Menschlichkeits-Gefühl auf Naturrechte zurück, die das Privat-
Eigenthum wahren, nachdem dieses in fortgeschrittenen Zu-
ständen seine Anerkennung gefunden. Die charakteristische
Physiognomie des Einzeltypus bestimmt sich in jedem Fall
nach klimatisch-geographischen und weiter historisch-poli-
Bastian, Völkergedanke. 8
[114] tischen Wandlungsverhältnissen der Umgebung, aber unter
solchem Localabdruck wirkt ebenmässig überall ein gleich-
artiges Gesetz, das zu kennen, da mit Ausdehnung der
internationalen Beziehungen sich Conflicte*) mehren müssen,
wenn nicht die leitenden Gesichtspunkte als Gemeingut unseres
Verständnisses Jedem zur Hand sind.
Wie in Betreff der Stammeskreise stehen die aus römi-
schem Recht in unserer Culturgeschichte als geltend ge-
schöpften Ansichten auch bei dem Eigenthum im diametralen
Gegensatz zu dem bei der Majorität der Naturvölker gelten-
den, die weit entfernt, eine ursprüngliche Schenkung der
Erde (in Blackstone’s Sinne) anzunehmen, vielmehr im Gegen-
theil jedes der Dinge um sich herum in der Hand eines
Besitzers glauben, von dem erst durch Sühnungen oder Ge-
lübde die Erlaubniss eines Niessbrauches erworben werden
möchte.
Und doch, weil aus den Ursachen des Warum erklär-
bar, liegt hierin kein Widerspruch zu allgemein gleichartiger
Gemeinsamkeit menschlicher Gesellschaftsgesetze.
Unsere Cultur nimmt ihren Ausgangspunkt in den
classischen Unterlagen, als abgeschlossen fertig gegebenen, —
[115] als in einiger Hinsicht sub beneficio inventarii (s. Röder)
angetretene Erbschaft, — auch in den Rechtsbestimmungen,
„modern jurisprudence accepting all their dogmas without
reservation“ (bis zu der durch den Zwang der Dinge selbst
erzwungenen Reaction), während wie weit sie für die römi-
schen Juristen selbst als solche galten „their language leaves
in much incertainty“, indem diese noch für das Verwachsen-
sein*) mit ältern Wurzeln ein dunkles Gefühl bewahrten, das
aber vor der aufsteigenden Geschichtssonne mehr und mehr
verblich, und bei dem neuen Aufbau einer fremden Civilisation
in gänzliche Vergessenheit sinken musste. Auf diese ursprüng-
lichen Vorstadien wird uns das Studium der Naturvölker
zurückführen, nicht etwa (wie keiner Bemerkung bedarf)
um bestehende Einrichtungen zu reformiren, sondern um von
der Entstehung des Bestehenden einen richtigen Einblick zu
gewinnen, von seiner organischen Entwicklung, und damit
in die Erfordernisse naturgemäss gesunder Fortentwick-
lung, um pathologischen Abweichungen zu rechter Zeit bereits
vorzubeugen, ehe sie in Revolutionen Zerstörung anzurichten
vermögen.
Griechische ὶσότης, soweit staatlich (wie rechtlich in
Aequitas) zulässig, wurde in Rom (bei dem Zusammenfluss
der Fremden in künftiger Weltstadt) als „Naturalis Aequitas“
über das zunächst auf italische Stämme bezügliche Jus gentium
erweitert, im Hinblick auf die ausserhalb der Gerichtsbarkeit
des Corpus juris civilis Stehenden, indem die im jus feciale
(als Vorläufer des Völkerrechtes) bereits fühlbaren Bedürf-
8*
[116] nisse*), dann auch für Privatpersonen (besonders für Be-
günstigung des im freien Verkehr der Civilisation Bahn
brechenden Handels) zur Rücksicht gelangen mussten (wie
im engeren Kreise für die „pays de droit coutumier“, neben
dem „pays du droit écrit“ anerkannt), bis weiter mit stoischem
τὸ ὁμολογουμένως (ἀκολόυϑως) τῇ φύσει ζῇν das Naturrecht
(über Dumoulin’s juristische Theorieen hinaus) zum Durch-
bruch kam.
Im natürlichen System fand Fries (in der Botanik)
„quoddam supranaturale“ (in der Verwandtschaft der Or-
ganismen) und dass „singula sphaera (sectio) ideam quandam
exponit“ im Schöpfungsplan, wogegen nach Darwin die im
natürlichen System ausgedrückten Verwandtschaftsgrade „die
verschiedenen Grade der Anstammung variirender Nach-
kommen gemeinsamer Ureltern“ bezeichneten (s. Sachs), wobei
dann aber für die „Ureltern“ selbst oder Ur-Ureltern das
„supernaturale“ noch völlig dasselbe bleibt und für die Varia-
tionen ihre Weite erst durch die Aussagen objectiver That-
sachen, wenn im erschöpfenden Ueberblick bekannt, bestimmt
werden kann. Wenn es sich einerseits für die inductive
Forschung von klarem Nutzen erweist, solch’ Uebernatürliches**)
[117] das sich anfangs immer gleich im Anfang vordrängt, so weit
wie möglich aus dem Gesichtskreis hinauszuschieben, so
würde sie andererseits mit ihren eigenen Grundprinzipien
brechen durch hypothetische Erweiterung der Variationen
über den jedesmaligen Horizont gesicherter Thatsachen.
Wie unbewusst die Vorstellungen aufsteigen, so schaffen
sich die gesellschaftlichen Bedürfnisse, zunächst unbewusst,
ihre entsprechende Befriedigung, und an gegebenen Wende-
punkten krystallisirt dann ein System heraus, für die religiösen
Anschauungen ebensowohl, wie für rechtliche Institutionen.
Solch’ stabile Anhaltpunkte*) werden periodisch für Stetigung
des Entwicklungsflusses verlangt, sie müssen indess im Fort-
gang desselben, wenn allmählig anachronistisch verknöchernd,
hemmende Schranken zwischenschieben, und manchmal steigert
sich dann der Widerspruch zwischen veraltenden Bestim-
mungen und dem thatsächlich in der Gegenwart Gegebenen
**)
[118] zu solch’ schreienden Widersprüchen, dass sich nur im
Bruch gewaltsamer Revolutionen ein neues Gleichgewicht
herstellen lässt. Es ergiebt sich deshalb die Aufgabe, hier
eine feine Fühlung zu erhalten, besonders in der Jurispru-
denz, welche dies zunächst in den „fictiones legis“ zu erreichen
sucht, wodurch die Gesellschaft „escaped from their swadd-
ling clothes“ (s. Maine), während sich später dann im Rück-
greifen auf das Naturrecht der Grundsatz der Billigkeit bot
(the very conception of a set of principles invested with a
higher sacredness, than those of the original law), und
schliesslich tritt, bei volksthümlicher Staatsverfassung, die
bewusste Gesetzgebung in ihre Rechte.
So, wenn im religiösen System die Orthodoxie stark
genug bleibt, die steten Erschütterungen aus heterodox
ketzerischen Secte machtlos niederzuschlagen, wenn sie die
ununterbrochen mit Erweiterung und Veränderung des Hori-
zonte’s, im Rollen der Tageswandlungen neu aufsprudelnden
Fragen mit den Entscheidungen aus unfehlbarer Alterthums-
weisheit erdrücken zu müssen meint, so hat sie selbst damit
den Zwiespalt der Weltanschauung herbeigeführt, wie wir
ihn so oft zwischen Religion und Philosophie klaffen sehen, —
gesehen haben und sehen werden, bis eine auch die Psychologie
umschliessende Naturwissenschaft sich zu dem Versuche fähig
fühlen dürfte, eine einigende Brücke zu schlagen.
Im Gegensatz zu dem früheren, aus einer fest abge-
grenzten Geschichtsbetrachtung natürlichem Bestreben, Ana-
logien, wenn in socialen Gebräuchen oder religiösen Vor-
stellungen entgegentretend, auf historische Beziehungen zurück-
zuführen, und daraus zu erklären, hat es unter der mit
Erweiterung des geographischen Gesichtskreises anwachsenden
Masse des Materiales, als die Aufgabe der Ethnologie er-
scheinen müssen, zunächst auf elementare Grundgesetze*)
[119] völkerpsychologischer Entwicklung zurückzugehen, und erst,
nach stattgehabter Eliminirung, in zweiter Reihe, historische
Ursächlichkeiten zuzulassen (und sie stets soweit nur, wie
auf topographisch gesicherter Basis nachweisbar).
Sobald die Kritik diese principielle Differenz ausser
Acht lässt, so lange sie fortfährt, von einem zur Gewohnheit
gewordenen Standpunkt her Bücher zu betrachten, die mit
diesem in bewusster Absicht gebrochen haben, so
lange wird ihr, von solchem Standpunkt aus, weil einem
diametral entgegengesetzten, Alles auf dem Kopfe stehend
erscheinen, das Unterste zu Oberst, und bleibt, bei Vergegen-
wärtigung solch’ verkehrter oder umgekehrter Welt, ein
allzu liebenswürdiger fast, der Langmuth solcher Zuschauer,
die trotz des in ihrer Beobachtungslinse nothwendig gespie-
gelten Wirrwarr’s, die darin zusammengeknäuelten Bücher
dennoch einer Beachtung werth zu halten scheinen, statt sie,
im kurzen Process, mit dem gerechten Verdammungsurtheil
zu beseitigen, das über die Symbolik mit ihren Völker-
flickereien, ihren Wanderungslabyrinthen und etymologischen*)
*)
[120] Monstruositäten längst gefällt ist (und das nur noch ver-
schärft zu wünschen wäre, um alle Wiederbelebungsversuche
im Keime abzuschneiden).
Unsere Forschungsmethode in der Ethnologie ist, nach
den Anforderungen der inductiv naturwissenschaftlichen, eine
voraussetzungslos vergleichende, aus den nach einander heran-
tretenden Erfahrungen, die für ihren Umfang noch unbegrenzt,
für die schliessliche Tragweite jedes einzelnen Falles noch
nicht zu übersehen sind, und sich mit zunehmender Detail-
kenntniss sogar beständig vor unseren Augen über noch un-
betretene Felder weiter ausdehnen.
Wie nun ein Pionier-Reisender bei dem Betreten eines
bis dahin unbekannten Landes, jede Eigenthümlichkeit am
Wege zu registriren hat (wenn auch für den Augenblick
vielleicht nur als Curiosum), so sind aufstossende Analogien
vorläufig als solche zu constatiren, Aehnlichkeiten also,
weil einmal vorhanden, damit anzudeuten. Einige verwerthen*)
sich sogleich durch naturgemäss geschichtliche Beziehungen,
andere mögen später ihre Bedeutung zeigen oder — mögen es
*)
[121] nicht, das braucht zunächst nicht zu kümmern. Denn jetzt
muss hier, als unverbrüchlicher, der Grundsatz gelten,
dass nie ein Schritt über das sicher Constatirte
hinaus geschehen darf, keine frühzeitige Einmischung will-
kührlicher Verstandes-Abstractionen und deren Gebilde statt-
haft ist. Für verführerisch ableitende Hypothesen ist kein
Boden gefährlicher und schlüpfriger, als der der Ethnologie, und
deshalb bedarf es hier vor Allem der Ascese, der Selbstentsagung
und Geduld, um bei den trocknen Thatsachen stehen zu bleiben,
so schwer das manchmal auch ankommen mag. Wenn während
dieser Vorbereitungsstadien*) die unter Ungunst der Verhält-
[122] nisse hervortretenden Bücher eine für Fernerstehende etwas
abschreckende*) Form bewahren, so mag es darum sein,
da diejenigen, denen es ernstlich um die Sache zu thun ist,
den Eingang schon finden werden, wie in jeder Fachwissen-
schaft die damit Vertrauten. Und emsige Arbeiter**) nur sind
*)
[123] für die nächste Zeit hinaus zunächst erforderlich, nur ihrer
bedürfen wir vor Allem, nicht jener speculationsgewandten
Hitzköpfe, die gern neue Literaturfelder für Curiositäten ab-
suchen, um sie für gangbare Lieblingstheorieen oder wissen-
schaftliche Romane zuzustutzen, in Kant’s „dogmatischem
Geschwätz“ (das seinem klaren Kopf zum Ueberdruss ge-
worden).
Ob jeder Zweck sein Mittel heiligt, mag die beliebte
Controverse bleiben, dass aber, bei beruhigtem Gewissen über
die Heiligung, die Mittel zum Zweck, für Erreichung dessel-
ben, nothwendige Vorbedingung bleiben, dürfte auf keine
Controverse stossen. Wer nun in dem mühsam herbei-
geschleppten Baumaterial nicht die Mittel, sondern den Zweck,
zu sehen sich caprizirt, der mag darin eine Entschuldigung
finden, sich solcher Arbeit zu entziehen, vielleicht auch im
eigenen Kopf Baumaterial genug zu finden meinen, zierlicher
und bequemer, als das von der Natur gewährte. Mit ästhetischer
Geschmacksrichtung soll nicht gestritten werden, doch mögen
dann ihrerseits auch störende Zwischenreden erspart bleiben,
da sie die Erreichung des Zieles nur noch länger hinaus-
schieben, und damit jene Theorieen, auf welche als bessere
und zuverlässigere, im Vergleich zu manchen früheren, ge-
hofft wird (in naturgemässer Rückwirkung wissenschaftlicher
Fortschritte auf practische*) Erfolge).
Während nach Darwin’s Lehre neben der fortgehenden
Variation nur noch die durch den Kampf ums Dasein be-
wirkte Auswahl die fortschreitende Vervollkommnung der
**)
[124] organischen Form bedinge, wies Nägeli darauf hin, dass
schon in der Natur der Pflanze selbst Gesetze der Variation
vorgezeichnet seien, welche unabhängig vom Kampf um’s
Dasein und der natürlichen Auswahl zu einer Vervollkomm-
nung und fortschreitenden Differenzirung der organischen
Formen hinführen (s. Sachs), nachdem Schleiden die „Botanik
als inductive Wissenschaft“ unter die Naturwissenschaften
(neben Chemie und Physik) eingeführt hatte. In der Embryo-
logie traten die Ergebnisse von Hofmeister’s: „vergleichenden
Untersuchungen“, (grossartigere, als auf dem Gebiete der
descriptiven Botanik je vorgekommen), „ohne weitläufige Dis-
cussionen, welche die Genauigkeit der Methode überflüssig
machte, sofort klar hervor“, (die Materialien liefernd, aus
denen Haeckel eine „phylogenetische Methode“ aufzustellen
suchte, als mit Ausbildung der Descendenzlehre die Constanz
der Arten aufgegeben wurde).
So lange eine neu aufsteigende Theorie*) die gesammte
Aufmerksamkeit concentrirt, vermag, ausser ihr, das von dem
unerwarteten Glanze geblendete Auge nichts Anderes**) zu
sehen, und man glaubt dann leicht, in ihr bereits das letzte
Wort gefunden zu haben. Als ob dies je gesprochen werden
könnte! und nicht die den Beobachtungskreis einengende Zeit-
spanne schon ihr Veto einlegte. Selbst unserer auf allen
[125] Seiten durch mathematische Formeln gesicherten Astronomie
könnte Missgunst vorhalten, dass eine ihre bisherige Lebens-
dauer weit übersteigende Zahl von Jahrhunderten hindurch
die frühere Theorie der Epicykeln ebenso sicher und fest
gegolten, und dennoch vom Abend auf den Morgen plötzlich
gefallen.
Ein Dutzend Jahre hindurch schien jeder Zweifel an
der Descendenztheorie Ketzerei, und dennoch hatte man so-
manche Theorien in nächster Nähe, die gleiche oder längere
Zeit hindurch mit Enthusiasmus begrüsst und betrieben
waren, ohne deshalb vor dem Sturze, als ihre Zeit gekom-
men, bewahrt zu werden.
„Die Vorstellung vom schraubenförmigen oder spiraligen
Gang der Entwicklung sämmtlicher Sprossungen der Pflanze
ist nicht nur eine unzweckmässige Hypothese, sie ist ein
Irrthum“ (s. Hofmeister), aber nichtsdestoweniger bleibt
Schimper’s Theorie (von der Blattstellung nach Zahlenverhält-
nissen und geometrischer Construction) „eine der beachtens-
werthen Erscheinungen in der Geschichte der Morphologie“,
weil sie überhaupt eine consequent durchgeführte Theorie
ist (s. Sachs), wie Brown’s in der Medicin (seit 1780).
So liegen auch die Einwürfe gegen die Descendenzlehre
nicht darin, dass sie auf Grund der von Darwin mit be-
wundernswerthem Scharfsinn und ausdauerndem Sammelfleiss
angeordneten Thatsachen eine Theorie*) entworfen, dass sie,
was, wie in vergleichender Anatomie der Zoologen, De Can-
dolle botanisch im Symmetrieenplan des Typus auszudrücken
[126] suchte, in unabhängigere Beleuchtung gestellt, dass Entwick-
lungsvorgängen (wie bei Nägeli’s Gewebezellen aus der Scheitel-
zelle) allgemeinere Anwendung gegeben, sondern in dem
vornehmlich, worin über das soweit sicher Constatirte weiter
hinausgegangen wurde, als die Bewahrung des Schwerpunkts
erlaubte (bis zu eigener Negirung*) in Einführung philosophi-
scher Zersetzungskerne aus dem Absoluten**) in die natur-
[127] wissenschaftlich gefestigten Relativitäten), in der Täuschung
zunächst, dass das Gebiet der Naturwissenschaften bereits
**)
[128] zu überblicken sei, so lange die Psychologie*) darin noch
fehlte. „Die Behauptung, dass die sinnliche Erfahrung alle Er-
fahrung erschöpfe, ist so ungerechtfertigt, wie etwa die Be-
hauptung, dass alle Materie Schwere besitze“ (Wundt).
Mit dem Anschluss an die Physiologie ermöglicht sich
für die Methode die naturwissenschaftliche Durchbildung
der Psychologie, und in den Gesellschaftsgedanken**) wird
**)
[129] ihr die Ethnologie jetzt das bisher mangelnde Material be-
schaffen. Σὺν Αϑηνᾷ καὶ χεῖρας κίνει!
Nur innerhalb von Raum und Zeit, und den relativ
dort gegebenen Verhältnissen, kann eigene Thätigkeit Klar-
heit des Gedankens erlangen, Einblick in Ursache und
Wirkung, Zweck, Entwicklungsphasen u. s. w. Wenn über
das Räumlich-Zeitliche hinaus, wir in das Ewig-Unendliche
des Entstehens eintreten, verschwinden, mit Anfang und
Ende, alle daran geknüpfte Folgerungen, und bleibt uns nur
ein Unbekanntes*), das in deutliche Rechnungen eingeführt,
**)
Bastian, Völkergedanke. 9
[130] diese verundeutlichen, ja als Null völlig negativiren würde,
da mit den soweit bekannten Rechnungsmethoden die für
Auflösung erforderliche Formelfassung eben noch unfassbar
ist. Zum Verständniss eines Dinges müssen die für sein
Bestehen zusammenwirkenden Bedingungen bekannt sein,
wogegen für das Entstehen des Tellurisch-Solarischen die
Wurzeln in einem kosmischen Jenseits liegen, über dessen
Abschluss es auf dem heutigen Standpunkt der Kenntnisse
noch gänzlich unmöglich bleibt, eine irgend entsprechend
angenäherte Vorstellung hervorzurufen. Wir verstehen natur-
wissenschaftlich die Kräftewirkungen im Stoff, die Materie
selbst aber ist vorläufig als gegeben anzunehmen, und wenn
wir auch in soweit zulässiger Theorie bis auf einen nebularen
Ursprung zurückgehen mögen, sind wir damit doch von
*)
[131] erster Entstehung noch ebenso weit entfernt, wie vorher.
Wenn aus den Folgereihen der Bildungsprocesse der Planet
Erde hervorgeht, so sind die Elemente als solche anzunehmen,
ohne dass wir uns jedesmal Rechenschaft geben könnten,
weshalb aus ihren Combinationen etwa diese Felsarten hier
oder jene dort vorwiegen möchten. In gleicher Weise muss
in einer bestimmten Phase aus der Wechselwirkung des
Tellurischen und Solarischen das jedesmal organische Leben
(in specieller Modification des, allem Bestehen überhaupt
bereits, in Urprinzipien vorauszusetzenden Lebens) aufsprin-
gend gedacht werden, das sich in seiner geographischen
Vertheilung für characteristische Repräsentationen an be-
stimmte Localitäten geknüpft zeigt. Beim Studium geolo-
gischer Vor-Epochen (soweit bereits genügende Daten für
deren Gleichartigkeit über die Gesammt-Oberfläche des Globus
vorliegen) mögen wir aus Vergleichung früherer Revolutionen
suggestive Aufklärungen erhalten, auch für das vegetabi-
lische und animalische Leben, das im beschränkten Maass-
stabe, als beständig noch schöpferisch fortwirkend setzbar,
während betreffs des Erscheinen’s seiner dominirenden Vertreter
die Bedingungen an eine dafür günstige Entwicklungsstadiums-
Phase geknüpft, zu supponiren sind. Die daraus hervorge-
gangenen Typen werden jedoch (innerhalb der Spielweite ihrer
Veränderungsmöglichkeiten im Wachsthum, unter mikrokos-
mischer Wechselwirkung mit der Aussenwelt) ebenso stabil
zu setzen sein, wie die chemischen Elemente, so lange die
physikalischen und physiologischen Gesetze der inductiven
Naturwissenschaften unter die für sie adoptirten Grundlagen
fortgelten.
Statt in bequem hypothetischer Weise den (von ersten
Atomen zurückconstruirten) Ursprung des Lebens von einem,
nach momentan vorwiegenden Liebhabereien gewählten, Mittel-
punkt über die Erde zu vertheilen, bleibt uns die schwierigere
Aufgabe, in der Mannigfaltigkeit des Organischen vorerst
überall das geographisch an die Oertlichkeit der Umgebungs-
9*
[132] wandlungen Gebundene abzuscheiden, und dann die späteren
Zugaben auf den Mannigfaltigkeiten einzuschlagender Wege
(und unter der Vielfachheit der auf denselben eintreffbaren
Schicksale) zu verfolgen. Das Endziel*) läuft aus in die
gesetzliche Harmonie der Kräfte, die den Menschen auf
geistig-körperliche Gesundheit**) im nationalen Gesellschafts-
bande hinweist, um im ungestört organischen Fortschritt
geistige Schöpfungen im All zu zeitigen.
De non existentibus et non apparentibus eadem est ratio,
wie gleiches auch für das Gegentheil gilt, und indem das
Seiende (oder einmal Gewesene) wieder in Nichtseiendes
nicht verschwinden kann, stellt sich die Fortdauer***) fest,
[133] nicht als solche in dem elementar zersetzenden Kreislauf stoff-
lichen Lebens, dagegen aber in den Elementartypen selbst, für
jeden Gedanken, der harmonisch im Selbstbewusstsein aufsteigt,
und so auch dieses einschliesst. Würde das Denken als ein
***)
[134] Produkt der Hirnwindungen betrachtet, wie Wärme vom Feuer,
Duft von Blumen ausgehend, so liesse sich in Parabeln weiter
festhalten, dass wie die Wärme auf materielle Körper der
Umgebung, der Duft auf nahe Sinnesorgane einwirke, so auch
der Gedanke das verwandte Medium seiner Manifestation
finden werde (und gefunden habe in den das Zeitlich-Räum-
liche besiegenden Errungenschaften). Was freilich hat das
Feuer daran zu erwärmen, was der Duft zu ergötzen? wenn
überhaupt eine Nase treffend, möchte Naseweisheit fragen*),
und solchem Zweifler wird die Antwort nicht fehlen, sobald
er sich in die Daseinsbedingungen des Feuers oder des
Duftes genügend hineinzudenken vermöchte, um die Voraus-
[135] setzungen ihrer Zufriedenheit zu erstehen. Die unsrigen
dagegen kennen wir im Selbstbewusstsein genugsam, um zu
wissen, dass in Wechselwirkung des Geistigen mit heller Strah-
lendem (im potenzirten Gedankenaustausch der Verdichtung,
wie nach den Eigenthümlichkeiten der Menschenexistenz im
Gesellschaftsleben*) anstrebbar), höherer und höchster Genuss
[136] gewinnen, als Grundbedingung weiterer Umgestaltungen.
Manch armer Tropf durchwälzt den ärmsten Kopf mit Fragen
und Vermuthungen, die besten Falle’s doch nur wieder in
ein Glaubensbekenntniss verlaufen könnten. So mancher,
als malade imaginaire, liebt es, sich zu zermartern in der
Lebenskomödie, mit Selbstqualen. Besser, als stumpfes Hin-
brüten, ein freies Umherblicken, ringsum, je weiter und tiefer
in die Natur, desto besser. Und wenn sich dann Alles in
bester und schönster Ordnung fände? beste und schönste
Hoffnung auch auf ferneren Verlauf. Aus dunklem Ursprung
entsprossen treibt das Leben blendendem Glanze entgegen,
dem das in Aetherschwingungszahlen eingeschlossene Auge
ebensowenig adäquat ist. Doch auch hier bereits klingen in
ahnungsvoll verheissenden Tröstungen Harmonien eines Kos-
*)
[137] mos, denen harmonisch Gebildetes adäquat sein muss, Eine
Bedingung, also nur für den, der an der Alles durchströmenden
Glückseligkeit theilnehmen will, und dies die Bedingung,
naturgemäss geistiger Gesundheit: klar und wahr zu sein
mit sich selbst (in harmonischer Sympathie mit der Um-
gebung), — denn der Kranke und Elende verfällt dem Pessi-
mismus, und an ihm, wenn es zu gruseln beginnt, haben
sodann die Priesterärzte zu heilen*). Dafür nun die Illustra-
tionen aus der Ethnologie, wie, wann und wo beliebt und
in jeder Auswahl obendrein.
Ohne durch die Existenz-Möglichkeiten in einem Jen-
seits**), worüber sich nach der planetarischen Stellung des
[138] Menschen ein klarer Durchblick nicht erlangen lässt, abgezogen
zu werden, ist die gesammte Energie und Thätigkeit auf die
(in directer oder indirecter Weise auf das Engste mit dem
Fortschritt der Wissenschaft verknüpften) Verbesserungen des
gegenwärtigen Lebens in seinem staatlichen Gesellschafts-
organismus zu richten, und im Festhalten an der von der
Natur überall und deutlichst verkündeten Lehre, dass für
Wohlfahrt und Wohlergehen die erste unerlässlichste Grund-
und Vorbedingung in der Gesundheit gegeben ist, wird
ein Anstreben, auch geistiger, Gesundheit die idealen Interessen
**)
[139] der Menschheit besser hüten, als tröstende Vorspiegelungen,
die, wenn sie nichtig verwehen, mit um so härterem Fall den
bedrohen, der auf sie sich stützen zu können wähnte. Auch
hier wird an die Stelle des Meinen und Scheinen, der trüge-
rischen Glaubensschwankungen*), dann der deutlich klare Aus-
spruch des Wissens treten, dem jedesmal erreichten Stufen-
grade gemäss. Für solch naturwissenschaftliche Durchbildung
der Psychologie in der Wissenschaft vom Menschen hat die
Ethnologie das Material zu beschaffen, — und rasch**) mög-
lich, ehe zu spät dafür auf immer (wie es droht).
Il est bon de se choisir dans le passé des amis, qui
ne changent ni avec les années ni avec les revolutions, ni
avec le malheur (s. Laboulaye), in den Büchern der Biblio-
philen oder (s. Wins) der Bibliomanen, und so lebt der Ge-
lehrte in seinem Studio mit den Edelsten der Geister, die
vor ihm auf der Erde erschienen, im trauten) Verkehr. Doch
wie viele ihrer auch zählen mögen in den Bänden an den
Wänden, wie verschwimmen diese Individuen in der Fluth
der Geschichte, die des Menschengeschlecht’s Entwickelung
trägt! In den Wogen seiner Gedanken, wenn ringsum in
der Völkerkunde entfaltet, wird ein neues Leben schwellend
emportreiben, schwellend und erstarkend, je mehr die aus allen
Zonengürteln des Erdballs herbeiströmende Geistesnahrung
jeden Einzelnen mit durchwallt, in dem das Gesammte um-
schlingendem Bande.
In Nachstehendem noch einige Ergänzungen betreffs der Eheverhält-
nisse (und Anschliessendes) zu den früheren Behandlungen dieses Thema’s
z. B. Zeitschrift für Ethnologie Bd. VI, S. 380; Bd. X, S. 43. Rechts-
verhältnisse (Berlin 1881) u. A. m.
Bis zur Feststellung, durch staatliche Gebräuche, der mono-
ganischen*) Ehe, „the creature of the social system“ (s. Morgan), treten
aus den in wilder Ehe bei ursprünglicher Paarung — the agree-
ment of the parties and consummation, bei Bushman (s. Sparmann) —
in den hie und da zusammengeschlossenen Gruppen (nach den
Kreuzungslinien in den Heirathen modificirt), neben polygamischen
auch polyandrische Formen in die Erscheinung.
In Lancerota (zur Zeit der Entdeckung) und, von Caesar in
Britanien erwähnt, findet sich Polyandrie**) bei den Pandu (des
Mahabharata) und in Ceylon (nach Tennent) „amongst the wealthier
classes“, während sie in Tibet von Horatius della Penna auf die
Aermeren beschränkt wird, dann bei Toda***), Saporoger, May-
pures u. s. w. genannt.
In Tibet wurden nur solche Mädchen geheirathet, die einem
Reisenden zugeführt, von ihm einen Ring empfangen hatten (nach
Marco Polo†), wie bei den Sifan (nach Garnier) oder in Yunan (nach
Martini), sowie in Lydien (bei Aelian) u. s. w. Cooper sollte am
Kinsha Kiang verheirathet werden, als Reisender. In Lybien trugen
[142] die Frauen die von den Liebhabern erhaltenen Ringe an den
Knöcheln (nach Herodot). Am Congo beweist sich die Gastlich-
keit in Ueberlassung der Frau und so (nach Muir) früher in Europa.
In Arracan wurden die Matrosen für Zwecke der Entjungferung
gesucht, was anderswo den Priestern (den Butios u. s. w.) auflag.
In Caindu wurde Frau Tochter und Schwester dem Fremden
überlassen, damit dieser mit ihnen im Hause wohne, weil dies
Glück seitens der Götter bringe und Reichthum (wie ähnlich in
Kamul) und (nach Bernier) im Himalaya, dann bei den Massageten
(nach Strabo), Bactrier (nach Eusebius), Hazaras (nach Elphin-
stone), auf den Ladronen (nach Mendoza), auf den Canarien
(s. Major), bei den Nairs u. s. w. (s. Yule). Nach Scheinehe durch
Tali mit einem gemietheten Mann, kann das Mädchen (bei den
Nour) als Amato männliche Besuche empfangen (besonders von
den Namburi-Brahmanen, die sich dann reinigen). Bei den Vellala
in Coimbatore lebt der Vater mit dem erwachsenen Mädchen,
das seinem Sohne im Knabenalter angetraut ist (s. Jagor). Bei
den Tottgar in Madura lebt die Frau mit den Verwandten*) des
Mannes, besonders den Oheimen (nach Cornish). Bei den Thlin-
kithen hat die Wittwe ein Jahr den Verwandten des Verstorbenen
zu dienen. Bei Wiederverheirathung einer Wittwe wurde der Reipus
gezahlt (im germanischen Recht).
Wenn die Wittwe bei Damara, Haidah, Samoa u. s. w. auf
den Bruder übergeht, oder bei Egba, Mishmis u. s. w. dem Sohne
zufällt, ergiebt sich das aus dem Eigenthumsrechte des Erben auf
ein gekauftes Gut, so lange nicht Exemptionen durch Verträge
gesichert sind (wie in Padang).
Die Samojeden heirathen ausserhalb der Geschlechter, und so
die Jakuten in andere Geschlechter hinein. Die Horden der Kal-
mücken heirathen kreuzend nach Aussen (s. Hell). Die Ostjaken
dürfen eine Frau gleichen Namen’s nicht heirathen, und dies war
auch bei amerikanischen Stämmen verboten. Unter den Pihsing
(Hundertfamilien) trugen Mann und Frau verschiedene Namen (in
China). Verwandtschaft verbietet Heirathen (s. Du Chaillu), doch
heirathet (unter Bakalai) der Sohn die Wittwen des Vaters (ausser
der eigenen Mutter). Cimon heirathete seine Halbschwester Elpinice
(von verschiedener Mutter). Der Brahmane darf eine Frau, deren
Ghotra (Kuhstall) oder Geschlechtsname gleichartig ist, nicht
[143] heirathen. Die Danaiden, Töchter des Danaus, Bruder des Aegyptus,
flohen vor der Heirath mit den Söhnen dieses (nach Argos). Weil
aus dem Thum heirathend, gehören (bei den Magar in Nepaul)
Mann und Frau verschiedenen Stammesgeschlechtern an. Bei den
Yurak und Kasovo darf nicht innerhalb der Verwandtschaft ge-
heirathet werden. Die Guarani durften keine Verwandten heirathen
(nach Dobrizhoffer).
Bei den Telush der Circassier müssen nicht nur die Mitglieder
des Stammes, sondern auch ihre Leibeigenen nach Aussen hin
heirathen. Die Rajputen betrachten sich in den weitesten Ver-
zweigungen des Stammes als Verwandte, die, als Bruder und
Schwester, nicht miteinander heirathen können. Da für das Mädchen
ein Ehemann von hoher Kaste zu suchen, nahm, wegen der wach-
senden Schwierigkeiten, (und zugleich der hohen Unkosten bei Ver-
mählungen) die Tödtung der Mädchen mit dem hohen Rang der
Kaste zu.
Den Arowaken war verboten in das Geschlecht der Mutter
zu heirathen (s. Berau). In Yucatan (s. Landa) durfte nicht in
die Verwandtschaft des Vater’s geheirathet werden. Nach Herrera
vermieden die Maya Heirathen vom gleichen Stamm mit dem
Vater. Bei den Mantschu ist die Ehe verboten zwischen Personen
verschiedener Familiennamen. Unter Arabern hat der Vetter
nächstes Anrecht auf die Base. Ehelosigkeit*) wird bei den Erular
(s. Harkness), Teehur u. s. w. erwähnt (und weiterer Communismus).
Bei den Locrern (in Italien) wurde der Adel von den Stammes-
müttern gerechnet (nach Polybius). Die Colonisten von Lyktos
betrachteten sich mit den Spartanern verwandt, weil von sparta-
nischen Müttern, sowie die Athener, wegen der durch die Pelasger
von Brauron nach Creta gebrachten Frauen. Die Geschlechter
folgen in weiblicher Linie bei den Ashango. In Guyana pflanzen
sich die Familien (der Siwidi, Kamafadi, Onisidi u. s. w.) weiblich
fort. Bei den Banyai zieht der Mann zum Dorfe der Frau, dort
zu wohnen (der Schwiegermutter dienend). Bei Trennung unter
den Irokesen folgten die Kinder der Mutter. Fand bei den Azteken
eine Trennung statt, blieben die Töchter der Mutter, die Söhne
dem Vater*).
In römischer Ehe ging die Frau in manum viri über, als
Tochter. Liberorum quaerendorum causa wurde die Ehe geschlossen
[145] (s. Quinctilian) und παιδοποιεῖσϑαι γνησίως (bei den Griechen).
Die Genossenschaft der Familie stand (bei den Germanen) unter
dem Mund der väterlichen Gewalt, aber „puyssance de père
en France n’a pas bien“ (unter den Franken). Die männlichen
Kinder sind (bei Germanen) Miteigenthümer, neben dem Vater des
Allodialgutes, das nicht veräussert werden darf (weder inter vivos
noch testamentarisch). In Rom wurden testamente in den Comitia
curiata vollstreckt (als Comitia calata). In der Erbschaft stand der
Gentilis vor dem Cognaten (und waren Schwesterkinder, als anderer
Gens angehörig, ausgeschlossen). Agnaten sind alle Cognaten in der
männlichen Linie abstammend, neben den durch Fiction in die
Familie aufgenommenen Personen. Waren in Athen bei Mangel
von Söhnen nur Töchter als Erbinnen (ἐπικλήρες) mussten sie den
Nächsten in der Verwandtschaft heirathen, obwohl sonst Heirathen
im gleichen Stamme verboten waren. Nach den zwölf Tafeln erbten
erst die Kinder (mit der Mutter), dann die Agnaten oder sonst die
Stammesangehörigen. Eine einzige Tochter hiess nach der Gens
(wie Tullia, Cicero’s Tochter), dann, nach der zweiten (Minor) oder
Major, wurde gezählt: Tertia (Tertulla), Quarta (Quartilla) u. s. w.
In den jüdischen Geschlechtsregistern wurden nur die männlichen*)
Descendenten aufgeführt (neben den Erbtöchtern oder den für die
Geschichte des Stammes bedeutungsvollen Frauen). Heirathen**)
konnten in allen Graden der ἀρχιστεια oder συγγένεια stattfinden,
aber nicht innerhalb des γένος (s. Becker). Durch Heirath gingen
(in der Deminutio capitis) die agnatischen Rechte der Frau verloren
(in Rom).
An der Spitze des γένος stand der ἄρχος, als Häuptlig, an der
Spitze der Gens der Princeps (in Rom), und jeder Gens sandte
ihren Decurio in den Senat. Die Mitglieder der Gens (bei den
Griechen) gelten als ὁμογαλάκτες. Mit 100 Gentes einigte sich der
lateinische Stamm der Ramner in Rom, dann der sabinische der
Tities und weiter der (besonders mit Etruskern) gemischte*) der
**)
[147] Lucerer unter Senat, comitia curiata und rex. In der claudischen
Gens (unter Appius Claudius aus Regili nach Rom gekommen)
war die Familie der Claudier patricisch, nicht jedoch die Familie
der Marcelli. Die Gens Cornelia begriff die Scipionen, die Lentulus,
die Cossus und die Sylla. Die Claudier, von den Sabinern zuziehend,
erhielten ihr Familiengrab auf dem Capitol. Der von Maroboduus
nach Rom gesandte Kopf des Varus wurde vom Kaiser in das Grab
der Gens beigesetzt. Zu Cicero’s Zeit trat an Stelle des gemein-
samen Grabes der Gens das Familiengrab.
Die dem γενος aufliegende Blutrache wurde (zu Orestes Zeit)
über die Phratrie erweitert (bei Aeschylus). Das durch Draco
auf die gens des Getödteten beschränkte Recht der Strafe wurde
von Solon auf die Bürger übertragen, um das allgemeine Interesse
zur Geltung zu bringen, und ebenso wurde die Freiheit des Indi-
viduum gefördert, indem Solon das Recht des Testaments verlieh,
während bis dahin Eigenthum in der Gens gemeinsam vererbt war.
In Rom hatte der pater*) familias das jus vitae necisque mit
dem Recht auf alles Eigenthum (und als libripens oder emptor
familiae übernahm der Erbe alle Rechte und Pflichten des Testator),
aber das Castrense peculium wurde später von der patria potestas
abgeschieden, und ähnlich gewährte das Recht des Krieges den
Plebejern Güter von den Eroberungen, obwohl ihnen der ager
romanus versagt war, ausserhalb welches Grenzen die Secession
*)
10*
[148] nach dem Mons sacer stattfand. Aus Vereinigung der Stämme
bildete sich der populus romanus, aber die Plebs war von den
Comitia curiata ausgeschlossen, also (ausser den mit Patriciern
verbundenen Plebejer) ohne Rechte. Connubia promiscua habent
more ferarum (die Plebejer). Plebs*) gentem non habet. Im
Widersinn gegen die Aristocratie war die Plebs daher der Ein-
setzung der Könige geneigt (als Tyrannen im Sinne der Griechen).
Nach Lycurg’s Rhetra sollten die Stämme und Obes unver-
ändert erhalten werden. Die drei Stämme (Hylleis, Pamphyli und
Dymanes) zerfielen in ὠβαι (in Sparta). Die Jonier Attika’s waren
in vier Stämme getheilt, als Geleontes, Hopletes, Aegicores und
Argades. Neben den Pedier wohnten die Diacrier in den Bergen,
die Paralier am Meere. Die τριττυς bildeten sich aus den ναυκραρίαι
(zwölf Haushalte aus jedem Stamm), in Eintheilung der Maori nach
Canoe (der Einwanderung von der Seeseite gemäss) wiederholt.
Mit Trittyen wurden Verbindungen von vier Naukrarien begriffen.
In Verschmelzung der Gaue der Ramnes, Titier und Luceres
ging (als Synökismus) Rom**) hervor, wobei Drittel zu Tribus
[149] wurde (s. Mommsen), wie Trifo (umbrisch) oder τριττυς (attisch).
In den Nachkommen der Senatoren*), als principes, qui appellati
sunt propter caritatem, principes (s. Cicero), wurden die Patricier
geschaffen (von Romulus), patres certe ab honore patriciique pro-
genies eorum appellati (Livius), auch Erhebung unter die Patricii
wegen Verdienste stattfand. Gegenüber den Senatoren der Ramnes
und Tities, als patres majorum gentium, wurden die der jüngern
Luceres als patres minorum gentium bezeichnet. Unter Bezeichnung
der Optimaten im Senat als Patres**), folgten ihre Söhne „als Patricier,
und nach Vellejus Pat. sind „nomen Patriciorum von den (100) Patres
abgeleitet. Wie Numa (gleich Theseus in Athen) das Volk nach Klassen
oder Beschäftigungen***) (s. Plutarch) theilte (als Erzarbeiter, Töpfer,
Steinschneider, Goldgiesser u. s. w.), so Servius Tullius nach dem
Vermögen (neben den ausgewählten equites) in fünf Classen, in
den comitia centuriata (als exercitus) zusammenberufen, und solch
militärische Einrichtung (wie Solon, neben den Beamten, die Reiter,
Schwerbewaffneten und Plänkler stellte) bedingte dann zugleich die
Scheidung in Seniores und Juniores†). Jede Centurie zerfiel
**)
[150] (nach Vertheidigungs- und Angriffswaffen) in die Aelteren über
55 Jahr, und die Jüngere über 17 Jahr (unter Verbindung der
Patricier und Plebejer in den Legionen). Man schied nicht mehr
dreifach die (τὰς τρεῖς φυλὰς τάς συγγενικάς) φυλὰς τὰς γενικάς,
sondern vierfach (von Servius eingerichtet) die φυλὰς τὰς τοπικάς
(nach Dionysius), in Verbindung der Metoiki mit den Bürgern
(unter den tribus rusticae).
Die öffentlichen Opfer gehörten nicht dem Priester, sondern
dem Könige, als Prytanen oder Archonten (s. Aristoteles), gleich
βασιλεῖς ιεροὶ (bei Pindar). Der Kriwe Kriweito (in Romowe)
stand höher in Ansehen, als der König (nach Helmold). Die Lu-
cumonen, als etruskische Magistrate, die Tages’ Lehren entnommen,
bedeuteten (nach Festus) Besessene.
Die Butaden stellten die Priester der Athene Polias, wie die
Priester des Poseidon Erechtheus in der Acropolis. Die ἱερόποιοι
legten die Orakel aus (in Athen). On pouvait hair ou mepriser
les dieux de la cité voisine, quant aux divinités d’un caractère
général et universel, comme Jupiter Céleste ou Cybèle ou Junone,
on était libre d’y croire ou de n’y pas croire. Mais il ne fallait
pas, qu’on s’avisât de douter d’Athéné Poliade ou d’Erechthée ou de
Cecrops (s. Coulange*).
Die γένη, welche die ἀνδρας (oder Familienväter) der Familie
(oder οἶκοι) vereinigte, wurde durch das religiöse Band der πατρῷα
ἱερὰ vereinigt, und wie bei der geheiligten Speise der ϑεοι ἐγγενεις
waren Fremde ausgeschlossen. In Argos durfte kein Fremder den
Tempel der Hera (als Nationalgottheit) betreten. Die Ὀργεῶνες
(von ὀργιάζειν) traten als Mitglieder von Genossenschaften zur Aus-
übung eines gemeinsamen Cultus zusammen (s. Harpokrates). In
den Familien**) wurden die Manen-Opfer den Vorfahren gebracht
und von den Nachkommen erwartet. In Athen wurden die Skla-
ven am Heerde dem Familiengott durch Wasserbegiessen geweiht,
unter Zusammenessen von Früchten und Kuchen, gemeinsam mit
den Mitgliedern der Familie. Unter den Maori blieben Kriegs-
sklaven ohne Atua, da sie die eigenen verloren, und denen ihrer
Herren nicht zugetheilt wurden. Die Lidi werden vom Lehn ab-
sorbirt.
Beim vierjährigen Reinigungsfest*) (unter dem Censor) wurde
(in Rom) das Sühnopfer**) des Suovetaurile (Schaf, Schwein und
Rind) gebracht unter Zählung des Volkes (wie jährlich in Athen).
Zu den Sacra paganorum (unter den Sacra popularia) gehörten
die Lustratio paganorum, von den magistris paganorum vollzogen,
und beim Aufgehen der Saat (ulutatio carmine diaboli) wiederholt,
in der Lustratio agrorum (am Fest der Ambarvalien)***).
Die Erntegötter bleiben die wichtigsten, und die Angst des
Verhungerns macht fromm*), selbst wildeste Völker, die sonst ihre
Götter, wie die Naga u. a. m., bedrohen**) mögen, zu demüthigem
Betteln treibend oder Büssungen in allen Continenten. Wenn unter
den Preussen die Priester bei Missernten die Vermittlung Ausch-
weit’s anriefen, bekannte und beklagte das Volk reuig seine Sün-
den. Hier haben die meteorologischen Wechsel in den Jahreszeiten
die Möglichkeit eines Wechsels, also auch zum Guten, genugsam
bewiesen, während der Hinblick auf den unerbittlichen Tod, trotz
seiner Schrecken des Unbekannten, gleichgültiger lässt, da die
Deiwes Walditoyes genannten Göttinnen dem Menschen sein Todten-
hemd weben, im Gang des mechanischen Naturganzens fortwebend
zum Ende, und hier nur mit übernatürlicher***) Offenbarungskraft
eingegriffen werden könnte, wie um die Hand der Parzen abzu-
halten, den Lebensfaden zu durchschneiden.
In bestimmten Adelsfamilien erbt die Pflicht zur Opferstellung
beim Tode königlicher Familienglieder auf den Carolinen (wie bei
den Chibcha). Die Nachkommen der sieben Rishi zerfallen in ver-
schiedene Gotra (bei den Brahmanen) und das Heirathen geschieht
zwischen verschiedenen Gotra desselben Stammes†), weil sonst das
Pinda oder Ahnenopfer nicht gebracht werden kann. Nach Be-
seitigung des Königthums††), blieb dem Basileus die Priesterliche
[153] Function. Dem (römischen) Könige wurde neben seiner religiösen
Function das imperium durch besonderen Beschluss übertragen.
Sacerdotes (in Pancheia) sunt duces. Der durch das Loos be-
stimmte König in Rügen stand über dem König (nach Helmold).
Der Familienpriester gehörte früher derselben Gotra oder Klasse
an, wie der Kschatrya, in dessen Hause er lebte (und so bei den
Khatri).
In Athen wurden Eupatriden und Theten oder Pelaten unter-
schieden. Theseus theilte die Eupatridae in Geomorie und De-
miurgi. Die Vornehmen weilten (in Attica) auf ihren Demen, nur im
Kriege sich nach der Stadt zurückziehend. Quorum aliqua ratio
est (ὧς τις ἐστὶ καὶ λόγος), als Angesehenen der Stadt (bei Justi-
nian). Theognis unterschied in Megara die ἄγαδοι (als boni homines
und Goden) und κακοι. Die Armen (Dschadang) heissen, als
Schlechte, Kusagattar (schlechtgekleidete) bei den Jakuten (s. Mid-
dendorf). Die Begüterten waren gut (als boni homines).
Der Vassus (ähnlich dem Gasindus) übernahm die eidliche
Verpflichtung, dem Senior für dessen, wie beziehungsweise für sie
eigne Lebenszeit, ingenuili ordine zu dienen, mit Anspruch auf
defensio (s. Roth). Der Primus Alamannus fiel unter die Wehr-
mannen (oder Arimann) als höchster Adel der Freien. Die kriege-
rischen Begleiter der Bojaren hiessen deren Kinder oder Deti
Boyarskie (Bojarenkinder).
In Sparta befehligte*) der Basileus**) das Heer und brachte
††)
[154] Opfer (neben der Gerousia und den Ephoren). Unter Charilaos
(zur Zeit Lycurg’s) wurde das Königthum in Sparta als Aristo-
kratie begründet (nach Aristoteles). Zu Homer’s Zeiten wurden die
Könige als ανάκτες bezeichnet. Unter den Arten des Königthums
bezeichnet Aristoteles als aesymnetische die τυράννις. Neben der
βούλη (als Versammlung der Häuptlinge) und der ἄγορα (als Ver-
sammlung des Volks) stand der Basileus (als Kriegsherr). Auch
nach Abschaffung des Königthums wurde die priesterliche Function
des Basileus im Rex sarificulus bewahrt. Die Sodalitates, mit dem
Zweck einem Heiligthum angeknüpfter Opferfeuer und Festmahl-
zeiten, hiessen Collegia templorum.
Die von Numa gestifteten Handwerkercollegien (collegia opi-
ficum et artificum) versammelten sich meist ad aedem Minervae.
Den Tubicines war unter besonderer Gunst auch der Tempel
Jupiter zugestanden. Der dem Mercur geweihte Tempel wurde im
collegium mercatorum gestiftet (s. Livius), wie die Kaufleute Mexico’s
ihren Cult besassen (mit staatlichen Aufträgen). Als Inhaber der
sabinischen Sacra (retinendis Sabinorum sacris) waren die Sodales
Titii dem Cult ihres Eponym (König Tatius) gewidmet (nach
Tacitus), dicti ab avibus, quas in auguriis certis observare solent
(Sarro). Die Sodales standen unter sich in gesetzlich anerkannter
necessitudo, wie die cognati oder affines (s. Marquardt). Die
Gens einigt sich im religiösen Band.
Das von dem Sohne im Kriegsdienst erworbene peculium cas-
trense bildete sein Eigenthum (zur Zeit Augutus’). Res Nullius
wurde Eigenthum durch occupatio. „Absolutes Zueignungsrecht*)
**)
[155] des Menschen auf alle Sachen“ folgt nach Hegel, denn „jede Person
hat das Recht, in jede Sache ihren Willen zu legen“.
Das Eigenthum blieb in den Gens (in Athen), bis durch Solon
diese Bestimmung auf den Fall eines Testaments beschränkt wurde.
Weil im Jubeljahr ohne Kaufschilling an den ursprünglichen Be-
sitzer zurückfallend, konnte Grundeigenthum nicht verkauft, son-
dern nur cedirt werden (bei den Indern). Den Vereinigungen von
Geschlechtern und Verwandten (gentibus cognationibusque homi-
num, qui una coerint) ward jährlich (bei den Germanen*) Land
angewiesen (nach Caesar).
Im Gefolge des Kriegsherzoges entwickelte sich der Feuda-
lismus, mit weiteren Formen des Hofadels. Jeder (unter den In-
dianern) konnte einen Kriegszug**) organisiren, „by giving a war-
dance and inviting volunteers“ (s. Morgan). Und so der Scythe,
auf der Ochsenhaut sitzend (s. Lucian), oder der Germane (bei
Tacitus). Devoti, quos illi soldurios appellant (in Gallien),
des Häuptlings (s. Caesar), wie bei Jolof. Der Teuchli
(Krieger), als höchster unter den Häuptlingen der Azteken,
wurde geehrt durch einen Gehülfen mit Sitz hinter ihm (s. Cla-
vigero).
Samoa*), wo in den Fono oder Versammlungen die Malo oder
Siegesparthei die Tulu-fono genannten Gesetze erliess, wurde durch
Factionen regiert, wie (zur Zeit Caesar’s) Gallien. An der Spitze
der einen Faction (unter den Celten) standen die Aeduer (unter
einem jährlichen Vergobret**), der seinen Nachfolger ernannte), an
der Spitze der anderen erst die Arverner, dann die Sequaner
und später die Remi.
Die (den Phylen untergeordneten) Phratrien (φρατρα oder
φρατρια), denen die einzelnen Geschlechter (γενη) zugetheilt waren,
versammelten sich am Fest der Apaturien (unter dem φρατρίαρχος)
zur Aufnahme der im Jahreslauf in der Phratrie Geborenen (wie
bei den Odjibwä die Kinder zur Aufnahme in den Midé-Orden
präsentirt werden). Nach Isaeus wurde jedes Kind in die Phratrie
eingetragen, und dem γένος des Vaters. Romulus benannte die
Curien nach den sabinischen Frauen (s. Plutarch). Die römischen
Curien unter sich oder (bei Dionysius) Phratrien standen mit ihren
Gentes unter den Tribus. Allen Phratrien der Phyle stand (in Athen)
[157] der Phylo-Basileus vor (aus den Eupatriden). Die πατρα (nach
Dikaearchus) erweiterten sich zu Phratria durch Einheirathungen
(nach Steph. Byz). Nestor rieth Agamennon, die ἀνδρας zu ordnen
κατὰ φῦλα, κατὰ φρήτρας (bei Homer), wie die Germanen*) (bei
Tacitus). Theseus begründete die Synoikia, indem er die Beamten-
schaft (Prytaeia mit Archonten) aus den Kome in der Polis zu-
sammenführte.
Die Phratrien feierten das gemeinsame Fest der Apaturien. Bei
den Festen von Theoenia, Apaturia u. s. w. wurde an den Festen**)
der gemeinsamen Stammväter ein Gott verehrt. Nach Dionysius
hielten die Curien (in Rom) ein Mahl vor dem Gotte (auf Holz-
tischen speisend, aus irdenen Gefässen). Die Sacra pro curiis be-
standen in Opfern und gemeinsamem Göttermahl. In Athen be-
gleitete die παρασίτοι den Archoten zum Fest. Die Häupter der
Tribus***) nennt Dionysius τριβῶν ἡγεμονίας (in Rom). Der Tri-
bunus stand an der Spitze der Tribus (als φυλοβάσιλευς). Nach
Stephanus von Byzanz ging die Patria (πατρᾶ) in Phatria oder
Phratria über, als Aussen-Heirathen Platz griffen.
Nachdem Hä-go-went-hä (Hiowatha) durch den weisen Da-gä-
no-we-dä (der Onondaga) die Gesetze des Bundes für die Irokesen
hatte verkünden lassen (bei der Sitzung am See Onondoga), ver-
schwand er in einem weissen Canoe.
Neben den Sachems†) (des Friedens) oder Ho-gar-na-go-war
und dann für Verhandlungen, als Ha-sa-no-wä-na stand der Kriegs-
[158] häuptling oder Hos-gä-ä-geh-da-go-wä, als zweifacher, aus dem
Wolf und der Schildkröte der Seneca (weil von Westen besonders
Angriffe drohten) im Nun-da-wä-o-no (grosses Hügelvolk). Der
Sachem des Stammes fungirte im Bunde unter Annahme des für
das Amt festgestellten Namen.
Die Sachem (durch Aufsetzen von Hörnern geweiht) oder
Hogar-na-go-war wurden gewählt als Berather des Volkes oder (bei
Aeschylos, δήμου προβούλοι, neben dem Ha-sa-no-wä-na (erhabener
Mann) oder Häuptling. Die Doppelheit der Kriegsführer entsprach
der spartanischer Könige oder der Consul in Rom. Während die
Sachem, als Sä-ke-mä, bei den Delawaren erblich, waren sie bei
Irokesen*) vom Bunde gewählt. Nachdem bei Eröffnung des Rathes
der Ceremonien-Meister das (von den Sachem umwandelte) Feuer
gerieben, rauchte er gegen Zenith, Boden und Sonnenstand (Grosser
Geist, Erde und Sonne) zur Dankbringung**) (bei den Irokesen).
Die bei der Bundesversammlung vortretenden Sachem jedes
Stammes theilten sich in Classen nach den Geschlechtern, denen
sie angehörten, und hatte zuerst Einigkeit unter sich herzustellen
(dann im Ganzen).
Die in der Anordnung der Wampum hingesprochenen Ueber-
lieferungen wurden bei Trauer im Rath oder Hen-nun-do-nuh-seh
†)
[159] (wenn der Name einen Nachfolger verlangte) vor der Versammlung
durch Auslegen (von den Onondaga-Sachem) gelesen.
Die Stämme*) der Irokesen zerfielen in De-a-non-da-a-yoh
(Brüdershaften oder Phratrien, als Horden) mit Bär, Wolf, Biber,
Schildkröte und mit Reh, Schnepfe, Reiher, Habicht (unter den
Seneca), indem die Heirathen von einer Abtheilung in die andere
kreuzten. Beim Ballspiel stehen sich die Phratrien gegenüber. Bei
drohendem Aussterben des Habicht traten Mitglieder des Wolfs
dahin über (unter den Seneca-Irokesen).
Zehn Familien der Afghanen stehen unter einem Spir (Weiss-
bart), zehn dieser unter einen Kandi-daser (Häuptling), dieser unter
dem Malik oder Muschir, um im Chail vom Chan beherrscht zu
werden. Der Haftleng (Stamm) zerfällt (bei den Bachtiaris) in
Familien. Unter dem Geschlecht (Rod) in näherer Familienbezie-
hung steht der Stamm (Orda oder Horde).
Die Thlinkithen zerfielen in die Phratrien des Wolfes und des
Raben (mit ihren Geschlechtern in Kreuzheirathen).
Jede der zwei Phratrien (des getheilten Volkes und geliebten
Volkes) enthielt zwei Geschlechter (bei den Choctaw).
Die Chickasa theilte sich in die Phratrien des Panthers und
der Fremden (mit ihren Geschlechtern), die Mohegan waren in drei
Phratrien (des Wolf, der Schildkröte und Aal) getheilt (mit den
Geschlechtern).
Bei den Wyandot (mit 8 Geschlechtern) waren die Sachem
(jedes Geschlecht’s) erblich (vom Onkel zum Neffen), die Kriegs-
führer wählbar.
Bei den Dacota sind die Banden (worin die Geschlechter im
Nomadenleben übergegangen) durch Symbole (von Thieren) be-
zeichnet.
Bei den Punkas sind die Sachem (männlicher Erbfolge) aus
den Familiengliedern wählbar.
Die vier Phratrien der Tlascalaner standen jede unter ihrem
Kriegshaupt (Teuctli), und so finden sich vier Phratrien bei den
Azteken.
Die Manipurer und ihre Nachbarstämme (Koupowes, Mows,
Muram, Murring) sind alle in vier Familien (Koomul, Losang,
Argom und Ningthaja) getheilt (s. Mc. Lennan).
Die Stämme (Aimak) der Mongolen zerfallen in Kokhum
(Banner).
Die Häuser (Beth) oder Geschlechter der Hebräer waren in
Genossenschaften oder Bünde (Mispacah) vereinigt, und diese in
Stämmen (Matleh), wie die Leviten von den Söhnen Gersons (Libni
und Shimei), die Söhne Kohath’s (Amran, Izhar, Hebron und
Uzziel) und die Söhne Merari’s (Mahli und Mushi) zerfielen.
Bei den Arabern zerfällt der Kabyle in die Hamula und diese
in die Ashira, welche sich aus den Piyut (Pet oder Haus) zusammen-
setzt (mit Heirathen in engsten Verwandtschaftsgraden).
Unter dem Sirdor oder Häuptling zerfallen die Tomun oder
Stämme (unter einem Tomundar) bei den Beluchen (von Aleppo
durch Araber hergeleitet) in Para (unter dem Muqaddam) und diese
in Palli mit Familien.
Die Stämme der Rewas (in Fiji) sind weiter getheilt. Die
Hapu oder Stämme gliedern sich (bei den Maori) als Iwi (Knochen)
nach den Canoes, welche die Einwanderer gebracht.
Neben Neo, dem Geist des Lebens, Atahocan (dem Himmels-
herrn), Tarenyawagon (dem Thürhüter des Himmels), Agreskoe
(dem Kriegsgott) fand sich in der Höhe Atahentsic, die Himmels-
frau, die (weil in Einen der sechs Urmenschen des Himmels ver-
liebt) von Atahocan kopfüber aus dem Himmel geschleudert, auf
den Rücken einer Schildkröte (im Wasser) niederfallend, die
Zwillinge des (guten) Inigorio und des bösen Gegensatzes ge-
bar, und dann (nach Ausdehnung der Schildkröte zur Erde) eine
Tochter, von der die Söhne Yoskeka und Tho-it-sa-ron geboren
wurden (bei den Irokesen).
Auf die Erde herabkommend, zeugte der Gross-Manitu mit
der (bei der Geburt sterbenden) Erdenfrau die Kinder Manabozho
(Schutzherr der Menschen), Chibiabos (Beherrscher der Todten-
seelen), Wabasso (vor dem Licht nach Norden in der Gestalt eines
weissen Kaninchens fliehend) und Chokonipok (der Feuerstein-
Mann). Als den Tod der Mutter verursacht habend, wurde Cho-
konipok von Manabozho angegriffen, und nach langem Kampf ge-
tödtet, wobei in seinem Zerrissenwerden die Feuersteine überall
umhergestreut wurden, den Menschen Feuer zu gewähren, und
dann wurden für sie von Manabozho die Aexte, Lanzen, Pfeilspitzen,
Knochen- und Stein-Instrumente erfunden, sowie die Kunst Fallen
und Schlingen zu stellen, Netze zu verfertigen u. s. w. Als Chi-
biabos durch den Neid der Manitu auf dem Eis des See’s durch-
gebrochen war, kamen die durch den Zorn des klagenden (und sie
in die Tiefe stürzenden) Manabozho Erschreckten mit den Medicin-
[161] säcken der begünstigten Thiere und Pflanzen, um in der aufge
richteten Priesterhütte, unter Gesängen, den Grossen Medicin-Tanz
zu lehren, während Chibiabos als Herr der Todten eingesetzt
wurde. Nachdem Manabozho bei Rückkehr vom grossen Geist,
zu dem er aufgestiegen war, die Mysterien des Medicin-Tanzes be-
stätigt, verlieh er der Erdenmutter Minckumigawa die Keime, um
Gift- und Heilpflanzen (gegen Krankheiten) hervorwachsen zu
lassen, und tödtete die den Menschen feindlichen Ungeheuer (fossi-
ler Knochen), vier Geister in die Cardinalpunkte setzend. Sollte
der auf eine Eisscholle des arctischen Oceans zurückgezogene Mana-
bozho getödtet werden, wird ein Weltbrand Alles verzehren
(s. Schoolcraft). Nachdem Kichenmonedo (neben Matchemonedo) die
erste Menschenrasse wegen Undankbarkeit in einem See ertränkt,
schuf er einen Jüngling, dessen Schwester von den fünf Besuchern nur
den letzten, Tamin oder Montanun (Mais), zulächelnd empfing, wäh-
rend die übrigen bei ihrem Abwenden, todt niederfallend und be-
graben, den Tabak (Usama), Pumpkin (Wapako), Melone (Esh-
kossimin) und Bohne (Kokees) wachsen liessen (nach den Pottawa-
tomie). Der aus der Muschel hervorgekommene und vom Grossen
Geist mit Bogen und Pfeil (sowie Feuer) versehene Mann ver-
mählte sich mit der Tochter des Biber (nach den Osagen). Im
Dorf Leipe (bei Burg) zeugt der Stammherr mit Hirschkuh. Varro
enumerare deos coepit a conceptione hominum, quorum numerum
exorsus est a Jano (Aug.), una navi exul venit (in die Tiber).
Mit Janus, als Matutinus pater, beginnt der Tag. Nach Heraklit
bildete sich die Sonne jeden Tag neu, νέος ἐφ ἡμέρῃ (bei Arist.),
und so der (auf Ulea u. s. w.) gegessene Mond in vielerlei Versionen.
In der neuen Religion von Gäneodiyo bei seinem Besuche des
Himmel’s und der Hölle offenbart (1800), bezogen sich die von
Sosehawä gepredigten Lehren*) auf die Pflichten der Eltern und
Kinder zu einander, die Sorge für die Waisen, die Pflege der Alten
und Kranken u. s. w., dabei besonders die Verbote des Feuerwassers
und den Landverkauf an die Weissgesichter einschliessend.
Vorher jedoch schon durchwaltete ihre, auf Reinheit*) (des
Herzens**)) begründete, Religion der grosse Geist Hä-wen-ne-yu,
den sie im Federtanz (O-sto-weh-go-wä) feiernd ehrten.
The beliefs (der Irokesen), when brought together in a con-
nected form naturally call forth an expresson of surprise. A faith
so purely spiritual, so free from the tincture of human passion, and
from the grossness of superstition, can scarcely be credited, when
examined under the ordinary estimate of the Indian character
(s. Morgan).
Die (nach dem Naturell der Neger in den Sybaritismus epi-
curäischer***) Götter übergehende) Auffassung des grossen Geistes
deckt mit dem Monotheismus arabischer Wüsten auch die Prairien
der Indianer. Die Götzenfiguren†), wie sie bei sesshafter Handwerks-
geschicklichkeit vielarmig attributenreich, für die verschiedenartigen
[163] Bedürfnisse magischer Operationen gebildet werden, fehlen, soweit
durch Zaubersprüche noch ersetzbar, und obwohl die drei Korn-
schwestern*) Deohoko oder (s. Morgan) Our Supporter’s gekannt
sein müssen, weil zur Erhaltung des Lebens selbst erforderlich,
auch „Grossvater“**) Heno mit dem Donnerkeil, der bei den
Erntearbeiten die Luft in Gewittern verklärt, so belästigt man sich
doch mit keinem weiteren Cult der Honochenokeh („Invisible Aids“,
die von der Gottheit über die einzelnen Naturgegenstände***), in
jeden derselben gesetzt sind), ausser ihrer dankenden Erwähnung
in den Gebeten.
Anders aber nun mit Hä-ne-go-ate-geh, den die Legende zu
Hä-wen-ne-yu’s jüngerem Bruder macht, der indess auch ohne solch
mythische Schöpfung, als realiter existirend gefühlt wird, in jedem
Augenblick des Lebens, als dieses Lebens Elend und Jammer.
Ihn der, wenn kein Zoroaster in seinem Sohn Oshedar-Mah
einen Wächter gesetzt, überall sich einschleicht, wie Kurrat
der Esthen†), den man wie die Tschuwashen es gegen den
bösen Schaitan von Thore erflehen, gerne gefesselt sähe, wie Hi-
kuleo††) in Bolotu durch Mani und Tangaroa, ihn sucht man nun an
11*
[164] dem unumgänglichen Reinigungsfeste*) zu vertreiben, am besten,
wenn, wie im Jelbola der Wogulen, die Götter herabkommen (um
Neujahr). Bei irokesischem Neujahrsfest**) oder Giyewanousquä-
gowä gingen „disguised in bear skins or buffaloes robes“ (und son-
stigem Fastnachtsscherz) die Festordner (taking corn pounders***)
in their hands) bei den Häusern umher, befehlend: „Clear away
the rubbish, drive out all evil animalsҠ) (s. Morgan). Den Ost-
jaken, die ihre Verehrung an den Gott Innen Nom (da droben)
richten, sind die bösen Lus gefährlich, die sich auch in die Götzen-
bilder verstecken, und unter dem Mordwinen steht dem Gott Paas
oder Pas (bei Ersaner) oder (bei Mokshaner) Skei (Himmel) der
unterirdische Master Pas gegenüber (wie räumlich, auch im feind-
lichen Sinne).
Bei den Sorben in der Lausitz wird das an hoher Stange
befestigte Strohbild††) des Todes (wozu wer die letzte Leiche gehabt
das Hemd liefern muss) im Laufe aus dem Dorf getragen (von
Steinwürfen verfolgt) und an die Grenze des nächsten Dorfes ge-
††)
[165] bracht, hinübergeworfen, worauf die Singenden mit grünen Zweigen
zurückkehren. „Die Jugend des anderen Dorfes aber läuft ihnen
zuweilen nach, und wirft ihnen den Tod wieder zu, so dass es
zeitweis zu Hader kommt“ (s. Schwenck).
Ebenso am Alt-Calabar unter den verschiedenen Dörfern, wenn
man sich die ausgetriebenen Krankheitsgespenster gegenseitig zu-
jagt, oder auf den Nicobaren zwischen den Inseln, wenn die Süh-
nungsböte (aus Jambulos’ Zeit) statt in’s offene Meer an verkehrte
Küsten schwimmen.
Zum Schutz gegen die überall drohenden Uebel lässt sich bei
gewiegter Priesterkenntniss auch die elementare Kraft des Wasser’s,
in Aqua lustralis oder sonst, zur Purification benutzen, doch ist
dieser Sitz des mit Schaitan verwandten Jo bei den Tscheremissen
(s. Georgi) ein bedenklicher*), und die Wotjaken haben in Krank-
heit dem Wu Waschä (erzürnte Wasser) zu opfern.
Vertraulicher ist das Feuer des traulichen Heerdes, dem
Einigungsort hellenischer Familien, zumal es bei den Tschuwashen
auch durch tägliche**) Speisung kirre zu halten, um dann als
mächtiger Agni zu schützen. Bei Wiedererzeugung nach der Feuer-
löschung kommt es besonders auf die Reinheit des Materials an,
und wie den Inkas ein Brennspiegel, dient im Nothfeuer das Holz-
reiben, und dies heilige Feuer, durch Reiben von Hölzer erzeugt,
umtanzten beim Frühlingsfest die Finnen, als Hela-walkia.
Das von Ilmarinen geschlagene, von Wäinämöinen geblitzte
Feuer sprüht aus dem neunten Himmel zum zehnten, dann, als rother
Knäuel in blauem, in das Wasser des Liemo-See’s fallend, in die
Spitze der Seegräser, die in Feuersgluth klagend, vom Schnäpel
††)
[166] verschlungen werden, wie sie dann vom Hecht, dieser durch den
rothen Lachs und er weiter durch den Karpfen, für dessen Fang
zwei Brüder das Boot aushauen und aus Hanf (in der Nacht
gesäet und im Mondschein gepflügt) Netze stricken. Als durch
straffes Anspannen mit Steinen gefangen, steigt zum Aufschlitzen
der schwarze Zwerg (oder Däumling) Uros aus dem Meere, mit
Steinschuhen an den Füssen und Steinhelm auf dem Kopfe und
dann zum Bannen wird nach einem Wisser oder Seher gesucht
(s. Schwenck), mit Analogien, wie in Loki’s benachbarter Sage,
so in der fernen Maui’s u. A. m.
Wenn man beim Herumtragen der Todespuppe dieselbe in
das Fenster gucken lässt, holt im Laufe des Jahres der Tod Jemand
aus dem Hause, wenn nicht durch Geldgabe abgelöst (in der
Lausitz), wie die Popanzen in den afrikanischen Geheimbunden
zum Schrecken dienen.
Für gefährliche Operationen bedarf es priesterlicher Wagehälse,
gleich den Baksa, die bei den Kirgisen den Verkehr mit bösen
Geistern unterhalten (ähnlich den Bixu Macassar’s), oder die Wedin
(oder Wedun) genannten Zauberer, die auch die Himmelsgestirne durch
einen Ubir oder Verwandelten bedrohen mögen, bei den Wotjaken,
denen die Tuna oder Tona ihre Götter befragen und die Ludu-
Tjäss Opfer bringen, wie dem Gott Prowe (s. Helmold) der Mike
(bei den Wagriern). Bei den Kutschinzen fungiren die Kamnö für
die Tus oder Idole, bei den Teleuten die Kam als Priester u. s. w.
Sonst genügen die Familienhäupter, wie bei den Satkatatia ge-
nannten Priestern der Wogulen, und wenn bei den Mordwinen
Priester mangeln, vertreten ihre Stelle „alle guten Männer“ (Atä
genannt). Bei Tschuwashen fungirt statt der Priester oder Tschuk
Toat ein „verständiger alter Mann“ und bei Ermangelung von
Priestern unter den Tscheremissen erwählt sich jede Gemeinde
(für die Opfer) den Kart, als alten klugen Mann von „unbeschol-
tenem Wandel“ mit dem Udschö, als Gehülfen. Für die Ho-nun-
de-ont (keepers of the faith) „suitable persons were selected by
the wise men and matrons out of their respective tribes and ad-
vanced to the office (bei den Irokesen), um (neben ihrem Amt
als Censoren) die periodischen Jahresfeste anzusagen und für die
Ceremonien derselben die Vorbereitungen zu treffen.
Im Grabe liessen die Irokesen der Seele die Möglichkeit
ihren alten Gefährten, den Körper, noch ferner zu besuchen, in
dem in Assam und bei Neger zum Einstecken von Speise und
Trank, auf Madagascar zum Seelenhaschen, dienendem Loch, das
benutzt wird, während die Ingrier oder Ischorken (s. Georgi) die
Speise neben den Todten einscharren, und wenn vergangen, von
ihm gegessen glauben (wie an der Westküste Afrika’s). In Sibirien,
wie auf den Aru, steckte man dem Todten den Mund voll Speise,
denn „Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen“, am
[167] Congo um wickelt man die Leiche, wie der Verwesungsprocess
fortschreitet, mit neuen Tüchern, um sie nicht fortzulassen, wie sie
(in Amerika auch) über Feuer gedörrt wird, und die Mumien standen
in heiliger Kammer der Behausung auf den Darnley, in Central-
Amerika u. s. w., während die Lappen die Skelette am heiligen
Platze lassen (die durch Hunde gefressenen Knochen durch deren
ersetzend). Da sich das Klappergebein wird mit Fleisch bekleiden
mögen, dass das (private) Eigenthum dem Todten zu lassen (mit
Mitbegraben der Waffen, Geräthe u. s. w.) lehrte (bis auf juristische
Spitzfindigkeiten in Abfassung von Testamenten) der Rechtssinn
sowohl, wie die Furcht unheimlicher Rache (die auch das Ver-
brennen feindlicher Beute für die Götter Lua verlangenden Mo-
tive), aber im Uebrigen erklären die Naturvölker, das Fortleben
zu beschreiben, ihre bescheidentliche Unfähigkeit, wie in Betreff
der Schöpfung „da keiner dabei gewesen“ (nach unmassgeblicher
Ansicht der Abiponen*)). Vielleicht weckt**) eine Budintaia (der
Preussen) die Schlafenden für Buddha, dem unter dem Bodhi-
Baum Erwachten, in dem als Budha erneuerten (oder in Ove
[168] der Fijier gebärendem) Mond, das Sinnbild des Fortlebens bei
Eskimo und Hottentotten, die „dem Mond, als ihrem sichtbaren
Gott Ehre anthun“ und „in Betrachtung ihres Eyffer’s, den sie
darbey spühren lassen, viele Millionen Christen beschämen“, sagt
Magister Peter Kolb. Und so der Reden gar viele.
Als manche der im Vorgegangenen behandelten Gesichtspunkte zusam-
menfassend, folgt hier ein am Geographentage*) Berlin’s gehaltener Vortrag:
Meine Herren! Wenn ich Sie um kurzes Gehör bitte für
die Ethnologie und deren Aufgabe, so handelt es sich, wie
kaum erwähnt zu werden braucht, um jene neue Wissen-
schaft, die über uns gekommen ist, wie ein Dieb in der
Nacht, vor deren plötzlichen, fast unvermittelten Ueber-
raschungen, wir fragend verwundert stehen, in der wir sie
zu erkennen glauben, die lang Verheissene, die lang Ge-
suchte: die Wissenschaft von Menschen.
Vor 10 oder 20 Jahren noch kaum bekannt und wenig
genannt, hat sich die Ethnologie, — eng ihrer Schwester
vereint, der Anthropologie, — mit einem Schlage zu einer der
populärsten Wissenschaften gestaltet, getragen von der all-
gemein geographischen Zeitströmung, die wir von unserem
Vorsitzenden ausgeführt hörten. Im Jahre 1869 wurde
die erste Gesellschaft für Anthropologie und Ethnologie
auf deutschem Boden gegründet, jetzt bestehen Dutzende
von Vereinen, in stets wachsender Zahl, damals kaum eine
Sammlung, die mit Berechtigung den Namen einer ethnolo-
gischen hätte beanspruchen können; jetzt bilden und mehren
sich Sammlungen ringsumher, erheben sich selbst bereits
Museen, der neuen Wissenschaft geweiht. Wo der Zeitgeist
mit so durchschallenden Schlagworten redet, so laut und
deutlich das ausspricht was er will, würde es Anmaassung
scheinen, in einem Commentar mitreden zu wollen. Es lässt
sich nur sagen: die Zeit verlangt die Ethnologie, organisch
[170] ist sie herangereift in jahrhundertjährigen Vorstadien, jetzt
aufgebrochen aus schwellenden Knospen, jetzt ist sie da,
steht sie vor uns mit ihren Fragen; uns liegt es ob, die
Antworten dafür zu finden.
Es könnte Wunder nehmen, jetzt erst von einer Wissen-
schaft des Menschen zu sprechen, von ihr, als einer neuen,
Wunder, dass der Mensch, der die ganze Natur durchforscht,
der sorgsam Steine, Pflanzen und Thiere studirt, sich selbst
vergessen haben sollte. Und doch, so ist’s, meine Herren,
so ist es hier, wie mit dem Ei des Columbus: Es versteht
sich von selbst, sobald vom richtigen Ende angesehen. Ehe
ein Studium beginnen kann, muss ihm selbstverständlich sein
Gegenstand zur Hand sein, denn aus Nichts kommt Nichts,
und zum Bauen bedarf es des Materiales, da uns gegenwärtig
Luftschlösser aus Gedankenbildungen gewebt, für unsere
materialistischer gesättigten Ansprüche nicht mehr genügend
substanziell gelten. Die Menschenkunde unserer Tage ver-
langte also zunächst den Menschen, wie er leibt und lebt,
nicht zufrieden länger mit den Menschenschemen, wie in
Gedankenschildereien gemalt. So lange der beschränkte Orbis
terrarum den Gesichtskreis abschloss, sah man wohl Völker
vor sich, Theile des Menschen, aber der Ausblick in die
Menschenwelt konnte sich erst eröffnen, als die kühnen Ent-
decker das Meer des Nebels und des Dunkels durchbrachen,
als die Seefahrten den Globus abrundeten und uns nun von
allen Seiten desselben der Mensch entgegentrat in seiner
Gesammtheit. Damit war indess erst eine erste Möglichkeit
für Entstehung der Ethnologie gegeben, und bei dem vielen
Neuen, das gleichzeitig einstürzte, hatte noch geraume Zeit
zu vergehen, bis sich die Aufmerksamkeit unter den ver-
schiedenartigen Beobachtungsobjecten auf den Menschen als
solchen zu concentriren vermochte. Solch’ thatsächlich reale
Auseröffnung eines Terrain für das Arbeitsfeld war immerhin
erste Vorbedingung, und daran anknüpfend lässt sich sagen,
dass es drei kritische Revolutionsstadien unserer Cultur-
[171] geschichte sind, aus denen, da in ihnen die Wurzeln der
organischen Entwicklung eingebettet liegen, die Ethnologie
jetzt in ihrer Reife hervorgetreten ist.
Zuerst, wie eben genannt, diese geographische Umge-
staltung, die in Verbindung mit der astronomischen, das gäo-
centrische System in ein heliocentrisches verwandelte, den
gesammten Globus in der ganzen Weite seiner Ausdehnung
aufschliessend, und dadurch von allen Seiten sich mehrendes
Material für eine neue Weltanschauung herbeiführte. Dann,
als naturgemäss daraus folgend, die inductive Reform, die
in dem dogmatischen Scholasticismus keine Befriedigung
weiter findend, sich der realistischen Auffassung zuwandte,
und weiterhin die sozialen Bestrebungen unserer Zeit, um die
Wohlfahrt des Einzelnen als Ziel der Gesellschaft, und die
Wohlfahrt der Gesellschaft im gemeinsamen Verbande der
Einzelnen, auf die naturgemässe Lehren vom menschlichen
Dasein zu gründen, unter Betrachtung des Menschen als
Gesellschaftswesen (dem genetischen Princip gemäss: aus dem
Werden erklärt und verstanden). Die Erfolge unserer natur-
wissenschaftlichen Weltanschauung sind vor Allem der In-
ductions-Methode zuzuschreiben. Nachdem dieselbe ihre
Siegesbahn betreten, die sie im allmähligen Fortschritt vom
Anorganischen zum Organischen geführt, — als sie in der
Biologie auch die Physiologie bemeistert, da liess sich vor-
aussehen, dass sie nicht beim Körperlichen stehen bleiben
würde. An die Grenze der Physiologie gelangt, fand sie
sich der Philosophie gegenübergestellt, und dort entbrannte
jetzt der Streit um die Psychologie. Sollte sie fernerhin
den Naturwissenschaften angehören, sollte sie, wie früher,
eine metaphysische Wissenschaft bleiben? Diese Frage,
meine Herren, ist von den Philosophen selbst zuerst gestellt.
Sie wissen, es war Beneke der die Psychologie als Natur-
wissenschaft auszubilden dachte. Ihm ist darin Waitz ge-
folgt in seiner „Psychologie als Naturwissenschaft“, und in
ähnlicher Weise sind die Arbeiten angelegt von Fries,
[172] Apelt u. A. m. Sie alle strebten in gleichem Sinne, sie fühlten
den Zug der Zeit, dass die Psychologie ebenfalls eine Natur-
wissenschaft werden müsste. Der Grund, dass sie gescheitert
sind, lag eben daran, dass ihnen das fehlte, was eine Induc-
tionswissenschaft als unumgänglicher Vorbedingung bedarf,
es fehlte Ihnen das Material. Beneke dachte dies in Selbst-
beobachtungen zu finden, obwohl schon Kant auf die darin
liegende Täuschung hingedeutet hatte; daneben könnte man
dann zurückgehen auf die Seele in der Psychiatrie, auf
pathologische Abweichungen, auf die Entwickelungsstufen der
Kindes-Seele, und auf die Thierseele auch mochten vorsich-
tige Seitenblicke geworfen werden, — aber Alles das war
ein beschränktes Feld. Sobald nun dagegen einmal die Ueber-
zeugung zum Durchbruch gekommen war, dass es sich zu-
nächst überhaupt gar nicht um den Gedanken des
Einzelnen handele, sondern um den Völkergedan-
ken, um den Gedanken der Gesellschaft, da plötzlich lag
das Material massenhaft da, in Hülle und Fülle. Es strömte
sogar in solchen Fluthen zu, dass wir uns gewissermaassen
eines „embarras de richesse“ zu erwehren hatten.
Für die Ethnologie ist der Mensch nicht mehr der in-
dividuelle Anthropos, sondern jenes Zoon politikon, das den
Gesellschaftszustand als nothwendige Vorbedingung seiner
Existenz fordert. Das Primäre ist also der Völker-
gedanke, innerhalb welches sich der Einzelgedanke, als
integrirender Theil, seinen Verhältnisswerthen nach wird
fixiren lassen, und im Völkergedanken reflectirt sich die
ganze Welt geistiger Schöpfung, an den ethnischen Horizont
projicirt.
Diese ist dann allerdings, bei den Einzel-Individuen
wieder, für die Entwicklung zurückzuführen, in der Physio-
logie, auf den körperlichen Habitus, als dem (auch im
Psychischen gespiegelten) Abdruck des Milieu oder der
Monde ambiante, und damit auf die Anthropologie, die fest
gesicherte Stütze der Ethnologie, ohne welche dieselbe
[173] Gefahr liefe, sich in schwankende Phantom-Welten zu ver-
lieren.
Und dieser Gesellschaftsgedanke nun wird uns die
geistigen Schöpfungen, die psychischen Thaten des Mensch-
heitsgeistes vorführen, in den religiösen Vorstellungen, in
den Grundideen rechtlicher Institutionen und in allen Bedin-
gungen des socialen Lebens, wie es sich bald in weit-
greifenden Ergebnissen fühlbar machen muss, — denn welche
Wissenschaft könnte es für den Menschen geben, ohne sich
in der einen oder andern Weise mit der Wissenschaft von
dem Menschen zu berühren?
Die weiten und grossen Horizonte, wie sie unsere kosmo-
politische Weltstellung verlangt, jene geographische Er-
weiterung des Gesichtskreises, wie schon häufig von Klarer-
schauenden und Weiterblickenden zum Schaden unserer
gesellschaftlichen Wohlfahrt bedauernd vermisst, sie werden
durch die Ethnologie, die dem Menschen nächstliegende
Popularisirung der Geographie, am naturgemässesten herbei-
geführt, und zum Besten des Kaufmann, Fabrikanten, Diplo-
maten, Gelehrten realisirt werden, um aus der früher, so zu
sagen, mit Brettern vernagelten Welt continentaler Klein-
staaterei den Ausblick in das Universum aufzuöffnen.
Die Ethnologie gehört dadurch jener Zeitströmung an,
die von der rein philosophisch--logischen Bildung einer
realistischeren Unterrichtsform zustrebt.
Nicht allerdings, wie es manchmal in vielleicht wohl-
gemeintem Eifer geschieht, darf des Classischen hohe Be-
deutung irgendwie geschmälert werden, und am Wenigsten
würde dies der Ethnologie anstehen, die so oft Gelegenheit
hat, für eigene Controlle ihrer, weil allzu jung, noch unstäten
Principien, auf die sorgsamen Detailarbeiten classischer Li-
teratur zurückzukommen und die schwerwiegende Verdichtung
der beiden kleinen Halbinseln abzuschätzen, die so diminutiv
sie extensiv erscheinen mögen, dennoch durch ihre Intensivität
das Uebrige gleichwiegen und in Schatten stellen. In ihnen,
[174] den nächsten Vorläufern der eigenen Civilisation, wird jetzt,
wie früher die maassgebende Unterlage derselben zu gewinnen
sein, und auf ihrem, in minutieusen Gliederungen wohnlich
eingerichteten, Terrain wird gerne stets die Ethnologie ein-
kehren, wenn ermüdet, über die unabsehbaren Weiten eigenen
Gebietes formlos verschwimmenden Anschauungen zu folgen,
oder wenn etwa befähigt, in Erklärung bisher unverstandener
Archaismen, kleine Gegengeschenke darzubringen.
Neben solchem, aus engsten Focus strömenden, Inten-
sitätsglanz verlangt dann freilich räumliche Extensität, bei
statistischen Aufstellungen und Reihen (wie für die Induction)
ebenfalls ihre Berücksichtigung, und wie sehr die sogenannte
Weltgeschichte im Vergleich zu den der Ethnologie zu-
gefallenen Territorien zusammenschrumpfen würde, braucht
nicht hervorgehoben zu werden, weil geographisch Ihnen,
als Geographen, vor Augen liegend. Und in genetischer
Inductionsforschung besitzt ausserdem das Kleinste auch,
seine ihm voll zu gewährende Wichtigkeit, oft im speciellen
Fall eine grössere, als das Grosse.
Dies führt zur Betonung der wissenschaftlichen Bedeu-
tung der Ethnologie, in Einführung des genetischen Princips
in die Menschheitsgeschichte.
Aus dem Werden verstehen wir das Sein, als Gewor-
denes, so auch im Studium des Menschen, um im Rückgang
auf erste Anfangszustände den organischen Wachsthums-
process des Geistes in seinen Elementargesetzen zu enthüllen,
und damit gleichsam der Menschenkunde denjenigen Dienst
zu erweisen, durch welchen neuerdings mit dem Studium
der Kryptogamen die Pflanzenkunde für eine wissenschaft-
liche Botanik umgestaltet ist.
In den Culturvölkern stehen uns die vollendetsten
Schöpfungen der Natur vor Augen, in Pracht und Herrlich-
keit, wie die duftenden Blumen in Schmuckgärten prangend,
von erprobter Nutzbarkeit, gleich den Früchten des Land-
wirths. Die Blumen, sie waren von jeher besungen von
[175] Dichtern, die Früchte von Landwirthen gepflegt, aber dann
erst, als die Zellentheorie zum ernstlichen Studium der bisher
verachteten und vernachlässigten Kryptogamen führte, hat
man in ihnen das Entwicklungsgesetz erkannt, das es uns
jetzt in der Pflanzenphysiologie ermöglicht, auch die com-
plicirten Gebilde mit dem Auge begreifenden Verständnisses
zu durchschauen. Wie nun, nachdem wir das Zellleben in
durchsichtigen Zoophyten verfolgt, sich daraus für die Agri-
cultur sowohl (in Vorbeugung parasitischer Zerstörungen),
wie für die Medicin (in pathologischer Anatomie) allerlei
Anhaltpunkte ergeben mögen, so aus dem Begriff des Ge-
sellschaftsorganismus im einfachen Naturstamm Aufklärungen
für den eigenen auf höheren Stufengraden.
Wir haben uns somit der Beobachtung der Naturvölker
zuzuwenden, einem systematischen Studium derselben, um
zunächst in diesen einfachen Organismen die Grundgedanken
aller derjenigen Formen zu erkennen, die den Organismus
der Gesellschaft überall zusammenzusetzen haben, ob im
Grossen, ob im Kleinen. Der Vortheil liegt eben darin,
dass, indem wir hinabblicken zu diesen engen Gesellschafts-
gestaltungen, wir dort mit einem Blick, in nuce so zu sagen,
das überschauen, was, wenn wir es bei den Culturvölkern
suchen, in unendlichen Entfernungen auseinanderliegt, zeitlich
und räumlich zerstreut ist, so dass Verirrung nahe droht auf
durchkreuzenden Nebenwegen, und Verwirrung gar manche
und böse, von zufälligen Ornamenten über den Kernpunkt
der Fragen getäuscht. Sobald es uns gelungen, in den Natur
völkern den Gang der Entwicklung zu durch
schauen, haben wir dann gewissermaassen einen
Schlüssel gewonnen, um mit seiner Hülfe auch die
complicirteren Gestaltungen höherer Gebilde auf-
zuschliessen.
Darin liegt die Bedeutung der Naturvölker für die
Ethnologie, die Zeitanforderung ihres Studiums, ihres ein-
gehenden Verständnisses zum Besten höherer Cultur, und
[176] dieser Aufgabe kann um so besser Rechnung getragen werden,
weil es sich um nichts anders, als verachtete Naturvölker
handelt, noch bis vor Kurzem mit Füssen getreten, wo es
sein konnte, wie niedere Moose und Flechten. Wir mögen
sie also unbehindert analysiren, zerreissen, zerzausen, wir
können sie, ohne weiteren Einspruch, in ihren psychischen
Schöpfungen viviseciren,—wogegen wir uns den, Bewunderung
weckenden, Idealen der Culturvölker nur mit gewisser Scheu
und Ehrfurcht nahen werden, wodurch das Secir-Messer
mitunter vor allzu scharfem Einschnitt zurückschreckt.
Bei den Naturvölkern liegen keine derartigen Bedenken
vor, wir verflüchtigen sie unbekümmert im Schmelztiegel,
bis wir die Spannungsreihe der Elementargedanken klar und
reingesäubert vor uns liegen haben.
Diese Primärgedanken zu gewinnen, das ist
die erste und Hauptaufgabe der Ethnologie, und
bei ihren Materialansammlungen hat sie zunächst der vor-
aussetzungslos vergleichenden Methode der Annäherungen
zu folgen, ohne sich durch vorgefasste Theorien die Aussicht
einzuengen. Bei richtiger Rechnungsmethode müssen sich
im harmonisch regulirten Naturganzen die Resultate von
selbst ergeben, sobald wir der Gedanken-Elemente sicher
sind.
Als mit Beginn ernstlicher Forschung in der Ethnologie
das darin angesammelte Material sich zu mehren begann,
als es wuchs und wuchs, wurde die Aufmerksamkeit bald ge-
fesselt durch die Gleichartigkeit und Uebereinstimmung der
Vorstellungen, wie sie aus den verschiedensten Gegenden
sich miteinander deckten, unter ihren localen Variationen.
Früher war man durch solche manchmal bei oberflächlicher
Betrachtung getäuscht worden, mit näheren Eindringen liess
sich bald jedoch die nur local bedingte Färbung von dem
überall gleichartig darunter waltenden Gesetze scheiden.
Anfangs war man noch geneigt, wenn frappirt, vom Zufall zu
sprechen, aber ein stets wiederholter Zufall negirt sich selbst
[177] (und obwohl Ausnahmen die Regel bestätigen mögen, würde
Fortdauer der Ausnahmen sich als Regel befestigen). Dann
wunderte man sich über die curiosen Sonderbarkeiten der
Coincidenzen und bald war, wie immer, der „geheime Bautrieb“
bereit, seine Hypothesen aufzustellen, in Uebertragungen und
Künsteleien, monstruöse Völkerbeziehungen schürzend. Dies
war der gefährlichste Feind für den gesunden Fortschritt der
Ethnologie, besonders auf so schlüpfrigem Gebiet, wie das
Psychische, und um ihm vor Allem entgegenzutreten, musste
das Princip völliger Voraussetzungslosigkeit auf das Ent-
schiedenste urgirt werden, vielleicht bis zum Excess hie und
da, in Formlosigkeiten, die von der an wohlgeschulten
Formen gewöhnten Kritik keine Billigung erwarten konnten.
Indess lag hierin eine Lebensfrage für die neue Wissenschaft.
Da wir ein völlig unbekannt fremdes Gebiet betraten, durfte
die freie Umsicht nicht durch vorgefasste Theorien beschränkt
werden, durfte vorläufig selbst kein bestimmtes Ziel vor
Augen stehen, da eben die ersten Landmarken erst abzu-
stecken, um zu erwarten, welche Resultate aus zuneh-
mender Ansammlung der Thatsachen als gültige hervor-
treten würden. Jetzt in Folge des sich theilweis bereits
erschöpfenden Materials haben leitende Gesetze sich von
selbst zusammengeschlossen, und dürfen so, als nicht mit
subjectiver Absicht, sondern rein objectiv (oft wider, oder
doch ohne, eigenen Willen) gewonnen, auf naturgemässe
Begründung Anspruch machen.
Von allen Seiten, aus allen Continenten tritt uns unter
gleichartigen Bedingungen ein gleichartiger Menschengedanke
entgegen, mit eiserner Nothwendigkeit, wie die Pflanze je
nach den Phasen des Wachsthums Zellgänge oder Milch-
gefässe bildet, Blätter hervortreibt, Knospen ansetzt, Blüthen
entfaltet. Allerdings ist unter klimatischen (oder localen)
Variationen anders die Tanne des Nordens, anders die Palme
der Tropen, aber in beiden schafft ein gleiches Wachsthums-
gesetz, das sich für das pflanzliche Ganze auf wissenschaft-
Bastian, Völkergedanke 12
[178] liche Normen zurückführen lässt, und so finden wir den
Griechen unter seinem heiteren Himmel von einer anderen
Götterwelt geistiger Schöpfungen umgeben, als den Scandi-
naver an nebliger Küste, anders die Mythologie des Inder
in wunderbaren Gestaltungen des Urwald, um diesen zu
entsprechen, und so, über weite Meeresflächen treibend, die
des Polynesier. Ueberall aber, wenn den Ablenkungen durch
die auf der Oberfläche schillernden Localfärbungen wider-
stehend, gelangt ein schärferes Vordringen der Analyse zu
gleichartigen Grundvorstellungen, und diese in ihren pri-
mären Elementargedanken, unter dem Gange des einwohnen-
den Entwicklungsgesetzes, festzustellen, für die religiösen
ebensowohl, wie für die rechtlichen und ästhetischen An-
schauungen, — also diese Erforschung der in den gesellschaft-
lichen Denkschöpfungen manifestirten Wachsthumsgesetze
des Menschengeistes: das, wie gesagt, bildet die Aufgaben
der Ethnologie, um mitzuhelfen bei der Begründung einer
Wissenschaft von Menschen. Sie hat die unsichtbare Welt,
die den jedesmalig ethnischen Horizont umzieht, zu recon-
struiren, und da bei den Naturstämmen nicht auf das Rück-
bleiben dauernder Monumente, wie bei den günstiger ausgestat-
teten Culturvölkern gerechnet werden kann, da es sich in der
Mehrzahl der Fälle nur um Eintagsfliegen handelt, die
gehascht werden müssen, wie sie vorüberhuschen, ist keine
Zeit zu verlieren. Sind sie dahin gegangen, in Vernichtung
für immer, so klafft eine unausfüllbare Lücke und in ihr eine
bedenkliche Klippe für künftig erhoffbarer Erfolge, denn als
unerlässliche Vorbedingung ergiebt sich diejenige Vollständig-
keit, wie sie für Richtigstellung der Rechnungen in statisti-
scher Umschau von jeder Induction verlangt werden muss.
Sind Culturvölker allzu früh zu Grunde gegangen, so
bleibt die Aussicht, in späteren Ausgrabungen auf ihre
substanziellen Erzeugnisse zu kommen, und mit solchem
Material, was mangelhaft geblieben, ergänzend auszubauen;
[179] das Naturvolk dagegen, als ephemeres Gebilde, lässt keine
Spur, wenn einmal dahingeschwunden.
Wenn es uns im Laufe der Forschungen gelingen sollte,
die Fäden genetischer Entwicklung in der transparenten
Durchsichtigkeit der Naturstämme zu erspähen, um mit so
erlangtem Zauberspruch das gesellschaftliche Leben der Ge-
schichtsvölker, und demnach auch unser eigenes, zu Selbst-
bekenntnissen zu zwingen, so würden wir dadurch in den
Stand gesetzt sein, den socialen Organismus in naturgemäss
normaler Weise zu überwachen und vor pathologischen Ab-
weichungen zu bewahren, wir würden in der objectiven Be-
trachtung dessen, was der jedesmalige Volksgeist in seinen
Schöpfungen am geographisch-politischen Horizonte proji-
cirt hat, das zu Grunde liegende, das zeugende, Gesetz ver-
stehen, aus Entstandenem ein Entstehen, und in diesem
Falle uns selbst, als Menschen (in der bereits durch alte
Orakel geforderten Selbsterkenntniss).
Und jetzt gerade, wo uns im Contact mit den ethnischen
Welten, das Bewusstsein, oder doch die Ahnung, auftaucht der
Offenbarungen, die hier zu erwarten stehen, da bricht, mit der
Reibung des Contactes selbst, jene Feuersbrunst aus, die sie
vor unsern Augen zerstört, die verheerend dahinrast durch
alle Continente, durch Amerika, Afrika (Asien selbst hier
und da), und unter modernder Gluth leider erloschen schon
in der Weite des Stillen Oceans.
Und wir schauen gleichgültig zu, als ob uns das nichts
anginge, — statt dass ein wilder Aufschrei des Entsetzens
durch alle am Erbtheil der Civilisation Berechtigte hindurch-
stürmen sollte, wenn nicht zum Löschen, wo nicht mehr
zu löschen ist, so doch zum Retten auffordernd, was
sich beut, denn: was hier in wüthender Hast ausgetilgt
wird, das sind der Menschheit geistige Güter, die uns
gehören, uns und unseren Nachkommen, die wir
diesen wenigstens zu bewahren die Pflicht haben,
12*
[180] wenn wir sie etwa nicht selbst ausnutzen wollen oder
können.
Halbe Erdtheile, ganze Thesauren, angefüllt mit den
in tausendjähriger Geistesarbeit aufgehäuften Schätzen, sie
mag jetzt oft ein Tag mehr oder weniger zerstören*), versenken
für immer in das Reich des Nichts.
Das sind keine Uebertreibungen, meine Herren. Die
Erfahrungen neuerer Reisende, durch die eigenen letztlich
wieder bestätigt, die Jammerberichte, die von allen Seiten
einlaufen, sie machen schaudern, wer sich hineinzudenken
die Mühe nicht scheut. Man fühlt, als ob ein schweres Ver-
gehen auf Jedem laste, der wenn zum Bewusstsein dessen
gelangt, was hier auf dem Spiele steht, unthätig zurückbleibt.
Jedem freilich steht es frei, sich Verantwortlichkeiten zu
entziehen, die unbequem werden könnten. Aber genügt das
[181] Leben, als physische Tretmühle, aus der man sich je eher
je lieber befreite? Ist das Leben des Lebens werth, ohne jene
Ideale, die als aus dem Naturganzen entfaltet, ihre An-
erkennung heischen.
Man spricht vielfach von einem Aussterben der Natur-
völker. Nicht das physische Aussterben, soweit es vorkommt,
fällt ins Gewicht, weil ohnedem von dem allmächtigen Ge-
schichtsgang abhängig, der weder zu hemmen, noch abzu-
wenden ist. Aber das psychische Aussterben, — der Verlust
der ethnischen Originalitäten, ehe sie in Literatur und Museen
für das Studium gesichert sind, — solcher Verlust bedroht
unsere künftigen Inductionsrechnungen mit allerlei Fälschun-
gen, und könnte die Möglichkeit selbst einer Menschenwissen-
schaft in Frage stellen.
Damit dann aber auch die Möglichkeit eines Studiums
des Menschen nach inductiver Methode. Und ob deren
Hülfe, die angeboten scheint, allzu vornehm abzuweisen wäre?
Wir haben gar manches hinzugelernt im Laufe der
Jahrtausende, aber die grossen Geheimnisse des Daseins,
die Räthselfragen eigener Existenz, sie stehen noch vor uns
mit denselben Wunderfragen, wie sie unserer Urväter früheste
am frühen Schöpfungsmorgen angeblickt. So viel im Einzelnen
gelernt und gewonnen, der Kern des Mysterium bleibt un-
berührt, seine Lösung so fern, wie immer.
Und alle Wege, die einzuschlagen waren, sind versucht,
bald in philosophischer Meditation, der Askese ergeben, bald
in religiösem Glauben, voll Glaubensmuth, dann in forschender
Zersetzung der Materie wieder, auch in mystischer Ver-
senkung, schwärmerischer Hingabe, fanatischer Verzweiflung,
— alle und jede sind durchwandert, und alle haben sich mehr
oder weniger als Irrwege ergeben, die uns im Kampf mit der
Materie zwar manch glänzenden Sieg gewährt, aber auf geisti-
gem Terrain, hänselnd und näselnd, stets auf den Fleck
zurückgeführt, von dem der Ausgang genommen, in den
Religionsphilosophien des Wesens nicht minder, wie Indien’s
[182] und China’s, den classischen und den scholastischen Dialecti-
kern, und dem unbestimmten Sehnen des Volksglaubens
überall, in der fünf Continente Jedem.
Noch ein Versuch bleibt übrig, es ist der letzte, auch
der nächstliegende zugleich, doch ein bis dahin unausführ-
barer, weil erst mit der inductiven Wissenschaft vom Menschen
angebahnt, — der Versuch nämlich: uns an den Menschen
selbst zu wenden, ihm selbst die Antwort abzufragen. Und
wer sonst in der Natur könnte besser und berechtigter auf-
klären über das, was ihm am Nächsten liegt, als nächste
und eigene Interessen? Was wir hier suchen, wir werden
es finden, in objectiver Umschau über die Gesammtheit der
Völkergedanken, in einer Erschöpfung der Denkmöglichkeiten,
da damit das Denken an die irdisch erreichbaren Grenzen
seiner Fähigkeiten gelangt ist, und, innerhalb des so gezogenen
Horizontes, in der Harmonie des Kosmos auch die für seine
Schöpfungen harmonischen Gesetze zu finden haben wird.
Das Studium der Naturvölker wird unseren materiellen
Kenntnissen nichts Positives hinzufügen, und sonst der
fremden Culturen keine würde dies ebensowenig gewähren
können, selbst nicht die, in ihrem vollberechtigten Namen
bereits, classische, da die unsrige auf den jetzt naturwissen-
schaftlichen Unterbau sie alle weit überragt. Keines der
Völker der Erde vermag uns etwas zu lehren, wohl aber
können wir, wenn wir es wollen, von ihnen lernen, — lernen
die Entwickelung der Denkgesetze, aus deren Studium in
vorangegangenen Philosophien wir in den bisherigen Wachs-
thumsstadien unserer Civilisation bereits die kräftigste Nah-
rung gesogen. Dafür hat jetzt die Erweiterung zu einer
comparativen Wissenschaft einzutreten, mit den Hülfsmitteln
des genetischen Principes in der Induction.
Da es sich hier um organisches Leben handelt, würde
die Exhaustions-Methode der Denkmöglichkeiten zunächst alles
in irgend einer Form und irgendwo auf der Erde jemals
Gedachte zu registriren haben, und trotz der anfangs im
[183] ungeordneten Wirrwar schreckbar erscheinenden Masse, re-
ducirt sich das Ganze, wie jetzt bereits erkennbar, auf eine
verhältnissmässig sehr geringe Zahl von Typen*). In jedem
[184] solchen Typus liegen dann die Keime, welche des Menschen
geistiger Natur gemäss unbegränzter Fortentwickelung fähig
sind, und hier würden wir eine Erschöpfung dann erreicht
haben, wenn die verschiedenen Formeln in den Möglichkeiten
arithmetischer oder geometrischer Progressionen, für solche
Fortentwickelung in infinitum, herausgerechnet sind.
Möge es uns gelingen, jetzt, in der elften Stunde noch,
die Materialien zu sichern: Die unter dem buntfarbig
verschiedenem Geschiller ethnischer Wandlungen in glänzen-
den Strahlenbüscheln emporgestiegenen Hoffnungssterne des
Menschengeistes, (ehe sie für immer in ewiger Nacht erloschen
sind) — möge es uns gelingen zum Heil unserer Aller, um,
mit Erkenntniss der physiologisch gesunden Wachsthums-
gesetze, die im Ganzen, wie im Einzelnen fühlbaren Schäden
der Volksseele zu heilen, an denen sie stets gekrankt hat, in
einer oder andern Form, je nach dem Genius Epidemicus
der Epoche, wie die Geschichte es lehrt.
Wenn ich mir erlaubt habe, vor Ihnen, meine Herren,
diese wohlbekannten Sachen nochmals zur Sprache zu brin-
gen, so geschah es in dem unruhigen Drängen, dass bei
der noththuenden Eile nichts versäumt werden darf, weshalb
ich auch diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen wollte,
ohne ein Scherflein wenigstens beizutragen, damit die ethno-
logische Zeitfrage baldigst die ihr schuldige Anerkennung
erhalte.
Die Probleme der mit der Ethnologie sich eng ergän-
zende Anthropologie sind ausser Betracht geblieben, weil mit
dem Gewicht voller Autorität von einem Freunde zu be-
handeln, dem sich auf Reisen zugleich die Berührungspunkte
boten.
A. W. Schade’s Buchdruckerei (L. Schade) in Berlin, Stallschreiberstr. 45/46.