Becherlied auf das eidgenössische Sängerfest in Chur

1862


Der Traube Saft behagt dem Mund,
Doch Müh erheischt der edle Wein,
Und blitzt des Bechers köstlich Rund:
Sein Silber will gegraben sein;
Dann harret erst noch auf das Erz
Des Schmiedes kunsterfahrne Hand;
So ähnlich reift des Mannes Herz
Entgegen seinem Vaterland.
So schwebt das Lied wie Glockensang
Durch heitre Sommerluft einher
Und kündet laut, daß winterlang
Dem Sänger keine Müh zu schwer.
Drum schafft, bis aus den Bechern blinkt
Der Männer Ehre, schön verklärt,
Und keiner mehr aus Silber trinkt,
Der nicht des Weins und Silbers wert!
[193]
Wie Glück und Glas so leicht zerbricht,
Nur etwas später, bricht das Erz,
Die Schale schmilzt – die Seele nicht,
Sie glüht, bewegend Herz um Herz.
Die höchsten Tempel stürzen ein,
Des Werkmanns reiche Hand verdorrt,
Verwildert stirbt am Berg der Wein –
Doch alles lebt im Liede fort.
Und wo sein ferner, goldner Ton
Aus Trümmern neue Völker hebt,
Blüht auch die neue Rebe schon,
Und ihre Ranke spinnt und webt;
In Wäldern trinkt am Felsenquell
Das Hirtenkind aus hohler Hand,
Bis wieder bringt aus Bechern hell
Der Mann sein Hoch dem Vaterland!

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