Tolstois Tod
am 20. November 1910

Die Liebe ist verwaist. Ihr stärkster Hort,
ihr Schützer, ihr Prophet, ihr Held, ihr Sohn,
die menschgewordne Liebe selbst ging fort.
Das Herz der Welt erbebt in seinen Festen,
erschüttert von des Worts Posaunenton,
vom Testament des Weisesten und Besten.
Er ging, wie nie ein Mensch noch sterben ging,
nicht müde flüchtend, nicht mit Todesbeben;
er sprengte seines Daseins goldnen Ring,
zu einen seines Herzens mächtigen Schlag
mit dem der Welt. – An seinem Sterbetag
grüßt ihn der Sieg des langen Kampfs: das Leben ...
Noch schläft die Sonne hinter Reif und Frost;
vereiste Wege, nur vom Schnee erhellt,
durchkreuzen bleich und lang erfrorne Gründe.
Durch den Novembermorgen pfeift und gellt,
wie Atemstöße roher Menschensünde,
von Schmerz und Wollust heulend der Nordost.
Da trappeln Pferde. Eine Wagenspur
spult flimmernd sich im schneeigen Boden ab.
Ein Greis verläßt sein Weib, sein Gut, sein Haus.
Hinaus in Gottes einsame Natur!
Die Hufe schlagen auf im scharfen Trab –
in Rußlands stillste Einsamkeit hinaus.
Was arme Menschen Wohlstand dünkt und Glück:
Bequemlichkeit und festliches Geschmeide
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und Zärtlichkeit und liebende Betreuung –
der flüchtige Greis wirft keinen Blick zurück.
Die Seele, eingekrustet im Genuß,
sehnt sich nach Reinigung und nach Erneuung.
Sie wäscht sich rein von aller Menschheit Leid,
und aller Menschheit weiht sie ihren Kuß. –
Sucht nicht den Gatten, sucht den Vater nicht,
der ohne Abschied ging, um Gott zu finden;
in seiner Sterbestunde für die Blinden
das Heil zu suchen, Stab und Mut und Licht.
Der euch verließ, gehört nicht euch allein.
Stört nicht sein Tun, so ihr die Menschheit achtet!
Wenn ihr barmherzig seid, tränkt nicht mit Wein
den Sterbenden, der nach Erlösung schmachtet! –
Der Tag steigt auf. Die helle Sonne leuchtet
ins herbstliche Gefild mit heller Glut,
daß rings vom Tau der Schnee sich funkelnd feuchtet
und daß des Greisen welke Brust sich dehnt,
noch einmal sich zurück zur Jugend sehnt,
noch einmal rascher rieseln fühlt das Blut.
Dann sinkt der Leib zusammen siech und schwach. –
Nur rasch ihn betten unters nächste Dach! –
Und die ihn lieben, kommen, ihn zu pflegen,
noch einmal seine bleiche Hand zu küssen
und zu empfangen Scheidegruß und Segen.
Er wehrt sie ab. Schon dorren seine Lungen,
schon jagt in irrem Schlag der Puls des Kranken:
In dieser Stunde nicht bedrängt sein müssen
von Zärtlichkeiten und Erinnerungen.
Nur noch zum All die Worte und Gedanken! –
Da draußen liegt die weite weiße Erde,
das Schlachtfeld, wo Millionen Menschen leiden,
wo Haß und Kampf und Kriege und Beschwerde
das Menschenherz von seiner Gottheit scheiden.
Liebt euch! Seid Freunde, Brüder! Haltet Frieden!
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Seid gut und widerstehet der Gewalt! – –
Der Sterbende hat an die Bahnstation
die ganze Menschheit vor sein Bett beschieden,
befiehlt ihr, Gottes Odem einzusaugen.
Er atmet auf. Ein Todeshauch weht kalt
um Herz und Stirne – und der Menschensohn
erkennt sich selbst und seufzt und schließt die Augen.
Sein Herzschlag hat sich dem der Welt vereint. –
Die Liebe ist verwaist. – Die Menschheit weint.

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