[95] An meines Vaters Grabe 1

Willkommen mir, ihr feyerlichen Schauer
An dieses Kirchhofs eingefallner Mauer;
Hier leg' ich müde meinen Wanderstab
Auf dieses Leichensteins zerborstne Trümmer,
Und setze mich in Lunens Silberschimmer
Zur Ruh auf eines Bruders Grab.
Hier wandelt ernst allein in tiefer Stille
Der Mensch mit sich in der Empfindung Fülle,
Die Wohl und Weh in seinen Busen trägt,
Die ihm, entrückt dem bunten Weltgewimmel,
Die Pforten öffnet zu dem goldnen Himmel,
Und ihn in Qual der Hölle schlägt.
Hier steig' ich auf von moosbewachsnen Hügeln
Auf reiner heißer Andacht Feuerflügeln,
Hinauf, o Gott, zu deinem Strahlenthron,
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Und bethe dir, aus dessen Hand die Sonnen
In ihre Flammenmeere hingeronnen,
Vom Staub der Erde noch dein Sohn.
Gib meinem Blick, wenn deine Myriaden
Sich in dem Glanze deines Lichtes baden,
Noch Stärke, daß ich von der tiefen Höh
Durch jenes Raumes ungemeßne Gründe
Die Harmonie der Schönheit wieder finde,
Die ich hier oft verschwinden seh.
Laß mich, wenn mich die Zweifel übersteigen,
Nicht meinen Nacken unter Zweifeln beugen,
Und halte meinen Geist im Gleichgewicht,
Du Gott des Seraphs und du Gott des Wurmes,
Der in dem Lenzhauch und im Sturz des Sturmes
Mit Wohlthat den Erschaffnen spricht.
Wenn mich die Welt zu hohem Zorn entflammet,
Mein Feuereifer rund umher verdammet,
Wenn schwer mein Herz mit deinem Rechte ringt;
So will ich hier zur Schedelstäte treten,
Und ein Gebeth bey deinen Todten bethen,
Das meiner Seele Frieden bringt.
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Hier ruhen sie von ihres Lebens Frohnen,
Die Brüder einst, in stillen Legionen
In ihrem kleinen kühlen Aschenhaus;
Ruhn von den Lasten, die sie nieder drückten,
Vom Unrecht, unter dem sie schwer sich bückten,
In brüderlichem Schlummer aus.
Hier bin ich oft, wo jene Ulmen hangen,
An meines Vaters treuer Hand gegangen,
Dort, wo das schwarze Bahrenhäuschen steht;
Hier folgt' ich weinend seinem Sarg, hier haben
Sie ihn, den guten, braven Mann, begraben,
Wo kalt der Nord herüber weht.
Wo ist dein Grab, daß ich am Grabe weine?
Des Armen Gruft bezeichnen keine Steine;
Und weiter nichts warst du, als arm und gut.
Schon mehr als zwanzig Jahre sind verflogen,
Seit Wetterstürme um die Statte zogen,
Wo dein Gebein von Erde ruht.
Ich find' es nicht in der Entschlafnen Menge;
Dem Tode wird sein Leichenfeld zu enge:
Schon sank der Hügel über deiner Gruft;
Und gleich den Helden, die in zwanzig Schlachten
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Das Ährenfeld umher zum Kirchhof machten,
Schläfst du, wo hohl der Uhu ruft.
Hier an dem Thor, der Mauer hier zur Rechten,
Wo hoch sich Dornen über Gräber flechten,
Hier war es, wenn mich Phantasie nicht täuscht.
Wo treue Nachbarn dein Gebein geborgen,
Und wo Natur jetzt nach zehn tausend Morgen
Noch eine stille Thräne heischt.
Hier setz' ich mich, wo ich einst oft gesessen,
Und will mein Herz mit Kraft zusammen pressen,
Wo ich zuletzt dein ernstes Antlitz sah;
Und bethen will ich, hier wo wir einst schieden,
Ich zu dem Kampf, du zu des Himmels Frieden,
Und überschauen, was geschah.
Das Schicksal hat, seitdem wir dich begraben,
Mit ehrner Hand den Mann wie einst den Knaben
Im Labyrinth schon manchen Weg gelehrt;
Doch darf ich noch, o könntest du es hören!
Um Mitternacht an deinem Grabe schwören:
Ich war noch immer deiner werth.
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Du warst ein Mann, der seines Lebens Bürde,
Mit hohem Sinn und stets mit Muth und Würde,
Bis an den Schluß des letzten Tages trug,
Den nie das Glück mit wiederhohltem Streiche,
Du standst im Sturm wie in dem Hain die Eiche,
Zum Sclavenjammer niederschlug.
Du warst, wenn wir an deinen Knien hingen,
Und nach der Reih von deiner Hand empfingen,
Froh wie ein alter Patriarchensohn,
Und hattest bey dem kleinen Kohlgerichte
Am runden Tisch im festlichen Gesichte
Entzückung uns, den Feinden Hohn.
Du zahltest fest des Unstern schwere Schulden
Als braver Mann mit deinem letzten Gulden,
Und wiesest dann uns mit Zufriedenheit
Auf jenen Vater, der die Sterne säet.
Vor dem das Wohlthun wie ein Bothe gehet,
Und der der Erde Segen streut.
Du reichtest noch, wenn dir selbst Mangel drohte,
Dem Dürftigern vergnügt von deinem Brode,
Und sprachst noch Trost der Kummerseele zu;
Und drückten schwer dein Herz dann eigne Sorgen,
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So gab zum Werk an jedem schönen Morgen
Dir bald ein weiser Denkspruch Ruh.
Du duldetest, als dich die Krankheit quälte,
In deren Lauf man schon ein Lustrum zählte,
Mit männlicher und lächelnder Geduld:
Du scherztest noch, als unsre Thränen rollten,
Und bathest nur, daß wir nicht weinen sollten,
Und zahltest dann die letzte Schuld.
Jetzt ruhest du, entronnen allen Fluthen,
Im Vaterland nun sanft bey Gottes Guten,
Und blickst vielleicht mit Wehmuth nur zurück;
Und bethest, wenn dich neue Himmel blenden,
Die Seligkeit der Seele zu vollenden,
Für uns um Theil an deinem Glück.
Mit Genien, die jetzt dir jauchzend rufen,
Schaust du des Throns erhabne goldne Stufen,
Und hörst der Morgensterne Lobgesang;
Und dringst verklärt mit Einem schnellen Blicke
Im Flug Äonen vorwärts und zurücke,
Mehr als hier je ein Seher drang.
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Du wandelst dort in lichten Regionen,
Wo endlich Tugend, Ruh und Wahrheit wohnen,
Von denen nur der Nahme bey uns ist;
Wo Gott, den Rückstand endlich voll zu zahlen,
Gerechtigkeit in allgemeinen Schalen
Mit unbestochner Wage mißt.
Dort lachet nicht mit Belialsvergnügen
Ein Bösewicht des Rechts in letzten Zügen;
Dort spricht des Unsinns blutbestellter Frohn,
Mit Geiferwuth und schwer verschloßnen Ohren,
Für jeden Funken bessern Lichts verloren,
Nicht aller Menschenwürde Hohn.
Dort psalmodeyt kein wohlgenährter Bonze,
Im Kopfe Nebel, in dem Herzen Bronze,
Dir seiner Wuth ergrimmten Widerspruch;
Läßt nicht, die heilige Vernunft zu tödten,
Des Aberglaubens Eisenmänner reden
Aus einem dickbestäubten Buch.
Dort wird die Nacht, durch die wir irren, helle,
Und alles tritt an seine rechte Stelle
Zu einem schönen abgemeßnen Gang.
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Dort werden Labyrinthe sich entrollen
Zu einem ewig harmonienvollen
Und göttlichen Zusammenhang.
Verweilest du jetzt dort auf deinem Sterne,
Sieh, Seliger, aus diamantner Ferne
Als Genius herab auf deinen Sohn,
Und trage mir, wenn ich in Zweifeln irre,
Die Strahlenleuchte vor in dem Gewirre,
Wo rechts und links mir Klüfte drohn.
Dann werd' ich nie vom heiligen Gedanken
An Gott und Tugend nur ein Haar breit wanken,
Und immer ruhig an dem Vorhang stehn,
Und freudig, wenn die große Losung tönet,
Mit mir und allem um mich her versöhnet,
Zu deinen Sphären übergehn.
Wenn Stürme je in meinen Pilgertagen
Mich von dem vorgemeßnen Pfade schlagen,
So komm' ich still an diesen Ort herab,
Und setze mich, um Licht und Muth und Kräfte
Zu meines Lebens ernstestem Geschäfte,
Hier an dein unbekanntes Grab.

Fußnoten

1 Wirklich fiel der ganze Entwurf zu diesem Gedicht in meine Seele, als ich einst nach einer sehr ermattenden Fußreise, ganz kraftlos, den Abend sehr spät auf dem Kirchhofe nahe an dem Grabe meines Vater und vielleicht auf demselben ausruhte: denn während der langen Zeit meiner Abwesenheit waren die Hügel umher sehr bewachsen und verfallen. Ich will hier einen Umstand erzählen, den ich bis jetzt, so viel ich weiß, noch gegen keine Seele erwähnt habe, der aber noch heute so neu wie damahls in mir liegt. Mein Vater, der für seine Verhältnisse vorher leidlich wohlhabend war, hatte durch eine unglückliche Pachtung, durch die damahlige Theurung Anno 1770 und 1771, und bey einer Krankheit von drey Jahren fast sein ganzes Vermögen zugesetzt, und war genöthigt, zum Unterhalt seiner Familie ein mit Frohne behaftetes Gut zu kaufen. Seine immer mehr abnehmende Gesundheit und die daraus entstehende traurige Aussicht, da alle seine Kinder noch klein waren, gewann dann zuweilen Gewalt über seinen natürlich guten frohen Muth. Eine nicht beachtete und sodann vielleicht übel behandelte starke Erkältung war die Ursache seiner Krankheit, die nach drey Jahren mit Apoplexie sein Leben endigte. Vorzüglich drückend war ihm in seinen letzten Tagen die Frohnarbeit, die er selbst verrichten mußte, wenn nicht sein Haus sogleich ganz zu Grunde gehen sollte. Natürlich war die Sense für seinen immer mehr ermattenden Arm zu schwer; er strengte sich bis zur Ohnmacht an, und mußte einige Mahl die Mäher auf der Wiese verlassen. Seine Erhohlung war sodann, zuweilen einen kleinen Knaben, meinen jüngsten Bruder, vor der Hausthür auf dem Knie zu haben; und auch diesen setzte er oft ganz ermattet von sich. »Wenn er nur so da sitzen und mit dem Jungen spielen kann,« sagte der vorbeygehende Vogt, ein Mensch ohne Gefühl, wie ihn sein Handwerk forderte, »so befindet er sich ganz wohl; da sieht man ihm nichts an. Nur arbeiten kann er nicht.« Die Mitgehenden murmelten dumpf theils ihren Beyfall, theils ihren Unwillen. Mein Vater trocknete sich schweigend eine Thräne aus dem Auge, das bessere Zeiten gesehen hatte, setzte den Knaben auf die Bank und schlich sich matt in einen einsamen Winkel. Nach drey Tagen war er todt. Ich überlasse dem humanen Leser, sich zu denken, welche Wirkung das Ganze auf meine Seele machen mußte, und bey vermehrter Bildung noch mehr gemacht hat. Mein Vater war übrigens ganz der enthusiastisch rechtschaffene Mann, wie ich hier von ihm gesprochen habe; und nichts hat mir in meinem Leben so rein wohl gethan, als da ich einst mit dem Ausdruck empfohlen wurde: Er ist ein Knabe guter Art; der Segen seines Vaters ruhet auf ihm. Ich entschuldige mich nicht. Wem diese Züge kleinlich vorkommen, der ist nicht werth, einen guten Vater zu haben. Die folgenden zwey kleinen Lieder wurden auf Verlangen meiner Mutter und für sie geschrieben. Ich habe sie mit aufgenommen, weil ein Mann, dessen Gefühl und Offenheit ich traue, ihnen unaufgefordert etwas Werth beylegte.

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