[101] Mondnächte

1.

Damals, Seele, ja; ich war ein Kind –
und das alte Forsthaus dumpf und eng.
Und in hellen und in dunkeln Nächten,
wenn ich so am Kammerfenster stand
und die großen Eichen schwarz erschauern hörte,
wurde mir das Dach noch dumpfer.
Denn immer sah ich,
drüben,
drüben fern,
wo aus der Waldnacht um die Felder
die Eine hohe Kiefer in den Himmel horchte,
immer ruhte dann da drüben
durch die Wolken
jener weitgewobne Schimmerkreis.
Und in bleichen Nächten
war er blaß und flehend
wie ein Heiligenschein,
aber in den grauen
tröstlich blau und schirmend
wie der Glanz von einem klaren Stahlschild
oder mild und gelb wie Kronengold;
und ich wollte König werden.
Meine Mutter aber sagte mir's,
dort lag Berlin ...
[102]
Damals wußt'ich nicht, warum mir bangte,
als sie mir die Stirne küßte.
Dort lag die Lichtstadt
und straalte ...
Heute ist auch Nacht;
der Mond will in mein Fenster,
und ich sehe über tausend Dächer.
Im schweren, weichen Schnee
ruhn und horchen mit verhaltnem Atem
die Schatten der Stadt.
Bis in den blauen Silberschein der Ferne
schwillt in langen Falten
weiß und zart die sanfte Decke hin,
wie über die Kissen
eines Täuflings.
Die aber, die darunter schlafen –
und wachen? – –
Schwarz und scharf
stechen die Türme,
Kirche neben Kirche,
in den kühlen Himmel;
stahlspitz flittert ein Glanz
um die finsterhohe Kuppelkrone
jenes Palastes,
und über einem dicken Schlote
stockt ein Schild von Qualm.
Jetzt, unten an der Ecke drüben,
wo eine Gaslaterne
trübgelb mit dem Mondlicht kämpft,
schimpft ein frierender Schutzmann
ein betrunknes Straßenmädchen aus.
Seele, ja:
da liegt Berlin ...

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