Die kleine Luise

Wenn junge Fräulein aus der Stadt, die das Pfarrleben nur aus Voß' Luise und aus ihren eigenen Illusionen kannten, hie und da einen Nachmittagspaziergang in das Pfarrhaus zu W. machten, wenn sie in der Gartenlaube Kaffee tranken und frische Butter genossen, so fühlten sie sich so recht durchdrungen vom Frieden des Landlebens und priesen Luise, das Pfarrtöchterlein, glücklich, daß sie immer an diesem freundlichen Aufenthalt, dem Staub und Gezänk der Städte fern, verweilen durfte. Luise sah sie dann wohl etwas verwundert aus ihren freundlichen Augen an und besann sich, ob wohl diesen jungen Mädchen, die nur für ihre Ausbildung und für ihr Vergnügen lebten, der Tausch auch in die Länge gefallen würde. Sie selbst kam sich dann recht undankbar vor, daß sie dies gepriesene Glück bis jetzt nicht höher geschätzt hatte, und griff noch viel frischer und unverdrossener ihre mannigfaltigen Pflichten an, von denen die Fräulein wohl gar keine Vorstellung hatten.

Luise war das älteste Kind des Pfarrers und hatte ihre Mutter kaum gekannt. Ihr Vater war so angegriffen worden von dem Tode seiner Frau, daß er es für seine Pflicht hielt, als Hausvater, der sich den Seinen erhalten müsse, so viel als möglich für seine Erholung und Zerstreuung zu tun. Die Aufsicht über den verwaisten Haushalt hatte Jungfer Dore, eine entfernte Verwandte des Pfarrers, übernommen; eine zänkische Person, die Luise spinnen und stricken lehrte und der im [92] übrigen sie und die zwei kleinen Brüder überall im Wege waren. Die Kinder bemerkten auch oft gar bedenkliche Zustände an ihr, zumal wenn sie Kellergeschäfte besorgt hatte; sie zogen sich dann scheu in eine Ecke des Zimmers oder des Gartens zurück. Luise machte ihnen Berge von Sand und Nestchen von Heu, oder sie tummelte sich mit ihnen auf dem Rasenplatz des alten Kirchhofes. Die Kinder wurden nicht geplagt, sie hatten nicht Mangel zu leiden; aber der Druck, der auf einer freudlosen Heimat liegt, senkte sich schwer auf ihre jungen Seelen.

Da kam Tante Jette, eine entfernt wohnende Schwester des Pfarrers, zum Besuch und entdeckte mit Entsetzen die unordentliche Wirtschaft der Jungfer Dore. »Christian,« sagte sie dem Pfarrer mit Entschiedenheit, »es hilft alles nichts: du mußt wieder heiraten, dein Haus und deine Kinder gehen zu Grund.« – »Ich glaube es selbst,« sagte dieser ergeben; »ich habe lange schon gemerkt, daß es nicht recht im Hause zugeht, und aus lauter Verdruß und Mitleid mit den armen Kindern mochte ich gar nicht mehr daheim bleiben. Wenn du mir ein taugliches Frauenzimmer weißt ...«

Die Tante blieb vorderhand da; Jungfer Dore wurde entlassen, was den Kindern nicht leid tat, obgleich sie von der heulenden Zärtlichkeit überrascht waren, mit der sie beim Abschied sie umarmte. Sie wurden gründlich gewaschen und bekamen neue Kleider, und bei jeder vorkommenden Unart pflegte die Tante zu seufzen: »Aber um Gottes willen, was wird dazu eine Stiefmutter sagen!«

Eines Tages wurden Haus und Kinder besonders schön geputzt, Gugelhopfen gebacken und der Kaffee viel heller als gewöhnlich geröstet. Die Tante ermahnte die Kinder, sich ordentlich aufzuführen: »Es kommen Besuche; da müßt ihr hübsch freundlich und artig sein, und wenn ein Fräulein mit euch redet, so seid nur nicht so dumm schüchtern. Ihr dürft auch ein Späßchen machen und zu ihr sagen: ›Sei du unser Mütterlein!‹ Das wird sie freuen, und ich geb' euch dann nachher Kuchen.« – »Aber unsre Mutter ist ja tot,« meinte Luise; [93] »und Stiefmütter sind bös,« sagte der kecke Fritz. – »Schweig, naseweiser Bube!« schalt die Tante. »Ihr dürft ja froh sein, wenn der Vater wieder eine brave Mutter für euch bringt! Theodor ist gewiß artig und kann ganz nett Mutter sagen zu dem Fräulein, das bin ich gewiß.«

Nun, die Besuche kamen. Es war eine Bekannte der Tante, eine wohlhabende Kaufmannswitwe der nahen Stadt und ihre Tochter, eine sehr stattliche, elegante Dame von etwa achtundzwanzig Jahren. Die Mama sah sich recht gehörig in allen Räumen des Hauses um und ließ sich beim Kaffee von der Tante alle Zehent- und sonstigen Verhältnisse der Pfarrei gründlich auseinandersetzen; der Pfarrer unterhielt sich mit der Tochter, die trotz der großen Sicherheit ihres Benehmens doch hier etwas verlegen schien und sich zuletzt zu den Kindern wandte, die von Luisen beaufsichtigt an einem Kindertischchen in der Ecke saßen. »Die Kleine hat schöne blaue Augen,« sagte Fräulein Amalie, als sie Luisens stillem, aufmerksamem Blick begegnete, »und sieht verständig aus;« – »und recht gutmütig,« fügte ihre Mama hinzu. – »Das sind alle drei,« bestätigte die Tante, »das ist in unsrer Familie.« Fritz verstand dunkel die bedeutungsvollen Blicke der Tante, und ihrer Ermahnungen zur Zutraulichkeit eingedenk, zeigte er Amalien sein Bilderbuch und fragte: »Gelt, das ist schön?« – »Jawohl, ihr habt viel schöne Sachen,« sagte Amalie. – »So bleib du eben da und sei unser Mütterlein!« stieß Theodor ziemlich überraschend heraus und blickte dann triumphierend nach der Tante und nach dem Kuchen. Amalie wurde rot, Tante und Mama stießen sich an. »Wie wunderbar,« meinte die letztere. – »Sichtbar Gottes Finger,« sagte die Tante.

Nun wurde noch ein Spaziergang durch den Garten gemacht, bei dem die Kinder entbehrlich waren; Theodor rühmte sich sehr seiner Heldentat, und Fritz sah etwas neidisch auf das größere Stück Kuchen, das er zum Lohn dafür erhalten; Luise aber machte sich in ihrem sechsjährigen Köpfchen ihre eigenen stillen Gedanken.

Nicht gar lange nach diesem Besuch wurden wieder festliche [94] Anstalten im Pfarrhaus getroffen, nicht nur Gugelhopfen, sogar Biskuit und Zimtsterne gebacken. Das Fräulein kam wieder, viel schöner geputzt als damals, und der Pfarrer stellte sie den Kindern als seine Braut und ihre künftige Mutter vor. Sie brachte Luisen, die seither noch Trauer um die Mutter getragen hatte, ein Rosakleidchen mit, den Knaben Trommel und Gewehr, und küßte die Kinder; die Tante sagte ihnen, daß es ein großes Glück für sie sei, eine so gute Mutter zu bekommen, und es war eine Freude und Herrlichkeit.

Als nun bald darauf die Hochzeit gefeiert wurde, als man die alten geweißten Zimmer tapezierte und die neue Mutter mit vielen neuen und schönen Sachen einzog, da ging es der kleinen Luise eigen. Sie mußte viel mehr an die verstorbene Mutter denken als zuvor: wie sie an dem Arbeitstischchen am [95] Fenster gesessen, die Kinder auf Schemeln zu ihren Füßen; wie man sie am letzten Tag noch zu ihr gebracht, wo sie so bleich auf ihrem Bett gelegen war und ihnen nur stumm die Hand gegeben hatte, und wie sie nachher mit dem toten Brüderlein im Arm ganz unter Blumen im Sarge gelegen. Sie konnte darüber mit niemand sprechen, konnte auch nicht sagen, wie es ihr weh tat, als man das alte runde Tischchen der Mutter in eine obere Kammer trug und dafür einen eleganten Arbeitstisch mit gedrehten Füßen ans Fenster stellte. Aber sie war ein Kind und freute sich auch wieder wie ein Kind an allem Neuen: an den tapezierten Zimmern, den schönen Möbeln und auch an der neuen Mutter.

Gar zu viel konnten sie nun diese freilich nicht genießen; die junge Frau versicherte den Pfarrer mit angenehmer Heiterkeit, daß sie nicht aufs Land gezogen sei, um daheim einzurosten: da wurden denn kleine Reisen zu Verwandten und zahlreiche Besuche in der Nachbarschaft gemacht und erwidert. Die Kinder hatten gar nichts dagegen, da stets etwas Gutes für sie dabei abfiel und sie auch zu Anfang öfters mitgenommen wurden; auch erbaute sich jedermann an der Zärtlichkeit der jungen Stiefmutter gegen die Kinder, namentlich gegen Theodor, der gar ein netter Junge war. Mit der Zeit wurde es freilich lästig, die Kinder mitzuschleppen; auch bekam Theodor einen Ausschlag um den Mund, mit dem man ihn nicht gut sehen lassen konnte. Man ließ ihn daheim und die andern ihm zur Gesellschaft.

So saß denn Luise wieder mit den Brüderlein zusammen im Grasgarten oder in der Zimmerecke, tröstete den ungeduldigen Theodor, den die Mama nicht mehr gern bei sich hatte, weil ihr sein Aussehen Ekel einflößte, und erzählte den beiden Geschichtchen, – sie war wie ein kleines Mütterlein mit den Brüdern, noch ehe sie sieben Jahre alt war.

Da kam zu großem Jubel der Kinder ein neues Schwesterchen zum Vorschein. Die Wärterin aus der Stadt, die angekommen war, ließ die kleinen Bursche aber nicht ins Wochenzimmer; nur Luise durfte dableiben, das Schwesterlein wiegen, [96] der Mutter die Fliegen wehren, die kleinen Hemdchen vom Trockenplatz holen, sie machte sich gar brauchbar, die kleine Luise; aber die Brüder seufzten unaufhörlich nach ihr und kamen in sehr verwilderten Zustand.

Die Mama war wieder auf und lebte ihrer Erholung; Luise führte das Kind im Wägelchen in den Grasgarten, lachte und sang ihm vor, wenn es weinen wollte, und auch die kleinen Zigeuner von Brüdern ließen sich wieder blicken. Die Mama fand es entsetzlich, daß es auf dem Dorf keine Kleinkinderschule gebe, wo man so unmüßige Bursche aufheben könne. Als nun im nächsten Jahr der Abwechslung halber ein neues Brüderlein gekommen war, da fand sie es unumgänglich nötig, die Buben in einem guten Kosthause unterzubringen, wo sie unter beständiger Aufsicht seien. Der Pfarrer meinte, sie seien doch noch gar zu jung; aber die Frau sagte mit großer Bestimmtheit: »Ich habe Mutterpflichten für diese Kinder übernommen und muß für ihr Bestes sorgen, auch wo es Opfer kostet. Du siehst, ich lasse Luise nicht von mir und wollte gern das Äußerste tun; aber alles ist mir leider nicht möglich, meine armen Kleinen haben doch auch einiges Anrecht an mein Mutterherz.« Die Frau blickte mit nassen Augen auf die zwei armen Kleinen, die eben von Luise und dem Kindermädchen zur Ruhe gebracht und gehätschelt wurden, und der Pfarrer willigte seufzend ein.

Die Pfarrerin wurde eine wahre Löwin von Mutterliebe für die zwei Knaben, sie ließ Schneider und Nähterinnen kommen, um ihre allerdings sehr verwahrloste Garderobe herzustellen: gesunde, neue Stücke auf Knie und Ellbogen, die den verblichenen Gewändern wieder ihre Jugendschöne vortäuschten. Sie ließ sich nicht nehmen, die Knaben selbst zu der Frau Präzeptorin zu bringen, die sie in Kost nehmen sollte; sie gab dieser geplagten Frau, die achtzehn Kostgänger neben sechs eigenen Kindern auf mütterlichem Herzen tragen sollte, die allerumständlichste Anweisung, wie der Charakter und die Garderobe ihrer Kinder zu behandeln seien; sie empfahl sie ihr zehnfach zu bester Aufsicht und Pflege und wurde[97] über ihre eigene Muttertreue so gerührt, daß sie Tränen vergoß. Dem Pfarrer wurde das Herz gar schwer, als er die armen kleinen Bursche in fremdem Hause zurücklassen mußte; aber er erfuhr auf dem Heimwege noch so viele und gründliche Beweise von der mütterlichen Fürsorge seiner Frau für die Knaben, daß es seine eigene Schuld war, wenn er nicht gehörig glücklich und dankbar wurde.

Luise war daheim geblieben mit der Kindsmagd bei den kleinen Geschwistern; sie lehrte gerade Gabrielchen gehen und hatte unbeschreibliche Freude an ihr; aber das Kissen des kleinen Bruno, in das sie ihr Köpfchen barg, wurde naß von den vielen heißen Tränen, die sie den Brüdern nachweinte.

Es brauchte nicht viele Jahre, bis auch diese Lücke im Pfarrhaus wieder ausgefüllt wurde; das Mittelalter und die Römer- und Griechenzeit mußten Namen für den jungen Nachwuchs liefern: eine Gabriele, Kornelia und Adelgunde, ein Bruno, Artur und Tuisko füllten allmählich alle Räume des Pfarrhauses, und es gab kaum in den Ferien und bei den jeweiligen Tauffesten mehr Raum für Fritz und Theodor, die sich mit der neuen Bevölkerung gar nicht mehr zurecht fanden und, wenn sie einmal wieder zum Besuch nach Hause kamen, Luisen beim Eintritt am Ärmel zupften und leise fragten: »Du, ist wieder eins da?«

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