Sie betrachtet das verwundte Herze ihres Liebhabers

1
Sei gegrüßt, du Königskammer,
Gasthaus der Barmherzigkeit,
Aufenthalt in allem Jammer,
Freistadt in der bösen Zeit!
Allerliebstes Jesusherze,
Sei gegrüßt in deinem Schmerze.
[110] 2
Thron der Liebe, Sitz der Güte,
Brunnquell aller Süßigkeit,
Ewger Gottheit eigne Hütte,
Tempel der Dreifaltigkeit!
Treues Herze, sei gegrüßet
Und mit wahrer Lieb geküsset.
3
Hast denn du auch müssen leiden
Und so tief verwundet sein!
O du Ursprung aller Freuden,
Mußt denn du auch fühlen Pein!
Muß man denn auch dir, mein Leben,
Einen Stich durchs Herze geben?
4
Was für Lieb hat dich gedrungen,
Auszustehen solchen Stoß?
Weil der Feind schon war bezwungen,
Da du starbest nackt und bloß,
Da dein Geist mit bittrem Leiden
Von dem Leibe mußte scheiden.
5
Ach, du tusts, daß ich soll wissen,
Daß du mich ganz innig liebst
Und nach so viel Liebesküssen
Auch dein Herzensblut hergibst.
Daß du alles an willst wenden,
Mein Erlösung zu vollenden.
6
O du hochverliebtes Herze,
Meines Herzens Paradeis,
Meine Ruh in allem Schmerze,
Meiner Liebe Ruhm und Preis,
[111]
Meines Geistes höchste Freude,
Meiner Seelen beste Weide.
7
Gieß die Flammen deiner Liebe
Wie ein großer Strom in mich.
Läutre mich, daß ich mich übe,
Dich zu lieben würdiglich.
Laß mein Herze noch auf Erden
Deinem Herzen ähnlich werden.
8
Durch das Blut, das du vergossen,
Liebstes Herze, laß mich ein.
Laß mich deinen Hausgenossen
Und Bewohner ewig sein.
Denn ich mag auch bei den Thronen
Ohne dich, mein Schatz, nicht wohnen.
9
Laß mich ein, mit einem Worte,
Laß mich ein, du freier Saal,
Laß mich ein, du offne Pforte,
Laß mich ein, du Liliental.
Laß mich ein, denn ich vergehe,
Wenn ich länger haußen stehe.
10
Ach, mir Armen und Betrübten,
Daß ich doch nicht damals stund,
Wo das Herze des Geliebten
Ward geöffnet und verwundt!
Denn es wäre mir gelungen,
Daß der Speer mich eingedrungen.
[112] 11
Ach, wie wollt ich mich ergötzen,
Ach, wie wollt ich fröhlich sein
Und mit wahrer Freud ersetzen
Mein Betrübnis, Angst und Pein!
Ach, wie wollt ich mich versenken
Und mein durstigs Herze tränken.
12
Laß mich ein, du güldne Höhle,
Ewger Schönheit Sommerhaus,
Laß mich ein, eh meine Seele
Vor Verlangen fahret aus.
Laß mich ein, du stiller Himmel,
Nimm mich aus dem Weltgetümmel.
13
Laß mich ein, auf daß ich bleibe
Dir ganz inniglich vereint
Und mein Herz dir einverleibe,
Daß es nicht mehr meine scheint.
Denn ich wünsche nichts auf Erden,
Als deins Herzens Herz zu werden.

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