Adler und Taube Ein Adlersjüngling hob die Flügel Nach Raub aus; Ihn traf des Jägers Pfeil und schnitt Der rechten Schwinge Sennkraft ab. Er stürzt' hinab in einen Myrtenhain, Fraß seinen Schmerz drei Tage lang Und zuckt' an Qual Drei lange, lange Nächte lang. Zuletzt heilt ihn Allgegenwärt'ger Balsam Allheilender Natur. Er schleicht aus dem Gebüsch hervor Und reckt die Flügel – ach! Die Schwingkraft weggeschnitten – Hebt sich mühsam kaum Am Boden weg Unwürd'gem Raubbedürfnis nach, Und ruht tieftrauernd Auf dem niedern Fels am Bach; Er blickt zur Eich hinauf, Hinauf zum Himmel, Und eine Träne füllt sein hohes Aug. Da kommt mutwillig durch die Myrtenäste Dahergerauscht ein Taubenpaar, Läßt sich herab und wandelt nickend Über goldnen Sand am Bach Und ruckt einander an; Ihr rötlich Auge buhlt umher, Erblickt den Innigtrauernden. Der Tauber schwingt neugiergesellig sich Zum nahen Busch und blickt Mit Selbstgefälligkeit ihn freundlich an. »Du trauerst«, liebelt er, »Sei guten Mutes, Freund! Hast du zur ruhigen Glückseligkeit Nicht alles hier? Kannst du dich nicht des goldnen Zweiges freun, Der vor des Tages Glut dich schützt? Kannst du der Abendsonne Schein Auf weichem Moos am Bache nicht Die Brust entgegenheben? Du wandelst durch der Blumen frischen Tau, Pflückst aus dem Überfluß Des Waldgebüsches dir Gelegne Speise, letzest Den leichten Durst am Silberquell O Freund, das wahre Glück Ist die Genügsamkeit, Und die Genügsamkeit Hat überall genug.« »O Weise!« sprach der Adler, und tief ernst Versinkt er tiefer in sich selbst, »O Weisheit ! Du redst wie eine Taube!«