Zur Psychologie des Marxismus und der »radikalen« Literaten

Lieber Herr Willy Haas!

Ich möchte Ihnen zunächst persönlich für den so freundlichen und interessanten Brief danken, den Sie an mich gerichtet haben.

Sachlich haben Sie leider allzusehr recht.

Ich hatte mir vorgenommen, in der nächsten Zeit einmal auf die Brüchigkeit, Neurasthenie und die völlige Lebensuntüchtigkeit mancher Kreise hinzuweisen, die sich ›radikal‹ nennen, und ich weiß, daß [214] es vom Wandervogel bis zu Leuten, deren Namen ich zunächst nicht nennen will, eine böse Entrüstungskampagne geben wird. Das vertragen die Herren nämlich am allerwenigsten, daß ihnen einer sagt: mir ist ein Erzreaktionär als Kapitän eines Passagierdampfers lieber als ein zerfahrener Literat, der unpünktlich, fahrig und unfähig ist, zu disponieren. Natürlich ist gegen Kant kein Einwand, daß er vielleicht ein schlechter Chauffeur gewesen wäre: aber gerade diese Herrschaften, die ständig zur Tat aufrufen, lassen eine Lebenstüchtigkeit vermissen, die der Geistesmensch Lenin bei 28 geschriebenen Bänden auf das Vorzüglichste bewiesen hat. Ich für meinen Teil möchte bei den meisten unsrer Radikalen nicht mitansehen, wie sie auch nur einen Umzug in die Wege leiten oder wegen eines Mietvertrages verhandeln oder den Streit zwischen zwei Angestellten schlichten – und unter gar keinen Umständen möchte ich unter diesen Leuten arbeiten. Ich habe das bisher noch nicht gesagt, aber ich fürchte, es ist sehr an der Zeit, daß man es tut.

Denn, sehen Sie, das, was am Preußentum gut und gesund ist, besitzen diese Leute leider wenig oder gar nicht, sehr zum Schaden unsrer Sache, die, wie jede andere, eben nicht ohne ein gewisses Mindestmaß von Pflichterfüllung, Fleiß und vor allem von gesundem Menschenverstand geführt werden kann. Eben dieser gesunde Menschenverstand scheint mir bei so vielen unserer ›Radikalen‹ zu fehlen: die Leute haben kein inneres Maß, kein Gefühl für die Notwendigkeiten des Lebens, mit denen man doch rechnen muß, wenn man etwas erreichen will. Mit Dialektik und Neurasthenie allein ist die Sache eben nicht zu machen.

Ich habe die Absicht, in der ›Weltbühne‹ einmal ausführlich auf dieses Thema zurückzukommen, und bis ich das tue, mögen Sie bitte mit diesem Brief beginnen, was Ihnen richtig erscheint.

Inzwischen bin ich, wie immer, mit den kameradschaftlichsten Grüßen

Ihr sehr ergebener

Tucholsky


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