Briefe über Kunst

1.

I. […] Radebeul-Dresden, den 2. Oktober 1906. Karl May. In: Der Kunstfreund. Zeitschrift für alle Freunde der schönen Künste. 22. Jg. Neue Folge. 1906. II. Teil (Heft 8–12) redigiert von Leopold Gheri. Nr. 10/11. S. 153–154. – Innsbruck: Kommissionsverlag der Marianischen Vereinsbuchhandlung und Buchdruckerei 1906. Reprint in: Karl May. Leben – Werk – Wirkung. Eine Archiv-Edition. Hrsg. von Ekkehard Bartsch. Abteilung I: Leben. Gruppe a: Biographische Selbstzeugnisse. Heft 3.

[153] Briefe über Kunst

I.

Sehr geehrter Herr Redakteur!


Sie fragen mich: »Was ist Kunst?« Ich könnte diese Frage entweder als einen guten Witz auffassen oder, wie zum Beispiel die andere Frage: »Was ist Wahrheit?« für eine Banalität. Ich könnte sie auch für eine versteckte Falle halten, in die sich meine Unwissenheit verirren soll, um gefangen genommen und dann Ihren Lesern vorgezeigt zu werden. Ich könnte sie, ganz im Gegenteile davon, auch für eine gute Gelegenheit nehmen, um zu zeigen, was für ein geistvoller Plauderer ich sei. Schließlich könnte ich mich von ihr wohl auch verleiten lassen, in tiefgründlicher und gelehrter Langweiligkeit alles zu wiederholen, was seit Tausenden von Jahren über diesen Gegenstand geschrieben und gesprochen worden ist, ohne daß wir dadurch zu einer kurzen und treffenden Definition des Begriffes »Kunst« gekommen sind. Aber da ich weder einen lobenswerten Witz noch ein tadelnswertes Mißtrauen besitze und auch weder ein kleiner Schwätzer noch ein großer Gelehrter bin, so tue ich nichts von alledem, sondern ich nehme Ihre Frage gerade so, wie Sie es wünschen. Denn ich weiß, daß Sie es mit der Kunst nicht weniger ernst meinen als ich, und daß sie Ihnen genau so heilig ist wie mir, nicht nur eine Verstandes-, sondern noch vielmehr auch eine Herzenssache. Sie ist überhaupt, nur die Religion ausgenommen, die höchste Verstandes- und die höchste Herzenssache, die es auf Erden gibt, und wer ihr dient, dient keinem gewöhnlichen Herrn.

Leider gebietet sie über ein Reich, welches nicht Jedermann geöffnet ist. Und viele von denen, die es betreten dürfen, lernen es vielleicht noch weniger kennen als die Draußenbleibenden, die sich ihr Wissen nur vom Hörensagen holen. Denn man hat in diesem Lande weder Droschke oder Omnibus noch Eisenbahn oder sonstige Gelegenheit, für schnödes Geld nach vorwärts oder gar nach oben befördert zu werden. Man kann da nur durch eigene Kraft und mit den eigenen Füßen steigen. Daher kommt es, daß sich die große Mehrzahl der Bürger dieses Landes nur unten auf der Ebene bewegt, wo es gebahnte und breitgetretene, bequeme Straßen gibt, »Kunststrecken« im direktesten Sinne des Wortes. Eine gute Zahl gelangt von hier aus auf schmaleren, doch immer noch wohlgepflegten Wegen bis in das Innere des Reiches, wo die Ebene zu steigen beginnt. Ein Teil von diesen wieder arbeitet sich ehrlich auf die Vorberge hinauf, wo ihrer eine nicht sehr angenehme Ueberraschung wartet. Denn während es ihnen bisher gelungen ist, sich mit allen den landläufigen Ansichten zu legitimieren, die in jedem Lexikon und in jedem Familienjournal zu lesen sind, starrt ihnen am Fuße der nun steil und pfadlos aufragenden Zacken des Hochgebirges in warnender Schrift eine ganz neue Forderung entgegen. Die lautet:

»Die Kunst ist diejenige Betätigung des menschlichen Geistes und der menschlichen Seele, welche in das Innere des Gegenstandes eindringt, um das Wesen desselben zu erfassen, und dann wieder nach außen zurückkehrt, um das Aeußere im Einklange mit dem Innern darzustellen!«

Erstaunt über diese ganz unerwartete, von der Redaktion des »Kunstfreundes« extra hierher bestellte Definition, hält man die Schritte inne, und nur wenige sind es, die sich getrauen, weiterzusteigen, weil sie glauben, dieser Forderung gerecht werden zu können. Was wird ihr Schicksal sein? Wie weit werden sie hinaufgelangen? Wer wird abstürzen? Wer wird verschwinden? Wer wird zurückkehren? Ganz hinauf kam noch keiner! Und was erwartet sie im Falle ihrer Wiederkehr? Die Kunde, die sie von da oben mitbringen, mag lauten wie sie will, man wird sie nicht verstehen. Wie Gott sich in sich selbst versenkte, als er beschloß, das All mit seiner Schöpfung zu erfüllen, so läßt sich der schaffende Künstler in sein eigenes Ich hinunter, während er im Geiste und in der Vollkraft seiner Werke auf die Höhe des sichtbaren Lebens steigt. Und das, das kann man nicht begreifen oder, drücke ich mich anders aus: das kann man ihm nicht verzeihen!

Aber das ist gut! Und das ist fördernd für ihn! Denn es drängt ihn immer wieder in sich selbst zurück, das heißt, immer weiter hinauf, zu noch besserem, noch höherem Schaffen. [153] Die geistige Einsamkeit und das seelische Leid, sie vertiefen ihn und sieerheben ihn, bis er nur noch rein äußerlich mit der Erde zusammenhängt, innerlich aber sich frei von allen ihren Fesseln und Banden fühlt. Dann kommt ihm plötzlich und wie ein verklärendes Licht die beglückende Erkenntnis, daß jene göttliche Lehre von der Erlösung durch den Schmerz und durch das Absterben des äußerlichen Menschen, welche die Grundlage unseres christlichen Glaubens bildet, sich an und in und durch ihn selbst bestätigt hat.

So führt jede wirkliche, jede wahre, jede edle Kunst ganz unbedingt empor zum Welterlöser, und man braucht keineswegs Theolog oder gar Priester zu sein – denn auch ich bin ja nur Laie – um jede Kunst, die andere Wege geht, als irrend zu bezeichnen.

Dies, mein sehr geehrter Herr Redakteur, meine kurze Antwort auf Ihre Frage. Für Sie und Ihren »Kunstfreund« habe ich stets und gern ein offenherziges Wort.


Radebeul-Dresden, den 2. Oktober 1906.


Karl May.

[154]

2.

II. […] Radebeul-Dresden, den 2. November 1906. Karl May. In: Der Kunstfreund. Zeitschrift für alle Freunde der schönen Künste. 22. Jg. Neue Folge. 1906. II. Teil (Heft 8–12) redigiert von Leopold Gheri. Nr. 12. S. 197–199. – Innsbruck: Kommissionsverlag der Marianischen Vereinsbuchhandlung und Buchdruckerei 1906. Reprint in: Karl May. Leben – Werk – Wirkung. Eine Archiv-Edition. Hrsg. von Ekkehard Bartsch. Abteilung I: Leben. Gruppe a: Biographische Selbstzeugnisse. Heft 3.

[197] Briefe über Kunst

II.

Sehr geehrter Herr Redakteur!


Man sagt mir, daß die nächste Nummer Ihres »Kunstfreund« zugleich die Weihnachtsnummer sein werde. Das gibt mir für Sie wieder die Feder in die Hand. Denn »Kunst« und »Weihnacht« stehen eng beisammen. Daß ich das nicht äußerlich oder gar geschäftlich meine, das werden Sie mir glauben. Ich meine den innern Zusammenhang, den ich schon in meiner vorigen Zuschrift berührte. Ich sagte da, daß jede wahre Kunst zum Welterlöser emporführe. Sie wird zum Wege nach dem eigentlichen, dem seelischen, dem geistigen Bethlehem.

Ich denke also nicht daran, daß die Produkte gewisser Künste oder Kunstgewerbe als Weihnachtsgaben verwendet werden, sondern ich möchte den Blick Ihrer Leser auf Höheres und zugleich auf Tieferes richten. Nämlich darauf, daß die wirkliche, dieheilige Kunst Alles, was sie behandelt, nicht alsgeschehen, sondern als geschehend darzustellen hat. Nur das ist Kunst, was Vergangenes in Gegenwärtiges verwan delt, um es uns begreiflich, vertraut und lieb und wert zu machen. Dieser Punkt ist wichtiger, als man wohl denken mag, denn nur auf ihm beruht die ebenso hohe wie segensreiche Stellung, welche der Kunst in Beziehung auf den Glauben und andererseits auf die Wissenschaft gebührt. Ihre Aufgabe ist, zwischen Beiden zu vermitteln, oder, anders ausgedrückt, die Kunst ist berufen, unser irdisches Wissen zum himmlischen Glauben emporzuführen.

Nur der »Kunst des Vergegenwärtigens« ist es möglich, dieser hochwichtigen Aufgabe gerecht zu werden. Um uns dies klar zu machen, können wir getrost beim »Weihnachtsfest« und beim »Erlöser« bleiben. Die edle, die aristokratische Kunst führt ja zu diesen Beiden hin, niemals aber von ihnen hinweg. Von der Wissenschaft, nicht nur von der geschichtlichen, sondern auch von der theologischen, wird Christus vorzugsweise als der zur Zeit des Kaisers Augustus in Palästina geborene Messias betrachtet. Das ist Vergangenheit. Vom Glauben wird er als der Sohn Gottes verehrt, durch dessen Vermittelung beim Vater wir das ewige Leben und die Seligkeit erlangen. Das ist Zukunft. Von der Kunst wird sowohl der geschichtliche als auch der einst wiederkehrende Christus in wirkungsvoller Erscheinung oder Handlung dargestellt. Das ist Gegenwart.

Aber freilich, wie im gewöhnlichen Leben Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ohne bemerkbare Scheidestriche ineinander überfließen, so gibt es auch im höheren, im geistigen Dasein zwischen Glauben, Kunst und Wissenschaft keine scharf trennenden Barrièren, und es kann somit die Kunst zu gewisser Zeit entweder dem Glauben oder der Wissenschaft einmal nähertreten, als diese Zeit wohl eigentlich verlangt. Ganz selbstverständlich hat jede solche Annäherung nach der einen Seite eine Entfremdung auf der andern zur Folge, doch ist allen hierdurch entstehenden Perioden oder Richtungen stets das Bestreben eigen, das Niedrige zum Höheren emporzuheben, das Diesseits in das Jenseits überzuleiten und auf diese Weise die Wissenschaft mit dem Glauben auszusöhnen. Der wahre Künstler weiß oder fühlt dies ganz genau, der Laie vielleicht nicht.

Wie aus meinem vorigen Briefe ersichtlich, hat die Kunst in das innere Wesen ihres Gegenstandes einzudringen, um es dann harmonisch mit dem Aeußern darzustellen. Sie tut dies im allerhöchsten Grad auch dann, wenn sie Weihnacht feiert. Sie schaut das Kind von Bethlehem, den Lehrenden, den Leidenden, den Sterbenden, den Auferstandenen und Aufgefahrenen, sogar den Wiederkommenden am großen, jüngsten Tage. Das ist das Aeußere. Wer dieses darstellt, ohne tiefer gegangen zu sein, der ist vielleicht ein Maler, ein Bildhauer oder ein Dichter, niemals aber ein Künstler. Von diesem wird mehr verlangt als nur das Eingehen auf das Sinnliche. Es kommt mir da ein Gedicht zu Hülfe, welches ich vor Jahren schrieb. Ich ließ es nie drucken, hier aber mag es stehen, um zur Erläuterung zu dienen:

[197] Der Dorf-Bildschnitzer.

Hab' all mein Lebtag stets gedacht,
Daß man aus Holz die Heilands macht,
Doch nun im Alter kommt mir's bei,
Daß noch was And'res nötig sei.
Im Holz, da liegt zwar auch 'was drin,
Denn jeder Stoff hat seinen Sinn,
Jedoch der Sinn von diesem da,
Der reicht wohl nicht bis Golgatha.
Dort ist noch heut' für alle Welt
Das Kreuz und Elend aufgestellt,
Und wer zu beiden kriechen muß,
Bekommt zuvor den Judaskuß.
D'rum ist's das Richt'ge, was ich tu':
Ich gebe eine Träne zu
Und denke dabei allezeit:
»Nun hat der Schmerz das Holz geweiht.«
Wenn ich es dann fast fertig hab',
Denk' ich an des Erlösers Grab,
Und daß er nach so kurzer Frist
Gleich wieder auferstanden ist.
Da kommt so recht aus Herzensgrund
Ein Juchezer mir in den Mund.
Den schneid' ich, kaum zu seh'n, so fein,
Dem Herrgott mit dem Messer ein.
Und habe ich mein Werk vollbracht,
So fromm, wie ich es mir gedacht,
Dann freu' ich mich als Mensch und Christ,
Daß es mir gut gelungen ist.
Und wer es gleichso bringen will,
Der greif' zum Holz und warte still,
Bis sich die Träne bei ihm zeigt;
Der Juchezer, der kommt dann leicht!

Man fühlt es wohl heraus, daß dieser arme, alte, einfache Herrgottsschnitzer, den ich mir da gedacht habe, ein wirklicher Künstler ist. Er läßt den Stoff, das Holz, weinen, und er läßt es jauchzen. Er gibt ihm die Träne und den Juchezer, den Schmerz und die Freude. Das ist das Innere. Aber noch tiefer als dieser Schmerz und diese Freude liegt etwas anderes, nämlich das psychische Erleben des äußerlich Geschauten. Denn nur aus diesem seelischen Miterleben heraus entwickelt sich jenes unwägbare, ich möchte sagen, himmlische Fluidum, welches das Werk des Meisters durchgeistigt und verklärt und als sicherstes Zeichen gelten darf, daß er ein wirklicher, ein wahrer Künstler ist.

Indem er sein »Weihnacht« feiert, um es darzustellen, sucht er nach dem tiefsten Grunde des Erlösungsgedankens, also nach der »Schuld«. Und wo kann er diesen Grund denn wirklich und in Wahrheit finden, als nur in sich selbst, in seinem eigenen Innern? Er ringt mit seiner Anima, die ihm die Selbsterkenntnis verweigert, wie einst der erste Mensch mit der Schlange, die ihn durch die Lüge, er werde sein wie Gott, über sich selbst zu täuschen wußte. Er geht, wie Jesus, der Knabe, in den Tempel, um das Allerheiligste, was es gibt, auf sich einwirken zu lassen, und er wird dann in die Wüsten des sinnlichen Lebens geführt, um versucht zu werden. Er erlebt an seinem eigenen Genezareth, der tief in ihm verborgen liegt, die Wunder Christi an der Menschheitsseele, und hört in sich die ernsten Stimmen klingen, die von dem heiligen »Berg der Predigt« stammen. Er hat als Künstler sein Jerusalem, wo er ein trügerisches »Hosianna« findet, und dann gewißlich auch sein Golgatha, auf welchem die Erhöhung Qual und Tod bedeutet. Und hat man ihn gemartert, bis der Vorhang in ihm reißt, so kommt das Grab, das allbekannte Künstler- oder Dichtergrab, in welchem er verfaulen und verwesen soll, obgleich er als Mensch, als Individuum noch weiterlebt, noch nicht gestorben ist. Doch, wenn Gott will, gibt es ein Auferstehen und dann die Himmelfahrt, zum Himmel Gottes in der Brust des Menschen. Denn ich schreibe nicht als Theolog, als Priester, sondern als Laie – – nur als Mensch. Um an die einstige Seligkeit zu glauben, glaube ich an dieschon jetzige, die jedem Menschen möglich ist, der nach Verklärung strebt.

Bei diesem In-Sich-Selbst-Erleben des christlichen Weihnachts- und Erlösergedankens ist es leider, leider nicht jedem Künstler gegeben, sich bis zur Auferstehung oder gar noch weiter durchzuringen. Der eine bleibt an dieser und der andere an jener Station stehen und kommt nicht weiter, weil seine Kraft erlahmt. Manche bleiben als Kinder im Tempel; sie kommen gar nicht in das Leben und in den Kampf hinaus. Manche überdauern die Versuchung nicht, der sie bald erliegen. Noch andere gehen am »Hosianna« zu grunde; sie wollen die Kunst beherrschen, anstatt ihr zu dienen, und werden totgelobt. Viele gelangen nicht an das Kreuz; sie weichen schon vor Pilatus und vor Kaiphas zurück. Und die am Kreuze sterben, wirklich sterben, indem sie sich vom Haß, vom Neid, von der Mißgunst überwinden lassen, denen ist der Ruf »Es ist vollbracht!« versagt, weil sie wohl begonnen, nicht aber vollendet haben. Das sind die »Tragischen«, welche glauben, innerlich nicht siegen zu können, ohne äußerlich besiegt zu werden. Die wenigen aber, die ihr Golgatha überdauern, indem sie von dem Tode wieder auferstehen, werden über diese Art der Tragik[198] anders denken, denn vor ihnen liegt nur noch der letzte, höchste Schritt, der übrig bleibt: Die Himmelfahrt.

Nur der, dem auch dieses Allerletzte und Allerschwerste gelingt, ist in die Tiefe des »Weihnachtsgedankens« völlig eingedrungen. Er kann, wie einst die Engelscharen, aus seinem Himmel getrost zur Krippe niedersteigen, denn ihm und seiner Kunst ist es nun möglich, auf die Frage »Was will aus dem Kindlein werden?« die einzig richtige Antwort zu geben,welche den Himmel mit der Erde und den Glauben mit der Wissenschaft versöhnt.

Jede wahre Kunst ist Weihnachtskunst, denn sie bringt Erlösung des Stoffes und Erlösung vom Stoffe; beides ist richtig. Sie feiert allezeit Weihnacht, nicht jährlich, nur einmal. Sie feiert es im Verein mit dem wahren christlichen Glauben, der seine Glocken auch nicht jährlich nur einmal, sondern ohne Unterlaß läutet, damit der Lobgesang der Heerscharen


»Ehre sei Gott in der Höhe!«
»Und Friede den Menschen auf Erden!«

nun endlich einmal verstanden und begriffen werden möge!

Radebeul-Dresden, den 2. November 1906.

Karl May.

[199]

3.

III. […] Radebeul-Dresden, den 7. Dez. 1906. Karl May. In: Der Kunstfreund. Illustrierte Zeitschrift für alle Freunde der schönen Künste, redigiert von Leopold Gheri. 23. Jg. 1907. I. Heft. S. 9–12. – Innsbruck: Kunstverlag Eugen Sibler 1907. Reprint in: Karl May. Leben – Werk – Wirkung. Eine Archiv-Edition. Hrsg. von Ekkehard Bartsch. Abteilung I: Leben. Gruppe a: Biographische Selbstzeugnisse. Heft 3.

[9] Briefe über Kunst

III.

Sehr geehrter Herr Redakteur!


Dieser Brief soll ein Neujahrsbrief sein, denn sobald Weihnacht vorüber ist, gehen wir dem neuen Jahre entgegen, und zwar dem bürgerlichen Neujahr – – – auch in der Kunst!

Ich sagte in meiner vorigen Zuschrift, daß nur derjenige Künstler in die Tiefe des Weihnachtsgedankens eingedrungen sei, der in sich seiner Seele Himmelfahrt erlebte. Er kann aus diesem Himmel sodann getrost, ohne befürchten zu müssen, ihn zu verlieren, von Zeit zu Zeit zur Erde niedersteigen, um sich an dem großen Werke zu beteiligen, welches durch die Engelsbotschaft »Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede den Menschen auf Erden!« sowohl verkündet, als auch begonnen worden ist. Das herrliche Werk des neuen, großen, bürgerlichen Jahres! Des ewig beginnenden und niemals endenden Jahres, dessen praktische Aufgabe es ist, die innere Erlösung nach außen wirken zu lassen.

So tritt die Kunst, nämlich die wahre, die hohe, die »himmlische« Kunst, aus dem Heiligtume des inneren Menschen in die alltägliche, äußere Welt hinaus, um Beide als fest zusammengehörig, als harmonische Einheit darzustellen, Gott, dem Herrn, zur Ehre und den Menschen zum wachsenden Frieden. Denn es muß festgehalten werden, daß die Kunst, gleich der wahren Religion und der wahren Wissenschaft, keine andere Aufgabe hat, als diese eine, doppelte: Gott zu dienen und die Dissonanzen des Erdenlebens in Wohlklang aufzulösen. Einen Gott hat die Religion; einen Gott hat die Wissenschaft; einen Gott hat jeder Mensch, mag er ihn nennen, wie er will, und alle diese Namen bedeuten im Grunde genommen nur den Einen, den Einzigen, den Ewigen. Diesen Haupt- und Grundgedanken aller menschlichen Entwicklung hat die Kunst, was sie auch schaffe, nach außen darzustellen, und indem sie das tut, führt sie durch die Erkenntnis des göttlich Einen zum Frieden zwischen uns Allen. Als gläubiger Christ drücke ich das durch die Worte aus: Für die Kunst geht das bürgerliche Jahr mit dem kirchlichen Hand in Hand. Andersdenkende mögen das anders bezeichnen, aber bei aller Verschiedenheit der Ausdrucksweise wird der Sinn immer derselbe sein, daß die Befreiung des innern Menschen nach der sozialen Erlösung des ganzen Geschlechtes strebt.

Kein Neujahr ohne ein Sylvester, kein klares Vorwärtsschauen ohne die vorangegangene Abrechnung mit dem Rückwärtsliegenden. Wir haben, indem wir Weihnacht feierten, diesen Abschluß hinter uns gelegt und treten durch das weit geöffnete Tor des ersten Mondes, um ihn und die Kunst zu fragen, was er von ihr verlangt und was sie ihm zu geben vermag. Die[9] Antwort lautet, offen gestanden, nicht sehr befriedigend, aber, Gott sei Dank, dafür doch hoffnungsreich. »Zu Gottes Ehre« wird wenig genug gefordert und auch nicht übermäßig viel geleistet, nämlich für den Gott, den ich als Christ mir denke. Und »um den Frieden« steht es ebenso. Man ist Künstler weniger zu Gottes als vielmehr zur eigenen Ehre. Es gibt heutigen Tages auch in der Kunst so viele »andere Götter«, daß jener Einzige und Wahre, Wirkliche hinter der Menge der vorgeschobenen Namen fast ganz verschwindet. Und man hat mit dem Kampf, mit dem Streit so viel zu tun, daß man gar nicht dazu kommt, an den Frieden zu denken. Die gegenwärtige Kunst verwendet den besten Teil ihrer Kraft auf die Darstellung »interessanter« Konflikte; das ist aufregend, das ist aktuell, das ist lohnend, und vor allen Dingen, das ist leicht. An die Beantwortung dieser Lebens-oder Menschheitsfragen aber wagen sich nur wenige, denn sie ist schwer und fordert Selbstverleugnung. Wohin wir schauen und hören, erklingt der unbefriedigende Nonakkord in allen seinen Umkehrungen; wer aber hat die richtige Erkenntnis und den Mut, zur festen Tonica hinüber zu leiten, die uns den Frieden, die Ruhe und das Vertrauen bringt, zum Komponisten der großen göttlichen Symphonie?

Wer? – – – Wer? Und immer nur: Wer? Es liegt in dieser nie sterbenden Frage ein sich immer neu erzeugendes Verlangen nach führenden Persönlichkeiten, nach Uebermenschen, nach Propheten, nach – sagen wir es deutlicher – nach Heilanden, nach Erlösern. Die Schar dieser Wartenden gleicht dem Volke Israel, welches sich noch heut nach dem verheißenen Messias sehnt, obgleich er längst schon dagewesen ist. Und er ist nicht fortgegangen; er ist geblieben. Er wohnt in unserem Herzen; er waltet in unserm Innern; er wirkt aus diesem Innern heraus nach außen. Seit wir Weihnacht in uns feierten, brauchen wir nicht mehr zu fragen, wer, wer und wer? Der Erlöser ist geboren; laßt ihn nur wachsen, walten und wirken! Für die Forschenden durch die Wissenschaft, für die Glaubenden durch die Religion, für die Schauenden durch die Kunst! Wer ernstlich sucht und forscht, der wird finden. Wer wahrhauft glaubt, wird schauen. So sind also beide, die Wissenschaft und die Religion, verbunden durch die Kunst, in der sie Alles, was sie finden und was sie sehen, der Menschheit offenbaren. Und diese Offenbarung ist längst schon in die Wege geleitet. Es ist falsch, auf einen neuen Messias, auf ein neues, vollständig anderes Kunstideal zu warten. Denn das Alte bleibt, nur wird es neu. Es entwickelt sich, in uns und in euch, in mir und in dir, in Allen und in Jedem, der eine Seele und eine Spur von Geist besitzt. Keiner von allen den großen Künstlern, auf welche die Menschheit stolz ist, und zwar mit Recht, ist ein Heiland gewesen, und keiner von allen, die noch kommen werden, wird ein Heiland sein. Sie sind die Spitzen der Berge, in denen die Masse des irdischen Geistes empor zum Himmel ragt, doch der diese Geister beseelt, der Heiland, der Erlöser, der lebt in jedem Einzelnen von uns und treibt ihn vorwärts, zur Entwicklung. Darum lege Keiner die Hände in den Schoß, um sich auf den kommenden Messias zu verlassen, sondern ein Jeder wisse, daß er ein Athemzug dieses Kommenden ist, dem Körper ebenso wichtig wie jeder andere auch.

Das sei der Hauptgedanke, den uns der erste Tag des neuen Jahres bringt: Das Hoffen auf den Heiland sei vorüber. Er ist gekommen. Er wohnt in uns und wirkt in uns, um durch unsere Kraft und durch unsere Arbeit auch an Andern das zu werden, was er uns geworden ist, nämlich der Erlöser. Ein jeder Mensch, besonders aber ein jeder Künstler, hat Heilandsarbeit zu verrichten. Das haben zwar Viele erkannt, doch umso weniger waren, die es befolgten. In neuerer Zeit aber beginnt es sich in der Menschheitsseele zu regen. Die Gebiete der Kunst bevölkern sich. Zwar nicht alle, die da kommen, sind wirkliche Künstler zu nennen, aber daß sie überhaupt kommen, ist für uns ein erfreuliches Zeichen. Man hört die Rufe: Die Kunst für die Schule! Die Kunst für das Volk! Die Kunst für Jedermann! Das ist zwar allzu stürmisch, doch man lasse sie gewähren. Der Sturm mildert sich ganz von selbst zum ruhig belebenden Hauch. Weihnachtsstimmung und Weihnachtslicht will den Januar des Außenlebens beseligen und erleuchten. Die Erlösungssehnsucht geht durchs weite Volk. Indem es zu erkennen beginnt, was die Kunst ihm werden soll und werden kann, beginnt die Kunst sofort auch schon, es ihm zu werden. Und das, das ist der Grund für mich, wie ich oben sagte, zwar nicht befriedigt, aber dennoch hoffnungsreich zu sein.

Die Aufgabe des neuen Jahres ist zunächst, das erwachende Streben in die richtigen Wege zu leiten. Es ist auch hier, [10] und vor allen Dingen hier, auf die Doppelaufgabe der Kunst zu verweisen: Gott zur Ehre und dem Menschen zum Frieden, zum Heile: Wer könnte es wohl auf sein Gewissen nehmen, das jugendlich heilige Erwachen der Gegenwart für jene »anderen Götter« anszubeuten, die doch nur Götzen sind, sie mögen heißen, wie sie wollen! Dieses Erwachen soll und muß vielmehr zum frommen Händefalten führen, ganz unwillkürlich und naturgemäß, wie in der seligen Kinderzeit, in der sich des Morgens das Auge nur öffnet, indem der Mund mit Gott dem Vater spricht: Für die Seele des Volkes und für die Seele des Kindes sei das Kunstwerk rein, erhebend und heilig wie ein Gebet! Diese Heiligkeit hat sich nicht nur in der Ausführung, sondern vor allen Dingen in der Wahl des Gegenstandes auszusprechen. Unter »heilig« ist aber hier in diesem Falle keineswegs nur »fromm« gemeint, sondern alles, was die Seele erhebt und nicht nach unten zieht. Und heilig sollte das Kunstwerk nicht nur sein, sondern auch bleiben, auch für das Alter, für für die ganze Lebenszeit! Es ist richtig, daß es eine »Kunst des Häßlichen« und sogar eine »Kunst des Bösen« gibt, aber daß die Kunst das Häßliche will, ist absolut unmöglich!

Zwar hat es gerade in der Gegenwart den Anschein, als ob in gewissen Kreisen das Unschöne, das Unlautere, das Perverse bevorzugt werde, und da sei dann schleunigst konstatiert, daß die Ursachen und die Zwecke dieses allerdings vorhandenen Zuges im Künstler selbst liegen, nicht aber in der Kunst. Die wahre Kunst ist stets gesund und keusch, niemals gebrechlich oder gar pervers! Auch steigt sie weder zu pathologischen Untersuchungen noch zu geschäftlichen Spekulationen herab. Was in dieser und ähnlicher Beziehung unter ihrem Namen geschieht, das ist auf die Rechnung jener Afterkunst zu setzen, der sie ebenso fern steht, wie eine wirkliche Königin der Beherrscherin eines Tingeltangels. So oft ich von Kunst spreche, ist sie, die Hohe, die Reine, die unerreicht Edle gemeint, nicht aber jene abstoßende, lüsterne Dirne, die es zuweilen fertig bringt, sogar an wirklichen Kunststätten Eingang zu finden. Gibt sie, die Hohe, doch selbst ihren Lieblingen nur höchst selten die Erlaubnis, nur rein Irdisches auch nur rein irdisch darzustellen, ohne es in Schönheit einzutauchen und dadurch wenigstens beachtenswert zu machen! Denn wo das geschieht, da entstehen Kontraste, die nicht aufzulösen sind, und Mißstimmungen, die nur zum Kampfe, nicht aber zum Frieden führen. Die Kunst aber, die ich meine und an deren Macht ich glaube, wirft keine Frage auf, die sie nicht [11] beantworten kann, und wenn sie uns zum Kampf die Lende gürtet, steckt sie uns keine hölzerne, sondern den echten, scharfen Stahl des Sieges in die Scheide. Sie scheut den Zwiespalt nicht; sie fordert ihn sogar, weil er es ist, der jede Kraft bewegt und darum Leben und Gesundheit spendet, doch führt sie ihn, mag es im kleinsten oder im erhabensten ihrer Werke sein, zur Auflösung, zur Versöhnung, zum Wohlgefallen und zum – – – Frieden.

Es scheint zwar schwer zu sein, dieses unbedingte und unwiderstehliche Streben der wahren Kunst nach Konsonierung aller vorhandenen Dissonanzen nachzuweisen. Selbst Künstler allerersten Ranges haben sich hierzu im Vorurteil befunden und ihre Größe gerade entgegengesetzt in der Darstellung des hilflos schreienden Unterganges ihrer Helden gesucht. Wir werden aber im weiteren Verlaufe unserer Briefe erfahren, daß dieser Nachweis leichter ist, als es scheint. Freilich dürfen wir bei diesen Betrachtungen über die Kunst nicht an der Oberfläche und in unserer persönlichen Atmosphäre bleiben, sondern wir müssen tiefer steigen und wir müssen weiter schauen, als man gewöhnlich tut. Dann werden sich uns Schätze zeigen und Ausblicke öffnen, die uns, und zwar nicht nur in künstlerischer Beziehung, bereichern, befriedigen und beglücken. Gott segne das neue Jahr!


Radebeul-Dresden, den 7. Dez. 1906.


Karl May.

[12]

4.

IV. […] Radebeul-Dresden, den 22. Januar 1907. Karl May. In: Der Kunstfreund. Illustrierte Zeitschrift für alle Freunde der schönen Künste, redigiert von Leopold Gheri. 23. Jg. 1907. II. Heft. S. 34–35. – Innsbruck: Kunstverlag Eugen Sibler 1907. Reprint in: Karl May. Leben – Werk – Wirkung. Eine Archiv-Edition. Hrsg. von Ekkehard Bartsch. Abteilung I: Leben. Gruppe a: Biographische Selbstzeugnisse. Heft 3.

[34] Briefe über Kunst

IV.

Mein sehr geehrter Herr Redakteur!


Kaum sind wir mit dem Januar aus dem kirchlichen in das bürgerliche Jahr getreten, so zeigt uns schon der Februar, um wieviel irdischer das letztere als das erstere ist: Er bringt die Fastnachtszeit, die Zeit der mittelalterlichen Narrenspiele, die besonders in Nürnberg, Augsburg, Eger, Frankfurt, Dortmund, Lübeck usw. eingehende Pflege fanden. Besonders berühmt und bekannt waren die Schelmenstücke von Hans Rosenplüt, Hans Folz, Manuel Jacob Ayner und Hans Sachs. Freilich, die wahre Kunst kennt weder Narrenspiele noch Schelmenstücke, sondern nur den vom Himmel stammenden und nach ihm zurückstrebenden Frohsinn, nämlich den erlösenden Schmerz resp. das befreiende Lachen. Das orientalische Drama spricht unendlich wahr und tief, wenn es den Satan, bevor er zur Erde niederfährt, sagen läßt:


»Nun gibt es einen Maskenscherz auf Erden;
Der Himmel stellt sich mit der Hölle ein,
Und wenn die Larven weggeworfen werden,
Wird auch der Teufel Gottes Engel sein!«

Das ist die Erlösung in ihrem allerhöchsten Können, die Erlösung, die selbst den Teufel vom Teufel befreit, die Erlösung, welche das Hohngelächter der Hölle in ein errettendes Lächeln verwandelt, um es zum Jubelchor der Seligen hinüber zu leiten.

»Ein Maskenscherz auf Erden.« Wohl dem Künstler, der dieses Wort begreift! Von dem Augenblicke an, wo ihm diese Erkenntnis kommt, wird er aufhören, zu trivialisieren; er wird nur noch wahrhaft Edles, Reines, Hohes liefern können! Zwar nicht die wichtigste Aufgabe, aber doch die wirkungsvollste Taktik und die feinste Technik der Kunst ist es für die, die Anderes schwer begreifen, den Ernst des Lebens lächeln und die menschlichen Allotria heimlich schluchzen zu lassen. Maskenscherz! Die Erde als einen belebten Tränentropfen zeichnen, der um den Mittelpunkt des Glückes kreist. Das Leid als aufgezwungene Larve betrachten, aus welcher herzig-liebe Augen leuchten. Das Erdenglück nicht etwa als etwas höchst Begehrenswertes, sondern als eine Prüfung, als ein Rigorosum darstellen, welches schwer zu bestehen ist und aber doch auf jeden Fall bestanden werden muß. Man sieht, überall nur Maskenscherz. Doch gilt es, diesen Scherz wenigstens ebenso ernst zu nehmen, wie der zur Schau getragene Ernst dieser Maskerade im Grunde genommen lächerlich ist. Das zerrissene Gewand des Bettlers und der schimmernde Mantel des Herrschers, beide sind Maskenstücke. Stelle mir den Bettler so dar, daß ich mich trotz seiner Fetzen vor ihm verbeuge, so bist du ein Künstler, sonst aber nicht! Und bringe mir einen König, mit dem ich trotz seiner Krönungsdiamanten weine, so stehst du hoch über Jedem, der das nicht schaffen kann.

Es gibt ein wohlbekanntes Wort, welches Aehnliches oder gar Gleiches zu sagen scheint: »Die Kunst erzielt ihre größten Wirkungen durch Darstellung von Kontrasten.« Das kann unmöglich richtig sein. Ein zerlumpter Vagabund neben einem goldgeschmückten Fürsten ist zwar Kontrast, aber lächerlich. Ein Elefant neben einer Maus ist ein noch größerer Kontrast, aber ebenso auch noch mehr als lächerlich. Ein Schneesturm in der Wüste Gobi und mitten drin eine blühende La France oder Maréchal Niel ist der allergrößte Kontrast, den man sich denken kann, aber einfach unmöglich. Nur der Kontrast, der sich bei einer Demaskierung zeigt, wirkt künstlerisch, wirkt sogar künstlerisch groß. Anders ausgedrückt: Für die wahre Kunst ist der Kontrast nur dann brauchbar, wenn er nicht der Unähnlichkeit zweier verschiedener Gegenstände, sondern dem Gegensatze zwischen dem Aeußern und dem Innern einer und [34] derselben Erscheinung entspringt. Das Aeußere darf dem Innern, die Form dem Inhalte nicht entsprechen, muß also Maske sein. Darum ist jedem strebsamen Künstler anzuraten, auf den oben erwähnten »Maskenscherz auf Erden« fleißig einzugehen. Tut er das, so wird ihn beim Suchen nach dem eigentlichen Wesen eines Gegenstandes, welches er doch darzustellen hat, die Fülle desselben niemals täuschen können. Wer nur Hüllen malt, malt Larven. Indem er sie als Wesen nimmt, betrügt er erst sich selbst und dann auch Andere; er mag sich wohl Künstler nennen, kann es aber unmöglich sein.

Ich habe schon in meinem ersten Briefe gesagt, daß die Kunst in das Wesen der Dinge einzudringen hat, um die Wahrheit zu offenbaren. Sie darf keine Larve dulden. Sie ist immerwährend am Demaskieren. Sie läutet unausgesetzt an der Stunde, wo der Tag beginnt und der Trug ein Ende hat. Wenigstens in diesem Sinne möchte auch ich gern Künstler sein, möchte mitläuten, mitentdecken, mitentlarven. Wir stehen vor einer neuen und wahrscheinlich großen Zeit. Neue Zeiten erbauen sich aus neuen Gedanken. Neue Gedanken aber entstehen nicht etwa nur in den Köpfen genialer Menschen. Wem ein Gedanke kommt, den er für neu hält, der soll ihn getrost sagen, ohne gleich befürchten zu müssen, daß man ihn der Eitelkeit beschuldigt. Darum schreibe ich Ihnen diese Briefe, mein sehr geehrter Herr Redakteur. Ich weiß, Sie stre ben nach vorwärts und nach aufwärts, grad so wie ich. Doch keinem von uns beiden fällt es ein, daß er alles niederzureißen und sich als Bahnbrecher aufzuspielen habe. Ich fordere Niemand auf, das, was ich denke und sage, als maßgebend zu betrachten. Ich bin kein Lehrer und Prediger der Kunst und weiß sehr wohl, daß ich ihr keine Gesetze vorzuschreiben habe. Aber das Recht, Anregung zu geben, hat Jedermann, sogar der Laie, und das ist es, was ich mir erbitte, weiter nichts. Es gibt unzählige Menschen, die das Leben so leicht nehmen, daß sie es als einen Fasching betrachten. Das tut mir wehe, denn ich weiß, daß dann für sie jenes fürchterliche Fasten beginnt, welches Alles, was sie zu besitzen scheinen, von ihnen herunterzehrt. Sie sind vor dieser ihrer Larve zu warnen, die nur nach außen belustigend, nach innen aber tragisch wirkt. Hier ist der Kunst fast noch mehr Macht gegeben als selbst der Religion, denn sie richtet sich nicht nur auf das Innenleben, sondern auf die Harmonie zwischen innen und außen. Der materiellen Wissenschaft gefällt der Maskenscherz. Indem sie sich als Beherrscherin des äußeren Lebens fühlt, setzt sie sich Gottes Strahlenkrone auf und ihm die Narrenkappe. Die Religion als Gebieterin des Innenlebens, ist nicht robust und körperlich genug, um gegen solche Narretei zu kämpfen und zu siegen. Da komme denn die Kunst um abzuläuten: »Die Larven weg; wir wollen Wahrheit haben!« und wenn sie ernstlich will, wird es gelingen. Es kann ihr nicht genug gesagt werden, daß sie die heilige Pflicht hat, dies zu tun. Zwar soll sie Allem, was sie schafft, jenes »befreiende Lächeln« geben, durch welches sie sich auch selbst erlöst, doch hat dieses Lächeln aus dem Herzen der Menschheit zu kommen und nicht bloß imitiert und Maske zu sein!


Radebeul-Dresden, den 22. Januar 1907.


Karl May.

[35]

5.

V. […] Radebeul-Dresden, den 25. Febr. 1907. Karl May. In: Der Kunstfreund. Illustrierte Zeitschrift für alle Freunde der schönen Künste, redigiert von Leopold Gheri. 23. Jg. 1907. V. Heft. S. 90–92. – Innsbruck: Kunstverlag Eugen Sibler 1907. Reprint in: Karl May. Leben – Werk – Wirkung. Eine Archiv-Edition. Hrsg. von Ekkehard Bartsch. Abteilung I: Leben. Gruppe a: Biographische Selbstzeugnisse. Heft 3.

[90] Briefe über Kunst

V.

Sehr geehrter Herr Redakteur!


Der nördliche Orientale bezeichnet den Monat März als die »Zeit der Wolken«. Die Erde wehrt sich gegen den Himmel. Sie hüllt sich in nebeldunstige Schleier, um sich gegen seine Liebe, gegen sein Licht und seine Wärme einzupanzern. Sie vergißt von Jahr zu Jahr immer und immer wieder, daß diese Auflehnung zwar in der Natur ihres Materialismus liegt, sie aber doch nicht davor bewahrt, der Weltenseele gehorchen zu müssen. Sie ist überhaupt vergeßlich, diese liebe, alte Erde. Sollte sie jemals ein Gedächtnis besessen haben, so hat sie es verloren, vollständig verloren. Selbst wenn ihr einmal eine kleine, kurze Erinnerung aufblitzt, so stammt das nicht aus ihr selbst, sondern es kommt von oben. Sie weiß kein Wort mehr davon, daß sie sich durch die zusammenhängende Reihe ihrer Geschöpfe aus Stoff in Kraft, aus Kraft in Seele und aus Seele in Geist zu verwandeln hat, um auf diesem nicht etwa wunderbaren, sondern ganz und gar natürlichen Wege zu dem zurückzukehren, aus dessen Mund sie stammt.

Diese Vergessenheit haftet Jedem an, den sie, die Erde erzeugt. Auch kein Darwin und kein Häckel wird nachzuweisen vermögen, daß sich ein Mensch auf seinen Affen, ein Vogel auf seine Eidechse, eine Pflanze auf ihr Mineral besinnen kann! Darum bewegt sich unser Leben so tief unten an der Erde hin. Die Menschheit kriecht im Staube wie ein Wurm, wie eine Raupe, die nicht weiß, daß sie in Wahrheit dem Reiche herrlicher, geflügelter Wesen angehört. Was solche Würmer wohl bei sich denken, wenn sich, während sie die Rosen- und Blumenstöcke kahl fressen ein Falter [90] unter sie mischt, um süßen Nektar aus der Blüte zu trinken und sie dadurch zum Duften bewegt, ohne ihr zu schaden! Und ob es wohl hier oder da einen Sterblichen gibt, der das Unsterbliche, wenn es sich zu ihm herniederläßt, als verwandt empfindet und sich ihm nachzuschwingen strebt? Man behauptet, daß der Wurm nicht denken könne. So behauptet man auch, daß der Mensch nichts Göttliches zu erkennen und nichts Göttlichem nachzustreben vermöge, weil es überhaupt nichts Göttliches gebe. Aber ob die Raupe ihn sieht oder nicht, der Schmetterling ist da und wenn der niedere Wurm nicht denken kann, so denkt doch gewiß der höhere und eben weil er der höhere ist, so gedenkt er jedenfalls nichts anderes, als nur das Eine, nicht Wurm zu bleiben. Nicht Wurm bleiben wollen, heißt aber, sich auf das höhere Reich besinnen, dessen Gedächtnis der niederen Natur entschwindet.

Die verlorene Erinnerung an Himmlisches, an Ewiges uns zurückzugeben, ist Aufgabe nicht nur derReligion, sondern auch der Kunst. Beide trachten über die Nebel und Wolken des irdischen Märzes hinauf, beide streben nach jenen Strahlen und nach jenen Farben, die niemals dunkeln, sondern ewig bleiben, weil sie nicht von der Erde sind. Sie können auch in der Seele des Menschen nicht verlöschen. Ihr Verschwinden ist nur scheinbar, ist eine Folge irdischer Düsterheiten und Schatten, die unser Gedächtnis verschleiern. Wem es gelingt, diese Wolken zu durchdringen, vor dessen Auge zerreißt der Vorhang von Saïs, hinter dem nicht, wie die Heiden glaubten, der Tod gebietet, sondern, wie Christus verhieß, das ewige Leben herrscht.

Die Religion steigt durch die Hülle des Nebels in der ihr eigenen Weise direkt zu Gott empor. Sie glaubt an den persönlichen Weltenherrn und an seine Ewigkeit; das heißt, sie wartet nicht auf die Vollendung der Erkenntnis, die sich nach und nach entwickelt. Sie baut nicht langsam vorwärts schreitende Brücken von hier nach dort, sondern sie schwingt sich in einem einzigen, großen, kühn vertrauenden Bogen hinüber an das jenseitige Ufer, in die urbildliche Heimat alles dessen, was auf Erden nur ein Gleichnis ist. Wer seelische Schwungkraft besitzt, der kann ihr folgen. Wem sie fehlt, der muß warten, bis die Brücke fertig ist, an der die Wissenschaft ununterbrochen baut.

Anders die Kunst. Wir wissen, daß sie zwischen der Religion und der Wissenschaft vermittelt. Auch sie steigt empor, doch nicht über die Nebel, Schatten und Schemen hinaus. Sie hat das Irdische darzustellen und darf sich ihm also nicht, wie der Glaube, entziehen. Aber sie steht nicht in der Alltäglichkeit, nicht mitten unter den prosaischen Gegenständen, Sachen und Dingen, sondern hoch über ihnen, im Bereiche der Himmelssehnsucht, der Phantasie. In diesem Bereiche schwindet die irdische Vergessenheit. Die Wolken zerreißen von Zeit zu Zeit, und so oft sie es tun, strebt der Blick über sie hinaus nach dem Räthsel-und Sternenmeer der tausend Ewigkeiten. Es nahen sich von dort her Ahnungen. Es kommen Gedanken, die genau betrachtet, die Gestalt von Erinnerungen haben. Der Künstler nimmt sie in Empfang, um ihnen greifbare Form zu geben. Er schaut aus seiner Höhe auf das unter ihm Existierende. Unter seinem Blicke vereinigt sich das Einzelne zum Ganzen; das Zerstreute gewinnt Zusammenhang und es offenbart sich die Leitung und die Führung alles dessen, was geschieht. Er steigt in sein Arbeitsfeld hinab und je näher er ihm kommt, um so deutlicher wird in ihm die Erkenntnis, daß die Wahrheit, das Wesen der Dinge niemals von der Erde stammt, sondern daß diese nur die sinnlich wahrnehmbare, äußere Erscheinung dazu liefert. Dabei sagt ihm aber sein Gefühl, daß es grundfalsch wäre, die Erde deshalb Lügen zu strafen. Auch sie ist wahr, doch eben nur irdisch wahr, ungefähr so, wie das Sinnbild die Wahrheit dessen sagt, was es bedeutet, aber doch nicht ist. Und grad' die Kunst hat die Aufgabe zu lösen, die scheinbare Wahrheit der Form mit der wirklichen Wahrheit des Wesens in sichtbare Harmonie zu bringen. Bei diesem Bestreben des Künstlers verfeinert und verflüchtigt oder vielmehr vergeistigt sich der Stoff. Er verwandelt sich immer mehr und mehr in zart und duftig materialisierte Seele. Der Künstler empfindet das als ganz selbstverständlich. Er ist zwar erstaunt, doch nicht hierüber, sondern über sich selbst. Denn was durch ihn entsteht, ist ihm vollständig wesensfremd, taucht aber doch aus seinem eigenen Innern auf, um durch seine Hand zum objektiven, vollständig von ihm getrennten Gegenstand zu werden. Er sieht, daß er etwas geschaffen hat, was noch nicht vorhanden war. Und doch war es schon da! Aber wo? Wo kam es her? Aus der ursprünglichen Form, die vor ihm stand? Oder aus ihm selbst? Weder von hierher, noch von dorther; das weiß und fühlt er [91] ganz genau. Er kennt seine Aufgabe, in das Wesen der Dinge einzudringen, um das Aeußere mit dem Innern in Einklang zu bringen und nun will es ihm plötzlich erscheinen, als ob dieses Wesen gar nicht im Dinge selbst, sondern in weiter, weiter Himmelsferne zu suchen sei. Ist das ein Widerspruch? Oder nicht?

Es wurde gesagt, daß sich die Erde gegen den Himmel wehrt. Sie tut das besonders durch solche scheinbare Widersprüche. Sie wehrt sich ganz ebenso gegen den Künstler, wenn er, von fernher inspiriert, die schaffende Hand an ihre noch ungestalteten Formen legt, um sie an einst Vergessenes zu erinnern. Sie bemüht sich, ihn zu täuschen. Sie zaubert ihm die schönsten Linien, die herrlichsten Farben vor. Sie versucht durch alles Mögliche, ihn zu berücken und zu fesseln. Bei einem Künstler von Gottes Gnaden wird ihr das nicht gelingen; jeder Andere aber wird leicht auf jene »sogenannte« Kunst hinübergelenkt, die sich nicht mit Ewigkeitswerten befaßt und dennoch oder grad trotzdem bewundert wird. Der sogenannte »Erdgeruch« ist grad in der Gegenwart beliebt. Wolken – – – nichts als Wolken! Der Erde ihr Recht, sogar ihr volles Recht; doch ebenso und nicht weniger auch dem Himmel sein Recht und zwar sein, wie mir scheint, sehr wohlerworbenes Recht! Ich besuchte kürzlich mit meiner Frau ein Konzert der hiesigen königlichen Hofkapelle. Ein fremder Violinist, ein Künstler von Gottes Gnaden, trug ein Solo vor. Am Schlusse gab es stürmischen Applaus; wir beide aber blieben still. Meiner Frau standen die Augen voller Tränen und dann, als die tiefe Ergriffenheit überwunden war, sagte sie: »Mir war, als trügen diese Töne mich hoch und hoch und immer höher empor, bis an die Tür, aus der wir alle stammen. Ich kannte sie. Sie stand weit geöffnet. Die Erinnerung kam. Da war das Stück zu Ende!«

Mein sehr geehrter Herr Redakteur, sehen oder hören Sie irgend ein Kunstwerk, sei es welcher Art immer, und Sie haben das Gefühl, als ob die Wolken sich über Ihnen oder in Ihnen öffneten und die Erinnerung an den Augenblick eines früheren Daseins durch diese Spalte leuchte, so segnen Sie den Künstler, denn er ist ein gottbegnadeter Mann und der Moment, den er Ihnen zeigte, ist Wirklichkeit, ist Wahrheit, ist kein Trug.


Radebeul-Dresden, den 25. Febr. 1907.


Karl May.

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