Ida Boy-Ed
Wenn man zurückdenkt

[25] Wenn man beobachtet, welchen Täuschungen sich die meisten Menschen über ihr Äußeres hingeben, kann man sich der Furcht nicht erwehren, daß es auch schwer sein möchte, sein Inneres deutlich zu erkennen und gutgläubig davon auszusagen, wie es denn beschaffen ist. Der Künstler nimmt die Erscheinungen der Welt in sich auf, verarbeitet sie in sich und schenkt sie ihr dann zurück, durchwirkt von seinem eigenen Wesen, das erwärmt oder durchkühlt, erhöht oder verkleinert hat, was es aufnahm. Und ganz selbstverständlich glaubt er, daß er richtig darstellt, daß seine in scharfer Selbstkritik durchsiebte und sorgsam geformte Wiedergabe der Dinge, die sind, die richtigste ist. Ich glaube nicht, daß es einen Schaffenden gibt, der mit Bewußtsein falsch darstellt. Insofern könnte über den Schöpfungen jeder Kunst stehen »wie ich es sah«. Deshalb sagen alle Werke vielmehr von ihrem Schöpfer aus, als er selbst es kann, und es ist im Grunde unnötig, von ihm ein Spiegelbild seines Wesens zu fordern.

Auch die Daten sagen wenig. Es gibt Naturen, die durch bunte Schicksale gerissen werden und unberührt bleiben und andere, deren seelisches Leben unter äußerlich stillen Daseinsformen eine Folge von tief aufwühlenden [25] Evolutionen ist. Um jeden künstlerisch begabten Menschen gibt es eine Atmosphäre von Unerklärlichkeiten, undurchsichtig und geheimnisvoll. Er ist eine Doppelnatur. In den Tiefen seiner bürgerlichen Normalerscheinung steckt noch ein anderes Wesen. Jenes »es«, das Strindberg feststellte. Der künstlerische Mensch lebt eigentlich von Überraschungen, die ihm durch ihn selbst bereitet werden. Ich glaube nicht, daß der schöpferische Mensch, sei er noch so zielbewußt, von sich ansagen kann, er habe im Beginn seiner Arbeiten an sich und an seinem Werk (man könnte auch sagen, im Beginn seiner Arbeit an sich durch sein Werk) gewußt, wohin ihn eines Tages beides führen wird.

Wenn man also von sich spricht, tut man es mit einer bedrängten Unsicherheit, die desto stärker sein wird, je redlicher und wahrer der Aussagende zu sein wünscht. Das Verlangen, sich beschweigen zu dürfen, erfüllt einem die Öffentlichkeit nicht, die schließlich ein Anrecht hat an jene, welche so oft zu ihm sprechen.

Es gibt einen einfachen Stolz, den man jedem erlauben darf: den auf die Stammeszugehörigkeit. Wir Niedersachsen kommen uns immer besonders aufrecht vor. Mein Heimat- und mein germanisches Gefühl sind stark. Vielleicht kommt es daher, daß ich im Rahmen des Hanseatentums geboren und aufgewachsen bin; politische und landschaftliche Umwelt von besonderer Färbung zeugt stärkere Empfindungen, als beispielsweise eine Großstadt des Binnenlandes kann, deren Bevölkerung mehr zusammengeströmt als bodenständig gewachsenen Charakter hat. Für die Hanseaten waren die fremden Weltteile schon immer »nebenan« noch ehe das Jahrhundert des Verkehrs sich entwickelt [26] hatte, und durch die Straßen der Städte wehte immer der Seewind. Für mich kam zu dieser steten Bewegung der Umwelt noch eine andere: ich bin sozusagen zwischen Druckpressen und Setzkästen aufgewachsen; mein Vater besaß eine Zeitungs- und »Akzidenzien«-druckerei in Bergedorf bei Hamburg. Er siedelte mit seinem Unternehmen nach Lübeck über, als diese Hansestadt den Plan zu verfolgen begann, ihren Anteil an dem Städtchen Bergedorf und an die »Vierlande«, jener charaktervollen Marschlandschaften der Elbe, bisher gemeinsamer Besitz beider Städte, an Hamburg abzutreten. Die drolligen politischen Verhältnisse habe ich novellistisch verwertet. In Lübeck fand ich, noch unbewußt, als Kind köstliche architektonische und Beleuchtungseindrücke, die mich ganz und gar umspannen, so sehr, daß ich mich niemals anders als zu vielen und weiten Reisen von der Stadt habe trennen können, auch nicht, als persönliche Verhältnisse mir für meinen Beruf günstigere Bedingungen in Berlin oder München zu verheißen schienen. Man verzichtet auf sehr viele Vorteile durch den Mangel an ständiger Fühlung mit den Kollegen von der Presse. Und nun sitze ich noch da in meiner Hansestadt, alt, mit weißem Kopf, und hause in einem malerischen uralten Giebelbau, der zum Burgtor gehört und den mir der Staat zu meinem sechzigsten Geburtstag als Ehrenwohnung widmete, nachdem Freunde und Verehrer die Summe stifteten, die zum inneren Umbau erforderlich war.

Wenn man zurückdenkt, wird man erst inne, daß der Weg durch viel Dornengestrüpp führte und vielleicht sehr mühsam war. Nein. Schien! Denn wer Kämpfe siegreich besteht, war von der Natur vorbestimmt zum [27] Streiter, und also ist die Lebensmühe ihm das Gemäßere als die Lebensglätte. In einem Hause, in dem Maschinenkolben auf und nieder gleiten und wo sich Räder schwingen, ist technisch viel Interesse; meine allerallerersten Erinnerungen an diese Dinge sieht Knechte, die Druckpressen drehen, und riecht den Qualm von Walzen, die aus Leim und Sirup gekocht wurden, also häusliches Fabrikat waren. Von dieser Primitivität an habe ich dann Maschinen kommen und durch immer künstlicher werdende ersetzt gesehen, bis zu den fabelhaften Kunstwerken der Jetztzeit, jenen Geschöpfen, die in glatter, fast leiser Arbeit drucken, numerieren, falzen; diese thronen in den Sälen der riesigen Druckereien der Weltblätter, als seien sie Lebewesen voll bedrohlicher Herrscherkraft. Die Maschinen aller Industrien sind für mich Wunder, vor denen man sich fast fürchten kann. Mit lebendigem Interesse an technischen Fortschritten geht auch geistige Bewegtheit immer zusammen. Durch mein Vaterhaus flutete ein wahrer Strom von Anteilnahme an jeder kulturellen Entwicklung. Die politischen und literarischen Wichtigkeiten standen im Vordergrund. In seiner Jugend hatte mein Vater Christoph Marquard Ed vielen als eine Hoffnung gegolten. Er selbst mag sich »berufen« gewähnt haben. Im »Dithmarscher Boten« von 1833 findet man ihn mit Hebbel als Hauptmitarbeiter für Lyrik und Balladen (welche Beiträge sich zwischen dem übrigen Inhalt dieses Blättchens ganz drollig ausnahmen). In Hamburg im Kreise um Amalie Schoppe geb. Weise galt er als großes Talent, und in meiner Bibliothek stehen noch eine Geschichte der Buchdruckerkunst und zwei Dramen von ihm. Allein selbst treueste Tochterliebe dürfte nicht [28] an eine Neubelebung dieser Werke denken. Es handelt sich, wenn ich mich so ausdrücken darf, um gereimten Rationalismus. Der Durchfall seines Dramas »Die Tscherkessenfürstin« auf dem Hamburger Stadttheater kurierte ihn, ein seltener Fall, für immer von literarischem Ehrgeiz. Noch ein anderer Charakterzug sei betont: um vorwärtszukommen zu finanzieller Unabhängigkeit (denn er war ein Kind der beraubenden Franzosenzeit und stand früh als Waise allein) zu gelangen, hat er 17 Jahre eine um die andere Nacht in der Ratsbuchdruckerei von Meissner in Hamburg gearbeitet. Man vergleiche mit dieser stillen Beharrlichkeit durch kein anderes Mittel als durch Sparsamkeit und Fleiß, unter Entsagungen zum Wohlstand zu kommen, die Erwerbswege von heute! Wie konnte es anders sein, als daß dieser Fleiß mein ganzes Leben beeinflußt hat.

Das bittere Erlebnis mit dem Dramendurchfall machte ihn aber zum Gegner meines Strebens. Er wollte der geliebten Tochter die Enttäuschung ersparen! In der Familie wurde ich mit Neckereien gepeinigt. Ich hatte nämlich schon als Kind kleine Geschichten geschrieben und selbst illustriert. Und ältere Geschwister wissen ja nie, wie qualvoll sie die Seele einer Halbwüchsigen mit Necken verletzen. Gefördert hat mich niemals ein Mensch.

Ich heiratete sehr jung. Zu jung. Aus jenen Empfindungen, die unerfahrene Mädchen für Liebe halten. Man wacht dann später auf, sieht sich und die Umwelt klarer und findet, daß man an einer Stelle steht, wo man niemals werden kann, was man ist. Sollen zwei Erscheinungsformen sich ineinander einpassen, die durchaus verschiedene Linien haben, ist es für keine ein Tadel, [29] wenn es nicht geht. Dazu kam damals, daß vor etwa 45 Jahren das schriftstellerische Heraustreten einer Frau geradezu Pflicht- und Sittenverletzung war; man sah es einer Unverheirateten eher nach; die wenigen Frauen, die damals schon literarischen Ruf hatten, standen den Kreisen, in die ich hineingeheiratet hatte, so fern, daß man nicht einmal ihre Namen wußte. Indessen: vier Kinder sind ein Band, das sich nicht zerschneiden läßt. Es gibt Lagen, in denen jede Entscheidung, welcher Art sie auch immer sei, einem der Beteiligten zum Nachteil gereicht – man wählt dann die moralisch verpflichtendste. Und eine solche Lösung von Konflikten hat immer ihren Segen in sich.

Ich verbrachte aber anderthalb Jahre in Berlin; ich war 28 Jahre alt und hatte nicht von fern eine Erkenntnis von den Schwierigkeiten und Vorurteilen, die einer Frau von etwas auffallender Erscheinung in einer Weltstadt warten. Man war im Rahmen eines wohlhabenden und angesehenen Hauses aufgewachsen und hatte sich immer nur auf gesichertem umzirkelten Boden bewegt. Man war jeder Lebenserfahrung bar und bildete sich ein, daß Berlin nur auf Talente warte. Daß es einen tiefklaffenden Unterschied gäbe zwischen einer kämpfenden Frau, die sich sozusagen für eine Weile Eheferien genommen, und dem Kampf eines unabhängigen jungen Mannes, kam mir gar nicht zur Erkenntnis. Ich besaß seelisch eine gewisse Naivität und Gutgläubigkeit. Diese letztere bin ich erst im späteren Alter losgeworden – – vielleicht überhaupt nicht ganz, denn immer noch kommt es vor, daß ich andere Menschen nach mir selbst beurteile und im praktischen Umgang mit ihnen Behandlungsfehler begehe. Es ist nun ganz [30] besonders merkwürdig, daß man sich als Psychologe von der einwandfreiesten Folgerichtigkeit erweisen kann bei der Darstellung dichterischer Gestalten, und in der Praxis oft von dieser kritischen Psychologie keinen Gebrauch macht. Ganz bestimmt verdanke ich meine Erfolge in der Hauptsache der richtigen psychologischen Entwicklung, die ich den, im Rahmen meiner Novellen und Romane die Handlung tragenden Personen gab. Das ist mir im Lauf der Jahre so unzählige Male aus Leserkreisen und vor allem von Männern der Wissenschaft bestätigt worden, daß ich es wohl wiederholen darf, ohne anmaßend zu wirken.

Dieser Erfolg kam nicht mit einem Schlage. Damals in Berlin zeigte er bescheidenste Ansätze bei journalistischen Tastversuchen. Erfolge kommen Kämpfenden sehr selten im rechten Schicksalsaugenblick. Der verstorbene Dr. Arthur Levysohn und seine Frau nahmen sich damals meiner an; in ihrem Heim traf man an Sonntagabenden viele Persönlichkeiten des musikalischen, politischen und literarischen Berlins. Die Herzlichkeit, die in dieser glücklichen Familie herrschte, die Güte, die sie mir erwiesen, bewahre ich dankbar in meiner Erinnerung. Durch diese Beziehung kam es, daß meine ersten journalistischen Veröffentlichungen im Berliner Tagesblatt und dem dazugehörigen Sonntagsblatt erschienen. Neigung zum Journalismus steckt bis auf den heutigen Tag in mir. Erbteil! Meine Lebensarbeit aber mußte dem Roman gelten; meine künstlerische Freude war die Novelle; mein Eigenstes die literarhistorische Psychologie. – Wohl hatte ich mir durch die selbständige Tat der kurzen Loslösung aus den Lübecker Verhältnissen die innere Freiheit errungen; [31] aber es galt durch klingende Erfolge zu beweisen, daß meine Neigung und Begabung keine abenteuerlich-brotlose Abnormität sei. Getragen von großem Vergnügen an einer unerschöpflichen Fabulierfähigkeit, und von dem Ehrgeiz, die herrliche deutsche Sprache möglichst zu meistern und an meinem bescheidenen Teil weiter zu bilden, schrieb ich viele Romane; keiner ist zu mir zurückgewandert und allen Schriftleitungen war ich willkommen, von allen gesucht. Das hatte gefährliche Nebeneinflüsse. Es konnte gar nicht ausbleiben und ist auch nicht ausgeblieben, daß bei so starker Produktion manches Werk den Charakter der Unterhaltungsliteratur trug. Allein ich darf wohl sagen, daß es mein Streben war, auch aus diesen Romanen meine Leser nicht ohne geistigen und ethischen Gewinn zu entlassen. Ich war auch in dem Wahn befangen, daß man sich erst einen bekannten Namen schaffen müsse, um dann zu schreiben, was man eigentlich wolle. Aber einer seits ist es sehr schwer, einen Weg zu verlassen, auf den man immer wieder gedrängt wird durch das Interesse, das viele daran nehmen, andererseits fügte es sich, daß in meinem bis dahin sorglosen äußeren Lebensumständen ein Wandel eintrat, der mich zwang, hauptsächlich auf dem Wege der Romandichtung zu bleiben, um das Fundament meiner bürgerlichen Existenz zu sichern. Unbedingt hat mir diese reichliche Produktion und deren Veröffentlichung in bekanntesten Wochenschriften viele literarische Vorurteile geschaffen. Für den Kreis des damaligen »jungen Deutschland«, das die »literarische Revolution« machte, war ich verloren. In meinen ersten Anfängen gehörte nämlich auch ich zu den Aufstrebenden von M.G. Conrads [32] »Gesellschaft«, und ich besitze noch einen Brief von Otto Erich Hartleben, worin er mir sagt, daß ich unter den Mitarbeitern einer geplanten Zeitschrift nicht fehlen dürfe. Dies war eine merkwürdige Erfahrung, denn mein Talent hatte sich nicht verändert, nur es war – einträglich geworden.

Die Undankbarkeit gewisser Bildungskreise gegen den Besitz an Kulturwerten, den das deutsche Volk an seinen Wochen- und Monatsblättern zu eigen hat, ist ein Kapitel für sich, auf das ich hier nicht eingehen kann.

Gerade wie das damals viel mißdeutete und sehr schwierige Unternehmen meines Berliner Aufenthaltes, das so verkehrt schien, für meine Entwicklung sich als durchaus notwendig gewesen erwies, gerade so gereichten mir die schwierigen Erlebnisse und bitteren Erfahrungen einer katastrophalen Krisis, durch die die Firma meines Mannes ging, zum Segen. Erst von da an gewann ich ganz meine seelische und geistige Freiheit. Es wohnt mir nämlich ein Unabhängigkeitsbedürfnis inne, das mich vielleicht zur Zeitgenossin der Romantiker vorbestimmt hätte, obschon ich ihnen mit meinem staatsbürgerlichen Ordnungssinn sonst widerstrebe. Meine Romane, die nach jener schweren Zeit entstanden, möchte ich doch nicht insgesamt verleugnen. Kritik und Leser aus mir wertvollsten Kreisen (Universität, Schule usw.) haben mir oft genug bestätigt, daß es mir gelungen war, sie im Innersten zu erfassen. In meinem Roman »Ein königlicher Kaufmann« vermochte ich ein echtes Bild hanseatischen Lebens, in Handel, Wandel und Gebräuchen zu entwerfen; er ist mein Liebling unter dieser Gruppe meiner »Kinder«. Es war ein wundervolles[33] Glück, ihn zu schreiben und die köstlichen architektonischen Bilder meiner Heimatstadt mit heißklopfendem Herzen zu schildern. Durch »Die Opferschale« rauscht die Stimmung der allerersten Kriegszeit, dem Gipfelpunkt deutscher Größe! Mit Liebe und Sachkenntnis (denn zwei meiner Söhne gehörten der Marine an) habe ich auch mehrfach die deutsche Kriegsmarine zur Umwelt meiner Romanhandlung gewählt, so vor allem in »Nur wer die Sehnsucht kennt«. In den »Stillen Helden«, das ein Jahr vor dem großen Krieg geschrieben ward, schilderte ich die Vorarbeit der Industrie und der Offiziere für die Wehr unseres Vaterlandes. »Glanz« spielt im Leben höfischer und diplomatischer Kreise vor dem Kriege, und Ägypten ist der Rahmen der Handlung. – Es ist mir früher oft begegnet, daß das glühende vaterländische Empfinden, das sich in meinen Arbeiten nicht verstecken ließ und auch nicht versteckt werden sollte, von einer gewissen Kritik als »Hurrapatriotismus« gekennzeichnet und abgelehnt wurde. Ganz spät ist mir erst klar geworden, welche Richtung sich da schon ankündigte ...

Novellen finden ja niemals ein so breites Publikum wie der Roman. Zwei Sammlungen solcher, die ich herausgab, brachten es auf eine bis drei ganze Auflagen! Und dennoch werde ich den Mut haben, weitere Novellen, die sich im Laufe der Jahre ansammelten und die fast alle in den Velhagen und Klasingschen Monatsheften erschienen, über kurz oder lang herauszubringen.

Daß ich auch ein Kochbüchlein verfaßt habe, werden viele wissen; es war eine von den Arbeiten, die ich im Kriegsdienst leistete, als es galt, bei den ersten auftauchenden [34] Ernährungsschwierigkeiten der deutschen Frauenwelt Mut zu machen. Ich erwähne es hier, weil die Tatsache, daß ich es konnte und vielen damit half, beweist, wie stark meine Teilnahme und Kenntnis in allen und von allen Hausfrauenangelegenheiten ist, welche Dinge ich für ein heilsamstes Gegengewicht zur geistigen Arbeit halte.

Müßige Stunden hat es in meinem Leben nicht gegeben. Auch auf meinen großen Reisen, die mich dank auserlesener Beziehungen durch Kreise aller Art führten und in- und außereuropäische Länder kennen lehrten, war ich aufnehmend und beobachtend, stets beschäftigt. Von früher Jugend an hat ein unermüdliches Studium der Literatur mich bereichert. Ich käme aber in Verlegenheit, wenn ich sagen sollte, daß ich eines bestimmenden Einflusses von diesem oder jenem Großen mir bewußt wäre. In den verschiedenen Entwicklungsstadien des eigenen Wesens fühlt man sich zu immer andern Geistern hingezogen. Und endlich triumphiert der Eine! Mein König und Gesetzgeber, mein Arzt und mein Tröster, mein Weisester und mein Priester ist Goethe. Meine philosophischen Anschauungen haben von Schopenhauer die Richtung empfangen – ich wähle mit Absicht das Wort »Anschauungen«, denn wer könnte schließlich Schelling unrecht geben in seinem Ausspruch: Entweder es gibt gar keine Philosophie oder es gibt nur eine!

Unendliche Anregungen verdanke ich dem Theater und der Musik; man sah mich früher vielerorts bei wichtigen Opernaufführungen. Und der Kulturstätte Bayreuth und Wagners Werk bin ich eine leidenschaftliche Anhängerin. Bei so mannigfachen Bemühungen, [35] mich mit dem Reichtum der Gegenwart immer in lebendiger Fühlung zu halten, ist mir etwas oft schmerzlich aufgefallen: in Deutschland verkehrt nahezu jede »geistige Waffe« unter sich; Fach- und Berufsspezialisten kletten sogar in der Kunst zusammen, und ein wirklicher Austausch ist selten.

So, arbeitend und lernend, reifte ich allmählich heran zu einem neuen Versuch. Es war unser Landesschulrat Professor Dr. Jakob Wychgram (seine Name hat in der ganzen deutschen Schulwelt starken Klang), der bei mir den Gedanken anregte, doch eine Biographie der Charlotte von Kalb zu schreiben, daran es noch fehle; es habe sich noch kein Literarhistoriker an die geschlossene Darstellung dieser unausgeglichenen Frauengestalt gewagt. Die tragischen Linien dieses Wesens richtig nachzuzeichnen, sei wohl nur weiblicher Anempfindung möglich. Anregungen gibt es, die wie Saatkorn auf lang vorbereiteten Boden fallen. So war es mit dieser. Das Stoffliche der Aufgabe war mir ja altvertraut. Ich fühlte, als ich mich an die Arbeit heranwagte, daß hier eine neue Form gefunden werden müsse, und daß überhaupt alle Biographie nicht von den Daten, sondern von der psychologischen Erkenntnis des Wesens der Darzustellenden auszugehen habe. Mein kleines Werk, dem ich auch eine Reihe bisher unbekannter Bilder einzuschalten vermochte, hatte einen literarischen Erfolg, der über meine Hoffnungen hinausging. Nun war ich da, wohin ich eigentlich mit Neigung und Begabung gestrebt hatte, ohne früher recht das Ziel zu erkennen. Ich habe dann noch eine Studie unternommen, um das »Martyrium der Charlotte von Stein« zu ergründen; auch diese Arbeit hat den Beifall bedeutendster [36] Goetheforscher gefunden. Und endlich wagte ich mich an eine Neuschöpfung der Germaine von Staël. Auch hier mußte eine neue Form erstehen – ich glaube sie gefunden zu haben, indem ich die überreiche, viele Farben ausstrahlende Gestalt dieser Frau, die noch dazu vor einem riesig bewegten Hintergrund stand, in Einzelaufsätzen behandelte, die zusammen dann doch ein ganzes Bild ihrer geben. Und weil die Gegenwart, weil eigenste Erkenntnisse vom Leben und Politik in dem Werk ihren Ausdruck fanden, weil die starre Linie der schulmäßigen biographischen Aufzeichnung ganz durchbrochen war, nannte ich es »Ein Buch anläßlich ihrer«. Unsere Leiden und Stimmungen drängten sich in ihre Erlebnisse förmlich hinein, es war, als habe Germaine alles, was wir erleben und erdulden, schon uns vorgelebt. Und der Kritiker der Neuen Freien Presse, Dr. Julian Sternberg, schloß denn auch seine Besprechung des Werkes mit den Worten: »In dignatio versum fecit und braucht man erst zu sagen, daß solche Seelenstimmung im traurigen Heute wurzelt. Nicht nur in den zitierten Sätzen fiebert und stöhnt, fragt und klagt die Ratlosigkeit der deutschen Gegenwart. Es ist die Schmerzhaftigkeit des deutschen Erlebnisses von heute, die der bedeutenden Romanschriftstellerin diesmal die Feder in die Hand gedrückt hat. Im Kleide einer Charakter- und Wesensskizze Germaines von Staël hat Ida Boy-Ed in Wahrheit ein Buch geschrieben, das desgleichen den Titel führen könnte: De l'Allemagne – Vom heutigen Deutschland.«

Und dies Werk bedeutet mir den Abschluß meines Schaffens, selbst wenn besondere Anlässe meine Feder noch hie und da zur Tätigkeit verführen könnten.

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