Handbuch der Poetik. ────── Eine kritisch=historische Darstellung der Theorie der Dichtkunst von Dr . Hermann Baumgart , Professor an der Universität Königsberg i. Pr. Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung. 1887. Handbuch der Poetik. ────── Eine kritisch=historische Darstellung der Theorie der Dichtkunst von Dr . Hermann Baumgart , Professor an der Universität Königsberg i. Pr. Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung. 1887. ────────────────── Alle Rechte, insonderheit in Beziehung auf Uebersetzungen, sind von der Verlagsbuchhandlung vorbehalten. ────────────────── Druck von Gebrüder Kröner in Stuttgart. Vorwort . ────── F ür den Kundigen bedarf es nicht des Hinweises auf die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten der Aufgabe, eine „Theorie der Dichtkunst“ aufzustellen, zu deren Lösung hier ein Versuch gemacht ist; gibt es doch auf diesem Gebiete kaum einen einzigen Satz von unbestritten geltendem Ansehen. Nur in einem Punkte dürfte Einigkeit herrschen, daß ein rein deduktives Verfahren dabei nicht zum Ziele führen kann, sondern daß allein auf dem Wege der kritischen Untersuchung des Vorhandenen Resultate zu erhoffen sind. Eine solche, nach einheitlichen Gesichtspunkten verfahrende Kritik kann aber nicht anders als unter steter Berücksichtigung der historischen Entwickelung sowohl der poetischen Produktion als der zu den verschiedenen Zeiten für dieselbe maßgebenden Theorieen angestellt werden. Demgegenüber möchte es als ein Widerspruch erscheinen, daß diese Darstellung den Anspruch macht, für ein „Handbuch der Poetik“ zu gelten. Ein solches müßte die Hauptgesetze der Dichtkunst und die Beantwortung der wichtigsten dieselben betreffenden Fragen in übersichtlicher Zusammenstellung dem Leser darbieten. Wer jedoch, mag er nun den Wissenden oder den Suchenden und Lernenden sich zurechnen, wird es bezweifeln, daß eine kompendiarische Anordnung von Formeln der Poetik wertlos bleiben müßte, sobald nicht jeder kleinste Teil derselben durch eingehende Begründung Leben und gesicherten Bestand erhielte? Das Gebiet der Poetik ist so beschaffen, daß hier jeder Schritt ohne die immer erneute Prüfung und Orientierung nach allen Seiten einer ganzen Schar von Mißverständnissen ausgesetzt wäre. Der Verfasser hat es daher versucht, die kritisch=historische Darstellung überall bis zu einem bestimmt formulierten Ergebnis zu führen, so daß als Gesamtresultat eine Zusammenordnung der Hauptsätze der Poetik sich ergibt, deren jeder in der Entwickelung des Ganzen als der Abschluß eines organischen Teiles gedacht ist. Er hat es versucht ─ voluit ! ─ im Vertrauen auf die ihn selbst mit voller Überzeugung durchdringende Kraft der aristotelischen Grundauffassung von der Einheit der künstlerischen Nachahmung und von der einzigen Richtigkeit der aristotelisch=lessingschen Untersuchungsmethode. Wenn jedoch Lessing seinem Laokoon als Motto das Plutarchische Wort von den Künsten voranstellte, daß sie nach den Mitteln und nach der Art und Weise der Nachahmung sich unterscheiden ─ ὕλῃ καὶ τρόποις μιμήσεως διαφέρουσιν ─ so unterließ er es, den nicht minder gewichtigen Schluß hinzuzufügen: τέλος ἕν ὑπόκειται ─ das Ziel der künstlerischen Nachahmung ist ein einheitliches, für alle Künste ein und dasselbe. Daher sind auch die Gesetze der Künste einheitlich und ewig. Die Unterschiede der Nationen und Zeiten reihen sich nur den Verschiedenheiten ein, die an sich schon je nach den Mitteln der Nachahmung für die Art und Weise, wie sie zu geschehen hat, von selbst gegeben sind. Daher die innere, engste Verwandtschaft, der mächtige Zug der Wesensgleichheit, der alle die miteinander verbindet, die zu allen Zeiten und an allen Orten das Größeste in der Kunst hervorgebracht haben. Dadurch aber waren sie die Größesten, daß in ihrem Geist und Gemüt jene Einheit als eine unerschütterliche Gewißheit feststand, die nach dem ewig sich gleichbleibenden Ziele sie immer wieder den gleichen Weg finden lassen mußte. Diese Wege in den verschiedenen Gattungen der Kunst zu erkennen, ist die Aufgabe einer produktiven Kritik; ihre unabänderlichen Gesetze festzustellen muß die Theorie der Kunst bestrebt sein. Was das Genie als ein göttliches Vermögen in sich trug, demgemäß es sich schaffend bethätigte, soll sie in seinen Äußerungen betrachten und das Gleichmäßige, immer Wiederkehrende darin, soweit es erkennbar ist, in festen Normen aussprechen. Es ist nicht erweisbar, daß ein Homer, ein Äschylus, Sophokles oder Shakespeare bei ihrem Dichten mit klarem Bewußtsein solchen festen, theoretischen Normen gefolgt sind: wohl aber müssen dieselben, wenn sie richtig erkannt sind, überall in den Meisterwerken des Genies wiedergefunden werden; sie müssen daher ebensowohl das Verständnis der Kunstwerke zu eröffnen vermögend sein, ihren Genuß zu vertiefen, das ästhetische Urteil über das Beste wie über das Minderwertige zu begründen, als die künstlerische Produktion selbst auf ihrem Wege zu leiten und vor dem Abirren zu sichern. So hat sich Aristoteles den Griechen, Lessing den Deutschen, so haben beide sich der Welt als Lehrer und Führer erwiesen. Der größte Dichter der Neuzeit, in welchem die spontan schaffende Kraft des Genius am stärksten erscheint, war am meisten von dem Werte der Theorie für die Kunst durchdrungen. „Es ist weit mehr Positives, das heißt Lehrbares und Überlieferbares in der Kunst, als man gewöhnlich glaubt,“ lautet ein Wort von Goethe. Und ganz wie Aristoteles sucht er den Schlüssel für die Erkenntnis der Kunstgesetze in der Kenntnis der menschlichen Seele. Davon handelt eine schöne Stelle des inhaltreichen Aufsatzes „Der Sammler und die Seinigen“ in dem Gespräch zwischen dem „Philosophen“ und dem „Gaste“: Gast: „Jch will über Poesie nicht entscheiden. Philosoph: Und ich nicht über bildende Kunst. G. Ja, es ist wohl das beste, daß jeder in seinem Fache bleibt. Ph. Und doch gibt es einen allgemeinen Punkt, in welchem die Wirkungen aller Kunst, redender sowohl als bildender, sich sammeln, aus welchem alle ihre Gesetze fließen. G. Und dieser wäre? Ph. Das menschliche Gemüt. G. Ja, ja, es ist die Art der neuen Herren Philosophen, alle Dinge auf ihren eigenen Grund und Boden zu spielen, und bequemer ist es freilich, die Welt nach der Jdee zu modeln, als seine Vorstellungen den Dingen zu unterwerfen. Ph. Es ist hier von keinem metaphysischen Streite die Rede. G. Den ich mir auch verbitten wollte .... Wie wollen Sie auch den wunderlichen Forderungen dieses lieben Gemütes genug thun? Ph. Es ist nicht wunderlich, es läßt sich nur seine gerechten Ansprüche nicht nehmen. Eine alte Sage berichtet uns, daß die Elohim einst untereinander gesprochen: Lasset uns den Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei! Und der Mensch sagt daher mit vollem Recht: Lasset uns Götter machen, Bilder, die uns gleich seien! G. Wir kommen hier schon in eine sehr dunkle Region. Ph. Es gibt nur ein Licht, uns hier zu leuchten. G. Das wäre? Ph. Die Vernunft. G. Jnwiefern sie ein Licht oder Jrrlicht hat, ist schwer zu bestimmen. Ph. Nennen wir sie nicht, aber fragen wir uns die Forderungen ab, die der Geist an ein Kunstwerk macht! Eine beschränkte Neigung soll nicht nur ausgefüllt, unsere Wißbegierde nicht etwa nur befriedigt, unsere Kenntnis nur geordnet und beruhigt werden: das Höhere, was in uns liegt, will erweckt sein, wir wollen verehren und uns selbst als verehrungswürdig fühlen. G. Jch fange an, nichts mehr zu verstehen ... Was wäre denn jenes Höhere? Ph. Das Göttliche, das wir freilich nicht kennen würden, wenn es der Mensch nicht fühlte und selbst hervorbrächte. G. Jch behaupte immer meinen Platz und lasse Sie in die Wolken steigen. Jch sehe recht wohl, Sie wollen den hohen Stil der griechischen Kunst bezeichnen, den ich aber auch nur insofern schätze, als er charakteristisch ist. Ph. Für uns ist er noch etwas mehr; er befriedigt eine hohe Forderung, die aber doch noch nicht die höchste ist. G. Sie scheinen sehr ungenügsam zu sein. Ph. Dem, der viel erlangen kann, geziemt, viel zu fordern. Lassen Sie mich kurz sein! Der menschliche Geist befindet sich in einer herrlichen Lage, wenn er verehrt, wenn er anbetet, wenn er einen Gegenstand erhebt und von ihm erhoben wird; allein er mag in diesem Zustand nicht lange verharren; der Gattungsbegriff ließ ihn kalt, das Jdeale erhob ihn über sich selbst; nun möchte er in sich selbst wieder zurückkehren, er möchte jene frühere Neigung, die er zum Jndividuo gehegt, wieder genießen, ohne in jene Beschränktheit zurückzukehren, und will auch das Bedeutende, das Geisterhebende nicht fahren lassen. Was würde aus ihm in diesem Zustande werden, wenn die Schönheit nicht einträte und das Rätsel glücklich löste! Sie gibt dem Wissenschaftlichen erst Leben und Wärme, und indem sie das Bedeutende, Hohe mildert und himmlischen Reiz darüber ausgießt, bringt sie es uns wieder näher. Ein schönes Kunstwerk hat den ganzen Kreis durchlaufen; es ist nun wieder eine Art Jndividuum, das wir mit Neigung umfassen, das wir uns zueignen können. G. Sind Sie fertig? Ph. Für diesmal! Der kleine Kreis ist geschlossen; wir sind wieder da, wo wir ausgegangen sind; das Gemüt hat gefordert, das Gemüt ist befriedigt, und ich habe weiter nichts zu sagen.“ Dazu noch ein Wort, das Goethe einmal an seinen Freund Schiller schreibt: „ Lust, Freude, Teilnahme an den Dingen ist das einzige Reelle, und was wieder Realität hervorbringt; alles andere ist eitel und vereitelt nur.“ Königsberg, i/Pr., Ostern 1887. Hermann Baumgart. Jnhaltsverzeichnis. ────── Seite Vorwort III─VI Einleitung: Aufgabe der „ Poetik “ als einer „Theorie der Dichtung“; neben der abstrakt=begrifflichen eine historisch=kritische Behandlung erforderlich. Die heutige Poetik beruht auf Lessings und Schillers Hauptschriften, deren Resultate zu prüfen sind. 1─3 Abschnitt I : Kritik von Lessings Laokoon. Die aristotelisch=lessingsche Untersuchungsweise der Kunsttechnik die einzig fruchtbare. Die Grundlagen der Kunstbetrachtung des Aristoteles. Die Frage nach dem Begriff der Nachahmung im Laokoon nicht aufgeworfen. 3─9 Abschnitt II : Der Begriff der Handlung im Laokoon; Herders Kritik desselben; innere und äußere Handlung; Handlung als Gegenstand und als Mittel der Nachahmung Der Begriff der Mimesis und ihre Objekte. 9─23 Abschnitt III : Das Successive in der Lyrik; dasselbe ist Mittel der lyrischen Nachahmung, Gegenstand derselben ein Pathos oder Ethos; auch das Körperliche gehört zu den Mitteln der Poesie. Das Gesetz des Laokoon ein lediglich technisches, das die Mittel, nicht die Gegenstände der Mimesis betrifft. 23─32 Abschnitt IV : Aufgabe der Mimesis nicht Nachahmung der Wirklichkeit, sondern ihrer Wirkungen auf die Seele; dieselben sind bedingt durch psychisches Leben, das den bloßen Naturobjekten erst durch Analogie beigelegt wird. Das Poetische der griechischen Mythologie Berechtigung der Landschaftspoesie; malerische Naturnachahmung; auch das Koexistente nur Mittel der Mimesis psychischen Lebens. Deutliche Empfindungen unterschieden von Empfindungsdispositionen und Stimmungen; die Naturobjekte als Mittel für die Nachahmung der letzteren. Hierin die wesentlichen Kriterien der Mimesis, der Gegensatz des Koexistenten und Successiven nur ein technischer und untergeordneter. 32─49 Abschnitt V : Handlung als Gegenstand der Nachahmung das Kennzeichen der epischen, als Mittel derselben der lyrischen Gattung. Ballade. Volkslied. Bürgers „ Lenore “. ─ Begriff Seite des Ethos. Dasselbe als Gegenstand der Mimesis in Architektur und Plastik; in der Poesie hier das Feld der Ballade. Die englische Volksballade . 49─64 Abschnitt VI : Definition der Ballade. ─ Warum dieselbe den Griechen fremd. Goethe über die Ballade. Seine und Schillers „Balladen“. Die Romanze. Definition derselben. Uhlands Romanzen; Romanzen-Cyklus. Herders Cid. Die poetische Erzählung . 64─76 Abschnitt VII : Die sogenannte „ didaktische Poesie “ und „ Reflexionsdichtung “. Gedankendarstellung als Mittel der Mimesis. Verhältnis der Erkenntnis- und Empfindungskräfte zu einander, des Gedankens zur Anschauung. ─ Das Ethos des Gedankens. ─ Die gnomische Dichtung, die rein lyrische und die paränetische. ─ Lehrgedicht und Reflexionspoesie. ─ Schillers Gedankenlyrik. Die Technik derselben. Worin Goethe auf diesem Felde gegen Schiller zurücksteht und worin er ihn übertrifft. Seine Umwandlung der Gedankenpoesie in reine Lyrik. Die verschiedenen Methoden in Goethes Jdeenlyrik: die rein lyrische, dramatische und allegorische. Die Allegorie als ein poetisch berechtigtes Mittel der Nachahmung. Definition der „ poetischen Allegorie “. „Mahomets Gesang“; „Seefahrt“; „Adler und Taube“. 76─102 Abschnitt VIII : Die satirisch=humoristische Poesie. Schiller über dieselbe. Die satirische Dichtung erregt das Ethos, das sie nachahmt, indirekt. Verschiedenes Verfahren der satirischen und humoristischen Dichtung. ─ Die Empfindungen des Lächerlichen und des Wohlgefälligen und ihr wechselseitiges Verhältnis. ─ Definition der Satire. ─ Horaz, Satire I , 4. ─ Goethes „Episteln“. Schillers satirisch=humoristische Gedichte. ─ Abarten der Gattung. 102─115 Abschnitt IX : Das Epigramm; sowohl der gnomischen als der humoristisch=satirischen Poesie verwandt, durch seine Form verschieden. ─ Lessings „ Anmerkungen über das Epigramm “. Seine Definition des Epigramms trifft nur die Form, nicht das Wesen desselben. ─ Herders „ Anmerkungen über die Anthologie der Griechen “ und Kritik derselben. Beispiele aus der Anthologie. Der „ Sinnspruch “ und das satirisch=humoristische Epigramm; verschiedenes Verfahren in denselben. Anwendung von Bildern, Symbolen, allegorischen Einkleidungen. Das „ hyperbolische “ und das „ komische “ Epigramm. ─ Martial, Logau. ─ Die Spruchdichtung. ─ Das Ethos dieser Art von Poesie. ─ Die „Xenien“. 115─140 Abschnitt X : Pseudo-Epigramm. ─ Unterschied der Fabel vom Epigramm; Lessings Meinung darüber und Kritik derselben. ─ Die Fabel der epischen Poesie zugehörig, für welche Handlung der Gegenstand der Mimesis ist. ─ Wesen und Begriff der Handlung; verschiedene Bedeutungen des Worts. Verhältnis der Handlung zu den Seelenbewegungen des Pathos und Ethos. ─ Jnwiefern die „ ästhetische Mimesis “ von „ Handlungen “ möglich Seite ist. ─ Die mit solcher Nachahmung verbundene Hedone; Begriff derselben. ─ Das „ ästhetische Vergnügen “ der Sitz der „ ästhetischen Urteilskraft “. ─ Der fundamentale Unterschied, ob eine Handlung Gegenstand oder Mittel der Nachahmung ist. ─ Das Volkslied; Goethes „Gefunden“ und „Heidenröslein“. 140─154 Abschnitt XI : Die Fabel. Lessings Definition derselben; Hamanns Polemik gegen sie. ─ Jakob Grimm über „das Wesen der Tierfabel“. ─ W. Scheres Polemik gegen J. Grimm. ─ Herder über die Fabel. ─ Kritik der Lessingschen und Herderschen Fabeltheorie. ─ Die äsopische Fabel; die deutsche Tierfabel. Das allegorische Element in Lessings Fabeln; seine Fabel vom „Tiresias“. 154─179 Abschnitt XII : Die Parabel. Lessings Erklärung derselben unrichtig. Wesen und Definition der Parabel. Lessings Parabel von den „drei Ringen“ und vom „Palast im Feuer“. ─ Die Allegorie; Quintilians und Lessings Definition derselben. Die Anwendung der allegorischen Darstellungsweise in der Kunst. Verhältnis der Allegorie, als selbständiger Dichtungsweise zur Parabel. ─ Goethe über „allegorische“ und „symbolische“ Poesie. ─ „Jdee“ und „Begriff“. ─ Wesen der poetischen Symbolik . 179─200 Abschnitt XIII : Die verschiedenen Zwecke, Mittel und Formen der poetischen Nachahmung von Handlungen. ─ Vollständigkeit der Handlung. ─ Verkürzung des Handlungsverlaufs durch Modifikation der Personen, der äußeren Umstände; die hierfür geltenden Gesetze. ─ Poesie und Geschichte. ─ Schicksal; der Schicksalsbegriff bei den Griechen. ─ Einheit der poetischen Handlung. ─ Wunder, Sage, Märchen und Tierfabel. ─ Die Anwendung der Tiere in der Fabel; das Komische derselben. ─ Tierepos, komisches Epos und poetische Erzählung . 200─223 Abschnitt XIV : Die „ Moral “ und das epische Element in der poetischen Erzählung. ─ Die Lehre von der „anschauenden Erkenntnis“. ─ Die komische Erzählung. ─ Das Wesen des Lächerlichen. Aristoteles, Lessing, Kant, Goethe, Jean Paul, Vischer darüber. ─ Die Freude am Lächerlichen, das „ richtige Lachen “. ─ Das Gesetz für die ästhetische Darstellung des Lächerlichen; die Mittel derselben. ─ Gegenseitige Katharsis der Affekte des Lachens und des Wohlgefallens. ─ Shakespeares Komik; der Mangel des hedonischen Elementes bei Moliere. ─ Die Entwickelung der komischen Poesie durch das genre sérieux , die comédie larmoyante ; durch J. Elias Schlegel, Gellert, Lessing. ─ An Stelle des Ästhetisch-Lächerlichen im achtzehnten Jahrhundert einerseits das Häßliche, Kleinliche, bloß Witzige vorherrschend, andrerseits an Stelle des Wohlgefälligen das Moralisierende, Rührselige . 224─252 Abschnitt XV : Hauptvertreter dieser Richtung Gellert. Vergleich mit Hans Sachs ─ Grundgesetz der Epik die Nachahmung von Handlungen durch Erzählung. ─ Ethischer und pathetischer Gesamtcharakter der Epik. ─ Verstandesreflexion und Moral der Epik widerstrebend; G. Schwabs „Johannes Kant“. ─ Seite Herders moralische Erzählungen, die er Legenden nennt. ─ Die Legende. ─ Bestimmung der Faktoren, die für Auswahl und Komposition der Handlung in den Hauptgattungen der Epik maßgebend sind. 252─268 Abschnitt XVI : Die idyllische Gattung. ─ Begriff der Größe der Handlung. ─ Heroisch=tragische Gattung. ─ Einfache und verwickelte Handlung. ─ Unglücklicher und glücklicher Ausgang. ─ Vollständigkeit und Einheit der epischen Handlung. ─ Volksepos und Kunstepos . 268─280 Abschnitt XVII : Homer; Virgils „Aeneis“. ─ Das romantische Epos. Hartmann von Aue; Gottfried von Straßburgs „ Tristan und Jsolde “; Wolfram von Eschenbachs „ Parcival “. ─ Die Nibelungen. ─ Die Frage der Liedertheorie. ─ Einheit des Nibelungenliedes. 280─308 Abschnitt XVIII : Entartung der romantischen Epik zum Phantastischen. ─ Cervantes. Ariost. ─ Das komische Epos. Reineke Vos. ─ Der Schwank. Goethes „Hans Sachsens poetische Sendung.“ ─ Die komische Legende. Bürger. ─ Die satirisch=didaktischen Erzählungen des Mittelalters und des sechzehnten Jahrhunderts: Fabeln, Schwänke, Fabliaux, „ Novellen “. ─ Boccaccio. ─ Chaucer. ─ Das spätere komische Epos. 308─329 Abschnitt XIX : Das Drama. Gegenstand, Mittel, Art und Weise der dramatischen Nachahmung; ihre Vollständigkeit, Einheit. ─ Aufgabe des Dramas, die reinen Schicksalsempfindungen hervorzurufen. ─ Die „ schicksalsvollste “ Handlung die dramatisch beste. ─ Nicht Charakterschilderung sondern Handlung der Gegenstand des Dramas. ─ Verschiedenheit der epischen und dramatischen Handlungsnachahmung. ─ Das Tragische nicht immer auch dramatisch. ─ Tragikomödie, Schäferspiel, Hirtengedicht, Singspiel, larmoyante Komödie, Schauspiel, dramatisches Gedicht. ─ Goethes „ Stella “ Tragödie oder Schauspiel? 329─358 Abschnitt XX : Grenzen des Tragischen in der dramatischen Poesie. ─ Das Wesen des Schauspiels als einer eigenen dramatischen Gattung. ─ „ Historien. “ ─ Die sogenannte „ Jdee “ eines Dramas. ─ Shakespeares „Maß für Maß“, Kaufmann von Venedig“; Lessings „Minna von Barnhelm“. ─ Shakespeares „ Sturm “ als Typus des Schauspiels. ─ Das „ Wintermärchen “. 358─393 Abschnitt XXI : Definition des Schauspiels. Sein Verhältnis zum Lustspiel und zur Tragödie. ─ Shakespeares „Richard III “; Schillers „Wilhelm Tell“; Lessings „Nathan der Weise“. ─ Das Element des Rührenden als Zweck dramatischer Nachahmung; Wesen und Entwickelung der comoedia commovens und des genre sérieux . ─ Voltaire und Diderot, in der Theorie und Produktion die Begründer der neuen Gattung. Dieselbe weder mit den Gesetzen des Schauspiels noch mit denen der Tragödie oder Komödie in Einklang. 393─423 Abschnitt XXII : Die Tragödie. Lessing über die aristotelische Definition der Tragödie. ─ Der Kardinalfehler in Lessings Auffassung Seite derselben. ─ Verhältnis der aristotelischen Kunstanschauung zur Kantschen. ─ Goethe über die aristotelische Tragödienerklärung. ─ Das Schöne der Natur und des koexistent oder successiv vorgetragenen Kunstwerks. ─ J. Bernays' Erklärung der tragischen Katharsis. ─ Die Bedeutung des Ausdrucks Katharsis bei Aristoteles. ─ „ Läuterung “ nicht „ Entladung “. ─ Die musikalische Katharsis. ─ Der Unterschied von Pathos und Pathema im aristotelischen Sprachgebrauch. ─ Bedeutung dieser Begriffe in Psychologie und Ethik des Aristoteles. 423─451 Abschnitt XXIII : Die Katharsis als Aufgabe aller Kunst. ─ Die tragischen Affekte der Furcht und des Mitleids. ─ Lessings Auffassung der aristotelischen Definition derselben; sein Jrrtum. ─ Die tragische Furcht und der Schicksalsbegriff. ─ Die Ödipustragödien des Sophokles; seine „Antigone“. ─ Das Dogma von dem „tragischen Konflikt der Pflichten“. ─ Lessings „ Emilia Galotti “; der Mangel des Stückes aus dem Fehler der Lessingschen Theorie hervorgehend. ─ Kuno Fischer über das tragisch Furchtbare. ─ Begriff der „tragischen Größe“. ─ Das bürgerliche Trauerspiel. ─ Shakespeares „Romeo“, „Othello“, die „Gretchen-Tragödie“ im Faust; dagegen „Miß Sara“, „Clavigo“, „Kabale und Liebe“. 451─497 Abschnitt XXIV : Furcht und Mitleid in der klassischen Tragödie der Franzosen, in der späteren Entwickelung der deutschen Tragödie. ─ Unentbehrlichkeit der tragischen Furcht neben dem tragischen Mitleid. ─ Mendelssohns Erklärung des Mitleids verfehlt. ─ Die tragische Hamartie. ─ Körperliches Leiden als tragischer Stoff. ─ Der „ Philoktet “ des Sophokles. ─ Das tragische Schicksal und der moderne Pessimismus. ─ Die Schicksalslösung in Goethes „Jphigenie“. Der deus ex machina im „Philoktet“. ─ „Schuld“ und „Schicksal“ in der Tragödie. 497─513 Abschnitt XXV : Resultate der Polemik gegen die Bernayssche Entladungstheorie. Lessings Jugendbriefe an Mendelssohn nicht Zeugnisse für, sondern gegen dieselbe. ─ Die Emotionstheorie des Abb é Dubos. ─ Begriff der „Jllusion“. ─ Furcht und Mitleid nicht mitgeteilte, sondern primäre Affekte. ─ Die kathartische Wirkung der Olymposlieder. ─ Die neuplatonische Bekämpfung der aristotelischen Katharsistheorie; die Beschwichtigungstheorie der Neuplatoniker. ─ Die psychologischästhetische Begründung der Bernaysschen Hypothese. Begriff der Ekstasis bei Aristoteles. ─ Die Katharsis das regulative Prinzip für die Komposition der Tragödie . 514─538 Abschnitt XXVI : Schillers Abhandlungen „ Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen “. ─ Seine Theorie des „ freien Vergnügens “; die Begründung desselben durch den „ Zweckmäßigkeitsbegriff “. ─ Die angeblich aristotelische Definition der Schönheit durch den Begriff der „Größe und Ordnung“. ─ Schillers Erklärung des „ Rührenden “ und „ Erha= Seite benen “ aus dem Sieg des Moralischen über das Sinnliche. ─ Seine Beispiele nicht tragisch, sondern moralisch. „Timoleon“ und Shakespeares „Julius Cäsar“. ─ Jrrige Anwendung des Begriffs der „moralischen Lust“ auf die Kunst. ─ Schillers Unterschätzung der Komödie und seine Verkennung der griechischen Tragödie. ─ „Notwendigkeit“ und „Schicksal“. 538─558 Abschnitt XXVII : Der „ gefesselte Prometheus “ des Äschylus. Die antike Auffassung des tragischen Schicksals; ihr Gegensatz zu der dualistischen Weltauffassung. ─ K. Lehrs über den Prometheus des Äschylus. 558─585 Abschnitt XXVIII : Schillers Abhängigkeit von Kant in der Theorie der Kunst. ─ Die Emanzipation seines poetischen Schaffens von den Jrrtümern seiner Spekulation. ─ Seine späteren Äußerungen über Tragödie und Drama, im Gegensatz zu der Egmont-Rezension von 1788. ─ Schiller über das Symbolische in der Poesie. ─ Die Abhandlung „ über den Gebrauch des Chors in der Tragödie “. ─ Die „ Braut von Messina “. 585─609 Abschnitt XXIX : Die „ Choephoren “ und die „ Eumeniden “ des Äschylus; die „ Elektra “ des Sophokles; die „ Elektra “ des Euripides. Shakespeares „ Hamlet “. 609─659 Abschnitt XXX : Die Komödie. Jhr Wesen und ihre Definition. Beweis, daß das in Cramers Anecdota Parisiensia überlieferte Fragment „ Über die Komödie “ der aristotelischen Poetik entstammt. Kritik der Abhandlung von J. Bernays über dasselbe. ─ Die aristotelische Definition des Lachens. ─ „ Lachen “ und „ Freude “ die komischen Affekte. ─ Unterscheidung der Komödie von der Schmähung und dem Spott. Begriff der „ Emphasis “. ─ Die Mimesis auf der „ Energie “ der Darstellung beruhend. ─ Das „ Ebenmaß “ des hedonischen und komischen Elementes in der Komödie. ─ Die komische Katharsis. ─ Die Phantastik in der Komödie. ─ Die komischen Charaktere; der aristotelische Begriff der „ Jronie “ und der Humor. ─ Die verschiedenen Arten des komischen Ausdrucks und der komischen Handlungen 659─700 Anhang: Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft in ihrem Verhältnis zur aristotelischen Philosophie . 701─723 Register 724─735 B ei dem Versuche, die „ Poetik “, als eine „ Theorie der Dichtkunst “, wissenschaftlich darzustellen, wird man es immer noch nicht wagen können, den direkten Weg rein systematischer Begriffsentwickelung einzuschlagen. Denn wie es hier an einem allgemein anerkannten Grundprincip der theoretischen Betrachtung fehlt, so wäre auch jeder Schritt jenes Weges mit einer Menge der dornigsten Probleme besät, von denen keines ganz losgelöst von den Zeitverhältnissen und =Anschauungen, die es in den Vordergrund drängten, und ganz unabhängig von den verschiedenen Stadien der Erörterung, die es erfahren, erwogen, ja nur verstanden werden kann. Der Gegenstand verlangt daher neben der abstrakt=begrifflichen gebieterisch eine historisch=kritische Behandlung; beide müssen eng verbunden werden und, wo möglich, sich gegenseitig völlig durchdringen. Wie die theoretischen Begriffe der Poetik auf dem Hintergrunde ihrer geschichtlichen Entwickelung angeschaut werden müssen, so kann andrerseits die Darstellung der letzteren nirgends der kritischen Prüfung entraten, und wieder, wie könnte diese in einheitlich zusammenhängender und übereinstimmender Weise erfolgen, ohne daß eine gemeinsame principielle Grundlage gewonnen würde, auf welche überall die einzelnen Sätze zurückzuführen wären? Nicht anders ist auch in der That der Komplex von Vorschriften, Gesetzen, Definitionen und Beobachtungen entstanden, welchen wir mit dem Namen einer deutschen Poetik bezeichnen. Da hierzu eine Vereinigung von litterar=historischem Bewußtsein mit gelehrter Kritik und ästhetischer Spekulation erfordert wurde, so zeigen sich die ersten Spuren nicht vor dem Beginn des siebzehnten Jahrhunderts. Aber sowohl Opitz und seine Mitstrebenden als die sehr zahlreichen nachfolgenden „Poetiken“ dieses Jahrhunderts haben für die Theorie der Dichtkunst sehr wenig geleistet, sie beschränken sich fast ausschließlich auf Vorschriften für die praktische Uebung der Poesie. Erst das „philosophische“ achtzehnte Jahrhundert fand für die Lösung der Aufgabe die höheren und allgemeineren Gesichtspunkte; anknüpfend an die kunst=philosophischen Schriften der Franzosen, Jtaliener und Engländer entstand in Deutschland der berühmte litterarische Streit, der, obwohl im Grunde um wenige, vereinzelte und verhältnismäßig untergeordnete Fragen sich bewegend, doch die Veranlassung wurde, daß aus dem gesteigerten Jnteresse an der litterarischen Kritik die Untersuchung nun den Aufschwung zu den höchsten Zielen gewann: zu der Frage nach dem Wesen des Schönen überhaupt und was in den einzelnen Künsten dafür zu gelten habe. Wenn schon die Streitschriften der Schweizer diese Richtung eingeschlagen hatten, so erfuhr um die Mitte des Jahrhunderts die neue Wissenschaft auf dem Boden der Wolffschen Philosophie eine systematische Bearbeitung und erhielt zugleich den Namen, den sie seither getragen hat, durch die „ Aesthetica “ des Frankfurter Professor Baumgarten. Seine Schriften und die seines Schülers und Anhängers Meier bildeten das Fundament, auf welches noch eine lange Zeit die Untersuchungen über die Theorie der Dichtung gegründet wurden. Aber bleibenden Wert und absolute Geltung vermochten sie so wenig zu behaupten als die Wolffsche Philosophie selbst, aus welcher ihre obersten Principien geschöpft waren. Die Baumgartensche Theorie lieferte weder unmittelbar praktisch verwendbare Gesetze und Regeln, welche direkt zur Bekämpfung der Mängel der deutschen Dichtung, wie sie um die Mitte des Jahrhunderts sich entwickelt hatte, geeignet gewesen wären, noch war sie tief genug gegründet, um in den folgenden Jahrzehnten den ungemein erweiterten und bereicherten Anschauungen vom Wesen der Poesie standhalten zu können. Hier treten nun Lessing und Schiller ein, der eine auf der Aristotelischen, der andere auf der Kants chen Philosophie Fuß fassend. Soweit die heute geltende „Poetik“ auf einigermaßen festem Boden steht, stützt sie sich in den Fundamentalsätzen überall auf die von Lessing und Schiller gewonnenen Resultate. Sie beginnt erst recht eigentlich mit dem „ Laokoon “, und der Laokoon mit der „ Hamburgischen Dramaturgie “ liefert ihr noch heute den größten Teil ihres Besitzstandes. Eine historisch=kritische Darstellung der deutschen Poetik wird also nicht umhin können sich zunächst mit den Fragen auseinanderzusetzen: Wie weit sind die in den genannten Schriften aufgestellten Fundamentalsätze noch heute in Geltung? Mit welchem Rechte sind sie zum Teil bestritten oder bestreitbar? Sofern sie fehlerhaft sind, wo sind diese Fehler zu suchen, in den Voraussetzungen oder in den Schlußfolgerungen? Jst demnach die Methode der Untersuchung oder sind die Grundprincipien zu verwerfen? Mit einem Worte: ehe die eigentliche Darstellung begonnen werden kann, wird der Versuch zu machen sein, einen möglichst objektiven und absoluten Maßstab der Beurteilung zu konstruieren, und jener Versuch wird notwendig von der Prüfung jener mit Recht in ihren Hauptresultaten als kanonisch geltenden Schriften seinen Ausgang nehmen müssen. Zunächst also von Lessings Laokoon. Jn den folgenden einleitenden Abschnitten soll dieser Versuch gemacht werden. ────── I. Mehr als ein Jahrhundert ist seit dem Erscheinen von Lessings Laokoon verflossen, ohne daß die Zeit dem Ansehen und der Bedeutung dieser Schrift etwas abzuziehen vermocht hätte. Eher könnte man, sieht man die wachsende Litteratur an, die sich an den Laokoon knüpft, behaupten, daß das Jnteresse an den darin behandelten Problemen und namentlich an der Art ihrer Behandlung sich noch fortwährend steigert. Das könnte nicht so sein, wenn diese Streitfragen einen sicheren Abschluß gefunden hätten; statt dessen ist vielmehr unter allen Sätzen das Laokoon kaum ein einziger, der, seit Herders erstem kritischen Wäldchen bis auf den heutigen Tag, nicht fast ebenso viele Gegner als Verteidiger gefunden hätte, und zwar so, daß die Polemik nicht allein Lessings specielle Auffassung der Laokoongruppe trifft, sondern daß die wichtigsten Resultate der Lessingschen Kunsttheorie vielfach geradezu negiert, andrerseits selbst von den Verteidigern doch nur bedingt gelten gelassen werden. Ein mit der höchsten Sorgfalt und Vollständigkeit entworfenes Bild des Standes der Frage gibt nach allen Seiten hin die zweite Auflage von Blümners Kommentar zum Laokoon. Für alle Zeiten mustergültig ist die eben nur einem Lessing eigentümliche Methode der kritisch=polemischen Untersuchung in dem merkwürdigen Buche; hieraus zu lernen wird man so wenig aufhören, als aus dem Besten, was das Altertum uns hinterlassen hat. Um so mehr wird, sofern die Sätze des Laokoon die unbestrittene kanonische Geltung nicht mehr besitzen, die Untersuchung sich auf die Voraussetzungen zu wenden haben, von welchen Lessing darin ausgegangen ist. Aber wo den Maßstab hernehmen, um die Kritik eines Lessing zu prüfen? Wo die Autorität finden, der selbst ihm gegenüber eine objektive und unbedingte Giltigkeit zuzuerkennen wäre? Es gibt nur einen, dem dieses Ansehen unbestritten gebührt, und für den Lessing selbst es am nachdrücklichsten gefordert hat: Aristoteles; aber nicht allein mit seiner Poetik, sondern mit der Gesamtheit seiner Schriften, aus denen ja für jene erst das Verständnis gewonnen werden kann. „Die Poetik des Aristoteles ist das Fundament der Lessingschen Aesthetik. Von dem Höhepunkt dieser Aesthetik, der Theorie des Tragischen, ist diese Thatsache offen daliegend; sie ist aber eben so zweifellos in betreff des allgemeinen Aufbaues dieser Wissenschaft wie er im Laokoon vorliegt.“ So schreibt W. Dilthey in einem trefflichen Aufsatze „über Gotth. Ephr. Lessing“ in den Preußischen Jahrbüchern 1867, und es wird die Richtigkeit des Satzes wohl nicht bestritten werden. Dagegen ist die folgende Stelle desselben Aufsatzes geeignet eine Reihe von Bedenken hervorzurufen: „Das Rätsel des Schönen und der Kunst ist durch drei ganz verschiedene Untersuchungsweisen in Deutschland der Erörterung unterworfen worden. Der Aristotelische Gedanke einer Technik der Künste, d. h. einer Untersuchung der Mittel, vermöge deren sie die höchsten Wirkungen hervorrufen, herrschte bei Kant. Durch Kant trat die Verfassung des produzierenden Genies selber in den Vordergrund; der tiefe Gedanke von einer besondern Art des Genies die Welt aufzufassen ward durch ihn, Schiller und Fichte, die Romantiker und folgenden Philosophen fortgebildet und in seine historischen Konsequenzen verfolgt. Das Studium der physiologischen Bedingungen hat dann den gegenwärtigen Arbeiten ein ganz neues Fundament gegeben.“ Diese Sätze enthalten manche Unklarheit; vor allem aber muß dagegen Verwahrung eingelegt werden, daß in jenen „drei ganz verschiedenen Untersuchungsweisen“ eine Steigerung enthalten sei, hinsichtlich ihrer Fähigkeit das „Rätsel des Schönen und der Kunst“ zu lösen, ja daß sie in dieser Beziehung auch nur als gleichberechtigt einander koordiniert werden dürften. Eher noch möchte die Steigerung im umgekehrten Verhältnisse stattfinden. Untersuchungen über Symmetrie und Proportion, wie z. B. der empirische Erweis, daß das Verhältnis des goldenen Schnittes uns besonders wohlgefällig sei und daher überall im Kunstgewerbe eine vorzugsweise Anwendung finde, ferner über Harmonie, Farbenmodulation und Aehnliches können bis auf einen gewissen Grad den Nachweis führen, daß manches unsern Sinnen Angenehme ( ἡδεῖα ) sich als auf bestimmte mathematische und arithmetische Verhältnisse, auf die physikalische Natur des Klanges oder der Farbenerscheinung, zugleich auf die Physiologie unseres Organismus gegründet, als natürliches Postulat der Einrichtung unserer Sinneswerkzeuge ergibt. Aber da, wo das eigentliche Gebiet der Kunst erst beginnt, mit den ethischen Eindrücken, da also, wo es gilt, vermittelst jener angenehmen Sinneseindrücke zusammenhängende, bewußt empfundene Seelenvorgänge höherer Art, wie sie die Seele bevorzugter Menschen bewegten, nun auch in den Seelen der übrigen Menschen hervorzurufen, da hören alle Resultate jener Untersuchungsmethode längst auf. So wichtig z. B. die berühmten Helmholtzschen optischen und akustischen Entdeckungen für die Wissenschaft sind, so haben sie für die Ausübung und auch für die Betrachtung der musikalischen und malerischen Kunst doch kaum einen andern Wert als das Apercü der Pythagoräischen Zahlentheorie. Diese ganze, vielfach jetzt so hoch gepriesene Methode kann es höchstens zu äußerlichen Resultaten bringen und auch hier nur dazu, einzelne von der Praxis längst oder von jeher geübte Handgriffe und immer befolgte äußere Elementargesetze nun noch als durch die physikalische Wissenschaft bestätigt und mit physiologischen Erfahrungen in Uebereinstimmung aufzuzeigen. Auch die zweite von Dilthey namhaft gemachte „Untersuchungsweise“ ist weit davon entfernt, die erste, Aristotelisch-Lessingsche zu überbieten, oder auch nur ihr gleichgestellt werden zu können. „Die Verfassung des produzierenden Genies selbst,“ „der tiefe Gedanke von einer besondern Art des Genies die Welt aufzufassen“ ─ es ist nicht mit völliger Deutlichkeit zu erkennen, was damit für die theoretische Kunstbetrachtung specifisch Unterscheidendes gesagt sein soll. Genies hat es zu allen Zeiten gegeben, und zu allen Zeiten hat nicht allein ein jedes seine besondere Art gehabt die Welt anzusehen und wiederzuspiegeln, sondern solange es etwas Aehnliches wie Kunstbetrachtung gibt, hat sie gerade von dem Eigenartigen, welches das einzelne Genie charakteristisch in dieser Beziehung auszeichnete, ihren Anfang genommen. Daß eine räsonnierende Kunstphilosophie von diesem Gesichtspunkte aus, namentlich wenn sie in historischer Ueberschau die Epochen und Zeitalter vergleichend ins Auge faßt, eine Menge interessanter Beobachtungen anstellen kann, ist gewiß, und von denen, die Dilthey nennt, hat Schiller hierin den schärfsten Blick und die großartigste Auffassungsweise entwickelt. Er hat auch noch mehr gethan: er hat in solcher Betrachtung die Wege gefunden, „das Rätsel des Schönen und der Kunst“ in seiner Lösung höchst wesentlich zu fördern. Aber wie anders konnte dies geschehen, als daß durch solche vergleichende Erforschung des Genies eben nur neues Material vermittelt wurde, Gesetze der Kunsttechnik aufzufinden, Regeln und Vorschriften für die einzelnen Künste aufzustellen; wie anders, als daß „die Mittel untersucht wurden, vermöge deren sie die höchsten Wirkungen hervorrufen,“ d. h. also, wie anders als in derselben Weise, in der eben Aristoteles und Lessing die Kunst oder vielmehr die Künste untersucht haben. Und ist Lessing nicht auf demselben Wege dazu gelangt wie Schiller? Jst etwa in der Hamburgischen Dramaturgie nicht der „tiefe Gedanke“ enthalten „von einer besondern Art,“ wie die französischen Tragiker und die Griechen die Welt auffassen und wie die spanischen Dramatiker und wie etwa ein Shakespeare? Kurz, es gibt nur eine Art der Kunstbetrachtung, welche zu positiven Resultaten führt, und das ist die Aristotelisch-Lessingsche! Wie in ihr alle übrigen zusammenlaufen und sie fähig ist alle andern in sich aufzunehmen und sich dienstbar zu machen, so muß eine jede andere, sobald sie zu ihrem eigentlichen Zwecke gelangt, die Konsequenzen zu ziehen, sich ihrer bedienen. Eine Technik der Kunst aufzustellen, die Mittel ihrer höchsten Wirkung zu bezeichnen, darauf kommt alles an, und hier haben Aristoteles und Lessing für alle Zeiten das mustergültige Beispiel gegeben. Jhre Methode ist die einzig wahre und fruchtbare, unübertroffen und unvergänglich! Jeder Versuch von einem Princip, einer Definition des Schönen ausgehend, die einzelnen Künste zu erforschen und ihnen Regeln zu stellen ─ des absolut Schönen oder wie es dem einzelnen Genie oder einzelnen Nationen und Epochen erschien ─ muß scheitern. Der Begriff dessen, was in den einzelnen Künsten schön sei, kann sich für die theoretische Erkenntnis umgekehrt erst aus den richtig erkannten technischen Gesetzen derselben ergeben; ja die Theorie des Schönen überhaupt wird, wenn sie nicht in subjektive und leere Abstraktionen sich verlieren oder mit einzelnen ganz allgemeinen Bestimmungen sich begnügen soll, diesen Weg einschlagen müssen. Auch das Naturschöne wird schlechterdings nicht anders theoretisch erkannt und beurteilt werden können, als indem der Umweg durch die Erkenntnis des Kunstschönen genommen wird, und nur der Ueberblick über die Gesamtheit der technischen Grundgesetze der einzelnen Künste wird diese Erkenntnis in ihrem vollen Umfange herbeiführen können. Für die Begründung aber einer solchen Erkenntnis hat das Altertum und vor allen Aristoteles bei weitem mehr gethan, als die neuere nnd neueste Kritik anerkennen will. Noch in der erwähnten zweiten Auflage seines Laokoon-Kommentars, in welchem überall das Bestreben vorwaltet den heutigen Stand der Kritik zu resümieren, findet Blümner, daß „eine wirkliche Theorie der Künste, ein ästhetisches System, wenn man es so nennen soll, niemals bei den Alten existiert hat.“ „Wir sind gewöhnt,“ fährt er weiterhin zur Begründung fort, „die Werke der Kunst als Schöpfungen der frei waltenden Phantasie zu betrachten; wie fremdartig muß es uns daher anmuten, wenn wir sehen, daß das gesamte Altertum, indem es die Künste als nachahmende bezeichnete, ihnen eine, wie es zunächst scheinen könnte, niedrigere Stufe anwies, sie aus dem Gebiete des Jdealen in die gemeinere Sphäre der Wirklichkeit herabdrückte.“ Das einzige aber, was er zur Abwehr der grob=realistischen Auffassung der Nachahmungstheorie des Aristoteles anführt, ist dieses, „daß, wenn die Alten die Künste als nachahmende bezeichnen, sie als Gegenstände der Nachahmung nicht etwa allein die Objekte der wirklichen, uns umgebenden materiellen Welt verstehen, sondern auch, ja vornehmlich jene idealen Formen, welche nicht willkürlich erfundene, abstrakte Vorstellungen sind, sondern auf der Grundlage einer ununterbrochenen lebendigen Naturanschauung beruhen.“ Jn der umfangreichen Einleitung, in welcher Blümner die Vorgeschichte des Laokoon= Problems gibt, ist denn auch Aristoteles mit einigen wenigen, ganz allgemein gehaltenen und zwar sehr anfechtbaren Sätzen abgethan. Eine Behauptung wie die folgende, so oft sie auch ausgesprochen und nachgeschrieben ist, sollte doch in einem so vorzüglichen Werke wie das Blümnersche keine Stelle finden: Aristoteles habe den Begriff der Nachahmung beibehalten, „weil er die psychologische Erklärung des Ursprungs der höheren Kunstthätigkeit und der Wirkungen, welche die Werke der Kunst auf die Seele ausüben, vornehmlich in der nachahmenden Natur fand. Dem Menschen ist ebenso der Trieb zum Nachahmen eingepflanzt, als die Lust am Nachgeahmten, und dies erklärt ebenso die Entstehung der nachahmenden Künste, als das Vergnügen, welches ihre Schöpfungen bereiten. “ Das ist natürlich mit Berufung auf das vierte Kapitel der Poetik gesagt; aber wie kann man denn übersehen, daß in diesem Kapitel gar nicht von der künstlerischen Nachahmung die Rede ist, weder von der poetischen, noch von einer andern kunstgemäßen, sondern von den in der Natur des Menschen liegenden Ursachen ( αἰτίαι φυσικαί ), die als die erste Veranlassung anzusehen sind, wie er überhaupt zu einer bildnerischen ─ poietischen ─ Thätigkeit den Weg hat finden können; denen die ersten rohen und zufälligen Versuche ( αὐτοσχεδιάσματα ) zuzuschreiben sind, in welchen dann eine spätere Zeit die Antriebe für die allmähliche Fortentwickelung zur Kunst gefunden hat! Mit ganz demselben Recht kann man mit dem Hinweise auf jenes vierte Kapitel und noch vielleicht auf die verwandte Stelle in der Rhetorik (Buch I. K. 11. 1371, b 4) behaupten ─ und leider ist ja auch dieses oft geschehen ─, daß nach Aristoteles die Freude, welche die Kunst hervorbringe, auf der Erkenntnis ( μανθάνειν ) und der Verwunderung ( θαυμάζειν ) beruhe. Jn die empirische Aufzählung dessen, woran die Menschen sich erfreuen, wie sie an jener Stelle der Rhetorik gegeben wird, gehört auch diese Freude an der Nachahmung als solcher, an der bloßen wohlgelungenen Nachahmung, mag auch das Nachgeahmte an sich selbst unerfreulich sein; auch hatte Aristoteles gewiß recht in ihr die zweite natürliche Ursache zu finden (wie es im vierten Kapitel der Poetik geschieht), welche die primitiven Vorübungen zur Kunstthätigkeit veranlaßte. Aber diese Freude geht nicht aus dem Jnhalte der Nachahmung hervor, sondern aus dem bei einer jeden Nachahmung stattfindenden Schluß, „daß dieses jenes sei“, sie kann also auch wohl durch das echte Kunstwerk erregt werden, aber als eine nebensächliche und ganz untergeordnete; mit der Freude am Kunstschönen, mit der von jeder einzelnen Kunst in besonderer Weise erweckten, ihr ganz eigenen, allein durch sie bezweckten und erzeugten Freude ( οἰκεία ἡδονή ) hat jene nicht das Geringste zu schaffen. Und doch hat auch Lessing nicht allein den Begriff der Nachahmung von Aristoteles übernommen, sondern auf dem Grundsteine dieses Begriffes ruht die ganze Untersuchung seines Laokoon. Nur auf der Voraussetzung dieses Grundbegriffes hat die ganze von Aristoteles entlehnte Einteilung und Unterscheidung der Künste nach den Gegenständen der Nachahmung, nach den Mitteln, mit welchen sie erfolgt und somit nach der Art und Weise, wie sie einzurichten ist, ihren Sinn und Bestand. Ein Fehler also, eine Unklarheit in der Auffassung dieses Fundamentalbegriffes muß notwendig, wenn auch noch so versteckt, in seinen Konsequenzen sich durch alle Teile der Untersuchung bis in ihre äußersten Zweige fühlbar machen. Nun ist freilich Lessing von der trivialen naturalistischen Fassung des Begriffes der Nachahmung so weit entfernt gewesen, daß es ihm nicht einmal in den Sinn kam sich dagegen zu verwahren; auch jene oberflächliche Erklärung des Begriffes aus dem bloßen Naturtrieb und der Freude am Wiedererkennen konnte sich mit der ihm eigenen Auffassung der Kunst und ihrer Bestimmung nimmermehr vertragen; aber ─ wie hat denn nun er dieses Fundamentalprincip der „Nachahmung“, der Aristotelischen Mimesis, definiert? Offenbar erschien ihm eine allgemeine Definition überflüssig und er ließ es daher zunächst bei dem herkömmlichen Sprachgebrauch des deutschen Wortes „Nachahmung“ sein Bewenden haben, ohne sich a priori auf die Ermittelung des Objektes und der Art und Weise dieser Nachahmung einzulassen. Er meinte wohl, daß beides, also der specifische Jnhalt dieses Terminus für das Kunstgebiet, erst als das Resultat der Untersuchungen über die einzelnen Künste für jede derselben festgestellt werden könnte. Es ist klar, daß dieses Verfahren logisch nicht richtig war; denn wie sollte Sicherheit und Uebereinstimmung in den Einzelunterscheidungen vorhanden sein, wenn nicht das Gemeinsame, für die Kunst als solche überall in gleicher Weise Geltende, welches die Gesamtheit ihrer Aeußerungen als gesetzgebendes Princip beherrscht, erkannt und in fester Begrenzung dargestellt ist? Ein solches Grundprincip ist in dem Aristotelischen Begriff der „ Nachahmung “ gegeben, in der Lehre, daß alle Kunst auf der „ Mimesis “ beruhe. Daß Lessing es versäumte, in der sonst von ihm geübten Weise diesen überaus wichtigen Begriff der genauesten Zergliederung und seine Grundlagen der weitgehendsten Durchforschung zu unterziehen, hat dann zur notwendigen Folge gehabt, daß er im Laokoon, ganz anders als in der Hamburgischen Dramaturgie, obwohl von der Einteilung des Aristoteles ausgehend, im weiteren Verlaufe die ungemeine Fruchtbarkeit derselben im wesentlichen fast ganz unbenutzt gelassen hat, und obwohl in der Methode ihm treu bleibend, in den Resultaten von seiner Spur weit abgewichen ist. Liegt aber im Laokoon eine derartige Jnkonsequenz zu Grunde, so werden sich daraus nicht allein Abweichungen von des Aristoteles Sätzen und Meinungen ergeben haben, sondern auch ganz ohne Rücksicht auf diesen eine Anzahl unrichtiger Schlüsse, welche als solche an und für sich erkennbar sein müssen. Da der Laokoon das Hauptstück, ja das eigentliche Fundament der geltenden Theorie der Dichtkunst ist, so wird die Untersuchung dieser Frage einem jeden Versuch, dieselbe kritisch darzustellen, schlechterdings vorangehen müssen. ────── II. Jm sechzehnten Abschnitt faßt Lessing die Resultate der vorhergehenden Untersuchungen in die berühmten Sätze zusammen, welche den Schwerpunkt des ganzen Laokoon enthalten: „Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel oder Zeichen gebraucht als die Poesie; jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: so können nebeneinander geordnete Zeichen auch nur Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander existieren, aufeinander folgende Zeichen aber auch nur Gegenstände ausdrücken, die aufeinander oder deren Teile aufeinander folgen.“ „Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei.“ „ Gegenstände, die aufeinander oder deren Teile aufeinander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.“ „Doch alle Körper existieren nicht allein in dem Raume, sondern auch in der Zeit. Sie dauern fort und können in jedem Augenblicke ihrer Dauer anders erscheinen und in anderer Verbindung stehen. Jede dieser augenblicklichen Erscheinungen und Verbindungen ist die Wirkung einer vorhergehenden und kann die Ursache einer folgenden und sonach gleichsam das Centrum einer Handlung sein. Folglich kann die Malerei auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper.“ „Auf der andern Seite können Handlungen nicht für sich selbst bestehen, sondern müssen gewissen Wesen anhangen. Jnsofern nun diese Wesen Körper sind oder als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie auch Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen.“ Der Hauptbegriff, auf dessen Definition sich diese ganze Theorie stützt, ist der Begriff der Handlung und in diesem liegt auch zu einem wesentlichen Teile das Jrrtümliche derselben. Offenbar mit sorgfältigem Vorbedacht hat Lessing diesem Begriffe, durch den die Poesie in der schärfsten Weise von der Malerei geschieden werden sollte, im Laokoon die weiteste Fassung gegeben, um ihn dadurch fähig zu machen das ganze Gebiet der Poesie einzuschließen. Das ergibt sich auf das deutlichste, sobald man die hier gegebene Definition mit den an andern Stellen von Lessing formulierten vergleicht. Ja, er ist in den Entwürfen zum Laokoon sogar noch weiter gegangen; heißt es im Abschnitt XVI: „Handlungen sind der Gegenstand der Poesie,“ so schrieb er damals nach Mendelssohns Vorschlag: Vgl. Lessing (Hempel) VI, S. 295, Nr. 12. Blümner, Laokoon, S. 444, K. 11. „Nach dem, was wir in unsern mündlichen Unterredungen ausgemacht haben, verbessere ich meine Einteilung der Gegenstände der poetischen und der eigentlichen Malerei folgendergestalt: „ Die Malerei schildert Körper und, andeutungsweise durch Körper, Bewegungen. “ „Die Poesie schildert Bewegungen und, andeutungsweise durch Bewegungen, Körper. “ „Eine Reihe von Bewegungen, die auf einen Endzweck abzielen, heißt eine Handlung. “ „Diese Reihe von Bewegungen ist entweder in demselben Körper, oder in verschiedenen Körpern verteilt. Jst sie in eben demselben Körper, so will ich es eine einfache Handlung nennen, und eine kollektive Handlung, wenn sie in mehreren Körpern verteilt ist.“ Jhm schien also der Begriff „ Handlung “ damals noch zu enge und er wählte den allgemeineren „ Bewegung “, weil bei diesem das Moment der Einheit fehlt. Mit der hier gegebenen Definition wiederholte er fast wörtlich die bekannte, in den Abhandlungen über die Fabel Lessing (Hempel) X, S. 38. zu Grunde gelegte: „Eine Handlung ist eine Folge von Veränderungen, die zusammen ein Ganzes ausmachen. Diese Einheit des Ganzen beruht auf der Uebereinstimmung aller Teile zu einem Endzwecke.“ Er betont im Fortgange noch besonders, daß zu der Handlung eine Folge von Veränderungen erfordert werde; eine einzelne oder auch mehrere, die aber nebeneinander bestehen und nicht aufeinander folgen, reichen nicht aus; sie würden sich ganz malen lassen und damit wäre die untrügliche Probe gegeben, daß sie nur vermeintlich als Handlung angesehen würden, in Wirklichkeit nur ein Bild seien. Wenn er bei der Ausarbeitung des ersten Teiles seines Laokoon nun doch zu dem Ausdrucke „Handlung“ zurückkehrte, so geschah es, weil er die Unterscheidung zwischen einfachen und kollektiven Handlungen für den zweiten Teil sich vorbehalten und für den ersten, allgemeiner gehaltenen, nur den Begriff eines Komplexes von Veränderungs= oder Bewegungsmomenten ohne irgend welche nähere Präcisierung setzen wollte. Er ließ sogar die Forderung der Einheit fallen; auf nichts weiteres sollte es ankommen als auf das Moment der Zeitfolge, der Succession. Selbst die ganz unentbehrlich scheinende Bestimmung, daß es „ Veränderungen “ sein müssen, als deren „ Folge “ sich die Handlung darstellt, kommt nicht zum Ausdruck; statt dessen wird der denkbar allgemeinste Terminus gewählt: „Folge von Gegenständen oder deren Teilen. “ Völlig selbstverständlich ist es, zum Ueberfluß auch noch durch die bekannte Stelle aus den Abhandlungen über die Fabel zu erhärten, daß es Lessing nicht einfallen konnte, sich diese „Folge von Gegenständen “, unter denen schlechterdings ja doch nur „ Veränderungen “ oder „ Bewegungen “ verstanden werden können, auf die Körperwelt eingeschränkt zu denken, sondern daß er sich dieselbe auf das geistige Gebiet im weitesten Sinne ausgedehnt dachte: „auch jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von verschiedenen Gedanken, wo eine die andere aufhebt,“ Lessing a. a. O., S. 44. ist ihm eine Handlung. So ist es denn auch nicht angänglich den Lessingschen Begriff der Handlung gegen Herders Polemik im 16. Abschnitt des ersten kritischen Wäldchens ins Feld zu führen. Herder erkennt an, daß die bildenden Künste im Raume wirken, aber er leugnet entschieden Lessings Antithese, daß die Poesie in der Zeitfolge wirke: nicht in der Zeit, sondern durch die Zeitfolge wirke sie, das Mittel dieser Wirkung sei in der Poesie die Kraft; somit seien die Künste der Zeitfolge, Musik und Poesie als die Künste der Energie zu bezeichnen. Die Kraft, die den Worten beiwohnt, welche unmittelbar auf die Seele wirkt, „ ist das Wesen der Poesie, nicht aber das Koexistente oder die Succession “. Vgl. Herder (Hempel), Bd. XX, S. 109. Diesen von Herder vermißten Begriff der Kraft meint Blümner in dem Begriff der Einheit der Handlung als gegeben zu finden und mit diesem einen Schlage Herders ganze Argumentation in Nichts aufzulösen; als ob, auch abgesehen davon, daß Lessing die Forderung der Einheit im Laokoon geflissentlich beiseite gelassen, der weitere Begriff „eine Folge von Gegenständen oder Veränderungen“ oder der engere „eine einheitliche Gruppe daraus“ das Geringste daran änderte, daß Lessing auf den Unterschied des Koexistenten in der Malerei und des Successiven in der Poesie seine gesamte Schlußfolgerung gründet, und grade dieses ist es ja, wogegen Herders Polemik sich richtet! Dennoch ist Herders Einwand falsch; aber der Fehler liegt an einer ganz andern Stelle. Auch Herder geht in die Jrre, weil er versäumt hat von der Mimesis sich eine scharf bestimmte Vorstellung zu machen. Hier freilich läßt sich die Schiefheit seiner Argumente mit zwei Worten erweisen: sie liegt in dem doppelsinnigen Gebrauch des Verbums „ wirken “. Die Künste „ wirken durch dieses oder jenes “ kann einmal bedeuten: sie vollziehen ihr Geschäft; so ist es bei Lessing gemeint, wenn er sagt, die Malerei wirkt im Raume durch Figuren und Farben, die Poesie in der Zeit durch artikulierte Töne. Sodann aber kann es heißen: sie erzeugen Wirkungen in der Seele des empfangenden Menschen, sie bringen Vorstellungen hervor, welche sein Empfindungsvermögen der Absicht des Künstlers gemäß afficieren. Das eine Mal ist die Frage: welche technischen Mittel treten in den einzelnen Künsten in Aktion? und das andere Mal: welchen ästhetischen Erfolg bringt die Aktion dieser Mittel hervor? Durch die Erkenntnis dieses Sophismas wird Herders gesamte Schlußfolgerung in dieser Frage über den Haufen geworfen; seine Argumentation läßt sich nun in ihr direktes Gegenteil verkehren, alles von den „Wirkungen“ der Poesie Gesagte mit eben demselben Rechte auf die Malerei anwenden. Lediglich nebeneinander gestellte, koexistierende, Figuren und Farben „wirken“ gerade so wenig „ künstlerisch “ als lediglich aufeinander folgende Worte und Klänge. „Das Wohlgefallen an dem Anblick des Koexistierenden, die Wirkung der Kunst, die Seele, die den Figuren und Farben einwohnt, der Sinn, der durch die künstlerische Absicht in sie hineingelegt wird, ist alles. Durch diesen Sinn der Figuren und Farben wirkt die Malerei erst auf die Seele. Wir wollen das Mittel dieser Wirkung Kraft nennen, die einmal den Körpern beiwohnt, Kraft, die zwar durch das Auge eingeht, aber unmittelbar auf die Seele wirkt. Diese Kraft ist das Wesen der Malerei, nicht aber das Koexistente oder Successive. “ Vgl. Herder, Krit. Wäld. I, 16. (Hempel) Bd. XX, S. 107─110. Es ließe sich diese Parodierung durch den ganzen Abschnitt und alles daraus Folgende durchführen. Jene Wirkungskraft ist in der Sphäre des Koexistenten so unentbehrlich wie in der des Successiven, ohne sie ist ein Kunstwerk nicht denkbar; Vgl. hierzu R. Haym, Herder I, S. 245─247. aber was hat dieser an sich unzweifelhafte Satz mit Lessings Einteilung zu schaffen, welcher die äußeren Mittel der bildnerischen und poetischen Technik nach ihrer äußerlichen Grundverschiedenheit voneinander sondert? und welcher den fortschreitenden Mitteln der Poesie das homogene Gebiet sich in der Zeit vollziehender Veränderungen, also einer Folge von Darstellungsobjekten zuweist, deren Nachahmung um so anschaulicher sich gestalten wird, je mehr sie ihrer Natur nach nur als aufeinander folgend gedacht werden können, und um so weniger anschaulich, je mehr diese Darstellungsobjekte ihrer Natur nach als koexistent vorgestellt werden müssen? Wenn Herder behauptet, die Ursache „Succession verhindert Körper zu schildern“ treffe auf jede Rede, da jede Rede in solchem Falle nicht das Definitum als ein Wort verständlich, sondern als eine Sache anschauend machen wolle, auch z. B. die Beschreibung des Kräuterlehrers, so irrt er wieder. Eben die Anschauung kann ein solcher entbehren, er setzt sie voraus, der Dichter aber muß sie erst hervorbringen. Hier hatten wir es mit Herder, dem Dialektiker, zu thun, und wie oft hat dieser geirrt! Aber folgen wir ihm auf sein eigentliches Feld, hören wir den dichterischen Kritiker, den Mann voll feinster Empfindung für alles Große und für jede zarteste Nüance der Poesie! „Fortschreitung ist die Seele des Homerischen Epos; sie ist das Wesen seines Gedichts, der Körper der epischen Handlung; in jedem Zuge ihres Werdens muß Energie, der Zweck Homers, liegen.“ Vgl. Krit. Wäld. I, 17 am Schluß und 18, zu Anfang, a. a. O., S. 120─123. .... „Nun aber ist Homer nicht der einzige Dichter; es gab bald nach ihm einen Tyrtäus, Anakreon, Pindarus, Aeschylus u. s. w. Sein ἔπος , seine fortgehende Erzählung, verwandelte sich mehr und mehr in ein μέλος , in ein Gesangartiges, und darauf in ein εἶδος , in ein Gemälde; Gattungen die noch aber immer Poesie blieben. Ein Sänger ( μελοποιός ) und ein lyrischer Maler ( εἰδοποιός ), Anakreon und Pindar, stehe also gegen den Geschichtsdichter ( ἐποποιός ) Homer“ ... „Homer dichtet erzählend: ‚Es geschah! es ward!‘ Bei ihm kann also alles Handlung sein und muß zur Handlung eilen. Hierhin strebt die Energie seiner Muse; wunderbare, rührende Begebenheiten sind seine Welt. Er hat das Schöpfungswort ‚Es ward!‘“ „Anakreon schwebt zwischen Gesang und Erzählung; seine Erzählung wird ein Liedchen; sein Liedchen ein ἔπος des Liebesgottes. Er kann also seine Wendung ‚Es war!‘ oder ‚Jch will‘ oder ‚Du sollst‘ haben ─ genug, wenn sein μέλος von Lust und Freude schallt; eine frohe Empfindung ist die Energie, die Muse jedes seiner Gesänge.“ „Pindar hat ein großes lyrisches Gemälde, ein labyrinthisches Odengebäude im Sinne, das eben durch anscheinende Ausschweifungen, durch Nebenfiguren in mancherlei Licht ein energisches Ganzes werden, wo kein Teil für sich, wo jeder auf das Ganze geordnet erscheinen soll: ein εἶδος , ein poetisches Gemälde, bei dem überall schon der Künstler, nicht die Kunst, sichtbar ist. Jch singe!“ „Wo mag nun Vergleichung stattfinden? Das Jdeal-Ganze Homers, Anakreons, Pindars, wie verschieden! wie ungleich das Werk, worauf sie arbeiten! Der eine will nichts als dichten: er erzählt, er bezaubert; das Ganze der Begebenheit ist sein Werk; er ist ein Dichter voriger Zeiten. Der andre will nicht sprechen, aus ihm singt die Freude; der Ausdruck einer lieblichen Empfindung ist sein Ganzes. Der dritte spricht selbst, damit man ihn höre: das Ganze seiner Ode ist ein Gebäude mit Symmetrie und hoher Kunst. Kann jeder seinen Zweck auf seine Art erreichen, mir sein Ganzes vollkommen darstellen, mich in dieser Anschauung täuschen ─ was will ich mehr?“ .... „Alles muß indessen innerhalb seiner Grenzen, aus seinen Mitteln und seinen Zwecken beurteilt werden. Keine Pindarische Ode also als eine Epopöe, der das Fortschreitende fehle; kein Lied als ein Bild, dem der Umriß mangele; kein Lehrgedicht als eine Fabel und kein Fabelgedicht als beschreibende Poesie.“ .... „Jch zittre vor dem Blutbade, das die Sätze: ‚Handlungen sind die eigentlichen Gegenstände der Poesie; Poesie schildert Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen, jede Sache nur mit einem Zuge‘ u. s. w. unter alten und neuen Poeten anrichten müssen. Herr Lessing hätte nicht bekennen dürfen, daß ihn die Praxis Homers darauf gebracht; man sieht es einem jeden beinahe an, und kaum ─ kaum bleibt der einige Homer alsdann Dichter. Von Tyrtäus bis Gleim und von Gleim wieder nach Anakreon zurück, von Ossian zu Milton und von Klopstock zu Virgil wird aufgeräumt ─ erschreckliche Lücke! der dogmatischen, der malenden, der Jdyllendichter nicht zu gedenken.“ Nach seiner Weise läßt Herder hier der stürmischen Rhetorik den Vorrang vor der festgegründeten Beweisführung. Aber was soll dieser siegenden Beredsamkeit gegenüber ein Einwand wie der Blümners, der nicht einmal ein halber Einwand ist: „Für Lessing handelte es sich ja im Laokoon gar nicht um die Lyrik, sondern vornehmlich um das Epos; dann aber darf man nicht vergessen, daß ja auch jede Bewegung des Gemüts ─ und diese sind doch der Gegenstand der Lyrik ─ eine Handlung ist!“ Vgl. a. a. O. S. 604. Lessing exemplificiert vom Epos, aber er macht Gesetze für die gesamte Poesie: und Lessing sagt in den Fabelabhandlungen keineswegs, daß „jede Bewegung des Gemütes eine Handlung sei“, was sehr unrichtig wäre, sondern er behauptet das von „jedem innern Kampf von Leidenschaften, jeder Folge von Gedanken, wo eine die andere aufhebt“, was etwas ganz Verschiedenes ist. Eine jede „Bewegung“ des Gemütes ( affectus , πάθος ) ist ein Veränderungsvorgang im Vergleich zur völligen Ruhe oder zu einer andern, vorangehenden Erregung; doch kann er als solcher nun durchaus einheitlich, stationär und kontinuierlich sein. Das wesentlich charakterisierende Moment der Handlung, die Folge von „Gegenständen“ oder Veränderungen haftet der „ Bewegung “ des Gemütes als solcher keineswegs an; die einzelne Gemütserregung oder Bewegung für sich steht vielmehr zu dem Begriff der Handlung in demselben Gegensatze wie die einfachen Teile zu dem Begriff des zusammengesetzten Ganzen. Erst aus dem „ innern Kampf der Leidenschaften“, erst aus „der Folge der Gedanken“ und aus dem Zusammenstoße beider, wo sie abwechseln und „einander gegenseitig aufheben“, entsteht das, was Lessing als geistige Handlung mit vollstem Rechte bezeichnet. Wohlgemerkt, in der Abhandlung über die Fabel! Jm Laokoon begnügt er sich, einzig und allein das Moment der Succession hervorzuheben. Sehr seltsam! Blümner bemüht sich zu beweisen, „daß Lessing den Begriff der Handlung nicht im entferntesten so eng zog, als es nach seiner Definition im Laokoon scheinen könnte“ Vgl. a. a. O. S. 604. und in Wahrheit ist der Kardinalfehler dieser Definition, daß sie in jedem Betracht viel zu weit gefaßt ist. Aber mag der Ausdruck und seine Definition beiseite bleiben, halten wir uns an das, was Lessing damit im Sinn hatte! Der Jnhalt der poetischen Nachahmung soll das Successive sein: Gegenstände, die aufeinander oder deren Teile aufeinander folgen! Hierin, in diesem weitesten Umfange, soll also alles beschlossen sein, wovon der Dichter uns zu singen und zu sagen hat: die gesamte äußere Welt, von tausend Kräften bewegt, durch die Thaten und Kämpfe der Menschen gestaltet und bedingt, die erregten Leidenschaften, die streitenden Empfindungen, die auf und ab wogenden Seelenstimmungen, aus denen jene erwachsen; überall Leben und Bewegung, eine unendliche Reihe sich kreuzender, sich aufhebender oder sich kombinierender, immer aber eben in ihrer Folge wirksamer Veränderungen! Es springt in die Augen, daß diese Auffassung der dichterischen Aufgabe vornehmlich vom Epos und vom Drama abstrahiert ist; es ist zu untersuchen, ob und inwieweit die Lyrik darin Platz findet. Zuvor aber muß hier eine wesentliche Unterscheidung gemacht werden, die für den ganzen Fortgang der Untersuchung von großer Wichtigkeit ist. Der deutsche Sprachgebrauch ─ und ebenso der griechische ─ verwendet das Wort „Handlung“ ─ πρᾶξις ─ in zwei scharf voneinander zu trennenden Bedeutungen: man kann die eine bezeichnen als den äußeren, uneigentlichen Begriff der Handlung, die andere als den eigentlichen, innern Begriff derselben. Was ist das Wesentliche, ausschließlich Eigenartige in der Geschichte des Mucius Scävola, also die eigentliche Handlung desselben? Daß ein für die Freiheit begeisterter Jüngling ausgeht, um einen Tyrannen, einen übermütigen Bedränger des Vaterlandes zu töten, daß er, gleichviel ob die That gelingt oder nicht, freudig allen Martern Trotz bietet, alles dieses hat die Geschichte des Mucius Scävola mit vielen andern gemein; was ihr vor allen andern das eigentümliche Gepräge verleiht, ihre Bedeutung nicht allein für unser Jnteresse, sondern auch an sich, was das Entscheidende für ihren Verlauf bildet, das ist die eigenartige, durch den Moment eingegebene Handlung des Mucius, der blitzartig in ihm auftauchende Entschluß, durch selbstgewählte, lächelnd ertragene Qual eine überwältigende Probe todesverachtenden Freiheitsmutes zu geben. Trotzdem diese Entschließung nicht anders als aus dem Augenblick geboren gedacht werden kann, so ist doch gerade sie es, welche die einzige Mischung aus Enthusiasmus und Klugheit, aus hochgemutem Stolz und schlauer Berechnung, völlig bezeichnet, welche nicht allein diesen Mann charakterisiert, sondern welche auch ein wesentlicher Zug des römischen Nationaltypus ist. Und wie diese Entschließung im Augenblick gefaßt ist, so genügt auch zu ihrer Ausführung ein einziger Moment, so kann sie in einem einzigen Bilde verkörpert durch die Malerei dargestellt werden. Diese Handlung ist keine Folge von Gegenständen, keine Reihe von Veränderungen, sie ist schlechterdings ein einziger Veränderungsvorgang und als solcher für die bildende Kunst unbedingt geeignet. Sobald dieselbe jenes innerste, eigentliche Handlungsmoment erfaßt, so hört damit der Gegenstand auch auf eine „ kollektive “ Handlung zu sein, „welche unter mehrere Körper verteilt ist“ (vgl. Lessing [H.] a. a. O. S. 295; Blümner S. 444), zu welcher Gattung er nach Lessing gerechnet werden müßte. Die Handlung fällt vielmehr in diesem Sinne ganz und gar der Hauptperson zu und wird zur „ einfachen “, so daß durch ihre, im Ausdruck vollendete Darstellung genug geschieht, um die Phantasie zur Vorstellung des ergänzenden Vorganges zu erregen, gerade so wie Thorwaldsens Argustöter im höchsten Grade wirksam ist, gerade weil das Ungetüm, dem seine bezaubernde Arglist und sein vernichtender Streich gelten, und dessen Ausprägung uns als gleichgültig nur stören würde, fortgelassen ist. Ja noch mehr! Was einer solchen Handlung das eigentliche Jnteresse verleiht, um dessentwillen sie überhaupt ein Gegenstand künstlerischer Darstellung wird, ist im letzten und tiefsten Grunde auch nicht einmal so sehr die Aktion selbst, als vielmehr die Charakterbeschaffenheit, der Seelenzustand, als dessen prägnanteste Ausprägung sie erscheint. Sofern aber die menschliche Gestalt durch Körperform und Züge des Antlitzes, zumal durch Stellung des Körpers und Gesichtsausdruck eine unmittelbare, durch sich selbst deutliche Vorstellung ethischer Beschaffenheit und psychologischer Vorgänge zu geben vermag, ist die bildende Kunst auch imstande den Eindruck, den die Dichtung durch die Erzählung der Handlung hervorbringt, unmittelbar zu erzeugen. Freilich darf sich der bildende Künstler der Freiheit bedienen, seinen Stoff als bekannt vorauszusetzen und auf die bereitwillig ergänzende Phantasie des Beschauers zu rechnen; das ändert aber an der Thatsache nichts, daß es in seiner Macht liegt, den eigentlichen Handlungsmoment selbst zu verkörpern. Ja! der ächte Künstler verfährt gar nicht anders, auch wenn er, ohne den Anspruch eine dem Beschauer bekannte Handlung darzustellen, seine Gestalt in scheinbarer äußerer Ruhe verharrend bildet. Soll er einen lebendig wirkenden Eindruck hervorbringen, so muß auch seine Conception von jenem Lebendigsten des innern, wirkenden Lebens ausgehen, dem thaterzeugenden Willensakt. Statt aller Beispiele diene das eine: des Phidias olympischer Zeus, der mit den Gewährung winkenden Brauen den Olymp erschüttert. Jst aber eine Handlung wie die des Mucius Scävola in der That das Werk eines Momentes und kann sie als solche durch die bildende Kunst fixiert werden, so ist es andrerseits der redenden Kunst völlig unmöglich eine solche eigentliche Handlung, die eben nur einen Veränderungsvorgang enthält, für sich allein darzustellen. Sie bedarf, um zu diesem ihrem Hauptzwecke zu gelangen, der Vergegenwärtigung aller jener Veränderungsmomente, welche das Erscheinen jenes Hauptmomentes äußerlich möglich machten oder zuwege brachten; dann kann sie, je nachdem sie sich ihr Ziel gesteckt hat, mit dem Moment der eigentlichen Handlung abschließen oder sie hat noch überdies die Aufgabe, den weiteren äußeren Verlauf des Vorganges mit darzustellen. Jn der Poesie also erscheint das eigentliche Handlungsmoment als der Gipfelpunkt einer aufwärts und abwärts steigenden, parabolisch gekrümmten Linie; die ganze Reihe von Punkten aber, die den Weg dieser Linie bilden, stellen die Einheit der Folge von Veränderungen dar, die in der Wirklichkeit den Moment der Handlung vorbereiteten und weiter durch diesen herbeigeführt wurden, und diese ganze Folge von Veränderungen oder „Gegenständen“ muß auch die Poesie uns vor das geistige Auge bringen, um die Nachahmung jenes eigentlichen Hauptmomentes in seiner Kraft und Bedeutung uns mitzuteilen. Für diesen ganzen Vorgang aber hat der Sprachgebrauch denselben Namen eingeführt wie für jenen entscheidenden Entschließungsmoment selbst: beide heißen Handlung. Wenn also der Begriff der eigentlichen, innern Handlung auf die in einer einzelnen Veränderung sich realisierende Entscheidung eingeschränkt ist, so umfaßt die äußere Handlung den ganzen, jene Entschließung umgebenden Komplex von Vorgängen. Was sich aus dieser Unterscheidung für die Theorie der Dichtung schon hier ergibt, ist dieses: Jene Succession von Veränderungen, die äußere Handlung, ist nicht der Gegenstand der Nachahmung in der Poesie, sondern sie ist nur ein Mittel um etwas Anderes, Höheres nachahmend zur Darstellung zu bringen. Dieses andere, die innere Handlung, kann zwar an und für sich auch eine Succession von zweien oder auch mehreren, selbst vielen Veränderungsmomenten umschließen, wie z. B. bei komplizierten Entschlüssen, welche aus langem Schwanken zwischen entgegengesetzten Extremen hervorgehen und bei welchen das letzte entscheidende Entschließungsmoment nicht ohne jene vorausgehende Reihe zu denken ist (z. B. bei Coriolan), es kann aber auch lediglich auf einen einzigen Moment beschränkt sein; unter allen Umständen jedoch ist das Wesentliche an der Darstellung von Handlungen durch die Poesie, dasjenige also, um dessentwillen im Grunde die poetische Nachahmung erfolgt, nicht die so oder so geschehende äußere Verwirklichung, sondern das im Jnnern der Seele vorgehende psychologisch=ethische Ereignis, welches als Entschluß sich nach außen kundgibt. Dieser ist Gegenstand der künstlerischen Nachahmung, die Folge von Veränderungen nur eins von den Mitteln, deren sich die Kunst dazu bedienen kann. Hieraus ergeben sich die folgenden Sätze und weiteren Schlußfolgerungen: Zum Wesen der eigentlichen, innern Handlung gehört es nicht, daß sie eine Folge von Veränderungen darstellt; sie kann sich auch in einem einzigen Augenblick verwirklichen. Diesen einen Augenblick kann die bildende Kunst ebenso wohl zum Gegenstande der Nachahmung wählen als die Poesie. Die bildende Kunst erzielt diese Nachahmung vermittelst der Darstellung von Figuren und Körpern, die Poesie vermittelst der Darstellung einer Succession von Veränderungen. Es ist also nicht richtig mit Lessing die Malerei und die Poesie so zu einander in Gegensatz zu stellen, daß der einen Körper, der andern Handlungen als Gegenstände der Nachahmung zugewiesen werden. Jn beiden Fällen handelt es sich nur um die Mittel der Nachahmung, oder wenn man den Ausdruck Mittel nur auf die Werkzeuge ─ Worte, Töne, Linien, Flächen, Farben ─ einschränken will, um das Material, ─ ὕλη ─, durch welches die einzelnen Künste der Natur jener Werkzeuge gemäß allein ihre Nachahmung zu bewerkstelligen vermögen. Alle Sätze Lessings, welche er aus jenem obersten Grundsatz herleitet, gelten nur für dieses Material ─ ὕλη ─, in welchem die verschiedenen Künste arbeiten. Hier freilich unbedingt. Aber nicht für die Gegenstände der Nachahmung. Hier erfüllt sich das Wort Plutarchs in seinem ganzen Umfange, dessen wesentliche zweite Hälfte Lessing in dem Motto seines Laokoon fortgelassen hat: ὕλῃ καὶ τρόποις μιμήσεως διαφέρουσι, τέλος δ ' ἀμφοτέροις \̔εν ὑπόκειται . „Jm Material und in der Art der Nachahmung unterscheiden sich die Künste, das Ziel aber, welches sie verfolgen, ist beiden gemeinsam! “ Welches ist nun aber dieses gemeinschaftliche Ziel? Welches ist der Gegenstand oder sind die Gegenstände der Nachahmung in den Künsten? Darauf geben Lessings Sätze für die Malerei direkt gar keine Antwort; nur was die Malerei unter Umständen vermöge ihrer Mittel andeuten könne, geben sie an; umgekehrt schränken sie die Poesie auch in ihren Gegenständen auf das einzige Gebiet der Handlungen ein und lassen ihr nur die Möglichkeit andeutungsweise auch Körper nachzuahmen, welche an sich gar nicht Gegenstände der künstlerischen Nachahmung sind, sondern nur das Material, dessen sich eine andere Kunst zu jener Nachahmung bedient. Denn die Malerei kann vermöge ihrer Mittel den eigentlichen Gegenstand ihrer Nachahmung überhaupt nur andeuten! So wie aus ihren Figuren und Farben eine Handlung nur erraten werden kann, so ist auch in allen andern Fällen ihrer künstlerischen Ausübung ihr Zweck nicht die Körper um ihrer selbst willen nachzuahmen ─ sofern dieselben lediglich Gegenstände sind, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander existieren ─, sondern durch dieses Mittel einen geistigen, seelischen Jnhalt nachahmend zur Darstellung zu bringen, welcher auch in der Natur nur auf dieselbe Weise, durch die Zeichen der demselben entsprechenden Formen und Farben, sich andeutend kundgibt. Vgl. Aristoteles , Politic. VII, c. 5, 1340 a 32: ἔτι δὲ οὐκ ἔότι ταῦτα (sc. τὰ σχήματα ) ὁμοιώματα τῶν ἠθῶν, ἀλλὰ σημεῖα μᾶλλον τὰ γιγνόμενα σχή- ματα καὶ χρώματα τῶν ἠθῶν . καὶ ταῦτ ' ἐστὶν ἐπὶ τοῦ σώματος ἐν τοῖς πάθεσιν . Und nicht anders die Poesie! Sie, der nach der Natur ihrer Mittel es am besten gelingt Fortschreitendes nachzuahmen, stellt ihre äußeren Handlungen ebensowenig um ihrer selbst willen dar ─ sofern dieselben nämlich lediglich eine Reihe äußerer Veränderungen, Gegenstände, deren Teile aufeinander folgen, sind ─, sondern in allen Fällen ist diese äußere Nachbildung nur das Material der Nachahmung ─ die Hyle der Mimesis ─; ihr eigentlicher Gegenstand ist, wie in der bildenden Kunst, geistiger Natur. Diesen seelischen Jnhalt zur Empfindung zu bringen ist das beiden Künsten gemeinsame Ziel, das τέλος ἕν ! Dieser Jnhalt kann nun zwar ebenfalls in einer „Handlung“ bestehen, in jenem oben definierten eigentlichen, innern Sinne, mag dieselbe nun in einem einzigen, momentanen Veränderungsvorgange erscheinen oder in einer beliebig ausgedehnten Folge von Veränderungen sich vollziehen. Aber mit dem Handlungsmoment, wenn es auch vielleicht der bedeutendste und sicherlich fruchtbarste Vorgang auf dem gesamten Gebiet des Geistes- und Seelenlebens ist, wird doch der Jnhalt desselben keineswegs erschöpft. Und mag man den Begriff der Handlung, mit Berufung auf Lessings Definition als Gegenstand, dessen Teile aufeinander folgen, auch noch so widernatürlich ausdehnen, so wird es doch ─ ganz abgesehen davon, daß damit der bildenden Kunst der nährende Boden verkümmert, ja im Grunde völlig entzogen ist ─ nimmermehr gelingen, alle die zahllosen Voraussetzungen darin einzuschließen, aus denen der Entschluß ( προαίρεσις ) zur Handlung ( πρᾶξις ) hervorgeht, durch die er bedingt wird und auf denen, als fest bestehenden Grundpfeilern, er ruht! Alle diese sind die vollberechtigten Gegenstände der künstlerischen Nachahmung für alle ihre verschiedenartigsten Gebiete, denen sie mit den mannigfaltigsten Mitteln auf immer wieder anders geartete Weisen lebendig wirkende Form zu geben sucht; also das ganze, unendliche Gebiet der Empfindungen, Stimmungen, Leidenschaften, Seelenzustände und Charakterbeschaffenheiten, nicht minder die gesamte, ebenso grenzenlose Gedankenwelt, sofern sie nämlich mit jener Gemüts- und Empfindungswelt in unmittelbare Wechselwirkung tritt. Denn da die Mittel der Nachahmung durch die Kunst vermöge der Natur ihrer Werkzeuge sich nur an die sinnliche Wahrnehmung ─ αἴσθησις ─ wenden können, so kann sie ihre Gegenstände auch nur auf dem Gebiete wählen, welches mit den Kräften der sinnlichen Wahrnehmung in unmittelbarem Zusammenhange steht, das ist das Gebiet der Empfindungen und Gemütszustände; ja auch die Handlungen fallen im strengsten Sinne eben auch nur insoweit in das Gebiet der Kunst, als sie vermöge der Voraussetzungen, auf denen sie beruhen, Gegenstand Empfindung erregender Wahrnehmungen ─ αἰσθήσεις ─ werden können oder vielmehr müssen! Es wären also drei große Hauptgruppen, nach welchen die Gegenstände der künstlerischen Nachahmung zu klassifizieren sind, und außer diesen gäbe es keine weiteren. Zuerst die einfachen Empfindungen, die der Grieche unter dem Gattungsbegriff πάθος begreift; sodann alles, was wir als Gemütszustände oder =Stimmungen, und Seelen= oder Charakterbeschaffenheit bezeichnen, samt allen dazwischen liegenden Abstufungen und Uebergängen, wofür wir einen zusammenfassenden Gattungsbegriff nicht ausgeprägt haben, was aber insgesamt unter dem griechischen Ausdruck ἦθος ─ Ethos ─ verstanden wird; endlich die Handlungen im inneren Sinne ─ πράξεις ─. Alle drei: Empfindung, Seelenzustand, innere Handlung ─ πάθος , ἦθος, πρᾶξις ─ sind direkt überhaupt gar nicht darstellbar. Auch durch die Sprache nicht; wie Schiller es ausdrückt: Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr. Jm Grunde kann ihre Nachahmung überall nur andeutungsweise erfolgen; in der Malerei vermittelst der Linien und Farben, durch Körper, in der Poesie vermittelst der Succession von Worten, durch das, was man mit Lessing im allerweitesten Sinne (äußere) Handlung nennen mag, wenn man darunter auch jeden kleinsten, aus der Kombination von Sinneseindruck und damit sich verknüpfendem Empfindungsmoment zusammengesetzten Vorgang verstehen will. Absolut betrachtet stehen also die beiden Künste den sämtlichen drei Gegenständen der Nachahmung ganz gleich gegenüber. Relativ aber ergibt sich aus der Verschiedenheit ihrer Mittel, daß die Poesie ganz direkt Handlung ( πρᾶξις ) nachahmen kann, Empfindung und Seelenzustand ( πάθος und ἦθος ) indirekt durch Handlungen; Schief aber erscheint Lessings Satz, daß die Poesie durch Handlungen andeutend Körper nachahmt. Das wäre eine Andeutung der Andeutung! Sondern: wie die Malerei durch Figuren und Farben die Körper vor das äußere Auge, so bringt die Poesie, durch Worte ihre Vorstellung erweckend, sie vor das innere Auge; beide verfolgen dabei den gleichen Zweck ( τέλος ): vermittelst dieser Körper ihren eigentlichen Gegenstand nachahmend darzustellen, gleichviel welcher von den dreien es gerade ist. und umgekehrt die Malerei ganz direkt Empfindung und Seelenzustand ( πάθος und ἦθος ) ( nicht Körper!), indirekt durch jene auch Handlung ( πρᾶξις ). Die Bedingungen, unter denen solche indirekte Nachahmung in beiden Künsten möglich wird, lassen sich darnach auf das einfachste bestimmen. Handlungen sind für den bildenden Künstler darstellbar, sobald die den Entschluß bedingenden Empfindungen und Seelenzustände in den Zeichen der Körperformen und =Farben sichtbar sich direkt zu erkennen geben, oder sofern es ihm gelingt sie durch die Aehnlichkeit körperlicher Zeichen indirekt erkennbar zu machen. Ebenso sind der Nachahmung durch die Poesie alle πάθη und ἤθη , alle Empfindungen und Seelenzustände zugänglich, sobald sie erstlich in der Bewegung der Körper oder Dinge, oder in successiven Vorgängen oder Handlungen unmittelbar sich kundgeben; sodann aber auch ebensowohl, insofern es gelingt vermittelst der Aehnlichkeit von Körpern und Gegenständen, nicht allein in ihren Veränderungen, sondern auch in ruhenden Zuständen mit Empfindungs- und Seelenzuständen diese durch jene indirekt wach zu rufen. Und hier ist es, wo der Lessingsche Satz: Handlung ist der Gegenstand der Poesie, selbst bei der äußersten Dehnung des Begriffes, seine Geltung völlig verlieren muß. ────── III. Es wird erforderlich sein diese Sätze an der Erfahrung zu prüfen, um auch unabhängig von der entwickelten Schlußfolge zur Beantwortung der Frage zu gelangen, inwieweit die im Laokoon gegebene Definition der Poesie auf die Lyrik Anwendung finden kann. Wie steht es also mit dem Lessingschen Successionsbegriff, wenn es sich, wie in der Lyrik, um nachahmende Darstellung von Empfindungen, von Stimmungen und Seelenzuständen handelt? Jst nicht das wesentliche einer Seelenstimmung, eines Gemütszustandes vielmehr gerade etwas Stationäres? Und ist die nachahmende Darstellung solcher psychologisch=ethischen Zustände nicht gerade eine der Hauptaufgaben der Poesie? Und wenn auf dem Gebiete der Darstellung von bloßen Empfindungen das Moment der Entwickelung, der Wandlung, des Streites entgegengesetzter oder des Wechsels verwandter Affekte naturgemäß leichter Platz greift, kann denn in einem lyrischen Gedichte nicht auch eine einzelne Empfindung ganz ohne Veränderung kontinuierlich oder vielmehr stationär zur Darstellung gebracht werden, etwa wie ein einzelner, lang ausgehaltener Ton oder Akkord? Wie soll z. B. der Begriff des „Gegenstandes, dessen Teile aufeinander folgen“, Anwendung finden auf Goethes „Wanderers Nachtlied“? Ueber allen Gipfeln Jst Ruh, Jn allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch. Durch die sinnliche Vorstellung des schweigenden Waldes, zugleich freilich durch die wunderbare Macht des rhythmischen Tonfalles, ist hier in unübertrefflicher Weise der Seelenzustand (das Ethos ) still, fast heitergefaßter Ergebung in den Todesgedanken nachgeahmt und zwar in einer Freundlichkeit der Stimmung und in einem Reichtum der Nüancen ─ die durch die Analogie des wunderschönen Bildes, das an alle Sinne zugleich sich wendet, mit Eins gegeben ist ─ wie sie keine abstrakte Schilderung zu wecken vermöchte. Aber wo ist hier ein Moment der Veränderung oder Folge? Nicht einmal in dem angewandten Bilde! Man müßte denn die „Folge“ und damit die „Handlung“ darin finden, daß auf die Schilderung des koexistenten Bildes die mit dem Anblick desselben sich verknüpfende Stimmung der Zeit nach folgend zur Erwähnung gelangt; aber dann wäre in allen derartigen lyrischen Gedichten ein und dieselbe Handlung, ─ ein Gedanke, den man Lessing nicht zutrauen darf. Ein Gedicht wie dieses muß, wenn der rechte Künstler sich dazu findet, ganz gemalt werden können! Es ist die recht eigentliche Aufgabe der Landschaftsmalerei, wenn sie nicht lediglich die Formen der Natur kopiert, sondern ihre Wirkungen nachzuahmen trachtet, ein derartiges Ethos, wie es hier in den Schlußworten mit der Vorstellung des geschilderten Bildes verknüpft wird, nachahmend zu erwecken und diese Nachahmung zu ihrem eigentlichen Gegenstande und obersten Zwecke zu machen. Freilich setzt das Lied den Ausdruck der Empfindung ─ „Warte nur u. s. w.“ ─ dem Naturbilde hinzu; aber doch nur, da in demselben der Anlaß dazu gegeben ist. Verfährt nun der Maler nicht als Kopist, sondern als Künstler, so besteht seine Kunst eben darin, sein Bild so zu malen, daß es nicht bloße Vedute, sondern Mimesis eines Ethos sei, daß in ihm der Anlaß zu jener Empfindungsweise mit eben der Kraft gegeben sei wie im Liede. Man muß es nicht betrachten können, ohne zu demselben Gefühl bewegt zu werden; es muß die Bereitschaft ─ δύναμις ─ zu demselben herzustellen, ganz ebenso alle Mittel in sich vereinigen wie das Lied. Freilich wendet sich dieses an mehrere Sinne zugleich, es nimmt auch den Gehörssinn in Anspruch ─ „die Vögelein schweigen im Walde“ ─, das kann die Malerei nicht; aber wie viel mehr vermag sie uns dafür zu zeigen und wie viel deutlicher! Mit tausend Stimmen reden Formen, Licht und Farben zu uns, alle übereinstimmend jenes eine Gefühl, zu einer Gesamtwirkung vereinigt, uns in die Seele zu gießen. Die Alten gingen sogar im Liede so weit, sich auf die bloße Schilderung des Landschaftsbildes zu beschränken und den Ausdruck der Empfindung ganz fortzulassen, wie das kleine Gedicht des Alcman zeigt, welches mit Recht als eine überraschende Parallele zu Goethes „Ueber allen Gipfeln“ herangezogen ist: Εν῞δουσιν δ ' ὀρέων κορυφάι τε καὶ φάραγγες , πρώονές τε καὶ χαράδραι , φύλλα θ ' ἑρπετά θ ' ὅσσα τρέφει μέλαινα γαῖα , θῆρες ὀρεσκῷοί τε καὶ γένος μελισσᾶν καὶ κνώδαλ' ἐν βένθεσι πορφυρέας ἁλός · εὕδουσιν δ ' ὀϊωνῶν φῦλα τανυπτερύγων . Schlafend liegen der Berge Gipfel und die Thäler, Uferklippen und Felsenschluchten, Laubgezweig und alles Gewürm der schwarzen Erde, Tiere des Bergwalds und das Volk der Bienen, Und die Ungetüme der dunklen Meerestiefe, Schlaf umfängt der Vögel Breitgeflügelte Schwärme. Ueberall wird in beiden Künsten dieser eigentliche Gegenstand und Zweck der Nachahmung von den dafür verwendeten technischen Mitteln scharf zu unterscheiden sein. Eine einzige, die ganze Seele wie der Spiegel eines ruhenden Sees ausfüllende Stimmung ist es auch, nur scheinbare Bewegung in Bildern und Empfindung, was in Goethes Lied „An den Mond“ nachgeahmt ist: Füllest wieder Busch und Thal Still mit Nebelglanz, Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz; Breitest über mein Gefild Lindernd deinen Blick, Wie des Freundes Auge mild Ueber mein Geschick. Jeden Nachklang fühlt mein Herz Froh- und trüber Zeit, Wandle zwischen Freud' und Schmerz Jn der Einsamkeit. Fließe, fließe, lieber Fluß! Nimmer werd' ich froh! So verrauschte Scherz und Kuß Und die Treue so. Jch besaß es doch einmal, Was so köstlich ist! Daß man doch zu seiner Qual Nimmer es vergißt! Rausche, Fluß, das Thal entlang, Ohne Rast und Ruh, Rausche, flüstre meinem Sang Melodien zu, Wenn du in der Winternacht Wütend überschwillst, Oder um die Frühlingspracht Junger Knospen quillst. Selig, wer sich vor der Welt Ohne Haß verschließt, Einen Freund am Busen hält Und mit dem genießt, Was von Menschen nicht gewußt, Oder nicht bedacht, Durch das Labyrinth der Brust Wandelt in der Nacht. Es ist der Zustand völliger, tiefster Stille der Seele, der aus diesen wundervollen Strophen sich uns mitteilt, aber einer Stille, die über die gedrängte Fülle stärkster Empfindungen und reichster Erinnerungen sich breitet; als ob die in rastlosem Wechsel zahllos thätigen, zu Genuß und Schmerzen immer erneut aufregenden Lebenskräfte nun dem rückwärts gewandten Bewußtsein alle zugleich sich darbietend in ruhendem Gleichgewichte weithin sich ausbreiten, keine das Gemüt beherrschend, alle doch zugleich ihm gegenwärtig, ganz gelöst die Seele und doch zugleich schwellend von der unendlichen Fülle der regsten Energien! ─ Koexistenz in des Wortes striktester Bedeutung, in dem dargestellten Seelenzustande wie in dem Bilde des mondüberglänzten Thales mit seinen Gebüschen und mit seinem ruhig hingleitenden Flusse! Nur einen Augenblick wandelt die entrückte Phantasie sich das ruhende Bild zu einer Analogie künftiger Gesänge, um sogleich wieder dem Schweigen der Mondnacht hingegeben in sich selbst zu versinken. Allein auch dieses scheinbare „Nacheinander“ ist doch im Grunde nur ein „Nebeneinander“, und es ist lediglich das technische Moment der zeitlichen Wortfolge, welches zwingt, die zeitlich durchaus koexistenten Stimmungselemente in Succession vorzuführen. Will man das eine „Handlung“ nennen, so ist in diesem Sinne ganz ebenso die „Folge von Gegenständen oder deren Teilen“ in jeder Hallerschen, Brockesschen oder Hoffmannswaldauschen Beschreibung nachzuweisen. Man sehe die ganze Reihe der Goetheschen Lieder an, z. B. „Meeresstille“, „Herbstgefühl“, „Frühzeitiger Frühling“, Mignons „Kennst du das Land“, oder welche man will, es ergibt sich immer dasselbe Verhältnis. Zum Beweise diene ein Lied, welches auf den ersten Blick dem Lessingschen Begriff von Handlung auf das vollkommenste zu entsprechen scheint: „Auf dem See.“ Und frische Nahrung, neues Blut Saug' ich aus freier Welt; Wie ist Natur so hold und gut, Die mich am Busen hält! Die Welle wieget unsern Kahn Jm Rudertakt hinauf, Und Berge, wolkig himmelan Begegnen unserm Lauf. Aug', mein Aug', was sinkst du nieder? Goldne Träume, kommt ihr wieder? Weg, du Traum, so gold du bist! Hier auch Lieb' und Leben ist. Auf der Welle blinken Tausend schwebende Sterne; Weiche Nebel trinken Rings die türmende Ferne; Morgenwind umflügelt Die beschattete Bucht, Und im See bespiegelt Sich die reifende Frucht. Hier ist erstlich die äußere Handlung der Fahrt auf dem See und neben ihr und mit ihr verschlungen die innere des Streites der Empfindungen und des Obsiegens des freudigen Naturgefühls; dazu ist in dem entzückenden Landschaftsbilde, das sich vor uns entrollt, in dieser Succession von Worten, deren jedes dem Bilde einen neuen Zug hinzufügt, jeder dieser einzelnen Züge auf das kunstreichste in einem kleinen Bewegungsvorgange für sich zur Anschauung gebracht, von der den Kahn im Rudertakt „dahinwiegenden“ Welle bis zu dem die Bucht „umflügelnden“ Morgenwinde und den Früchten, die im See sich „bespiegeln“. Nun ist es doch aber ganz ohne Frage dieses Bild nicht, bei aller seiner Schönheit, um dessentwillen Goethe jenes Lied gesungen hat; und wie will man von dem Gesichtspunkte aus, daß sein Gegenstand eine „Handlung“ sei, ohne pedantischen Zwang zu einer einheitlichen Auffassung desselben gelangen? Wir wissen, Goethe hat das Lied am 15. Juni 1775 auf dem Züricher See gedichtet, nachdem er mit liebeerfülltem Herzen von Lili sich losgerissen, und es ist uns interessant diese individuellen Umstände zu kennen. Was aber dem Gedichte seinen unvergänglichen Zauber verleiht, ist doch etwas davon ganz Unabhängiges; es ist die Kraft und Frische, mit der es eine einzige Seelenstimmung so lebhaft hervorbringt, daß hier in der künstlerischen Nachahmung die Wirkung eine noch weit intensivere und vor allem gewissere ist, als wenn die Mittel, deren sie sich bedient, in der Natur selbst auf uns wirkten. Denn hier ist ihren Reizen Sprache verliehen, und von der Gewalt, mit der sie in einem hoch überragenden Geiste wirkten, empfangen wir die Richtung und Erhebung unsers eigenen Fühlens. Eine einzige Seelenstimmung ist nachgeahmt, der Streit der Empfindungen ist nur diesem Zwecke dienstbar: die Tiefe und Freudigkeit des Goetheschen Naturgefühls, die glühende Liebe, mit der er jede ihrer Erscheinungen als die Aeußerung eines beseelten Wesens sympathisch empfängt und jubelnd wiederklingen läßt, ─ sie wird nur gehoben durch die Kontrastierung mit der Befangenheit jener süßen Herzensirrungen, aus denen er mit entzücktem Aufschwunge zu der Gesundheit und Kraftfülle seines universellen Empfindens sich emporhebt. Analysieren wir die Mittel genauer, mit welchen der Dichter die überwältigend stark wirkende Nachahmung dieses „Ethos“ bewirkt hat, so lassen sich deren zwei sehr deutlich unterscheiden. Lassen wir die vier Eingangszeilen fort, die weiter nichts als einen Ausruf enthalten, in welchem die Grundtonart der Stimmung angegeben ist, und scheiden die vier Zeilen der mittleren Strophe aus, so behalten wir in den verbleibenden zwölf Zeilen ein bloßes Landschaftsbild übrig, dessen Haupt- und Detailzüge mit der größten Sorgfalt aus lauter einzelnen Bewegungsvorgängen zusammengefügt sind und zwar zu einem koexistierenden Ganzen, einem einzigen Totalbilde, in Wahrheit der ζωγραφία λαλοῦσα ─ dem „redenden Gemälde“ ─ des Simonides. Nur müßte der Maler, der sich vermessen wollte „das Goethesche Gedicht gemalt“ zu haben, es verstehen in seine Landschaft diejenige „Kraft“ zu zaubern, daß sie unwiderstehlich und überwältigend mit demselben „Ethos“ uns unmittelbar erfüllte, welches zu erzeugen der Dichter nun den anderen Teil seines Gedichtes hat zu Hülfe nehmen müssen. Der frische Hauch des Morgens müßte uns aus seinen Farben und Konturen entgegenwehen, daß wir in freier Welt an dem holden Busen der Natur uns fühlten! Mit so siegender Gewalt müßte das Entzücken an der verschwenderischen Fülle ihrer Schönheit, an der unvergänglich erfrischenden Kraft ihrer ewigen Jugend uns ergreifen, daß wir ein „Weg, du Traum, so gold du bist“ allen lediglich individuellen und eben darum beengenden Empfindungen zurufen, die sich diesem Entzücken beeinträchtigend in den Weg stellen, und mögen es die uns teuersten sein! Dann wäre es dem Maler gelungen das Ethos der Naturwirkung nachahmend hervorzubringen; der Dichter mußte den direkten Ausdruck desselben seinem Bilde hinzufügen und ebenso von der überwiegenden Gewalt des Naturgefühls über die stärkste individuelle Regung konnte er nur durch die direkte Vorführung jenes Streites uns überzeugen. Mit Evidenz ergibt sich aus diesem Beispiel, bis zu welchem Grade es als ein Fehlgriff zu bezeichnen ist, welcher in der Praxis notwendig in die Jrre führen muß, wenn man der Poesie generell als ihren Gegenstand „Handlungen“ zuweist. Mit Evidenz zeigt sich aber auch daran, in welchem Sinne Lessings Gesetz seine ganz unbestreitbare Richtigkeit hat; immer bleibt das Mittel der Dichtung die Bezeichnung von Bewegungen, Vorgängen, ihr Element ist das Successive; immer das Mittel der Malerei die Darstellung von Körpern, Situationen, ihr Element ist das Koexistente; die Gegenstände können beiden Künsten gemeinsam sein. Mit dem Takte des Genies hat Goethe dies erkannt, und in dieser Beschränkung, aber eben auch nur so weit, läßt sich die Befolgung des Lessingschen Gesetzes durch die gesamte Goethesche Dichtung als eines der wirksamsten Mittel seiner Kunst nachweisen. Jeden Teil des koexistierenden Gesamtbildes, zu welchem der Maler eine gesonderte Gruppe von Körpern in sorgfältigst ausgewählter Haltung zueinander und in fein erwogener Beleuchtung gebraucht, zaubert er in souveräner Beherrschung der Sprachmittel durch die lebhafteste Bezeichnung des Bewegungsvorganges, welchem der eine Moment, den das Bild allein aufzufassen vermag, als Mittelpunkt angehört, vor unser geistiges Auge; ja, wo eine solche Bewegung fehlt, weiß er die ruhende Situation dennoch als das Resultat einer bewußten Energie des beseelten, thätigen Waltens, als welches ihm überall die Naturerscheinungen entgegentreten, aufzufassen und darzustellen. So, wenn es heißt: „Wie ist Natur so hold und gut, die mich am Busen hält;“ „weiche Nebel trinken rings die türmende Ferne;“ oder in „ Willkommen und Abschied: “ „Der Abend wiegte schon die Erde, und an den Bergen hing die Nacht;“ „Schon stand im Nebelkleid die Eiche Ein aufgetürmter Riese da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah;“ ebenso schon in dem ganz frühen Jugendliede „ Die schöne Nacht: “ „Luna bricht durch Busch und Eichen, Zephyr meldet ihren Lauf, Und die Birken streun mit Neigen Jhr den süßten Weihrauch auf.“ Ein kontinuierliches Beispiel und ein wahres Kabinettstück dieser Behandlung ist „ Amor als Landschaftsmaler “, wo das erquickende Gemälde einer reichen Landschaft, wie sie, da eben die Frühnebel weichen, in dem frischen Tau des köstlichen Sommermorgens vor dem entzückten Auge allmählich sich enthüllt, mit virtuoser Kunst als die successiv entstehende Malerei des Liebesgottes auf dem ausgespannten grauen Nebeltuch durch eine Reihe von Bewegungsvorgängen zur sinnlichsten Anschauung und zur lebhaftesten Wirkung auf die Empfindung gebracht wird. Nie und nirgends hat Goethe sich durch den Laokoon darin beirren lassen, Körperliches in seinen Dichtungen zu malen, Koexistentes zu schildern, und zwar keineswegs nur „andeutungsweise durch Handlungen“, sondern geradezu und mit der recht eigentlichen Absicht zu malen und zu schildern. Daß es ihm gelungen, diese von Lessing im Princip verurteilte poetische Malerei und Schilderung überall so durchzuführen, daß sie den Erweis ihrer Berechtigung in sich selber trägt, das liegt daran, daß die Technik, mit welcher er die dazu erforderlichen Mittel zu den höchsten Wirkungen zu nutzen weiß, eben nicht ein bloß äußerliches Kunstmittel ist, sondern daß sie ihrem innersten Wesen nach aus den eigentlichen Grundgesetzen der Poesie organisch und mit Notwendigkeit hervorgeht. Wo liegen nun die tieferen Gründe, welche jene Technik als eine dem wesentlichsten Princip der Dichtung entsprossene kennzeichnen? Lessing begründet seine Regel, der Dichter solle das Koexistente in ein Successives umwandeln, lediglich durch die Berufung auf die successive Natur der Sprache, des poetischen „Mittels“; er bestreitet zwar nicht, daß diese Beschaffenheit an sich wohl die Beschreibung und malende Schilderung zulasse, doch behauptet er als einen Erfahrungssatz, daß ein solches Schildern niemals den Grad der Anschaulichkeit erreichen könne, welcher in der Poesie als ein Haupterfordernis der Körperschilderung verlangt werden müsse. Selbst die Richtigkeit dieses Grundes zugegeben, so ist es doch ein fundamentaler Unterschied, ob der Poesie als ihr ausschließliches Gebiet Handlungen zugewiesen werden und Darstellungen des Körperlichen nur beiläufig und andeutungsweise durch jenen Kunstgriff, oder ob unter den Gebieten, welche die Poesie beherrscht, die Körperwelt einen ebenbürtigen Platz einnimmt als eines der wichtigsten Mittel zur Erreichung ihrer Zwecke. Solch einen Rang behauptet sie bei Goethe, dessen Gedichte überall das malerisch auf das vollkommenste geübte Auge des Dichters erkennen lassen, dessen Schilderungen als malerisch gedachte, mit malerischem Geschick komponierte, weit ausgespannte Gesamtbilder einheitlich sich überschauen lassen und wirken. Lessings principielle Forderung, der Dichter solle nicht malen, wird durch Goethe auf jeder Seite widerlegt; wir lernen von ihm, er kann malen, also soll er malen! Nur ein starkes Beispiel aus Goethes spätester Zeit, aus dem Jahr 1827! Es ist das achte Lied aus den „Chinesisch=deutschen Jahres= und Tageszeiten“: Dämmrung senkte sich von oben, Schon ist alle Nähe fern, Doch zuerst emporgehoben Holden Lichts der Abendstern. Alles schwankt ins Ungewisse, Nebel schleichen in die Höh'; Schwarzvertiefte Finsternisse Wiederspiegelnd, ruht der See. Nun am östlichen Bereiche Ahn' ich Mondenglanz und =Glut, Schlanker Weiden Haargezweige Scherzen auf der nächsten Flut. Durch bewegter Schatten Spiele Zittert Luna's Zauberschein, Und durchs Auge schleicht die Kühle Sänftigend ins Herz hinein. Man möchte das Lied für die genau sich anschließende Beschreibung eines Landschaftsgemäldes halten, wüßten wir nicht, daß die „ganze Scenerie der Oertlichkeit konkret entnommen ist,“ der Aussicht über Garten, Park und Wiesen, die sich dem Dichter von seinem Gartenhause aus darbot (vgl. die Anmerkung von Loeper, Hemp. Ausg. III, S. 156). So bleibt nur die technische Forderung Lessings: das Ruhende, Gleichzeitige durch Verwandlung in ein Bewegtes, Fortschreitendes der lebhaften Anschauung fähig zu machen, die in der Dichtung ─ weil die Wahrnehmung die in der Wortfolge nacheinander namhaft gemachten Teile eines komplizierteren Ganzen erfahrungsmäßig nicht zu einer übersichtlichen Gesamtheit zu vereinigen vermöge ─ auf keine andere Weise erreicht werden könne. Für die nähere Untersuchung ergeben sich hier also zwei Fragen: gibt es außer der Erfahrung innere, im Wesen der poetischen Kunst liegende Gründe dafür, daß die Darstellung der Bewegung und des Fortschreitenden lebendiger wirkt als die einfache Beschreibung? Und: in welchen Fällen und auf welche Weise wird demgemäß eine solche Umwandlung der Beschreibung in Darstellung des Bewegten möglich sein? Die Beantwortung dieser Fragen kann nur gefunden werden auf dem Boden der im Obigen gewonnenen Resultate, daß weder „Handlungen“ noch „Körper“ die Gegenstände der Künste sind, sondern beides nur Mittel, die eigentlichen Gegenstände nachahmend zu verkörpern; daß diese Gegenstände, die der Poesie und Malerei gemeinsam sein können, dem innern Seelenleben angehörig, psychologisch=ethischer Natur sind und darum an sich selbst weder nach dem Princip der Koexistenz noch nach dem der Succession zu unterscheiden, sondern daß diesen Principien nur die Mittel ihrer Nachahmung durch diese oder jene Kunst unterworfen sind. Umgekehrt wird die Untersuchung nach der innern Begründung jenes technischen Haupterfahrungssatzes für das verschiedene Verfahren der Poesie und der bildenden Kunst geeignet sein, die Erkenntnis der eigentlichen Gegenstände der künstlerischen Nachahmung von einer neuen Seite noch klarer ins Licht zu setzen. ────── IV. „Es sei Fabel oder Geschichte, daß die Liebe den ersten Versuch in den bildenden Künsten gemacht habe: soviel ist gewiß, daß sie den großen alten Meistern die Hand zu führen nicht müde geworden.“ Aus diesem Lessingschen Satze läßt sich ein weiter gehender Schluß ziehen als der, welchen er selbst daraus folgerte: „der weise Grieche hatte die bildende Kunst bloß auf die Nachahmung schöner Körper eingeschränkt.“ Die unbekannte Größe des Begriffs der Schönheit, der doch erst als das Resultat einer Rechnung sich uns ergibt, deren Faktoren zunächst festzustellen sind, hemmt auch hier den Fortgang der Untersuchung. Wenn wir mit Aristoteles annehmen, daß die ersten Anfänge des Kunsttriebes aus der Freude an der Nachahmung entstanden sind, wie wir dieselbe an den Kindern noch täglich beobachten können, so ergibt sich sogleich, daß, da naturgemäß diese ersten, rohesten Nachahmungsversuche sich solchen Gegenständen und Vorgängen zuwandten, die durch ein irgendwie beschaffenes Jnteresse die Seele zur Thätigkeit erregten, in den fortgesetzten, ausgeführteren Versuchen mit der zum frei wählenden Können gesteigerten Technik sich der Kreis der die Nachahmung auf sich ziehenden Gegenstände mehr und mehr auf dasjenige einschränken mußte, was die Seele stark und in erwünschter Weise bewegte, was sie zu lebhafter, von Lust gefühl begleiteter, Thätigkeit erhöhte. Daraus folgt aber weiter, und gleichfalls schon auf Grund jener aristotelischen Analogie, daß es ein ganz uneigentlicher Ausdruck ist, wenn man in beiden Fällen von der Nachahmung der Naturobjekte selbst spricht. Nicht diese, nicht die wirklichen Vorgänge sind der eigentliche Gegenstand der im Spiele thätigen Kinderphantasie oder der primitiven Kunstübung der Naturvölker; was sie bei ihrer Nachbildung als unbewußt wirkender Antrieb leitet, ist vielmehr: diejenigen Seelenbewegungen, welche sie als Wirkungen der sie interessierenden Naturobjekte und Vorgänge erfahren haben, durch die eigene Thätigkeit aufs neue hervorzubringen, und zwar zunächst in sich selbst, auf einer höheren Stufe, dann auch bei andern. Wir sehen diese Art von nachahmender Produktion als ihrer Mittel sich denn auch keineswegs einer getreuen oder irgendwie vollständigen Wiederholung der sie erregenden Objekte bedienen; das kleinste Bruchstück davon, ja sehr abweichende Formen und Prozeduren können ihr völlig genügen, sofern sie nur geeignet sind, den aus der Wirklichkeit erfahrenen Seelenvorgang in selbständiger Erneuerung wieder anzuregen, die einmal erklungene Saite zu demselben Ton wieder in Schwingung zu setzen. Die Erfahrung zeigt sogar, daß die äußerlich getreue und vollständige Nachahmung der Wirklichkeit ─ bei den Kindern wie bei den Naturvölkern ─ der Erreichung dieses einzig und allein wesentlichen Hauptzweckes oft mehr hinderlich als förderlich ist; weit stärker und sicherer wirkt bei ihnen die einseitigste Wiederholung und die dadurch bedingte Hervorhebung des einzigen Zuges oder Momentes, an welche der interessierende Seelenvorgang sich knüpfte. Dieser Umstand ist es, auf welchem die Symbolik der Märchenwelt recht eigentlich sich aufbaut, und auf dessen Grunde sie sich zuweilen zu einer einfachen Großartigkeit zu erheben vermag, die der tiefsten Weisheit und dem feinsten Kunstsinn in gleicher Weise Genüge leistet wie dem naiven Kinderverstande. Was aber hier als unbewußter Zweck die primitive Kunstübung erzeugt, das ist das bewußte Ziel der eigentlichen Kunst, bei der es sich überall nur um das Eine handelt, daß sie dasjenige nachahmend hervorbringt, was in der ganzen Welt allein uns sowohl wahrhaft zu interessieren vermag als auch allein uns dauernd interessieren soll: die Wirkungen, welche die Dinge, Personen, Begebenheiten in unserer Seele hervorbringen. Und zwar nicht alle solche Seelenbewegungen, sondern diejenigen, die ihrer Natur nach als die rechten Platz greifen sollen, auf denen das gesunde Leben der Seele beruht, so daß sie in solcher Bewegung und Thätigkeit des Wahrnehmens und Empfindens die ihr zuerteilte Natur und Bestimmung erfüllt, zugleich aber mit der solchergestalt erweckten Seelenenergie als Begleitung und Krönung derselben jenes Lust gefühl ( ἡδονή ) entsteht, welches der Seele den höchsten Genuß ihrer selbst verleiht, während es die angeregten Kräfte noch steigert und ihnen die Dauer gewährt! Wie entstehen nun aber diese Seelenbewegungen, die zunächst hier mit einem allgemeinen Namen als psychische Empfindungen bezeichnet sein mögen, im gewöhnlichen Leben? Wie vermag demgemäß die Kunst sie nachzuahmen? Ueberall, wo die Empfindungen über das bloße physische Behagen oder Unbehagen, über die sinnliche Lust und Unlust hinausgehen, überall also, wo unsere Seele bewegt wird und wir im Stande sind diese Bewegungen deutlicher zu analysieren, entsprechen dieselben entweder direkt der Einwirkung einer fremden psychischen Energie auf unsre Seele oder sie entstehen, indem wir, bewußt oder unbewußt, ein Analogon solcher Einwirkung annehmen. Für Handlungen und ebenso für die bloße Erscheinung von Menschen und auch von Tieren bedarf dieser Satz keines Beweises; Vgl. Jakob Grimm, Kleine Schriften: „Ueber das Wesen der Tierfabel.“ er gilt aber nicht weniger für die unbelebte Natur. Ganz direkt findet er seine Anwendung, sofern die Natur uns von Menschenhand und =Sinn modifiziert entgegentritt, mögen sie nun ordnend oder zerstörend auf sie eingewirkt haben; sie ist da gewissermaßen eine Zeichensprache, durch welche seelische Kräfte sich uns kundthun. Wo wir aber der unberührten Natur und ihren Gewalten gegenüberstehen und sie nicht etwa zum Gegenstand unserer wissenschaftlichen Erkenntnis machen, sondern uns dem Eindrucke überlassen, den sie in unserm Empfinden hervorbringt, da werden diese Eindrücke um so deutlicher und stärker sein, je mehr wir geneigt und imstande sind, in unserer Vorstellung dieselben als Analoga von Wirkungen bewußter Energien und beseelter Jndividualitäten aufzufassen. Jn der Religionsgeschichte aller Völker ist diese Naturanschauung einer der mächtigsten Faktoren, und dem lebhaft empfindenden Menschen ist sie heute wie ehedem, unbeschadet aller Aufklärung des Verstandes, unabweisbar; mag er nun in der Natur die Gottheit schauen oder das Naturganze selbst als Wirksamkeit erfassen, immer wird er, je empfänglicher sein Empfinden ist, auch im einzelnen dazu vorschreiten, sich Himmel und Meer, Berg und Wald, bis hinab zum Baum und zur Blume, je mehr im liebevollen Beobachten und Verkehren ihm das Einzelne vertraut geworden, jedes für sich mit einer Art geheimnisvoller Persönlichkeit begabt, mit einer Analogie von Wollen und Empfinden ausgestattet zu denken und so zu ihm in seelische Beziehung zu treten. Die wahrgenommenen Eigenschaften, Bewegungen und Veränderungen übersetzen wir uns mit mehr oder weniger Kraft der angeborenen Phantasie in Lebensäußerungen einer der unseren ähnlich gearteten Seele, und so werden auch bei uns die entsprechenden Seelen bewegungen erweckt. Die Sprache selbst liefert den Beweis, die gar keine anderen Mittel besitzt, Natureindrücke darzustellen, als welche sie dieser Fiktion entnimmt; die freundliche Landschaft, das friedliche Thal, das erhabene Gebirge, der heitere oder drohende Himmel, die majestätische See und der wütende Sturm, die stolze Eiche und die altehrwürdige Linde bis hinab zu dem bescheiden versteckten Veilchen, sie alle und noch unzählige andere Wendungen geben Zeugnis, daß auch die Sprache des gewöhnlichen Lebens, sobald sie nur einigermaßen durch den Ausdruck der Empfindung sich färbt, den Satz bestätigt: nur seelisches Leben erweckt auch unsere Seele zu Leben und Be= wegung; die bloßen Naturobjekte vermögen das an sich zunächst noch nicht! Sie werden dazu erst dadurch befähigt, daß wir ihnen ein Analogon jener seelischen Energien beilegen oder doch die Vorstellung davon unmittelbar mit ihnen verknüpfen. Wenn schon die Umgangssprache auf diesem Gebiete so mit poetischen Keimen erfüllt ist, wie muß es erst die Sache des Dichters sein, diese Keime zu voller Entwickelung zu bringen! Das Materielle an den Naturdingen wird er überall nur insoweit darzustellen haben, als es dazu dient, das zu vergegenwärtigen oder schließen zu lassen, was allein die Seelen bewegt und daher der eine Gegenstand aller Kunst ist: Leben und Wirksamkeit. Von diesem Gesichtspunkte aus zeigt sich auch am deutlichsten der Grund, warum die Vorstellungen der griechischen Mythologie so unwiderstehlich in unsre Poesie und in unsre gesamte Kunst eingedrungen sind. Die Antwort, weil sie eine Fülle schöner Gebilde enthält, ist auch hier nicht ausreichend; die unvergleichliche und unvergängliche poetische Kraft dieser Schöpfungen beruht vielmehr darin, daß das geborene Künstlervolk der Griechen die Fähigkeit, welche allen Völkern in ihrem dichtenden Kindesalter eigen ist, zur höchsten Vollendung brachte: in allem, was ihre Seele bedeutend erregte, die wirkende Energie aufzufassen, diese zu objektivieren und ihr eine psychisch und physisch entsprechend ausgebildete, ganz selbständige Jndividualität zu verleihen, mit der sie sich fortan auseinanderzusetzen hatten. So verfuhren sie nicht allein den Naturdingen gegenüber, den Elementen und ihrer Kraft, sondern auch Zeit und Schicksal mit ihren wechselnden Verhängnissen erschienen ihnen in solcher Verdichtung zu plastisch=objektivierten Persönlichkeiten. Vgl. hierzu: Lehrs „ Populäre Aufsätze aus dem Altertum “, 2. Aufl., Leipzig 1875; namentlich die Aufsätze: „Die Nymphen“, „Die Horen“, „Naturreligion“. Ueberall tritt durch diese Fiktionen an die Stelle der toten Schilderung des Materiellen die unmittelbar die Seele bewegende Darstellung des lebensvoll Wirkenden, und das ist der Grund, der sie der Kunst so wert macht, weil er mit dem Grundprincip aller Kunst zusammenfällt. Es ist einer der größten Züge Goethescher Lyrik, daß er es verstanden hat, hier den Spuren der Griechen nachzugehen und mit gewaltig schaffender Kraft, in der Natur wie im Reiche des Geistes, Dinge, Erscheinungen und Begriffe zu lebensvollen Wesen zu gestalten. Man denke an Gesänge wie „Meine Göttin“ oder „Schwager Kronos“; und, speciell für die dichterische Erhöhung und Verklärung der Natureindrücke, an solche wie der „Gesang der Geister über den Wassern“, an das ganze Heer seiner Lieder, und, um zwei klassische Beispiele zu nennen, in denen das höchste dieser Gattung erreicht ist, an die ganze erste Scene im zweiten Teile des Faust („Anmutige Gegend.“ „Faust auf blumigen Rasen gebettet u. s. w.“) und an den Dithyrambus „ Ganymed “. Aus jeder Strophe, aus jedem Verse für sich läßt sich hier die im Obigen ausgesprochene Theorie ablesen und entwickeln; und wie viel bewegt sich hier der Dichter in reiner Schilderung, freilich nie ohne den übergeordneten Zweck, in solcher Schilderung die malenden Züge wie die Strahlen in einem Brennspiegel zu versammeln und den Brennpunkt uns in die Seele zu werfen, um mit unfehlbarer Wirkung dort die von ihm gewollte Empfindung zu entzünden. So in der Schilderung der Nacht, mit ihrer heiligen Zauberkraft, Vergessenheit zu gewähren von „des Herzens grimmem Strauß“ und „des Vorwurfs glühend bittern Pfeilen“ und Erquickung zu erneuter Hoffnung und rasch entschlossenen Thaten: Wenn sich lau die Lüfte füllen Um den grünumschränkten Plan, Süße Düfte, Nebelhüllen Senkt die Dämmerung heran; Lispelt leise süßen Frieden, Wiegt das Herz in Kindesruh, Und den Augen dieses Müden Schließt des Tages Pforte zu. Nacht ist schon hereingesunken, Schließt sich heilig Stern an Stern; Große Lichter, kleine Funken Glitzern nah und glänzen fern; Glitzern hier im See sich spiegelnd, Glänzen droben klarer Nacht; Tiefsten Ruhens Glück besiegelnd, Herrscht des Mondes volle Pracht. Eine völlig malerische Strophe und poetisch wie malerisch gleich vollkommen! Und nicht minder folgende Stelle aus Fausts Monolog: Jn Dämmerschein liegt schon die Welt erschlossen, Der Wald ertönt von tausendstimm'gem Leben, Thal aus, Thal ein ist Nebelstreif ergossen; Doch senkt sich Himmelsklarheit in die Tiefen, Und Zweig' und Aeste, frisch erquickt, entsprossen Dem duft'gen Abgrund, wo versenkt sie schliefen; Auch Farb' an Farbe klärt sich los vom Grunde, Wo Blum' und Blatt von Zitterperle triefen, Ein Paradies wird um mich her die Runde. Hinaufgeschaut! ─ Der Berge Gipfelriesen Verkünden schon die feierlichste Stunde; Sie dürfen früh des ew'gen Lichts genießen, Das später sich zu uns hernieder wendet. Jetzt zu der Alpe grüngesenkten Wiesen Wird neuer Glanz und Deutlichkeit gespendet, Und stufenweis herab ist es gelungen; ─ Sie tritt hervor! ─ und, leider schon geblendet, Kehr' ich mich weg, vom Augenschmerz durchdrungen. Mit einem Wort läßt sich so die Frage nach der Berechtigung der „Landschaftspoesie“ entscheiden, welche Schiller in der Abhandlung „Ueber Matthissons Gedichte“ aufwirft. Er hat vollkommen recht, wenn er dort sagt: „Das Reich bestimmter Formen geht über den tierischen Körper und das menschliche Herz nicht hinaus; daher nur in diesen beiden ein Jdeal kann aufgestellt werden. Ueber dem Menschen (als Erscheinung) gibt es kein Objekt für die Kunst mehr, obgleich für die Wissenschaft; denn das Gebiet der Einbildungskraft ist hier zu Ende. Unter dem Menschen gibt es kein Objekt für die schöne Kunst mehr, obgleich für die angenehme, denn das Reich der Notwendigkeit ist hier geschlossen.“ Allein der Beweis, daß, ungeachtet „bei den weisen Alten die Poesie sowohl als die bildende Kunst nur im Kreise der Menschheit sich aufhielten“, dennoch die moderne Landschaftsmalerei und Landschaftsdichtung ihr volles Bürgerrecht in der Kunst haben, kann, unmittelbar aus den oben aufgestellten Prämissen, weit kürzer und klarer geführt werden, als es dort mit Berufung auf die Kantsche Lehre von den „ästhetischen Jdeen“ geschieht. Alle lediglich materielle Schilderung und Darstellung ist tot ─ oder doch, im besten Falle, nur matt, insofern ja freilich auch schon mit der bloßen Reminiscenz bei der Aufzählung von gewissen Naturgegenständen, und noch mehr mit dem Anblick ihrer Nachbildung, sich Regungen wohlgefälliger Empfindung, und zwar mitunter in ganz bestimmter Ausprägung, verknüpfen können. „Eine Rose und ein Mondschein erregen immer eine angenehme Empfindung und was vermag nicht eine Palme.“ Vgl. Lehrs a. a. O. in dem Aufsatz: „Die Nymphen“. Ein höchst anmutiges Beispiel derart ist Uhlands „Lob des Frühlings“: Saatengrün, Veilchenduft, Lerchenwirbel, Amselschlag, Sommerregen, linde Luft! Wenn ich solche Worte singe, Braucht es dann noch großer Dinge, Dich zu preisen, Frühlingstag? Jst hier auch freilich durch die zweite Strophe der Empfindung noch bestimmter die Richtung angewiesen, so entsteht doch das eigentlich sie erregende Bild durch die bloße, rhythmisch geschmückte Aufzählung einfacher Naturdinge. Aber ihre eigentliche und höchste Wirksamkeit erhält die künstlerische Naturdarstellung doch nur, sobald sie psychisches Leben atmet, d. h. also, sobald sie dem Dichter lediglich das Mittel für den Empfindungsausdruck ist; je gesunder und reicher diese Empfindung ist, und je bestimmter er sie nachahmend zu erwecken weiß, desto vollkommener ist sein Gedicht. Das erreicht er, indem er den Naturgegenständen die Analogie des Empfindens, Wollens und Handelns leiht, wodurch er sie in unmittelbaren Rapport mit dem ganzen Reich unsers eigenen seelischen Lebens setzt, und sie eben damit in jene menschliche „des Jdeals fähige“ Sphäre erhebt. Und hiermit wäre der gesuchte tiefere Grund gefunden, warum der Dichter, sobald er den Zweck seiner Nachahmung durch das Mittel der Körperdarstellung erreichen will, sich nicht begnügen darf, an die einzelnen äußeren Züge der Gestalten uns zu erinnern, die bei ihm die Sprache nicht sprechen, die sie der Maler zu uns reden zu lassen vermag, sondern ihnen jene beseelte Bewegung erteilen muß, die, von innen heraus wirkend und unser Jnneres wiederum bewegend, gleichsam ─ wenigstens unserem Empfinden nach, das eben dadurch erst ein poetisches Empfinden ist ─ jene äußeren Züge geschaffen hat, welche der Maler uns sehen läßt und durch welche er seinerseits allein die Nachahmung jener erreichen kann. Auch der Maler wird dazu noch nicht in den Stand gesetzt selbst durch das treueste Studium der Natur, durch welches er ihre Erscheinungen bis in die kleinsten Züge kennen lernen muß, ohne doch den Blick für das Ganze dadurch zu verlieren. Das allein würde ihn doch nur zum Kopisten machen, der bei der bloßen Virtuosität in der Hervorbringung der Kunst mittel stehen bliebe: zum Künstler wird er erst dadurch, daß er durch die sicherste Beobachtung der Wirkung jedes der tausend Züge des großen Antlitzes der Natur auf das eigene Jnnere es nun versteht, in absichtsvoller Komposition dieselben zu dem einheitlichen Ausdruck eines selbst erfahrenen Seelenvorganges oder =Zustandes zu gestalten; zu einer Nachahmung desselben, die eben darum auch unfehlbar denselben Vorgang bei ihm ähnlich Gearteten hervorbringen muß. Der große Künstler aber ist der, dessen Empfinden zugleich das stärkste und reichste und das gesundeste ist, deshalb für die ganze Gattung gültig, einen Jeden bewegend und sein individuelles Empfinden erweiternd, läuternd und zu dem allgemein menschlichen erhebend. Das Gesetz also ist ein und dasselbe für die Poesie wie für die bildenden Künste: Das Materielle der Körperwelt ist nicht Gegenstand der künstlerischen Nachahmung, sondern Mittel. Jhr Gegenstand ist geistiger Natur und einheitlich, mag sie sich nun des Mittels der Körperwelt bedienen oder anderer, die ihr zu Gebot stehen, seien es Handlungen oder Bewegungen oder Töne oder ganz frei erfundene Formen. Alle Kunst hat die Aufgabe, seelische Vorgänge im weitesten Sinne darstellend hervorzubringen oder, wie die Alten sagten, sie nachzuahmen. Was das Leben erfüllt als sein wesentlichster Jnhalt in allen seinen Vorgängen und Erscheinungen, das reproduziert die Kunst selbständig, sie stellt es dar, dem Leben folgend, diesen seinen wesentlichen Jnhalt nachahmend mit den Mitteln, die sie jedesmal aufzuwenden hat: ὕλῃ καὶ τρόποις μιμήσεως διαφέρουσιν, τέλος δ ' ἅπασιν \̔εν ὑπόκειται . So ist es denn auch ganz unberechtigt, obwohl es überall geschieht, des Aristoteles Theorie der Mimesis damit bekämpfen zu wollen, daß man sagt: Mag also die Poesie Handlungen, die Plastik Körper nachahmen, welche Naturobjekte liegen denn aber der Musik oder der Architektur zu Grunde? Damit meint man die Nachahmungstheorie kurzer Hand beseitigt zu haben und an ihre Stelle tritt der unbestimmte Be= griff des „Jdeals in der Seele des Genies“. Nein! alle Künste ahmen, jede auf ihre Weise, dasselbe nach: die Seelenvorgänge, von denen doch zuletzt alles uns Menschen faß- und darstellbare Leben ausgeht! Aber diese Einheit umfaßt eine unendliche Mannigfaltigkeit, die es gilt nach ihren Hauptgattungen zu zerlegen und im einzelnen genau zu bestimmen. So ergibt sich mit der präcisen Bestimmung des Nachahmungs objektes zugleich auch die eben so bestimmte Feststellung des dadurch zu erreichenden Zweckes, woraus dann weiter die dazu anzuwendenden Mittel und die Art und Weise ihrer Verwendung mit Sicherheit abgeleitet werden können. Einzig und allein auf diese Weise kann ein fester und zuverlässiger Maßstab für die Beurteilung ästhetischer Fragen gewonnen werden; das einzige Gebiet, auf welchem dieser Maßstab eine konsequent durchgeführte Anwendung gefunden hat, ist zugleich das einzige, für das wir ein in den Grundzügen völlig ausgearbeitetes Gesetzbuch besitzen, die Tragödie und ihre Gesetzgebung in der aristotelischen Poetik! Die Untersuchung gelangt also hier zu demselben Endziel, zu welchem sie auch in betreff der poetischen Nachahmung von Handlungen führte. Wie der Poesie die Darstellung der äußeren Handlung, der Vorgänge und Begebenheiten nur ein Mittel ist das geistige Moment der eigentlichen inneren Handlung zur Erscheinung zu bringen, diese also das Objekt der Nachahmung, jene die Art und Weise derselben ( τρόπος μιμήσεως ) ist, so ist auch die Schilderung der Körperwelt ihr nur eines von den Mitteln, das zweite Hauptobjekt ihrer Nachahmung, Empfindungen, darzustellen, also auch nur eine von den Arten und Weisen der Mimesis. Wenn die Poesie dabei mit Vorliebe die Körper durch zeitliche Succession in fortschreitender Bewegung zu veranschaulichen sucht, so liegt das allerdings an ihrem Material ( ὕλη ), der Sprache; der Grund dieser Vorliebe liegt aber nicht in dem äußeren Umstande, daß in der Sprache die Worte zeitlich aufeinander folgen, sondern in der innersten Natur dieser Art von Nachahmung, welche um ihren Zweck zu erreichen keineswegs der Vollständigkeit des koexistierenden Materials bei den von ihr als Mittel benützten Körpern bedarf, sondern nur der Hervorhebung der einzelnen die Empfindung erregenden Züge; das geschieht am sichersten und wirksamsten, wenn ihnen als den Resultaten bewußten Seins, Wollens und Bewegens durch die Poesie ein der Empfindung homogenes, psychisches Leben geliehen wird. Daß es aber Fälle geben kann, wo die bloße Erwähnung der einzelnen Züge, die bloße Aufzählung der Körperobjekte für die poetische Schilde= rung ausreichen kann, wurde schon oben erwähnt. Die Erwägung, wann und wie das geschehen kann, gehört schon in die Beantwortung der zweiten, am Schlusse des vorigen Abschnittes gestellten Fragen: wie und in welchen Fällen ist es der Poesie möglich, die ruhende Körperwelt nach den im Obigen aufgestellten Gesichtspunkten als künstlerisches Mittel sich dienstbar zu machen? Zu einem Teile ist die Antwort darauf in dem Gesagten schon enthalten. Ueberall, wo es angeht, die Veränderungen in der unbelebten Körperwelt oder auch die ruhenden Erscheinungen selbst als die Resultate von Vorgängen aufzufassen, denen eine Verwandtschaft mit seelischen Bewegungen und Willensakten supponiert werden kann, da sind sie zu den wirksamsten Gegenständen der Dichtung zu rechnen; ebenso auch der bildenden Kunst, sofern dieselbe durch die dargestellten Formen jene Supposition deutlich wahrnehmbar machen kann. Es gibt aber zahlreiche Fälle in der poetischen und vollends unzählige in der bildnerischen Darstellung, in denen jene Operation fast unmerklich angewandt oder in denen sie gar nicht vorhanden ist, sondern wo die bloße Erwähnung und Aufzählung oder die einfache Nachbildung von Naturobjekten dem künstlerischen Zwecke vollkommen genügt. Wie sind diese mit dem oben ausgesprochenen allgemein gültigen Gesetze zu vereinigen? Es wird auch hier auf die inneren Gründe der Sache zurückzugehen sein. Bisher war von den deutlicher analysierbaren Empfindungen als den Gegenständen der Nachahmung die Rede; gewissermaßen als das Gegenstück derselben sind im Gemüte eine Reihe von Zuständen und Vorgängen zu unterscheiden, welche hier vornehmlich in Betracht kommen. Noch vor den aus bestimmten Anlässen entstehenden Empfindungsvorgängen ( πάθη ) können in der Seele entsprechende, aber ihrer Natur nach weit unbestimmtere Bewegungen ganz spontan auch ohne den Eindruck oder die Vorstellung einer erregenden Energie stattfinden. Wie das Licht zwar nur deutlich wahrgenommen wird, wenn es auf Objekte trifft und von diesen reflektiert wird, aber doch auch ohne das vorhanden ist und leuchtet, so können jene Seelenbewegungen vorhanden sein, ohne daß wir an bestimmten Objekten uns ihrer deutlich bewußt werden und durch die mehr oder minder vollkommene Erkenntnis jener Objekte in den Stand gesetzt werden, uns von diesen Lebensäußerungen unserer Seele genauere Rechenschaft zu geben. Es macht sich da eben nur die Anlage, Neigung oder zeitweilig vorwaltende Gesamthaltung und Verfassung der Seele kund. Der Sprachgebrauch hat diese Thatsachen keines= wegs unbeachtet gelassen; wir sprechen von Liebesdrang und Liebesbedürfnis, in dem Sinne dunkler Liebesempfindungen, die sich geltend machen ohne die Richtung auf einen bestimmten Gegenstand, ebenso von solcher Disposition für die Freundschaft; ganz ähnliche Gefühlserscheinungen treten der Natur gegenüber auf, oder auf religiösem Gebiete, und zwar nicht nur als bestimmten Lebensaltern vorzugsweise eigen, sondern auch als gewisse Epochen, ja ganze Zeitalter kennzeichnend. Nach allen diesen Richtungen liefern die Jugendoden Klopstocks sehr hervorragende Beispiele. Eben dahin gehört aber auch ehrgeiziger Thatendrang, der noch ganz ohne Ziel ist, Kraft- und Mutgefühl ohne Gelegenheit der Bethätigung, gegenstandloses Trauern, Wehmut ohne Anlaß und Sehnsucht ohne bestimmte Richtung, allgemeiner Enthusiasmus ohne inhaltlich bestimmte Form; kurz alle Empfindungen haben, ehe sie, so zu sagen, bei wirklichen Anlässen sich ereignen, in den dazu besonders gestimmten Seelen eine dunkle Präexistenz, ein undeutlicheres Abbild ihrer selbst, welches als bloße Kraft, bloßes Vermögen ─ δύναμις nennt es die aristotelische Ethik ─ dauernd vorhanden ist. Kommen nun gewisse äußere Anstöße hinzu, so geraten diese mehr oder weniger latenten Seelenkräfte oder Empfindungsvermögen auf einmal in die lebhafteste Thätigkeit. Jn solcher Weise hat man sich unzweifelhaft den „ Enthusiasmus “ vorzustellen, von dessen kathartischer Heilung durch die Olympuslieder Aristoteles in der bekannten Stelle der Politik handelt. (Vgl. hierüber Polit. III, c. 7. 1341 b. 32. ─ 1342 a . 12.) Ein angegebener Rhythmus, ein zufälliger Klang, eine Farbenerscheinung, z. B. ein so oder so bewölkter oder gefärbter Himmel, der bloße Anblick oder die bloße Erwähnung gewisser Gegenstände sind hinreichend einen ganzen Sturm von Empfindungen in solchergestalt disponierten Seelen hervorzurufen. Auf diese Weise können Gehörs= und Gesichtseindrücke von lediglich sinnlicher Natur ganz zufällig schon unser Empfindungsleben modifizieren; Jn derartigen Eindrücken hat die gesamte Mantik ihren natürlichen Grund und Ursprung. um wie viel mehr, wenn sie einem höheren Zwecke unterthan gemacht, von einem ordnenden bewußten Willen zusammengestellt werden. Sie können dann dazu verwandt werden, geradezu den Zustand und das gegenseitige Verhältnis von solchen Empfindungsvermögen und =Dispositionen ─ δυνάμεις ─, wie sie bei den Komponierenden vorhanden sind, nachahmend darzustellen und so wiederum bei andern zu erregen (in der Poesie wie in der Malerei und ganz besonders in der Musik und der Kunst des Tanzes ); zumeist natürlich bei ähnlich Gestimmten, bis zu einem gewissen Grade jedoch bei allen, sofern nämlich die bei dem Einzelnen stark und übermächtig sich äußernde Disposition nicht abnorm ist, sondern der Gattung angehörig, oder gar wenn darin, was zu dem echten Kunstwerk erfordert wird, die Bestimmung der Gattung nach irgend einer Richtung hin sich erfüllt. Es liegt dieser unmittelbaren Wirkung, die keines Dazwischentretens psychischer Vorstellungen bedarf, ein Zusammenhang zu Grunde, der gerade in seinen mächtigsten Aeußerungen wohl immer ein Geheimnis bleiben wird, zwischen Figuren, Farben und Tönen samt ihren Veränderungen und den Bewegungen unserer Seele. Diese dunkle Gewalt, die sich schon bloß sinnlich kundgibt, ist nun aber dem freien Gebrauch des künstlerischen Willens anheimgegeben. Jhren Ursprung kennt auch der Künstler nicht, aber weil jener Zusammenhang ein natürlicher ist, kann er souverän über sie verfügen. Sie wird mißbraucht, wenn sie verwandt wird eben nur aufzuregen, zu frivolem Spiel oder zu chaotischem Wirbel; aber sie vermag den höchsten Zwecken der Kunst zu dienen, wenn sie gleichsam die Elementarkräfte großer und reicher Seelen uns abspiegelt und unmittelbar mit analogen Bewegungen uns durchdringt. Für den echten Dichter ist somit die Verwendung der Naturobjekte, welche bei dem Stümper zu äußerlichem Dekorationswerk herabsinkt, eines der wirksamsten Mittel der Seelenmalerei, mag er nun dieselben in lebendiger Bewegung vorführen oder auch durch ihre bloße Erwähnung seine Wirkung zu erreichen suchen, wie namentlich die Romantik und die gesamte modernere Richtung der leidenschaftlich erregten sentimentalen und weltschmerzlichen Poesie es liebt. Es darf, um diese Kunst in ihrer Vollendung zu zeigen, nur an Goethes Werther erinnert werden und an die Meisterschaft, mit der dort überall die Naturdinge als das wirksamste Material für die Nachahmung der verhängnisvollen Elementargewalt behandelt sind, mit welcher die dunkleren Empfindungskräfte ( δυνάμεις τῶν παθῶν ), noch ungeklärt und ungesondert, die Seele bestürmen. Vgl. Buch II. Brief an W., 12. Dezember (cf. Hempel, B. XIV, S. 103). „Jch bin in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen man glaubte, sie würden von einem bösen Geiste umhergetrieben. Manchmal ergreift mich's; es ist nicht Angst, nicht Begier ─ es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe, wehe! Und dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Scenen dieser menschenfeindlichen Jahreszeit.“ „Gestern Abend mußte ich hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen; ich hatte gehört, der Fluß sei übergetreten, alle Bäche geschwollen, und von Wahlheim herunter mein liebes Thal überschwemmt! Nachts nach Elfe rannte ich hinaus. Ein fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte wirbeln zu sehen, über Aecker und Wiesen und Hecken und Alles und das weite Thal Oder es mögen, um ein anderes klassisches Beispiel vor Augen zu stellen, hier einige Stanzen aus Byrons „ Harold “ stehen. Jn seinem Munde erreicht jenes specifisch moderne Naturgefühl, welches die vertrauten Wechselbeziehungen zu der Natur weit über den Umgang mit den Menschen stellt, den höchst gesteigerten Ausdruck; so namentlich in der folgenden Strophe des dritten Gesanges von „Harolds Pilgerfahrt“: Vgl. Übersetzung von O. Gildemeister, Bd II. Harold, Ges. III, St. 72, 75. Nicht in mir selber leb' ich; nein, ich werde Ein Teil der Welt umher. Gebirg' und Flur Sind mir Gefühl, die Städte dieser Erde Sind Folter mir. Jch find' in der Natur Nichts, was mir widrig ist, als eines nur, Des Fleisches Kette, die auch mich umflicht, Jndes die Seele flieh'n kann zum Azur, Zum Berg, zum Ocean, zum Sternenlicht, Und sich versenkt ins All ─ und, o, vergebens nicht! oder der folgenden: Sind nicht die Himmel, Meer' und Berg' ein Stück Von meiner Seele, wie von ihnen ich? Jst sie zu lieben nicht mein reinstes Glück? Und alles, was ich ihnen je verglich, Sollt' ich es nicht verachten? Soll ich mich Aus Furcht vor Schmerzen dieser Lieb' entschlagen? Soll dieses Herz in stummes Phlegma sich Weltlich versenken, wie die Feigen, Zagen, Die stets zu Boden schau'n und zu erglüh'n nicht wagen? Diesem selben heißen, leidenschaftlichen Verschmelzen mit der Natur zu unauflöslichem Bunde entströmen auch die hinreißenden Stanzen, die schönsten, die je zu ihrem Lobe gesungen sind, ─ in denen er die zauberische Schönheit des Genfer Sees schildert oder die grandiosen Schrecken der umgebenden Alpenwelt (vgl. Ges. III, St. 85 ff.); nur zwei daraus mögen hier noch folgen: hinauf und hinab. Eine stürmende See im Sausen des Windes! Und wenn dann der Mond wieder hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus die Flut in fürchterlich=herrlichem Wiederschein rollte und klang, da überfiel mich ein Schauer und wieder ein Sehnen! Ach, mit offenen Armen stand ich gegen den Abgrund und atmete hinab! hinab! und verlor mich in der Wonne, meine Qualen, meine Leiden da hinabzustürmen! dahinzubrausen wie die Wellen. Oh! ─ ..... Wie gerne hätte ich mein Menschsein drum gegegeben, mit jenem Sturmwinde die Wolken zu zerreißen, die Fluten zu fassen! Ha! Und wird nicht vielleicht dem Eingekerkerten einmal diese Wonne zu teil? ─“ Himmel und Erd' ist still, doch schlafend nicht, Nur atemlos wie tiefste Wonn' und Qual, Wann allzuvoll das Herz nicht seufzt noch spricht. Himmel und Erd' ist still, ─ der Sterne Zahl, Der eingelullte See, Gebirg und Thal, All in ein einzig lebend Eins verfließt, Darinnen jedes Lüftchen, Blatt und Strahl Anteil am Dasein hat und mitgenießt, Was schaffend all' erzeugt und schirmend all' umschließt. Und weiter unten: Himmel, Gebirge, Strom, See, Blitz und Winde Und Nacht und Donner und der Wolken Schwall! Dazu ein Geist, der alles dies empfinde, ─ Wohl mag ich wachen! Euer ferner Hall Jm Scheiden tönt mir wie Sturmglockenschall Dessen, was schlaflos ist in meiner Rast. Und du, o Sturm, wo ist dein Ziel im All? Gleichst du dem Sturm im Herzen? Oder hast Du Adlern gleich ein Nest im hohen Bergpalast? Bei Byron finden sich alle Methoden, deren sich der Dichter bedienen kann, um körperliche Formen und Situationen, Naturdinge und Erscheinungen in voller Anschaulichkeit vor unser geistiges Auge zu bringen; von jener Art, die Natur als ein Ganzes und in jeder ihrer Kundgebungen zu beseelen bis zu dem Verfahren, sie mit dem eigenen Seelenleben völlig zu durchdringen, ja zu identifizieren und bis zu jener andern Art, den elementaren Bewegungen des Gemütes gewissermaßen einen Ausweg zu verschaffen in der Vergegenwärtigung wahlverwandter Naturscenen und =Gegenstände. Jn allen Fällen aber, in denen körperliche Gegenstände als dichterisches Darstellungsmittel verwendet werden, und bei allen Methoden dieser Verwendung ist das Charakteristische des Verfahrens nicht die Umsetzung in Handlung, die Verwandlung des Koexistenten in ein Successives, sondern die durch das oberste Princip aller Kunst, psychische Vorgänge nachzuahmen, gebotene Erfassung des Gegenständlichen als eines Beseelten oder doch unmittelbar auf Gemüts- und Seelenkräfte Wirkenden. Dabei wird das in der Praxis einzuschlagende technische Verfahren in der großen Mehrzahl der Fälle, wie sich aus der Natur der Nachahmung des Geistigen ergibt, die Darstellung von Leben und Bewegung, also Succession sein; aber jenes bloß äußerliche Verfahren, die Teile eines Gegenstandes, statt sie nebeneinander zu stellen, aufeinander folgen zu lassen, ist an sich weder ein obligatorisch für alle Fälle geltendes Gesetz, noch würde jener Handgriff an und für sich im entferntesten genügen, die Anforderungen des echten poetischen Kunstwerkes zu erfüllen, weil das Wesentlichste derselben darin noch gar nicht enthalten ist. Das lediglich materielle, unbeseelte der Körperwelt, mag es nun in Koexistenz oder in einer durch eine äußerliche, mechanische „Handlung“ erfolgenden Succession seiner Teile vorgeführt werden, ist und bleibt tot und darum unkünstlerisch, unpoetisch! Solche Beispiele, wie sie Lessing im XVI. Abschnitt des Laokoon anführt, von dem Wagen der Juno oder der Bekleidung des Agamemnon, sind an und für sich gar sehr geeignet, irre zu führen. Die Beschreibung oder Malerei solcher Gegenstände hat poetisch an und für sich gar keinen Wert, mag sie nun mit minutiöser Kleinmalerei erfolgen oder nach der Vorschrift einer Umwandlung des Koexistenten in ein Successives. Umgekehrt, führt der Dichter sie ein unter dem einzigen Gesichtspunkt, von welchem aus sie dichterischen und überhaupt künstlerischen Wert erhalten, nämlich insofern sie ein seiner Natur nach ethisches Moment, das darum auch wiederum eine psychische Regung bewirkt, nachahmend darstellen, so stehen auch dem Dichter beide Darstellungsarten zu Gebote und er ist keineswegs an die Befolgung des Gesetzes von der Umwandlung in Succession gebunden. Als Beleg diene die sehr umständliche Beschreibung von Kleidung und Putz in der 15. Romanze des ersten Cyklus von Herders Cid. Die poetische Grundstimmung, der „ethische“ Nachahmungszweck dieses ganzen, räumlich bedeutendsten Teiles der betreffenden Romanze ist in der dritten Strophe angegeben: Herrlich ging am Hochzeittage Auf die Sonne. Don Rodrigo, Abgelegt die Waffenrüstung, Kleidet sich mit seinen Brüdern Hochzeitlich und fröhlich an. Und nun folgt in sieben, sehr ausgedehnten, Strophen die sehr genaue Schilderung des Hochzeitsanzuges des Cid und der Donna Ximene, und zwar so, daß von dem durch Lessing vorgeschriebenen dichterischen Mittel, statt der Beschreibung der Kleidung die Handlung des Ankleidens zu erzählen, nur ganz beiläufig im Beginne Gebrauch gemacht ist; der bei weitem überwiegende Teil der Beschreibung erfolgt dann lediglich als Schilderung des Koexistenten. Nichtsdestoweniger wird niemand bezweifeln, daß der poetische Nachahmungszweck, in der Pracht der Zurüstungen die „ hochzeitlich=fröhliche “ Feststimmung verbunden mit der echt adeligen Grandezza und der durch alle, im besten Sinne vornehmen, Vorzüge geschmückten Art und Haltung der Gefeierten lebendig zum Bewußtsein zu bringen, mit anschaulichster Wirkung erreicht ist: Ächt walloner Pantalone, Mit Scharlach gezackte Schuhe, Fein an Leder; zween Stifte Hefteten sie fest und enge An den kleinen, netten Fuß. Jetzo zog er an die Weste, Eng anliegend, ohne Borten; Dann die schwarze Atlasjacke, Wohlgepufft, mit weiten Ärmeln (Wenig hatte sie sein Vater Nur getragen). Auf den Atlas Fiel von ausgezacktem Leder, Breit, anständig, das Kollett. Und ein Netz von goldnen Fäden, Eingewirkt in grüne Seide, Schloß sein Haar ein. Auf dem Hute Von Cortrayer feinem Tuche Hob sich eine Hahnenfeder Wunderbarlich hoch und rot. Schön befranzt bis auf die Hüfte Reichet ihm die Jazerine, Und um seine Schultern spielet Ausgeplüscht ein Hermelin. Und der unverzagte Degen, Tizonada war sein Name, Er, der Schrecken aller Mauren, Hängt in schwarzen Sammetbändern An dem festen, tapfern Gurt. Ausgezackt, gefaßt mit Silber War der Gurt; ein feines Schnupftuch Wohlgefaltet hing an ihm. Und weiter dann: Sittsam stand sie da, Ximene; Von elastisch feiner Leinwand Puffte ihre Flügelhaube; Von dem feinsten Londner Tuche Wohl garniert, war ihre Kleidung, Die von Schultern zu den Füßen Barg und zeigte ihren Wuchs. Auf zwei rosigen Pantoffeln Stand als Königin sie da. Jhren Hals umschlang ein Halsband; An ihm hingen acht Medaillen, Einer Stadt an Werte gleich; Und die reichste unter ihnen, Den Sankt Michael darstellend, Schwer von Perlen und Juwelen, Hing Ximenen an der Brust. Ob der Hörer nach diesen Strophen imstande ist, sich ein vollständiges und richtiges Bild der Toilette des Paares zu machen, ist eine untergeordnete Frage; worauf es ankommt, und was ohne Zweifel erreicht ist, das ist der Eindruck der durch die Erscheinung des Seltenen, Außerordentlichen, hervorgerufenen gespannten Erregung, den solche Zurüstungen auch in der Wirklichkeit zum Zwecke haben, und welche hier überall die Vorstellung von höchstem Verdienst, ausgezeichneter Sitte und altangestammtem und persönlichem Adel erwecken. Dagegen wird durch den Umstand, daß die Regel des Laokoon, die koexistenten einzelnen Züge in eine Succession einzelner Handlungen aufzulösen, in der That ganz konsequent beobachtet ist, eine Schilderung wie die folgende Dan. Kasp. von Lohensteins nicht um ein Haar über das tiefe Niveau des übrigen Schwulstes der Schlesier gehoben: Vgl. Hoffmannswaldaus und anderer Deutschen auserlesene Gedichte. Leipzig 1695, S. 240. „ Venus “ von D. C. V. L. Jetzt liebt die gantze welt! des Titans glut wird mächtig Die erde zu vermählen, der himmel machet trächtig Mit regen ihren schooß .... .... der blumen sommer=haar Bekleidet allbereits die unbelaubten wipfel: ........... Ja selbst die zeit wird braut, die blumengöttin schmücket Jhr selbst das braut=gewand, und ihre kunst=hand stücket Der Tellus grünen Rock mit frischem rosen=schnee Und weißen liljen aus. Hier wächset fetter klee Auff Kyblens marmor=brust; dort bücken die narcissen Sich zu den tulpen hin, einander recht zu küssen. ......... Jndessen feuchtet dort mit den bethauten flügeln Der zuckersüße west die wiese, die fast lechst. Das weiß=beperlte graß, das in den thälern wächst, Bekränzt der sternen=thau u. s. w. u. s. w. So geht es fort durch fast zweitausend Alexandriner ohne eine Spur von Poesie; die aufeinander gehäuften Massen der Materie bleiben tot trotz des erlogenen Scheines von Leben. ────── V. Es bleibt dabei: der Gegenstand der Poesie wie aller Kunst ist die Nachahmung psychischer Zustände und Vorgänge; doch ist der Kreis derselben durch die Handlungen, in dem strengeren Sinne von inneren Entschließungen, und Empfindungen, von welchen bisher die Rede war, noch nicht erschöpft. Wie oben Vgl. oben S. 22. schon erwähnt, kommt eine dritte Hauptgattung hinzu, welche dort unter dem Begriffe des griechischen „ Ethos “ zusammengefaßt wurde und die noch eine gesonderte Betrachtung verlangt. Wenn ein großer Teil der Lyrik mit dem Satze, Handlungen seien ihr Gegenstand, sich auf keine Weise vereinen läßt, so nimmt doch unter den Mitteln, die ihr zu Gebote stehen, um ihren Zweck, Nachahmung von Empfindungen, zu erreichen, die Erzählung oder auch die bloße Andeutung einer Handlung den weitaus bedeutendsten Rang ein. Gerade die hervorragendsten Lyriker bedienen sich dieses Mittels am meisten und sie folgen darin dem unverwerflichen Muster des Volksliedes, welches fast immer irgend einen kleinen Vorgang, eine, wenn auch noch so flüchtig skizzirte, Handlung entrollt. Daß hier allenthalben die Handlung nur einem höheren Zwecke dient und nirgends um ihrer selbst willen erzählt wird, bedarf keines Beweises; wie ist aber das Verhältnis bei der Ballade, die, auf der Grenze der Epik und Lyrik stehend, der Handlung gar nicht entraten kann? Die Untersuchung dieses Verhältnisses muß für die Grenzbestimmung der beiden Gebiete sehr förderlich sein. Wie oben festgestellt, sind die als Mittel der Nachahmung von Handlungen angewandten „Folgen von Veränderungen“ keineswegs auch immer Nachahmungen von Handlungen selbst; für diese ist das geistige Moment der produzierenden Entschließung allein maßgebend, welches den Namen der Thätigkeit weit eigentlicher verdient als das äußere Thun. Es kann jemand eine zusammenhängende, eine Einheit bildende Gruppe von Veränderungen, also eine äußere Handlung bewirken, ganz ohne den Prozeß des eigentlichen Handelns, den inneren Willensakt, in sich erfahren zu haben; umgekehrt kann die höchste Thätigkeit sich ohne alle Veränderungen in der Körperwelt, etwa durch ein einziges Wort, vollziehen. Gerade solche Handlungen aber, gleichviel ob sie in einem Moment oder in einer beliebig langen Reihe von Veränderungen sich vollziehen, sind erforderlich, wenn sie um ihrer selbst willen der Gegenstand der künstlerischen Nachahmung werden sollen; im andern Falle sind sie nur Mittel derselben. Denn jene bringen durch ihr Bild unmittelbar die Seele des Wahrnehmenden in dieselbe Bewegung, welcher sie selbst entstammen, während diese zunächst nur ein buntes Vorstellungsmaterial zu erzeugen vermögen, welches erst durch die Kunst die Kraft erlangt, verwandte psychische Bewegungen mittelbar nachahmend zu bewirken; jene sind entschieden epischen Charakters, diese ein Hauptmittel der lyrischen Dichtung. Es sind Fälle denkbar, wo die Grenze zwischen beiden fast unkenntlich wird, in der weit überwiegenden Mehrheit der Fälle aber werden sie scharf voneinander zu unterscheiden sein. Es mag an einer Reihe von Dichtungen, die man gewöhnlich als „ Balladen “ bezeichnet, die Probe gemacht werden. Ueberall, wo in einem solchen Gedicht eine eigentliche Handlung dargestellt wird, läßt sich das Moment der entscheidenden, bewußten Willensäußerung als ihr Gipfelpunkt in ein Wort zusammenfassen; man darf den betreffenden Vers nur citieren, um die Summe der Handlung zu ziehen. So z. B. „Da setzt' ihn der Graf auf sein ritterlich Pferd“; „Hier bin ich, für den er gebürget“; „Da treibt's ihn den köstlichen Preis zu erwerben“; „Still legt er von sich das Gewand“; „Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht“; „Dem Zöllner werd' euer Geld zu teil“; „Er wirft sein Schwert, das blitzend des Jünglings Brust durchdringt“; die Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Hier überall ist entschieden epischer Charakter; alle diese Gedichte enthalten die Nachahmung wirklicher Handlung. Nun aber versuche man dasselbe Verfahren bei der echten Volks= Ballade, oder man stelle die Goetheschen Balladen auf dieselbe Probe! Jst in Goethes „ Fischer “ der erzählte Vorgang der Gegenstand, der um seiner selbst willen, wie die Handlungen der vorerwähnten Gedichte, nachgeahmt wird, oder ist es nicht vielmehr die vermittelst desselben hervorgebrachte, ganz bewegungslose, κατ' ἐξοχήν stationäre Stimmung des ohne alle bestimmte Empfindung, ganz gedankenbefreit dem träumerisch wiegenden Wohlgefühl des Elementes Hingegebenen? Und ist es mit dem „ Erlkönig “ etwa anders? Auch hier tritt das gegenständliche Jnteresse des Vorganges an und für sich völlig zurück hinter dem eigentlichen Zweck ─ τέλος ─ des Gedichtes, ver= mittelst dieses Vorganges die Nachahmung einer Stimmung zu erreichen. Sowie man diesen Schwerpunkt verrückt und als den „Gegenstand“ der Nachahmung den Handlungsgehalt selbst ansieht ─ wie man das z. B. in den Schillerschen sogenannten Balladen durchweg thun muß ─ so ist man mitten in der philiströsesten Plattheit. Dort handelt es sich in der That um die Selbstüberwindung des Johanniter-Ritters, die einen schwereren Kampf verlangt als den Kampf mit dem Drachen, um die durch Ehre und Liebesgewalt bis aufs höchste gesteigerte Kühnheit, welche den äußersten, kaum überwundenen Schrecken todverachtenden Trotz bietet, um die felsenfeste Treue, die, in der Gefahr die heilige Verpflichtung nicht einlösen zu können, die erschöpften Kräfte bis ins Wunderbare zu erhöhen vermag ─; dieselbe Betrachtungsweise auf den „Erlkönig“ angewendet läßt als einzigen Jnhalt das Verderbliche übrig, mit einem zart nervösen Kinde nachts bei starkem Winde durch den Wald zu reiten. Seinen Sinn und seine mächtige Wirkung hat das Gedicht schlechterdings nur als die vermittelst eines zu diesem Zweck erfundenen äußeren Vorganges verkörperte Nachahmung psychischer Stimmungsgewalt. Das gleiche findet beim „ Hochzeitslied des Grafen “ statt; hat dort das geheimnisvolle Grausen des nächtlichen Waldes einen dämonischen Ausdruck gefunden, so ist hier das gemütlich liebevolle Behagen an der altererbten, durch die Tradition geheiligten häuslichen Heimat zu freundlich=heiterer Fiktion verdichtet. Derselbe Nachweis läßt sich ebenso für die „wandelnde Glocke“ führen und für den „Zauberlehrling“, diese klassische Darstellung der Ruhe und Erfolgssicherheit, mit der das seiner Kraftfülle sich bewußte Genie gegenüber dem Fiasko der pfuschenden Lehrjungengeschäftigkeit in seine Rechte tritt; und so die ganze Reihe der Goetheschen Balladen durch. Vollends der Volksgesang! Wo er irgend sich rein erhalten hat, da tritt die Nachahmung der Handlung, die Erzählung des Vorganges völlig zurück, ja sie wird fast verflüchtigt zu Gunsten des Sanges= und Liedeszweckes, die ganz und gar nach einer einzigen Richtung hin bewegten Gemütskräfte auf das eindringlichste darzustellen. Die wirkliche epische Erzählung hat außer dem Jnteresse der Handlung selbst noch hundert anderen Forderungen zu genügen: alle wichtigen näheren Umstände müssen gekannt werden, der Schauplatz soll lebhaft vors Auge gebracht werden, die Motive, aus denen die Thaten nicht allein der Hauptpersonen, sondern auch der mittelbar Beteiligten entstehen, verlangen mehr oder minder eingehenden, charakterisierenden Bericht. Hier wird breiter Fluß und Vollständigkeit der Erzählung erfordert und das sich unabweisbar herzudrängende dekorative Element nimmt einen großen Raum ein; wo immer der Volksgesang durch die Kunstpoesie verfälscht oder gar ganz verdrängt ist, sind dies die Kennzeichen der Entartung. Dagegen dort an Stelle der Vollständigkeit der Handlung die sprung- und lückenhafteste Skizze des Verlaufs, anstatt sorgfältiger psychologischer Charakteristik die schroffste Einseitigkeit und die grellste Betonung immer nur des einzigen Motivs und zwar bis zu einem Grade der Herbigkeit und äußerster Uebertreibung, welcher in der Erzählung, und mag sie immerhin das Reich des Wunderbaren umschließen, niemals ertragen wird, weil dadurch das Jnteresse und damit ihr Zweck vernichtet würde, sondern der einzig und allein als ein Mittel die Stimmungsgewalt nachzuahmen verstanden und ertragen werden kann. Endlich die Dekorationsmalerei, worin die Kunstballade luxuriert, kennt die Volksballade gar nicht. Man vergleiche auf alle diese Kennzeichen hin nicht allein Stücke wie „Herr Oloff“, „Wassermann“, „Ulrich und Aennchen“, sondern auch solche wie „Das nußbraune Mädchen“, „Das Lied vom jungen Grafen“, „Die Nonne“, „Vom eifersüchtigen Knaben“, oder „Das Lied vom Pfalzgrafen oder dem grausamen Bruder“, „Graf Friedrich“ und unzählige andere, während solche wie „Albertus Magnus“ oder „Die Herzogin von Orlamunt“ in ihrer Breite und Umständlichkeit und freilich auch in ihrer ganzen sonstigen Haltung schon die deutlichen Spuren einer ihres Zieles nicht mehr gewissen Kunstrichtung tragen. Vgl. Herder: „Stimmen der Völker in Liedern“ und „ Des Knaben Wunderhorn “, bearbeitet von Birlinger und Crecelius. Ein sehr interessantes Beispiel ist Bürgers „dem Altenglischen nachgedichtete“ Ballade „ Graf Walter “, welche zwar alle Merkzeichen der echten Volksballade an sich trägt, aber durch die übel angebrachte Sorgfalt des alle Gelegenheit zum Effekt ausnutzenden Dichters allenthalben in epische Breite gewandelt und mit störendem Detail belastet. Eben wegen seiner Anlehnung an den alt=englischen Volksgesang ist Bürger in einigen seiner Dichtungen der echten Balladen nahe gekommen, doch bleiben auch diese auf der Grenze stehen. Der „wilde Jäger“ ist solch ein Stück; wie die Sage jener fürchterlichen Ausartung der Jagdlust entsprungen ist, die unter all seinen unerträglichen Lasten den mittelalterlichen Bauernstand am heftigsten empörte, so ist es dem Dichter in der That gelungen, jenen bis zum grausigen Wahnwitz erhitzten, wildesten Frevelmut in ergreifender Nachahmung darzustellen, aber doch nur an einzelnen Stellen. Statt nach dieser einzigen Richtung auf sein Ziel loszugehen, hierzu alle stärksten Züge, in kürzester Andeutung zusammengedrängt, zu vereinigen, alles andere ganz fortzuwerfen oder höchstens durch ein Wort dem Hörer ins Gefühl zu rufen, bringt er neben der ausgeführten Haupthandlung noch eine ganze Reihe von Nebenhandlungen in nachdrücklich eingehendstem Vortrage vors Auge und zerstreut damit das Jnteresse nach den verschiedensten Gesichtspunkten, so daß in solchem Zusammenhange der breit moralisierende Schluß freilich nichts Auffallendes mehr hat, so sehr er dem Wesen der Ballade widerspricht. Auch die „ Lenore “ verdankt ihre weit hervorragende Stellung dem vorwiegend lyrischen Stimmungscharakter und Sangeston des Ganzen, dessen schattenhafte Vorgänge, ganz ohne eigentliche (innere) Handlung, nur Seelenzustände zu vergegenwärtigen dienen sollen. Will man recht klar erkennen, was das bedeutet, so vergleiche man mit diesen Gesängen Stücke wie die „Entführung“ („Knapp', sattle mir mein Dänenroß“) oder „Des Pfarrers Tochter zu Taubenhain,“ oder „Das Lied von Treue,“ in welchen in der That Handlung, und zwar um ihrer eigenen epischen Bedeutung willen, bei dem letztgenannten vielleicht wegen der anekdotenhaften Schlußwendung, nachgeahmt ist. Aber dennoch! wie weit steht auch Bürgers „Lenore“ von der alt=schottischen Ballade ab, welche einen ähnlichen Jnhalt, die todbringende Gewalt bis ins Grab getreuer Liebe, unendlich viel reiner, tiefer und wahrer ausdrückt. Es ist das schöne Lied „ Wilhelms Geist “ in Herders „Stimmen der Völker“, das achte im dritten Buche: Da kam ein Geist zu Gretchens Thür Mit manchem Weh und Ach! Und drückt' am Schloß und kehrt' am Schloß Und ächzte traurig nach. „Jst dies mein Vater Philipp? Oder ist's mein Bruder Johann? Oder ist's mein Treulieb Wilhelm, Aus Schottland kommen an.“ „Jst nicht dein Vater Philipp, Jst nicht dein Bruder Johann! Es ist dein Treulieb Wilhelm, Aus Schottland kommen an. „O Gretchen süß, o Gretchen lieb, Jch bitt' dich, sprich zu mir; Gieb, Gretchen, mir mein Wort und Treu', Das ich gegeben dir!“ „Dein Wort und Treu' geb' ich dir nicht, Geb's nimmer wieder dir, Bis du in meine Kammer kommst Mit Liebeskuß zu mir.“ „Wenn ich soll kommen in deine Kammer ─ Jch bin kein Erdenmann, Und küssen deinen Rosenmund, So küss' ich Tod dir an. „O Gretchen süß, o Gretchen lieb, Jch bitt' dich, sprich zu mir; Gieb, Gretchen, mir mein Wort und Treu', Das ich gegeben dir!“ „Dein Wort und Treu' geb' ich dir nicht, Geb's nimmer wieder dir, Bis du mich führst zum Kirchhof hin Mit Bräut'gamsring dafür.“ „Und auf dem Kirchhof lieg' ich schon Fernweg, hin über'm Meer! Es ist mein Geist nur, Gretchen, Der hier kommt zu dir her.“ Ausstreckt sie ihre Lilienhand, Streckt eilig sie ihm zu: „Da nimm dein Treuwort, Wilhelm, Und geh und geh zur Ruh!“ Nun hat sie geworfen die Kleider an, Ein Stück hin unter das Knie, Und all die lange Winternacht Ging nach dem Geiste sie. „Jst Raum noch, Wilhelm, dir zu Haupt Oder Raum zu Füßen dir? Oder Raum noch, Wilhelm, dir zur Seit', Daß ein ich schlüpf' zu dir?“ „Kein Raum ist, Gretchen, mir zu Haupt, Zu Füßen und überall, Kein Raum zur Seit' mir, Gretchen, Mein Sarg ist eng und schmal.“ Da kräht der Hahn, da schlug die Uhr, Da brach der Morgen für: „Jst Zeit, ist Zeit nun, Gretchen, Zu scheiden weg von dir!“ Nicht mehr der Geist zu Gretchen sprach, Und ächzend tief darein, Schwand er in Nacht und Nebel hin Und ließ sie stehn allein. „O bleib', mein ein Treulieber, bleib', Dein Gretchen ruft dir nach“ ─ Die Wange blaß, ersank ihr Leib Und sanft ihr Auge brach. Nicht allein, daß hier vermieden ist, was in Bürgers „Lenore“ so sehr verletzt: die Roheit des Ausdrucks und die maßlose Heftigkeit in den Aeußerungen des Schmerzes, welche statt den Seelenadel starker Empfindungen zu bekunden, vielmehr die Vorstellung der Ungebärdigkeit einer vulgären Natur hervorrufen; der Grund, warum die alte schottische Ballade so hoch über der modernen deutschen steht, liegt tiefer. Jn jener ist, wie in allen den herrlichen alten Stücken derart, die visionäre Handlung wie die Schilderung der Körperwelt auf das strengste und diskreteste lediglich nur als Darstellungsmittel des überwältigenden Gemütszustandes verwendet; daher hält sich beides so glücklich und sicher in den Grenzen der einfachen Wahrheit und Natur. Man kann die Dichtung als eine symbolische auffassen, wenn man, im Goetheschen Sinne, darunter eben nur versteht, daß ein Höheres, Allgemeines, Abstraktes durch ein Einzelnes, Konkretes vergegenwärtigt wird; ein jeder Zug der im Liede verwandten Handlung erweist sich unter diesem Gesichtspunkte als von dem Liedeszweck gefordert und für denselben bedeutsam, keiner ist überflüssig oder durch irgend ein anderes Jnteresse eingegeben und bedingt. Ganz ist der Vorgang in die Seele des liebenden Mädchens gelegt; von seiten des toten Geliebten geschieht nichts, als was eben nur die Konsequenzen des Faktums seines Todes versinnlicht. Jn der Nacht erscheint sein Geist der sehnenden Braut, durch seinen Tod ist das Band der Treue gelöst, er fordert das Wort zurück, das er nicht einlösen kann; doch will sie von der Treue nicht lassen, und das Wort, das sie endlich dem irrenden Geiste, um ihm die Ruhe im Grabe zu gewähren, zurückgibt, behält für sie selbst die bindende Kraft; der Tote weigert ihr die Vereinigung und mit dem Morgengrauen schwindet die Erscheinung dahin; die Sehnsucht nach dem einzig und für immer Erwählten raubt auch ihr das Leben: „O bleib', mein ein Treulieber, bleib', dein Gretchen ruft dir nach“ ─ „Die Wange blaß, ersank ihr Leib, Und sanft ihr Auge brach.“ Und nun vergleiche man damit, wie die „Lenore“ überall den Nachahmer zeigt, und zwar den Nachahmer der bloßen Manier, der in den Nebendingen seine Stärke sucht und darüber den Hauptzweck aus dem Auge verliert! Was das Gedicht so berühmt gemacht hat, ist die Virtuosität in der Behandlung des dekorativen Beiwerks. Und um dieser spukhaften Scenerie, um jenes Todesgrauens willen, das in der schottischen Ballade sich nur mit leisem Anklang in die äußere Darstellung mischt, aber ganz ohne die Seele der handelnden Hauptperson zu berühren, ist bei Bürger die Handlung in eine Breite ausgesponnen, mit einem Detail ausgestattet, welche schon allein mit ihrem Charakter als Darstellungs mittel im Widerspruch stehen. Aber weil ihm das Bewußtsein dieser Bestimmung der Handlung fehlt und er sie daher ganz als Selbstzweck betrachtet, geht ihr auch jener enge, symbolische Anschluß an die zugrunde liegenden Gemütszustände und =Vorgänge verloren, sie büßt mit der Einfachheit auch die Wahrheit ein. Statt durch getreue Nachahmung ergreifenden Seelenlebens zu bewegen, beschränkt sich die Dichtung darauf, durch eine effektvoll vorgetragene Spukgeschichte rein äußerliche Sensation hervorzurufen! Bürger stellt den Gegenstand unter einem veränderten Gesichtspunkt dar; die Uebergewalt der Liebe kehrt sich über den Verlust des Geliebten in Verzweiflung, die mit Gott und der Vorsehung hadert, die Entführung durch den Geist des Bräutigams und der Tod Lenorens erscheinen dann gewissermaßen als göttliches Strafgericht. Darauf deutet der moralisierende Schlußgesang, den das im Mondenschein tanzende Geistergesindel als Hochzeitslied „heult“: „Geduld! Geduld! wenn's Herz auch bricht! Mit Gott im Himmel hadre nicht! Des Leibes bist du ledig; Gott sei der Seele gnädig!“ Und doch hat es der Dichter nicht vermocht den Sturm in der Seele seiner Heldin in der Handlung selbst zu verkörpern, sondern er greift zu dem poetisch weit unwirksameren Mittel ihn geradehin zu beschreiben, wobei die Mattigkeit des Verfahrens durch das Excessive des Ausdrucks aufgewogen werden soll. Die Handlung selbst aber behält, trotz der Dekorationskunst, die darauf gewandt ist das Zwielicht des Geisterreiches herzustellen, den Charakter eines von außen hereinbrechenden Ereignisses, bei welchem die innerlich allein Beteiligte sich passiv, ja zögernd und halb widerwillig verhält, während der Vollzug der Aktion ganz ohne innere Motivierung dem Gespenste des toten Bräutigams und dem gräulich spukhaften Geistergesindel von Kirchhof und Hochgericht zufällt. Soll darin eine Symbolik gefunden werden ─ und wie anders erhält der ganze Vorgang überhaupt irgend eine Bedeutung? ─ so kann es nur diese sein: die tötliche Wirkung des „in Gehirn und Adern wütenden“ Fieberparoxysmus; ein singulärer und noch dazu häßlich pathologischer Vorgang, statt, wie in „Wilhelms Geist,“ der Offenbarung kraftvollster und zugleich zartester Gemütsart, die, obwohl im einzelnen Falle vergegenwärtigt, doch in typischer Allgemeinheit die Macht der Kräfte verkündet, deren das menschliche Herz fähig ist. Nicht die Liebesempfindung selbst ist in der schönen Ballade dargestellt, sondern die Gesamthaltung des Gemütes und Charakters gegenüber dieser Empfindung ist ihr Gegenstand; wie in den unzähligen Balladen, in denen von Liebesverhältnissen gesungen wird, es sich in gleicher Weise nirgends um den bloßen Empfindungsausdruck handelt, der die Sache des lyrischen Liedes ist, sondern überall um die Nachahmung des so vielfach unterschiedenen „ ethischen “ Verhaltens gegen jene Leidenschaft, von Treue und Untreue, Eifersucht und felsenfestem Vertrauen, Ernst und Leichtfertigkeit, selbstvergessener Demut und stolzester Strenge, grenzenloser Hingebung und heroischem Entsagen und wie die zahllos wechselnden Zustände des menschlichen Geistes und Herzens alle benannt werden mögen. Das also ist jenes Dritte, womit neben den „ Handlungen “ und „ Empfindungen “ der Kreis der für die Künste vorhandenen Gegenstände sich schließt: Stimmungen, Gemütsarten, aber auch zugleich Gemütszustände, ja Charakterbeschaffenheiten. Wie schon oben bemerkt, die deutsche Sprache hat keine scharf begrenzte, alle diese verwandten Begriffe unter einer klar bestimmten logischen Kategorie versammelnde Bezeichnung ausgeprägt, aber die griechische besitzt eine solche in dem Begriff des „ Ethos “, welcher alle jene Aeußerungen der Seelenthätigkeit umfaßt. Als die Gegenstände der Mimesis durch die Kunst bezeichnet Aristoteles diese drei: πάθος, ἦθος, πρᾶξις ─ Empfindung, Ethos, Handlung. Ein kurzer Nachweis wird genügen um zu zeigen, wie viel klarer und philosophisch bestimmter der griechische Sprachgebrauch auf diesem Gebiete ist, als die schwankende deutsche Ausdrucksweise. Vor allem freilich ist von vornherein das Mißverständnis fernzuhalten, als ob unter „Ethos“ Sittlichkeit zu verstehen sei, und als ob mit der Erzielung ethischer Wirkungen die Vorstellung moralischer Besserung verbunden werden müßte. Etwas ganz anderes ist es, daß allerdings auf dem Gebiete des Ethos die Elemente liegen, aus denen die sittliche Beschaffenheit sich konstituiert, aber eben nach allen Seiten hin. Die ethischen Vorgänge ( ἤθη ) an sich sind von selbständiger Bedeutung und in dieser Beziehung den einfachen Empfindungen ( πάθη ) gleichgestellt, welche ja auch an sich absoluter Natur sind; die Relation auf das Sittlich= Gute erhalten beide erst durch die hemmende oder anfeuernde Oberleitung der Vernunft ( νοῦς ). Unter sich sind sie nun aber sehr verschieden. Es ist etwas ganz anderes, ob durch einen bewegenden Anlaß die einfachen Empfindungen, wie Liebe, Haß, Furcht, Mitleid, Zorn, Neid u. s. w., in der Seele hervorgerufen werden, sei es, daß sie durch besonders starke Erschütterung plötzlich hervorbrechen, sei es, daß die Neigung und das Vermögen dazu ( δύναμις ) durch individuelle Anlage in der Seele schon vorhanden ist, oder ob durch öfters wiederholtes Gewährenlassen oder Zügeln einer einzelnen solchen Empfindung oder mehrerer ihrer Natur nach leicht zu einem Komplex sich vereinender, sich eine mehr oder minder dauernde Gewöhnung herausbildet, welche dem Jndividuum ein eigenartiges Gepräge verleiht. Für „Ethos“ in diesem Sinne, für die Bezeichnung also der dem Einzelnen sowohl als ganzen Nationen eigenen, besonders hervorstechenden, Gemütsbeschaffenheit lieben wir Modernen den andern griechischen Ausdruck „Charakter“ anzuwenden; so sprechen wir von der leidenschaftlichen Empfindungsenergie des altjüdischen Volkes, die seine religiöse Lyrik auszeichnet, von dem Schönheitssinn der Griechen und dem nüchtern scharfsinnigen Realismus der Römer, von der Kampfesfreudigkeit der alten Deutschen und der Ruhmsucht der Gallier, vom Phlegma des Holländers und der phantastischen Hitzköpfigkeit des Jren. Ueberall aber handelt es sich dabei keineswegs um ein Urteil über die moralische Handlungsweise der Nationen, sondern um eine in Volksart, Wohnplätzen, Klima und Geschichte begründete, typisch ausgeprägte Art sich geistig zu verhalten ─ ein Ethos! Ebenso jedoch bedeutet Ethos diejenige Empfindungsweise oder Seelenhaltung, welche sich nach einer bestimmten Richtung hin, einem bestimmten Anlaß gegenüber, temporär, aber nicht zufällig, sondern wieder der Anlage und Gewöhnung der Seele gemäß geltend macht. Aus dem gewohnheitsmäßigen Vorherrschen nicht nur einer einzelnen Empfindung, sondern ganzer koordinierter Gruppen, aus dem gleichzeitigen Zurücktreten anderer, geht eine stationäre allgemeine Seelenhaltung und =Stimmung hervor, welche latent, ihrer Möglichkeit nach, bei dem Jndividuum dauernd vorhanden ist, um dann bei jedem dazu gearteten Anlaß zeitweilig in die Erscheinung zu treten. So sind Andacht, Frömmigkeit, Pietät (womit wir im Deutschen ja noch einen engeren Sinn verbinden) als Ethos zu bezeichnen, nicht als einfache Empfindungen, ebenso Frohsinn, Freudigkeit und ihr Gegenteil, Schwermut, Verzagtheit; ferner Uebermut oder Besonnenheit, Zuversicht und Kleinmut, Zufriedenheit, Glück und Seligkeit oder Ungenügsamkeit, Reue und Verzweiflung, und so fort, wofür wir im Deutschen vorzugsweise den Ausdruck Stimmung gebrauchen. Aus den verschiedenartigen Kombinationen charakteristischer Eigenart des Empfindens und vorwaltender Stimmungen ergeben sich ferner Gefühlsweisen und =Richtungen, wie sie ganze Epochen, sie vor allen andern kennzeichnend, beherrschen. Auch diese fallen unter den Begriff des Ethos: so das Romantische, das Naive und Sentimentale, Jdyllische und Heroische, Satire und Jronie, künstlerischer oder religiöser Enthusiasmus, Fanatismus, Askese und wieder auf der andern Seite Skepsis und Rationalismus und vieles ähnliche, sofern nämlich alles dieses außer in dem Verstande auch im Gemüte seinen Sitz hat und als Gesinnung sich äußert. Die Menge dieser gesamten unter den Begriff des Ethos zu rechnenden Gemütsvorgänge mit allen ihren verschiedenen Graden, Färbungen, Ausartungen nach der einen und der andern Seite hin, die unendliche Zahl der hier möglichen und vorhandenen Erscheinungsformen, hat bei weitem nicht die entsprechende Anzahl von Bezeichnungen in den Sprachen gefunden, vieles ist „anonym“ geblieben, unnennbar oder doch unbenannt, obwohl die Sprachen, je nach dem verschiedenen Genius der Nationen, auf diesem Gebiete sich ergänzen. Um nur ein Beispiel hervorzuheben: man denke an die große Mannigfaltigkeit der Gestaltungen, welche das eine Ethos der Andacht anzunehmen fähig ist, wie verschieden es bei Juden, Griechen und Römern erscheint und bezeichnet wird, wie wechselvoll in seiner Entwickelung, Entartung und Wiedererweckung bei den modernen Völkern! Wie unendlich weit ist das Gebiet, welches in diesem dritten Gegenstande der Nachahmung für alle Künste offen steht! Und wenn es dem Künstler gelingt mit den Mitteln, welche ihm seine specielle Kunst gewährt, das ihn selbst erfüllende Ethos nachahmend darzustellen, so muß es wenigstens vorübergehend bei jedem irgend Empfänglichen durch seine Darstellung erweckt werden, stärker natürlich bei den ohnehin schon entsprechend disponierten, um so sicherer aber und um so bedeutender in seiner Wirkung bei allen, je höher geartet es ist und je mehr in Uebereinstimmung mit der vollkommensten Ausgestaltung des seelischen Lebens. Es ist klar, daß der Poesie das ganze weite Feld der Nachahmung sowohl von Handlungen als von Empfindungen und Ethos jeder Art zugehört; dagegen werden die bildenden Künste ihre Hauptstärke in der Nachahmung der beiden letzteren haben und nur bedingungsweise auch die ersten umfassen können, während die Musik vorzugsweise Ethos nachzuahmen und erst unter gewissen Bedingungen auch die Empfindungen in ihren Bereich zu ziehen vermag. Die Musik an und für sich, μουσικὴ ψιλή , bloße Musik, also die instrumentale oder auch die vokale, sofern dieselbe selbständig, ohne Worte, auftritt, vermag Die Kunst aber, welche ganz und gar mit ihren Mitteln auf die nachahmende Erweckung des Ethos gewiesen ist, und welche hier ihre ganze Stärke entfaltet, ist die Architektur. „Und in Poseidons Fichtenhain tritt er mit frommem Schauder ein“: es ist ein Ethos, welches hier bezeichnet wird, wie es ein Ethos freilich Empfindungen zunächst nicht nachzuahmen, weil der Empfindungsvorgang jedesmal ein einzelner und demgemäß an bestimmte einzelne Umstände geknüpft ist, welche der Musik schlechthin undarstellbar sind. Dagegen hat sie die Nachahmung des Ethos völlig in ihrer Macht. Während die einfache Empfindung eines bestimmten, in einer fest begrenzten Situation befindlichen oder doch gedachten, Objektes bedarf, um sich zu verwirklichen, ist das Ethos an und für sich dauernd vorhanden, und statt daß die ihm entsprechenden Seelenvorgänge der Objekte bedürften, um in Thätigkeit zu gelangen, sind sie vielmehr imstande, durch ihre eigene Kraft jene in der Vorstellung hervorzubringen! Hier genügt also jene oben erwähnte geheimnisvolle Analogie zwischen den äußeren Bewegungen, Rhythmen und Klängen vollauf um die Nachahmung zu erreichen, und so entfaltet die Musik auf diesem unbegrenzten Gebiete ihre ganze, gewaltige Macht, unendlich weit hinaus über das, was Worte vermögen, die Stimmungen und Gemütszustände zu erregen, zu erhöhen, sie gegenseitig sich bekämpfen, sich komplicieren, sich ausgleichen und verschmelzen, mit einem Worte sich voll ausleben zu lassen mit einer Kraft und Tiefe, Mannigfaltigkeit und Fülle, und wieder mit einer Zartheit und Verfeinerung, welche nicht allein den Worten, sondern auch den Begriffen unerreichbar und unfaßbar sind. Hier zeigt es sich nun aber, wie das, was vorhin in betreff der Nachahmung von Empfindungen aufgegeben werden mußte, nun zu einem höchst wesentlichen Teile wieder einzuholen ist. Es wurde oben (vgl. S. 42 ff.) von dem auf bestimmten Anlaß sich ereignenden Empfindungs vorgang die in der Seele dazu als Kraft, Vermögen vorhandene präexistierende Disposition ( δύναμις ) unterschieden; diese bloße Dynamis des betreffenden Pathos bedarf nun keineswegs der Erzählung eines Vorganges oder der Darstellung einer Situation, welche die individuell begrenzte Erregungsursache abgeben, sondern sie kann, genau wie das Ethos, dauernd vorhanden sein und vermag aus sich heraus die Vorstellung der ihr entsprechenden Objekte anzuregen. Solche Empfindungsdispositionen ( δυνάμεις ) kann daher die Musik, vermöge jener erwähnten Analogie der Rhythmen und Klänge mit den Seelenbewegungen, ganz unmittelbar und in höchster Jntensität, wie keine andere Kunst, weil dies ihr eigentliches Gebiet ist ( οἰκεῖον ἔργον ), nachahmen und durch die Nachahmung bei dem Hörer wiederum erwecken. So bringt also die Musik, wie das Materielle und „praktisch“ Geschehene für sie ja völlig undarstellbar ist, die Empfindungs= Dispositionen ganz unsubstanziiert hervor; der Hörer kann es dabei bewenden lassen und den künstlerischen Genuß, die Hedone, in dieser allgemeinen Energie seines Wahrnehmungs= und Empfindungsvermögens ( τῆς αἰσθήσεως ) finden: es ist ihm aber unbenommen, diese allgemeine Disposition, welche durch die Nachahmung der Musik in ihm hervorgebracht wird, zu substanziieren, in einer nach seinen individuellen Verhältnissen ins Einzelne gehenden Weise in Thätigkeit zu setzen, d. h. also zu einer nun erst bestimmt modifizierten Empfindung werden zu lassen. Das wird um so mehr geschehen, je mehr Zeit, Umgebung, Umstände, Anlässe ihn direkt darauf hin= ist, was den Germanen in seinen Wäldern überkommt, ein anderes im Eichenwald, im Buchenhain und in der Kiefernheide, wie es wieder ein anderes ist unter Palmen oder Cedern des Libanon! Was die Kunst so im Leben findet, macht sie nun ihrem plan- und gesetzmäßigen Verfahren dienstbar, und wieder wirkt hier jener unmittelbare Zusammenhang der Formen und ihrer Komposition mit dem Bewegungsleben der Seele. Jn Hainen und Wäldern verehrte der Grieche wie der Germane seine Götter, aber das Ethos frommer Scheu und andachtsvollen Schauders ist ein anderes bei diesem wie bei jenem; und als sie dem, was sie empfanden, in bewußten Schöpfungen Ausdruck gaben, erzeugte die verschieden beschaffene ethische Haltung sehr verschiedene Baustile. Was aber ist an diesen das innerlich Verschiedene, also künstlerisch Wesent= weisen, wie z. B. in Kultus, Festfeier, beim Drama (als Ouvertüre, Zwischenmusik) u. s. w. Es ist diese Operation zum vollen Genuß der „reinen“ Musik keineswegs erforderlich; auch wäre es ein Mißverständnis zu glauben, daß mit dieser Einschränkung der musikalischen Wirkung auf die allgemeinen Gefühls= Dispositionen ihre Bedeutung herabgesetzt würde. Ganz im Gegenteil ist jene Operation etwas Accidentielles, die Wesenheit der Musik liegt nicht auf diesem Gebiet: die Musik leistet das Höchste der Kunst, wenn sie mit ihren Mitteln, und also nach ihren eigenen autonomen Gesetzen, in und mit der Nachahmung einer solchen „Empfindungsdisposition“ der Seele nach der betreffenden Richtung den Genuß ihrer höchsten Kraft und die reichste und doch zugleich gesetzmäßige Bewegung verleiht, sei diese Bewegung nun eine einheitliche oder in Streit und Sieg, Gegensatz und Ausgleich sich vollziehende. Ob daraus nun im wirklichen Leben auch für den gegebenen Anlaß ein erhöhtes Empfinden und weiter ein entsprechendes Handeln hervorgeht, ist nicht die Sache der Musik, wie überhaupt nicht die der Kunst, die überall nur imstande ist, was sie auch allein nur will, die Seele mit dem Genuß und dem Bewußtsein eines Maximums ihres Vermögens zu erfüllen. Wenn nun aber die reine Musik doch die Möglichkeit gewährt, die nachgeahmte Empfindungsdisposition individuell zu substanziieren, so erklärt sich daraus die Fähigkeit und die Neigung der Musik sich dem Worte zu gesellen. Freilich liegt darin offenbar eine Beschränkung, die um so größer ist, je singulärer die im Texte ausgesprochene Empfindung ist, woraus weiter folgt, daß die edelste Vokalmusik sich gerade an die Texte vom allgemeinsten Empfindungsgehalt anschließen wird, wie z. B. die Kirchenmusik. Je specieller der Text ist, desto mehr verengert sich das unbegrenzte Gebiet der Dynamis des betreffenden Pathos, das alle Fälle ihrer Möglichkeit nach umfaßt, auf einen besondern Bezirk oder gar nur einen einzelnen Fall. Umgekehrt erklärt sich hieraus der weite Spielraum in der sogenannten Deutung der reinen Musik! Es sind aber viele solche „Deutungen“, oder richtiger individuelle Substanziierungen durchaus zulässig, sofern sie nur derselben allgemeineren Empfindungs= Disposition angehören, was bei scheinbar höchst verschiedenen Deutungen sehr wohl der Fall sein kann. Freilich kommt dabei der ganz unberechenbare Faktor der in jedem Falle urteilenden Jndividualität ins Spiel. liche, wenn nicht der verschiedene Bewegungsvorgang, den sie beide in der Seele erzeugen? Was ahmen sie nach als diesen? Und gilt nicht dasselbe wie von den übrigen kirchlichen Baustilen so auch von der gesamten weltlichen Architektur, sofern sie nur künstlerisch frei behandelt wird, also von Monumenten, Palästen, Burgen und Schlössern, ja von Zimmereinrichtungen, Möbeln und Geräten? Welche bunte Menge ethischer Stimmungen kann sich hier verkörpern, von der erhabenen Majestät und ihren Ausartungen, dem Sinn für Ceremoniell und Etikette, bis zur heiteren Prachtliebe oder dem Behagen an Ordnung und Wohlanständigkeit, oder von abenteuerlichem Trotz, stolzer Kühnheit und von romantischer Phantastik bis zu idyllischem Genügen und maßvoller Freude an harmonischem Dasein. Jst das Reich der Poesie ein innerlich viel weiteres, ja universelles, so ist die Wirkung der Architektur dafür desto unmittelbarer, weil sie ganz sinnlich ist, während jene sich an die Vorstellungskraft wenden muß. Mit stiller Gewalt bemächtigt sie sich der Seele des willig hingegebenen Beschauers und in ihren größten Hervorbringungen hat sie die Macht ihn ungeteilt mit dem einen Ethos zu erfüllen, das sie in unvermischter Reinheit darstellt, oder doch, wo sie sich geringere Ziele steckt, vermag sie unmerklich das gesamte Fühlen und Sinnen in den Bann der durch sie verkörperten ethischen Haltung zu ziehen. Auch hier kann die Poesie nachfolgen; wie sie malerische Formen sich dienstbar zu machen vermag, so kann sie auch architektonische Gebilde in ihren Bereich ziehen, freilich nur Vorstellungen davon, welche immer der Kraft sinnlicher Wirkungen nachstehen werden. Aber was hier verloren gegeben werden muß, weiß der Dichter durch den richtigen Gebrauch seiner Mittel auf einer anderen Seite einzubringen. Der bildende Künstler hängt mit seiner Wirkung ganz von der Empfänglichkeit des Beschauers ab, dieser muß die stummen Züge in sich lebendig werden lassen, sie reden die Sprache, die er aus ihnen zu vernehmen vermag; der Dichter hingegen begleitet die Vorstellungen, die er hervorruft, mit dem beredtesten Ausdruck der Empfindung, des Ethos, die ihn selbst beleben; ihre ganze Kraft, ihren ganzen Reichtum, die ganze Gedankenwelt, die, an tausend Fäden sich anknüpfend, um den durch sie gegebenen Mittelpunkt aufsteigt, überträgt er durch die Zaubermacht des dichterischen Wortes in die Seelen der Hörer, die durch ihn zu erhöhtem Leben erweckt, nun auch der Natur selbst und den Werken der bildenden Künste mit aufgeschlossenem Sinn, mit bereiterem Empfangen gegenübertreten. Ein unvergleichliches Beispiel derart ist Goethes „ Wanderer “. Doch das sind Nebenwirkungen der Poesie; ihr Hauptmittel für die Nachahmung des Ethos, wo sie dasselbe nicht geradehin sich aussprechen läßt, wie etwa im Monolog des Dramas, ist immer die Handlung. Und im Drama ist der erregende Anlaß ja durch die Gesamthandlung des Stückes gegeben; jedoch die poetische Nachahmung tiefgreifender ethischer Gemütszustände an und für sich wird immer die Skizzierung eines äußeren, anstoßgebenden Vorganges zur Voraussetzung haben müssen, wenn dieselbe auch nur flüchtig und in den äußersten Umrissen gegeben wird. So verfährt die Ballade, und in den weitaus meisten Fällen genügt dies Verfahren für ihren Zweck; nur wo es etwa gilt die charakteristische Art und Stimmung eines ganzen Volksstammes, die Signatur einer ganzen Epoche kenntlich zu machen, wo also das nachzuahmende Ethos nicht in einer Hauptfigur vorhanden ist, sondern erst in einer Menge von Personen kollektiv zur Erscheinung kommt, wird eine etwas breitere Ausführung erfolgen müssen. Zwei der hervorragendsten Balladen aus Herders „Stimmen der Völker“ ─ im dritten Buche die sechzehnte und siebzehnte ─ können als typische Beispiele für die eine und die andere Gattung gelten. Jn der denkbar kürzesten Weise ist die Situation in der altschottischen Ballade „ Edward “ („Dein Schwert, wie ist's von Blut so rot“) gezeichnet; aber der Sturm angstvoller Reue, wilder, hoffnungsloser Verzweiflung in dem Herzen des Vatermörders kann markerschütternder nicht vorgegestellt werden, als es in diesem schaurigen Liede geschehen ist. Die andre Ballade ist das aus zwei Liedern bestehende, scheinbar so ganz epische Stück „ Die Chevy-Jagd “, von welchem Herder in den vorangeschickten „Zeugnissen über Volkslieder“ das Wort Philipp Sidneys anführt: „Nie hörte ich den alten Gesang: ‚ Percy und Douglas ‘, ohne daß ich mein Herz von mehr als Trompetenklang gerührt fand.“ Obwohl darin von Anfang bis zu Ende erzählt wird, so ist die Erzählung doch von Anfang bis zu Ende ausschließlich durch den Liedeszweck bestimmt und diesem untergeordnet; nirgends will sie für sich selbst gelten, wie im Epos durchweg. Demgemäß verfährt sie auch nur andeutend, gleichsam alles von sich wegweisend, was nicht dazu dient die doppelte Stimmung, die den Sänger beherrscht, den Zuhörern mitzuteilen: die unbezähmbar vordrängende Lust am Streit und Kampf der von uralters her feindlichen Grenznachbarn, „wie das Necken Zorn ward“, und dann die tieftraurige Klage über das geschehene Unheil, diese das Ganze durchdringend und beherrschend. Daher ganz konsequent auch die Darstellung in zwei „Sätzen“, wie man in Analogie der musikalischen Form fast sagen möchte. Jn dem ersten die ungeduldig und ungestüm hervorbrechende altenglisch=schottische Streitlust und Kampfbegier, doch schon hier der Vordersatz des Hauptthemas: „Das Kind wehklagt's noch ungebor'n! Es ward sehr jammrig noch“; in dem zweiten Liede dann die entfesselte Wut des Wechselmordens und die Trauer über das nutzlos vergossene edle Blut: „Sie hoben einander auf, und stehen konnt mancher, mancher nicht.“ „Das Kind wehklagt's noch ungebor'n, die Jammerklaggeschicht'!“ Es geschieht ja in dieser Ballade sehr viel, aber der springende Punkt des Darstellungsinteresses (das τέλος μιμήσεως ) liegt nicht in der Mitteilung des historischen Ereignisses ─ wie in den Homerischen Gesängen Thaten und Kämpfe um ihrer selbst willen und um des Anteils der einzelnen Helden willen vorgetragen werden ─, sondern in der Verkörperung der Sinnesart, die der Epoche den Charakter verlieh und die in der Geschichte der feindlichen Nachbarvölker eine so verhängnisvolle Rolle spielt. Alles einzelne und individuelle hat die Sage und der Volksgesang diesem ethischen Jnteresse ─ dem Liedeszwecke ─ mit wahrhaft staunenswerter Kunst entweder ganz geopfert oder doch dienstbar gemacht. ────── VI. Wenn eine bestimmte Begrenzung des Wesens der Ballade sonst vermißt wird, so würde auf der Grundlage der obigen Voraussetzungen sich die Definition derselben in folgender Weise herstellen: Die Ballade ist eine Dichtung, welche den Zweck hat ein Ethos nachahmend darzustellen und zwar vermittelst der Erzählung eines Vorganges oder einer Handlung. Sie gehört also ihrem Wesen nach der lyrischen Gattung an und nur ihren äußeren Mitteln nach der epischen; eben darum aber ─ da das Mittel nie den Zweck verdrängen oder auch nur verdunkeln soll ─ darf die Erzählung niemals epischen Charakter annehmen, sondern muß dem lyrischen Hauptzweck dienen und also auf die bloße Andeutung der Vorgänge und Handlungen sich einschränken. Eben daher ist ihre Haltung liedartig und es gehört zu ihrem Wesen, daß sie sangbar ist, Hierin liegt ein untrügliches Merkmal der Unterscheidung der echten Ballade von der Pseudo-Ballade; die Schiller schen poetischen Erzählungen, die als Balladen gelten, widerstreben dem Gesange fast ausnahmslos eben so sehr, als die Goethe= schen dazu auffordern. wie denn auch alle Volks-Balladen gesungene Lieder sind. Damit wäre zugleich erklärt, warum die Ballade mit Vorliebe auf dem Boden mythischer und historischer Sage sich bewegt, weil dort am reichsten die Verkörperungen den Einzelnen oder die Gesamtheit bewegender Sinnesweisen und Gemütsvorgänge gefunden werden; liegt ja doch umgekehrt gerade in dem ethischen Jnteresse die stärkste mythen= und sagenbildende Kraft. Freilich hat ein reicher Sagenschatz nicht bei allen Völkern zur Balladendichtung geführt; es möchte für die obige Definition der Ballade sprechen, wenn von ihr aus unmittelbar die auffallende Thatsache zu erklären wäre, daß ein poetisch so hoch begabtes Volk wie die Griechen die Ballade nicht kannte, ja daß die Vorstellung derselben mit dem Wesen der griechischen Dichtung sich gar nicht vereinigen läßt. Der Grund liegt in dem ausgeprägten Formensinn des griechischen Volkes, in dem unabweisbaren Bedürfnis die Gebilde seiner Phantasie in plastischer Rundung auszugestalten und in voller Klarheit anzuschauen. Diese Neigung oder diese zwingende Anlage gestattet es nicht eine irgendwie bedeutende Handlung zum bloßen Mittel für die Darstellung eines Gemütsinhaltes gewissermaßen zu verflüchtigen, sondern sie verlangt für die Handlung an sich, als alleinigen Gegenstand, die hellste Beleuchtung und ungeteiltes Jnteresse. Wie anders die nordischen Völker, denen umgekehrt der lebhafteste Anteil an den Gemütsvorgängen im Vordergrunde steht, und denen darüber leicht die Gestalten und Ereignisse in nebelhafte Umrisse sich verlieren! Was liegt in so zahlreichen Gesängen, wie sie von den griechischen Aöden jahrhundertelang umhergetragen sind, dem Stoffe nach an sich hinderndes, daß sie die Balladenform nicht hätten annehmen können; man denke allein an das Tantalidenhaus, an die Niobidensage? Wenn es nicht ganz unmöglich wäre, diese Gestalten in solcher Behandlung sich zu denken! Es ist als ob schon allein die unvergleichliche Anlage für die Plastik bei den Griechen das Organ für die Balladendichtung ausschließen mußte! Diese lichten Formen, hell beschienen von der leuchtenderen Sonne des griechischen Himmels, sie treten uns überall wieder entgegen, im Götter= und Heroenmythus, in der historischen Sage, im Epos. Wo wir diese Schar von Göttern und Halbgöttern, von Nymphen und Satyrn, von Sängern und Helden erblicken, da zieht ihre bloße Erscheinung unsre ganze Aufmerksamkeit auf sich, ihre Schicksale und ihr Handeln nehmen um ihrer selbst willen bis in die kleinsten Züge unsre ganze Teilnahme gefangen. So hat die griechische Dichtung das Mittel der Erzählung nicht anders angewandt als um wirkliche innere Handlung darzustellen, im Epos und im Jdyll. Eine scheinbare Ausnahme bilden nur die „erzählenden“ Partieen in der Pindarschen Ode und im Chorliede; aber in Wirklichkeit hat man hier nicht Selbst wo die moderne deutsche Dichtung es unternommen hat antike Stoffe balladenmäßig zu behandeln, kann dieser Versuch nicht als geglückt angesehen werden, und zwar aus den eben entwickelten Gründen. Selbst Schillers Genius hat es nicht vermocht die widerstrebenden Stoffe in ihrem innersten Wesen so völlig umzugestalten. Gedichte wie „Die Bürgschaft“, „Der Ring des Polykrates“, Schlegels „Arion“ oder selbst „Die Kraniche des Jbykus“ tragen den Charakter einer, freilich poetisch geschmückten, aber doch lediglich epischen Erzählung; Gegenständlichkeit, thatsächliches Jnteresse zeichnet sie aus; was die Ballade macht, die Sangesweise, die einzig und allein den Liedcharakter konstituierende lyrisch=ethische Tendenz, fehlt ihnen. Nur Goethe scheint auch hier eine Ausnahme zu machen; aber der Stoff der „ Braut von Korinth “ ist nichts weniger als antik im eigentlichen Sinne, und durch die Behandlung vollends ist er ganz und gar Goethe sches Eigentum; wie er das Motiv ja auch Jahrzehnte hindurch „lebendig und wirksam im Jnnern erhalten“ hatte, bis es „der Darstellung entgegengereift“ war. Und dennoch trotz der meisterhaften Beherrschung „der gewaltig belebenden Kunstform, die jeden Stoff veredelt und verwandelt“, womit er das gegenständliche Jnteresse der Erzählung in ein ethisches umzusetzen bestrebt ist, bleibt das erstere überwiegend und die reine Wirkung der echten Ballade kommt nicht völlig zustande. Aber die Ursache liegt nicht darin, daß der Stoff antiker Herkunft ist, sondern in seiner komplizierten und ganz singulären Beschaffenheit, welche es dem Dichter nicht gestattete das rein Menschliche, allgemein Verständliche für sich selbst sprechen zu lassen, sondern kunstreiche Exposition der im Kampf befindlichen heterogenen Weltanschauungen und symbolische Darstellung der in diesem Konflikt beleidigten und sich rächenden Natur erforderte. Das pathologisch wirkende und bloß stoffliche Jnteresse dieses Gegenstandes wird durch keine Kunst soweit überwunden, daß die beabsichtigte ethische Wirkung rein, einfach und unmittelbar empfunden werden könnte; der einzelne Fall fesselt uns zu stark, als daß wir, völlig befreit, uns zum Allgemeinen erhoben fühlten. Mit welcher Kunst aber Goethe auch heimisch vertraute Stoffe, um sie der Balladenform zu fügen, umzuwandeln und neu zu gestalten pflegte, davon gibt die „ Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden Grafen “ ein merkwürdiges Zeugnis. Er nennt diese Behandlung eine „ mysteriöse “, in dem Sinne, daß die dargestellten Vorgänge an Erzählung vor sich, sondern die bloße Erwähnung von Fakten, welche zu der rein lyrischen Nachahmung eines Pathos oder Ethos erneuten Anstoß geben. Deutlichkeit und Vollständigkeit ein Beträchtliches einbüßen müßten; in dem vorliegenden Gedichte ist er darin soweit gegangen, daß er, wie in der hinzugefügten Erklärung wohl zu weit gehend von ihm gesagt wird, „der Auffassungskraft selbst geistreich=gewandter Personen durch prosaische Darstellung zu Hülfe zu kommen“ für erforderlich hielt. Die allgemeine Betrachtung, welche er dabei einleitend vorausschickt, steht, wenn auch keineswegs in ihrer Formulierung, so doch dem Sinne nach völlig im Einklang mit der im Obigen entwickelten Theorie; dieses bestätigende Zeugnis mag daher hier folgen: „Die Ballade hat etwas Mysteriöses, ohne mystisch zu sein; diese letzte Eigenschaft eines Gedichtes liegt im Stoff, jene in der Behandlung. Das Geheimnisvolle der Ballade entspringt aus der Vortragsweise. Der Sänger nämlich hat seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren Thaten und Bewegungen, so tief im Sinne, daß er nicht weiß, wie er ihn ans Tageslicht fördern soll. Er bedient sich daher aller drei Grundarten der Poesie, um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen soll; er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen und, nach Belieben die Formen wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen oder es weit hinausschieben. Der Refrain, das Wiederkehren eben desselben Schlußklanges, gibt dieser Dichtungsart den entschieden lyrischen Charakter. “ „Hat man sich mit ihr vollkommen befreundet, wie es bei uns Deutschen wohl der Fall ist, so sind die Balladen aller Völker verständlich, weil die Geister in gewissen Zeitaltern, entweder kontemporan oder successiv, bei gleichem Geschäft immer gleichartig verfahren. Uebrigens ließe sich an einer Auswahl solcher Gedichte die ganze Poetik gar wohl vortragen, weil hier die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Urei zusammen sind, das nur bebrütet werden darf, um als herrlichstes Phänomen auf Goldflügeln in die Lüfte zu steigen.“ Jn mehr als einer Hinsicht enthalten diese Goetheschen Worte die Bestätigung der obigen Darlegung. Zunächst heben sie auf das Bestimmteste „den entschieden lyrischen Charakter“ der Ballade hervor; sodann aber, was kann der unbestimmt gefaßte Satz: „der Sänger hat seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren Thaten und Bewegung, so tief im Sinne, daß er nicht weiß, wie er ihn ans Tageslicht fördern soll“, anders bedeuten, als daß nicht jene Gegenstände, Figuren, Thaten der wesentlichste Jnhalt der Ballade sind, sondern der ihnen innewohnende Stimmungsgehalt, der den Sänger im tiefsten Jnnern ergriffen hat und nach Gestaltung verlangend ihn bewegt, also eben das, was im Obigen das Ethos des Stoffes genannt wurde? Nur noch stärkere Bekräftigung erhält diese Auffassung durch die jenem Satze hinzugefügte Schlußfolgerung, daß der Sänger „nach Belieben die Formen wechselnd“ „sich aller drei Grundarten der Poesie bedienen“ könne, „um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen soll“; damit ist deutlich ausgesprochen, daß sowohl der lyrische Ausdruck einzelner Empfindungen als die epische oder dramatische Darstellung äußerer Handlungen in der Ballade nur als Mittel verwandt werden, um etwas Drittes, „was der Sänger tief im Sinne hat“, und was er auch bei den Zuhörern nachahmend hervorbringen will, darzustellen: das Ethos, womit sein Stoff ihn erfüllt. Was die Volksballade mit naiver Sicherheit überall leistet, die Verflüchtigung des stofflichen Jnteresses der Handlung zu Gunsten des ethischen, erfordert also von seiten des Dichters die Aufbietung seiner höchsten Kunst. So ist denn auch die Zahl der in diesem Sinne als den Forderungen der Gattung völlig entsprechend zu bezeichnenden Dichtungen eine sehr kleine; in manchen Fällen wird es freilich schwer sein die Grenze mit Sicherheit zu bestimmen, wo der Balladencharakter aufhört und dafür der der poetischen Erzählung eintritt, denn daß auch in dieser eine einheitliche Stimmung festgehalten werden kann, ist unbestreitbar. Nur hüte man sich den moralischen Gehalt eines solchen Stückes mit dem ethischen Jnhalte desselben zu verwechseln! Der Unterschied ist groß und in die Augen springend, und so günstig dieser dem Sangestone ist, so unverträglich mit demselben ist die moralische Tendenz, auch wenn sie durchaus nicht etwa nur äußerlich der Erzählung angefügt ist, sondern selbst dann, wenn sie als die Seele der Handlung die Erzählung leitend bestimmt. Man halte Gedichte wie Goethes Lied „Vom vertriebenen Grafen“ oder „Der untreue Knabe“ neben die „Bürgschaft“ oder den „Ring des Polykrates“, und das Urteil kann für niemanden zweifelhaft sein. Strophen wie diese: „Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht, Ein Retter, willkommen erscheinen, So soll mich der Tod ihm vereinen. Deß rühme der blut'ge Tyrann sich nicht, Daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht, Er schlachte der Opfer zweie Und glaube an Liebe und Treue.“ und dann die Schlußstrophe: Und zum Könige bringt man die Wundermär', Der fühlt ein menschliches Rühren, Läßt schnell vor den Thron sie führen. Und blicket sie lange verwundert an; Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen, Jhr habt das Herz mir bezwungen; Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn; So nehmet auch mich zum Genossen an! Jch sei, gewährt mir die Bitte, Jn eurem Bunde der dritte.“ Diese, wie die entsprechenden im „Ring des Polykrates“ oder im „Kampf mit dem Drachen“, sie zerstören den Sangescharakter nicht allein durch ihre Reflektiertheit und moralisierende Absichtlichkeit, sondern noch mehr dadurch, daß sie die Träger des Ganzen sind, auf welche die Handlung gebaut ist. Statt der Nachahmung des Ethos und der poetischen unmittelbaren Wirkung derselben in unserm Gemüte haben wir in allen diesen Stücken die Erzählung, die gewissermaßen in einem moralischen Beispiel den Erweis vor Augen stellt, was für Wirkungen nicht dieses Ethos selbst, sondern eine durch dasselbe bestimmte Entschließung auf die Entschließung eines Andern hervorbringen mußte. Nicht jenes Ethos, sondern diese innere Handlung ist der Gegenstand der Nachahmung: die Stücke sind nicht lyrisch, sondern episch. Aber dies ist nicht die einzige Klippe, die dem Gelingen der echten Ballade gefährlich ist. An einer andern ist, ungeachtetet aller hohen Vortrefflichkeit, doch auch Schillers „Taucher“ gescheitert. Hier enthält die eigentliche Handlung ohne alle Frage einen höchst balladenmäßigen Kern: das plötzliche Aufflammen der Liebesglut, das den Jüngling in die Todesgefahr treibt, deren Schrecken er kaum entronnen, ist ein Ethos, geeignet der schönsten Ballade den Ursprung zu geben. Jst dieses nun aber das Gefühl, das aus Schillers Gedicht als das Ganze beherrschend den Hörer ergreift, um ihn ganz in Besitz zu nehmen? Oder wird der Eindruck davon, den wir allerdings zum Schlusse auch noch empfangen, nicht weit überwogen von dem Hauptinteresse, das wir an der meisterhaften Schilderung des Meeresstrudels mit den Schrecknissen seiner Tiefe und der Erprobung seiner Gefahren nehmen, also doch an der äußerlichen, lediglich als Mittel dienenden, Handlung? Jmmerhin eine Schilderung von hervorragender Schönheit, aber statt der tief innerlichen Bewegung von Herz und Gemüt doch ein vorwiegend sensationelles Schauspiel! Wie hätte Goethe diesen Stoff im Jnnern zubereitet, bis er das Mittel gefunden hätte ihm die volle ethische Wirkungskraft zu erteilen! Die ganze Vorhandlung nur sprungweise angedeutet, aber im Vorgefühl des tragischen Ausganges die verderblichen Schrecknisse der Tiefe durch einzelne malerische Züge vom stärksten Nachdruck in mehr= facher Wiederholung zu ängstigendem Bewußsein gebracht, endlich auf den ethisch bedeutsamsten Teil der Handlung das hellste Licht geworfen und hier die höchste lyrische Kraft entfaltet! Nur der Schluß hätte unverändert aus dem Schillerschen Gedicht übernommen werden können: Da bückt sich's hinunter mit liebendem Blick, Es kommen, es kommen die Wasser all', Sie rauschen herauf, sie rauschen nieder, Den Jüngling bringt keines wieder. Eine andere Ausartung der Ballade entsteht, wenn das Jnteresse der Handlung auf dem historischen Charakter der Episode oder Anekdote beruht, die mitgeteilt wird; ob das in der trockensten Weise geschieht oder mit hochpoetischem Schmuck, ändert nichts daran, daß der Balladenzweck damit von vornherein verfehlt ist. Unter diesem Mißgriff leidet Schillers „ Graf von Habsburg “. Unvergänglich bleibt dessenungeachtet das Gedicht durch seine einzelnen Schönheiten, aber die höchste eine Schönheit, durch Einheit des Kunstzweckes als ein Maximum innerhalb der Gattung die Forderungen derselben ganz zu erfüllen, entgeht ihm. Sehr unterrichtend ist die Feststellung, worin denn nun jene einzelnen Schönheiten bestehen: es ist der Hoch- und Edelsinn des Kaisers, den die Dichtung uns vorführt, seine echt fürstliche und echt menschliche Liebe zur Kunst und jenes köstliche Anerkenntnis ihrer göttlichen Würde und unantastbaren Freiheit; es ist ferner die Verherrlichung seiner frommen und echt bescheidenen Gesinnung. Was der Dichtung ihre Schönheit verleiht, ist also durchweg die Verkörperung einzelner ethischer Züge, welche sich ja wohl auch zu dem Gesamtbilde eines weisen, frommen und freundlichen Fürsten vereinigen: nur daß die Gesamthandlung nun auf etwas ganz Anderes hinausläuft, auf den äußerlichen Zufall, daß der Sänger des Krönungsfestes aus eigenster Erfahrung von der kirchlichen Ergebenheit, oder sagen wir auch von der frommen Demut, des ehemaligen Grafen Zeugnis abzulegen imstande ist; eine überraschende und erfreuende Wendung, die aber weder die erschütternde Wirkung auf den Hörer ausüben kann, mit der sie den zunächst Beteiligten ergreift, noch ihm die Ueberzeugung von dem mystischen Zusammenhange des Ereignisses mit der Kaiserwahl mitzuteilen vermag, welchen das Gedicht am Schlusse dunkel ahnen läßt. Noch ferner ab liegen die anekdotenhaften Erzählungen, welche etwa auf ein epigrammatisches Wort oder auf eine Pointe hinauslaufen. Doch wenn es hier nahe liegt, etwa wieder an ein Schillersches Beispiel „ Der Handschuh “ zu denken, so führt die Betrachtung dieses Gedichtes in einen ganz neuen Kreis. Die Romanze, obwohl der Ballade nahe verwandt, ist doch auf ein ganz bestimmt begrenztes Gebiet gewiesen, wodurch sich ihre Gesetzgebung wesentlich modifiziert. Das Liederartige, Lyrische muß auch hier in der Haltung des Ganzen überwiegen, die erzählte äußere Handlung nur das Mittel sein; ihr Zweck, also der Gegenstand der Nachahmung, ein Ethos. Soweit wäre also die Romanze der Ballade völlig gleichgeartet; nun aber der spezifische Unterschied! Der Ballade gehört das ganze, unermeßlich weite Gebiet der rein menschlichen Ethe ─ die Anwendung des Plurals ist hier geboten ─ zu; verschiedenartig gefärbt erscheinen dieselben nur je nach der charakteristischen Eigenart der Nationen. Alles aber, was darüber hinaus als besondere Beschaffenheit der Zeitumstände und als Singularität der Epoche die Handlung bedingt, das schließt die Ballade entweder ganz aus oder sie weiß es so abzuklären und derart auf seinen allgemein menschlichen Kern zurückzuführen, daß die unmittelbare Verständlichkeit nicht darunter leidet. Daher hat die echte Ballade ungeachtet ihrer nur andeutenden Erzählungsweise eine unbegrenzte Wirkungskraft, welche sowohl die Schranken der Zeit als die der Nation überspringt. Jm Gegensatz zu diesem universellen Charakter der Ballade ist die Romanze auf ein der Zeit und dem Schauplatze nach enge begrenztes Gebiet eingeschränkt, auf die Nachahmung einer erst aus ganz bestimmten Voraussetzungen erklärlichen und verständlichen Auffassungs= und Gefühlsweise. Es ist die Gesinnung und die Art zu empfinden und die daraus hervorgehende, völlig eigentümliche Sonderart des Handelns, welche gegen das Ende des Mittelalters, vom elften bis zum fünfzehnten Jahrhundert, vorzüglich aber im zwölften und dreizehnten unter den romanischen Nationen entstanden war und auch den übrigen abendländischen Völkern sich mitteilte, und zwar nicht sowohl die Gesamtheit beherrschend als vornehmlich bei einem exklusiven Stande, der ritterlichen Gesellschaft, darüber hinaus nur etwa durch ihre Ausstrahlungen sich erstreckend; ferner doch auch so, daß sie bei weitem nicht in dem Grade dem wirklichen Leben angehörte, als vielmehr recht eigentlich ihren Ursprung und Sitz in einer sehr starken Erregung des Phantasielebens hatte, welche gleichmäßig durch die kirchlichen, politischen und socialen Zustände jener Zeit hervorgebracht und erhalten wurde. Es war somit eine von Hause aus ihrem innersten Wesen nach der dichterischen Stimmung verwandte Gefühlsweise, welche einem jeden Gedanken, einer jeden Empfindung, jedem Entschließungsakte in jener Epoche einen Stempel aufdrückte, der sie von der Denk=, Gefühls= und Handlungsweise aller andern Zeiten beim ersten Blicke auf das Schärfste unterscheidet. Als der spezifische Ausdruck derselben bildete sich die eigenartige Dichtung der Troubadours heraus mit ihrem tausendfach variierten Thema von Fehde, Kampf und ritterlichem Waffenspiel, von Frauendienst und galantem Liebeswerben, von „Ruhm und Tapferkeit, von Lust und Anmut und Höflichkeit, von Sinn und Kunst und Ehren!“ Vgl. in dem Liede des Guiraut Riquier die zweite Strophe (Fr. Dietz, Leben und Werke der Troubadours, 2. Aufl., von Karl Bartsch, 1822, S. 415, und E. Brinkmeier: Die provenzalischen Troubadours, 1822, S. 57): Quar dompneys, pretz e valors, Joys e gratz e cortezia Sens e sabers et honors, Belhs parlars, bella paria, E largueza et amors, Connoyssensa e cundia, Troban mantenh e cundia En Cataluenha a tria Entre 'ls Catalas valens E las donas avinens. Liebe und Waffenwerk sind hier nicht nur die Würze, sondern der Jnhalt des Lebens, ohne den es nicht zu denken ist; so heißt es bei Bernard von Ventadour: Vgl. Fr. Dietz a. a. O. S. 33. Tot ist der Mensch, dem der Genuß Der Liebe nicht das Herz beseelt, Ein Leben, dem die Liebe fehlt, Gereicht der Welt nur zum Verdruß. Nie sei ich Gott so sehr verhaßt, Daß er mir läng're Frist verleiht, Wenn ich mit Liebe mich entzweit Und aller Welt nur bin zur Last! Oder in einem Bertran de Born zugeschriebenen Sirventes: Vgl. Fr. Dietz a. a. O. S. 156. Nicht solche Wonne flößt mir ein Schlaf, Speis' und Trank, als wenn es schallt Von beiden Seiten: drauf, hinein! Und leerer Pferde Wiehern hallt Laut aus des Waldes Schatten, Und Hülferuf die Freunde weckt, Und Groß und Klein schon dicht bedeckt Des Grabens grüne Matten, Und mancher liegt dahin gestreckt, Dem noch der Schaft im Busen steckt. Es steckt ja in allen den Jngredienzien, aus denen sich das romantische Element zusammensetzt, ein Kern, wodurch sie dem allgemein Menschlichen angehörig und eben deshalb auch allen Zeiten verständlich sind; aber was der Mischung die ganz singuläre Färbung gibt, das ist einmal die excessive Qualität und sodann die Ausschließlichkeit, womit sie darin vorherrschen. Nur ganz vereinzelten Dichtern der gesamten romantischen Periode und auch diesen nur in seltenen glücklichen Momenten war es gegeben sich hiervon frei zu machen und in ihren besten Leistungen sich zu dem rein Menschlichen und daher Unvergänglichen ─ dem Klassischen ─ zu erheben; im Uebrigen steht uns die Sinnesart jener Zeit als eine exceptionelle, uns fremde gegenüber. Das gilt in unserer deutschen Litteratur ebenso in betreff des romantisch=ritterlichen Epos als des Minnegesanges, mit Ausnahme der besten Lieder Walthers; das deutsche Volksepos freilich nimmt seinem Kern und Wesen nach eine ganz andere Stellung ein. Die in liedartiger Haltung vermittelst der Andeutung eines Vorganges, der Umrisse einer Handlung erfolgte Nachahmung jenes romantischen Ethos wäre also eine Romanze. Je mehr dieser Zweck durch die bloß skizzenhafte Behandlung der äußeren Geschehnisse erreicht wird, diese also nur als Mittel verwendet sind, je mehr demgemäß der Liedescharakter der Dichtung zur Geltung kommt, desto vollkommener ist die Romanze. Doch ergibt sich hier eine weitere wesentliche Verschiedenheit der Romanze von der Ballade: jene höchste Forderung konnte nur erfüllt werden, solange die Romanze noch der lebendige Ausdruck des bestehenden Gesellschaftszustandes war, und selbst da nur annähernd, weil sie ihrem Jnhalte nach das phantastisch Gekünstelte dieses Zustandes naturgemäß noch überbieten mußte. Dazu bedurfte sie fester gezeichneter Konturen, einer ausgeführten Erzählung der Handlung; um wie viel mußte dieses Bedürfnis sich aber steigern, wenn in den modernen Nachbildungen der Romanze der ganze Kreis, der dem romantischen Ethos als Voraussetzung dienenden besondern Umstände und exceptionellen Verhältnisse erst durch die Erzählung in der Anschauung hervorzubringen war! Es ist der Boden des Abenteuerlichen, auf welchem die Romanzenstimmung erwächst, deshalb wird die Romanze, wie sie nicht vermögend ist die mächtige lyrische Wirkungskraft der Grundaffekte des menschlichen Gemütes in sich aufzunehmen, sondern dieselben immer nur unter einer künstlichen Beleuchtung zeigen kann, auch niemals die großartige Einfachheit der Ballade erreichen können, und was ihr an Allgemeinheit und Tiefe der lyrischen Wirkung abgeht, durch das glänzende Kolorit der äußeren Erzählung zu ersetzen suchen. Gewissermaßen zur Entschädigung jedoch sind ihr Gebiete geöffnet, welche der Ballade fast ganz verschlossen sind. Das Sonderbare, Anekdotenhafte, die witzige Pointe und sogar die Jronie haben in der Romanzendichtung eine entschiedene Berechtigung, da sie insgesamt sehr wohl dazu dienen die Seltsamkeit und damit das innere Wesen der die romantische Gesellschaft kennzeichnenden „ethischen“ Stimmungen nachahmend zu veranschaulichen. Alle diese Merkmale finden sich bei den Mustern der Gattung, in der provençalischen und spanischen Romanzenlitteratur und so auch bei denjenigen unsrer modernen deutschen Dichter, welche diesen Mustern am engsten sich angeschlossen haben: in Herders Umdichtungen der Cid-Romanzen und in Uhlands an die französischen Vorbilder sich haltenden Romanzen, wie „ Bertran de Born “, „ Rudello “, „ der Kastellan von Couci “, „ Don Massias “, „ Taillefer “, ferner in der ganze Reihe seiner Rolands= und König Karls =Lieder. Man darf mit diesen Uhland schen Romanzen nur Gedichte wie Schillers „ Kampf mit dem Drachen “ und „ Handschuh “ zusammenhalten, welche ja auch entschieden romantische Stoffe behandeln, um sofort die Grenze zwischen der liedartigen und sangbaren Romanze und der bloßen poetischen Erzählung zu erkennen, mag sie auch mit dem besten romantischen Apparate geschmückt sein. Der epische Charakter ist in den letzteren entschieden an die Stelle des lyrischen getreten. Die einzelne Handlung interessiert durch sich und um ihrer selbst willen, sie ist keineswegs nur dem Stimmungscharakter dienstbar und zu seinen Gunsten gewissermaßen verflüchtigt. Es wäre ein nur scheinbarer Einwand, wenn man für die vermeintlich epische Grundanlange der Romanze den Umstand ins Feld führen wollte, daß sie die Tendenz hat zu einem Cyklus sich zu erweitern, und wenn man einen solchen Romanzen-Cyklus als ein Epos ansehen wollte. Jene Tendenz der Romanze erklärt sich nicht allein aus ihrem Wesen, sondern sie ist als eine sich daraus mit Notwendigkeit ergebende Konsequenz zu betrachten. Wenn es der Jnhalt jeder einzelnen Romanze ist, irgend eine Seite des, sozusagen, romantischen Gesamtethos nachzuahmen, so konnte das Bestreben nicht ausbleiben, diese Gesamtheit nun auch in einer Reihe einzelner Gesänge, von denen jeder für sich gesonderten Bestand hat, zum Ausdruck zu bringen. Die Einheit für diese Reihe mußte sich ganz von selbst darbieten, da überall die Sage geschäftig war, die Summe der den Zeitcharakter erfüllenden Eigenschaften und Gesinnungen in einem Helden als ihrem Typus zusammenzutragen. Nur die Person dieses Helden und der Faden des äußerlichen Zusammenhanges der Begebenheiten bildet die poetische Einheit des Romanzen-Cyklus, dessen Jnhalt es ist die Gesinnungs=, Denk- und Handlungsweise dieses Einzelnen nachahmend zur Darstellung zu bringen und damit zugleich die Gesellschaft, der er angehört und durch deren Konventionscodex er seine ethische Existenz hat, ebenso die historischen Verhältnisse, in denen er lebt, alle zusammen durch ein und dasselbe Gewebe phantastisch=konventioneller Fiktion eng miteinander verbunden und gegenseitig auf das Schärfste bedingt. So entsteht aus einer Summe völlig selbständiger Einzelgesänge ein Ganzes von relativer Vollständigkeit, insofern die unter diesem Gesichtspunkt vereinigten Lieder vermittelst all der in ihnen erzählten Begebenheiten und Handlungen jenes Gesamtethos in seiner Totalität darstellen. Je nachdem dasselbe dem Urbilde menschlichen Denkens und Handelns näher steht oder sich weiter davon entfernt, bestimmt sich sein mehr oder minder bleibender Wert, aber nur in der Nachahmung jener Totalität beruht seine Bedeutung. Das weit hervorragende Beispiel dafür ist der spanische Cid, und selbst die Herder sche Bearbeitung trägt diese Züge. Aber nimmermehr kann auf solche Weise ein Epos entstehen, und nimmermehr kann ein solches sich mit der bloßen Einheit des Helden und des äußeren Laufes der Ereignisse begnügen! Dergleichen kann für die viel höher geartete Gattung des Epos nur den Rohstoff abgeben, den der Dichter daraufhin untersucht, ob er seinen Absichten sich fügen möchte. Diese Absicht des epischen Dichters geht darauf hin, aus jenem Material einen solchen, in sich fest zusammenhängenden und unter diesem Gesichtspunkte vollständigen Verlauf von Handlung auszulesen, daß der darin sich kundgebende Schicksalsverlauf, ähnlich wie auch die Tragödie, ganz fest zu bestimmende Empfindungen der Hörer in gesetzmäßiger Weise errege und modifiziere. Wie gesagt: ein höher gearteter Kunstzweck, welcher eine weit schwierigere und planvollere Anordnung erheischt und von welchem den einzelnen Romanzen des Cyklus wohl hier und dort etwas innewohnen kann, weil alle Poesie jenem höchsten Ziele zustrebt, aber der weder das Ganze eines solchen bestimmt, noch das Verhältnis seiner Teile zueinander regelt. Daher: einen Balladen-Cyklus hat es nie gegeben! Hier waltet jener einseitige Gesichtspunkt, der die Romanzen zum Cyklus verbindet, nicht ob; jede Nachahmung erschöpft sich in sich selbst, höchstens treten zwei bis drei Lieder zusammen, wo ein Ethos das andere komplementär ergänzt. Noch viel weniger also ist es denkbar, daß aus einzelnen balladenartigen Gesängen jemals der zusammenhängende Bau eines Epos hat entstehen können. Der Balladensänger kann aus dem vollen Strome der Heldensage wohl auch für sich schöpfen, aber immer nur um den Liedeszweck, der ihm im Sinne liegt, zu erfüllen; damit ist sein Werk abgeschlossen. Die einzelnen Gesänge der großen Volksepen dagegen setzen immer voraus, daß die Handlung selbst Zweck ─ τέλος ─ der Mimesis ist und in ununterbrochenem Strome ihrem Endziele zueilt; die Gesamtwirkung der Gesamthandlung ist es, durch welche der Verlauf im Ganzen sowie in allen kleinsten Teilen einzig und allein bestimmt wird und welche wiederum als dessen Ergebnis überall hervortritt. Jene Gesänge müssen ja natürlich einzeln vorgetragen sein ─ wie hätte das ausgedehnte Ganze anders mitgeteilt werden können ─, aber doch erst nachdem das Ganze zuvor vorhanden war; die Kenntnis des Gesamtverlaufes war schnell verbreitet und konnte von da ab von den Aöden, Rhapsoden, fahrenden Leuten allenthalben als allen völlig vertraut bei ihren Einzelvorträgen vorausgesetzt werden. Dasjenige jedoch, was bei einem sehr großen Teile der modernen Balladen- und Romanzendichtung an die Stelle der echten Muster dieser Gattungen getreten ist, erfüllt weder deren Forderungen, noch ist andrerseits darin eine Spur jenes großen epischen Stiles; jenes Schwierigste der Kunst des Balladen- und Romanzensängers, die materielle Handlung möglichst in der Darstellung zu verflüchtigen, damit das Lyrisch-Liedgemäße ─ die Mimesis des Ethos ─ mit um so mächtigerer Wirkung den Gesang erfülle, macht dem weit leichteren Bestreben Platz, mit virtuoser Beherrschung des Effektes eine interessante Geschichte vorzutragen, wobei je nach der Natur des Dichters bald der moralische Kern der Handlung, bald die bloße Tendenz möglichst heftiger sensationeller Erregung die Gesamthaltung beherrscht. Wie aber, in Analogie mit Lessings Grenzbestimmung im Laokoon, die bloße poetische Beschreibung, auch wenn sie meisterhaft durchgeführt ist, immer ein untergeordnetes Kunstwerk abgibt, weil sie bestimmt ist als Mittel zu dienen und niemals Selbstzweck werden soll, so kann auch die bloße poetische Erzählung, und wenn es die gelungenste ist, nur einen geringeren Rang behaupten neben der echten Ballade und Romanze, in denen sie dem höheren Zwecke ethischer Mimesis dienstbar gemacht ist. ────── VII. Eben hier scheint sich auch der Gesichtspunkt zu entdecken, unter welchem die Stellung und der poetische Gehalt eines andern Gebietes der Dichtung, dessen Definition und Grenzen sehr unsicher und schwankend sind, mit größerer Sicherheit zu bestimmen sein dürften: der didaktischen Poesie und der sogenannten Reflexionsdichtung. Wie sehr der Vortrag von Lehrsätzen, positiven, systematisch geordneten Kenntnissen und abstrakten Gedanken dem Wesen der Poesie widersprechend ist, hat Lessing erwiesen; wie andrerseits durch die Vorführung selbst der schwierigsten Gedankenreihen die höchsten dichterischen Zwecke erreicht werden können, das liegt in einem Kreise der wundervollsten Schiller schen Gedichte vor aller Augen klar zu Tage. Noch weniger aber als auf irgend einem andern Gebiete kann man hier mit Lessings Satze auskommen: die Poesie stellt Handlungen dar, d. h. Gegenstände, die eine Folge bilden. Wie anders, wenn man die im Obigen entwickelte Theorie auf diese Gattung der Poesie anwendet. Es ergibt sich dann sofort, daß, wie die Erzählung von äußeren Handlungen und wie die Vorführung des Körperlichen, so auch die Darstellung von Gedanken, die Bezugnahme auf Lehren und Begriffszusammenhänge nur eines von den Mitteln sein kann, deren sich die Poesie zu ihren ewig identischen Zwecken bedient, niemals aber Selbstzweck. Es würde sich dann weiter fragen, welches der Nachahmungsobjekte das diesem Mittel verwandte und also durch dasselbe darstellbar sei, und es möchte ein abermaliges Zeugnis für jene Theorie sein, wenn die Antwort darauf sich einfach und mit Notwendigkeit aus derselben ergäbe. So weit getrennt die Thätigkeit des reinen Denkens von den übrigen Bethätigungen des Geistes ist, wie Phantasie und Empfindung, und so scharf gesondert sie auf ihrem Wege sich von jenen und von jeder Beeinflussung durch die wechselnden Gemütszustände in eifersüchtigster Selbständigkeit halten muß, so gilt doch auch für sie das unverbrüchliche Gesetz des Geistes, welches Einheit und Totalität für alle seine Aeußerungen fordert und welches ungestraft niemals verletzt werden kann. Die Punkte, wo auch für die reine Denkthätigkeit ─ διάνοια ─ jene Einheit vorhanden ist oder sich wiederherstellt, sind genau zu bestimmen; sie liegen an ihrem Anfang und an ihrem Ende, dazwischen liegt der Weg, den sie gesondert zurückzulegen hat. Auf jenem Wege gehört der Gedanke allein der Wissenschaft, an jenem Anfangs- und Endpunkte kann sich die Kunst seiner bemächtigen. Von den tausend Sinneseindrücken, die unaufhörlich von allen Seiten auf die Seele eindringen, sind es einzelne, welche vermöge der Vorgänge, welche sie in der Empfindung ─ den πάθη ─ hervorbringen, oder vermöge der Gemütszustände ─ ήθη ─ die sie anregen, ein durch beide oder durch eines von beiden beeinflußtes und fest bestimmtes, bleibendes Bild in dem Wahrnehmungsvermögen erzeugen, die ästhetische Wahrnehmung ─ αἴσθησις ─. Hier tritt nun sofort und unmittelbar die Denkthätigkeit beobachtend und kontrollierend hinzu und stellt die Merkmale, welche jenes Bild kennzeichnen und seine Wirkung auf die Empfindung (welche hier im weitesten Sinne die ästhetische zu nennen ist) bedingen, zu einem zweiten Abbilde des erregenden Objektes zusammen, der geistigen Wahrnehmung ─ νόησις . Beide vereinigt, die Sinnes- und Gefühlswahrnehmung und die geistige Wahrnehmung ─ die ästhetische und die noetische ─ setzen dann die Phantasie in den Stand, nicht allein die Bilder solcher Dinge selbstthätig zu wiederholen, sondern auch, indem die erstere die Formen überliefert, die andre das Gesetz ihrer Bildung und Verbindung hinzubringt, solche Bilder neu zu schaffen. So ist in den schöpferischen Gebilden der Phantasie der Keim des Gedankens, gewissermaßen das Material zu den Begriffen, schon enthalten, und zwar zu um so höheren Gedanken und zu um so reineren Begriffen, je schöner diese Gebilde sind. Diese innige und unlösliche Verbindung der Thätigkeit der Erkenntnis= und Empfindungskräfte, die bei der Hervorbringung des Schönen ebensowohl obwaltet als bei dem Genießen desselben, bildet das Grundthema von Schillers „ Künstlern “, welchem er namentlich in dem ersten Teile dieser Dichtung einen äußerst prägnanten Ausdruck gegeben hat; am meisten in den folgenden beiden Strophen: Nur durch das Morgenthor des Schönen Drangst du in der Erkenntnis Land. An höhern Glanz sich zu gewöhnen, Uebt sich am Reize der Verstand. Was bei dem Saitenklang der Musen Mit süßem Beben dich durchdrang, Erzog die Kraft in deinem Busen, Die sich dereinst znm Weltgeist schwang. Was erst, nachdem Jahrtausende verflossen, Die alternde Vernunft erfand, Lag im Symbol des Schönen und des Großen Voraus geoffenbart dem kindischen Verstand. Jhr holdes Bild hieß uns die Tugend lieben, Ein zarter Sinn hat vor dem Laster sich gesträubt, Eh' noch ein Solon das Gesetz geschrieben, Das matte Blüten langsam treibt. Eh' vor des Denkers Geist der kühne Begriff des ew'gen Raumes stand, Wer sah hinauf zur Sternenbühne, Der ihn nicht ahnend schon empfand? Freilich, sobald der solchergestalt empfangene Gedanke nun selbständig hervortritt, geht er fortan seine eigenen Wege und entwickelt sich streng nach seinen eigenen Gesetzen. Hier hat die Kunst nichts mit ihm zu schaffen; doch es kommt ein Moment, wo jene gestörte Gemeinschaft sich wiederherstellt. Wenn der Gedanke seine erste Entstehung der Anregung durch die Empfindung verdankt, so bewirkt er, sobald seine Arbeit gethan und er zur vollen Reife gelangt ist, nun wiederum eine Erregung des Gefühles: und hier ist es, wo ihm die Kunst aufs Neue begegnet. Nach des Aristoteles erhabener Lehre begegnen sich alle Energien, deren die menschlichen Kräfte fähig sind, darin, daß sie, zur Vollendung gelangt, d. h. in der vollkommensten Weise an den vollkommensten Objekten ausgeübt, die Seele mit dem reinen Gefühle der Lust, der Hedone, erfüllen. Aber nicht von jenem einen, allgemeinen Gefühl der Freude, das jede angestrengte und erfolgreiche Bethätigung des Denkvermögens begleitet, ist hier die Rede, sondern von den zahllos verschiedenen Empfindungen und Gemütsstimmungen, mit denen die Errungenschaften des Denkens, wie ebensoviel Erlebnisse oder Ereignisse des äußeren Lebens, die intellektuell gebildete Seele bewegen. Denn der Gedanke, wie er ursprünglich aus den gestalt- und farbenreichen Bildern des Lebens empfangen und abstrahiert ist, so erweckt er, zur Klarheit und Festigkeit hindurchgedrungen, sogleich wieder das lebensvolle Bild seiner Verkörperung. Dieses volle Anschauen der Verwirklichung seiner kühnsten Gedanken ist es, welches den schöpferischen Geist zu seinen Thaten treibt; solche Bilder, in solchem Anschauen nun auch den Andern vor Augen gestellt, entzünden auch in ihnen den gleichen Gedanken und treiben auch sie zur That; oder, falls der Gegenstand oder ihre Kräfte das nicht zulassen, sie stellen sie auf die Höhe der Empfindung, sie erfüllen sie mit dem edlen Ethos, mit welchem die Klarheit des Gedankens jenen durchdrang. Die wissenschaftliche Mitteilung des Weges, den die Denkthätigkeit bei ihrer Operation eingeschlagen hat, vermag das zunächst noch nicht; sie vermag nur die Möglichkeit, die Bereitschaft dazu hervorzubringen; ob jener dieselbe begleitende Aufschwung des erregten Gefühles nun auch eintritt, bleibt ungewiß. Das Umgekehrte findet hier statt: nur die Resultate des Denkens werden mitgeteilt, ihre Herleitung bleibt verschwiegen, somit kann auch eigentliche Kenntnis dadurch nicht weiter getragen werden; diese Mitteilung ist ferner keine direkte, sondern sie erfolgt durch die Darstellung jener Vorstellungsreihe, welche der ge= reifte Gedanke im Verein mit dem durch ihn erhöhten Empfinden sich erzeugt hat. Dieses letztere aber ist es, was aus der Aufnahme jener Vorstellungen unmittelbar und mit Gewißheit auf alle Empfangenden übergeht; nicht also Kenntnisse kann und will der Dichter verbreiten, sondern mit dem Ethos des Denkers erfüllt er seine Hörer, welches von höherem Werte ist als das einzelne Wissen, weil es den Samen ausstreut, aus welchem der Trieb des Erkennens erwächst. Solche Dichtungen bezeichneten die Alten mit dem Namen der gnomischen, und ein großer Teil der griechischen Elegie trägt genau diesen Charakter. Der Gegenstand der Nachahmung darin ist, abgesehen von vereinzelten Fällen, in denen die Vorführung von Gedanken dazu benutzt ist, um für bestimmte Situationen bestimmte einzelne Empfindungen hervorzubringen, das den Dichter bewegende Ethos; als Mittel dazu dient ihm die Darstellung seines Denkens, aber nicht die abstrakte Darstellung des reinen Denkens, welche der Anschauung unfaßbar sein und das Gemüt nicht erregen würde, sondern die Mitteilung desselben durch die Vorstellungswelt, die es sich erschafft, und in der es darum sich wiederspiegelt. Diese Dichtungsart kann also bald sich dem rein lyrischen Charakter nähern, bald kann sie eine entschieden paränetische Färbung annehmen, immer aber wird das weitaus darin Ueberwiegende die Nachahmung jener stillen, aber darum nicht minder mächtigen ethischen Stimmungen sein, die für den Denker selbst das höchste Glück und der schönste Lohn seiner Mühen sind. Das Bedürfnis, solchen Stimmungen und Gemütszuständen vollen Ausdruck zu geben, liegt zu tief in der menschlichen Natur begründet, als daß zu irgend einer Zeit, in der überhaupt die Dichtung zu ihrem Rechte gelangte, diese poetische Gattung zum Schweigen verurteilt gewesen wäre; als Beispiel mögen, vom Altertum abgesehen, die Sirventes der Provençalen und die Spruchdichtungen des deutschen Mittelalters dienen. Aber zu ihrer vollsten Blüte gelangte sie doch erst zu der Zeit der höchsten Entfaltung intellektuellen Lebens, als im achtzehnten Jahrhundert bei den Führern des deutschen Klassizismus mit der höchsten Geistesbildung sich die höchste dichterische Anlage verband; am schönsten bei Schiller, dessen überragende Größe hierin zumeist ihr Fundament hat. Jn dem Schlußgedanken seiner „ Künstler “ hat er dieser Anschauungsweise den schwungvollsten dichterischen Ausdruck verliehen: Wenn auf des Denkens freigegebnen Bahnen Der Forscher jetzt mit kühnem Glücke schweift Und, trunken von siegrufenden Päanen, Mit rascher Hand schon nach der Krone greift; Wenn er mit niederm Söldnerslohne Den edlen Führer zu entlassen glaubt Und neben dem geträumten Throne Der Kunst den ersten Sklavenplatz erlaubt: ─ Verzeiht ihm ─ der Vollendung Krone Schwebt glänzend über eurem Haupt. Mit euch, des Frühlings erster Pflanze, Begann die seelenbildende Natur; Mit euch, dem freud'gen Erntekranze, Schließt die vollendende Natur. Die von dem Thon, dem Stein bescheiden aufgestiegen, Die schöpferische Kunst, umschließt mit stillen Siegen Des Geistes unermess'nes Reich. Was in des Wissens Land Entdecker nur ersiegen, Entdecken sie, ersiegen sie für euch. Der Schätze, die der Denker aufgehäufet, Wird er in euren Armen erst sich freun, Wenn seine Wissenschaft, der Schönheit zugereifet, Zum Kunstwerk wird geadelt sein ─ Wenn er auf einen Hügel mit euch steiget, Und seinem Auge sich, in mildem Abendschein, Das malerische Thal auf einmal zeiget. Je reicher ihr den schnellen Blick vergnüget, Je höh're, schön're Ordnungen der Geist Jn einem Zauberbund durchflieget, Jn einem schwelgenden Genuß umkreist; Je weiter sich Gedanken und Gefühle Dem üppigeren Harmonieenspiele, Dem reichern Strom der Schönheit aufgethan ─ Je schön're Glieder aus dem Weltenplan, Die jetzt verstümmelt seine Schöpfung schänden, Sieht er die hohen Formen dann vollenden, Je schön're Rätsel treten aus der Nacht, Je reicher wird die Welt, die er umschließet, Je breiter strömt das Meer, mit dem er fließet, Je schwächer wird des Schicksals blinde Macht, Je höher streben seine Triebe, Je kleiner wird er selbst, je größer seine Liebe. Niemand hat so wie Schiller es verstanden, die Resultate der intensivsten Gedankenarbeit als Mittel echt dichterischer Wirkung zu verwenden, während umgekehrt jeder Versuch die Belehrung zum Zwecke der Dichtung zu machen, die künstlerische Wirkung völlig aufhebt. Das Lehrgedicht scheitert somit an derselben Klippe wie auch die sogenannte Schilderungspoesie oder die bloße gereimte Erzählung, wie das Mittelalter sie so massenhaft hervorgebracht hat, und welche Chaucer in seinen Canterbury-Tales so geistreich verspottet; Vgl. „ Das Reimgedicht vom Herrn Thopas “: Geoffrey Chaucers Canterbury-Geschichten, übers. von W. Hertzberg. (Hildburghausen 1866.) S. 463 ff. sie alle machen das Mittel zum Zweck und verfehlen damit den Zweck der Nachahmung. Aber freilich, das technische Gesetz, dem alle poetische Darstellung unterworfen ist, herrscht nun auch über die Anwendung dieses Mittels. Dieses Gesetz besteht darin, daß nur die Aeußerung psychischen Lebens, oder doch, was als solche dargestellt und aufgefaßt werden kann, imstande ist wiederum psychische Bewegungen, welche der künstlerischen Nachahmung würdig sind, zu erzeugen. Daß hierzu Berichte von Zuständen und Begebnissen des bewegten Lebens, Erzählungen von Handlungen und Situationen beseelter oder als beseelt vorgestellter Wesen technisch am geeignetsten sind, ist schon oben hervorgehoben worden; ebenso aber auch, daß die Poesie in diese Grenzen keineswegs mit Notwendigkeit eingeschränkt ist. Dasselbe Verhältnis zeigt sich auch hier auf dem Gebiete der Gedanken- oder Reflexionsdichtung, die am allerwenigsten mit der Vorschrift, Handlungen sollen ihr Gegenstand sein, sich vertragen kann. Man untersuche daraufhin Gedichte wie Schillers „Die Worte des Glaubens,“ „Die Worte des Wahns,“ „Sprüche des Confucius,“ „Der Genius,“ „Natur und Schule,“ „An die Freunde,“ ja selbst solche wie „Das Jdeal und das Leben,“ „Das Glück“ und viele ähnliche, in denen auch nicht eine Spur von Handlung oder selbst zeitlicher Succession des Objektes der Darstellung sich nachweisen läßt. Sie enthalten vielfach den Ausdruck des Gedankens ganz geradehin und unmittelbar, nur getragen durch das Ethos hocherhobener Begeisterung, welche er erweckt, so daß er gleichsam aufgelöst ist in Stimmung und ganz übergegangen in das lyrische Element. Gerade solche Strophen sind die populärsten geworden, wie z. B. in den „Worten des Glaubens“: Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, Und wär' er in Ketten geboren, Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei, Nicht den Mißbrauch rasender Thoren! Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, Vor dem freien Menschen erzittert nicht! Oder die Schlußstrophe des herrlichen Liedes: „An die Freunde“: Größ'res mag sich anderswo begeben, Als bei uns in unserm kleinen Leben; Neues ─ hat die Sonne nie gesehn. Sahn wir doch das Große aller Zeiten Auf den Brettern, die die Welt bedeuten, Sinnvoll still an uns vorübergehn. Alles wiederholt sich nur im Leben, Ewig jung ist nur die Phantasie; Was sich nie und nirgends hat begeben, Das allein veraltet nie! und viele ähnliche. Oder aber es wird dem ausgesprochenen Gedanken sogleich das Bild beigesellt, welches die erregte Phantasie für ihn geschaffen, weniger um dem Gedanken die Klarheit zu geben, als um die ethische Stimmung um so gewisser zu erwecken, die er erzeugt. So, wenn es heißt: Zürne der Schönheit nicht, daß sie schön ist, daß sie verdienstlos, Wie der Lilie Kelch prangt durch der Venus Geschenk. Laß sie die Glückliche sein! du schaust sie, du bist der Beglückte! Wie sie ohne Verdienst glänzt, so entzücket sie dich. oder am Schlusse desselben Gedichtes, „Das Glück“: Alles Menschliche muß erst werden und wachsen und reifen, Und von Gestalt zu Gestalt führt es die bildende Zeit; Aber das Glückliche siehest du nicht, das Schöne nicht werden, Fertig von Ewigkeit her steht es vollendet vor dir. Jede irdische Venus ersteht, wie die erste des Himmels, Eine dunkle Geburt, aus dem unendlichen Meer; Wie die erste Minerva, so tritt, mit der Aegis gerüstet, Aus des Donnerers Haupt jeder Gedanke des Lichts. Dieses letztere Verfahren ist bei Schiller weitaus das bevorzugteste; seltener nur, und nur in kürzeren Gedichten ist ein einzelnes Bild beibehalten und durchgeführt, wie in „Die Führer des Lebens,“ „Der philosophische Egoist,“ „Nänie,“ „Der spielende Knabe.“ Oder endlich er verbindet eine Reihe von Strophen, von denen jede in einem für sich ausgeführten Bilde in farbigem Lichte einen Gedanken wiederstrahlt, zu einem organisch zusammenhängenden Ganzen; so im „Reich der Schatten“ („Jdeal und Leben“), welches in naher Anlehnung an die poetisierende Jdeenlehre Platos, an dessen dichterische Gleichnisse dieses ganze Verfahren ja lebhaft erinnert, den Lieblingsgedanken Schillers und ein Hauptthema seiner ästhetischen Philosophie der entzückten Anschauung vorführt. Auf diesem Felde ist Schiller ohne Nebenbuhler; bei Goethe finden sich in den Epochen seiner lyrischen Vollkraft derartige Dichtungen überhaupt gar nicht, sie treten erst in seiner späteren Zeit auf, vom ersten Jahrzehnt unsers Jahrhunderts ab und namentlich im zweiten und dritten. Jn seinen Jugendjahren kleidete sich, bei seiner starken Abneigung gegen alle Jdeologie, eine jede Reflexion ihm fast unwillkürlich in Bild, Gleichnis, Erzählung; jetzt erst beginnt er die reichen Schätze seiner Erkenntnisse über die Kunst, „Gott und Natur“ und über die höhere Einheit, in der sie ihm erschienen, auch geradehin, in eigentlich so zu nennender Reflexionspoesie auszugeben. Man möchte den wiederkehrenden Grundgedanken derselben in der dritten Strophe des im Jahre 1816 entstandenen „Künstlerliedes“ ausgesprochen finden: Wie Natur im Vielgebilde Einen Gott nur offenbart, So im weiten Kunstgefilde Webt ein Sinn der ew'gen Art; Dieses ist der Sinn der Wahrheit, Der sich nur mit Schönem schmückt Und getrost der höchsten Klarheit Hellsten Tags entgegen blickt. Jmmer aber sehen wir ihn auch hier, nach seiner alten Weise, fast immer dem einzelnen Anlaß sich anschließen, die einzelne Anschauung bezeichnen, die ihn zur Abstraktion leitete, während umgekehrt Schiller fast überall vom Gedanken selbst die dichterische Anregung empfängt. Freilich geschieht es Goethe nun im Alter mitunter, daß ihn bei dem Aufbau dessen, was man den materiellen Unterbau seines Gedichtes nennen möchte, die poetische Kraft im Stiche läßt und er, namentlich wo es sich um seine wissenschaftlichen Liebhabereien handelt, in diesem Teile einer befremdlichen Trockenheit verfällt. Jmmer aber um sofort wieder zur höchsten dichterischen Wirkung sich zu erheben, sobald der krönende Gedanke das dem Ganzen als Seele innewohnende Ethos zur Geltung bringt; zum deutlichen Zeichen, daß hierin das bewegende Agens liegt, ohne welches das Uebrige tot ist. Sehr auffallend tritt diese Beobachtung an den beiden Gedichten: „Die Metamorphose der Pflanzen“ und „Metamorphose der Tiere“ hervor. Selbst das erstere, obwohl viel früher entstanden (wahrscheinlich um 1790) und viel wärmer empfunden und phantasievoller durchgeführt, ist von dem oben bezeichneten Fehler wohl nicht ganz freizusprechen, wenn man Stellen wie die folgende für sich betrachtet: Gleich darauf ein folgender Trieb, sich erhebend, erneuet Knoten auf Knoten getürmt, immer das erste Gebild, Zwar nicht immer das Gleiche, denn mannigfaltig erzeugt sich, Ansgebildet, du siehst's, immer das folgende Blatt, Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile, Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ u. s. f. Aber bei weitem stärker tritt dieser Mangel in dem zweiten, viel späteren Gedichte hervor, wenn es dort heißt: So ist jeglicher Mund geschickt, die Speise zu fassen, Welche dem Körper gebührt; es sei nun schwächlich und zahnlos Oder mächtig der Kiefer gezahnt, in jeglichem Falle Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung: Auch bewegt sich jeglicher Fuß, der lange, der kurze, Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis. Oder weiter unten: Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen, Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter Ganz unmöglich zu bilden, und böte sie alle Gewalt auf; Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben. Das ist metrische Prosa und es ist, immer nur die einzelne Stelle angesehen und in allem Uebrigen ohne Vergleichung, kein Grund, warum man derartige Verse nicht einem erneuerten Brockes zuschreiben sollte. Aber nun der ungeheure Unterschied! Während jenes bänderreiche Reimereien immer nur auf ein und denselben mattherzigen und gedankenarmen, teleologischen Schluß hinauslaufen, dient bei Goethe die nüchterne Betrachtung nur als Grundlage fürs erste einer tiefsinnigen Hypothese und dann, indem vom Einzelnen immer ins Ganze und Allgemeine fortgeschritten wird, eines Gesamtaufschwunges, bei welchem die ganze Macht jenes universellen Gedankens über die ethischen Stimmungen der Seele zur Entfaltung gelangt. Erst hierin liegt die künstlerische Berechtigung jener Stoffe. Diese poetische Beseelung der Anschauungen und des Denkens tritt mit erhöhter Wärme und Wirkungskraft in der „Metamorphose der Pflanzen“ auf, wo, nach echt Goethescher Weise, von Anfang bis zu Ende eine innige persönliche Beziehung obwaltet, während das Fehlen dieses wesentlichen Momentes in der „Metamorphose der Tiere“ die unleugbare Mattheit dieser Dichtung offenbar mit verschuldet. Auch in der äußeren Form tritt dieser Unterschied der beiden Gedichte hervor; es ist kein Zufall, daß jenes in dem belebteren elegischen Maße sich bewegt, und dieses mit dem gleichförmigen Hexameter sich begnügte. So möchte man sagen, daß auf diesem einen Gebiete der Reflexionsdichtung Goethe bei weitem zurückstehen müsse, am meisten gegen Schiller, den unbestrittenen Meister derselben. Und dennoch bleibt Goethe der gedankenreichste unter allen deutschen Dichtern, ja vielleicht unter den Dichtern aller Zeiten und Völker! Aber er war nicht nur der gedankenreichste, er war auch der größte Dichter! Und hier zeigt sich abermals die Geltung des Lessings chen Gesetzes, sobald man es nur als ein rein technisches, formales auffaßt und dem entsprechend modifiziert: Handlung und Bewegung sind nicht Gegenstand der Poesie, wohl aber unter allen Mitteln, die ihr zu Gebote stehen, das der Natur ihres Gegenstandes, also dem Zwecke der Nachahmung am meisten entsprechende. Wohl vermochte es demgemäß Schiller, kraft des ihm eigenen feurigen Jdealismus, auch das bloße Ethos des Gedankens dichterisch auszusprechen, und Goethe ist ihm darin nicht gleichgekommen; aber diese Gedichte wenden sich doch nur an den kleinen Kreis der intellektuell so weit entwickelten Geister, daß sie entweder schon zuvor in dem Schillerschen Gedankenkreise heimisch geworden sind oder doch anderweitig die Fähigkeit erworben haben in denselben einzutreten. Seine größten und vor allem weit verbreitetsten, im vollen Sinne populären Wirkungen erreicht Schiller doch nur da, wo es ihm gelang seine Gedanken rückwärts wieder in die lebendige Welt der Situationen und Vorgänge zu übertragen, der sie ursprünglich entstammen, und durch die Vermittelung der Darstellung aller derjenigen Züge darin, welche Empfindung und Ethos leicht erregen, mit diesen zugleich und aus ihnen heraus nun auch den Gedanken in Thätigkeit zu setzen: so also mittelst desselben Prozesses die kunstgemäße Nachahmung der mit der Denkthätigkeit verbundenen ethischen Zustände hervorzubringen, durch den die Mannigfaltigkeit der wirklichen Erlebnisse dieselben in den bevorzugtesten Seelen anzuregen imstande war. Solche Gedichte sind „ Die Glocke “ und „ Der Spaziergang “; und nirgends hat Schiller diese Methode konsequenter und ebenmäßiger durchgeführt als in dem letzteren, es ist darum als das Muster der ganzen Gattung der Reflexionspoesie anzuerkennen. Der Satz, daß Nachahmung eines Ethos der Gegenstand der Nachahmung für diese Art von Poesie ist, daß ferner die Darstellung von äußeren Situationen und Vorgängen und der durch diese angeregten Gedanken die dazu aufgewendeten Mittel sind, kann in keinem Beispiele überzeugender zu Tage treten als in dieser in jedem Betracht die ganze Gattung überragenden Dichtung. Für die aufgewandten Mittel liegt dies so klar vor Augen, daß jeder Nachweis überflüssig ist; ein Mißverstand könnte nur über den Zweck des Ganzen obwalten. Wer aber, nach einer beliebten Manier, in dem „Spaziergang“ etwa den „Nachweis“ des „Satzes“ erblicken wollte, daß, entgegen der bekannten Rousseauschen Behauptung, die Civilisation kein Uebel sei, sondern ihre Jrrgänge nur unvermeidliche Etappen eines Entwickelungsganges zur Einheit von Kultur und Natur, der würde das Gedicht doch nur halb verstanden und noch weniger empfunden haben. Was das Gedicht nachahmt, oder, um in der gewöhnlichen Ausdrucksweise zu sprechen, was es verkündet und wodurch es ergreift und entzückt, ist vor allem die Begeisterung eines rein und natürlich gestimmten Gemütes für die reinsten und unmittelbarsten Aeußerungen der Natur, es ist ferner die jubelnde Freude einer thatkräftig strebenden Seele an der hellen Erkenntnis des sichern Fortschreitens, in welchem der große Gang der Geschichte dem gesunden Auge alle die reichen von der Natur dem Menschen verliehenen Kräfte in ihrem Streite und in ihrem Bunde zeigt, es ist die schwere Beängstigung, daß eine wild und drangvoll bewegte Gegenwart die Sicherheit jener Erkenntnis zu erschüttern droht, es ist endlich die hochgemute Tröstung und die unerschütterliche Zuversicht, welche der edle Sinn in der Gewißheit seiner selbst und in dem treuen Festhalten an der Natur, dem liebevollen Anschluß an sie, für den Glauben an den Wert und den Erfolg des Strebens der menschlichen Gattung zurückgewinnt. Alles das aber sind keine „ Sätze “ oder „ Jdeen “, es sind Zustände des Gemütes, wie sie durch jene erst entwickelt werden ─ Ethe! Je mehr es dem Dichter gelingt selbst solches durch Jdeen erzeugte Ethos vermittelst der Darstellung bewegten Lebens nachzuahmen, desto gewisser erreicht er seinen Zweck und in um so schönerer Art löst er seine Aufgabe. Hierin ist nun aber Goethe der unerreichte und ganz unerreichbare Meister. Sieht man hierauf hin nun noch einmal seine Gedichte durch, so erscheint, während jene direkte Reflexionsdichtung sich nur in seinem späteren Alter und auch da nur spärlich zeigte, auf einmal eine gedrängte Fülle der herrlichsten Schöpfungen, welche durchaus dieser Gattung zuzurechnen sind. Und zwar von seiner frühen Jugend an erweist sich diese echte Reflexions= Poesie als eine von ihm ganz besonders bevorzugte Lieblingsgattung, von jenem „ Sturmlied “ des seine Schwingen in ungestümem Flügelschlag entfaltenden Genius an bis zu seinen reifsten Kundgebungen, der „ Zueignung “, den „ Geheimnissen “ oder dem „ deutschen Parnaß “. Das Gemeinsame bei ihnen allen ist, daß nicht der Gedanke selbst, sondern das von ihm getragene Ethos zum Ausdruck gelangt und zwar überall durch das Mittel lebensvoll dargestellter Bilder, wenn nicht, wie meistens, durch einen einzelnen, in sich zusammenhängenden Vorgang. Wenn es ihn drängt seine Vorstellung des „ Göttlichen “ aus= zusprechen, oder der „ Grenzen der Menschheit “ jenem gegenüber, so lautet das nicht, wie bei Schiller: Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt, Wie auch der menschliche wanke; Hoch über der Zeit und dem Raume webt Lebendig der höchste Gedanke, Und ob alles in ewigem Wechsel kreist, Es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist ─ sondern der lebendige Punkt, aus welchem sein Lied quillt, ist die Bezeichnung derjenigen Regung des menschlichen Gemütes, aus welcher jedes Gottesbewußtsein und jeder Glaube an Göttliches allein seinen Ursprung hat. Denn unfühlend Jst die Natur: Es leuchtet die Sonne Ueber Bös' und Gute, Und dem Verbrecher Glänzen wie dem Besten Der Mond und die Sterne. Aus der bloßen Beobachtung der Natur stammt die Gottesidee nicht, denn wie sie wahllos allen ihre Gaben austeilt, so treffen Schrecken und Vernichtung aus ihrer Hand ohne Unterschied und denkbare Ursache: Wind und Ströme, Donner und Hagel Rauschen ihren Weg Und ergreifen Vorübereilend Einen um den Andern. Und ist etwa in den Verschlingnngen des Waltens der Naturkräfte und der menschlichen Thaten, in dem, was wir das Schicksal nennen, die Gewißheit eines planvollen göttlichen Entscheidens irgendwo unmittelbar zu erkennen? Vielmehr erscheint nichts launischer und regelloser als das Schalten des Glückes: Auch so das Glück Tappt unter die Menge, Faßt bald des Knaben Lockige Unschuld, Bald auch den kahlen Schuldigen Scheitel. Da ist nirgends etwas anderes zu erkennen, als kalte, eiserne Notwendigkeit, unerbittlicher Zusammenhang von Ursache und Wirkung: Nach ewigen, ehernen, Großen Gesetzen Müssen wir alle Unseres Daseins Kreise vollenden. Wo thut sich denn nun die Ahnung auf eines Willens, der in diesem zermalmenden Getriebe die Freiheit bewahrt, der durch das eine Moment der aus eigener Kraft gefaßten Entschließung eine neue Bestimmung von unendlicher Wirkung innerhalb jenes Spieles der blinden Mächte aufzustellen vermag? Nur allein der Mensch Vermag das Unmögliche; Er unterscheidet, Wählet und richtet; Er kann dem Augenblick Dauer verleihen. Er allein darf Den Guten lohnen, Den Bösen strafen, Heilen und retten, Alles Jrrende, Schweifende Nützlich verbinden. Dieses Gefühl, das hohe Bewußtsein der Fähigkeit aus freiem Antriebe das Gute, das Edle wollen zu können, der freudige Stolz durch das Vermögen planvoll hülfreichen Handelns allen Wesen, selbst den Naturmächten überlegen zu sein, die aus solchem Selbstbewußtsein entspringende frohe Glaubensahnung, daß es in dem großen Ganzen einen solchen edlen Willen geben müsse, von welchem das beste menschliche Wollen doch nur ein beschränktes Abbild sein kann, der daraus geschöpfte feste Muth zu solchem Willen, das ist das Ethos dieses Gedichtes, mit dessen Ausdruck es beginnt und schließt: Edel sei der Mensch, Hülfreich und gut! Denn das allein Unterscheidet ihn Von allen Wesen, Die wir kennen. Heil den unbekannten Höheren Wesen, Die wir ahnen! Sein Beispiel lehr' uns Jene glauben! Und am Schluß: Und wir verehren Die Unsterblichen, Als wären sie Menschen, Thäten im Großen, Was der Beste im Kleinen Thut oder möchte. Der edle Mensch Sei hülfreich und gut! Unermüdet schaff' er Das Nützliche, Rechte, Sei uns ein Vorbild Jener geahneten Wesen! Dem gegenüber in den „ Grenzen der Menschheit “ das Ethos der Sophrosyne, der frommen Scheu, welches vor jeder Art der Ueberhebung bewahrt, wie es der Mensch aus dem Bewußtsein der engen Schranken seines Wirkens, der kurzen Begrenzung seines Lebens schöpft, und, dem zufolge, aus dem kindlichen Schauer vor der göttlichen Allmacht und der bescheidenen Anerkennung der überlegenen, rings sein Leben bedingenden Naturkräfte. Aber, wie schon gesagt, mehr entspricht es Goethes Art, statt wie hier die einzelnen poetischen Vorstellungen jedesmal in entsprechenden einzelnen Bildern bewegter Vorgänge wiederzuspiegeln, in einem einzigen Vorgange den Zusammenhang des Ganzen vor die Anschauung zu bringen. Hierbei werden jedoch zwei verschiedene Methoden von ihm angewendet, die als die dramatische und als die allegorische bezeichnet werden können. Jm Drama bietet die Situation den hinreichenden Anlaß, um dem monologischen Erguß der Reflexion und ethischen Stimmung die bestimmte Beziehung auf den einzelnen Vorgang und damit die unmittelbare, lebendige Wirkung zu verleihen; mitunter ist diese Beziehung aber schon an sich so deutlich, daß die bloße Ueberschrift genügt, um ein solches Stück auch außerhalb seines Zusammenhanges völlig verständlich zu machen. So ist der „ Prometheus “ beschaffen, welcher, ob er nun ursprünglich dem dritten Akte des Fragmentes angehörte oder, schon vorher selbständig geschaffen, diesem erst zugeteilt wurde, mit Recht, als sich selbst genugsam erklärend, von Goethe unter seine Gedichte aufgenommen werden konnte. Ganz denselben Charakter tragen jedoch solche Stücke, in denen der Dichter in eigener Person spricht ─ wie dieselbe im Grunde auch im „Prometheus“ unter der Maske zu erkennen ist ─, und wo er mit der Kunst des Meisters die Anlaß und Erklärung gebende Situation mitten in dem ihr entspringenden Strom der Gedanken und Gefühle durch vollauf genügende Andeutung darzustellen weiß; so in „ Wandrers Sturmlied, “ „ Schwager Kronos, “ dem so ganz individuellen Liede „ Harzreise im Winter “. So willkommen uns die authentische Angabe des Dichters über die veranlassenden historischen Momente zu dem letzten Gedichte sind, so bedarf es, um verstanden und genossen zu werden, derselben doch nicht, weil das Einzelne in die Sphäre des Allgemeinen gehoben ist; wie auch „Wandrers Sturmlied,“ bei dem ein solcher ins Einzelne gehender, authentischer Kommentar fehlt, sich mit völliger Deutlichkeit selbst erklärt. Den Uebergang zu der allegorischen Gattung bilden solche Gedichte, in welchen entweder ein Gleichnis angedeutet ist, wie in „ Meine Göttin, “ oder vollständig durchgeführt, wie in dem „ Gesang der Geister über dem Wasser “. Nun aber die eigentlich allegorischen Gedichte! Jn schroffem Gegensatze gegen die beliebte Theorie, daß jede Allegorie aus der Kunst absolut zu verbannen sei, sind es gerade die vollendetsten unter den der reflektierenden Gattung zugehörigen Dichtungen Goethes, welche entschiedene und mit strengster Konsequenz durchgeführte Allegorie enthalten. Zum Beweise mögen die folgenden drei Gedichte dienen, welche sicherlich ein jeder wenigstens zu den schönsten zählen wird: „ Mahomets Gesang, “ „ Seefahrt “ und „ Adler und Taube “. Nach der Quinctilianischen Erklärung ist die Allegorie eine Redeweise, welche etwas Anderes sagt und etwas Anderes bedeutet; Lessing fügt dazu die sehr notwendige Einschränkung, daß dieses andre dem, was es bedeuten soll, ähnlich sein müsse. Aber auch diese Einschränkung genügt noch nicht, wenigstens nicht für diejenige Art der Allegorie, welcher das Bürgerrecht in der Kunst gebührt. Jedes Kunstmittel, welches nicht einem höheren Zwecke in solcher Weise dient, daß derselbe auf anderem Wege nicht erreicht werden kann, ist in der Kunst nicht allein überflüssig, sondern als unnützes Spielwerk ihrer unwürdig. Wenn also nicht schon in dem Wesen der Allegorie ihre Unentbehrlichkeit für die Zwecke der Kunst nachgewiesen werden kann, und ebenso aus ihrer Definition nicht schon von vornherein erkennbar ist, in welchem Falle sie denselben widerspricht, so müßte sie freilich aus der Kunst ausgeschlossen werden. Beides aber läßt sich sehr wohl vereinigt erreichen. Es bedarf keines erneuten Beweises, daß der reine Gedanke und vollends die Verbindung einer Reihe von Gedanken für jede Kunst schlechthin undarstellbar ist. Selbst die Poesie, welche in dem Besitz des Mittels ist, durch welches allein der Gedanke ausgedrückt werden kann, des Wortes, vermag denselben direkt nur so zu verwenden, daß ihr eigentlicher Gegenstand vielmehr das begleitende Ethos ist und der Gedanke selbst als die dasselbe erregende Ursache nur angedeutet wird. Wie aber im Vorstehenden nachgewiesen wurde: sicherer und besser erreicht die Poesie ihren Zweck, wenn sie, statt den Gedanken direkt anzudeuten oder auszusprechen, indirekt diejenigen konkreten Dinge, Verhältnisse und Vorgänge darstellt, aus welchen die Gedanken und ihre Verknüpfung zu abstrahieren sind, und zwar jene Dinge und Vorgänge in solcher Auswahl und Zusammenstellung vorführt, daß die Selbstthätigkeit mit Notwendigkeit zu dieser Abstraktion veranlaßt wird; wenn also der Dichter mit künstlerischer Auswahl und Absicht dasjenige Stück Leben zu seiner Nachahmung verwendet, welches in ihm selbst das Ethos hervorbrachte. Nach der Ansicht, welche die ganze Entwickelung der deutschen Poetik beherrscht hat und welche auch noch heute die allgemein verbreitete ist, wäre diese Nachahmung der Natur und Wirklichkeit, sobald sie nur in künstlerischer Auswahl und Modifikation, der sogenannten Jdealisierung, geschehe, der Gegenstand der Dichtung; während doch diese so hoch gepriesene und so eifrig angestrebte Nachahmung der Natur und des Lebens, so gut wie Schilderung, Erzählung, Gedankenausdruck, nur als Darstellungsmaterial dem höheren Nachahmungszweck, dem eigentlichen Gegenstande der Kunst, dienstbar ist. Der Verwechselung dieses Grundverhältnisses sind von jeher die meisten und verderblichsten Verirrungen der Kunst entsprungen. Natürlich kann in dem so bezeichneten Verhältnis, wo Gedankendarstellung durch Darstellung von Dingen und Vorgängen vermittelt wird, von Allegorie keine Rede sein, denn das dargestellte Konkrete, Einzelne, ist dem Abstrakten, Allgemeinen, das dadurch der Jntelligenz zugeführt wird, was es also bedeuten soll, nicht ähnlich, sondern dieses ist in jenem enthalten. Vgl. dazu die betreffenden Ausführungen in Lessings „ Abhandlungen über die Fabel “. Nun gibt es aber einen dritten Fall, und dieser ist es, welcher hier in Betracht kommt. Es ist jemand von einem bedeutenden Ethos mächtig ergriffen, dem er einen auch die andern stark bewegenden Ausdruck verleihen will. Der Anlaß für ihn zu jenem Ethos ist eine Reihe wichtiger Gedanken, tiefgreifender Reflexionen gewesen, mit denen er zu einem ihn beruhigenden und erhebenden Abschluß gelangt ist. Der Philosoph führt dieselben unmittelbar vor und wendet sich damit an jene kleine Zahl der Mitstrebenden, die ihm zu folgen geneigt sind. Der Redner bringt die zu jenen Reflexionen den Anlaß gebenden Umstände und Verhältnisse in ausführlicher, für seinen Zweck angeordneter Darstellung vor die Augen seiner Zuhörer und erreicht damit seinen Zweck, die von ihm gewollte Ueberzeugung herzustellen bei der Gruppe, welche schon zuvor an jenen Verhältnissen einen durch ihr Jnteresse hervorgerufenen Anteil nahm. Der Dichter, den sein Ethos zum Reden zwingt, hat einen weiteren Kreis im Auge, als der Philosoph und der Redner, er wendet sich an die ganze Menschheit, und anders wie jene, setzt er das Jnteresse für seinen Gegenstand nicht voraus, sondern er will es hervorbringen auch bei den Gleichgültigen und selbst bei den Widerwilligen. Dazu bedarf er nun aber anderer Mittel, und dieselben sind von so starker Wirkungskraft, daß der Philosoph und der Redner nicht selten sie ihm abborgen, gerade da, wo es ihnen nicht nur auf die Ueberzeugung, sondern zugleich auf eine Beeinflussung der Gemütskräfte und des Willens ankommt. Für den Dichter ist das argumentierende Verfahren jener beiden andern ausgeschlossen; nun liegt aber der Fall so, daß die konkreten Verhältnisse, die der Reflexion und dem Ethos den Ursprung geben, viel zu ausgebreiteter und weitverzweigter Art und viel zu sehr der Einheit ermangelnd sind, als daß an ihre Verwendung als Darstellungsmittel im Gedichte gedacht werden könnte. Hier bedient sich nun die Kunst jenes unentbehrlichen Auskunftsmittels: an die Stelle der jenen abstrakten Reflexionen und jenen ethischen Zuständen in der Wirklichkeit entsprechenden und zu Grunde liegenden konkreten Verhältnisse und Vorgänge setzt sie andre, jenen ähnliche konkrete Verhältnisse und Vorgänge, welche eben durch diese Aehnlichkeitsmomente die Kraft haben dieselben Reflexionen und ethischen Zustände hervorzurufen, die aber vor ihren der Wirklichkeit angehörigen Vorbildern den Vorzug der Uebersichtlichkeit und Einheit haben. Es ist derselbe Weg, den auch der Mythus in solchem Falle mit Vorliebe einschlägt: es sei an das Urteil des Paris erinnert, oder an Herkules am Scheidewege oder an Christus und den Versucher, der ihm vom Felsen aus die Herrlichkeit der Welt zeigt. Wollte ein Dichter die Verhältnisse, Zustände und Entwickelungen, die Reflexionen und ethischen Bewegungen, welche hier in einen einzigen, schnell sich entscheidenden und leicht zu erfassenden Vorgang zusammengefaßt sind, mit den gewöhnlichen Mitteln poetischer Nachahmung darstellen, statt durch das Mittel der Allegorie, so würde dazu jedesmal ein eigenes, in größerem Maßstabe und auf breiter Grundlage komponiertes Werk erforderlich sein. Denn hier ist nun in der That Allegorie vorhanden; die Aehnlichkeit waltet hier nicht ob zwischen dem Darstellungsmittel und dem Dargestellten (wie fälschlich wohl oft angenommen wird), nicht also zwischen dem abstrakten Allgemeinen und dem konkreten Einzelnen ─ was ein Unding wäre ─, sondern zwischen zwei gesonderten konkreten Einzelnen, welche jedoch darin einander ähnlich sind, daß sie beide die Kraft besitzen jenes eine abstrakte Allgemeine zu vertreten; zwischen diesen beiden aber ist die Aehnlichkeit selbstverständlich möglich. Jedoch wird der Künstler sich des allegorischen Darstellungsmittels nur dann bedienen, wenn die reale, poetische Darstellungsweise unmöglich ist, oder doch an Kürze, Faßlichkeit und daher auch an Wirkungskraft von jener weit überboten wird; dann aber ist es ein dem Künstler ganz unentbehrliches Verfahren, das Geistige, was ihn erfüllt, nicht vermittelst desjenigen Konkreten nachahmend darzustellen, an welches es ursprünglich geknüpft ist, sondern durch ein anderes, ähnliches Konkretes, welchem die Fähigkeit beiwohnt oder erteilt werden kann, auf jenes Urbild hinzudeuten. Hierin liegt schon mit völliger Deutlichkeit die Bestimmung der Grenzen, innerhalb deren allein die Allegorie ihren künstlerischen Charakter bewahrt. Der allegorische Gegenstand oder Vorgang muß, entweder schon durch sich selbst oder doch durch die Belebung und ethische Beseelung, deren ihn der Dichter fähig zu machen weiß, imstande sein, auch ganz ohne die Vergleichung mit seinem realen Gegenbilde, an und für sich das Ethos zu erzeugen, dessen Nachahmung der Zweck des Gedichtes ist. Dann ist die Allegorie schön; denn sie erfüllt die Aufgabe der Kunst schon durch sich selbst, und, indem sie durch die ihr innewohnende Aehnlichkeit nun obendrein noch die Vorstellung des weit ausgedehnteren und vielumfassenden realen Urbildes erweckt, wird sie jener Aufgabe noch in einem ungleich höheren Grade gerecht. Aber jene erste Wirkung wird gänzlich aufgehoben und damit auch die Möglichkeit der zweiten von vornherein vernichtet, sobald die Allegorie den ethischen Gehalt nicht selbständig oder doch nur unvollständig besitzt, sondern ihn erst durch den äußeren Hinweis auf die Realität, für welche sie eintritt, er= halten soll; dann ist sie zugleich unzulänglich, überflüssig und unschön und aus jeder Kunst unbedingt zu verstoßen. Als eine Sammlung von Musterbeispielen solcher gänzlich fehlerhaften Allegorie kann z. B. der „ Theuerdank “ gelten; ebenso aber auch die Allegorieen, wie sie von Boileau und Pope angewandt wurden und von ihren deutschen Nachahmern, z. B. von Zachariä . Nach alledem muß die Definition der poetischen Allegorie folgendermaßen lauten: Sie ist die Nachahmung eines Gedankenethos durch die Darstellung nicht der dasselbe hervorrufenden konkreten Realität, sondern eines andern Konkreten, welches dasselbe in gedrängterer und einheitlicherer Form enthält, und eben dadurch einen solchen Grad der Aehnlichkeit mit jener Realität erlangt, daß es sowohl im Ganzen als in seinen Teilen auf dieselbe hinzuweisen vermag. Eine solche allegorische Darstellung entspricht völlig der Natur der Poesie, da sie zunächst auch ohne den Gedanken an das Allgemeine durch die bloße Darstellung des Besonderen ihre Wirkung thut. Wer jedoch dieses Besondere lebendig erfaßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, sogar vielleicht ohne es zunächst gewahr zu werden. Erschließt sich nun rückwärts aus diesem Allgemeinen noch weiter die Aussicht auf ein verwandtes aber höher geartetes und reicheres Besonderes, so steigert sich damit die Wirkung ins Unendliche. Genau das hier Gesagte scheint mir Goethe in einem seiner Sprüche in Prosa im Auge gehabt zu haben, nur daß er den Ausdruck Allegorie in jenem engeren Sinne der fehlerhaften Allegorie versteht: „Es ist ein großer Unterschied,“ sagt er, „ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im Besonderen das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder spät.“ Vgl. hierzu meine parallelen Ausführungen über diesen Gegenstand in der Schrift: „ Goethes Märchen, ein politisch=nationales Glaubensbekenntnis des Dichters “ (Königsberg bei Hartung 1875), S. 8 ff. Es bleibt noch übrig an den oben als hervorragende Beispiele für die allegorische Darstellung des Reflexions-Ethos citierten Gedichten die Probe zu machen. Der Genius ist zum Vollgefühl seiner Kraft und zu der freudigstolzen Erkenntnis seines Wesens erwacht! Jn der Gewißheit des mächtigen Vermögens, das er in immer gesteigertem Gelingen erprobt hat, erscheint ihm seine Laufbahn, die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft, als eine herrliche Einheit, welche in ihrer folgerichtigen Entfaltung durch nichts aufgehalten werden kann. Von dem Gipfel des errungenen Vertrauens in sich selbst entdeckt sich nun in plötzlich verbreitetem Lichte dem Genius sein eigenes Werden, welches ihm bis dahin ein Geheimnis war; von Anbeginn liegt nun sein Lauf vor ihm, und in triumphierender Zuversicht sieht er diesen Lauf mit der Gewalt und Notwendigkeit einer Naturkraft sich bis zu seinem glorreichen Ende fortsetzen. Dieses Ethos ist es, welches die von titanischen Entwürfen geschwellte Brust des Dichters des Götz und Werther erfüllt, und das nach einer Form des Ausdrucks verlangt. Für dieses „ sublimi feriam sidera vertice “ gibt es aber schwerlich irgend eine Form des Ausdrucks, welche so angemessen und zugleich so hochpoetisch wäre als die Allegorie, denn hierbei bleibt erstlich die Person des Dichters ganz aus dem Spiele und das Ethos kommt rein und objektiv zur Darstellung, und sodann wird es statt abstrakt beschrieben zu werden, durch die Anschauung Herz und Gemüt erhebender und bewegender Bilder und Vorgänge vermittelt. Eine solche Wirkung hat von jeher der Anblick eines mächtigen Stromes, in allen Teilen seines Laufes von der Quelle bis zum Meere, auf alle Beschauer ausgeübt. Den Alten verkörperte sich dieses Ethos in den Mythen von ihren Flußgöttern; der moderne Dichter ist von demselben schöpferischen Geiste getrieben, indem er überall der körperlichen Erscheinung eine Seele leiht und die Bewegungen der Materie als Willensakte vorstellt. So bleibt er vor allem dem poetischen Grundgesetze getreu, in die Schilderung der körperlichen Natur und ihrer Bewegung nur einzutreten, insofern sie psychische und ethische Vorgänge zu erwecken imstande ist, und insofern sie durch sich selbst dazu fähig ist; was von außen her willkürlich hinzugethan wird um diese Fähigkeit zu erhöhen, fördert die Wirkung nicht, sondern hebt sie auf. Gelingt es nun hier dem Dichter, daß, indem er der Natur seines Objektes durchaus treu bleibt, er zugleich doch eine solche Reihe von Momenten in der Darstellung desselben hervorhebt, welche durch eine schlagende Aehnlichkeit an jene ganz persönlichen und doch zugleich typischallgemeinen Verhältnisse erinnern, die ursprünglich in ihm das treibende Ethos entzündeten, so ist er der höchsten Wirkung sicher. So geschieht es in dem vorliegenden Gedicht: Seht den Felsenquell, Freudehell Wie ein Sternenblick; Ueber Wolken Nährten seine Jugend Gute Geister Zwischen Klippen im Gebüsch. Die sonnigen Kindertage des begünstigten Genius ─ und warum nicht des Dichters eigene? ─ und zugleich der Hinweis auf seinen geheimnisvollen Ursprung, von welchem dem menschlichen Auge denn doch soviel sich entdeckt, daß besondere und durch Generationen vererbte Güte und Trefflichkeit um seine Wiege stehen und „seine Jugend nähren“ mußte! Jünglingfrisch Tanzt er aus der Wolke Auf die Marmorfelsen nieder, Jauchzet wieder Nach dem Himmel. Durch die Gipfelgänge Jagt er bunten Kieseln nach, Und mit frühem Führertritt Reißt er seine Bruderquellen Mit sich fort. Jn den Knabenspielen überall die freudig emporstrebende Flamme einer üppig reichen, aber immer dem Höchsten zugewandten Phantasie und damit die angeborene Führerschaft über die Genossen, in denen er ähnliche Bestrebungen weckt, die ohne ihn doch kraftlos stocken und versiegen würden! Drunten werden in dem Thal Unter seinem Fußtritt Blumen, Und die Wiese Lebt von seinem Hauch. Es klingt wie die Signatur seiner poesievollen Jünglingsjahre, der Leipziger, Frankfurter und ersten Straßburger Zeit! Nun ist er in das breitere Leben getreten, und wie ist da jede, auch nur flüchtige Beziehung, in die er eintrat, bezeichnet durch das Emporsprießen der reizvollsten Blüten der Poesie, die „unter seinem Fußtritt wurden“, und wie „lebt“ alles, was er damals berührte, unsterblich fort, durch seinen Hauch geadelt! Doch ihn hält kein Schattenthal, Keine Blumen, Die ihm seine Knie umschlingen, Jhm mit Liebesaugen schmeicheln; Nach der Eb'ne dringt sein Lauf Schlangenwandelnd. Die liebliche Jdylle, welche ihn mit dem Schönsten umgab, was das in beschränktem Kreise Genüge findende Herz sich ersehnen kann, und die er selbst mit dem Köstlichsten geschmückt hat, was er in sich hatte, vermag ihn nicht aufzuhalten. Zugleich ist die innere Fülle übermächtig angeschwollen und durch mannigfaltige neue Entwickelungen, die ihn bald von seiner Bahn ablenken, bald mit desto größerer Kraft zu ihr zurückführen, drängt es ihn vorwärts der immer weiter verbreiteten, ihm bestimmten, großen Wirksamkeit zu: „nach der Eb'ne dringt sein Lauf, schlangenwandelnd!“ Bäche schmiegen Sich gesellig an. Nun tritt er Jn die Eb'ne silberprangend, Und die Eb'ne prangt mit ihm, Und die Flüsse von der Eb'ne Und die Bäche von den Bergen Jauchzen ihm und rufen: Bruder! Bruder, nimm die Brüder mit, Mit zu deinem alten Vater, Zu dem ew'gen Ocean, Der mit ausgespannten Armen Unser wartet, Die sich, ach! vergebens öffnen, Seine Sehnenden zu fassen; Denn uns frißt in öder Wüste Gier'ger Sand; die Sonne droben Saugt an unserm Blut; ein Hügel Hemmet uns zum Teiche. Bruder, Nimm die Brüder von der Eb'ne, Nimm die Brüder von den Bergen Mit, zu deinem Vater, mit! Jetzt beginnt er seine Sendung zu erfüllen: zuerst folgen nur die zunächst ihn Umgebenden seiner fortreißenden Führung; bald aber erweckt sein leuchtendes Beispiel von überallher die geringeren Talente, sich dem gleichen Streben mit ihm zu weihen. Wie lange hatten die Kräfte sich vergebens gemüht das klassische Jdeal iu der Poesie zu erreichen! Jn der angeerbten Furchtsamkeit vor den engen Schranken der Konvenienz waren sie erlahmt und verkümmert, falsch verstandene Regeln hatten ihnen die Bahn versperrt. Nun riß sie dieser mächtige Genius mit sich fort, der mit zaubergewaltiger Sprache gleichsam die Natur seinem Zeitalter erschloß und aller zartesten und stärksten Empfindung freie Bahn schuf. Kommt ihr alle! ─ Wie fluteten damals im Sturm und Drange die Gewässer in das eröffnete Bett! Dennoch hat die folgende Zeit das stolze Bild des Triumphes, das in prophetischem Gesichte sich ihm zeigte, zur Wahrheit gemacht. Noch lag mehr als ein halbes Jahrhundert seiner Laufbahn vor ihm, und welch eine Fülle der herrlichsten Schöpfungen hinterließ dieses unvergleichliche Leben, jede nicht nur ein stolzes nationales Denkmal, sondern ein fortwirkender lebendiger Organismus, ausgestattet mit der Kraft, unaufhörlich weiter die Nation zu erziehen, zu veredeln, neue geistige Wirksamkeit in ihr zu erwecken! Und nun schwillt er Herrlicher; ein ganz Geschlechte Trägt den Fürsten hoch empor, Und im rollenden Triumphe Giebt er Ländern Namen, Städte Werden unter seinem Fuß. Wie schön auch das Anerkenntnis, daß selbst das größte Genie zu seinem höchsten Vermögen erst gelangt, indem es bereitwillig jeden Zuwachs aus den Leistungen der Mitstrebenden in sich aufnimmt! Er allein aber vermag es, bis zum Ziele vorzudringen, zu dem er die ganze Epoche mit sich fortträgt. Unaufhaltsam rauscht er weiter, Läßt der Türme Flammengipfel, Marmorhäuser, eine Schöpfung Seiner Fülle, hinter sich. Cedernhäuser trägt der Atlas Auf den Riesenschultern; sausend Wehen über seinem Haupte Tausend Flaggen durch die Lüfte, Zeugen seiner Herrlichkeit. Und so trägt er seine Brüder, Seine Schätze, seine Kinder Dem erwartenden Erzeuger Freudebrausend an das Herz. Ganz genau derselbe Nachweis läßt sich für das Gedicht „ Seefahrt “ führen: eine Zug für Zug durchgeführte, allegorische Darstellung von ethischen Zuständen, wie sie durch die ganz individuellen Lebensverhältnisse des Dichters in ihm hervorgebracht waren. Das Gedicht entstammt dem Herbste des Jahres 1776; noch war kein volles Jahr verflossen, seitdem der Dichter sich dem gefährlichen Element des Hoflebens an der Seite eines leidenschaftlichen jungen Fürsten anvertraut hatte. Bis in die kleinsten Züge hat er nun in dem Bilde der Seefahrt die Empfindungen und Gemütsverfassungen, mit denen jenes Verhältnis ihn bewegte, wiederzuspiegeln gewußt. Die lange Zeit des vergeblichen Harrens, nachdem nun definitiv die weimarische Einladung angenommen war, die drängende Ungeduld der Freunde und die ungemessenen Hoffnungen, deren schnelle Erfüllung sie von jener Reise erwarteten, endlich der von ihren frohen und zuversichtlichen Segenswünschen begleitete Aufbruch: alles das in dem ungezwungensten und belebtesten Bilde vereinigt. Und vollends die folgenden Strophen: in gedrängtester Kürze meint man hier einen getreuen Abriß von dem Verhalten vor Augen zu haben, wie es Goethe in den stürmischen Tagen der Weimarer Geniezeit sich vorgezeichnet hatte und wie er dasselbe in dem köstlichen Gedicht „Jlmenau“ später ausführlicher geschildert hat. Wie der kluge Schiffer gegen die widrigen Winde kreuzt um vorwärts zu kommen, so scheint er dem tollen Treiben „sich hinzugeben“, doch: Strebet leise sie zu überlisten, Treu dem Zweck auch auf dem schiefen Wege. Aber heftiger schwillt das Wüten der Leidenschaft an, und auf nutzlosen Widerstand verzichtend, gibt er das Schifflein eine Zeit lang den stürmischen Wellen preis. Jst es nicht, als ob man den Chorus der näher und ferner stehenden Freunde nun hörte, mit ihren Befürchtungen, Warnungen, ihren mißtrauischen Klagen: Und an jenem Ufer drüben stehen Freund' und Lieben, beben auf dem Festen: Ach, warum ist er nicht hier geblieben! Ach, der Sturm! Verschlagen weg vom Glücke! Soll der Gute so zu Grunde gehen? Ach, er sollte, ach, er könnte! Götter! Und endlich das Grundethos des Ganzen, der feste, freudige Lebensmut, das unerschütterliche Vertrauen in sich selbst und in die Zukunft, in den herrlichen Schlußversen: Doch er stehet männlich an dem Steuer; Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen, Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen; Herrschend blickt er auf die grimme Tiefe Und vertrauet scheiternd oder landend Seinen Göttern. Auf Widerspruch könnte es stoßen, wenn als ein drittes Beispiel solcher allegorischen Dichtungsweise die Fabel „Adler und Taube“ an= geführt wurde. Eine gute Fabel kann ja nach Lessing nicht allegorisch sein. Gewiß nicht, sofern man die allegorische Aehnlichkeit zwischen der Handlung der Fabel und ihrem allgemeingültigen abstrakten Jnhalt sucht. Aber jene Aehnlichkeit besteht vielmehr zwischen dieser Handlung und den eigenen Erlebnissen, die das Ethos der Fabel in dem Dichter erweckten; und wenn sich hier die ganz speziell den Anlaß gebenden Beziehungen auch nicht überzeugend nachweisen lassen, so liegt dafür die Grundbeziehung um so klarer am Tage. Wir wissen, wie schwer der Dichter an der hier dargestellten ethischen Gemütslage zu tragen hatte. Für den mit der Goetheschen Dichtungsweise Vertrauten möchte es aber nicht zweifelhaft sein, daß auch der spezielle Hergang der Handlung in dem Gedichte nicht lediglich fiktiv ist, sondern den Hinweis auf eine bestimmte erlebte Situation enthält. Eine Vermutung wird erlaubt sein, durch welche sicherlich die Auffassung des Gedichtes an Lebendigkeit gewänne. Man erinnert sich aus Goethes Lebensbeschreibung, wie tief ihn die reumütige Erinnerung an die Sesenheimer Verlassene niederdrückte, zu der zurückzukehren er gleichwohl durch einen übermächtigen Zug seiner innersten Natur sich gehindert fühlte, wie er die schmerzliche Trauer damals zeitweise als eine Lähmung aller seiner Kraft empfand: Zuletzt heilt ihn Allgegenwärt'ger Balsam Allheilender Natur. Es war nicht lange darnach, als er in Darmstadt ein häufiger Augenzeuge des idyllischen und sentimental=zärtlichen Liebesgetändels zwischen Herder und seiner Braut Karoline war; bei dem starken Hange jener beiden zum Moralisieren und zu einer gewissen tugendstolzen Ueberhebung wird es an ernsten Vorwürfen und wohlmeinenden Ratschlägen an den Freund in Bezug auf das ohne Zweifel ihnen bekannte Sesenheimer Verhältnis schwerlich gefehlt haben: die Empfindungen des Dichters gegenüber solchen Anmahnungen, die stark ironisch gefärbte Darstellung derselben, die treffende Abfertigung, nicht nur gegen jene gewandt, sondern schwererwiegend die Rechtfertigung vor sich selbst, soweit eine solche möglich, alles das ist vollständig, überzeugend und ergreifend in dem Gedichte enthalten, welches daher mit vollem Rechte jener allegorischen Gattung zuzurechnen ist. Nun aber noch das Eine, was für diese Gattung, wie in seiner Weise für jede andere gilt! Dichterisch empfunden und dargestellt würden alle diese Gedichte sein, auch wenn sie nichts weiter enthielten als in allegorischem Gewande das Ethos des Dichters, welches den individuellen Reflexionen über seine eigene Lage und Verhältnisse entsprungen ist; viele auch unter den bedeutenderen Dichtern sind hierbei stehen geblieben, es seien nur die hervorragendsten genannt: Byron und Heine. Das Zeichen einer wahrhaft großen Dichtung aber ist es, daß das Ethos, welches die Jndividualität des Dichters bezeichnet, zugleich der höchsten Vorstellung der menschlichen Gattung entspreche und so durch seine typische Geltung zugleich die Allgemeinheit und die erhebende und läuternde Kraft seiner Wirkung empfange. ────── VIII. Dehnt man die auf die gnomische Dichtung angewandte Betrachtungsweise auf die satirisch=humoristische Poesie aus, so ergibt sich, so unerwartet das sein mag, daß die Gesetze, unter denen sie steht, der Gattung nach dieselben sind wie bei jener, und daß zwischen beiden nur Art-Unterschiede stattfinden. Die satirisch=humoristische Poesie erweist sich daher als eine Abzweigung der gnomischen. Noch augenfälliger wie bei der gnomischen Dichtung tritt hier die Mannigfaltigkeit der Darstellungsmittel hervor, welche zwischen dem lyrischen und epischen Charakter zu schwanken und daher eine bestimmte Klassifikation dieser Gattung zu erschweren scheinen. Denn wie jene kann die satirisch=humoristische Dichtung bald schlechthin reflektierend sich verhalten, bald eine Reihe sachlich unzusammenhängender, nur durch den Faden der Betrachtung vereinigter, Bilder und Vorgänge verwenden, bald sich der Darstellung einer einzigen und einheitlichen Handlung bedienen; ganz wie jene ist sie der dramatischen Lebendigkeit fähig und bedarf ebenso wie sie unter Umständen mit Notwendigkeit der allegorischen Verkleidung. Jn den Mustern der Gattung, den Horazischen Satiren, sind diese Darstellungsweisen sämtlich verwendet; als Beispiele dienen ferner Dichtungen wie Schillers „ Jeremiade “, „ Shakespeares Schatten “, „ Teilung der Erde “, „ Pegasus im Joche “, oder „ Goethes Episteln “ und der größte Teil der unter der Ueberschrift „ Parabolisch “ vereinigten Gedichte; es sei auch auf Schillers satirische Jugendgedichte hingewiesen und auf Bürgers Versuche auf diesem Felde, z. B. das Gedicht vom „ Vogel Urselbst “. Die beiden Hauptpunkte, in denen die generelle Aehnlichkeit der satirisch=humoristischen Dichtung mit der gnomischen stattfindet, sind diese: daß in jener wie in dieser der Gegenstand der Nachahmung die Hervor= bringung eines Ethos ist, und daß in beiden dieses Ziel weder unmittelbar erreicht wird, noch auch indirekt durch die Schilderung von Dingen oder die Erzählung von Handlungen, wie in der Lyrik, sondern immer erst durch das Mittel der Reflexion über dieselben; hier wie dort können die Gedanken, welche das Ethos erzeugen, ebensowohl allgemeiner Natur sein, als an einzelnen Fällen der Anschauung vorgegeführt werden, oder endlich, vermittelst der zwischen solchen und gewissen konkreten Dingen obwaltenden Analogien, allegorisch vertreten werden. Mit der gnomischen Poesie gemeinsam also hat die Satire den Gedanken als das die Nachahmung bewirkende Medium; der artbildende Unterschied besteht darin, daß die erstere das nachzuahmende Ethos selbst hervorbringt, die letztere dasselbe durch die ideelle Vorstellung seines Widerspiels zu erzeugen strebt. Ein ganz ähnliches Grundverhältnis findet bei der humoristischen Poesie statt. Das Beste über den Gegenstand hat Schiller in der Abhandlung „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ gesagt, und was sich dort findet, stimmt dem Sinn nach vollkommen mit dem oben Entwickelten überein. Dort heißt es: Vgl. Hempelsche Ausgabe, Bd. 15, S. 497. „Der sentimentalische Dichter reflektiert über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen, und nur auf jene Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er selbst versetzt wird und uns versetzt. Der Gegenstand wird hier auf eine Jdee bezogen und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichterische Kraft. Der sentimentalische Dichter hat es daher immer mit zwei streitenden Vorstellungen und Empfindungen, mit der Wirklichkeit als Grenze und mit seiner Jdee als dem Unendlichen zu thun, und das gemischte Gefühl, das er erregt, wird immer von dieser doppelten Quelle zeugen.“ Je nachdem nun das eine oder das andere Princip in der Empfindung des Dichters überwiegen wird, „wird also seine Darstellung entweder satirisch, oder sie wird (in einer weiteren Bedeutung dieses Wortes) elegisch sein“. „Satirisch ist der Dichter, wenn er die Entfernung von der Natur und den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Jdeale (in der Wirkung auf das Gemüt kommt beides auf eins hinaus) zu seinem Gegenstande macht.“ Wenn aus diesen Sätzen hervorgeht, daß Schiller sich die satirische Dichtung als auf dem Gedanken beruhend und in ihrer Wirkung durchaus „auf Reflexion gegründet“ vorstellt, so beweist die ganze Haltung des Folgenden, und zahlreiche Stellen sprechen es geradezu aus, daß er sich diese Wirkung selbst als die Reproduktion eines bei dem Dichter unumgänglich erforderlichen Gemütszustandes denkt, also als eben das, was im Obigen Nachahmung eines Ethos genannt ist. So, wenn es in betreff der strafenden oder pathetischen Satire heißt: „Bei der Darstellung empörender Wirklichkeit kommt Alles darauf an, daß das Notwendige der Grund sei, auf welchem der Dichter oder der Erzähler das Wirkliche aufträgt, daß er unser Gemüt für Jdeen zu stimmen wisse. Stehen wir nur hoch in der Beurteilung, so hat es nichts zu sagen, wenn auch der Gegenstand tief und niedrig unter uns zurückbleibt ..... Die pathetische Satire muß also jederzeit aus einem Gemüte fließen, welches von dem Jdeale lebhaft durchdrungen ist. “ Und weiterhin: „Die äußern und zufälligen Einflüsse, welche immer einschränkend wirken, dürfen höchstens nur die Richtung bestimmen, niemals den Jnhalt der Begeisterung hergeben. Dieser muß in allem derselbe sein und, rein von jedem äußeren Bedürfnis, aus einem glühenden Triebe für das Jdeal hervorfließen, welcher durchaus der einzig wahre Beruf zu dem satirischen wie überhaupt zu dem sentimentalischen Dichter ist.“ „Wenn die pathetische Satire nur erhabene Seelen kleidet, so kann die spottende Satire nur einem schönen Herzen gelingen .....“ „Nur dem schönen Herzen ist es verliehen, unabhängig von dem Gegenstand seines Wirkens in jeder seiner Aeußerungen ein vollendetes Bild von sich selbst abzuprägen. Der erhabene Charakter kann sich nur in einzelnen Siegen über den Widerstand der Sinne, nur in gewissen Momenten des Schwunges und einer augenblicklichen Anstrengung kundthun; in der schönen Seele hingegen wirkt das Jdeal als Natur, also gleichförmig, und kann mithin auch in einem Zustand der Ruhe sich zeigen. Das tiefe Meer erscheint am erhabensten in seiner Bewegung, der klare Bach am schönsten in seinem ruhigen Lauf.“ Es ist klar, daß, was Schiller hier Begeisterung, Trieb für das Jdeal, erhabene Seele, schönes Herz oder schöne Seele nennt, samt und sonders unter den Begriff des Ethos fällt, wie er im Obigem definiert ist; an die Stelle jener verschiedenartigen und einer präcisen Feststellung sich entziehenden Bezeichnungen tritt damit ein einheitlicher Begriff, welcher den Vorzug besitzt, für jeden Fall sich mit einem klar und fest zu bestimmenden Jnhalt erfüllen zu lassen und zudem auch für alle Fälle anwendbar zu sein, während Schillers Räsonnement nur dem Jdeal der satirischen Dichtung gilt und für alle tieferen Stufen derselben Ausnahmen statuieren muß. Jenes klassische Jdeal, von welchem Schiller handelt, würden diejenigen satirischen und humoristischen Dichtungen erreichen, in denen das jedesmal nachgeahmte Ethos nicht ein lediglich individuelles oder gar pathologisches wäre, sondern in seiner Art vorbildlich, der Natur der Seele gemäß und der höchsten Vorstellung der Menschlichkeit entsprechend; die minderwertige Beschaffenheit des durch die Nachahmung reproduzierten Ethos würde der sichere Gradmesser für den der einzelnen Dichtung anzuweisenden Rang bilden. Demgemäß wäre also der Grundcharakter der Satire nicht episch, der Satz, daß Handlung der Gegenstand der poetischen Nachahmung sei, träfe auch bei ihr nicht zu, wenn sie freilich auch der Darstellung von Handlungen als eines Mittels unter anderen sich sehr wohl bedienen kann. Das Wesentliche für diese Dichtungsart ist der Ausdruck der Meinung des Dichters, sei es, daß er sich dazu der Darstellung der bloßen Reflexion oder einer dieselbe zur Anschauung bringenden Handlung bedient; künstlerisch aber und also im eigentlichen Sinne poetisch wird solcher Meinungsausdruck erst insofern, als er, ein Ethos des Dichters nachahmend, dasselbe wiederum in der Seele der Hörer zu erregen vermögend ist; er erfüllt die höchste Aufgabe der Poesie, sobald dieses Ethos geeignet ist den Adel und Reichtum der Seele zu erhöhen. Das Eigentümliche der Satire aber erwies sich darin, daß sie das Ethos nicht direkt hervorbringt, wie die gnomische und die Reflexions= Poesie, sondern indirekt, vermöge eines Vorganges in der Seele, welcher als eine Art von Katharsis zu bezeichnen ist. Alle echte Satire, und ebenso aller echte Humor, finden ihren Gegenstand auf jenem Grenzgebiete zwischen dem Wahren und Falschen, dem Guten und Schlechten, dem Nützlichen und Schädlichen, Geziemenden und Ungeziemenden, Schönen und Häßlichen, und wie die Gegensätze alle lauten mögen, wo durch die das Erscheinen der Gegenstände und Ereignisse begleitenden und bedingenden Umstände das Urteil schwankend gemacht und leicht oder doch häufig in verkehrte Richtung gelenkt oder durch fehlerhafte Neigung und Gewohnheit überstimmt wird. Das absolut Wahre und Gute, wie das absolut Böse und Falsche stehen außerhalb des der Satire gehörigen Gebietes, nur wo es durch ihm zugesellte entgegengesetzte Momente wenigstens teilweise aufgehoben wird oder doch als thatsächlich so erscheinend vorausgesetzt werden kann, ist es der satirischen oder humoristischen Behandlung fähig. Der dialektische Prozeß freilich, auf Grund dessen die Entscheidung in jenen Fällen des schwankenden Urteiles getroffen wird, gehört der theoretischen Thätigkeit des wissenschaftlichen Denkens oder der beratenden des praktischen Lebens an; für den Dichter muß sie als ein feststehendes Resultat vorhanden sein, und was seiner Dichtung den Ursprung gibt und durch dieselbe wiederum hervorgebracht werden soll, das ist eben die aus jener Ueberzeugung quellende Gemütsbeschaffenheit und Seelenstimmung, das der besondern Natur jener Ueberzeugung entsprechende Ethos. Durch die Vorführung jener dieses hervorzurufen, ist also die Aufgabe, und zwar, wie schon gesagt, durch indirekte Vorführung derselben. Das kann auf zweierlei Weise geschehen: Entweder, indem das Negative, seiner positiven Beimischung oder des Scheines derselben entäußert, als das dargestellt wird, was es ist, und durch diese Klarstellung das richtige Urteil über das, was als das Positive Geltung verlangt, hervorgebracht wird. Oder, indem umgekehrt das vorwiegend Positive von seiner negativen Beimischung oder von dem Scheine derselben befreit und als das, was es ist, dem Urteil kenntlich gemacht wird und zwar gerade dadurch, daß es mit dieser negativen Beimischung auftritt, und das Unvermögen derselben jenes Urteil zu beeinträchtigen augenscheinlich wird. Das erstere Verfahren ist vorwiegend der Satire eigen, das letztere vorwiegend dem Humor; doch kann weder dieser noch jene darauf verzichten, sich zugleich auch des andern Verfahrens zu bedienen, ohne die Gefahr einseitig zu bleiben. Jede dieser beiden Verfahrungsweisen schließt nun aber in sich wieder die Möglichkeit einer Umkehrung ein. Gegenüber der Austerität des Urteils, welches an dem überwiegend Negativen nur dieses ins Auge faßt, kann die Darstellung zu Gunsten der Gerechtigkeit und Billigkeit die positive Beimischung hervorheben, und andrerseits gegenüber dem Optimismus, der nichts als das Positive sehen will, zu Gunsten des Gleichgewichts und vorurteilsloser Klarheit auf die anhaftenden negativen Elemente hinweisen, ohne welche in der Welt der wirklichen Erscheinungen auch dieses nicht zu denken ist. Hier werden die Rollen vertauscht sein: das letztere ist vorwiegend das Werk der Satire, das erstere das des Humors, jedoch so, daß sie, ganz wie im ersten Falle, einander wechselseitig nicht entbehren können, ohne von ihrer vollen Wirkung ein Beträchtliches einzubüßen. Jn allen diesen Fällen handelt es sich also um einen Läuterungsprozeß, welcher überall darin besteht, durch die Evidenz des falschen Urteils das richtige zur Reinheit von den Trübungen herzustellen, die es von beiden entgegengesetzten Seiten bedrohen. Es wurde aber schon hervorgehoben, daß diese Katharsis nicht auf dem Gebiete und durch die Mittel des logischen Denkens zu erfolgen hat, sondern daß ihr Schauplatz das Gemüt ist, die Kräfte, durch welche sie sich vollzieht, Erregungen der Empfindung und die Wirkungen, die sie erzielt, bestimmte Gemütsbeschaffenheiten, Seelenzustände ─ Arten von Ethos. Diese Arten von Ethos können sehr mannigfaltig sein, da sie von der Natur des Gegenstandes abhängen, welcher in dem Dichter das ihn zur künstlerischen Nachahmung treibende Ethos erregt. Nicht so jedoch ist es mit den Empfindungsvorgängen beschaffen, vermittelst deren jene kathartische Wirkung erreicht wird; diese sind vielmehr in allen Fällen der Anwendung von Satire und Humor ein und dieselben, verschieden ist nur das Stärkeverhältnis, in dem sie auftreten und sich miteinander mischen. Welches nun aber diese Empfindungsvorgänge sind, wird sich aus der Natur der kathartischen Prozesse, bei denen sie in Wirksamkeit treten, nachweisen lassen. Alle vier oben entwickelten Fälle haben gemeinsam, daß sie das Fehlerhafte, oder wie es dort allgemeiner bezeichnet wurde, Negatives, darstellen; und zwar tritt entweder das Fehlerhafte dem Augenscheine als das, was es ist, entgegen und erweckt dadurch die Kontrastvorstellung des Richtigen, oder es wird als dem im Grunde Guten und Tüchtigen anhaftend entdeckt und tritt so zu diesem selbst in Gegensatz. Jn diesen beiden Fällen wird durch den augenfälligen Kontrast der mangelhaften Erscheinung mit der durch dieselbe zugleich in der Vorstellung hervorgebrachten Ueberzeugung vom Richtigen die Empfindung des Lächerlichen erzeugt, zugleich mit ihr, aber schwächer als sie, das Wohlgefallen an der Darstellung des Rechten. Jn den beiden andern Fällen dagegen wird das dem Guten und Tüchtigen anhaftende Mangelhafte zwar auch dargestellt, aber umgekehrt so, daß trotz der erregten Kontrastvorstellung jenes rein zur Empfindung gebracht und damit diese überwunden wird; oder die Darstellung führt das Mangelhafte vor, aber so daß, indem es ihr gelingt daran Elemente des Guten und Tüchtigen aufzufinden, sie den Kontrast desselben gegen das Richtige teilweise aufhebt oder doch wenigstens mildert. Hier wird beidemal die vorwiegende Empfindung des Wohlgefallens an der vermittelst jener Kontrastwirkungen erweckten reineren Vorstellung des Rechten hervorgebracht, zugleich aber mit ihr, wenn auch schwächer, die Empfindung des Lächerlichen durch jene Kontrastvorstellungen selbst. Beide Empfindungen sind also wirksam um die Läuterung derjenigen Vorstellungen, Meinungen und Urteile zu vollziehen, durch deren Mitteilung die Nachahmung des den Dichter erfüllenden Ethos geschieht. Es ergibt sich ferner, daß die erste Gruppe, die satirischen Wirkungen, und die zweite, die humoristischen, geeignet sind sich wechselsweise zu ergänzen, und daß beide, sobald sie vereinzelt auftreten, notwendig einseitig bleiben müssen. Die Satire für sich allein ist auf Tadel und Vorwurf gerichtet und begünstigt die Schärfe und Schonungslosigkeit des Urteils; der Humor für sich allein ist vom Wohlwollen eingegeben und zur Milde geneigt, er verfällt daher leicht einer zu großen Weichheit und einer zu starken Begünstigung des Rührenden: beide Extreme können nur dadurch vermieden werden, daß der Satire sich genug von dem mildernden Humor hinzugesellt, um sie vor tendenziöser Heftigkeit zu bewahren und ihr so die künstlerische Freiheit zu erhalten, und dem Humor genug von der schärfenden und klärenden Satire, um ihn vor Zerflossenheit zu schützen und ihm so die künstlerische Würde zu bewahren. Jn dem einen Falle wird damit die Empfindung des Lächerlichen, in dem andern die des Wohlgefälligen eine Verstärkung erhalten, immer aber werden beide zugleich in Thätigkeit gesetzt, so daß sie aneinander einen reciproken Läuterungsprozeß vollziehen ─ eine Katharsis, in ganz analoger Weise wie die der durch die Tragödie in Wirksamkeit gesetzten Furcht- und Mitleidempfindungen. Was dadurch bewirkt wird, ist die Herstellung eines wohlthuenden und heiteren Gleichmaßes der Gemütskräfte, welches darauf beruht, daß die rechten Kräfte am rechten Orte in der rechten Weise thätig sind ─ die Bedingung der echten Freude, der Hedone, welche der letzte Zweck jeder Kunstwirkung ist. Je nach der Natur des Gegenstandes der humoristisch=satirischen Dichtung wirken dazu im höheren Maße die durch die dargestellten Mängel erregten Empfindungen des Lächerlichen mit oder die trotz derselben obsiegenden Empfindungen des Wohlgefallens. Das Mischungsverhältnis beider ist also kein zufälliges oder willkürliches, sondern in einem jeden Fall durch das Objekt einerseits und andrerseits durch die Stellung des Subjektes zu demselben genau bestimmt. Hiervon hängt auch die Beschaffenheit des Ethos ab, zu dessen Nachahmung die humoristisch=satirische Dichtung sich der Wirkung jener beiden Empfindungen bedient. Eine technische Frage aber ist es, ob es dem Dichter zweckmäßig erscheint, die jene Empfindungen hervorrufenden Meinungen und Urteile geradehin vorzuführen oder sie durch Erzählung einzelner Fälle anschaulich zu machen, oder durch allegorische Analogien ihnen zur Evidenz zu verhelfen oder endlich sich aller dieser Mittel abwechselnd zu bedienen. Die Definition derjenigen in sich abgeschlossenen Dichtungsart, welche man „ Satire “ zu benennen pflegt, läßt sich demgemäß folgendermaßen formulieren: Die „ Satire “ ist die Nachahmung eines Ethos vermittelst der einander wechselsweise klärenden Empfindungen des Lächerlichen und des Wohlgefälligen, welche durch die Vorführung des fehlerhaften Widerspieles der diesem Ethos zu Grunde liegenden Gesinnungen, Meinungen oder Ueberzeugungen erregt werden. Diese Definition ist zugleich die der humoristisch=satirischen Dichtung überhaupt, deren vollkommenste Anwendung eben die im engeren Sinne sogenannte „ Satire “ ist, während je nach dem Vorwalten der verschiedenen Eigentümlichkeiten der Gattung eine Menge von Ab- und Unterarten sich neben der eigentlichen Satire als der Hauptgattung zugehörig unterscheiden lassen. Als Musterbeispiel möge von den Horazischen Satiren die vierte des ersten Buches dienen („ Eupolis atque Cratinus Aristophanesque poetae “), um so mehr als hier der Charakter des Satiren schreibenden Dichters selbst der Gegenstand des Gedichtes ist. Der dichterische Jnhalt dieses mit vieler Feinheit ausgearbeiteten und reich ausgestatteten Stückes, das also, was der Dichter aus dem eigenen Jnnern dargestellt, um es nachahmend bei seinen Lesern zu erwecken, ist das Bekenntnis des satirischen Dichters von der Gesinnungsweise, mit der er dem Leben gegenübersteht und die ihn zum satirischen Gedichte treibt; natürlich ist dieses Bekenntnis nicht ein lediglich individuelles, sondern es ist die Darstellung des „ Ethos “, mit welchen der gerecht und billig Denkende, zugleich freimütig und freundlich Gesinnte die Mängel der Freunde, die Fehler der Feinde, die Verkehrtheiten und Verbrechen der Gesellschaft ansieht, und das die Klarheit des Urteils darüber ihm zu einem Mittel der Sebsterkenntnis und Selbstzucht werden läßt. Jn solcher Lebensanschauung fühlt er sich glücklich und heiter; und wenn nun diese innere Klarheit und Harmonie ihn dazu drängt, seinen Betrachtungen auch für Andere Gestalt zu geben, so geschieht das mit ebensoviel Witz und Jronie in der satirischen Verspottung des Negativen, als mit Anmut und schalkhaftem Humor in dem Hinweis auf die auch dem entgegengesetzten Positiven anhaftenden Schwächen. Mit der Berufung auf die Freiheit der alten griechischen und römischen Satire beginnt er seine Verteidigung der von ihm so besonders geliebten und seinem Geiste so verwandten Dichtungsart. Eine geschickte Seitenwendung gibt ihm Gelegenheit zu einem witzigen Ausfall gegen die Vielschreiber, denen er willig das Feld überläßt; selten nur und wenig erhebt er seine Stimme, und selbst dies Wenige vermag sich keine Gunst zu erwerben. Der Mehrzahl ist die Satire unbequem oder gar verhaßt, weil sie, der eigenen Schuld bewußt, ihren Stachel fürchtet; die Andern wollen von ihm als Dichter nichts wissen, weil sie in seinen Satiren nichts erblicken als Schmähsucht und die Lust auf fremde Kosten witzig zu erscheinen. Mit der feinsten Jronie fertigt er, indem er scheinbar nur gegen diese sich verteidigt, zugleich eine andere Klasse von Gegnern ab; indem er nämlich jenen entgegenhält, daß er auf den Namen eines Dichters ja gar keinen Anspruch erheben könne, führt er die Gründe, mit welchen die Beschränktheit dieser Andern ihm wohl den Beruf dazu abzusprechen pflegte, scheinbar als seine eigenen an, so jedoch, daß die Abgeschmacktheit derselben dem Einsichtigen sofort in die Augen springt. Jhm fehlt das os magna sonaturum , und seine dem Gesprächstone sich nähernde Rede bewegt sich nicht auf Schritt und Tritt in stolz einherschreitenden Metaphern! Es gebe ja ebenso auch Leute, welche der Komödie den Rang einer Dichtung abstreiten! Und warum? Weil sie Dinge des gewöhnlichen Lebens in einer Form behandelt, die doch einzig und allein denselben angemessen ist! Eine ebenso feine als treffende Verspottung der am Aeußerlichen haftenden Kritik, welcher das eigentliche Wesen der Poesie überhaupt ein Geheimnis ist, um wie viel mehr die feine Sinnigkeit dieser reflektierenden Dichtungsweise, in welcher Horaz Meister ist. Mit unübertrefflicher Schärfe kontrastiert er dann gegen die heitere Geistesfreiheit seiner Satire das wirkliche Laster trivialer Medisance, mißgünstiger Scheelsucht, welches in den vornehmen Kreisen seines Roms, wie in der sogenannten guten Gesellschaft aller Zeiten, als üppig emporgeschossene Saat geduldet und sogar gehegt wird, in jenen klassischen Versen: ..... Absentem qui rodit amicum, Qui non defendit alio culpante, solutos Qui captat risus hominum famamque dicacis, Fingere qui non visa potest, commissa tacere Qui nequit: hic niger est, hunc tu, Romane, caveto . und weiter in dem typischen Beispiel „freundschaftlicher Verteidigung,“ welche den liebreich in Schutz Genommenen mit dem Saft des Tintenfisches färbt und ihn schlimmer trifft als der giftigste Haß: Quod vitium procul afore chartis Atque animo prius, ut si quid promittere de me Possum aliud vere, promitto . Mit wie liebenswürdigem Geschick führt er dann, als ob er ein Stück seiner eigenen Jugenderziehung erzählte, das treffende Gleichnis für die Weise seiner dichterischen Satire ein! Des Philosophen Sache ist es die Gründe anzugeben, warum dieses zu meiden, jenes zu ergreifen sei, der Dichter teilt seine Gesinnungen darüber mit wie ein sorgsamer und kluger Vater, welcher den Sohn mit seinen Lebenserfahrungen ausrüstet: exemplis vitiorum quaeque notando . Bald mit scharfem Geißelschlag, bald mit dem hellen Schlaglicht des Witzes, bald mit heiterem Spott bezeichnet er die Laster, die Verkehrtheiten, die Jrrtümer und Schwächen in dem Treiben der Menschen rings um ihn her, auch wohl bisweilen die er an sich selbst bemerkt, immer aber um mit mildem Ernst und erquickendem Wohlgefallen bei dem zu verweilen, was durch solche Betrachtung sich ihm als das Gute, Rechte, Verständige, Tüchtige, als das Dauernde erweist. Wenn er zuvor ironisch den Namen des Dichters von sich ablehnte, so wahrt er in dem scherzhaften Schluß des Ganzen mit um so größerem Nachdruck sich sein gutes poetisches Recht, wenn er auch in schalkhafter Bescheidenheit den satirischen Hang sich als verzeihliche Schwäche anrechnen lassen will: Hoc est mediocribus illis Ex vitiis unum: cui si concedere nolis, Multa poetarum veniet manus, auxilio quae Sit mihi: nam multo plures sumus, ac veluti te Judaei cogemus in hanc concedere turbam . Am liebsten beobachtet Horaz das in dieser Satire angewendete Verfahren: der Reflexion freien Zug zu lassen, indem nur hier und dort durch Hinweis auf sachliche Zustände oder möglichst knappe Skizzierung einzelner Fälle und Ereignisse ihr Anlehnung verschafft wird; doch finden sich auch Stücke mit durchgeführter dialogischer, ja fast dramatisch lebendiger Anlage, wie die siebente Satire des zweiten Buches und namentlich die neunte des ersten, und auch von dem Mittel der Allegorie kommt ausgedehnter Gebrauch vor, wie in der sechsten Satire des zweiten Buches mit der entschieden allegorischen Verwendung der Fabel von der Stadt- und Feldmaus. Sehr nahe verwandt der Horazischen Satire, auch in der Anwendung der Mittel, sind seine „ Episteln “; sie bilden recht eigentlich das verbindende Mittelglied zwischen der gnomischen und der satirischen Poesie, insofern sie einerseits eine völlig ernste Haltung zu bewahren vermögen und somit dem Dichter gestatten seine Reflexionen und damit sein Ethos geradehin darzustellen, und insofern andrerseits ihm ebensowohl jene indirekte Darstellungsweise vermittelst des Humors und der Satire zu Gebote steht. Ein vollkommenes Muster dieser Gattung sind die beiden „ Episteln “ von Goethe, welche zugleich in hohem Grade geeignet sind das Ganze der im Obigen entwickelten Theorie zu bestätigen. Wollte man sagen, der Dichter gäbe in diesen Episteln seine Meinung ab über die Frage, ob und wie den schlimmen Wirkungen des schlechten Teiles der poetischen Litteratur zu begegnen sei, so würde nicht allein die hohe Anmut, der eigentliche Zauber dieser Dichtung dabei ganz verschwiegen bleiben, es würde auch der rechte Sinn derselben ganz verkannt werden. Jene Frage selbst, die er im Beginne aufwirft, und Alles, was er in der Folge darüber sagt, ist ihm nur Mittel zu seinem Zwecke. Wir haben den Dichter uns gegenüber, die dichterische Gesinnung, welche den grämlichen Tendenzen des eifernden Ernstes auf Eindämmung und Begrenzung ihres Machtbereiches mit heiterem Antlitz ihr Recht auf uneingeschränkte Freiheit erweist, indem sie einfach ihre bezwingende Macht entfaltet. Jhre Gewalt zu verderben und zu veredeln übt die Poesie aus, indem sie gefällt: so gebrauche man sie in dieser heiteren Siegeszuversicht mit freudigem und hohem Sinne, und es bedarf keiner weiteren ängstlichen Umschau nach Schutzvorrichtungen. Dieses heitere Kraftbewußtsein des Meisters in dem Reiche der Phantasie stellt sich vom ersten bis zum letzten Worte in der ersten Epistel dar, und so wird denn auch diese Meinung derselben nicht in lehrhafter oder polemischer Weise vorgetragen, sondern mit humoristischer Wendung tritt dafür eine Erzählung ein, die an einem Beispiel mißbräuchlicher Anwendung, wenn auch der denkbar harmlosesten, vor Augen führt, wie dem Sänger, der den rechten Ton zu treffen weiß, Ohr und Herz seiner Hörer willenlos folgen. Dazu bringt die zweite Epistel in einem reizenden Bilde gesättigt idyllischer Stimmung zum Gefühl, welch eine Kraft das stillbeglückte, emsige häusliche Schaffen, namentlich im Gemüte der Frauen, den zufällig von außen herantretenden Verführungen der Phantasie durch die Auswüchse der Litteratur entgegensetzt. Nach einer andern Seite verbreiten Beispiele wie Schillers „ Jeremiade “ und „ Shakespeares Schatten “ ein helles Licht. Jn der „ Jeremiade “ ist, wie die Ueberschrift es ausspricht, der Gegenstand der Nachahmung das Ethos elegischer Klage, welche die litterarischen Vertreter der überwundenen Epoche über den Niedergang ihrer goldenen Tage anstimmen. Die vortrefflich gelungene satirische Wirkung wird dadurch erreicht, daß jedes Wort der diesen Klagen zu Grunde gelegten Motivierung mit unübertrefflicher Schärfe so gestellt ist, daß es auf das Entschiedenste den Widersinn erweckt und solchergestalt mit der komischen Erscheinung des Verkehrten, Alten zugleich die überwiegende Vorstellung des Neuen, Wahren hervorbringt. Heftiger tritt die Satire in „ Shakespeares Schatten “ auf. Nachahmungsobjekt ist hier ein gemischtes Ethos: der großartige Sinn für die echte, Herz und Geist läuternde, tragische Kunst und die ingrimmige Verachtung ihrer vulgären Schändung; beide sprechen sich getrennt in der Dichtung aus, das letztere durch den Mund des Berichterstatters, das andre seinem Jnterlokutor, dem Schatten des großen Briten, zuerteilt, in einer Reihe klassischer, zum großen Teil sprichwörtlich gewordener Distichen. Jndem die einen einen getreuen Bericht von den auf der entarteten Bühne herrschenden Zuständen, scheinbar ganz objektiv und sogar völlig einverstanden damit, entwerfen, lassen sie zugleich deren Fehler so grell hervortreten und bezeichnen ihre Verirrungen mit solcher Prägnanz, daß sie ebensoviel dazu beitragen uns zu der wahren Meinung und zu dem rechten Sinn hinzuweisen, als die wuchtigen Sentenzen der andern, in denen dieselben uns unmittelbar entgegentreten. Daß in betreff des Gebrauches der Allegorie alles, was darüber für die Gattung der Reflexionspoesie ausgeführt ist, ebenso auch seine Geltung für die humoristisch=satirische Gattung hat, bedarf keines weiteren Beweises, und Gedichte wie Schillers „Teilung der Erde“ oder „Pegasus im Joch“ bestätigen es vollauf. Beide zeigen die Mangelhaftigkeit der Zustände und Verhältnisse, von denen sie handeln, nicht an diesen selbst, sondern an ihnen ähnlichen Vorgängen auf und beide erreichen ihren Zweck, das eine in der Form der Satire, das andre in der des Humors. Jenes, welches uns das dichterische Flügelroß im unwürdigen Dienste des bäuerischen Fuhrmannes vor Augen stellt, verweilt vorzüglich bei der verächtlichen Schilderung des Mißbrauchs der poetischen Kraft in der Knechtschaft ihr fremder, materieller Jnteressen und findet seine Freude zunächst nur an der Augenfälligkeit der in der Allegorie aufs Grellste zu Tage tretenden Widersinnigkeit desselben, bis am Schlusse die positive Empfindung der triumphierenden Genugthuung über die volle Entfaltung der ihrer wahren Bestimmung zurückgegebenen Kraft zur dauernden Geltung gelangt. Anders in der „Teilung der Erde“. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Kontrastierung des geschäftigen, hastig auf den eigenen Vorteil bedachten Sinnes der Welt und der seiner selbst und der Erde vergessenen Hingebung des Dichters an das Göttliche, Ewige. Trefflich dient nun die Allegorie dazu, die Dissonanz sowie ihre Auflösung in die Harmonie zur Empfindung zu bringen: es bleibt die Stimmung des still beglückten Genügens überwiegend, aber die Forderung der Resignation in den gezwungen Eintausch der olympischen Gemeinschaft gegen die sämtlichen guten Dinge der Erde läßt die Empfindung des Mangelhaften fortbestehen, so jedoch, daß, eben weil die positive Gesinnung unbestrittene Siegerin ist, sie dadurch jene heiter=komische Beimischung erhält, wodurch als Resultat die humoristische Stimmung entsteht. Eine genaue Betrachtung der ganzen Gattung ─ schon die bei Goethe unter der Ueberschrift „ Parabolisch “ vereinigten Gedichte geben reiche Gelegenheit dazu ─ würde ergeben, daß die beiden hier näher bezeichneten Darstellungsweisen sich immer wiederholen, daß aber die zuletzt besprochene die weiter umfassende und übergeordnete ist. Die satirische Anschauungsweise behält bei aller Berechtigung, die sie besitzt, und bei aller Lebhaftigkeit und Kraftentfaltung, deren sie fähig ist, unter allen Umständen etwas Eingeschränktes, Einseitiges, vorwiegend Jndividuelles, welches alles vor dem universellen Standpunkt, von dem aus der Blick auf die Summe und die Allseitigkeit der Erscheinungen gerichtet wird, und vor der zur Anerkennung und zur Würdigung des Entwickelungsganges der Dinge gestimmten Sinnesart schwindet und sich zu der milderen und positiveren Anschauungsweise des Humors läutert. Aus den im Obigen aufgestellten Determinationen möchten sich die gangbaren Begriffsbestimmungen der Satire und des Humors unmittelbar ableiten lassen. Es ergibt sich daraus die Fähigkeit der Satire sowohl die in Blut getauchte Geißel des Hasses zu schwingen, sich zu pathetischem Ernst zu erheben, als auch von den Waffen des Spottes und Witzes schonungslosen Gebrauch zu machen und in leichtem Spiel an dem unerschöpflichen Stoff der Narrheit sich zu ergötzen. Es läßt sich daraus zeigen, wie in dem Reiche des Humors durch die tausendfachen Mischungsverhältnisse des Ernsten und Komischen sich die Möglichkeit des reichsten Farbenwechsels ergibt, wie ferner ihm die Eigentümlichkeit gegeben ist, während er mit dem Tiefsten und Erhabensten beschäftigt ist, zugleich den schärfsten Blick auf das Unbedeutendste und Kleinste gerichtet zu halten und ebenso mit der Betrachtung des Geringsten und Alltäglichsten den weitesten Ausblick auf das Größeste, Dauernde und Ewige, unaufhörlich organisch zu verbinden. Es wäre damit zugleich das Kriterium des falschen, erkünstelten Humors ausgesprochen, der durch die bloße Nachahmung dieser äußern Kennzeichen jene Verbindung und Versöhnung des Negativen und Positiven, des Mangelhaften und wahrhaft Realen nur angeblich und scheinbar vollzieht, während sie in der Sinnesart und Erkenntnis in Wahrheit nicht vorhanden ist, wodurch dann aus dem herrlichsten Kunstmittel ein widerlich abgeschmacktes Spielwerk wird. Es folgt endlich aus alledem, daß selbst die glänzendste Entfaltung des bloßen Witzes, der beredteste Erguß des Unwillens und der flammende Ausbruch des Hasses noch nicht den satirischen Dichter macht, sondern daß dem echten Dichter alles dieses nur als Mittel dienen kann, um ─ was freilich zuerst in ihm selbst vorhanden sein muß ─ die Klarheit und Wahrheit, die Schönheit des alledem gegenüberstehenden positiven Ethos in nachahmender Darstellnng lebendig zu verkörpern. ────── IX. Wenn im Vorstehenden Schillers Gedicht „Shakespeares Schatten“ eine Reihe einzelner Distichen genannt wurde, so trifft die Bezeichnung mehr zu als es auf den ersten Blick scheinen möchte: in der That erschien dies Gedicht, und ebenso auch die „Jeremiade“, im Xenienalmanach nicht als ein Ganzes sondern aufgelöst in eine Folge einzelner Epigramme, die sogar gesonderte Ueberschriften trugen. Der Umstand ist geeignet auf das nahe Verwandtschaftsverhältnis hinzuweisen, in welchem die Dichtungsart des Epigramms zu den beiden zuletzt behandelten Gattungen der Poesie steht, der gnomischen und der humoristisch=satirischen; beiden zu gleichen Teilen angehörend, nimmt es zwischen ihnen eine verbindende Mittelstellung ein. Mit beiden hat das Epigramm zunächst das Eine gemeinsam, daß das Hauptmittel, durch welches es wirkt, der Gedanke ist, die Reflexion über einen Gegenstand, einen Vorfall oder ein thatsächliches Verhältnis; sodann aber das andre, daß es, wie jene, der Poesie nur insofern angehört, als dieses Mittel nicht zum Zwecke gemacht wird, sondern daß es im Dienste des unveränderlichen Hauptzweckes aller Poesie verwandt wird eine Gesinnungsweise, eine Gemütsbeschaffenheit darzustellen, daß es die Nachahmung eines Ethos enthalte. Das Unterscheidende des Epigramms, wodurch seine Form sich bestimmt, liegt in dem besondern, ihm allein eigentümlichen Verfahren jenes gemeinsame Mittel herzustellen und ihm die der poetischen Absicht entsprechende Wirksamkeit zu verleihen. Ueber die Art, wie das geschieht, haben wir Aufschluß durch Lessing; in seinen „Anmerkungen über das Epigramm“ (I) heißt es: „Das Sinngedicht ist ein Gedicht, in welchem nach Art der eigentlichen Aufschrift unsre Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgend einen einzelnen Gegenstand erregt und mehr oder weniger hingehalten werden, um sie mit Eins zu befriedigen.“ Dieses „nach Art der eigentlichen Aufschrift“ schließt ein, daß die Rolle, welche in der Wirklichkeit der die Aufschrift tragende Gegenstand spielt, im Gedichte durch den einen Haupt= teil desselben übernommen werde, und so fährt nun Lessing fort: „Wenn uns unvermutet ein beträchtliches Denkmal aufstößt, so vermenget sich mit der angenehmen Ueberraschung, in welche wir durch die Größe oder Schönheit des Denkmals geraten, sogleich eine Art von Verlegenheit über die noch unbewußte Bestimmung desselben, welche so lange anhält, bis wir uns dem Denkmal genugsam genähert haben und durch seine Aufschrift aus unsrer Ungewißheit gesetzt werden; worauf das Vergnügen der befriedigten Wißbegierde sich mit dem schmeichelhaften Eindruck des schönen sinnlichen Gegenstandes verbindet und beide zusammen in ein drittes angenehmes Gefühl zusammenschmelzen. ─ Diese Reihe von Empfindungen, sage ich, ist das Sinngedicht bestimmt nachzuahmen; und nur dieser Nachahmung wegen hat es in der Sprache der Erfinder den Namen seines Urbildes, des eigentlichen Epigramms, behalten. Wie aber kann es sie anders nachahmen, als wenn es nicht allein eben dieselben Empfindungen, sondern auch eben dieselben Empfindungen nach eben derselben Ordnung in seinen Teilen erwecket? Es muß über irgend einen einzeln ungewöhnlichen Gegenstand, den es zu einer so viel als möglich sinnlichen Klarheit zu erheben sucht, in Erwartung setzen und durch einen unvorhergesehenen Aufschluß diese Erwartung mit Eins befriedigen.“ „Am schicklichsten werden sich also auch die Teile des Epigramms Erwartung und Aufschluß nennen lassen.“ Jn dieser Definition ist alles in bester Ordnung, bis auf einen Umstand: es darf nicht übersehen werden, daß nur das technische Verfahren des Epigramms erklärt wird, daß aber sein eigentliches Wesen, vor allem seine Bestimmung undefiniert gelassen ist. Zwar es könnte so scheinen, als ob gerade dies letztere geschehen sei und sogar in der für die im Obigen aufgestellte Theorie erwünschtesten Weise, wenn Lessing diese „ Bestimmung “ in die „ Nachahmung einer Reihe von Empfindungen “ setzt. Es ist immerhin eine höchstwillkommene Bestätigung, auch nur dieser Wendung bei Lessing zu begegnen, aber das Vergnügen daran wird doch gemindert, wenn es sich zeigt, daß hier eine kleine Usurpation mit untergelaufen ist. Welche Reihe von Empfindungen nachzuahmen wäre denn das Epigramm bestimmt? Das Vergnügen der befriedigten Wißbegierde, das sich mit dem schmeichelhaften Eindrucke des schönen Gegenstandes verbindet und das dritte angenehme Gefühl, das aus der Verschmelzung jener beiden entsteht. So wäre es ein wesentliches und unerläßliches Erfordernis des Epigramms, daß der die Erwartung erregende Gegenstand an sich „ schön “ sei? Und wie, wenn dieser Gegenstand nun gerade ein häßlicher ist, wie wohl in der überwiegenden Hälfte aller Epigramme, oder an und für sich gleichgültig und erst durch den damit verbundenen Aufschluß interessierend, wie bei dem größten Teile der übrigen? Wo bleibt der „ schmeichelhafte Eindruck des schönen sinnlichen Gegenstandes“ und wo „jenes dritte angenehme Gefühl “, das aus jenem und der befriedigten Wißbegierde zusammenschmelzen soll? Man sieht, es bleibt eben nur das letzte, die befriedigte Wißbegierde, übrig. Zwar vergißt Lessing es nicht, dem entsprechend nun wieder eine Einschränkung hinzuzufügen, wenn er abschließt: „das Epigramm muß über irgend einen einzeln ungewöhnlichen Gegenstand, den es zu einer soviel als möglich sinnlichen Klarheit zu erheben sucht, in Erwartung setzen und durch einen unvorhergesehenen Aufschluß diese Erwartung mit Eins befriedigen“; aber damit erscheint ja nun auch zuletzt jene Erwartung nur als ein vorbereitendes Mittel um die einzige Wirkung des Epigramms, die Befriedigung der Wißbegierde hervorzubringen, und es wird lediglich das dem Epigramm eigentümliche Verfahren für die Erreichung dieses Zweckes angegeben. Wo bleibt aber die Bestimmung seines Wesens? wo der Nachweis seiner Zugehörigkeit zur Poesie als schöner Kunst? wo endlich die Herleitung jenes Verfahrens als einer notwendigen Konsequenz seiner Bestimmung? Es kann kein Zweifel sein, daß sowohl das Vergnügen an dem die Erwartung erregenden Gegenstande als das der befriedigten Wißbegier an dem Aufschlusse sowie die Mischung aus beiden nur sekundäre Wirkungen sind, die aus der Natur der aufgewendeten Mittel sich ergeben, daß aber über allen diesen Annehmlichkeiten des Epigramms diejenige durch dasselbe hervorgebrachte Freude steht, durch die es seinen Rang in der schönen Kunst behauptet. Auch Lessing weist diejenigen Dichter „aus dem Register der Epigrammatisten,“ welche „bloße allgemeine Sittensprüche,“ „erbauliche Disticha“ geschrieben haben, und „noch weniger,“ fährt er fort, „werden diejenigen darin aufzunehmen sein, welche andere scientifische Wahrheiten in die engen Schranken des Epigramms zu bringen versucht haben. Jhre Verse mögen gute Hülfsmittel des Gedächtnisses abgeben, aber Sinngedichte sind sie gewiß nicht.“ Die Erklärung des Batteux, „nach welcher das Epigramm ein interessanter Gedanke sein soll, der glücklich und in wenig Worten vorgetragen worden,“ genügt ihm durchaus nicht. „Denn sind z. E. die medizinischen Vorschriften der Schule von Salerno nicht eines sehr interessanten Jnhalts? Und könnten sie nicht gar wohl mit ebenso vieler Präcision und Zierlichkeit vorgetragen sein, als sie es mit weniger sind? Und dennoch, wenn sie auch Lucrez selbst abgefaßt hätte, würden sie nichts als ein Beispiel mehr sein, daß die Erklärung des Batteux viel zu weitläuftig ist und gerade das vornehmste Kennzeichen darin fehlt, welches das Sinngedicht von allen andern kleinen Gedichten unterscheidet.“ Gewiß unbestreitbar richtig! Aber ist es der Beweisgrund Lessings ebenso? Nur deswegen sind die bloß „scientifischen Wahrheiten“ von dem Epigramm ausgeschlossen, weil sie nur den Aufschluß geben, ohne die Erwartung zuvor erregt zu haben? Und wenn das nun geschähe, wenn es sogar gelänge diese Erwartung durch die sinnlich anschauliche Vorführung eines Gegenstandes oder Ereignisses rege zu machen, und wenn nun die wissenschaftliche Erklärung hinzuträte, würde dann ein wirkliches Epigramm entstanden sein? Nach der Lessingschen Erklärung allerdings, und wenn auch nichts gegeben wäre als z. B. die kurz gefaßte Erzählung von einer seltenen und schweren Erkrankung und die Angabe eines neu gefundenen, souveränen Spezifikums dagegen, oder die Darstellung eines wichtigen astronomischen oder kosmischen Vorganges und seine Erklärung durch die präcis gefaßte Angabe des einfachen, ihm zu Grunde liegenden Gesetzes. Die Abweisung lediglich moralischer oder wissenschaftlicher Aufschlüsse aus dem Epigramm, so unbedingt notwendig sie an sich ist, erfolgt bei Lessing nur gelegentlich und unter falscher Legitimation, während sie aus den im Wesen der Sache liegenden Gründen hergeleitet werden mußte. Kehren wir zu dem Ausgangspunkt zurück, auf welchen der Name des Epigramms hinweist und von dem Lessings Erklärung aussetzte. Er betrachtet als das Grundverhältnis, aus welchem das Epigramm entstanden und welches bei seiner ganzen Entwickelung immerfort maßgebend geblieben ist, die durch ein Monument erregte Erwartung und den durch dessen Aufschrift gegebenen Aufschluß: nun wohl! ist denn die Bestimmung des Monumentes damit erfüllt, daß wir erfahren, was es bedeutet? oder auch damit, daß wir uns veranlaßt fühlen nun weiter darüber bei uns selbst Erwägungen anzustellen? Jst nicht vielmehr bei jedem rechten Denkmal beides nur Vorbedingung und Mittel für seinen eigentlichen Zweck, den Beschauer in eine Seelenstimmung, eine Gemütsverfassung zu versetzen, für die der bildende Künstler alle seine Kraft eingesetzt hat? Und das ist es, was auch allein dem Epigramm Leben und Seele zu geben vermag: vermittelst der Erregung von Erwartung und durch überraschenden Aufschluß ein Aperçü zu bewirken, einen Gedanken zu wecken, eine Reflexion anzuregen, welche vermögend sind die Gemütskräfte in Thätigkeit zu setzen, ein Seelenethos nachahmend zu erzeugen. Für den Mangel desselben entschädigt kein Scharfsinn, keine „scientifische“ Bedeutung, keine Verskunst, keine bloß rationale Tendenz, sei sie moralisch, politisch oder religiös; wo diese Wirkung fehlt, fehlt das wesentliche Erfordernis der Kunst. Die Aufgabe ist also, einen einzigen Gedanken, eine einzige Beobachtung ins Licht zu setzen und mit Aufbietung der stärksten dazu geeigneten Mittel den Hörer zu veranlassen dabei zu verweilen, um durch dies Verfahren in ihm denselben Gemütszustand hervorzubringen, mit dem jener Gedanke, jene Beobachtung den Dichter erfüllte oder aus dem sie bei ihm entstanden. Nur solche Gedanken, die dazu die Kraft haben, sind also epigrammatisch verwendbar. Durch die Notwendigkeit sie ihnen zu erhalten, ist nun das technische Verfahren für das Epigramm vorgezeichnet. Der Gedanke darf sich nicht an den logischen Verstand wenden, sondern er soll auf die Empfindungskräfte wirken: er muß also womöglich durch unmittelbare Anschauung sich mitteilen. Es soll ferner nur dieser eine Gedanke wirksam werden: es muß also alles sorgfältig ausgeschlossen werden, was einen zweiten Gedanken, ja auch nur eine Nebenbeziehung aufkommen lassen könnte. Auf einen einzigen Punkt soll die Aufmerksamkeit gelenkt und hier festgehalten werden: es muß also durch die stärkste sinnfällige Hervorhebung der Einseitigkeit der Anschauung eine Spannung hervorgerufen und diese Spannung durch möglichst vollständig befriedigenden Aufschluß gelöst werden. Daraus ergeben sich alle Forderungen der Form des Epigramms: seine Zweiteiligkeit, die in Erwartung und Aufschluß, Spannung und Lösung zu bestehen hat, die sinnlich=gegenständliche Beschaffenheit des ersten dieser Teile, endlich die unerläßliche Notwendigkeit der höchstmöglichen Kürze. Ueber allen diesen Forderungen aber steht als die höchste, daß das Epigramm die Mimesis eines Ethos sei, sonst ist es trotz der sinnlichsten Vorführungen des die Spannung hervorrufenden Gegenstandes, trotz der überraschendsten Lösung und trotz des überzeugendsten Gedankens nimmermehr ein Gedicht. So ist die Wahrheit des Gedankens in dem folgenden Herderschen Epigramm unbestreitbar: Wie der köstlichste Wein von seinem Boden Geschmack nimmt, Saft und Farbe, so sind wir Gewächse der Zeit: Dies kocht reifer die Sonne, dem gibt sie süßere Anmut, Aber des Bodens Natur ändert nicht Sonne noch Zeit. Doch das angebliche Gedicht begnügt sich diese Wahrheit und ihre Aehnlichkeit mit dem erwähnten Naturverhältnis einfach zu konstatieren, während die Empfindung leer ausgeht; daher ist der Eindruck der der Trockenheit und Plattheit, weil die metrische Form mit dem verstandesmäßigen Jnhalt im Widerspruch steht. Ebenso in dem andern Herder'schen, welches „ Der Abglanz “ überschrieben ist: Hinter Wolken die Sonne zu sehn, gibt trügliche Lichter; Ohne Wolken sie sehn, blendet und stumpft das Gesicht. Also schaue du sie hienieden im ruhigen Abglanz; Thaten lehren uns mehr als ein bezaubernder Blick. Jst es nicht, als ob man das matte, kahle Lemma läse zu dem herrlichen Monologe im Beginne des zweiten Faust? Hinaufgeschaut! ─ Der Berge Gipfelriesen Verkünden schon die feierlichste Stunde; ............ Sie tritt hervor! ─ und leider schon geblendet Kehr' ich mich weg, vom Augenschmerz durchdrungen. ............ So bleibe denn die Sonne mir im Rücken! Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend, Jhn schau' ich an mit wachsendem Entzücken. ............ Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend, Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer, ............ Der spiegelt ab das menschliche Bestreben. Jhm sinne nach und du begreifst genauer: Am farb'gen Abglanz haben wir das Leben. Auch bei Goethe hat der Abschluß etwas Epigrammatisches; aber das gesamte Bild und der daraus hervorspringende Gedanke ist für das Epigramm unverwendbar, nicht weil ihm die Einheit fehlt ─ diese ist im strengsten Sinne vorhanden ─ sondern weil durch die Einseitigkeit, welche das Epigramm gebieterisch verlangt, seine ganze mächtige Wirkung auf die Empfindung, durch die allein er poetisch ist, geraubt werden muß. Freilich fehlt den beiden citierten Epigrammen noch mehr: sie ermangeln zugleich in ihrem ersten Teile der Anschaulichkeit und Gegenwart der sinnlichen Darstellung; aber auch wo diese in weit höherem Maße gelungen ist, zeigt sich in Herder's Epigrammen jener entscheidende Mangel oft genug. Als Beispiel diene das folgende: Reformation. „Wären der Teufel so viel auch als hier Stein' auf den Dächern, Dennoch wagen wir es!“ Also sprach Luther und ging Vor den Kaiser. Gelang's? Jch zweifle. Der Teufel an Höfen Waren mehrere, fein wie der apulische Sand. Lehren bessertest du, nicht Sitten. Sitten zu bessern, War der selber zu schwach, der auch die Teufel besiegt. Der Gedanke des Aufschlusses ist schief; aber wenn er auch richtiger wäre, er enthält lediglich verstandesmäßige Kritik, nichts von Ethos und ist gänzlich unpoetisch. Herder ist im Epigramm als Dichter entschieden unglücklich gewesen, und auch als Kritiker ist es ihm nicht viel besser ergangen. Jn seinen „ Anmerkungen über die Anthologie der Griechen “ versucht er es Lessing zu bekämpfen, und es finden sich darin Stellen, welche die Erwartung erregen, er werde gerade an dem Punkte die verbessernde Hand anlegen, wo Lessing eine Lücke gelassen hatte. So wenn es im ersten Abschnitt heißt: „Die Seele des griechischen Epigramms ist Mitempfindung,“ und wenn dieser Gedanke, zwar nicht logisch ausgeführt, aber wortreich umschrieben wird. Aber gleich darauf folgen Aussprüche, die von dem Verständnis des Epigramms weit abliegen: „Wie leicht und bald kann eine Geschichte oder Fabel, die die Runde und Kürze des Epigramms hat, auch der Gestalt nach ein solches werden! Man darf die Geschichte nur etwa als Jnschrift auf den Ort der Begebenheit beziehen und in ihr eine allgemeine Lehre anschaulich machen, so ist die Fabel Epigramm und das Epigramm eine Fabel. “ Darin liegt der doppelte, schwere Jrrtum, daß die Grenzen zweier grundverschiedener Dichtungsarten verwirrt werden und beiden fälschlich ein lehrhafter Jnhalt zugeschrieben ist. Derselbe Fehler und dazu große Undeutlichkeit der Fassung ist in der am Schlusse von II, 1 gegebenen, vorläufigen Definition der „ Aufschrift “ vorhanden: „Als Aufschrift betrachtet wird also das Epigramm nichts als die poetische Exposition eines gegenwärtigen oder als gegenwärtig gedachten Gegenstandes zu irgend einem genommenen Ziel der Lehre oder der Empfindung. “ Mit diesem Satze, daß das Epigramm in seiner Urgestalt, und also in seinem Wesen (vgl II, 4) „einfach darstellender Gattung“ sei, „nur Exposition des Gegenstandes, der durch sich selbst belehre oder rühre, “ meint Herder an der entscheidenden Stelle Lessings Lehre von der Zweiteiligkeit des Epigramms, das immer aus Erwartung und Aufschluß sich zusammensetzen müsse, siegreich bestritten zu haben. Seine ganze Lehre vom Epigramm und die ─ übrigens sehr vage ─ Einteilung desselben wurzelt in dieser Theorie. Vier seiner sieben Arten des Epigramms gehören der so von ihm definierten Gattung an: 1) die genannte darstellende; 2) das Exempel-Epigramm, welches derselben nur „eine schlichte Anwendung hinzufügt;“ 3) das schildernde, welches „ein Kunstbild in und zu einem lichten Sehepunkt ausmalt;“ 4) das leidenschaftliche, welches „einen Gegenstand der Empfindung gleichfalls bis zu einem höchsten Punkt des anschauenden Genusses oder der gegenwärtigen Situation erhöhen will.“ Alle diese vier Herder schen Arten des Epigramms sind nach Lessing schlecht, d. h. überhaupt gar keine Epigramme; bei Herder selbst sind sie sehr zahlreich; wenn er sie aber in der griechischen Anthologie zu erkennen meinte, so hat er sich und andre getäuscht. Sechs Beispiele aus derselben dienen ihm, die „ Grundform “ und das Wesen dieser Dichtung, also sein „darstellendes“ Epigramm zu erweisen: sie alle zeigen das Gegenteil seiner Theorie! Hören wir ihn: „So sind die Epigramme, die Geschenke an die Götter begleiten, meistens simple Darstellungen dessen, was man dem Gotte weiht; etwa mit einer Ursache, warum man's ihm weihte, oder mit einem Wort des Dankes, des Wunsches, der Bitte, der Freude. War dies nicht alles, was der Sterbliche dem Unsterblichen sagen konnte?“ „„Diesen krummen Bogen und diesen Köcher hängt Promachus dem Phöbus zum Geschenk auf. Des Köchers Pfeile flogen in der Schlacht umher und trafen die Herzen der Krieger, ihnen ein bitteres Geschenk.““ „„Dem Glaukus und Nereus, der Jno und dem Melikertes, dem Zeus der Fluten und den samothrakischen Göttern weiht Lucilius, im Meere gerettet, sein Haupthaar hier. Weiteres hat er nichts mehr.““ „„Diese jugendlich=blühende Locke seines Hauptes und dies Milchhaar, den Zeugen kommender männlicher Jahre, weiht Lykon dem Phöbus, sein erstes Geschenk. Möge er ihm auch einst sein graues Haar so weihen!““ „Was fehlt diesen Zuschriften an Kürze, Würde und rührender Einfalt? Wem sie mit ihrer simpeln Exposition nichts sagen, was werden sie ihm durch vieles Wortgepränge zu sagen vermögen?“ Diese sicherlich nichts mehr. Aber ebenso sicher sagen sie, so wie sie in der That lauten, mehr und etwas ganz anderes als Herder nun einmal in ihnen finden will, denn er hat hier wirklich zum Teil das Offenbare nicht sehen wollen, zum Teil das ihm nicht Passende einfach fortgelassen. Das erste Beispiel, dem Mnasalkas angehörig, lautet in der Anthologie ( ed . Dübner. VI, 9) folgendermaßen: Σοὶ μὲν καμπύλα τόξα καὶ ἰοχέαιρα φαρέτρη , δῶρα παρὰ Προμάχου, Φοῖβε, τάδε κρέμαται· ἰοὺς δὲ πτερόεντας ἀνὰ κλόνον ἄνδρες ἔχουσιν ἐν καρδίαις, ὀλοὰ ξείνια δυσμενέων . Ein Epigramm im vollen Sinne Lessings, wenn es je eins gab! Dir hat des Bogens Krümme, den Köcher, den pfeile=gewohnten, Phöbus, als Weihegeschenk Promachus niedergelegt. Nur den Bogen und seinen Köcher hat der Bogenschütze dem Fernhintreffer geweiht? Und wo ließ er die Pfeile? Die Lösung sagt es uns, nicht nur durch die unerwartete Wendung überraschend, sondern zugleich von des Mannes Mut, Gesinnung und Kraft ein Zeugnis ablegend, der hier sich dem Gotte genaht: Aber die Pfeile selbst, die schlachtdurchsausenden, stecken Männern im Herzen, ein Tod=bringend Geschenk für den Feind. Und was hat Herder aus diesem eminent epigrammatischen Aufschluß gemacht? „Des Köchers Pfeile flogen in der Schlacht umher und trafen die Herzen der Krieger, ihnen ein bittres Geschenk!“ Kann man durch eine angeblich wörtlich=genaue Uebersetzung ärger entstellen? Noch schlimmer liegt die Sache bei dem dritten Epigramm; dieses lautet (ibid. VI, 198): Ὥριον ἀνθήσαντας ὑπὸ κροτάφοισιν ἰούλους κειράμενος, γενύων ἄρσενας ἀγλα ΐας , Φοίβῳ θῆκε Λύκων, πρῶτον γέρας· εὔξατο δ ' οὕτως καὶ πολιὴν λευκῶν κεῖραι ἀπὸ κροτάφων . Τοίην άλλ' ἐπίνευε, τίθει δέ μιν . ὡς πρό γε τοὶον , ὥς αὖτις πολιῷ γήραϊ νιφόμενον . Hier hat Herder die ersten beiden Distichen zwar sehr ungenau, doch dem Sinne nach richtig übersetzt: aber das dritte, den Aufschluß, durch den das Epigramm erst entsteht, hat er einfach fortgelassen! Die Schlußwendung ist sogar eine doppelte, und dieses Epigramm des Antipater, statt von „rührender Einfalt“ und „simpler Kürze“ zu sein, hat vielmehr den Fehler, daß der Ausdruck sowie der ganze Gedanke gekünstelt ist, und statt daß es „bloße Exposition“ enthielte, ist offenbar die Exposition nur um der zwiefachen Pointe willen da. Es möchte wiederzugeben sein: Als dem Lykos zuerst entsproßt war unter den Schläfen Jugendlich=männliche Zier, schor er den glänzenden Flaum, Weihte als Erstlingsgeschenk ihn Phöbus und betete: „Lass' einst Also mich weißes Gelock scheeren vom bleichenden Haupt!“ Solches gewähre: doch so, daß er jetzt dem Künftigen gleiche, Daß er der Jetzige sei, künftig vom Alter beschneit. Das zweite, dem Lucian angehörende Epigramm (VI, 164) ist zwar von Herder vollständig wiedergegeben, auch dem Sinne nach richtig übersetzt, aber wieder ungenau und gerade an der entscheidenden Stelle derart, daß es matt und farblos geworden, und das epigrammatische Acumen abgestumpft ist: Γλαύκῳ καὶ Νηρῆϊ καὶ Ἰνώῳ Μελικέρτῃ , καὶ βυθίῳ Κρονίδῃ καὶ Σαμόθρᾳξι θεοῖς , σωθεὶς ἐκ πελάγους Λουκίλλιος ὧδε κέκαρμαι τὰς τρίχας ἐκ κεφαλῆς· ἄλλο γὰρ οὐδὲν ἔχω . „Euch .... weiht Lucillius, im Meere gerettet, sein Haupthaar hier?“ Damit ist freilich das Epigramm verwischt, das weit entfernt von der „Würde eines einfachen, rührenden Denkmals“, vielmehr mit offenbarer Jronie seine Pointe in dem komischen Gegensatz hat zwischen der pomphaft gehäuften Anrufung so vieler Götter in dem ersten, die Erwartung erregenden Teil und der Geringfügigkeit des ihnen dargebrachten Weihgeschenks, von dem der Aufschluß berichtet. Der aus dem Schiffbruch Gerettete hat nichts zu geben, als was ihm allein geblieben, die Haare vom Kopfe: Glaukos und Nereus und der Jno Sohn Melicertes Und dem Kroniden der Flut und Samothraces Kabir'n Schor Lucillius, ich, aus dem Meere gerettet, zur Weihe Mir die Haare vom Kopf: anderes habe ich nichts. Man kann außer diesem ironischen Gegensatz noch die weitere humoristische Wendung darin entdecken: wenn ihr vielen und großen Schutzgötter der Seefahrer mich nicht anders retten konntet, als indem ihr mir alles nahmt bis auf die Haare auf dem Kopf, so nehmt denn auch mit diesen vorlieb. Jn der Erwartung die Erfüllung des alten, frommen Brauchs, als Aufschluß die harmlos spottende Lösung: wieder die genaueste Bestätigung des Lessingschen Formgesetzes! Ganz dasselbe gilt von den ersten drei Beispielen Herders, die alle ebenso laut für Lessing als gegen Herder zeugen. Alle drei sind Grabschriften, zwei angeblich der Sappho und die dritte die berühmte des Simonides auf die bei den Thermopylen gefallenen Spartaner. Hier hat Herder den Wortverstand richtig und genau wiedergegeben, aber die epigrammatische Bedeutung dieser kleinen Gedichte ist ihm entgangen. „Dies ist der Timas Asche. Vor der Hochzeit gestorben, ging sie ins dunkle Brautbett der Proserpina hinunter. Alle Mädchen von gleichem Alter schnitten, da sie tot war, sich die liebliche Locke des Hauptes ab mit neugeschliffenem Stahl.“ Für Herder ist das einfache Darstellung des Herganges: „das Grab der Braut“ setzt er hinzu, „wird durch diese simple Exposition mehr gefeiert als durch lange Lobsprüche von Sentenzen“. „Alle ihre Gespielinnen fühlen das Traurige dieses Falles und weihen voll mitleidigen Schreckens ihrer toten Freundin den Schmuck ihrer jungfräulichen Jugend. Statt sich zu ihrem Feste zu krönen, liegt jetzt die Locke auf ihrem Grabe.“ So soll man also die Worte der Dichterin als bare Münze nehmen? als die Erzählung eines wirklichen Vorfalls? Wo ist dergleichen jemals vorgekommen oder denkbar gewesen? Es müßte denn die Verstorbene eine Königstochter gewesen sein; aber dann müßten wir von diesem Umstande erfahren, und der Vorfall würde dadurch eine ganz andre Färbung erhalten, außerdem würde doch auch selbst dann nur von ihren Gespielinnen die Rede sein können. Aber alle Gleichaltrigen brachten dieses Opfer? Man mag die Sache hin und her wenden, man erhält keinen poetischen Sinn: denn etwas handgreiflich Uebertriebenes, als historische Wahrheit mitgeteilt, erweckt nicht die Empfindung, sondern löscht sie aus. Wie anders aber, wenn man die Verse als das auffaßt, was sie sind, als epigrammatisches Gedicht! Sie sind gedacht als „Aufschrift“ auf dem Denkmal der Verstorbenen und nehmen den Vorgang, der an dieser Grabstätte sich zutrug, zum Ausgangspunkt. Wem aber tauchte, auch ohne daß er es mit Augen sähe, durch das Gedicht selbst nicht sofort das Bild dieser Scene vor der Seele auf? Wir meinen einige jugendlich blühende Mädchengestalten in trauernder Haltung zu erblicken, im Begriff, vom Schmuck des Hauptes eine Locke zu trennen, um sie der Verstorbenen zu weihen, der alten Sitte der Griechen gemäß den verstorbenen Freund zu ehren. An diese unmittelbar ─ und dem Griechen, der dergleichen täglich vor Augen hatte, ganz notwendig ─ sich darbietende Vorstellung knüpft das Epigramm der Sappho an, indem es den Wert der so traurig Dahingerafften und den Schmerz um ihren Verlust dadurch erhöhend darstellt, daß es der die Erwartung erregenden Ankündigung ihres vorzeitigen Todes als Lösung die hyperbolische Deutung jenes die Bestattung begleitenden Vorganges hinzufügt, als ob über solchen Raub des Todes das ganze Volk von Mit= gefühl ergriffen sein müßte: nicht einzelne Gespielinnen, sondern alle Altersgenossinnen trennen mit hellgeschliffenem Stahl das liebliche Haar vom Haupte und bringen es ihr dar (cf. VII, 489): Τιμάδος ἄδε κόνις, τὰν δὴ πρὸ γάμοιο θανοῦσαν δέξατο Περσεφόνας κυάνεος θάλαμος , ἇς καὶ ἀποφθιμένας πᾶσαι νεοθᾶγι σιδάρῳ ἅλικες ἱμερτὰν κρατὸς ἔθεντο κόμαν . Aehnlich, wenn auch noch einfacher, ist das Verhältnis in dem andern der Sappho beigelegten Epigramm (cf. VII, 505): Τῷ γριπεῖ Πελάγωνι πατὴρ ἐπέθηκε Μενίσκος κύρτον καὶ κώπαν, μνᾶμα κακοζο ΐας . Der epigrammatische Gegensatz besteht hier zwischen der Dürftigkeit und Geringfügigkeit des vorgestellten ─ nicht wirklich vorhandenen ─ Grabschmuckes, eine Reuse und ein Ruder, und der Jdee eines „ Denkmales “; dieses „Denkmal“ entspricht in seiner Unscheinbarkeit dem Leben dessen, den es ehrt: μνᾶμα κακοζο ΐας ─. Dadurch aber wird das Epigramm, über die Enge des erwähnten Falles hinaus, typisch für jedes ähnliche Verhältnis. Endlich, bei des Simonides (VII, 249): Ὦ ξεῖν̓, ἄγγειλον Λακεδαιμονίοις ὅτι τῇδε κείμεθα, τοῖς κείνων ῥήμασι πειθόμενοι . spricht Herder selbst von dem „ scharfsinnigen Schluß, der durch jedes ausschmückende Beiwort entnervt werden würde“. Aber warum? Weil die ganze Wucht des Epigramms hier in der nahen Zusammenrückung und scharfen Gegenüberstellung der beiden Vorstellungen beruht: der Tod und der Gesetzesgehorsam, bei einem Spartaner eins dem andern eng verbunden, Erwartung und Aufschluß hier in die beiden Hälften eines Pentameters zusammengedrängt. Mit der Grundlage von Herders Argumentation fällt auch seine ganze künstliche Einteilung des Epigramms; das von Lessing aufgestellte Gesetz der epigrammatischen Form bleibt unantastbar bestehen. Das dunkle Gefühl, daß mit diesem Formgesetz das innere Wesen der Dichtungsart noch nicht ausgesprochen war, hat Herder zu seiner Polemik dagegen getrieben, aber er verfehlte dabei von vornherein den für den Angriff allein offenstehenden Weg. Eine im Wesen der epigrammatischen Dichtung begründete Einteilung ergibt sich aus ihrer oben bezeichneten Mittelstellung zwischen der gnomischen und satirischen Gattung: sie kann sich sowohl der einen als der andern vorzugsweise zuneigen. Die das Ethos erzeugende Reflexion oder Beobachtung kann entweder direkt ausgesprochen sein, als Lösung der nach der betreffenden Seite hin erregten Spannung: dann entsteht der Sinnspruch, durch den das Epigramm der gnomischen Dichtung verwandt ist. Oder der Gedanke wird indirekt durch den komischen Kontrast zwischen Erwartung und Aufschluß hervorgerufen: dann entsteht das satirisch=humoristische oder auch einfach komische Epigramm. Weitere Verschiedenheiten möchte es im Epigramm nicht geben, es sei denn, daß es seine Natur in wesentlichen Stücken ändert und damit in andere Dichtungsarten überschlägt; von solchen Pseudo-Epigrammen soll im Weiteren noch gehandelt werden. Die übliche Einteilung nach dem Jnhalt, wie z. B. in der palatinischen Anthologie, ist lediglich äußerlicher Natur; in jeder dieser Abteilungen, seien es nun Grabschriften oder Dedikationen, Liebesepigramme oder Trinksprüche, darstellende ( epideictica ) oder ermahnende ( protreptica ) Epigramme, Aufschriften auf Statuen oder andere Kunstwerke, können naturgemäß beide Hauptarten vertreten sein, und beide kommen thatsächlich überall vor. Nur insofern ist in der Behandlungsweise ein durchgehender Unterschied vorhanden, als jener erste, die Erwartung erregende Teil des Epigramms entweder die Erzählung eines wirklichen oder als wirklich angenommenen Vorfalls, ebenso die Darstellung eines konkreten Dinges enthalten oder auch die Reflexion durch die unmittelbare, abstrakte Bezeichnung eines Spannung hervorrufenden Gedankens in Bewegung setzen kann. Beide Arten des Verfahrens können sowohl in der gnomischen als in der satirisch=humoristischen Gattung stattfinden: doch hat naturgemäß in dieser jene erstere, in jener die letztere den Vorzug. Jn allen Fällen aber wird der hauptsächlich durch das Epigramm erzeugte geistige Vorgang, die zur Nachahmung des Ethos berufene Reflexion, ein Werk der anschauenden Kraft sein müssen, eine durch den Augenschein unmittelbar und fast spontan sich einstellende Ueberführung; niemals darf sie als ein abstraktes Resultat logisch=dialektischer Schlußfolgerung sich ergeben. Wie kann das geschehen auch bei abstrakter Fassung der beiden Teile des Epigramms? Dadurch, daß es sich allenthalben und ausnahmslos des Mittels der Vergleichung bedient: auf dem Vergleich durch den Augenschein beruht überall jenes Grundverhältnis von Erwartung und Aufschluß, und zwar so, daß entweder in dem offenbar Unähnlichen das überraschend Aehnliche aufgezeigt wird, oder in dem unzweifelhaft Aehnlichen handgreiflich und unerwartet das völlig Verschiedene. Statt der allgemeinen Begriffe des Aehnlichen und Unähnlichen können ebenso die engeren des Zusammenstimmenden und Widersprechenden, des Passenden und Unpassenden oder gleichartige, verwandte Gegensätze eintreten. Was für ein weites Feld demzufolge in dieser Dichtungsart, gerade wie in der gnomischen und satirischen, die Anwendung jeder Art von Bildern, Symbolen und allegorischen Einkleidungen haben muß, liegt auf der Hand. Daß dies Verhältnis nicht immer gleich deutlich hervortritt, liegt nur daran, daß die Sprache des täglichen Lebens selbst mit unzähligen derartigen Elementen angefüllt ist, welche fast ohne alles Bewußtsein von ihrer ursprünglich bildlich=allegorischen Natur fortwährend gleich abstrakten Wendungen gebraucht werden. Durch geistreich=nachdrückliche Anwendung restituiert ihnen der Dichter ihr ursprüngliches Recht. Als Beleg mögen einige Beispiele dienen, die den Beweis überflüssig machen. So die Schillerschen: Jnneres und Aeußeres. „Gott nur siehet das Herz.“ ─ Drum eben, weil Gott nur das Herz sieht, Sorge, daß wir doch auch etwas Erträgliches sehn. Die Uebereinstimmung. Wahrheit suchen wir beide: du außen im Leben, ich innen Jn dem Herzen, und so findet sie jeder gewiß. Jst das Auge gesund, so begegnet es außen dem Schöpfer, Jst es das Herz, dann gewiß spiegelt es innen die Welt. Mitteilung. Aus der schlechtesten Hand kann Wahrheit mächtig noch wirken; Bei dem Schönen allein macht das Gefäß den Gehalt. Das Belebende. Nur an des Lebens Gipfel, der Blume, zündet sich Neues Jn der organischen Welt, in der empfindenden an. oder das Schiller-Goethesche: Wie verfährt die Natur, um Hohes und Niedres im Menschen Zu verbinden? Sie stellt Eitelkeit zwischen hinein. und das folgende Goethesche, welches ganz auf den bedeutungsvollen Unterschied zwischen dem im gewöhnlichen Leben ganz identisch gebrauchten, rein abstrakten Ausdruck und dem entsprechenden Verbalbegriff gebaut ist: Schadet ein Jrrtum wohl? Nicht immer, aber das Jrren, Jmmer schadet's; wie sehr, sieht man am Ende des Wegs. Allenthalben tritt in die Reflexion, sei es auch nur durch den Ausdruck, die konkrete Welt und verleiht dem anzustellenden Vergleich die Anschaulichkeit, bald in dem einen, bald im andern Hauptteile des Epigramms das Bild eines Gegenstandes, eines Verhältnisses, einer Handlung andeutend. So fast durchweg z. B. in den Schillerschen „ Votivtafeln “, aus denen die obigen Beispiele angeführt wurden; nur in sehr wenigen ist Gedanke wie Ausdruck rein abstrakt geblieben, fast ausschließlich nur da, wo der Dichter sich der ihm fast formelhaft zur Gewohnheit gewordenen Wendungen aus dem Gedankenkreise seiner philosophisch=ästhetischen Fortbildung Kantischer Begriffe bedient. So z. B. im folgenden Epigramm, welches allerdings sich nur an die mit jenem Vorstellungskreise Vertrauten wendet: Die moralische Kraft. Kannst du nicht schön empfinden, dir bleibt doch, vernünftig zu wollen Und als ein Geist zu thun, was du als Mensch nicht vermagst. Ebenso in diesem: Aufgabe. Allen gehört, was du denkst: dein eigen ist nur, was du fühlest; Soll er dein Eigentum sein, fühle den Gott, den du denkst. Aber für diese zwei finden sich sogleich beliebig viele, in denen verwandte Gedanken durch den gegenständlich anschaulicheren Ausdruck sich darstellen: Wirke Gutes, du nährst der Menschheit göttliche Pflanze; Bilde Schönes, du streust Keime der göttlichen aus. Adel ist auch in der sittlichen Welt. Gemeine Naturen Zahlen mit dem, was sie thun, edle mit dem, was sie sind. Hast du etwas, so theile mir's mit, und ich zahle, was recht ist; Bist du etwas, o dann tauschen die Seelen wir aus. Jmmer treibe die Furcht den Sklaven mit eisernem Stabe; Freude, führe du mich immer am rosigen Band! Abgesehen von denen, welche die Andeutung oder die mehr oder minder vollkommene Durchführung eines Bildes enthalten, gibt es eine beträchtliche Zahl von Epigrammen, die gar nicht anders als allegorisch genannt werden können. Hier ist die konkrete Darstellung eines Dinges, Verhältnisses, Vorganges in der zweiteiligen Form des Epigramms gegeben, aber so, daß die volle Wirkung von Erwartung und Aufschluß sich erst ergibt, wenn man für die konkrete Darstellung die ihr entsprechende abstrakte Gedankenkombination setzt. Goethe liebt diese allegorische Art des Epigramms besonders; in den „ vier Jahreszeiten “ sind sie sehr zahlreich, die ganze Reihe der unter der Ueberschrift „ Winter “ vereinigten ist fast durchweg so beschaffen: Wasser ist Körper und Boden der Fluß, das neuste Theater Thut in der Sonne Glanz zwischen den Ufern sich auf. Eingefroren sahen wir so Jahrhunderte starren, Menschengefühl und Vernunft schlich nur verborgen am Grund. Nur die Fläche bestimmt die kreisenden Bahnen des Lebens; Jst sie glatt, so vergißt jeder die nahe Gefahr. Alle streben und eilen und suchen und fliehen einander, Aber alle beschränkt freundlich die glättere Bahn. Durcheinander gleiten sie her, die Schüler und Meister Und das gewöhnliche Volk, das in der Mitte sich hält. Lehrling, du schwankest und zauderst und scheuest die glättere Fläche. Nur gelassen! Du wirst einst noch die Freude der Bahn. Fallen ist der Sterblichen Los. So fällt hier der Schüler Wie der Meister, doch stürzt dieser gefährlicher hin. u. s. f. Natürlich gilt hier dasselbe Gesetz für die Anwendung der Allegorie, welches schon oben entwickelt wurde: poetisch ist sie nur, wenn sie auch als konkrete Darstellung an und für sich selbst Bestand hat; von jeder andern konkreten Darstellung und auch von jedem derselben eingefügten Bilde unterscheidet sie sich dadurch, daß sie einmal ein selbständiges, abgeschlossenes Ganze bildet, sodann aber sowohl im ganzen als in jedem einzelnen Teile durch die ihr innewohnende Kraft der Aehnlichkeit entsprechende Gedanken und ihre Verbindung zu vergegenwärtigen geeignet und bestimmt ist. Mit Vorliebe bedient sich das satirische Epigramm der allegorischen Darstellungsweise, indem es seinen eigentlichen Gegenstand gar nicht ausspricht, sondern ihn ganz und gar durch das gewählte Bild vertreten sein läßt; so Schiller, indem er das Verhältnis zwischen Kant und seinen Auslegern im Sinne hat: Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung Setzt! Wenn die Könige bau'n, haben die Kärrner zu thun. oder Herder in dem Epigramm: „ Die Trichternasen “ (der Name einer Art von Vampyren): Obskuranten fliegen umher. Mit gebreiteten Flügeln Schweben bei Nacht sie hin, wo nur ein Lichtchen erscheint; Gräßlich ist ihr Schatten; die Trichternasen, sie saugen Schlafenden Menschen das Blut, Blut und die Seele mit aus. Gar feinfühlend sind diese Gespenster; beraubet der Augen Siehet das Nachtgeschöpf wie mit dem siebenten Sinn. Jaget mit Stecken sie fort, laßt auf sie Katzen ─ o nein doch! Lasset die Sonn' aufgehn, und sie sind alle verscheucht. Auch hier ist es indessen strenges Erfordernis, daß die Allegorie alles enthalte, um sowohl den dargestellten Gegenstand oder Vorgang als die ihm entsprechende Bedeutung vollständig und klar erkennen zu lassen, und nicht etwa um Geltung zu haben oder um überhaupt verstanden zu werden, erst des in der Ueberschrift gegebenen Hinweises bedürfe. Etwas Anderes ist es, wenn die Ueberschrift nur dazu dient, den an sich in dem Gedichte vollständig gegebenen Jnhalt und die deutlich erkennbare allgemeine Anwendung durch speziellen Hinweis auf einen einzelnen bestimmten Fall zu individualisieren, wie in dem eben citierten Epigramm auf Kant und in der Mehrzahl der Goethe-Schiller'schen „ Xenien “ geschehen ist. Wo dagegen die Ueberschrift einen unentbehrlichen Teil des Gedichtes selbst ausmacht, da ist ein wesentliches Gesetz dieser Dichtungsart verletzt, und man wird sich schwerlich täuschen, wenn man in solchen Fällen von vornherein annimmt, daß es da auch zugleich mit noch wichtigeren Erfordernissen, mit dem gewählten Bilde und mit dem Gedanken selbst, nicht seine Richtigkeit hat. Man betrachte z. B. das folgende Herdersche Epigramm: O du Heiliger, bleibt dir immer dein trauriges Schicksal, Zwischen Schächern gehängt, sterbend am Kreuze zu sein? Und zu deinen Füßen erscheint das Wort des Propheten Von der Ochsen und Farrn feisten geselligen Schar. Heiliger, blick auf mich und sprich auch mir in die Seele: „Vater, vergib! denn die wissen ja nie, was sie thun.“ Das Gedicht ist völlig unverständlich, und auch als Rätsel betrachtet könnte es schwerlich jemals irgend einen Menschen auf die Meinung des Verfassers bringen. Liest man nun die Ueberschrift: „ An das Crucifix im Konsistorium, “ so ist freilich der satirische Sinn vollauf deutlich, aber ebenso, daß es weder einen allgemein giltigen Gedanken enthält, noch, was weit schlimmer ist, eine allgemein mitteilbare Stimmung oder Empfindung. Was dem Epigramme zu Grunde liegt, sind indi= viduelle Verstimmungen über persönliche Erfahrungen des Weimarer General-Superintendenten, vielleicht auch berechtigte, aber um dichterisch allgemein wirksam im Epigramm verwertet zu werden, dazu hätte im ersten Teil die Erwartung rege gemacht werden müssen durch die Exposition desjenigen speziellen Verfahrens oder derjenigen Denkungsweise der so schlimm charakterisierten Konsistorialräte, welche für den vernichtenden Aufschluß empfänglich zu machen geeignet wäre. Das Gedicht würde dadurch nicht allein verständlich geworden sein, sondern es hätte sich damit aus einer bloßen Gehässigkeit, die es jetzt ist, in ein wirkliches Epigramm verwandelt, dessen satirische Uebertreibung als Stachel des Witzes und nicht als Schmähung gewirkt hätte. Denn das Epigramm will und soll seinen Gegenstand nur von einer Seite betrachten; eben um dessentwillen ist die Kürze eine seiner wesentlichen Eigenschaften; wo sich bei den ausgezeichnetsten Epigrammatisten längere Epigramme finden, da fällt diese größere Ausdehnung fast ausschließlich dem ersten Teile, der die „Erwartung“ rege macht, zu und setzt sich in den bei weitem meisten Fällen aus einer Häufung von Bezeichnungen zusammen, die sämtlich eine und dieselbe Seite der Sache nur um so schärfer und ausschließlicher hervorkehren. Lessing hat gezeigt, daß in einer Gattung von Epigrammen, die er die hyperbolische nennt, sogar auf diese Ausführlichkeit alles ankommt; in den beiden Beispielen aus dem Martial (XI, 18 und VIII, 33), die er anführt, beruht die Wirkung auf der Vorstellung äußerster Kleinheit, die in dem ersten Teil durch eine Reihe sich steigernder Hyperbeln hervorgebracht wird und welche die kurze Lösung vorbereitet, durch die jetzt erst das Epigramm seine ethische Färbung erhält. So schließt das erste derselben, nachdem es sich in Metaphern der Winzigkeit des von Lupus dem Dichter geschenkten Landgütchens erschöpft hat: Errasti, Lupe, littera sed una: Nam quo tempore praedium dedisti, Mallem tu mihi prandium dedisses . Und in ähnlicher Weise das andere: Quid tibi cum phiala, ligulam cum mittere possis, Mittere cum possis vel cochleare mihi? Magna nimis loquimur, cochleam cum mittere possis; Denique cum possis mittere, Paule, nihil . Mit Recht hebt Lessing hervor, daß Martial sich mit der bloßen Hyperbel nicht begnügt, sondern „fast immer von der Hyperbel noch zu einer Betrachtung fortgehet, die mehr hinter sich hat; “ diese Be= trachtung und das Mehrere, was sie hinter sich hat, ist eben die ethische Wendung, die, sei sie nun gnomisch oder satirisch gefaßt, das Epigramm nicht entbehren kann. Hier aber ist in Lessings Argumentation eine Lücke geblieben; es entsteht eine Frage, welche durch seine Behandlung nicht erledigt wird, und deren Beantwortung noch eine andre ganze Gattung des Epigramms in ihrer Berechtigung erkennen läßt. „Es haben,“ heißt es bei Lessing, „dergleichen hyperbolische Sinngedichte ihre eigene Anmut. Nur müssen sie nicht auf die bloße Hyperbel hinauslaufen, so wie dieses griechische (a. a. O. XI, 249): Ἀγρὸν Μηνοφάνης ὠνήσατο, καὶ διὰ λιμὸν ἐκ δρυὸς ἀλλοτρίας αὑτὸν ἀπηγχόνισεν . Γῆν δ' αὐτῷ τεθνεῶτι βαλεῖν οὐκ ἔσχον ἄνωθεν , ἀλλ' ἐτάφη μισθοῦ πρός τινα τῶν ομόρων . Εἰ δ' ἔγνω τὸν ἀγρὸν τὸν Μηνοφάνους Ἐπίκουρος πάντα γέμειν ἀγρῶν εἶπεν \̓αν, οὐκ ἀτόμων . „„Menophanes hatte Feld gekauft, aber vor Hunger mußte er sich an einer fremden Eiche hängen. Soviel Erde hatte er nicht, daß sein Leichnam damit bedeckt werden konnte; man mußte ihm seine Grabstelle auf benachbartem Grunde kaufen. Hätte Epikurus das Feld des Menophanes gesehen, so würde er gesagt haben, daß alles voller Felder wäre, nicht voller Atomen.““ „Denn ein solches Sinngedicht,“ fährt er fort, „besteht offenbar aus nichts als Erwartung: anstatt des Aufschlusses wird uns das äußerste Glied der Hyperbel untergeschoben, und alle unsere Erwartung soll sich mit der Unmöglichkeit, etwas Größeres oder Kleineres abzusehen, begnügen. Dergleichen Spiele des Witzes können Lachen erregen, aber das Sinngedicht will etwas mehr. Die griechische Anthologie ist davon voll, da sie hingegen bei dem Martial sehr sparsam vorkommen.“ Sie sind auch bei Martial so selten nicht, als es scheint, und wenn die griechische Anthologie und ebenso, kann man hinzufügen, die gesamte neuere Epigrammen-Dichtung von ihnen voll ist, sollten sie dann schlechtweg als mißraten auszuscheiden sein? Denn ein Epigramm, dem die wesentliche Hälfte fehlte, wäre nicht mehr mit Recht ein Epigramm zu nennen. Doch so schlimm steht die Sache nicht; schon das Beispiel, welches Lessing selbst für sich anführt, dürfte er schwerlich richtig beurteilt haben. Es soll aus nichts als Erwartung bestehen, der Aufschluß soll fehlen, statt seiner nur das letzte Glied der Hyperbel eintreten? Es darf nur mit genauestem Anschluß an das Original übersetzt werden, um für sich selbst zu sprechen: Ein Landgut kaufte sich Menophanes und hing Aus Hunger sich an eines andern Eiche auf. Nicht soviel Erde fand man drauf ihn zuzudecken, Begraben wurde er für Geld bei einem Nachbarn. Hätt' Epikur das Gut des Menophanes gesehen, Er ließ das All von Gütern wimmeln, nicht von Atomen. Die Erwartung ist offenbar allein durch die beiden ersten Verse erregt; Lessing übersetzt willkürlich, wenn er die beiden Sätze darin mit „ aber “ verbindet, sie hängen durch καὶ zusammen und zwar notwendig; die Erwartung wird durch zwei nebeneinander gestellte Thatsachen erregt: Menophanes kauft sich ein Landgut und hängt sich aus Hunger auf, noch dazu auf fremdem Grund und Boden. Warum? Die Lösung erfolgt in den übrigen vier Versen, und zwar dem Jnhalt nach in den beiden nächsten, welche hyperbolisch die außergewöhnliche Geringfügigkeit des erkauften Besitzes anzeigen. Der Form nach wäre das Epigramm damit fertig, es gewinnt aber ungemein durch das letzte Versepaar, welches durch kolossale Steigerung der Hyperbel einen sehr komischen Kontrast hervorruft. Untersucht man aber diese ganze Klasse der lediglich „ hyperbolischen “ Epigramme, deren Wirkung in der That also auf nichts weiter beruht, als auf dem durch die Höhe der Steigerung hervorgerufenen komischen Kontrast, und die nach Lessing „aus nichts als Erwartung bestehen“ sollen, genauer, so zeigt sich, daß, sofern dieselben einen größeren Umfang annehmen, derselbe wie in dem eben behandelten Beispiele vielmehr durch die Erweiterung des zweiten Teiles, also gerade des Aufschlusses, herbeigeführt wird; dagegen ist die „Erwartung“ auf den kürzesten Ausdruck beschränkt, meistens ist ihr nur ein Vers, mitunter, bei oft wiederholtem Thema, nur ein Teil desselben gewidmet. So enthält in dem folgenden Epigramm der Anthologie nur die erste Zeile die Exposition, alle andern bilden den Aufschluß, und nur innerhalb dieses findet die hyperbolische Steigerung statt (a. a. O. XI, 406): Τοῦ γρυποῦ Νίκωνος ὁρῶ τὴν ρῖνα, Μένιππε · αὐτὸς δ ' οὐ μακρὰν φαίνεται εἶναι ἔτι . Πλὴν ἥξει, μείνωμεν ὅμως · εἰ γὰρ πολὺ, πέντε τῆς ῥινὸς σταδίους, οἴομαι, οὐκ ἀπέχει . Ἀλλ' αὐτὴ μὲν, ὁρᾷς, προπορεύεται · ἤν δ ' ἐπὶ βουνὸν ὑψηλὸν στῶμεν, καὐτὸν ἐσοψόμεθα . Sieh doch, Menippus, die Nase des geierschnäbligen Nikon; Da kann er selbst so weit, sicherlich, schon nicht mehr sein. Kommen wird er jedoch, wir warten; ist's sehr viel, so ist er Ein Kilometer vielleicht hinter der Nase zurück. Sie aber wandert voraus, wie du siehst; wenn wir dort jenen hohen Hügel ersteigen, vielleicht glückt es ihn selbst zu erspähn. Das Epigramm könnte mit dem zweiten Verse schließen; alle übrigen sind nur eine Verschärfung der schon vorhandenen Pointe. Ganz ähnlich ist das Verhältnis bei dem folgenden Beispiel; nur ist es noch kürzer gefaßt und die hyperbolische Steigerung wird durch wiederholt erregte Erwartung und Lösung bewirkt (a. a. O. XI, 268): Οὐ δύναται τῇ χειρὶ Πρόκλος τὴν ῥῖν̓ ἀπομύσσειν · τῆς ῥινὸς γὰρ ἔχει τὴν χέρα μικροτέραν · οὐδὲ λέγει Ζεῦ σῶσον ἐὰν πταρῇ · οὐ γὰρ ἀκούει τῆς ῥινὸς · πολὺ γὰρ τῆς ἀκοῆς ἀπέχει . Nicht vermag Proklos mit der Hand seine Nase zu schneuzen: Denn seine Hände, sie sind für seine Nase zu klein. Auch kann er kein Gott helf, wenn er niest, zu sich sagen; denn niemals Hört er von ihr; sie ist weit, weit von den Ohren entfernt. Noch kürzer und mit genau demselben Verhältnis zwischen Erwartung und Aufschluß hat Lessing denselben Gedanken in einem Jugend-Epigramm behandelt: O aller Nasen Nas'! Jch wollte schwören, Das Ohr kann sie nicht schnauben hören. Aber wer sieht nicht, daß der Reiz von dergleichen Kleinigkeiten gerade in dem Scharfsinn und der Feinheit der weiteren Ausführung und in einer gewissen übermütigen Freude an der Steigerung der Gegensätze ins Kolossale liegt, daß aber, ob sie nun in äußerster Kürze oder in kunstvoll ausgedehntester Erweiterung vorgetragen werden, ihr Wesen dasselbe bleibt, eben jenes, welches Lessing so glücklich mit dem Namen der hyperbolischen Gattung bezeichnet hat? Jn dem Lessingschen Epigramm genügen für die Erwartung drei Worte: „O aller Nasen Nas'“, und so kann ein einziges Beiwort mit kürzester Bezeichnung der Situation für die Exposition genügen, z. B. wenn ein Epigramm der Anthologie „ den kleinen Menestratus “ einführt, wie er um die Frühlingszeit sich eben „hingesetzt“ hat (XI, 407), ─ τὸν λεπτὸν θακεῦντα Μενέστρατον ─ eine Ameise kriecht hervor und schleppt ihn mit sich fort nach einer Erdritze, eine vorüberfliegende Mücke raubt ihn und entführt ihn, wie der Adler des Zeus den Ganymedes, er entfällt ihr, aber bleibt mit den Augenbrauen in dem Netze einer Spinne hängen. Eines der in breiterer Weise und zwar sehr geschickt und witzig durchgeführten Epigramme des Martial (XII, 29) enthält als ganze Exposition im ersten Verse die Bezeichnung des Hermogenes als des ärgsten Serviettendiebes, und der „Aufschluß“ besteht in den durch zehn Distichen sich häufenden Hyperbeln über die Ausübung der Manie, die alle nur die Schlußpointe vorbereiten: At cenam Hermogenes mappam non attulit unquam, A cena semper rettulit Hermogenes . Zwischen diesem aber und dem folgenden des Martial (XII, 88) scheint kein anderer Unterschied zu sein, als daß das letztere statt einer ganzen Reihe von Hyperbeln nur eine einzige enthält: Tongilianus habet nasum: scio, non nego Sed jam Nil praeter nasum Tongilianus habet . Gegen Epigramme wie dieses ist der Form nach nichts einzuwenden ─ und sie sind zahlreich genug ─ doch läßt sich nicht leugnen, daß sie recht kahl sind und ungesalzen, wenn nicht eine Würze hinzugethan wird; eine solche aber kann schon in der Drastik des angewendeten Vergleichs liegen, wenn z. B. Logau dasselbe Thema folgendermaßen variiert: Nasalus ist ein großer Herr, schickt ins Quartier und meldt sich an! Lakay, Trompeter ist es nicht; wer denn? Die Nase kömmt voran. Mitunter fehlt solche Würze bei Martial ganz, wie z. B. II, 35, wo er einem Krummbeinigen anrät, seine Füße in einem Trinkhorn zu waschen; oder sie wird durch das obscöne Element gegeben, wie in dem widerwärtigen 36. des VI. Buches, nach dem von ihm selbst aufgestellten und so emsig befolgten Gesetze (vgl. I, 35): Lex haec carminibus data est jocosis, Ne possint, nisi pruriant, juvare . Was freilich das eben citierte Nasenepigramm auf den Tongilianus angeht, so möchte den Martial hier der Vorwurf mit Unrecht treffen; warum sollte es nicht über das bloße Spiel des Witzes hinaus den tieferen, allegorischen Sinn haben, daß, wie auch wir metaphorisch von einer „feinen Nase“ sprechen, das Geruchsorgan hier für die kritische Befähigung steht, und das Epigramm also sagen würde: „Ja, er mag sie haben, ich weiß es und will es nicht leugnen; aber bei ihm ist es so weit, daß er aus gar nichts anderm besteht, als aus Kritik.“ Die Adresse des „Tongilianus“ mag, wenn auch der Name fingiert ist, durch irgend eine notorische Beziehung den Lesern des Martial diesen Sinn ganz nahe gelegt haben. Aber auch für uns gewinnt diese Auffassung Gewißheit, wenn wir das zweite Epigramm des XIII. Buches vergleichen: Nasutus sis usque licet, sis denique nasus, Quantum noluerat ferre rogatus Atlas, Et possis ipsum tu deridere Latinum: Non potes in nugas dicere plura meas, Ipse ego quam dixi. Quid dentem dente juvabit Rodere? carne opus est, si satur esse velis. Ne perdas operam: qui se mirantur, in illos Virus habe, nos haec novimus esse nihil. Non tamen hoc nimium nihil est, si candidus aure, Nec matutina si mihi fronte venis . Nichts ist gleich deiner Nase! Es sei, ja du seist ganz Nase, Riesengroß, zu groß selbst für des Atlas Gesicht, Ja, du könntest getrost Trotz bieten sogar dem Latinus: Strenger verklagst du doch meine Gedichtchen mir nicht, Als ich selbst es gethan. Was nützt es, den Zahn an dem Zahne Wetzen? Suche dir Fleisch, wenn du dich sättigen willst. Hier verlierst du die Müh': die sich selber bewundern, für jene Spare dein Gift! Was sind meine Gedichte? Ein Nichts! Und doch nicht so völlig ein Nichts, wenn du nur willigen Ohres Nicht mit zartester Stirn unter den Hörern erscheinst! Jmmer aber bleibt eine beträchtliche Zahl von Epigrammen übrig, in denen es an einer solchen tieferen Beziehung fehlt. Wie steht es bei diesen mit der im Obigen entwickelten Theorie, nach der das Epigramm gleich der gnomisch=satirischen Dichtung die Nachahmung eines bei dem Dichter vorhandenen Ethos enthalten muß? Die Theorie läßt uns auch hier nicht im Stich. Um ein spezielles Ethos handelt es sich in diesen rein komischen Epigrammen allerdings nicht; das Objekt der Mimesis ist bei ihnen allen immer ein und dasselbe, es ist die heitere Stimmung, wie sie jeder treffende Witz, jede glücklich erfundene Anekdote, auch abgesehen von ihrem etwaigen gnomischen oder satirischen Jnhalt, durch die bloße Kontrastwirkung erzeugt, und auch diese ist ein berechtigtes Ethos. Es ist die harmlose Freude an dem völlig freien Spiel der Phantasie, wie sie ebenso durch die groteske Karikatur, wo dieselbe sich von Satire möglichst freihält, erzeugt wird; doch sind der Dichtung hier unendlich weitere Grenzen gesteckt als den bildenden Künsten. Während diese immer doch die Glaubwürdigkeit der realen Erscheinung aufrecht erhalten müssen, erzielt jene Art von Dichtung ihre Wirkung gerade damit, daß sie auf Grund eines einzigen festgehaltenen Aehnlichkeitsmomentes nun in allem Uebrigen den Kontrast soweit als möglich treibt und durch solches Phantasiespiel belustigt. Jmmerhin ist das Genre beschränkt und bedarf besonderer Anmut der Form, um zu gefallen. Ueberhaupt läßt sich für das Epigramm das Gesetz aussprechen, daß die Bedeutuug seines ethischen Gehaltes und der Scharfsinn seiner Gestaltung in Form von Erwartung und Aufschluß in umgekehrt proportionalem Verhältnis stehen; was auf der einen Seite nachgelassen wird, muß in um so höherem Grade auf der anderen geleistet werden. Deshalb suchen wir bei einem Dichter, der den Schwerpunkt seiner Produktion in diese poetische Gattung gelegt hat, vor allem in seinen Gedichten die Abspiegelung seiner Gefühls- und Gemütsart, seiner Gesinnung; so z. B. bei unserem Logau! Was ihn uns wert macht, ist sein charaktervolles Ethos: sein echt deutsches Herz, seine Vaterlandsliebe, sein patriotischer Zorn, sein gerader, unbestechlicher und kerniger Sinn, seine herzliche Freude am Guten, Einfachen, Naturgemäßen, seine herbe Verachtung alles Falschen, Unwahren, Gekünstelten und Widernatürlichen. Freilich besitzt er auch den Witz, Scharfsinn und die spezifische Phantasie des Epigrammatikers in hohem Grade; doch in einer großen Zahl seiner Stücke, und sehr inhaltreichen, ist die epigrammatische Form nur wenig ausgeprägt, mitunter so schwach, daß sie nur noch als Sinnsprüche zu bezeichnen sind. So ist in den folgenden der Gedanke wenigstens noch in gegensätzlicher Fassung ausgesprochen: Wer seinem Willen lebt, lebt ohne Zweifel wohl; Doch dann erst, wenn er will nicht anders, als er soll. oder: Witz, der nur auf Vorteil gehet, ist nicht Witz, er ist nur Tücke. Rechter Witz übt nur was redlich, weiß von keinem krummen Stücke. und: Fang alles an mit Wohlbedacht; führ alles mit Bestand: Was drüber dir begegnen mag, da nimm Geduld zur Hand. Noch schwächer ist die Form von Erwartung und Aufschluß vorhanden in Sprüchen wie diese: Freunde muß man sich erwählen Nur nach wägen, nicht nach zählen. oder vollends: Freude, Mäßigkeit und Ruh Schließt dem Arzt die Thüre zu. und: Wer Sünde weiß zu scheuen, Der darf sie nie bereuen. Aber selbst in ihnen ist jene Form, wenn auch fast verschwindend, wenigstens noch zu erkennen. Umgekehrt hat die gnomisch=didaktische Spruchdichtung die entschiedene Neigung, überall sich der epigrammatischen Form anzunähern, dem Gedanken durch den Gegensatz von Erwartung und Aufschluß Gestalt zu verleihen; sehr zahlreiche Stellen, z. B. in Freidanks „ Bescheidenheit “, können geradezu für Epigramme gelten: Suln ketzer, juden, heiden, von Gote sîn gescheiden, so hât der tiuwel daz groezer her, ezn sî, daz uns genâde erner . ebenso das unmittelbar folgende: Eînes dinges hân ich grôzen nît, daz Got gelîche weter gît kristen, juden, heiden: der keinz ist ûz gescheiden . Mitunter bestehen ausgedehnte Stellen bei Freidank aus einer ununterbrochenen Reihe einzelner Epigramme, so in dem Abschnitt: „Von Rôme“: Swer lebet in des bâbstes gebote, derst sünden ledic hin ze Gote. Der bâbest ist ein irdisch Got, Und ist doch dicke der Rômaer spot. Ze Rôme ist sbâbstes êre kranc: in vremediu lant gât sîn getwanc. Sîn hof vil dicke wüeste stât, sô er niht vremeder tôren hât. Swenne alle krümbe werden sleht, sô vindet man ze Rôme reht . Und so fort! Auch die Form der priamel findet sich bei ihm, welche im späteren Mittelalter durch einige Dichter und im Volksmunde zu selbständiger Ausbildung gelangte; sie ist eine Variante der epigrammatischen Gattung, bei welcher der erste Teil statt aus einem einzigen Satz aus einer Häufung von die Erwartung spannenden, gleichartigen Vordersätzen besteht, die alle ein und denselben, immer in äußerster Kürze ausgesprochenen, Aufschluß finden, so daß mitunter ein jeder dieser Vordersätze mit dem Schlußsatz verbunden ein Epigramm darstellen würde. So in dem folgenden Beispiel aus dem fünfzehnten Jahrhundert: Kommt kunst gegangen vor ein haus, so sagt man ihr, der wirt sei aus; kommt weisheit auch gezogen dafür, so findt sie zugeschlossen die thür; kommt zucht und ehr derselben maas, so müßen sie gehn dieselbe straße; kommt lieb und treu, die wär gern ein, so will niemand ihr thorwart sein; kommt wahrheit und klopfet an, so muß sie lang vor der thür stahn; kommt gerechtigkeit auch vor das thor, so findt sie ketten und riegel vor; kommt aber der pfennig geloffen, so findt er thür und thor offen. Auf der einen Seite läuft also das Epigramm in die gnomische Poesie aus, mitunter bis zum Verschwinden seiner eigentümlichen Form; auf der andern bleibt diese Form, nicht selten bis zur Künstelei ausgeartet, allein übrig, wenn über dem bloßen Vergnügen an komischem Kontrast der Gemüts- und Empfindungsgehalt, das Ethos, daraus verschwindet: in der Mitte liegen mit glücklicher Verbindung der Form und des Jnhalts die Meisterwerke dieser Gattung. Als eine Charakteristik des Besten dieser Gattung könnte das Lob gelten, welches Körner in einem Briefe vom 11. Oktober 1796 den Schiller-Goetheschen Xenien spendet: „Für mich ist es ein herrlicher Genuß, eine solche Reihe von Kindern vor mir zu sehen, die Eure geistige Heirat zur Welt gebracht hat. Eben aus der Verschiedenheit Eurer Naturen sind die köstlichsten Mischungen entstanden: hier Klarheit bei tiefem Sinne, dort Jnnigkeit bei froher Laune; hier üppige Kraft bei strenger Zucht, dort zarte Empfänglichkeit für die Natur bei dem höchsten Streben nach dem Jdeale. ─ Was ich bei diesen Produkten vorzüglich ehre, ist das Spiel im höheren Sinne. Spielend behandelt Jhr die fruchtbarsten Resultate des schärfsten Nachdenkens und der geprüftesten Erfahrung, die lieblichsten Bilder der Phantasie, die süßesten Empfindungen, die widerlichsten Albernheiten; und gleichwohl verliert der Gedanke nichts an seinem Gehalt, der Stachel der Satire nichts an Schärfe.“ Sehr schön ist in diesem Urteile das Wesentliche hervorgehoben, worauf die Vorzüglichkeit dieser Art Gedichte beruht: vor allem die Trefflichkeit des Ethos, welches ihr Gegenstand ist, und sodann, was sie freilich ebensowenig entbehren können, die Virtuosität in der Behandlung ihrer spezifischen Form. ────── X. Die Ausartung des Epigramms in den einfachen Sinn- und Denkspruch, wobei außer der Kürze alle wesentlichen Eigenschaften seiner Form geopfert sind, bildet nicht die einzige Klasse von Pseudo-Epigrammen: abgesehen von den lediglich lehrhaften oder den ganz inhaltsleeren, denen jede Spur von Ethos mangelt, gibt es eine, freilich nur kleine Anzahl von Pseudo-Epigrammen, welche eben auch nur durch ihre Kürze sich in diese Dichtungsgattung einzuschleichen suchen, in Wahrheit aber einer ganz verschiedenen, der epischen Gattung angehören. Nach der Herderschen Theorie freilich, welche die charakteristische Form des Epigramms völlig zerstört, wäre dieser Uebergang in der Natur der Sache liegend und legitim; wie schon oben citiert, sagt er ausdrücklich: „Wie leicht und bald kann eine Geschichte oder Fabel, die die Runde und Kürze des Epigramms hat, auch der Gestalt nach ein solches werden! Man darf die Geschichte nur etwa als Jnschrift auf den Ort der Begebenheit beziehen und in ihr eine allgemeine Lehre anschaulich machen, so ist die Fabel Epigramm und das Epigramm eine Fabel. “ Dieser Satz folgt bei ihm ganz notwendig aus dem Grundirrtum, in dem er sich sowohl in Bezug auf das Epigramm als auf die Fabel befindet: daß nämlich jenes nichts als die Exposition eines Gegenstandes zu sein brauche, und daß diese „ eine in Handlung gesetzte Lehre sei (vgl. Adrastea „Fabel“ Hemp. Bd. 14, S. 211). So vieles Herder an Lessings Fabeltheorie auszusetzen findet, in diesem Punkte, in welchem gerade Lessing sich am weitesten von der richtigen Auffassung der Fabel entfernt hat, ist er ihm treulich gefolgt. Desto schärfer scheidet Lessing die Gattungen des Epigramms und der Fabel voneinander, welche Herder an mehr als einer Stelle gänzlich ineinander fließen läßt (vgl. auch Adrastea 14,221: „ eine Fabel, die Epigramm war, ward bei den Griechen Epigramm in elegischem Silbenmaße“). Man lese, wie sich Lessing („Ueber das Epigramm“ I, 2) über diesen Unterschied äußert: „Das Gegenteil von den zu aller moralischen Anwendung ungeschickten, kleinen Erzählungen sind diejenigen, welche zwar auch ohne alle Betrachtung und Folgerung vorgetragen werden, aber an und für sich selbst eine allgemeine Wahrheit so anschauend enthalten, daß es nur Ueberfluß gewesen wäre, sie noch mit ausdrücklichen Worten hinzuzufügen. Von dieser Art ist die folgende bei dem Ausonius: Thesauro invento, qui limina mortis inibat, Liquit ovans laqueum, quo periturus erat. At qui, quod terrae abdiderat, non reperit aurum, Quem laqueum invenit, nexuit et periit : 'Nen Schatz fand einer, der sich eben hängen wollte, Froh ließ er die Todesschlinge an dem Ort zurück. Als aber jener das Gold nicht fand, der es vergraben, Hing er in der gefund'nen Schlinge sich auf und starb. wovon das griechische Original in der Anthologie zu finden. Oder aus eben dieser Anthologie die von mehreren Dichtern daselbst vorgetragene Geschichte vom Lahmen und Blinden: Ἀνέρα τις λιπογύιον ὑπὲρ νώτοιο λιπαυγὴς Ἦρε πόδας χρήσας, ὄμματα χρησάμενος . Auf dem Rücken daher trug einen Gelähmten ein Blinder, Brauchte die Beine für ihn, borgte von ihm das Gesicht. Wer ist so blödsinnig, daß er die großen Wahrheiten, von welchen diese Erzählungen Beispiele sind, nicht mit ihnen zugleich denke? Und was auf eine so vorzügliche Art einen Sinn in sich schließt, das wird doch wohl ein Sinngedicht heißen können? „Doch auch das nicht. Und warum sollte es ein Sinngedicht heißen, wenn es etwas weit Besseres heißen kann? Mit einem Worte: es ist ein Apolog, eine wahre Äsopische Fabel; denn die gedrungene Kürze, mit welcher sie vorgetragen ist, kann ihr Wesen nicht verändern, sondern allenfalls nur lehren, wie die Griechen solcherlei Fabeln vorzutragen liebten. Es kommen deren, außer den zwei angeführten, in der Anthologie noch verschiedene vor; ─ ─ alle sind mit der äußersten Präcision erzählt ─ ─ ─. „Der wesentliche Unterschied, der sich zwischen dem Sinngedicht und der Fabel findet, beruht aber darin, daß die Teile, welche in dem Sinngedichte eines auf das andere folgen, in der Fabel in eins zusammenfallen und daher nur in der Abstraktion Teile sind. Der einzelne Fall der Fabel kann keine Erwartung erregen, weil man ihn nicht ausgehört haben kann, ohne daß der Aufschluß zugleich mit da ist; sie macht einen einzigen Eindruck und ist keiner Folge verschiedener Eindrücke fähig. Das Sinngedicht hingegen enthält sich eben darum entweder überhaupt solcher einzelnen Fälle, in welchen eine allgemeine Wahrheit anschauend zu erkennen, oder läßt doch diese Wahrheit beiseite liegen, und zieht unsere Aufmerksamkeit auf eine Folge, die weniger notwendig daraus fließt. Und nur dadurch entsteht Erwartung, die dieses Namens wenig wert ist, wo wir das, was wir zu erwarten haben, schon völlig voraussehen.“ Der wesentliche Unterschied liegt also nach Lessing darin, daß die Fabel durch Erzählung eines einzelnen Falles eine allgemeine Wahrheit unmittelbar „der Anschauung erkennbar“ macht, während das Epigramm niemals eine solche Aufgabe sich stellen oder lösen kann, sondern selbst da, wo es in seinem ersten Teile einen einzelnen Fall erzählt, durch seinen zweiten Teil die Aufmerksamkeit auf einen Gedanken zu lenken hat, der wider Erwarten sich darin entdecken läßt, auf eine Beobachtung, welche ihrer Natur nach der bloßen Anschauung sich entziehen müßte. Aber der Unterschied ist noch weit größer und liegt noch tiefer im Wesen der Sache begründet, als er von Lessings irrigem Standpunkte in der Fabeltheorie wahrgenommen werden konnte. Eine Dichtung, welche darauf ausginge, „allgemeine Wahrheiten zur anschauenden Erkenntnis zu bringen“, oder gar, wie Herder will, „eine Lehre darzustellen“, gibt es nicht. Selbst da, wo sie sich der Gedankendarstellung als ihres Mittels bedient, ist das Ziel, auf das sie hinausgeht, die Erweckung psychischer Vorgänge, ob dieselben nun in das Gebiet des Pathos oder das des Ethos gehören. Dies sind die immer sich gleichbleibenden, aber in ihrer Mannigfaltigkeit unerschöpflichen Gegenstände der lyrischen Poesie mit allen ihren Nebenarten; daß dieselbe zur Erreichung desselben Zweckes sich auch der Darstellung eines Vorganges, einer Begebenheit, einer äußeren Handlung bedienen kann, daß sie in manchen ihrer Arten sogar so verfahren muß, ist im Vorstehenden verschiedentlich gezeigt worden: ebenso aber auch, daß in allen diesen Fällen die Darstellung der Handlung nur als Mittel auftritt, niemals an und für sich der Zweck der Nachahmung ist, und daß deshalb ihre Erzählung auch nur andeutungsweise erfolgt oder doch ganz und gar bestimmt durch den eigentlichen Zweck, der jedesmal für die Nachahmung maßgebend ist. Es gibt nun aber einen Fall, von welchem bisher noch gar nicht die Rede gewesen ist, daß die Handlung nämlich zugleich das Mittel und der Zweck der Darstellung ist, daß sie selbst den Gegenstand der Nachahmung bildet: das dritte der drei Objekte, in denen überhaupt sich alle Mimesis der Künste erschöpft, neben Pathos und Ethos: die Handlung ─ πρᾶξις . Dies ist der Fall in aller epischen Poesie. Ehe aber die Anwendung dieses Satzes auf die hier gerade vorliegende Erörterung der Theorie der Fabel gemacht werden kann, muß hier zuvor die Untersuchung über die außerordentlich weit- und tiefgreifende Bedeutung des Begriffes der Handlung ─ der πρᾶξις ─ erfolgen. Maßgebend dafür ist die Lehre, welche der klassische Erforscher dieses ganzen Gebietes, Aristoteles, in seinen psychologischen und ethischen Schriften entwickelt hat. Vor allem ist die hier geltende Grundbedeutung festzustellen: in Analogie mit den Begriffen des Pathos und Ethos hat πρᾶξις == Handlung ─ im Gegensatze zu dem gewöhnlich darunter verstandenen Begriff der äußeren Handlung ─ für dieses ganze Gebiet zunächst die Bedeutung eines seelischen Vorganges. So wird das Wort von Aristoteles, wo es sich um psychologische und ethische Fragen handelt, immer gebraucht. Es hat dann aber bei ihm noch zwei weitere Bedeutungen: einmal bezeichnet es die jenem seelischen Vorgange entsprechende, ihn verwirklichende That, sodann in noch weiterem Umfange die Gesamtheit der dieselbe begleitenden, unmittelbar sie bedingenden und durch sie hervorgerufenen, durch sie zu einem einheitlichen und vollständigen Ganzen vereinigten äußeren Umstände und Begebenheiten. Jn allen diesen drei Bedeutungen schließt sich der deutsche Sprachgebrauch des Wortes „ Handlung “ dem griechischen πρᾶξις genau an. Für die beiden weiteren Bedeutungen bedarf das keines Beweises, eher für jene engere Grundbedeutung von Handlung im inneren, geistigen Sinne. Es ist hier ein näheres Eingehen erforderlich. Nach Aristoteles sind die Empfindungen ─ die πάθη ─ an und für sich unmittelbare und unbewußte Aeußerungen der Lebensthätigkeit der Seele, Veränderungsvorgänge, die entsprechend den äußeren auf sie einwirkenden Dingen und Vorgängen naturgemäß, ihrer Anlage und Beschaffenheit entsprechend, in ihr erfolgen. Sie gehören also an und für sich dem vernunftlosen Teile ( ἄλογον ) der Seele an. Es kann geschehen, daß sie bei einem Menschen im Wesentlichen auch so verbleiben: dann werden sie jedesmal, sobald sie durch starke erregende Ursachen in höherem Grade in seiner Seele stattfinden, notwendigerweise auch bestimmend sein für das, was er begehrt und wovor er zurückweicht ( δίωξις und φυγή ); eben daraus werden bei ihm dann auch in jedem Falle die Thatimpulse ( ὀρέξεις ) und Handlungen entstehen. Von einem solchen Menschen sagt Aristoteles, daß er „nach seinen Empfindungen lebt und handelt“ ( κατὰ πάθος ζῆν und κατὰ πάθος πράττειν ). Ein solches Leben und Handeln steht nach ihm auf einer sehr niederen Stufe, obwohl damit keineswegs gesagt ist, daß das letztere im einzelnen Falle objektiv schlecht oder auch an sich objektiv unrichtig sein müßte; es kann bei einer von Natur gemäßigt beanlagten Seele und unter gleichmäßigen und günstigen Verhältnissen sogar in vielen Fällen objektiv maßvoll und richtig sein: nur niemals gut, niemals bewußt recht, und keinen Augenblick, weil ganz von den äußeren Einwirkungen abhängig, vor den schlimmsten Abweichungen gesichert. Wo aber die Empfindungsanlage einer Seele von Hause aus nach irgend einer Richtung zu den Extremen des Zuviel oder Zuwenig neigt und die Umstände diese Neigung noch verstärken, da sehen wir dann zügelloses und leidenschaftliches Begehren, Wollen und dementsprechende Handlungen ( ἀκρατεῖς ). Nun sind aber die Veränderungsvorgänge der Seele, die wir Empfindungen nennen, an und für sich zwar dem vernunftlosen Teile der Seele angehörig, sie haben jedoch zugleich die Fähigkeit der Vernunft Folge zu leisten, gleichsam der Stimme eines Vaters gehorsam ( ὡς ἐπιπειθὲς τῷ λόγῳ ... ὥσπερ πατρὸς ἀκουστικόν ); durch die regulierende Stimme der Vernunft kann es nun im einzelnen Falle geschehen, daß entweder, wenn die Empfindungsregung von Natur die richtige und in richtigem Maße vorhanden war, die Willensentscheidung ( προαίρεσις ), welche für die Handlung maßgebend ist, nun auch mit dem Bewußtsein des Rechten und aus den richtigen Gründen erfolgt, oder daß zu starke Empfindungsregungen durch den Einfluß des vernünftigen Willens die notwendige Herabminderung auf das richtige Maß erfahren, den zu schwachen durch die von seiten der Vernunft erfolgende Geltendmachung starker, berechtigter Beweggründe die erforderliche Steigerung zum rechten Maße zu teil wird. Wie also richtige Handlungen nicht zustande kommen können ohne die regelnde und entscheidende Mitwirkung der Vernunft, so sind sie andrerseits auch nicht denkbar ohne das Vorhandensein und die Mitwirkung zu Grunde liegender Empfindungen, die im Verein mit jener die Willensentscheidungen bewirken; die Faktoren, aus deren Vorhandensein und Zusammenwirken die richtigen Handlungen hervorgehen, sind aber ebenso, wenn auch in den verschiedensten Arten der Beschaffenheit und des gegenseitigen Verhältnisses, die notwendigen Voraussetzungen aller menschlichen Handlungen, auch der unrichtigen und der schlechten. Zu diesen beiden gesellt sich nun noch ein dritter Faktor. Bei jedem Menschen, welcher nicht durch schwere Krankheit oder sonstige bedeutend hindernde Verhältnisse in seiner Entwickelung gewaltsam gestört ist, finden doch irgend welche Einflüsse des bewußten Wollens auf den bloß pathischen ─ empfindenden ─ Teil der Seele statt. Durch die stetige Wiederholung dieser Einflüsse in nahezu sich gleichbleibender Weise und Richtung bildet sich im Verlauf normaler Lebensdauer eine bestimmte, stehende, im ganzen und großen dauernd mit sich selbst übereinstimmende Beschaffenheit der so modifizierten Pathe ─ Empfindungen ─ heraus, ein bleibendes Verhalten also ( ἕξις ), welches ein Produkt der Thätigkeit beider Teile der Seele, des vernunftlosen und vernünftigen ( ἄλογον und λόγον ἔχον ) ist, somit also eine individuell verschiedene Beschaffenheit der gesamten Seele. Denn dieser Vorgang findet nicht in Bezug auf nur eine oder mehrere Empfindungen statt, sondern er betrifft ihre Gesamtheit, sowohl in ihrem gegenseitigen Verhalten, wo der zu hohe Grad der einen oft den zu geringen der andern bedingt, als auch in dem besondern Verhältnis einer jeden von ihnen zu der regulierenden Vernunft. Dieser Gesamtzustand der Seele, welcher je nach der Art seiner Zusammensetzung und, je nachdem er als dauernder Zustand oder zeitweilig vorhanden ist ─ denn es können durch Mitwirkung außergewöhnlicher Empfindungsweisen und damit sich kombinierender Vernunftvorstellungen natürlich derartige Zustände auch als vereinzelte und vorübergehende vorkommen Man denke z. B. an das Ethos der Andacht, welches, seiner eigentlichen Natur nach in allmählicher Entwickelung erwachsen, der Seele als dauernder Besitz angehört und gleichwohl doch auch durch Erregung der Empfindungen und Vorführung der Vernunftbegriffe, auf denen sie beruht, momentan, ja plötzlich hervorgerufen werden kann; ebenso Großmut, Ehrfurcht, Hingebung u. s. f., sie können als Regungen ─ wie der deutsche Sprachgebrauch sie in diesem Falle bezeichnet ─ zeitweilig und momentan auch in Gemütern auftreten, welche diesen ethischen Dispositionen für gewöhnlich verschlossen sind. ─, unendlich zahlreiche Modifikationen aufweist, den wir daher im Deutschen bald Seelenbeschaffenheit, bald Seelenzustand, Gemütsart, auch Seelenstimmung nennen müssen, ist es, den die Griechen mit dem einen Namen des „ Ethos “ bezeichneten. Es geht aus der Natur dieses Begriffes hervor, muß aber wegen eines eingebürgerten fälschlichen Gebrauches dieses griechischen Terminus immer von neuem erinnert werden, daß darunter keineswegs, wie es mit dem lateinischen Ausdruck Moral geschieht, allein die sittlich richtige Beschaffenheit der Seele oder gar des Handelns verstanden werde, sondern daß der Ausdruck jedwede Gesamtbeschaffenheit der Seele, jedweden aus verschiedenen Empfindungskräften kombinierten, in dieser oder jener Art, bedeutend oder auch geringer durch Vernunfteinflüsse modifizierten, dauernden oder auch nur vorübergehenden Seelenzustand bedeuten kann. Welch einen großen und wichtigen Einfluß neben und mit dem Pathos, das ja immer für den einzelnen Fall seine an und für sich ihm zukommende Bedeutung behält, nun auf das Zustandekommen der Willensentscheidung und der aus derselben hervorgehenden Handlung die Beschaffenheit des jedesmal obwaltenden Ethos haben muß, liegt auf der Hand; ebenso aber, daß dieser Einfluß auch umgekehrt stattfindet und also ein wechselseitiger ist. Denn wer sieht nicht, daß das Ethos, sei es nun ein vorübergehendes oder vollends dauernder Natur, durch das Zusammenwirken der Empfindungskräfte und einzelner oder in langer Reihe fortgesetzter, diesem gegenüber ausgeübter Willensentscheidungen sich herausbildet, daß es also, wie es einerseits auf die Handlungen mitbestimmend einwirkt, so andrerseits wiederum selbst als ein Produkt von Empfindungen und Handlungen anzusehen ist. Danach ist also die Handlung in ihrer eigentlichen, engeren Bedeutung als der wichtigste Vorgang des gesamten Seelenlebens aufzufassen, gleichsam als seine Blüte oder auch als seine Frucht, der charakteristische Ausdruck seiner gesamten Beschaffenheit. Als ihre Grundlage können alle Arten von Empfindungen in ihr zur Geltung und Erscheinung gelangen: Haß und Liebe, Freude und Schmerz, Furcht und Mitleid, Zorn und Weichheit, Neid, Mißgunst, Eifersucht oder alle Arten großmütiger, freigebiger, sorglos vertrauender Regungen; ebenso aber auch durch die Einwirkungen des vernünftigen Willens auf jene oder durch den Mangel derselben alle Arten von Ethos: fromme Scheu oder Hybris, mutige Fassung und Standhaftigkeit oder Verzweiflung und Schwachmütigkeit, Festigkeit und Leichtsinn, Hochsinn und Engherzigkeit, Sanftmut und Unversöhnlichkeit, Treue und Wankelmut, Ungestüm und Besonnenheit und wie die Gegensätze und ihre unzähligen Zwischenstufen alle heißen, oder auch, ohne daß sie in der Sprache eine Benennung erhalten haben, doch im Handeln sich als wirksam erweisen mögen. Aus alle dem geht klar hervor, wie es zu verstehen ist, wenn wir bei Aristoteles Sätze finden wie diesen: τὰς δὲ πράξεις περὶ ψυχὴν τίθεμεν ( cf. Eth. Nicom. cap. 8. 1098 b 15), „wir fassen die Handlungen als Vorgänge auf, welche dem Gebiet der Seele angehören“; die Handlung im engsten und zugleich prägnantesten Sinn ist in der auf dem Grunde pathischer Vorgänge und ethischer Zustände erfolgenden Willensentscheidung enthalten: in diesem an sich rein seelischen Vorgange ist alles gegeben, was zur Beurteilung ihres Wesens, ihrer erklärenden Ursachen und ihrer notwendigen Folgen erforderlich ist. Dieser an sich rein psychische Vorgang kann also ebenso wie ein Pathos oder wie ein Ethos durch Anwendung der dazu geeigneten Mittel nachgeahmt werden und zwar so, daß durch die Nachahmung, gerade wie bei jenen, alle Erfordernisse für die Möglichkeit vereinigt werden, daß in den Seelen derer, welche diese Nachahmung auf sich wirken lassen, das Abbild dieses psychischen Vorganges sich wiederholt. Es mag hier sogleich ausgesprochen werden, was freilich erst an einer andern Stelle ausgeführt werden kann, daß sich aus diesem Grundverhältnis unmittelbar der Maßstab dafür ergibt, welches denn nun die rechten Nachahmungsobjekte für die Kunst seien, d. h. was in der Kunst als schön gelten wird. Jn der bloßen Wahrheit, d. h. Richtigkeit der Nachahmung an sich kann dieser Maßstab nicht gegeben sein, obwohl dieselbe nicht in dem kleinsten Stücke entbehrt werden kann: er kann nur in dem höchsten und endgültigen Ziele der Kunst (ihrem τέλος τέλειον ) gefunden werden, welches immer unveränderlich dasselbe ist: daß nämlich, mögen die angewendeten Mittel und der eingeschlagene Weg der Nachahmung noch so verschieden sein, ihre Auswahl im Beginn, im Verlauf und in ihrem Abschlusse von der einen leitenden Hauptabsicht bestimmt sei, daß durch ihre Gesamtheit in der Seele des Empfangenden das richtige Bild des richtigen Pathos, des richtigen Ethos, der richtigen Willensentscheidung hervorgebracht werde, richtig nach ihrer Beschaffenheit, Stärke, ihren Gründen, nach dem Zeitpunkte und der Stelle, an welcher sie auftreten. Der durchaus unbestimmte und schwankende Begriff der Jdealität, welcher in der modernen Aesthetik die Hauptrolle spielt ─ unbestimmt und schwankend deshalb, weil er im einzelnen Falle für die Auswahl des Nachahmungs= objektes sich unfruchtbar und sogar als irreleitend erweist ─ bekommt damit einen greifbaren, für jeden Fall in einer jeden Dichtungsgattung klar und mit Sicherheit zu bestimmenden Jnhalt. Es ist etwas Grundverschiedenes, ob durch die Forderung „ idealer Darstellung “ eine Verschönerung des Gegenstandes derselben verlangt wird, mag sie nun durch Verstärkung seiner Vollkommenheiten oder durch Fortlassung seiner Unvollkommenheiten, oder durch beides zugleich erreicht werden: oder ob für jeden einzelnen Fall von der künstlerischen Darstellung gefordert wird, daß sie nur erfolgen dürfe, sofern ihr Gegenstand in der Seele des Künstlers die richtige, die der Natur des Gegenstandes entsprechende Bewegung erzeugte, und er denselben also in der Weise darstellte, daß die Nachahmung dieses Seelenvorganges bei dem Empfangenden durch das Kunstwerk ebenso hervorgebracht werde, wie sie bei ihm selbst, durch die Vorstellung seines Gegenstandes erregt, vorhanden war. Daß der Hörer eines Liedes also von derselben Empfindung ergriffen werde, von welcher der Sänger des= selben erfüllt war, und zwar, daß es gesunde, gute, edle, große, berechtigte Empfindungen seien; daß der Vortrag einer Ballade, einer gnomischen oder satirischen Dichtung in derselben Weise, mit dem gleichen Erfolge, ein ebenso geartetes Ethos nachzuahmen geeignet sei; daß endlich die Erzählung einer Handlung, wieder unter genau denselben Bedingungen, die Gesamtheit der in der Darstellungsweise des Erzählers derselben zu Grunde liegenden Seelenbewegungen und =Thätigkeiten durch die Nachahmung so bei dem Zuhörer wiedererwecke, daß er mit seinem Empfinden dieser Handlung ebenso gegenübersteht, als der Dichter, d. i. also, daß er sie richtig aufzunehmen, hinsichtlich der empfindenden Wahrnehmung ─ d. i. ästhetisch ─ in den Stand gesetzt werde. Die Art aber, wie in jedem dieser Fälle die künstlerische Nachahmung zu verfahren hat, welche Objekte sie also zu erwählen, von welcher Seite sie dieselben darzustellen, was daran hervorzuheben, was fortzulassen, welche Form sie ihnen zu erteilen hat, um die beabsichtigte Wirkung hervorzubringen, das alles ergibt sich jedesmal von selbst und mit Notwendigkeit zu einem Teile aus dieser Absicht an sich und zum andern aus der Natur der dieselbe zugleich veranlassenden und sich ihr darbietenden Gegenstände und der für ihre Nachahmung zur Verwendung gelangenden Mittel. Damit ist für jede Kunstgattung und für jede ihrer Arten die Möglichkeit einer bestimmten technischen Gesetzgebung eröffnet; das unübertreffliche, freilich einzig dastehende Muster dafür ist in der Aristotelischen Lehre von der Tragödie vorhanden. Die Gewähr aber, daß im einzelnen Falle jene höchste künstlerische Absicht erreicht ist, liegt darin, daß den innerhalb und vermittelst der ästhetischen Wahrnehmung sich vollziehenden psychischen Energien, sofern sie die richtigsten und besten sind, unfehlbar als begleitende und sie gleichsam krönende Erscheinung ( τελείωσις τῇς ἐνεργείας ) sich die Freude, das ästhetische Vergnügen ─ die Hedone ─ zugesellt, und zwar in um so höherem Grade, je höher geartet der Gegenstand dieser ästhetischen Seelenthätigkeit ist und in je vollendeterer Weise diese selbst von statten geht. Ausführlich ist dieser Gegenstand vom Verf. behandelt in seinem Buche: „ Aristoteles, Lessing und Goethe “, Leipzig, Teubner 1877, im Abschnitt V: „Des Aristoteles Lehre von der Hedone und dem Kalon“. Die Hauptstelle, auf welche sich die im Obigen angedeutete Theorie stützt, steht in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, Buch X, Kap. 4 (1174 b , 14─33): Αἰσθήσεως δὲ πάσης πρὸς τὸ αἰσθητὸν ἐνεργούσης, τελείως δὲ τῆς εὖ διακειμένης πρὸς τὸ κάλλιστον τῶν ὑπὸ τὴν αἴσθησιν· τοιοῦτον γὰρ μάλιστ̓ εἶναι δοκεῖ ἡ τελεία ἐνέργεια· αὐτὴν δὲ λέγειν ἐνεργεῖν, \̓η ἐν ᾧ ἐστὶ, μηδὲν διαφερέτω· καθ' ἕκαστον δὲ βελτίστη ἐστὶν ἡ ἐέργεια τοῦ ἄριστα Ohne alle Frage ist also die nach jeder Richtung hin vollständige Nachahmung einer Handlung der höchste Gegenstand, welchen sich die Dichtung erwählen kann, denn er ist zugleich der reichste und wendet sich am unmittelbarsten an das Organ, mit welchem wir alle künstlerische Nachahmung aufnehmen, an die empfindende Wahrnehmung, die Aisthesis. Hier trifft, wie schon oben gesagt, das Mittel der Nachahmung mit ihrem Zwecke gewissermaßen zusammen, insofern beides durch den Ausdruck Handlung bezeichnet wird, freilich das eine Mal das Wort seinem engeren, inneren Sinne nach, das andere Mal im weiteren Sinne verstanden. Denn wie anders kann die Nachahmung διακειμένου πρὸς τὸ κράτιστον τῶν ὑφ' αὑτήν· αὕτη δ ' \̓ αν τελειοτάτη εἴη καὶ ἡδίστη· κατὰ πᾶσαν γὰρ αἴσθησιν ἐστὶν ἡδονὴ, ὁμοίως δὲ καὶ διάνοιαν καὶ θεωρίαν , ἡδίστη δ ' ἡ τελειοτάτη, τελειοτάτη δ' ἡ τοῦ εὖ ἔχοντος πρὸς τὸ σπουδαιότατον τῶν ὑφ' αὑτήν . τελειοῖ δὲ τὴν ἐνεργείαν ἡ ἡδονή .... καθ' ἑκάστην δ' αἴσθησιν ὅτι γίγνεται ἡδονὴ δῆλον· φαμἐν γὰρ δράματα καὶ ἀκούσματα εἶναι ἡδέα . δῆλον δἐ καὶ ὅτι μάλιστα, ἐπειδὰν ἥ τε αἴσθησις ᾖ κρατίστη καὶ πρὸς τοσοῦτον ἐνεργῇ . τοιούτων δ ' ὄντων τοῦ τε αἰσθητοῦ καὶ τοῦ αἰσθανομένου, ἀεὶ ἔσται ἡδονή .... τελειοῖ δἐ τὴν ἐνέργειαν ἡ ἡδονὴ οὐχ ὡς ἡ ἕξις ἐνυπάρχουσα, ἀλλ' ὡς ἐπιγιγνόμενόν τι τέλος, οἷον τοῖς ἀκμαίοις ἡ ὥρα . Zu Deutsch (cf. 1174 b , 14─24): „Eine jede Wahrnehmung wird wirksam in Bezug auf den wahrzunehmenden Gegenstand; in höchster Vollendung aber geschieht das, wenn sie selbst am besten dazu angelegt ist und wirksam wird in Bezug auf den schönsten der in ihren Bereich fallenden Gegenstände: denn in den meisten Fällen scheint die höchstvollendete Wirksamkeit so geartet zu sein ─ ob sie nämlich selbst wirksam genannt wird oder derjenige, in welchem sie vorgeht, ist gleichgültig ─, überall entsteht die vollkommenste Wirksamkeit so, daß der am vortrefflichsten dazu Angelegte dieselbe ausübt in Bezug auf das Vollkommenste, was im Bereich derselben vorhanden ist. Eine solche Wirksamkeit wäre die höchstvollendete und zngleich auch mit dem höchsten Grad von Freude verbunden. Denn bei einer jeden Wahrnehmung kann Freude entstehen, ebenso aber auch beim Denken und bei der Erkenntnis, jedoch mit der höchsten Freude verbunden ist die höchstvollendete, und die höchstvollendete bei dem, der mit der am besten dazu geeigneten Beschaffenheit dem Würdigsten gegenübertritt, das in ihrem Bereich vorhanden ist. Es ist aber die Freude die Vollendung der Wirksamkeit ...“ Wie diese Vollendung der Energie durch die Hedone zu verstehen sei, führt Aristoteles an dem zunächst sich darbietenden Beispiel der aus der Wahrnehmung resultierenden Hedone, also „ dem ästhetischen Vergnügen “, aus (cf. 1174 b 26─33); „denn daß bei jeder Wahrnehmung Freude entstehen kann, ist klar; wir sprechen ja doch von der Freude an Gesichts- und Gehörseindrücken; offenbar aber wird dieselbe den höchsten Grad erreichen, sobald die Wahrnehmung die vorzüglichste ist und in Bezug auf ein eben solches Objekt wirksam ist; wenn diese beiden so beschaffen sind, dann wird immer Freude entstehen ... Es vollendet aber die Freude die Wirksamkeit nicht wie eine dieser natürlich innewohnende Beschaffenheit, sondern wie ein vollendender Abschluß tritt sie zu ihr hinzu, wie zu der Jugendkraft die Schönheitsblüte .“ der geistigen, innern Handlung erreicht werden, als durch die Erzählung der ihr entsprechend in die äußere Erscheinung tretenden That, und wie anders kann diese vollständig, d. h. mit allen für ihr völliges Verständnis erforderlichen innern und äußern Umständen dargestellt werden, als indem zugleich von der Gesamtheit der sie innerlich erklärenden Empfindungen und Gemütszustände und der äußerlichen Verhältnisse und Begebenheiten berichtet wird, welche sie bedingen? Und wie könnte durch Anwendung aller dieser Mittel der Zweck, den eigentlichen und entscheidenden Akt der innern Handlung mit allen ihm vorausgehenden und ihn begleitenden Seelenbewegungen in der Seele des Hörers sich reproduzieren zu lassen, besser erreicht werden, als indem die Erzählung alles aufbietet, um die Hörer in möglichst genau dieselbe Lage zu bringen, wie die dem ganzen Umfange der Handlung nach in dieselbe eingeweihten Zeugen derselben? Daß also die Darstellung nirgends für die theoretische Analyse der das Gute und Böse abwägenden Vernunft oder für die dialektische Kritik des über das Rechte oder Unrechte, das Nützliche oder Schädliche, das Kluge oder Thörichte entscheidenden Verstandesurteils eingerichtet ist, sondern überall für das Auge und die empfindende Wahrnehmung des Hörers, daß sie also lediglich seiner ästhetischen Urteilskraft sich darbietet, deren Urteil unmittelbar, ohne alle Dazwischenkunft logischer Jnstanzen, in den durch die Darstellung in Bewegung gesetzten Seelenvorgängen gegeben ist, also in den nachgeahmten Empfindungen, Seelenzuständen und innern Handlungen, ─ den Pathe, Ethe und Praxeis? Die Sphäre aber der ästhetischen Urteilskraft ist die Entscheidung über das ästhetische Vergnügen, die Hedone; ihr Spruch kann nicht anders lauten als „ wohlgefällig “ oder „ mißfällig, “ alle andern Urteile, die in die Sphäre der Vernunft oder des Verstandes fallen, können erst nachträglich daraus abgeleitet werden. Daß dem aber so ist, daß dieses ästhetische Urteil so unmittelbar und so ohne alles Bewußtsein von Gründen gefällt wird, daß es außerdem, sofern es ein richtiges ist, in notwendiger Uebereinstimmung mit jenen anderen Urteilen erfolgen muß, das bedarf nach dem im Obigen Entwickelten keines Beweises, sondern geht als einfachste Konsequenz daraus hervor. Denn wenn dieses ästhetische Urteil, je richtiger und reicher begründet es ist, in um so stärkerem Auftreten des ästhetischen Vergnügens sich äußert, wenn aber im wirklichen Leben die Seelenthätigkeiten, die Pathe, Ethe und Praxeis, je reicher und mannigfaltiger sie in Wirksamkeit gesetzt werden und je mehr sie mit den wahren Gesetzen der Vernunft und des Verstandes sich in Harmonie befinden, desto mehr von dem Gefühl der wahren Freude begleitet sind, so ist es ja offenbar, daß die Erscheinung dieser selben Freude, welche die Thätigkeit der empfindenden Wahrnehmung, der Aisthesis, begleitet, sobald dieselbe durch die künstlerische Nachahmung in den Stand gesetzt wird, jene Seelenthätigkeiten gleichsam zu wiederholen, unter allen Umständen den sicheren Rückschluß auf die Beschaffenheit jener Seelenthätigkeiten gestatten muß: das heißt mit anderen Worten, daß in dem unmittelbar und ohne Bewußtsein der Gründe gefällten Urteil über das Wohlgefällige der Nachahmung ebenso auch die Urteile der Vernunft über das Gute und die des Verstandes über das Richtige derselben enthalten sein, daß sie alle drei zusammenstimmen und daß die beiden letzten aus dem ersten sich entwickeln lassen müssen. Nachahmungen, welche die so beschriebene Wirkung haben, sind schön: was dazu gehört, sie hervorzubringen, worin, mit andern Worten, das Schöne besteht, kann also durch eine allgemeine Definition nicht bestimmt werden, sondern auf der einen Seite freilich durch die Gesetze über die Beschaffenheit der Nachahmungsobjekte, d. i. der Seelenthätigkeiten und =Beschaffenheiten ─ und diese Gesetze sind allerdings allgemeiner Natur ─, auf der andern aber, welche für die Ausführung die entscheidende ist, einzig und allein durch die für jede Kunstgattung und =Art verschiedenen Vorschriften darüber, welche Wahl von einer jeden unter den Nachahmungsobjekten zu treffen ist und in welcher Art dieselben, je nach der Beschaffenheit der zu Gebote stehenden Mittel, der empfindenden Wahrnehmung vorzuführen sind. Das Ergebnis davon ist für jede Gattung und Art der Kunst die Regel ihrer Form. Der Satz, welchen Lessing als das Grundgesetz für die gesamte Dichtung aufstellt: „ Handlungen sind der Gegenstand der Poesie “, hat also seine Geltung nur für das eine Gebiet derselben, die Epik in ihrem ganzen Umfange. Wo die Handlung sonst in der Dichtung auftritt, dient sie derselben nur als Mittel, d. h. sie wird nicht um ihrer selbst willen erzählt, sondern sie wird nach einer einseitigen Richtung hin benutzt, um einen abgesonderten Nachahmungszweck zu ereichen: einen anderen im Liede, einen anderen in der Ballade, in in der gnomischen Dichtung oder im Epigramm. Was Goethe in dem inhaltschweren Liede „ Gefunden “ („Jch ging im Walde so für mich hin“ u. s. w.) erzählt, erinnert freilich den in die Lebensverhältnisse des Dichters Eingeweihten an eine Handlung, die den Namen im eminentesten Sinne verdient, aber es fehlt ge= waltig viel daran, daß sie als eine solche in dem Liede dargestellt wäre. Ja, um für die reizende lyrische Verwendung überhaupt brauchbar zu werden, mußte sie von dem Dichter nicht allein aller individuellen Beziehungen entkleidet werden, sondern es mußte ihr Schwerpunkt aus dem Spezifischen und Wesentlichen der Handlung als solcher, das in der Natur und Entstehung der Willensentscheidung liegt, hinausgerückt werden, um sie ganz und gar einer einzigen der sie begleitenden Empfindungen, oder einer einzelnen Gruppe derselben, dienstbar zu machen. Wenn das Bild, durch welches sie mitgeteilt wird, so gewählt wäre, daß im Vordergrunde das Hauptmoment der eigentlichen Handlung stände: aus zufällig=leichtsinniger Begegnung bildet sich der Entschluß zu einem Bunde für das Leben heraus: so wäre die Dichtung als Lied unmöglich; sie würde eingehende, novellistische Darstellung der Handlung unumgänglich erfordern. Statt dessen hat der Dichter von allen Seelenvorgängen, mit denen jene Handlung für ihn verbunden war, nur die eine Empfindung festgehalten: die erhöhte, zart schonende und sorglich hegende Liebe, die wir einem unserer Herzensteilnahme würdigen Gegenstande gerade dann erweisen, wenn wir zuvor im Begriff waren, ihn achtlos zu verletzen. Um diese schöne und allgemein mitteilbare Empfindung, wie sie für den Dichter die Erinnerung eines individuellen Erlebnisses begleitete, den Gesamteindruck deselben bezeichnend, gleichsam wie der Duft die Blume, nun nachahmend in allen Hörern entstehen zu lassen, erfand er jenen kleinen Vorgang, der von der eigentlichen Handlung weiter gar nichts enthält, als was ─ im strengsten Sinne genommen ─ geeignet war, die besondere Färbung, Jntensität und eigenartige Mischung jener Empfindungsweise zu erwecken. Jmmerhin hat er dazu als Mittel die Erzählung einer äußeren Handlung verwendet, aber Jnhalt und Zweck des Gedichtes sind nicht auf die Beschäftigung derjenigen unserer Seelenkräfte gerichtet, welche beim Handeln in Bewegung geraten, sondern nur auf den einzelnen Teil derselben, welcher in eben jener Empfindung beschlossen ist. Es ist genau das Verfahren des Volksliedes. Mit welcher skrupulösen Genauigkeit sich Goethe demselben angeschlossen hat, erkennt man in überraschender Weise, wenn man beachtet, daß das eben besprochene Lied bis in die allerkleinsten Züge das getreue Pendant zu jenem Volksliede ist, welches der Dichter in seinen Jugendtagen sich zu eigen machte: dem „ Haidenröslein “. Hier der Jünglingssinn, dort die Mannesweise; dem gereiften Sinn entdeckt sich der verborgene Wert, das Jünglingsauge wird durch die Schönheit gelockt, dort zarte sorgende Schonung, hier übermütig und rücksichtslos vordringende Leidenschaft; ist dort Gesamtinhalt der Nachahmung: Dauer und beglückende Wärme der befestigten Neigung, so hier: die verhängnisvolle Mischung von flüchtigem, stürmischem Genießen und lange dauernden scharfen Schmerzen in unbeständiger Jünglingsliebe. Die Mittel der Darstellung sind in beiden Fällen sowohl in der Wahl des Bildes als bis in die Details der Anordnung und des Ausdrucks genau dieselben. Jn beiden Gedichten, soweit sie der Zeit nach auseinander liegen ─ 1771 und 1813 ─ genau dieselbe Form des Gespräches mit einer Blume, hier des Knaben mit dem Haidenröslein, dort des Mannes mit dem Waldblümchen, und in völliger Uebereinstimmung durchgeführt: „Sah ein Knab' ein Röslein stehn, Röslein auf der Haiden“, und dort: „Jm Schatten sah ich ein Blümchen stehn“; dann die Schilderung: „War so jung und morgenschön“, dort: „Wie Sterne leuchtend, wie Aeuglein schön“; aber entsprechend dem grundverschiedenen Stimmungscharakter hier der sorglos daherstürmende, begehrende Knabe: „Lief er schnell es nah zu sehn, Sah's mit vielen Freuden“; dort die Achtlosigkeit des seiner Gedankenwelt hingegebenen, von Leidenschaften befreiten Mannes: „Jch ging im Walde So für mich hin, Und nichts zu suchen, Das war mein Sinn.“ Dem entsprechend weiter hier: „Jch breche dich“, und die Antwort: „Jch steche dich, daß du ewig denkst an mich“; dort: „Jch wollt' es brechen, Da sagt es fein: Soll ich zum Welken Gebrochen sein?“ Ebenso in beiden Fällen der Ausgang: „Und der wilde Knabe brach's Röslein auf der Haiden; Röslein wehrte sich und stach, Half ihm doch kein Weh und Ach, Mußt' es eben leiden“; dagegen dort: „Jch grub's mit allen Den Würzlein aus, Zum Garten trug ich's Am hübschen Haus. Und pflanzt' es wieder Am stillen Ort; Nun zweigt es immer Und blüht so fort.“ Ein vollkommener, bis in die kleinste Einzelheit durchgeführter Parallelismus! Um aber sich zu vergegenwärtigen, was denn nun, im Gegensatze hierzu, darunter zu verstehen sei, wenn die Handlung selbst, d. h. also diejenigen Seelenvorgänge, welche beim Handeln in Bewegung sind, zum Zwecke der Nachahmung gemacht wird, genügt es schon, wenn man die einfachste, kürzeste und daher am leichtesten zu überschauende Art der epischen Gattung nach dieser Richtung genauer untersucht: die Fabel. ────── XI. Wieder ist es Lessing, von dessen Definition der Fabel hier ausgegangen werden muß. Nirgends hat Lessing dem seine Zeit beherrschenden Jrrtum von der Lehrhaftigkeit der Dichtung und ihrer Bestimmung, moralische Besserung zu bewirken, einen stärkeren Tribut entrichtet als hier. Freilich weist er die Fabel mehr der Philosophie und Rhetorik als der eigentlichen Poesie zu, aber immerhin betrachtet er sie doch als „Gedicht“, insofern man „das Wesen eines solchen in die bloße Fiktion setzt,“ und spricht ihr nur „als notwendige Eigenschaft“ den „poetischen“ Ausdruck und „ein gewisses Silbenmaß“ ab, während er auch dieses als zulässig betrachtet, sofern beides mit solcher Meisterschaft gehandhabt wird, daß dadurch weder der Kürze noch der strengsten innern Folgerichtigkeit der Fadeldichtung Eintrag gethan wird. Seine Definition lautet: „Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besonderen Fall die Wirklichkeit erteilen und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt, so heißt diese Erdichtung eine Fabel.“ Sie ist ihm also ihrem Ursprung und Zweck nach, wie er selbst es ausdrückt, „ ein Exempel der praktischen Sittenlehre “. Aus diesem Gesichtspunkt faßt er nun folgerichtig auch alle Eigenschaften der Fabeldichtung auf und erklärt also ihre Haupteigentümlichkeit, die Anwendung der Tiere als handelnder Personen lediglich aus „ der allgemein bekannten Bestandheit ihrer Charaktere “, deren das Exempel der Sittenlehre bedürfe, um in möglichster Kürze, mit dem stärksten Nachdruck und „ohne Erregung der Leidenschaften“, welche „die Erkenntnis verdunkeln würden“, den moralischen Satz zur anschauenden Erkenntnis zu bringen. Schon zu seiner Zeit und sogar unmittelbar nach dem Erscheinen seiner „Abhandlungen über die Fabel“ erregte er damit bei denen, welche im Gegensatz zu der bisherigen philosophisch=spekulativen Methode in der poetischen Theorie und Kritik das Wesen der Poesie in einem unmittelbaren Schöpfungsakt der erregten Empfindung erblickten, bei den theoretischen Verkündigern der anbrechenden Genie-Periode, den leidenschaftlichsten Widerspruch. Kaum ist Lessing jemals wieder mit solcher Heftigkeit ─ und zugleich mit so viel Berechtigung ─ angegriffen worden, als es damals durch Hamann geschah, und nur der wunderlich verdeckten Angriffsweise und der bis zur völligen Unverständlichkeit gehenden Dunkelheit der Ausdrucksweise desselben ist es zuzuschreiben, daß diese Thatsache sowohl damals als in der späteren litterarhistorischen Kritik unbemerkt blieb. Die heftigste Ankündigung seines neuen Evangeliums ging recht eigentlich von der Polemik gegen Lessing aus: es ist die „ Aesthetica in nuce “, „ eine Rhapsodie in kabbalistischer Prose “, die 1762 in den „ Kreuzzügen des Philologen “ erschien. Die Sprache der schwungvollsten Begeisterung wechselt darin unaufhörlich mit der bittersten Jronie, und die heftigsten Sarkasmen brechen unvermutet überall hervor. „Nicht Leyer! ─ noch Pinsel! ─ eine Wurfschaufel für meine Muse, die Tenne heiliger Litteratur zu fegen!“ ─ so beginnt die Rhapsodie, und gleich darauf folgen die berühmten, so oft citierten Worte: „Poesie ist die Muttersprache des Später hat dann Herder an demselben Punke eingesetzt, wie so oft, mit starkem Gefühl für das Richtige, aber mit schwankender Dialektik und vielfach entschieden unrichtigen Gründen. Volle Klarheit hat erst Jakob Grimm in den Gegenstand gebracht, indem er von der Höhe seiner litterarhistorischen Kenntnis der Ent= menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau älter als der Ackerban: Malerey ─ als Schrift: Gesang ─ als Deklamation: Gleichnisse ─ als Schlüsse: Tausch ─ als Handel. Ein tieferer Schlaf war die Ruhe unserer Urahnen; und ihre Bewegung ein taumelnder Tanz. Sieben Tage im Stillschweigen des Nachsinnens oder Erstaunens saßen sie ─ ─ und thaten ihren Mund auf ─ zu geflügelten Sprüchen. ─ ─ Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. Jn Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit. So geht der begeisterte Ton noch eine Weile fort, von den barocksten Einfällen blitzartig durchzuckt. Und gleich der erste sarkastische Ausfall des kabbalistischen Rhapsoden offenbart unverkennbar die Adresse, an welche die ganze erbitterte satirische Polemik der Schrift gerichtet ist. Mit welcher Wut wird der „mordlügnerischen Philosophie“ gedacht, welche die Natur aus dem Wege geräumt, und nun fordere, daß sie nachgeahmt werde, um sie zum zweitenmale zu morden, „nachdem sie durch ihre Abstraktionen sie zuvor geschunden“. Sinne und Leidenschaften werden in die Schranken gerufen gegen die Lehrbücher „ voller Totenbeine, voller hypo=kritischer Untugend “, und gegen die Philologengelehrsamkeit, welche den Geist durch das Gedächtnis bilden wolle. Alle diese Ausfälle erweisen sich als mit gegen Lessing gerichtet, wenn man den an die Spitze des Ganzen gestellten Angriff als ihn treffend erkennt, freilich den Lessing nur, wie er in seiner Fabeltheorie sich darstellt. Gerade diese Abhandlungen aber waren, als Hamann jene Schrift abfaßte, vor kurzem erschienen; ihr hervorstechendster Jrrtum ist die Auffassung des poetischen Elementes der Tiersage als lediglich eines praktischen Mittels, allgemeine Wahrheiten der anschauenden Erkenntnis zugänglich zu machen, wozu, wie Lessing sich ausdrückt, die Tiere als handelnde Personen „ wegen der allgemein bekannten Bestandheit ihrer Charaktere “ besonders geeignet seien. Nun lese man die betreffende Stelle bei Hamann: „Die erste Nahrung war aus dem Pflanzenreiche: die Milch der Alten der Wein; die älteste Dichtkunst nennt ihr gelehrter Scholiast (der Fabel des Jothams und Joas zufolge) botanisch; auch die erste Kleidung des Menschen war eine Rhapsodie von Feigenblättern. ─ ─ Aber Gott der Herr machte Röcke von Fellen und zog sie an ─ unsern Stammeltern, denen die Erkenntnis des Guten und Bösen Scham gelehrt hatte. ─ Wenn die Notdurft eine Erfinderin der Bequemlichkeiten und Künste ist, so hat man Ursache, sich mit Goguet zu wundern, wie in den Morgenländern die Mode sich zu kleiden, und zwar in Tierhäuten, hat entstehen können. Darf ich eine Vermutung wagen, die ich wenigstens für sinnreich halte? ─ ─ Jch setze das Herkommen dieser Tracht in der dem Adam durch den Umgang mit dem alten Dichter (der in der Sprache Kanaans Abaddon, auf hellenistisch aber Apollyon heißt ─) bekannt gewordenen allgemeinen Bestandheit tierischer Charaktere, ─ die den ersten Menschen bewog, unter dem gelehnten Balg eine anschauende Erkenntnis vergangener und künftiger Begebenheiten auf die Nachwelt fortzupflanzen ─ ─ ─“ Man hat die Stelle für Ernst genommen und die Hypothese für doch etwas gewagt erklärt. Nichts kann klarer sein, wickelung der Poesie die Fabel als einen Teil der in sich zusammenhängenden uralten epischen Dichtung erkannte. „Wesen der Tierfabel“ in: „Reinhart Fuchs“ (1834). Erstes Kapitel. Vgl.: „Auswahl aus den kleinen Schriften J. Grimms“. Berlin 1871. F. Dümmler. S. 348. „Die Poesie, nicht zufrieden Schicksale, Handlungen und Gedanken der Menschen zu umfassen, hat auch das verborgene Leben der Tiere bewältigen und unter ihre Einflüsse und Gesetze bringen wollen.“ „Ersten Anlaß hierzu entdecken wir schon in der ganzen Natur der für sich selbst betrachtet auf einer poetischen Grundanschauung beruhenden Sprache. Jndem sie nicht umhin kann, allen lebendigen, ja unbelebten Wesen ein Genus anzueignen, und eine stärker oder leiser daraus entfaltete Persönlichkeit einzuräumen, muß sie sie am deutlichsten bei den Tieren vorherrschen lassen, welche nicht an den Boden gebannt, neben voller Freiheit der Bewegung, die Gewalt der Stimme haben, und zur Seite des Menschen als mitthätige Geschöpfe in dem Stilleben einer gleichsam leidenden Pflanzenwelt auftreten. Damit scheint der Ursprung, fast die Notwendigkeit der Tierfabel gegeben.“ Nachdem dann die vielfachen Analogien und engen Beziehungen zwischen dem Tier- und Menschenleben sehr beredt entwickelt sind, heißt es weiter: „Sobald einmal um diesen Zusammenhang des tierischen und menschlichen Lebens her die vielgeschäftige Sage und die nährende Poesie sich ausbreiteten, und ihn dann wieder in den Duft einer entlegenen Vergangenheit zurückschoben; mußte sich da nicht eine eigentümliche Reihe von Ueberlieferungen erzeugen und niedersetzen, welche die Grundlage aller Tierfabeln abgegeben haben? Alle Volkspoesie sehen wir erfüllt von Tieren, die sie in Bilder, Sprüche und Lieder einführt. Und konnte sich die allbelebende Dichtung des letzten Schrittes enthalten, den Tieren, die sie in menschlicher Sinnesart vorstellte, auch das unerläßliche Mittel näherer Gemeinschaft, Teilnahme an menschlich gegliederter Rede beizulegen?“ Und dann der entscheidende Hauptsatz, welcher zu der Lessingschen Theorie in den stärksten Widerspruch tritt: „Die Tierfabel gründet sich also auf nichts Anderes als den sicheren und dauerhaften Boden jedweder epischen Dichtung, auf uner= als daß sie schon für sich allein betrachtet und vollends im Zusammenhange des Ganzen ein flagranter Protest gegen die unberechtigte Einmischung kritischer Abstraktionen in das Mysterium des poetischen Schaffens und Werdens ist, deren Hamann auch einen Kritiker von dem Range Lessings schuldig glaubte. „ Rede, daß ich dich sehe! ─ ─“ fährt er im Tone der höchsten Emphase fort. denkliche, lang hingehaltene, zähe Ueberlieferung, die mächtig genug war, sich in endlose Fäden auszuspinnen und diese dem wechselnden Laufe der Zeiten anzuschmiegen. Gleich allem Epos, in nie still stehendem Wachstum, setzt sie Ringe an, Stufen ihrer Entwickelung zu bezeichnen, und weiß sich nach Ort, Gegend und den veränderlichen Verhältnissen menschlicher Einrichtungen unermüdlich von neuem zu gestalten und wieder zu gebären. Unter günstigem Luftstrich gedeiht sie und gewinnt Formen; wo aber die Zeit ihrer Blüte ungenutzt verläuft, stirbt sie allmählich aus und wird nur noch in bröckelhafter Volkssage dahingetragen. Es ist eben so widerstrebend echte Tierfabeln zu ersinnen, als ein anderes episches Gedicht. Alle Versuche scheitern, weil das Gelingen gebunden ist an einen unerfundenen und unerfindbaren Stoff, über den die Länge der Tradition gekommen sein muß, ihn zu weihen und festigen.“ Es kann hier nicht unerwähnt bleiben, daß die neuere Forschung diese Anschauungen J. Grimms von dem Wesen und der Entstehung der Tierdichtung als überwunden betrachtet. Jn dem schönen Buche W. Scherers über „J. Grimm “ (2. Aufl. Berlin 1885) heißt es darüber S. 291 ff. folgendermaßen: „Eine Schöpfung bewußter Kunstthätigkeit ward von ihm als ein Produkt der bewußtlos schaffenden Naturkraft des Geistes angesehen und grauer unvordenklicher Ueberlieferung zugeschrieben, was vor den Augen der bezeugten Geschichte in seiner Entstehung und Ausbildung offenlag.“ „Die ältesten Gedichte vom Wolf und Fuchs sind nicht älter als das zehnte Jahrhundert. Sie sind von Klostergeistlichen verfaßt und stammen aus Flandern und Lothringen. Jhre Nachahmung und Erweiterung, die Ausbreitung der poetischen Gattung, welche sie begründeten, erstreckte sich während des Mittelalters von dort aus nicht weiter als auf Nordfrankreich. Eine einzige Tierfabel wird bei Gothen und Baiern schon in viel älterer Zeit erzählt, aber gerade bei ihr ist die Entlehnung aus griechischer Fabel nicht nur möglich, sondern, wenn man die Chronologie ihres Auftretens verfolgt und ihrer Umwandlung nachgeht, aus mehr als einem Grunde höchst wahrscheinlich. Der alte skandinavische Norden, sonst der treueste Hüter der alten Schätze gemeinsamer nationaler Poesie, weiß nichts von Reinhart und Jsengrim. Das neuere Skandinavien teilt seine Tiermärchen mit den gar nicht verwandten Völkern der Lappen, Finnen und Esthen.“ „Der feindliche Gegensatz zwischen Fuchs und Wolf war in griechischen Fabeln schon gegeben, von denen sich lateinische Bearbeitungen früh im Mittelalter verbreiteten. Jhn ergriffen die Verfasser jener mittelalterlichen Gedichte und bildeten ihn mit großem Behagen weiter aus...“ „Zu dem aus Äsopischen Stoffen mit einem Zusatze von allegorischer Satire komponierten Grundstocke flossen indische Tierfabeln, mit anderen novellistischen Produkten in die abendländische Litteratur einströmend, hinzu. Die geschulte Gewandtheit der lateinischen Klosterdichter, die geschickte Kunstübung der nordfranzösischen Poeten verlieh der Dichtung jenen reizenden epischen Ueberfluß, welcher in Jakob Grimms Augen ihr einen so hohen Vorrang vor der Äsopischen Fabel verlieh, und welchem ihre Einführung aus der französischen in die deutsche und niederländische Nationallitteratur verdankt wird.“ Aus dieser rein epischen Auffassung der Fabel ergibt sich für Grimm die Anwendung der Tiere darin von selbst: „Sobald wir eingelassen sind in das innere Gebiet der Fabel, beginnt der Zweifel an dem wirklichen Geschehensein ihrer Ereignisse zu schwinden, wir fühlen uns so von ihr angezogen und fortgerissen, daß wir den auftretenden Tieren eine Teilnahme zuwenden, die wenig oder nichts nachgibt derjenigen, die uns beim rein menschlichen Epos erfüllt. Wir vergessen, daß die handelnden Personen Tiere sind, wir muten ihnen Pläne, Schicksale und Gesinnungen der Menschen zu.“ Es ergeben sich daraus zwei wesentliche Merkmale der Tierfabel, die in der Wirklichkeit zwar sich widerstreiten, aber deren Vereinbarung die Tierfabel nicht entraten kann: „Einmal sie muß die Tiere darstellen als seien sie begabt mit menschlicher Vernunft und in alle Gewohnheiten und Zustände unseres Lebens eingeweiht, so daß ihre Aufführung gar Die dieser Hypothese zu Grunde liegenden historischen Thatsachen waren ihrem wesentlichen Bestande nach J. Grimm bekannt; allein der Umstand, daß einem völligen Mangel schriftlicher Ueberlieferung aus dem neunten Jahrhundert im zehnten sehr spärliche lateinische Reste von Tierdichtungen gegenüberstehen, worauf dann im zwölften und dreizehnten auf einmal eine reiche Fülle solcher Stoffe erscheint, konnte seiner Hypothese nicht hinderlich sein, sondern hat vielmehr mit dazu beigetragen, sie hervorzubringen. Man darf nicht übersehen, daß solche negativen Resultate der Forschung, wie sie für die Vorgeschichte der Tierdichtung vorliegen, mit Sicherheit doch nur erweisen, daß das Material für die frühere Zeit eben nicht vorhanden ist, mag es nun verloren gegangen sein oder mag eine feste poetische Tradition überhaupt sich nicht herausgebildet haben. Dem gegenüber bleibt die Grimmsche Anschauung, die aus dem Wesen der Sache geschöpft ist, um so mehr in ihrem Rechte, weil eben wegen jenes Mangels der Ueberlieferung hier eine Hypothese erfordert wird; denn eine solche ist es doch auch nur, wenn aus dem Grunde, daß die Kunde dieser Entwickelung eine so höchst mangelhafte ist, der Schluß gezogen wird, die ganze ungeheure Bereicherung der Tiersage im dreizehnten Jahrhundert sei der bewußten Kunstthätigkeit einzelner Dichter zu danken. Stellt man sich vor, daß es doch nur Zufälligkeiten waren, die uns die äußerst geringen Nachrichten über das Vorhandensein alter deutscher Heldenlieder erhalten haben, und denen wir ferner die ebenfalls im Verhältnis zu dem Sagenmaterial des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts nur spärliche Kunde früherer Entwickelungsstadien desselben verdanken, und nimmt man nun an, daß diese Zufälle nicht eingetreten wären: zu welchen Schlüssen würde man dann z. B. in betreff unseres Nibelungenepos gelangen, wenn man für das Bild, das man sich von dem Werden und Wachsen der Sage und der Poesie in jenen frühen Zeiten entwirft, jene Methode der Schlußfolgerung, des quod non est in actis non fuit in mundo, zum Princip erheben wollte! Ja, man erwäge dafür auch nur einen Vorgang aus neuester Zeit, dessen zu gedenken hier naheliegt und der sehr lehrreich in dieser Beziehung ist: hätten die Brüder Grimm die Sammlung der deutschen Volksmärchen nicht unternommen, auf ein wie dürftiges Maß würde schon heute die Kunde von diesem reichen poetischen Besitz unseres Volkes reduciert sein nichts Befremdliches hat.“ ..... „Dann aber müssen daneben die Eigenheiten der besonderen tierischen Natur ins Spiel gebracht und geltend gemacht werden.“ Es versteht sich darnach von selbst, daß der Tierfabel ihrer Natur nach weder satirische noch didaktische Tendenz beiwohnt. Höchst geistvoll und treffend, zugleich von einer Tragweite, die sich über das gesamte epische Gebiet hin erstreckt, ist, was Jakob Grimm über diesen letzten Punkt, die vorgebliche Lehrhaftigkeit der Fabel, ausspricht: „Lehrhaft nun ist die Fabel allerdings, doch mich dünkt ihr erster Beginn nicht Lehre gewesen. Sie lehrt wie alles Epos, aber sie geht nicht darauf aus zu lehren. Die Lehre mag aus ihr und dem Epos, um eine Vergleichung zu brauchen, gezogen werden wie der Saft aus der Traube, deren milde Süße, nicht schon den gekelterten Wein, sie mit sich führen. Ueberall, wo uns das zur Moral vergorene Getränk dargeboten wird, ist nicht mehr die frische epische Tierfabel, sondern bereits ihr Niederschlag vorhanden. Daher quillt auch aus dem Epos die Lehre eigentlich reichhaltiger nach vielen Seiten hervor, der späteren Fabel wird eine bestimmte Affabulation entpreßt, die von kleinerem Bereich in vielen Fällen ihren Stoff gar nicht erschöpft hat; es könnten ihr noch ganz andere Lehren, als die gewählten, entnommen werden, ja der nämlichen Fabel sehr verschiedene. Der echten Fabel Jnhalt läßt eine Menge von Anwendungen zu, aus dem bloßen Epimythium aber sich noch keine Fabel auferbauen.“ Und so gelangt denn auch, was den „Vortrag“ der Fabel betrifft, Jakob Grimm zu dem entgegengesetzten Resultat wie Lessing: „Lessings Jrrtum lag darin, daß er in den besten griechischen Stücken den Gipfel, nicht in allen schon das Sinken und die sich zersetzende Kraft der alten Tierfabel erblickte. Zu dieser können die Apologe, die er selbst gedichtet, sich nicht anders verhalten als ein Epigramm in scharfzielender Gedrungenheit zu der milden und sinnlichen, von dem Geiste des Ganzen eingegebenen Dichtung des Altertums. Das naive Element geht den Lessingschen Fabeln ab bis auf die leiseste Ahnung. Zwar behaupten seine Tiere den natürlichen Charakter, aber was sie thun, interessiert nicht mehr an sich, sondern durch die Spannung auf die erwartete Moral. Kürze ist ihm die Seele der Fabel, und es soll in jeder nur ein sittlicher Begriff anschaulich gemacht werden; man darf umgedreht behaupten, daß die Kürze der Tod der Fabel ist und ihren sinnlichen Gehalt vernichtet.“ Die Fabel ist ihrem innersten Wesen nach episch, das ist der Grundgedanke der Grimmschen Auffassung; alle die weiteren von ihm gegebenen Bestimmungen sind aus diesem Gedanken mit Notwendigkeit sich ergebende Konsequenzen. Aufgabe der epischen Dichtung aber ist die Nachahmung einer Handlung, und zwar nicht um durch dieses Mittel irgend einen anderen Zweck zu erreichen, sondern um ihrer selbst willen, so daß die Nachahmung der äußeren Handlung die Kraft besitzt, den entsprechenden Seelenvorgang der inneren Handlung, welcher jener äußeren Handlung zu Grunde liegt, in der Seele des Wahrnehmenden sich wiederholen zu lassen. Dieser Gedanke ist es auch, welcher Herdern in seiner weitausgedehnten Bestreitung der Lessingschen Fabeltheorie überall vorschwebt, wenn auch stark verhüllt durch die irrtümlichen Grundanschauungen, von denen er ausgeht. Auch ihm ist die Fabel „die Darstellung einer in Handlung gesetzten Lehre “ Vgl. Adrastea, „Über die Fabel“ (Hempelsche Ausg. Bd. 14, S. 211). und damit „der Grund aller Dichtkunst“. Aber die auch von Lessing unumgänglich geforderte „ Allgemeinheit “ dieser Lehre ist nach Herders Meinung einzig und allein dadurch zu erreichen, daß die dargestellte Handlung eine solche sei, in der „ das Allgemeine, das Unwiderstrebliche der Naturordnung und Naturfolge nach ihren allgemeinen, dauernden Gesetzen“ sich kundgebe. a. a. O. S. 211. Jmmerhin ist ihm, sowie die „dogmatische Poesie bloß eine mit poetischem Schmuck gezierte Lehre,“ so die „Äsopische Fabel nichts als eine moralisierte Dichtung “. Vgl. Zerstreute Blätter: Über Bild, Dichtung und Fabel“ (Hempel Bd. 15, S. 95 und 96). Aber diese „Moral“ darf nur „aus dem Kreise der Menschheit“ hergenommen sein, und der Ausdruck bedeutet ihm nicht ein Pflichtgebot, sondern vielmehr „einen besondern, praktischen Satz, eine Erfahrungslehre für eine bestimmte Situation des Lebens. a. a. O. S. 101 und 103. „Zu Bildung praktischer Klugheit erfand Äsop seine Fabeln, nicht zum Behuf der Abstraktion einer allgemeinen moralischen Wahrheit.“ a. a. O. S. 106. Von diesen Voraussetzungen aus gelangt nun Herder zu der folgenden Frage: „ Wie muß die Handlung der Fabel beschaffen sein? Jst's genug, daß das Ganze, das sie erzählt, bloß eine Folge von Veränderungen sei, deren jede dazu beiträgt, den moralischen Lehrsatz der Fabel anschauend zu zeigen? oder muß sie auch in der Fabel wirkliche Handlung, d. i. eine Veränderung der Seele mit Wahl und Absicht sein?“ a. a. O. S. 107. Herder entscheidet sich für das letztere; eine bloße „Zusammenstellung einer Gedankenfolge, damit eine feine Bemerkung Stelle und Ort finde,“ gewährt in seinen Augen nicht Anspruch auf den Namen einer Fabel, sondern höchstens auf den einer „sinnreichen Dichtung“. Damit hat aber Herder gerade den Punkt bestritten, auf dessen Festhaltung Lessing in seinen Abhandlungen über die Fabel den größten Wert legt. „Eine Handlung,“ sagt Batteux, „ist eine Unternehmung, die mit Wahl und Absicht geschieht. ─ Die Handlung setzet außer dem Leben und der Wirksamkeit auch Wahl und Endzweck voraus und kömmt nur vernünftigen Wesen zu.“ Vgl. Lessing, Abhandl. über die Fabel I (Hempel Bd. X, S. 43 u. ff.). Lessing will diese Definition für den Begriff der Handlung im Epos und Drama allenfalls gelten lassen, obwohl er nicht unterläßt, nachdrücklich daran zu erinnern, daß „auch jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von verschiedenen Gedanken, wo eine die andere aufhebt, eine Handlung sei.“ Aber selbst diese Erweiterung genügt ihm noch nicht für die Fabel: „neun Zehnteile aller existierenden Fabeln, meint er, wären auszustreichen,“ wollte man die Batteuxsche Erklärung als für sie maßgebend anerkennen. Jhm ist der Begriff der Handlung erfüllt durch „ eine bloße Folge von Veränderungen, “ und um allem Streit über diese weiteste, dem Sprachgebrauch wenig entsprechende Fassung aus dem Wege zu gehen, entschließt er sich den Ausdruck „Handlung“ in seiner Definition der Fabel ganz fallen zu lassen und verlangt für sie nur die Darstellung eines „ einzelnen Falles, “ von welchem die Fabel gerade so viel, und nicht mehr, zu erzählen habe, als hinreiche, den „allgemeinen moralischen Satz,“ welchen sie enthalten solle, „anschauend erkennen zu lassen.“ Man sieht, nach Lessing ist die Fabel nicht epischer Natur, sondern sie wendet in ihrem letzten Zweck sich an unsere Erkenntnis, sie ist lehrhaften Charakters; dieser fundamentale Jrrtum Lessings beruht aber zu allermeist auf seiner falschen Ansicht über das Wesen der Handlung. Es ist nicht schwer zu zeigen, daß sein eigener Beweis sich gegen ihn wendet. Er lautet folgendermaßen: „„Zwei Hähne kämpfen mit einander. Der Besiegte verkriecht sich. Der Sieger fliegt auf ein Dach, schlägt stolz mit den Flügeln und krähet. Plötzlich schießt ein Adler auf den Sieger herab und zerfleischt ihn.““ „Jch habe das allezeit für eine sehr glückliche Fabel gehalten, und doch fehlt ihr nach dem Batteux die Handlung, denn wo ist hier eine Unternehmung, die mit Wahl und Absicht geschähe?“ Dieselbe ist allerdings vorhanden; ja nur durch ihr Vorhandensein wird der erzählte Vorgang zu einer Fabel! Trotzdem das, was Lessing reproduziert, im Grunde nicht die Fabel selbst ist, sondern nur die trockenste Jnhaltsangabe derselben, so konnte doch selbst in dieser das eine Wort nicht unterdrückt werden, auf das hier alles ankommt und durch dessen Fortlassung freilich die Fabel in den einfachen Bericht eines wirklichen Vorganges verwandelt werden würde, aus welchem höchstens durch Allegorie eine Nutzanwendung gezogen werden könnte, also gerade durch das Verfahren, welches Lessing am meisten verpönt. Aber indem selbst der Jnhaltsbericht in seiner äußersten Kürze nicht vergißt zu erzählen: „der Sieger fliegt auf das Dach, schlägt stolz mit den Flügeln und krähet,“ hat er das Benehmen des siegreichen Hahnes aus einer Manifestation natürlichen Jnstinktes zu einer bewußten Handlung erhoben, die mit freier „ Wahl “ gemäß einem unter dem Gesetz moralischer Verantwortlichkeit gedachten Charakter erfolgt, zu einer vom Willen eingegebenen „ Unternehmung, “ welche in der „ Absicht “ geschieht den Triumph des Sieges in der Herausforderung der ihm gebührenden Bewunderung zu genießen. Diese „mit Wahl und Absicht geschehende Unternehmung“ wird sein Verderben, wie ganz ebenso eine ähnliche Thorheit etwa einem Feldherrn, der statt seinen Sieg zu benutzen sich in Siegesfesten bläht, den Untergang bereiten könnte. Dies ist die Handlung der Fabel, und dieselbe wird um so besser erzählt sein, je mehr es gelingt, diese Handlung nach der bezeichneten Richtung durch die ihr innewohnende Kraft wirksam zu machen, d. h. je mehr die Fabel episch und je weniger sie didaktisch ist. Jhr Zweck und ihre Kraft besteht dann darin, daß sie das innere Handlungsmoment nachahmend in der Seele des Hörers zu erwecken vermögend ist. Um alle „Lehren“ und „Nutzanwendungen,“ die nach der positiven und nach der negativen Seite daraus gezogen werden können, kümmert sie sich weiter nicht. Aber je mehr die „ Nachahmung der Handlung “ gelungen ist, d. h. je lebhafter der entsprechende innere Vorgang angeregt ist, desto stärker wird von dieser Bewegung der Seele aus, in welcher im Grunde der ganze Nachahmungszweck erreicht ist, der Appell an das Denkvermögen ergehen, sich alle jene „Lehren“ zu eigen zu machen, welche nach J. Grimms schönem Ausdruck daraus „hervorquellen“ und zwar nach allen Seiten, keineswegs erschöpft durch „die Enge der Affabulation“. Genau so steht es mit Lessings zweitem Beispiel: „„Der Hirsch betrachtet sich in einer spiegelnden Quelle; er schämt sich seiner dürren Läufte und freuet sich seines stolzen Geweihes. Aber nicht lange! Hinter ihm ertönet die Jagd; seine dürren Läufte bringen ihn glücklich ins Gehölze, da verstrickt ihn sein stolzes Geweih: er wird erreicht.““ Lessing fügt hinzu: „Auch hier sehe ich keine Unternehmung, keine Absicht. Die Jagd ist zwar eine Unternehmung, und der fliehende Hirsch hat die Absicht, sich zu retten; aber beide Umstände gehören eigentlich nicht zur Fabel, weil man sie ohne Nachteil derselben weglassen und verändern kann. Und dennoch fehlt es ihr nicht an Handlung. Denn die Handlung liegt in dem falsch befundenen Urteile des Hirsches. Der Hirsch urteilet falsch und lernet gleich darauf aus der Erfahrung, daß er falsch geurteilet habe. Hier ist also eine Folge von Veränderungen, die einen einzigen anschauenden Begriff in mir erwecken. ─ Und das ist meine obige Erklärung der Handlung, von der ich glaube, daß sie auf alle guten Fabeln passen wird.“ Nur in dem „falschen Urteile“ des Hirsches soll die Handlung liegen? Dann würde die Fabel weiter nichts zeigen, als daß ein jeder Jrrtum schädlich ist, und im Grunde auch das nicht einmal, denn das Geweih würde den Hirsch ebenso verstrickt haben, wenn er in betreff seiner richtig geurteilt hätte. Lessing hat sich durch die dürre Kürze des Fabel-Lemmas irreführen lassen; obwohl selbst dieses die Züge der eigentlichen Handlung, gerade wie im ersten Falle, nicht unangedeutet lassen konnte. Jenes „falsch befundene Urteil“ ist ja nur das begleitende Ergebnis einer „Unternehmung“, welche ihrerseits völlig aus der freien „ Wahl “ des Hirsches hervorgeht und auch keineswegs ohne „Absicht“ geschieht; und noch mehr, gerade diese „Unternehmung“ ist die vorzügliche Ursache, daß jenes „falsche Urteil“ für den Hirsch verhängnisvoll wird. Er „betrachtet sich in einer spiegelnden Quelle“: es ist etwas Anderes als ein Zufall, es ist eine „ Handlung “ der Eitelkeit und Selbstgefälligkeit, welche ihn vor diesem Spiegel festhält und ihn zu dem falschen Urteil über den Wert seiner äußeren Vorzüge und zu der Mißachtung seiner wahren Kräfte verführt. Diese „Handlung“ wird sein Verderben, denn sie läßt ihn die gewohnte Vorsicht vergessen, mit der er sonst den Feind aus der Ferne wittert und sich beizeiten den verachteten „dürren Läuften“ vertraut; nun ist es zu spät und bei der hastigen Flucht bringt ihn gerade der Gegenstand seines eitlen Stolzes zu Fall. Es ist für den Erzähler keineswegs gleichgiltig, ob er den Fabelstoff so ansieht oder in der Weise, wie es von Phädrus und Lessing geschehen; während hier die Darstellung, dürftig genug, auf nichts hinausläuft als den kahlen „Erfahrungssatz“: Laudatis utiliora quae contemseris Saepe inveniri , nötigt die Auffassung des Fabelstoffs als „ wirkliche Handlung “ dazu, jene Momente des durch sich selbst bestimmten Willens und charakteristischen Entschließens und Thuns mit ihren Folgen zu lebendiger Wirksamkeit zu bringen, d. h. mit andern Worten: episch zu erzählen, wobei dann jede äußerlich hinzugefügte Nutzanwendung überflüssig wird, ja vom Uebel, da sie den Kreis der durch die „Handlung“ in Bewegung gesetzten Gedanken auf einen einzigen Punkt einschränkt, sei derselbe auch immerhin der wesentlichste. Lessing selbst hat sich nicht enthalten können, seiner Theorie einen Zusatz anzuhängen, welcher genau betrachtet den Keim ihrer Auflösung enthält. „So viel ist wahr“, sagt er, „wenn aus einem Erfahrungssatz unmittelbar eine Pflicht, etwas zu thun oder zu lassen, folget, so thut der Dichter besser, wenn er die Pflicht, als wenn er den bloßen Erfahrungssatz in seiner Fabel ausdrückt. ─ „„Groß sein ist nicht immer ein Glück.““ ─ Diesen Erfahrungssatz in eine schöne Fabel zu bringen, möchte kaum möglich sein. Die Fabel von dem Fischer, welcher nur der größten Fische habhaft bleibet, indem die kleineren glücklich durch das Netz durchschlupfen, ist in mehr als einer Betrachtung ein sehr mißlungener Versuch. Aber wer heißt auch dem Dichter die Wahrheit von dieser schielenden und unfruchtbaren Seite nehmen? Wenn groß sein nicht immer ein Glück ist, so ist es oft ein Unglück, und wehe dem, der wider seinen Willen groß ward (─ es mag gleich hier eingeschaltet werden: also doch ohne seine „Wahl“ und wider seine „Absicht“ ─), den das Glück ohne sein Zuthun (also ohne eine „ Unternehmung “ seinerseits) erhob, um ihn ohne sein Verschulden desto elender zu machen! Die großen Fische mußten groß werden, es stand nicht bei ihnen, klein zu bleiben. Jch danke dem Dichter für kein Bild, in welchem ebenso viele ihr Unglück als ihr Glück erkennen. Er soll niemanden mit seinen Umständen unzufrieden machen, und hier macht er doch, daß es die Großen mit den ihrigen sein müssen. Nicht das Großsein, sondern die eitle Begierde, groß zu werden ( κενοδοξίαν ) sollte er uns als eine Quelle des Unglücks zeigen. Und das that jener Alte, der die Fabel von den Mäusen und Wieseln erzählte. „„Die Mäuse glaubten, daß sie nur deswegen in ihrem Kriege mit den Wieseln unglücklich wären, weil sie keine Heerführer hätten, und beschlossen, dergleichen zu wählen. Wie rang nicht diese und jene ehrgeizige Maus, es zu werden! Und wie teuer kam ihr am Ende dieser Vorzug zu stehen! Die Eiteln banden sich Hörner auf, ─ ─ ─ ut conspicuum in praelio Haberent signum, quod sequerentur milites , und diese Hörner, als ihr Heer dennoch wieder geschlagen ward, hinderten sie, sich in ihre engen Löcher zu retten; Haesere in portis suntque capti ab hostibus; Quos immolatos victor avidis dentibus Capacis alvi mersit tartareo specu .““ „Diese Fabel ist ungleich schöner. Wodurch ist sie es aber anders geworden als dadurch, daß der Dichter die Moral bestimmter und fruchtbarer angenommen hat? Er hat das Bestreben nach einer eiteln Größe und nicht die Größe überhaupt zu seinem Gegenstande gewählet; und nur durch dieses Bestreben, durch diese eitle Größe ist natürlicherweise auch in seine Fabel das Leben gekommen, das uns so sehr in ihr gefällt.“ Aber ist es denn wahr, daß nun in dieser Fabel „eine Pflicht ausgedrückt ist statt eines Erfahrungssatzes? “ Liegt die Sache nicht vielmehr so, daß eine „ Moral “, die Vorschrift einer „ Pflicht “ auch hier erst durch einen Akt unseres subjektiven Denkvermögens gefolgert werden muß, und daß objektiv in der Erzählung nichts dergleichen enthalten ist, sondern, ganz wie in der ersten, ein einfacher Erfahrungssatz? Nur daß der erste auf die Beobachtung einer einfachen Thatsache sich gründet, der zweite auf die Beobachtung einer Handlungsweise? Lessing hat sich, wie mehrfach in den Fabel= Abhandlungen, dieser handgreiflichen Erkenntnis verschlossen, weil die Ueberzeugung von der Unumstößlichkeit seiner irrigen Grundanschauung zu fest in ihm war. Der Unterschied zwischen der sogenannten Fabel von den Fischen und der echten Fabel von den Mäusen und Wieseln ist der, daß die zweite wirkliche Handlung enthält, die erste nicht. Und es ist überhaupt keine Fabel zu denken, welche nicht eine solche echte und wirkliche Handlung zum Gegenstande ihrer Nachahmung hätte. Die Holbergsche Fabel von den Ziegen, welche Lessing so treffend verurteilt, ist, ganz abgesehen von der Absurdität der Erfindung, hauptsächlich deshalb verfehlt, weil sie ganz und gar der Handlung entbehrt. Die Ziegen „ thun “ darin nichts, was diesen Namen im entferntesten verdiente; es heißt zwar von ihnen: „Sie machten dem Teufel so viel zu thun, daß er sie mit aller seiner Kunst und Geschicklichkeit nicht in der Zucht halten konnte“, aber damit sind sie eben einfach bei den Äußerungen ihres natürlichen Jnstinktes geblieben, es ist ihnen nichts beigelegt, was „Wahl und Absicht“ verriete, sie „ handeln “ nicht. Daraus geht auch hervor, daß Lessings Einteilung der Fabel falsch ist: „ vernünftige “ Fabeln, „ deren Fall schlechterdings möglich ist “, kann es nicht geben, oder sie müssen von der Art der Holbergschen sein. Mag immerhin der Vorgang, den die Fabel erzählt, möglich, ja direkt der Wirklichkeit entnommen sein, die Art, wie der Fabeldichter ihn einzig und allein brauchen kann, erhebt ihn in die Sphäre der Freiheit des Handelns nach bestimmter Absicht und bewußter Wahl; damit „ erhöht “ der Fabeldichter die Eigenschaften seiner handelnden Personen (sofern sie nämlich Tiere sind, und nur die Tierfabel trägt den Namen der Fabel mit Recht) in jedem Falle, gleichviel ob er seine Tiere reden läßt oder nicht, er legt ihnen immer Reflexionen und Beweggründe nach dem Maßstabe menschlicher Vernunft und Ethik bei, was mehr ist als äußere Sprache und ohne innere Sprache nicht zu denken. Nach Lessing müßten daher wenigstens die Tierfabeln samt und sonders zu der von ihm als „ hyperphysisch “ bezeichneten Gattung gerechnet werden. Mit wenigen Worten ließe sich der Beweis an den von Lessing als „ vernünftige “ Fabeln citierten Beispielen aus dem Äsop: „Der Hund und der Gärtner“, „Der Schäfer und der Wolf“ ebenso führen, wie er vorhin an der Fabel „Die zwei kämpfenden Hähne“ geführt ist; überall würde die Fabel erst dadurch ihren Sinn erhalten, daß das darin erzählte Bezeigen der Tiere zur „Handlung“ erhoben, d. h. als aus freier Wahl und bewußter Absicht hervorgehend gedacht würde; die beiden andern Beispiele, welche Lessing anführt: „Der Vogelsteller und die Schlange“ und „Der Hund und der Koch“, sind gar keine Fabeln, sondern lediglich „ Histörchen “, bei denen dasjenige, was den Tieren zugeschrieben wird, ebensogut durch irgend einen ganz mechanischen Zufall geschehen könnte, und von denen das letzte obenein auf ein bloßes Wortspiel hinausläuft. Unter allen Fabeln Lessings ist nur eine einzige, welche nach seiner Definition der „vernünftigen“ Fabeln dieser Gattung zuzurechnen wäre: es ist „ Der Falke “; Vgl. Ausg. Lachm.=Mal. Bd. I, S. 197; Anhang zu den Fabeln. sie war im ersten Teile seiner Schriften 1753 gedruckt, von ihm in die Sammlung seiner Fabeln aber nicht aufgenommen. Jn der That ist die Erfindung derselben so kahl und matt als der darin enthaltene „allgemeine Satz“: „des einen Glück ist in der Welt des andern Unglück,“ zur „anschauenden Erkenntnis“ gebracht durch den Vorgang, daß ein Falke, im Begriff, auf ein Taubenpaar zu stoßen, unter demselben einen Hasen bemerkt und diesen statt jenes zur Beute erwählt. Trotzdem der Dichter einiges hinzugethan hat, was genau genommen die Darstellung schon über das einfach „vernünftige“ Niveau hinaushebt ─ das „unschuldige“ Taubenpaar wird in den „vertrautesten Kennzeichen“ der „Liebe“ gestört, „schon gurrten sich die zärtlichen Freunde ihren Abschied zu“ ─, so liegt doch das Wesentliche des Vorganges nicht hier, sondern in dem Benehmen des Falken. Nun fehlt es demselben zwar keineswegs an „Wahl und Absicht“, das Raubtier zieht die größere Beute der kleineren vor, aber diese Handlung ist so eng in die Grenzen des rein tierischen Jnstinkts eingeschlossen, daß die poetische Nachahmung ihren Zweck, das innere Handlungsmoment in einer der menschlichen Seele entsprechenden Weise lebendig in uns zu erwecken, verfehlt. Diese Lessingsche Fabel ist ebenso schlecht wie jene Hagedorn sche, welche Lessing gleichwohl für seine Theorie als Beispiel verwendete: „Ein Marder fraß den Auerhahn, den Marder würgt' ein Fuchs, den Fuchs des Wolfes Zahn.“ Erst wenn die Handlungen der Tiere nach menschlicher Weise in die Sphäre des Bewußtseins erhoben werden, sind sie ein Stoff für die Dichtung. Wie anders nimmt sich der Grundgedanke der Hagedornschen Pseudo-Fabel in der Behandlung des Burkhard Waldis aus, wo der Hecht, der es unternimmt, die in seinem Binnengewässer unbestrittene Schreckensherrschaft nun auf das weite Meer auszudehnen, an dem Hay auf der Stelle seinen Meister findet, oder selbst in Pfeffels „Stufenleiter“, die mit ihrem Refrain „du bist mein, denn ich bin groß und du bist klein,“ der kahlen Thatsache, daß die schwächeren Tiere von stärkeren gefressen werden, erst das Motiv einsetzt, wodurch die lediglich allegorische Bedeutsamkeit in unmittelbare Wirksamkeit verwandelt wird. Denn so unbestreitbar Lessing darin recht hat, daß der Satz „Der Schwächere wird gemeiniglich ein Raub des Mächtigeren“ durch jene Hagedornsche Fabel nicht allegorisch, sondern direkt ausgedrückt wird, so schief und schielend ist die Anwendung, welche er von diesem Schlusse auf die Theorie der Fabel macht. Gewiß „hieße es die Worte auf eine kindische Art mißbrauchen“, wollte man sagen, daß dieser „einzelne Fall“ eine Allegorie „jenes allgemeinen Satzes“ sei; aber ebenso gewiß ist es ein kindischer Mißbrauch der Fabel ─ dessen sich Lessing, wie oben gezeigt, auch nicht schuldig machen wollte ─ einen Satz, den uns die Natur alle Tage und allenthalben und unmittelbar vor Augen führt, nun noch durch eine Fabel, bei der also doch von „Erfindung“ keine Rede sein kann, „zur anschauenden Erkenntnis“ bringen zu wollen. Eine solche Fabel enthielte nichts weiter als die Darstellung eines natürlichen Gesetzes in einem einzelnen Vorgange; wie wenn man behaupten wollte eine Fabel gedichtet zu haben, wenn man den Satz: „ Gelegenheit macht Diebe “ etwa in folgender Weise der Anschauung vermittelte: „Ein Rabe flog zur Winterszeit durch die verödeten Gärten, um sich seine kärgliche Nahrung mühselig hier und dort unter dem Schnee und Eis hervorzukratzen. Da erblickte er im Hause des Gärtners durch das geöffnete Fenster ein Stück fetten Käses auf dessen Tisch, welches jenem zum Frühstück dienen sollte. Eilends flog er hinzu, ergriff es und trug es in sein Nest.“ Die „Fabel“ ist aus, denn der allgemeine Satz ist hinreichend illustriert; aber wer möchte solche Trivialitäten als Tierfabeln anerkennen? Es ist Lessings Beachtung entgangen, daß alle derartigen Vorgänge aus dem Naturreiche, wie er selbst sie für die Fabel verwertet wissen will, an und für sich einer moralischen Bedeutsamkeit völlig entbehren, daß sie also direkt und unmittelbar jene „allgemeinen, moralischen Sätze“ auch schlechterdings nicht anders veranschaulichen können, als insofern dieselben den bloßen Verstand angehen, d. h. insofern sie nicht „ moralische “ Sätze sind, sondern rein wissenschaftliche Gesetze und thatsächliche Beobachtungen. Ethische Bedeutsamkeit, seelisches Jnteresse, Wirkung auf unsere Gemütskräfte können rein tierische Vorgänge und Bezeigungen immer erst durch eine Übertragung erhalten, welche auf Grund ihrer Ähnlichkeit mit moralischen Handlungen vorgenommen wird, also durch Allegorisierung. Wir gelangen also zu dem doppelten Schluß, daß eine sogenannte „ vernünftige “ Fabel einen „ moralischen “ Satz niemals direkt darstellen, sondern immer nur allegorisch andeuten kann, daß sie also unter allen Umständen eine schlechte Fabel sein muß, daß dagegen die echte Tierfabel unter allen Umständen eine wirkliche Handlung enthalten muß, und demgemäß die handelnden Tiere nicht anders als zu wirklichen Personen, d. h. zu Wesen mit freiem Wollen und bewußten Absichten, erhöht vorgestellt werden dürfen. Daraus ergibt sich ferner, wie oben gezeigt, daß die echte Fabel nicht von einem allgemeinen Satz ausgeht, zu dessen Erweis sie einen einzelnen Fall erdichtet, und daß sie einer besonderen Affabulation nicht bedarf, sondern daß sie von einem Vorgange der Tierwelt aussetzt, sei dieser Vorgang nun ein wirklicher oder im Charakter individuellen Tierlebens erdacht, und daß ihre Aufgabe darin beschlossen ist, denselben in der Form einer Handlung zum Gegenstande der Nachahmung zu machen. Die Fabel ist also eine epische Dichtung, d. h. die Nachahmung einer Handlung durch die Erzählung einer Handlung. Damit wäre ihre Gattung bezeichnet: wodurch aber unter= scheidet sie sich der Art nach von den übrigen der Epik zugehörigen Dichtungen? So sehr sich Lessing dagegen sträubt, so liegt der spezifische Unterschied der Fabel dennoch darin, daß in ihr Tiere die handelnden Personen sind. Die Anwendung der Tiere in der Fabel ist keineswegs nur ein Mittel, um dem Fabeldichter seine Aufgabe zu erleichtern, auf welches er nach Gefallen auch Verzicht leisten darf, sondern sie ist eine ihr durchaus wesentliche Eigentümlichkeit, ohne welche sie nicht gedacht werden kann; und wenn Lessing als die Vorteile der Verwendung der Tiere in der Fabel vor allem die „ allgemein bekannte Bestandheit ihrer Charaktere “ anführt, wodurch umständliche Berichterstattung vermieden und die eigentümliche, bezeichnende Kürze dieser Gattung allein ermöglicht wird, ferner „das Vergnügen der Vergleichung“ und endlich, daß dadurch die „Erregung der Leidenschaften“ ausgeschlossen werde, so trifft das Alles zwar zu, aber das Wesen der Sache ist damit doch noch nicht ausgesprochen. Die Beantwortung der Frage nach diesem „Wesen der Sache“, d. h. die Angabe der inneren Gründe, warum die Fabel auf die epische Nachahmung von Handlungen der Tiere eingeschränkt sein muß, wird freilich hier noch nicht erledigt werden können. Sie ist nicht anders zu lösen, als im Zusammenhange einer Erörterung der gesamten Mittel, mit denen die Poesie an die Nachahmung von Handlungen überhaupt heranzugehen vermag, und der verschiedenen Arten, wie sie dieselben verwendet, sei es in Mythe, Sage, Märchen oder in den verschiedenen Gattungen des Epos und des Dramas. Um die Darstellung nicht zu unterbrechen, bleibt diese letzte Frage der Fabeltheorie einer späteren Erörterung vorbehalten. Vgl. den XIII. Abschnitt. Die Gesetze jedoch für die Form und Vortragsweise der Fabel ergeben sich schon hier; zugleich die Gründe ihres in absteigender Linie erfolgten Entwicklungsganges. Der echten Tierfabel wohnt die Frische, Fülle und Wärme inne, welche mit der relativen Vollständigkeit der Nachahmung innerer Handlung notwendig verbunden ist; nun war aber eine allmähliche Entartung dieser echten Tierfabel unvermeidlich. Wie nahe liegt die Umwandlung des ästhetischen Urteils in ein Verstandesurteil, und wie natürlich mußte sich die Anwendung einzelner Züge der Fabel auf Verhältnisse des Lebens ergeben, um durch das darin enthaltene Beispiel praktische Erfahrung und nützliche Lehre anschaulich zu machen und zur Erkenntnis zu bringen! Wie unmittelbar mußte aus solcher Nutzanwendung die satirische Vergleichung der Tiere und ihres Treibens mit wirklichen Verhältnissen und Personen folgen! Auf diese Weise erhielt die Fabel eine neue Gestalt: sie wurde didaktischen und satirischen Zwecken unterthan gemacht; und eine neue Verwendung: sie wurde ein wirksames Kunstmittel der Rhetorik. Auf ihre äußere Form übte dieses neue Gestaltungsprincip die Wirkung, daß aus der Nachahmung der Handlung alles entfernt werden mußte, was nicht dem Erkenntniszweck des Erfahrungs= oder Lehrsatzes dienstbar oder was nicht der satirischen Tendenz förderlich war: sie mußte also in ungebundener Rede auftreten und auf die knappste Kürze reduciert werden, da ohne Zweifel der Erkenntniszweck am besten erreicht wird, wenn nichts als das für ihn Wesentliche mitgeteilt wird. Dies ist das Wesen und die Form der sogenannten äsopischen Fabel. Für sie hat also die Lessing sche Definition eine gewisse Berechtigung; aber man vergesse nicht, doch nur insofern, als diese äsopische Fabel eben ihrer Form nach nicht mehr zur Poesie gehört. Jnsofern umgekehrt selbst dieser Form der echten Fabel unzerstörbar ein poetischer Kern innewohnt ─ eben das Element der inneren Handlung, in welchem ihr Wesen beruht ─ trifft die Lessingsche Definition aber ebensowenig zu, als sie die poetische Form der Fabel ahnen läßt. Diese Definition läßt sich allenfalls den vorhandenen guten äsopischen Fabeln anpassen, aber ganz ebenso den allerschlechtesten, seichtesten Erfindungen, sie trifft das Wesen der Sache so wenig, daß sie diejenigen, welche sie zur Richtschnur nähmen, nicht vor den gröbsten Mißgriffen schützen würde. Überall steht in der Tierdichtung das epische Element, ihre eigentliche Kraft, mit dem lehrhaften und satirischen in umgekehrtem Verhältnis. Jn voller Frische und epischer Breite, in ihrer ganzen ursprünglichen Naivetät und gegenständlichen Bestimmtheit hat sich die Tiersage nur im Mittelalter ausgestaltet, vor allem in unserem deutschen „ Reineke “; die Satire hat hier nur in ganz geringem Maße und völlig episodisch Eingang gefunden. Dagegen herrscht in den nachgeahmten Kunstdichtungen des sechzehnten Jahrhunderts, eines Spangenberg und Rollenhagen, schon das umgekehrte Verhältnis; das Ganze ist von lehrhaft allegorischer Tendenz beherrscht und nicht selten überwuchert das gelehrte, didaktischsatirische Beiwerk auch die epische Darstellung des Einzelnen. Jn der eigentlich sogenannten Tierfabel ist die epische Haltung, die, im Mittelalter z. B. bei Boner, für diese Dichtnngsart die herrschende ist, auch noch im sechzehnten Jahrhundert bei einem Erasmus Alberus und Burkhard Waldis anzutreffen. „Nach dem Mittelalter,“ so heißt es in der schon mehrfach citierten Abhandlung von Jakob Grimm, „hörte die Forterzeugung der echten Tierfabel auf, es blieben nur noch schwache, in didaktische oder allegorische Form übergehende Nachbildungen des alten Stoffes zurück. Jn dieser Hinsicht darf für eine schädliche Folge der Bekanntschaft mit der klassischen Litteratur gelten, daß Äsop und Phädrus allmählich die einheimische Fabel verdrängen konnten und auf die Ansicht der Schrifsteller einwirkten.“ Für Frankreich und einen großen Teil des achtzehnten Jahrhunderts hindurch auch für Deutschland wurde in der Folge das Beispiel Lafontaines bestimmend. „Wenn schalkhafter Witz, frivole Anspielung auf den Weltzustand, epigrammatische Wendung in der Tierfabel an ihrer Stelle sind, so muß er ein trefflicher Fabulist heißen. Aber selbst einzelne naive Züge, die ihm allerdings noch zu Gebote stehen, können nicht die verlorene Einfalt des Ganzen ersetzen; er ist ohne epischen Takt, und viel zu sehr mit sich beschäftigt, als daß er bei der Entfaltung des alten Materials, welches er oft zu Grunde richtet, verweilen wollte. Jene Eigenschaften thun daher nicht selten eine widerwärtige, störende Wirkung, die sättigende Fülle der wahren Tierfabel hat er nie erreicht. Seine leichte, gewandte Erzählungsgabe soll nicht verkannt werden, aber von der äsopischen Natürlichkeit, selbst der phädrischen Präcision ist er absichtlich gewichen, um in einem freien und losen Versmaß die Arbeit nach dem Geschmack seiner Zeit aufzuheitern ( égayer l'ouvrage ).“ Derjenige, welcher nach ihm den stärksten Einfluß auf die Gestaltung der Fabel ausgeübt hat, ist Lessing. Trotzdem die Naivetät der Erfindung seinen Fabeln fehlt und sie nach seiner ausgesprochenen Absicht vor allem die Erkenntnis einer Wahrheit bewirken sollen, hat sich bei ihnen das dichterische Vermögen ihres Erfinders stärker erwiesen als seine Theorie: ganz im Widerspruche zu derselben enthalten nicht wenige von ihnen ihrem Kerne nach das wesentliche Merkmal der epischen Poesie, die unmittelbar auf die Empfindung einwirkende Handlung, wenn sie auch nicht dichterisch, sondern rhetorisch von ihm gestaltet und vorgetragen sind. Nichtsdestoweniger sind nur einzelne darunter, welche noch als echte Tierfabeln gelten könnten, und diese sind ausschließlich in engster Anlehnung an äsopische Muster entstanden. Die Mehrzahl entfernt sich von dem Wesen der Fabel und bildet den Übergang zu einer andern poetischen Gattung oder gehört derselben geradezu an. Oft genug liegt in einem bloßen Ausspruch eine Handlung, und Lessing irrt, wenn er die Fabel des Phädrus ( lib . 1, 10) vom Affen als Richter im Rechtsstreit des Wolfes und Fuchses als Beispiel für den Beweis benutzt, daß die Fabel der vollständigen Handlung nicht bedürfe. Die Handlung ist vollständig: sie liegt in dem Schiedsspruche des Affen, daß Fuchs und Wolf gleiche Lügner und Spitzbuben seien, also das Zeugnis des einen gegen den anderen nichts gelte: Tu non videris perdidisse, quod petis; Te credo surripuisse, quod pulchre negas . Die Handlung ist ebenso abgeschlossen, wie in Pfeffels Fabel der Streit des Ochsen und des Esels, „wer am meisten Weisheit hätte“, durch den Richterspruch des Löwen: „Jhr seid alle beiden Narren“ sein Ende findet. Aber die Handlung beruht in beiden Fällen keineswegs nur auf dem „sinnreichen Einfall“ des Urteilenden, sondern zu ihrem wesentlichsten Teile auf der Natur des Streites der handelnden Tiere, der zu demselben die Veranlassung gibt. Aber gerade das umgekehrte Verhältnis findet bei einem großen Teil der Lessingschen Fabeln statt; sie enthalten eben nur einen sinnreichen Ausspruch, der einem Tiere in den Mund gelegt ist, ohne daß eine Handlung von Tieren oder mitunter auch überhaupt eine Handlung als Anlaß vorliegt. So z. B. III, 15 „Die Eiche“. „Was für ein Baum!“ ruft der Fuchs, da er die gestürzte Eiche ansieht und die Verwüstungen, die sie im Falle angerichtet, „hätte ich doch nimmer gedacht, daß er so groß gewesen wäre.“ Oder der Fuchs findet die Larve eines Schauspielers (II, 14): „Welch ein Kopf! Ohne Gehirn und mit einem offenen Munde! Sollte das nicht der Kopf eines Schwätzers gewesen sein?“ Ebenso II, 17: „Der Fuchs sah, daß der Rabe die Altäre der Götter beraubte und von ihren Opfern mitlebte. Da dachte er bei sich selbst: Jch möchte wohl wissen, ob der Rabe Anteil an den Opfern hat, weil er ein prophetischer Vogel ist, oder ob man ihn für einen prophetischen Vogel hält, weil er frech genug ist, die Opfer mit den Göttern zu teilen.“ Das gleiche Verhältnis oder doch das ähnliche, daß einer an sich gleichgültigen Tierhandlung durch eine geistreiche Wendung ein tiefer Sinn untergelegt wird, waltet sehr vielfach ob; so z. B. in I, 16 „Die Wespen“, I, 17 „Die Sperlinge“, I, 18 „Der Strauß“, I, 22 „Die Eule und der Schatzgräber“, I, 24 „Merops“, II, 25 „Der wilde Apfelbaum“, II, 27 „Der Dornstrauch“, III, 2 „Die Nachtigall und die Lerche“, III, 12 „Der Strauß“, III, 13, 14 „Die Wohlthaten“, III, 23 „Die Maus“, III, 25 „Der Adler“, III, 26 „Der junge und der alte Hirsch“, III, 29 „Der Adler und der Fuchs“, III, 30 „Der Schäfer und die Nachtigall“. Diese Beobachtung führt zu einem Resultat, welches, trotzdem es durch die obigen Ausführungen vorbereitet ist, etwas Überraschendes enthält: ein großer Teil der Lessingschen Fabeln beruht auf dem Element, welches er selbst mit der größten Entschiedenheit aus der Theorie der Fabel ausgewiesen hat, auf der Allegorie. Niemand wird der sarkastischen Glosse des Fuchses über den an den Opferspenden sich nährenden Raben (II, 17) einen selbständigen, in dem Leben der Tiere miteinander begründeten, Sinn zuschreiben; ihre Bedeutung erhält die angebliche Fabel schlechterdings erst durch die in die Augen springende Ähnlichkeit des Raben mit einem sportelsüchtigen Schwarzrock, auf den dann der satirische Zweifel des Fuchses ohne weiteres Anwendung findet. Handgreiflich liegt die Sache ebenso in III, 15 „Die Eiche“ und II, 14 „Der Fuchs und die Larve“. Lessing irrt sich in der Fragestellung, wenn er es einen kindischen Mißbrauch der Sprache nennt, die allegorische Ähnlichkeit darin finden zu wollen, daß man einmal ein begriffliches Verhältnis an einem einzelnen Falle beobachtet und das andere Mal es allgemein und abstrakt erkennt. So verfährt man freilich bei jedem Gleichnis, jeder Allegorie, jeder Parabel. Und doch beruhen sie alle auf vorhandener Ähnlichkeit der Subjekte und ihrer Prädikate, an und in denen das begriffliche Verhältnis sich manifestiert. Das Entscheidende für die Allegorie ist, daß durch diese Ähnlichkeit eine konkrete Darstellung geeignet wird an die Stelle einer anderen oder einer Begriffsdarstellung zu treten, so daß sie für sich allein noch nicht volle Geltung hat, sondern dieselbe in dem ganzen Umfange, der ihr zukommt, erst durch die hinzutretende Deutung erlangt. Die Bezeichnung der Larve als Kopf ohne Gehirn mit offenem Munde ist die einfache Allegorisierung eines Schwätzers; daß ein Fuchs die Larve findet und die Allegorie ausspricht, macht aus der Allegorie keine Fabel. Ebenso ist auch die Geschichte vom Fuchs und der Eiche nur scheinbar eine Fabel, obwohl hier doch wenigstens dem Charakter des Fuchses ein Anteil an der Handlung zufällt; dennoch würde auch diese Erfindung ohne die allegorische Deutung, welcher man beim ersten Hören sofort inne wird, gänzlich unbedeutend sein. Desto vortrefflicher ist sie als Allegorie, sie spricht für sich selbst und so that Lessing recht, die in den „Schriften“ hinzugefügte Deutung wegzulassen: Jhr, die ihr, vom Geschick erhöht, Weit über uns erhaben steht, Wie groß ihr wirklich seid, zu wissen, Wird euch das Glück erst stürzen müssen. Die beiden Schemata, wie das eine im ersten und zweiten Beispiele vorliegt, das andere im dritten, wiederholen sich sehr vielfach: die Alle= gorie wird entweder geradezu, sei es als Monolog, sei es als Gespräch, irgend welchen einigermaßen dazu qualifizierten Tieren, mitunter auch unbelebten Dingen in den Mund gelegt, oder sie wird durch dieselben gewissermaßen als lebendes Bild oder auch als kleine Scene vorgeführt. Merops, „mit dem Schwanz voraus, den Kopf gegen die Erde gekehrt, in die Luft steigend“ ─ eine Allegorie „des Menschen, der gar zu gern den Himmel erfliegen möchte, ohne die Erde auch nur einen Augenblick aus dem Gesichte zu verlieren“: das Bild beschreibt ein Adler, ein Uhu gibt die Deutung (I, 24). Eine Allegorie auf „die heutigen Jtaliener, die sich nichts Geringeres als Abkömmlinge der alten unsterblichen Römer zu sein einbilden, weil sie auf ihren Gräbern geboren wurden“, wird durch einen Wespenschwarm in Scene gesetzt, der aus einem verwesten Rosse hervordringt und sich seines hohen Ursprungs rühmt (I, 16). Der mit ausgespannten Fittigen am Boden dahinlaufende Strauß: „Ein poetisches Bild jener unpoetischen Köpfe, die in den ersten Zeilen ihrer ungeheuren Oden mit stolzen Schwingen prahlen, sich über Wolken und Sterne zu erheben drohen und dem Staube doch immer getreu bleiben“ (I, 18). Eine Reihe vortrefflicher Allegorien, aber keine Fabeln! Vortrefflicher Allegorien! Das will sagen, lebensvoller Erfindungen, nicht toter Schildereien. Auch die Allegorie ist eine poetische Darstellung, und zwar ihrem Namen entsprechend durch das Mittel der Erzählung; selten hat es Lessing versäumt ─ freilich immer im Widerspruch zu seiner Theorie ─ durch Erdichtung innerer Handlung seinen Allegorien das poetische Leben zu verleihen. Mit welcher skrupulösen Sorgfalt, mit welchem meisterlichen Geschick ist er überall zu Werke gegangen! Der mit ausgespannten Flügeln laufende Strauß wäre freilich nur ein Bild gewesen, aber Lessing gibt dem Bilde das innere Leben, indem er seinen Strauß handeln läßt: er leiht ihm die Absicht zu fliegen und läßt ihn diese Absicht feierlich und wiederholt ankündigen ─ „das ganze Volk der Vögel stand in ernster Erwartung um ihn versammelt“ ─ und er läßt ihn dann „gleich einem Schiff mit ausgespannten Segeln auf dem Boden dahinschießen, ohne ihn mit einem Tritt zu verlieren“. Eine treffende und höchst lebendige Allegorie, aber alles Leben der Handlung ist auf Veranlassung der vorschwebenden Deutung in sie hineingelegt: eigenes, episches Leben, wodurch die tierische Handlung durch sich selbst ergriffe, besitzt sie keines. Die Allegorie vermag in den unscheinbarsten Vorgang den tiefsten Sinn zu legen. Eine alte Kirche wird ausgebessert, die Sperlinge finden ihre Nester vermauert und fliegen davon: durch die Gesinnungsweise, die er ihnen dabei unterlegt, macht der Dichter daraus eine unübertreffliche Satire auf jede Art der kleinlichen Jnteressiertheit und des engherzigen Partikularismus: „Zu was, schrieen sie, „taugt denn nun das große Gebäude? Kommt, verlaßt den unbrauchbaren Steinhaufen!“ So erweckt ihm der Dornstrauch die Vorstellung neidischer Böswilligkeit, aber dieser Gedanke wird zu einer kleinen allegorischen Erzählung verarbeitet, in welcher die beiden Attribute auf das Kunstreichste in Handlung und Gesinnung umgesetzt sind, um so die würdigen Gegenstände poetischer Nachahmung zu werden. „Aber sage mir doch, fragte die Weide den Dornstrauch, warum du nach den Kleidern des vorbeigehenden Menschen so begierig bist? Was willst du damit? Was können sie dir helfen? Nichts! sagte der Dornstrauch. Jch will sie ihm auch nicht nehmen; ich will sie ihm nur zerreißen.“ Einem Einwande wäre hier freilich noch zu begegnen. Lessing hat es ja selbst zugegeben, daß die zusammengesetzte Fabel eine Allegorie des wirklichen Vorfalles wäre, auf den sie angewendet würde. Nun kann aber jede Fabel durch Hinzufügung eines wirklichen analogen Falles zur zusammengesetzten werden; es wäre also eine jede Fabel an sich zwar keine Allegorie, eine jede aber würde es im Moment ihrer praktischen Anwendung. Wenn man nicht die Begriffe in ihrer Eigentümlichkeit sich aufheben lassen will, so kann das doch nur heißen: die echte Fabel ist wie jede andere epische Erzählung der gelegentlichen Anwendung auf analoge wirkliche Fälle fähig, aber der begriffliche Unterschied zwischen ihr und der Allegorie ist der, daß die letztere eigens und nur zu diesem Zwecke erfunden ist; und zwar wird dieselbe einer um so häufigeren Anwendung fähig sein, je allgemeiner die Subjekte und Prädikate des Verhältnisses sind, für welches ihr Erfinder sie eintreten läßt. Daher kommt es, daß sie mit besonderem Glücke sich der Typen aus dem Tierreiche bedienen wird und daß ihr charakteristische Erscheinungen aus der unbelebten Körperwelt unter Umständen ebenso brauchbar sind, weil sie mit den Beziehungen, die ihnen eigen sind, leicht für allgemeine Begriffe und deren Verhältnisse gesetzt werden können. Jn manchen Stücken, in denen Lessing die Konstituierung einer wirklichen Handlung weniger gelungen ist, tritt diese vorzügliche Eignung der Tiere für den allegorischen Gebrauch dennoch so sehr hervor, daß man, dadurch getäuscht, leicht sich verleiten läßt, sie für wirkliche Fabeln zu nehmen. So in dem zwölften Stücke des dritten Buches: „ Der Strauß “ (III, 12). „Das pfeilschnelle Renntier sah den Strauß und sprach: Das Laufen des Straußes ist so außerordentlich eben nicht; aber ohne Zweifel fliegt er desto besser. Ein andermal sah der Adler den Strauß und sprach: Fliegen kann der Strauß nun wohl nicht; aber ich glaube, er muß gut laufen können.“ Hierin ist nichts enthalten als ein Doppelurteil über die Natur des Straußes, welches durch die antithetische Form satirisch=komische Färbung gewinnt, welches aber seine Existenz wie seine Formulierung lediglich erhalten hat, um allegorisch den Sinn darzustellen, daß mancher den Ruhm der Virtuosität in zwei Künsten zugleich genießt, ohne sie in einer zu besitzen, indem die Meister einer jeden ihn als der andern angehörig betrachten. Diese geistreiche Erfindung Lessings ist das Prototyp einer Menge von Nachahmungen und Variationen, aber sie ist so wenig eine Fabel wie das bekannte ihr nachgebildete Witzwort auf einen modernen Dichter-Komponisten: er sei als Komponist größer als Goethe und als Dichter größer als Beethoven; und doch würde auch dieses, in Erzählungsform gebracht, allen Anforderungen von Lessings Fabeldefinition entsprechen. Der seltenste Fall bei Lessing ist der, daß seiner Allegorie der erforderliche Grad von Aehnlichkeit mit dem zu Grunde liegenden Sinne, also die Deutlichkeit mangelt. Dunkel ist nur die „ Tiresias “ überschriebene Erdichtung (II, 29). Wenn es sich darin nur um die Auffassung von der Heiligkeit eines Ortes, oder der Heiligkeit überhaupt, handelte, daß es weibisch, unverständig sei, berechtigte Äußerungen der Natur als derselben widersprechend zu bekämpfen, daß aber männliche, werkthätige Bekämpfung der Zwietracht sich sehr wohl mit ihr vertrage, so läge darin weder besonderer Tiefsinn noch wäre die allegorische Einkleidung glücklich und treffend gewählt, auch wären dann verschiedene nähere Umstände, wie der dreifache Kreuzweg, die ominöse Zeitbestimmung von neun Monaten, überflüssig und störend; liegt der Sinn aber tiefer, so ist er allerdings so sehr verborgen, daß das Ganze kaum noch als Fabel gelten kann, sondern als eine tiefsinnige allegorisch=symbolische Dichtung bezeichnet werden muß. Jn dem Falle, daß man sich zu der durch den Sprachgebrauch allerdings nahe gelegten Auffassung verleiten läßt, die Verwandlung des Tiresias in ein Weib als die Strafe für eine „weibische“ Handlungsweise zu betrachten und demgemäß seine Rückverwandlung als den Lohn „männlichen“ Handelns, müssen alle Deutungsversuche scheitern. Noch weiter freilich führt die von dem Recensenten Lessings in der Bibliothek der sch. W. u. fr. K. (Bd. 7, St. 1, S. 33 ff.) gegebene Andeutung ab, der die Erklärung in der Fortsetzung der Geschichte bei Hyginus findet: Eodem tempore inter Jovem et Junonem fuit jocosa altercatio, quis magis de re venerea voluptatem caperet, masculus an femina: de qua re Tiresiam judicem sumpserunt, qui utrumque erat expertus . Nichts kann weiter von der schmutzigen Spur, auf welche diese alberne mythologische Anekdote führt, abliegen, als der edle und große Sinn, den Lessing in der alten griechischen Fabel zu entdecken und durch geistreiche Behandlung daraus zu gestalten wußte. Allerdings ist er dabei über die Grenzen seiner eigenen Fabeltheorie weit hinausgegangen. Der göttlich=weise Seher ist erhaben über jede Einseitigkeit des Empfindens und Denkens, er schaut in aller Menschen Brust und Herz, vermag mit jedem mitzufühlen, die Götter ließen ihn, den Mann, auch des Weibes Zustand durch eigene Erfahrung kennen lernen. Dieses Moment, welches bei Hyginus zum Anlaß einer vulgären Travestie benutzt ist, erkannte Lessing in seiner vollen Bedeutung und vertiefte es zum Symbol eingreifender und entscheidender Entwickelung der Gesinnung und Handlungsweise auf dem wichtigsten Lebensgebiete. Die erste Handlung stellt den gotterfüllten Seher dar, wie er in dem heiligen Haine eine That vollführt, die der fromme Eifer ihm als religiöses Gebot erscheinen läßt, die aber dem reinen menschlichen Gefühl als ein Akt grausamer Jntoleranz und einer die Gesetze der Natur verletzenden Härte sich kund thut. Durch ein Wunder setzt die Gottheit ihn in einen Stand, der ihm nicht allein erlaubt, sondern ihn unmittelbar dazu hinführt, sein Beginnen allein aus dem Gesichtspunkt warmen und reinen Empfindens zu betrachten: aus dem eifernden Gottesmanne wird ein Weib! Und um symbolisch anzudeuten, welche unwiderstehlich und gewaltig wirkenden Kräfte zur Sänftigung und Läuterung echt menschlichen Gefühls in dem Begriff der „Weiblichkeit“ liegen, läßt der Dichter ihn einen Zeitraum in dieser Hypostase verharren, welcher die Erfüllung der höchsten Naturbestimmung des Weibes, Empfangen und Gebären, umschließt. So wird der Seher mit geklärter, erhöhter und unendlich erweiterter Gesinnung zum zweitenmal in dem heiligen Hain einer Probe seiner Handlungsweise gegenüberstellt: „an eben dem Orte, wo die drei Wege einander durchkreuzten,“ ist ein ergrimmter Kampf entbrannt; aber aus dem zornigen Hüter der Tempelsatzungen ist ein kraftvoller Friedensstifter geworden, der statt das Sakrilegium zu rächen, die Kämpfenden scheidet. Ein neues Wunder wandelt ihn wieder zum Manne, der nun erst der wahrhaft „Weise“ ist. Sollte man zu weit gehen, in der zweimal wiederholten genauen Bezeichnung des „ Ortes in dem heiligen Haine, wo drei Wege einander durchkreuzten “, noch eine tiefere Beziehung zu finden? Sollte der Dichter mit dem heiligen Haine auf das religiöse Gebiet, mit den drei sich durchkreuzenden Wegen auf drei Konfessionen, mit dem ersten Teil seiner Fabel auf den heiligen Eifer gegen die Vermischung der verschiedenen Konfessionen in der Ehe, mit dem zweiten auf das Eintreten einer friedestiftenden Toleranz in ihrem Streite gedeutet haben? Wenigstens läge eine so vertiefte Auffassung nicht allein ganz in dem spezifisch Lessingschen Gedankenkreise, sondern sie geht aus der Form, die er seinem Stoff gegeben, zwanglos hervor. Der heilige Charakter des Handelnden und des Schauplatzes seiner doppelten Handlung verweist auf das religiöse Gebiet: was soll und kann denn der so absichtsvoll betonte Umstand, daß die verliebten und die kämpfenden Schlangen auf jenem dreifachen Kreuzwege sich begegnen, anders bedeuten, als daß sie eben von verschiedenen Seiten des heiligen Haines, also des Religionsgebietes, herkommend am Kreuzungspunkte ihrer Wege sowohl zur Liebesvereinigung als zur Befehdung sich zusammenfinden? Und wahrlich auf kein geringeres Ziel durfte Lessing die Symbolisierung seines Mythus hinausführen: der spezifischen Manneskraft gesellt sich die spezifische Weibesart, dem Feuereifer rascher Sühne vermeinter Gottesverletzung die „ewig=weibliche“, thätig versöhnende Kraft der Liebe; ihre Vereinigung ist Toleranz, als das Kennzeichen der Gesinnung und des Handelns des echten Gottesmannes, des wahren Sehers! Und noch ein Umstand tritt in diesem kleinen Kunstwerk hervor, welches die Vorzüge Lessingscher Darstellung, Fülle tiefer Gedanken und knappste Kürze, so schön in sich verbindet. Das Wunder der Verwandlung ist im Grunde der Ausdruck einer einfachen und natürlichen psychologischen Thatsache: in tiefen und reich ausgestatteten Gemütern ist gerade die Ausübung einer That, die ein irre geleitetes Erkennen im Widersteit gegen die Natur befiehlt, oft der Anlaß einer plötzlichen und entscheidenden Umwandlung der Gesinnung zur ursprünglichen Weichheit und Kraft reinen, menschlichen Empfindens. ────── XII. Sehr treffend bemerkt Jakob Grimm, daß die Tierfabel schon von ihrem eigentlichen Charakter abwich, sobald sie, was sehr frühe geschah, unter dem Gesichtspunkte der Lehre angesehen und „bei wirklichen Vorfällen als Gegenstück erzählt wurde, um aus ihr in schwieriger Lage des menschlichen Lebens eine triftige Nutzanwendung zu schöpfen“. Bei der Erzählungsweise, die ihr dann eigen wird, urteilt er, „ist der Erfolg der Fabel dem des Sprichworts oder der Parabel vergleichbar, wie denn auch diese Benennung selbst auf die Fabel übergeht und der Ursprung der altdeutschen Ausdrücke bispel oder biwurti ganz eine solche Beziehung verrät“. Wenn man die Lessingsche Fabeldefinition beibehält, dürfte es ganz unmöglich sein, die Grenzlinie zwischen ihr und der Parabel zu ziehen; denn daß die Unterscheidung, welche Lessing selbst gelegentlich in den Fabel-Abhandlungen festsetzt und die von da ab bis heute in den Lehrbüchern festgehalten wird, falsch ist, läßt sich leicht zeigen. Er setzt den Unterschied der Parabel von der Fabel in ihr Verhältnis zur Wirklichkeit: „Der einzelne Fall, aus welchem die Fabel bestehet, muß als wirklich vorgestellt werden. Begnüge ich mich an der Möglichkeit desselben, so ist es ein Beispiel, eine Parabel “. S. a. a. O. (Hempel X, S. 50). Das wäre also ein lediglich formaler, ein äußerlicher Unterschied, der durch die geringfügige Veränderung des Präsens in das Präteritum schon fast ganz beseitigt würde; von einer inneren Wesensverschiedenheit wäre da keine Rede. Aber widerspricht nicht sogar in diesem einzigen angeblich differierenden Punkte die Praxis ganz augenscheinlich dem Lessingschen Satze, und sogar Lessings eigene Praxis? Wer wird in Zweifel stellen, daß Nathans Erzählung von den drei Ringen eine Parabel ist, und zwar ein Muster dieser Gattung? Und doch ist in ihr ein „ einzelner Fall “ als „ wirklich “ vorgestellt, welcher „eine allgemeine moralische Wahrheit zur anschauenden Erkenntnis bringt“; also nach Lessings Theorie hat Nathan eine Fabel erzählt. Ganz ebenso müßte die Gleichnisrede des Evangeliums „Es ging ein Sämann aus zu säen“ und alle ähnlichen, in denen ein Vorgang im Präteritum erzählt wird, schlechterdings in die Kategorie der Fabel gerechnet werden. Das wäre ein Unding. Der Unterschied muß tiefer und im Wesen der Sache begründet liegen, aber, soweit ich sehe, ist der Versuch dieser Unterscheidung nicht gemacht worden. Was in der neuesten, sehr umfangreichen „ Deutschen Poetik “ von Dr. C. Beyer in dieser Frage vorgebracht wird (vgl. Bd. II, S. 168), ist so willkürlich und zugleich, wie die theoretischen Auslassungen dieses Buches durchweg, so unklar und unwissenschaftlich, daß es einer Widerlegung nicht wert ist. Als eine Probe unglaublicher Verworrenheit mag die betreffende Stelle hier stehen: Hauptsatz: „Die Fabel ist ein vergleichendes Beispiel für irgend etwas Anschauliches, vor Augen Liegendes: die Parabel ist die Analogie (!) für eine Wahrheit! Dazu die Erläuterung: „Lehre und einkleidende Anschauung (!) unterscheiden die Parabel von der Fabel. Während die Fabel, auf einer niederen Stufe des Lehrhaften stehend, eine wenig anspruchsvolle Form hat, ist die Parabel für sittliche Lehren von höherer Bedeutung bestimmt und daher einer mehr künstlerischen Form ... fähig. Bei der Lehre, welche die Fabel gibt, ist es meist ganz Jnsofern wird Lessing recht behalten, als offenbar der Begriff der Parabel ( παραβολή ) in seiner eigentlichen und weitesten Bedeutung, d. i. einer ausgeführten Gleichnisrede ─ die also im Unterschiede von der Metapher ein selbständiges Ganze für sich zu bilden fähig ist ─ auch die Darstellung eines bloß als möglich gedachten Falles einschließt: 181.001ff. implizites Werk: Lessings Abhandlung über die Fabel (vgl. Fn. 2 auf S. 162) Gotthold Ephraim Lessing: Abhandlungen (über die Fabel) https://textgridrep.org/browse/-/browse/rjf5_0 aber die Erzählung desselben als eines wirklichen Falles ist diesem ihrem Begriff so wenig fremd, daß sie vielmehr ein notwendiges Erfordernis ihrer Form wird, sobald dieselbe von ihrer Umgebung sich loslöst und als selbständiges Ganzes auftritt, sobald sie also zu einer selbständigen epischen Dichtungsart wird. Als solche allein aber kann sie mit der Fabel in Parallele gestellt werden, nicht als inhärierender Teil einer rhetorischen oder lehrenden Darstellung. Die unterscheidende Eigentümlichkeit der parabolischen Erzählung ergibt sich von selbst aus dem Wesen der Vergleichung. Alle echt epische Dichtung stellt ihren Gegenstand, die Handlung, um ihrer selbst willen dar: wenn aus ihrer Wirkung auf die empfindende Wahrnehmung, die Aisthesis, sich Urteile des Erkenntnisvermögens ableiten lassen, so ist dies eine aus der Natur des epischen Stoffes von selbst hervorgehende Wirkung der demselben innewohnenden Kraft. Alle aus jeder Art epischer Poesie gezogene Nutzanwendung oder Lehre ist ihr nur per accidens eigen (nach der Aristotelischen Terminologie ein συμβεβηκὸς καθ' αὑτό , ein an derselben seiner Natur nach Stattfindendes); niemals aber bildet der Gedankeninhalt das prius , das Vorausgehende, sondern immer der Stoff der Handlung; das die Erfindung bewirkende Vermögen erhält den bewegenden Anlaß von der sinnlichen Anschauung, nicht vom Jntellekt. Der entgegengesetzte Fall ist der der Parabel. Während jede epische Handlung, und so auch die der Fabel, zunächst ihren Bestand für gleichgültig, ob das Tier ein Fuchs oder ein Wolf, ob der Baum ein Apfelbaum oder ein Birnbaum oder eine Eiche ist (!!); bei der Parabel besteht eine bestimmte Wirklichkeit (!!): die Wirklichkeit menschlicher Verhältnisse, weshalb sie eine höhere Stufe nach Form und Lehre einnimmt als die Fabel u. s. w. u. s. w. Von der Allegorie (einer Reihe symbolischer Bezeichnungen [!]) unterscheidet sich die Parabel dadurch, daß jene nur einen Zustand durch Bilder in ein klares Licht setzen will, diese aber eine höhere Wahrheit im Bilde anschaulich macht. Während man daher bei der Allegorie schließlich nur eine Beschreibung erhält, hat man bei der Parabel eine Belehrung (!!).“ Als Erklärung der Konfusion dieser fast durchweg wörtlich aus Wackernagels „Poetik, Rhetorik und Stilistik“ entnommenen Sätze diene der Umstand, daß die Entlehnung bruchstückweise, ganz willkürlich und ohne Rücksicht auf den Zusammenhang geschehen ist. sich hat und eben darum nun auch mit wirklichen menschlichen Handlungen in Vergleich gestellt werden kann, empfängt die Handlung der Parabel erst aus dieser Vergleichung ihren Ursprung. Hier ist das Vorausgehende das Ding der Wirklichkeit, für welches eine Vergleichung gesucht wird oder unter Umständen sich von selbst darbietet; und zwar liegt es im Wesen der Vergleichung, daß sie ohne eine vorausgehende Thätigkeit des urteilenden Verstandes nicht vor sich gehen kann. Alle Ähnlichkeit findet nur in Bezug auf einzelne und einseitig ins Auge gefaßte Beschaffenheiten der verglichenen Dinge statt, und zwar müssen dieselben, wenn der Vergleich treffend sein soll, die wesentlichen und hervorstechenden sein: die wesentlichen bei dem wirklichen Dinge und die hervorstechenden bei der Darstellung des zum Vergleich erdichteten oder herangezogenen. Der Vorgang, welcher der Erdichtung einer Parabel vorausgeht, muß also dieser sein: es muß zuerst ein Erkenntnisurteil über das Wesen des wirklichen Dinges vorhanden sein, um die wesentliche Beschaffenheit desselben festzustellen, mag es nun die Form eines Beobachtungs=, Erfahrungs- oder Lehrsatzes haben; sodann muß an die Phantasie der Auftrag ergehen, die Wahrheit dieses Erkenntnisurteiles oder die Verkehrtheit seines Gegenteils zu einem Gegenstande des unmittelbaren Empfindungsurteiles, des ästhetischen Urteiles zu machen. Das geschieht, indem sinnliche Gegenstände so ausgewählt oder erdichtet und derart in Handlung gesetzt werden, daß eine zwar äußerliche aber desto hervorstechendere Ähnlichkeit zwischen ihnen und denjenigen wesentlichen Beschaffenheiten des wirklichen Dinges, auf denen das Erkenntnisurteil beruht, dieser nachgeahmten Handlung nun die gewünschte Kraft verleiht: in Übereinstimmung mit den Resultaten des maßgebenden Erkenntnisurteiles die unmittelbaren Empfindungen des Wohlgefälligen, welche eine Billigung desselben, und des Lächerlich-Verkehrten, welche eine Verwerfung seines Gegenteiles einschließen, hervorzubringen. Somit ist also die Parabel: die durch Erzählung bewirkte Nachahmung einer Handlung, welche durch ihre äußere hervorstechende Ähnlichkeit mit der inneren wesentlichen Beschaffenheit wirklicher Verhältnisse über deren Richtigkeit oder Verkehrtheit die Empfindungen des Wohlgefälligen und des Lächerlichen hervorzurufen geeignet ist. Denn diese Empfindungen sind es, auf denen das billigende oder verwerfende ästhetische Urteil beruht; je nach dem Gegenstande aber, der sie erregt, können sie mit einem unendlich verschiedenen Jnhalte erfüllt sein. Es ist vollkommen irrig, wie öfters geschehen ist, zu behaupten, die Parabel habe es im Gegensatze zur Fabel mit sogenannten „höheren Wahrheiten“ zu thun: nach ihrem Wesen, wie es vorstehend definiert ist, stehen ihr alle Kreise und Verhältnisse des menschlichen Lebens offen, sobald man für eine an ihnen gemachte Beobachtung, eine daraus gewonnene Einsicht oder Erkenntnis jedweder Art einer Vergleichung bedürftig ist. So kann also, je nach der Natur des Gegenstandes, das Verkehrte darin als lächerlich oder auch als mißbilligungswert entschieden hervortreten, oder es kann durch die Würde und Wichtigkeit des Urbildes der Vergleichung die Empfindung so erhoben werden, daß die vis comica der Erscheinung des Verkehrten fast ganz aufgehoben wird und kaum ein leises Lächeln das Empfindungsurteil begleitet, während die komplementäre Empfindung des Wohlgefallens an dem Jnhalte des billigenden Urteiles mit um so größerer Gewalt die Seele bewegt. Dazwischen liegen unendlich verschiedene Abstufungen und Mischungsverhältnisse jener beiden Hauptempfindungen. Als Beispiele der ersten Art kann manches gelten, was Goethe unter der Gesamtbezeichnung „ Parabolisches “ in die Sammlung seiner Gedichte aufgenommen hat ─ (nicht alle dort aufgenommenen Stücke sind jedoch Parabeln) ─ so die Gedichte: „ Recensent “, „ Dilettant und Kritiker “, „ Pfaffenspiel “, „ Die Freuden “; auch Gellerts „ Die beiden Wächter “ wäre hierher zu rechnen, da man der Handlung dieses Gedichtes doch schwerlich eigene Geltung zuschreiben, sondern sie nur als zur Vergleichung erfunden ansehen wird. Mittlere Stufen nehmen ein Gellerts vortreffliche Dichtung „ Die Reise “, Chamissos „ Kreuzschau “, Rückerts „Parabel“ vom „ Mann im Syrerland “. Zu der zweiten Art endlich gehören Stücke wie Lessings Prosa=„Parabel“ vom Palaste (im Anti-Goeze) und Nathans Erzählung von den drei Ringen. Es dürfte nicht überflüssig sein durch einen genaueren Nachweis zu zeigen, daß selbst hier, wo der Gefühlseindruck des Erhabenen so stark vorwiegend ist, gerade so wie überall in der Parabel, die hervorgebrachte Wirkung zum ebenso wesentlichen Teile auf der negativen Empfindung des Lächerlichen beruht, nur daß man sich gewöhnen muß, diesen Begriff so weit zu fassen, daß er die lebhafte Empfindung des Verkehrten in ihrer ganzen Ausdehnung umschließt, sofern sie sowohl von der Empfindung des Widerwärtigen als des Empörenden oder Furchtbaren frei ist. Die Sprache hat für diese Empfindung keinen andern Namen als den des Lächerlichen, d. h. das zum Lachen Anlaß gibt; es ist damit keineswegs gesagt, daß dieses Lachen nun auch zum Ausbruch kommen muß: wenn die gegenüberstehende positive Empfindung, die bei jeder Art des Lächerlichen mitwirkend vorhanden ist, bedeutungsvoll und hoch geartet entweder an sich selbst, oder es nach der subjektiven Gefühlsweise des Empfindenden in überwiegendem Grade ist, so mindert sie den thatsächlichen Ausbruch des Lachens zum Lächeln herab oder unterdrückt ihn ganz. Daher kommt es auch, daß, obwohl das „ Lächerliche “ ein objektiv feststehender, und seiner Natur nach allgemein gültiger Begriff ist, das „ Lachen “ selbst als eine so gänzlich subjektive Erscheinung auftritt: der sittlich höchststehende Mensch, bei dem die positiven Empfindungen am stärksten vorwalten, „ lacht “ am wenigsten, der Ungebildete, bei dem sie am schwächsten sind, am leichtesten; am vielen Lachen erkennt man den Narren! Damit ist aber keineswegs gesagt, daß nicht bei dem geistig und sittlich am höchsten Stehenden die „ Empfindung des Lächerlichen “, und zwar die unfehlbar richtige, nichtsdestoweniger in jedem Falle unmittelbar in der lebhaftesten, entschiedensten und sichersten Weise sich einstellen muß. Die Parabel von den drei Ringen ist nach allen Seiten vorzüglich geeignet die Wahrheit dieser Sätze zu bezeugen; wiewohl an einer jeden wohlgelungenen Parabel derselbe Nachweis sich führen läßt. Die Erkenntnis, welche Lessing zu der Erfindung der Gleichnisrede, welche er seinem Nathan in den Mund legt, bewegte, ist diese: das Wesen und somit die Wahrheit der Religionen läßt sich nicht sowohl an der Form ihrer Lehren und Gesetze oder der Beglaubigung ihrer Überlieferung erweisen, als an der Wirkung, die eine jede in ihren Trägern hervorbringt. Diesen Satz, dessen Erweis vor dem Tribunal der abstrakten Erkenntnis mit tausend Einwürfen den Kampf aufnehmen muß, galt es dem unmittelbaren, einfachen und seiner selbst gewissen Urteilsspruch der Empfindung zu unterwerfen. Dazu mußte er in der Form vor ihr erscheinen, in der allein er ihr wahrnehmbar und verständlich werden kann: in sinnfälliger Gestaltung. Die Aufgabe war also, konkrete Gegenstände zu erfinden, deren hervorstechende äußere Eigenschaften sie geschickt machten, durch vollkommene Ähnlichkeit mit den Subjekten des Satzes und ihren Attributen und Prädikaten an deren Stelle zu treten. Es bot sich ihm dazu die Erzählung Boccaccios von Melchisedek und Saladin dar. Jn Boccaccios Parabel tritt jedoch nur die eine Hälfte von Lessings Satz hervor: der Vater macht zu dem echten Ring, welcher das Vorherrschaftsrecht gewährt, zwei täuschend ähnliche, d. h. der Vorrang der drei Religionen ist nach ihrer äußern Form und ihrer Ueberlieferung nicht zu entscheiden. Die wesentlichere Hälfte fehlte; denn Lessing war nicht der Mann, sich bei einer solchen Frage mit dem Resultat der Unlösbarkeit zu begnügen. Freilich offenbarte er in der Art seiner Lösung die großartige Unbefangenheit seines Standpunktes, indem er durch seine Umgestaltung von Boccaccios Parabel dem echten Ringe die Zauberkraft beilegte durch seine Wirkung sowohl nach außen als nach innen auf seinen Träger, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug“. So hatte nun seine Erfindung die genugsam hervorstechende Ähnlichkeit mit der wesentlichen Beschaffenheit seiner Ansicht von dem wahren Sachverhalt, um im Verlaufe der erdichteten Handlung die bestimmte und sichere Empfindung zu erzeugen, wie verkehrt und lächerlich es sei, auf die richtige äußere Gestalt des Ringes ─ obwohl er einen köstlichen Edelstein umschloß, „der hundert schöne Farben spielte“ ─ und die Unverdächtigkeit seiner Überlieferung zu pochen und dabei die Hauptsache ganz zu vergessen, daß das allerwesentlichste Zeugnis seiner Echtheit ja doch in seiner offenkundigen und mit allüberzeugender Kraft sich kundthuenden Wirkung gegeben sein müßte. Der entscheidende Moment für die Empfindung des Hörers ist die Wendung des Rechtsstreites, da der Richter die Wucht dieses Umstandes, welcher das vermeintliche Recht aller streitenden Parteien in Unrecht verwandelt, in seinem Urteile geltend macht: „Nun, wen lieben zwei von euch am meisten? Macht, sagt an! Jhr schweigt? Die Ringe wirken nur zurück? und nicht nach außen? Jeder liebt sich selber nur am meisten? ─ O so seid ihr alle drei betrogene Betrüger! Eure Ringe sind alle drei nicht echt.“ Die Wirkung auf das Empfindungsurteil ist unmittelbar und unwiderstehlich, und wenn die der Empfindungswahrnehmung des Verkehrten innewohnende Kraft des Lächerlichen durch die Darstellungsweise so ganz ungenutzt bleibt, daß sie gar nicht einmal aufkommt ─ „Herrlich! herrlich!“ ruft der Sultan aus ─, so liegt das daran, daß die dramatische Situation und die darin handelnden Menschen im allerstärksten Maße darauf angelegt sind, die mit der Empfindung des Verkehrten zugleich sich einstellende positive Empfindung zu erwecken: die Empfindung des höchsten, die Seele ganz ausfüllenden Wohlgefallens an der entgegengesetzten Vorstellungsweise mit allen ihren Konsequenzen, der denn auch sogleich durch den Schluß der Parabel der volle Ausdruck gegeben wird. Die mächtige Bedeutung des Gegenstandes leidet keine andere Behandlungsweise, wenigstens nicht in den Händen unseres Lessing! Aber man denke sich denselben Stoff in die Hand eines Voltaire gegeben, ob da nicht das Schwergewicht in der Ausführung darauf gefallen wäre, die lächerliche Wirkung der Empfindung des Verkehrten herauszuarbeiten! Oder man stelle sich vor, es handle sich nicht um den Besitz der höchsten Wahrheit, sondern um den Anspruch auf den Vorrang der Schönheit, der Klugheit, oder der Ehrlichkeit, des Scharfsinns, der Geschicklichkeit: hier allenthalben würde, mit um so minderer Wucht die positiven Empfindungen auftreten, umsomehr die des Lächerlichen frei werden. Weit entschiedener schon kommt diese Wirkung in der Lessingschen „Parabel“ vom „ Palaste im Feuer “ zur Geltung, natürlich abermals bei der entscheidenden Wendung der Handlung: in der Situation, da die erschrockenen Wächter des Palastes die vermeintliche Feuersbrunst, jeder nur nach Maßgabe des von ihm verwahrten Grundrisses, löschen wollen und in dem ereiferten Streit darüber das brennende Gebäude selbst ganz vergessen, ist von Lessing mit offenbarer Absichtlichkeit das komische Element herausgearbeitet, ohne daß er freilich es unterlassen hätte, der positiven Empfindung sogleich zu ihrem vollen Rechte zu verhelfen. Dieselbe ist ohnehin in diesem unvergleichlichen Stücke von vornherein und durchweg auf das lebhafteste angeregt, aber allerdings nicht in der eigentlichen Handlung, welche hier ganz nach der negativen Seite gewendet ist, sondern in der derselben vorausgehenden, sowohl ihrem Umfange als ihrer Bedeutung nach weit überwiegenden Schilderung. Diese Schilderung des Palastes, der ein Bild der Religion darstellt ─ nicht einer bestimmten Religion, sondern der Religion überhaupt ─ ist in ihrer Art ein unübertroffenes Meisterstück: hier herrscht die vollkommenste Ähnlichkeit in jedem, auch dem scheinbar unwesentlichsten Worte der Erzählung, kein Beiwort ist müßig oder zum bloßen Schmucke gewählt; dennoch liegt gerade in diesem Teil der Erfindung etwas den Forderungen der Kunst Widersprechendes, entschieden Unpoetisches. Diese Parabel würde die dichterische Kunstform nicht vertragen; die Prosaform, welche ihr Lessing gegeben, stimmt ganz zu ihrem Zweck und Wesen: nicht als schöne Dichtung, sondern als rhetorisches Kunstmittel, welches Überzeugung bewirken soll, hat Lessing sie erfunden. Es war daher kein Fehler, weil mit dem Zwecke der Darstellung nicht im Widerspruch, daß die Jnstanz, vor der sich jene vollkommene Ähnlichkeit herausstellte, nicht die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung ist, sondern der vergleichende Verstand und das Denkvermögen. Dieser Palast mit dem unermeßlichen Umfang und der sonderbaren Architektur, mit den wenigen unregelmäßigen Fenstern und zahlreichen Thoren und Thüren, durch welche ein jeder auf dem kürzesten Wege gerade dahin gelangt, wo man seiner bedarf, mit den zahllosen Gemächern, die alle ihr Licht von oben erhalten, der mit alle dem dennoch gefällt, durch „die Bewunderung, welche Einfalt und Größe erregen, wenn sie Reichtum und Schmuck mehr zu verachten als zu entbehren scheinen“, ist ein schlechterdings unvorstellbares Ding; dagegen ist jedes seiner Attribute mit dem höchsten Scharfsinn so ausgewählt, daß der Verstand mit Sicherheit auf die Vergleichung mit den entsprechenden wesentlichen Beschaffenheiten des vorschwebenden abstrakten Begriffes der Religion hingewiesen und das Denkvermögen in den Stand gesetzt wird, dieselben zu einer fest in sich geschlossenen, einheitlichen Vorstellung zu verbinden. Was jedoch die sinnliche Anschauung des gewählten Bildes nicht vermag: zu gefallen und die Seele zu bewegen, das leistet dieses selbe Bild nun dennoch, nachdem es durch den Gedanken Erleuchtung und Belebung empfangen hat: es zeigt in einer Überschau vereinigt eine Reihe der wesentlichsten Merkmale des Begriffs ─ und zwar nur diese mit Ausschluß aller andern, und zwar diese nicht nur neben= und nacheinander, sondern in notwendiger innerer Verbindung ─, welche in dieser Verknüpfung nicht leicht gedacht und daher weder in ihrer wesentlichen Bedeutung noch in ihrer engen Zusammengehörigkeit erkannt werden. Der hier vorliegende Fall ist in hohem Grade geeignet, das Verhältnis, welches zwischen der Allegorie und der Parabel obwaltet, klarzulegen. Die Allegorie ist keine Dichtungsart oder überhaupt eine Kunstgattung, sondern sie ist eine Darstellungsweise. Für dieselbe ist noch immer Lessings Definition in Geltung, der seinerseits dem Quintilian folgte, jedoch nicht ohne dessen Erklärung zu modifizieren. Es heißt bei Lessing (vgl. Abhandl. über d. Fabel: X. S. 30): „ Die Allegorie sagt das nicht, was sie nach den Worten zu sagen scheint, sondern etwas Anderes Ähnliches. “ Das Wort „ Ähnliches “ hat Lessing dem Vossius entlehnt und als Verbesserung acceptiert. Er hat jedoch die Worte Quintilians mit einer Freiheit übersetzt, die in der Mehrzahl der Fälle wohl erlaubt ist, hier aber in einem wesentlichen Punkte den Sinn verändert. Quintilian sagt: „ Ἀλληγορία aliud verbis aliud sensu ostendit . Inst. orator. lib. VIII, 6, § 44. Genau: At ἀλληγορία , quam inversionem interpretantur, aut aliud verbis aliud sensu ostendit, aut etiam interim contrarium. Jedoch dieses etiam interim contrarium erklärt er selbst im § 54 für die Jronie . In eo vero genere, quo contraria ostenduntur, ironia est: illusionem vocant; er betrachtet dieselbe also als eine Unterart der Allegorie . Das heißt nicht: Die Allegorie sagt das nicht, was sie den Worten nach zu sagen scheint u. s. w., sondern: „sie sagt etwas anderes dem Wortlaute nach und etwas anderes dem Sinne nach;“ oder freier übersetzt: „Das Wesen der Allegorie ist, daß bei ihr Wortlaut und Sinn verschieden sind, nicht zusammenfallen. “ Es zeigt sich dabei beiläufig wieder, wie weise Wortsparer die Alten waren, denn der Zusatz des „ simile “ ist, wie jeder sieht, ganz überflüssig. Viel wichtiger aber, und in der That in vielen Fällen von ganz entscheidender Bedeutung ist die positive Fassung des ersten Teiles der Definition: Allegoria aliud verbis ostendit : die Allegorie „zeigt“ ein Doppeltes, das eine den Worten, das andere dem Sinne nach. Der große Unterschied ist, daß durch Lessings Fassung der Definition die selbständige Bedeutung dessen, was die Allegorie „den Worten nach sagt,“ für alle Fälle negiert wird, während die Fassung der Quintilianischen Erklärung dem in Wirklichkeit obwaltenden Verhältnis gerecht wird und außer den Fällen, in denen der Wortlaut der Allegorie für sich genommen ohne Bestand ist, „das nicht sagt, was er zu sagen scheint,“ auch alle diejenigen einschließt, in denen ihr selbständiger Jnhalt auch abgesehen von dem Sinne, den er außerdem noch vertritt, eine größere Bedeutung oder die volle eigene Geltung hat: auch hier trifft dann immer noch die Definition der Alten zu ─ ἄλλο λέγον τὸ γράμμα άλλο τὸ ωόημα ─, aliud verbis aliud sensu ostendit . Nichts Geringeres aber hängt von dieser Unterscheidung ab als die Frage, ob die allegorische Darstellungsweise in der Kunst erlaubt oder aus derselben zu verbannen sei. Die Allegorie nach Lessings Definition ist schlechthin unpoetisch und überhaupt unkünstlerisch. Wenn sie „das nicht sagen muß, was sie zu sagen scheint, sondern nur etwas Ähnliches“ ─ und man kann Lessing schwerlich anders verstehen ─, so geht bei einer solchen Darstellungsweise die sinnliche Wahrnehmung leer aus, oder doch sie wird nur in Dienst genommen um dem Verstande ein Material vorzulegen zu dessen Beschäftigung; ob sie sich des Wortes oder der malerischen und plastischen Nachbildung bedient, sie bleibt ästhetisch immer indifferent und hat ihre Bedeutung nur als rhetorisches Kunstmittel oder als Mittel für Kultus- und verwandte rituale Zwecke. Ganz anders liegt die Sache, wenn in den Begriff der Allegorie auch der zweite Fall eingeschlossen wird, daß der Jnhalt der allegorischen Darstellung zunächst seinen Bestand für sich hat, von allen andern Darstellungsweisen sich aber dadurch unterscheidet, daß er auf einen von diesem Jnhalte an sich verschiedenen Sinn hinweist ─ aliud sensu ostendit . Jn diesem Falle kann die Kunst sehr wohl von der Allegorie Gebrauch machen, sie hat von jeher der Anwendung derselben viele ihrer schönsten Wirkungen verdankt und wird sich ihres Rechtes auf dieselbe nie begeben; natürlich unterwirft eine jede Kunst die allegorische Darstellungsweise den in ihrem Bereiche herrschenden Gesetzen. Für die Poesie sind diese Gesetze aus dem Gesagten leicht zu entwickeln. Die allegorische Darstellungsweise gibt das, was sie darlegen will, durch Darstellung eines Andern zu erkennen. Sie thut also weiter nichts, als was jede bildliche Ausdrucksweise thut, nur daß sie ihrem Namen, der eine erzählende Darstellungsweise bedeutet, gemäß sich nicht begnügt, etwa für einen einzelnen Begriff ein ähnliches konkretes Ding zu setzen, sondern daß sie die Beziehungen und gegenseitigen Einwirkungen der Begriffe untereinander durch in Handlung gesetzte Dinge und Wesen darzustellen weiß. Bei diesem Verfahren können nun nach entgegengesetzten Seiten sehr schlimme Fehler gemacht werden, und sie sind von den Geistern niederen Ranges, sobald sie sich an die Allegorie wagten, auch regelmäßig gemacht worden. Da es nämlich bekanntlich schon schwer ist, in der Rede gute Bilder anzuwenden, da die Durchführung derselben in der Allegorie aber noch unendlich viel schwieriger ist, weil treffende Ähnlichkeit sich hier noch viel schwerer festhalten läßt, so sind die meisten entweder bei einer halben oder nur stellenweise zutreffenden Ähnlichkeit stehen geblieben und in Folge dessen undeutlich geworden: d. h. das von ihnen angewandte Mittel trat mit dem abstrakten Zweck in Widerspruch, sie schufen also ein Häßliches; oder ─ und dies ist das Häufigere ─ sie ließen den Sinn, den sie darstellen wollten, in der Weise über die konkreten Mittel der Darstellung die Herrschaft gewinnen, daß ihre handelnden Wesen und Dinge ihre Freiheit verloren, d. h. nicht sprachen, handelten, sich gebärdeten, wie es ihnen ihrer Natur und den vorausgesetzten Verhältnissen gemäß zukam, sondern wie es durch ein ganz außerhalb liegendes Gesetz, eben das des in der Jntention des Dichters liegenden abstrakten Sinnes, ihnen diktiert wurde. Damit wurde aber diese ganze Klasse von Dichtungen der Sphäre der Kunst völlig entrückt. Nur im Reiche vollkommener Freiheit und höchster innerer Richtigkeit und Wahrheit gedeiht das Schöne. Jn jenen fehlerhaften Allegorien regiert überall die verstimmende, fremdartige Absicht des Quasi-Dichters. Es ist aber offenbar ein dritter Fall übrig: es ist der, wenn Bild und Sinn, im Einzelnen und in der Ausführung, durch eine vollkommene Ähnlichkeit sich fortwährend völlig decken. Der Dichter wählt oder erfindet seine Dinge und Wesen und ihre Veränderungen, welche die Handlung bilden, so, daß sie mit sich selbst und untereinander in völliger Übereinstimmung bleiben und, was mehr ist, daß die Nachahmung der Handlung an und für sich ästhetisch zu wirken, d. h. unmittelbar die Empfindung zu erregen vermögend ist. Das was er gibt, muß an sich selbst in Form und Jnhalt allen Forderungen des Kunstwerks entsprechen. Dazu kommt nun aber ein „Anderes“: der Dichter hat diesmal nicht die Absicht, die hervorgerufene Empfindung auf den Jnhalt des „dem Wortlaute nach“ Dargestellten sich beschränken zu lassen, sondern sein Zweck ist, „dem Sinne nach“ derselben eine viel weitere Ausdehnung zu geben. Jhm selbst hat bei jedem einzelnen Teile, bei jeder Fortschreitung seiner Handlung ein Paralleles, aber Höheres, Jdeelles vorgeschwebt. Die große, überall vorhandene Ähnlichkeit kann nicht umhin, dem Hörer sofort sich darzubieten, der nun fortan des doppelten Vergnügens genießt, an der Anmut der dargestellten Dinge selbst sich zu erfreuen und mit immer wachsender Teilnahme zugleich des inneren Zusammenhanges einer bedeutenden Gedankenreihe in echt poetischer Weise, d. i. durch unmittelbar sich einstellende und mit Gewißheit urteilende Empfindung, sich bewußt zu werden. Der höchste Zweck der Dichtung wird damit erreicht: in der Schönheit der angeschauten Dinge, die den Sinnen erscheint, die höhere Ordnung der geistigen Welt, „in leichten Rätseln“ vorgeführt, zu empfinden. Die erste Forderung an die Allegorie ist also, daß die Ähnlichkeit zwischen dem Wortlaut und dem Sinne deutlich und in allen ihren Teilen unverkennbar sei; dieses Gesetz gilt für jede Allegorie: während aber für die Allegorie, sofern sie nur auf die Überzeugung zu wirken bestimmt ist, es genügt, daß diese Ähnlichkeit vorhanden ist, sei es auch, daß ihr Jnhalt nur im Hinblick auf ihren Sinn erfunden ist und für sich keinen Bestand hat, ist das höchste Gesetz für die künstlerische Allegorie, daß sie durch ihren Jnhalt schon die Empfindungen erweckt, welche sie hervorrufen will, daß sie aber durch eine vollkommene Ähnlichkeit dieselben auf ein unmittelbar sich darbietendes Höheres, Allgemeineres sich erweitern läßt. Die Beispiele finden sich bei unsern besten Dichtern zahlreich und es ist oben aus einem andern Gesichtspunkte schon auf einige derselben hingewiesen: die schönsten bei Goethe, wie „ Mahomeds Gesang, “ „ Seefahrt, “ „ Deutscher Parnaß, “ „ Magisches Netz, “ „ Lilis Park “ und viele andere, ferner bei Schiller „ Die Teilung der Erde, “ „ Das Mädchen aus der Fremde “ u. s. f. Danach läßt sich nun das Verhältnis der Allegorie zur Parabel ermitteln. Ohne das allegorische Element läßt sich keine Parabel denken, aber die Stufe ihres poetischen Wertes bestimmt sich nach der Art, wie sie dasselbe verwendet: ob sie sich der unkünstlerischen, lehrhaften Allegorie bedient oder der poetischen, ob ihr Jnhalt eigenen Bestand und selbständiges Jnteresse besitzt oder nicht. Jn dem einen Falle ist die Parabel vorwiegend didaktisch, im andern eine echte Dichtung; natürlich sind vermittelnde Übergänge, Vermischungen beider Arten vorhanden, wie Lessings antigoezische „Parabel“ davon ein Beispiel ist. Dabei bleibt aber zwischen der Parabel und der allegorischen Dichtung ein spezifischer Unterschied bestehen: die Parabel als Dichtungsgattung hat immer zum Zweck das Wahre oder Verkehrte des der Vergleichung zu Grunde liegenden Sinnes durch die von ihr nachgeahmte Handlung unter der Form des Wohlgefälligen oder Lächerlichen dem Empfindungsurteil vorzuführen; bei ihr ist also der Gegenstand Handlung, sie gehört der epischen Gattung zu; die Allegorie, als selbständige Dichtungsweise, hat einfach den Zweck durch treffende Ähnlichkeit ihrer Erfindung mit den wesentlichen Merkmalen ihres Sinnes denselben überhaupt die Macht über die Empfindung zu verleihen; ihr Gegenstand ist also Empfindungserregung, die Handlung ist ihr nur ein Mittel dazu; sie gehört somit der lyrischen Gattung zu. Man wird nicht zweifeln, Gedichte wie „Mahomeds Gesang,“ „Seefahrt,“ „Deutscher Parnaß,“ oder „Die Teilung der Erde,“ „Das Mädchen aus der Fremde,“ für lyrisch zu erklären, und ebenso wenig sie als Muster allegorischer Poesie anzuerkennen. Dagegen liegt in den anerkannt besten Parabeln der epische Charakter klar zu Tage; so in den Lessingschen, in Chamissos „Kreuzschau,“ in Rückerts „Mann im Syrerland“. Bei Gedichten, welche bald der einen, bald der andern Gattung zugezählt werden, dürften in jedem Falle diese Unterscheidungsgründe zu fest bestimmten Urteilen führen: so trägt z. B. Schillers „Pegasus im Joch“ entschieden den Charakter der Parabel, es ist eine Handlung erzählt, um das durch dieselbe hervorgerufene Empfindungs urteil auf das ideelle Verhältnis, für das sie als Vergleichung dient, zu übertragen; dagegen ist z. B. eine Dichtung, welche immer als Parabel angesprochen wird, Herders „ Licht und Liebe, “ S. „ Blätter der Vorzeit “ (Hempel VI, S. 34). ebenso entschieden als bloße Allegorie zu bezeichnen, die Erdichtung einer Handlung, in deren einzelnen Teilen die Ähnlichkeit mit der Mosaischen Schöpfungsgeschichte festgehalten ist, wird als Mittel verwendet, um die Empfindungen des „Lichtes und der Liebe,“ welche diese Schöpfung erfüllen, lebendig zu machen. Jn ein Wort zusammengefaßt: die Allegorie ist eine Darstellungsweise, deren sich, wenn sie den Kunstgesetzen gemäß eingerichtet ist, die Lyrik sehr wohl bedienen kann; sobald die Epik sich ihrer bemächtigt, also eine durchweg allegorische Handlung zum Gegenstande der Nachahmung gemacht wird, so entsteht eine Parabel. Wie schon gesagt, es hindert nichts, daß sowohl die Allegorie als die Parabel nicht im vollen Sinne poetisch gestaltet werden könnten: das wird natürlich am meisten der Fall sein, wo das Bild, die Handlung, der Jnhalt der Darstellung zuerst in der Phantasie des Dichters vorhanden war und zu diesem sich ihm durch die vorhandene innere Ähnlichkeit der entsprechende Sinn einstellte; in geringerem Maße da, wo zu dem Sinn der Dichter das Bild, die ähnliche Handlung erst suchen mußte. Allein auch hier kann der Dichter, der die Gesetze seiner Kunst kennt und sie zu befolgen weiß, die Erinnerung an den Ursprung seiner Erdichtung aus der Reflexion tilgen und rein poetisch wirken. Von der ersten Art ist Goethes „Mahomeds Gesang,“ von der zweiten Schillers „Teilung der Erde“. Ein Unterschied bleibt freilich immer, und Goethe hat ihn in einem seiner Sprüche scharf gekennzeichnet, und zwar indem er dabei das Verhältnis seiner eigenen Dichtungsweise zu der seines großen Freundes speziell im Auge hatte: Sprüche: Ethisches : IV, Nr. 363. S. Hempel XIX, S. 83. „Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.“ Nur ist nicht zu übersehen, daß hier von Goethe in der letzteren Kategorie zwei verschiedene Fälle zusammengefaßt sind: „sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen “: der erste Fall ist allerdings der aller echten Poesie, sie stellt das Besondere als typisch für das darin liegende Allgemeine dar; der zweite, wobei wohl an ein Allgemeines „ gedacht wird, “ welches nicht in dem Besondern selbst liegt, sondern dem dieses Besondere ähnlich ist, ohne daß durch den Hinweis darauf die Selbständigkeit der Darstellung die geringste Beeinträchtigung erfährt, ist der Fall der vollendet poetischen Allegorie. Sicherlich hat Goethe bei seinem Gedicht „ Seefahrt “ zunächst an sich selbst „gedacht“, an seinen Eintritt in die Weimarer Verhältnisse und an die Bedrängnisse und Gefahren jener sturm= und drangerfüllten Jahre, unter denen er mit festem Zielbewußtsein seine Persönlichkeit und seine Mission bewahrte; wie oft mag ihm das Bild der festen Steuerung im Sturm vorgeschwebt haben, zumal bei den Besorgnissen und Anklagen der Freunde, die so laut und vielfach an sein Ohr schlugen. Aber ebenso sicher konnte er nicht eher zu der poetischen Nachahmung der durchlebten Seelenzustände fortschreiten, als bis er sie bei sich selbst von dem individuell Eingeschränkten und Belastenden losgelöst und zum Allgemeinen erhoben hatte, das ihm bei seinem Gedicht vorschwebte, woran er „ dachte “, eben in seinem Falle einen Typus erblickend. Aber durch keinen „Hinweis“ ist die Schönheit des selbständig durchgeführten Bildes, welches seinem poetischen Auge vorschwebte, entstellt, und so „schaut“ er in dem Besondern zugleich das Allgemeine: die ihrer Kraft sichere Zuversicht des höhern und stärkern Geistes, der aus der schützenden Enge hinaus größern Verhältnissen, einem weiteren Schauplatze zustrebt, hochgeschwellt die Brust von Hoffnungen, jauchzend in den ersten glücklichen Erfolgen, den sich türmenden Hemmnissen mutig und besonnen die Stirn bietend, „treu dem Ziel“ und „seinen Göttern vertrauend.“ Alles dieses ist ausgedrückt in dem Bilde der Seefahrt. Die Ähnlichkeit, vermöge derer das möglich wird, liegt in den Empfindungen und Seelenzuständen, die in beiden Fällen rege werden, und die der eigentliche Gegenstand der poetischen Nachahmung sind; vermittelst jenes Bildes wird dieser Nachahmungszweck schneller und leichter erreicht. Es ist also zwischen der „ poetischen Allegorie “ und der „ eigentlichen Natur der Poesie “ allerdings noch ein Unterschied, obwohl in jenem Spruche Goethe beide in ein und dieselbe Kategorie wirft. Es gibt sogar zwischen beiden noch eine Mittelstufe, welche Goethe mit dem Namen der symbolischen Poesie bezeichnet, und die keiner mit der Meisterschaft und mit der Vorliebe gehandhabt hat wie er. Jn der fünften Abteilung der Sprüche über „Kunst“ lauten die beiden letzten (Nr. 742 und 743) S. Hempel XIX, S. 158. folgendermaßen: „Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so, daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei.“ „Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Jdee, die Jdee in ein Bild, und so, daß die Jdee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe.“ Das ist keine Definition, sondern ein tiefsinniger Spruch, der erst selbst der Definition bedarf. Gemeinsam mit der Allegorie ist der Symbolik, daß sie wie jene auf Vergleichung beruht, und zwar auf der Ähnlichkeit eines Konkreten nicht direkt mit einer andern konkreten Erscheinung, sondern mit dem geistigen Jnhalt derselben; nun aber tritt für denselben, wenn er ein Begriff ist, der sich „vollständig aussprechen“ läßt, die Allegorie ein, die demselben entsprechend ebenso fest begrenzt ist; für die „unaussprechliche“ „ Jdee “ dient die Symbolik zum Ausdruck, die ihrerseits also auch etwas Unerschöpfliches, Jnkommensurables in sich trägt. Die Unterscheidung ist ungemein wichtig und für die Beurteilung der Poesie und der gesamten Kunst von tief eingreifender und ganz entscheidender Bedeutung. Aber die sehr große Schwierigkeit liegt darin, den Unterschied von „Begriff“ und „Jdee“ klar und bestimmt zu definieren. Goethe hat sich oft und mit besonderer Vorliebe über den Gegenstand ausgesprochen. Die Zusammenfassung seiner Meinung enthält wohl, was wir in den „Sprüchen“ (Natur V, Nr. 1016) S. Hempel XIX, S. 219. lesen: „Begriff ist Summe, Jdee Resultat der Erfahrung; jene zu ziehen, wird Verstand, dieses zu erfassen, Vernunft erfordert.“ Zur Erklärung dienen zahlreiche andre Stellen der Sprüche, so Nr. 334: Ethisches III. Hempel XIX, S. 75. „Die Jdee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgethan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Jdee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Jdee selbst ein Begriff.“ Und Nr. 336: „Die Manifestation der Jdee als des Schönen ist ebenso flüchtig als die Manifestation des Erhabenen, des Geistreichen, des Lustigen, des Lächerlichen. Dies ist die Ursache, warum so schwer darüber zu reden ist;“ in demselben Sinne ferner Nr. 430: Ethisches IV, S. 93. „Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir müssen es aus seinen Manifestationen erraten.“ Die Meinung ist also doch wohl die: der Begriff beruht auf einem bestimmt formulierten Verstandesurteil, zu welchem wir gelangen, indem wir in der Summe der gleichartigen Einzeldinge die wesentlichen Merkmale feststellen, die allen gemeinsam sind, ferner die Merkmale, durch die sie untereinander oder von verwandten Dingen sich unterscheiden. Jndem wir mit einer Summe zusammengehöriger oder verwandter Begriffe ebenso verfahren, steigen wir zu höhern Begriffen auf und von diesen zu noch weiter umfassenden Gesamtbegriffen. Hier ist überall auf Erfahrung gegründete Bestimmtheit und Klarheit vorhanden, und der sprachliche Ausdruck stellt den Gedanken vollständig dar. Jndem wir nun aber zu den höchsten Vorstellungen vorschreiten, gewahren wir, daß jene begrifflichen Feststellungen wohl geeignet sind zur Kennzeichnung und Unterscheidung derselben zu dienen, aber keineswegs vermögend ihr Wesen zu erschöpfen. Weite Gebiete des Gefühls und auch der Erfahrung sind der deutlichen Erkenntnis verschlossen, und die Vernunft erkennt die Existenz und unaufhörliche Wirksamkeit von Mächten an, die dem Verstande unfaßbar und „unbegreiflich“ sind. So ist gerade die Thätigkeit des Verstandes, welche die vollständige Summe der Erfahrung zu Begriffen vereinigt, am besten wirksam zu erweisen, daß die bessere und größere Hälfte der Erkenntnis darüber hinaus noch übrig bleibt für die bloßen „Schlüsse“ der Vernunft, für das Urteil der Empfindung, und weiter hinaus statt der Erkenntnis für die Ahnung und den Glauben. Damit steht die Lehre Kants in voller Übereinstimmung: vgl. Kritik der reinen Vernunft , I. Abth., 1. Buch, 1. Abschn. (Ausg von R. und Sch. Bd. II, S. 258): „Der Begriff ist entweder ein empirischer oder reiner Begriff, und der reine Begriff, sofern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen Bilde der Sinnlichkeit), heißt Notio . Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Jdee oder der Vernunftbegriff.“ Daraus ergibt sich, daß, wer diese Thatsache nicht anerkennt, notwendig auch zu begrifflichem Jrrtum gelangen muß, eine Beobachtung, der gleichfalls Goethe den schlagenden Ausdruck verliehen hat: „ Wer sich vor der Jdee scheut, hat auch zuletzt den Begriff nicht mehr. “ Die Sprache gibt diesen „ Jdeen “ Namen, aber diese Namen bezeichnen sie nur, ohne daß sie vollständig erklärt werden könnten; auch kann keine Erfahrung ihnen jemals vollständig entsprechen: sie gehen als das „ Resultat “ aus der Summe der Manifestationen hervor, in denen ihr Wesen sich offenbart. Da sie aber in ihrem Wesen insofern alle verwandt sind, als sie alle auf eine gemeinsame Quelle hinweisen, so gelangt eine konsequente Betrachtung dazu, sich die Jdee überhaupt als eine „ewige und einzige“ vorzustellen, von der die „einzelnen“ Jdeen, von denen unser Sprachgebrauch redet, nur die Emanationen sind und zu der sie immer in Beziehung gedacht werden müssen. Wenn also das Höchste in den Dingen und ihre eigentliche Vollständigkeit niemals begrifflich festgestellt und überhaupt niemals ganz ausgesprochen werden kann, sondern die Vorstellung davon nur im Ahnen, Glauben und Fühlen als Thatsache vorhanden ist, so ist es klar, daß dieses Höchste und die eigentliche Vollständigkeit der Dinge auf keine andere Weise dargestellt werden kann als durch die Kunst, deren Wesen es ist, durch die Mittel, welche das ganze Naturreich und Leben ihr darbietet, den Sinnen sich verständlich zu machen und dadurch die Nachahmung aller jener Seelenvorgänge zu bewirken, in denen die „ Jdee “ sich den Menschen kund thut: Empfindungen, Gesinnungen, Handlungen. Jn ihren größten wie in ihren kleinsten Hervorbringungen ist dies das Ziel der Kunst; sie erreicht es dort mit Hülfe einer Fülle von Anschauungen, hier vermag es der echte Künstler auch mit den geringsten Mitteln durch jene undefinierbare Zaubergewalt, mit welcher wahres Gefühl auch immer wieder Empfindung erweckt. Die Poesie, und neben ihr auch die bildende Kunst, hat aber ein Mittel, auch in kleinem Umfange, wo die direkte Nachahmung der Empfindung des Jdeellen verwehrt sein würde, dieselbe auf indirekte Weise zu bewirken: dieses Mittel ist die Symbolik. Ein Symbol ist ein konkretes Ding, welches durch ein hervorragendes Merkmal seiner Beschaffenheit geeignet ist, auf eine Jdee hinzuweisen und so als Kennzeichen derselben zu dienen; so der Ring, ein ohne Ende in sich geschlungenes Band, ein Hinweis auf die Treue, die nicht endet, das Kreuz ein Merkmal des christlichen Glaubens, die Krone und der Kranz Symbole der Herrschaft und des Ruhmes. Die Gewalt, mit der die Liebe die Seele ergreift, wird symbolisiert durch den das Herz durchbohrenden Pfeil; ihre Süßigkeit: die Spitze ist in Honig getaucht; die Flüchtigkeit der Liebe und ihre wechselnden Launen stellen geflügelte Amoretten dar. Wie herrlich hat Thorwaldsen die „Alter der Liebe“ in einem seiner schönsten Reliefs ausgedrückt, ein Meisterwerk symbolisierender Kunst: die geflügelte Psyche mit dem Amorettenkorbe neben sich, dessen Deckel ein neugieriges Knäblein lüftet, während ein halberwachsenes Mädchen mit unschuldiger Zutraulichkeit nach dem aus dem Korbe sich ihr entgegenhebenden Köpfchen langt; Psychen zu Füßen kniet eine eben erblühte Jungfrau und empfängt mit in heiligem Enthusiasmus nach oben gerichtetem Antlitz aus ihren Händen den Amor; in inbrünstigem Kuß preßt ihn die Neuvermählte an die Lippen, die werdende junge Mutter, in sinnendem Ernst und doch still beglückt die Augen zur Erde gewandt, trägt ihn, der die kleinen Arme über der Brust gekreuzt hält, an den Flügelchen in der herabhängenden Linken; dem vollkräftigen Manne sitzt er triumphierend auf dem Nacken und drückt ihm mit schwerem Gewicht die breiten Schultern; neckisch entflieht er dem Greise, der vergebens sehnsüchtig ihn zurückzurufen strebt. Jeder dargestellte Vorgang erweckt hier die Vorstellung der Jdee der Liebe in immer andern Manifestationen, jeder genügend, um seinen Gegenstand zu kennzeichnen, keiner doch ihn aussprechend, vielmehr durch die Art der Vorstellung die Empfindung und durch sie den Gedanken zu unbegrenzter Thätigkeit anregend, daher, wie jedes wahre Kunstwerk, für den Beschauer immer neu! Ganz ebenso verfährt die poetische Symbolik. Jmmer handelt es sich bei ihr um jene höchsten Dinge, die eben nicht vollständig im Begriffe zu fassen und auszusprechen sind, sondern bei denen ein bedeutender Teil dem Ahnen und Fühlen überlassen bleiben muß. Auf die in solchen Erscheinungen und Vorgängen sich manifestierende Jdee weist die poetische Symbolik durch Erzählung eines Vorganges hin, der durch eine oder mehrere hervorstechende äußere Beschaffenheiten geeignet ist, an jene Jdee zu erinnern, sie zu „kennzeichnen“, im übrigen nun aber seine völlige Freiheit behält, ganz verschieden von der poetischen Allegorie, die zwar auch die innere Selbständigkeit bewahren muß, aber in allen Fortschreitungen ihrer Darstellung gezwungen ist, den einzelnen Bestandteilen der vorschwebenden Begriffsverhältnisse sich genau anzuschließen. Jndem nun die poetische Symbolik das gewählte Bild in solcher Freiheit, aber doch immer im Hinblick auf die vorschwebende Jdee, also das Ähnlichkeitsmoment in den Vordergrund stellend, ausführt, erhält das Bild etwas Unendliches; es läßt sich nicht aussprechen, wie die Empfindung der Jdee immer aufs neue dadurch angeregt wird und damit auch eine unerschöpfliche Kraft immer erneute Gedankenbildung zu erwecken erlangt. Darin liegt die Erklärung dafür, daß schön und treffend gewählte Symbole eine geradezu ewige Geltung besitzen können, weil die Jdee, welche sie erzeugte, wenn auch aus den temporären Erscheinungen und Verhältnissen geschöpft, die Deutung und Anwendung auf die gleichartigen, wenn auch äußerlich noch so sehr veränderten und erweiterten Zustände nicht allein immer wieder zuläßt, sondern zu solcher Erfassung um so stärker auffordert, je besser sie gelungen ist. Ein ganz herrliches und wahrhaft klassisches Muster solcher poetischen Symbolik, in großen Partien der Dichtung zugleich ein Muster echt poetischer Allegorie, ist Goethes „ Märchen “ von der schönen Lilie in den „ Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter “, dessen Deutung der Verfasser in einer eigenen Schrift: „ Goethes Märchen, ein politisch=nationales Glaubensbekenntnis des Dichters “ (Königsberg, Verlag der Hartungschen Buchdruckerei, 1875) niedergelegt hat. Solche Dichtungen sind Goethes „Gesang der Geister über den Wassern“, „An Schwager Kronos“, „Ganymed“, „Die Nektartropfen“, Schillers „Das verschleierte Bild zu Sais“, „Das Eleusische Fest“, „Der Pilgrim“, „Die Klage der Ceres“; sie alle enthalten durchgeführte Symbolik, während die gelegentliche Verwendung des symbolischen Elementes bei beiden, wie bei allen echten Dichtern, überall in ihrer Poesie eine große Rolle spielt. Die gesamte Anakreontik zum Beispiel, ebenso wie alle Reflexionspoesie bedient sich der Symbolik, wie auch des Elementes der poetischen Allegorie mit Vorliebe. Naturgemäß findet die Symbolik ebenso wie in der Lyrik, so auch in den größern Dichtungsgattungen Eingang, wiewohl hier nur episodisch und nur da, wo die Fülle oder der Umfang der darzustellenden Jdeen zu groß ist, um direkte Verkörperung erfahren zu können, was keineswegs nur ein der modernen Poesie eigentümlicher Fall ist. Jm Epos hat das Altertum zwar nichts aufzuweisen, was an Dante und Milton erinnern könnte, doch sind die Elemente, aus denen sich sowohl das griechische als das nordisch=germanische Epos aufgebaut hat, die Mythen beider Völker, erfüllt von symbolischen Zügen. Das antike Drama aber beruht in einer seiner großartigsten Schöpfungen zum wesentlichen Teile auf Symbolik: ein Blick auf des Aristophanes „Vögel“, „Wolken“, „Wespen“ genügt, um die Überzeugung zu gewinnen, daß die politische Komödie, wenn sie sich nicht auf Kleinlichkeiten einschränken soll, sondern die Dinge in großem Stil behandeln will, bei der Ausdehnung und Mannigfaltigkeit der in Betracht kommenden Verhältnisse der Symbolik fast nicht entbehren kann, welche die bunte Masse der Erscheinungen auf ihre Jdeen zurückführt und diese durch Körper und Dinge vertreten sein läßt, zwischen denen nun die dramatische Handlung vorgeht, frei nach den dramatischen Gesetzen sich entwickelnd, überall dennoch den ideellen Zusammenhang kennzeichnend. Mit höchster Genialität hat Goethe im Faust die Symbolik seinem Zwecke unterthan gemacht, teils mit der wunderbarsten Kunst sie in die reale Handlung verwebend ─ so in der Scene mit dem Erdgeiste, in der Einführung der Figur des Mephistopheles, die dann, einmal gewonnen, als wirkliche Person in die weitere Handlung hineinwirkt; ebenso im zweiten Teile in der Beschwörung der Helena und der Erzeugung des Homunculus ─, teils, indem er für ganze, in sich abgeschlossene Scenen zur reinen Symbolik griff, freilich gerade sie mit der reichsten Fülle plastischer Gestaltungskraft und allem Zauberschmuck der Phantasie ausstattend: solche Scenen sind die Hexenscene und die romantische Walpurgisnacht im ersten Teile, im zweiten die „Helena“, die klassische Walpurgisnacht und der ganze Schluß. Wie hätte, um nur bei einem Beispiele zu verweilen, die Umformung des dem thätigen und genießen= den Leben entfremdeten Grüblers in den Weltmenschen, welche der erste Teil verlangt, jemals durch reale dramatische Darstellung gezeigt werden können? Nicht durch ein ganzes Drama für sich, nur die Form des Romans könnte eine solche Aufgabe lösen. Die Symbolik verstattet es dem Dichter in einer einzigen Scene seinen Zweck zu erreichen. Jn einer Reihe der treffendsten symbolischen Züge, die zum Teil bis an die Allegorie streifen, erinnert das wüste Gebaren der Meerkatzen und Affen an die banale Jagd nach Gewinn und Genuß und äußerer Geltung, wobei in den großen und in den kleinen Gesellschaftskreisen auf allen Gebieten die Plattheit und Jmpotenz ihr Behagen findet. Auf diesem Untergrunde treten nun zwei große Jdeen in überwältigender Kraft und Anschaulichkeit der symbolischen Erscheinung hervor; in dem banausischen und gemeinen Getreibe vermag den hohen und kraftvollen Geist nur eine Erscheinung zu fesseln, die er wiederum nur aus der Buntheit und mitten aus den tausend Nichtigkeiten dieses Getreibes zu ergreifen vermag: es zeigt ihm im Zauberspiegel die schöne Gestalt. Und die zweite große Jdee: bei allen tödlichen Gefahren des Weltlebens gerade für den hoch und reich Begabten ist allein die Berührung mit ihm vermögend, die Gemüts- und Willenskräfte, die in der Weltentfremdung leicht erlahmen und eintrocknen, durch Erregung, Kämpfe und Jrrungen aller Art in Fluß und Thätigkeit zu bringen: ein gefährlicher Zaubertrank, der aber außer seinem Gifte für den, der ihn zu vertragen vermag, verjüngende und jung erhaltende Kraft besitzt. Jm Grunde sind alle Vorstellungen des Wunders, Zaubers und Gespensterspuks ihrem Kern nach symbolisch; die Erscheinung wird in ihrer Jdee erfaßt und dieser Jdee wird Gestalt gegeben; wenigstens werden nur in diesem Sinne ergriffen diese Vorstellungen für die Dichtung ihren Wert haben. Alle großen dramatischen Dichter haben sich solcher symbolischer Gebilde frei und unbekümmert um realistische Einwendungen und trotz derselben immer mit dem Rechte des unzweifelhaften Erfolges bedient: der viel und oft mit Unrecht geschmähte Deus ex machina der Alten, so z. B. der Herakles in des Sophokles „ Philoctet “, ist, wenigstens in den Händen des echten Dichters, gar nichts andres, als die Benutzung des Volksglaubens in diesem Sinne; mit ganz demselben Rechte wie Shakespeares Gespenster im Hamlet und Macbeth oder die Erscheinung Klärchens als Freiheit in Goethes Egmont ist er die ergreifende Objektivierung mächtiger Jdeenwirkung im Gemüt. Der nähere Nachweis aber, wie alle den hier behandelten Elementen, den verschiedenen Anwendungen des Wunderbaren, dem Para= bolischen, Allegorischen, Symbolischen, ihre berechtigte Stellung in den größern epischen und dramatischen Gattungen anzuweisen sei, kann nicht anders geführt werden, als auf Grund einer eingehenden Untersuchung, welche schon oben, als für die Erklärung der inneren Notwendigkeit des Gebrauchs der Tiere in der Fabel erforderlich, in Aussicht gestellt wurde: eine Untersuchung der Frage: nach den verschiedenen Gestaltungen und Begrenzungen, in denen sich der Begriff der Handlung der poetischen Nachahmung darbietet; und nach den verschiedenen Arten, in denen diese Nachahmung erfolgen kann. Der folgende Abschnitt soll dieser Untersuchung gewidmet sein. ────── XIII. Wie oben ausgeführt, stehen die Handlungen einerseits mit den unmittelbaren und mittelbaren Äußerungen des Seelenlebens ─ Pathos und Ethos ─, andrerseits mit denen der Vernunft- und Verstandesthätigkeit ─ Dianoia ─ im engsten Zusammenhange; wie weiter ausgeführt, ist in dem ästhetischen Urteil, an welches die Nachahmung von Handlungen sich wendet, trotzdem dasselbe sofort und ohne die Vermittelung bewußter Gründe sich einstellt, nach allen drei bezeichneten Richtungen ein Verdikt enthalten, eben weil in der Nachahmung des Handlungsmoments zugleich die Äußerungen des entsprechenden Empfindungsvorganges, die Bezeichnung der obwaltenden ─ „ethischen“ ─ Seelenbeschaffenheit und das Ergebnis der bestimmenden Denkthätigkeit mitgegeben sind. Die Vollständigkeit der Nachahmung würde also erfordern, daß nach allen diesen drei Seiten das für die innere Handlung Wesentliche darin auch mitgeteilt sei; denn es ist ja wohl klar, daß in dieser Beziehung ein weiter Spielraum für die Nachahmung übrig bleibt, ob sie nämlich sich begnügt, jene in der Handlung implicite gegebenen Momente erraten zu lassen, oder ob sie dieselben explicite vorführt. Die Art der Nachahmung kann aber auch noch weiter verschieden sein, je nachdem sie den einen oder den andern jener drei die Handlung bestimmenden Faktoren in den Vordergrund treten läßt und dafür die andern vernachlässigt, obschon dieselben natürlich niemals ganz fehlen können. Die Beschaffenheit und die Wirkung der Nachahmung wird in jedem dieser Fälle eine wesentlich andre sein: sie wird entweder vorzugsweise die Empfindung erregen, oder ethische Stimmung hervor= rufen, oder endlich an das, was wir mit Benutzung des griechischen Ausdrucks den praktischen Sinn nennen, an die Lebensklugheit, den Weltverstand sich wenden. Nach dem Zweck der Nachahmung wird dann jedesmal die Wahl der Mittel und die Art derselben, also ihre Form, sich bestimmen. Und welches sind die Mittel und Arten der Nachahmung von Handlungen, über welche die Poesie verfügt? Das Mittel, die „ innere Handlung “ ─ die Praxis ─ nachzuahmen, ist die Darstellung der äußern „ Handlung “, welche jene zur Erscheinung bringt; ohne diese bliebe jene ein bloßer Begriff und erlangte niemals Wesenheit. Die Arten aber, wie diese Darstellung erfolgen kann, sind sehr vielfach: entweder durch Erzählung oder durch Handelnde, ferner entweder in gebundener Rede oder in Prosa; dann aber auch der Ausdehnung nach, entweder im weitesten Umfange oder in den engsten Grenzen oder auch in einer dazwischen liegenden mittleren Weise; außerdem, was die Wahl der Personen anbetrifft, entweder so, daß die Handlung unter Menschen oder unter Tieren oder unter übermenschlichen, wunderbaren Wesen vor sich geht; entweder nach dem Maßstabe der Wirklichkeit oder unter Zulassung des Wunders, und zwar im letztern Falle entweder nach bestimmten, gesetzmäßigen Bedingungen oder ohne Einschränkung; endlich entweder so, daß die Richtigkeit des nachgeahmten Gegenstandes direkt in der Nachahmung zur Erscheinung komme, wie in der ernsten Poesie, oder indirekt, wie in der komischen. Jn diesem Mittel, der Darstellung äußerer Handlung, ist nun der Poesie ein Reich eröffnet, welches sich noch viel weiter erstreckt als das der Abbildung der sichtbaren Körperwelt, ja dessen Umfang ganz unermeßlich ist. Doch bleibt nichtsdestoweniger das Verhältnis der Poesie zu demselben ganz analog dem, in welchem sie der Körperwelt gegenübersteht. Auch von dieser entleiht sie einen großen Teil ihrer Kraft ─ Glanz, Farbe, Mannigfaltigkeit ─, ja, sie würde völlig verstummen müssen, wollte sie den Versuch machen, ihrer zu entraten; und dennoch ist es unbestritten, daß die Körperdarstellung ihr immer nur Mittel zum Zweck sein darf. Ganz ebenso, obwohl dies keineswegs anerkannt ist, steht die Poesie zu der Darstellung äußerer Handlung. Auch diese, nur um ihrer selbst willen erzählt, ist wertlos, ganz wie die bloße Schilderung körperlicher Gegenstände; aber zu ihrem wahren Zwecke verwandt, gewährt sie der Poesie ihre stärksten Reize und ihre mächtigsten Wirkungen. Wie die Empfindung der Dinge und Wesen der umgebenden Welt bedarf, welche sie anregen, und wie inmitten derselben nun die eine die andre hervorruft, sie sich begegnen, antworten und gegenseitig bedingen, so ist die innere Handlung nur denkbar auf dem Grunde der von allen Seiten eindringenden Veränderungen der Dinge, Personen und Verhältnisse, welche wir in ihrer Gesamtheit Ereignisse, Begebenheiten, Schicksale nennen, innerhalb deren nun die „Handlungen“ sich kreuzen, sich vereinen und bekämpfen, in nie endender Verkettung sich verschlingen. Doch läßt die Empfindung als rein innerlicher Vorgang, und insofern sie in der Willkür des Subjektes gelegen ist, sich wenigstens in der Abstraktion isolieren und ungemischt für sich allein zur Darstellung bringen; in Bezug auf die Handlung dagegen vermag selbst die Abstraktion den Kreis der äußerlichen Veränderungen, auf Grund deren sie stattfindet und in und mit denen sie vor sich geht, nur einzuschränken, niemals aber kann die Darstellung derselben entbehren, selbst da nicht, wo die Handlung in einem rein geistigen Vorgange sich vollzöge, z. B. in der Fassung eines Entschlusses und der Aufgabe desselben, wie im zweiten Monologe des Goetheschen Faust. Umgekehrt aber kann ohne das Werk einer solchen Abstraktion ebensowenig die Darstellung einer Handlung stattfinden: es kann keine einzelne Veränderung gedacht werden, welche nicht mit der Gesamtheit aller übrigen in Verbindung stände; um also eine übersehbare Gruppe derselben darzustellen, muß man dieselbe aus jener Gesamtheit auslösen, eine Menge der Fäden, durch die sie mit derselben zusammenhängt, einfach durchschneiden und nur so viele von den außerhalb des eigentlichen Handlungsvorganges liegenden Veränderungen mit in dieselbe aufnehmen, als zunächst zur Verständlichkeit desselben und sodann zur Erreichung des ins Auge gefaßten Nachahmungszweckes erfordert werden. Zu einer eingeschränktern Verwendung ─ nämlich mit Bezug auf die Sonderung des Ernsten und Komischen, welches im wirklichen Leben nicht selten vermischt auftritt ─ führt Lessing diesen Gedanken im 70. Stück der Hamb. Dramaturgie aus: „Jn der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich, eines in das andre. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern und ihre Aufmerksamkeit nach Gutdünken lenken zu können. Dieses Vermögen üben wir in allen Augenblicken des Lebens; ohne dasselbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden vor allzu verschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beständiger Raub des gegenwärtigen Eindruckes sein; wir würden träumen, ohne zu wissen, was wir träumten. Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schönen dieser Absonderung zu überheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande oder einer Verbindung verschie= Aus diesen Grundsätzen lassen sich die Hauptgesetze aller Dichtungsarten, welche die Nachahmung von Handlungen zu ihrem Gegenstande machen, ableiten, also sämtliche Formen der epischen und dramatischen Poesie. Je einseitiger der Gesichtspunkt ist, von welchem aus die Nachahmung unternommen wird, desto stärker wird von jenem Vermögen der Abstraktion Gebrauch gemacht werden, je vielseitiger, desto mehr wird von den bedingenden und begleitenden Umständen sowie von den äußeren Folgen der Handlung in die Nachahmung mitaufzunehmen sein, und bei dem Bestreben einer vollständigen Nachahmung der Handlung wird jene Abstraktion nur so weit stattfinden dürfen, daß nach jeder der drei oben bezeichneten Richtungen nichts vermißt werde, d. h. mit andern Worten, daß der Schein der Wirklichkeit entstehe. Vollständig ist die Nachahmung, wenn sie bezweckt sowohl die Empfindung als die Gemütsart und die Ueberlegung des Handelnden ─ Pathos, Ethos, Dianoia ─ im ganzen Umfang ihrer Wirksamkeit zu reproduzieren; mehr oder minder einseitig, wenn sie, wie oben schon berührt, zu Gunsten des einen dieser Faktoren die beiden andern, oder um zweier von ihnen willen den dritten zurücktreten läßt, beziehungsweise ganz ignoriert. Die Hülfsmittel für solche verkürzende Abstraktion sind gegeben einmal in der Möglichkeit, die handelnden Personen zu modifizieren, sodann in der Freiheit, die Art und Weise, wie sich die Handlungen derselben nach ihren Bedingungen, Umständen, Wirkungen und Folgen äußerlich verwirklichen, zu verändern. Das Erste geschieht, indem die Nachahmung allgemein bekannte, als typisch geltende Personen wählt oder indem sie solche Personen erschafft, die nur genannt zu werden brauchen, um das Wesentliche ihrer Handlungsweise im Voraus erraten zu lassen; es geschieht ebenso, wenn sie Tieren oder gar unbelebten Gegenständen Persönlichkeit verleiht. Sie hat es dadurch in der Hand, diesen oder jenen Faktor der Handlung nach Belieben zurücktreten zu lassen: so wird z. B. bei einer Handlung, welche Tieren beigelegt ist, der Faktor der Empfindung als frei wirkendes Element so gut wie ganz verschwinden, und demzufolge auch das den Ausschlag gebende Ethos als vorzugsweise von dener Gegenstände, es sei in der Zeit oder dem Raume nach, in unsern Gedanken absondern oder absondern zu können wünschen, sondert sie wirklich ab, und gewährt uns diesen Gegenstand oder diese Verbindung verschiedener Gegenstände so lauter und bündig, als es nur immer die Empfindung, die sie erregen sollen, verstattet.“ der Dianoia bestimmt erscheinen, und zwar von derjenigen Art derselben, welche auf die Erwägung des Nützlichen gerichtet ist. Wo es also gilt, Handlungen, welche von dieser einen Seite sich der Beobachtung darbieten, in eben dieser Einseitigkeit durch die Nachahmung wirksam zu machen, werden ganz von selbst als die Träger derselben sich die entsprechenden Tiercharaktere einstellen. So ist die Fabel entstanden, und zwar, wie natürlich, keineswegs, indem die ersten Erfinder diese Reflexion anstellten, sondern indem sie durch die Natur der Sache ganz von selbst sich dazu getrieben fühlten, wenn die Beobachtung der Tierwelt und des Tierlebens ihnen ihre Analogien mit dem Treiben der Menschen aufdrängte. Wo dagegen das Naturleben, im Gegensatze dazu, vielmehr die Empfindung anregte und Stimmungen erweckte, da legte der dichtende Natursinn in die unbelebten Dinge die Analogien seelischer Energie, wobei nun umgekehrt in den Handlungen, in die er sich wechselsweise mit ihnen setzte, der Faktor der überlegenden Denkthätigkeit sich verflüchtigte: so in allen jenen Gebieten der Sage, in denen Meer und Luft, Wald, Erde, Strom und Quelle sich mit plastischen Gebilden der Phantasie erfüllen, welche den tausendfältig von ihnen ausgehenden Empfindungs= und Stimmungseindrücken in freien und bewußten Handlungen den lebendigen Ausdruck geben. Alle diese Mittel erbt die Kunstpoesie von der Naturdichtung und vermag durch die Erfindung stehender Masken, ferner durch Symbolik und Allegorie diesen Vorrat noch unendlich zu bereichern. Das Zweite ─ die Modifikation der Handlung selbst ─ ist zwar zum Teil schon hierdurch geboten, aber hat darüber hinaus noch seine besonderen, höchst bedeutungsvollen Gesetze. Der Verlauf der inneren Handlung ist unter allen Umständen unantastbar: die Frage ist hier, wie die Nachahmung mit der äußern Handlung verfährt, ob sie die Ursachen, den Hergang und die Folgen, aus denen sie sich zusammensetzt, nach den Gesetzen der Wirklichkeit darstellt, oder ob sie diese Gesetze verändert. Diese Veränderung kann entweder so geschehen, daß nur ein Teil jener Gesetze davon getroffen wird, unter den so geschaffenen Voraussetzungen nun aber die volle Konsequenz der realen Entwickelung in Geltung bleibt, oder sie kann in einer gänzlichen Aufhebung dieser äußern Entwickelungsgesetze bestehen: das erste ist der Fall in der Fabel und in der historischen Sage, das zweite geschieht in der mythischen Sage und im Märchen. Aber wenn das Gesetz der Wirklichkeit aufgehoben wird, so muß ein andres an seine Stelle treten, denn nichts ist unkünstlerischer ─ und nichts daher auch der Naturpoesie fremder ─ als die Willkür. Welches ist nun dieses Gesetz? Hiermit ist die letzte und zugleich die für den Gegenstand bedeutsamste Frage gestellt. Es konnte nach dem Gange der Untersuchung bisher nur von der Nachahmung einer einzelnen inneren Handlung die Rede sein; aber ein wie kleiner Teil der Poesie, die es mit der Nachahmung von Handlung zu thun hat, ist darin beschlossen! Jn der That ist einzig und allein die Fabel in diesen engen Kreis eingeschränkt; Mythus, Sage und Märchen können zwar in manchen Fällen sich gleichfalls damit begnügen, obwohl sie meistens einer viel weitern Ausdehnung bedürfen werden: aber wie unendlich weit müssen die großen epischen Gattungen, muß das Drama darüber hinausgehen! Es scheint, als müßte hier die ganze Theorie von der Nachahmung der „Handlung“ in dem entwickelten engen Sinne zu nichte werden. Ohne alle Frage ist hier überall ein ganzer Komplex solcher Handlungen der Gegenstand der Nachahmung, und zwar in weit ausgedehnter Verschlingung mit gegebenen Zuständen und äußeren Begebenheiten. Diese Verschlingung scheint aber gar nicht denkbar, wenn man die Handlung so scharf, wie es im Obigen geschehen, von ihrer inneren, geistigen Seite gefaßt, für den Gegenstand der epischen und dramatischen Dichtung erklärt! Eben durch ihre äußere Gestaltung wirken ja doch die Handlungen aufeinander und verwickeln und lösen, hemmen und fördern sich gegenseitig; und vollends, wo bleibt das Element des ganz von außen hineinwirkenden, von aller bewußten Willensentscheidung völlig unabhängigen Zufalls, dieses in den epischen und dramatischen Geschehnissen so hochbedeutenden und ganz unentbehrlichen Faktors? Gerade diese Einwürfe, alle zusammengenommen, führen zum Ziel! Aus der ungeheuren Flut der Handlungen und Ereignisse greift die epische, die dramatische Nachahmung einen Komplex heraus und stellt ihn als eine einheitliche Handlung dar. Nach welchem Gesetz wird diese Einheit erkannt und beurteilt? Niemand hat dieses Gesetz sicherer erkennen können als es von jeher in allen Schöpfungen des dichtenden Volksgeistes enthalten war. Nicht in dem wirklichen Zusammenhange der Ereignisse und Thaten ist es gegeben: er diktiert der Geschichte ihre Gesetze, die Poesie hat ein anders, um dessentwillen Aristoteles sie „ philosophischer “ nannte als jene. Hören wir zur Bestätigung des Gesagten, wie einer der größten unsrer deutschen Forscher über den Gegenstand sich äußert: Wilhelm Grimm in einer Rede: „ Über Geschichte und Poesie “; siehe Kl. Schrft. Bd. I, S. 497 ff. „Die Poesie ist das erste und ein= fachste und zugleich das großartigste Mittel, welches dem Menschen verliehen wurde, um ein hohes Gefühl, eine höhere Erkenntnis auszudrücken. Sie ist die Schatzkammer, in welche ein Volk seinen geistigen Erwerb niederzulegen und zu sammeln pflegt .... Alles, was es erlebt hat, sei es nun in wirklichen Ereignissen oder in dem, was der Geist ersonnen oder ausgedacht hat, oder was ihm auf eine unergründliche Weise, die ich mich nicht scheue eine geheimnisreiche zu nennen, ist überliefert worden, das nimmt sie in sich auf. Jene höhere Betrachtung der Ereignisse, die nicht in einer Sammlung des Geschehenen beruht, sondern in einem Ergreifen dessen, was Zeugnis vom Geiste gibt, ist ihr eigen und macht ihr Wesen aus .... Jhre Wahrheit ist nur eine geistige und von den Begebenheiten selbst, aus welchen sie zum Teil hervorgegangen ist, unabhängig. “ Und an einer andern Stelle: Wilh. Grimm: „ Über das Wesen der Märchen “; s. Kl. Schrft. Bd. I, S. 338. „ Es sind hier (in den Sagen und Märchen) Gedanken über das Göttliche und Geistige im Leben aufbewahrt: alter Glaube und Glaubenslehre in das epische Element, das sich mit der Geschichte eines Volkes entwickelt, getaucht und leiblich gestaltet. Doch Absicht und Bewußtsein haben dabei nicht gewirkt, sondern es hat sich also von selbst und aus dem Wesen der Uberlieferung ergeben, daher sich auch die natürliche Neigung äußerte, das von ihr einmal Empfangene, aber halb Unverständliche nach der Weise der Gegenwart zu erklären und deutlich zu machen.“ Wie aber geschieht es, daß das „Göttliche und Geistliche des Lebens in das epische Element getaucht leibliche Gestalt gewinnt“? auf welche Weise wird dieses „Zeugnis vom Geiste“ ergriffen? Hören wir auch hier zunächst Wilhelm Grimm, wie er es erklärt, daß der alte Volksglaube jene Urelemente der epischen Poesie erschaffen, oder nach seinem schönen Bilde, wie das Sonnenauge des Geistes auf den farbigen Pfauenspiegel der Dichtung verteilt wurde: „Schon die Belebung der ganzen Natur kann man als eine fortdauernde Überlieferung aus frühester Zeit betrachten. Uns ist diese Ansicht nicht befremdend, da wir wissen, daß das Heidentum überall davon ausgegangen ( Juppiter est quodcunque vides, quocunque moveris drückt sie Lucan aus); Vgl. hierzu Lehrs: Populäre Aufsätze aus dem Altertum: „Die Nymphen“, 2. Aufl., S. 111: „So wie der Grieche in die örtliche Natur um sich sah, in seine Wälder und Grotten, seine Berge und Schluchten, seine Quellen und Wellen für das Volk würde sie es gewiß sein, wenn sie ihm erst sollte gegeben werden. Der Sonne, dem Mond, den Sternen wohnt vor allem eine geistige Natur bei, und wenn sie zu den Bedrängten reden, ihnen Geschenke geben, die sie erretten, so erscheinen sie als angebetete göttliche Wesen ( quorum opibus aperte juvantur. Cäsar, de B. G. VI , 21), wie sie es in den alten Zeiten der Deutschen wirklich waren. Auch die Bäume und Quellen, deren Verehrung sich lange fort erhielt, sind hier beseelt ....“ „Weiter reicht schon die höhere Natur, die den Tieren beigelegt wird. Das Pferd Fallada spricht (wie Mimers Haupt) nach dem Tode noch zu seiner Gebieterin. Die Raben weissagen, sie wissen, gleich Odins Raben Huginn und Muninn (d. h. die mit Verstand und Gedächtnis begabten), was in der Welt geschieht. Ueberhaupt aber werden häufig die Vögel als Geister betrachtet u. s. f..... Mit dieser Ansicht von einer allbelebten Natur hängt auch das Übergehen in eine andre Gestalt zusammen, und die hier verwandelten Steine, Bäume, Pflanzen sind eigentlich geistig belebte.“ Es wird dann ferner nachgewiesen, wie „der Gegensatz des Guten und Bösen häufig durch Schwarz und Weiß, Licht und Finsternis ausgedrückt“ wird, wie „das Gute von dem Herrn belohnt, das Böse bestraft“ wird; ─ „er kommt herab auf die Erde und besucht den Reichen und Armen, jenen findet er verdorben, diesen fromm und nach den Gesetzen lebend. Er verteilt danach seine Gaben, die jenem zum Verderben, diesem zum Heil ausschlagen;“ ─ es wird auf die „halbüberirdischen Schwanenjungfrauen“ hingewiesen, die „gleich den Nornen, Wahlküren und Parzen den goldenen Faden des Schicksals spinnen“ u. s. f. W. Grimm a. a. O., S. 339 ff. Was solchergestalt als höhere Bedeutung allenthalben durch die Märchenpoesie hindurchschimmert, das ist in weit ausgedehnterem Sinne ─ so empfing er den Eindruck eines Lebens, eines anmutigen, üppigen Lebens, eines von ihm unabhängigen Lebens so lebendig, so innig, so hehr, daß sich ihm die empfundene Wirkung sogleich in göttliche Wirksamkeiten umsetzte, und diese göttlichen Energien nun nach seiner Weise sogleich als göttliche Gestalten, göttliche Personen hervorsprangen. So faßte er die räumliche Natur um sich, ähnlich der zeitlichen ─ neben den Horen die Nymphen. Nun aber bemerke man wohl: der Grieche ist, recht im Gegensatze eines neuern schroffen Materialismus, der ausgemachteste Spiritualist. An Berg, Grotte, Fluß, Wellen und so fort interessiert ihn die Materie gar nicht: sie entschwindet ihm: was ihn angeht, was ihn anspricht und erfaßt, ist die Anmut, die Klarheit und Regsamkeit der Quelle, die sichere Kraftfülle des Flusses, das schattige Dunkel des Hains, die üppige Feuchte der Trift, das farbige Wellenspiel des Meeres: kurz diese und solche gleichsam seelischen Eigenschaften, die wieder auf seine Seele wirken, die aber er eben nicht auffaßt als Eigenschaften an einem Körper, sondern empfindet als Lebensäußerungen, als göttliche Wirksamkeiten.“ der Kern der Mythe und Sage, das Lebenselement der epischen und dramatischen Dichtung. Von einem höhern Standpunkt betrachtet, erscheint die epische Volkspoesie nun nicht mehr getrennt von der Geschichte, sondern mit ihrer inneren Wahrheit eins, eng verbunden mit Volksgeschichte und Religion. Mit beiden hat sie gemeinsame Wurzeln; mit andern Worten: ihre Entstehung fällt in die Zeit, da im Bewußtsein sich feste und bestimmte Vorstellungen herausbilden von den ewigen Ordnungen der Natur und den unerschütterlichen Gesetzen des Lebens, in welchen beiden das Walten höherer Mächte erkannt wird, mögen diese nun einen Namen haben, welchen sie wollen. Jn der Volksreligion sammeln sich diese Vorstellungen, die älteste Geschichte besteht in den sagenhaften Überlieferungen, welche wie krystallinische Gebilde sich zusammenfügen, indem um den festen Kern jener Vorstellungen sich die Erinnerungen aller der Begebnisse und Schicksale ordnen, welche jenen Vorstellungen entsprechen und gleichsam ihre Erfüllung zeigen, und aller der Gemütszustände und Handlungen, in welchen die nationale Eigenart nach der Summe ihrer Besonderheit an jenen Begebnissen und Schicksalen sich thätig und leidend, bestimmend und bestimmt, erweist. Hier ist älteste Geschichte und älteste Poesie in unauflöslicher Verbindung, um sodann in den Zeiten klareren Bewußtseins mit dem erwachenden Vermögen der Abstraktion sich für immer zu scheiden. Jn dieser Entstehungsart und inhaltlichen Beschaffenheit liegt das Unerfindbare aller jener alten echten Epen und der ihnen entstammenden dramatischen Stoffe und das Unnachahmliche der Volkspoesie. Was ist das Gemeinsame, das aus der gesamten Nationalpoesie so gewaltig zu uns redet? Es kann nicht treffender bezeichnet werden als mit den Worten eines unsrer größesten Altertumskenner, da er in einer Art poetischer Fiction sich in die „Gedanken hineinversetzt, mit denen ein Jüngling aus der Sokratischen Umgebung ─ einer von denen, die durch ihn aus dem gebildeten Volksglauben nicht sowohl hinausgeführt, wohl aber darin befestigt waren ─ seinen Schmerz über den hingeschiedenen Sokrates tröstete“: S. Lehrs a. a. O. am Schlusse des Aufsatzes: „ Die Horen “, S. 90 u. 91. „Eines Tages schritt er unter mancherlei Gedanken am Jlissus hin, plötzlich aber stand er vor einem Baume still, der mit seinen seltenen großen Blättern und Ästen sich herrlich umherbreitete. War es Zufall, war es halb bewußte Absicht, was ihn diesen Weg geführt: es war jene Platane, welche, seitdem Sokrates dort dem Phädrus die Naturgeschichte der Seele entwickelt, im Kreise der Sokratischen Jünger und Freunde wohl bekannt geblieben. Die Erinnerung an den Hingang des geliebten Freundes und wie das hatte so kommen können, ergriff ihn von neuem und stimmte ihn auf das wehmütigste. Ernst stand er an den Baum gelehnt, der, wie ihm schien, hätte mittrauern sollen, und der gleichwohl dastand, so herrlich erblüht wie jemals. ─ Aber gerade das erinnerte ihn bald an die ewigen Gesetze und leitete den Zug seiner Gedanken also: Die göttliche Ordnung ─ Themis ─ nach welcher die uranfänglichen Verteilerinnen ─ Moirai ─ einem Jeden geteilt, daß aus dem All ein schönes Ganzes, ein Kosmos ward, wird nimmer zerstört werden. Dafür sorgen der die Ordnungen kennt und versteht, der allschauende Zeus, die Bestimmung ─ Heimarmene ─ und die Notwendigkeit ─ Ananke ─, dafür die Ausgleicherin von Recht und Pflicht ─ Dike ─, der jede Übertretung der Berechtigung in Recht und Pflicht anheimfällt. Jhr zur Seite steht der moralische Unwille der Götter und Menschen über Unbill und Überhebung, die ernste Nemesis, und in ihrem Dienst die strafvollführenden Erinnyen, von denen Heraklitus sagte: und wenn die Sonne ihre angewiesene Bahn verlassen wollte, die Erinnyen würden sie zu finden wissen. Und nicht nur die helle Sonne werden sie zu finden wissen, auch was im Dunkeln schleicht und das Dunkle sucht, finden sie aus, die „im Dunkel schreitenden“ Göttinnen. ─ Meine Trübsal aber, gehört sie nicht auch in die ewige Ordnung? Hier wurde er aufmerksam auf sich selbst. Er wußte nicht gleich, was es war, was in seiner Seele sich hervordrängte und zu gestalten suchte. Es war aber ein geistliches Lied des Sophokles, woran seine letzten Gedanken ihn erinnert hatten. Es gelang ihm, sich die Worte herzustellen: „„Deine Macht, o Zeus, wer der Menschen vermöchte übertretend sie zu hemmen? die weder der Schlaf ergreift, der alles altert, noch der Götter unermüdliche Monden: sondern unalternd in Zeit ein Herrscher wohnst du in des Olympus heiterem Strahlenglanz. Doch hinfort und in Zukunft wie vordem gilt das Gesetz: dem Leben der Sterblichen geht längere Frist nimmer dahin frei von Trübsal.““ Er sah in die scheidende Sonne. Die Horen, lächelte er, bringen die Nacht. Sind sie den Tag uns jemals schuldig geblieben?“ Und derselbe Autor an einer andern Stelle: Lehrs a. a. O. „Zeus und die Moira“ S. 215. „Was die Götter thun, infolge einer Moira thun und vollziehen, vielleicht einer noch schuldigen Ausgleichungsmoira thun, wird als selbstverständliches Menschenlos, dem man in Frömmigkeit sich zu fügen hat, dahingenommen: je unbegreiflicher und dem menschlichen Auge verborgener, desto sicherer darauf hinweisend, wie hoch über uns jene Fäden gesponnen werden, und daß es in diesem Kosmos Willkür nicht sein kann, sondern Notwendigkeit und Vorherbestimmung und Gesetz. Und darum müssen die Götter recht behalten, welche vorherwissen und es nur vorherwissen können, weil es vorherbestimmt ist, und dessen walten, was die Moira ist.“ Einen „götterlosen, gottlosen Zufall“ gibt es für diese ernste Auffassung nicht, der „das Leben durch und durch göttlicher Einwirkung voll erschien“, und welche den Pindar die „ Tyche ─ das Glück, Geschick“ ─ als „eine der Moiren“ erfassen ließ. „Jn den Organismus der göttlichen Gewalten, unter denen sich der Grieche fühlte, war diese Tyche eingetreten.“ Vgl. a. a. O. „Dämon und Tyche“ S. 177, 178. Die ganze griechische Dichtung eines Homer, Pindar, Äschylus und Sophokles ist von diesen Grundanschauungen erfüllt, wie sie in gleicher Weise in den Geschichtsdarstellungen eines Herodot und Thukydides sich wiederspiegeln. Bei aller großen Verschiedenheit ist unser deutscher Volksgesang der epischen Zeit auf ganz demselben Boden erwachsen: was darin dem Leben entnommen und was von der Phantasie hinzugethan ist, alles dient dazu, ungeheure Thaten und Schicksale, welche für sich alleinstehend den Sinn überwältigen, das Herz verwirren und den Mut niederschmettern würden, im Zusammenhange als die Handlungen eines wohlgeordneten, von unverbrüchlichen Gesetzen gelenkten Waltens höherer Mächte vorzuführen, die Anlässe blinden Schreckens zum Gegenstande verehrender Gesinnung und höchster Erhebung zu gestalten. Damit stimmt Wilh. Grimms Urteil über die älteste deutsche Dichtung vollkommen zusammen: „Jn jeder Brust wohnt die Ahnung von Gott, und am wenigsten ist der rohe Naturmensch davon verlassen. Wie die Sprache in ihrer Entstehung wohlklingend und die erste Erzählung poetisch und rhythmisch ist, so sind auch seine Begriffe und Anschauungen der Welt religiös, und er sieht in der ganzen Natur einen Abdruck und das Regen der Gottheit, die mehr oder weniger hervortritt.“ Vgl. Wilh. Grimm: „ Entstehung der altdeutschen Poesie “. Kl. Schr. Bd. I, S. 123. Und speciell über das Nibelungenlied: Ebend. „F. v. d. Hagens Nibelungen “ S. 67. „Jn ihm wurde erhalten, was nicht wieder ersetzt werden konnte, das Bild einer vergangenen Zeit, in welcher ein großes Leben frei, herrlich und doch wieder so menschlich erscheint. Denn das ist es, was uns in der Poesie entzückt, jene Ver= bindung des Göttlichen und Jrdischen: wie der Mensch fest und liebend steht auf der Erde, sein Haupt aber aufwärts richtet zum Himmel, so soll die Poesie sein; tief in die Erde dringen ihre Wurzeln, ihre Zweige geben Schatten und Obdach, ihre Blüten aber steigen hinauf in den blauen Tag, wo sie im Abendrot stehn, am Tau sich erfrischen, dann die Sterne schauen und die heilige Nacht. Ein solches Heldenleben ist in dem Nibelungenlied, wie es blüht in Liebe, Krieg, Zorn und Lebenslust, endlich sich selbst gewaltsam vernichtet: und darüber weht eine klare und heitre Ruhe der Dichtung, wie die Sonne auch über eine zerstörte Welt leuchtet, still und unbekümmert in hellem Glanz. Wer mag ohne Rührung das Treuliche an Siegfried lesen? oder wie Rüdiger Leib und Seele hingibt im Kampfe mit seinen Freunden, denen er die Waffen hinreicht gegen sich selbst, daß den grimmen, Könige spottenden Hagen die Gabe erbarmt und er absteht vom Streit gegen ihn? oder wie Wolfhart nicht beklagt sein will, da er von Königs Händen so herrlich tot liege? Ja, dieser Kampf mit einem ungeheuern Schicksal, das alles unaufhaltsam hinunterreißt, gehört mit zu dem Größten, das je in der Poesie aufgestanden, wogegen Homer nichts Ähnliches aufzuweisen hat, der wohl reicher ist und geschmückter, aber nicht von solcher Tiefe. Dennoch, wie sich hier ein großes Gemüt offenbart, so scheut sich auch keiner seine Furcht und alles, was menschlich ist, zu bekennen, denn das ganze Leben, wie es sich äußert, ist poetisch, nicht das Einzelne darin, und nur aus dem gemeinsamen Boden kann das Große aufwachsen. Und diese Unschuld, die nur der Ausdruck des innersten Gemüts, ist, was das Gedicht so weit erhebt über alle andern, und das allein in einem solchen Volkslied gefunden wird, weil keine Kunst dahin gelangt.“ Nach dieser Umschau über das Wesen der Handlungen nachahmenden Dichtung wird sich nun die oben gestellte Frage mit Sicherheit beantworten lassen: nach welchem Gesetz wird die Einheit des darin dargestellten Handlungskomplexes erkannt und beurteilt? Diese Einheit liegt darin, daß als die handelnde Person nicht etwa der sogenannte Held oder auch irgend eine andere der darin auftretenden Personen betrachtet wird, sondern daß der Wille und die Entscheidung jener höheren Macht es ist, welcher das Ende an den Anfang knüpft, mit solcher Festigkeit und Folgerichtigkeit, daß die ganze, bunt verschlungene Masse von Ereignissen und Thaten der Einzelnen als die Verwirklichung eines einzigen Beschlusses der die Schicksale lenkenden Gewalt erscheint, als die äußere Nachahmung einer einzigen inneren Handlung. Das Schicksal also erscheint als handelnd, und die Handlung des Dramas wie die des weitest ausgedehnten Epos ist nur dann eine einheitliche, wenn sie in ihrer Gesamtheit die Nachahmung einer einzigen Willensentscheidung dieser Macht enthält, einer einzigen Schicksalshandlung. Die Vollständigkeit dieser Nachahmung bedingt unter Umständen, so namentlich immer im Epos, eine geringere oder auch sehr große Zahl von Episoden, welche, für sich genommen, in kleinerem Rahmen die Nachahmung von gleichartigen Handlungen einschließen können: berechtigte Existenz aber haben diese Episoden nur insofern, als sie integrierende Teile der einen Haupthandlung sind, unentbehrlich um die Nachahmung der einen, vollständigen Handlung zu verkörpern. Das ist das wesentliche Kennzeichen des echten Epos, daß es sich so verhält, des Volks- und Nationalepos. Homer und die Nibelungen stimmen darin überein; die wesentlichste Schwäche der meisten Kunstepen tritt darin hervor, daß sie diese Einheit im Ganzen und in den Episoden außer acht lassen. So lautet auch das Aristotelische Gesetz über die Komposition des Epos im 23. Kapitel seiner „Dichtkunst“: ὅτι δεῖ τοὺς μύθους ... συνιστάναι ... περὶ μίαν πρᾶξιν ὅλην καὶ τελείαν , ἕχουσαν ἀρχὴν καὶ μέσα καὶ τέλος, ἵν' ὥσπερ ζῷον \̔εν ὅλον ποιῇ τὴν οἰκείαν ἡδονὴν ... καὶ μὴ ὁμοίας ἱστορίαις τὰς συνθέσεις εἶναι, ἐν αἷς ἀνάγκη οὐχὶ μιᾶς πράξεως ποιεῖσθαι δήλωσιν ἀλλ' ἑνὸς χρόνου, ὅσα ἐν τούτῳ συνέβη περὶ ἕνα \̓η πλείους, ὧν ἕκαστον ὡς ἔτυχεν ἔχει πρὸς ἄλληλα . Und weiter: εν τοῖς ἐφεξῆς χρόνοις ἐνίοτε γίνεται θάτερον μετὰ θατέρου , ἐξ ὧν \̔εν οὐδὲν γίνεται τέλος· σχεδὸν δὲ οἱ πολλοὶ τῶν ποιητῶν τοῦτο δρῶσιν . Zu deutsch: Für die epische Nachahmung gilt das Gesetz: „daß ihre Fabel auf Grund einer einzigen Handlung aufgebaut sein muß, welche ein Ganzes bilde und vollständig dargestellt sei, Anfang, Mitte und Ende umfassend, damit sie, gleichsam wie ein lebendes Wesen einheitlich und ganz, die volle künstlerische Wirkung hervorbringe, deren ihre Gattung fähig ist (so drücken wir nach unserer heutigen Sprechweise den Sinn der Worte ποιῆ τὴν οἰκείαν ἡδονήν == „den ihr eigenen Genuß bereite“ aus); die epische Komposition darf nicht der historischen ähnlich sein, in welcher notwendig nicht die Darstellung einer einzigen Handlung gegeben werden muß, sondern einer einzigen Zeit nach den Ereignissen, die sich darin begaben, Einen betreffend oder Mehrere und in dem Verhältnis eines jeden unter ihnen zu den übrigen von dem zufälligen Gange der Begebenheiten abhängig.“ Und weiterhin: „Jn solchen der Reihenfolge nach dargestellten Zeiträumen kann es mitunter geschehen, daß die Ereignisse eben nur aufeinanderfolgen, ohne daß ein einheitliches Endziel sich ergibt. Freilich macht die Mehrzahl unter den Dichtern es nicht anders.“ Wenn diese von Aristoteles so scharf betonte Einheit also dadurch erreicht wird, daß Anfang und Ende sich zusammenschließen als der Anlaß und der Vollzug einer einzigen, inneren Handlung, während die dazwischenliegende Mitte überall der Ausführung derselben dienstbar ist, und als wirkende Person die das Schicksal lenkende Macht auftritt, mag dieselbe geradezu persönlich vorgestellt werden, wie bei den Alten, oder unpersönlich, wie bei den Modernen, so reicht die so gewonnene Anschauung nun aus, um die Antwort auf die früher gestellte Frage zu finden: inwieweit es der epischen und dramatischen Darstellung freistehe, die Gesetze der Wirklichkeit für den äußeren Verlauf der nachgeahmten Handlung aufzuheben und welchem Gesetz die Erfindung unterworfen sei, welche an die Stelle derselben trete. Es liegt auf der Hand, daß hier jede Veränderung gestattet sein muß, welche eine Verkürzung des äußeren Ganges der Dinge bewirkt, sobald sie nur mit dem Geist und Sinn und dem Zwecke der innern Handlung in Übereinstimmung ist, geeignet diesen deutlicher vor Augen zu stellen, die Verkörperung desselben einfacher zu gestalten, den Verlauf, welcher zu ihm hinführt, zu beschleunigen. Es ist mit diesen Forderungen nur der Charakter bezeichnet, welchen von jeher und allenthalben das hervorstechendste Element aller Mythen und Sagen an sich getragen hat, der Charakter des Wunders, dieses unentbehrlichen Bedürfnisses und „liebsten Kindes“ des Volksglaubens und der Volksdichtung. Sein Ursprung und Wesen ist die Ahnung und intuitive Erkenntnis der inneren Wahrheit der Dinge, verbunden mit der Unkenntnis ihrer realen Begründung, und das Resultat dieser Verbindung: die mehr oder weniger willkürliche Erfindung eines unmittelbaren Zusammenhanges zwischen der gegebenen thatsächlichen Voraussetzung und dem richtig divinierten oder geschauten Endziel; oder nicht selten auch umgekehrt: zwischen dem thatsächlich vorhandenen Ergebnis und der geahnten Ursache desselben. So löst der Kindersinn der Völker sich die Rätsel der Natur und des Menschendaseins, der Vergangenheit und der Zukunft, des Anfangs und des Endes der Dinge in leicht überschaulichen und bedeutungsvollen Phantasiegebilden, deren unvergängliche Schönheit eben darin beruht, daß sie dem Drange nach der Erkenntnis der inneren Wahrheit des Zusammenhanges der Dinge und des Lebens entsprossen sind, daß sie oft genug diese Wahrheit selbst enthalten. Und wenn es nötig ist es noch hinzuzufügen: die darum schön sind, weil sie aus der richtigen, gesunden, der großen und erhabenen Empfindung hervorgegangen, nun auch ganz von selbst so zusammengefügt sind, daß sie notwendig dieselben Empfindungen und Seelenvorgänge wieder hervorbringen müssen, unbewußt sie nachahmend, wie die Kunst sie mit Bewußtsein nachahmt! Es ist die Anschauung, von welcher Schiller sich durchdrungen fühlte, und der er in seinen „ Künstlern “ den begeisterten Ausdruck verliehen hat, am prägnantesten in der siebzehnten Strophe: Was die Natur auf ihrem großen Gange Jn weiten Fernen auseinanderzieht, Wird auf dem Schauplatz im Gesange Der Ordnung leicht gefaßtes Glied. Vom Eumenidenchor geschrecket, Zieht sich der Mord, auch nie entdecket, Das Los des Todes aus dem Lied. Lang', eh' die Weisen ihren Ausspruch wagen, Löst eine Jlias des Schicksals Rätselfragen Der jugendlichen Vorwelt auf; Still wandelte von Thespis Wagen Die Vorsicht in den Weltenlauf. Und derselbe Gedanke, allgemeiner gefaßt, gleich zu Anfang in der dritten und vierten Strophe. Ursprünglich ist es mit allen diesen Erfindungen der Phantasie ein heiliger Ernst, um so erhabener, ja starrer, je weiter zurück ihr Alter liegt: was hindert aber, sich ihrer aufs Neue zu bedienen, auch wenn nun an die Stelle des Glaubens das Wissen getreten ist, sobald es sich nicht darum handelt von diesem Wissen Zeugnis abzulegen, sondern eben die Gesinnungen, Stimmungen und Empfindungen wieder zu erwecken, denen jene Erfindungen ihre Entstehung verdankten? also in den Künsten, vor allem in der erzählenden Poesie? Unendlich ist nun die Mannigfaltigkeit der Mischungen der Realität und jenes Elementes des Wunderbaren, deren sich der Dichter bedienen kann, um dem Körper der inneren Handlung die einfachste und durchsichtigste, das ist: die schönste Gestalt zu geben. Der reichste Gebrauch dieses edelsten und stärksten Mittels, über welches die Poesie gebietet, wird in den Zeiten gestattet sein, welche dem Ursprunge desselben am nächsten liegen: nur in diesen Zeiten gedeiht das echte Epos, ein Surrogat dafür gibt es nicht. Aber wenn den spätern Zeiten dieser reinste Quell der Dichtung nicht mehr in seiner Fülle sprudelt, so breiten sich unversiegbare Adern noch weithin von ihm aus und reichen bis in die Epochen hellster Aufklärung. Der Dichter mag unbekümmert um das bessere Wissen seiner Zeit aus ihnen schöpfen. Und verwehrt es ihm die Natur seines Werkes, im Ernste diese Welt des Wunders sich dienstbar zu machen, so bleibt ihm noch ihr ganzer, unerschöpflicher Reichtum, um im Bilde davon Gebrauch zu machen und so dennoch ihre Kraft zu erborgen. Endlich bleibt ein, freilich eng umfriedetes Gebiet, auf dem das Wunder nicht allein in immerwährender Geltung bleibt, ja die Oberherrschaft führt, sondern in welchem die Phantasie immerfort die Freiheit behält, es aufs Neue hervorzubringen, das Alte neu zu gestalten und mit tausendfältiger Erfindung es zu bereichern: das Märchen, welches mit herzlicher Freude und unzerstörbarer Pietät die alten Sagengebilde ihrem Kerne nach festhält, wenn ihre Wurzeln im Glauben sich lockern und endlich ganz verdorren. Eben deshalb scheidet im Märchen die Realität aus der Verbindung gänzlich aus und es bleibt ihm nur das Spiel mit den Gebilden der Phantasie: aber ein Spiel, welches den Ernst der Wahrheit der inneren Handlung darum doch nimmermehr aufgibt; damit würde auch die Märchenphantasie den Boden verlassen, dem sie ihren Ursprung und ihr Wachstum verdankt, und das Recht aufgeben, durch welches sie existiert. Bei dem echten Volksmärchen ist das undenkbar, für das Kunstmärchen liegt in diesem Umstande das Kriterium für das Wohlgelungene wie für die Entartung. Beiden aber, dem Volksmärchen wie dem Kunstmärchen, gemeinsam ist die Möglichkeit, ja die Nötigung, bei der völligen Scheidung von den Bedingungen der äußeren Wirklichkeit, auf dem allerkürzesten Wege ihre innere Handlung zu ihrem Ende zu führen und damit dem inneren Sinn und der Bedeutung derselben die größte Evidenz und Wirksamkeit zu verleihen; genauer gesagt: durch die Nachahmung der inneren Handlung, die dabei in Thätigkeit kommenden Kräfte der Empfindung, Gesinnung und des Urteils am unmittelbarsten, stärksten und sichersten zu erregen. Deshalb kann dieses Spiel denen, welche den der Wirklichkeit sich anschließenden Nachahmungen gar nicht oder doch nur schwerer zu folgen vermögen, die gesamte übrige Poesie ersetzen, den Kindern und dem unkultivierten Teil des Volkes, während sie auch für den Hochgebildetsten von ihrem Reize nichts verlieren. Eine ähnliche, und doch wieder verschiedene Stellung wie das Märchen nimmt in der epischen Poesie die Tierfabel ein, für deren Definition es noch übrig bleibt aus dem Vorstehenden die Konsequenzen zu ziehen. Sie entstammt wie jenes der Sage: ähnlich wie aus der mythischen Sagenwelt die Märchenbildung späterer Zeiten sich entwickelte, so aus der altepischen Tiersage die einem reflektierenden Zeitalter angehörige Tierfabel; beide behaupten dann eine selbständige Stellung in der Kunstdichtung aller Litteraturen und Zeiten. Beide stimmen auch darin überein, daß sie von der Nachahmung der Wirklichkeit absehen und an die Stelle des Ernstes ein freies Spiel treten lassen, das durch die überall festgehaltene Analogie mit den inneren Gesetzen des realen Handelns bestimmt wird. Während aber das Märchen hinsichtlich der Wahl der Personen und ihrer Handlungen uneingeschränkte Phantasiefreiheit walten läßt, sind der Fabel durch die Gründung auf die epische Nachahmung des Lebens und Treibens der Tierwelt feste Grenzen gezogen; hieraus bestimmt sich ihr ganzes Wesen. Was für Folgen sich naturgemäß daran knüpfen, daß diese Art der epischen Nachahmung sich in einer Welt bewegt, in der die handelnden Personen Tiere sind, davon ist oben schon die Rede gewesen. Sie „läßt den Tieren ihr Eigentümliches und erhebt sie doch zugleich in die Menschenähnlichkeit“, Vgl. Jakob Grimm: „ Wesen der Tierfabel “. Ausw. d. Kl. Schrft. S. 353. sie verfährt wie „der bildende Künstler, wenn er sich der Tierfabel bemächtigen will: er muß den tierischen Leib beibehaltend ihm dazu noch Gebärde, Stellung, leidenschaftlichen Ausdruck des Menschen zu verleihen wissen“. Das dürfte für die Dichtung bedeuten: indem sie den Tieren Sprache beilegt und sie in Zustände und Verhältnisse versetzt, die denen der Menschen analog sind, erhebt sie dieselben zur Menschenähnlichkeit in Bezug auf den einen Faktor der Handlungen, der sich im praktischen Sinn, dem Weltverstand, der Klugheit, Überlegung äußert, in Bezug also auf die Dianoia; Ethos und Empfindung werden zwar auch in die Sphäre des Bewußtseins erhoben, aber in Bezug auf diese läßt ihnen die Dichtung ihre tierische Eigenart. Wie schon oben bemerkt, wird damit die freie Wirkung dieser beiden Faktoren so gut wie ganz eliminiert, die Handlungen der Tiere erscheinen nach dieser Richtung als von vorneherein bestimmt und gebunden. Frei sind sie nur nach der Seite der „praktischen“ Überlegung und interessieren daher auch weit weniger die Empfindung, als sie die übrigen unmittelbar beim Handeln wirksamen Gemütskräfte beschäftigen: die ethische Gestaltung des Begehrungsvermögens und die Willensentscheidung (nach der Aristotelischen Terminologie die ἕξις ὀρεκτική und προαιρετική ). Sie beschäftigen sie, das heißt nicht etwa sie bestimmen ihre Geltung für das Leben ─ damit wäre der Dichtung eine moralisch=didaktische Tendenz zugesprochen, das Verkehrteste von allem ─, sondern das heißt: sie setzen sie durch die Nachahmung in irgend einer Form zeitweilig in Thätigkeit. Aus dieser Wahl der Personen in der Fabel folgt nun aber das zweite: die ihr eigene Komposition der Handlung. Eine andere Art von Einheit muß in ihr herrschend sein, denn gerade dasjenige, was dieselbe in der ernsthaften epischen Dichtung ausmacht, daß in ihr das Walten höherer Mächte zur Erscheinung komme, ist eng an die Freiheit der Empfindung und des Ethos geknüpft, also an dasjenige, was in der Tiersage und Fabel von vorneherein ausgeschlossen ist. Bei den Tieren ist im allerhöchsten Maße, ja ganz ausschließlich das der Fall, was Aristoteles ζῆν und πράττειν κατὰ πάθος nennt: leben und handeln nach den Jmpulsen der vernunftlosen, bloß animalischen Empfindung. Wenn also durch die Nachahmung vermittelst tierischer Handlungen nichtsdestoweniger das Bewußtsein jenes höheren Waltens, jener unverbrüchlichen Gesetzlichkeit in unserem Empfinden lebendig gemacht werden soll ─ und zu diesem Zwecke erhebt ja die Sage und Dichtung die Tiere in die menschliche Sphäre, um auch aus der Betrachtung ihres Lebens und Treibens uns dieser Empfindungen teilhaftig zu machen ─, so kann das nur auf indirekte Weise geschehen; direkt wäre eine solche Anschauung im Tierleben nimmermehr zu gewinnen, sie könnte nur durch Allegorie hineingelegt werden. Aus diesem Gegensatze zum ernsten Epos lassen sich die Kompositionsgesetze der Handlung für die Tierfabel am einfachsten ableiten. Die vollständige Nachahmung einer einheitlichen Handlung, wie sie im Epos geschieht, erlangt, indem sie als Einheit im Gemüt zum Bewußtsein kommt, notwendig die Kraft, diejenigen Empfindungen, welche mit einem Worte als die Schicksalsempfindungen bezeichnet werden könnten, in ihrer Reinheit hervorzurufen: denn nach den obigen Ausführungen besteht diese Einheit darin, daß die Gesetzmäßigkeit des Schicksals gleichsam wie in einem einzigen Akte hervortritt, und zwar gleichviel, ob eine einzelne oder ein ganzer Komplex von äußeren Handlungen dazu erfordert wird. Welches sind nun im Gegensatze zu diesen Schicksalsempfindungen diejenigen Gemütsvorgänge, welche die unvollständigen und einseitigen Nachahmungen von Handlungen begleiten, bei denen Tiere die handelnden Personen sind, und in denen also vorzugsweise nur das Nützliche oder Schädliche, das Verkehrte oder Zweckmäßige, das Verständige oder Unverständige der Handlung zur Erscheinung kommt? Auf den ersten Blick möchte es scheinen, als ob die Entscheidung über alle diese Alternativen unmittelbar oder mittelbar dem Verstande zufiele, und als ob also auch alle diejenigen Recht behalten müßten, welche dieser Art von Nachahmung lediglich eine Wirkung auf die „ anschauende Erkenntnis “ ─ die cognitio sensitiva der Baumgartens chen Ästhetik ─ zuschrieben. Sicherlich wenigstens erklärt sich aus diesem Anschein sowohl jene irrtümliche Theorie als auch die Ausdehnung derselben auf das gesamte Gebiet der Poesie, ja der Kunst überhaupt, jene verhängnisvolle Täuschung, an welcher nicht allein die „kritische Dichtkunst“ der Schweizer und das System Baumgartens Schiffbruch litt, sondern von der auch Lessing sich nicht völlig frei zu machen vermochte. Gewiß ist eine durch die Anschauung vermittelte Verstandeserkenntnis möglich und es kann auch mit derselben die Bewegung der Freude im Gemüt ─ die Hedone ─, also was die ältere Theorie „ Ergötzen “, die neuere „ Vergnügen “ oder „ Genuß “ nennt, verbunden sein, aber eben so gewiß gerät die künstlerische Nachahmung auf einen Abweg, wenn sie die Komposition der Handlung auf die Erzielung einer solchen Verstandeserkenntnis einrichtet. Das Vergnügen an der Nachahmung von Handlungen beruht auf der Beschaffenheit der durch sie erweckten Gemütsbewegungen, es geht aus der Energie der Aisthesis hervor und besteht in der mit der Ausübung dieser Energie notwendig verbundenen Erscheinung in der Seele, welche den Charakter der edelsten Freude um so mehr tragen wird, je höher entwickelt das Vermögen der Aisthesis, der empfindenden Wahrnehmung, bei dem Wahrnehmenden selbst ist und je höher geartet und zugleich zweckmäßiger für die Aisthesis gestaltet das der Wahrnehmung sich darbietende Objekt ist. Nun gibt es aber jenen genannten Alternativen gegenüber ─ der verkehrten und zweckmäßigen Handlungsweise, dem klugen und unklugen Verfahren, dem verständigen und unverständigen, nützlichen und schädlichen Beginnen ─ ganz bestimmte Empfindungen, welche denselben genau entsprechen, mit Sicherheit die eine oder die andere anzeigen, die ganz ohne alle Dazwischenkunft des Verstandes ein untrügliches ─ ästhetisches ─ Urteil über dieselben in sich schließen. Gerade diese Empfindungen sind es, welche für den beobachtenden Sinn maßgebend sind bei der Auswahl derjenigen Erscheinungen, Vorkommnisse und Bethätigungen, die von ihm festgehalten und, zu den Gestaltungen der Fabel verwoben, dem Andenken überliefert werden. Natürlich sind es auch dieselben, die wiederum durch diese Überlieferungen hervorgerufen werden, und welche also die Kunstdichtung für ihre Komposition als maßgebende Zwecke ins Auge zu fassen hat. Die vielfältigen Nüancen dieser Empfindungen gruppieren sich um die beiden entgegen gesetzten, aber komplementären Grundempfindungen des Wohlgefälligen und des Lächerlichen. Entgegengesetzt sind diese Empfindungen, weil die eine dem positiven Teil jener Alternativen entspricht, die andere dem negativen; komplementär verhalten sie sich, weil sie beide die Äußerungen eines und desselben ästhetischen Urteiles sind, so daß also in jedem Falle die eine das Korrektiv der anderen bildet. Jede Bethätigung des Willens, ja des Gedankens, die nach den bezeichneten Richtungen mit einiger Bedeutung ins Gewicht fällt, ruft, ganz abgesehen von der Prüfung durch den Verstand und schon vor derselben, in unserem Gemüte eine unmittelbare Regung des Wohlgefallens oder Mißfallens hervor, welche natürlich ebensowohl von dem Wesen der erregenden Ursache als von der Beschaffenheit des von derselben erregten Gemütes abhängig ist. Es kommt dabei außerdem aber noch ein doppelter Maßstab zur Anwendung: einmal das Wohlgefallen oder Mißfallen an dem Verhältnis der in einer Handlung verwandten Mittel zu dem Zwecke derselben und sodann das Wohlgefallen oder Mißfallen an diesem Zwecke und diesen Mitteln selbst. Die Nachahmung kann je nach den Mitteln, die sie verwendet, sich die Erregung der ersten Art des Wohlgefallens vorzugsweise zum Zwecke setzen, oder die der zweiten, oder auch sie kann beide zugleich ins Auge fassen: unter allen Umständen aber wird sie Sorge tragen müssen, die beabsichtigte Empfindung möglichst stark und sicher, unmittelbar und unzweifelhaft hervorzubringen. Es liegt auf der Hand, daß in der Tierfabel, deren Personen ohne sittliche Verantwortlichkeit handeln, das Wohlgefallen der ersteren Art im Vordergrunde stehen wird, daß dagegen in den Nachahmungen menschlicher Handlungen, auch wenn die handelnden Personen als aufs Äußerste beschränkt dargestellt werden, schon der andere Maßstab in Betracht kommt, und daß, je höher der Standpunkt derselben angenommen wird, um so höher und reiner die bezweckte Empfindung des Wohlgefallens sein wird, und daß Nachahmungen dieser Art zu den allerhöchsten Wirkungen der Kunst sich erheben können. So wäre also das in dem bezeichneten Sinne „ Wohlgefällige “ eine der Hauptquellen des Vergnügens bei dieser Art von Nachahmung. Wie steht es aber mit der Empfindung des Mißfälligen? Muß diese nicht in der Nachahmung ebenso unangenehm, verstimmend und also ebenso zu vermeiden sein wie im Leben? Und wie wäre dennoch eine der Wahrheit des Lebens sich anschließende Nachahmung denkbar, welche diese Kehrseite des Wohlgefälligen ganz mit Stillschweigen übergehen wollte? Die Antwort ist diese: das Häßliche, Verkehrte, Unverständige, Thörichte, Zweckwidrige der Handlungen fehlt in dieser Art von Nachahmung so wenig, daß es vielmehr einen Hauptteil derselben ausmacht, mitunter den weit überwiegenden: aber das hier geltende Kompositionsgesetz läßt die ganze unendliche Vielgestaltigkeit dieses an sich mißfälligen Elementes nur in der einen Darstellungsweise zu, welche die unangenehme Wirkung auf das Empfinden in eine angenehme und kunstgemäße verwandelt, in der Form des Lächerlichen. Das wäre also eine solche Darstellungsweise des Verkehrten, daß dasselbe durch die ausgeprägte Einseitigkeit, mit der es hervortritt, und durch den Zusammenhang und die Umgebung, in die es gestellt ist, sich unmittelbar und mit Sicherheit dem Gefühl als das Gegenteil des Richtigen kundgibt. Der negative Empfindungseindruck wird dadurch zu einem unfehlbaren Mittel den positiven zu erwecken, und das Mißfällige des Eindrucks verschwindet gegen eine um so stärker und höher geartete Empfindung der Belustigung, je unmittelbarer und vollständiger es gelingt, die positive Kontrastempfindung anzuregen und je bedeutsamer und höher geartet der Gegenstand derselben an sich ist. Aus dieser Definition ergibt sich von selbst, daß die Empfindung des Lächerlichen nicht zustande kommen kann, sobald die Gegensätze des Wohlgefälligen und Mißfälligen sich nicht ausschließlich in den eben bezeichneten Alternativen des Klugen und Thörichten, Zweckmäßigen und Zweckwidrigen, Geziemenden und Ungeziemenden und des ihnen Verwandten, mit einem Worte des Verkehrten und Richtigen bewegen. Sowie auf der negativen Seite das Element des Schlechten, Bösen, Furchtbaren, mit einem Worte des Verderblichen, als solchem ─ des φθαρτικόν des Aristoteles ─ hinzutritt, so wird das Gewicht der mißfälligen Empfindung dermaßen verstärkt, daß es durch die Empfindung der positiven Kontrastvorstellung keineswegs aufgehoben werden kann, daß also eine Lustempfindung nicht entstehen kann, vielmehr die Unlustempfindungen der Abneigung, Empörung, des Schreckens das Feld behalten. Das Mittel, die genannten Elemente ferne zu halten, liegt entweder allein in der Komposition der Handlung, indem dieselben ganz ausgeschlossen oder doch wenigstens hinsichtlich ihrer Wirkungskraft und ihrer Folgen genügend abgeschwächt werden, oder zugleich auch in der Wahl der handelnden Personen, sofern durch dieselbe das Schlechte, Böse, Verderbliche nicht als solches erscheint ─ wie bei den Tieren der Fabel. Aus dem Gesagten ist nun leicht abzunehmen, daß die Empfindungen des Wohlgefälligen und des Lächerlichen, welche oben als komplementäre bezeichnet wurden, ähnlich wie die Schicksalsempfindungen der Furcht und des Mitleids, eine reciproke Wirkung aufeinander ausüben, dergestalt, daß die eine die andere zu berichtigen geeignet ist. Jm Leben wie in der Nachahmung stellt manches sich der Empfindung zunächst als wohlgefällig dar, was mit größerem Rechte für sie in die Kategorie des Lächerlichen fällt, zumal die Nüancen desselben ja so vielfältig sind, vom leichten Lächeln bis zum Gelächter; und umgekehrt wird manches zunächst als lächerlich empfunden, was im Verlauf seine Ansprüche auf das echte und volle Wohlgefallen geltend macht. Wie da die wechselnde Beleuchtung, in welcher der Gegenstand durch die geschickte Komposition der Handlung der Empfindung bald von dieser bald von jener Seite vorgeführt wird, vermögend ist die Empfindung zu klären und zu reinigen und sie auf den rechten Stand zu führen, bedarf nicht des Beweises. So wird also der allgemeine Charakter, welcher dieser Art von Nachahmungen innewohnt, der des Heiteren sein, oder mit dem uns geläufigeren griechischen Ausdruck bezeichnet, der des Komischen. Zur Erzielung dieser Gesamtwirkung wird schlechterdings die Handlung immer auf die Erregung der beiden Grundempfindungen des Wohlgefälligen und Lächerlichen zugleich eingerichtet sein müssen: eine Darlegung, welche ausschließlich und fortdauernd nur die eine hervorbringt, wird notwendig einseitig und ermüdend sein. Doch kann das Mischungsverhältnis sehr verschieden sein: die Tierfabel zielt durch die vorzugsweise Nachahmung des Verkehrten der Handlungsweise hauptsächlich auf die Erregung der Empfindung des Lächerlichen; das Wohlgefällige kommt in ihr fast nur durch die Darstellung des Zweckgemäßen, Klugen, Schlauen zur Geltung, das nebenher bei der Verfolgung des Handlungszieles zu Tage tritt, mag dieses Ziel selbst auch das verkehrteste sein. Die Nachahmung menschlicher Handlungen, welche hier zunächst sich anschließt, ist diejenige, bei der die handelnden Personen auf einer niederen Stufe geistiger und sittlicher Beschränktheit vorgeführt werden, welche sie insofern dem erhöhten Tiercharakter verwandt erscheinen läßt, als auch bei ihnen die Voraussetzung höheren Empfindens und sittlicher Verantwortung absichtlich ferngehalten wird. Von dieser Art mag der dem Homer zugeschriebene Margites gewesen sein; aus unserer deutschen Litteratur würde der Eulenspiegel und das Lalenbuch hierher gehören, ebenso dem Stoffe nach der Pfaffe Amis und der Ahnherr Münchhausens, der Finkenritter. Das eigentliche komische Epos, welches, wenn man von dem Roman absieht, in den vorhandenen Litteraturen aller Völker nur eine kümmerliche Rolle spielt, müßte hier seine Quellen haben. Auf die bekannte, aber gerade wegen ihrer großartigen Einfach= heit wenig gewürdigte Einteilung des Aristoteles fällt damit ein helles Licht, wenn er (Kap. 4 der Poetik) das ernste Epos eine Nachahmung schöner Handlungen und des Handelns entsprechend gearteter Personen nennt ─ τὰς καλὰς ἐμιμοῦντο πράξεις καὶ τὰς τῶν τοιούτων ─ und wenn er das komische Epos und die Komödie als die Nachahmung der Handlungen der Schlechteren definiert, soferne dieselben nämlich lächerlich seien ─ μίμησις φαυλοτέρων , οὐ μέντοι κατὰ πᾶσαν κακίαν, ἀλλ' ᾗ Jm Text steht ἀλλὰ , wofür ich ἀλλ' ᾗ geschrieben habe, um den Sinn der verdorbenen Stelle herzustellen. τοῦ αἰσχροῦ ἐστὶ τὸ γελοῖον μόριον ─; durch die obigen Ausführungen möchte diese Einteilung ihre Erklärung und völlige Rechtfertigung finden. Aber von diesen Anfängen der Gattung, dem Tierepos und dem komischen Epos, von denen in unserer deutschen Dichtung nur das erste volle Ausgestaltung gefunden hat, geht eine lange Entwickelungsreihe aus. Die engen Beschränkungen bezüglich der Wahl der Personen, in welchen Sage und Volksdichtung sich mit so unfehlbarer Sicherheit bewegen, konnten in der Kunstpoesie nicht festgehalten werden, die ja allenthalben das Bestreben einer fortschreitenden Annäherung an die Wirklichkeit zeigt. Was damit aufgegeben wurde, mußte durch die kunstreichere Zusammensetzung der Handlung wieder eingeholt werden. Die ethische Gebundenheit der Personen gestattet die größte Einfachheit der Handlung; sobald man aber völlig frei handelnde Menschen vorführt, bedarf es der größten Kunst, um die Nachahmung der Handlungen so zu gestalten, daß die ernsten Schicksalsempfindungen nicht berührt werden und die hervorgerufene Wirkung sich nur in den heiteren Gegensätzen des Wohlgefälligen und Lächerlichen hält. Ein sehr wertvolles Mittel der Vereinfachung ist hier noch darin gegeben, daß man in Bezug auf die äußeren Bedingungen der Wirklichkeit eine phantastische Freiheit zu Gunsten der zu erzielenden Wirkung walten läßt, wie das z. B. die alte griechische Komödie that und in gewissem Umfange die romantische Richtung der neueren deutschen Litteratur wieder versucht hat. Wo auch dieses Hilfsmittel weggefallen ist, wo also sowohl in der Beschaffenheit der Personen als in den Bedingungen ihres Handelns die Analogie der vollen Wirklichkeit zum Gesetz gemacht ist, da sind der Komposition die schwierigsten Aufgaben gestellt, aber auch die höchsten künstlerischen Wirkungen erreichbar, am meisten dann, wenn es gelingt, in den äußeren Handlungen sowohl als in den Charakteren die Gegensätze des Wohlgefälligen und des Lächerlichen so zu verschmelzen und gegenseitig sich durchdringen zu lassen, daß durch ein und dieselbe Handlung beide Empfindungen zugleich in Erregung versetzt werden, daß also das Wohlgefallen nicht ohne Lächeln stattfindet und das Lachen die wohlgefällige Empfindung nicht aufhebt: das geschieht in der humoristischen Darstellungsweise. Der Gattung nach gehört also die Tierfabel zum komischen Epos, dessen Ziel es ist, durch die Nachahmung von Handlungen die reinen Empfindungen des Wohlgefälligen und Lächerlichen zu erregen; ihr Artunterschied besteht darin, daß sie die Gegensätze des Verkehrten und Zweckgemäßen innerhalb der ethisch gebundenen Sphäre tierischer Handlungen zur Empfindung bringt. Wie weit von diesem Begriffe der Gattung sich die Erneuerung der äsopischen Fabel entfernt, welche mit Lessings Namen bezeichnet ist, wurde schon oben erörtert: nach einer andern Seite zweigt sich diejenige Art sogenannter Fabeln ab, für welche sein älterer Zeitgenosse, Gellert, das Vorbild wurde. Bei ihm ist umgekehrt das epische Element fast durchweg festgehalten, dagegen in den bei weitem meisten Fällen selbst in der äußerlichen Einkleidung von der Anwendung der Tiere als handelnder Personen gänzlich abgesehen. Damit ist eine ganz neue Gattung entstanden: die poetische Erzählung, die allerdings als solche nicht von Gellert erfunden ist, die aber von ihm am meisten der damals geltenden Theorie der Fabel angepaßt wurde. Nun gab es eine unbefangene Auffassung der Epik zu jener Zeit überhaupt nicht; sie war durch Gottscheds Lehre von der Dichtkunst, und in den letzten Gründen ihrer Theorie auch von den Schweizern, ganz in den Dienst der Moral und Didaktik gestellt. Welche Form der Dichtung aber konnte sich leichter solchen Zwecken fügen als die Erzählung einer einzelnen Handlung, zumal es so unendlich viel geringere Kunst und Einsicht verlangt, durch eine ernsthafte oder komische Erzählung eine allgemeine Wahrheit ins Licht zu setzen, als durch eine „ poetische Erzählung “ den dieser Gattung eigenen ästhetischen Genuß ─ τὴν οἰκείαν ἡδονήν ─ zu erwecken. Das Erstere haben Hunderte von Dichtern vermocht, das Zweite ist nur sehr wenigen, den Allerbesten, gelungen. ────── XIV. Es liegt in der Natur der moralisch=didaktischen, der Fabel verwandten, poetischen Erzählung, lieber eine komische Färbung anzunehmen als durch ernsten Vortrag ihren Zweck geradehin zu erreichen. Der Grund ist leicht einzusehen: daß das Gute einer Handlung auch von der Einsicht als solches erkannt wird, ist so natürlich und notwendig, daß wir die Demonstration weder dem Dichter als ein Verdienst anzurechnen noch ein Vergnügen an der bloßen Demonstration zu finden geneigt sind. Der Dichter muß also in diesem Falle mehr thun, er muß das Vortreffliche der Handlung zu einem Gegenstande der Empfindung zu machen wissen; gelingt ihm das völlig, so hat er sich über die moralische Tendenz erhoben, seine Erzählung wirkt unmittelbar durch sich selbst und er ist zum echten Dichter geworden; gelingt es ihm aber nur teilweise, so ist jenem Mangel wenig abgeholfen, sein Gedicht bleibt trivial. So sind denn auch die ernsten Erzählungen bei Gellert die bei weitem weniger gelungenen. Ein Beispiel der schlechtesten Art ist „ Der Jnformator “, dem der reiche Bauer in aufrichtiger Anerkennung seiner vortrefflichen Pflichterfüllung statt der geforderten dreißig Thaler Jahresgehalt „von Herzen gern“ deren hundert bewilligt. Noch abgeschmackter freilich ist die Geschichte von „ Calliste “, der reichen und schönen Dame „mit zärtlichem Gemüte,“ welcher der Wundarzt, der „schmachtend insgeheim Callistens Reiz verehrte,“ durch den Anblick ihres weißen Armes verwirrt, beim Aderlaß den Puls durchschlägt, und die er dann, in noch größerer Bestürzung, so schlecht behandelt, daß der Arm amputiert werden muß, die Wunde brandig wird und schließlich den Tod herbeiführt: Auch hier blieb noch das große Herz gelassen. So sprach sie: sterb' ich denn? Wohlan! Er ist nicht schuld, Er würde gern für mich erblassen. Gott hat's verhängt, Gott ehr' ich durch Geduld, Und bin bereit, den Augenblick zu sterben; (Der Wundarzt trat indem herein), Sie aber, fuhr sie fort, setz' ich hiemit zum Erben Von allen meinen Gütern ein, Sie möchten sonst unglücklich sein. Sie sprach's und schlief großmütig ein. So niedrig diese Gattung von Gedichten ist, und so schielend oft noch obendrein die dargestellte Moral, soviel Behagen fand Gellert an ihr und mit ihm seine ganze Zeit und zahlreiche Nachahmer, wie Gleim, Götz, Pfeffel und viele andere. Eine Stufe weniger tief stehen Erzählungen wie Gellerts „ Herodes und Herodias “ und „ Monime “; hier liegt doch wenigstens etwas vor, was wert ist erzählt zu werden, wenn auch jede Spur poetischer Nachahmung in dem Schwalle von Moral erstickt wird. Nicht besser steht es mit den „ rührenden “ Erzählungen, in welchen erstlich das Betrübende mit dem Tragischen verwechselt, und sodann der bloße Jammer über einen in möglichster Breite mitgeteilten Unglücksfall ─ „das Glück, um andre sich zu quälen“ ─ für einen Akt der Moralität ausgegeben wird. Ein Musterstück dieser Abart ist bei Gellert „ Das neue Ehepaar “: ein junger Ehemann verreist zur See, seine Frau geht bald darauf am Strande spazieren, findet seinen ans Land gespülten Leichnam und stirbt aus Schmerz gleichfalls; dieser nackte Thatbestand, ohne jede weitere Modifikation, jedoch mit vielen moralischen Reden verbrämt, in mehr als ein hundert und dreißig Versen vorgetragen. Betrachtet man das hier obwaltende Verhältnis genauer, so sieht man darin die gemeinsame Ursache sich darstellen für alle die Jrrtümer, die in der Theorie und in der Ausübung die erzählende Poesie der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts beherrschten. Bei der Entartung der Dichtung meinte man die verlorene Würde derselben nur in ihrer bessernden und belehrenden Wirkung erblicken zu müssen, und so geschah es, daß man den unscheinbaren Nebenzweig der äsopischen Tierfabel nun plötzlich für die Verkörperung der wesentlichsten Gesetze aller erzählenden und darstellenden Poesie erklärte, für ihre eigentliche, typische Grundform: Einkleidung eines allgemeinen moralischen oder lehrhaften Satzes in die Darstellung oder Erzählung einer Handlung. Daß wenigstens für die Auffassung der Fabel dies die zutreffende Annahme sei, galt ja noch Lessing für unbestreitbar. Nun lag in dieser Auffassung der Fabel zu einem Teile wirklich etwas Zutreffendes, welches aber durch den beigemischten Jrrtum sogleich auch für die Theorie der Fabel selbst in ein Falsches verwandelt wurde und in seiner Anwendung auf die gesamte Poesie vollends zu einer Verirrung werden mußte. Dieses Zutreffende war die Erkenntnis, daß es sich in der Tierfabel um ein Urteil über die Gegensätze des Verkehrten und Nützlichen, Richtigen und Falschen, Zweckmäßigen und Zweckwidrigen handelt, mittelbar sogar auch des Rechten und Unrechten, Guten und Bösen: freilich nur daß dieses letztere sich dem Urteil nicht als solches, sondern im Lichte jener erstgenannten Gegensätze erscheinend darbietet; vor allem aber daß es ein Urteil nicht des Verstandes, sondern der Empfindung ist, ein ästhetisches Urteil, welchem also alle die genannten Gegensätze auch nur in dem Falle zugänglich werden, wenn sie eben an die Empfindung sich wenden, die eine Seite derselben in der Form des Wohlgefälligen, die andre in der des Lächerlichen. Es ist oben gezeigt worden, wie die Fabel durch die Beschränkung ihrer handelnden Personen auf die Tierwelt die für diesen Zweck spezifisch geeignete technische Einrichtung gewonnen hatte. Nachdem aber der episch=ästhetische Sinn immer mehr verloren gegangen war, trug die Tradition der äsopischen Fabel noch mehr zu dem Jrrtum bei, daß man das Ergebnis des ästhetischen Urteils, wie der Verstand nachträglich es sich zum Bewußtsein bringt, für den eigentlichen Zweck und Jnhalt der Fabel ansah, und es völlig verkannte, daß im geraden Gegensatz die Freude an derselben unauflöslich damit verknüpft ist, zu diesem Resultate auf dem Wege des ästhetischen Urteils zu gelangen, daß sie die Begleiterin der durch die Nachahmung der Handlung erregten Empfindungsthätigkeit ist. Die Täuschung war um so schwerer zu entdecken und hielt um so länger an, als ja das Erkenntnisurteil, mit welchem man sich begnügte, auf Grund einer Anschauung gefällt wurde, und als ja ferner ein gewisser Grad von Freude mit einem solchen Erkenntnisurteil ebensowohl wie mit jeder andern Thätigkeit des Verstandes verknüpft ist: nur eine Freude, die der Art wie dem Grade nach von der ästhetischen ebenso verschieden ist wie die entsprechenden Thätigkeiten des Verstandes und der Empfindung es selbst sind. War nun einmal der Standpunkt für die Theorie der Fabel derartig verschoben, daß man in ihr die organische Vereinigung des Vergnügens an der Anschauung und der bessernden und belehrenden Wirkung auf die Erkenntnis erblickte, so lag es nahe, sie für den Typus der Poesie überhaupt zu erklären und zunächst das Gesetz für die gesamte Epik und Dramatik aus ihr abzuleiten: man nehme einen allgemeinen moralischen Satz, eine allgemeine Jdee des Guten oder des Rechten und suche oder erfinde eine Geschichte, welche denselben der Anschauung so vorführe, daß die Erkenntnis jenes Satzes oder jener Jdee mit Leichtigkeit gewonnen werden könne. Aus einer solchen Grundanschauung von der Poesie mußte dann die weitere Vorstellung sich mit Notwendigkeit ergeben, daß auch die Lyrik ihre Würde und damit ihre Berechtigung nur in der Förderung der Erkenntnis und Uebung des Guten und Wahren finden könne. Diese Anschauungen, welche von Gottsched und den Schweizern in mehr oder weniger grober Form, mit größerer oder geringerer Plattheit und Beschränktheit ausgesprochen waren, haben in mehr und mehr verfeinerten Formen noch das ganze achtzehnte Jahrhundert unter ihrer Herrschaft gehalten, mit alleiniger Ausnahme der wenigen Größten, die eben dadurch alle andern so hoch überragen: im Grunde haben außer Lessing nur Schiller und Goethe sich ganz frei davon gemacht. Keine poetische Gattung hat unter dieser Gesamtanschauung schwerer gelitten als die epische. Selbst entschiedene und kräftig angelegte Talente wurden dadurch in den Gellert-Gleimschen Niederungen festgehalten, sobald sie es mit der ernsthaften „poetischen Erzählung“ versuchten. Wie ganz andere Züge würde Ewald von Kleists epische Muse tragen, wenn er um ein Menschenalter später geboren wäre! Man betrachte nicht allein so ganz auf „tugendhafte“ Rührung abzielende Stücke wie „ Emire und Agathokles “ oder die Erzählung von der „ Freundschaft “ des edlen und tugendhaften Leander und des gleich edlen und ebenso tugendhaften Selin, sondern auch sein kleines Heldengedicht in drei Gesängen „ Cissides und Paches “, dem es an markigen Stellen echt epischer Darstellung nicht fehlt, und das dennoch als Ganzes, weil es nach Plan und Ausführung einzig und allein unter den moralischen Gesichtspunkt gestellt ist, unschmackhaft wird. Auch tritt in diesem Punkte keine Wandlung ein bis auf Bürger, bei dem zuerst die Elemente sich zu scheiden beginnen. Schon zuvor aber war dieser Scheidung und der Erkenntnis des wahren Wesens der Epik eine andre Entwickelung zu Hülfe gekommen: dieselbe vollzog sich auf dem, wie schon bemerkt, von vornherein dafür günstiger beschaffenen Boden der komischen Erzählung. Die einfache Unterscheidung des Aristoteles ─ nicht zwar hinsichtlich des Wesens der ernsten und komischen Poesie, sondern hinsichlich der Art ihrer Entstehung ─, daß die erstere sich herausgebildet habe, indem man edle Charaktere und deren Handlungen nachahmte, die andre, indem sie schlechtere Charaktere und Handlungen darstellte, zunächst spottweise einzelne Personen angreifend, dann aber unter dem allgemeinen Gesichtspunkte des Lächerlichen ( οὐ ψόγον ἀλλὰ τὸ γελοῖον δραματοποιήσας , was von demselben Homer gesagt ist, der καὶ τὰ σπουδαῖα μάλιστα ποιητής genannt wird) ist tiefsinniger und fruchtbarer als es scheint und als angenommen wird. Es lassen sich die Grundzüge der Theorie sehr wohl daraus entwickeln. Der Grund nämlich, um dessentwillen Aristoteles seine Einteilung macht, ist der, daß in den Bezeichnungen „ edle “ und „ schlechte “ ─ σπουδαῖοι und φαῦλοι ─ sämtliche mögliche Arten von Ethos einbegriffen seien, welche in Handlungen zur Erscheinung kommen können. Da nun aber jegliche „poietische“ Nachahmung von Handlungen zum Zwecke hat, durch Thätigkeit der Aisthesis Empfindung zu bewirken, und zwar als künstlerische Nachahmung das quantitative und qualitative Maximum derselben ─ die zugleich richtigste und stärkste ─, so kann die Handlungen nachahmende Poesie diesen ihren Zweck überhaupt nur auf zweierlei Art erreichen: direkt, indem sie Handlungen von edlem, gutem Ethos darstellt, oder, indem sie alle Arten der aus schlechtem oder doch irgendwie fehlerhaftem Ethos hervorragenden Handlungen für ihren Zweck verwendet, indirekt. Von dieser zweiten Art also, aus welcher Aristoteles den Ursprung der komischen Poesie herleitet, muß hier zunächst gehandelt werden. Jndem die unendliche Masse der entschieden schlechten Handlungen, oder die aus falscher Empfindung und verkehrter, ungesunder Gemütsart hervorgehen, zugleich in ihrem entscheidenden Einflusse auf das Schicksal der Menschen sich dem Dichter darstellt ─ wodurch reizen sie ihn zur Nachahmung? Denn sie nur etwa um ihrer selbst willen, um sie getreu zu wiederholen, nachzuahmen, würde doch nicht künstlerisches Schaffen ─ Poiesis ─ sein. Das mißbilligende, moralische oder intellektuelle Urteil kann ihn nimmermehr dazu bewegen; es hat seinen eigenen abstrakten Ausdruck und bedarf der Denkthätigkeit, aber keiner Art von Nachahmung. Was ihn dazu anzutreiben vermag, Handlung und Begebenheit dem Leben nachzuerschaffen, kann allein der Umstand sein, daß die Wahrnehmung zur naturgemäßen Folge eine Thätigkeit der Seele hat, welche auf keine andre Art aufs neue hervorgerufen werden kann, als durch die Reproduktion jener Handlung und Begebenheit selbst. Solcher Art ist einzig und allein die Empfindungsthätigkeit der Seele. Während aber im Leben die Beschaffenheit dieser so hervorgerufenen Empfindungsthätigkeit je nach den sie erzeugenden Handlungen und Begebenheiten eine verschiedene und zufällige ist, wählt der nacherschaffende Dichter ─ der ποιητής ─ die Beschaffenheit derselben so aus und bestimmt sie ihrer ganzen innern und äußern Vollständigkeit nach derartig, daß, welcher Art die von ihm als Mittel zu seinem Zwecke verwandten Handlungen und Begebenheiten auch seien, dieser Zweck, die dem Anlaß entsprechende richtige Empfindungsweise zu erwecken, möglichst vollkommen erreicht werde. Es fragt sich nun, wie können schlechte oder fehlerhafte Handlungen oder doch solche, die aus einem fehlerhaften Ethos hervorgehen, und die dieselben bedingenden und begleitenden Begebenheiten richtige Empfindungsweise hervorrufen? Ferner, wie hat der Dichter zu verfahren, um der Erreichung seines Zweckes gewiß sein zu können? Offenbar kann auf zweierlei Arten dabei verfahren werden, und beide hat Aristoteles in seiner Skizze von der Entwickelung dieser Art von Poesie angeführt: die erste ist die tadelnde, spottweise Darstellung ( ψόγος ), aus ihr geht die Satire hervor, die zweite ist die lächerliche Darstellung ( τὸ γελοῖον ), sie gibt allen Arten der komischen Epik und der Komödie die Entstehung. Die tadelnde Darstellung einer Handlung begnügt sich damit, das Fehlerhafte derselben so stark hervorzuheben, daß die demselben entgegengesetzte richtige Gesinnungsweise, die den Darsteller beseelt, durch die Nachahmung auch in dem Hörer hervorgerufen wird. Der Nachahmungszweck ist hier das zu erzeugende Ethos, die dargestellte Handlung Mittel zu diesem Zweck; daher ─ zum sicheren Zeichen dieses Verhältnisses ─ die Einheit solcher Darstellung auch nur in ihrem Ethos liegt, nicht in der Handlung, so daß die mannigfaltigsten Handlungen, sofern sie nur durch den Gegensatz zu dem Ethos der Darstellung gleichartig sind, darin vereinigt werden können. So verfährt die Satire, die deswegen auch, wie oben erörtert, weit eher dem lyrischen als dem epischen Gebiete zuzurechnen ist. Je nachdem das Ethos beschaffen ist, welches der Dichter durch Vorführung von Fällen seines Widerspieles stark anregen will, kann sie strafenden, ja grimmig anklagenden, auch erhabenen Charakter annehmen, oder auch, wenn der Dichter die Laster, Fehler und Gebrechen nicht jedesmal vereinzelt lediglich als Verletzungen seines Gefühles empfindet, sondern sie nach der innern Vollständigkeit ihrer Entstehung und Bedingtheit zwar nicht abgeschwächt, aber doch als Ergebnisse der allgemeinen menschlichen Schwäche auf sich wirken läßt, kann sie die abgeklärte Färbung eines eben so ernst gehaltenen als gelassenen und wahrhaft heiteren Ethos annehmen. Natürlich kann jede Art der Satire mannigfache leisere oder stärkere Schattierungen des Lächerlichen in sich aufnehmen, aber die eigentliche Wirkung des Lächerlichen ist in der Poesie schlechterdings an die Darstellung der Handlung um ihrer selbst willen gebunden, also in der Poesie an die Gattungen, denen diese Nachahmung Zweck ist, die Epik und Dramatik. Denn nicht seinem ganzen Umfange nach ist das weitausgedehnte Gebiet des Lächerlichen für die Poesie verwendbar, manche seiner Teile können nur als Beiwerk von ihr benutzt werden, für ihr Hauptwerk kommt nur eine bestimmt begrenzte Provinz des Gesamtgebietes in Betracht. Von den zahlreichen modernen Versuchen den Begriff des Lächerlichen zu erklären ─ von denen keiner die Aufgabe löst, sondern ein jeder nur einzelne Attribute des Gesamtbegriffes einschließt ─ kehrt man am besten zu der ältesten Definition zurück, von der sie alle mehr oder minder abhängig sind. Obwohl die speziellen Erörterungen des Aristoteles über das Lächerliche uns verloren sind, so ist doch die beiläufig von ihm aufgestellte Erklärung desselben gerade in ihrer weiten Fassung noch immer die einzig stichhaltige, sobald nur jedes Wort darin nach seinem ganzen Umfange erwogen wird. Jm fünften Kapitel seiner Poetik heißt es: τὸ γὰρ γελοῖον ἐστιν ἁμάρτημά τι καὶ αἶσχος ἀνώδυνον καὶ οὐ φθαρτικόν , d. h.: „ Das Lächerliche besteht in einer Fehlerhaftigkeit und Häßlichkeit (Deformität), die weder Schmerz noch Schaden verursacht. “ Von den lächerlichen Gegenständen ist also erstens ausgesagt, daß sie eine dem Richtigen und Schönen entschieden entgegengesetzte Beschaffenheit haben müssen, sie müssen schlechtweg fehlerhaft, häßlich sein. Was aber sodann als das näher unterscheidende Merkmal angegeben ist, verlangt eine zwiefache Auslegung: die Schmerzlosigkeit und Unschädlichkeit des Fehlerhaften und Häßlichen kann entweder objektiv, an sich, vorhanden sein, oder subjektiv, der Vorstellungs= oder auch der Betrachtungsweise des Wahrnehmenden nach. Die Sache verhält sich also so: wenn sich ein Ding als entschieden fehlerhaft oder häßlich darstellt und zwar so, daß es entweder an sich keinerlei schmerzliche Empfindung oder schädliche Wirkung hervorbringt oder doch so vorgeführt und aufgenommen wird, daß derartige Empfindungen und Wirkungen ausgeschlossen bleiben, so ist das diese doppelte Beschaffenheit konstatierende Urteil von der Erscheinung des Lachens begleitet. Denn dies hat das Lachen mit der Freude gemeinsam (das übrigens nach aristotelischen Begriffen direkt den ἡδέα den „freudigen“ Dingen zugezählt wird), daß es eine Erscheinung ist, welche, sofern sie nicht rein äußerlichen körperlichen Einwirkungen entspringt, als Begleitung und gewissermaßen abschließendes Resultat einer Thätigkeit ( τελείωσις τῆς ἐνεργείας ) auftritt. Man würde sich ganz innerhalb der aristotelischen Anschauungsweise befinden, und, wie es scheint, auch in Übereinstimmung mit der Wahrheit und den Thatsachen, wenn man in diese weiteste Auffassung auch das Lachen überhaupt als unmittelbaren Ausdruck der Freude miteinbegriffe, doch ist hier nur im engeren Sinne von demjenigen Lachen die Rede, welches dem „Lächerlichen“ entspricht, und auch dieses erscheint als Begleitung und Abschluß einer Thätigkeit: diese Thätigkeit ist eben jenes „ Urteilen “, welches das Vorhandensein der das Lächerliche bedingenden Umstände konstatiert. Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich von selbst die Unterscheidung der verschiedenen Arten des Lächerlichen und die Feststellung derjenigen, welche für die poetische Nachahmung geeignet sind. Das Urteil über die Fehlerhaftigkeit oder Häßlichkeit der Objekte und ihre schmerzliche oder schädliche Wirkung ist entweder ein moralisches oder ein verstandes mäßiges oder ein ästhetisches. Von diesen drei Arten des Urteils ist, wo es sich um das Lächerliche handelt, das moralische von vorneherein auszuscheiden: unter dem Gesichtspunkte der sittlichen, praktisch=vernünftigen Beurteilung muß alles Fehlerhafte als schädlich erscheinen, und auch dem dieser Beurteilungsweife entsprechenden sittlichen Gefühl muß alles sittlich Häßliche schmerzhaft verletzend sein. Für die sittliche Beurteilung kann es also ein Lächerliches überhaupt nicht geben, und in der Goetheschen Definition: „das Lächerliche entspringt aus einem sittlichen Kontrast, der auf eine unschädliche Weise für die Sinne in Verbindung gebracht wird,“ Sprüche in Prosa V, Nr. 414. kann das Epitheton „sittlich“ in seiner eigentlichen Bedeutung unmöglich verstanden werden. Dagegen liegt auf dem Gebiete des Verstandesurteils ein weites Feld des Lächerlichen. Zwar wird es auch hier schwerlich irgend ein Fehlerhaftes und Häßliches geben, welches nicht zugleich als schädlich betrachtet und als das Gefühl verletzend erkannt werden müßte, sobald der Verstand nach dieser Richtung hin es beurteilt. Der große Unterschied aber ist der, daß das moralische Urteil diese Richtung unter allen Umständen einzuschlagen gezwungen ist, während der Verstand sie in sehr vielen Fällen ausschließen kann. Dieser Fall ist überall da als objektiv vorhanden anzusehen, wo die schädliche oder verletzende Wirkung sehr gering oder der Reflexion sehr fernliegend ist, ferner subjektiv überall da, wo individuell für den Beurteiler diese Wirkung nicht zutrifft oder die Reflexion darauf nicht vorhanden ist, oder auch wo beides durch die momentan angewandte Darstellungs- und Betrachtungsweise geflissentlich ferngehalten wird. Auf dem letzteren Verfahren beruht zu einem wesentlichen Teile die witzige Darstellung. Andrerseits fällt auf diesem Gebiete ebenso die Wirkung des Lächerlichen ganz fort, sobald der urteilende Verstand nicht genügend ausgebildet ist, um die Grundbedingung desselben, das an sich Fehlerhafte und Häßliche als solches, zu erkennen. So ist starke Unkenntnis oder Unerfahrenheit auf dem Gebiete des Wissens, des Könnens oder der Sitte, oder grobes Mißverständnis, arger Mißgriff auf diesen Gebieten eine Quelle des Lächerlichen, und zwar um so reicher fließend, je mehr der Urteilende wissend und geschickt ist, dagegen ganz verschlossen für den Unwissenden und Ungeschickten. Ferner wird die lächerliche Wirkung durch jede ihr anhaftende Schädlichkeit oder Schmerzlichkeit objektiv aufgehoben oder sie wird subjektiv beeinträchtigt, wenn sie dem Einzelnen für seine Person sich derartig fühlbar macht; und endlich wird das Lächerliche selbst in solchem Falle wieder hergestellt, sobald der Fall losgelöst von allen andern Beziehungen ganz allein unter dem Gesichtspunkte des Mangels an Wissen und Geschick vorgetragen wird. Weil nun aber von einem Defekt nur da die Rede sein kann, wo man ein Recht hat Vollständigkeit vorauszusetzen, von einer Fehlerhaftigkeit ( ἁμάρτημα ), also nur, wo man Richtigkeit, von einer Deformität ( αἶσχος ) nur, wo man Uebereinstimmung mit Recht erwartet ─ (bei einem Kinde ist Mangel an Wissen und Sitte kein Fehler, bei einem seiner Gattung gemäß geformten Naturdinge das unsern Schönheitsbegriffen Widersprechende keine Deformität, nur mit Unrecht „ Häßlichkeit “ genannt nach einer dem Wesen des Dinges ganz fremden Analogie!) ─, so ist von den modernen Erklärern in diese eine dem Begriff notwendig anhaftende Eigenschaft das Wesen des Begriffes selbst gesetzt, indem man das Lächerliche durchweg als einen Kontrast definierte, entweder wie Lessing als einen Kontrast von „ Mangel und Realität “, Vgl. Dramaturgie Nr. 28. oder wie Goethe als einen „ sittlichen “ Kontrast, wo „ sittlich “ wohl die Sphäre des Bewußten und Verantwortlichen bezeichnen soll, oder wie Kant als die „ plötzliche Verwandlung einer gespannten Erwartung in Nichts. “ S. Kant Bd. IV (ed. Rosenkranz). Kritik der Urteilskraft S. 207. Alle diese Zusätze und Einschränkungen gehören also nicht zu dem Grundwesen des Lächerlichen: ein andres ist es, daß unter den Mitteln das Fehlerhafte und Deforme als solches darzustellen die Hinzufügung einer Kontrastvorstellung allerdings zu den wirksamsten gehört; das Grundwesen des Lächerlichen jedoch liegt lediglich in dem Fehlerhaften und Deformen, das ohne alle Beimischung als solches sich dem Urteil darbietet. So ist die Schwäche an sich nicht lächerlich, weil sie da, wo sie naturgemäß ist, nicht als Fehler erscheint; aber die bloße Körperschwäche bildet unter Leuten, bei denen Körperkraft ein naturgemäßes und wesentliches Erfordernis ist, allerdings schon einen Grund der Lächerlichkeit. An sich ist die Unkenntnis, z. B. des römischen Kalenders, nichts Lächerliches, bei einem Altertumsforscher jedoch wäre sie ein Fehler und deshalb lächerlich, freilich nur unbedeutend, wie ja auch der Fehler kein bedeutender wäre in betreff der römischen Datierung einen Jrrtum zu begehen. Wenn dagegen jemand auf die Frage, in welche Zeit die Jdus fallen? den Aufschluß gäbe: „meistens in den März,“ so wäre ein solches Hamartema, selbst als bloßer Jrrtum des Augenblickes, entschieden komisch, weil dieses Mißverständnis, ernstlich genommen, nur bei der stärksten Unkenntnis möglich ist. Eine reiche und sehr viel ausgebeutete Fundgrube des Lächerlichen eröffnet sich auf diesem selben Boden, wenn ein Unwissender und Ungeschickter durch den Zufall als Wissender und Geschickter erscheint und nun mit allerlei Würden, Ämtern und Aufgaben betraut wird, die ihn in ununterbrochener Reihe die ärgsten Fehlerhaftigkeiten zuwege bringen lassen. Wird dergleichen der Wirklichkeit entnommen oder als wirklich dargestellt, so hört das Lächerliche mit dem Moment auf, wo die Folgen schädlich werden, und es kann sich dann sogar in das Furchtbare verwandeln, wie wenn ein zum Heerführer ernannter hohler Günstling Niederlage und Untergang eines Staates verursacht. Aber selbst mit derartigen, von der Sache untrennbaren, schweren Folgen kann der Charakter des Lächerlichen durch die Behandlung des Stoffes gewahrt bleiben, sobald die Darstellung ganz in die Sphäre der Phantasie verlegt wird, wie im Märchen, oder ganz in die Sphäre des bloßen Verstandesurteils, wie in der Anekdote: in beiden Fällen werden alle schmerzlichen und schädlichen Beziehungen eliminiert, und es bleibt das bloße Faktum der Fehlerhaftigkeit für die Beurteilung übrig. Daß aber in der That der Begriff des Lächerlichen durch die bloße Fehlerhaftigkeit und Deformität als solche konstituiert wird und nicht durch den Kontrast derselben mit der Vorstellung des Erhabenen oder mit einer zu Tage tretenden Absicht, zeigt sich deutlich, wenn man in der schon oben angedeuteten Weise jene das Lächerliche konstituierenden Begriffe genau in der ihnen zukommenden Bedeutung erfaßt. Die Begriffe des ἁμάρτημα ─ der Fehlerhaftigkeit oder Verirrung ─ und des αἶσχος ─ der Deformität ─ decken sich keineswegs an sich mit dem Begriff des bloßen Mangels an Trefflichkeit, Vollkommenheit und Schönheit, sondern schlechterdings ganz allein da, wo mit Recht diejenige Trefflichkeit, Vollkommenheit oder Übereinstimmung der äußeren Gestalt vorausgesetzt wird, von welcher sie abweichen. Das Kamel, die Spinne, der Tausendfuß, das Krokodil mögen uns unschön erscheinen und wir mögen sie nach unserm Sprachgebrauch „ häßlich “ nennen, die Eigenschaft des αἶσχος , der „ Deformität “, kommt ihnen nicht zu, dem Kundigen wird im Gegenteil ihre Gestalt als mit ihrer Naturbestimmung in hohem Grade übereinstimmend erscheinen. Dagegen sind Falstaffs Wanst, Bardolphs feurige Nase, die Körpererscheinung eines Schaal und Stille oder von Falstaffs Rekrutenschar Deformitäten und lediglich als solche lächerlich; ja für eine Anschauungsweise, die das Schmerzliche und Schädliche außer acht läßt, sind es ebenso alle auffallenden körperlichen Gebrechen, Schiefheit, Buckeligkeit, Hinken, Magerkeit und Fettheit, oder selbst außergewöhnliche Größenbeschaffenheit der Nase, die wohl wegen ihrer prominenten Position von jeher ein bevorzugtes Objekt für die Darstellung des Lächerlichen gewesen ist. Ganz ebenso kann Fehlerhaftigkeit oder Jrrtümlichkeit nur da erkannt werden, wo nach dem Wesen, der Beschaffenheit, Stellung, Amt, Würde der Person oder des Dinges Richtigkeit, relative Vollkommenheit erwartet werden müssen. Unter den Mitteln, diese Erwartung zu erregen, ist eins der sichersten und stärksten das Vertrauen auf den Besitz derselben, die Bestrebung diesen Besitz zu erreichen oder die Absicht als im Besitz befindlich zu gelten kund zu geben. Aber es heißt von der Hauptsache auf Nebendinge abirren, den Begriff des Lächerlichen verengen und seine Erkenntnis verdunkeln, wenn man auf dieses einzelne, zu seiner Beschaffenheit gehörende Attribut (ein συμβεβηκὸς καθ' αὑτό ) auf einen derartigen Kontrast also, seine Definition gründet, statt auf seine wesentliche Beschaffenheit (das τί ἐστιν ). Man nehme als das zu allernächst liegende Beispiel das „Verirren“ im eigentlichen Sinne des Wortes. Es hat ─ immer abgesehen von allem Schädlichen, Gefährlichen, Schmerzlichen, das sich beimischen kann, sondern das Hamartema nur als solches betrachtet ─ nichts Fehlerhaftes und also auch nichts Lächerliches, wenn jemand sich in einer Gegend, die er nicht kennt, verirrt, auch nicht, wenn er etwa auf Ersuchen seiner Begleiter es übernommen hat, sie nach der Karte zu führen. Ein anderes aber ist es, wenn er mit Berufung auf seine Fähigkeit nach der Karte sich zu orientieren sich die Führung angemaßt hat, oder wenn er behauptet die Gegend gut zu kennen; dann ist mit der Fehlerhaftigkeit auch die Lächerlichkeit sofort da. Ebenso ist es, wenn jemand auf ihm wirklich genau bekanntem Terrain sich selbst verirrt oder andre irre führt; ferner ebenso bei einem Führer von Profession oder einem sonst irgendwie zum Führer Berufenen, sobald das Ärgerliche und Schädliche ausgeschieden wird. Allenthalben beruht das Lächerliche auf dem Fehlerhaften und Deformen als solchem; es kommt nur darauf an, daß dasselbe an sich stark genug und daß es möglichst evident sei; denn je mehr es in die Augen fällt, desto schneller wird es durch das Urteil konstatiert und desto stärker und unmittelbarer ist die lächerliche Wirkung. Das Vermögen erstens unter den zahlreich vorhandenen Mitteln jedesmal das geeignetste auszuwählen, um die Fehlerhaftigkeit oder De= formität der Dinge möglichst stark hervortreten zu lassen, zweitens dieselbe für das bloße Verstandesurteil zu isolieren, ist der Witz. Bei allen den unzähligen Formen des Witzes führt die Analyse zuletzt immer auf diese Wesenselemente. Die sämtlichen Arten des Kontrastes nehmen, wie schon gesagt, unter den Mitteln der witzigen Darstellung einen hervorragenden Platz ein: so der Kontrast des Mittels gegen den Zweck (auf diesen basiert Jean Paul seine Gesamtdefinition des Komischen, welches nach ihm „eine sinnlich angeschaute Zweckwidrigkeit“ ist), oder der der Erhabenheit und Nichtigkeit (worauf Th. Vischers Definition hinausläuft), oder zwischen Erwartung und Aufschluß, Absicht und Erfolg, Ursache und Wirkung. Ebenso gehört zu diesen Mitteln das Verfahren ein Einigungsmoment für das Unzusammengehörige oder Widersinnige aufzustellen, „zwischen Unähnlichem das Ähnliche aufzufinden“ (was mitunter als die alleingültige Definition des Witzes acceptiert ist). Vgl. hierzu Th. Vischer, Über das Erhabene und Komische, ein Beitrag zu der Philosophie des Schönen, 1837, S. 198 ff. Unter den Arten dies letztere Verfahren ins Werk zu setzen hat auch das Wortspiel seinen Platz. Ein Erweis für die Richtigkeit und Allgemeingültigkeit der einfachen aristotelischen Erklärung des Lächerlichen liegt aber darin, daß auch bei diesem Verfahren der Zusammenstellung des Heterogenen unter einem Gesichtspunkt wirklicher oder scheinbarer Gleichartigkeit der eigentliche Witz nur da vorhanden ist, wo es als Mittel, angewandt ist eine Fehlerhaftigkeit oder Häßlichkeit ─ einen Defekt also an der zukommenden Form ─ augenscheinlich zu machen. Als Beispiel diene die witzige Bemerkung Börnes: „Als Pythagoras seinen Lehrsatz erfunden hatte, opferte er eine Hekatombe: seitdem zittert jeder Ochs, so oft eine neue Wahrheit entdeckt wird;“ oder wenn Schiller von der Poesie der Minnesänger sagt: „es sei hier immer und ewig der Winter, der geht, der Frühling, der kommt, und die lange Weile, die bleibt;“ und wenn auf einen Politiker, der seiner Thätigkeit entsagend über den Ocean ging, das Wortspiel gemacht wurde: „er wollte lieber überseeisch als überflüssig werden,“ ein Beispiel, das besonders deutlich zeigt, wie die Qualität des Lächerlichen von dem Urteil über das vorhandene Hamartema abhängt; denn Bemerkungen wie diese können nur den über die jedesmal betroffene Person oder Sache entschieden negativ Urteilenden komisch erscheinen. Freilich kann man sich über diesen Sachverhalt leicht täuschen, da es eine große Menge sogenannter „Witze“ gibt, welche das Mittel zum Zwecke machen und die Fertigkeit des Verfahrens als bloßes äußerliches Spiel verwenden: der Übergang zu dieser Gattung liegt schon da, wo die witzige Wendung es mit der Wahrheit nicht genau nimmt, sondern um nur sich äußern zu können, dieselbe auch gelegentlich auf den Kopf stellt. Dem bloßen Spiel aber mit den Mitteln des Witzes fehlt die eigentliche komische Kraft, sie sind innerlich leer, wirken ganz allein durch die Überraschung und fallen leicht ins Alberne. Und auch hier kann man noch das Hamartema als das Grundelement der lächerlichen Wirkung nachweisen: diese Spiele des Scharfsinnes nehmen am liebsten die Form der Rätselfrage an, die Wirkung des Lächerlichen, das Lachen selbst tritt aber stärker bei dem Wissenden als bei dem Ueberraschten ein, zum deutlichen Zeichen, daß der dabei zu Tage tretende Mangel an Findigkeit, der das bei der Lösung ganz leicht und einfach Erscheinende zu erfassen hinderte, für beide Teile das eigentlich Lächerliche ist. Die beliebten Vexierfragen nach der Ähnlichkeit und den Unterschieden ganz heterogener Dinge sind dieser Art, sie entbehren fast immer jeden Jnhalts. Dagegen, wenn von einem modernen Dichterkomponisten gesagt wird, „er war größer als Beethoven und Goethe, denn er komponierte besser als Goethe und dichtete besser als Beethoven,“ so liegt darin wirkliche vis comica für die Verehrer des Mannes wie für seine Verächter, freilich für diese mehr als für jene. Ein andres ist es, wenn das Spiel mit der Form des Lächerlichen sich der phantastischen Hyperbel bedient: dann fällt es nicht mehr unter das reine Verstandesurteil, sondern gehört einer ganz andern Gattung zu. Nach allem, was im Obigen über das Verhältnis des moralischen und des Verstandesurteils zu dem Wesen des Lächerlichen gesagt ist, zeigt sich evident die Richtigkeit des Goetheschen Spruches: „ Der Verständige findet fast alles lächerlich, der Vernünftige fast nichts. “ Mängel gibt es überall, der vorwiegend mit dem Verstande Urteilende bemerkt sie alle und deshalb sieht er die Welt unter dem Gesichtswinkel des Lächerlichen an; der vorwiegend moralisch Urteilende schätzt vor allem die Dinge nach ihrer Güte, wie ihre Vorzüge ihn erfreuen, so betrüben ihn ihre Mängel. Nun ist freilich jede von diesen beiden Arten des Urteils einseitig und im Grunde niemals die eine ganz ohne die andere vorhanden; es ist klar, daß aus der Vereinigung beider, wenn beide in hohem Maße ausgebildet sind, die vollständigste und vollendetste Urteilsweise hervorgehen muß: es ist die des Humors, doch, wohlgemerkt, nur die humoristische Urteilsweise, noch nicht die humoristische Gesinnung oder gar die Kraft der humoristischen Darstellung, obwohl beide natürlich nicht ohne jene vorhanden sein können. Es ist oben gesagt worden, daß das Lachen zu den freudigen Dingen ( ἡδέα ) gehört und als solches immer mit einer Thätigkeit als deren Begleiterscheinung und Resultat verbunden ist. Jn welcher Weise das bei dem Lächerlichen des Verstandesurteils zutrifft, ist klar. Primus sapientiae gradus est falsa intelligere : während aber sonst ein jedes Verstandesurteil, welches das Falsche erkennt, mit Mühe verbunden ist, durch welche die Freude an der Erkenntnis erkauft werden muß, ist es die Natur des Lächerlichen, daß sie die Thätigkeit des Verstandesurteils ganz ohne Mühe, unmittelbar und ohne Erwägung von Gründen erfolgen läßt, daß es also ganz dasselbe leistet, was sonst nur bei dem ästhetischen Urteil geschieht, aber auf verschiedene Weise. Es ist nicht richtig, was Goethe dem Lächerlichen überhaupt prädiciert, daß der Kontrast auch bei dem Verstandes= Lächerlichen „ für die Sinne “ in Verbindung gebracht werde: es ist die geschickte und reine ─ d. i. witzige ─ Setzung des Fehlerhaften und Deformen als solchen genügend, um die unmittelbare und mühelose Verstandesentscheidung zu bewirken und damit eine der ästhetischen ganz ähnliche aber doch von ihr verschiedene Freude. Deshalb ist auch das Verstandes-Lächerliche sehr wohl in der Kunst zu verwenden, ohne doch ihr im Grunde zugehörig zu sein. Diese Art von Freude, welche aus der blitzartigen Erleuchtung, die durch das Verstandes-Lächerliche bewirkt wird, resultiert, ist die reine Freude daran: wie vielfache und höchst verschiedenartige Beimischungen sich aber derselben zugesellen können, liegt auf der Hand. Zunächst diejenige Art von Freude, die oft als der eigentliche Grund der Freude am Lächerlichen bezeichnet ist: die Freude an der Uberlegenheit des Urteilenden. Man sieht, wie sehr mit Unrecht. Ebenso die zahllosen Nüancen, die sich der Schadenfreude nähern, der Befriedigung an der Bekräftigung individuell erwünschter und geteilter Ansichten, Standpunkte, Überzeugungen, an der Bekämpfung individuell mißliebiger, verhaßter! Nun aber, wenn es heißt: primus sapientiae gradus est falsa intelligere , so lautet es weiter: secundus vera cognoscere ; und auch dieser zweite Schritt zur Weisheit, die Erkenntnis der Wahrheit, kann durch jenen blitzartig aufleuchtenden Schein des Lächerlichen ermöglicht werden. Es wäre die höchste und richtigste Art des Lächerlichen, die beides zugleich bewirkte; denn, wie es neben den vielen falschen Arten sich zu freuen eine richtige gibt ( ὀρθῶς χαίρειν ), so gibt es neben dem „ richtigen Lachen “ und dem wahrhaft Lächerlichen sehr viele, mehr oder minder verkehrte Abarten davon. Vielen erscheint auf ihrem Standpunkte gerade das Richtige als fehlerhaft und darum lächerlich, während ihnen das Fehlerhafte und Lächerliche vielleicht Verehrung oder doch wesentliches Jnteresse einflößt. „Durch nichts bezeichnen daher die Menschen mehr ihren Charakter als durch das, was sie lächerlich finden“, wie einer der Goetheschen Sprüche lautet. Sprüche: Ethisches V, Nr. 413. Es ist die höchste Kraft des echten Witzes durch das Vermögen der Darstellung das wahrhaft Fehlerhafte und Deforme so evident zu machen, daß er durch die reine Leuchtkraft des Lächerlichen den Nebel der subjektiven Vorurteile und individueller Neigung und Abneigung siegreich durchdringt. Wie sehr dazu die Ausscheidung alles Schmerzlichen, Verletzenden, schädlich auch nur Erscheinenden notwendig ist, um die Reinheit jener Leuchtkraft nicht zu trüben, braucht nicht wiederholt zu werden. So reinigend und kräftig die Darstellung dieses wahrhaft Lächerlichen wirkt und so wahrhaft erfreuend sie ist, so trügerisch, ja mitunter verderblich irreführend, ist der falsche Schein desselben, obwohl auch dieser durch die bloße Form der Darstellung eines, immerhin an sich falsch gesehenen, Fehlerhaften und Deformen als solchem noch die Freude an der unmittelbar und mühelos erfolgenden Urteilsthätigkeit hervorruft. Ein nicht geringer Teil des Heine schen Witzes ist ganz von dieser Art. Dagegen wird dem ganz Urteilslosen oder dem dieser Thätigkeit Abgewandten in der Selbstgefälligkeit seines Unvermögens leicht bei dem geringfügigsten Anlaß die behagliche Täuschung sich einstellen, als sei er überraschend erleuchtet, oder auch ohne allen Grund die Vorstellung, er habe Gelegenheit zu scharfsinniger Erkenntnis gefunden. Diese Klasse von albernen Thoren steht weit unter denen, für die das Lachen der Ausdruck des bloßen Wohlbefindens ist, und welche Goethe im Sinne hat, wenn er sagt: „ Der sinnliche Mensch lacht oft, wo nichts zu lachen ist. Was ihn auch anregt, sein inneres Behagen kommt zum Vorschein. “ Sprüche: Ethisches V, Nr. 415. Dieses Lachen ist von einer ganz andern Art als das dem Verstandes-Lächerlichen entspringende; es ist nur zu verstehen und zu erklären aus dem Zusammenhange mit demjenigen Lächerlichen, welches auch in der Poesie seinen Platz, und zwar einen Ehrenplatz hat. Dieses ist das dem ästhetischen Urteil unterworfene, das Ästhetisch-Lächerliche. Wenn man sich des Kantschen Ausdrucks „ästhetisches Urteil“ bedient, so ist es erforderlich, sich dabei sorgfältig zu erinnern, daß diese Bezeichnung eine uneigentliche ist. Ein Urteil, bei dem das Bewußtsein der Gründe, nach denen es erfolgt, absolut ausgeschlossen sein soll, ist im Grunde keins, die Thätigkeit des „Urteilens“ findet dabei eben nicht statt. Die Bezeichnung ist von der Analogie hergenommen, daß von zweien oder mehr Empfindungen, die bei einem Anlasse möglich wären, die eine wirklich eintritt, also eine Entscheidung für dieselbe getroffen wird. Der Unterschied aber, um dessentwillen jene Bezeichnung doch wohl besser vermieden würde, liegt darin, daß ein Schwanken, eine Wahl zwischen jenen möglichen Empfindungen bei dem sogenannten „ästhetischen“ Urteil nicht allein nicht angenommen wird, sondern seiner Natur nach bei ihm nicht vorhanden sein darf. Jn dem unmittelbar, ohne Jnteresse, ohne Gründe, von selbst mit Bestimmtheit erfolgenden Eintreten der Empfindung ist das, was Kant das ästhetische Urteil nennt, gegeben. Dieses so beschaffene, unmittelbare und bestimmte Eintreten der Empfindung ist, außer von der Natur der „ ästhetischen “ Wahrnehmung, welche den Anlaß gibt, von zwei subjektiven Faktoren abhängig: von der Empfindungsanlage des Wahrnehmenden (seiner δύναμις παθητική ) ─ nach welcher er zu dieser oder jener Art zu empfinden von Natur mehr oder weniger geneigt ist ─ und von der durch Gewohnheit, Erziehung, Bildung, überhaupt durch die Gesamtentwickelung erworbenen ständigen Beschaffenheit seines Empfindens (seiner ἕξις παθητική ). Diese letztere ist die Grundlage für die im Entschließen und Handeln sich äußernde Gesinnungsweise und Gemütsart, das Ethos: es wird also, ebenso wie das Handeln, so auch die ästhetische Urteilsweise ein Kennzeichen des in einem Menschen vorhandenen Ethos sein. Es fragt sich nun, wie dieses ästhetische Urteil sich dem Lächerlichen gegenüber verhält. Es wäre also die unmittelbar und ohne Bewußtsein der Gründe eintretende Empfindung einer Fehlerhaftigkeit oder Deformität, die weder Schmerz noch Schaden mit sich bringt. Wie aber steht es mit dem Angenehmen, dem Freudigen dieser Empfindung? Bei dem entsprechenden Verstandesurteil lag dasselbe in der unmittelbar und mühelos ─ und deshalb immer überraschend ─ gewonnenen Klarheit des Erkennens, welche mit der Konstatierung des Fehlerhaften als solchem notwendig verbunden ist: mit dieser Thätigkeit muß, je reiner sie ist, in desto höherem Grade die Erscheinung der Freude verknüpft sein. Von dieser Erkenntnisfreude kann bei dem ästhetischen Urteil nicht die Rede sein, denn es ist ja kein eigentliches Urteil; es handelt sich bei ihm keineswegs um das Wahre und Falsche, Verkehrte oder Rechte, sondern um das Wohlgefällige oder Mißfällige, das Unangenehme, Widrige oder Angenehme, Erfreuliche: denn einerseits unterscheiden sich die Empfindungen selbst untereinander nach diesen Kategorien, andrerseits kann eine große Zahl von ihnen je nach ihren verschiedenen Graden und Beschaffenheiten der einen oder der andern dieser Kategorien zugehörig sein, so die Furcht und das Mitleid, selbst der Zorn, denn es gibt auch eine berechtigte und wohlthuende Art des Zürnens. Es gilt also den anscheinenden Widerspruch zu vereinigen, daß die Empfindung des Fehlerhaften und Deformen, die an sich doch eine mißfällige ist, zugleich eine erfreuliche sei, denn als eine solche muß die Empfindung des Lächerlichen doch notwendig vorausgesetzt werden. Die Lösung ist auf demselben Wege zu finden wie vorher. Das Gute, Richtige, Übereinstimmende als solches, insofern es Gegenstand des ästhetischen Urteils wird, d. h. also, sobald es als solches unmittelbar empfunden wird, bringt die wohlgefällige Empfindung direkt hervor, es erregt direkt die Freude: wir nennen es dann das Schöne. Genau so definiert es Aristoteles im neunten Kapitel des ersten Buches seiner Rhetorik: καλὸν μὲν οῦν ἐστὶν, \̔ο \̓αν ἀγαθὸν \̓ον ἡδὺ ᾖ, ὅτι ἀγαθόν d. h.: „ das Schöne ist dasjenige Gute, welches als solches ein Gegenstand freudiger Empfindung ist, “ da nach einer andern Definition des Aristoteles „die Freude bei der bewußten Wahrnehmung einer in uns vorgehenden Empfindung stattfindet“ ─ vgl. Rhet. I. c. 11 (1370 a. 27): ἐπεὶ δ' ἐστὶ τὸ ἥδεσθαι ἐν τῷ αἰσθάνεσθαί τινος πάθους ─. Wenn nun, indirekt durch die Darstellung des Gegensatzes zum Guten, also des ἁμάρτημα und ἆισχος , des Fehlerhaften und Deformen, für die Empfindung dasselbe Resultat erreicht werden soll, nämlich die Erregung der Freude beim Empfinden, so kann das offenbar nur unter zwei Bedingungen geschehen, die den bei der Darstellung des Verstandes-Lächerlichen geltenden völlig analog sind: das Fehlerhafte und Deforme muß mit Bestimmtheit, unmittelbar und unzweifelhaft als solches empfunden werden ─ dann wird in jedem Falle ebenso unmittelbar und untrennbar damit eine Klärung des Empfindens verbunden sein, die Gewißheit der wohlgefälligen Empfindung des entsprechenden Guten als solchem, der wirkliche oder doch vermeintliche Gewinn der Sicherheit des richtigen ästhetischen Urteils; und das unmittelbar und mühelos gewonnene Bewußtsein der Ausübung des rechten ästhetischen Urteils, des zweifellos richtigen Empfindens muß seinerseits notwendig von der Erscheinung der Freude begleitet sein. Sodann muß die Darstellung des Fehlerhaften und Deformen als solchen rein sein, sie muß weder Schmerz noch Schaden verursachen ─ das bedeutet auf dem Gebiete des ästhe= tischen Urteils, sie muß in keiner Weise die Empfindung beschweren, verletzen oder beleidigen, d. h. weder Unbehagen, Widerwillen oder gar Ekel, noch Besorgtheit, Betrübung, Furcht oder Mitleid hervorrufen. Damit wäre die Regel für die ästhetische Darstellung des Lächerlichen gegeben: es bleibt nur die Hauptfrage übrig, auf welche Weise das Lächerliche überhaupt ein Gegenstand der ästhetischen Beurteilung wird. Es ist klar, daß das nur geschehen kann, wenn durch die Anschauung der Fehlerhaftigkeit oder Deformität des lächerlichen Gegenstandes die entsprechende Empfindung unmittelbar erweckt wird. Jn der bildenden Kunst erfolgt die Nachahmung der Empfindung des Lächerlichen also vermittelst der Nachbildung von Körpern, ihrer Stellung und ihres Ausdrucks; in der Poesie ist, da die Beschreibung solcher Körper keine hinreichend deutliche Anschauung gewähren kann, um für sich allein jene Nachahmung zu erzielen, das einzig dazu vorhandene Mittel die Erzählung oder Darstellung von Handlungen, welche die Eigenschaften des ästhetisch Lächerlichen in der angegebenen Weise in sich vereinigen. Nun wird, an und für sich genommen, die Empfindung durch jede an den Handlungen wahrgenommene Fehlerhaftigkeit oder Deformität verletzt; weil aber die Wirkung des Lächerlichen allein unter der Bedingung zustande kommt, wenn es als solches rein dargestellt und empfunden wird, so stellt sich jene Hauptfrage, wie das Lächerliche ein Gegenstand poetischer Darstellung und somit ästhetischer Beurteilung wird, dahin: durch welche Mittel wird bei der Erzählung oder Darstellung von Handlungen das Fehlerhafte und Deforme derselben für die Empfindung von dem Eindrucke des Schmerzlichen oder Schädlichen, des Verletzenden oder Widrigen befreit? Vor allem müssen bei einer Handlung, welche die Wirkung des Lächerlichen hervorbringen soll, die Empfindungen der Furcht und des Mitleids ausgeschlossen sein: sie muß daher erstens in der Hauptsache einen glücklichen Ausgang haben und auch während ihres Verlaufes dürfen Befürchtungen des Gegenteils entweder überhaupt gar nicht oder doch nur in geringem Maße aufkommen. Sofern aber dennoch im Verlauf oder Ausgang für einen der Beteiligten eine Schädlichkeit oder auch nur die Befürchtung einer solchen entsteht, so muß dieselbe derart behandelt sein, daß die Mitleids-Empfindungen dabei aufgehoben werden. Das geschieht einmal dadurch, daß der Geschädigte als des entstehenden Nachteils vollauf schuldig dargestellt wird und zweitens dadurch, daß dieser Nachteil kein verderblicher ist, d. h. nicht so schwer, daß durch denselben das allgemein menschliche Mitgefühl rege gemacht wird, welches Aristoteles die φιλανθρωπία nennt, und welches auch dem Verbrecher noch gezollt wird, der seine verdiente Strafe erleidet. Jnsoweit sind also die Regeln für die Komposition komischer Handlungen denen der tragischen Darstellung gerade entgegengesetzt, auch in der Hinsicht, daß zur Erregung der spezifisch tragischen Empfindungen die Handlung von entsprechender Größe und Bedeutung sein muß, wogegen die komische Handlung von minderer Bedeutung sein und sich an geringere Jnteressen knüpfen muß; was nicht ausschließt, daß sie zeitweise Einzelnen der bei der Handlung Beteiligten größer erscheinen können. So z. B. sieht in Lessings Minna der Major Tellheim die Lage sehr ernst an, während für den Zuschauer von Anbeginn und während des ganzen Verlaufs die Verwickelung als eine unbedeutende, leicht zu lösende vorliegt und schlimme Befürchtungen gar nicht in Frage kommen. Die Fehler gegen diese Hauptgesetze sind verhältnismäßig leicht zu vermeiden, und doch zeigt sich die in betreff der hier entscheidenden Empfindungsweise geltende Anschauung nach Zeitverhältnissen und nationaler Eigenart sehr wesentlich modifiziert, wie durch das Beispiel der größten Dichter bewiesen wird. Es darf nur an Shakespeares Shylock und an Molières Tartuffe erinnert werden: für beide, wie für ihr Publikum, lag eine durch die aktuellen Verhältnisse veränderte Stimmung vor. Jm ersten Fall wurde durch das gekränkte Rechtsgefühl und die Erbitterung über schamlosen Wucher der Faktor des allgemein menschlichen Mitgefühls abgeschwächt; im andern durch die Gewöhnung an ein System, wo dem Uebermaß von heuchlerischer Jntrigue und Bigotterie eine schrankenlose Willkür gegenüberstand, das Erschreckende und Empörende der Handlung zu Gunsten der vorwiegend lächerlichen Wirkung herabgedrückt. Aus einem Schwanken zwischen den Mitteln tragischer und komischer Darstellung und einer Vermischung beider, wodurch die Wirkung der einen und der andern verdorben und verfehlt wird, ist das sogenannte genre sérieux hervorgegangen, auf welches näher einzugehen hier jedoch noch nicht der Ort ist. Weit schwerer ist es die Darstellung des Lächerlichen von der Beimischung des Verletzenden, Widerlichen, Ekel erregenden frei zu halten. So entschieden und untrüglich ein entwickeltes und geläutertes Empfindungsvermögen durch die seichte, frostige Alltagsnarrheit, Schalheit, Albernheit, Gemeinheit sich verletzt fühlt, so schwierig ist es mit Bestimmtheit festzustellen, wo hier die Grenzen liegen, welche nicht überschritten werden dürfen. Das entscheidende Kriterium, aus welchem hier alle Bestimmungen herzuleiten sind, ist, daß das Lachen, sofern es die Kunst sich zum Zweck setzt, ein freudiger Affekt ist, seiner Art und seinem Anlaß nach von dem Lachen und dem Lächerlichen des gemeinen Lebens oft ebenso verschieden wie das bloß Traurige und die entsprechenden niederdrückenden Affekte von dem Tragischen und der läuternden und erhebenden Empfindung desselben. Ganz in Übereinstimmung mit der Aristotelischen Kunstlehre, die überall ein ὀρθῶς χαίρειν ─ ein richtiges Freuen ─ als Kunstwirkung ins Auge faßt, verlangt Lessing von der komischen Kunst, daß sie „ richtiges Lachen “ hervorbringe. Ein solches kann nur aus dem richtigen Empfinden des Positiven und Negativen im Betragen und Handeln hervorgehen und muß als solches mit Freude verbunden sein. Nur derjenige, welcher das Positive im Betragen und Handeln als solches richtig, also wohlgefällig, empfindet, wird ebenso mit Sicherheit, unmittelbar und ohne kritische Überlegung das entgegengesetzte Negative als Fehlerhaftes richtig empfinden, und diese Empfindung wird von dem freudigen Affekt des Lachens begleitet sein. Umgekehrt wird derjenige, welcher in solcher Weise das Fehlerhafte und Deforme als Lächerliches richtig empfindet, ebenso auch für das Positive die sicher und unmittelbar richtige, und zwar wohlgefällige Empfindung haben. Die Affekte des Wohlgefallens und des Lachens stehen daher in einer ganz ähnlichen reciproken Verbindung wie die der Furcht und des Mitleids. Wo sie beide in der richtigen Weise auftreten, sind sie unauflöslich aneinander geknüpft, der eine ist die notwendige Ergänzung des andern; wo diese völlige Richtigkeit beider noch nicht erreicht ist, dient in wirksamster Weise der eine dazu den andern zu klären und richtig zu stellen. Je stärker das Wohlgefallen der richtigen Empfindung des Positiven ist, desto deutlicher tritt das Negative als solches hervor und erregt um so mehr den entsprechenden Affekt des Lachens; je kräftiger umgekehrt das Fehlerhafte als solches mit richtigem Lachen empfunden wird, desto untrüglicher und reiner gesellt sich demselben die rechte Freude an dem entgegenstehenden Guten, Tüchtigen, Gesunden, Liebenswerten als solchem hinzu. So sind die Affekte des Wohlgefallens und des Lachens im vollen Maße geeignet ganz wie die des Mitleids und der Furcht eine gegenseitige Katharsis zu wirken, und zu solchem Endziel setzt die darstellende und erzählende Kunst sie zum Zweck ihrer Wirkung. Auch darin sind diese komischen Affekte den tragischen gleich, daß, wie sie in der richtigen Gestalt sich völlig durchdringen, so in falscher Beschaffenheit sich beeinträchtigen, ja ausschließen. Wer an dem Falschen, Fehlerhaften Wohlgefallen empfindet, ist für die Empfindung des Lächer= lichen, welche mit diesem Fehlerhaften als solchem verknüpft ist, natürlich verschlossen; vielleicht wird ihm das entgegengesetzte Richtige und Gesunde als lächerlich erscheinen, aber ein solches Lachen wird ─ eine unausbleibliche Folge seines inneren Widerspruchs gegen die Wahrheit und Harmonie der Dinge ─ nicht freudig und erheiternd, klärend und befreiend sein, sondern jederzeit von den unreinen Beimischungen des Mißwollens und Verdrusses, des Dünkels und der Eitelkeit, hochmütiger Überhebung und mißachtender Verbitterung durchdrungen. Ebenso wird, wer das Gesunde und Richtige, das Wohlgefällige und Liebenswerte als Fehlerhaftes verlacht, nicht allein für die Freude daran unempfindlich sein, sondern sein Wohlgefallen wird sich auf das Fehlerhafte lenken, und statt eines Borns der edelsten Erquickung werden seine Freuden ihm eine Quelle der Erkrankung und des Übels sein. Noch weiter läßt sich die Parallele und der Gegensatz zum Tragischen verfolgen. Der tragische Held soll uns menschlich verwandt sein ─ ein ὅμοιος ─, weder ein Bösewicht noch gänzlich schuldlos, soll er sein Verhältnis zwar keineswegs durch eigene Schuld verdienen, wohl aber soll dasselbe mit einem Fehler, einem Jrrtum ─ ἁμαρτία ─ seiner Handlungsweise in ursächlichem Zusammenhange stehen. Ganz ebenso verlangt das Komische des Betragens und der Handlungsweise einen uns Ähnlichen, der weder tadellos noch böse ist, aber umgekehrt wie in der Tragik ist die Hamartie, das fehlerhafte Handeln, hier nicht Mittel, sondern Gegenstand der Darstellung, und die schlimmen Folgen desselben, welche dort der eigentliche Gegenstand der Darstellung sind, werden hier entweder ganz abgewendet, oder bleiben doch harmlos und dürfen nie zum Verderben ausschlagen. Die Jrrtümer, Schwächen und Fehler des Handelns werden um so sicherer und deutlicher als solche empfunden werden, je mehr sie von jedem andern Jnteresse in der Darstellung gesondert gehalten werden; ein Umstand, welcher die Erklärung dafür enthält, warum das Komische mit so großer Vorliebe auf dem Boden des Phantastischen sich ansiedelt. Aber auch unter den Voraussetzungen der Wirklichkeit bedarf die komische Darstellung eines solchen Verlaufs der einfachen Handlung oder ist genötigt, sich derartiger Verwickelungen zu bedienen, daß die möglichen schlimmen Konsequenzen des Fehlerhaften zwar bemerkt werden, aber nicht eintreten. Aus alledem ergibt sich als Hauptregel, daß die bösen und schlimmen Fehlerhaftigkeiten und Deformitäten, die moralischen Vergehungen mit ihren äußeren Folgen, nicht Gegenstände des Komischen sein dürfen: wie die Handelnden in jedem Falle solcher Fehler sich völlig bewußt sind, so kann ihre Darstellung auch niemals eine Klärung des Em= pfindens bewirken, sondern immer nur die Beleidigung desselben. Dagegen sind vorzugsweise diejenigen Fehlerhaftigkeiten und Deformitäten die komischen Gegenstände, welche ihren Trägern unbewußt sind oder von ihnen doch als solche keineswegs betrachtet werden; nur über solche kann auch die Empfindungsweise der Wahrnehmenden im Schwanken sein und eine unmittelbare und völlige Klärung des Empfindens wird in Bezug auf solche jederzeit mit Freude verbunden sein. Da aber die so Handelnden als uns menschlich ähnlich erscheinen sollen, so wird jener Zweck in um so höherem Grade erreicht werden, wenn die so bezeichneten Fehlerhaftigkeiten nicht schlechtweg nur als solche vorgeführt werden, sondern im Zusammenhange mit der Gesamtheit ihres Wesens, vorzüglich mit den positiven Seiten desselben. Es wird dadurch zugleich dem Empfinden deutlich, wie der Handelnde in der Lage ist, sein Negatives für ein Positives halten zu können, und es tritt zu der Darstellung des Lächerlichen die ergänzende und klärende Darstellung des Wohlgefälligen hinzu. Hierin liegt auch der bedeutende Unterschied, der oft nicht beachtet wird, zwischen dem bloß Lächerlichen und dem echt Komischen, das auch durch die deutsche Bezeichnung des Lustigen nicht adäquat wiedergegeben wird, eher noch durch die der heiteren Darstellung. Je mehr der Träger des Lächerlichen uns „ ähnlich “ ─ ein ὅμοιος ─ bleibt, je mehr von unserer Achtung, ja von unserer Liebe ihm erhalten wird, jemehr somit neben dem Lachen das Wohlgefallen in Geltung treten kann, desto reicher, tiefer und edler ist die komische Darstellung. Nur so kann eine weiter ausgeführte komische Handlung, sei sie episch oder dramatisch dargestellt, auf der künstlerischen Höhe bleiben. Die technischen Forderungen der Gattung fallen übrigens dabei mit dem allgemeinen Gesetz der poetischen Kunst, welches innere Wahrheit der Gestalten und Übereinstimmung der Handlungen mit derselben verlangt, zusammen: ein Charakter, der nur aus Fehlern besteht oder in allen seinen Äußerungen nichts als nur immer denselben Fehler aufweist, ist entweder menschlich unwahr oder, sofern im Leben eine solche Unterjochung des Willens und des gesamten Wesens durch einen ausschließlich herrschenden Fehler denkbar ist, erscheint er je nach der Beschaffenheit desselben als furchtbar, mitleidswürdig, als gemein und abscheulich, in jedem Falle als das Komische zerstörend oder unter dem künstlerischen Niveau stehend. Kein Dichter hat ungestraft das Grundgesetz poetischer komischer Darstellung verletzt, welches neben der lächerlichen Wirkung als unentbehrliches Korrelat die wohlgefällige fordert. Anders steht die Sache, wo nicht die Haupthandlung und der Hauptcharakter, sondern Nebenfiguren und Nebenhandlungen in Frage kommen. Ganz verliert freilich jenes Hauptgesetz auch hier seine Geltung nur in selteneren Fällen, aber wie in größeren Farbenkompositionen auch grelle und, für sich allein angesehen, harte, ja unleidliche Farbenwirkungen um des Kontrastes willen nicht allein gelitten, sondern gefordert werden können, so sind in größeren komischen Dichtungen rein negativ lächerliche Figuren und Handlungen, ja solche, die, für sich allein genommen, ins Niedrige und Gemeine fallen, nicht allein möglich, sondern sie können den Gesamtzweck des Dichters höchst wesentlich fördern, sofern dasjenige, was jenem Hauptgesetz nach sonst in einer und derselben Person und Handlung organisch vereinigt sein soll, nun hier gleichsam als in dem großen Organismus der Gesellschaft nebeneinanderstehend in verschiedenen Personen und Handlungen auseinandergelegt ist, sofern also das jenen Elementen entgegengesetzte Schöne und Edle zu rein wohlgefälliger Wirkung in innerlich fest zusammenhängender Handlung hervortritt. Dies ist das große Geheimnis des wundervollen Reizes der Shakespeareschen Lustspiele, ihrer klärenden und erhebenden, ihrer echt erheiternden und im höchsten Grade das Lachen erregenden Wirkung, ein Geheimnis, das ebenso in der Schönheit und Kraft der Jngredienzien als in der Feinheit ihrer Mischung besteht, und welches keiner ihm abgelernt hat. Der pfuscherhaften Nachbildungen freilich gibt es genug. Es verlohnt der Mühe einen Blick auf die verschiedenen Abirrungen zu werfen, die nach- und nebeneinander auf dem Gebiete der komischen Dichtung stattgefunden haben, und die am besten am Lustspiel sich verfolgen lassen, da die epische Komik außer im Roman nur sehr wenig kultiviert ist; es zeigt sich darin, ganz ähnlich wie bei der Tragödie nur noch unbewußter, ein instinktives Anerkenntnis der die Komposition gleichsam als Brennpunkte regulierenden Darstellungszwecke. Für das Tragische sind dieselben die vereinigten Empfindungen der Furcht und des Mitleids. Der französische Klassicismus trennte dieselben und bevorzugte dann weit überwiegend die zum Schrecken ( terreur ) entstellte Furcht als Regulativ für die Komposition seiner Tragödien. Jn dem dagegen sich Bahn brechenden Rückschlag der bürgerlichen Tragödie der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wird umgekehrt das vereinzelte Mitleid, das eben darum zum peinlichen Mitgefühl mit fremdem unverschuldeten Elend entstellte, zum formgebenden Faktor; und als nun Lessing, auf Aristoteles zurückgehend, die richtigen Vorstellungen von der tragischen Furcht und dem tragischen Mitleid wieder herstellt, begeht er doch den bedeutenden Fehler, die Furcht als im tragischen Mitleid schon enthalten aufzufassen und so gewissermaßen, wenn auch unabsichtlich, als selbständigen, tragisch wirkenden Faktor, wenn nicht zu eliminieren, so doch sehr verhängnisvoll einzuschränken. Schiller macht in seiner Theorie des Tragischen diesen Fehler nicht nur mit, sondern er verstärkt ihn erheblich und macht ihn geradezu zum Princip. Goethe freilich ging wenig beirrt durch die Theorie den Weg seines Genies, und auch in Schiller war die poetische Kraft stärker als der Fehler des Systems: dennoch, wenn beide hinter der tragischen Wucht der Alten und Shakespeares zurückstehen, kann die Theorie diesen Mangel nur aus der Schwächung jenes zweiten Hauptfaktors der tragischen Wirkung, aus der eingeschränkten Macht= und Geltungssphäre der tragischen Furcht innerhalb der Komposition der Tragödie erklären. Vollends bei den bloßen Talenten und den unteren Graden derselben geht aus diesem Grundfehler der Theorie eine abermalige völlige Begriffs- und Geschmacksverwirrung hervor: für lange Zeit ist die tragische Bühne von dem bloßen Bestreben berrscht, den Jammer darzustellen und die Rührung zu erwecken. Dieselbe Rolle spielen, gleichsam als die Pole der Bewegung, in der Komödie die Empfindungen des Lachens und des Wohlgefallens ( γέλως und ἡδονή ). Bei Shakespeare ihre untrennbare Vereinigung und die völlige gegenseitige Durchdringung ihrer Wirkungssphären: dagegen bei Molière, dem Meister der französischen klassischen Komödie, das entschieden einseitige Vorherrschen des einen Faktors des, lediglich negativen, Lächerlichen, am augenfälligsten in seinem Avare , aber auch sonst, wenn auch nicht so völlig ungemildert, durchweg. Jn dieser einseitigen Gattung geht das heitere Lachen entweder in das mehr oder minder dem satirischen Tadel ( ψόγος ) sich nähernde Verlachen über oder in die ausgelassene Hingabe an das Lächerliche der Karikatur, des Skurrilen, Burlesken, Possenhaften; nur einmal ist Molière über dieses Genre entschieden hinausgegangen, im Misanthrope , aber bei aller Wahrheit und Feinheit dieses in vieler Beziehung vortrefflichen Stückes, und obwohl in dem Hauptcharakter die positiven Seiten durchaus überwiegen, ist die Empfindung, mit der die Handlung den Zuschauer entläßt, keineswegs die gehobene, geklärte Stimmung, welche das echte Lustspiel erzeugt, sondern ein Schwanken zwischen Mißbilligung und Mitleiden und ein Unwille, welcher der pessimistischen Resignation des Titelhelden fast ein Recht zuzugestehen geneigt ist. An den Ernst dieses Stückes vornehmlich hat die im achtzehnten Jahrhundert in Frankreich einsetzende Entwickelung des genre sérieux angeknüpft: man machte nun Komödien, in denen das negativ Lächerliche fast ganz verschwand und gegenüber dem Druck einer verwirrenden oder feindseligen Jntrigue oder Verwickelung nur die positiven Eigenschaften sich zu entfalten Gelegenheit erhielten, also statt des reinen und heiteren Wohlgefallens Rührung erzielt wurde. Jn der That war die Comoedia commovens oder, wie man sie spottweise nannte, comédie larmoyante von dem bürgerlichen Trauerspiele fast einzig durch den glücklichen Ausgang unterschieden. Erst Lessing hat in seiner Minna von Barnhelm mit der Weisheit des Meisters wieder die beiden Träger des echten Lustspiels, das Lächerliche und das Wohlgefällige, zur Verschmelzung zu bringen gesucht; freilich läßt sich nicht leugnen, daß er die komische Kraft der Shakespeareschen Lustspiele nicht erreicht, und daß die Zaubergewalt ihrer reinen Schönheit der Lessingschen Dichtung bei all ihrem Herzerfreuenden und Gemüthstiefen versagt ist. Blickt man dagegen zurück auf das vor=Lessingsche deutsche Lustspiel, so zeigt sich da die ganze Niedrigkeit und Ärmlichkeit der ausschließlich negativen Auffassung des Komischen. Zu geschweigen von der widerlichen Mischung aus Plattheit und Gemeinheit in den Produkten des Gottschedschen Kreises, seiner „geschickten Freundin“ selbst und eines Quistorp, Mylius, Krüger: welche Schalheit und Flachheit auch in den Stücken eines Elias Schlegel, der alle jene so weit überragt! Selbst in dem weitaus besten derselben, welches sogar die ersten Spuren der Erhebung aus jener Dürftigkeit der komischen Darstellung enthält und wohl um dessentwillen selbst von der Kritik eines Moses Mendelssohn und Lessing so hoch erhoben wurde, in dem „ Triumph der guten Frauen, “ ist die Wirkung des Lächerlichen zum größten Teil in die Darstellung grober moralischer Vergehungen gelegt; die innere Wahrheit fehlt in den Voraussetzungen wie im Verlauf der Handlung, und die Art, wie die Verletzungen der ehelichen Treue, um welche die Handlung des Stückes sich dreht, eben nur ins Licht gesetzt und wie sie sodann als ausgeglichen angesehen werden, bewirkt weit eher Mißstimmung als Belustigung. Noch unter dem Niveau Elias Schlegels und wenig über dem seiner Vorgänger steht die Gattung, als deren Vertreter man am besten Gellert bezeichnen kann. Mit einer ebenso schalen und dürftigen Art des Lächerlichen, das er überall nur unter dem Gesichtspunkt des sittlich Fehlerhaften erblickt, ist er bestrebt ein positives Element zu verbinden, als welches er natürlich von seinem Standpunkte nur das Moralische ansehen kann. Wie das Absurde und sittlich Häßliche für das Lächerliche, so tritt die Moral als Surrogat für das Wohlgefällige ein, aus beidem aber ergibt sich eine Kompositions- und Darstellungsmanier, die wie keine andere einer Anschauungsweise, welche in der Poesie vor allem das Lehrhafte und moralisch Bessernde suchte, entgegenkam: daher die große Vorliebe der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, die in einzelnen Ausläufern noch bis gegen das Ende desselben sich erstreckte, für die dramatische und für alle Arten der epischen Darstellung des Komischen. Auch Lessings Theorie ist noch in dieser moralischen Betrachtung des Komischen befangen, nicht allein in seinen Jugendschriften, wo er im ersten Stück der theatralischen Bibliothek diese Ansicht des breiteren ausführt, Vgl. das von ihm der Übersetzung von Chassirons und Gellerts Abhandlungen „Über das rührende oder weinerliche Lustspiel“ hinzugefügte Nachwoert (L. M. IV, S. 156 ff.), welches außer diesem negativen aber auch ein bedeutendes positives Jnteresse einzuflößen geeignet ist. Es heißt dort: „Jch getraue mir zu behaupten, daß nur dieses allein wahre Komödien sind, welche sowohl Tugenden als Laster, sowohl Anständigkeit als Ungereimtheit schildern, weil sie eben durch diese Vermischung ihrem Originale, dem menschlichen Leben, am nächsten kommen. Die Klugen und Thoren sind in der Welt untermengt, und ob es gleich gewiß ist, daß die ersteren von den letzteren an Zahl übertroffen werden, so ist doch eine Gesellschaft von lauter Thoren beinahe ebenso unwahrscheinlich als eine Gesellschaft von lauter Klugen. Diese Erscheinung ahmt das Lustspiel nach, und nur durch die Nachahmung derselben ist es fähig, dem Volke nicht allein das, was es vermeiden muß, auch nicht allein das, was es beobachten muß, sondern beides zugleich in einem Lichte vorzustellen, in welchem das eine das andre erhebt. Man sieht leicht, daß man von diesem wahren un deinigen Wege auf eine doppelte Art abweichen kann. Der einen Abweichung hat man schon längst den Namen des Possenspiels gegeben, dessen charakteristische Eigenschaft darinnen besteht, daß es nichts als Laster und Ungereimtheiten mit keinen andern als solchen Zügen schildert, welche zum Lachen bewegen, es mag dieses Lachen nun ein nützliches oder ein sinnloses Lachen sein. Edle Gesinnungen, ernsthafte Leidenschaften, Stellungen, wo sich die schöne Natur in ihrer Stärke zeigen kann, bleiben aus demselben ganz und gar weg; und wenn es außerdem auch noch so regelmäßig ist, so wird es doch in den Augen strenger Kunstrichter dadurch noch lange nicht zu einer Komödie. Worinne wird also die andre Abweichung bestehen? Unfehlbar darinnen, wenn man nichts als Tugenden und anständige Sitten mit keinen andern als solchen Zügen schildert, welche Bewunderung und Mitleid erwecken, beides mag nun einen Einfluß auf die Besserung der Zuhörer haben können oder nicht. Lebhafte Satire, lächerliche Ausschweifungen, Stellungen, die den Narren in seiner Blöße zeigen, sind gänzlich aus einem solchen Stücke verbannt. Und wie wird man ein solches Stück nennen? Jedermann wird mir zurufen: das eben ist die weinerliche Komödie! Noch einmal also mit einem Worte: das Possenspiel will nur zum Lachen bewegen; das weinerliche Lustspiel willnur rühren; die wahre Komödie will beides ... die wahre Komödie allein ist für das Volk, und allein fähig einen allgemeinen Beifall zu erlangen und folglich auch einen allgemeinen Nutzen zu stiften. Was sie sondern auch in der Dramaturgie, wo an den wenigen Stellen, welche von der Komödie handeln, gleichfalls ihre „nützliche“, bessernde Wirkung betont ist. Die Hauptstellen sind die im 28. und 29. Stück der Dramaturgie (L. M. VII, S. 121, 122): „Wo steht es denn geschrieben, daß wir in der Komödie nur über moralische Fehler, nur über verbesserliche Untugenden lachen sollen? Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität ist lächerlich. Aber lachen und verlachen ist sehr weit auseinander. Wir können über einen Menschen lachen, bei Geegenheit seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu verlachen. So unstreitig, so bekannt dieser Unterschied ist, so sind doch alle Schikanen, welche noch neuerlich Rousseau gegen den Nutzen der Komödie gemacht hat, nur daher entstanden, weil er ihn nicht gehörig in Erwägung gezogen. Molière, sagt er z. E., macht uns über den Misanthropen zu lachen, und doch ist der Misanthrop der ehrliche Mann des Stückes; Molière erweiset sich also als einen Feind der Tugend, indem er den Tugendhaften verächtlich macht. Nicht doch; der Misanthrop wird nicht verächtlich, er bleibt, wer er ist, und das Lachen, welches aus der Situation entspringt, in die ihn der Dichter setzt, benimmt ihm von unserer Hochachtung nicht das geringste.“ ─ ─ Und ferner: „ Die Komödie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen; nicht gerade diejenigen Unarten, über die sie zu lachen macht, noch weniger bloß und allein die, an welchen sich diese lächerlichen Unarten finden. Jhr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der Übung unserer Fähigkeit das Lächerliche zu bemerken; es unter allen Bemäntelungen der Leidenschaft und der Mode, es in allen Vermischungen mit noch schlimmeren oder mit guten Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes leicht und geschwind zu bemerken. Zugegeben, daß der Geizige des Molière nie einen Geizigen, der Spieler des Regnard nie einen Spieler gebessert habe: eingeräumt, daß das Lachen diese Thoren gar nicht bessern könne: desto schlimmer für sie, aber nicht für die Komödie. Jhr ist genug, wenn sie keine verzweifelte Krankheiten heilen kann, die Gesunden in ihrer Gesundheit zu befestigen. Auch dem Freigebigen ist der Geizige lehrreich; auch dem, der gar nicht spielt, ist der Spieler unterrichtend; die Thorheiten, die sie nicht haben, haben andre, mit denen sie leben müssen; es ist ersprießlich, diejenigen zu kennen, mit welchen man in Kollision kommen kann; ersprießlich, sich wider alle Eindrücke des Beispiels zu verwahren. Ein Präservativ ist auch eine schätzbare Arznei; und die ganze Moral hat kein kräftigeres, wirksameres als das Lächerliche .“ Doch kann es dem tiefer Blickenden nicht entgehen, daß der Tribut, den Lessing hier seiner Zeit zollte, mehr im Ausdruck als in der Sache liegt: wie sehr er im Grunde der grob moralischen Auffassung abhold war, und wie sehr es ihm auch in der Komödie vor allem auf die Handlung als solche ankam, zeigt auch die folgende Stelle im 99. Stück der Dramaturgie ( cf. L. M. VII , S. 407): bei dem einen nicht durch die Scham erlangt, das erlangt sie durch die Bewunderung; und wer sich gegen diese verhärtet, dem macht sie jene fühlbar. Hieraus scheint die Regel des Kontrastes oder der Abstechung geflossen zu sein, vermöge welcher man nicht gern eine Untugend aufführt, ohne ihr Gegenteil mit anzubringen; ob ich gleich gerne zugebe, daß sie auch darinne gegründet ist, daß ohne sie der Dichter seine Charaktere nicht wirksam genug vorstellen könnte.“ „Jch weiß überhaupt nicht, woher so viele komische Dichter die Regel genommen haben, daß der Böse notwendig am Ende des Stückes entweder bestraft werden oder sich bessern müsse. Jn der Tragödie möchte diese Regel noch eher gelten; sie kann uns da mit dem Schicksale versöhnen und Murren in Mitleid kehren. Aber in der Komödie, denke ich, hilft sie nicht allein nichts, sondern sie verdirbt vielmehr vieles. Wenigstens macht sie immer den Ausgang schielend und kalt und einförmig. Wenn die verschiedenen Charaktere, welche ich in einer Handlung verbinde, nur diese Handlung zu Ende bringen, warum sollen sie nicht bleiben, wie sie waren? Aber freilich muß die Handlung sodann in etwas mehr als in einer bloßen Kollision von Charakteren bestehen.“ Da also Lessing eine bündige Theorie des Komischen und der Komödie nicht aufgestellt hatte, und da auch Goethe und Schiller im Lustspiel nicht Wege bahnend und Ziel weisend auftraten, so kann es nicht Wunder nehmen, daß das einzig dastehende Beispiel der Minna von Barnhelm der sogleich wieder eintretenden und immer zunehmenden Verwirrung nicht wehrte; das eine Anerkenntnis freilich blieb als Ergebnis der Gesamtentwickelung in Geltung, daß gegenüber dem negativen Pol des Lustspiels dasselbe des positiven nicht entbehren dürfe. Doch genügt es der beiden Hauptvertreter des nach=Lessingschen Lustspiels zu gedenken, Jfflands und Kotzebues, um sich zu erinnern, wie die alten Mißgriffe ihre Herrschaft behaupteten: an Stelle des reinen Ästhetisch-Lächerlichen in den meisten Fällen das moralisch Häßliche, Widrige oder Schale, Abgeschmackte, Kleinlich-Absurde, im besten Falle das bloß Witzige, Verstandes-Lächerliche, an Stelle des Wohlgefälligen das Moralisierende, vulgär Rührselige; da der Begriff der richtigen, inneren organischen Verbindung der beiden Grundelemente fehlte, mit ihm die Erfassung ihrer gegenseitigen Katharsis als der Hauptaufgabe des Dichters, nach der Plan und Entwickelung der komischen Handlung sich zu gestalten haben, so trat auf beiden Seiten Entartung ein. Damit wäre die Untersuchung über das Wesen des Komischen und die Gesetze seiner poetischen Darstellung zu ihrem Ausgangspunkte zurückgekehrt: so schwierig die poetische Gestaltung des echt Komischen ist, dergestalt, daß sie nur selten, unter ganz besonders günstiger Konstellation der bestimmenden Faktoren vollkommen gelungen ist, so sehr mußte der mißbräuchlichen Auffassung dieser Darstellungs-Gattung diejenige Anschauung der Poesie verwandt und günstig sein, welche während des größten Teiles des achtzehnten Jahrhunderts allenthalben die herrschende war. Für die Abschilderung des Fehlerhaften und Deformen boten sich in dem rings umgebenden täglichen Leben hundert- und tausendfach die Vorbilder, umsomehr da man ohne viele künstlerische Wahl fast alle Arten von Fehlern für die komische Dichtung verwenden zu dürfen glaubte. Man gewann damit wenigstens eine relative Wahrheit und einen höheren Grad von Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit der Erzählung; ferner stellten sich leicht allerlei witzige Wendungen und mannigfache satirische Anspielungen als Würze auch des an sich völlig Unschmackhaften ein; endlich glaubte man durch Hervorhebung der Fehler, Untugenden und Laster am besten dem großen Hauptzweck der Poesie, die Menschen zur Besserung zu führen, dienen zu können und diesen Zweck um so sicherer durch die ausdrückliche Beifügung der Moral und durch möglichst grell hervorgehobene erbauliche oder rührende Züge von Rechtlichkeit, Tugend und Edelmut zu erreichen. Zu einer Zeit, als alle Epik so gut wie ganz erstorben war, begann auf dem so umschriebenen Gebiete ein fleißiger Anbau, zunächst in Versuchen von geringem Umfange, dann aber auch in weiterer Ausführung, und indem hierbei, durch die Muster des Auslands gefördert, die Technik des Erzählens sich vervollkommnete und die Lust daran wuchs, begann allmählich die Erzählung der Handlung als solche, wenn auch immer noch an die moralisierende Tendenz geknüpft, über dieselbe die Oberhand zu gewinnen, und man gelangte auf solche Art in der Epik zu einer Kunstübung, die, wenn sie auch von der echten Poesie noch weit abstand, doch viele wesentliche Vorzüge derselben in sich vereinigte. Auf dieser Stufe stellt sich in den siebziger und achtziger Jahren die eigenartig aus feinsinniger Beweglichkeit und einer gewissen, etwas altväterisch nüchternen, Steifheit gemischte Erscheinung Wielands dar. ────── XV. Die unvergleichliche Popularität Gellerts beruht auf seiner, im Sinne der Zeit und ihres poetischen Standpunktes, überaus geschickten Handhabung der komischen poetischen Erzählung, denn daß die überwiegende Mehrzahl seiner Gedichte dieser Gattung zugehört und nicht der eigentlichen Fabel, ist nach dem Vorhergehenden klar. Die Gattung ist nicht neu: es ist die dem Geschmack der Zeit angepaßte Einrichtung des alten „ Schwankes “ des Meistersängers Hans Sachs. Zu Grunde liegt als Stoff das Material, das an Anekdoten und einzelnen komischen Zügen, Apophthegmen, Geschichten sich jahrhundertelang angehäuft hatte und in den zahlreichen Sammlungen namentlich des sechzehnten Jahrhunderts aufgespeichert lag, und das dem Erfindungsgeiste des einzelnen Dichters nach allen Richtungen reichlichen Anlaß zu Erweiterungen, Umbildungen, Nachahmungen im Sinne seiner Zeitverhältnisse gewährte. Das Dichtungsmotiv ist hier überall, das Lächerliche durch die Darstellung zur Geltung zu bringen. Alles kommt also darauf an, in welcher Weise das geschieht, ob in bloß witziger Art für den Verstand, oder in lehrhafter Absicht für die Erkenntnis, in moralischer Tendenz für die Vernunft, um Besserung zu bewirken, oder in künstlerischer Absicht, also der einzig poetischen Art und Weise, für die ästhetische Beurteilung, um die wohlgefällige Empfindung, die Freude an dem Lächerlichen als solchem zu erwecken. Nur die letzte Art ist die echte und rein epische, da hier die Handlung nur um ihrer selbst willen erzählt wird und nur durch sich selbst wirkt. Jn seinen besten und noch heute verbreitetsten Stücken hat Gellert sich dieser poetischen Art „schwankweise“ zu erzählen genähert; wie weit er gleichwohl von den guten Mustern der Gattung entfernt bleibt, erkennt man am besten, wenn man eine seiner bekanntesten und beliebtesten Erzählungen, die schon bei Hans Sachs sich findet, „ Der Bauer und sein Sohn “, mit dem Original vergleicht: alle seine Änderungen bedeuten Verschlechterungen, in jedem Detail ist die Motivierung bei Sachs feiner und überzeugender, durchweg ist die Darstellung frischer, individueller und unabsichtlicher, eben darum epischer und bei weitem ergötzlicher. Der Schwank Hans Sachsens trägt die Ueberschrift: „ Der verlogen Knecht mit dem großen Fuchs “, er sei zum Vergleich hier angeführt: Ein edelmann in Schwabenlant, des gschlecht und nam sie ungenant, ein frommer man, weis und gerecht, der hat ein verlognen reitknecht, rumredig mit gschwülstigen worten, die lant durchloffen an vil orten, het auch, wie ein alt sprichwort sagt, ein hunt durch das Welschland gejagt; darvon tet er groß wunder jehen, wie er het diß und jens gesehen, darvon groß brocken er narrirt, und log, sam wer ims maul geschmirt. sein junkher war ein weltweis man, tet sein rumredig lüg verstan, sagt oft spotweis, wie mag das sein? so schwur der knecht dann stein und bein, solichs und solches wer geschehen, er hets mit sein augen gesehen; doch wurt er oft mit worten gfangen, das er blib in der lug behangen. darnach der knecht nichts fragen tet, weil er der lug gewonet het, doch war er sonst diensthaft durchaus. eines tages frü ritten sie aus, da sah der junkher in dem walt dort laufen einen fuchsen alt und sprach: schau, schau ein großer fuchs! der knecht sah den und antwort flugs: junkher, habt ir ob dem fuchs wunder? ich bin gwest in eim lant besunder, darinnen die füchs so groß sint als in unserm lant ochse und rint. der junkher sprach: da sint auf glauben gut futtern die röck und die schauben, wenn man im lant ein kürsner fünt, der die belg wohl bereiten künt. da nun der red geschwigen wart, der edelman erseufzet hart und sprach: Herr Got, ste uns heut bei auf dieser straß, damit wir frei beleiben von allerlei lügen, auf das wir sicher kommen mügen durch das waßer mit unserm leben, und tu uns heut gut herberg geben. der knecht sprach: junkher, saget frei, wo das groß ungestüm waßer sei, vor dem ir euch gesegnet schlecht? der junkher sprach: hör, lieber knecht, ein groß waßer fleußt dort von weiten, dadurch so müßen wir heut reiten, das hat die kraft, welicher man denselben tag ein lug hat tan, der muß in dem waßer ertrinken, verderben und zu boden sinken. der knecht erschrak ob disen worten, und als sie ritten an den orten, kamen sie an ein großen bach. der knecht zu dem junkheren sprach: o junkher, sagt, ist das der fluß, drin ein lügner ertrinken muß? da sagt durch list der edelman: nein, wir sint noch gar ferr darvon. der knecht sprach: herr, darumb ich frag, auf das ich euch die warheit sag, ich het mich heut weit überdacht und meinen fuchs zu groß gemacht, er war nur so groß seiner höch als von einem hirschen das rech. Jn Oberdeutschland für Hirschkuh, Ricke . der junkher sprach: ich bin sorglos, der fuchs sei gwest klein oder groß; merkt wohl des knechts heimlich grisgramen. nachdem sie an ein waßer kamen, da sprach der knecht: junkher, ists das waßer, so trägt dem lügner haß? der herr sprach: nein, das ists auch nicht. darauf der knecht sprach: nemt bericht des fuchsen heut noch meinethalb, der war nit größer denn ein kalb, auf das im waßer ich beste. der junkher sprach: ich frag nit me nach deim fuchs, sei groß oder klein. nach dem kamens sie beid gemein an ein waßer, da der knecht fragt: ist diß das waßr, davon ir sagt heut frü, drin die lügner ertrenken? so ich des fuchs tu recht bedenken, ist er nicht größer gwesen sider, denn bei uns hir ist ein schafwider. der junkher sprach: das waßr ists nicht. nach dem zu vesperzeit gericht kamen sie an ein waßer, floß gar schnell mit wellen breit und groß. der knecht fragt, obs das waßer wer, darvon frü hat gesaget er. der junkher sprach: das ist das recht. ob dem waßer erschrak der knecht, weil er sach weder bruck noch schif; der angstschweiß übr sein angsicht lif, zittert beide an füß und henden. als sie zum waßer teten lenden, da sagt der verlogen knecht: mein lug muß ich bekennen schlecht, der fuchs, den ich so groß bescheit, der war nicht größer auf mein eit denn der heutige fuchse alt, den wir frü sahen in dem walt. des schwanks lachet der junkher ser und sprach zu seinem knecht: so schwer ich dir, daß dieses waßer pur hat kein ander kraft und natur als andre waßer in der nehen, die wir vor haben heut gesehen. darmit nam ir gesprech ein ent, schwemmten übers waßer behent. Die großen Vorzüge von Sachsens Dichtung im Einzelnen nachzuweisen dürfte überflüssig sein; es sei nur auf die Feinheit hingedeutet, mit der das Verhältnis zwischen dem „frommen, weisen und gerechten“ Edelmann und seinem „rumredig verlogenen“ Knecht exponiert ist, von dem wir doch auch erfahren, daß „ er sonst diensthaft durchaus “ war; durch diesen Zug ist das Jnteresse an dem Träger des lächerlichen Hamartema und an der Kur, die sein Herr an ihm vornimmt, um ein Bedeutendes gesteigert; und nun gar das Geschick, mit dem dieselbe durchgeführt ist, die kunstreiche Steigerung der Spannung, bis zuletzt gegen Abend sie an das „rechte waßer“ kommen, das „gar schnell mit wellen breit und groß“ einherfloß, so daß dem Knecht, „weil er sach weder bruck noch schif, der angstschweiß über sein angsicht lif, zittert beide an fuß und henden“. Dagegen bei Gellert der „gute, dumme Bauerknabe, den Junker Hans einst mit auf Reisen nahm, und der, trotz seinem Herrn, mit einer guten Gabe, recht dreist zu lügen, wieder kam“, und die ärmliche, keiner weiteren Entwickelung fähige, Erfindung des verhängnisvollen Steins auf der Brücke! Auch die Art, wie beide die Moral aus der Geschichte ziehen, ist höchst charakteristisch: Hans Sachs begnügt sich in seinem „Beschluß“ das Fehlerhafte des Lügens nun noch ausdrücklich als solches ins Licht zu setzen und eine Warnung davor hinzuzufügen: Bei diesem schwank verstet man wol, ein mensch mit fleiß sich hüten sol vor lügen, es ist ein groß schant, wann welch mensch des lügens gewant (gewohnt) und het ein ungehebe (ungebundene) zungen, wirt oft zu widerrufen zwungen, des er an der lügen bestet (stecken bleibt) und schamrot mit spot darvon geht u. s. w. Gellert statt dessen will aus dem Ganzen nur die „ nützliche Lehre “ entnommen wissen: Du mußt es nicht gleich übel nehmen, Wenn hie und da ein Geck zu lügen sich erkühnt. Lüg' auch, und mehr als er, und such' ihn zu beschämen, So machst du dich um ihn und um die Welt verdient . Mitunter hält sich Gellert auch von dieser lehrhaften Miene frei und scheint sich ganz der Lust am Erzählen hinzugeben; aber das geschieht mit um so mehr Behagen, je mehr er sich in die Enge des philiströsesten Kleinlebens begibt, und leider tritt hier oft an die Stelle des Anmuthigen und der maßvollen Feinheit, welche dieses Genre allein erträglich machen können, das Niedrige und Triviale; man vergleiche in dem sonst so wohlgelungenen Stück „Die Widersprecherin“ die äußerst geschmacklose Schilderung der wuthentbrannten Jsmene, ferner Gedichte wie „Lisette“, „Die kranke Frau“, „Der zärtliche Mann“, „Die Mißgeburt“ und viele ähnliche. Sicherlich hat er mit diesen breit ausgemalten Erzählungen bei seinen Zeitgenossen den meisten Beifall gefunden, doch sind ihm ganz im Gegensatze dazu die in knappster Kürze gehaltenen bei weitem am besten gelungen; so der „Maler“, den er nicht umsonst bei seiner berühmten Unterredung mit Friedrich dem Großen zum Vortrage wählte, „Der glückliche Dichter“, bei dem nur die ganze Einleitung zu streichen wäre, „Die Bauern und der Amtmann“, und solche, deren komische Kraft lediglich in der Schlußwendung liegt, die sich damit also dem Epigrammatischen nähern, wie „Der Greis“, „Der Selbstmord“, „Der gute Rat“, „Der Jüngling und der Greis“. Mögen nun aber diese verschiedenen Arten der komischen Erzählung mehr oder weniger von den guten Mustern der Gattung entfernt sein, nirgends kann es fraglich sein, daß sie vor den ernsten Erzählungen Gellerts sämtlich bei weitem den Vorrang verdienen, vor der Schwächlichkeit und Jnsipidität solcher Erfindungen wie „Der arme Greis“ („Um das Rhinoceros zu seh'n“ u. s. w.) oder „Amynt“, wo als preiswerte Tugend vorgeführt wird, daß jemand, trotzdem er in Not ist, sich weigert, für Geld falsches Zeugnis abzulegen. Wie oben schon angedeutet, ist diese Erscheinung eine allgemeine; der Grund derselben wird sich mit Leichtigkeit ableiten lassen, wenn es gelingt, die Definition der epischen Gattung und ihrer Hauptarten festzustellen. Dieselbe wird nach den bisherigen Entwickelungen auf die folgenden Grundlagen sich stützen müssen: Die Epik erzählt Handlungen und zwar als Gegenstand der Darstellung, nicht als Mittel derselben. Da Handlungen als solche der Gegenstand der Ethik sind, so ist ihr eigentlicher Nachahmungszweck die innere Handlung; da aber diese, um sich überhaupt ereignen und vollends um dargestellt werden zu können, der äußeren Handlung bedarf, so ahmt die Epik auch diese nach, aber um der inneren Handlung willen. Die Faktoren der inneren Handlung und damit also die Elemente ihrer Nachahmung sind die treibende Empfindung (Pathos), das den Handelnden erfüllende Ethos (die ihm als dauernder Besitz eigene Gemütsverfassung, welche, da sie eins der wesentlichsten und zwar das hervorstechendste Merkmal des Gesamtcharakters ist, häufig geradezu als Charakter bezeichnet wird) und die eigentlich den Akt der Handlung konstituierende Willensentscheidung (Entschluß, Prohairesis ). Die Elemente der äußeren Handlung sind die Begebenheiten und Schicksale, an denen jene Faktoren der inneren Handlung sich äußern, beweisen, erproben und somit auch in der Nachahmung zur Darstellung gelangen. Für die Nachahmung von Handlungen kommt es also zunächst darauf an, daß diese drei Bestandteile ─ also 1) das Pathos und Ethos, 2) die Prohairesis der Handlung, 3) die bedingenden äußeren Umstände für beides ─ vollständig in der Darstellung vorhanden sind, und daß sie ferner in völliger, gegenseitiger Uebereinstimmung mit und in organischer Zusammengehörigkeit zu einander dargestellt werden. Werden diese Bedingungen erfüllt, so genügt das für die Wahrheit und das Jnteresse der Erzählung, aber noch keineswegs für deren poetische Schönheit. Zu dieser wird vor allem erfordert, daß die Darstellung eines jeden jener drei Faktoren sich ausschließlich an das Vermögen der Aisthesis wende, also in der diesem Vermögen entsprechenden Weise eingerichtet sei, d. h. daß die Erzählung vermittelst der Vorstellungskraft sinnliche Wahrnehmung hervorrufe, und zwar nicht sinnliche Wahrnehmung schlechthin, sondern eine solche, welche unmittelbar und untrennbar mit einer Empfindungsentscheidung ─ einem ästhetischen Urteil ─ verbunden sei. Sodann aber wird für die künstlerische, schöne Darstellung ebenso notwendig erfordert, daß die Empfindungsentscheidung, welche zuletzt den Gesamtzweck der Nachahmung der inneren und äußeren Handlung bildet, eine wohlgefällige sei, daß sie also Freude errege, und zwar die richtige Freude, das ὀρθῶς χαίρειν . Die Entscheidung darüber, ob diese Freude die richtige sei oder nicht, erfolgt durch theoretische Untersuchung; sie wird nach objektiv und absolut geltenden Gesetzen, die vom „Geschmacksurteil“ nicht abhängen, gefällt und ist die Sache der wissenschaftlichen ästhetischen Kritik . Aus diesen Voraussetzungen lassen sich die Bestimmungen herleiten, welcher Art die Handlungen sein müssen, um für die epische Dichtung sich zu eignen, und wie sie darzustellen seien. Unter allen Umständen müssen sie nach ihrem Verlauf und Abschluß dazu eingerichtet sein, sei es direkt oder indirekt, unser Wohlgefallen zu erregen: ausgeschlossen müssen aber alle diejenigen sein, bei welchen dieses Wohlgefallen lediglich in der Billigung unseres moralischen Urteils oder der Zustimmung unseres Verstandesurteils gegründet ist. Nun sind aber einigermaßen beachtungswerte oder gar bedeutende Handlungen ─ sofern sie nicht von Kindern oder Wilden, sondern von bewußt handelnden Personen ausgehen ─ ohne die Thätigkeit des moralischvernünftigen Willens und des prüfenden und urteilenden Verstandes nicht zu denken, sie werden also, wenn man sie darstellt, auch zu einem größeren oder geringeren Teile dem betreffenden Forum der Beurteilung angehören. Andrerseits ist es klar, daß je stärker als bestimmender Faktor die Empfindung, das einzelne Pathos, oder die Gesinnungsweise, Gemütsart, Charakterbeschaffenheit, das Ethos auftritt, um desto mehr jene andern Faktoren zurücktreten, bis zu dem Grade, daß sie für die Wahrnehmung und damit für die Darstellung ganz zu verschwinden scheinen, indem sie nämlich in der zur ständigen Eigenart (Hexis) gewordenen Gesinnung, im Ethos also, schon enthalten und gewissermaßen darin aufgegangen sind. Solcher Art ist die Handlung des Glaukos bei dem Rüstungstausch mit Diomedes in der Jlias, alle Handlungen Siegfrieds in unsern Nibelungen sind mit diesem Stempel gezeichnet, oder die Handlungsweise der Freunde in Schillers „Bürgschaft“, wenn es z. B. dort heißt: „Und schweigend umarmt ihn der treue Freund und liefert sich aus dem Tyrannen“, ganz ebenso die Handlungsweise des Schillerschen „ Tell “; aber auch die Handlungen des „klugen und vielgewandten“ Odysseus tragen durchweg dieses Zeichen des Ethos, trotzdem an ihnen überall die verständige Berechnung mitarbeitet; dieselbe ist ihm, wie unser Sprachgebrauch es ausdrückt, „zur zweiten Natur“ geworden. Eben darum, durch die Unmittelbarkeit, durch welche die Reflexion ganz oder doch fast ganz in Wegfall kommt, tragen derartige Handlungen den Charakter der Naivetät und sind am ehesten bei den vollen und ursprünglichen Naturen früherer Zeitalter oder in möglichst unbeeinträchtigt erhaltener Einfachheit der Lebensverhältnisse aufzufinden und darzustellen. Dasselbe ist der Fall bei den Handlungen, welche ganz oder doch zum weit überwiegenden Teile aus dem Empfindungsimpulse, dem Pathos, hervorgehen; wie diese, namentlich wo die bedingenden Umstände bedeutender Art sind, häufig und schnell einen jähen und heftigen Charakter annehmen werden, so wird auch ihr äußerer Verlauf ein gewaltsamer sein und leicht werden verderbliche Folgen sich an sie knüpfen. Es mag schon hier der Hinweis eine Stelle finden, daß der viel umstrittene Satz im 24. Kapitel der Aristotelischen Poetik, wo der Jlias ein „ pathetischer “, der Odyssee ein „ ethischer “ Gesamtcharakter zugeschrieben wird, auf diesem Wege seine einfache Erklärung findet. Ganz in der geschilderten Weise handelte der Homerische Achilleus, durchweg durch leidenschaftliche Jmpulse bestimmt, so wie Horaz ihn geschildert wissen will: Impiger, iracundus, inexorabilis, acer Jura neget sibi nata, nihil non arroget armis . Und, wie er, so handelt die Mehrzahl der griechischen Helden in der Jlias; der gesamte äußere Verlauf der Ereignisse vom ersten Anbeginn bis zum Schlusse des in seinem Gesamtplan zu wundervoller Einheit gefügten Gedichtes erhält dadurch den Grundcharakter dessen, was Aristoteles das „ Pathetische “ nennt, nämlich des Leidvollen, Gewaltsamen, Verderblich-Schmerzlichen. Jm scharfen Unterschiede hiervon ist in der Odyssee das den Helden erfüllende Ethos bestimmend nicht allein für alle seine Handlungen, sondern auch für das Ganze und die Einzelnheiten des Verlaufs der Gesamthandlung, nicht minder ist in allen übrigen, das Wesentliche dieses Verlaufs mitbestimmenden Hauptfiguren das sie ihrerseits in ihren Haudlungen überall bestimmende Ethos entscheidend für den Gang und die endliche Entwickelung des Gedichtes: es würde genügen, nur Penelope, Telemach, Eumäos zu nennen, aber auch die Art, wie die meisten Nebenpersonen in die Handlung eingreifen, ist ebenso als ganz überwiegend durch das einer jeden von ihnen eigene Ethos diktiert zu bezeichnen; natürlich keineswegs alles und jedes, was in der Odyssee vorkommt, ebensowenig wie alles nur in der Jlias pathetischen Charakters sein müßte. Solche Einseitigkeit wäre gegen die Natur der Dinge, sie ist auch in dem Aristotelischen Urteil nicht behauptet; was gleichwohl dieses Urteil zu bedeuten hat, tritt noch mehr hervor, wenn man aus den Gesichtspunkten, nach denen sich die beiden griechischen Epen so klar voneinander scheiden, unser deutscher Nationalepos betrachtet: es ergibt sich, daß im Gegensatze zur Jlias und zur Odyssee die Nibelungen weder den einen noch den andern Gattungscharakter tragen, sondern daß beide in den Hauptpersonen und in deren entscheidenden einzelnen Handlungen in gleichem Maße vertreten sind, ebenso auch im Verlaufe und der endlichen Entwickelung des Ganzen eine ebenmäßige, höchst kunstvoll verwebte Verbindung von beiden, daß sie somit nach dieser einen, aber sehr wesentlichen, Seite einen noch höheren Rang behaupten, daß sie noch reicheren und lebensvolleren Gehalt, noch tiefere und universellere Bedeutung haben als ihre griechischen, in so vieler Hinsicht hoch über ihnen stehenden, Rivalen. Vgl. die nähere Ausführung über das Nibelungenlied, S. 292 ff. Demnach kommt es also für die epische Erzählung in erster Linie darauf an: für die Darstellung solche pathetischen oder ethischen oder ethisch=pathetischen Handlungen auszuwählen; sodann aber: Handlungen, welche weder das eine noch das andre im vollen Maße sind, nur insoweit für die Darstellung zu erwählen, als sie von jener Seite sich auffassen und vorführen lassen, dagegen die Verstandesreflexion und die moralische Erwägung als der epischen und überhaupt der poetischen Darstellung widerstrebend derselben ferne zu halten, es sei denn, daß sie als dienende Glieder in Nebenhandlungen zur Verwendung kommen. Einige Beispiele mögen den Satz bekräftigen. Von Gustav Schwab gibt es eine poetische Erzählung „ Johannes Kant “, der lange ehe Jmmanuel Kant „den kategorischen Jmperativus fand, dem kategorischen Jmperativus treu, zwang durch ihn wilde Seelen zu frommer Scheu“. Dieser, ein Krakauer Doctor theologiae , ein Mann „von reinem Gemüt und immer gleichem Sinn,“ zog im Alter zum Besuch seiner schlesischen Heimat aus. Mitten im wilden Walde wird er von Räubern angefallen und beraubt. Nachdem sie ihm sein Pferd, seine Barschaft und alles Wertvolle, was er an sich hat, weggenommen, lassen sie ihn laufen, da er versichert, nichts weiter zu besitzen. Doch, da er entronnen, fällt es ihm auf die Seele, daß „in seiner Kutte vorderm Saum“ noch „der güldene Sparpfennig sich versteckt“. Der Gewissensvorwurf der begangenen Lüge treibt ihn zu den Räubern zurück, sein Unrecht gut zu machen: „Das hab' ich böslich vor euch verleugnet, nehmt!“ Den Räubern aber wird's wunderlich im Kopf, Sie möchten lachen und spotten ob dem Tropf; Und ihre Lippe findet doch keinen Laut, Und ihr vertrocknetes, starres Auge taut. Und in dem bleiernen Schlummer, den er schlief, Regt sich in ihnen plötzlich der Jmp'rativ, Der wunderbare, das heil'ge Gebot: „Du sollt ─ Du sollt nicht stehlen!“ und vor der Hand voll Gold Aufspringen sie, dann werfen sich all' aufs Knie, Ein tiefes Schweigen waltet; denn Gott ist hie. Sie geben ihm dann alles Geraubte zurück, er teilt ihnen den Segen aus, „wünscht ihnen gründliche Reue“ und reitet von dannen. Die Handlung ist in treuherzigem, etwas archaisierendem Tone nicht ungeschickt erzählt; aber der Eindruck des Gedichtes ist mehr verstimmend als erfreulich: der Grund ist, daß die Handlung eine eminent moralische ist; moralisch ist die Reue des Kant und sein Entschluß die Lüge gut zu machen, moralischer Natur ist die durch das Beispiel bei den Räubern hervorgebrachte Wirkung; das eigentlich Moralische aber, was hier also die innere Handlung ausmacht, läßt sich nicht nachahmen, höchstens beschreiben, am wenigsten aber durch die Nachahmung mitteilen, es ist schlechterdings an das eigene, wirklich eintretende Handeln gebunden. So muß jeder Versuch es zum Gegenstand der künstlerischen Mimesis, sei es poetische oder malerische, zu machen, an dem Unvermögen, den Nachahmungszweck zu erreichen, scheitern. Hieraus erklärt sich das Unbehagen, die Langeweile, der Widerspruch des ästhetischen Gefühles, welches alle derartigen Produktionen erregen, alle die Darstellungen von Akten der Tugend, des Edelmutes, der Feindesliebe, der Selbstverleugnung, sofern sie eben als spezifisch moralische Akte, als Triumphe des sittlich bestimmten Willens über die entgegenstehende Neigung oder hindernde Schwäche, vorgeführt werden, oder sofern auch nur das spezifisch Moralische an ihnen in den Vordergrund gestellt wird. Der großen Menge der Geringeren nicht zu gedenken, sei hier nur Herder erwähnt, welcher in seinen poetischen Erzählungen über diesen Standpunkt nicht hinausgekommen ist. Freilich nennt er sie „ Legenden “, und stellt sie damit, nach seiner Auffassung der Legende, von vornherein unter einen fremden Gesichtspunkt. Er hebt die Bedeutung und innere poetische Wahrheit der religiösen Ueberlieferungen und kirchlichen Mythen sehr feinsinnig hervor, aber für ihre poetische Verwendung in der Legende ist ihm nur die Absicht zu „bessern“ maßgebend: „Gäbe es in diesen Zeitaltern keine Muster einer Tugend, die wirklich diesen Namen verdiente? keine Seelengröße, die, über sich selbst gebietend, Gefahren nicht suchte, aber tapfer überwand und das Leben selbst nicht achtete zur Erlangung des Kampfpreises?“ Und „wären alle jene Überlieferungen ein schwerer, dunkler Traum langer Jahrhunderte, ein ungeheurer Wahnsinn der Zeiten gewesen, zeiget ihn als solchen! Hebet die Erzählungen verführter, mißleiteter Seelen sorgsam aus und merket, wie sie mißleitet wurden, wie sie sich selbst verführten! Zeiget dies mit aller zarten Teilnahme, mit jedem hilfreichen Erbarmen, herabsteigend in die Tiefen der menschlichen Natur, in ihre betrüglichen Tiefen! Wie lehrreich werdet ihr schreiben! Eine kleine Legende wird mehr Psychologie, mehr Warnung, Rat und Trost enthalten, als vielleicht ein ganzes System kalter pharisäischer Sittenlehre. Sie wird werden, was ihr Name sagt, ein durchaus zu Lesendes, eine Legende. “ Man sieht, es geht hier Herdern aller epische Takt verloren; und wenn er im Übrigen von der Legende verlangt, „ Andacht solle sie einflößen und wirken,“ und weiterhin das „ Engelsgefühl “, von dem sie erfüllt sein soll, ausmalt ─ „Ein ganz eigenes Gefühl ist es, dies süße Gefühl der Andacht. Es haftet so unabwendbar an und fesselt so ganz, läßt so Vieles unmerklich hinschwinden und scheint uns mit wenigen Gedanken so viel, mit einem Gedanken alles zu geben!“ ─, so liegt darin wohl mehr poetischer Sinn, obwohl in nicht unbedenklicher Form geäußert, allein den Gesetzen der epischen Erzählung widerspricht auch dieses. Ein Gedicht, welches die Erregung der Andacht zum Nachahmungszweck hat, ist lyrisch, was etwa darin erzählt wird, dient als Darstellungs mittel diesem Zweck; dagegen ist für die Epik überall die Handlung Jnhalt und Zweck. Ein vortreffliches Beispiel für diesen Unterschied bietet Uhlands schönes lyrisches Gedicht „ Die verlorene Kirche “ dar. Hier ist die Erregung des Andachtsgefühles Liedeszweck, die Erzählung der wie in einer Vision geschauten, aber äußerlich als sagenhafte Überlieferung dargebotenen, Handlung dient diesem Liedzwecke und erfüllt ihn ganz, wie die Schlußstrophe ihn ausspricht: Was ich für Herrlichkeit geschaut Mit still anbetendem Erstaunen, Was ich gehört für sel'gen Laut, Als Orgel mehr und als Posaunen, Das steht nicht in der Worte Macht; Doch wer danach sich treulich sehnet, Der nehme des Geläutes acht, Das in dem Walde dumpf ertönet! Man vergleiche mit diesem schönen, von andächtiger Stimmung ganz eingegebenen und ganz erfüllten Liede die lehrhafte Trockenheit in Beschreibung der Stimmung und in der Erzählung von Herders „ Bild der Andacht “, worin er doch, wenn irgendwo, seine Theorie müßte bewährt haben: Die höchste Liebe wie die höchste Kunst Jst Andacht. Dem zerstreueten Gemüt Erscheint die Wahrheit und die Schönheit nie; Sie, die aus vielem nicht gesammelt wird, Die, in sich eins und alles, jeden Teil Mit sich belebet und vergeistiget. Sophronius, der in dem Heidentum Den Musen einst geopfert, wollte jetzt Der Mutter Gottes auch ihr Bildnis weih'n. Wie eine Biene flog er auf der Au' Der Kunstgestalten; Pallas, Cynthia Stand ihm vor Augen; Aphrodite sollt' Jn einer Huldgestalt mit ihnen blüh'n. Er überlegt' und schlief ermattet ein. Da stand im Schlaf sie selbst vor Augen ihm, Die Benedeite. „Sieh mich, wer ich bin,“ Sprach sie, „und gib mir keinen fremden Reiz! Nur Selbstvergessenheit ist meine Zier; Nur Demut, Zucht und Einfalt ist mein Schmuck!“ Getroffen wie vom Pfeile wacht' er auf Und sah fortan auch wachend sie, nur sie, Wie der, der in die Sonne schaut, das Bild Der Sonne mit sich träget. Öfters stand (So dünkt es ihm) sie sichtbar vor ihm da, Das Kind auf ihrem Arm und Engel ihr Zur Seite. Als das Bild vollendet war, Da trat ein Himmelsjüngling zu ihm hin Und sprach: „Gegrüßet sei, Holdselige!“ Zum Bilde. „Viele Herzen werden dein Sich am Altar erfreu'n und willig dir Jhr Jnnres öffnen; denn was Andacht schuf, Erwecket Andacht. Dir, o Künstler, hat Die Selige sich selber offenbart.“ Sieht man von dem lehrhaft reflektierenden Eingange ab, so enthält auch die Erzählung selbst nichts, als die trockene Berichterstattung von dem Faktum einer andächtigen Entzückung, woran dann abermals eine didaktische Schlußbemerkung geknüpft ist, daß, was Andacht geschaffen hat, auch fähig ist, Andacht zu erwecken: was aber die Hauptsache ist, die Nachahmung jener andächtigen Entzückung, so daß sie in dem Hörer selbst erweckt wird, ist nicht einmal versucht. Die Mehrzahl der Herderschen Legenden ist durch die moralisierende Lehrhaftigkeit der Erzählung schlechthin unerträglich, selbst die beiden bekanntesten, in alle Sammlungen aufgenommenen, „Die wiedergefundenen Söhne“ und „Der gerettete Jüngling“ nicht ausgenommen, von denen höchstens die letztere durch einen etwas höheren Wärmegrad der Stimmung sich vorteilhaft unterscheidet. Es muß auffallen, daß die Legende, die doch weiter nichts ist als eine poetische Erzählung, welche ihren Stoff aus der religiös=kirchlichen, sagen- und mythenhaften Überlieferung nimmt, in unserer Dichtung so unzureichende Behandlung gefunden hat. Der Grund ist keineswegs der, daß, wie behauptet worden ist, die Gattung an sich unpoetisch wäre ─ wie käme es denn, daß fremden Religionen entnommene Stoffe der höchsten dichterischen Wirkung dienstbar gemacht werden konnten, wie das in Goethes herrlichem Gedichte „Der Gott und die Bajadere“ und in der „Paria-Legende“ geschehen ist ─, sondern der, daß man die christliche Legende fast ausnahmslos mit christlich=moralischer oder dogmatisch=mystischer Tendenz, also unpoetisch, behandelt hat. Als das klassische Muster der Gattung kann Goethes „Der Gott und die Bajadere“ gelten, und eine nähere Betrachtung des Gedichtes eröffnet nach vielen Seiten sehr interessante Perspektiven. Die ethische Umwandlung, die in dem Magdalenenmotiv enthalten ist, wird hier auf rein pathetische Weise hervorgebracht, durch die bloße Nachahmung der Empfindung. Das allgewaltige Pathos reiner Liebe, die stärker ist als der Tod, bewirkt die Heiligung, welche so, statt dem Hörer nur äußerlich als durch ein Wunder vollbracht mitgeteilt zu werden, in sein eigenes Empfinden übergeht: Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder; Unsterbliche heben verlorene Kinder Mit feurigen Armen zum Himmel empor. Es ist derselbe Gedanke hier in epischer Gestaltung vorgeführt, wie er im Faust II, 5, 876 lyrisch ausgesprochen ist: Gerettet ist das edle Glied Der Geisterwelt vom Bösen: .......... Und hat an ihm die Liebe gar Von oben teilgenommen, Begegnet ihm die selige Schar Mit herzlichem Willkommen. Der Hauptgrund, warum die spezifisch christliche Legende so leicht mit den Gesetzen der Poesie in Widerstreit gerät, liegt offenbar darin, daß, während ethnische Religionsgestaltungen fast immer das schon an sich poetische Bestreben aufweisen, die geistigen Vorgänge durch sinnliche Verkörperung dem Verständnis sowohl als der Empfindung näher zu rücken, die christliche Lehre gerade dagegen mit schärfster Entschiedenheit ankämpft und mit vollstem Recht das rein geistige Gebiet der spezifisch religiösen und moralischen Empfindungen und Gedanken von dem Gebiet der sinnlich=poetischen Empfindungen scheidet. Was der „Sünderin“ in Lukas 7, 36─59 „geholfen“ hat, ist nicht die poetisch darstellbare Empfindung der Liebe ─ obwohl auch diese als Voraussetzung mit in ihr thätig sein muß ─, sondern ihr „ Glaube “, ein spezifisch religiöses Ethos, dessen Entstehung für die Poesie nicht nachahmbar ist ─ höchstens seine Kundgebungen ─, weil es auf einer einzigartigen Verbindung rein moralischer Potenzen, die also in dem Bereich des Willens stehen, mit gänzlich spontanen Empfindungsdispositionen beruht, welche, da sie das Zusammenwirken einer großen Zahl unnachweisbarer Faktoren erfordern, als ein unmittelbares Geschenk der göttlichen Gnade angesehen werden. Deshalb ist es einzig und allein in seinen Wirkungen nachahmbar; jeder Versuch, sein Eintreten darzustellen, ist unkünstlerisch, denn er gewährt statt der Nachahmung nur äußerlichen Bericht eines Faktums. Aus demselben Grunde eröffnet sich an derselben Stelle, wo die Zugänge zur Dichtkunst sich schließen, ein weites Feld für die bildenden Künste; denn diese haben es in der That mit den durch innere Zustände in der äußeren Erscheinung hervorgebrachten Wirkungen zu thun: deren Zeichen sind für sie die Mittel der Nachahmung jener. Sehr lehrreich zeigt sich auch auf diesem Gebiet jedoch wieder, daß bei der komischen Behandlung der Legende diese Mängel zurücktraten und Erfreuliches geleistet werden konnte, ein Punkt, der weiter unten in dem betreffenden Zusammenhange noch seine Berücksichtigung finden wird. Noch ein frappantes Beispiel, wie hoch die rein epische Behandlung, d. i. also diejenige, welche die Handlung ganz für sich allein, als aus dem unmittelbaren Antriebe des Gemüts, aus schönem Ethos, hervorgehend erzählt, über derjenigen steht, welche auch nur die Vermischung der ethisch=pathetischen Auffassung mit der moralischen Rücksicht zuläßt, zeigt die Gestaltung eines nahe verwandten Stoffes durch Goethe und Bürger. Wie Bleigewichte hängen sich die moralisierenden Betrachtungen an die im Uebrigen vortreffliche Erzählung in Bürgers „ Lied vom braven Mann “; wie rein dagegen die Schönheit des von allem Beiwerke befreiten Körpers der Handlung in Goethes „ Johanna Sebus “! Nach den im Obigen entwickelten allgemeinen Bestimmungen über die epische Darstellung ergeben sich also die folgenden Faktoren als maßgebend für die Auswahl und die Komposition der Handlung in den verschiedenen Hauptgattungen der Epik: Die Handlung ist entweder eine gute, richtige oder eine schlechte, fehlerhafte. Die erste wird als aus gutem, richtigem Ethos und Pathos entspringend dargestellt, die zweite als aus fehlerhaftem Pathos und Ethos hervorgehend. Da aber die menschlichen Handlungen, im ganzen genommen, weder unbedingt gut noch ungemischt fehlerhaft sind, so werden rein als solche nur einzelne Handlungen dargestellt werden können. Dagegegen wird bei der Darstellung einer Handlung, welche als ein größeres Ganzes eine Vielheit einzelner Handlungen umfaßt, weder ein gutes Ethos frei von jedem Zusatz eines Fehlerhaften sein dürfen, noch ein fehlerhaftes ungemischt mit Bestandteilen des guten. Nun sind alle inneren Handlungen mit bestimmten Folgen verknüpft, die sich in der äußeren Handlung darstellen; diese äußeren Folgen, welche kurz als ihr Ausgang zu bezeichnen sind, hängen aber keineswegs allein von ihrer Beschaffenheit ab, sondern zu einem großen Teile von denjenigen äußeren Umständen, innerhalb derer sie entstehen und mit denen sie nach großen, unabänderlichen, nicht zufälligen, sondern ewig gültigen Gesetzen verknüpft sind. Darnach sind in betreff des Ausganges die folgenden Fälle möglich: entweder ist die Handlung von ungemischt gutem Ethos und hat demgemäß einen glücklichen Ausgang: das ist nach dem Obigen nur in kleinen Gedichten angänglich, die nur einzelne Handlungen darstellen. Oder der aus gutem Ethos hervorgehenden Handlung haftet irgend eine Fehlerhaftigkeit ─ Hamartie ─ an, ohne doch den glücklichen Ausgang zu beeinträchtigen; in diesem Falle wird diese letztere in verschiedener Weise behandelt werden können: entweder um eine vorübergehende tragische Befürchtung hervorzubringen oder der an sich ernsten Handlung eine mehr oder minder hervortretende komische Färbung zu verleihen, oder um beides nebeneinander zu bewirken. Oder aber an die dem guten Ethos anhaftende Hamartie knüpft sich ein unglücklicher Ausgang: in diesem Falle ist die Handlung tragisch. Ebenso kann eine aus schlechthin fehlerhaftem Ethos entspringende Handlung entweder unglücklich ausgehen: eine solche eignet sich wiederum nur für kleinere Gedichte, die eine einzelne Handlung geringen Umfanges darstellen. Oder die von einem überwiegend fehlerhaften Ethos getragene Handlung, der es aber an Beimischung irgend eines guten Pathos oder Ethos nicht mangelt, führt zu glücklichem Ausgang: dies ist der Fall der komischen Handlung. Mitunter kann geschehen, daß es nur von dem Mischungsverhältnis und der Behandlung von seiten des Dichters abhängt, ob die Handlung tragischen oder komischen Charakter erhält: als zwei ebenso hervorragende als bekannte Beispiele seien dafür aus dem in dieser Beziehung eng verwandten dramatischen Gebiete des Euripides „ Alcestis “ und Shakespeares „ Kaufmann von Venedig “ angeführt. Daraus lassen sich die Bestimmungen für die epischen Hauptgattungen ableiten. Es sei zunächst das Jdyll und das heroische Epos in Betracht gezogen, an späterer Stelle sodann das komische Epos. ────── XVI. Handlungen, denen richtige Pathe und Ethe, d. h. also nach dem uns geläufigen Sprachgebrauch ausgedrückt, gesunde Empfindungen und gute Gesinnungen, zu Grunde liegen, mit glücklichem Ausgang, richtig, d. h. wahrheitsgemäß, nachgeahmt, ergeben die idyllische Gattung: sie erregt unmittelbares, reines Wohlgefallen, abgesetzt und gehoben durch vorübergehende tragische Affekte ─ Mitleid oder Befürchtung ─ oder ebenso durch Empfindungen des Komischen. Alle Reflexion, moralische wie verständige, ist ganz oder doch möglichst aus der idyllischen Darstellung auszuschließen, daher ist ihr Charakter der des Naiven: dasselbe wird erreicht, indem entweder die Handlung in der größtmöglichen Einfachheit der bedingenden Lebensverhältnisse aufgebaut wird unter Personen, die auf niedriger oder mittlerer Stufe der Bildung stehen, oder indem sie von Personen getragen wird, denen die höchste Kultur zur Natur geworden ist. Goethes „ Hermann und Dorothea “ vereinigt beides; bei seiner Jdee eines „ heroischen Jdylls “ schwebte Schiller eine Handlung vor, die ganz von der letzteren Art sein sollte. Es gibt keinen schlimmeren Jrrtum für die Komposition des Jdylls als die Meinung, daß das Jdyll die Alltäglichkeit des Lebens abzuschildern habe, daß die bloße Naturwahrheit der Nachahmung von Scenen des in engem Kreise friedlich sich vollziehenden Daseins seine Aufgabe sei: die idyllische Handlung ist in reiner Gestalt ebenso ausnahmweise im Leben anzutreffen und bedarf in der Dichtung ebenso der höchsten Kunst als die rein tragische. Die Bedeutung und das Jnteresse der Handlung muß in dem unmittelbaren und reinen Wohlgefallen an der Entfaltung von Empfindungen, Gesinnungen und daraus hervorgehenden Willensentscheidungen gefunden werden, zu der durch den einfachen Verlauf oder durch die Verwickelung der äußeren Geschehnisse die Gelegenheit gegeben sein muß: dies muß aber erreicht werden, und darin liegt eine außerordentliche Schwierigkeit, während diesem einfachen Verlauf oder dieser Verwickelung der äußeren Geschehnisse, für sich allein betrachtet, nur geringe Bedeutung beiwohnt, das Jnteresse daran muß also ganz und gar durch jenes unmittelbare und reine Wohlgefallen an Pathos und Ethos der Handelnden geschaffen werden; ja, wie der Dichter den etwa aus den äußeren Umständen sich ergebenden Verwickelungen nicht diejenige Ausdehnung geben darf, die bis zur Wichtigkeit für weiter ausgedehnte Kreise, bis zur Größe, auch nur heranreicht, so muß er auch durch die ganze Dichtung die etwa aus den anhaftenden Hamartien resultierenden Empfindungen der Furcht, des Mitleids oder des Lächerlichen geflissentlich auf einer quantitativ niedrigen Stufe halten, um der Hauptempfindung des reinen Wohlgefallens keinen Eintrag zu thun. An diesem Punkte zeigt sich klar, wie der von Aristoteles in dieses Gebiet eingeführte Begriff der „ Größe der Handlung “ ─ μέγεθος τῆς πράξεως ─ aufzufassen ist und wie höchst wesentlich seine Berücksichtigung für die Unterscheidung der Gattungen und für ihre Komposition ist. Nichts kann irriger sein, als darin eine Bestimmung der räumlichen Ausdehnung der Handlung zu finden: dieselbe ist beim Drama eine durch äußerliche Verhältnisse bestimmte, überall im ganzen und großen konstante, in der epischen Gattung aber in so weiten Grenzen variabel, daß eine Bestimmung des Wesens der Handlung darin unmöglich gesucht werden kann. Der Ausdruck ist, wie in allen Sprachen üblich, auf die Qualität übertragen und bezeichnet die, nach der Relation der Wichtigkeit für das Ganze der menschlichen Schicksale und Handlungen, der einzelnen Handlung ihrem innern Wesen und ihrer äußeren Erscheinung, ihren Umständen und ihren Folgen nach zukommende Bedeutung; eine hervorragende Bedeutung dieser Art wird Größe der Handlung genannt. Für den Gegensatz ist eine feste Bezeichnung nicht eingeführt; die Ausdrücke „klein,“ „einfach,“ „unbedeutend“ sind nicht zu gebrauchen, weil sie sämtlich Mißverständnis erregen würden, es müssen also Umschreibungen gebraucht werden; für die Beteiligten bleibt auch die idyllische Handlung immer „ bedeutungsvoll, “ nur nach dem absoluten Maßstabe gemessen darf ihr die „ Größe “ nicht zukommen. Dieser Begriff der „ Größe “ und ihres Gegenteils ist für die Komposition der verschiedenen epischen und dramatischen Gattungen sehr wesentlich mitbestimmend, so sehr, daß es geschehen konnte, wie aus den grob äußerlichen Definitionen dieser Gattungen im sechszehnten, siebzehnten und noch im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts ersichtlich, daß man ihn allein als das hervorstechendste Merkmal der Unterscheidung im Auge behielt. So Jul. Cäsar Scaliger in seinen Poetices libri septem über das Epos mit Beziehung auf Horaz I, 6, 1: Epicorum materia declaratur, dux, miles, classis, equus, victoria (cf. lib. I, c. 41) und über das Drama (cf. I, c. 6): Tragoedia, sicut et Comoedia in exemplis humanae vitae confirmata, tribus ab illa differt, Personarum conditione, fortunarum negotiorumque qualitate, exitu. Quare stylo quoque differat necesse est. In illa e pagis sumpti Chremetes, Davi, Thaides loco humili: Initia turbatiuscula: fines laeti. Sermo de medio sumtus. In Tragoedia Reges, Principes, ex urbibus, arcibus, castris. Principia sedatoria: exitus horribiles. Oratio gravis, culta, a vulgi dictione aversa, tota facies anxia, metus, minae, exilia, mortes. Es sind genau die Vorschriften, nach denen sich die französische klassische Tragödie gebildet hat. Auch die Pastoralia poemata leitet Scaliger aus dem ständischen Princip ab (cf. I, c. 4): Vetustissimum Poematis genus ex antiquissimo vivendi more ductum esse par est. Tria vero saeculorum genera: Pastoris, Venatoris, Aratoris. Ac venatores, quia sunt in motu, minus ad verba propensi existunt. Quin neutiquam faustum putamus in venatu loqui: nedum ut cantus aptus judicetur. Reliqua duo genera cantiones suas meditata sunt. Jn derselben Weise definiert Opitz in dem „Buch von der teutschen Poeterey“ Kap. 5, daß „ein Heroisch getichte gemeiniglich weitleuffig sei und von hohem wesen rede“; ... „die Tragedie ist an der majestät dem Heroischen getichte gemesse, ohne das sie selten leidet, das man geringen standes personen und schlechte sachen einführe: weil sie nur von Königlichem willen, Todschlägen, verzweiffelungen, Kinder- und Vätermörden, brande, blutschanden, kriege und auffruhr, klagen, heulen, seuffzen und dergleichen handelt“; ... „die Comedie bestehet in schlechtem wesen und personen: redet von hochzeiten, gastgeboten, spielen, betrug und schalckheit der knechte, ruhmrätigen Landtsknechten, buhlersachen, leichtfertigkeit der jugend, geitze des alters, kupplerey und solchen sachen, die täglich unter gemeinen leuten vorlauffen. Haben derowegen die, welche heutiges tages Comedien geschrieben, weit geirret, die Keyser und Potentaten eingeführet; weil solches den regeln der Comedien schnurstracks zuwieder laufft“; ... „die Eclogen oder hirtenlieder reden von schaffen, geißen, seewerk, erndten, erdgewächsen, fischereyen und anderem feldwesen; und pflegen alles worvon sie reden, als von Liebe, heyrathen, absterben, buhlschafften, festtagen und sonsten auf ihre bäwrische und einfältige art vor zue bringen.“ Wenn man aber diesen groben Fehler im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts dadurch zu korrigieren meinte, daß man jenen Begriff als Gattungsmerkmal nun gänzlich auslöschen wollte, so ging man mit der daraus entstehenden Vermischung der Gattungen nicht minder in die Jrre. Für die zweite Hauptgattung kommt der Begriff der Größe der Handlung, neben dem der Einheit und Vollständigkeit in erster Linie in Betracht; damit zugleich der der guten, d. h. richtigen und gesunden Beschaffenheit des die Handlung der Hauptsache nach tragenden Ethos: eine solche Handlung ─ πρᾶξις σπουδαία, τελεία , μέγεθος ἔχουσα ─ konstituiert die heroisch=tragische, sowohl epische als dramatische Gattung. Jn der That machen erst diese beiden Elemente verbunden, durch die in ihrer Natur begründete Wechselwirkung ja die gewissermaßen zwischen ihnen bestehende gegenseitige Anziehungskraft, den Charakter dieser Gattung aus. So wie Tüchtigkeit und Adel des Ethos durch die Größe und Bedeutsamkeit der die Handlung bedingenden Umstände erst zur vollen Äußerung gebracht wird, ja wie die Größe und Wichtigkeit der Verhältnisse, in die der Handelnde gestellt wird, oft erst solches Ethos in ihm emporwachsen lassen, so liegt umgekehrt in der Kraft und dem Adel, also der inneren „ Größe “ des eine Person charakterisierenden Ethos die Eigenschaft, die Wichtigkeit und Bedeutung der äußeren Handlung zu steigern, ihr also auch die äußere „ Größe “ zu verleihen. Genau dasselbe gilt von den dem in der Hauptsache tüchtigen und edlen Ethos anhaftenden, fehlerhaften Beimischungen, der Hamartie, also den einer im Grunde edlen Natur eigenen einzelnen, an sich fehlerhaften oder zum leidenschaftlichen Uebermaß gesteigerten Empfindungen. Hieraus ergibt sich, daß in der heroisch=tragischen Gattung der Nachahmungszweck nicht wie in der idyllischen die unmittelbare Erregung des reinen Wohlgefallens sein kann: diese zeigt uns die seltene Gunst des Geschickes, wo unter dem glücklichen Schutz vor schwerwiegenden äußeren Verwickelungen im engen Kreise einfacher Verhältnisse tüchtigedle Gesinnungen und Empfindungen in Handlungen sich kund thun, die von entsprechenden günstigen Folgen und erfreulichem endlichen Ausgange begleitet sind; jene stellt uns vor das inhaltschwerste Rätsel der vielfach verschlungenen menschlichen Geschicke, wo der Gute, Tüchtige und Edle, statt erhofften Glückes sich zu erfreuen, sei es durch die geraden Laufes auf ihn einstürmende Wucht der Verhältnisse oder durch deren ungeahnte Verwickelung und plötzlich hereinbrechende Entwickelung, dem Verderben aller Lebenshoffnung, ja dem Untergange verfällt, sei es, doch erst durch eine Reihe der schwersten Prüfungen zu dem ersehnten Ziele geführt wird. Hier ist überhaupt der Ursprung desjenigen Teiles der Sagenwelt aller Völker zu suchen, aus denen Epos und Tragödie hervorgegangen sind. Nur dasjenige bleibt im Gedächtnis der Einzelnen und der Völker haften, was die Seele in ihrem Jnnersten stark bewegt. Große, erschütternde Übergänge von Glück in Unglück und von Unglück zum Glück erhalten sich ihrem Kerne nach im Andenken als einheitliche Vorgänge, und das Bedürfnis zusammenhängenden Verständnisses und überzeugender Glaubwürdigkeit fügt ihnen, unbekümmert um die Authenticität ihres wirklichen Verlaufes, die für jenen Kern erforderlichen Umstände der inneren und äußeren Vollständigkeit hinzu. Wo wird nun aber diese Erregung der Seele stärker, jene dichterisch ergänzende Thätigkeit lebhafter, fruchtbarer, das Jnteresse also tiefer, ja leidenschaftlicher sein, als bei denjenigen solcher „ großen Schicksale “, bei denen das Verderben nicht sowohl die nach göttlichem und menschlichem Recht erfolgende, verdiente Strafe ebenso großer Verschuldung ist, als vielmehr unverdient oder weit über Verschulden die Hervorragendsten und Besten wie mit Vorliebe treffendes Geschick, das eben darum nicht, wie jenes andere, als ein das Verständnis und Gerechtigkeitsgefühl befriedigender Ausgleich erscheint, sondern, dem menschlichen Ermessen unfaßbar, auf das unmittelbare Eingreifen überlegener Mächte hinweist? Darum steht die heroisch=tragische Sage, wie gleicherweise in ihrem Ursprunge auch Epos und Tragödie, überall mit dem religiösen Gefühl in engem Zusammenhange, so daß beide einander völlig durchdringen. Wenn inmitten der allgemein herrschenden Ordnung und Gesetzmäßigkeit gerade auf dem den Menschen am nächsten angehenden und am mächtigsten bewegenden Gebiet, in dem Schicksal der eigenen Gattung, ihm ein ungeheurer, unlösbarer Widerspruch entgegentritt, so bleibt ihm, um der Empörung und Verzweiflung oder der stumpfen Gleichgültigkeit ebenso wie der sklavischen Angst zu entgehen, nur der Glaube übrig an die zwar geheimnisvoll aber dennoch nach ewigen, unverbrüchlichen Gesetzen ihres Amtes waltende Gottheit. Die Religion verlangt diesen Glauben zur Tröstung im Gemüt, zur Stärkung im Handeln und zur zufriedenen Ergebung in die Schickungen der Gottheit, die dem Weisen immer zum Besten dienen. Zur Seite steht ihr die dichtende Sage, in vollem Einklange mit ihr, aber mit ganz anders gewendeter Richtung, unvermischt mit ihren Zwecken, völlig getrennt von jener nach Art und Verwendung der ihr eigenen Mittel. Die Religion wendet sich an den frommen Glauben, die Philosophie an die vernünftige Erkenntnis, die Sage und Dichtung an die empfindende Wahrnehmung. Diese aber vermag weder zu glauben noch zu erkennen, sie will sehen und fühlen. Daher erwächst der dichtenden Sage und der die Sage sich aneignenden Dichtung die Aufgabe den Handlungskern des rätselhaften Geschickes zur Vollständigkeit ergänzt zum Verständnis zu bringen, das ist in einer für die Anschauung wie das Gefühl befriedigenden Weise darzustellen. Zweierlei dem Anscheine nach entgegengesetzte, aber der Natur der Dinge nach gerade hier unauflöslich auch in der Wirklichkeit verknüpfte, Beschaffenheiten der Handlung mußten also der Anschauung wie der Empfindung unmittelbar wahrnehmbar vorgeführt werden: es mußten einmal, dem Kerne der Handlung gemäß, die Dinge sich in einer der Erwartung gerade entgegengesetzten Weise ─ παρὰ τὴν δόξαν Vgl. hierzu und zum folgenden Aristoteles, Poet. Kap. 9 und 10. ─ entwickeln und dennoch nicht nur der Wahrscheinlichkeit, sondern der Notwendigkeit gemäß ─ κατὰ τὸ εἰκός und κατὰ τὸ ἀναγκαῖον ─ so also, daß die Dinge nicht nach einander, sondern eins durch das andre erfolgten, sich gegenseitig einander bedingend und eins aus dem andern sich entwickelnd ─ δι ' ἄλληλα ... ὥστε ἐκ τῶν προγεγενημένων συμβαίνειν \̓η ἐξ ἀνάγκης \̓η κατὰ τὸ εἰκὸς γίνεσθαι τἀναντία· διαφέρει γὰρ πολὺ τὸ γίνεσθαι τάδε διὰ τὰδε \̓η μετὰ τάδε ─. So wird das Unerhörte und Widersprechende nicht nur der allgemeinen gesetzlichen Ordnung eingereiht, sondern es wird als ein besonders deutlich sichtbares Zeichen der Unverbrüchlichkeit dieser auf ein höheres Walten mit Notwendigkeit zurückzuführenden Ordnung geschaut und empfunden. Die heroisch=tragische Sage enthielte also die Erzählung großer Thaten der Guten und Bösen und schweren Geschickes, das die Bösen nach Verdienst ereilt, aber nicht minder auch die Guten und die Besten trifft und zwar so, daß sie klar zu Tage treten läßt, wie so ganz des Menschen Glück und Geschick abhängig ist von der Ordnung, in die er hier auf Erden gestellt ist und der sich keiner entziehen kann. Nicht bloß die tausendfach ihn einengenden Handlungen und Schicksale der mit ihm Lebenden bedingen sein eigenes Thun und Ergehen, sondern schwer und unentrinnbar lasten auf ihm Thaten und Geschicke der Vorfahren und ganzer, längst vergangener Geschlechter, deren Folgen schwere Trübsal über ihn verhängen und durch geringen, schwer vermeidlichen Fehl zerschmetternd auf sein Haupt fallen können. Solchem verhängnisvollen Fehlen und Jrren sind aber gerade die Stärksten und Besten am ehesten ausgesetzt, gleichsam auf hoher und schmaler Bahn wandelnd, die schweren Sturz droht. Außer diesen allgemeinen menschlichen Zügen zeigt aber die Heldensage einer jeden Nation die ihr eigenen, besonderen inneren und äußeren Charakterzüge: auch die Völker haben ihr eigenes Ethos; ein anderes ist es, welches sich in Achilleus und Patroklos, in Ajax und Diomedes, in Odysseus und Telemachos abspiegelt, und ein anderes, das uns in Siegfried und Hagen, in Rüdiger, Dietrich und seinem Waffenmeister Hildebrand entgegentritt; ebenso zeigt sie in der äußeren Handlung, nicht nur in Sitten, Gebräuchen und Lebensverhältnissen, sondern auch in dem Aufbau und Verlauf der Schicksale selbst ein jeder Nation als solcher zugehöriges, in sich zusammenstimmendes, jedesmals verschiedenes Bild. Aus solchem Stoffe, und zwar aus dem, welcher nach beiden Seiten das getreueste und vollständigste Bild zu gewähren geeignet ist, formt der Sänger des heroischen Epos sein Lied. Für die Komposition gelten die Forderungen, wie sie oben entwickelt wurden, der Einheit und Vollständigkeit, der Würdigkeit und Größe der Handlung. Es wird demnach in seinem Liede nicht an zahlreichen Stellen fehlen, welche unmittelbar die Empfindung des reinen Wohlgefallens zu erregen imstande sind, aber der Nachahmungszweck des Kunstwerkes als eines Ganzen kann nach dem Gesagten ein solches unmittelbares Wohlgefallen unmöglich sein. Jnhalt und Plan der heroisch=tragischen Handlung setzen als Vorbedingung der Entstehung des dieser Gattung eigentümlichen, künstlerischen Genusses ─ der οἰκεία ἡδονή der heroisch=tragischen Dichtung ─ die schmerzlichen Empfindungen schwersten Menschengeschickes, unschuldigen Leidens und Sterbens. Jmmer wird es eins der glänzendsten Zeugnisse des Tiefsinnes des griechischen Kunstphilosophen bleiben, daß er aus der wogenden Menge der durch solchen Handlungsverlauf aufgeregten Gefühle mit sicherem Griffe die beiden wesentlich maßgebenden, die spezifischen Schicksalsempfindungen, die Furcht und das Mitleid, herausgehoben hat. Wie könnte aber das diesen Empfindungen anhaftende Schmerzliche und Beunruhigende überwunden werden, und wie vermöchte die Seele durch sie zu der Erhebung und kraftvoll in sich gefaßten Ruhe der echten Freude zu gelangen, wenn nicht durch Auswahl, Ausbau und Darstellung der Handlung ihr die Wirkungskraft ─ δύναμις ─ eingepflanzt ist, das Schicksal zwar in der ganzen Größe seiner Furchtbarkeit, aber auch in der erhabenen Verehrungswürdigkeit seines ewig gesetzlichen Waltens der unmittelbaren Anschauung und Empfindung offen darzulegen? So fügt also Aristoteles dem großen Gesetz, daß die heroisch=tragische Handlung in ihrem ganzen Verlauf so eingerichtet sein müßte, daß die Schicksalsempfindungen der Furcht und des Mitleids in Thätigkeit gesetzt werden, das abschließende Hauptgesetz hinzu, daß, bei dem engen Verhältnis der Reciprocität derselben, der Nachahmungszweck des Ganzen in ihrer wechselseitig durcheinander bewirkten Herstellung zur Reinheit, in ihrer Katharsis, bestehen müßte. Nicht also die Forderung eines moralischen Läuterungsprozesses in dem Zuhörer enthält diese vielberufene Katharsis, sondern das rein technische Kompositionsgesetz: das Schicksal in seiner reinen und wahren Gestalt der Anschauung vorzuführen, damit die reine und der Wahrheit der Dinge entsprechende Empfindung dadurch geweckt werden könne und müsse. Diese allgemeinen Bestimmungen mögen hier genügen, das Genauere über die Empfindungen der Furcht und des Mitleids, über ihr Wechselverhältnis und die Katharsis wird seine Stelle in dem Abschnitt finden, der speziell von der Tragödie handelt, die wegen ihrer kunstvoll begrenzten Form nach allen diesen Richtungen einer sehr detaillierten Gesetzgebung bedarf. Die epische Darstellung bewegt sich in jeder Beziehung freier: sie kann sich beliebig weit ausdehnen, sofern sie nur als Ganzes übersichtlich bleibt, sie ist nicht an einen begrenzten Zeitraum der dargestellten Handlung, innerhalb dessen stetiges Fortschreiten erforderlich ist, gebunden, sondern kann beliebig zurück- und vorgreifen, sie wechselt nach Bedürfnis den Ort und kann auch gleichzeitig Geschehendes nach Gefallen vorführen, sie vermag die Haupthandlung durch Neben= und Zwischenhandlungen zu unterstützen, zu erweitern und schmuckvoll zu bereichern. So höchst wesentlich aber alle diese Verschiedenheiten von der Tragödie sind, so steht sie in der Hauptsache ─ was das Nachahmungsobjekt und den Nachahmungszweck betrifft ─ doch mit ihr auf einem und demselben Boden, nur die Art der Nachahmung, durch Erzählung statt durch handelnde Personen, ist verschieden, und aus ihr entspringen alle die genannten Differenzen. Die verschiedenen Arten des heroischen Epos werden sich demnach aus dem verschiedenen Anteil, welcher den die heroisch=tragische Gattung konstituierenden Elementen gewährt ist, und aus der Art dieses Anteils bestimmen lassen. Jm Vordergrunde steht das Element des Verderblichen und Schmerzlichen der Handlung (des φθαρτικόν und ὀδυνηρόν ), welches nicht entbehrt werden kann. Der Ausgang der Handlung ist darnach entweder schlechthin unglücklich wie in der Jlias und den Nibelungen, oder gemischt, Vgl. Aristoteles, Poet. Kap. 13. so daß die Bösen verderben, die Guten glücklich werden, wie in der Odyssee und der Gudrun; ein rein glücklicher Ausgang, wie er für die Tragödie durch eine äußerst kunstreiche Fügung des Baues ermöglicht werden kann, wie z. B. in Goethes „ Jphigenie, “ ist für das heroische Epos bei der ihm eigenen Breite und Universalität der Handlung, für die eine so künstlich ausgesonderte Darstellung ausnahmsweise eintretender Verwickelungen nicht ausführbar ist, undenkbar. Aus dieser Begründung aber ergibt sich von selbst, daß ein rein glücklicher Ausgang für die Kürze der epischen Erzählung einer einzelnen Handlung keineswegs ausgeschlossen ist. Ein Beispiel wäre Schillers „ Bürgschaft “. Aber auch abgesehen von dem Ausgange des Ganzen der Handlung wird der Charakter des Furchtbaren und Schmerzlichen ihr auch dadurch aufgedrückt, daß die Darstellung des Leidens, also von Tod, Wunden, heftigen Schmerzen, einen wesentlichen Bestandteil ihres Jnhaltes ausmacht ─ dasjenige also, was Aristoteles im Kap. 11 der Poetik als πάθος (auch παθήματα , wie auch sonst im griechischen Sprachgebrauch üblich) in dem engeren, spezifischen Sinne von „Erleidnis“ bezeichnet; Vgl. hierüber wie überhaupt über den Gebrauch dieser Termini die Abhandlung des Verfassers: „ Pathos und Pathema im Aristotelischen Sprachgebrauch. “ Königsberg i. Pr. 1873 (bei Wilhelm Koch), durchweg und speciell Abschnitt IV, S. 28─40. πάθος δ' ἐστὶ πρᾶξις φθαρτικὴ \̓η ὀδυνηρὰ, οἷον ὅι τε ἐν τῷ φανερῷ θάνατοι καὶ οἱ περιωδυνίαι καὶ τρώσεις καὶ ὅσα τοιαῦτα . Es liegt auf der Hand, daß das Element solcher „ schweren Erleidnisse “ in der äußeren Handlung zur unumgänglich notwendigen Voraussetzung hat, daß es durch die in der inneren Handlung wirksamen Faktoren herbeigeführt sei; dergleichen als durch den Zufall oder durch bloße Naturkräfte veranlaßt darzustellen, wäre gänzlich undichterisch; wo sich die Dichter natürlicher Vorgänge zu solchem Zwecke bedienen, bilden dieselben doch nur den Vollzug innerer, freilich den Göttern zugeschriebener Handlungen: solcher Art ist Philoktets Erkrankung, der Tod des lokrischen Ajax, des Odysseus Schiffbruch; in den Nibelungen findet sich dergleichen nicht. Wo dies Element des Pathetisch-Leidvollen den Grundcharakter der Handlung abgibt, wird, wie schon oben bemerkt, als bestimmender Motor der inneren Handlung das Pathos, im psychologischen Sinne des Wortes, der Empfindungsimpuls, zur Leidenschaft gesteigert, vorherrschen; hier wird der Verlauf der äußeren Handlung im Ganzen und Großen ein einfacher sein können, nach dem gewöhnlichen, wahrscheinlichen und notwendigen Gang der Dinge sich entwickeln, was nicht ausschließt, daß im Einzelnen manches wider Erwarten geschieht und mancherlei Wunderbares sich ereignet. So ist nach des Aristoteles Urteil die Komposition der Jlias einfach und pathetisch. Andrerseits wird, wo in der inneren Handlung leidenschaftliche Jmpulse als bestimmend keine oder nur eine geringe Rolle spielen, dagegen das Ethos herrschend ist, die feste, ständige Gemütsart und Gesinnungsweise, deswegen das pathetisch=leidvolle Element zwar keineswegs ausgeschlossen sein, aber es wird erstlich nicht den Grundcharakter der Handlung bilden, nicht dem Gedicht, als Ganzes genommen, seine Färbung geben; sodann aber wird die bewegende Ursache desselben statt in der inneren in der äußeren Handlung liegen müssen, also in Handlungen, welche zu der eigentlichen Handlung von außen hinzutretend für dieselbe bedingend werden, so daß also der Gang derselben statt einfach zu sein ein verwickelter wird, mögen diese hinzutretenden Handlungen nun vor der eigentlichen Handlung liegen, oder neben derselben hinlaufen oder auch während derselben eingreifen, wie in der Odyssee. Die wirksamsten Formen, in welchen sich solche Verwickelungen äußern, sind nach des Aristoteles überzeugender Lehre die der Erkennung und die der Peripetie, des plötzlichen, unglücklichen Umschlages der Handlung in das Gegenteil des von dem Handelnden Gewollten und Erwarteten. Vgl. hierzu Aristoteles, Poet. Kap. 13 und 14; denn die hier enthaltenen Bestimmungen haben für das Epos ebensowohl Geltung als für die Tragödie. Deshalb wird die Komposition der Odyssee von Aristoteles mit Recht als verwickelt und ethisch bezeichnet. a. a. O. Kap. 24. Jmmer aber liegt die eigentliche Wirkungskraft des Epos in dem Gegenstande seiner Nachahmung und dem mit demselben verbundenen Nachahmungszweck, in der Handlung, welche die reinen Schicksalsempfindungen zur Geltung zu bringen geeignet ist. Jn einer solchen ist Ethos immer enthalten, auch wenn dasselbe nicht durch eine besonders diesem Zweck gewidmete Darstellungsweise zum Ausdruck gebracht wird, was, nach dem Obigen, ja doch nur unter gewissen Umständen aus der Komposition der Handlung als Forderung hervorgeht; so heißt es im Beginn des 15. Kapitels bei Aristoteles: ἕξει δὲ ἦθος ( sc .: ὁ μῦθος ) ἐὰν ... ποιῇ φανερὸν ὁ λόγος \̓η ἡ πρᾶξις προαίρεσίν τινα , χρηστὸν δὲ ἐὰν χρηστήν : „Die Fabel der Dichtung wird Ethos enthalten, wenn ... die Darstellung oder die (vorgestellte) Handlung eine Willensentscheidung kundmacht, und zwar ein gutes Ethos, wenn die Willensentscheidung eine gute ist.“ Eher aber kann der Mangel in der Nachahmung des Ethos ertragen werden als der Mangel einer zweckentsprechend eingerichteten Handlung; durch diesen wird der Nachahmungszweck verfehlt, durch jenen im schlimmsten Fall doch nur beeinträchtigt. Es ist auch weit schwieriger die Handlung zu komponieren als die Charaktere der Handelnden durchzuführen. Was Aristoteles hierüber im sechsten Kapitel der Poetik die Tragödie betreffend lehrt, gilt ganz ebenso für das Epos: ἀρχὴ μὲν οὖν καὶ οἷον ψυχὴ ὁ μῦθος τῆς τραγῳδίας, δεύτερον δὲ τὰ ἤθη . ἔστι δὲ μίμησις πράξεως, καὶ διὰ ταύτην μάλιστα τῶν πραττόντων . τρίτον δἐ ἡ διάνοια . Zu deutsch: „Grundlage und gleichsam Seele der Tragödie (wie des Epos) ist die Fabel, erst in zweiter Linie steht die Charakterdarstellung; denn sie ist Nachahmung von Handlung, und vorzüglich um der Handlung willen Nachahmung der handelnden Personen. Erst an dritter Stelle kommt der Ausdruck der Reflexion.“ Dieses Dritte, die Dianoia, ist als „Ausdruck der Reflexion“ wiedergegeben in Übereinstimmung mit der von Aristoteles hinzugefügten Erklärung: τοῦτο δ ' ἐστὶ τὸ λέγειν δύνασθαι τὰ ἐνόντα καὶ τὰ ἀρμόττοντα : „sie besteht in dem Vermögen dem Sachverhalt und der zugehörigen Begründung den angemessenen Ausdruck zu geben.“ Unter den Fehlern in der Komposition der Handlung steht der Mangel der Einheit obenan. Nicht in der Einheit des Helden besteht dieselbe, denn, wie Aristoteles diesen Satz im achten Kapitel ausführt, unter den tausendfachen und der Gattung nach unendlich verschiedenen Ereignissen, die dem Raum und der Zeit nach zusammenhängend eintreten, bildet eine beliebig herausgegriffene Gruppe noch lange keine Einheit. Und so gehen auch von dem Einzelnen zahlreiche Handlungen aus, die darum noch durchaus nicht eine einheitliche Handlung bilden. Vgl. Kap. 8: Μῦθος δ' ἑστὶν εἷς, οὐχ ὥσπερ τινὲς ὄιονται, ε\̓αν περὶ ἕνα ᾖ· πολλὰ γὰρ καὶ ἄπειρα τῷ γένει συμβαίνει, ἐξ ὧν ἐνίων οὐδέν ἐστιν ἕν· οὕτω δὲ καὶ πράξεις ἐνὸς πολλαί εἰσιν, ἐξ ὧν μία οὐδεμία γίνεται πρᾶξις . Der Begriff der Einheit hängt mit dem des „ Ganzen “ und der „ Vollständigkeit “ auf das Engste zusammen. Ein Ganzes ist da vorhanden, wo Anfang, Mitte und Ende vorhanden ist. Anfang ist dasjenige, was selbst nicht mit Notwendigkeit als auf etwas Anderes folgend zu denken ist, also ohne Voraussetzungen aufgenommen werden kann, was aber seiner inneren Natur nach so geartet ist, daß Neues darauf folgen oder sich daraus entwickeln muß. Ende ist das Gegenteil davon, was seiner inneren Natur nach so geartet ist, daß es auf ein Anderes folgt, entweder nach dem Gesetz der Notwendigkeit oder dem der Gewohnheitsregel, daß es aber selbst nichts Anderes weiter im Gefolge hat; Mitte dasjenige, was sowohl selbst notwendig auf etwas Anderes folgt als auch etwas Neues im Gefolge hat. Nach diesen Regeln ist also bei einer richtig komponierten Fabel Anfang und Ende keineswegs in das willkürliche Belieben gestellt, sondern mit Notwendigkeit gegeben. Das ist die fast wörtliche, dem Sinne jedoch genau entsprechende Übersetzung von Aristot. Poet. Kap. 7: ὅλον δ ' ἐστὶ τὸ ἔχον ἀρχὴν καὶ μέσον καὶ τελευτήν . ἀρκὴ δ ' ἐστὶν ὅ αὐτὸ μὲν μὴ ἐξ ἀνάγκης μετ' ἄλλο ἐστί, μετ' ἐκεῖνο δ ' ἕτερον πέφυκεν εἶναι \̓η γίνεσθαι· τελευτὴ δἐ τοὐναντίον \̔ο αὐτὸ μετ' ἄλλο πέφυκεν εἶναι , \̓η ἐξ ἀνάγκης \̓η ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, μετὰ δἐ τοῦτο ἄλλο οὐδέν· μέσον δὲ \̔ο καὶ αὐτὸ μετ' ἄλλο καὶ μετ' ἐκεῖνο ἕτερον . δεῖ ἄρα τοὺς συνεστῶτας εὖ μύθους μἠθ' ὁπόθεν ἔτυχεν ἅρχεσθαι μηθ' ο῟που ἔτυχε τελευτᾶν, ἀλλὰ κεχρῆσθαι ταῖς εἰρημέναις ἰδέαις· Der Begriff der Vollständigkeit verlangt, daß sowohl Anfang als Mitte und Ende nach allen Richtungen alles der einen Handlung notwendig Zugehörige enthalten; der Begriff der Einheit erfordert, daß nichts in der Darstellung der Handlung vorkomme, dessen Vorhandensein oder Nichtvorhandensein für den Verlauf derselben gleichgültig sei, was also fortbleiben würde, ohne die Handlung zu alterieren: nur dasjenige bildet einen Bestandteil der einheitlichen Handlung, durch dessen Fortlassung oder auch nur Umstellung das Ganze eine Veränderung und Erschütterung erleidet. Vgl. a. a. O. Kap. 8 am Schlusse: χρή οὖν καθάπερ καὶ ἐν ταῖς ἅλλαις μιμητικαῖς ἡ μία μίμησις ἑνός ἐστιν, οὕτω καὶ τὸν μῦθον, ἐπεὶ πράξεως μίμησίς ἐστι, μιᾶς τε εἶναι καὶ ταύτης \̔ολης, καὶ τὰ μέρη συνεστάναι τῶν πραγμάτων οὕτως ὥστε μετατιθεμένου τινὸς μέρους ἤ ἀφαιρουμένου διαφέρεσθαι καὶ κινεῖσθαι τὸ ὅλον· \̔ο γὰρ προσὸν \̓η μὴ προσόν μηδὲν ποιεῖ ἐπίδηλον, οὐδὲν μόριον τοῦ ὅλου ἐστίν . Die Forderungen der Ganzheit, Vollständigkeit und Einheit stehen für jede epische Dichtung in der ersten Linie, mag dieselbe nun auf den denkbar größten oder den geringsten Umfang angelegt sein. Dennoch ist es eine der seltensten Erscheinungen, sie nach ihrer ganzen Strenge, von der doch die künstlerische Wirkung des Gedichtes abhängt, erfüllt zu sehen. Jn nichts unterscheidet sich das Kunstepos so sehr von dem nationalen, dem sogenannten Volksepos, als in diesem Punkte; beide sind ja der Gattung nach keineswegs verschieden, sie stehen unter ganz denselben Gesetzen, sondern nur hinsichtlich ihres Ursprunges, und selbst dieser Unterschied ist, sofern die Kunstdichtung gleichfalls aus dem Quell der nationalen Sage schöpft, doch ein hauptsächlich quantitativer: für die Dichter der großen nationalen Epen sprudelte dieser Quell reiner, voller und lebendiger, sie durften ihn nicht aufsuchen oder den verschütteten erst mühsam aufgraben; dagegen sind in den sogenannten Kunstepen die fremden oder doch subjektiven, mehr oder minder willkürlichen Zu= thaten bei Weitem häufiger und beträchtlicher. Sowie aber das Grundgesetz der dichterischen Nachahmung von Handlungen, die Einheit des Gegenstandes, angetastet wird, so leidet darunter naturgemäß auch der Nachahmungszweck: die reine Anschauung und Empfindung des Schicksalswaltens kann da nicht hervorgebracht werden, wo der unabänderlich feste und streng notwendige innere und äußere Zusammenhang der dargestellten Dinge nicht vorhanden ist. Je stärker daher der Fehler gegen das Gesetz der Einheit ist, je mehr dieselbe bloß in die Person statt in die Handlung verlegt ist, desto mehr muß der Nachahmungszweck ein äußerlicher werden, desto mehr sich das Jnteresse an den bloßen historischen Verlauf oder das thatsächliche Ergebnis des Erzählungs=„Stoffes“ heften, endlich, wo die Einheit so weit aufgehoben ist, daß auch dieses Jnteresse sich abschwächt, wird nur der Reiz des bunten Wechsels der dargestellten Veränderungen, der fesselnden Gestalt des augenblicklich den Sinn beschäftigenden Geschehnisses übrig bleiben. ────── XVII. Alle Forderungen, die an die Komposition des Epos zu stellen sind, werden am vollständigsten durch die homerischen Epen erfüllt. Aber schon Virgils „ Aeneis “ zeigt den Beginn des Sinkens der epischen Kunst. So kunstvoll vielfach die Erzählung ist, so sorgfältig die Charakterdarstellung, der Ausdruck der Leidenschaften und Reflexionen, so vermögen alle diese Vorgänge den Mangel der Einheit nicht aufzuwiegen: die Verbindung zwischen dem ersten Teile, Aeneas Aufenthalt zu Carthago und dem Selbstmord der verlasseneu Dido, und dem zweiten, dem Kampf um Lavinia und Latium, ist eine ganz äußerlich erkünstelte; weder hat der tragische Abschluß des ersten Teiles im vierten Buche die Kraft eines Verhängnisses für den Helden, welches für den weiteren Verlauf der Handlung entscheidend ist, etwa in der Art, wie Siegfrieds Verhältnis zu Brunhild die gesamte Entwickelung der Handlung in beiden Teilen des Nibelungenliedes bestimmt, noch werden die einzelnen Teile des Ganzen durch das Ethos des Helden zusammengehalten, wie in der Odyssee, wo die ganze Reihe der Abenteuer entweder geradezu durch des Helden charakteristische Sinnesart hervorgerufen oder in ihrem Ausgang, ihrer Folge und Verkettung wesentlich durch diese das Ganze beherrschende Kraft seines Ethos gestaltet wird. Wenn bei Virgils Helden ein solches Ethos vorhanden ist, so müßte es das negative der Abwesenheit aller Stärke der Leidenschaft, aller festen Beständigkeit der Gemütsart und Gesinnung und damit jedes entschiedenen Willens sein, womit er allerdings am besten geeignet wurde, durch den Verlauf seiner Erlebnisse den Faden zu liefern, an welchem der Dichter in erwünschter Weise seine rhetorischen Glanzleistungen und fein berechneten politisch=tendenziösen Effekte aufzureihen vermochte. Wie konnte damit der hohe Nachahmungszweck des echten Epos bestehen? Das Beste fehlt dem gepriesenen römischen Epos, Mark und Rückgrat und die lebendige Seele, statt des Wesens herrscht der Schein, das Jnteresse ermattet. Weiter noch entfernt sich das romantische Epos von den strengen Forderungen der Kunst. Das allgemeine, und zwar das bei Weitem am meisten den Charakter derselben bestimmende Kennzeichen der gesamten romantischen Epik ist, daß in ihr durchweg das ethische Moment überwiegt, aber nicht allein als innerlich wirkendes Moment, Art, Gang und Komposition der Handlung durchdringend und beherrschend, sondern als außerhalb stehender Faktor allenthalben die Fabel geradezu selbst erschaffend. Das Eigenartige ist, daß dieses Ethos also nicht ein den einzelnen Gedichten besonders angehöriges ist, sondern daß es in allen als ein und dasselbe erscheint. Das romantische Ethos der aus dem christlichen Feudalstaat des Mittelalters sich im Verlauf des elften und zwölften Jahrhunderts entwickelnden ritterlichen Gesellschaft des Abendlandes hat ─ in seiner Verbindung germanischer und keltischer Sinnesart mit den Elementen normännisch=fränkischer, romanischer und arabisch=orientalischer Kultur, von Tapferkeit mit Abenteuerlichkeit, von Gottes- und Herrentreue mit phantastischer Mystik und Courtoisie, von Frauenminne mit Galanterie ─ aus sich heraus, als eine einzige fortlaufende und gleichartige Aeußerung seines Wesens, die romantische Sage und Dichtung erzeugt. Wie hell springt der das ganze Wesen betreffende Unterschied in die Augen, wenn man daneben unser deutschnationales Epos stellt! Hier ist „ germanischer Mythos, “ lebendiger Leib der Sage, innerlich bewegte Handlung, unmittelbare und reine Anschauung gewaltigen Schicksals; der kunstlose Sänger ließ mit offenem Sinne sich von dem mächtigen Zuge leiten, der, dem inneren Sinn der Sage innewohnend, ihre aus weitem Gebiet gesammelten Erinnerungen zu einem Mythos, einer einheitlichen Fabel zusammenfügte, und er hat damit den höchsten und strengsten Anforderungen der Theorie entsprochen: wirklich kann hier kein Teil der Handlung entfernt oder an eine andere Stelle gesetzt gedacht werden, ohne daß der Bau des Ganzen erschüttert würde. Dagegen ist der Stoff der romantischen Epik von der Natur jener vielgliedrigen, aber auf niederer Entwickelungsstufe stehenden Organismen, welche beliebig geteilt werden können, ohne daß damit ihre Lebensfähigkeit zerstört wird. Die Mehrzahl der Dichter, die aus demselben schöpften, begnügten sich, ihn lediglich nach der Einheit der Person zu begrenzen, ohne ihn im Übrigen organisch zu gestalten; von dieser Art sind die französischen „ Romans, “ die so oft unsern mittelhochdeutschen Dichtern als Quellen gedient haben. Eine höhere Stufe nahmen diejenigen Erzähler ein, welche eine Gruppe dieser beliebig aneinander gereihten Einzelhandlungen dadurch zu einer Art von Einheit zu gestalten suchten, daß sie dieselben äußerlich mit einem Rahmen umgaben. So weiß Hartmann von Aue den Schein stofflicher Einheit zu erwecken, wenn er im „ Erec “ das Jnteresse auf die endliche Lösung der Enite von der Strafe für den Zweifel an ihrem Ritter gespannt hält, und wenn er im „ Jwein “ ebenso die Verstoßung des Ritters durch die Königin Laudine und die schließliche Versöhnung der beiden verwendet: was in beiden Fällen triumphiert, ist doch wieder nur die Berechtigung des ritterlich=romantischen Ethos als solchen. Es fehlt daher sehr viel daran, daß die Natur des Stoffes überwunden wäre, der Abenteuer auf Abenteuer häuft, nur um der Freude am Geschehen willen und ohne Stetigkeit des Fortschreitens der inneren Entwickelung, so daß sowohl Fortlassungen als Veränderungen in großer Ausdehnung vorgenommen werden könnten, ohne die äußere Einheit des stofflichen Jnteresses zu alterieren. Um ein Großes stehen Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg voran, weil sie die Einheit ihrer Dichtung in die innere Struktur verlegten; beiden standen schwer zu überwindende Hindernisse entgegen, die dem letzteren nach der Natur seines Stoffes und der glücklichen Leichtigkeit seines Talentes zu einem Teile wenigstens in weit höherem Grade zu bewältigen gelang als dem andern, der freilich sich ein weit höheres Ziel gesteckt hatte. Beide treten sie dem ritterlich=romantischen Ethos, welches bei Beiden reichlich zur Darstellung gelangt, kritisch gegenüber, indem sie es zu den allgemeinen, das menschliche Leben beherrschenden seelischen Mächten in Verhältnis setzen: dabei ergibt sich in beiden Fällen ein Schicksalsverlauf, dieser Schicksalsverlauf bildet für beide die Einheit der epischen Handlung, nach der sie trachteten. Bei Gottfried ist es die Urgewalt der Liebesleidenschaft, die wie eine Naturkraft der Konvenienz der ritterlichen Gesellschaft gegenübergestellt ist, sie durchbricht und vernichtet und in solchem Widerstreit unaufhaltsam zu tragischem Ausgang hindrängt: tragisch ist der Verlauf, weil ungeachtet dessen, daß die Liebe Tristans und Jsoldens in jedem Moment der Handlung gegen diese Gesellschaft in offenbarem und schwerem Unrecht ist, sie nichtsdestoweniger durch die Kraft ihrer Wahrheit, durch ihre Tiefe und ihren echten inneren Reichtum, gegenüber dem diese Gesellschaft beherrschenden fiktiven Scheinbilde der Empfindung, einen unzerstörbaren und von jedem gefühlten Rechtsanspruch behauptet, und daß sie dennoch nach dem unerbittlichen Gesetz, von dessen ewiger und unverletzlicher Geltung der Bestand aller menschlichen Lebensgestaltung abhängt, zum Verderben führt. Hier zuerst ist das Naturrecht wahrer Empfindungskraft zwar nicht als solches proklamiert, aber dieses Naturrecht ist in Handlung vor Augen geführt und in Widerstreit gesetzt mit der bestehenden Gesellschaftsordnung; wie alle stärksten und segensreichsten Kräfte erweist sich auch diese, von der rechten Stelle und aus der ihr bestimmten Bahn gebracht, als verhängnisvoll und zerstörend. Anlage und Neigung führten den Dichter von „Tristan und Jsolde“ aber dazu, daß er bei weitem größeren Nachdruck auf die Darstellung der Kraft, Tiefe und Wahrheit der Empfindung legt, die er durchweg mit den schönsten und lebhaftesten Farben zu malen weiß, als auf die Vorbereitung und Durchführung des tragischen Elementes der Handlung, auf dem zuletzt die Einheit, Kraft und Würde der Dichtung beruht; vielleicht hat das in diesem wesentlichen Punkte vorhandene Unvermögen des Dichters es am meisten verschuldet, daß sein Epos unvollendet blieb. Desto stärker und deutlicher war er sich seiner Kraft bewußt; er legt davon auf dem Höhepunkte der Dichtung, im siebzehnten Abschnitt, wo das Liebesgeständnis zwischen Tristan und Jsolde erfolgt ist, ein ausdrückliches Zeugnis ab; Jch führe die schöne Stelle nach dem R. Bechsteinschen Texte (mit Hinzufügung der Simrockschen Übersetzung) hier an, da sie in hohem Grade geeignet ist, darzuthun, in wie absichtlicher Weise Gottfried seine Schilderung der echten Liebe der konventionellen Entartung des Minnewesens entgegenstellte. Er fügt der Erzählung, wie nun Tristan und Jsolde ihren Liebesbund besiegelt haben, das Folgende hinzu (s. XVII, V. 12204 ff.): ich hân von in zwein vil gedâht und gedénke hiute und alle tage; swenne ich liebe und senede klage vür mîniu ougen breite und ir gelegenheite in mînem herzen ahte, sô wahsent mîn trahte und muot mîn hergeselle, als er ín die wolken welle. swenn' ich bedenke sunder Über beide hab' ich viel gedacht Und denke heut und allezeit: Wenn ich Liebeslust und Leid Mir will vor Augen breiten, Jhr Wechseln und ihr Streiten Jm Herzen zu betrachten, So wächst mein sehnlich Trachten Und Mut, mein Heergeselle, Als ob er in den Himmel schwelle. Wenn ich der Wunder denke, ja man möchte aus dem Verlaufe dieser Stelle, sowie auch aus dem Eingange des ganzen Gedichtes schließen, daß es ihm vor allem darauf ankam, durch seine Erzählung dem erschlafften Zeitalter gleichsam wie in einem Zauberspiegel ein Bild vorzuhalten, an dem es erkennen könnte, was echte Liebe und überhaupt echte Empfindung daz wunder und daz wunder, daz man an liebe funde der ez gesuochen kunde; was fröude an liebe laege, der ir mit triuwen phlaege: sô wirt mîn herze sâ zestunt groezer danne setmunt; Das Wort ist unerklärt; Simrocks Übersetzung „Septimund“ folgt der Konjektur septimunt == Siebengebirge (andere verstehen es als „Septimer“). und erbármet mich diu minne von allem mînem sinne, daz meistic alle, die der lebent an minnen hangent und klebent und ir doch niemen rehte tuot. wir wellen alle habent muot und mit minnen umbe gân. nein, minne ist niht alsô getân, als wir s' ein ander machen mit välschlîchen sachen. wir nemen der dinge unrehte war, wir saejen bilsensâmen dar und wellen danne, daz uns der liljen und rôsen ber. entriuwen, des mac niht gewesen; wir müezen daz her wider lesen, daz dâ vor gewerket wirt, und nemen, daz uns der sâme birt. wir müezen snîden unde maen daz selbe, daz wir dar gesaen. wir bû'wén die minne mit gegelletem sinne, mit valsche und mit â'kúst und suochen danne an ir die lust des lîbes unde des herzen: sone birt si niuwan smerzen, unguot und unfruht unde unart, als ez an ir gebûwen wart. als ez uns danne riuwe birt und innerhalp des herzen swirt und toetet uns dar inne, sô zîhen wir's die minne Mich wundernd drein versenke, Die an der Liebe fände, Wer zu suchen nur verstände, Was Freud' an Liebe läge, So man sie mit Treuen pfläge: So wird das Herz mir gleich zur Stund Größer fast als Septimund, Und erbarmt mich dann die Minne Von ganzem Herzenssinne, Daß die Meisten, die da leben, An Minne haften und kleben, Und der ihr Recht doch niemand thut. Wir haben alle guten Mut Zu wandeln auf der Liebe Bahn. Nein, Minne ist nicht so gethan, Wie wir uns weis wohl machen Mit trügerischen Sachen. Man nimmt der Dinge übel wahr, Sät Bilsen aus im Februar, Und wundert sich am Erntetage, Daß er Rosen nicht und Lilien trage. Jn Treuen, das mag nimmer sein, Wir heimsen andre Frucht nicht ein, Als wir in das Feld gestreut, Wir ernten, was der Same beut. Wir müssen schneiden und mähen, Was wir in den Acker säen. Wir bauen die Minne Mit galligem Sinne, Trug und Falschheit in der Brust, Und fordern dann von ihr die Lust Des Lebens und der Herzen. So bringt sie uns nur Schmerzen, Unsüße Frucht von arger Art, Die von uns selbst gezogen ward. Hernach wenn uns die Reue trifft, Uns in dem Herzen schwiert ihr Gift Und tödtet uns darinne, So zeihen wir's die Minne sei, und wie weit, was ihm dafür gelte, davon entfernt sei. Nach dieser Richtung gelingt ihm alles so wohl ─ nicht allein in der Haupthandlung, sondern auch in den Nebenhandlungen (man denke an Riwalin und Blanscheflur, an Rual li Foitenant und sein ganzes Haus) ─, er unde schuldegen sî dar an, diu schulde nie daran gewan. ............ des guoten vinden wir dâ niht, des unser iegelicher gert und des wir alle sîn entwert: daz ist der staete friundes muot, der staetecliche sanfte tuot, der die rô'sen bî dem dorne treit die senfte bî der arebeit; an dem ie lît verborgen diu minne bî den sorgen, der an dem ende ie fröude birt, als ofte als er beswaeret wirt, den vindet man ie lützel nuo: als vórwérke wir dar zuo. Ez ist vil wâr, daz man dâ saget: „Minn' ist getriben unde gejaget in den endelôsten ort.“ wir haben an ir niwan daz wort: uns ist niwan der name beliben und haben ouch den alsô zetriben, also verwortet unde vernamet, daz sich diu müede ir namen schamet und ir daz wort unmaeret; si swachet unde swaeret ir selber ûf der erde; diu êrelôse unwerde, si slîchet under hûsen biten und treit von lasterlichen siten gemanicvaltet einen sac ..... .............. Minn', aller Herzen Künigin, diu frîe, diu eine diu ist umb' kouf gemeine, wie habe wir unser hêrschaft an ir gemachet zinshaft! wir haben ein boese conterfeit in daz vingerlîn geleit und triegen uns dâ selbe mite. ez ist ein armer trügesite, Und geben ihr die Schuld daran, Die nie daran die Schuld gewann. ............ Wir finden nichts von dem Genuß, Des unser Jeglicher begehrt Und der uns billig bleibt verwehrt. Den Genuß gibt stäter Freundesmut, Der sanft zu allen Stunden thut, Der bei dem Dorn auch Rosen trägt Und Süßigkeit bei Schmerzen hegt, Jn dem bei allen Sorgen Die Minne liegt verborgen, Der stäts am Ende Freude schenkt, Wie oft er auch in Kummer senkt: Den findet man so selten nun, Die Ernte bringt das falsche Thun. Es ist wohl Wahrheit, was man sagt: „Vertrieben wird und ausgejagt Die Minne bis zum fernsten Ort.“ Von ihr verblieb allein das Wort, Uns ist der Name nur geblieben, Den haben wir auch so zerrieben, So abgejagt und lahm gehetzt, Ermüdet schämt sie sein sich jetzt. Das Wort macht ihr Beschwerde, Sie ward sich auf der Erde Schier selbst zuwider und zur Last, Sie ist da ein unwerter Gast. Sie geht von Haus zu Hause bitten Und führt mit lästerlichen Sitten Angefüllten Sack herum u. s. w. ............ Minn', aller Herzen Königin, Mit ihren freien Gaben, Jst nun um Geld zu haben. Wir würd'gen unsre Herrlichkeit An ihr herab zur Zinsbarkeit: Wir fassen einen falschen Stein Jns edle Gold am Fingerlein Und trügen so uns selber auch. Welch armsel'ger Lügenbrauch, befindet sich hier so ganz in seinem Element, daß er den Ernst des unerbittlichen Schicksals aus den Augen verliert und mit allen seinen Reizen und großen Vorzügen unter der Höhe des Epos bleibt, dessen Würde und Größe unzertrennlich von seiner strengen Einheit sind: diese der friunden alsô liuget, daz er sich selben triuget. wir falschen minnaere, der Minnen trügenaere, wie vergânt uns unser tage, dáz wir únsérre klage sô selten liebez ende geben! wie vertuon wir unser leben âne liep und âne guot! nu gît uns doch daz guoten muot, daz uns ze nichté bestät. swaz iemen schoener maere hât von friuntlichen dingen, swaz wir mit rede vür bringen von den, die wîlen wâren vor manegen hundert jâren, daz tuot uns in dem herzen wol und sîn derselben state sô vol, daz lützel iemen waere getriuwe unde gewaere und wider den friunt ân â'kúst, ern möhte sus getâne lust von sîn selbes sachen in sînem herzen machen, wan uns daz selbe z' aller zît mit jâmer under füezen lît, dâ von ez allez ûf erstât: deist triuwe, diu von herzen gât; diu treit sich uns vergebene an; sô kêre wir daz ouge dan und trî'bén die süezen unwertlich under füezen; wir haben si mit unwerde vertreten in der erde; ob wir si gerne suochten dâ, wir enwízzen alles gâhes wâ. sô guot, sô lônbaere triuw under friunden waere, war umbe lieben wir si niht? ein blic, ein inneclîch gesiht ûz herzeliebes ougen Wer Freunden also lüget, Daß er sich selber trüget! Wir Minner falscher Sinne, Verfälscher wahrer Minne, Wie vergehn uns unsre Tage, Daß wir unsrer Klage So selten liebes Ende geben! Wie verthun wir unser Leben So ohne Lieb' und wahres Gut. Gibt es uns doch guten Mut, Wo es auf fremdem Felde sprießt. Was jemand schöner Mären liest Von freundlichen Dingen, Was wir zur Sprache bringen Von solchen, die da waren Vor manchen hundert Jahren, Das thut uns in dem Herzen wohl Und sind des gleichen Fugs so voll, Daß selten jemand wäre, Der Treue trüg' und Ehre Und dem Freund kein Falsch in seiner Brust, Er möchte sogethane Lust Jn Herzen und in Sinnen Sich selber wohl gewinnen. Denn unter unsern Füßen liegt Mit Jammer kläglich hingeschmiegt, Wovon so holdes Glück entsteht: Das ist Treue, die von Herzen geht; Die trägt sich uns vergebens an: Die Augen kehren wir hiedann Und treten leider die Süße Gleichgültig unter die Füße. Die wir da liegen ließen Und in die Erde stießen, Wollten wir sie suchen dort, Wir wüßten kaum sogleich den Ort. So guten Lohn die rechte Treu' unter Freunden brächte, Warum lieben wir sie nicht? Ein Blick von holdem Angesicht Aus den geliebten Augen strenge Einheit kann durch nichts anderes gegeben werden, als durch die Vorführung eines Schicksalsvollzuges, der geeignet ist, die reinen Schicksalsempfindungen zu erzeugen. Es ist nicht so sehr der fehlende Abschluß, der diesen Mangel fühlbar macht, als vielmehr die Abwesenheit des tragischen Bewußtseins bei dem Dichter, das schon bei der Anlage der Handlung vorausdeutend sich kundgeben und ihren Fortgang überall erfüllen müßte. Dieses höchste Einheitsgefühl, wie es z. B. in dem Nibelungenliede mit lebendigster Kraft wirksam ist und wie es aus dem immerfort gegenwärtigen Bewußtsein des Schicksalsverlaufs ganz ohne Theorie einfach und mit Notwendigkeit entspringt, vermag auch allein das überflüssige und darum schädliche Episodenbeiwerk des Rohstoffes auszuscheiden und die entstellenden Züge, die störenden Elemente desselben hinwegzuläutern. Ein merkwürdiges Zeugnis, wie unkritisch und des Wesentlichsten ahnungslos Meister Gottfried und sein Publikum noch dem Stoff gegenüberstanden, ist die Unbefangenheit, mit der er im achtzehnten Abschnitte den entsetzlichen Mordanschlag Jsoldens gegen ihre getreue Brangäne berichtet, die ihr eben das höchste Opfer gebracht hat, ein Mordanschlag, dem von seiten der Anstifterin nichts zur That fehlt; und diese Unthat ist nicht allein in der Ökonomie der Handlung ohne alle Bedeutung, sie kann ohne weiteres einfach gestrichen werden, sondern, was viel schlimmer ist, sie bleibt auch sittlich und psychologisch ohne alle Konsequenzen, sie vermag weder dem Dichter das glänzende Bild seiner Heldin zu trüben, noch hat sie irgend einen Einfluß auf ihr Schicksal, was selbst in dem primitivsten Märchen unerhört sein würde. Die einzige Reflexion, zu der sich der Dichter bei dieser Affaire im Vorübergehen herbeiläßt, ist die folgende (s. v. 12713 ff.): diu sorchafte Künigîn diu tete an disen dingen schîn, daz man laster unde spot mêre fürhtet danne got . Umgekehrt liegt das Verhältnis in Wolframs „ Parzival “: vor Allem ist dem Dichter die Durchführung des Schicksalsverlaufs angelegen, der leschet âne lougen hunderttusend smerzen des lîbes unde des herzen. ein kus in liebes munde, der von des herzen grunde her ûf geslichen kaeme, ahî, waz der benaeme seneder sorge und herzenôt! Mag doch zu löschen taugen Hunderttausend Schmerzen Des Leibes und der Herzen. Ein Kuß von liebem Munde, Der von des Herzens Grunde Heraufgedrungen käme, Ach, wie viel benähme Der sehnlich Leid und Herzensnot! dem, wenn auch äußerlich dem Gedichte die strenge Einheit zu fehlen scheint, doch im Grunde ein jeder Teil der weitverzweigten Handlung untergeordnet ist; dagegen ist Wolfram der, in seinem Falle allerdings weit schwierigeren Aufgabe, die jenen Schicksalsverlauf bedingende psychologische Entwickelung in Handlung darzustellen, bei weitem nicht in dem Grade gerecht geworden, wie sein rivalisierender Zeitgenosse Gottfried. Während dieser es mit der bloßen Andeutung des überlieferten Symboles sein Bewenden haben läßt und dafür der sachlichen und ethischen Entfaltung der Handlung in vollster Breite ihr Recht geschehen läßt, begnügt sich Wolfram an allen wichtigen Wendepunkten der inneren Handlung fast allein mit der allerdings höchst umständlichen Vorführung der symbolischen oder auch allegorischen Handlung, der er umgekehrt die direkte Darstellung psychologisch=ethischer Zustände nur andeutend hinzufügt. Aber so entscheidend ist jener erste, fundamentale Vorzug, die Bewahrung der einheitlichen Gesamtanlage, daß ihm nichtsdestoweniger und trotz der glänzenden Meisterschaft Gottfrieds mit Recht vor diesem der Preis zugesprochen wird. Der Parzival ist ein ethisches Epos, das heißt also seine Handlung ist in ihrem Verlauf nicht so sehr durch die von außen herzutretenden Geschicke als vielmehr durch die von innen heraus wirkenden Seelenzustände des Helden bedingt; die Handlung ist ferner eine verwickelte, und zwar durch Peripetie und Erkennung, welche sich in diesem Falle auf die Sache bezieht. Der Held geht gerade durch die Art, wie er sein Ziel zu erreichen strebt, desselben nicht allein verlustig, sondern er erreicht damit das Gegenteil desselben, welches für ihn mit einem völligen Glückswechsel verbunden ist; durch die Erkennung des Zieles sowohl als des wahren Verhältnisses zwischen dessen Beschaffenheit und seinem Streben wird er dann in den Stand gesetzt, es zu erringen und damit einen abermaligen, diesesmal günstigen Glückswechsel zu bewirken. Auch Gottfrieds Epos ─ um zur Vergleichung auch über dieses ein abschließend formuliertes Urteil hinzuzufügen ─ ist ethisch, aber seine Handlung ist einfach, sie führt in gerader Linie zu ihrem Ziel: dieses Ziel mußte schweres Leiden der Betheiligten sein, die epische Handlung müßte damit den Charakter des Pathetischen ─ des „ Leidvollen “ in dem oben definierten aristotelischen Sinne ─ erhalten; aber dieser Grundcharakter der Handlung dürfte sich keineswegs allein im Ausgange offenbaren, sondern müßte dem gesamten Epos seine Färbung geben. Daß diese Färbung der Dichtung Gottfrieds fehlt, zerstört ihren einheitlichen Grundcharakter ─ und würde ihn ebenso zerstören, wenn auch der Dichter das unglückliche Ende des Helden und der Heldin noch hinzugefügt hätte ─, und damit ist ihr ein großer Teil ihres Wertes geraubt. Durch jenen Mangel geschieht es, daß das Gedicht ohne feste Haltung zwischen dem Wesen der komischen Erzählung, wo das Frivole ein absichtsvoll verwandtes Darstellungsmittel ist, und dem des ernsten Epos schwankt, wo es als Frevel erscheint und tragische Sühnung erfordert: es genügt an das heillose Spiel mit dem Gottesurteil zu erinnern, das nur als anekdotenartiger Schwank unter Entfernung aller realen Beziehungen zu ertragen wäre, ferner an den abgefeimten Betrug mit dem Schwerte in der Minnegrotte und an die ganze Reihe der eines Bocaccio würdigen Täuschungen des guten, aber gleichfalls auf der Grenze der komischen Darstellung stehenden Marke. Dagegen verdankt der Parzival, ungeachtet der freien, nicht selten an den Humor streifenden Bewegung der Erzählung, der festen Fügung des Grundplanes die Einheitlichkeit des Tones und die kraftvolle Haltung des Ganzen und damit seine Bedeutung und die Größe seiner Wirkung. Die Handlung besteht in der Gewinnung des Gralkönigtums durch den Helden: zu den wesentlichsten Erfordernissen ihrer Darstellung gehört somit, daß sie einerseits die Bedeutung dieses Gralkönigtums vorführe, andrerseits die Beschaffenheit des Helden dieser Bedeutung gegenüber. Nach diesem einheitlichen Gesichtspunkte und diesen Erfordernissen ist der Dichter, mag er nun ganz selbständig gehandelt haben oder ihm von seiner Quelle schon wesentlich vorgearbeitet sein, bei der Auswahl, Gestaltung und Disponierung des stofflichen Materials durchweg verfahren, freilich mit unentwickelter Technik, oft mit unzulänglichen Mitteln. Das Wesentlichste ist ihm zunächst die Darstellung der ethischen Beschaffenheit seines Helden: seine Kunst gewährt ihm dazu kein anderes Mittel, als das naive Verfahren ab ovo zu beginnen und den Hörer mit der Beschaffenheit und Geschichte der Eltern bekannt zu machen, um ihn über Anlage, empfangene Grundrichtung und Jugendgeschichte, kurz über die Gesamtheit dessen, was nach allen Richtungen auf sein Wesen und Schicksal bestimmend einwirkte, zu unterrichten. Aber selbst in dieser schwerfälligen und scheinbar nur chronologisch geordneten Vorgeschichte zeigen sich die Spuren der großartigen Weite und festen Bestimmtheit, in welcher der Gesamtplan entworfen ist, insofern die wesentlichsten Züge derselben auf die dem Gralkönigtum beigelegte Bedeutung hinweisen. Das Gralkönigtum ist das Symbol der Vorstellungsweise, mit welcher Wolfram von Eschenbach seinerseits sich der herkömmlichen Auffassung des romantischen Rittertums, wie es auch noch bei Hartmann erscheint, kritisch gegenüberstellt und sich hoch über dieselbe erhebt. Auf dem kirch= lichen Boden steht auch jene; Tapferkeit und Treue, Edelmut und reine Sitte werden auch dort als die höchsten Tugenden erkannt und in Handlungen bewährt: alles dieses, das spezifisch ritterlich=romantische Ethos in seinem reinsten Glanze, hat ebenso Wolfram seinem Gawain verliehen und in einem weit ausgedehnten Teil seiner Dichtung zu breitester Darstellung gelangen lassen. Aber diese Darstellung dient ihm nur als Folie für seinen Helden, oder als stolzer Unterbau für die noch herrlichere Erscheinung des Bildes, das ihn krönen soll. Für diese höchste Vorstellung fehlen ihm nun jedoch die realen Darstellungsmittel und er greift zu dem Symbol, das der ahnende Geist der Sage ihm bietet. Faßt man, ohne sich in die problematische Deutung des Einzelnen einzulassen, nur die großen, spezifisch unterscheidenden Züge ins Auge, so ergibt sich das Folgende: an die Stelle der bloßen Kirchlichkeit tritt eine den ganzen Menschen durchdringende, ethische Vertiefung des religiösen Bewußtseins ─ wodurch der Parzival allerdings eine innere Verwandtschaft mit dem Hauptmoment aller religiösen Erneuerung, also auch der Reformation, erhält. Dadurch bedingt tritt zu jenem Jnbegriff der ritterlichen Tugend eine neue Forderung hinzu: die Aufgebung der eigenen Persönlichkeit zu Gunsten der Allgemeinheit, die Hingabe an die Heilung des menschlichen Leidens nicht zum eigenen Ruhme, sondern um jenes Leidens selbst willen; ─ in der Frage an Amfortas, an der alles hängt und die, da sie gethan wird, durch ein Wunder die Heilung bewirkt, liegt höchst treffend ausgedrückt, daß diese gesammelte, höchste Kraft, sobald sie das Ziel ihrer Bethätigung richtig erkennt und ergreift, des Erfolges gewiß ist. Durch die Verbindung der höchsten Kraft mit dem regsten, tiefinnerlichen, religiösen Bewußtsein tritt an die Stelle der aristokratisch=exklusiven Organisation der ritterlichen Gesellschaft, die in allem Glanz ihrer Thaten doch immer nur sich selbst Zweck ist, ein Königtum, welches die Quelle des inneren Heiles und der äußeren Wohlfahrt für alle Länder, für die ganze Welt ist, gleichsam ein ideales Kaisertum der ganzen Menschheit, dessen Hoheit alles sich beugt, von dem die Erhaltung allen Rechtes und Gedeihens abhängt und das überall, wo demselben Gefahr droht, ordnend eingreift, ohne einer andern Autorität zu bedürfen als der Kraft seiner Sendung ─ dies letztere die Bedeutung des Verbotes der Frage an die ausgesandten Gralsritter. Und noch ein höchst merkwürdiger Zug: dieses ethisch=praktische Jdeal, dem das Rittertum zwar nachtrachtet, das aber für dasselbe unerreichbar ist, steht der spezifisch ritterlichen Gewöhnung so gegenüber, daß derjenige, der für dasselbe geboren ist, völlig außer= halb der ritterlichen Traditionen erzogen werden muß, um es zu erlangen; ja noch mehr: obwohl die Taufe unbedingt notwendig ist, um des Grals überhaupt auch nur ansichtig zu werden, so ist doch die ethische Gesinnungsweise und gewissermaßen die damit verbundene persönliche Prädestination so sehr das Haupterfordernis für die Gemeinschaft des Grals, daß die ethnische Kultur, weit entfernt ihre Träger von derselben auszuschließen, unter Umständen sie vorzugsweise dafür geeignet erscheinen läßt; ─ zu dem einzigen Begleiter, der ihm auf seinem Zuge nach dem Gralstempel zur Gewinnung des Königstums gestattet wird, erwählt Parzival seinen Halbbruder, den Heiden Feirefiß, nach seiner Taufe verlangt dieser die Pflegerin des Grals zur Gemahlin, und die Frucht dieses Bündnisses ist der Priester Johannes, der das Christentum bis in die fernsten Länder des Ostens ausbreitet. Auf dieses Faktum, das an den Schluß des Ganzen gestellt ist, weist schon die Vorgeschichte hin: Gahmurets Orientfahrten, seine Verbindung mit der Heidenkönigin Belakane haben diese Bedeutung für den Gesamtplan. Seine zweite Vermählung mit der aus dem Blute der Gralkönige entsprossenen Herzeloide, zu welcher er halb gegen seinen Willen wie durch höhere Fügung geführt wird, fördert den Dichter dann zu dem Hauptgegenstande seines Planes: in dem aus dieser Ehe geborenen Sohn diejenigen Anlagen und denjenigen Entwickelungsgang vorzuführen, die allein die Gewinnung des Grals ermöglichen, eine That, die zugleich die Erlösung von schweren, auf der Gesamtheit lastenden Leiden bedeutet. Daß Wolfram sich zu dieser Schilderung weit überwiegend symbolischer und sogar allegorischer Mittel bedient, ist die große Schwäche seiner Dichtung, die ihm Gottfrieds harten Tadel zuzog, denselben, der auch heute noch für viele, wenn nicht für die Mehrzahl, Geltung hat, daß er zu denen gehöre: die bernt uns mit dem stocke schate, niht mit dem grüenen meienblate, mit zwîgen noch mit esten. ir schate der tuot den gesten vil selten in den ougen wol. ............ die selben wildenaere si müezen tíutáere mit îr maeren lâzen gân: wir enmúgen ir dâ nâch niht verstân, als man si hoeret unde siht sone hâ'n wir ouch der muoze niht daz wir die glôse suochen in den swarzen buochen . Die möchten schatten mit der Stange, Nicht mit dem grünen Laubbehange, Mit Zweigen noch mit Ästen: Jhr Schatte thut den Gästen Gar selten in den Augen wohl. ............ So wilder Märe Jäger Müssen Ausleger Mit ihren Mären lassen gehn: Wir können so sie nicht verstehn, Wie man sie reden hört und liest. Den Klugen auch die Zeit verdrießt, Daß er im schwarzen Buche Nach der Glosse suche. Aber wenn er die Vollendung der Form nicht erreichte, so war seine Aufgabe inhaltlich die höchste und schwierigste, welche gestellt werden kann, für die epische Poesie anders als durch symbolische Darstellung unlösbar. Der Übelstand lag also in erster Linie in der Wahl des Stoffes und erst in zweiter in der Darstellungsweise des Dichters, Fehler und Vorzüge lagen auf derselben Seite. Wie überraschend ist das Talent frischer, gegenständlicher Erzählung und reicher Charakteristik ─ weit mannigfaltiger und lebensvoller als sie Hartmann je erreicht hat ─, das Wolfram in den Gawain betreffenden Partien seines Epos zu entfalten weiß, dieser scheinbar lose eingefügten großen Episode, welche dennoch gewissermaßen negativ zur Deutlichkeit der Haupthandlung sehr wesentlich beiträgt, da sie den ganzen Umfang dessen vor Augen führt, was an Reiz und Lohn, an Ruhm und Wichtigkeit so lockend und hoch hervorragend auf Parzivals Wege war, und was alles er um seines höheren Zieles willen unbeachtet hinter sich liegen ließ. Trotz der unleugbaren und oft verstimmenden Unbeholfenheit, Dunkelheit und Härte von Wolframs Darstellung jedoch ist ihm eins gelungen, und dieses eine ist zuletzt das Wesentlichste: die an den entscheidenden Wendepunkten der Handlung seinen Helden beherrschenden ethischen Zustände hat er trotz alledem so nachzuahmen verstanden, daß überall eine deutliche Empfindung derselben in den Hörer übergeht. Daß es diese wichtigste poetische Kraft und daß es die echte epische Einheit besitzt, bewirkt den Reiz, den das Gedicht ausübt, und sichert ihm seinen hohen Rang. Hoch über diesem weitaus hervorragendsten Epos der romantischen Kunstdichtung aber stehen die deutschen Volksepen, das Nibelungenlied und die Gudrun. Es kann hier nicht daran gedacht werden in den großen Streit um die Nibelungenfrage nach seinem ganzen Umfange einzutreten, wo auf der einen Seite die Autoritäten eines Lachmann und Müllenhoff, auf der andern die der Gebrüder Grimm und Uhlands stehen. Nur der Gesichtspunkt der epischen Einheit soll nach dem inhaltlichen Material, wie der sogenannte gemeine Text es bietet, ins Auge gefaßt werden. Es ist die Mär von der „ Nibelungen Not “, das Lied von Chriemhildens Rache, oder wie die Handschrift D . schreibt „ daz Buoch Chreimhilden “, welches aus einem weit umfassenden, noch in lebendiger Überlieferung fortbestehenden Sagenkreise der ordnende Dichter uns überliefert hat. Man wird mit Sicherheit anzunehmen haben, daß diese Überlieferung eine poetische war, daß sie also in einer großen Zahl von Liedern erfolgte, ebenso daß diese Lieder als im großen und ganzen einer Kontinuität zugehörig sich darstellten; mit derselben Sicherheit aber wird man anzunehmen haben, daß bei den tief eingreifenden Wandlungen der Sage, welche unmöglich immerfort gleichzeitig sich über den gesamten vorhandenen Bestand der Lieder erstrecken konnten, während sie doch durch eine Reihe von Jahrhunderten sich hinziehen, in diesen Liedern sich die stärksten Divergenzen herausgebildet haben, bis zur völligen Verwischung einer großen Zahl von Motiven. Vor allem aber wird festzuhalten sein, daß, wie groß oder wie klein man sich die Anzahl der vorhandenen und fortgesungenen Lieder denken mag, ein jedes derselben einzig und allein darin seine Entstehung gehabt, wie auch seine Fortexistenz haben konnte, daß es ganz ohne alle Rücksicht auf Vorhergehendes oder Folgendes für sich selbst ein Ganzes bildete, in sich also seinen Bestand besaß. Diesen Bestand als Ganzes empfängt das Lied durch seinen Liedeszweck, durch das τέλος μιμήσεως , durch die das Nachahmungsmaterial in Bewegung setzende Absicht des Sängers. Diese ist die organisierende und beseelende Kraft, sie schöpft aus dem der Zeit des Sängers im Bewußtsein schwebenden Sagenkomplex und rundet zum Ganzen, indem sie ganz ähnlich wie in der Ballade für die Erzeugung des nachzuahmenden Ethos alles Erforderliche, wenn auch in knappster Kürze, herbeischafft und mit der Herstellung desselben ihr Werk abschließt, so daß ein weiteres nicht allein nicht erfordert, sondern notwendig wenigstens von dem selbständigen und abgeschlossenen Organismus dieses Liedes ausgeschlossen wird. Es liegt in der Natur solcher Lieder, daß nur einzelne Gipfelpunkte aus dem Gesamtgebiete der Sage in ihnen dargestellt werden können; die verbindenden Bergzüge und Kämme, die gliedernden Senkungen, Einschnitte und Thäler werden nicht darin aufgenommen werden können; eben dieses ist der Grund, warum bei solcher Fortpflanzung des Sagenstoffes in Liedern die bedeutendsten und eingreifendsten Änderungen der Hauptmotive so leicht stattfinden können, denn, um in dem früheren Bilde zu bleiben, man kann auf einen und denselben Gipfel eben von den verschiedensten Seiten hinaufgelangen. So ist es nicht allein sehr wohl denkbar, sondern als gewiß anzunehmen, daß es Lieder gegeben haben wird von Siegfrieds Kampf mit Brunhilde, und zwar zu den verschiedenen Zeiten sehr verschieden lautende, ebenso von der Jagd im Odenwalde und von Siegfrieds Ermordung, auch, seitdem die Sage sich so weit entwickelt hatte, mannigfache Lieder, die den Kampf der Burgunden mit den Heunen betrafen, aber jedes dieser Lieder für sich bestehend mit neuer, selbständiger Einführung der Personen und Dinge; dagegen ist es völlig undenkbar, daß Ereignisse und Teile der Handlung, welche einen ledig= lich vorbereitenden oder den Zusammenhang vermittelnden Charakter tragen, jemals als solche der Gegenstand von Liedern gewesen sein sollten. So z. B. Siegfrieds oder Chriemhildens Jugendgeschichte, wohlverstanden, so wie sie in unserm Nibelungenepos behandelt sind; denn an und für sich genommen, wäre ein solches Lied von Siegfrieds Jugend freilich sehr wohl denkbar. Aber wie müßte dasselbe ausgesehen haben? Kann es irgend jemand zweifelhaft sein, das dieses Lied zum Kerne die bezeichnendsten Abenteuer und Thaten des jungen Helden gehabt haben und allein um dieses Zweckes willen gesungen worden sein müßte? Diese also in gegenständlichster Darstellung hätten seinen Jnhalt abgegeben ohne die Hindeutung auf irgend ein Folgendes, welche dem Liedeszweck gänzlich fremd gewesen wäre. Aus anderm Grunde wird der Sachsenkrieg, der schlechterdings nur in dem epischen Zusammenhange seine Motivierung als für das Folgende erforderliche Episode hat, eine selbständige Existenz im Liede schwerlich besessen haben. Von ähnlicher Natur ist die Schilderung der Feier von Siegfrieds und Gunthers Hochzeit, von Chriemhildens Witwentrauer, von Rüdigers Werbung, des größten Teiles der Ereignisse auf dem Zuge der Helden zu Etzel, namentlich die schöne Episode ihrer gastliche Aufnahme zu Bechlaren, und vieles andere derart. Man wird hiernach mit Jakob und Wilhelm Grimm, mit Ludwig Uhland, Simrock und vielen andern der Zwanzig-Lieder=Theorie Lachmanns entschieden widersprechen müssen. Es ist so unmöglich, daß durch die Zusammenfügung einer Anzahl von Liedern mit geringen Zusätzen einiger verbindenden Strophen die festgegründete und wohlgeordnete Einheit eines Epos entstehen sollte, als daß etwa durch die gemeinsame Überdachung einer Gruppe der anmutigsten Pavillons, stolzer Schlößchen und Burgen die symmetrisch gegliederte Architektur eines mächtigen Palastes geschaffen würde. Eine ganz andre Frage ist, ob dem epischen Dichter durch solchen Vorrat von Liedern nicht höchst wesentlich vorgearbeitet sein mußte, und ob er nicht umfängliche Partien daraus ohne weiteres in seine Dichtung aufnehmen konnte. Wie die Existenz solcher Lieder ganz ohne Zweifel ihm den Stoff und noch mehr die mächtig wirkende Anregung zu seinem Epos gewährte, so überkam er sicherlich damit auch die Form, und bei vielen und zwar den bedeutsamsten Punkten stellten aus der ihn umschwebenden Fülle sich ihm kleinere oder auch größere Partien ein, die er als fertige Werkstücke seinem Bau einzufügen vermochte. Bis so weit würde man von der Hypothese Lachmanns freilich noch nicht so sehr wesentlich abgewichen sein; aber die Hauptsache ist diese: nimmer= mehr konnte auf solche Weise der Grundplan des Ganzen gleichsam ohne Zuthun des Dichters sich bilden, nimmermehr die Anordnung und Ausarbeitung des Stoffes ihm so von außen zuwachsen; ganz im Gegenteil war es seine Hauptaufgabe und eine von den größten Schwierigkeiten, die er zu überwinden streben mußte, dem von ihm, dem Einzelnen, erdachten einheitlichen Plane gemäß das oft gewaltig widerstrebende Material der Sage und die oft zähen Widerstand leistende Struktur solcher übernommenen Partien umzuformen, anzupassen und einzuordnen, eine Arbeit, die der Natur der Sache nach ihm nicht immer völlig wird geglückt sein. Noch weit schwieriger freilich war es für ihn die vorhandenen großen Lücken in der Motivierung und Ausführung des Stoffes für den von ihm geschaffenen Plan aus eigener Schöpferkraft auszufüllen; kein Wunder, daß hier neben Ausgezeichnetem sich auch Schwächeres vorfindet und daß vielfach, namentlich in den Äußerlichkeiten, der allmächtig herrschende Zeitgeschmack bestimmend wirkte. So leicht es ist, dasjenige als „moderner“ auszuscheiden, was entschieden diesen letzteren Charakter trägt, so vergeblich ist das Bemühen, die angeblichen „alten Lieder“ zu rekonstruieren, die der Ordner „interpoliert“ haben soll. Als ein schlagendes Beispiel mag gerade dasjenige Lied gewählt werden, welches unter allen Lachmannschen Rekonstruktionen den glänzendsten Anschein des Gelingens an sich trägt, das wahre Muster- und Probestück seiner Methode, das „ vierte “ Lied, welches den Kampf Siegfrieds mit Brunhild erzählt. Von der siebenten Aventüre fallen hier volle zwei Drittel der Athetese zum Opfer, von 127 Strophen bleiben nur 42 übrig. Natürlich hat, was stehen gelassen ist, nun einen überaus schnellen und kühnen Gang, es ist eben nur das rein Thatsächliche verschont geblieben; damit ist der Schein des Liedartigen gewonnen, denn das Lied, dessen Zweck die Erweckung des Ethos, die Stimmung, ist, hat die Weise, die äußere Handlung auf das Minimum in der Darstellung zu beschränken. Aber eben auch nur dieser Schein ist erreicht! Wir erfahren auch nicht das Mindeste außer der nackten Thatsache, daß mit einer sehr starken Jungfrau ein Schwächerer kämpft, um sie zu gewinnen, und daß durch die Tarnkappe den Blicken der Zuschauer entzogen ein Stärkerer ihm dabei hilft; jede geringste Spur der inneren Bedeutung des Vorganges, auf die allein es dem Liede ankommt, jedes Anzeichen der Beteiligung der Gemütskräfte von seiten der Handelnden und Zuschauenden, ebenso jede derartige Wirkung auf die Hörenden ist sorgfältig ausgelöscht. So fehlt dem „Liede“ auch die Selbständigkeit und Rundung, es ist lediglich der äußerliche Hergang, der einen Abschluß findet: ‚ Sô wol mich dirre maere,‘ sprach Sîfrit der degen, ‚ daz iwer hôhverten alsô ist gelegen, daz iemen lebet der iuwer meister müge sîn. nu sult ir, maget edele, uns hinnen volgen an den Rîn .‘ Das „Lied“ selbst aber enthält nichts, wodurch es erlaubt oder, wie es sein müßte, geboten wäre, an dieses Resultat eine bedeutende Konsequenz anzuknüpfen, und zwar, wie das Lied es erfordert, um dadurch in sich selbst getragen zu werden, die Vorstellung einer unmittelbar erreichten Folge damit zu verbinden, die ohne alle Rücksicht auf das, was vorher sich ereignet hat und später sich ereignen wird, für sich allein das Gemüt des Hörers ganz erfüllt und für sich allein völlig beschäftigt. So wie Lachmann das vierte Lied hergestellt hat, kann es nur als das Glied eines großen, wohl disponierten epischen Zusammenhanges Geltung haben; doch auch dafür sind ihm nun wieder die wesentlichsten Teile, gerade alle diejenigen, welche die wichtigste innere Motivierung enthalten, fortgeschnitten. Nur für denjenigen, der diesen Zusammenhang ohnehin beständig vor Augen hat, ist es möglich, über diesen augenscheinlichen Mangel hinwegzusehen; es ist aber unmöglich, daß ein für sich bestehendes Lied seine wesentlichsten Stützen nicht in sich, sondern außerhalb haben soll. Dasselbe Verhältnis wiederholt sich fast allenthalben, wo der Liedertheorie größere Partien zum Opfer gefallen sind, eine Ausnahme bilden nur die äußerlichen Zusätze, welche ganz den höfischen Charakter tragen und mit dem eigentlichen Körper der Sage in keiner organischen Verbindung stehen. Sieht man von diesen, allerdings störenden, Zusätzen ab, so stellt sich in unserm Nibelungenliede eine festgeschlossene Einheit dar, die Erfüllung der schwierigsten Kunstforderung, ein künstlerisches Gelingen, von welchem keinerlei Argumente je den Nachweis führen werden, daß es in der Hauptsache dem Zufall zu danken sei. So dankenswert und aufklärend die Forschungen über die mythischen und historischen Bestandteile der Nibelungen für die Geschichte der Sage sind, so haben sie oft genug für die Auffassung der epischen Dichtung, wie sie uns nun einmal vorliegt, eher verwirrend gewirkt. Für die Zeit des Dichters der Nibelungen war die Verschmelzung der mythischen und historischen Elemente eine vollzogene Thatsache, jedoch so, daß die ersteren ihrem ursprünglichen Zusammenhange nach zwar völlig verwischt, in einer großen Zahl von Grundmotiven aber nichtsdestoweniger immer noch vorhanden waren, ein Umstand, der für sich allein den spontanen oder gleichsam zufällig sich gestaltenden Aufbau einer neuen Einheit statt der alten mythischen, deren Existenzbedingungen erloschen waren, un= möglich machen mußte. Der Dichter stand also einem Sagen- und Liederkomplex gegenüber, in dem sehr vieles unklar, vieles widersprechend oder zusammenhanglos war, vieles mächtig ergreifend und mit starken Zügen auf eine irgendwie beschaffene innere Verbindung hinweisend. Es galt dieselbe zu erkennen, soweit sie noch vorhanden und erkennbar war, zum andern Teile sie herzustellen, und zwar auf der Grundlage einer gegen die Zeit, als jener mythische Zusammenhang in Geltung war, völlig veränderten Welt- und Lebensanschauung. Jn den alten Mythen ist das Wunder konstitutiv, die Existenz der Personen sowie jeder Fortschritt der Handlung beruht darauf; für den Dichter und seine Zeit ist es aus diesen Regionen fast völlig verdrängt, es wird noch geglaubt, aber es ist mehr auf dekorative Verwendung beschränkt. Für den wesentlichen Bestand der Personen und der Handlung wird Thatsächlichkeit und psychologisch klare Entwickelung verlangt; in den äußeren Umständen, um entgegenstehende Hindernisse, Gefahren, Kraftleistungen ins Ungeheure zu vergrößern, ferner um Natureindrücke, damit zusammenhängende Stimmungen und Ahnungen zu verkörpern, ist das Fabelhafte und Wunderbare noch vertraut und beliebt. Natürlich nimmt das kirchliche Gebiet eine Ausnahmestellung ein. Einer unbefangenen Betrachtung unseres Nibelungenepos kann es nicht zweifelhaft sein, daß der Dichter desselben eifrig bemüht war, alles, was aus den alten Liedern noch an mythischen Motiven wie fremdartiges Urgestein in die Sage hineinragte, so viel als möglich zu tilgen oder, wo das nicht anging, es doch abzuschwächen oder für den Gang seiner Dichtung in die Nebenhandlung zu verweisen und für den weiteren Fortgang der Haupthandlung ohne Folge zu lassen. Menschenschicksale will er darstellen, sein Siegfried ist trotz Tarnkappe, Unverwundbarkeit und Drachenkampf, was alles entweder nur schwach betont ist oder doch nur als symbolische Darstellung der Kraft und Tapferkeit Geltung hat, ein menschlicher Held, dessen Bedeutung und Jnteresse für uns in seinen Gesinnungen, Thaten und Schicksalen liegt, die samt und sonders rein menschlicher Natur sind; so ist es auch mit allen übrigen Helden des Gedichtes mit alleiniger Ausnahme der Brunhilde, bei der allerdings das Übernatürliche, was schon in ihrer Person an sich liegt, nach dem Zusammenhange der Handlung nicht fortzuschaffen war. Offenbar liegt hierin der Grund für den Umstand, welcher der Kritik so viel zu schaffen gemacht hat, daß nämlich der Dichter an ihrem persönlichen Schicksal keinen Anteil nimmt. Sobald sie den verhängnisvollen Einfluß auf das Schicksal seines Helden ausgeübt hat, verliert er, ganz nur mit diesem und dessen Folgen beschäftigt, sie aus den Augen; der Einheitsmittelpunkt des Liedes von der „Nibelungen Not“ ist ein ganz anderer geworden wie der des alten Mythus und schließt das Motiv von Siegfrieds Liebe und früherem Verhältnis zu Brunhilde, worauf jener sich aufbaut, gebieterisch aus. Die neue Dichtung beruht vielmehr auf der Voraussetzung des geraden Gegenteiles, und der Dichter hat sichtlich alle Mühe aufgewendet, diese völlig veränderte Grundlage des Ganzen auf das deutlichste erkennbar zu machen. Dort ist der Gegenstand: die Liebe eines Halbgottes zu einer Halbgöttin, die, da sie verraten oder vergessen wird, wie ein verzehrendes Feuer ringsum Vernichtung verbreitet; hier ist es die wandellose Treue der echtesten menschlichen Liebe, für die es kein Vergessen gibt, die aber in ihrer übermächtigen Stärke sowohl den Helden als die Heldin unter dem Einfluß eines verhängnisvollen Schicksals in tragische Hamartie verwickelt. Chriemhild ist die Heldin des Liedes; die Eingangsstrophen, die sie in den Vordergrund stellen, geben zugleich das Einheitsmotiv des Ganzen an: aus ihrer Minne erwächst der Nibelungen Not. Jhr ist sogleich Siegfried gegenübergestellt und es ist eine sehr absichtsvolle Erfindung des Dichters, durch die er manches völlig verwischte Motiv der alten Sage ersetzt, daß er von Anbeginn und dann mit öfter wiederholter Betonung hervorhebt, wie Siegfried trotz seiner überragenden Persönlichkeit und trotzdem er der Sohn eines unbhängigen Königs ist, keineswegs etwa den burgundischen Königen dienstbar, doch nach Geschlecht und Rang jenen bei weitem nicht gleichkommt, so daß seine Werbung um Chriemhild einem jeden als ein überkühnes Beginnen erscheint. ‚ nie keiser wart sô riche, der wolde haben wîp, in zaeme wol ze minne der rîchen küniginne lîp ‘ läßt der Dichter Siegfried von ihr sagen (vgl. Str. 50, die von Lachmann gestrichen), und von Siegmund, da er des Sohnes Absicht erfährt, heißt es (Str. 51): ez was im harte leit, daz er werben wolde die vil hêrlîchen meit . Die zahlreichen hierhin zielenden Wendungen gipfeln in Str. 56: ‚ Waz mag uns gewerren?‘ sprach dô Sîfrit. ‚waz ich friuntlîche niht ab in erbit, daz mac sus erwerben mit ellen dâ mîn hant. ich trouwe an im erdwingen beidiu liute unde lant .‘ Dieser Charakter der Werbung ist für die Folge von der größten Wichtigkeit. Durch seine bloße Erscheinung wird Siegfried dem vielerfahrenen Hagen nach dem Rufe seiner Thaten, der ihm vorausgegangen, kenntlich. Es ist ein entschiedenes Zeichen von epischem Geschick, daß der Dichter diese Gelegenheit benutzt, um jene Thaten dem Hörer bekannt zu machen. Die Erwerbung des Nibelungenhortes, der Tarnkappe und des Balmungschwertes, der Drachenkampf und die Gewinnung der „hürnenen Haut“, alles früher Hauptmotive, haben als solche in der neuen Gestaltung keinen Platz, doch sind sie bestimmt, an zweiter und dritter Stelle eine Rolle zu spielen, und konnten auf keine Weise geschickter eingeführt werden, als in der summarischen Art, wie es hier geschieht. Von Lachmann ist die ganze Episode entfernt. Das Verhältnis, aus dem die Verwickelung und die Katastrophe hervorgeht, ist somit von vornherein in seinen Grundlinien festgestellt: Siegfried, eines Königs Sohn, aber aus einem minder angesehenen Hause, kommt an den glänzendsten Fürstenhof, um die Schwester der drei Könige zu gewinnen, zu der er nach seiner Geburtsstellung sein Begehren nicht erheben dürfte. Wegen seiner Stärke gefürchtet, wegen seines Reichtums beneidet, erhält er, obwohl man seine Absicht erkennt, weder Absage noch Gewährung; er muß durch außerordentliche Leistungen sich die Braut erst erwerben. Anfangs trotzt er nur auf seine persönliche Kraft und Kühnheit und vermißt sich, seinen Wirten im Wettkampfe Land und Leute abzugewinnen, aber die „Minne“ mildert seinen Übermut; im Sachsenkriege leistet er den Burgundenkönigen unvergleichliche Dienste, und da er nun Chriemhild, die den Helden schon lange „ durch diu venster “ bei den Kampfspielen erblickt und in ihrem Herzen ergriffen hat, bei der Begrüßung nach dem Siege zum erstenmale erschaut, da ist sein Schicksal entschieden: si twanc gên ein ander der seneden minne nôt . Sein Dienst gehört jetzt den Burgundenkönigen, bis er sich Chriemhild gewonnen (vgl. Str. 303): ‚ Ich sol in immer dienen,‘ sprach Sîfrit der degen, ‚und en wil mîn houbet nimmer ê gelegen, ich enwerbe nâch ir willen, sol ich mîn leben hân, daz muoz iu ze dienste, mîn frou Kriemhilt, sîn getân .‘ Nur so erklärt es sich, daß er, um sein Ziel zu erreichen, ohne Besinnen sich zum Äußersten bereit zeigt, was von ihm verlangt werden tann: weit schwerer als jedes andere Abenteuer ist der Kampf gegen Brunhilde für ihn, weil er von ihm, der gegen Freund und Feind gleich großgesinnt, treu und ohne Falsch ist, eine Untreue erfordert. Zum ersten und einzigen Male begeht Siegfried eine Täuschung, und diese Täuschung wird sein und aller Beteiligten Verderben. Das alte Motiv von seiner früheren Liebe zu Brunhilde ist ganz aus dem Gedichte verschwunden ─ der Umstand, daß er von ihrem Wohnsitz, von dem Wege dorthin und von ihren persönlichen Verhältnissen als ein Näherwohnender und durch abenteuerliche Fahrten Weitumhergekommener Kenntnis hat, ist für den, der mit dem nordischen Mythus nicht vertraut ist und denselben nicht geflissentlich in das Epos hineinträgt, noch nicht einmal ausreichend, auch nur entfernt auf jenes frühere Motiv hinzuweisen. Mit welch staunenswerter Feinheit hat der Dichter es durch das neue Motiv ersetzt! Eine tiefe psychologische Wahrheit ist an die Stelle der äußeren Verwickelung getreten, die durch einen Zaubertrank die alte Liebe zu Gunsten einer neuen vergessen werden läßt. Der männlichste Held, so männlich stark wie kindlich offen, so kühn und tapfer wie wahr und treu, wird durch die „sehnende Minne hingezwungen“, nicht zu dem männischen Weibe, das an Kraft und Kühnheit es ihm fast gleichthut, sondern zu dem weiblichsten Weibe, dessen ganze Stärke in seiner Liebe ist, von der höchsten Anmut, Sanftheit und Zartheit, aber in der einmal erwählten Liebe zugleich von einer unergründlichen Tiefe der Ausdauer und Kraft, einer Kraft, die fähig ist, ihr ganzes Wesen auszufüllen und unter der Gewalt eines tragischen Schicksals es alleinherrschend völlig zu verwandeln. So braucht es hier nicht des früheren Verlöbnisses, ja dasselbe ist durch die neue Gestaltung als widersinnig ganz ausgeschlossen. Eine Fülle der feinsten Beziehungen ergeben sich vielmehr aus dieser ebenso vereinfachten als psychologisch vertieften Anlage der Dichtung. Beim ersten Sehen hat der Held, der bisher die Minne nicht gekannt, sich Chriemhild für das Leben erwählt, unwiderruflich gehören sie einander an (vgl. Str. 348): Friuntliche blicke und güetlîchen sehen, des mohte von in beiden harte vil geschehen. er trouc si in dem herzen, si was im sô der lîp. sît wart diu schoene Kriemhilt des küenen Sîfrides wîp . Umgekehrt liegt es mit unabänderlicher Notwendigkeit in dem Charakter Brunhildens, die so ganz aus der weiblichen Natur herausgetreten ist, daß sie nur demjenigen angehören kann, der an Kraft und Kühnheit ihr Meister ist. Nun ist bei aller seiner Bescheidenheit, der unzertrennlichen Begleiterin der echten Kraft, Siegfried sich seiner unvergleichlichen Stärke wohl bewußt, er vertraut fest, das Abenteuer mit Brunhilde bestehen zu können; dennoch, und obwohl ihm alle Umstände bekannt sind, hat es ihn nicht im mindesten anzureizen vermocht, für sich den Kampf zu versuchen und sich die Heldenjungfrau zu gewinnen: Brunhilde ist bisher unbezwungen! Er weiß aber, daß er siegen wird, und die innere Stimme sagt ihm voraus, was geschehen wird. Auch Brunhildens Verhängnis entscheidet sich mit dem Augenblick, da sie Siegfried zum erstenmale erblickt; es braucht ihr niemand zu sagen, wer er ist, so gut wie Hagen, sein männlicher Nebenbuhler im Ruhme der Tapferkeit, erkennt sie ihn sofort nach dem bloßen Rufe von seiner Person und seinen Thaten. Bei Hagen ist die Folge unauslöschlicher Haß, bei ihr unvertilgbare Liebe. Unter allen, die da kommen, sieht sie nur ihn und zweifelt keinen Augenblick, daß er um ihretwillen gekommen sei (vgl. Str. 398): Dô diu küneginne Sîfriden sach, zuo dem gaste si zühteclichen sprach, ‚sît willekommen hêr Sîfrit her in dize lant. waz meinet iwer reise? daz het ich gerne bekant .‘ Und nun die Antwort, durch die der Knoten des Verhängnisses für das ganze Epos geschürzt wird: ‚ Vil michel genâde frou Prünhilt daz ir mich ruochet grüezen, fürsten tohter milt, vor disem edeln recken der hie vor mir stât: wann der ist mîn hêrre: der êren het ich gerne rât. Er ist künec ze Rîne, waz sol ich sagen mer? durch dîne liebe sîn wir gevarn her. er wil dich gerne minnen, swaz im dâ von geschiht. bedenke dichs bezîte: er erlât dich sîn niht. Str. 399 und 400, beide von Lachmann gestrichen. Er ist geheizen Gunther, ein künec rîch unde hêr: erwurb er dîne minne, sone gert er niht mêr. durch dich mit im ich her gevarn hân: waerer niht mîn hêrre, ich hetez nimmer getân .‘ Und ganz verwandelt, feindselig, mit finsterm Grolle entgegnet Brunhild: ‚ ist er din hêrre unde du sîn man, wil er mîn geteiltiu spil alsô bestân, behabe er die meisterschaft, sô wird ich sîn wîp: gewinne aber ich, ez gêt iu allen an den lîp .‘ Um Chriemhilde zum Weibe zu gewinnen, hat Siegfried sich bereit finden lassen, Brunhilden in dem trügerischen Kampfspiel zu hintergehen ─ und der Dichter hat es nicht unterlassen, diese schnelle Bereitwilligkeit noch tiefer und feiner zu motivieren: es reizt ihn, obwohl es ihn nach dem Kampfpreis keineswegs gelüstet, sowohl das gefährliche Abenteuer zu bestehen, als den Übermut des Weibes zu strafen, wie es deutlich in Str. 443 ausgesprochen ist: ‚ Sô wol mich dirre maere,‘ sprach Sîfrit der degen, ‚daz iwer hôhverten alsô ist gelegen, daz iemen lebet der iuwer meister müge sîn. nu sult ir, maget edele, uns hinnen volgen an den Rîn .‘ Die erste Täuschung zieht nun die zweite nach; um überhaupt mit Gunther vor Brunhilde erscheinen zu können, muß Siegfried sich als dessen Gefolgsmann ausgeben. Wiederholt und mit stärkster Betonung hebt der Dichter diesen Umstand hervor, dessen er sich in der Folge für die entscheidende Wendung zur Katastrophe mit dem höchsten technischen Geschick zu bedienen weiß. Wie grollt Brunhilde innerlich, da sie sich von dem Manne besiegt sieht, dem ihr Herz wie das Zeugnis ihres Auges nimmermehr den Sieg zuerkennt. Prünnhilt diu schoene diu wart in zorne rôt heißt es (437, 7) in einer von Lachmann ausgeschiedenen Strophe, da der entscheidende Wurf und Sprung von Gunther mit Siegfrieds verborgener Hilfe gethan ist. Vergebens sucht sie nach dem Siege ihre Unterwerfung zu vereiteln oder doch zu verzögern, ein Umstand, den der Dichter für eine ziemlich lose eingefügte Episode benutzt, die ihm aber erforderlich scheinen mochte, um das Verhältnis seines Helden zu den Nibelungen und dem Horte, welches immerhin doch den Hintergrund der ganzen Sage bildet, und das er für die Folge noch zu benutzen gedachte, seinen Hörern deutlicher vorzuführen. Jm weiteren Fortgange entwickelt sich nun alles mit der strengsten Folgerichtigkeit. Sogleich tritt die Gestalt Hagens in den Vordergrund. Mit der Scharffichtigkeit der Treue des Lehnsmanns, der seinen Königen zunächst steht, und des Hasses gegen den Nebenbuhler, der seinen Ruhm verdunkelt und der nun der Träger eines für den Burgundenkönig höchst gefährlichen Geheimnisses ist, benutzt er die Umstände auf das geschickteste, um die vorgegebene Lehnsabhängigkeit Siegfrieds von Gunther als eine wirklich vorhandene erscheinen zu lassen; auf seinen schlau ersonnenen Rat bewegt Gunther „um Chriemhildens willen“ den Helden zu der Botenfahrt nach Worms. Die Hdschft. C. führt das zu Grunde liegende Verhältnis in den Strophen 497, 5─8 und 499, 5─8 noch besonders deutlich aus, vgl. namentlich 499, 7─8: dô widerredete ez Sîfrit, der vil küene man unz daz in Gunther sêre vlêgen began. Es folgt der Empfang Brunhildens in Worms, und wenn die Str. 550 den Preis vor ihr Chriemhilden zuerteilt, dô sprâchen dâ die wîsen, die hetenz baz besehen man möhte Kriemhilde für Prünhilde jehen , so sind diese Verse, weit entfernt zu Einwürfen Veranlassung zu geben (vgl. Lachmanns Anmerk. S. 79), vielmehr dem innersten Sinn der Dichtung entsprechend. Wie Brunhilde in der Schätzung Siegfrieds und der „ wîsen “ hinter Chriemhild zurücksteht, so tritt ihre Person auch für den Dichter und seine Dichtung in den Hintergrund, sobald die Konsequenzen jener doppelten Täuschung, der sie zum Opfer fiel, gezogen sind. Auf die Dauer kann ihr das wahre Verhältnis, daß Siegfried ein freier und selbständiger König wie Gunther ist, nicht verborgen bleiben; so sucht auch Gunther nur Zeit zu gewinnen: in Hast und halber Heimlichkeit verlobt er Siegfried der Schwester, um die gefürchtete Aufklärung zu vermeiden. Aber wenn Brunhilde den wirklichen Hergang auch nicht erraten kann, so sagt ihr ein dunkles Bewußtsein, daß jenes unklare Verhältnis mit ihrem eigenen Schicksale im engen Zusammenhange steht, um so mehr, als trotz des scheinbaren Sieges in den Kampfspielen Gunther in ihren Augen fortdauernd vor Siegfrieds herrlicher Erscheinung verschwindet. Daraus entsteht der Kampf und Zwiespalt in ihrem Jnnern, aus dem die ganze folgende Entwickelung naturgemäß hervorgeht: Alle von Lachmann an dieser Stelle erhobenen Einwendungen, vgl. namentlich die Anmerkungen zu Str. 375, 576, 577, fallen damit in sich selbst zusammen. ihr finsteres, schmerzlich=zorniges Brüten bei dem Hochzeitsmahle, die immer wiederholte Frage an Gunther um Aufhellung des Dunkels über Siegfrieds Person, der erneute Kampf in der Brautnacht mit seinen verhängnisvollen Folgen. Alles das ergibt sich klar, einfach und notwendig aus der von dem Dichter entworfenen Exposition; jede Spur eines früheren Begegnisses zwischen Brunhilde und Siegfried hat er sorgfältig getilgt, von einer wirklichen Unterthänigkeit Siegfrieds ist nicht die leiseste Andeutung gegeben, mit der größten Klarheit ist vielmehr die Fiction derselben als die unumgänglich erforderliche Maßnahme dargestellt, die Siegfrieds Erscheinen an der Seite Gunthers bei der Braut= werbung ermöglicht. Andrerseits ist es nicht auffällig, sondern nach dem Vorhergegangenen ganz folgerichtig, daß Siegfried (Str. 598, 2) ohne zu fragen vorher weiß, daß Brunhilde am nächsten Morgen noch unbezwungen ist (vgl. Lachmanns Anmerk. zu Str. 576); der zweite Kampf mit ihr ist die unvermeidliche Folge des ersten, und mit dieser dritten, schlimmsten Täuschung ist der Knoten völlig geschürzt. Der Dichter eilt zu der Katastrophe. Noch einmal muß Brunhilde hervortreten: die Art, wie sie nun, trotzdem für sie in dieser Beziehung ein Zweifel nicht mehr bestehen kann, auf dem früheren Vorgeben Siegfrieds, daß er ein Lehnsmann Gunthers sei, besteht, ist wiederum höchst bezeichnend für das von dem Dichter zu Grunde gelegte Gesamtverhältnis. Ein dunkles Geheimnis liegt über der Schließung ihres Ehebundes, durch das sie sich um Liebe und Glück betrogen sieht: sie hält die einzige Handhabe fest, durch die es ihr gelingen kann, die Hülle zu entfernen. Nachdem sie Klarheit erlangt, gibt es keine Wahl mehr. Mit feiner und bewußter Kunst, welche wieder den über den Stoff frei verfügenden Dichter erkennen läßt, ist für die Ausführung der Rache an Siegfried mit dem von Brunhilde herkommenden Antriebe nun noch eine Reihe von Motiven verwebt, die in dem Werkzeuge derselben, in Hagen, ihren Sitz haben: das, so zu sagen, politische Jnteresse des Lehnsmanns, welches keinen Flecken auf dem Schilde des Königtums leidet (vgl. 810, 1), die Begier nach dem Nibelungenhorte (vgl. 1047) ─ der, obwohl das Lied davon den Namen hat, außer an dieser Stelle nur noch zweimal motivisch verwendet wird und immer nur in untergeordneter Weise ─ und der eifersüchtige Haß des Nebenbuhlers um den höchsten Waffenruhm. Mit dem Vollzug der Rache erlischt das Jnteresse an Brunhilde, die von vorneherein in unserem Liede nur als Nebenfigur aufgetreten ist, um ungetheilt auf Chriemhild überzugehen. Es muß wunder nehmen, daß die Kritik auf dieses Verschwinden Brunhildens aus dem Gedichte ein solches Gewicht gelegt hat, als ob die Einheit des Liedes damit unverträglich wäre und als ob es epische Forderung sei, daß von allen hervorragenden Personen das Ende ihres Schicksalsverlaufes mitgeteilt werden müßte, während doch das gerade Gegenteil von den Gesetzen des Epos verlangt wird: strikteste Beschränkung auf die Durchführung des Einheitsmomentes der Handlung und Ausschließung der Vollständigkeit in Bezug auf die Schicksale des einzelnen, sogar der Hauptperson! Berichtet doch die Jlias nicht einmal vom Ende des Achill, geschweige eines Ajax oder Odysseus oder Agamemnon, und wer würde darin einen näheren Aufschluß über das Schicksal der Helena, der Anstifterin des ganzen Krieges, vermissen? An diesem schwierigsten Punkte des Gedichtes, wo es gilt die Ermattung des Jnteresses nach Siegfrieds Ermordung zu verhüten, die Kontinuität der Handlung und die gespannte Aufmerksamkeit für das eigentliche Einheitsmoment derselben zu erhalten, zeigt sich abermals mit Evidenz die Leistung des frei und selbständig disponierenden Dichters; für diese ganze Partie ist die Liedertheorie eine bare Unmöglichkeit. Siegfrieds und Chriemhildens Liebe mit ihren Folgen, Siegfrieds Tod und Chriemhildens Rache, ist der Gegenstand des Dichters, eine Handlung von unvergleichlicher Tragik, zu der der Dichter den Stoff in einem reichen Kreise von Sagen und Liedern vorfand: die Liebe des männlichsten Mannes zu dem weiblichsten Weibe, aus der unter der Einwirkung eines schlimmen Verhängnisses für beide und zugleich für ganze Geschlechter unabsehbares Verderben erwächst. Und wie wenig thut im Grunde das bloß äußere Schicksal, ein blindes Ungefähr bei diesem verderblichen Verhängnis! Wie kunstvoll ist Alles aus den einfachsten und natürlichsten Faktoren, die ihren Sitz in der Menschenbrust selbst haben, hergeleitet! Der kindlich offene und männlich wahre Held, der keiner Lüge fähig ist, läßt sich durch diese Liebe zu Falschheit und Betrug bewegen, freilich in einem Falle, wo einem unnatürlichen Verhalten gegenüber ihm die Täuschung am rechten Orte zu sein scheint. Die in gerader Linie sich entwickelnde Folge seines Fehlers ist sein tragischer Tod. Nun tritt Chriemhild allein als Trägerin der weiteren Handlung hervor. Jhr Charakter ist ihre grenzenlose Hingabe an den herrlichen Gatten. Wer wollte den berechtigten und natürlichen Stolz auf den Alle überragenden Gemahl, durch den sie freilich äußerlich seinen Untergang herbeiführt, ihr als tragischen Fehler, oder, wie man es auszudrücken liebt, als „tragische Schuld“ anrechnen? Damit wird nur der letzte, abschließende Umstand in der Reihe der durch Siegfrieds eigenen Fehler bedingten Folgen veranlaßt. Jetzt erst beginnt Chriemhildens verhängnisvolle Hamartie. Die Art, wie hier das allmähliche Anschwellen des verzeihlichen Fehlers zur fürchterlichsten Schuld gezeichnet wird, ist trotz einer gewissen Trockenheit und Steifheit im Ausdruck der Empfindung, die ja allenthalben im Nibelungenliede hervortreten, bewundernswert. Das für den Fortgang der Handlung völlig Entscheidende ist, daß Chriemhild nicht mit ihrem Schwäher nach des Gatten Heimat zieht, sondern bei ihren Verwandten im Burgundenlande bleibt. Nicht allein, daß sie im ersteren Falle in der Pflege des Sohnes, in der Ausübung der Herrschergewalt den Boden gefunden hätte, um für ein neues Leben Wurzel zu fassen, für die positiven Kräfte ihrer Seele Entfaltung zu gewinnen, es wäre auch jede Verbindung mit ihrer heimischen Sippe ein für allemal und unwiderruflich abgeschnitten gewesen. Wie hat der Dichter diesen unentbehrlichen Entschluß eingeführt? Er schildert zunächst ihren gewaltigen Schmerz, der ihr die Sinne raubt; dieser Schmerz ist fortan ihr liebstes, ja ihr einziges Besitztum, neben dem sogar das eigene Kind ihr nichts mehr gilt. Wenn das allerdings „verletzend“ erscheint, Vgl. Scherer, Gesch. d. dtsch. Litt. S. 118. so ist es doch die mit tiefer psychologischer Wahrheit erfaßte Eigenart der übergewaltigen Leidenschaft, mit der ein ganz von der Liebe ausgefülltes Gemüt in eigensinniger Selbstqual ausschließlich in der Trauer und dem Schmerz sich Ersatz für das Verlorene sucht, und so ist es die einzige für die Chriemhild des Liedes zutreffende Charakteristik, die allein alles Folgende erklärlich macht. Eine Chriemhild, die jetzt für die Zukunft ihres Sohnes den rechten Muttersinn hätte, wäre aus hundert Gründen zu der Rache, von der das Lied meldet, nicht fähig. Nicht freilich, daß die Meinung wäre, dieser Racheplan stünde ihr jetzt schon vor Augen; wie wäre eine so ungeheure Wandlung möglich in so kurzer Zeit? Es ist wahr, sie erscheint „ohne Widerstandskraft, ohne Vorsicht, willenlos“, Vgl. Scherer a. a. O. aber es ist die Absicht des Dichters, sie so erscheinen zu lassen. Nach dem vorangegangenen Paroxysmus des Schmerzes, der „zum erstenmale die Chriemhild des zweiten Teiles, die Chriemhild der Rache, auftreten läßt, thatkräftig, entschlossen, umsichtig“, Ebendaselbst. ist ein Zustand der Dumpfheit eingetreten, in dem nur das eine dunkle Gefühl bestimmend vorwaltet, von der Stelle des Unglücks sich nicht zu entfernen und sich welt- und selbstvergessen der Klage hinzugeben. Jahrelang lebt sie so hin, über die das Lied schnell hinweggeht; aber wie nichts ohne Wandel bleiben kann, so hat der Dichter Sorge getragen, diese dreizehn Jahre umfassende Zwischenperiode durch eine sehr bedeutungsvolle Entwickelung zu beleben. Wol vierdhalp jâr hat Chriemhild in Jammer und Klage zugebracht, daz si ze Gunthêre nie kein wort gesprach , da kommt von außen her ein Anstoß an sie heran, der ihre Gedanken auf ein festes Ziel des Handelns richtet; der Dichter hat es verstanden, das im Übrigen für seine Dichtung zurücktretende Motiv des Nibelungenhortes an dieser einen Stelle nun doch in einer für die gesamte Gestaltung der Handlung entscheidenden Weise zu verwenden. Um den Hort zu gewinnen, ein Beweggrund, der schon früher bei ihm wirksam gewesen ist, rät Hagen den Königen die Versöhnung mit ihrer Schwester an. Aus Chriemhildens Munde läßt das Lied immer nur das Eine hören, ihren unversöhnlichen Haß gegen Hagen: nun, da sie sich zu der Versöhnung mit den Brüdern erweichen läßt, erscheint ihr die Möglichkeit der Rache an dem Todfeinde doppelt näher gerückt, einmal da sie hoffen kann, die Könige zu seiner Bestrafung zu bewegen, sodann weil sie nach diesem Friedensschlusse in den Genuß der ihr zustehenden Rechte treten kann und die Herbeischaffung des Hortes ihr die Mittel gewährt, sich einen unbedingt ergebenen Anhang zu verschaffen. Eben diese Gefahr erkennt der bedrohte Hagen sogleich, und sie liefert ihm den Vorwand, um die Könige zu dem schon früher von ihm geplanten Raube des Hortes zu bestimmen. Dieser Umstand aber wirkt entscheidend! Nicht allein daß Chriemhild den geschlossenen Versöhnungsbund verraten sieht, sie erkennt auch deutlicher als zuvor das Einverständnis ihres Bruders mit Hagen gegen sie selbst, und daß sie von den zu ihrem Schaden Verbündeten nimmermehr Genugthuung zu hoffen habe: Str. 1081: Mit iteniven leiden beswaeret was ir muot, umb ires mannes ende, unt dô si ir daz guot alsô gar benâmen. do gestuont ir klage des lîbes nimmer mêre, unz an ir jungisten tage . So kann denn die Rache sie nur noch gemeinsam treffen, wenigstens kümmert es Chriemhilden, deren Seele durch die gebrochene Sühne herber und verbitterter geworden ist als zuvor, nun nicht mehr, ob sie die Anverwandten mit verderbe. Ein Jahrzehnt geht so hin, eine lange Zeit, in welcher Gram und Haß, bitterer Schmerz und heißer Zorn unaufhörlich geschäftig sind, alle Kräfte der Liebe, der Güte, Freundlichkeit und Weichheit in der Seele der königlichen Witwe aufzuzehren: alles dient nur dazu, die eine Leidenschaft bis zur furchtbaren Übergewalt anzuschwellen. So trifft sie Etzels Werbung, der sie die entschiedenste Weigerung entgegensetzt bis zu Rüdigers Versprechen, sich ihrer Rache dienstbar zu machen. Dieser Aussicht opfert sie Alles, sie bildet fortan den Jnhalt ihres Lebens (vgl. Str. 1195─1200): Str. 1199: Do gedâhte diu getriuwe 'sit ich vriunde kan alsô vil gewinnen sô sol ich reden lân diu liute swaz si wellent, ich jâmerhaftig wîp. waz ob noch wirt errochen des mînen lieben mannes lîp ? So ist der feste Zusammenhang mit dem zweiten Teile des Liedes hergestellt, in dem auch die Anhänger der Liedertheorie eine nur durch verhältnismäßig geringe Äußerlichkeiten unterbrochene Continuität und großartige Einheitlichkeit erkennen. Aber selbst was hier schwereres Bedenken erregt hat, erscheint nicht stichhaltig. Es mögen drei der wesentlichsten Punkte in Betracht genommen werden: 1) Die von Lachmann mit XVI, c und XVII, b bezeichneten Lieder sollen denselben Gegenstand behandeln und daher einander ausschließen, weil in beiden von einem durch Chriemhild veranlaßten Angriffsversuch der Heunen erzählt wird, der beidemale aus Furcht vor Hagen und Volker unterbleibt. Jn der bloßen Wiederholung eines mißglückten Versuchs liegt doch kein Grund dazu; ebensowenig darin, daß beidemale Hagen es ist, welcher ihn abweist, da doch gegen ihn allein zunächst Chriemhildens Angriffe sich richten. Dächte man in der That sich eine größere Anzahl den Gegenstand behandelnder Lieder, so hätte abermals der Dichter mit großer Einsicht sein Material gewählt; die so erreichte Steigerung ist geradezu unentbehrlich zu nennen. Noch meint es Chriemhild so wenden zu können, daß Hagen allein von ihrer Rache gefällt wird: welch eine herrliche Scene, wie sie nun durch ihr persönliches Auftreten den offenen Streit mit ihm zu erregen sucht (vgl. 1702 und 3, 1708 und 9, 1725─27); dagegen dann der grimmige Trotz des gewaltigen Helden (1714─24), mit dem er die Gefahr erkennend und sie kühn herausfordernd zugleich ihr am besten begegnet. So muß nun die Königin zu schlimmeren Mitteln ihre Zuflucht nehmen. Schon bei dem Heimgange am Abende werden die Burgunden von drohenden Scharen der Heunen umdrängt (vgl. 1758─61), dann folgt in der Nacht der heimtückische Überfall, den die Wachsamkeit Hagens und Volkers vereitelt. Wie der Dichter es verstanden hat, den beiden Scenen bei der Ähnlichkeit ihres Jnhaltes Mannigfaltigkeit und jeder ein ganz eigenartiges Gepräge zu verleihen, der ersten durch die persönliche Begegnung zwischen Chriemhild und Hagen, wo gleichsam mit eins der ganze Horizont sich mit drohenden schwarzen Wetterwolken bedeckt, und wie er dann in der zweiten dem ersten Zucken der unheimlichen Blitze jenes Bild voll der höchsten Anmut vorangehen läßt ─ Hagen und Volker die Schildwacht haltend und Volker die Helden in den Schlaf geigend ─, wäre überflüssig des Näheren auszuführen. Das letzte Mittel ist fehlgeschlagen: nun bleibt nur der offene Kampf gegen alle. Vgl. 1786: dô fuogte si ez anders: vil grimmer was ir muot. des muosen sît verderben helde küene unde guot. 2) „Sogar die Beziehungen, welche die Fabel selbst bedingt, sind ohne Sorgfalt durchgeführt: wenn z. B. Jring auftritt und, offenbar mit Liebe geschildert, gleich nach seinem Tode gänzlich vergessen wird,“ heißt es bei Lachmann in den Anmerkungen S. 1. Als ob es, wie schon oben ausgeführt, die Sache des Epos wäre, statt sich strengstens ────── XVIII. Es ist bekannt, wie in der Entwickelung der Dichtung das deutsche Volksepos gegen die Überwucherung der ritterlich=romantischen Dichtung sich nicht zu behaupten vermochte, ja wie die Stoffe desselben zuletzt einer der romantischen Poesie verwandten, überwiegend äußerlichen Behandlungsweise verfielen. Ein schneller Verfall war für diese ganze Dichtung eine unabwendbare innere Notwendigkeit, da die gesamte Romantik auf dem irrealen Boden der Phantastik steht. Schon betreffs der wirklichen Lebensverhältnisse zur Zeit der Blüte jener Poesie zeigt sich die Herrschaft der Phantasie, die dem spezifisch romantischen Ethos entspringt, in der Standesexclusivität der ritterlichen Gesellschaft, in der Negation zahlreicher natürlicher Rechte, auf der ihre Existenz beruht, und in der Willkürlichkeit ihrer Sitte und ihres Ehrbegriffes. Jn der Dichtung mußte diese Phantastik eine schrankenlose Steigerung nach der Seite des dem romantischen Ethos Verwandten, Erwünschten erfahren, und eine ungemessene Produktion mußte nach dieser Richtung sich entfalten. Unter dem doppelt fördernden Einfluß der kirchlichen Mystik und der zunehmenden Verbindung mit dem Orient erlangte das dieser Stimmung und Gesinnungsweise dienstbare Wunder, welches alle äußeren Hindernisse der Phantasie aufhebt, eine so ausgedehnte Herrschaft, daß es geradezu die Wirklichkeit, Natur und ihre Gesetze verdrängt und sich auf den Kern der Handlung zu beschränken, auch nur für die Hauptpersonen Vollständigkeit der sie betreffenden Mitteilungen zu erstreben. Und Jring gehört nicht einmal zu diesen. Zu welchem Extrem cyklischer Stoffanhäufung würde das hier vermißte Verfahren führen! 3) Wie viele Strophen des Gedichtes werden von Lachmann erbarmungslos dem in Str. 1861, 3 enthaltenen „Widerspruche“ geopfert, einem seiner Hauptargumente gegen die einheitliche Komposition des Liedes! ‚Ich was ein wênic kindel, do Sîfrit vlôs den lîp,‘ sagt dort Dankwart; und es ist natürlich eine Ungereimtheit, daß er, Hagens Bruder, Chriemhildens Oheim, nach allem, was die früheren Gesänge von ihm melden, bei Siegfrieds Ermordung im jugendlichen Knappenalter gestanden haben soll. Vielmehr ist er schon zu jener Zeit als ein älterer Mann zu denken, und seitdem sind zwanzig Jahre verflossen. Nun erwäge man aber unbefangen die Situation! Dankwart ist genau von dem bevorstehenden Überfall der Heunen unterrichtet (vgl. 1864, 65), er kennt alle Nebenumstände des Mordplanes und ist auf den grimmigsten Kampf gefaßt. Höhnend ruft er, als er Blödel den Kopf heruntergeschlagen, ihm nach: ‚daz sî dîn morgengâbe zuo Nuodunges briute, der du mit minne woldest phlegen. Man mac si morgen mehelen einem andern man: wil er die brûtmiete, dem wirt alsam getân.‘ Nun stelle man sich den graubärtigen, grimmen Recken vor, dem von vorneherein und nun vollends nach allem, was geschehen ist, nichts ferner liegt, als dem unvermeidlichen Kampf aus dem Wege zu gehen oder gar sich persönlich zu exkulpieren, wie kann man aus seinem Munde die Worte ‚ich was ein wênic kindel, dô Sîfrit vlôs den lîp: ine weiz niht waz mir wîzet des künic Etzelen wîp,‘ anders verstehen wie als offenbaren Spott, Hohn ins Angesicht des Feindes! Und ebenso das folgende: ‚so enwelt ir niht erwinden? sô riwet mich mîn vlêgen: daz waere baz gespart‘: wie kann man darin die höhnende Jronie verkennen und jenen grimmigen Humor, der in solchen Lagen den Recken der deutschen Volksepen eigentümlich ist! an ihre Stelle setzte. Es konnte nicht anders sein, als daß dadurch auch eine Verschiebung des sittlichen Gefühls entstehen mußte, nicht nur der moralischen Anschauungen; auch die feine und sichere Empfindung für den innerlich notwendigen, unabwendbar ernsten und ewigen Gesetzen folgenden Gang der menschlichen Dinge, die Schicksalsempfindung, mußte abgeschwächt und verfälscht werden. An ihre Stelle tritt Abhängigkeit von einem konventionell schematisierten Gefühlscodex. Daher ist diese gesamte Dichtung mit allen ihren spätesten Ausläufern in den französischen, italienischen und spanischen Ritter- und Schäferromanen, völlig untragisch. Sie wird je länger je mehr abenteuerlich und mystisch überspannt, affektiert und von Grund aus unwahr oder geradezu frivol. Es ist schon oben darauf hingewiesen, wie selbst in der Blütezeit auch bei den Besten sich merkwürdige Beispiele solcher sittlichen Jndifferenz finden; so wenn, ganz abgesehen von den zahlreichen Ungeheuerlichkeiten derart bei Meister Gottfried, in Wolframs Parcival die Bigamie Gamurets so gut wie gar keinen Anstoß erregt und ganz ohne tragische Konsequenzen bleibt, denn sein früher Tod wird keineswegs von dorther motiviert. Die abgeschmackte Phantastik, Hohlheit und Haltlosigkeit dieser Poesie erreichte mit dem Ausgange des Mittelalters ihren Gipfel, und hier setzte des Cervantes geniale Satire ein. Schon lange vor ihm aber hatte eine neue Entwickelung auf dem Gebiete der epischen Poesie selbst begonnen. Wenn die Willkür der Phantasie, die in den Ritterromanen alle Gesetze des Lebens und der Natur durcheinander wirrte, zur Roheit und zum Unsinn geführt hatte, so war es ein Anderes, wenn diese Willkür und der Jndifferentismus gegen die Strenge der tragischen Schicksalskonsequenz mit freiem und klarem Bewußtsein zum Princip der Komposition gemacht wurden. Ein Epos nach dem strengen Begriff der Gattung kann freilich so nicht entstehen, da die Einheit im besten Falle eine lediglich äußerliche sein wird; wohl aber hat die Anmut eines reichen Geistes hier das weiteste Feld, um in freiem Spiele sich zu entfalten, „im blühenden Gewand der Fabel Erfahrung und Verstand und Geisteskraft, Geschmack und reinen Sinn fürs wahre Gute“ gleichsam „persönlich“ vorzuführen: Der Quell des Überflusses rauscht darneben Und läßt uns bunte Wunderfische sehn; Von seltenem Geflügel ist die Luft, Von fremden Herden Wies' und Busch erfüllt; Die Schalkheit lauscht im Grünen halb versteckt, Die Weisheit läßt von einer goldnen Wolke Von Zeit zu Zeit erhabne Sprüche tönen, Jndes auf wohlgestimmter Laute wild Der Wahnsinn hin und her zu wühlen scheint Und doch im schönsten Takt sich mäßig hält. Vgl. Goethes Tasso I, 4. An dem Ariostischen Epos zeigt sich deutlich die nahe und innerlich notwendige Verwandtschaft, in der die romantische Epopöe zu der komischen steht, sofern nur der Dichter nicht selbst im Banne des romantischen Ethos sich befindet, sondern mit überlegener Freiheit es als seinen Stoff verwendet. Was beide so nahe zusammen bringt, ist der Umstand, daß, was dort latent mit unterläuft, starke Hamartie, fehlerhaftes Ethos und Pathos und dem entsprechendes Handeln ohne tragische Konsequenzen, der eigentliche Gegenstand der komischen Poesie ist, sobald es mit Bewußtsein als solches dargestellt wird. Die moderne Dichtung hat daher auch nur dann mit glücklichem Erfolg auf die Romantik zurückgegriffen, wenn sie dieselbe ironisch und mit komischer Färbung behandelte, während alle Versuche, sie ernsthaft wieder zur Geltung zu bringen, zu Verwirrungen geführt haben. Das ist der Sinn des Goetheschen Spruches: „ Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke. “ Vgl. Goethe, Sprüche VII, Nr. 602. Es ist daher wohl kaum als ein Zufall zu betrachten, daß gerade in der Zeit, als die epische Poesie, von allem Zusammenhange mit dem Leben abgetrennt, völlig der geschilderten Entartung verfiel, sich das einzige konische Epos großen Stiles, das wir besitzen, zu voller Reife ausgestaltete. Der Stoff freilich ist uralt, wie bei jedem Volksepos, und er hatte lange Zeit gebraucht, um sich für diese endgiltige Gestaltung vorzubilden; aber daß dieselbe gerade in jener Zeit, am Ausgange des fünfzehnten Jahrhunderts, erfolgte, erscheint wie das Ergebnis einer logischen Notwendigkeit, ebenso, daß ihr Schauplatz der niederländische Boden war. Es liegt in der menschlichen Natur begründet, daß wie „jedes ausgesprochene Wort den Gegensinn erregt“, cf. Goethe, Sprüche V, 410. so eine jede Erscheinung die Vorstellung ihres Gegenbildes erweckt; daher sind von je an neben den Darstellungen, in denen die Bewunderung großer Kraft und gewaltigen Thuns mit der Furcht und dem Mitleid bei ihrem durch Jrrtum und Fehl herbeigeführten Sturz zur Geltung kam, auch diejenigen hergegangen, die vielmehr jene Jrrtümer und Fehler selbst zu ihrem Gegenstande machten und damit entweder das Große und Gewaltige von seiner lächerlichen Seite zeigten oder geradezu das Gegenteil der geläuterten Furcht- und Mitleidsempfindungen hervorzurufen suchten: die Freude an der bloßen Lächerlichkeit des fehlerhaften Handelns mit gänzlichem Ausschluß aller tragischen Schicksalsvorstellungen. Nur der Gesichtspunkt des Fehlerhaften an und für sich und seines Kontrastes ist hier maßgebend, des Zweckmäßigen und Zweckwidrigen im Handeln, des Thörichten und Klugen, des Dummen und Listigen, des Gewandten und Plumpen, des Ubertriebenen, Verkehrten, Verzerrten und des Maßvollen, Gesunden, Normalen; von dieser Seite gesehen, aber eben nur von dieser einen Seite, auch des Guten und Bösen, Gerechten und Ungerechten, Niedrigen und Edlen. Verbannt ist nicht nur der Maßstab der moralischen Beurteilung, sondern auch jenes mächtige, rein ästhetische Begehren, welches auf Befriedigung des Gerechtigkeitsgefühles, Ausgleich der sittlichen Gewalten nach ewigen Gesetzen gestellt ist, wird geflissentlich außer acht gelassen: an seine Stelle tritt die bloße Empfindung des Lächerlichen an der fehlerhaften Erscheinung als solcher und die bloße Freude an der Erscheinung ihres Gegenteils, beide sich gegenseitig zur Reinheit herstellend. Während daher die tragische Darstellung, wenn sie den wahren Gesetzen ihrer Gattung folgt, sehr leicht den Anschein gewinnt, als ob sie die Dinge so vorführt, wie sie sein sollten, idealistisch, wie man es zu nennen pflegt, so erweckt die komische Darstellung umgekehrt den Schein der Vorführung der Dinge wie sie sind, der sogenannten realistischen Nachahmung der Wirklichkeit; das Eine wie das Andere ist in der Gesetzgebung der beiden Kunstgattungen gleich unbegründet. Beide wählen die Mittel, deren sie sich zu ihren Nachahmungen bedienen, nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit, die in der Welt der wirklichen Dinge herrschend sind; hierin sind sie sich vollkommen gleich, denn auch, wenn sie die Geltung dieser Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit von gewissen, mehr oder minder willkürlich aufgestellten Voraussetzungen abhängig machen, so kann das in der einen Gattung eben so wohl geschehen, wie in der andern. Verschieden sind sie nur in der Art der Verwendung dieser Mittel, die ganz und gar durch den eine jede dieser Gattungen konstituierenden Nachahmungszweck bestimmt wird. Diese Verwendung nun bringt es mit sich, daß diejenige Wahrheit, welche in der tragischen Gattung zu Tage tritt, in höherem Grade den Eindruck eines Gesetzes hervorruft, wie die Dinge verlaufen sollen, obwohl sie in der That nur der Wirklichkeit entnommen ist. Der Grund davon liegt in dem Umstande, daß in der Wirklichkeit nur höchst selten diese Wahrheit sich so dem Auge zeigt, vielmehr durch tausend Verhältnisse von Zeit, Ort, Jnteressen aller Art der Erkenntnis entzogen wird; deshalb finden die echt tragischen Empfindungen nicht leicht ihre Analogie in den unmittelbaren Erfahrungen der Wirklichkeit. Dagegen sind diese Analogien für die Empfindungsurteile über das Lächerliche so zahlreich und naheliegend, daß die sie hervorrufende Darstellung der Wirklichkeit entnommen scheint, auch wenn sie, wie alle echt komische Kunst es erfordert, auf einer ebenso streng nur durch die aus dem Nachahmungszweck sich ergebenden Gesetze diktierten Verwendung ihrer Mittel beruht, wie es bei der tragischen Kunst der Fall ist. Daß schon das homerische Epos sein komisches Gegenbild gehabt hat, bezeugt uns Aristoteles durch die Erwähnung des Margites, von welchem wir leider nichts Näheres wissen; gemeinsam aber hat das griechische Altertum mit unserem deutschen Mittelalter die Verwendung der Tierfabel für diesen Zweck. Es ist schon oben hervorgehoben, wie äußerst günstig die Gestaltungen der Tiersage sich den Zwecken der komischen Dichtung fügen, da durch die Analogien mit menschlichem Ethos und Pathos im Tiercharakter und mit menschlichem Handeln im tierischen Gebahren das Tierepos in so hohem Grade geeignet ist, Fehlerhaftigkeit in allen diesen drei Bereichen darzustellen, und da, was die zweite Hauptforderung des komischen Epos ist, die Rücksicht auf sittliche Verantwortlichkeit und tragische Schicksalskonsequenz hier von selbst fortfällt. So ging neben der Heldensage die Tiersage, und neben dem ritterlichen romantischen Epos begann sich das Tierepos zu formieren. Seine rechte Zeit aber kam mit dem Dahinsinken der Zustände, denen jenes seine Blüte verdankt hatte. Die Entartung und Auflösung der ritterlichen Gesellschaft, der Verfall der feudalen Monarchie und die Verderbnis der Hierarchie, die von dem aufstrebenden Bürgertum mit Hohn und Haß begleitet wurden und das Leben mit erbittertem Kampfe erfüllten, gaben einem echt dichterischen Geiste den Anstoß zu einem der gelungensten Gebilde der epischen Poesie: indem er mit weiser künstlerischer Beschränkung sich völlig dem epischen Zuge der Sage hingab und seine Darstellung einzig von dem Einheitskerne der erwählten Handlung bestimmen ließ, gestaltete sich ihm die Erzählung von den Thaten, Bedrängnissen und dem schließlichen Triumphe des verschlagenen und gewissenlosen Reineke auf dem Hintergrunde der ebenso gewaltthätigen als schwachen Despotie König Nobels und des rohen und plumpen Treibens seiner raubgierigen Vasallen, unter schmiegsam bereitwilliger Assistenz der geistlichen Würdenträger und Bediensteten, zu einem Kunst= werk von der höchsten, rein komischen Wirkung. Keine von außen hereingetragene Tendenz stört den Gang der unbefangen und einheitlich sich entwickelnden Handlung, nirgends unterbricht die Satire das epische Jnteresse und läßt an die Stelle der ungetrübten Freude an den sich abspielenden Dingen und ihrer reinen Komik die Bitterkeit und Gehässigkeit oder das ernste, schwere Ethos der Parteikämpfe treten. Und gerade durch diese strenge Einschränkung in die Welt der tierischen Jnstinkte, wie die Sage sie von seiten ihrer Ähnlichkeit mit menschlichem Fühlen, Denken und Handeln erfaßt hat, löst der Dichter im vollen Umfange die Aufgabe der komischen Poesie: das Lächerliche darzustellen ─ das ἁμάρτημα οὐ φθαρτικόν und αἶσχος οὐκ ὀδυνηρόν ─ und die reine Freude daran zu erregen, sowohl die indirekte am Lächerlichen selbst als das direkte Wohlgefallen an der Vorführung seines Widerspieles. Denn auch an dieser positiven Seite fehlt es dem Epos vom „ Reineke Fuchs “ keineswegs; wie viele solcher positiven Züge, an denen man seine helle Freude hat, liefert eben jene treu an die Sage sich anschließende Schilderung von den mannigfachen Äußerungen der tierischen Jnstinkte! Es sind nicht nur die Erscheinungen virtuoser Leistungen von Kraft, Mut, List, Gewandtheit, Beharrlichkeit, die so wirken, sondern auch eine große Zahl von Vorgängen, welche in diesem von der Vorstellung sittlicher Gesetze so gänzlich unberührten Leben gerade in ihrer offenen Verbindung mit dem naiven Egoismus um so wohlthuender anmuten, als sie doch auch von den unmittelbaren Regungen der Familienliebe, verwandtschaftlicher Treue, kameradschaftlicher Hilfsbereitschaft Kunde geben. Die ganze Fülle der Erscheinungen des Lebens und des Ganges der Dinge in einer Zeit, wo Gewalt und List die Herrschaft haben, führt diese „unheilige Weltbibel“ dem Empfindungsurteil vor, überall ihm die unzweifelhafte Entscheidung nach der Seite des Lächerlichen und des Wohlgefälligen bietend, und indem so Lachen und Freude, Behagen und Heiterkeit in allen ihren Gradationen abwechselnd das Gemüt bewegen, bewirken sie eine Klärung, die an Kraft und Bedeutsamkeit der tragischen Katharsis nicht nachsteht, vielmehr, in ihrer vollen Tiefe erfaßt, als notwendige Ergänzung dieser zur Seite tritt. Nach alledem wäre die Definition des komischen Epos die folgende: Das komische Epos ist die vermittelst der Erzählung erfolgende Nachahmung einer vollständigen und einheitlichen, das Fehlerhafte und Verkehrte ohne schmerzliche und verderbliche Wirkung darstellenden Handlung, welche, indem sie die Empfindungen des Lächerlichen und des Wohlthätigen hervor= ruft, die wechselseitige Herstellung beider zur reinen Wirkung ermöglicht. Es geht aus dieser Definition hervor, daß selbst diejenigen komischen Epen, welche eine räumlich ausgedehnte, weit verzweigte Handlung erzählen, nicht dasjenige enthalten werden, was bei dem heroisch=tragischen Epos den Begriff der Größe ausmacht: jene Zustände und Verwickelungen, die eine relativ bedeutende Wichtigkeit für das Ganze haben, können nicht als fehlerhaft oder verkehrt dargestellt werden, ohne daß schmerzliche und verderbliche Folgen sich einstellen. Eben darin liegt der Grund, warum das komische Epos großen Stiles sich der Analogie des tierischen Treibens mit dem menschlichen Handeln für seinen Zweck bedient hat, und warum die Versuche, diesen Zweck direkt durch die Darstellung menschlicher Vorgänge zu erreichen, bei dem Bestreben jene Klippe zu vermeiden immer ins Kleinliche gefallen sind: ein durch nichts auszugleichender, die poetische Wirkung an der Wurzel verderbender Fehler, den man vergeblich durch die Aufwendung des aus dem heroischen Epos übernommenen, mythologischen und allegorischen Apparates zu verdecken suchte. Man gelangte damit bestenfalls zur Parodie, deren komische Kraft einzig in der Verwendung der großen Formen für den kleinlichen Jnhalt beruht. Neuerdings hat man, um beide Gefahren zu vermeiden, weder ernst und tragisch zu werden, noch an Nichtigkeiten die poetische Kraft zu verschwenden, mit Vorliebe den Ausweg eingeschlagen, den Stoff der Handlung in eine halb romantische oder halb märchenhafte Phantasiewelt zu verlegen, welche menschlich interessierenden Vorgängen reichlichen Raum gibt, und doch ihren Ernst durch die Willkürlichkeit der gewählten Voraussetzungen mildert. Es können die anmutigen Gebilde der Phantasie hier so gestaltet werden, daß doch allenthalben die einfache und tiefe menschliche Wahrheit hindurchleuchtet. Höchst liebenswürdige und an poetischen Schönheiten reiche Schöpfungen sind auf diese Weise entstanden; es genügt an die Namen V. Scheffels, J. Wolffs, R. Baumbachs zu erinnern. Aber jene poetische Wirkung, welche in der Verbindung einfacher und voller gegenständlicher Wahrheit mit idealer Allgemeingültigkeit beruht, wie sie für das Jdyll in Goethes „Hermann und Dorothea“ ─ welches doch in seinen komisch gefärbten Partien den Weg zeigt ─ vorbildlich dasteht, ist für das komische Epos noch niemals erreicht worden. Jn der breiteren und bequemeren Form des prosaischen Romans ist auch für dieses Gebiet eine große Zahl mustergiltiger Schöpfungen vorhanden; aber der Prosaroman ist viel zu fest an die Detaildarstellung gebunden, als daß er jemals sich ganz zu der Höhe des Epos erheben könnte, wo ─ das Kennzeichen aller echten Poesie ─ die Darstellung des Besondern in lebendigster Gegenwärtigkeit zugleich mit der Wirklichkeit wetteifert und doch überall das Allgemeine in sich schließt, so daß „wer jenes lebendig erfaßt, zugleich auch dieses erhält, selbst ohne es gewahr zu werden.“ Vgl. Goethe, Sprüche. Ethisches IV, Nr. 363 und Kunst I, 671. Das geschieht, indem die Poesie ebensowohl durch ihre Form als durch ihren Jnhalt überall von den Dingen das für die menschliche Seele Bedeutsamste und Ergreifendste in der prägnantesten Weise nachahmend zum Ausdruck bringt, und es von seiten seiner entschiedensten und reinsten Wirkung auf die Empfindungen, Gemütszustände und Entschließungen darstellt: somit diese Wirkungen, wie sie im Leben wohl auch in manchen Fällen, jedoch selbst da zerstückt und mannigfach durchkreuzt erfahren werden, durch die Kunst nachahmt, in vollem und reinem Accord hervorbringend, was in der Wirklichkeit vielstimmig und mißtönend durcheinander klingt. Aber die Hindernisse, welche der Entwickelung des komischen Epos entgegenstehen, konnten ihrer Natur nach nicht im Wege sein, wo es die Darstellung einer einzelnen komischen Handlung galt: das ist die Aufgabe der komischen Erzählung, des Schwankes. Es ist schon oben hervorgehoben worden, wie diese Gattung sich auf ihrer Höhe nur so lange hält, als sie ihrem Wesen getreu bleibt, welches in der Reinheit des epischen Tones beruht, in der Erzählung um ihrer selbst willen. Andererseits aber ist es leicht zu ersehen, wie es geschieht, daß selbst da ihr eine gewisse Verwandtschaft mit der Moral und Lehre natürlich ist, die es gestattet, daß ganz unbeschadet jener epischen Reinheit der Erzählung ihr sogar eine kurze Formulierung solcher Moral oder Lehre hinzugefügt werden kann. Es geschieht damit weiter nichts, als daß der lebhaften Empfindung des positiven Widerspieles der dargestellten Fehlerhaftigkeit, der wohlgefällig empfundenen „Realität“ gegenüber dem mit Behagen wahrgenommenen Lächerlichen, nun zu einem kernigen Ausdruck verholfen wird, wodurch sie desto klarer ins Bewußtsein tritt. So hat Hans Sachs die komische Erzählung behandelt, und so hat, lebhaft durch ihn angeregt, es Goethe gethan. Aus seinem herrlichen Gedicht von „ Hans Sachsens poetischer Sendung “ läßt sich die ganze Theorie der Gattung ableiten. Wie schön und treffend, daß vor Allem die positive Seite in der poetischen Begabung des für diese Gattung „gesandten“ Dichters hervorgehoben wird, recht im Gegensatze zu denjenigen, welche seinen Beruf nur in dem scharfen Auge für das Fehlerhafte und in der Fähigkeit es zu zeigen, also nur im Witze, erkennen: Er hätt' ein Auge treu und klug Und wär auch liebevoll genug, Zu schauen manches klar und rein, Und wieder alles zu machen sein; Hätt' auch eine Zunge, die sich ergoß Und leicht und fein in Worte floß; Des thäten die Musen sich erfreun, Wollten ihn zum Meistersänger weihn. Dazu tritt nun die Gesinnungsweise, die hier erfordert wird, das rechte Ethos, das den Grund dieser Darstellungsweise bilden muß. Kann es einen kräftigeren und edleren Gegensatz geben, als die Verkörperung, die Goethe diesem Ethos leiht, gegenüber der äußerlich glänzenden, innerlich morschen Frivolität, die so oft und immer wieder unter lautem Beifall sich an seine Stelle setzt? Da tritt herein ein junges Weib, Mit voller Brust und rundem Leib; Kräftig sie auf den Füßen steht, Grad, edel vor sich hin sie geht, Ohne mit Schlepp und Steiß zu schwenzen, Oder mit den Augen herum zu scharlenzen. Sie trägt einen Maßstab in ihrer Hand, Jhr Gürtel ist ein gülden Band, Hätt' auf dem Haupt einen Kornähr-Kranz, Jhr Auge war lichten Tages Glanz; Man nennt sie thätig Ehrbarkeit, Sonst auch Großmut, Rechtfertigkeit. Und nun die unübertreffliche Schilderung, wie solche Begabung und Gesinnungsweise die Ausrüstung für die echte komische Dichtung bildet, in der Einweihung des Dichters durch diese Führerin zu seiner Bestimmung: Die spricht: Jch habe dich auserlesen, Vor vielen in diesem Weltwirrwesen, Daß du sollst haben klare Sinnen, Nichts Ungeschicklichs magst beginnen. Wenn andre durcheinander rennen, Sollst du's mit treuem Blick erkennen; Wenn andre bärmlich sich beklagen, Sollst schwankweis deine Sach' fürtragen; Sollst halten über Ehr' und Recht, Jn allem Ding sein schlicht und schlecht, Frummkeit und Tugend bieder preisen, Das Böse mit seinem Namen heißen. Nichts verlindert und nichts verwitzelt, Nichts verzierlicht und nichts verkritzelt; Sondern die Welt soll vor dir stehn, Wie Albrecht Dürer sie hat gesehn, Jhr festes Leben und Männlichkeit, Jhre innere Kraft und Ständigkeit. Der Natur Genius an der Hand Soll dich führen durch alle Land, Soll dir zeigen alles Leben, Der Menschen wunderliches Weben, Jhr Wirren, Suchen, Stoßen und Treiben, Schieben, Reißen, Drängen und Reiben, Wie kunterbunt die Wirtschaft tollert, Der Ameishauf durcheinander kollert; Mag dir aber bei Allem geschehn, Als thätst in einen Zauberkasten sehn. Schreib das dem Menschenvolk auf Erden, Ob's ihm möcht eine Witzung werden. Hier ist Alles enthalten, was zur Definition der komischen Dichtung gehört: ihr Gegenstand sind die zahllosen Verkehrtheiten ─ Hamartemata und Deformitäten ─ des menschlichen Lebens und Treibens, aber nicht direkt aus der Wirklichkeit entnommen, sondern in ihrer typischen Allgemeinheit erfaßt, ohne Haß und Zorn, ohne Tendenz und Tagesinteresse ─ „Mag dir aber bei Allem geschehen, als thätst in einen Zauberkasten sehen“ ─ dargestellt, also in der idealen Ferne der echt dichterischen Betrachtung; das Erste und Wesentlichste nun aber, wodurch alle komische Kunst bestimmt wird ─ und darum hier von dem Dichter auf das Kräftigste und Deutlichste in den Vordergrund gestellt ─, ist das „klare und treue Auge“, der feste und gesunde Sinn, das unbestechlich und rein die Dinge erfassende Empfindungsurteil, welches, die Darstellung mit dem Ethos und Pathos ihres Urhebers erfüllend, dieselben auch nachahmend bei dem Hörer erzeugt, zugleich direkt und indirekt, durch die erweckten Empfindungen des Lächerlichen und Wohlgefälligen. Denn über all dem unendlichen Schwall, der von allen Seiten als sein Material sich ihm zudrängt, der Historia, Mythologia, Fabula, „weltlich Tugend und Laster Geschicht“, den „Bocks- und Affensprüngen“ und den „lustigen Zwischenspielen“ des Narren, steigt nun zu dem Dichter „auf einer Wolke Saum“ die „heilige“ Muse herab: „Die umgibt ihn mit ihrer Klarheit Jmmer kräftig wirkender Wahrheit“, und ihr weihender Segen läßt „das heilige Feuer, das in ihm ruht, zu hoher, lichter Glut“ emporschlagen. So hat denn auch Hans Sachs in dieser vertraulichen Form, trotz ihrer Derbheit und scheinbaren Niedrigkeit die höchsten Dinge zu behandeln verstanden, und Goethe, der ihn so glücklich nachahmt, wählte sie mit Vorliebe, um in der Sache, die ihm die nächste am Herzen und die höchste war, in der Sache der Kunst, seinen Sinn und seine Meinung kund zu geben. Ebenso hat, worauf schon oben hingewiesen wurde, die Legende in dem Gewande der komischen Erzählung sich auf das Glücklichste dargestellt, während für ihre ernsthafte Gestaltung, sofern sie ihre Gegenstände in mystisch=gläubigem Sinne und mit religiöser Tendenz behandelt, in der Poesie kein Raum vorhanden zu sein scheint. Dagegen benutzt die komisch gefärbte Legende die religiöse Vorstellungsweise mit ihren Wundern und allem Zubehör, um menschliche Schwäche, als solche gefaßt und dargestellt, vor dem Empfindungsurteil klar zu stellen, ohne daß das Lächerliche die damit zugleich erweckte positive Empfindung an Klarheit und Kraft schädigen könnte, die mitunter sogar dabei in überraschender Tiefe sich geltend macht. Es genügt an solche Musterstücke der Gattung zu erinnern wie Hans Sachsens „Sct. Peter mit der Geis“ und „Die ungleichen Kinder Evä“, und an Goethes „Legende vom Hufeisen“. Gedichte wie diese thun ihre erfreuliche Wirkung eben dadurch, daß in ihnen die Gattung rein erhalten ist; wie überall so gibt es auch auf dem Felde der komischen poetischen Erzählung nicht vieles derart. Vielleicht für keine Dichtungsart war Bürgers Talent so glücklich disponiert wie für diese, und seine große Beliebtheit dankt er vorzüglich den ihm am besten gelungenen komischen Erzählungen, von welchen vor allen andern „ Der Kaiser und der Abt “ als ein Musterstück der Gattung bezeichnet werden kann. Es zeigt sich auch hier, daß die komische Poesie ganz ebenso die höchsten Anforderungen an den Dichter stellt wie die tragische. So unscheinbar vielleicht gerade diese Gattung der komischen poetischen Erzählung vielen Beurteilern vorkommen mag, so ist, bei den auf allen Seiten sie umgebenden Gefahren der Ausartung, sie rein darzustellen, die Sache nur eines sehr bedeutenden Dichters. Bei Bürger selbst wird die heitere Freude an dem Dargestellten allzu oft getrübt, wenn nicht ganz aufgehoben, durch das Parodische und Triviale, ja zuweilen Niedrige und Gemeine, welches diesem Genre so leicht sich zugesellt, bei den Einen um es als das wohlfeilste Mittel zum Ersatz für die mangelnde wahrhaft komische Wirkung zu verwenden, bei den Andern um einer angeblich satirischen Tendenz damit zu dienen. Jst nun die entschieden satirische Tendenz, so gut wie die lehrhafte Absicht, an sich dem reinen Charakter der poetischen Erzählung, auch der komischen, widersprechend, so werden andererseits die Mittel des niedrig Parodischen, Trivialen, Vulgären durch satirische Verwendung selbst bei der an sich besten Absicht noch keineswegs etwas Anderes als sie an sich sind, noch keineswegs der poetischen Verwendung fähig; als ein abschreckendes Beispiel der Art wäre Schillers Jugendgedicht „ Der Venuswagen “ zu nennen, welches, wie noch andere Gedichte in Schillers „Anthologie“, deutliche Spuren einer ziemlich starken Beeinflussung durch Bürgersche Ausdrucks- und Darstellungsweise zeigt: vielleicht ein Grund mehr dafür, daß Schiller zehn Jahre später sich mit um so entschiedenerer Verurteilung gegen Fehler wandte, die er einst selbst bis zu einem gewissen Grade mitzumachen sich hatte verleiten lassen. Es wird ferner nicht leicht sein, sich immer der Grenzlinie genau bewußt zu sein, welche das Gebiet, wo die poetische Erzählung einer komischen Handlung als solcher der Zweck ist, von demjenigen scheidet, wo sie als Mittel der Satire oder didaktischer, moralischer oder verwandter Tendenzen geradezu oder in allegorischer, symbolischer, parabolischer Weise angewendet ist. So hat sie Berührungen mit dem Gleichnis, der Parabel, und, sofern man die Fabel als eine lehrhafte Dichtung zu behandeln gewohnt war, auch mit dieser, endlich mit dem ganzen Gebiet der satirischen Dichtung. Goethe hat der „Legende“ vom Hufeisen zwar auch, in der Manier Hans Sachsens, eine Nutzanwendung beigegeben, aber es wird Niemanden zweifelhaft sein, daß darin das epische Element in höherem Grade vorwaltet, die Handlung mehr um ihrer selbst willen erzählt ist, als in Gedichten wie „Dilettant und Kritiker“, „Der Meister einer ländlichen Schule“, „Kenner und Enthusiast“ und verwandten, wo zwar auch Handlungen erzählt werden, aber doch so, daß sie parabolisch als Mittel zur Jdeendarstellung verwandt sind. Jn allen Zeiten und Litteraturen ist die wahrhaft wohl gelungene, das heißt also rein epische „poetische Erzählung“ eine sehr seltene Erscheinung; bei den deutschen Dichtern des sechzehnten Jahrhunderts ist sie, abgesehen von den besten Dichtungen des Hans Sachs, nicht vertreten. Fischart besaß die Gabe der Erzählung in hohem Grade, allein sie kommt nur gelegentlich und vorübergehend bei ihm zur Geltung; herrschend ist in seinen Kompositionen die Satire, welche Anlage so wie Durchführung bestimmt, und leicht gesellt sich ihr die Lehrhaftigkeit hinzu. Sinn und Verständnis für die künstlerische Form als solche fehlen ihm ebenso wie die unmittelbare Hingabe an das reine Jnteresse der zu erzählenden Handlung, das bei aller Kunstlosigkeit der Darstellung so zahlreichen „Schwänken“ des Hans Sachs ihren Reiz verleiht. Durchweg finden wir bei den übrigen sogenannten epischen Dichtern des sechzehnten Jahrhunderts das didaktische und satirische Element im Übergewicht über das epische; in die sonst nicht ohne Frische vorgetragenen poetischen Fabelerzählungen des Erasmus Alberus und Burkhard Waldis drängt es sich ein und erdrückt bei Rollenhagen die Handlung fast gänzlich. Mehr und mehr verschwindet die poetische Erzählung aus der Litteratur, und an ihre Stelle tritt die Prosa; es handelt sich weiterhin lediglich um die Überlieferung des Stoffes der interessierenden Handlung, wobei ein Rest von künstlerischer Behandlung freilich immer noch insoweit in Betracht kommt, als der Erzähler, je nach dem Standpunkte, den er sich erwählt, seinen Vortrag auf Erreichung einer komischen, strafenden, ermahnenden oder lehrhaften Wirkung zuspitzt. Jn diesem lediglich stofflichen Sinne kann man alle die zahllosen Überlieferungen solcher Art, welche allerlei seltsame und unerhörte, überraschende und neue, immer aber unterhaltende Mitteilungen zu verbreiten sich zur Aufgabe stellten, unter dem romanischen Namen „ Novellen “ zusammenfassen, wenn auch das veredelte Kunsterzeugnis, welches wir unter diesem Namen verstehen, in Deutschland erst der neuen Zeit angehört. Jn jenem allgemeinen Sinne des Begriffes der Novelle hebt Wilhelm Scherer in seiner „Deutschen Litteraturgeschichte“ (vgl. S. 225 ff.) mit Recht den uralten historischen Zusammenhang derselben mit der Fabel, Parabel, der satirischen und didaktischen Dichtung hervor: „Die Lehrdichtung ist auf das Jnnigste mit der Satire und mit der Novelle verwandt. Lehrgedicht und Satire haben sich von der Predigt abgezweigt: die strafende Satire bewegte sich in den Formen der Bußpredigt; in reine Lehrgedichte wurden satirische Charakterbilder eingeschaltet. Die Fabel ist an sich lehrhaft und episch zugleich; zur Tierfabel gesellt sich die Menschenfabel, und diese geht unmerklich in die ernste Novelle oder in den Schwank über. Satire pflegt die Schule für drastisch=realistische Darstellung zu sein, und dem Drastischen liegt das Komische nahe. Schwank und komische Satire aber beherrschen die weitesten Kreise: da jedermann gerne lacht, so ist das Lächerliche immer volkstümlich.“ „Die Fabeln, Novellen und Schwänke waren in der Pflege der Spielleute während des zehnten und elften Jahrhunderts, und diese Kleindichtung bestand gewiß fort, als sich gegen 1100 die edleren und größeren Gattungen mehr in den Vordergrund der Litteratur drängten. Für die Fabel brach die antike Tradition nie ganz ab. Die Novelle war von jeher international, sie war es im zehnten und elften Jahrhundert insbesondere durch die lateinische Poesie, die über ganz Europa Macht hatte. Jm zwölften und dreizehnten Jahrhundert erhielt sie einen starken Zufluß an neuem Stoff aus orientalischen Quellen, wobei gerade wie bei den Schriften des Aristoteles und der arabischen Philosophie, spanische und italienische Juden die Vermittelung übernahmen: indische Erzählungen, die einst ins Persische und daraus ins Arabische übertragen worden waren, gingen jetzt ins Hebräische und Lateinische und daraus in die Landessprache über.“ Bayern und Oesterreich sind die „klassischen Länder der Satire, der Novelle und des Schwankes“. Jn Oesterreich ist Stricker der bedeutendste unter den deutschen Novellisten des Mittelalters. Die Novelle, wie er sie behandelt, steht mit der Fabel und Parabel auf einer Linie und fällt, nach der mittelalterlichen Bezeichnung, in die Gattung des ‚Beispells‘: das ist ein ‚Spell‘, eine Erzählung, mit einem Nebensinn; woher unser ‚Beispiel‘ kommt: auch jene Erzählungen geben einen einzelnen Fall, der viele ähnliche vertritt. Stricker hängt seinen Erzählungen nicht immer, aber meistens eine Moral an, die oft sehr breit wird und äußerlich jedes vernünftige Maß überschreitet. Er zeigt sich dabei „streng geistlich und religiös“, was ihn nicht hindert, in seinem „Pfaffen Amis“ die Geschichte eines geistlichen Schwindlers zu schreiben. Mehr und mehr tritt schon im Verlauf des dreizehnten Jahrhunderts und dann weiterhin diese satirische Novellistik in einen bebewußten Gegensatz gegen die herrschenden Stände; sie schildert den Verfall des höfischen Lebens, verspottet Adel und Geistlichkeit und entwirft zugleich ein Bild von den Sitten der bürgerlichen und bäuerlichen Kreise, von ihren guten und schlimmen Seiten, Tüchtigkeit und Leichtfertigkeit. „Die Novellenlitteratur ist nicht zu erschöpfen. Jn ganz Mittel= und Süddeutschland kommt sie während des dreizehnten Jahrhunderts in Gang: mit mehr oder weniger Talent, mit mehr oder weniger Erzählungskunst behandeln die Dichter ihre Stoffe; die angehängte Moral hat sich bald verloren. Treue und Untreue ist auch hier das große Thema. Nicht bloß Scherz, Frivolität und Roheit treiben darin ihr Spiel; auch edle Aufopferung und reine Gesinnung werden gefeiert.“ Jm Anschluß daran heißt es an einer späteren Stelle bei Scherer (vgl. S. 297 ff.): „Wie im dreizehnten Jahrhundert Fabel und Novelle unmerklich in einander übergehen und beide mit einer Moral versehen werden, so ist es auch noch im sechzehnten Jahrhundert. Bei Hans Sachs fallen die beiden Dichtungsgattungen so gut zusammen, wie ehemals bei Stricker. Und wie die Moral oft in ein Sprichwort ausläuft, so kann jetzt auch umgekehrt das Sprichwort an die Spitze gestellt und durch Fabeln und kleine Geschichten erläutert werden. Das ist die Form, in welcher das sechzehnte Jahrhundert Lehrgedichte wie Freidanks Bescheidenheit fortsetzt: allerlei didaktischer, anekdotischer, novellistischer Stoff, Scherz und Ernst, Poesie und Prosa in buntem Wechsel an dem Faden von Sprichwörtern, sprichwörtlichen Redensarten, auch wohl selbstgemachten Sentenzen aufgereiht.“ ─ Solche Sammlungen machten Johann Agricola von Eisleben und Sebastian Franck. „Jndessen hatte sich die Unterhaltungslitteratur in Prosa längst auf eigene Füße gestellt. Die mittelalterliche Masse von kleinen Erzählungen, wie sie in den Predigten als Beispiele gebraucht worden waren, sammelte Johannes Pauli in seinem Buche ‚Schimpf und Ernst‘, das 1522 erschien. Und die lateinischen, großenteils sehr unanständigen Schwänke der Humanisten, eines Poggio, eines Bebel wurden die Grundlage späterer deutscher Sammlungen, die aber auch aus mündlicher Erzählung, aus Boccaccio und andern Quellen schöpften. Jn den Jahren 1555 bis 1563 traten nicht weniger als acht solcher Sammlungen mit lockenden Titeln hervor: Wickrams ‚Rollwagenbüchlein‘, Freys ‚Gartengesellschaft‘, Montanus ‚Wegkürzer‘ und ‚ander Theil der Gartengesellschaft‘, Lindeners ‚Katzipori‘ und ‚Rastbüchlein‘, Schumanns ‚Nachtbüchlein‘, Kirchhofs ‚Wendunmuth‘.“ Eine ganz analoge Entwickelung wie die hier geschilderte vollzog sich im dreizehnten Jahrhundert in Frankreich; nur mit dem höchst bedeutenden Unterschiede, daß die altfranzösische Heiterkeit und Lust am Fabulieren hier von früh an den Körper der Erzählung zum Hauptgegenstande machte und ihn mit Glanz und Anmut zu schmücken wußte. Wie die deutschen „Schwänke“ geben die französischen „ Fabliaux “ ein getreues Bild des bürgerlichen Lebens der Epoche; wie jene sind sie zur Satire gegen Adel und Geistlichkeit geneigt, aber eben in der echt französischen Weise, der es mit solcher Opposition mehr um ein jeu d'esprit als um bitteren Ernst zu thun war. Vgl. hier und im folgenden Kreyssig, Gesch. d. französ. Nationallitteratur, 1866, S. 38 ff. „Neckisch und beißend, aber durchaus nicht scharf untersuchend, mehr geneigt, über ihre Gegner zu lachen, als ihre Gründe zu widerlegen, unwiderstehlich zur Opposition getrieben, ohne jedoch der Autorität entraten zu können, verspotteten und neckten die Franzosen schon im Mittelalter die Priester, denen sie ihr Gewissen ohne Widerstand unterwarfen, und die hohen Herren, deren Macht sie fürchteten.“ „Doch sind nicht alle Fabliaux in demselben Tone gehalten. Es gibt manche darunter, die durch Kraft und Wahrheit des Gefühls und ungekünstelte Anmut der Sprache sich zum Range wahrhafter Poesie erheben: wie das berühmte Fabliau von ‚ Aucassin und Nicolette ‘. Diese reizende Erzählung hat poetischen Schwung genug, um sich niemals in Frivolität zu verirren, und die französische Energie und Heiterkeit, welche sie überall atmet, hält gleichzeitig die sentimentale Übertreibung von ihr ferne, die in den Ritterpoesien der Deutschen so oft vorherrscht.“ Die Mehrzahl von ihnen freilich „zeigt mehr gesunden Menschenverstand, neckischen Frohsinn und bisweilen selbst Frivolität als poetischen Schwung. Die Sitten des Mittelalters finden sich darin wieder, in ihrer Plumpheit, wie in ihrer Kraft und Natürlichkeit. Man behandelt in ihnen die Mönche und Ehemänner ziemlich unsanft, man spottet über Dummheit und Pedanterie überall, wo man sie findet, ohne weder Geschlecht noch Stand zu verschonen. Aber die Erfindung ist fast immer pikant und anziehend, und die Sprache, obwohl weit entfernt von Boccaccios ausgesuchter Eleganz, läßt im ganzen weder Leichtigkeit noch Kraft vermissen. Von vielen Fabliaux, die sich unter den Handschriften der Pariser Bibliothek vorfinden, sind die Verfasser unbekannt und angesichts ihrer außerordentlichen Menge möchte man fast glauben, daß alle Welt dergleichen machte, und daß man es oft nicht einmal der Mühe wert hielt, den Namen des Verfassers darunter zu setzen.“ Hier liegen dicht gedrängt die Keime der modernen Novellistik; es ist leicht, in der italienischen Entwickelung die verwandten Züge zu erkennen, und hier bot schon das vierzehnte Jahrhundert in Boccaccios „ Dekameron “ in Sprache und Kompositionsweise ein klassisches Muster für die bewußte Kunst der Erzählung dar, aber doch nur der Prosa= Erzählung, und eine Kunst, die bei aller technischen Vollendung doch diesen Namen insofern nur mit starker Einschränkung verdient, als sie überwiegend auf die Lust am Frivolen und Schlüpfrigen abzweckt. Einen Dichter aber hat das vierzehnte Jahrhundert hervorgebracht, der zuerst die volle Kunst der poetischen Erzählung, namentlich der komischen poetischen Erzählung erreicht hat und der als das echte Muster derselben gepriesen werden darf: Geoffrey Chaucer. Zwar zahlt auch er, wie billig, seiner Zeit den Tribut; er ist vornehmlich in den ernsten Erzählungen nicht frei von ungehörigen Breiten, allerlei lehrhaften Digressionen und einer Vorliebe „für gewisse scholastische Diatriben über Moralsätze, die er oft sehr lang und ohne Verhältnis zur Erzählung ausspinnt.“ Vgl. hier und für das folgende den feinsinnigen Übersetzer der „ Canterbury= Geschichten “ Chaucers: Wilhelm Hertzberg in dessen Einleitung zu denselben S. 53 ff. (Hildbhs. Bibl. Jnst. 1866.) „Von diesen Fehlern sind die komischen Erzählungen fast ohne Ausnahme völlig frei: sie sind durchgängig vorzüglich angelegt und haben einen drastischen Verlauf.“ Was ihren absoluten Kunstwert schmälert, ist die oft übergroße Derbheit nicht nur im Ausdruck, sondern auch in der dargestellten Handlung selbst. Dennoch bieten Chaucers Dichtungen gerade von dieser Seite ein besonderes Jnteresse, weil hier das Resultat des Widerstreites der beiden Nationalcharaktere sich darstellt, die der Dichter gewissermaßen in seiner Person vereinigte, und zu deren Verschmelzung er, schon durch die Sprache, wie er sie formte und handhabte, so viel beigetragen hat: „ein Doppelmensch mit einem Januskopf, halb höfischer und chevaleresker Franzose, halb derb naturwüchsiger Angelsachse, der bald das eine Gesicht, bald das andere uns zukehrt und dadurch die überraschendsten und ergötzlichsten Kontraste zuwege bringt.“ Es leuchtet ein, daß es für die Entstehung und schnelle Ausbildung der komischen Poesie eine günstigere Situation nicht geben kann. Bunt gemischt aus französischen Elementen und deutschen Bestandteilen wie seine Sprache ist seine Empfindungs- und Anschauungsweise. „Jn die feinsten, mit der gewandtesten Hand gezeichneten Charakteristiken schlägt er plötzlich mit einer plattdeutschen Eulenspiegelei hinein, so derb, daß einem Hören und Sehen vergeht. Und, was das Schlimmste ist, an diesen Tölpeleien, die oft, die Wahrheit zu gestehen, genau wie Eulenspiegels praktische Späße unverantwortlich schmutzig sind, hat er eine ordentliche Lust. Er übt sie mit vollem Bewußtsein. Es ist fast, als wollte sich seine angelsächsische Natur (die auch aus seiner Vorliebe für handfeste Volkscharaktere hervorleuchtet) an der fremdbürtigen französischen Kultur in ihm recht gründlich dadurch rächen, daß sie dieser empfindsamen, vornehm thuenden, parfürmierten Hofdame eine Hand des allernaturwüchsigsten plumpsten Bauernwitzes ins Gesicht wirft.“ „Man wende hier nicht etwa ein, daß solche Polissonnerien keineswegs bloß plattdeutsch und angelsächsisch seien, daß die Neigung dazu in dem unentwickelten Schicklichkeitssinn dieser Jahrhunderte überhaupt liege, daß sie trotz des äußeren Firnisses etikettenmäßiger Formen an dem Hofe Eduards III., durch die französischen Fabliaux ebenso geläufig gewesen wie in dem hochgebildeten Jtalien. Man berufe sich dabei nicht auf Boccaccios ebenso elegante wie schlüpfrige Novellen, deren Nach= ahmung Chaucer so nahe lag. Man würde dadurch Chaucer im höchsten Grade unrecht thun. Boccaccio ist bei seiner blendenden und gleichmäßig gefeilten ─ niemals plumpen Diktion dennoch im Herzen lasciv. Er ist schlüpfrig, lüstern und darum wirklich unsittlich und gefährlich. Bei Chaucer dagegen ist von Lüsternheit nirgends die geringste Spur. Es kommt ihm nicht entfernt in den Sinn, sich in verblümten, aber eben darum verführerischen Situationen zu ergehen, wie jener es mit Vorliebe thut. Er läßt zu Zeiten ein unschickliches, sehr unschickliches Wort fallen, aber er ist nicht unsittlich. Man mag die betreffenden Stellen roh, ungeschlacht, pöbelhaft nennen, der gebildete Anstandssinn mag dabei erschrecken: die Unschuld und Tugend ist sicher vor ihm ─ ebenso sicher wie bei den groben Späßen Eulenspiegels und was sonst aus unserer älteren deutschen Volkslitteratur in dieselbe Rubrik gehört. Könnte es nach dem eben Gesagten noch zweifelhaft sein, daß wir es in der That hier mit dem noch unversöhnten Gegensatz der bis dahin nur den niederen Volksschichten eigenen plattdeutschen Weise und des feinen Tons der französisch gebildeten adeligen Cirkel zu thun haben, so würde er uns selbst darüber durch die denkwürdigen Worte belehren, mit welchen er an einer Stelle der Canterbury-Geschichten sich wegen dieser groben Manieren entschuldigt (vgl. Prolog des Müllers, V. 3167): ‚Es sind die Sitten der Bauern, die ich schildere; ich kann den Bauer nicht adeln; feine Leute mögen diese Geschichten überschlagen; sie werden genug Anderes nach ihrem Geschmack in dem Buche finden.‘“ Es läßt sich an diese geistreiche Schilderung von Chaucers Eigenart und historischer Stellung eine tiefer eingreifende Frage und ihre Beantwortung anknüpfen: die Frage nach der Berechtigung des Elementes der Derbheit, ja selbst starker Verletzungen des sonst geltenden Anstandes in der Poesie, die erfahrungsmäßig diese kräftige Würze als Jngrediens sehr wohl verträgt. Alle Zeiten und Völker haben sich daran ergötzt, keine Kultur vermag die hier enthaltene komische Kraft abzuschwächen, und die genialsten komischen Dichter haben von jeher am rückhaltlosesten davon Gebrauch gemacht. Jn der That läßt sich kein Gebiet denken, wo so wie hier die Vorstellungen des Fehlerhaften und Häßlichen so eng und unmittelbar verbunden mit denen des Positiven, Gesunden, Normalen liegen wie auf dem Gebiet der derben Natürlichkeiten; keines, auf dem mit den allereinfachsten Mitteln so schnell und so scharf die überzeugendste Charakteristik erreicht werden kann. Ein und dasselbe kann hier, je nach den Umständen höchste Unschuld, einfache Natur oder Roheit, Entartung, Verwilderung bezeichnen; andrerseits sind die lediglich körperlichen Verhältnisse und Umstände, als allen Menschen gemein= sam, ganz unschätzbar, um gleichsam als unfehlbar wirkende Reagentien allen falschen Schein, alles erkünstelte, aufgebauschte Wesen, alle unberechtigte Konvenienz und Prätension aufzulösen und in ihr Nichts zu verflüchtigen. Die starke vis comica dieser Dinge liegt zum großen Teil in dem immerwährenden Kontrast ihrer ewig die gleiche Berechtigung verlangenden Natur zu der dennoch fortwährend mit allen Kräften aufrecht gehaltenen Fiktion, als seien vielmehr die künstlichen Zustände, in denen wir uns bewegen, die allein gültigen und berechtigten. Es ist daher ganz konsequent gehandelt, daß die komische Dichtung mit Vorliebe nach den Ständen und Lebenszuständen greift, unter denen jene Fiktion entweder gar nicht oder doch in bei weitem geringerer Ausdehnung Geltung hat. Aber was Chaucer zum wahrhaft großen Dichter macht, ist vor Allem der Umstand, daß seine Poesie sich keineswegs auf die witzige oder pikante Hervorhebung des Negativen einschränkt, sondern daß, der echten Natur des Komischen gemäß, das Positive bei ihm zu seinem vollen Rechte kommt: „Die Schwungkraft seines Genius durchbricht ─ und nicht bloß an vereinzelten Stellen ─ die konventionellen Schranken seiner Zeit und erhebt sich über dieselben zu den reinen Höhen der idealen Form. Waldesgrün, Maienwonne und Vogelsang sind zwar Stoffe, an denen sich die mittelalterliche Lyrik müde gesungen hat. Aber Chaucer weiß sie ebenso anspruchslos wie innig, ebenso wahr als frisch zu erneuen. Und außerdem erschließt er uns noch andere Schätze, von denen uns jene Sänger wenig zu künden wissen: die reine Unschuld des jungfräulichen Herzens, die ungeschminkte und ungekünstelte Frömmigkeit, die stille Gottergebenheit der Mutter, die für das Leben ihres Säuglings bebt. Hier gewinnt sein Ausdruck eine Zartheit, Reinheit und Vollendung, die sich den köstlichsten Perlen aller Litteraturen anreihen läßt.“ Zum höchsten dichterischen Range erhebt ihn aber vor Allem „die aus der feinsten sinnlichen wie psychischen Beobachtungsgabe entspringende Fähigkeit, die Wechselbeziehungen zwischen den Details der äußeren Erscheinung eines Menschen und den dieser Erscheinung entsprechenden Charakterzügen rasch aufzufassen und scharf und schlagend darzustellen“ ... „Chaucers Charakteristiken lösen eins der schwierigsten Probleme der Kunst: sie sind individuell und typisch zugleich; das heißt, sie machen auf uns einerseits den Eindruck einer konkreten lebendigen Persönlichkeit und stellen doch andrerseits eine ganze Klasse von Personen dar, und da sie die Darstellung der äußeren Erscheinung an solche Eigentümlichkeiten des menschlichen Geistes knüpfen, die zu allen Zeiten, wenn auch unter anderen Formen, wesentlich dieselben bleiben, so werden wir da= durch unwillkürlich und wie durch magischen Zwang in diejenigen Zeiten und Sittenzustände zurückversetzt, deren Schilderung die nächste Aufgabe des Dichters ist. Wir verstehen den Geist dieser Zeiten selbst in seiner detailliertesten Entfaltung gleichsam plötzlich und ohne gelehrte Jnterpretation besser als durch langatmige historische und antiquarische Auseinandersetzungen; wir verkehren mit dem Ritter und der Priorin, mit dem Bettelmönch und dem Ablaßkrämer wie mit alten Bekannten, als sähen wir sie täglich; als hätten wir sie erst gestern gesehen.“ „Es versteht sich von selbst, daß die Beobachtungsgabe des Dichters, durch den Verkehr mit vielerlei Menschen am Hof, im Felde und auf Reisen geschärft, ihm unendlich mehr Eindrücke von Unzulänglichem, Verkehrtem, Hinfälligem zugeführt hat als von Vollendetem, Schönem, Erhabenem. Er verschließt sich nun zwar weder der aufrichtigen Begeisterung für das Edle, noch dem tiefen Abscheu gegen das Böse. Er hält der Tugend einen ebenso getreuen Spiegel vor als dem Laster. Aber die natürliche Heiterkeit des Dichters, die Grundstimmung seines Gemütes, wendet sich am liebsten den gemischten und unvollendeten Charakteren zu, die das Leben bunt und unterhaltend machen ─ und die einen Spaß vertragen.“ Aber wenn ohne Frage Chaucers Hauptstärke in seiner komischen Charakterzeichnung liegt, so ist doch weder seine Satire einseitig und pedantisch oder lehrhaft, noch seine Jronie überhebend oder superklug, sondern durchweg objektiv und immer heiter: „es liegt darin das gutmütige Eingeständnis, daß Jedermann hienieden, daß auch er, der Dichter, sein Stückchen Thorheit trage, daß wir alle des Ruhmes mangeln, den wir haben sollen, nicht nur weil wir allzumal Sünder, sondern auch ─ mehr oder weniger ─ allzumal Narren sind. Damit ist auf den feinsten und merkwürdigsten Zug in Chaucers dichterischem Charakter hingewiesen ─ auf einen Zug, der von allen Dichtern der Welt bei ihm zuerst zur klaren Entfaltung gekommen, der seitdem der eigenste und ohne Zweifel der liebenswürdigste Zug des englischen Volkscharakters geworden ist: Chaucer ist der erste Humorist. “ Dieser große Dichter hat weder in England noch sonst irgendwo seinesgleichen gefunden; die humoristische poetische Erzählung wie vollends das komische Epos sind verkümmerte Zweige am Baum der Poesie geblieben. Die berühmten, sogenannten Musterstücke der Gattung verdanken ihr Ansehen entweder ganz und gar dem parodisch=satirischen Element wie Tassonis „Eimerraub“, Boileaus „Lutrin“ oder Popes „Lockenraub“, oder sie sind rein satirisch und einseitig eifernd wie Butlers „Hudibras“, oder lediglich Burlesken wie Kortüms „Jobsiade“, wenn nicht gar zu alledem noch die Beimischung des frivolen und obscönen Elementes sich gesellt wie in Voltaires „ Pucelle “. Besonders zahlreich sind in Frankreich die Erzeugnisse dieser letzteren Gattung, unter denen Parnys „ Guerre des dieux antiques et modernes “ den ersten Platz einnehmen möchte. Alle diese Vorbilder haben in Deutschland ihre Nachahmer gefunden, ohne daß in diesen Produktionen sich irgend etwas über den Charakter der Schulmäßigkeit erhöbe. Trivialität, Mattheit und Abgeschmacktheit streiten sich darin um den Preis, und auch Zachariäs viel genannte „komische Epopöen“ erheben sich nur wenig über dieses Niveau der Mittelmäßigkeit. Auf diesem Felde ist die Prosa unbestrittene Siegerin geblieben; mit dem Ende des vorigen, dem Beginne unseres Jahrhunderts setzt mit der kunstmäßigen Prosa-Novelle eine ganz neue Entwickelung ein, welche die gesamte, hier überlieferte Erbschaft antritt. ────── Nach allem, was in diesen letzten Abschnitten ausgeführt ist, steht also das Epos seinem Grundwesen nach, das durch den Nachahmungs= zweck bestimmt wird, mit dem Drama auf demselben Boden; den allgemein geltenden Vorschriften über Größe und Einheit der Handlung, vor allem über ihre Wirkung auf die Schicksalsempfindungen, ist das heroische Epos in gleicher Weise unterworfen wie die Tragödie. Ebenso gelten die Gesetze über die Anlage der komischen Handlung für die Komödie wie für das komische Epos. Der ganze, in der Erscheinung so überaus stark hervortretende Unterschied der Gattungen beruht demnach auf der Verschiedenheit der Art und Weise der Nachahmung, die bei der einen durch Erzählung, bei der andern durch Handelnde geschieht; alle technischen Vorschriften über die grundverschiedene Einrichtung des Dramas und des Epos sind aus diesem einen Unterschiede herzuleiten. Für den weiteren Gang der Darstellung wird es daher ersprießlich sein, zuerst in die Besprechung des Dramas, seines Wesens und seiner Gattungen einzutreten und auf Grund der Vergleichung derselben mit den epischen Haupt- und Nebengattungen die Definition derselben und die Feststellung ihrer technischen Einrichtung nach Maßgabe der im fünfzehnten Abschnitte gewonnenen Sätze zu versuchen. ────── XIX. Die Nachahmung einer Handlung durch Handelnde ist ein Drama. Daraus ergibt sich zunächst, daß diese Art von Nachahmung äußerlich der Zeit und dem Orte nach beschränkt ist. Während die epische Erzählung allenthalben vor sich gehen kann, hier unterbrochen und dort wieder aufgenommen, sind durch die dramatische Nachahmung Handelnde und Zuschauende an einen bestimmten Ort gebunden und zwar für eine Dauer, welche durch die überall sich gleich bleibenden Grenzen der menschlichen Wahrnehmungs- und Genußfähigkeit, sich auf ein Maximum von etwa drei bis vier Stunden normiert. Zu dem Nachahmungsmittel des Wortes, welches das Drama mit dem Epos gemeinsam hat und zwar des durch rhythmisch=metrischen Wohlklang verschönerten und erhöhten Ausdrucks, fügt es als höchst wesentliches zweites Mittel der Nachahmung die Schaustellung ( ὄψις ) hinzu, sichtbare Darstellung nicht nur der Bewegungen, Mienen, Gebärden der Handelnden, sondern auch der unbelebten, für die Handlung in Betracht kommenden, Körper; und als drittes Mittel, welches in der modernen dramatischen Kunst entweder nur ganz nebensächlich verwandt wird, oder, in der Oper ihr dominierend ganz neue Gesetze gibt, die Musik. Aus dem Gegenstande und den Mitteln der dramatischen Nachahmung bestimmt sich nun die Art und Weise derselben, welche nicht nur die Darstellungsweise der ausgewählten Handlung umfaßt, sondern auch die Auswahl und Einrichtung dieser Handlung selbst. Denn nach der Natur der poetischen Nachahmung überhaupt sind nicht alle Handlungen zu ihrem Gegenstande geeignet, und nach der spezifischen Natur der dramatischen Mittel nicht alle, die etwa im Epos verwandt werden können, auch für das Drama passend, wenigstens nicht in derselben Begrenzung und Anordnung. Ferner was die Darstellungsweise betrifft, so wird in der lyrischen Poesie eine Handlung lediglich um des Pathos und Ethos willen dargestellt werden, die in ihr zur Entfaltung kommen, um ihres Empfindungs=, Stimmungs- oder Charaktergehaltes willen; die Handlung selbst wird als Mittel dienen, um jene nachzuahmen. Umgekehrt werden im Drama Pathos und Ethos, Empfindungen und Charaktere, lediglich dargestellt werden um die Nachahmung des Geschehenden und dessen, was gethan wird, des eigentlichen Handlungs=Jnhaltes, zu bewirken; also nur insoweit als sie als Mittel für den eigentlichen Nachahmungsgegenstand zu verwenden sind. Als Haupterfordernis wird die dramatische Handlung mit der epischen die Vollständigkeit und Einheit gemeinsam haben müssen, wie sie im Vorangehenden definiert wurden; aber für beide wird doch eine Modifikation hinzutreten. An der Vollständigkeit darf nichts fehlen: alle äußeren und inneren Voraussetzungen für den Beginn der Handlung, der ganze innere und äußere Verlauf derselben, der äußere wie der innere Abschluß, alles das muß in der Nachahmung gegeben sein, wobei das Drama allerdings insofern gegen das Epos im Vorteil ist, als es sehr Vieles, was im Epos durch das Wort berichtet werden muß, durch ihr zweites Hauptmittel, die Schaustellung, unmittelbar vor Augen zu führen vermag. Deswegen ist die Vollständigkeit der dramatischen Handlung eine bei weitem größere als die der epischen; niemals vermag diese letztere der Wirklichkeit sich soweit zu nähern wie jene, da, wie früher erörtert, der poetischen Nachahmung der Körperwelt durch das Mittel des bloßen Wortes sehr bestimmte Schranken gesetzt sind. Je mehr nun aber durch diese weit umfassendere äußere und innere Vollständigkeit ─ denn insofern ein sehr bedeutender Teil der inneren Vorgänge durch äußere Körperveränderungen sichtbar wird, so kann auch nach dieser Seite die dramatische Vollständigkeit eine ausgedehntere sein ─ von der dem Drama zugemessenen Zeit von höchstens vier Stunden notwendig in Anspruch genommen wird, desto geringer muß der äußere Umfang der nachgeahmten Handlung, die nichtsdestoweniger eine geschlossene Einheit, ein intaktes Ganze darzustellen hat, bemessen sein. Zwischen- und Nebenhandlungen, wenn sie nicht unentbehrlich für die Haupthandlung sind, werden daher auszuschließen sein; das Maß für diese aber ist allein von demjenigen Gesichtspunkte aus zu bestimmen, von welchem aus sich die Einheit der Handlung darstellt. Dieser Gesichtspunkt ergibt sich aus dem Nachahmungszweck, auf dessen Erreichung in jedem einzelnen Falle das dramatische Kunstgebilde abzielt. Hier nun greifen die am Schlusse des fünfzehnten Abschnittes angestellten Erwägungen Platz. Das Handeln beruht auf Empfindungen, Gesinnungen, Erwägungen und daraus hervorgehenden Willensentscheidungen; in unauflöslich fest verschlungenem Gewebe ist das Handeln mit dem Geschehen verknüpft: aus den „ Handlungen “, die beides verbunden darstellen, geht also das Schicksal, Glück und Unglück der Menschen, hervor. Da nun die Charakterschilderung niemals der Zweck der dramatischen Nachahmung ist, sondern immer nur eines ihrer Mittel, ihr Zweck dagegen die Darstellung von Handlungen, den Begriff in dem soeben bezeichneten Sinne genommen, da aber von diesen Glück und Unglück abhängen, so ist offenbar der Einheits gesichtspunkt für die dramatischen Handlungen dieser: daß in jedem Falle das Verhältnis zwischen der Handlung und jener Alternative von Glück und Unglück, das heißt also das Schicksal, sich klar darstelle; und zwar, wie aus der allgemeinen, für alle Kunst gültigen Gesetzgebung von selbst hervorgeht, erstens in richtiger Weise und zweitens so, daß diese Richtigkeit sich unmittelbar der Empfindung kund thue, das heißt also ästhetisch wahrgenommen werde, oder nach Kantischer Terminologie ausgedrückt, durch die „ Urteilskraft “ ohne den Begriff des Richtigen dennoch als solche allgemeingültig konstatiert werde. Wodurch anders aber kann die Richtigkeit des dargestellten Schicksalsverlaufs ─ und zugleich, was ja ebenso das unbedingte gemeinsame Erfordernis aller Kunst ist, der Art und Weise seiner Darstellung ─ sich dem ästhetischen Urteil gegenüber bezeugen als durch die Richtigkeit, Reinheit, das heißt also absolute Allgemeingültigkeit derjenigen Empfindungen, welche hervorzurufen dieser dargestellte Schicksalsverlauf das bei allen nicht völlig anomal Gearteten und Gesinnten immer in gleicher Weise wirksame Vermögen erhalten hat! Diese einfache Bestimmung enthält den Schlüssel nicht allein für das Verständnis einer Anzahl schwieriger Stellen bei Aristoteles, sondern geradezu der wesentlichsten Eigentümlichkeit seiner Kunstanschauung: damit zugleich aber wird sie geeignet in der dunkeln und viel umstrittenen Frage nach dem Wesen des Schönen und seiner Wirkung, ob dieselbe ästhetisch=hedonisch oder ethisch sei, auf das Vergnügen oder auf sittliche Erhebung, Läuterung, Besserung abzielend, die wünschenswerteste Ordnung und Klarheit zu schaffen. Jn der Nikomachischen Ethik des Aristoteles findet sich der, scheinbar unsern begründetsten Vorstellungen diametral zuwider laufende Satz, daß die Behauptung, die Aufgabe der Kunst bestünde keineswegs darin, Freude hervorzubringen, in der That richtig sei (cf. 1153a: τὸ δὲ τέχνης μὴ εἶναι ἔργον ἡδονὴν μηδεμίαν εὐλόγως συμβέβηκεν ). Die Begründung dieses Satzes liegt in der aristotelischen Definition der „ Freude “ (Hedone): daß sie nämlich ohne eine Bethätigung, eine Energie, nicht zu denken sei, sondern immer nur als Begleiterscheinung einer solchen auftrete und zwar mit der Vollendung der Energie, d. h. der vollendetsten gegenüber dem vollendetsten Gegenstande, sich notwendig einstelle (vgl. oben S. 149, 150). Er definiert sie daher kurzweg als die „Vollendung der Energie“ ( τελείωσις τῆς ἐνεργείας ). Es ist also eine höchst scharfsinnige und sehr wesentliche Unterscheidung, daß der Zweck des Kunstwerkes, aus dem allein die Gesetzgebung für dasselbe abgeleitet werden kann, keineswegs in die Erregung der Freude zu setzen sei, sondern daß seine Aufgabe ganz allein darin bestehen könne, die Bedingungen dafür in sich zu vereinigen, die Möglichkeit und Veranlassung dazu zu gewähren, daß bei dem Empfangenden eine Energie wachgerufen werde, welche sodann Bei der Kürze der eigentlichen Handlung, welche, wie bemerkt, durch die äußeren Umstände gebieterisch für die dramatische Form der Nachahmung gefordert wird, ist nun aber die geschilderte Wirkung nicht anders denkbar, als wenn der dargestellte Schicksalsverlauf ein typischer ist, im einzelnen Falle das im Ganzen vorhandene, Alles lenkende Gesetz der Anschauung und Empfindung wahrnehmbar macht. Die nach dieser Richtung hin prägnanteste, inhaltreichste, also schicksalsvollste Handlung ist demgemäß die dramatisch beste. Um einen sicheren Weg zur Feststellung der für das Drama gültigen Gesetze über die Einrichtung der Handlung zu gewinnen, wird es also erforderlich sein, jenen Begriff der „ schicksalsvollsten “ Handlung möglichst genau zu präcisieren. Dabei zeigt sich sofort, wie verkehrt hier wie überall in der Kunst erst, und zwar sofern sie eine vollendete ist, die Freude naturgemäß und notwendig mit sich bringt. Freude findet bei jeder Art einer so beschaffenen Bethätigung statt; diejenige Art der Energie, für welche das Kunstwerk den Anlaß schasft, ist die ästhetische, die Bethätigung der durch die Wahrnehmung erweckten Empfindung. (Aristoteles drückt das kurzgefaßt so aus: οὐδὲ γὰρ ἄλλης ἐνεργείας οὐδεμιᾶς τέχνη ἐστὶν, ἀλλὰ τῆς δυνάμεως .) Das Kunstwerk muß also diejenige Beschaffenheit haben, welche der Energie der Ästhesis ein in vorzüglicher Weise für ihre Bethätigung geeignetes Objekt in solcher Form vorführt, daß diese Bethätigung auch in der vollendetsten Art erfolgen kann. Ob dieselbe aber erfolgt, ist eine Frage, durch welche die Gesetzgebung des Kunstwerks durchaus nicht berührt wird: sein ἔργον , seine Aufgabe, ist lediglich, die Möglichkeit einer solchen zu bereiten: τὴν δύναμιν . Seine Wirkungen sind völlig objektiv, die Freude ist eine subjektive Erscheinung, deren Entstehung davon abhängt, ob der Empfangende ( πεισόμενος ) das Seinige dazu thut, jene Kraft, welche die Möglichkeit dazu gewährt (eben die im Kunstwerk vorhandene δύναμις ), in sich zur vollen Geltung gelangen zu lassen. Jst dieses aber richtig, so kann weder die Definition der tragischen Kunst noch die irgend einer anderen auf den Begriff des durch dieselbe hervorgebrachten „ Vergnügens “ basiert werden, sondern lediglich auf die für jede Gattung und Art der Kunst gesondert zu bestimmende Wirkungskraft, welche dem einzelnen Kunstwerke gegenüber der Wahrnehmungs- und Empfindungsenergie zu erteilen ist. War aber der Begriff der Hedone, des „ Vergnügens “, aus der Definition der Kunst auszuschließen, so konnte auch der Begriff der Schönheit in ihr keine Stelle finden: denn nach Aristoteles ist „ das Schöne das Gute, sofern es eben als Gutes Freude erweckt “ (cf. Rhet. I. c. 9: καλὸν μὲν οὖν ἐστὶν ... \̔ο \̓αν ἀγαθὸν \̓ον ἡδὺ ᾖ, ὅτι ἀγαθόν ). Auf das Glücklichste ist in dieser Definition des Schönen die absolute Natur desselben bezeichnet, während zugleich durch dieselbe gegeben ist, daß in den einzelnen wirklichen Fällen die Frage, ob es nun auch als Schönes erscheine, durch die Beschaffenheit des empfangenden Subjektes, also einen nach Zeit, Nationen, Jndividuen variablen Faktor, entschieden wird. (Vgl. über diesen Gegenstand das Nähere in der Schrift des Verfassers: „ Aristoteles, Lessing und Goethe. “ Leipzig 1877. S. 66 ff. u. 71 ff.) die alte und immer wieder aufs Neue beliebte Ansicht ist, daß mit einer getreuen Nachahmung der Wirklichkeit, in diesem Falle also von Handlungen, wie sie sich wirklich ereignet haben und auch vielleicht oft ähnlich wiederholen ─ die, wie man zu sagen liebt, „dem Leben abgelauscht“ sind ─, der Hauptzweck der Kunst, und vor allem der dramatischen Kunst, erreicht sei; denn gerade sie habe den Zweck der Wirklichkeit den Spiegel vorzuhalten und sie so wiederzugeben, wie sie sie finde. Wie oft ereignet es sich im Leben, daß schlechte oder unrichtige, ja verkehrte einzelne Handlungen vom Glück und vom Erfolge begleitet sind; und nicht nur einzelne, sondern mitunter lange Reihen und weite Verkettungen und Verzweigungen solcher Handlungen. Es ist aber von allen Fällen dieser am entschiedensten von jeder Art der dramatischen Nachahmung auszuschließen: Darstellung einer schlechten Handlung mit glücklichem Ausgang. Tragisch kann sie nicht im mindesten wirken, selbst nicht, wenn in ihrem Verlauf die Befürchtung schweren Verhängnisses vorübergehend sehr lebhaft erregt würde. Ferner verletzt sie das Gerechtigkeitsgefühl auf das schwerste; sie erschüttert die Vorstellung von dem Vorhandensein eines Zusammenhanges von Ursache und Wirkung in dem Gange der Dinge, der mit dem unser Denkvermögen beherrschenden Vernunftgesetz in Übereinstimmung ist, und setzt an die Stelle der Überzeugung von der Geltung eines solchen Zusammenhanges die Vorstellung, daß Laune, Willkür, unberechenbarer Zufall allein die Herrschaft haben. Nun hat freilich die Kunst weder mit unserm Gerechtigkeitsgefühl, noch überhaupt mit unsern sittlichen oder praktischen Überzeugungen direkt etwas zu thun, sondern allein sich durch die ästhetische Wahrnehmung an unser Empfindungsvermögen zu wenden: aber gerade hier würde sie auf jene Weise ihres Zweckes, die Bedingungen in sich zu vereinen, um uns durch dasselbe zur Freude zu bewegen, am meisten verfehlen. Denn statt beglückender Ruhe und wohlgefälliger Harmonie inmitten stärkster Bewegung der Gemütskräfte, würde eine solche Nachahmung, die zwar sicherlich auch bewegend, ergreifend, ja höchst aufregend, „packend“, wie man es heute gern nennt, wirken kann, nur Beunruhigung, Widerstreit der Empfindungen, unregelmäßige heftige Leidenschaften erzeugen. Die virtuoseste Handhabung der künstlerischen Mittel würde damit also nichts anders bewirken als dieselbe Ruhelosigkeit und Verwirrung, dieselben fruchtlosen Gemütserregungen, die so oft zu unserm Schaden und Verdruß durch die Vorgänge des wirklichen Lebens in uns hervorgebracht werden. Dieselben ihrer Qualität nach! Jhre Jntensität wird freilich durch den wichtigen Umstand sehr vermindert, daß das Jnteresse des persönlichen Egoismus unberührt bleibt. Hierin liegt der Grund, daß diese absolut fehlerhafteste und verwerflichste von allen Arten der Einrichtung von Handlungen bei der großen Masse jederzeit am sichersten auf eifrigsten Beifall rechnen kann. Denn erstlich kommt sie überhaupt dem Leidenschaftsbedürfnis entgegen. Jn jeder Kraft liegt nach dem Naturgesetz der Drang zu ihrer Bethätigung; für die körperlichen wie für die seelischen Kraftvermögen gibt es zuletzt keine größere Qual als absoluten dauernden Mangel der Bethätigung. Gerade also, wo es an bewußtem, in sich geklärtem, fest und maßvoll in sich geordnetem Seelenleben fehlt ─ welches, bei dem stetigen und innigen organischen Kontakt der sämtlichen Seelenvermögen untereinander, durch die fortwährende, mächtige, wenn auch unmerklich vor sich gehende Einwirkung der logischen und sittlichen Kultur auf die mehr und mehr zu einem bleibenden Besitz, zu einer immerfort innewohnenden Fähigkeit und Fertigkeit ( ἕξις ἠθική ) sich gestaltende Empfindungsweise zustande gebracht wird ─, und je mehr es an solcher, einzig mit Recht so zu nennenden, ästhetischen Kultur fehlt, gerade da wird die bloße Beschäftigung der Gemüts= und Empfindungskräfte, sei sie wie sie sei, am begierigsten verlangt werden. Je heftiger sie bei der Abwesenheit des egoistischen Jnteresses sich gestaltet, desto leidenschaftlicher wird sie aufgesucht werden; denn es ist einmal objektiv bei weitem leichter, dieses Bedürfnis leidenschaftlicher Erregung zu befriedigen, als klares und reines, maßvolles und harmonisches Empfinden hervorzurufen, und sodann ist es subjektiv viel bequemer, sich jenem passiven Genießen hinzugeben, als diese ohne eigene Bethätigung nicht denkbare Empfindungsweise in sich zur Wirkung gelangen zu lassen. Nun ist aber jenem Bedürfnis auf keine Weise leichter genügt als mit der Darstellung, um es mit einem Worte zu sagen, von schlechten Handlungen, also von Fehlerhaftigkeit aller Art, Lastern, Verbrechen, Verirrungen und den damit zusammenhängenden Verwickelungen; und da die Neigung zu dem passiven, bequemen Genuß an der bloßen leidenschaftlichen Erregung der strengen Konsequenz gern aus dem Wege geht und weit lieber sich mit der Vorstellung schmeicheln läßt, daß schließlich doch noch „alles gut werde“, und mit solcher günstiger Schlußwendung obenein noch sehr leicht das oberflächliche Vergnügen an dem falschen Schein einer angeblichen moralischen Sinnesänderung verknüpft werden kann, so ist die Nachahmung schlechter Handlungen mit glücklichem Ausgange das eigentliche Grundschema sowohl der epischen als dramatischen Pfuscherei. Dieser schlimmste Grundfehler ist keineswegs auf die Massenproduktion eingeschränkt, die sich an die Jnstinkte der rohen Menge wendet; auch der verwöhnte Geschmack läßt sich allzu leicht darüber täuschen, wenn nur die Darstellungsmittel in geschickter oder gar virtuoser Weise gehandhabt werden, da ja auch ein solcher, im Grunde völlig fehlerhaft eingerichteter Handlungsverlauf im einzelnen immerhin genugsam Gelegenheit bietet, die Wirkungen des Rührenden und Furchtbaren oder auch des Komischen und Erheiternden hervorzubringen; da er ferner der irrtümlichen Forderung des sogenannten „Realismus“, die auf unmittelbare Nachahmung der Wirklichkeit und Natur geht, oft am besten zu entsprechen scheint. Nun könnte eingewendet werden, daß zwar durch schlechte Handlungen, bei denen es den Schlechten gut geht, die tragische Wirkung völlig unmöglich sei, daß aber die komische Darstellung ja in der That beides erfordere, glücklichen Ausgang und Nachahmung fehlerhafter Handlungen; das Beispiel wäre die Handlung des komischen Muster= Epos vom Reineke Fuchs. Allein der hier dargestellte Triumph des gewissenlosen Virtuosen der ränkevollen Schlauheit ist poetisch allein dadurch gerechtfertigt und selbst nur möglich, daß die Handelnden Tiere sind, und dadurch, wie früher ausgeführt, jener eigenartige Maßstab der ästhetischen Beurteilung bedingt ist, nach welchem das wohlgefällige Jnteresse unter strengstem Ausschluß jeder anderen Erregung der Empfindung sich ganz den Manifestationen jener allen übrigen Kräften überlegenen Meisterschaft in der Verschlagenheit zuwendet, während im übrigen die komische Darstellung ohne Hindernis zur vollen und freien Wirkung gelangen kann. Die Bühne aber ist mit ihrer Nachahmung des realen Lebens durch die Handelnden selbst für die Tierdichtung absolut verschlossen; sie verlangt, daß in ihren Darstellungen das Gesetz des Lebens zur Erscheinung komme: dieses Gesetz sagt uns, daß keinerlei menschliche Fehler ohne Folge bleiben; durch unglückliches Geschick können sie verhängnisvoll werden, aber auch ohne dasselbe erweisen sie sich jederzeit als nachteilig. Wenn nun die Komödie schwere Verirrungen vom Rechten und Verständigen darstellt, oder gar Laster und Verbrechen, mag sie immerhin dieselben eben nur dem ästhetischen Urteile von ihrer komischen Seite als verkehrt und thöricht zeigen und sie dem Spotte preisgeben, so darf sie es niemals versäumen, jene dem Wesen der Sache nach notwendigen schädlichen, ja selbst verderblichen Folgen im Rahmen der Handlung, als zu deren Vollständigkeit unentbehrlich, mit vorzuführen. Wir verzeihen selbst einem Meisterwerk weit eher die Anwendung gewisser gewaltsamer und unkünstlerischer Mittel zu solchem Zwecke, als daß wir uns eine Unterlassung dieser Pflicht, die zu den wesentlichsten dramatischen Forderungen gehört, gefallen ließen. Wenn in Molières „ Tartuffe “ die Nemesis am Schlusse als deus ex machina in der Gestalt der allgegenwärtigen und allweisen Polizei Ludwigs XIV. auf dem Schauplatze erscheint, so liegt darin keineswegs allein eine Konzession an den souveränen Absolutismus des „großen“ Königs, um für den Spott gegen die Jesuiten Jndemnität zu erhalten, sondern eine viel größere an das absolute Gesetz der Kunst, um die Darstellung der im Stücke dominierenden „schlechten“ Handlung für die komische Bühne überhaupt möglich zu machen. Es erscheint also als ein Widersinn, selbst wenn noch so viele Fälle der Wirklichkeit bei schlechten Handlungen den glücklichen Ausgang zeigen sollten, eine derartige Handlung dramatisch darzustellen; nicht ausnahmsweiser, sondern gesetzmäßiger Verlauf soll dargestellt werden. Aus eben demselben Grunde aber ergeben sich die schwersten Bedenken auch gegen den gerade umgekehrten Fall, obwohl dieser auf den ersten Blick ganz einwandsfrei zu sein, ja recht eigentlich das Gesetz zu repräsentieren scheint, wenn auch nicht das thatsächlich geltende, so doch dasjenige, von dem man meint, daß es gelten sollte: daß nämlich gute Handlungen dargestellt werden, die von entsprechendem gutem Glück begleitet werden. Unzweifelhaft kommen derartige Fälle in der Wirklichkeit mehr oder minder oft vor; aber sicherlich ist es ein Jrrtum, dieses Reciprocitätsverhältnis zwischen der moralischen Güte der Handlungen und dem äußern Glück, der Gunst der Schicksalsfügungen, als ein notwendiges, oder auch nur in hohem Grade wahrscheinliches anzusehen und es demgemäß in einem einzelnen, als typisch geltenden Falle als das gesetzmäßige darzustellen. So sehr die Menschen zu solchem Glauben, ja zu derartigen, gewissermaßen als Rechtsanspruch betrachteten Forderungen geneigt sind, so widerspricht dem doch ebenso die Erfahrung als die theoretische Doktrin des Sittengesetzes, welche lehrt, daß der Lohn für moralische Güte nicht von außen erwartet, sondern im innern Bewußtsein gefunden werden soll. Dieses innere Glück eines reinen und zufriedenen Bewußtseins ist freilich durch die moralische Richtigkeit einer Handlung immer gesichert, aber der äußere glückliche Erfolg doch nur zu dem geringen Teile, als eben eine von den Quellen möglichen Mißerfolges abgeschnitten ist; es bleiben aber die bei weitem stärker fließenden einmal der lediglich von außen wirkenden, unvermeidlichen Ereignisse und unberechenbaren Kom= plikationen und sodann der selbst der höchsten Kraft und dem stärksten Willen gesellten Fehler und Mängel an Einsicht, Klugheit, Besonnenheit; gerade diese entscheiden vornehmlich den äußern Erfolg. Jmmer also bleibt die für die dichterische Technik ungemein wichtige Frage zu beantworten: sind Handlungen von reiner moralischer Güte mit glücklichem Ausgange für die Nachahmung geeignet? Und wenn sie es nicht sind, welches sind die Gründe dafür? Man sollte glauben, daß, wenn solche Handlungen aus einer entsprechenden Empfindungs- und Gesinnungsweise hervorgehen, nicht aus einem der entgegenstehenden Neigung mühsam abgerungenen Entschlusse, sie auch in der Nachahmung erfreulich wirken müßten; und wären sie obenein nun auch noch für die Handelnden die Quelle ihres Glückes, so müßte die wohlgefällige Befriedigung sich nur noch steigern. Befragt man nun zunächst die Erfahrung, so lautet die Antwort insofern völlig bestätigend, als eine eigene dramatische Gattung offenbar diesen Reflexionen ihren Ursprung verdankt, die Jahrhunderte hindurch sich unter großem und allgemeinem Beifall behauptet hat: das sogenannte Schäferspiel und die ihm verwandten dramatischen Arten. Andrerseits jedoch lehrt die Erfahrung, daß der Geschmack diese idyllischen Darstellungen schöner Empfindungen, edler Gesinnungen und tugendhafter Entschlüsse seit langem entschieden verworfen hat, und daß die dramatische Kunst, wie es scheint, keineswegs sich bestrebt gezeigt hat, einen Ersatz dafür zu schaffen. Ferner: sollte, was dem Epos gestattet ist, dem Drama verschlossen sein? Sollte es für das Jdyll, welches die höchsten dichterischen Leistungen aufweist, in der dramatischen Dichtung etwas Entsprechendes nicht geben, ein Stoff, wie Goethes „Hermann und Dorothea“ für die Bühne ganz undenkbar sein? Die Frage ist, ihrer Bedeutsamkeit entsprechend, sehr kompliziert, und es wird erforderlich sein, sie in ihre einfachen Bestandteile auseinanderzulegen. Handlungen, die aus absolut vollkommenen Empfindungen, Gesinnungen und Entschlüssen hervorgehen, sind menschlich unwahr, also von jeder Art der Nachahmung auszuschließen. Dagegen sind Handlungen sehr wohl denkbar, die von einer einzelnen absolut richtigen Empfindung, wie der Moment sie eingibt, diktiert werden. Aber, wie sie sittlich ohne Wert sind, da der nächste Moment eine andere, ja die entgegengesetzte Empfindung hervor= rufen kann, so taugen sie, für sich allein gedacht, auch für die Nachahmung nicht, da sie an sich gar nichts Typisches, Gesetzmäßiges einschließen und daher auch der Ueberzeugungskraft, der Glaubwürdigkeit entbehren. Nur in einem Falle besitzen sie diese für die Nachahmung unentbehrliche Eigenschaft, wenn nämlich die Natur des Handelnden so begrenzt ist, daß er eben nur so und nicht anders handeln kann. Das trifft im Grunde einzig und allein bei Kindern zu, bei denen in der That noch die momentane Empfindung das Handeln bestimmt; dergleichen Züge sind für die reine Lyrik verwendbar, deren Aufgabe ja die Nachahmung von Empfindungen ist, und außerdem für die Satire, da die darin sich darstellende Naivität vortrefflich geeignet ist, durch den Kontrast die Fehlerhaftigkeit der etwa in Geltung stehenden entgegengesetzten Sitte oder Handlungsweise augenfällig zu machen. Jn beiden Fällen war die Handlung nicht um ihrer selbst willen nachgeahmt, sondern als Darstellungsmittel einem fremden Zwecke dienstbar gemacht. Ebenso hat die Einführung wilder Völkerschaften oder einfacher Naturmenschen nur in diesen engen Grenzen ihre Geltung; dagegen ist sie, wo es die Nachahmung von Handlungen um ihrer selbst willen gilt, so oft und gern man sich ihrer bedient hat, entschieden zu verwerfen. Seumes „Canadier“ wird mit seinem „Seht, wir Wilden sind doch bess're Menschen“ bei niemandem Glauben finden, da wir gar keine Mittel erhalten uns zu überzeugen, wie die Empfindung, aus der er handelt, bei ihm zustande gekommen ist, vielmehr wissen, daß die entgegengesetzte den Wilden die natürliche ist; endlich, selbst wenn wir die Erzählung auf Treu und Glauben annehmen, keinen Grund haben, aus solcher Anekdote einen verallgemeinernden Schluß zu ziehen. Ähnliche Beispiele finden sich in Herders „Briefen zur Beförderung der Humanität“; sie sind lehrreich, weil dasselbe, was von den schönen Empfindungen und Thaten dieser edlen Canadier, Huronen und Jrokesen gilt, ganz ebenso seine Anwendung auf die in so zahlreichen Gedichten gepriesene Unschuld und Großherzigkeit findet, zu deren Trägern im Gegensatz zu den verderbten Zöglingen der Kultur die einfachen „Kinder der Natur“ gemacht werden. Dergleichen wird nicht einmal als moralisches Beispiel zu paränetischen Zwecken brauchbar sein, sondern weit eher verstimmend als ermunternd wirken. Ästhetisch zu erfreuen, das wohlgefällige Empfindungsurteil zu erzeugen, vermag die Nachahmung einer Handlung, sei es durch Erzählung, sei es durch drastische Darstellung, nur, wenn sie das Bild der Handlung so vollständig vorführt, daß sie im Jnnern des Wahrnehmenden gewissermaßen sich wiederholt, also mehr leistet, als selbst die Wirklichkeit, die sie uns meistens nur von außen zeigt. Dazu genügt es aber nicht, daß nur erzählt oder vorgeführt wird, diese oder jene schöne Empfindung sei plötzlich da und bringe diese oder jene schöne That hervor; dergleichen wirkt als bloßer Zufall, läßt uns gleichgültig oder verdrießt uns sogar, sofern uns zugemutet wird, es als bedeutungsvoll oder gar als edel anzuerkennen. Warum soll auch ein Jrokese nicht einmal statt seinen Feind zu skalpieren ihn mit eigener Lebensgefahr vom Tode erretten? Aber wir verlangen durch die Nachahmung wahrzunehmen, wie das, und vollends bei einem Wilden, unter den erschwerendsten Umständen nicht allein möglich, sondern wie es für ihn eine Notwendigkeit wurde, so zu empfinden und so zu handeln. Mit einem Worte die Nachahmung einer Handlung kann auch im Rahmen der einfachen poetischen Erzählung sich niemals darauf beschränken dieselbe aus einer einzelnen Empfindung, einem bloßen Pathos, herzuleiten, sondern sie muß sie als ein notwendiges Ergebnis der zum bleibenden Besitz gewordenen Gesinnungsweise darstellen, des Ethos. Diese aber ist unter allen Umständen, auch unter den denkbar primitivsten Lebensverhältnissen, immer nur das Produkt einer Kultur, zu welcher innere Kräfte und äußere Ereignisse in anhaltender Wechselwirkung thätig gewesen sein müssen. Je mehr es der Dichter versteht uns von dieser ethischen Kultur seines Helden auch in der Kürze der poetischen Erzählung eine lebhafte Vorstellung zu erwecken, desto vollendeter ist sein Gedicht, je weniger er dazu gethan, desto mangelhafter. Aber selbst eine so dargestellte Handlung würde nun doch eben vornehmlich durch dieses in ihr zur Erscheinung kommende Ethos ästhetisch interessieren, welches durch die vollständige Nachahmung korrespondierend in dem Wahrnehmenden lebendig wird, und vorzüglich um dieses willen käme der dargestellte Schicksalsverlauf in Betracht, wie z. B. in Schillers „Bürgschaft“. Nun bedeutet aber, wie früher ausführlich erörtert, der Ausdruck „ Handlung “, insofern dieselbe Gegenstand der Nachahmung ist, also für das Epos und Drama, keineswegs nur die Äußerungen des inneren Ethos durch den Willensakt, sondern den Komplex der freilich zu einem Teil damit in innerem Zusammenhange stehenden, zum andern aber ganz unabhängig davon eintretenden Ereignisse, also den Schicksalsverlauf: diesen als Einheit wahrnehmbar zu machen und zur Empfindung zu bringen, und zwar zur wohlgefälligen, ihn zu einem Gegenstande ästhetischen Genusses zu machen ist der Zweck des Epos und des Dramas. Für diesen Hauptzweck ist die Nachahmung des dazu mitwirkenden Ethos ein sekundäres Hülfsmittel. Gerade an dieser Stelle zeigt sich nun aber die höchst bedeutende Verschiedenheit, welche durch die Art der Nachahmung zwischen den Bedingungen der epischen und denen der dramatischen Handlung hervorgebracht wird. Hier wird Kürze gefordert, dort ist beliebige Breite gestattet: daraus ergibt sich bei dem gemeinsamen Hauptzweck einen einheitlichen und in sich vollständigen Schicksalsverlauf vorzuführen, daß das Drama sich in der Darstellung des Ethos sorgfältig auf das beschränken muß, was die Vollständigkeit der Handlung erfordert, und daß diejenigen Handlungen für das Drama die geeignetsten sein werden, die zu ihrer Vollständigkeit am wenigsten davon bedürfen, deren Schicksalsverlauf am selbständigsten, von der ethischen Einwirkung am unabhängigsten und dennoch gesetzmäßig und ästhetisch wohlgefällig ist, d. h. die schicksalsvollsten. Züge, welche nur einzelne, richtige oder sogenannte schöne Empfindungen vorführen, werden also in den meisten Fällen ganz ausgeschlossen sein; das Drama wird vielmehr, wo es gezwungen ist, Ethos nachzuahmen, sich auf die markantesten, typischen Züge beschränken; Nebenhandlungen, welche nur dem Zwecke der Schilderung von Empfindungen und Gesinnungen dienen, wird es nicht dulden, ja dieselben überhaupt soviel wie möglich fortlassen und nur aufnehmen dürfen, wo sie zur Vollständigkeit des Schicksalsverlaufes unentbehrlich sind, dessen inneren Zusammenhang oder äußeres Fortschreiten klarlegen. Diese Sätze scheinen einem modernen Haupt- und Lieblings-Dogma zu widersprechen: daß es die oberste Aufgabe des Dramas sei Charaktere zu schildern. Aber der Begriff des Charakters deckt sich keineswegs mit dem Jnbegriff der Empfindungs- und Gesinnungsweise, die nur die Voraussetzung, den Untergrund dessen bilden, worin er sich zeigt: des Handelns. Das Handeln wird durch die Willensentscheidung bestimmt, diese ist abhängig von dem, was die Griechen die Phronesis nennen, eine Vereinigung von richtigem Ethos mit Klugheit, Einsicht und Besonnenheit. Auf dem Grunde der gegebenen Umstände und Verhältnisse läßt das Handeln direkt, ohne weitere Schilderung, erkennen, inwieweit die Phronesis dazu mitgewirkt hat oder durch Leidenschaft, egoistisches oder anderes Jnteresse beeinträchtigt ist. Hieraus erhellt deutlich, daß es für die dramatische Handlung vor allem andern darauf ankommt, daß die von vorne herein gegebene Lage der Dinge und ihre weitere Fortentwickelung solche seien, die zu entscheidendem, also auch charakteristischem Handeln Veranlassung geben, ja welche dazu zwingen: sei es nun, daß der Handelnde in solche Verhältnisse gestellt wird, daß durch seine Entschließung sich Glück oder Unglück für ihn entscheidet, sei es, daß die obwaltenden Verhältnisse das ästhetische Urteil über die Handelnden hinsichtlich ihrer Lächerlichkeit oder Wohlgefälligkeit zur entschiedenen Klärung bringen. ( Aristoteles hat gelegentlich, im 11. Kapitel der Poetik, dafür den treffenden, aber nicht genügend beachteten Ausdruck, daß die Personen in der Tragödie, namentlich wo die Verwickelung derselben auf Erkennung hinausläuft, πρὸς εὐτυχίαν \̓η δυστυχίαν ὡρισμένοι sein müßten, gleichsam „auf die schmale Grenze zwischen Glück und Unglück gestellt“.) Die dramatische Fabel muß entscheidende Handlungen herbeiführen; daß sie Gelegenheit gibt Empfindungen und Gesinnungen zu entfalten, genügt nicht. Jn allen diesen Punkten verhält sich die epische Handlung gerade entgegengesetzt. Wenn das Drama den Gesichtspunkt für den einheitlichen Schicksalsverlauf, den es darstellt, so wählen muß, daß derselbe in einer enge begrenzten, nahe zusammenliegenden Gruppe von Veränderungen konzentriert ist, wo deßhalb alles entscheidend und unmittelbar auf das Ziel gerichtet sein muß, so muß das Epos seinen Gesichtspunkt aus einer weit größeren Ferne nehmen, da ihm die Möglichkeit einer allseitigen und erschöpfenden Darstellung des gleichzeitig und gegenwärtig Geschehenden nicht gegeben ist, seine Mittel also für so konzentrierte Handlungen sich als zu schwach erweisen. Dafür gewährt ihm die Breite, zu der es sich ungehemmt enfalten kann, und die vollkommene Freiheit der Bewegung, die ihm die Erzählung gestattet, reichlichen Ersatz. Nicht solche Handlungen also führt es vor, wo durch seltene Fügungen Alles so gestellt ist, daß durch unmittelbar notwendig erfolgende Entscheidungen nun vor unsern Augen der Schicksalsvollzug sich ereignen muß, sondern es erfaßt einen in weiten Räumen anhebenden, mehr und mehr sich zusammenfügenden, endlich zum Abschluß gelangenden Schicksalsverlauf in seiner Einheit; solche Einheit und die von diesem Gesichtspunkt ganz anders bedingte Vollständigkeit ist der Gegenstand der epischen Nachahmung. Es wird daher immer ein Mißbegriff sein, sowohl eine dramatische Handlung episch erzählen als eine epische Katastrophe dramatisch gestalten zu wollen, weil die Grundbedingungen für beide wesentlich verschieden sind. Jm stärksten Gegensatz zum Drama zeigt also die epische Handlung vielmehr die allmähliche Genesis des Schicksals, wie aus Kleinem sich das Große, aus Unbedeutendem das Bedeutende, aus Unbeachtetem das verhängnisvoll Entscheidende sich gestaltet. Es kann aber gar nicht anders sein, als daß bei solchem Handlungsverlauf, selbst wenn nur das private Schicksal des Einzelnen ins Auge gefaßt wird, durch die Erstreckung in die Weite und in die Breite allenthalben der organische, innige und notwendige Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen hervortritt, das Einzelschicksal nicht allein auf dem Hintergrunde des Schicksals der Gesamtheit erscheint, sondern in sich das Gesetz repräsentiert, dem auch jenes unterworfen ist, der Einzelne zum Typus seines Standes, seiner Nation wird, große Wandlungen, Lösung wichtiger Fragen und Konflikte, die die ganze Zeit angehen, in ihm sich vollziehen, ja, daß wohl gar die Einzelschicksale zu der Größe von Entscheidnngen für ganze Völker und Epochen anwachsen. Auch hier bleibt die Aufgabe, zu deren Lösung nun einmal die Nachahmung von Handlungen allein die Kraft hat und der sie sich daher niemals entziehen darf, unverändert: Schicksal und Charakter darzustellen derart, daß für den die Nachahmung in sich Aufnehmenden der Anlaß zur Klärung, zur wohlgefälligen Befriedigung, zur Erhebung des Empfindens geboten wird, mit einem Wort, die Bedingung für die Bethätigung der ästhetischen Freude. Aber wie anders sind die Mittel, mit denen die Nachahmung durch Erzählung nun auf diesen Zweck hinzuarbeiten die Möglichkeit und daher durch ihre technische Gesetzgebung die Verpflichtung hat! Da die Aufgabe ist, nicht sowohl das sich vollziehende Schicksal zu zeigen als vielmehr vorzuführen, wie es wird, wie von langer Hand her sein Vollzug sich vorbereitet, so ist einerseits darzustellen, wie von früher Zeit an beginnend und von vielen Seiten her sich verflechtend die Ereignisse die drohende Verwickelung und, sei es die verhängnisvolle Katastrophe, sei es die erfreuliche günstige Lösung zuwege bringen; andererseits sind die den Charakter enthüllenden Thaten hier nicht wie im Drama unmittelbar vor Augen zu führen, sondern es sind die Voraussetzungen für diese Charaktere und diese Thaten darzulegen, die Empfindungs- und Gesinnungsweise der Handelnden ist zu schildern, wie sie nach ihrer Anlage und nach den Umständen, unter denen ihre Entwickelung stattfindet, sich herausbilden, nach allen Seiten unter dem Einfluß der verschiedenartigsten Anregungen sich äußern, so daß die thatsächliche Fortschreitung der nachgeahmten Handlung schließlich als das notwendige Ergebnis von alledem betrachtet werden muß. Daher ist die Darstellung von Empfindungen und Gesinnungen der Handelnden, umgekehrt wie im Drama, für das Epos ein unbedingtes Erfordernis; außerdem ist es ebenso erforderlich, das Maß ihrer Einsicht, Klugheit, Besonnenheit wahrnehmbar zu machen; ihre Denkweise, Ansichten über alle in ihrem Lebenskreise bedeutsam in Betracht kommenden Dinge: neben dem Pathos und Ethos also die Dianoia. Hiezu hat die Erzählung vor allem das Mittel in jedem Augenblick beliebig weit nach rückwärts greifen zu können, unter Umständen auch ebenso in die Zukunft, ein Verfahren, von dem das Drama nur höchst eingeschränkten Gebrauch machen kann. Ferner steht der epischen Nachahmung die unbegrenzte Anwendung von Neben- und Zwischenhandlungen zu allen diesen Zwecken zu Gebote, die gleichfalls im Drama einzig und allein gestattet sind, sofern sie unmittelbar dem Fortschreiten der einen Haupthandlung dienen. Wenn die dramatische Handlung, einmal begonnen, unaufhaltsam zum Ziele eilt, so liebt das Epos die sogenannten retardierenden Momente: nicht auf schnellen Vollzug des Schicksals kommt es an, sondern auf größeste Vollständigkeit in der Breite. Da nun der Einzelne immer in seinen Beziehungen zum Ganzen gezeigt wird, diese also von irgend einer Seite her mitwirkend in die Handlung eintreten, so ist im Epos der Prozeß gleichsam des Wachsens und Reifens des Schicksals notwendig ein langsamerer, der reichere und kompliziertere Organismen erfordert, um bis in seine intimsten Verzweigungen wahrgenommen und aufgefaßt zu werden, zahlreiche Momente scheinbaren Stillstandes der Fortschreitung, in denen die Pflanze um so mehr sich kräftigt, oder ohne Bild gesprochen, in denen um so tieferer Aufschluß über das Wesen und Walten des Schicksals und der dazu wirkenden Faktoren gewonnen wird. Für alles dieses genügt es, um ein klassisches Beispiel vor Augen zu stellen, nur mit einem Wort der Odyssee zu erwähnen. Die Handlung ist die Rückkehr des Odysseus zur Bestrafung der Freier: der weit überwiegende Teil des Gedichtes wird durch die für das vollständige Verständnis dieser Handlung erforderlichen Retrospektiven, Neben- und Zwischenhandlungen und unaufhörlichen Retardationen eingenommen. Diese Handlung ist deswegen eine für das Epos so ungemein günstige, der echte Typus episch dargestellten Schicksalswaltens, weil alle diese Arten von Retardationen in der Natur der Handelnden und ihrer Situationen mit Notwendigkeit gegeben sind: Jrrfahrten und Mühsale, die den Helden bei seiner Rückkehr umhertreiben, Listen der Freier um diese selbst und die Bemühungen des Sohnes für dieselbe zu hintertreiben, die Treue der Gemahlin, die die Bewerbungen der Freier hinzuhalten bestrebt ist, die Klugheit des Helden, die alle Mühsale überwindet und den Vollzug der Rache bis zum rechten Moment verschiebt. Ganz ebenso echt episch ist die Handlung der Jlias: der Zorn des Achilleus, der ihm selbst und den Griechen Verderben bringt, bis er durch den Tod des Patroklos seine Grenze findet. Der ganze Gang der Handlung ist durch dieses über ihre gesamte Dauer sich erstreckende Motiv Retardation; aber nicht etwa eine äußerliche, mechanische Verlangsamung, sondern eine aus der innersten Natur der Handlung sich entwickelnde Hemmung, die zur zwingenden Veranlassung wird, daß an dem daran geknüpften Schicksal des herrlichsten Helden sich Leben und Walten, Handeln und Schicksal der Fürsten und Völker entfaltet, in reichster Fülle und dennoch überall jener einen, einfachen Haupthandlung dienstbar. So unentbehrlich ist dieses innere Hemmungsmoment für die epische Handlung, daß wo es organisch nicht vorhanden ist, es äußerlich geschaffen werden muß: derart sind die willkürlichen, äußerlich und mechanisch eingefügten Erfindungen, durch die in der Masse der romantischen Ritterepen die Helden von ihrem Ziele abgetrieben, entfernt gehalten werden, um sie durch eine beliebig breite und bunte Masse von Abenteuern umherzujagen. Auch hier zeigt sich wieder die überragende Stellung des Parcival und Tristan: die Findung des Gral ist ein solches organisches Hemmungsmotiv von hervorragender Vortrefflichkeit; diese im Geiste des ritterlich=kirchlichen Zeitalters erfundene Symbolisierung höchster psychologisch=ethischer Entwickelung erzeugt mit zwingender, überzeugender Kraft eine Reihe von Handlungen, die trotz ihrer scheinbar äußerlich=willkürlichen Verknüpfung durch eine organisch zusammenhängende Reihe innerer Hemmungen zum vollendenden Abschluß hindurchführen; so zwar, daß an diesem Lebensgange sich die bedeutsamsten Aufgaben und Strebungen der Epoche darstellen. Von wenigstens ähnlicher Kraft ist im Tristan der Kampf unbezwinglicher Liebesgewalt gegen alle das Leben beherrschenden und die Gesellschaft erhaltenden Gesetze der Sitte, der Treue und der Pflicht, wenngleich dem Dichter hier die Kraft zu dem unabwendbaren tragischen Abschluß versagte; ein Umstand, der keineswegs allein in der fragmentarischen Gestalt seines Gedichtes sich kundgibt, sondern, was weit schwerer wiegt, auch in der Anlage und Durchführung des Vorhandenen. Aus alledem ergeben sich leicht die Gründe, warum eine episch angelegte Handlung der dramatischen Gestaltung widerstreben muß. Selbst wenn die Katastrophe sich in engere Kreise einschließt, oder wenn es gelingt ihre Fülle und Breite durch allerlei Kunstmittel zu überwinden, so muß im Drama doch alles weggelassen werden, um dessentwillen der eigentliche Körper des Epos vorhanden ist; es vermag nur eine Art belebter Schaustellung von Einzelmomenten zu geben, die, selbst wenn die Reihenfolge der Bilder noch so kunstreich verknüpft ist, der weit angelegten äußeren und inneren Motivierung, zu deren Abschluß sie einzig und allein bestimmt sind, immer entbehren werden. Jn den Nebenhandlungen können sich echt dramatische Stoffe finden; so deutet das Homerische Epos den Stoff zum Ajas wenigstens an (Odyssee: II, 543 ff.). Aber auch derartige, noch so günstige Stoffe sind untauglich, wenn sie mit der Katastrophe des Ganzen unauflöslich verbunden sind. An diesem Umstande muß jeder Versuch, den Charakter Rüdigers und sein tragisches Schicksal zum Mittelpunkt einer dramatischen Darstellung zu machen, scheitern; tragisch ist der Stoff im höchsten Grade, aber ebenso im höchsten Grade episch. Ebenso wie Siegfrieds Tod ist Rüdigers Untergang so unbedingt auf die Voraussetzungen des Ganzen des Nibelungenepos gestellt, daß der eine und der andere nicht ohne den Beginn, die Mitte und das Ende desselben vorgeführt werden kann; geschieht es dennoch, so geschieht es um den Preis, daß das wesentlichste Bedingnis, das für die künstlerische Nachahmung von Handlungen überhaupt vorhanden ist, die Vollständigkeit, geopfert wird. Durch alle derartigen Experimente, die aus dem Jrrtum hervorgehen, das Tragische müßte immer zugleich auch dramatisch sein, geraten alle Dimensionen des Stoffes in eine solche Verschiebung und Disproportion, daß keine Kunst den inneren Widerspruch zwischen dem Wesen der Handlung und der ihr fremden Form aufzuheben imstande ist. Nach so weitem Umwege kann nun die Untersuchung zu der Frage zurückkehren, von der sie ausging: Sind gute Handlungen mit glücklichem Ausgange für die poetische Nachahmung geeignet? Mit anderen Worten lautet die Frage, da sie für das Epos ja entschieden ist: Steht dem Jdyll eine analoge dramatische Gattung gegenüber? Was hat sie für eine Berechtigung, wie ist ihre Gesetzgebung beschaffen? Daß auf diesem Gebiete große Unsicherheit herrscht, zeigt schon die übliche Namengebung. Was Trauerspiel oder Lustspiel ist oder sein will, gibt sich deutlich genug kund. Nun begegnet aber auf dem Gebiete zwischen beiden eine große und mannigfach verschiedene Zahl von Dramen, in denen bald die rührenden, bald die erheiternden Züge überwiegen, bald auch beide gleichberechtigt nebeneinander auftreten, oder auch wohl entweder beide vor dem wuchtigen Ernst des Ganzen zurücktreten oder zu Gunsten einer ganz freien, phantastischen Stimmung sich verflüchtigen, und für welche alle zum Unterschied von Tragödie und Komödie eine Reihe von Separatbezeichnungen sich eingebürgert haben. Da ist die Tragikomödie, das Schäferspiel, Hirtengedicht, Singspiel, die sogenannte larmoyante Komödie, das genre sérieux , das Schauspiel, das sogenannte dramatische Gedicht. Das gemeinsame Kennzeichen aller dieser dramatischen Arten ist, daß sie entweder ganz ohne ein komisches Element oder doch ein solches nur beiläufig in sich aufnehmend, also entweder ganz ernster Natur oder doch vorwiegend auf eine wohlgefällige Wirkung angelegt, sämtlich einen glücklichen Ausgang haben, oder doch wenigstens keine von ihnen jemals einen perniziösen Verlauf nehmen kann. Andrerseits aber sind sie sämtlich, insofern sie wirkliche Dramen, nicht etwa nur Gespräche sind, Nachahmungen von Handlungen durch Handelnde, sie haben also sämtlich einen Schicksalsverlauf, und zwar einen einheitlichen und vollständigen, darzustellen. Nach dem im Vorstehenden Entwickelten setzt sich derselbe aus der Wechselwirkung zwischen den stattfindenden Umständen und Ereignissen und den durch dieselben hervorgebrachten oder in dieselben eingreifenden Willensentscheidungen zusammen; Darstellung von Empfindungen und Gesinnungen, Ansichten und Meinungen ist nur insoweit gestattet, als sie zur Vollständigkeit des Handlungsverlaufs erfordert wird, darüber hinaus und um ihrer selbst willen unbedingt ausgeschlossen. Für einen solchen Schicksalsverlauf sind zunächst zwei Hauptfälle zu unterscheiden: entweder derselbe stellt das Hereinbrechen eines schweren, drohenden Verderbens dar, dasselbe wird aber durch die Güte, Vortrefflichkeit, mit einem Worte die Richtigkeit der den Ausschlag gebenden Willensentscheidung der Haupthandelnden vermieden: der Ausgang ist glücklich. Der ganze Verlauf erregt die Furcht vor dem Eintreffen des drohenden, irreparablen Unheils, das Mitleid mit denen, die darunter leiden; der glückliche Ausgang befreit von diesen Empfindungen, nicht ohne daß zuvor ihre ganze Schwere empfunden ist. Dann fällt die Handlung und ihre ganze Einrichtung unter die Gesetzgebung der Tragödie, von der eine derartige Handlung einen ganz besonders komplizierten Fall mit ganz genau zu bestimmenden Kompositionsregeln bildet. Ein solcher Fall liegt in Goethes „ Jphigenie “ vor, welche von dem Dichter allerdings, offenbar eben wegen des glücklichen Ausganges, als „ Schauspiel “ bezeichnet worden ist. Oder: die Handlung enthält die Darstellung schweren drohenden Verderbens überhaupt nicht, nimmt also auch den entsprechenden Ausgang. Der erste Fall scheidet für die vorliegende Untersuchung ganz aus; denn entweder stellt er, richtig komponiert, eine echte Tragödie dar, oder, fehlerhaft eingerichtet, kann er nur als Anomalie in Betracht kommen. Eine solche Fehlerhaftigkeit würde überall da vorhanden sein, wo der Verlauf zwar schicksalsvoll, aber nicht typisch, gesetzmäßig wäre; wo also ein beängstigendes Geschick nicht den notwendigen Verlauf nähme, sondern durch Zufall oder Willkür abgewendet würde. Der zweite Fall also umfaßt alle hier möglichen Arten und ihre Abstufungen. Es wird zu vermuten sein, daß dieselben von den Grenzen des Trauerspiels bis zu denen des Lustspiels hinüberreichen. Das Wesen der Gattung wird am besten erkannt werden, wenn man von dem zwischen beiden Grenzen liegenden Mittelpunkte ausgeht. Derselbe liegt da, wo die Fehler der Handelnden und die Komposition der Ereignisse weder schwere Befürchtungen und stark ergreifende Rührung hervorbringen, noch von der Seite des Kontrastes des Lächerlichen und Wohlgefälligen dargestellt sind, wo weder die tragische noch die komische Wirkung zum Ziel genommen ist, wo also, da die Herstellung der Bedingungen für das ästhetische Wohlgefallen der Zweck aller Kunstbestrebung ist, diese Bedingungen unmittelbar durch die nachgeahmte Handlung gegeben werden, direkt den ins Auge gefaßten Nachahmungszweck bilden. Das wäre also der Fall, für den in der epischen Gattung das Jdyll eintritt. Es ist aber auf den ersten Blick klar, daß, so vortrefflich sich die epischen Mittel für die Darstellung dieses Falles eignen, so schwer die dramatischen Mittel dafür passend gemacht werden können. Jm Drama müssen Ereignisse und Entschlüsse möglichst unmittelbar auf bedeutungsvolle Entscheidungen gestellt sein; je mehr es also seine Bestimmung erfüllt, desto mehr nähert es sich entweder der tragischen oder der komischen Wirkung, welche durch die idyllische Darstellung ausgeschlossen werden. Diese letztere wird vielmehr nichts so sehr vermeiden als jene prägnanten und acuten Entscheidungen; die Einrichtung der Handlung wird möglichst ausschließlich dem gewöhnlichen, erwarteten und natürlichen Verlauf der Dinge gemäß getroffen werden, und gerade dadurch, daß das ausgezeichnete Gleichmaß in den Charakteren der handelnden Personen, die hervorragende Güte, Gesundheit, Reinheit ihrer Empfindungen und Gesinnungen, die Richtigkeit ihres Denkens und Meinens die Handlung in diesem ruhigen Verlaufe erhält, wird das Jdyll jene von ihm bezweckte Wirkung unmittelbaren reinen Wohlgefallens erreichen. Alles, was zu solcher Darstellung erfordert wird, leistet das Epos. Nicht gegenwärtiger, schnell zur Entscheidung fortschreitender Handlungsverlauf, sondern weit angelegte, allmähliche, naturgemäße Entwickelung wird dem Jdyll eigen sein; statt alles das auszuschließen, was nicht dem entschiedenen Fortschreiten der Handlung dienstbar ist, wird es mit Vorliebe gerade bei dem unscheinbaren Detail verweilen, aus dem die stille, aber am Ende dennoch das Ganze entscheidend bestimmende, Bedeutung des Alltäglichen, Stündlichen sich aufbaut; hier wird es mit breitest ausgeführter Kleinmalerei an ihrer Quelle die Empfindungen, Gesinnungen und Meinungen in möglichst vielseitigen Äußerungen zeigen, die keineswegs allein dem gegenwärtig sich vollziehenden Fortschritte der Handlung gelten, sondern zum mindestens ebenso großen Teile bestimmt sind durch sich selbst zu interessieren; alle Arten von Retardationen, Neben- und Zwischenhandlungen, vor allem das in heiterer Ungebundenheit sich absichtslos bewegende Gespräch sind die dafür bereiten Mittel. Das alles trifft in Goethes „ Hermann und Dorothea “ im vollen Umfange zu, obwohl die thatsächlich fortschreitende Handlung darin sich innerhalb weniger Stunden abspielt. Jusofern wäre die Handlung dieses Jdylls für die dramatische Bearbeitung so geeignet, wie die keines andern. Aber es gibt auch keines, das die Absurdität eines solchen Gedankens mit derselben Evidenz hervortreten ließe. Aber wenn solche Charakterdarstellung und solche durch die inhaltliche Vortrefflichkeit des Vorgeführten an sich selbst die Billigung gewinnende, das Wohlgefallen erzeugende Darstellung von Empfindungen, Gesinnungen und Meinungen scheinbar schon außerhalb der Handlungsnachahmung steht, so bestehen in der That für die idyllische Dichtung gerade hier die strengsten Gesetze, deren Grenzen sie nicht überschreiten kann ohne ihr Wesen zu vernichten. Es gibt keine sicherere Unterscheidung zwischen dem echten Jdyll und dem falschen als diese, daß das letztere sich in die bloße Malerei von Pathos, Ethos und Dianoia verliert, und daß die erzählte Handlung also nur als ein Notgerüst erscheint, auf welchem die bunte Pracht schöner Empfindungen, edler Gesinnungen und weiser Betrachtungen ausgehängt ist; während im echten Jdyll über alles dieses das klare und ganz fest bestimmte Gesetz des Vollständigkeitsbegriffes der Handlung entscheidet. Die Vollständigkeit der idyllischen Handlung verlangt, wie aus dem Gesagten von selbst hervorgeht, daß aus der solcherweise entfalteten inneren Welt der Handelnden nicht sowohl sich alles das erklärt, was äußerlich geschieht, als namentlich auch ─ was vielleicht paradox klingt ─ was nicht geschieht: daß nämlich aus dem Maß, der Richtigkeit und Gesundheit des Denkens und Empfindens der Handelnden sich dem ästhetischen Urteil des Wahrnehmenden gewissermaßen durch den Augenschein erklärt, wie in ihren Schicksalen ─ so lange keine übermächtige fremde Gewalt von außen eingreift, und diese eben ist ja in der Handlung ausgeschlossen ─ notwendig das Beängstigende und Mitleiderregende ebenso fern bleiben muß als das Lachenerregende, und wie aus der inneren Harmonie naturgemäß das äußere erfreuliche Gedeihen sich entwickelt. Mit sanfter Gewalt durchdringt uns zugleich das wohlgefällige Gefühl höchster Befriedigung und die ohne Reflexion entstehende, aber nicht minder gewisse Ueberzeugung, daß dieselbe Trefflichkeit der Gesinnungen, die hier als Schöpferin und Erhalterin des Glückes sich kundthut, gegenüber dem hereinbrechenden Unglück sich als fest und dauernd bewähren würde. Dadurch, daß die gesamte ethische Charakteristik also immer eng an das Ganze der Handlung geknüpft ist, wird das echte Jdyll auch vor jenem andern schlimmen Fehler der falschen Jdyllendichtung bewahrt, schlechthin Vollkommenes darzustellen; die kleinen Fehler und Schwächen der Handelnden und leichte Jrrtümer in ihren Entscheidungen dienen, indem sie den heitern Ernst mit leisen Zügen des Rührenden und Komischen durchweben, zugleich zur Erhöhung der Naturwahrheit der Nachahmung und zur reizvollsten Abwechselung ihrer Wirkung. Sofort zeigt sich nun, warum wohl das falsche Jdyll sein dramatisches Abbild hat ─ denn was ist einfacher als einen dialogischen Austausch harmonischer Empfindungen, wie Geßners sogenannte Jdyllen ihn darbieten, in notdürftige Handlung gesetzt auf die Bühne zu bringen! ─ wie aber das echte Jdyll durch jedes einzelne seiner wesentlichen Erfordernisse den Mitteln der dramatischen Darstellung unerreichbar ist. Es könnte eingewendet werden, daß in Goethes „ Geschwistern “ ein solches idyllisches Drama dennoch vorläge; der Nachweis des Gegenteiles wird weiter unten geführt werden. Die eigentliche, thatsächlich fortschreitende Handlung des Jdylls ist viel zu unbedeutend, oder sie besteht aus einer Reihe von für sich genommen viel zu unbedeutenden Momenten, als daß irgend eine Veranlassung vorhanden wäre, die bedeutungsvolle Nachahmung durch Handelnde für dieselbe erforderlich zu machen, oder daß dieselbe irgendwie gerechtfertigt wäre; denn eben die bedeutungsreichen und schicksalsvollen Entscheidungen, in denen solche Veranlassung und solcher Grund liegt, dürfen in der idyllischen Handlung niemals enthalten sein. Ein solches bedentungsschweres Ereignis ist in den „ Geschwistern “ die Erkennung, auf welche die ganze Handlung gebaut ist. Alle beteiligten Personen sind durch die hochgradige leidenschaftliche Spannung, in welcher die Handlung sie vorführt, auf die schmale Grenze gestellt, daß diese Erkennung über ihr Lebensschicksal entscheidet. Andererseits ist die Fülle der nach Zeit, Ort und Handlungsinteresse weithin nach allen Seiten zerstreuten Veränderungsmomente, die in der Erzählung durch die Forderung der inneren Vollständigkeit der Handlung ihre Vereinigung zum Ganzen finden, für die dramatischen Mittel absolut undarstellbar. Es scheint demgemäß dasjenige in der dramatischen Nachahmung, was weder entschieden der Tragödie noch der Komödie zugehört, doch dem einen dieser beiden entgegengesetzten Pole zustreben zu müssen, so daß eine besondere dramatische Gattung zwischen den beiden mit eigener Gesetzgebung nicht vorhanden wäre, sondern es von jenen Polen aus nur gewissermaßen graduelle Abstufungen gäbe, die, je mehr sie nach der Mitte zu vorgerückt wären, desto mehr sich einander nähern müßten. Da hier durchgängig die äußere Handlung von weniger entscheidender Art ist, das tragische Element ebenso durch den Ausgang gemildert als das Komische durch den beigemischten Ernst herabgemindert erscheint, so werden die für jene Gradationen maßgebenden Faktoren vorzugsweise auf der Seite der inneren Handlung zu suchen sein, in der Beschaffenheit des dieselbe bestimmenden Ethos und des darin zur Erscheinung kommenden Maßes von Phronesis; und zwar wird das die Abstufungen bestimmende Moment vornehmlich in der Art und Weise und dem Maße der nach beiden Seiten im Handeln stattfindenden Fehlerhaftigkeit liegen. Aus diesem Sachverhalt erklärt sich das Schwanken der Theorie auf diesem Gebiete; denn jene graduellen Abstufungen genügen einerseits um die Zugehörigkeit der hier in Frage kommenden Dramen zu einer der beiden Hauptgattungen prinzipiell auszuschließen, andererseits erzeugen sie, bei dem Mangel eigener, fester Gattungsbestimmungen, die Neigung jene Stücke der einen oder der anderen ihrem allgemeinen Charakter nach nun dennoch hinzuzurechnen. Hier ist also eine genaue Abgrenzung erforderlich: es sind die Grenzen dieses mittleren Gebietes gegen die Tragödie sowohl als gegen die Komödie hin festzustellen und es ist weiter zu untersuchen, ob für das so umschriebene Gebiet ein bestimmtes gemeinsames Prinzip existiert, welches eine besondere, klar zu definierende Gattung konstituiert. Diejenigen sogenannten „ Schauspiele “, die an die Tragödie zunächst angrenzen, werden nach den obigen Bestimmungen von der Art der ethischen Tragödie sein, d. h. solcher, wo das die Befürchtungen und mitleidigen Empfindungen erregende Schicksal zum überwiegenden Teile durch die Gesinnungsweise des Handelnden bestimmt wird, ohne dieselbe also eben gar kein tragisches Element in sich haben würde. Hier sind nun wieder zwei Hauptfälle zu unterscheiden: daß nämlich erstens die ethische Fehlerhaftigkeit des Handelnden ihre vollen Konsequenzen nach sich zieht, diese Konsequenzen aber an sich nicht verderblicher Natur sind, sondern für einen Andern zwar wohl unerwünscht, aber erträglich, für die Gesinnungsweise des Handelnden aber derart, daß sie sein persönliches Glück zerstören. Man sieht, hier liegt ein im strengen Sinne tragischer Fall nicht vor, aber der Fall nähert sich der wirklichen Tragödie so sehr, daß ihre Bedingungen für alle diejenigen, welche sich völlig in die Gesinnungsweise des Handelnden zu versetzen vermögen, allerdings erfüllt werden. Dieser Fall ist, als in einem klassischen Musterbeispiel, in Goethes „ Tasso “ vertreten. Ähnlich liegt der Fall in Goethes „ Götz “, den der Dichter in der späteren Bearbeitung gleichfalls „ein Schauspiel“ nennt. Das tragische Element des Stückes liegt in dem Widerstreit von Götzens Gesinnungs= und Denkweise gegen die Bedingungen seiner Zeit, worin Richtiges und Berechtigtes mit Unberechtigtem und Fehlerhaftem in nahezu gleichen Teilen vermischt ist, der aber die Wirkung hat, sein Leben zu einer ununterbrochenen Kette von Unglücksfällen und Mißerfolgen zu gestalten. Wäre dieses Verhältnis in eine einzige entscheidende Handlung zusammengedrängt, die aus demselben ein verderbliches Schicksal hervorgehen ließe, so wie es z. B. unter im Uebrigen gänzlich verschiedenen Umständen, aber mit ähnlichem Grundverhältnis zwischen dem Ethos des Handelnden und seinem Schicksal, in Shakespeares „ Coriolan “ geschieht, so läge der Stoff zu einer echten Tragödie vor. Das geschieht aber nicht; Götz von Berlichingen stirbt eines natürlichen Todes, freilich so, daß sein Lebensmut und seine Lebenshoffnung durch eine lange Reihe einzelner Widerwärtigkeiten, die ihm von überall her begegnen, gebrochen sind. Daß die Dichtung in den Nebenhandlungen von tragischem Stoff überfüllt ist, ändert an der Thatsache nichts, daß die tragische Decision und Energie der Haupthandlung mangelt. Übrigens macht dieser wichtige innere Mangel sich ebenso für den „ Tasso “ wie für den „ Götz “ in weiteren Konsequenzen geltend. Wenn auch im „ Tasso “ sowohl in betreff der Komposition der nun einmal erwählten Handlung als der Charakterdarstellung und der Form des Ausdrucks die höchste Meisterschaft waltet, so ist durch den Mangel der Energie, welche allein durch die echt tragische Einrichtung der Handlung verliehen wird, doch die volle Wirkung des Stückes auf einen verhältnismäßig engen Kreis von Wahrnehmenden eingeschränkt, auf die immerhin geringe Zahl derer, welche einmal überhaupt auf die Höhe der darin dargestellten exklusiven Denkweise sich zu erheben und ferner mit der so höchst subjektiven Empfindungsweise des Helden lebhaft mitzufühlen vermögen. Die Wirkung auf die Massen von der Bühne aus kann die Schönheit dieses Dramas niemals erreichen. Diese Wirkungsfähigkeit fehlt der auf das Kräftigste bewegten Handlung des „ Götz “ nun zwar keineswegs, aber dafür entgeht ihr die Jntensität der echten Tragik; diese der Haupthandlung unvertilgbar innewohnende Schwäche war es, die zur Belastung derselben mit zahlreichen tragischen Episoden führte, die jene Unzulänglichkeit anfänglich wohl verdecken konnten, ohne daß alle späteren Versuche veränderter Bühneneinrichtung ihr doch abzuhelfen imstande waren; durch denselben innerlich wirkenden Grund wurde der Handlung die Konzentration auf einen Punkt, die echt dramatische Einheit, entzogen und dieselbe in eine den Bühnengesetzen von Ort- und Zeitbeschränkung schlechterdings widersprechende Reihe von Einzelbildern auseinandergezogen. Der zweite Fall des an die ethische Tragödie angrenzenden „Schauspiels“ ist der, daß zwar ganz wie im ersten das Befürchtung erregende Element sich aus dem Ethos der handelnden Personen entwickelt, auch im Verlauf der Handlung die entsprechende Wirkung auf die Empfindung zur Geltung kommt, daß aber die Konsequenzen desselben durch den Verlauf der Handlung überhaupt vermieden werden. Dabei muß notwendig unterschieden werden, ob diese Vermeidung eine durch die gesamte Einrichtung der Handlung gerechtfertigte ist, oder ob sie im Gegensatze zu den Forderungen derselben, also unberechtigt, willkürlich, gewaltsam herbeigeführt ist. Dieser letztere Fall ist es, der schon früher als eine Anomalie bezeichnet wurde, welche durch fehlerhafte Behandlung eines an sich tragischen Stoffes entstände. Das hervorragendste Beispiel derart, in allem Übrigen ein Meisterstück, durch diese anomale Kompositionsweise aber von Grund aus verfehlt, ist Goethes „ Stella “, „ein Schauspiel für Liebende.“ Alle Kunst der Ausführung des Einzelnen, Wahrheit und Kraft der Charakteristik, Glut der Leidenschaft, Geschick des scenischen Aufbaues, kann gegen die fehlerhafte Einrichtung der Handlung dieses Stückes nichts ausrichten; denn dieselbe besteht, wie gesagt, von Grund aus und konnte durch den ins Tragische veränderten Abschluß ─ eine Veränderung, die sich ja leicht bewirken ließ ─ keineswegs verbessert werden. Diese Umwandlung, die Goethe im Jahre 1805 vornahm und in der das Stück 1815, vierzig Jahre nach seinem Entstehen, aufs Neue erschien, machte aus einem fehlerhaften Schauspiel eine sehr fehlerhafte Tragödie; man fühlt sich versucht dem Urteil der Frau von Stein beizustimmen, die das Stück nicht gerade liebte, aber dessen erster Gestalt entschieden den Vorzug gab. Goethe ließ sich zu dem tragischen Abschluß durch die schweren moralischen Bedenken bestimmen, die gegen die erste Fassung mit Recht erhoben waren; aber der Schluß hob nicht die Voraussetzungen auf, die von jenen Bedenken nicht weniger getroffen werden. Goethe hatte guten Grund des Stück „ ein Schauspiel für Liebende “ zu nennen, denn die drei Personen, unter denen es vor sich geht, handeln nicht nur einzig und allein aus dieser Leidenschaft, sondern alles, was wir von ihren früheren Handlungen, von ihrem gesamten Denken und Empfinden hören, ist durch die Alleinherrschaft derselben bestimmt, und zwar so, als ob diese Leidenschaft eine blinde Naturgewalt wäre, deren jeweiliger Einwirkung jede andere Rücksicht unbedingt zu weichen habe. Wohl kann die alles überwindende Macht der Liebe die bewegende Kraft einer tragischen Handlung sein; aber dann muß das spezifisch=tragische Element in die Schicksalsverhältnisse gelegt sein, die eben nicht anders überwunden werden können als durch die höchste Entfaltung dieser Gewalt. So ist es in Shakespeares „ Romeo und Julie “ geschehen. Aber in „ Stella “ ist nicht der Heroismus der Liebe gezeigt, der im Gefühl seiner inneren Berechtigung kühn den schwersten Hindernissen Trotz bietet, sondern thörichte Ueberschwenglichkeit überspannter Empfindung: wenn die Heldin des Stückes um einer „Grille“ des Mannes, den sie kaum erblickt hat, genug zu thun, einem nichtigen „Stolz“, der es ihm reizend erscheinen läßt, „sein Mädchen heimlich als Beute für sich zu haben“, alles hinter sich läßt, alle ihre Pflichten vergißt und sich aller Selbstachtung ohne Besinnen begibt. Daß sie damit in ihr Unglück rennt, ist jammervoll, aber keineswegs tragisch. Noch viel untragischer, auf dem Boden der Tragödie sogar höchst widerwärtig, ist Fernando, den die wechselnden Paroxysmen zweier Liebesleidenschaften, die bei ihm ganz an die Stelle des Willens getreten sind, ohne einander auszuschließen, bald auf die eine bald auf die andere Seite gezogen haben und vor unseren Augen fortfahren wie einen Spielball hin und her zu werfen. Seine haltlose Schwäche, mit der er Frau und Tochter im Stiche läßt, die Geliebte verdirbt und dann wieder sich bereit zeigt diese aufzugeben um jenen zu folgen, wirkt, statt tragisch zu ergreifen, empörend; poetisch, oder was dasselbe ist, ästhetisch erträglich wird sie nur unter einer Bedingung, und diese Bedingung verlangt, wie sich sogleich zeigen wird, gebieterisch den Ausgang des „ Schauspiels “ und schließt die tragische Wendung aus. Ganz eigentlich dem Schauspiel angehörig ist die dritte Person des Dramas, deren Rolle auch in der „Tragödie“ vollständig unverändert geblieben ist: Cäcilie. Auch bei ihr ist die einzige bestimmende Empfindung die Liebe, aber eine Liebe, die von aller Selbstsucht frei auf Versöhnung im weitesten Umfange bestrebt ist, bereit, nicht nur das eigene, durch den Ehebund geheiligte Recht aufzugeben, um das Glück des Gatten und seiner Geliebten zu retten, sondern die Heiligkeit des Ehebundes selbst. Jhre wohlmeinende gutmütige Toleranz stellt sich das ideale Glück einer Familie vor, die aus ihr selbst und ihrer erwachsenen Tochter, dem Gatten und Vater und dessen also notwendig illegitim mit ihm verbundener zweiter Frau besteht: ein freundliches, alles angestiftete Unheil ausgleichendes Kompromiß, welches allein denkbar ist auf der allerdings durch das ganze Stück bei allen Beteiligten sich als gleichmäßig vorhanden erweisenden Grundlage, daß sie sämtlich den leidenschaftlichen Liebesaffekt als über allen Lebensgesetzen stehende, berechtigt regierende Naturgewalt anerkennen. Mit diesem Kompromiß schließt das „Schauspiel für Liebende“ ab, während in der „Tragödie“ ein solches alle Teile zufriedenstellendes Arrangement nur deswegen nicht zustande kommt, weil Stella in voreiliger Verzweiflung, ehe sie von diesem rettenden Auswege verständigt ist, ihrem Leben ein Ende gemacht hat. Nach ihrem ganzen Naturell mußte sie darauf eingehen, wenn sie nur rechtzeitig davon erfuhr; auch nach dieser Seite ist also die erste Fassung die konsequente, die spätere eine gekünstelte und nach jeder Richtung hin unbefriedigende: denn nun hat Stella sich ohne Not geopfert, Fernando, zum vierten oder fünftenmale inkonsequent, überläßt abermals Weib und Kind einem ungewissen Schicksal, und Cäcilie ist trotz all ihrer weitherzigsten Gutmütigkeit durch einen fatalen Zufall abermals vor die Thüre gesetzt. Der Strenge der tragischen Schicksalsforderungen und =Bedingungen ist durchweg arg widersprochen; deswegen ist die Wirkung der „Tragödie“ Stella auch eine überwiegend peinliche. Die einzige Bedingung, unter der das Drama mit den Schönheiten, die es enthält, zu seiner Geltung gelangt, ist, daß es von dem Standpunkt aus betrachtet wird, von welchem aus es empfunden und gedichtet wurde, der allerdings nicht der absolute, ästhetisch normale, künstlerisch berechtigte ist, sondern ein relativer, wenn man will, pathologischer. Die Dichtung ist ein Niederschlag der Anschauungsweise, die, der Sturm- und Drangzeit überhaupt charakteristisch angehörig, um die Zeit, als „Stella“ entstand, auf ihrem Höhepunkte war: daß die starke Leidenschaft das Beste sei, was der Mensch in sich habe, daß ihrer heiligen Stimme zu folgen ein Gebot der Natur sei, daß Sitte, Gesetz, staatliche und gesellschaftliche Jnstitutionen und Gewohnheiten, wo sie ihr widersprächen, im Unrecht wären. Aus diesen Gefühlen und Gesinnungen handeln alle Personen der „Stella“. Der große Vorzug nun und das „ Goethesche “ des Gedichtes ist, daß dieses Gefühl und diese Gesinnung überall mit der Wahrheit und Reinheit, dem Feuer und dem Seelenadel sich darstellen, die unter allen ihm allein eigen waren. Pathologisch blieb der Standpunkt, den er mit seiner Zeit damals teilte, nichtsdestoweniger; denn wie der Dichter selbst, bei aller Frische und Fülle der Empfindung, nach den verschiedensten Seiten gleichzeitig und bald hierhin bald dorthin seine leidenschaftliche Neigung wandte, so gründete er die Handlung dieses Dramas auf die willkürliche und unwahre Voraussetzung, daß die unbedingte Hingabe an die Leidenschaft, wenn diese nur wahr empfunden sei, von der Fülle und dem echten Adel der Seelenkräfte Zeugnis gebe. Allein aus dieser leidenschaftlich=sentimentalen Anschauungsweise der Epoche der siebziger Jahre ist die „Stella“ verständlich und erträglich. Nun aber erwäge man, daß hier nicht etwa wie später in „Kabale und Liebe“ das Naturrecht der Leidenschaft gegen unerbittlichen Zwang in Kontrast gesetzt ist; in den äußeren Umständen liegt nichts, was die Seelen hindert sich ganz dem Gefühle hinzugeben, vielmehr ist mit fleißigem Bedacht alles darauf eingerichtet, dem freiesten Zuge des Herzens die Wege zu ebnen: und die Überzeugung ergibt sich, daß nur ein späteres, dem Zug und Gange des Stückes ganz fremdes Zugeständnis des Dichters an Forderungen der Sittlichkeit die Umwandlung ins Tragische herbeiführen konnte, während die ursprüngliche glückliche Lösung mit innerer Notwendigkeit durch die eigentümlichen Voraussetzungen, nach denen die handelnden Personen denken und fühlen, bedingt ist. Das für die vorliegende Frage wichtige Ergebnis ist also dieses, daß der das Stück beherrschende Darstellungszweck, der seine Entstehung veranlaßte, nicht die Vorführung des großen unerbittlichen Schicksalsgesetzes ist, sondern die Nachahmung einer Handlung, in der die triumphierende Macht der Liebesleidenschaft offenbar werden sollte, das sympathetische „Neigen von Herzen zu Herzen“, in dem trotz aller ihm eigenen Schmerzen doch die Freuden überwiegen, das in seiner unendlichen Fülle die Kraft zeigen sollte die selbstgeschaffenen Leiden zu überwinden. Es ist keine treffendere Erklärung des Stückes denkbar, als die der Dichter selbst in der zweiten Hälfte der Strophe gegeben hat, die er 1776 in das für Lili bestimmte Exemplar schrieb: Empfinde hier, wie mit allmächt'gem Triebe Ein Herz das andre zieht, Und daß vergebens Liebe Vor Liebe flieht! Das Schicksalswalten, das zum Bewußtsein und zur Empfindung zu bringen die eigentliche Aufgabe der Tragödie ist, wird mit seinem furchtbaren Ernste ferngehalten; an seiner Stelle bemächtigt ein jugendlich trunkenes Gefühl sich der Herrschaft über den Schauplatz: sich selbst in seiner angemaßten Berechtigung darzustellen greift es zu dem Mittel der dramatischen Nachahmung. Diesen Zweck, mag er immerhin seinem Jnhalte nach ein verfehlter sein, erfüllt das „ Schauspiel “ Stella, die „ Tragödie “ vernichtet ihn, und ohne den Fehler zu korrigieren, erschafft der tragische Abschluß nur einen unerfreulichen Zwiespalt: der sittliche Ernst, der ihn diktiert, steht in einem Widerspruche zu dem innern Leben des ganzen Stückes, der nicht allein dessen Ablauf verändert, sondern es seiner gesamten Anlage nach aufhebt. Demgemäß ergeben sich aus dieser ganzen Abschweifung die folgenden Resultate: Durch die gänzliche Vermeidung der tragischen Schicksalskonsequenz, also durch den rein glücklichen Ausgang, wird in allen Fällen die Gesetzgebung, Einrichtung und der Wirkungszweck der Tragödie aufgehoben, die dramatische Nachahmung also auf einen ganz veränderten Boden gestellt, außer in einem einzigen Falle. Dieser eine Fall ist der schon von Aristoteles festgestellte, daß durch ein drohendes furchtbares Verderben im Verlaufe der Handlung alle Bedingungen der Tragödie erfüllt werden, die Furcht und Mitleid erregende Schicksalsverwickelung aber auf einer Verkennung beruht, welche durch rechtzeitige Erkennung also gelöst wird. Es ist der schon erwähnte Fall der „Jphigenie“; er findet seine nähere Erörterung in dem Abschnitte von der Tragödie, von der er eine besondere Art, nach des Aristoteles Meinung sogar die vollkommenste bildet. Jn allen andern Fällen wird durch den glücklichen Ausgang trotz des etwa vorhandenen scheinbar tragischen Ernstes der Handlung eine von der Tragödie auf das Strengste geschiedene Gattung bedingt, die also nach dem Obigen in ihrem Wesen nach dem Lustspiele zu gravitieren wird. Es gilt das Wesen dieser Gattung zu erkennen; dasselbe stellt sich in dem Zwecke der Handlungsnachahmung dar; aus dem Zwecke der dramatischen Nachahmung ist in allen Stücken die Gesetzgebung derselben zu bestimmen. XX. Das Gebiet der Tragödie reicht so weit, als dieser Zweck darin besteht, durch gesetzmäßigen Verlauf der Handlung die Ubermacht des Schicksals über die menschliche Kraft zu zeigen und demgemäß die Furcht vor demselben zu erwecken und das Mitleid mit denen, die darunter leiden. Jhr Gebiet hört also an dem Punkte auf, wo das Schicksal nicht mehr als die unwiderstehliche Ubergewalt erscheint, sondern wo eine gesetzmäßig verlaufende Handlung solche Schicksale zeigt, in denen umgekehrt die menschliche Kraft maß- und formgebend ist. Dort sind die Umstände stärker als der Mensch: solche Süjets, richtig behandelt, erhalten die Kraft die tragischen Empfindungen und durch sie die ästhetische Freude zu erwecken; hier ist der Mensch stärker als die Umstände: wenn nun derartigen Süjets dasselbe Vermögen, die ästhetische Freude zu erwecken mitgeteilt werden soll, aber nicht durch die tragischen Empfindungen, so entsteht die Frage: welche Empfindungen zu bewirken sind denn sie durch den ihnen innewohnenden Nachahmungszweck bestimmt? Das Gemüt des Wahrnehmenden bleibt hier von Furcht und Mitleid frei, es ist daher ganz der Beurteilung des Verhältnisses zwischen dem Verhalten und den Willensentscheidungen der Handelnden und ihren Umständen und Geschicken zugewandt; da dieses Urteil nun aber kein logisches, sondern ein ästhetisches ist, also nur entweder nach der Seite des Wohlgefallens oder der des Mißfallens entscheidet, da ferner der letzte Endzweck aller künstlerischen Veranstaltung doch immer ist, die Bedingungen für die Entstehung der Hedone, der ästhetischen Freude, hervorzubringen, so kann es nicht anders sein, als daß in diesem Falle die wohlgefällige Empfindung selbst, die durch den Handlungsverlauf erregt wird, unmittelbar in den Nachahmungszweck mit eingeschlossen sein muß, denn ohne dieselbe könnte eine derartige Handlungs-Komposition nimmermehr die Kraft ( δύναμις ) erhalten, freuderregend zu wirken. So würde an dem Punkte, wo das Trauerspiel aufhört, das Lustspiel ─ den Begriff der Lust in dem soeben bezeichneten Sinne genommen ─ beginnen. Hier aber erst trifft die Untersuchung auf den Kern der Frage: auf die Frage nämlich, wie kann es geschehen, daß vermittelst der Empfindung des Wohlgefallens an dramatisch nachgeahmten Handlungen der Zweck der Kunst, den Anlaß zu der höchsten ästhetischen Lust zu schaffen, erreicht wird? Die Grenze ist eine scharfe und unzweifelhafte; jenseits derselben verfolgt das Drama seinen höchsten Zweck, wo es dem Jnhalte nach, wenn auch in ganz verschiedener Weise, den höchsten religiösen Vorstellungen parallel läuft: es stellt das gewaltige, göttliche Schicksal dar. Diesseits der Grenze stellt es zwar auch Schicksal dar, denn alle Handlung ist von Schicksal begleitet und ist selbst ein Teil des Schicksals, aber es zeigt statt der zerschmetternden göttlichen Gewalt, deren Anerkennung im Gesamtempfinden die Tragödie erzielt, jenen ganzen übrigen Teil des Schicksals, wo das Handeln unmittelbar oder trotz widriger Umstände und mancherlei Jrrungen zum erwünschten Ende führt. Welcherlei Handlungen derart sind nun geeignet, die der dramatischen Gattung eigene Hedone zu erregen? Jm Handeln zeigt sich die höchste Äußerung aller vereinigten Seelenvermögen gleichsam wie die Blüte und die Frucht der Pflanze ist die Gesinnung und das daraus hervorgehende Handeln das Resultat und die Repräsentation des gesamten geistigen Organismus. Es gibt nun eine Tugend des richtigen, guten Handelns, für die der Grieche eine besondere Bezeichnung hat, die Phronesis, die aber im Deutschen durch die Worte Besonnenheit, Verständigkeit, maßvoller Sinn, noch nicht erschöpfend bezeichnet wird, sondern die zugleich die Einsicht und die Herzensgüte einschließt, die Klarheit des Denkens und die Gesundheit des Empfindens. Aristoteles definiert diese Tugend der Phronesis als: das zum bleibenden Besitz gewordene verstandesbewußt wahrheits gemäße Verhalten im Handeln in Bezug auf das menschlich Gute. cf. Aristoteles: Nikomach. Ethik. Buch VI, c. 5 1140 b 20: ὥστ' ἀνάγκη τὴν φρόνησιν ἕξιν εἶναι μετὰ λόγου ἀληθῆ περὶ τὰ ἀνθρώπινα ἀγαθὰ πρακτικήν . Vgl. außer c. 5 auch namentlich die c. 6 und 7 des VI. Buches. Empfindung, Vernunft und Willensbestreben kommen dabei gleichmäßig in Betracht, ihnen allen muß das Attribut der Richtigkeit, der Übereinstimmung mit der Wahrheit innewohnen, und zwar muß das alles nicht nur in Bezug auf einzelne Handlungen stattfinden, sondern als eine unverlierbare Beschaffenheit ( ἕξις ), für die es kein Vergessen gibt, dem ganzen Wesen eingeprägt sein. Das wäre nicht der Fall, wenn die Phronesis nur auf verstandesbewußter Entscheidung im Handeln beruhte, also nur Einsicht, Verständigkeit wäre. A. a. O. 1140 b 29: ἀλλὰ μὴν οὐδ' ἕξις μετὰ λόγου μόνον· σημεῖον δ ' ὅτι λήθη τῆς μὲν τοιαῦτης ἕξεώς ἐστι, φρονήσεως δ ' οὐκ ἔστιν . Obgleich demgemäß die Phronesis ohne die bewußte Mitwirkung des Verstandes und der Vernunft, und zwar beider in wahrheitsgemäß bestimmter Thätigkeit, nicht denkbar ist, so beruht sie ihrem Wesen nach doch darauf, daß die Empfindungs- und Gesinnungsweise ebenso, also auch das Begehrungs- und Willensvermögen, mit solcher Verstandes= und Vernunftthätigkeit sich in völligem Einklange befinden, so daß also diese in jene völlig übergegangen, in allen Äußerungen jener fortwährend gegenwärtig ist. So kann es geschehen, daß, obwohl in Wahrheit die Willensentscheidungen nicht ohne Überlegung und bewußte Wahl nach Vernunftgründen vor sich gehen, sie dennoch als unmittelbare Wirkungen der Empfindungskräfte, als unbewußt und notwendig erfolgende Manifestationen der ethischen Gesamthaltung erscheinen: die Folge davon aber ist, daß sie demgemäß auch unmittelbar, ohne das Dazwischentreten der logischen Reflexion, in ihrer vollen Eigenart durch das Empfindungsvermögen aufgenommen, durch das Empfindungsurteil richtig geschätzt werden können, daß sie rein ästhetisch wahrnehmbar und wirksam sind. Dazu aber ist notwendig, daß die handelnden Personen nicht allein nach ihrer Empfindungs- und Gesinnungsweise und ihrem Begehrungsvermögen ( πάθος, ἦθος, ὄρεξις ) so beschaffen sind, wie die Tugend der Phronesis es voraussetzt, sondern daß diese Beschaffenheit in bestimmten Willensentscheidungen zu Tage tritt, und zwar innerhalb so gearteter Umstände, d. h. also in einer derartig eingerichteten äußeren Handlung, daß die= selbe gerade diese ihre so beschriebene Beschaffenheit in das hellste Licht setzt. Das erste liegt im Bereich der epischen Nachahmung, die für die Darstellung ethischer Beschaffenheit weiten Raum bietet; das zweite, welches für die Nachahmung der Handlung die höchste Vollständigkeit verlangt, kann allein durch die dramatische Darstellung geleistet werden. Es wäre also die Aufgabe, durch Nachahmung von Handlungen, in denen Phronesis zur Erscheinung kommt, das wohlgefällige Empfindungsurteil hervorzurufen. Nun äußern sich aber alle Seelenvermögen, die bei der Beurteilung solcher Handlungen in Thätigkeit kommen, nicht allein positiv, sondern mit derselben Stärke, Bestimmtheit, mit derselben unfehlbaren Sicherheit auch negativ. Nicht allein, daß das Leben diese Thätigkeit fortwährend gleichmäßig nach beiden Seiten anregt, so sind auch die positiven und negativen Äußerungen, die sich notwendig gegenseitig komplementär bedingen, unaufhörlich darin begriffen, einander wechselseitig zu berichtigen, zu klären, in sich selber zu befestigen. So steht im Bereich des Verstandes gleichberechtigt der Bejahung des Richtigen die Verneinung des Falschen, Verkehrten gegenüber, im Bereich der Vernunft der Billigung des Guten und der damit verbundenen Freude die Verwerfung des Schlechten, Bösen, und der damit verbundene gerechte Zorn und Abscheu; das Begehrungsvermögen zeigt sich eben so stark und entschieden in der Verfolgung ( δίωξις ) des rechten Zieles, wie in der Abwendung, Flucht ( φυγή ) von dem unrichtigen; die Empfindungen und Gesinnungen endlich nehmen alle diese Stimmen für und wider in sich auf und treten in der entsprechenden Form und Weise in die Erscheinung. Wie nun mit jeder dieser richtigen und gesunden Lebensäußerungen des Empfindungsvermögens, die aus dem richtigen Grunde in der richtigen Form und dem rechten Grade an der rechten Stelle erfolgen, notwendig Lustgefühl, Freude, Hedone verbunden ist ─ wie denn die Hedone immer und überall als Begleiterscheinung der Thätigkeit auftritt und zwar im höchsten Grade und der reinsten Weise bei dem Maximum der höchsten und reinsten ─, also mit der klar erkannten Verneinung, der gegründeten Mißbilligung, dem gerechten Zorn ebenso wie mit ihrem positiven Gegenteile: so wird notwendig dasselbe auch stattfinden bei der Thätigkeit der ästhetischen Wahrnehmung gegenüber der Nachahmung von Handlungen, die aus solchen Empfindungsäußerungen hervorgehen, und des dabei sich zur Klarheit herausbildenden ästhetischen Ur= teils. Auch hier wird die positive und die negative Bethätigung unauflöslich verbunden und komplementär bedingt sein, in reciproker Wirkung werden beide sich aneinander berichtigen und sich wechselseitig läutern, bis sie zur Reinheit, also zu ihrem qualitativen Maximum hergestellt, zu einer Quelle reiner und hoher Freude werden (der οἰκεία ἡδονὴ τῆς τοιαύτης μιμήσεως , der dieser Gattung von Nachahmung eigenen Freude). Es wäre also die Aufgabe neben der wohlgefälligen Empfindung an dem Teile der Handlung, in dem die Äußerungen der Phronesis unmittelbar zur Erscheinung kommen, andrerseits durch die Vorführung ihres Widerspiels die entgegengesetzten Empfindungen zu erwecken und durch die wechselseitige Einwirkung beider auf einander sie beide zur Reinheit herzustellen. Die durch solche Katharsis erzeugte Ruhe, Harmonie und Erhebung der Seele wäre dann der Abschluß, auf den der Zweck des Ganzen gerichtet sein müßte, mit andern Worten: die bestimmte Art des ästhetischen Genusses, den eine derartige Nachahmung hervorzubringen hätte. Aus dem innersten Grunde der Sache ist es nun klar, warum in solcher dramatischen Nachahmung die tragische Entwickelung absolut ausgeschlossen sein muß: das Vorwalten der Phronesis ist es ja gerade, wodurch das Wesen der Tragik unter allen Umständen aufgehoben wird. Ja, selbst ein dennoch unglücklicher Ausgang würde daran nichts ändern; eine solche Handlung müßte Trauer erwecken, wäre aber für die Tragödie unbrauchbar, wie z. B. der Opfertod Christi kein tragischer Stoff ist. Freilich würden solche Stoffe, wie die Wirklichkeit ohne Zweifel sie bietet, ebenso für die hier in Betracht gezogene dramatische Nachahmung zu verwerfen sein, weil eben durch die Trauer, mit der sie das Gemüt belasten, dasselbe seine Freiheit verliert. Dagegen werden nur wenige weitere Schritte in der Untersuchung zeigen, wie enge diese dramatische Gattung mit dem, im gewöhnlichen Sinne so genannten, Lustspiel, also mit der Komödie, innerlich zusammenhängt. Nächst der höchsten Aufgabe, das Gemüt richtig zu stellen gegenüber dem ungeheuern Rätsel der über allem Menschenwillen thronenden Macht, durch das bloße teilnehmende Anschauen die rechte Ehrfurcht vor seinem Walten erstehen zu lassen und das damit verbundene echte Mitgefühl mit dem unausweichlichen menschlichen Leiden, ist die andere und vielleicht eben so hohe Aufgabe, das übrig bleibende Gebiet des Lebens zu zeigen, innerhalb dessen „reine Menschlichkeit“ die Wechselfälle des Geschickes zu bezwingen vermag, und wo Glück und Unglück als die ebenmäßigen Ergebnisse der Handlungen sich erweisen. Hier dürfen demgemäß die Furcht- und Mitleidaffekte nur sekundär und vorübergehend ins Spiel kommen; nichts ist in dieser dramatischen Gattung so sorgfältig zu vermeiden, als daß die Komposition der Handlung sie zu stark anwachsen oder etwa gar das dominierende Jnteresse ihnen zufallen läßt. Die für diesen Zweck zu verwendenden Mittel sind sehr mannigfach. Das Hauptmittel wird immer sein, daß die Richtigkeit und Kraft in der Gesinnungs- und Handlungsweise, also die Phronesis, in der am meisten bestimmend hervortretenden Person derart überwiegend sind, daß die Sicherheit des entsprechenden Erfolges von vorneherein gegeben ist: ein Umstand, der in alle Verzweigungen der Handlung hinein sich fortwährend geltend machen, den Ton und die Haltung des Ganzen fortdauernd beeinflussen, gleichsam die Atmosphäre des Stückes bilden wird, die dem Zuschauer ein leichteres und freieres Atmen gestattet. Jn einfachen Handlungen, die ohne Verwickelungen durch ihre eigene Wucht zu ihrem Ziele gelangen, wird dies das einzige zur Verwendung kommende Mittel sein; am meisten bei großen historischen Stoffen, die für eine derartige dramatische Behandlung vorzüglich sich eignen. Als Beispiele dienen Schillers „ Wilhelm Tell “, Ein Stück, welches freilich bei der überwiegend epischen Natur seines Stoffes im Übrigen eine ganz anomale Stellung innerhalb seiner Gattung hat. der zweite Teil von Shakespeares „ Heinrich IV.“ und sein „ Heinrich V.“; hier wie dort ist der Held nicht allein der Typus männlicher Kraft und Entschlossenheit, sondern zugleich der Repräsentant der Tüchtigkeit eines ganzen Volkes, dessen gute Sache uns mit fester Zuversicht erfüllt. Anders liegt die Sache bei verwickelten Süjets. Ganz wie bei der Tragödie besteht auch hier die Verwickelung entweder in Peripetie oder in Erkennung, oder einer Vereinigung beider Formen, nur daß umgekehrt die Peripetie hier damit sich vollzieht, daß der Handelnde durch die Willensentscheidungen, durch die er meint, sein Unglück zu besiegeln, sein Glück bewirkt, und daß ebenso die Erkennung die Befürchtung eines nicht vorhandenen Mißgeschickes in die Glücksgewißheit verwandelt. Es liegt auf der Hand, daß in diesen Fällen die Erregung von Befürchtungen und mitleidigen Rührungen nicht vermieden werden kann, sondern vielmehr durch die Kompositionsweise der Handlung geboten ist: aber hier zeigt sich mit einer für die Erkenntnis dieser ganzen Gattung sehr förderlichen Evidenz, auf wie ganz andere Weise die sichere Klarheit des Genies diese Fälle behandelt als die bloße Routine, welche die Gattungen vermengt, weil sie keiner gerecht zu werden vermag. Das Genie ist unerschöpflich in Hilfsmitteln, um jenen Befürchtungen und Rührungen das Beängstigende und Beklemmende zu nehmen und sie für den Zuschauer womöglich ganz aufzuheben; dagegen pflegen die mittelmäßigen Dichter, in der Meinung, die Vorzüge des Tragischen mit der behaglich=freudigen Wirkung des befriedigenden Ausganges zu vereinen, jene bedrohlichen Momente so viel als thunlich zu verstärken und namentlich die Rührungen zu steigern, als ob das schwelgerische Verweilen darin für sich selbst den Kunstzweck bildete, während nichts so sehr geeignet ist, ihn völlig zu vereiteln. Gilt es doch, das Empfindungsurteil so frei als möglich zu halten für die innige Freude am richtigen Thun und für das rechte Gefühl des Verkehrten, mag dasselbe nun in edlem Unwillen sich ausdrücken, im ruhig überlegenen Lächeln besserer Einsicht oder in unwiderstehlich ausbrechendem Lachen. Auch hier ist Shakespeare der unvergleichliche, nie genug zu bewundernde Meister. Natürlich wird in seinen, dieser Gattung zugehörigen, Stücken jenes Wesentlichste nirgends fehlen, daß diejenige Person, der die entscheidende Einwirkung auf den Verlauf des Ganzen zufällt, mit der Gesundheit und dem natürlichen Geburtsadel der Seele ausgestattet sei, die den Grundbestand der Phronesis ausmachen; ebensowenig fehlt es in der Mehrzahl seiner Komödien. Es genügt, die Namen Jmogen, Porzia, Jsabella, Helena, Prospero zu nennen; und wer fühlte sich nicht gedrungen, ihnen sogleich Lessings Nathan und Recha zu gesellen? Für die Komödie sprechen ebenso die Namen Viola und Sebastian, Beatrice und Hero, Rosalinde und Orlando, und neben ihnen nicht minder Lessings Minna, Tellheim und Franziska. Dieses Haupterfordernis also hat die verwickelte Handlung mit der einfachen gemein. Für die Form der Erkennung aber kommt am meisten das fast durchgehends angewandte Mittel in Betracht, daß die Unkenntnis wichtiger Umstände und Verhältnisse nicht als eine vom Schicksal verhängte vorausgesetzt, sondern daß sie durch absichtliche Veranstaltung in der freundlichen Absicht hervorgebracht wird, um durch ihre Verwandlung in Kenntnis die bestehenden Hindernisse desto glücklicher zu überwinden. Mag nun im Gefolge derartiger Verwickelung selbst für die Mehrzahl der Beteiligten Befürchtung und Rührung, sogar der Schein ernstester Tragik entstehen, so bleibt Alles doch eben für den Zuschauer nur Schein, der glückliche Erfolg ist gesichert und die vollste Gemütsfreiheit für ihn gewahrt. Zu solcher weislichen Täuschung gesellt sich die dieser dramatischen Gattung eigene Art von Peripetie von selbst hinzu, wenn, durch jene veranlaßt, die davon Betroffenen in freier Entschließung das für die Wahrung ihrer Jntegrität scheinbar unvermeidliche Unglück erwählen, und dasselbe sich durch die Erkennung ihnen in das freiwillig verloren gegebene Glück verwandelt. Ein Blick auf die als Beispiele angezogenen Stücke zeigt, wie mannigfacher Variationen diese eine Form fähig ist. So hat in „ Maß für Maß “ der Herzog die ganze Verwickelung fortwährend in seiner Hand, die ganze Tragik derselben existiert nur scheinbar für die Beteiligten, sie kann das Gemüt des Zuschauers keinen Augenblick ernstlich belasten, wohl aber hat sie zur Folge, daß der auf das Präziseste bestimmten Handlungssituation, die sie erschafft, gegenüber sich fast alle denkbar möglichen Arten des Verhaltens hinsichtlich der geforderten Wahrheit und Richtigkeit im Fühlen, Denken, Begehren und Handeln in typischer Weise auf das Klarste dem Empfindungsurteil darstellen. Die Erkennung bringt der Heldin das verdiente Glück, den Bedrohten Rettung; die Peripetie zeigt, wie gerade die härteste Entsagung der Heldin den sichersten Weg zu diesem Glücke ebnete, während sie auch für Angelo keineswegs eine Wandlung von Glück in Unglück bedeutet, sondern, indem sie ihm die verdiente tiefe Demütigung zuzieht, durch Abwendung der verderblichen Folgen seiner Verirrung ihm die Möglichkeit der Umkehr gewährt; zugleich wird damit dem Zuschauer das volle Gefühl der befriedigten Nemesis erregt, mit welchem Ausdruck die Griechen die Empfindung des gerechten Unwillens bezeichnen. Ein unvergleichliches Muster dieser ganzen Gattung. Schon an dem Beispiele von „Maß für Maß“ tritt eine fernere dieser Gattung eigentümliche Eigenschaft hervor, deren genaue Erörterung wichtig ist, weil aus dem starken Vorwalten derselben, in ähnlichen Fällen wie der vorliegende, höchst verwirrende Schlüsse für das Wesen der ganzen dramatischen Dichtung gezogen sind. Bei dieser speziellen Gattung hat die Komposition des Stückes den Zweck, durch Handlungen, in denen die Phronesis und die Abweichungen von derselben bis in ihr Gegenteil hinein zur Erscheinung kommen, vermöge ästhetischen Urteils die Empfindungen des Wohlgefallens und der Nemesis in wechselseitiger Läuterung zur höchsten Klarheit und Gewißheit herzustellen und so der Seele in freudiger Erhebung den Genuß vollster Kraftentfaltung nach dieser Seite hin zu verschaffen. Dazu können nun zwar die verschiedenartigsten bedeutenden Handlungen den Anlaß geben: es kann sich dabei um Vaterlandsgefühl, um Freiheitsliebe, um Gatten- und Freundestreue, um jedwedes wichtiges Lebensverhältnis handeln; überall bedeutet ja doch die Phronesis die den bleibenden Besitz bildende, das ganze Wesen durchdringende Wahrheit und Richtigkeit des Fühlens, Denkens und Begehrens. Da aber eine jede Handlung und jede Verflechtung von Handlungen diese Fähigkeiten nicht zugleich in ihrer Universalität herausfordert, sondern vorzugsweise nach einer einzelnen Seite hin, wenn auch niemals einseitig oder vereinzelt, so kann es hier geschehen, daß durch den Handlungsverlauf nicht allein das Verhalten bestimmten Lebensverhältnissen gegenüber eine besonders scharfe Beleuchtung erfährt ─ was diese Gattung mit der Tragödie und überhaupt mit aller dramatischen Dichtung gemein hat ─, sondern daß, da bei der Phronesis die Richtigkeit der Einsicht eine so große Rolle spielt, eine bestimmte theoretische Frage in den Mittelpunkt der Handlung tritt, „praktisch“ darin zur Erledigung kommt, eine Möglichkeit, die zwar in der Komödie gleichfalls vorhanden ist, die aber der Tragödie notwendig ganz fern liegt. Nur bei der verhältnismäßig geringen Zahl von so gearteten Dramen hat es einen Sinn von der Jdee des Stückes zu sprechen, die zwar keineswegs den „Gegenstand“ der Nachahmung bildet, wohl aber den Mittelpunkt der Handlung, die demselben dienstbar gemacht ist. Nun aber hat man, was bei diesen einzelnen Dramen so augenfällig zu Tage tritt, auf die ganze dramatische Gattung ausgedehnt, und es ist zu einem sehr weit verbreiteten Jrrtum geworden, eine jede dramatische Dichtung auf die ihr zu Grunde liegende „ Jdee “ zu untersuchen. Es ist höchst verkehrt, eine spezifische „Jdee“ des „ Ödipus “ oder der „ Antigone “, im „ Othello “ oder in „ Romeo und Julie “, selbst des „ Ajas “ oder „ Coriolan “ zu konstruieren; mit vollem Rechte dagegen wird man sie in des Äschylus „ Eumeniden “ erkennen, wie später des Näheren zu erörtern. Entweder nämlich findet man in allen jenen Tragödien ein und dieselbe Jdee, daß unter verhängnisvollen Umständen ein kleiner Fehl den edelsten Menschen ins Verderben stürzt, welche eben die Jdee der Tragik selbst ist, oder man gelangt zu Sätzen wie diese, daß leidenschaftliche Liebe, Eifersucht, leicht verletztes Ehrgefühl, zu weit getriebene Pietät oder Wißbegier zum äußersten Unglück führen, die erstlich nicht „Jdee“ zu nennen sind und zweitens der Wahrheit entbehren, denn alles Derartige wird eben verderblich nur durch die Macht der tragischen Verhältnisse. Jn wenigen Stücken tritt die „Jdee“ als Trägerin der Handlung so deutlich hervor wie in Shakespeares „ Maß für Maß “: daß nämlich der durch den Titel ausgedrückte starre Rechtsgrundsatz der rücksichtslosen Vergeltung mit wahrer und reiner Menschlichkeit unvereinbar ist, gleichmäßig dem richtigen Denken und dem reinen Fühlen widerstrebend, und daß diejenigen, die seine Durchführung am strengsten verlangen, ihm selbst am ehesten verfallen. Diese Jdee trägt die Handlung, aber sie ist keineswegs der Gegenstand der Darstellung, der hier wie überall in der Gattung, der das Drama zugehört, vielmehr der folgende ist: an der so aufgebauten Handlung reine Menschlichkeit in möglichst weitem Umfange und gleicherweise die Abweichungen davon in bestimmtester Klarheit zur Äußerung und damit zur Empfindung zu bringen. Es liegt auf der Hand, daß durch solche in der dramatischen Komposition von Anfang bis zu Ende sich geltend machende Anlage ein weiteres Mittel gegeben ist, die tief aufwühlende tragische Erregung nicht aufkommen zu lassen, an deren Stelle von Anbeginn die aufmerksame Betrachtung und das ruhig abwägende Empfindungsurteil sich behauptet. Ein ganz analoger Fall liegt im „ Kaufmann von Venedig “ vor; auch hier bildet den Mittelpunkt der scheinbar aus den heterogensten Elementen bunt zusammengewebten Handlung eine Jdee, die durch den lebensvollen Reichtum dieser kunstvollen Komposition in wahrhaft universeller Weise nach allen Richtungen hin entfaltet ist. Es ist die Jdee der wahrhaft richtigen Schätzung und Haltung, der echten Phronesis also, gegenüber der Frage des Erwerbes und Besitzes, die, in ihren tiefgreifenden Beziehungen zu den wertvollsten Lebensverhältnissen vorgeführt, Gelegenheit gibt sowohl die edelste Erfüllung ihrer Forderungen zu zeigen als die Abweichungen davon bis zu ihrer empörendsten Verneinung. Jm Vordergrunde steht, wie der Titel es anzeigt, der königliche Kaufmann, dessen reicher Gewinn aus großartiger Vermittelung des Warenaustausches fließt zum allgemeinen Nutzen ohne irgend Jemandes Schädigung; seine edle Natur, die ihn zu unbegrenzter Freigebigkeit treibt, schützt ihn doch nicht völlig vor den Gefahren überreichen Besitzes: allzugroßer Sorglosigkeit und jener ohne Anlaß die Seele belastenden Traurigkeit, die als Begleiterin des Überflusses allzu leicht sich einstellt und die das Stück so bedeutsam an ihm hervorhebt. Ja, dieselbe ist ein höchst wesentlicher Faktor für den Aufbau des Ganzen: diese Apathie und Gleichgültigkeit gegen die eigenen Jnteressen ist die einzige Stimmung, welche das Eingehen auf den wunderlichen und insidiösen Vertragsvorschlag Shylocks als möglich erscheinen läßt. Es ist überflüssig das in diesem Gegner Antonios bis zur äußersten Konsequenz entworfene Gegenbild nachzuzeichnen; an ihm führt die Handlung eine der vollendetsten Peripetien durch, welche die Bühne kennt. Mit welcher Kunst aber ist die zweite Haupthandlung in diese erste hineingewoben! Die vollendetste Symbolik, das heißt die den reizvollen Schein des Lebens mit der tiefsten Bedeutsamkeit verbindet, ist hier vom Dichter zu Hülfe genommen: ein weiteres dieser dramatischen Gattung in hohem Grade zu statten kommendes Darstellungsmittel. Die rechte Empfindungs=, Gesinnungs- und Handlungsweise, wie sie der Frage des Besitzes gegenüber sich äußert, wird hier allen Proben unterworfen, durch die sie sich in dem Verhältnis wahrer Freundschaft, echter Liebe und darauf gegründeter Ehe bewähren kann. Die Wahl des Kästchens, wodurch Porzia allein gewonnen werden kann, hat, deutlich ausgesprochen, diesen symbolischen Sinn; ebenso das Spiel mit den Ringen, das zudem durch die damit verbundene Täuschung und Erkennung in einer für die dramatische Komposition höchst glücklichen Weise verwertet wird. Denn in dieser Verwickelung verflechten sich nun beide Haupthandlungen, die Peripetie der einen mit der Erkennung der andern, zu einem einzigen Knoten, dessen Lösung das Ganze zum Abschluß bringt, indem sie zugleich für die das Ganze erfüllende Jdee die reinste Klärung einschließt; und zwar zu einem Teile durch die Jndignation über die Verfehlungen gegen dieselbe und zu einem weit größeren durch die reiche Freude an der Harmonie der vollen Einstimmung mit ihr. Es ist ein Jrrtum, wenn man gemeint hat, daß in der Rechtsfindung Porzias ihr Charakter, sowie das ganze Stück, gipfeln: der materielle Jnhalt des Spruches rührt von dem gelehrten Bellario her; aber es ist ein sehr schöner Gedanke des Dichters, diese Rettung gegen das formale Recht, welches, wenn auch im Widerspruche gegen das Gefühl, gerade in Bezug auf Besitzverhältnisse die strengste Aufrechthaltung fordert, durch den klugen, klaren Weibessinn zu vermitteln, der hier der Stimme der Natur und der Gerechtigkeit zugleich Geltung verschafft. Es ist der Triumph der Shakespeareschen Kunst, in der ihm Keiner gleichkommt, daß, wenn er durch die scharfe Ausprägung der Handlung an der in den Mittelpunkt gestellten Jdee die schöne Gesundheit und Richtigkeit seiner Charaktere sich glänzend entfalten läßt, er durch den unvergleichlichen Reichtum seiner Handlungskompositionen zugleich die weitesten Konsequenzen dieser Jdee zeigt und die Totalität der Charaktere in ihrer ganzen Fülle vorzuführen weiß. Wie in einem mit künstlerischer Weisheit angelegten Gemälde heben die mannigfaltigen Farbennüancen sich gegenseitig, und neben den tiefdunkeln Schatten strahlt die Leuchtkraft der hellen Gestalten in um so entzückenderer Frische. So ist im „Kaufmann“ die nebengeordnete, Lorenzo und Jessica betreffende Handlung nicht allein als verstärkendes und erklärendes Motiv für die extreme Aktion Shylocks wirksam, sondern sie dient zugleich sehr wesentlich der Hauptidee, indem sie die totale Zerstörung aller Pietätsverhält= nisse durch die Alleinherrschaft der Erwerbs- und Besitzesleidenschaft offen legt; ferner, wie in einer Art von Peripetie gerade das Uebermaß dieser Leidenschaft ihren Gegenstand selbst zerstört, und endlich, wie es das gleichsam prädestinierte Schicksal so zusammengehäuften Besitzes ist, durch die achtloseste Verschwendung zerstreut zu werden. Jn Jessicas Handlungsweise steckt ein tragischer Keim, was mit Unrecht geleugnet worden ist; Am entschiedensten von Gervinus, in der das Stück betreffenden Abhandlung seines Buches über „ Shakespeare “; vgl. 3. Aufl. I. S. 293: in Jessica's Flucht ist ihm „das Unrecht Recht“. gerade deshalb, weil er durch keine Behandlungsweise hinwegzubringen ist, hat ihn der Dichter lieber ganz ignoriert, was in einer Nebenhandlung angeht, sonst unmöglich wäre. Dieses Jgnorieren übersehen zu machen, wendet der Dichter auf diese sonst zurücktretenden Figuren reichen Schmuck der Anmut, der Laune und des Geistes. So dienen sie obenein mit Graziano und Nerissa als willkommene Folie für Bassanio und Porzia: dieses das Ganze am herrlichsten schmückende Juwel, das unter dem Lichte der die Dichtung erfüllenden Jdee seinen Glanz gleichmäßig nach allen Seiten hin ausstrahlt. Wie enge der Zusammenhang dieser dramatischen Gattung mit dem eigentlichen Lustspiel ist, zeigt eine Vergleichung des „Kaufmann von Venedig“ mit Lessings „Minna von Barnhelm“, deren Ähnlichkeit größer ist als es auf den ersten Blick scheint. Freilich kommt nur die eine Hälfte der Shakespeareschen Handlung in Betracht: wie hier ist auch bei Lessing die Stellung zu der Frage des Besitzes der ideelle Kern der Handlung; Liebe und Eheschließung bei obwaltender Ungleichheit des Besitzes, daraus entstehende Verwickelung sind hier wie dort die Motive der Komposition; statt der Freundschaft bildet die Ehre den Prüfstein; ein schalkhaft=anmutiges Verwechselungsspiel, wozu in beiden Stücken das Symbol der Treue, der Ring, verwendet wird, das dort nur die Trefflichkeit der auf beiden Seiten herrschenden Gesinnungsweise zu Tage legt, dient hier dem gleichen Zweck in hervorragender Weise und hilft zugleich der Handlung zu dem heitern Abschlusse. Tragische Elemente fehlen in der Anlage dieser Handlung gänzlich; aber ebenso entbehrt sie der eigentlich komischen, obwohl Lessing selbst das Stück ein „Lustspiel“ nennt und es auch immer dafür angesehen worden ist. Der neugierige Wirt und der Glücksritter Riccaut sind nur episodisch, und wenn Just, Werner und Franziska echte Lustspielfiguren sind, so sind doch auch sie nur nebengeordnet und vor allem, es sind positive Charaktere, sie wirken weniger komisch als erfreulich; der Hauptcharakter und die Haupthandlung haben nichts Lächerliches an sich, sie sind durchaus ernst. Durch die Darstellung des Fehlerhaften als solchem wohlgefällig zu wirken ─ die eigentliche Aufgabe der komischen Kunst ─ ist nicht der Nachahmungszweck dieser Dichtung; ihre im höchsten Grade erfrischende und klärende, wahrhaft erfreuende Wirkung beruht auf einer Einrichtung und Durchführung der Handlung, die dem Stücke den Platz mitteninne zwischen jenen ernsten Dramen und der Komödie anweisen. Die Schicksalsverwickelung spannt die Erwartung sehr ernstlich, ohne sie jemals tragisch zu beunruhigen, und ihr Verlauf dient in vorzüglicher Weise dazu, an der delikaten Frage, die im Mittelpunkte steht, die reine Anschauung gesundester und richtigster Gefühls- und Handlungsweise und mannigfaltiger, wenn auch fast durchweg aus edler Jntention hervorgehender Abweichungen davon der Empfindung zu vermitteln und ihr so die Möglichkeit höchster hedonischer Bethätigung zu gewähren. Sicherlich steht diese dramatische Gattung an ergreifender Gewalt der Tragödie nach; doch vermag sie diesen Verlust hereinzuholen und ebenbürtig ihr zur Seite zu treten, vermöge der ihr eigentümlichen Fähigkeit die Resultate reichster Erfahrung und tiefster Einsicht durch die nachgeahmte Handlung im Gefühl lebendig zu machen: ohne Vermittelung der Reflexion die Empfindung mit dem Jnhalt echter Weisheit zu nähren und die wahre Freude an ihrer reinen Erscheinung zu erwecken. Es gibt eine merkwürdige Dichtung Shakespeares, aus seiner spätesten Zeit, deren unaufgeschlossene Rätsel sämtlich sich lösen, wenn man als den Gegenstand der durchaus symbolischen Komposition die Darstellung des Wesens und Wirkens jener dramatischen Gattung selbst erkennt. Daß „ Der Sturm “ eine Menge symbolischer Elemente enthält, hat die Kritik von jeher anerkannt: Prosperos ganze Erscheinung, zahlreiche gewichtige Worte aus seinem Munde, die Gestalt Ariels, vornehmlich die seltsame Erfindung Calibans tragen diesen Stempel mit größester, jeden Zweifel ausschließender Deutlichkeit. Doch, wie fast überall gegenüber der symbolischen Dichtung, ist die Erklärung bei dem bloßen Bilde, das der Dichter für seine Jdeen gewählt hat, stehen geblieben, als ob damit schon der Jnhalt gefunden sei; so hat hier die am meisten frappierende Figur des Caliban die Deutung dabei festgehalten, daß es sich um das Verhältnis der Übergewalt sowohl als der Schwächen der Kultur zu den kannibalischen Urzuständen der Wilden handle, und daß die Einheit der mannigfaltigen Vorgänge des Stückes darin bestände, in diesem Verhältnis die Gegensätze von berechtigter und unberechtigter Usurpation zu zeigen, oder noch allgemeiner, von Beson= nenheit und Weisheit auf der einen, von Bosheit und bestialischer Roheit auf der andern Seite. Es ist dabei gänzlich übersehen, daß eine derartige Erklärung ihre Aufgabe, die Einheit der Handlung zu zeigen, keineswegs erfüllt, daß sie sich darauf beschränkt, einzelne Charakterzüge der handelnden Personen in Verbindung zu bringen, dagegen den Zusammenhang der drei Handlungen selbst, aus denen das Stück sich zusammensetzt, also das eigentliche thema probandum , außer Acht läßt. Das einigende Moment der Handlung des Stückes ist, wie der Titel es ankündigt, der Sturm, den Prospero durch seine Kunst erregt; alles, was ferner geschieht, geht in Konsequenz dieses Sturmes vor sich: die durch denselben erschütterten Gemüter der vermöge jener Veranstaltung in seine Gewalt Gegebenen setzt Prospero nach seinem Willen in weitere Bewegung mit Hülfe desselben Ariel, der auch dort seine Befehle vollzog. Jn diesen Wirkungen besteht die Handlung des Stückes. Nicht dasjenige, was durch diese Handlungen erzielt wird, ist ihr Gegenstand, sondern sie selbst sind es. Zunächst also bei allen durch Prosperos Zaubersturm in das Machtgebiet seiner Jnsel Eingeschlossenen eine tiefgehende Erschütterung, die, je nach der Verschiedenheit ihrer Gemütsart, bei den Einen schmerzliche Niedergeschlagenheit, tiefe Einkehr in sich selbst erzeugt, die Vorboten eingreifender Sinneserneuerung, bei den Andern Verstockung und Bereitschaft zur äußersten Bosheit; dagegen zeigt Gonzalo die heitere Ruhe und hülfsbereite Fassung einer in sich gefestigten, treuen Seele; und in den Trägern der Nebenhandlung äußert sich eine Mischung von burlesker Angst und possenhafter Roheit. Die weitere Entwickelung enthält nun weiter nichts als eine gesteigerte Äußerung dieser Dispositionen durch Ariels luftige Vorspiegelnngen, und das endliche Ergebnis resümiert sich für die Haupthandlung in folgendem: Zwischen Ferdinand und Miranda knüpft sich ein durch in äußerster Kürze angedeutete Prüfungen gefestigter Liebesbund; in Alonso kommt aufrichtige Reue zum entschiedenen Durchbruch, während Antonios und Sebastians Bosheit lediglich entlarvt wird, ohne daß sie äußerlich bestraft oder innerlich umgewandelt oder auch nur erweicht erschienen. Das ist alles! Dazu kommt freilich das Andere, daß Prospero sich mit diesem Erfolge völlig zufriedengestellt erklärt, daß er seiner Zaubergewalt, da sie ihren Zweck erfüllt hat, entsagt, Ariel, seinen Werkmeister, entläßt und der Restituierung in seine vollen Rechte sicher ist. Wenn so der äußere Verlauf der Haupthandlung ein höchst dürftiger ist ─ denn im Grunde geschieht nichts außer einer Verlobung; das Attentat Antonios bleibt unvollendet und hat zudem für das Schlußergebnis auch nicht die geringste Bedeutung, alles andere sind rein innerliche Vorgänge ─ so ist der Jnhalt der parallel laufenden Nebenhandlung noch viel geringfügiger: aus der Verbrüderung Calibans mit seinen Spießgesellen entsteht, da der in der Trunkenheit geplante Mordanschlag gar nicht einmal ernstlich versucht wird, in der That nichts als der Diebstahl einer Anzahl von Kleidungsstücken, die am Schlusse wieder ausgeliefert werden. Eine innere Verbindung dieser ganzen Partie des Stückes mit der Haupthandlung fehlt ganz und gar; nur insofern ist sie allerdings der andern völlig ähnlich, als die Personen derselben ganz ebenso wie dort in ihren Seelenzuständen von den Wirkungen, die Prosperos Zaubergewalt durch Ariels Vermittelung über sie ausübt, abhängig gezeigt werden. Shakespeares Kunst war reich genug, um diese Scenen so seltsam und lustig auszustatten, daß die Dürftigkeit der Handlung dadurch verdeckt wurde: aber wo ist in allen seinen Stücken das zweite Beispiel einer Handlung, die für sich selbst so unbedeutend und zwecklos wäre als dieser Kleiderdiebstahl Stephanos und Trinculos, auf den nichtsdestoweniger am Schlusse von Prospero mit besonderem Nachdrucke hingewiesen wird? Es zeigt sich hier wie überall in Anlage und Ausführung des Ganzen, daß bei aller Gegenständlichkeit der Darstellung der eigentliche Zauber, den es ausübt, tiefer liegt, von einem im Jnnern verborgenen Jdeengehalt ausgehend, der die Form des ganzen Organismus inhaltlich erschaffen hat und jede Bewegung desselben bestimmt. Aus dem Reiche, worin er herrschen sollte, verstoßen, sammelt Prospero in der Einsamkeit seines Eilandes die Schätze tiefster Einsicht in das Wesen der Dinge und einer Weisheit, die ihm statt der verlorenen Herrschergewalt im Leben die Macht über das Reich der Geister verleiht. Dort hat er sich eine Tochter von wunderbarer Schönheit auferzogen, die unter seiner Leitung in Sinn und Gemüt als sicheren Besitz das lautere Gold seiner Lebensweisheit aufnimmt. Die Handlung des Stückes beginnt nun mit dem Sturm, den seine Kunst erregt, um „seine Feinde, die durch seltene Schickung das güt'ge Glück seinem Strande genähert hat“, in seine Gewalt zu bringen. Diesen Sturm schildert die Eingangsscene in voller Anschaulichkeit; Miranda ist in tiefster Seele erschüttert von dem furchtbaren Anblick, „stets noch tobt's ihr im Gemüt“ von seinen Schrecknissen: sogleich aber beruhigt sie Prospero: „Fasse dich! Nichts mehr von Schreck! Sag' deinem weichen Herzen: Kein Leid geschah.“ Und auf ihren erneuten Jammerruf noch einmal: „Kein Leid“. Er legt den Zaubermantel ab, um in ruhiger Exposition ihr die Lage und seine Absicht zu erklären. Auch die folgende Scene ist noch ausschließlich der Vorbereitung der Handlung gewidmet, die erst mit dem Auftreten Ferdinands ihren Anfang nimmt: sie orientiert in umfassender Weise über das Wesen Ariels und Calibans, die in höchst absichtlichem Gegensatz einander gegenübergestellt werden, und über ihr Verhältnis zu Prospero, ihrem Meister und Herrn. Diese sehr breit und sorgfältig ausgeführte Scene enthält den Schlüssel des Ganzen. Es ist hier der Ort und Raum nicht für überzeugende Herleitung und eingehende Begründung der Einzelheiten dieser wunderbaren Komposition; es können nur die Resultate gegeben werden. Ariel und Caliban, beide sind Geschöpfe der Phantasie; daß sie zu einander im Verhältnis des Gegensatzes stehen, der eine in Beziehung auf den andern gedacht ist, zeigt der Dichter unverkennbar an. Eigens um beide einander gegenüberzustellen, läßt er Ariel, den Prospero fortgeschickt, noch einmal zurückkommen in Gestalt einer Wassernymphe; „ach, schönes Luftbild! Schmucker Ariel, hör' insgeheim!“ redet Prospero ihn an, um sogleich sich an Caliban zu wenden: „Du gift'ger Sklav, gezeugt vom Teufel selbst mit deiner bösen Mutter! komm heraus!“ Aber nicht nur hat die Phantasie diese Gestalten geschaffen, sie selbst hat in ihnen Gestalt angenommen! Die immerfort sich wandelnden Formen, in denen Ariel erscheint, gehören sämtlich den herrlichen Bildungen der griechischen Mythologie an, es sind die unvergänglichen Verkörperungen des als psychisches Leben aufgefaßten Naturwaltens, ewig schön und richtig, verständlich und zauberhaft ergreifend für alle Zeiten, weil der mit regstem Sinn erfaßten reinen Betrachtung entsprungen. So ist denn auch sein „zierlich Spüken“ durch die ganze Dichtung hin nichts als die bald reizvoll, bald drohend sich kund thuende Kondensation und Abbreviatur wirklicher Naturvorgänge und damit verbundener psychischer Bewegungen. Der Einsicht seines weisen Meisters dienstbar leitet er, unermüdlich geschäftig, die ganze Handlung des Stückes nach dessen Weisung. Dagegen ist Caliban von widrig zwitterhaft monströser Gestalt, nur fähig zu Schändlichkeit und Bosheit; seine verworfene Sklavennatur kann nur durch despotische Zucht niedergehalten und so allein seine brutale Kraft zu grobem Dienste verwertet werden. Der Lebensodem Ariels ist Freiheit und Grazie, die Sphäre Calibans knechtische Gebundenheit und über die Grenzen der Natur hinausgehende Häßlichkeit. Nimmt man nun die Geschichte beider hinzu, so enthüllt sich die wunderbar tiefsinnige und reizvolle Symbolik des Dichters. Wir erfahren, daß Caliban aus einer Verbindung des Teufels mit der Hexe Sycorax hervorgegangen ist, einer Hexe, die „so stark war, daß sie den Mond in Zwang hielt, Flut und Ebbe machte, und außer ihrem Kreis Gebote gab“; auf der Jnsel, die Prospero zu seinem Reich gemacht, hat sie den mißgeschaffenen Sohn zurückgelassen. Jhr Diener war damals auch Ariel, doch „allzu zart geschaffen, entzog er sich ihrem groben Dienst, und ward durch ihre unzähmbare Wut mit ihrer stärkeren Diener Hülfe in einer Fichte Spalt verschlossen“. „Ein Dutzend Jahre hielt diese Kluft ihn peinlich eingeklemmt. Sie starb in dieser Zeit;“ von dort hat ihn Prosperos Kunst befreit; unter dessen Gebot entfaltet er nun allen Reichtum seiner unerschöpflichen Kräfte in freudigster Thätigkeit. Nur ein Verlangen ist mächtiger in ihm, als diese Freude, Prospero zu dienen: die Sehnsucht nach unbedingter Freiheit in seinem eigenen Reich, den Elementen. Das scharf ausgeprägte Bild Ariels und sein Verhältnis zu Prospero erhellt mit seinem leuchtenden Farbenglanz diese ganze Erdichtung bis in alle ihre Einzelheiten. Die reine Güte und tiefe Weisheit, aus dem Reiche, wo sie herrschen sollte, dem thätigen Leben, verbannt, verstoßen, gerade weil sie dem Höchsten nachtrachtet, rettet sich auf die unbewohnte Jnsel, wo die Luft- und Elementargeister ihr bisher uneingeschränktes Spiel treiben. Kein Zweifel, daß dieses Gebiet den weiten Bereich des mächtigen Phantasiewaltens bezeichnet, kein Zweifel aber auch, daß Shakespeares Genius sich hier keineswegs zu einem Spiel mit allgemeinen allegorischen Begriffen herabläßt, sondern daß er einen ganz bestimmten, ihn selbst auf das Nächste und Bedeutsamste angehenden Vorgang zu farbenreichem, dramatischem Leben erhöht hat. Es ist derselbe Gedanke, dem Schiller in seinen „Künstlern“ die folgenden Worte geliehen hat: Von ihrer Zeit verstoßen, flüchte Die ernste Wahrheit zum Gedichte Und finde Schutz in der Camönen Chor. Jn ihres Glanzes höchster Fülle, Furchtbarer in des Reizes Hülle, Erstehe sie in dem Gesange Und räche sich mit Siegesklange An des Verfolgers feigem Ohr. Aber was Schiller in seiner pathetischen Weise allgemein abstrakt ausgedrückt hat, ist von Shakespeare in lebendigem Vorgange individualisiert. Er führt uns gleichsam in die Werkstätte seiner ausgereiften dramatischen Kunst und zeigt uns das Wesen der dort thätigen Kräfte bei ihrer Arbeit und in ihren Wirkungen. Es greift also jener Sinn der echten Phronesis, um seine Geltung im Leben zurückzugewinnen, sich kund zu thun, zu dem Mittel, durch Kunst die Geister nach seinem Willen zu zwingen, die dunkeln und wunderbaren Kräfte der Phantasie sich unterthan zu machen. Noch ist dies Gebiet wüst, unangebaut; was findet er dort vor? Jene Kräfte, welche die Kunst zu heilsamster Übung erzieht, sind auch zuvor in starker Thätigkeit; aber sich selbst überlassen, sind sie verwildert und wirken höchst unheilvoll. Die Hexe Sycorax, die Mond und Flut bezwingt, ist das Bild des wüsten, dunkeln Wahnes, der in der langen Nacht des Mittelalters dem „gift'gen Moor“ der Unwissenheit und Trägheit, der rohen Sinnlichkeit und feigen Angst entstieg; Bosheit und Sünde gesellen sich ihr zu: mit jener Hexe erzeugt der Teufel das groteske Gebilde des sklavisch niedrigen Aberglaubens. Häßlich, abschreckend von Gestalt, tierisch und gefährlich in seinen Äußerungen, von Angst erfüllt und Angst denen erregend, denen er überlegen ist, den seiner Macht Entzogenen ein Gegenstand der Verachtung und des Hohnes, ist Caliban das unübertrefflich erfundene Symbol dieser kranken Ausgeburt verwilderter Phantasie: ein „gift'ger Sklav“ dem weisen Prospero, ein „Mondkalb“ und „Monstrum“ dem trunkenen Stephano, dem schwachköpfigen Trinculo ein Schreckensgebild und eine „marktbare Kuriosität“ den weltmännischen Kavalieren des Hofes. Dieser rohe Aberglaube hat so lange die Gemüter beherrscht und jede freiere Regung daraus verbannt; in der überlegenen Weisheit und klaren Einsicht, die einer heiteren, bewußt sich selbst gestaltenden Thätigkeit der Einbildungskräfte freies und segensreiches Walten eröffnet, sieht er die gehaßte und gefürchtete Usurpation, die ihn unterjocht, aus seinem Besitze verdrängt. Jhn unterjocht, nicht aber ihn vernichtet, der nicht zu vernichten ist! Mit höchst bewundernswerter Feinheit hat Shakespeare dieses Verhältnis bis ins Kleinste ausgestaltet. Die vielhundertjährige Herrschaft des Aberglaubens hat ihm eine Macht über die Gemüter verliehen, die der Dichter keineswegs gesonnen ist zu entbehren; ja er verdankt, wie Prospero dem Caliban, seinem Studium mancherlei willkommene Kunde. Er lehrte ihn gewissermaßen sprechen und erfuhr von ihm manches fruchtbare Geheimnis, wie die Gemüter zu fassen, zu erschüttern, zu bändigen sind. So nimmt er ihn denn auch in seine Dienste, aber in die engsten Grenzen schließt er ihn ein, und gebraucht ihn nur zu streng bemessener, mechanischer Verrichtung, die durch seinen höheren Zweck erst die Bedeutung erhält. Nicht an= ders steht Caliban zu Prospero; lediglich um dies Verhältnis zu zeigen läßt Shakespeare den Prospero ihn herbeirufen; und auf Mirandas Gegenrede: „er ist ein Bösewicht, den ich nicht anseh'n mag,“ erwidert jener: „ Doch, wie's nun steht, ist er uns nötig: denn er macht uns Feuer, holt unser Holz, verrichtet mancherlei, das Nutzen schafft. “ Dazu nun Calibans wütender Ausbruch: „Dieses Eiland ist mein, von meiner Mutter Sycorax, das du mir wegnimmst. Wie du erstlich kamst, da streicheltest du mich und hielt'st auf mich, gabst Wasser mir mit Beeren drein, und lehrtest das große Licht mich kennen und das kleine, die brennen tags und nachts; da liebt' ich dich, und wies dir jede Eigenschaft der Jnsel: Salzbrunnen, Quellen, fruchtbar Land und dürres. Fluch, daß ich's that, mir! Alle Zauberei der Sycorax, Molch, Schröter, Fledermaus befall' euch. Denn ich bin, was ihr habt an Unterthanen, mein eigner König sonst; und stallt mich hier in diesen harten Fels, derweil ihr mir den Rest des Eilands wehrt.“ Das Folgende hebt diesen Zusammenhang der fiktiven Natur des Aberglaubens mit dem Material, dessen die Dichtkunst sich bedient, noch deutlicher hervor, während seine grob gemeine Natur ihn dennoch aus ihrer Gemeinschaft ausschließt. Es zeigt durchweg die grenzenlose Macht hoher Bildung und Kunst über die in tierischer Dumpfheit gebundene Phantasie; wenn auch widerwillig, selbst haßerfüllt, beugt sich die wüste Roheit ihrem Machtgebot, durch die Furcht vor ihrer drohenden Strafgewalt bezwungen: „Jch muß gehorchen; seine Kunst bezwänge Wohl meiner Mutter Gott, den Setebos, Und macht ihn zum Vasallen.“ Nur ein frappanter Zug sei noch erwähnt: Prospero hat den niedern Gesellen aus seiner Zelle verwiesen und ihn in enges Gefängnis gesperrt, weil „er versucht, die Ehre seines Kindes zu schänden“, der holdseligen „ Miranda “, die das „Wundergebild“ der Schönheit selbst ist. Dazu nun die keines Kommentars bedürfende Erwiderung des Unholds: „Ho, ho! Jch wollt', es wär' gescheh'n. Du kamst mir nur zuvor, ich hätte sonst die Jnsel mit Calibans bevölkert.“ Wenn Prospero somit den Sklaven nur zu gröberem und mechanischem Dienst für seine Zwecke heranzieht, so ist andrerseits dieser selbst ─ und, wie er, sind es die mit ihm Verbrüderten ─ der vollen, von ihnen aufs Höchste gefürchteten Wirkung seiner mächtigen Kunst preisgegeben. Die Dichtung schwelgt geradezu darin, an den verschiedensten Stellen und in den grellsten Farben die ängstigende, stechende, geißelnde, krampfig folternde Pein zu schildern, mit der die rächende Kunst die Äußerungen jener dumpfen Verstocktheit und boshaften Brutalität verfolgt, mögen sie nun in verderblichen Anschlägen sich gefährlich zeigen oder in unschädlich platter Gemeinheit sich verächtlich und lächerlich darstellen. Denn natürlich ist das in Caliban verkörperte schlimme Princip an zielbewußter, höchst gefährlicher Konsequenz dem Pöbel, um dessen Gunst es buhlt, den es sich dienstbar macht, da es seiner rohen Kraft bedarf, und den es doch beherrscht, bei weitem überlegen; ein paar bunter „Lumpen“, ihm zur Lockspeise aufgehängt, genügen, um dessen plumpe Gier abzuleiten und ernstes Unheil zu verhüten. Dagegen nun in Ariel die reizende Verkörperung jener gefälligen Formen, worin einst die griechische Phantasie, in deren Gestalten er nicht müde wird, sich immer aufs Neue zu kleiden, und dann die ihr verwandte, anmutig dichtende Kraft im modernen Volksglauben die ganze Fülle der Naturprozesse und seelischen Vorgänge als von geistigen und zugleich zu persönlichen Wesenheiten verdichtete Energien geleitet vorstellte: dieser ganze Jnbegriff hier als eine einzige, unendlicher Verwandlungen fähige Person gedacht! Es ist gleichsam der Urstoff der Poesie selbst, der durch die Elemente verbreitet ist, unendlich zart und doch von gewaltigen Kräften, jetzt mit sanfter Musik die Gemüter gefangen nehmend, dann sie zum Wahnsinn reizend und wieder mit heiligen Weisen sie beschwichtigend; „mit ihrer Hülfe“ vermag, wer diese Geister beherrscht, den Naturkräften zu gebieten, „am Mittag die Sonne zu umhüllen, die grüne See mit der azurnen Wölbung in Kampf zu setzen“, „Grüfte zu sprengen und Todte zu erwecken.“ Die Symbolik des Stückes löst sich nun von selbst auf. Es ist leicht verständlich, was Shakespeare im Sinne hat, wenn er auch Ariel als einen abhängigen Diener der Hexe Sycorax anführt, den anmutigen und ganz der Wahrheit des Natur- und Seelenlebens vertrauten Wahnglauben der Poesie. Die leicht gaukelnde Phantasiethätigkeit, deren Lebensatem die Freiheit ist, wird zur Entfaltung der ihr innewohnenden grenzenlosen Macht allein fähig durch die strenge und planvolle Leitung der Weisheit. Ohne ihre ebenso liebevolle als unbeugsame Herrschaft liegt die poetische Phantasie in unlösbarem Banne, unterjocht von den finstern und verderblichen Fiktionen des dumpfen Aberglaubens. „Ein allzu zarter Geist“ ist Ariel von der schnöden Hexe „in ihrer höchsten, unbezähmbaren Wut“ in das engste Gewahrsam verschlossen, wo er für ewig gebannt geblieben wäre, wenn ihn nicht Prospero's aus „seinen geliebten Büchern“ geschöpfte tiefe Kunde erlöst und zu neuem Leben erweckt hätte: ein herrliches Bild für die Zaubergewalt, mit der aus langem Schlafe die Wunder der Poesie gleichsam wie auf einen Schlag zum höchsten, reichsten Leben erweckt wurden, zu Shakespeares dramatischer Welt! Jst es gleichsam die reine Naturgewalt der poetischen Phantasie, die in Ariel sich darstellt, so ist sein Verhältnis zu Prospero durch sein unaufhörlich wiederholtes Begehren nach Freiheit charakterisiert, obwohl er gleichwohl dessen Dienst liebt und gern verrichtet, und sein Begehren ihm auch nicht eher erfüllt werden kann, ja ihm schroff und hart verweigert wird, als bis nach dem völligen Abschluß der Handlung, der sogar noch jenseits des Stückes liegt. Damit ist auf das Genaueste das Verhältnis bezeichnet, in welchem die frei waltende poetische Phantasie zu dem einsichtigen Willen steht, der sie für seine Zwecke ins Spiel setzt; von hier aus läßt der gesamte Plan des Stückes sich klar überschauen. So überraschend es auf den ersten Blick erscheint, Shakespeare hat in diesem seltsamen Stücke geradezu das Wesen jener von ihm so meisterlich beherrschten Gattung dargestellt, welche die Mitte zwischen der Tragödie und dem Lustspiel inne hält. Jns Kurze gefaßt würde die Deutung nun so lauten: Jm wirklichen Leben ihres Rechts beraubt findet reine, weisheitsvolle Einsicht in das Wesen der Dinge durch die Kunst das Mittel die verlorene Geltung wiederzugewinnen. Tiefste Kenntnis der Gesetze und Mittel der Kunst verschafft ihr über sie die Herrschaft; sie selbst, die goldene Phronesis, enthält, soweit wahres Glück erworben werden kann, die Gewähr es zu erlangen: „ Prospero “ daher der bedeutungsvolle Name dafür; sein Zauberbuch und Zauberstab sind die Symbole für das Verhältnis, in das sie zu der poetischen Kunst gedacht ist: Kenntnis ihrer Gesetze und Herrschaft über ihre Mittel. Und nun das Zeichen der tiefsten Einsicht Shakespeares in das Wesen der Kunst: er erkennt es deutlich und wird nicht müde, es auf das Schärfste hervorzuheben, daß es einen Zwang gegen die Freiheit der poetischen Phantasie ausüben heißt, wenn sie in den Dienst des Gedankens gestellt wird. Gleichwohl weiß er sie für seinen Dienst zu gewinnen, aber seine Herrschaft über sie erhält die glänzendste Rechtfertigung. Jst in Prospero die höchste Kultur der Vernunft und des Verstandes repräsentiert, so stellt sich in Miranda die Tochter solcher höchsten Kultur des Geistes dar, die reinste Klarheit, die volle unbewußte Gesundheit und doch zugleich in sich selbst völlig sichere Fassung des Gemütes, die wunderbar schönste Erscheinung, die im Reiche des Seelenlebens erblühen kann. Aus dieser Anlage der entzückenden Schöpfung des Dichters erklären sich alle Äußerungen, die er sie thun läßt, am meisten diejenigen, gegen welche sich der Tadel der Kritik gerichtet hat: jene Äußerungen, die so seltsam gemischt der unmittelbar sich hingebenden Natur und dem unbeirrten sicheren Bewußtsein des eigenen Seelenzustandes entspringen, in dem Munde des eben erblühten Mädchens, wenn man die tiefere Absicht des Dichters übersieht, allerdings befremdlich: Fort, blöde Schlauheit! Führ' du das Wort mir, schlichte, heil'ge Unschuld! Jch bin eu'r Weib, wenn ihr mich haben wollt, Sonst sterb' ich eure Magd; ihr könnt mir's weigern, Gefährtin euch zu sein, doch Dienerin Will ich euch sein, ihr wollet oder nicht. Es ist in Miranda gleichsam der reine Grundstoff verkörpert, aus dem die ganze Reihe der entzückenden Frauengestalten in Shakespeares „Schauspielen“ geschaffen ist. Aber welch ein Zeugnis für seinen Kunstverstand, daß er es unwiderleglich vor Augen führt, wie der vernünftige Gedanke die Poesie zu seinem Dienste zwingt, nicht um sich selbst zur Herrschaft zu bringen, sondern um jene wunderbare Tochter aus der Einsamkeit, in der sie ward, zum Glück und zu der gebührenden Geltung im Leben zu führen. Denn allein auf dieses Ergebnis zweckt die ganze Handlung ab. Auch die symbolische Prüfung und schwere, wenn auch kurze Dienstbarkeit, der Mirandas künftiger Gatte unterworfen wird, findet hierdurch ihre Erklärung; wenn auch ein freies Geschenk, so kann der köstliche Preis doch nicht mühelos gewonnen werden: ein höchst treffendes Symbol dafür, daß die dramatische Kunst, so wie ihre hohen Freuden nicht mühe- und schmerzlos genossen werden können, so weit mehr noch von dem, der sich zum Herren ihrer reichen Schönheit aufschwingen will, hartes Ringen, ja schweres Seelenleid fordert. Hier gilt selbst nicht der Adelstitel des Genies als Grund des Erlasses, so wenig der Prinzenrang Ferdinands ihn vor der strengen Probe Prosperos zu schützen vermag. Dieser herrlichen Tochter ist Prosperos rastloses Bemühen während der ganzen Handlung gewidmet; alle Wirkungen des von ihm erregten „Sturmes“ gehen darauf hinaus, die Gemüter der davon Ergriffenen diesem Hauptziele der Handlung, Mirandas Einsetzung in ihre Rechte durch die Ehe mit Ferdinand, willig oder gezwungen dienstbar zu machen. Die Wirkung und das Wesen der eigenen Kunst darzustellen, ist also der Gegenstand dieses wunderbaren Stückes; und zwar nicht der tragischen oder der komischen Kunst, sondern jener weisheitsvollen Poesie, die in den ernsten Dramen uns bezaubert, in welchen Shakespeare einzig dasteht, denen nur Lessings Nathan an die Seite zu setzen wäre. Kann es im Grunde in Erstaunen setzen, bei demjengen, welcher die Gesetze seiner Kunst wie kein Andrer in praktische Anwendung gebracht hat, auch das klare Bewußtsein derselben zu finden? Wie der „ Sturm “, den Prospero erregt, das Symbol für die Gewalt ist, mit der die Handlung des ernsten Dramas die Gemüter der Beteiligten ergreift, wie Ariels Walten die unmittelbare Darstellung der Macht einschließt, mit welcher die poetische Kunst des Dichters jene Gewalt verstärkt, ihre Wirkungen vertieft und auf das mannigfaltigste verwendet, so ist das Ziel dieser Handlung, Mirandas Ehebund, das Sinnbild für das Ziel solcher dramatischen Schöpfung: der reinen Schönheit das ihr gebührende Recht, ihr Anerkennung und Geltung zu gewinnen, d. i. sie zur vollen Wirkung gelangen zu lassen. Die hohe Kunst des Dichters hat hier keinen Zweifel gelassen: die dem äußeren Zusammenhange nach befremdendste Partie des Stückes ist diesem, das Ganze beherrschenden Zwecke dienstbar, wie sie denn auch auf den Höhepunkt der Handlung, in den Beginn des vierten Aktes, wo alle Fäden in einen Punkt zusammenlaufen, gestellt ist. Es ist das mythologische Festspiel gemeint, welches Prospero veranstaltet, um das Verlöbnis des jungen Paares einzusegnen. Doch ist es erforderlich, auf höchst bedeutsame Züge des wunderbaren Gedichtes hier zunächst noch einen Rückblick zu werfen. Die Jnsel, auf die das Stück uns versetzt, ist das Zaubereiland der Phantasie: als solches charakterisiert sie ebenso das wüste Gebahren Calibans wie Ariels „zierliches Spüken“. Nun ist es aber nötig, zu erinnern, daß unsere moderne Sprachgewohnheit mit dem Begriff der Phantasie einen seltsamen Mißbrauch treibt. Wir sprechen von der Macht, Gewalt, von der schöpferischen Kraft der Phantasie, gerade als ob in ihr der eigentliche Sitz des künstlerischen Vermögens wäre, ja wir sehen die Phantasie wohl als die wesentlichste Ausrüstung des Genies an; während sie doch in Wahrheit nur das Vermögen ist, empfangene Sinneseindrücke beliebig in der Vorstellung zu wiederholen, allerdings sie in beliebig anderer und neuer Anordnung und Zusammensetzung zu wiederholen. Aber die Jnstanz, die diese Wiederholung sowohl als die neue Anordnung bestimmt, ist nicht in ihr selbst enthalten, sondern sie liegt außerhalb. Welches ist nun diese Jnstanz? Es ist nicht eine, sondern es sind die sämtlichen Kräfte der Seele, für die durch die Phantasie das ungeheure Vorstellungsmaterial in Bereitschaft gestellt und nach ihrem Gebot neu aufgebaut wird, ohne das keine von ihnen in Thätigkeit treten könnte; ob der Verstand eine Maschine konstruiert, oder die Vernunft eine Gesetzgebung ersinnt, oder ob, wozu im Leben weitaus am meisten die Phantasiethätigkeit in Anspruch genommen wird, die Begierden ihre Wünsche formen, ob endlich die wogenden Empfindungs- und Gemütskräfte in freiem Spiele neben der wirklichen Welt sich eine zweite Traum= und Zauberwelt erschaffen. Wenn zu solchem Spiele als der bestimmende Leiter die Vernunft und als der ordnende Aufseher der Verstand hinzutritt, so entsteht die Kunst. Sicherlich ist regste Bereitwilligkeit und reichste Fülle der Phantasie ein unentbehrliches Attribut des Genies, Vernunft und Verstand treten ihr nur regulierend gegenüber, und gewiß wird Goethes Mahnung immer gelten, „daß die alte Schwiegermutter Weisheit das zarte Seelchen ja nicht beleidige“; aber die Macht, von der sie zur Bildung des Schönen den Jmpuls empfängt, die eigentlich schöpferische Kraft, ruht in der Tiefe des Empfindungslebens der Seele; ja diese innerste Kraft der Seele ─ „innere Wärme, Seelenwärme, Mittelpunkt!“ ─ ist es, die im Grunde allein der Phantasie jene unentbehrliche Regsamkeit und Fülle verleiht, d. h. das Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen mit jener feinen Empfindlichkeit, grenzenlosen Aufnahmefähigkeit und nimmer ruhenden Beweglichkeit ausstattet, die mit Recht als die Mitgabe des Genies gelten. Was wir gewohnt sind, Phantasiethätigkeit zu nennen, ist also in Wahrheit keine Thätigkeit der Phantasie, sondern die Thätigkeit eines andern Seelenvermögens innerhalb der Phantasie. Eine solche wird naturgemäß vorzugsweise und am stärksten dann eintreten, wenn wir der überwältigenden Herrschaft der unmittelbar uns umgebenden Eindrücke, Jnteressen und der durch sie gesetzten Zwecke entzogen werden; das geschieht einmal, wenn wir ruhen und sodann, wenn die Veranstaltungen der Kunst uns dem gewohnten Anschauungs- und Gedankenkreise entreißen. Beides trifft für die Personen in Shakespeares „Sturm“ zu. Mit höchst erstaunlicher Feinheit und Mannigfaltigkeit hat er das Motiv durchgeführt, an der bunten Gesellschaft, die der durch Prospero erzeugte Aufruhr der Elemente an den Strand der Jnsel geworfen hat, zu zeigen, wie ein jeder unter diesem Eindrucke und in der erzwungenen Befreiung von aller gewohnten Beschäftigung seine Phantasiewelt in Thätigkeit setzt, oder auch, wie es leicht geschieht, von der einmal erregten sich unterjochen läßt. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt jedes Wort des Stückes prägnante Bedeutung. Es sei zum Belege auf die erste Scene des zweiten Aktes hingewiesen, auf die scheinbar absichtslosen Gespräche der neapolitanischen und mailändischen Fürsten und Hofleute, in denen Gonzalo der Hauptredner ist und jene socialistischen Utopien entwickelt, die damals wie heute ihr aktuelles Jnteresse hatten. Von all den dort Versammelten ist er der Einzige, dem unter den widrigen Umständen ein gutes Gewissen und ein reiner Sinn die geistige Freiheit bewahrt; bei ihm macht der Zauber der Jnsel sich nicht anders geltend, als daß sein feiner und gewandter Geist die Welt seiner Vorstellungen zu unterhaltendem Spiele in Bewegung setzt, wenn er das utopistische Jdeal eines Staates ohne Obrigkeit, ohne Besitz, Handel und Arbeit halb mit Behagen an dessen Ausmalung, halb mit unverkennbarer Jronie auseinandersetzt, vorzüglich doch um den König zu erheitern und aufzurichten. Dagegen ist dieser, von Schmerz und Reue gefoltert, in dumpfes Brüten versunken; in Antonio und Sebastian endlich verscheucht gewissenloser Ehrgeiz jedes andere Phantasiebild, als das der eigenen Macht und Größe, und erzeugt in ihrer Brust den Vorsatz des scheußlichsten Meuchelmordes. Sie alle, ebenso wie ihre grotesken Gegenbilder, die nur von Angst und gemeiner Gier gelenkt werden, sind in Prosperos Gewalt gegeben. Was kann deutlicher sein als der Sinn des Grundzuges, der nun die ganze Handlung bestimmt? Jn Prospero hat diese ganze phantastische Zauberwelt ihren Meister; eine überlegene Weisheit bestimmt die Wirkung all dieser Klänge, von denen rings die Jnsel ertönt, und der Zaubererscheinungen, die überall nach seinem Willen begegnen, und macht die Seelen derer, die nicht von tiefgewurzelter Bosheit ganz verstockt sind, in seinen Händen weich wie Wachs; jene andern aber erschreckt und foltert er bis zum Wahnsinn. Weisheit und Kunstverstand müssen in dem Zauberreiche der Phantasie regieren, um ihre gefährlichen und in fremden Händen leicht höchst verderblichen Kräfte zum Heile zu verwenden; die schwer zu erfüllende Bedingung aber ist, daß die festeste Leitung dabei doch der Phantasie die freieste Bewegung nach ihren eigenen Gesetzen gestatten muß, immer nur den Schauplatz und die zu lösende Aufgabe ihr anweisend: dafür, wie wir sahen, in der Dichtung das nicht genug zu bewundernde Bild der strengen Dienstbarkeit des luftigen Ariel unter Prosperos weiser Herrschaft, der doch wiederum ohne den tausendgestaltigen Diener nichts vermöchte; zwischen beiden das Verhältnis zartester, herzlichster Neigung, die den strengen Gehorsam in schöne Freiwilligkeit verwandelt; darüber hinaus dennoch immer wieder das unzerstörbare Sehnen der Phantasie nach völliger Freiheit, ihrer eigentlichen Natur. „Frei sollst du sein Wie Wind auf Bergen: thu nur Wort für Wort, Was ich dir aufgetragen.“ „Jede Sylbe!“ So hat denn nun Ariels unermüdliches Walten in der Verfolgung des Verbrechens und der Bosheit unserer schweren Jndignation Genüge gethan, es hat die skurrile Gemeinheit unserer Verachtung und dem Spott über ihre unbehülfliche Ohnmacht preisgegeben: das Schwerste bleibt noch zu thun! Was hätte dieses Ganze für Zweck und Sinn, wenn es nur das Fehlerhafte in seiner Verkehrtheit zeigte, wenn es nicht gelänge, ihm gegenüber die unmittelbare Freude an der schönen Erscheinung zu entzünden? Die höchste und reinste Schönheit, von der Weisheit erzeugt und erzogen, so tritt uns in dem Stücke Miranda entgegen. Die Weisheit, aus der Welt verstoßen, gewinnt sich die Geltung in der Welt zurück durch die Schönheit: das ist der Sinn der Handlung des Stückes; denn Prosperos ganzer Plan gipfelt darin, Miranda durch den Ehebund mit dem Königssohne in das ihr gebührende Recht wieder einzusetzen. Leicht verständlich! Denn noch ist ihre Existenz eine abgesonderte in dem Reiche der Einbildung; es gilt ihr reales Leben zu verschaffen, sie in die wirkliche Welt der Erscheinungen überzuführen. Dazu muß Ariel dem Prospero helfen: die Poesie ist der Weisheit das Mittel, um in der Schönheit ihr Bestes der Welt dahinzugeben. So sehr es aber sein Bestreben ist, die herrliche Tochter den Bewerber finden zu lassen, so ist sie doch nur um den Preis mühevollen Ringens und strenger Entsagung zu gewinnen. Wie gern unterwirft sich jener der härtesten Probe: beim ersten Sehen ist er der holden Erscheinung für immer ergeben: „Die Lebensgeister sind mir wie im Traum gefesselt ... Mag Freiheit alle Winkel der Erde sonst gebrauchen: Raum genug hab' ich in solchem Kerker.“ Und nun das Verlöbnis und das mythologische Spiel zu seiner Feier: „All deine Plage war nur die Prüfung deiner Lieb', und du Hast deine Probe wunderbar bestanden. Hier vor des Himmels Angesicht bestät'ge Jch dies mein reich Geschenk. O Ferdinand! Lächl' über mich nicht, daß ich mit ihr prahle: Denn du wirst finden, daß sie allem Lob zuvoreilt und ihr nach es hinken läßt.“ Ferd.: „Jch glaub' es euch, selbst gegen ein Orakel.“ Man hat die strenge Bedingung Prosperos seltsam gefunden, daß er bei schwerem Fluche dem Paar die Vereinigung verwehrt, „bevor der heil'gen Feierlichkeiten jede Nach hehrem Brauch verwaltet werden kann.“ Dieses Verbot steht im engsten Zusammenhange mit dem nun folgenden noch befremdenderen Spiele. Der Sinn ist dieser: die Schönheit, um die es sich hier handelt, ist nicht die des sinnlichen Reizes, nicht die der heißen, überwallenden Leidenschaft, des stürmischen Entzückens; sie entstammt der Weisheit; klar, mild, reich und tief, ist sie über jeden Preis erhaben: es ist die Schönheit der Jdee! Deshalb die scharfe Bedingung, daß, um sie zu erwerben, das lodernde Feuer der Sinne erstickt werden muß, um einer reineren, heiligen Flamme zu weichen. Und wie dem Schoße solcher Schönheit überschwenglich reiche Frucht entsprießt, so erscheint zu ihrer Weihe im Geleit der die Ehe schützenden Juno nicht etwa die Venus, sondern Ceres! Venus mit ihrem üppigen Gefolge ist weit verbannt, während nun jene beiden Göttinnen dem Paare die reichste Segensfülle verheißen. Was bedeutet es aber, daß mitten in der heiteren Feier Prospero plötzlich im heftigsten Zorne auffährt, da er des Mordanschlages des Caliban und seiner Genossen gedenkt, der um diese Stunde ausgeführt werden soll? Auf das Klarste hat hier der Dichter seine Absicht an den Tag gelegt. Jst doch die Jdee von je und immer dem giftigen Haß und der tückischen Verfolgung des wüsten Wahnes und der brutalen Gemeinheit ausgesetzt, die in diesem Zeichen für ewig verbündet sind. Wie sollte Prospero sich nicht mit heftigem Zorne gegen sie zur Wehr setzen? Er kennt die geistige Natur der Güter, denen dieser Angriff gilt und weiß die Gefahr desselben zu ermessen; doch weiß er ebensowohl, daß der luftige Schein dieser Jdeenwelt das eigentliche Wesen der Dinge bewahrt, während die reale Erscheinung in flüchtigem Wechsel vorüberflieht. Darum die leidenschaftliche Abwehr gegen die niedrigen Mächte, welche diese Güter nicht anerkennen und sie vernichten möchten ─ „nie, bis diesen Tag,“ sagt Miranda, „sah ich ihn von so heft'gem Zorn bewegt“ ─, und darum der tiefe Ernst seiner Entgegnung: „Seid gutes Muts! Das Fest ist jetzt zu Ende; uns're Spieler, Wie ich euch sagte, waren Geister, und Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft. Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden die wolkenhohen Türme, die Paläste, Die hehren Tempel, selbst der große Ball, Ja, was daran nur Teil hat, untergeh'n; Und, wie dies leere Schaugepräng' erblaßt, Spurlos verschwinden. Wir sind solchen Stoffs Wie der zu Träumen, und dies kleine Leben Umfaßt ein Schlaf.“ ─ So weiß er denn auch durch leeren bunten Schein den gefährlichen Angriff abzulenken, indem er die Gier der plumpen Gesellen durch den glänzenden Trödel ködert, den Ariel ihnen zum Raube aushängt. Aber der trügerische Schein wird jenen zum Verderben; Ariel lockt sie in scheußlichen Sumpf und heißt seine Kobolde „ihr Gebein zermalmen Mit starren Zuckungen, die Sehnen straff Zusammenkrampfen und sie fleck'ger zwicken Als wilde Katz' und Panther“. Das Spiel geht seinem Ende zu; überall sieht Prospero seinen Entwurf gelungen, und seine Güte löst den schweren Zauber der Wahnsinnsangst, mit der er den König und sein Gefolge in Fesseln geschlagen, als er sie so gewaltig ergriffen sieht: „Da sie reuig sind, Erstreckt sich meines Anschlags ein'ger Zweck Kein Stirnerunzeln weiter: geh', befrei' sie. Jch will den Zauber brechen, ihre Sinne Herstellen und sie sollen nun sie selbst sein. “ Es würde zu weit führen, die überschwengliche Fülle der Beziehungen, die hier und durchweg bei jeder kleinsten Wendung sich ergeben, erschöpfend darzulegen; nur auf eines sei noch hingewiesen. Man hat der ergreifenden Rede, mit der Prospero dem mächtigen Zauber seiner Kunst entsagt, eine höchst specielle Deutung gegeben: es sei Shakespeares eigenes Zurücktreten von der Bühne, er nehme hier feierlich Abschied von seiner Kunst. Ganz abgesehen davon, daß das nicht zutrifft, denn Shakespeare hat nach dem „Sturm“ noch das „Wintermärchen“ geschaffen, auch konnte er seinen frühen Tod schwerlich voraussehen und hätte bei längerem Leben sicherlich seiner Muse nicht den Laufpaß gegeben; aber abgesehen von dem allen: nichts kann verkehrter sein als eine solche Deutung, die den Rahmen des Stückes ganz verläßt und etwas Fremdes, ganz Äußerliches in den kunstvollen Organismus hineinträgt. Die tief bedeutungsvolle Rede erklärt sich auf das einfachste aus dem Zusammenhange selbst. Solche großen symbolischen Conceptionen haben das Gemeinsame, daß sie den Vorgang, den sie schildern, als einen allgemeingültigen, typischen darstellen, also als den einzigen seiner Art! Was in der Wirklichkeit in tausenden von Fällen sich vollzieht, immer neu und immer wechselnd, findet hier sein ewig gleiches Vorbild, und was dort nie abgeschlossen werden kann, ist hier vollendet und abgethan. So kann denn also der Prospero, dessen Werk gelungen ist, ─ die Weisheit, die mit der Hülfe der Poesie durch die reine Schönheit die Jdee in ihre Rechte gesetzt hat ─ nun die zarten Elfen, mit deren Beistand er die Sonne umhüllt hat und die grüne See mit der azurnen Wölbung in Kampf gesetzt, Grüfte gesprengt und Tote erweckt, ihres Dienstes entlassen, ihnen wie Ariel die versprochene Freiheit wieder zurückgeben: „Doch dieses grause Zaubern Schwör' ich hier ab; und hab' ich erst, wie jetzt Jch's thue, himmlische Musik gefordert, Zu wandeln ihre Sinne, wie die luftige Magie vermag: so brech' ich meinen Stab, Begrab' ihn manche Klafter in die Erde, Und tiefer, als ein Senkblei je geforscht, Will ich mein Buch ertränken. “ Wie einfach und wie tiefsinnig! Niemand war weiter davon entfernt, die Poesie durch den Zwang der Lehre und des Gedankens ihres Adels und ihrer Kraft zu berauben, als Shakespeare. Aber die voll= kommene Kenntnis seiner Kunst lehrte ihn, daß es eine dramatische Gattung gäbe, in der die weisheitsvolle Einsicht unmittelbar zur Erscheinung kommen kann: eben jenes ernste Drama, welches auf der Höhe seines Schaffens, in seiner letzten Zeit, ihm so besonders lieb wurde. Aber wie Prospero seine mächtige Kunst nur durch Ariel und seine Elfenscharen auszuüben vermag, und wie Miranda, „die Wunderbare“, der Gegenstand ist, auf den all sein Sinnen und Wirken abzielt, so hat die Weisheit nur, indem sie mit Hülfe der Phantasie in der schönen Erscheinung ihre Wirkungskraft offenbart, im Reiche der Poesie zu gebieten. Jst ihr das Werk gelungen, so ist ihre Mission hier erfüllt; sie legt ihren Herrscherstab von sich und läßt der Phantasie ihre volle Freiheit, um fortan nur im eigenen Gebiete zu walten. Es bleibt noch übrig, einen Blick auf die kontrastierenden Partien des Dramas zu werfen. Die lose Einfügung dieser grotesk=komischen Scenen, die für sich allein nicht zu rechtfertigen wäre, hört auf, als solche zu erscheinen, wenn sie aus der Symbolik des Ganzen sich erklären. Wie die freie, das Wohlgefällige bildende Phantasie, so steht dem weisen Meister auch die Phantasie zu Gebot, die in der dumpfen Region des Häßlichen, Brutalen, bewußt Boshaft-Gemeinen ihr Element hat. Hier aber waltet sein Zauberstab mit despotischer Kraft, mit schärfstem Zwange niederhaltend, was seine Absichten kreuzt, sie von vorneherein vereitelnd, auch wo er sie gewähren zu lassen scheint, während er es zugleich versteht, sie mit kluger Absicht für seine Ökonomie zu verwenden. Derselbe „Sturm“, den er veranstaltet, um die Gemüter, die er bezwingen will, in seine Gewalt zu bekommen, dient ihm zugleich als Motor, um die Gemeinheit und die Narrheit ins Spiel zu setzen, um sie der gewohnten Bande entledigt teils von Angst geschüttelt, teils in ihrer vollen Ausgelassenheit zu zeigen: nach der Symbolik des Stückes fallen sie damit dem Repräsentanten jener häßlich=brutalen Phantastik, dem Ungeheuer Caliban, in die Hände. Es ist abermals eine von den bewunderungswürdigen Feinheiten der Dichtung, wie sie den brutalen Trunkenbold Stephano und den schwachköpfigen Narren Trinculo in der selbstgefälligen Täuschung sich gebärden läßt, als ob sie mit dem „Ungetüm“ ihr Spiel trieben, während Caliban von den neuen Herren vermeintlich in Freiheit gesetzt, sofort sie vielmehr unter seine Gewalt und Leitung bekommt. Er freilich, das verkörperte Princip seines Wesens, erkennt bald genug, daß er es mit jenen platten Ge= sellen doch nur zu einer plumpen Farce bringt, und fügt sich lieber, die Geißel des Meisters fürchtend, dessen scharfer Zucht. Dieser jedoch erreicht seinen Zweck, jenes edle Dreiblatt, die Bosheit, Gemeinheit und die dumme Narrheit, sich als solche dem Augenscheine darstellen zu lassen, vollkommen, indem er sie einfach eine Weile in ihrem Treiben gewähren läßt und demselben nur die Richtung auf zwei symbolische Aktionen gibt: den Mordanschlag Calibans und jenen wunderlichen Kleiderdiebstahl, dem offenbar eine besondere typische Bedeutung vom Dichter zuerteilt ist. Beide erklären sich gegenseitig. Was kann verständlicher sein als der Anschlag, durch den die drei sich der Herrschaft auf der Jnsel bemächtigen wollen, jenem musikerfüllten Eilande, wo Prospero durch Ariel herrscht und seiner Miranda die für sie erhoffte Befreiung erwirkt! Um es kurz zu sagen: jenes durch Caliban vertretene Element wird in der Ökonomie der dramatischen Werkstatt nicht entbehrt, aber nutzbar gemacht nur bei strengster Dienstbarkeit; nichtsdestoweniger strebt es fortwährend selbst darin zu herrschen und die Gemeinheit und Dummheit sind ihm dafür die geeigneten Bundesgenossen. Denselben Sinn hat das frühere Attentat Calibans gegen Miranda, gegen die Reinheit des Gemütes selbst, wodurch er „die Jnsel mit Calibans zu bevölkern“ gedachte. Daß nun aber Shakespeare den Mordplan in den skurrilen Kleiderdiebstahl auslaufen läßt, ist eine Wendung, durch die seine Absicht noch schlagender hervorspringt: Mit der absoluten Herrschaft jener Gesellen in der dramatischen Dichtung hat es gute Wege; wohl aber gelingt es ihnen, von dem Kostüm der Herrlichkeiten des Meisters, das für sie zum Raube offen hingehängt ist, was ihnen am lockendsten in die Augen fällt, zu entwenden und damit herausgeputzt eine Weile zu stolzieren, um alsbald der verdienten Strafe von der rächenden Geißel des Geplünderten zu verfallen. Es ist höchst absichtsvoll und höchst bezeichnend, daß das Stück mit der Exekution jener Drei und ihres angemaßten Treibens abschließt: das Drama hat seine klärende Macht auf dem ernsten Gebiet erwiesen, die reine Schönheit in ihre Rechte gesetzt; nun zeigt es seine reinigende Gewalt gegenüber den niedrigen Elementen. Wo das Niedrige, in welcher Gestalt immer, in dem geweihten Zaubergebiete der Kunst sich eigene Herrschaft anmaßt, mag es auch mit den entwendeten Formen der Kunstübung seine Roheit umkleiden, da trifft es die schonungslose Verfolgung der echten Kunst, bis es in ihren strengen Dienst zurückgezwungen ist, wo es dann, wie das Stück es ausdrückt, höchstens zu lustiger Verbrämung verwendet wird: „dem Meister die Zelle aufzuputzen“. Go, sirrah, to my cell, Take with you your companions: as you look To have my pardon, trim it handsomely . Die Schlegelsche Übersetzung: „Geh', Schurk', in meine Zelle, „Nimm deine Spießgesellen mit: wo du „Vergebung wünschest, putze nett sie auf“ ─ ist hier undeutlich; das „sie“ der letzten Zeile ist doppelsinnig, da es leicht auf die „Spießgesellen“ bezogen wird, und das „you“ dürfte wohl als an alle drei gerichtet zu verstehen und mit „ ihr “ zu übersetzen sein. Es mag noch hinzugefügt werden, daß der „ Epilog “ die im Obigen skizzierte Deutung Wort für Wort bestätigt: nun ist der Zauber zu Ende; was dem Dichter an Kraft bleibt, ist nur die eigene. Zwar, sein Herzogtum hat er gewonnen, die falschen Nebenbuhler überwunden, aber, um nicht auf die einsame Jnsel seines Träumens und Dichtens beschränkt zu bleiben, um Kraft und Wirksamkeit zu erlangen, muß er die Gemüter seiner Hörer gewonnen haben, sonst ist sein ganzer Plan vereitelt; dieser Plan war: zu gefallen! Let me not, Since I have my dukedom got And pardon'd the deceiver, dwell In this bare island by your spell; But release me from my bands With the help of your good hands Gentle breath of yours my sails Must fill, or else my project fails, Which was to please . „ Zu gefallen “, durch die in Thätigkeit gesetzte Empfindung die reine und volle Hedone zu erzeugen, ist freilich die Aufgabe aller Kunst; nur insofern sie dieselbe löst, gelangt sie zu Leben und Wirksamkeit. Aber in keiner dramatischen Gattung ist der Dichter so darauf gewiesen, allen Zauber der poetischen Mittel ins Spiel zu setzen, wie in jener Mittelgattung, die sowohl der Wucht der tragischen Affekte als der unwiderstehlichen Kraft der ganz auf die komische Wirkung gebauten Handlung entraten muß, von beiden nur untergeordneten, subsidiären Gebrauch machen darf. Zwischen den erschütternden Schicksalen und den dem Lachen preisgegebenen Vorgängen und Verwickelungen liegt das Gebiet der Zustände und damit verflochtenen Ereignisse, die weder das eine noch das andere sind, ernst ohne tragisch zu sein, fehlerhaft ohne der Komik anheimzufallen, schicksalsvoll dennoch in eminenter Weise, insofern durch die fortlaufende Häufung für sich allein nicht als verhängnisvoll erscheinender Jrrungen zuletzt doch bedeutende Entscheidungen sich bereiten. Um derartige ihrer Natur nach lang andauernde, allmählich anwachsende Entwickelungen in den präcisen Ablauf der vor den Augen sich ereignenden dramatischen Handlung zu bannen, wird der Dichter, je bedeutender er sich seine Aufgabe stellt, um so mehr gezwungen sein, die Hülfe der Phantasie in Anspruch zu nehmen, sowohl bei seinem Werke als bei den Zuschauern, die dessen Wirkung erfahren sollen: er wird kühne Verkürzungen, Verdichtungen einer Kette von Einzelvorgängen zu einem einzigen Ereignis anwenden, er wird zur Symbolik greifen, des Wunderbaren sich frei bedienen, über Ort und Zeit hinwegschreiten, hunderterlei in dem äußeren Pragmatismus ignorieren dürfen, wenn das alles ihm nur hilft der inneren Wahrheit zu desto sicherer, vollständigerer, reinerer Wirkung in Anschauung und Empfindung seiner Zuschauer zu verhelfen, d. i. im strengen künstlerischen Sinne „ zu gefallen “. Diesen Gesetzen und dieser Technik hat Shakespeare mit der anmutvollsten Phantasie ein selbständiges Leben erteilt und sie zu dem Gegenstande der luftigen Handlung seines „Sturms“ gemacht. Er besaß die Zauberkraft, diese Symbolik nicht zur frostigen Allegorie ausarten zu lassen, sondern ihr den Schein frischen, eigenen Lebens zu bewahren; so fesseln uns die Personen und Vorgänge des Stückes durch die feste Bestimmtheit der Realität, die volle, warme Jndividualität bei aller Phantastik ihrer Erscheinung und ergötzen uns abwechselnd durch das reine Wohlgefallen an sanftem Reiz und edler Würde und durch die klar und sicher empfundene Mißbilligung des Fehlerhaften, die hier als eine Mischung aller denkbaren Gradationen sich darstellt: vom verzeihenden Tadel bis zur stärksten Jndignation, vom Verlachen bis zur Verachtung und zum Abscheu. So groß ist Shakespeares Kunst, daß die Wirkung des ganz singulären Dramas eine allmächtige und von jedermann empfundene ist, trotzdem der prüfenden Erwägung hundertfältige Bedenken allenthalben sich entgegenstellen, so lange die strenge Einheitlichkeit der wundervollen Komposition und ihre mit vollkommener Konsequenz bis in die kleinsten Züge festgehaltene Durchführung nicht erkannt ist. Es erscheint wie eine Probe der Rechnung, wenn man untersucht, wie Shakespeare die im Bilde entworfene Theorie nun in der Praxis angewendet hat. Das „ Wintermärchen “ ist noch nach dem „Sturm“ entstanden und gilt als seine letzte Dichtung; durch die Fremdartigkeit seiner Form fordert es die theoretische Kritik mehr heraus als irgend ein anderes der Shakespeareschen Dramen: ein tragelaphisches Zwitterwesen, halb Trauerspiel und halb Komödie. Jn Wahrheit keines von beiden; wohl aber geeignet den Typus der Gattung scharf ausgeprägt zu repräsentieren. Tragisch ist weder die Figur des Leontes, noch die der Hermione: der Charakter jenes beruht auf hochgradiger Schwäche und Verkehrtheit, die lustspielartig wirken würden, wenn sie nicht so ernsthaft verderblich sich äußerten; das Geschick dieser ist zwar ein beklagenswertes, aber nicht hoffnungsloses, wie denn in der That es sich zuletzt zum Guten wendet. Wie kaum ein anderes illustriert dieses Beispiel das Wesen der mittleren Gattung. Die Eifersucht des Leontes ist weder die rasend vernichtende Leidenschaft eines Othello, noch die skurril polternde und ungefährliche eines Moliereschen Lustspielehemanns. Aber sie ist die krankhafte Grille eines in selbstquälerischer Träumerei befangenen, in sich selbst schwankenden und daher um so mehr dem Wahne des Mißtrauens gegen andere preisgegebenen Gemütes, das der Weichheit ebenso zugänglich ist als im Zorne der Verblendung grausamer Härte, der rücksichtslosesten Starrheit fähig bei einer doch immer wieder zur Geltung gelangenden Grundanlage zum Guten und zu liebevoller Hingabe. Als solche ist diese gesamte Anlage gerade hinreichend, um nicht nur das eigene Leben, sondern das der Zunächststehenden durch lang anhaltende schwer lastende Trübsal zu verdüstern. Zur Tragik jedoch fehlen hier alle wesentlichen Bedingungen, wenn man nicht gerade dem eingerissenen verkehrten Sprachgebrauche folgend das Tragische einfach mit jeder Form irgendwelchen Unglücks identifizieren will. Unter solcher an Krankheit grenzenden Reizbarkeit des Gatten sehen wir Hermione völlig schuldlos leiden, indem der Dichter, was ein ganzes Leben mit der unablässigen Quälerei despotischer Laune verdüstern kann, in einem einzigen jähen Ausbruch zusammenfaßt. Ein solcher Stoff kann auf keine andere Weise der dichterischen Behandlung fähig gemacht werden, als indem vor allem ihm das jammervoll Bedrückende des schlimmen Ausgangs genommen wird; in der That war eine derartige Operation die wesentlichste Veränderung, die Shakespeare an dem von ihm für das Stück benutzten Novellenstoff vornahm. Das mußte geschehen, ohne der Handlung die wuchtige Schwere des vollen Ernstes zu nehmen, mit welchem zugleich sie ihre Wahrheit und damit allen Wert eingebüßt haben würde; es ist der Mühe wert, genauer zu beachten, wie Shakespeares Kunst hier verfahren ist. Eine minder durchdringende Kenntnis sowohl der Gesetze des Schicksals als seiner poetischen Nachahmung würde sich damit be= gnügt haben, nach der Enthüllung von Hermiones Unschuld und der Darstellung von des Leontes Sinnesänderung nun Versöhnung, Friede und Freude eintreten und auf den Jammer die behaglichste Befriedigung folgen zu lassen. Dagegen läßt Shakespeare die unerbittlichen Konsequenzen der Handlung in ihrem ganzen Umfange eintreten, er geht bis an die Grenzen der tragischen Wirkung, ohne doch auch nur für einen Augenblick die Wirkung des Ganzen auf die tragischen Empfindungen zu stellen. Der Sturm, den er erregt, geht zwar mit all seinen Schrecken vor unsern Augen in Scene, aber er ist nicht der Gegenstand seiner Komposition, sondern ein Mittel für ihren eigentlichen Zweck: aus dem Sturme segensvollen Gewinn hervorgehen zu lassen, aus der starken Erschütterung tief greifende Erneuerung und endlich obsiegende Klärung. Er muß also Sorge tragen, daß Furcht und Mitleid bei dem Sturme uns nicht überwältigen; und wenn er es diesmal nicht so lenken kann, daß Prosperos „Kein Leid“ hier gälte, so läßt er doch seinen erfindungsreichen Ariel alle Künste aufwenden, um die drohende Schwüle der tragischen Atmosphäre zu verscheuchen, das Gewölk schnell herüberziehen zu lassen und durch die sich zerstreuenden Massen die Aussicht in ein fernes Blau zu eröffnen, das bald mit goldiger Heiterkeit den ganzen Schauplatz einnimmt. Zu diesen Künsten gehört vor allem der bei aller Realistik der Darstellung über das Ganze gebreitete Duft märchenhafter Ferne und der damit verbundenen Willkür in der Handhabung des äußeren Pragmatismus bei aller strengsten Folgerichtigkeit der inneren Entwickelung. Alle die vielgenannten, offenbar höchst geflissentlich begangenen Verstöße gegen Chronologie, Erdkunde und Kostüm, die keineswegs künstliche Feinheit, sondern recht primitive Faktur der theatralischen Maschinerie ─ es genügt des Orakels und des wie gerufen sich einstellenden Bären zu gedenken ─ finden hierin ihre Erklärung. Außer diesem stärksten Mittel trägt die vielfach entschieden genrehafte Färbung jener ganzen ersten Hälfte des Stückes, die so gefährlich zur Tragik hinneigt, sehr erheblich dazu bei, die Stimmung zu entlasten und dem tragischen Affekt zu wehren; es sei auf die Scene des Leontes mit Mamillus hingewiesen, auf die Scene der Hermione mit ihren Frauen und mit dem Knaben und endlich auf die derb=verständige, grobkörnige Tüchtigkeit der Paulina, eines so ausgeprägt anti=tragischen Charakters, daß sie allein genügen würde, die Absicht des Dichters kenntlich und wirksam zu machen. Der strenge Ernst und die volle Wahrheit werden dadurch um nichts geschmälert. Dergleichen tiefe Schäden, wie sie im Charakter und der Handlungsweise des Leontes bloßgelegt werden, lassen sich nicht durch momentane Sinnesänderung heilen, weder subjektiv im Gemüte des Handelnden noch objektiv bei den davon Betroffenen; auch sind ihre Konsequenzen unberechenbar und gehen weit über Absicht und Willen hinaus. An diesem letzteren Punkte liegt ein tragischer Keim in der Handlung, der mit dem Tode des Knaben Mamillus auch zum Aufsprießen gelangt, aber doch nur als Nebenschößling, ohne das Gesamtgepräge der Handlung zu verändern. Die auf den ersten Blick so seltsam und märchenhaft willkürlich erscheinende Handlungsweise der Paulina, daß sie die unschuldige Hermione, trotzdem ihre Unschuld erwiesen und von allen anerkannt ist, trotz der Reue und Verzweiflung des Leontes, nun dennoch ihm auf sechzehn lange Jahre entfremdet und sie dem Leben erst zurückgibt, als in der herangeblühten neuen Generation nach dem Spruche des Orakels „das Verlorene sich wiederfindet“, entspricht dem symbolischen Sinne nach, wie nach ihrer thatsächlichen Wirkung auf den Zuschauer, der Wahrheit des Sachverhältnisses. Zuständen und Ereignissen gegenüber, wie die erste Hälfte des Stückes sie schildert, ist lange Entfremdung unvermeidlich: die einzige Gewähr aber der dennoch möglichen einstigen Gewinnung des Glückes liegt in dem entschlossenen, freiwilligen Verzicht auf das eigene Genießen und in der stillen gläubigen Hingabe an die Zukunft. Dies ist der durchsichtige Sinn des Orakels und der demselben entsprechenden Jntervention Paulinas, die eben nur als die scenische Verkörperung dieser Resignation zu betrachten ist. Der eigentliche Schwerpunkt des Dramas liegt dann aber in der heiterschönen Heraufführung jener sonnigen Zukunft. Wie der „ Sturm “ das Mittel ist, Miranda zu erlösen und auf den ihr gebührenden Thron zu führen, so kehrt hier die dem zerrissenen Ehebunde entsprossene Wunderblume Perdita Glück verbreitend zurück; und wie in der ersten Hälfte seines Dramas der Dichter sich nicht gescheut hat, zu den dunkelsten Farben zu greifen, so verwendet er am Schlusse die stärksten theatralischen Mittel, um das Freudenfest des wahrhaft und dauernd hergestellten Friedens und Glückes aufs Höchste zu steigern. An dem „hübschen Aufputz“ durch das harmlos niedrig Komische und selbst Possenhafte hat es der Dichter dem Stücke auch nicht fehlen lassen ─ to trim it handsomely ─ während jeder Laut des Rohen und Gemeinen strengstens verbannt ist. So stellt es sich in allem seinem Rezept, wenn man dasselbe symbolisch im „Sturm“ erkennen will, genau entsprechend dar und damit als die Theorie des „ Schauspiels “ in besonders prägnanter Weise exemplifizierend. Aus allem Gesagten zeigt sich deutlich, wie diese Gattung nicht allein um zur höchsten Auszeichnung zu gelangen, sondern um überhaupt nur ihr Ziel nicht gänzlich zu verfehlen, an den Dichter die Forderung eines besonders reichen Maßes von Welt- und Menschenkenntnis und namentlich auch künstlerischer Einsicht erhebt; es gilt hier die Farben besonders fein zu mischen und einen durch den bloßen genialen Jnstinkt nicht leicht innezuhaltenden schmalen Weg zwischen den absolut zu vermeidenden Extremen der beiden Hauptgattungen hindurch zu finden. Daß Shakespeare sich der Theorie dieser Kunstgattung deutlich bewußt war, scheint nicht nur die bewunderungswürdige Leichtigkeit und Sicherheit, mit der er sich auf der gefährlichen Bahn bewegt, zu beweisen, sondern auch durch die Symbolik seines „Sturmes“ bezeugt zu werden. Wie kaum eine andere Form möchte diese dem weisheits- und maßvollen Schönheitssinn Goethes entsprochen haben, auch seiner tief gegründeten Abneigung gegen die Heftigkeit und Schwere der specifisch tragischen Affekte. Und welch ein Feld bot sie seiner unerreichten Kunst dar, direkt durch die bezaubernde Darstellung des Schönen zu wirken! Ob nicht, wenn Lessing dieses Gebiet principiell angegriffen und mit seinem Scharfsinn und mit seiner Autorität die Gesetze dafür aufgestellt hätte, die Theorie hier einmal recht sichtbar der Produktion zu Hülfe gekommen wäre? Statt dessen blieb nicht einmal auf dem Felde der Theorie des Tragischen die von ihm geschaffene Klarheit ungetrübt; und ein bedeutender Anteil an dieser Trübung ist keinem Geringeren zuzuschreiben, als dem gewaltigsten Tragiker der deutschen Dichtung, unserem großen Schiller! ────── XXI. Nach dieser Durchforschung des Mittelgebietes lassen sich nun die Bestimmungen, durch welche es gegen die Bereiche der Tragödie und der Komödie abgegrenzt wird, mit Sicherheit feststellen. Das auf jenem Mittelgebiet sich bewegende „ Schauspiel “ charakterisiert sich als eine Mischung der in den Hauptgattungen wirksamen Jngredienzen, doch so, daß es die streitenden Affekte in ein höheres Lustgefühl auflöst, sich also, das Wort in weiterem Sinne genommen, überwiegend dem Lustspiele zuneigt. Nicht die übermächtige Wucht des Schicksals bringt es zur Darstellung und Empfindung, aber es läßt den schweren Ernst des Schicksals auch nicht so weit aus den Augen, daß es die Verkehrtheit im Handeln als solche zum Gegenstande der Lustempfindung macht. Jndem es also weder das Eine noch das Andere rein und um seiner selbst willen darstellt, erreicht es seine Vollendung, wenn es beide Elemente zugleich in lebendiger Wechselwirkung sich gegenseitig durchdringend vorführt, wobei sie, einander wechselsweise herabmindernd und ausgleichend, ein Neues, Drittes hervorgehen lassen: die unmittelbare Erscheinung gesunden klaren Empfindens und maßvoll richtiger Gemütshaltung, echter Phronesis, daraus bestimmten rechten Handelns und glücklichen Gelingens. Diese und ihr durch die Handlung bestimmtes Widerspiel ergeben als die ästhetische Wirkung, auf welche das Schauspiel abzielt, die Empfindungen der unmittelbaren Freude an der Darstellung der Phronesis und des aus derselben bestimmten Handelns und des gerechten Unwillens ─ der Nemesis ─ über ihre Verletzungen, so zwar, daß beide Empfindungen wechselsweise zu ihrer gegenseitigen, völligen Klärung zusammenwirken. Jndem die Erregung dieser beiden Empfindungen und ihrer Katharsis zum Zielpunkte für die Einrichtung und Durchführung der Handlung genommen wird, ergeben sich daraus die Gesetze für die Technik dieser dramatischen Gattung. Obenan stehen die negativen Bestimmungen, daß sowohl die Ausartung in die Tragik als die in die Komik strengstens zu vermeiden sind, weil beide durch die Entschiedenheit der durch sie erregten Affekte die specifisch dieser Gattung entsprechenden Empfindungen verdrängen würden. Schon das Vorwiegen starker Rührung ebenso wie das Eindringen des Lächerlichen in den Körper der Haupthandlung würde dem Zwecke ( τέλος ) des „Schauspiels“ starken Eintrag thun, während in den untergeordneten Nebenhandlungen beide ihre Stelle haben und ihre wohlberechtigte Wirkung thun können. Für die Einrichtung der Handlung gilt als Hauptvorschrift, daß eine ernste Schicksalsentscheidung ihren Kern zu bilden habe, für deren Beschaffenheit aber, umgekehrt wie in der Tragödie, nicht der Faktor der über den Menschen stehenden, allgewaltigen Fügung maßgebend ist, sondern die, der Anlage und dem Verlaufe nach, vielmehr als durchaus in den Bereich ihres Thuns und Lassens, Erkennens und Verfehlens, ihrer Trefflichkeit oder, sei es sittlichen, sei es intellektuellen, Verkehrtheit gestellt erscheint. Hier zeigen sich also, in der Handlung sich nach allen Seiten enthüllend, ihre Kraft und Wesenheit erprobend, dem Empfindungsurteile die Güte, Einsicht und Tüchtigkeit als solche und ebenso ihre Gegenteile, jedes in seiner wahren Gestalt. Bei solcher Anlage der Handlung kann nun aber der Verlauf kein anderer sein, als daß die positiven Kräfte in dem Kampfe sich als die stärkeren erweisen und den Sieg behalten: daß also der Ausgang notwendig ein glücklicher ist. Die mit der Hedone kontrastierenden Empfindungen verlieren also, nachdem sie ihre kathartische Wirkung gethan, mehr und mehr ihre negative Beimischung, durch welche sie in die Klasse der Unlust-Empfindungen gehören, und einen in ihrer positiven Gestalt sich endlich völlig mit jenem reinen und hohen Lustgefühl, welches diese dramatische Gattung, wenn sie ihre Grenzen innehält, d. h. also die ihr zu Gebote stehenden Mittel richtig verwendet, als den letzten Zweck aller Kunst ebensowohl zu erreichen weiß wie die Tragödie und die Komödie. Die Handlung kann demgemäß ferner ebensowohl eine einfache sein, ohne Komplikationen nach Maßgabe der in der Exposition gegebenen Umstände und Charaktere sich bis zum Ende abspielend, als eine verwickelte, in der durch Peripetie die Dinge einen die Absicht des Handelnden plötzlich in ihr gerades Gegenteil verkehrenden Verlauf nehmen, oder durch Erkennung eine ähnliche Wirkung hervorgebracht wird. Aber die Peripetie und Erkennung des Schauspiels muß erstlich, wie aus dem Obigen hervorgeht, immer für die Haupthandlung den Übergang aus Unglück in Glück bewirken, und auch für die negativen Charaktere nicht Verderben und Vernichtung ihrer Existenz bedeuten, sondern nur Überweisung und Beschämung im Sinne der echten Nemesis, und zweitens darf ─ eines der wesentlichsten Gesetze dieser Gattung ─ die Verwickelung niemals eine von außerhalb übermächtig hereinbrechende sein, sondern sie muß von der die Haupthandlung lenkenden Einsicht gekannt oder gar veranstaltet sein, also auch von ihrem Willen bestimmt werden. Nach allen Seiten hin wird also der Fortgang der Handlung weit weniger von der Gewalt der äußeren Umstände abhängig sein, als vielmehr im Wesentlichen durch die handelnden Personen, durch das ihnen eigene Wollen, Wissen und Können hervorgebracht werden. Zwei Elemente, die in der Tragödie zwar auch ihre keineswegs unwichtige Stelle haben, aber neben dem im Vordergrunde sich vollziehenden, gewaltigen Gange des Schicksals entschieden zurücktreten, die Darstellung des Ethos und der Dianoia ─ Charakterschilderung und Gedankeninhalt ─ werden also im „Schauspiel“ ganz in erster Linie in Betracht kommen, und zwar, wie aus dem Obigen sich von selbst ergibt, nicht etwa als accidentielle Schönheiten dieser Dichtungsart, sondern als konstitutive Hauptteile ihres Aufbaues. Je mehr die moderne theoretische Betrachtung sich gewöhnt hat, den Schwerpunkt aller dramatischen Dichtung und besonders der Tragödie in der Charakteristik der handelnden Personen und in dem Gedankengehalt, in der zur Geltung gebrachten „Jdee“ zu suchen, desto schärfer muß es betont werden, daß das A und das O der Tragödie in der die Schicksalsempfindungen weckenden Handlung liegt, in dem verhängnisvollen Gange der Ereignisse. Jmmer wird ein solcher zu Äußerungen der Leidenschaft Veranlassung geben müssen, und dieselben werden natürlich für die Eigenart der Handelnden charakteristisch sein; aber es ist etwas anderes, wenn dieselben nur insofern dargestellt werden, als eben die Handlung dazu die Veranlassung gibt, oder wenn umgekehrt die Tragik nur durch die Charakterbeschaffenheit herbeigeführt wird. Das Letztere, welches der Fall bei der Gattung der ethischen Tragödie ist, erfordert allerdings eine umfänglichere und eingehendere Behandlung der Charakteristik; die moderne Tragödie bevorzugt diese tragische Gattung ganz besonders: immerhin ist auch hier die Schilderung des Ethos nur Mittel und vorbereitend, der Schwerpunkt bleibt unveränderlich in der Darstellung des dadurch Hervorgebrachten gelegen, also in den tragischen Ereignissen selbst. Es ist ein Zeichen der tragischen Meisterschaft, wenn auch in diesem specifischen Falle jenes vorbereitende Material zu Gunsten des eigentlichen Gegenstandes so viel als möglich eingeschränkt wird; Shakespeare leistet an Kühnheit der Abkürzung, Vereinfachung, ja mitunter der gewaltsamen Kompression solcher Partien das Äußerste, lediglich um für das eigentliche tragische Werk ─ das ἔργον τραγῳδίας ─ vollen Raum zu gewinnen. Ganz anders ist im „Schauspiel“, wo vielmehr der Gang der Dinge gemäß dem Ethos der die Handlung lenkenden Person seine Wendung nimmt, durch deren ruhiges Gleichmaß die ungestümen Wogen des Schicksals gleichsam sich sänftigen, die möglichst breite und vollständige Äußerung der Hauptcharaktere selbst ein wesentlicher Teil der Handlung, ohne welchen sie gar keinen Bestand haben würde; und nicht minder wie sie die Darlegung der für die Durchführung solcher Übermacht über das Schicksal jedesmal in Betracht kommenden Meinungen, Überzeugungen, allgemeinen Gedanken. Die gesamte Handlung kann sich hier zum Plaidoyer für eine bestimmte Jdee gestalten, deren konsequente, klar bewußte Vertretung eben das entscheidende, obsiegende Element in dem Gange der Dinge ausmacht. Gemäß allen diesen Bestimmungen fängt das „Schauspiel“ jenseits der Grenzen der ethischen Tragödie an und hört diesseits der Grenzen der Charakter-Komödie auf. Jn der Tragödie ist das Hamartema in der Form eines Jrrtums, eines Fehles in der Handlungsweise einer im Übrigen schuldlosen Person durch die Macht verhängnisvoller Umstände der Anlaß eines verderblichen Schicksals. Das tragische Schicksal als solches erweckt die reinen Empfindungen der Furcht und des Mitleids. Jn der Komödie ist das Hamartema als solches in der Form augenscheinlicher Verkehrtheit der Handlungsweise, also als Lächerliches, der Gegenstand des entsprechenden Empfindungsurteils, das in seiner wohlgefälligen Wirkung durch die Vorführung des gegenüberstehenden Richtigen zugleich geläutert und gekräftigt wird. Der Ernst der Schicksalsaffekte weicht vor den reinen Empfindungen des Lächerlichen und Wohlgefälligen. Das Schauspiel stellt das Hamartema in allen seinen Gestalten, als Jrrtum, Fehler, Verirrung und Verschuldung in seinem unvermeidlich gesetzmäßigen Einfluß auf die Gestaltung des Schicksals dar, ihm gegenüber jedoch als die stärkere Gewalt die Macht der Phronesis, welche die Verderblichkeit des Schicksals entweder aufhebt oder doch auf die Schuldigen beschränkt, so daß die Wirkung auf das Empfindungsurteil auch nach dieser Seite eine befriedigende, wohlgefällige ist, während im Übrigen durch sie der Ausgang zum Glücke gewendet wird. Die durch sie zur Herrschaft gelangenden Affekte sind einerseits das reine Wohlgefallen, andrerseits die reine Empfindung der Nemesis in allen ihren Formen, die durch die Beschaffenheit des Hamartema bedingt werden, also von der bloßen Mißbilligung bis zur schweren Jndignation und zur Empörung. Hierin liegt der Grund, warum die äußere Gestalt des Schauspiels eine so mannigfache sein kann, so daß der Begriff desselben ein schwankender geblieben ist, und man die zu dieser Gattung gehörigen Stücke bald dem Trauerspiele, bald dem Lustspiele zugerechnet oder noch andere Gattungsnamen für dieselben erfunden hat. Denn es ist klar, daß die Gesetze dieser Gattung alle Wirkungen vom Furchtbaren bis zum Heitern zulassen: nur daß das Furchtbare hier immer allein auf die Befriedigung des Gefühls der Nemesis abzielen kann, welches grundverschieden ist von der durch die tragische Katharsis in der Seele auferbauten Ehrfurcht vor der Majestät des ohne Verschulden hereinbrechenden Verhängnisses; und daß das Heitere nicht als die Wirkung der aus der Darstellung des Verkehrten als solchem resultierenden Lächerlichkeit entsteht, sondern, was etwas ganz anderes ist, aus dem Siege klarer Einsicht, fester Seelenhaltung und harmonischen Gemütes über Trübungen, Jrrungen und gefährdende Angriffe aller Art. So kann es weiter nicht in Erstaunen setzen, in derselben Gattung so sehr verschiedene Dramen zu finden, wie Shakespeares „ Richard III.“ und „ der Kaufmann von Venedig “ und wie Lessings „ Nathan “ und seine „ Minna von Barnhelm “. Es ist das Großartige und Gewaltige, das Erschütternde und Furchtbare in „ Richard III.“, was die Kritik wie die allgemeine Stimme veranlaßt hat, das Stück als Tragödie aufzufassen. Aber wenn auch das Schicksal mit machtvoller Stimme aus der Dichtung zu uns spricht, so ist dieses Schicksal doch unter keinem Gesichtspunkt als ein tragisches zu erkennen. Jn gewaltthätiger Zeit gelangt ein unerhört gewissenloser und ebenso energisch kühner Usurpator durch eine Kette entsetzlicher Verbrechen an sein Ziel und geht, nachdem er eine Weile sich durch die Mittel der äußersten Tyrannei behauptet hat, in sich selbst gebrochen an der unerbittlichen Logik der durch ihn selbst geschaffenen Thatsachen und Verhältnisse zu Grunde, um einer besseren Epoche Raum zu geben. Darin liegt allerdings eine Peripetie größten Stiles, aber keineswegs eine tragische; nicht ein uns mit Furcht und Mitleid erfüllendes Verhängnis tritt uns hier entgegen, sondern der in gerader Linie sich entwickelnde Vollzug eines einfachen sittlichen und historischen Gesetzes gewährt unserem Gerechtigkeitsgefühl die ersehnte Befriedigung. Wenn irgendwo, so kommt hier die Empfindung der Nemesis zu ihrem vollen Rechte. Denn auch die von dem Wüten des Tyrannen Dahingerafften fallen durch die Konsequenzen der eigenen Schuld, mit der sie sich zu Werkzeugen seiner Verbrechen oder zu Teilnehmern an seinem verbrecherischen Gewinne machten. Die jungen Prinzen freilich werden völlig schuldlos geschlachtet, aber um so weniger ist ihr Schicksal ein tragisches; es dient nur dazu, die Wucht des auf allen Teilhabern der ungeheuren Schuld lastenden Fluches zu verstärken und seinen Vollzug zu beschleunigen. Es gibt vielleicht kein zweites Beispiel, das die positive Macht, die in der Darstellung des Negativen liegen kann, so deutlich bezeugt, welches so klar das Reciprocitätsverhältnis zwischen den Nemesisempfindungen und der hedonischen Wirkung, die der Zweck aller Kunst ist, vor Augen stellt, als dieses Stück. Jn der Dichtung aller Zeiten und Völker gibt es keinen zweiten Stoff, der in gleicher gewaltiger Stärke und zugleich in so unvermittelter Reinheit diese Empfindungen der Nemesis hervor= riefe: die Empörung über unerhörte Thaten, mit denen das Stück beginnt und die sich in seinem Verlauf dennoch nicht allein häufen, sondern in einer fast das menschliche Fassungsvermögen überschreitenden Weise steigern; und mit ihr den immer übermächtiger aufsteigenden Zorn über die fortlaufende Kette von glänzenden äußeren Erfolgen dieser Thaten, den alle Tiefen der Seele erschütternden Fluch, in welchem dieser empörte Zorn einen nie wieder in dieser zerschmetternden Kraft erreichten Ausdruck gewinnt und von dem das ganze Stück wiederhallt. Endlich in der buchstäblichen Erfüllung aller dieser Flüche, da Empörung und Zorn in vollem Maße Genüge finden, werden die wie in furchtbarer Brandung sich überstürzenden Wogen der erregten Nemesis-Empfindungen gesänftigt, und, die Seele beruhigend und zugleich erhebend, eröffnet sich ein Ausblick auf die geglättete und weithin im Sonnenschein erglänzende Fläche, die Heitre nach dem Sturm! Das Große aber in all dieser reichen Kunstentfaltung ist, daß an der Einheit und Vollständigkeit dieser unvergleichlich gewaltigen Handlung auch nicht das Geringste mangelt: d. h. mit andern Worten, daß in ihrem Aufbau volle innere Wahrheit herrscht, so daß das Unerhörte begreiflich, das Verwickelte einfach, das buchstäblich genaue Eintreffen der geforderten Schicksalserfüllung natürlich und notwendig erscheint. Selbst das Wunderbare, dessen sich der Dichter, kühnlich seinem Ariel vertrauend, zur Herbeiführung der Hauptentscheidung bedient, unbekümmert um die historische Prägung des Ganzen, überrascht nicht, die sorgloseste Hinwegsetzung über die äußerliche Wahrscheinlichkeit der Raum- und Zeitverhältnisse kann nicht Befremden und Anstoß erregen vor der jede andere Rücksicht verdrängenden Konsequenz des Nemesisvollzuges. Der hoch erhabene, ästhetische Genuß daran beruht aber einzig und allein in der ganz ungewöhnlichen Kraft der Nemesis, mit der das Stück den Hörer erfüllt, und ihrer Auflösung in die reine Freude an dem sicheren Bewußtsein der ewig unerschütterlich geltenden Sitten= und Weltgesetze. Die Versuche, Richard III. als eine „echt tragische Gestalt“ darzustellen, entspringen sämtlich aus einer Verkennung des Wesens der Tragik. Sein überragender Geist und „die Überhebung der Willenskraft“ Vgl. Gervinus, Shakespeare I. S. 340 ff. machen ihn ästhetisch und als den Hauptträger der Handlung möglich, was ein gewöhnlicher niedriger Verbrecher niemals sein kann, aber sie machen ihn so wenig zu einem tragischen Helden als „die Bewunderung der Kraft, mit der er seine eigene Natur zu überwinden weiß“, um seine Zwecke zu erreichen. Alle diese Empfindungen haben mit den tragischen Affekten nichts gemein; wohl aber dient die Bewunderung, die der Dichter für seinen Helden zu erwecken weiß und durch welche dieses „Ungeheuer“, dieser „giftige Molch“ sich dennoch unwiderstehlich ein starkes ästhetisches Jnteresse der Zuhörer erzwingt, in hohem Maße dazu den künstlerischen Hauptzweck des „Schauspiels“ zu erreichen. Die Scene ist der Schauplatz großer historischer Kämpfe; ihr Gegenstand das höchste Ziel politischen Ehrgeizes; die alle andern Vorgänge überragende „ Größe “ dieser Handlung stellt die Frage in den Vordergrund, die zu allen Zeiten bei den großen politisch=historischen Entscheidungen sich erhoben hat und immer wieder erheben wird, nicht zwar principiell, aber desto eingreifender im thatsächlichen Gange des Lebens: die Frage, ob oder inwieweit die allgemeinen sittlichen und rechtlichen Gesetze bei solchen die wichtigsten Jnteressen der Gesamtheit bestimmenden Vorgängen ihre Geltung behalten. Hier hat die abstrakte Theorie ein Ende; die forschende Vernunft empfängt die Antwort aus dem ehernen Munde der Geschichte, das Genie des Dichters vernimmt den Wahrspruch und, die Jdee desselben erfassend, entrollt er die Größe der historischen Handlung in leichtfaßlichem Bilde, kunstreich ihre Fülle zur Einheit gestaltend, in ihrem einfach=großen, notwendigen Aufbau kein Glied der reichen Vollständigkeit ihres inneren Organismus unwiederholt lassend. So wird das historische Gesetz, das sonst nur dem forschenden Verstande und der Erkenntnis der Vernunft erscheint, in den Bereich des ästhetischen Urteils gerückt, ein Gegenstand der unmittelbaren Empfindung. Die hier entscheidenden, d. h. also im Sinne Kants die das ästhetische Urteil fällenden Empfindungen sind aber keineswegs die tragischen des Mitleids und der Furcht gegenüber einem ohne Verschulden und weit über die Verfehlung treffenden Schicksal, sondern die der lebhaftesten Mißbilligung gegenüber der sich entrollenden Handlung und der auf das Stärkste und Reinste gefühlten Billigung gegenüber dem waltenden historischen Gesetz, welches Recht und Unrecht an die ihm gebührende Stelle setzt: die sich gegenseitig klärenden Empfindungen der Nemesis und Hedone. An dem Beispiel von Shakespeares „Richard III.“ zeigt sich also, daß die als eine besondere Gattung betrachteten „ historischen Dramen “ nur insofern eine Abart bilden, als sie ihren Stoff und namentlich die in der Handlung lebendige Jdee dem wirklichen Lauf der Dinge, oder doch der als Geschichte aufgenommenen Überlieferung, entnehmen, daß sie aber nach ihrer technischen Einrichtung völlig unter den Gesetzen des „ Schauspiels “ stehen. Der historische Stoff an sich begründet keine besondere dramatische Technik; er verhält sich zu den Gesetzen der dramatischen Dichtung ganz ebenso wie jeder andre dem Leben entnommene oder fingierte Stoff: es wird einzelne Handlungen darunter geben, welche leicht sich der tragischen Behandlung fügen, andere werden der komischen Komposition sich darbieten; immerhin werden die Fälle selten sein, die ohne tief eingreifende Veränderungen die eine oder die andere zulassen. Weit zahlreicher werden diejenigen historischen Handlungen sein, welche unter das Gesetz des Schauspiels fallen, weil dieses seinem innersten Wesen nach, d. h. nach den Empfindungen, auf deren Erregung und Klärung seine Technik abzielt, es gestattet, die Geltung einer Jdee zum Gegenstande des ästhetischen Urteils zu machen, mit der Gewißheit derselben das Gefühl zu erfüllen. Denn in dem großen Gange der historischen Ereignisse gibt es unzählige Fälle, in denen bei der Wichtigkeit der einander entgegenstehenden Jnteressen die Stimmen des Verstandes und des Gefühls einander widerstreiten oder doch ungewiß in ihrer Entscheidung werden, andere, in denen es scheint, als ob ihren offenbaren Forderungen Hohn gesprochen würde, als ob die ewigen Gesetze, nach denen sie entscheiden, zeitweilig aufgehoben wären. Hier ergreift der Dichter seinen Stoff, und indem er die Ereignisse von dem Gesichtspunkte jener höheren Einheit überblickt, wo sie der berechtigten Forderung jener mächtigen Stimme des unbeirrten gläubigen Gefühls entsprechen, stellt er sie zugleich in der inneren Vollständigkeit dar, welche einem solchen Ausgange für die unmittelbare Sinneswahrnehmung die überzeugende Gewißheit verleiht. Es kann hinzugefügt werden, nur durch solche künstlerische Behandlung, indem also der Dichter seinen Stoff entweder nach den Gesetzen der Tragödie oder der Komödie oder nach denen des Schauspiels behandelt, sind historische Handlungen überhaupt der dramatischen Nachahmung fähig. Jm anderen Falle sinken sie, und wenn sie in allem Übrigen mit noch so vielem Glanz der Ausstattung bekleidet werden, zu dem niedrigen Niveau bloßer Staatsaktionen herab. Die ganze Reihe von Shakespeares „ Historien “ zeigt ihn auch auf diesem Gebiete als den Meister, der mit allen Gesetzen der dramatischen Kunst auf das Jnnigste vertraut ist. Ebenso hat Schillers Genius mit sicherem Meistergriff für die dramatische Behandlung des stark der epischen Bearbeitung sich zuneigenden Stoffes seines „ Wilhelm Tell “ in Übereinstimmung mit dem oben entwickelten Gesetze die das Ganze beherrschende Einheit erfaßt. Jn der Versammlung auf dem Rütli, die eben dadurch in dem Stücke ihre unentbehrliche Stellung hat, spricht Stauffacher diesen Einheitsgedanken geradezu aus: Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht. Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last ─ greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ew'gen Rechte, Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst. Und ebenso Tell späterhin auf dem Höhepunkte der Handlung: Du bist mein Herr und meines Kaisers Vogt; Doch nicht der Kaiser hätte sich erlaubt, Was du. ─ Er sandte dich in diese Lande, Um Recht zu sprechen ─ strenges, denn er zürnt ─ Doch nicht, um mit der mörderischen Lust Dich jeden Greuels straflos zu erfrechen; Es lebt ein Gott, zu strafen und zu rächen. Dennoch zeigt ein vergleichender Blick auf „Richard III.“ die große Überlegenheit Shakespeares in der Auswahl und Behandlung seines historischen Stoffes. Es ließe sich an dem Stücke eine besondere Studie über die Mittel durchführen, die dem geschichtlichen Material die ihm naturgemäß eigene epische Breite nehmen, an den richtigen Stellen kühn und fest den Apparat des äußerlichen Hergangs ins Kurze zusammenziehen, um überall die von innen, aus der Tiefe der Persönlichkeit wirkenden Triebfedern hervortreten zu lassen und vor Allem in jedem Teile des Körpers der Handlung gleichsam als die bewegende Seele die in dem Ganzen lebendige Einheit zu zeigen. Mit welcher höchsten Kunst ist in dem furchtbaren Herzog von Gloster der ganze Fluch der unheilvollen Zeit zusammengehäuft! Er selbst nur möglich auf dem Untergrunde dieser entsetzlichen Vorgeschichte, die gleichwohl durch die Handlnng des Stückes selbst in allen ihren Teilen unmittelbar vor das Auge tritt, alle Fäden der weitverzweigten Handlung in ihm sich vereinigend, jeder weitere Fortschritt derselben unmittelbar oder doch mittelbar durch ihn allein bestimmt, endlich, nachdem die ungeheuere Spannung ihr äußerstes Maß erreicht hat, der Sturm bis zum rasenden Wüten des Orkans gestiegen ist, in seiner Person die lange drohend prophezeite, zerschmetternde Entladung und aus ihrer Schrecknis der Anbruch eines neuen, Glück verheißenden Tages! Ein anders geartetes Musterbeispiel der Gattung ist Lessings „ Nathan der Weise “. Auch dieses hat seinesgleichen nicht in aller Litteratur; niemals vorher oder nachher ist es einem Dichter gelungen, die der Gattung des Schauspiels eigene Fähigkeit der Jdeendarstellung bis zu einer so weit gesteckten Grenzlinie auszudehnen, ohne doch die überall geltenden dramatischen Haupt- und Grundgesetze im mindesten zu verletzen. Die historische Schauspielhandlung trägt die durch sie dargestellte Jdee in sich selbst; hier ist eine ganz frei erfundene Handlung so kunstreich komponiert, daß sie, obwohl in ununterbrochenem, naturgemäßem und notwendigem Fortschreiten aus ihrem Kern sich entwickelnd, doch in jedem ihrer kleinsten Teile der nach allen Seiten hin vollständigen Darlegung einer großen Jdee dienstbar gemacht ist. Dadurch würde die Natur der Tragödie ebenso wie der Komödie aufgehoben werden; das Wesen des Schauspiels wird gerade dadurch erfüllt: denn die Handlung ist so eingerichtet, daß durch jeden Schritt ihrer Entwickelung ebenso wie durch ihren Ausgang Mißbilligung und Wohlgefallen, Unwillen und Freude, kurz alle Arten der Nemesisempfindungen einerseits und andrerseits die stärkste hedonische Empfindung an der Erscheinung der echten Phronesis, durchweg an das Verhalten gegenüber einer ganz bestimmten Frage geknüpft sind. Es ist die Frage der Duldsamkeit gegen fremde religiöse Bekenntnisse, und zwar diese Frage nicht als Theorem aufgefaßt, wo es also um die bloße dialektische Sonderung abstrakter Begriffe sich handeln würde, sondern als eine die gesamte Empfindungs=, Gesinnungs= und Handlungsweise ─ Pathos, Ethos und Praxis ─ von Grund aus bestimmende Alternative. Daher ist Lessings „Nathan“ weder ein Lehrgedicht noch ein Tendenzstück, sondern ein wirkliches Drama und echte Poesie. Gewisse, oft zitierte und viel mißbrauchte, briefliche Äußerungen des Dichters können nur den Schein eines Zweifels daran begründen: wenn er „das Theater als seine Kanzel“ gebrauchte, so war er der Mann, der die Gesetze der dramatischen Kunst genügend kannte und respektierte, um das in der Weise zu thun, in der allein er seinen Zweck erreichen konnte, d. h. indem er die Mittel, deren er sich bediente, ihrer Natur gemäß verwandte, in dem Element, in dem sie zu wirken bestimmt und geeignet sind. Von ihm am allerwenigsten sollte man voraussetzen, daß er zu hohem Fluge Schwingen entfaltet hätte, um dann seinen Weg zu Fuß zurückzulegen. Die vertraulich burschikose Wendung, daß er der intoleranten Orthodoxie einen Possen spielen wollte, ist noch weniger geeignet irre zu führen; es war ihm eine heilige Herzenssache, den reinen Adel einer von der Gesinnung wahrer Duldung durchdrungenen Handlungsweise zu zeigen, ebenso die schöne Erscheinung eines in solchen Gesinnungen gebildeten reinen Empfindens. Unter allen Darstellungsmitteln, deren die Sprache fähig ist, gab es keines, durch das diese Aufgabe so umfassend und mit so sicherer, unmittelbarer Überzeugungskraft gelöst werden konnte, als durch die Nachahmung einer durch diese Empfindungen und Gesinnungen in Bewegung gesetzten Handlung. Eine solche aber bedurfte notwendig des Widerspieles der entsprechenden Gegensätze und zwar in mannigfachen Graden ihrer Abstufung. Die Wirkung ist die um so sicherere Klärung und Befestigung des dadurch hervorgerufenen ästhetischen Urteils. Von dieser Seite erhält ein vielumstrittener, ja der meistgescholtene Umstand in der Anlage der Handlung die rechtfertigende Begründung: so wahr ist es, daß die Lebhaftigkeit und Deutlichkeit der Nemesisempfindungen über die Verletzung der Wahrheit, des Rechtes und der Natur am besten vermögend sind, die Katharsis der entsprechenden positiven Empfindungen und Gesinnungen zu vollenden, daß es als ein von tiefster Einsicht gelenkter Meistergriff Lessings zu erkennen ist, wenn er die reinsten Begriffe der Duldung in die Brust des Juden Nathan legte, als eines Angehörigen des Stammes, der von beiden herrschenden Bekenntnissen am meisten Unrecht gelitten hatte. Jst doch die reinste Verkündigung der Wahrheit zu allen Zeiten von denjenigen ausgegangen, denen ihre stärkste Verdunkelung die schwersten Leiden auferlegte, und ist doch die Geschichte des Begründers der Religion der Liebe dafür das beredteste Zeugnis. Die Handlung des „Nathan“ ist eine verwickelte, da der Umschwung zum Glück auf Erkennung beruht; eine Peripetie, im umgekehrten Sinne, ist insofern vorhanden, als die durch das Vorgehen des Tempelherrn heraufbeschworene, drohende Gefahr, ganz seiner Absicht entgegen, die den glücklichen Ausgang herbeiführende Erkennung zuwege bringt, freilich in einer seine Leidenschaft nicht befriedigenden, aber doch sie beschwichtigenden Weise. Mit feinstem Kunstverstande hat Lessing alles gethan, um einmal die aufsteigenden Befürchtungen nicht zur tragischen Schwere anwachsen zu lassen, und sodann, um die Spannung des stofflichen Jnteresses an der Handlung rechtzeitig so völlig zu lösen, daß die spezifischen „ Schauspiels “=empfindungen die ungeteilte Herrschaft behalten. Die Haupthandlung sowie sämtliche Nebenhandlungen sind mit unvergleichlichem Geschick ganz unter diesen einen Gesichtspunkt gerückt, wie ja die Erfindung derselben organisch aus dem Kerne der Erzählung von den drei Ringen in Boccaccios Novelle erwachsen war. Gleich in der Exposition zeigt die zweite Scene des ersten Auf= zuges die ganze Fülle der Einsicht und des Gesinnungsadels, die sich in Nathan zu der erhebenden und erquickenden Anschauung vollendeter Phronesis vereinigen, ebenso zweckmäßig für die Jdee des Ganzen, als zwanglos und dramatisch lebendig. Zugleich enthüllt sich damit die entzückende Gesundheit, Klarheit und Richtigkeit des Empfindens, zu dem er seine Recha erzogen hat: ein Bild von der höchsten Schönheit und wieder „mit strengem Richtmaß nach dem Ziele“ der Jdee des Dramas gestellt. Für diese beiden, im vollen Sinne des Wortes „ idealen “ Figuren kann der Verlauf des Stückes nichts Neues hinzubringen: er kann nur dazu dienen, den Reichtum dieser herrlichen Naturen als eine Quelle des höchsten hedonischen Wohlgefallens zu entfalten, ihn aus der Tiefe seines Werdens verständlich zu machen und so durch seine „ vollständige “ Nachahmung den Hörer mit seiner Segnung zu überschütten. Nach der Seite der Einsicht leistet darin die siebente Scene des dritten Aktes, der Mittelpunkt des Ganzen, das Höchste durch die Kunst, mit der hier der Gedanke ganz der Anschauung fähig gemacht, und diese letztere zu einem unfehlbar wirkenden Mittel kraftvoller Mitteilung des erhabensten Ethos gestaltet ist. Zugleich ist durch den Aufbau der Beziehungen zwischen Nathan und Saladin die Erzählung der Parabel von den Ringen als ein lebendiges Glied in die Entwickelung des Handlungsverlaufes eingefügt, und zwar sowohl äußerlich wirkend, indem die Annäherung Nathans an den Sultan die Erkennung des Tempelherrn und Rechas vorbereitet, als innerlich, indem sie für Nathans große und schöne Auffassung der religiösen Duldung den Sultan ganz gewinnt. Ebenbürtig dieser berühmten Scene ist der siebente Auftritt des vierten Aktes. Die äußere Veranstaltung der Entdeckung von Rechas Herkunft hat der Dichter zu benutzen gewußt, um in die Prüfungen und Kämpfe, durch die Nathans Gesinnungsweise zu dem reinen Golde geläutert ist, das aus jedem seiner Worte hervorleuchtet, einen tiefen Einblick zu gewähren. Und wie geschickt ist auch diese ergreifende Erzählung, die Nathan dem Klosterbruder vertraut, als ein notwendiges Stück der dramatischen Ökonomie motiviert! So aber ist die ganze Handlung komponiert: während die dramatische Verwickelung ohne Aufenthalt fortschreitet und zu ihrer Lösung eilt, ist jeder Schritt derselben und jede charakteristische Äußerung und Entschließung der beteiligten Personen doch von der Beschaffenheit, daß sie dieselben in die deutlichste Beziehung zu der Hauptidee setzt. Alle Schattierungen der Fehlerhaftigkeit des Verhaltens gegenüber der Gesinnungsweise der edlen und weisen Duldung Nathans sind da vertreten. Die vulgär=beschränkte Glaubenstreue der gutmütigen Daja, die sie ohne vieles Bedenken den für ihren Wohlthäter verhängnisvollsten Schritt thun läßt, die leidenschaftliche Übereilung, die den vorurteilsfreien Templer trotzdem durch denselben Jrrtum zu dem gleichen schlimmen Fehler hinreißt, die Verkörperung der verderblichen Macht der hierarchischen Verfolgungswut in dem Patriarchen, alle diese Verfehlungen in die lebhafteste dramatische Handlung gesetzt: sie erwecken die ganze Skala der Nemesisempfindungen an dem einen Problem der religiösen Duldung zu immer neuer Kontrastierung mit der in immer reicherer Fülle sich kund thuenden lebensvollen Erscheinung der wahren und guten, der schönen Gesinnung in dieser Frage. Nimmt man noch Saladin und Sittah, den Derwisch und den Klosterbruder hinzu, so treten auch auf der positiven Seite noch die mannigfachen Nüancen ihrer Vermischung mit allerlei leicht sich auch der richtigen Erkenntnis zugesellenden Schwächen hervor. So gelang es Lessing ─ und nichts ist geeignet, den Vorwurf tendenziös polemischer Haltung, den man seiner reifsten und auch künstlerisch vollendetsten Dichtung gemacht hat, kräftiger zu widerlegen ─, die schwerste Aufgabe zu lösen: dem hohen Ernste seines „Schauspieles“ die überlegene Heiterkeit eines über dem Streit der Parteien stehenden Gemütes zu vermählen. Leise Züge des Komischen und des Humors, stärkere der Satire sind allenthalben kunstreich in die Handlung verwoben; sie verscheuchen die Tragik, lassen keine Spur lehrhafter Absichtlichkeit aufkommen und wahren somit den Charakter der dramatischen Gattung, deren Aufgabe es ist, die goldenen Früchte der Einsicht der Empfindung zum freien ästhetischen Genusse darzubieten. Hierin begegnen sich die bornierte Verschlagenheit Dajas und des Tempelherrn geradeaus gehende leidenschaftliche Hitze, die schlichte Einfalt des Klosterbruders und der brutale Fanatismus des Prälaten, der weltscheue Jndifferentismus Al Hafis und Saladins stolz=nachlässige Verachtung der ökonomischen Geschäfte, die ihn zwingt, bei dem Juden Nathan sich um finanzielle Hülfe und gelegentlich auch um die Mitteilung seiner Weisheit zu bemühen; die leichte Hinneigung der klugen Recha zu romantischer Schwärmerei, die genrehaften Scenen zwischen Saladin und seiner Schwester Sittah wirken nach derselben Richtung. Gleichwohl dienen alle diese Züge, die leisen und die stärkeren und stärksten, an keiner Stelle dazu, das Komische, Humoristische, Satirische um seiner selbst willen darzustellen, sondern überall nur, um von der im Mittelpunkt stehenden Jdee aus die Wechselwirkung der wohlgefälligen und mißbilligenden Empfindungsurteile ins Spiel zu setzen bis zur vollständigen Durchführung ihrer Katharsis. Dieselbe gelangt zu um so kräftigerer Wirkung, als die Weisheit des Dichters in der Lösung der Verwickelung jede andere leidenschaftliche Anteilnahme ausgeschlossen hat: durch die reine Flamme der allein die ganze Seele erfüllenden Freude an diesem Schauspiel, wie am Schlusse alle trennenden Verschiedenheiten des Glaubens, Standes, Alters und Geschlechtes in der vollen, gegenseitigen, ruhiginnigen Liebe verschwinden, wird auch bei dem Zuschauer jede Regung des Hasses, des Streites, ja des in die geheimsten Falten des Herzens eingenisteten Vorurteils hinweggeläutert. Es ist oben gesagt worden, daß das Schauspiel die breite Mitte zwischen der Tragödie und der Komödie einnimmt, daß es aber seiner Natur nach zum Lustspiel hinneigt. Der Grund liegt nun zu Tage. Jm Trauerspiel wird die rein hedonische Empfindung erst mittelbar durch die Katharsis der Furcht- und Mitleidsempfindungen hervorgebracht; von der Tragödie ist also das Schauspiel durch eine scharfe, wenn sie erst einmal festgestellt ist, nicht zu verkennende Grenze geschieden. Dagegen hat das Schauspiel mit der Komödie das eine Ziel der dramatischen Nachahmung gemeinsam, daß sie beide auf die unmittelbare Erregung der Lustempfindungen abzwecken; beider Wirkung hängt davon ab, daß entweder während des ganzen Handlungsverlaufes oder doch sicherlich beim Abschluß der Handlung die Empfindung lustvoller Befriedigung direkt zu voller Geltung gelangt. Der große, für jede der beiden Gattungen die ganz gesonderte Grundlage bestimmende Unterschied liegt aber darin, daß die gleichzeitig hervorgerufenen und komplementär wirkenden Affekte, durch deren Verein und Widerstreit mit den wohlgefälligen Empfindungen die Läuterung beider zum Abschluß gebracht wird, bei dem Schauspiel die der Jndignation und Nemesis, dagegen bei der Komödie die des Lächerlichen sind. Man sollte meinen, dieser Unterschied wäre ein so stark in die Augen fallender, daß eine Täuschung und daraus hervorgehende Unsicherheit der Grenzen ausgeschlossen wäre. Dennoch zeigt die nähere Betrachtung, wie schwer es in manchen Fällen ist, diese Unterscheidung durchzuführen; die Geschichte der dramatischen Kunst gibt davon ein sehr deutliches Zeugnis in den Theorien und dramatischen Schöpfungen, durch welche Diderot und Voltaire die komische Bühne zu reformieren bestrebt waren. Denn auch die Jndignations- und Nemesisempfindungen haben mit denen des Lächerlichen nun wieder das Gemeinsame, daß sie beide durch die Erscheinung des Fehlerhaften, Verkehrten hervorgerufen werden; nur daß dieses Fehlerhafte im ersten Falle derartig beschaffen ist und dargestellt wird, daß es ernsthaft wirkt, d. h. als ein Schädliches, Schmerzerregendes, Verderbliches die Mißbilligung erweckt, Unwillen, Empörung und das Verlangen nach ausgleichender Gerechtigkeit; und daß im andern Falle die Wirkung überhaupt nur zustande kommt, wenn das Ernsthafte an der Erscheinung des Fehlerhaften ausgeschlossen wird, wenn also alle die genannten Empfindungen, zu Gunsten der ungetrübten Heiterkeit der rein komischen Affekte, sowohl durch die Wahl des Gegenstandes, als namentlich auch durch dessen Behandlung sorgfältigst vermieden werden. Daß nichtsdestoweniger beide Gebiete sowohl in der Praxis als auch in der Theorie oft miteinander vermischt wurden, hat seinen Grund in dem einen großen Übelstande, der allenthalben der Entwickelung der modernen Poesie sich in den Weg gestellt hat: die Forderung einer moralisch bessernden Wirkung, die für die gesamte Dichtung als maßgebend galt, wurde nirgends mit größerem Nachdruck und mit dem Scheine besseren Rechtes erhoben als für alle Arten der komischen Poesie, besonders für die Komödie. Damit aber war im Grunde die Möglichkeit der reinen Erscheinung des Lächerlichen schon vernichtet; der ernsthafte Zweck, der als das oberste Princip die Gesetzgebung des Lustspiels bestimmte, verlangte geradezu die Erregung der Mißbilligung, des Unwillens, des Abscheus gegenüber dem dargestellten Verkehrten und vertilgte somit jenen fundamentalen Unterschied zwischen dem ernsten Schauspiel und der heitern Komödie. Aus dieser Verwirrung vermochte man nicht sich herauszufinden. Man suchte die unterscheidenden Merkmale also lediglich in einer Reihe von Äußerlichkeiten, die allerdings stark genug in die Augen fielen, und deren Beobachtung leicht genug war, die aber dem Verfall der Kunst nicht wehren konnten. Das Wesentlichste darunter, was seit Scaliger und Opitz als ein unerschütterliches Dogma feststand, war der Standesunterschied der für die Tragödie und für die Komödie geeigneten Personen; im engen Zusammenhang damit stand die Forderung einer „erhabenen“ oder „hohen Schreibart“ für jene und einer „niedrigen“ oder „gemeinen“ für diese. Bei Gottsched heißt es darüber im vierten Hauptstück seiner „kritischen Dichtkunst“, § 13 folgendermaßen: „Weiter können die Fabeln, teils im Absehen auf ihren Jnhalt, teils im Absehen auf die Schreibart, in erhabene und niedrige eingeteilet werden. Unter die erhabenen gehören die Heldengedichte, Tragödien, Staatsromane: darinnen fast lauter Götter und Helden, oder königliche und fürstliche Personen vorkommen, deren Begebenheiten in einer edlen Schreibart entweder erzählet oder gespielet werden. Unter die niedrigen gehören die adelichen und bürgerliche Romane, die Schäfereyen, die Komödien und Pastorale, nebst allen äsopischen Fabeln: als worinn nur Adel, Bürger und Landleute, ja wohl gar Tiere und Bäume in einer gemeinen Schreibart redend eingeführt oder beschrieben werden.“ Und dem entsprechend Hauptstück XI, § 17: „Die Personen, die zur Komödie gehören, sind ordentliche Bürger, oder doch Leute von mäßigem Stande, dergleichen auch wohl zur Not Baronen, Marquis und Grafen sind: nicht, als wenn die Großen dieser Welt keine Thorheiten zu begehen pflegten, die lächerlich wären; nein, sondern weil es wider die Ehrerbiethung läuft, die man ihnen schuldig ist, sie als auslachenswürdig vorzustellen.“ Dieses letztere aber möchte Gottsched höchstens „den republikanischen Köpfen“ der alten Griechen nachsehen; für die modernen Verhältnisse würde es seiner Grundanschauung, daß die „Moral“ der Komödie zwar nicht „die groben Laster“ aber die „lächerlichen Fehler der Menschen verbessern“ solle und daher jeden Anstoß zu vermeiden habe, arg widersprechen. Aus Gottscheds Definition der Komödie blitzt trotz des ungeschickten Ausdrucks ein richtiger Gedanke hervor, aber er wird durch jene Theorie von dem Berufe der Poesie zu bessern und „nützlich“ zu wirken sogleich wieder im Keime erstickt. Seine Definition lautet (vgl. XI, 13 ff.): „Die Komödie ist nichts anders, als eine Nachahmung einer lasterhaften Handlung, die durch ihr lächerliches Wesen den Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen kann. So hat sie Aristoteles beschrieben und zugleich erkläret, was er durch das Lächerliche verstände. Er sagt aber sehr wohl, daß es was ungestaltes oder ungereimtes sey, das doch Demjenigen, der es an sich hat, keinen Schmerz verursachet: wobey er aus dem Homer das Gesicht des Thersites zum Exempel anführet. Es ist also wohl zu merken, daß weder das Lasterhafte, noch das Lächerliche für sich allein, in die Komödie gehöret; sondern beydes zusammen, wenn es in einer Handlung verbunden angetroffen wird. Vieles läuft wider die Tugend; ist aber mehr strafbar und widerlich, oder gar abscheulich, als lächerlich. Vieles ist auch lächerlich: wie zum Exempel die Harlekinspossen der Jtaliener: aber darum ist es doch nicht lasterhaft. Beydes gehört also nicht zum Wesen eines rechten Lustspiels: denn Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci, Lectorem delectando, pariterque monendo .“ Von diesem Standpunkt aus verwirft er dann sowohl die „ganz tugendhafte Komödie“, wie sie von Gellert verteidigt worden war, als „die bewegliche und traurige, die von den Franzosen Comedie larmoyante genennet wird,“ und die er seinerseits lieber als „bürgerliche oder adeliche Trauerspiele“ bezeichnen möchte. Jn Konsequenz dessen heißt es dann im § 21: „Von den Affekten ist hier ebenfalls nichts neues zu sagen, als daß man die tragischen, nämlich die Furcht, das Schrecken und Mitleiden zu vermeiden habe. Daher hat Destouches viel gewaget, da er in seinem Verschwender diesen Affekt zu erregen gesucht; doch so, daß er sich endlich wieder in Freude verwandelt. Jndessen haben Stücke dieser Art in Paris ziemlichen Beyfall gefunden; und fast eine neue Art von Komödien zu machen angefangen, die man die heulende ( larmoyante ) nennet. So hat man denn des Boileau Regel ganz vergessen, wenn er in seiner Dichtkunst schreibet: Le Comique, ennemi des Soupirs et des Pleurs, N'admet point dans ses Vers de tragiques Douleurs . Allein, wenn man dergleichen Stücke, wie ich oben gedacht, bürgerliche Trauerspiele nennet, oder Tragikomödien taufet, so könnten sie schon bisweilen stattfinden. Alle übrigen Leidenschaften finden in der Komödie auch statt.“ Die Comoedia commovens , das rührende oder, wie die Gegner es nannten, das weinerliche, larmoyante Lustspiel entstand aus dem Gefühl des Überdrusses, den die Einseitigkeit der lediglich die negativen Bilder aufsuchenden Komödiendichtung notwendig hervorrufen mußte. Selbst der Meister der sogenannten „hohen Komödie“, selbst Moliè re ist von dieser Einseitigkeit keineswegs völlig freizusprechen; die Fähigkeit, das in Wahrheit „ästhetisch“ Lächerliche als solches dramatisch darzustellen, steht ihm im höchsten Grade zu Gebote: dieser Fähigkeit entspricht aber bei weitem nicht seine Kunst, der lächerlichen Erscheinung und Handlung nun das unmittelbar Wohlgefällige, das durch sein bloßes Dasein Erfreuende, Entzückende gegenüberzustellen. Was das bedeutet, erkennt man sofort, wenn man auch nur in Gedanken von ihm zu dem Zauber der positiven Gestalten in Shakespeares Lustspielen hinüberblickt; wenn man gegenüber der relativen Einförmigkeit der Liebhaber und Liebhaberinnen in Molières Komödien, seiner Jsabelle, Leonore, Mariane, Agnes, seiner Valere, Horace, Cleanthe, Leandre und wie sie alle heißen mögen, des verschwenderischen Reichtums gedenkt, mit welchem Shakespeares komische Muse ihre Lieblinge ausstattete. Bei Molière stellt sich der Erinnerung unter all den verschiedenen Namen im Grunde fast die nämliche Figur dar, bei Shakespeare ist ihr mit jedem neuen Namen die Vorstellung einer fest umgrenzten, reich entwickelten Persönlichkeit notwendig verbunden. Hier ist Kraft und Adel, Tiefe und Fülle, hinreißende Schönheit und köstliche Frische, sanfte Anmut und sprudelnde Laune, feste, klare Besonnenheit und neckisch=naiver Übermut, alles in einer Mannigfaltigkeit und zugleich überzeugenden Wahrheit der Mi= schungen, daß der Dichter, weit davon entfernt etwa nur eine Nachahmung der alltäglichen Wirklichkeit geben zu wollen, vielmehr in jedem Falle die Vorstellung des Hörers von der menschlichen Gattung erweitert, sie erhöht und adelt. So erst gewinnen seine nicht weniger meisterhaften Darstellungen des Fehlerhaften und Mißgeformten als solchen, seine lächerlichen Figuren also, ihre volle Wirkung, indem zwischen ihr und der ihr entgegengesetzten wohlgefälligen Empfindung in jedem Falle sich die tiefgreifendste und fruchtbarste Wechselwirkung entspinnt; von daher erhalten diese Dichtungen den nie alternden, mit immer erneuter Kraft bewegenden, lebendigen Reiz, der sie vor allen andern auszeichnet. Wenn nun aber schon Molière in diesem wesentlichen Punkte sich nicht zulänglich erweist, um wievielmehr mußte jene einseitige Richtung der Komödie seine Nachfolger herabdrücken, die an der Wahrheit der Empfindung, Schärfe des Blicks, Mannigfaltigkeit der Erfindung, an Kunst der Darstellung und komischer Kraft so weit hinter ihm zurückblieben. Da man sich nun nach einem Hülfsmittel umsah, um das Jnteresse stärker zu erregen, verfiel man, bei dem zunehmenden Streben nach Naturwahrheit der Nachahmung und bei der neu auftretenden Tendenz, das Gebiet des Tragischen auf die Darstellung bürgerlicher Verhältnisse auszudehnen, um so eher darauf, das Element des „ Rührenden “ in das Lustspiel aufzunehmen, als damit die am dringlichsten gestellte Forderung, die Befriedigung des Leidenschaftsbedürfnisses, erfüllt wurde. Da man also im Drama überhaupt nur die naturgetreue Nachahmung der Wirklichkeit erblickte, die Komödie aber herkömmlicherweise als die Darstellung der Handlungen der „ hommes du commun “ galt, da ferner die Beobachtung allgemeine Anerkennung fand, daß das genre touchant et attendrissant hier ebensowohl stattfinden könne als in den „ intrigues tragiques “, so hinderte nun nichts mehr, daß Komödien entstanden, in denen das Lächerliche ganz fehlte und statt dessen bis zu dem alles wieder ausgleichenden Schluß die Thränen flossen. Das Räsonnement, mit dem sich Voltaire der eifrig diskutierten Streitfrage, „ s'il est permis de faire des comédies attendrissantes “, gegenüberstellte, ist höchst bezeichnend für die völlige Äußerlichkeit seiner Betrachtungsweise. Die Komödie gilt ihm überhaupt als die „ représentation des mœurs “; daher scheint ihm jedes genre gut, sofern es nur „gut behandelt ist“, d. h. also in seinem Sinne, sobald es „Sitten“, gesellschaftliche Zustände wahrheitsgemäß schildert. Jn der Vorrede von 1738 zu seinem Enfant prodigue , welches Lustspiel er als „ un mélange de sérieux et de plaisanterie, de comique et de touchant “ bezeichnet ─ freilich ist darin das Letztere fast ebenso abgeschmackt und widerwärtig als das Erstere ─, gesteht er doch allen andern Arten der Komödie uneingeschränkte Berechtigung zu: il y a beaucoup de très bonnes pièces où il ne règne que de la gaieté; d'autres toutes sérieuses; d'autres mélangées, d'autres où l'attendrissement va jusqu'aux larmes . Oft zitiert ist die wohlfeile Entscheidung, bei der sich seine Theorie beruhigt: das beste Genre ist „ celui qui est le mieux traité “, und weiter in derselben Vorrede: „ Encore une fois tous les genres sont bons, hors le genre ennuyeux .“ Jn seiner Nanine meinte nun Voltaire für die „ ganz ernste “ Komödie ein solches Muster der „besten Behandlung“ gegeben zu haben, und nichts kann für die Konfusion und Oberflächlichkeit seiner theoretischen Begriffe von den Gesetzen des Dramas charakteristischer sein als die Art, wie er in der Vorrede zu dem Stücke (1749) dasselbe gegen die Schrift eines Akademikers, de la Rochelle, verteidigt, welche durch ihre Bekämpfung der rührenden Lustspiele damals Aufsehen gemacht hatte. Er scheint zunächst freilich jenem beizustimmen, wenn er zugibt: „ il condamne avec raison tout ce qui aurait l'air d'une tragédie bourgeoise. En effet que serait-ce qu'une intrigue tragique entre des hommes du commun? ce serait seulement avilir le cothurne; ce serait manquer à la fois l'objet de la tragédie et de la comédie; ce serait une espèce bâtarde, un monstre né de l'impuissance de faire une comédie et une tragédie véritables .“ Aber die Ursache der eingetretenen Verwirrung findet er vielmehr darin, daß die Tragödie über die Grenzen ihres Gebietes hinausgegangen sei, indem sie auch die Passion de l'amour naïf et tendre in ihren Bereich gezogen habe, qui seul est du ressort de la comédie . Jn dem ton familier et quelquefois bas , den die Tragödie infolgedessen neben den Accenten des Heroismus angenommen habe, findet er die Ursache, weswegen in Frankreich eine erträgliche Komödie sich so schwer habe entwickeln können: c'est qu'en effet le théâtre tragique avait envahi tous les droits de l'autre. Il est même vraisemblable que cette raison détermina Molière à donner rarement aux amans qu'il met sur la scène une passion vive et touchante: il sentait que la tragédie l'avait prévenu . Allerdings verlangt Voltaire am letzten Ende, daß das Element des Lächerlichen in der Komödie nicht fehlen dürfe: la comédie, peut donc se passioner, s'emporter, attendrir, pourvu qu'ensuite elle fasse rire les honnêtes gens. Si elle manquait de comique, si elle n'était que larmoyante, c'est alors qu'elle serait un genre trèsvicieux et très-désagréable . Aber die „Mischung“, auf die er sich so viel zugute thut, ist bei ihm eine völlig äußerliche, unorganische; das weit überwiegende Element in seinen Komödien ist eine stark sich vordrängende tendenziöse Moral, zu deren Exemplifikation eine peinlich bewegende Handlung in Scene gesetzt wird; die sehr schwächlichen „komischen“ Partien wirken nicht als solche, sondern als widerwärtige Zerrbilder. So bleibt der Eindruck des Ernstes überwiegend, hauptsächlich nach dieser Seite hin sind alle sich darbietenden Effekte in möglichst hohem Grade ausgebeutet, aber dieser Ernst ist kein ästhetisch erfreuender, sondern durch erkünstelte Rührungen und moralisierende Absichtlichkeit gleich stark verdrießender; indem nun zugleich auf der andern Seite das diesem Ernste entsprechende Gegengewicht in der Darstellung des Negativen fehlt, indem nämlich das Fehlerhafte statt ernsthaft als solches aufzutreten, als schädlich und verderblich somit den Nemesisempfindungen anheimzufallen, vielmehr ungeachtet seiner Mißbilligung erweckenden Erscheinung den Anspruch erhebt, durch Komik zu erfreuen, so entsteht aus solcher „ mélange “ in der That jenes „ genre très-vicieux et très désagréable “, welches Voltaire so siegesbewußt überwunden zu haben meint. Anders und viel konsequenter verfuhr Diderot, indem er in seinem „ Fils naturel “ und seinem „ Père de famille “ ein neues Genre zu erschaffen beabsichtigte, welches den Zwischenraum zwischen der Komödie und der Tragödie auszufüllen bestimmt war, das „ genre sérieux “. Sein „dramatisches System“ stellt er in dem discours de la poésie dramatique in folgenden Definitionen dar: La comédie gaie qui a pour objet le ridicule et le vice. La comédie sérieuse qui a pour objet la vertu et les devoirs de l'homme. La tragédie qui auroit pour objet nos malheurs domestiques. La tragédie qui a pour objet les catastrophes publiques et les malheurs des grands . Es ist hier die sorgfältigste und schärfste Unterscheidung erforderlich; denn in dem ganzen Diderotschen „Diskurs von der dramatischen Dichtung“ ist das Wahre und Falsche so vielfältig und so fein gemischt, daß man seiner eindringlichen Beredsamkeit gegenüber die Waffen strecken muß, wenn man den Angriff nicht gegen ihre Grundlagen richtet. Zunächst scheint alles in bester Ordnung. Wenn die „hohe Komödie“ die negative Seite der menschlichen Handlungen darstellte ─ le ridicule et le vice ─, so verlangt Diderot dagegen, daß auch der positiven Seite ihr Recht werde, ja, da die menschliche Natur im Grunde gut sei, Der Satz steht für Diderot unerschütterlich fest; aber das naturphilosophische Argument, das er dafür vorbringt, ist mehr von rhetorisch=brillanter Wirkung als von daß ihre Darstellung vor jener bei weitem den Vorzug haben solle: also la vertu et les devoirs . Überall, sagt er, werden die pièces honnêtes et sérieuses ihre Wirkung üben, aber noch sicherer bei einem verdorbenen Volke als anderswo. Gute Menschen gibt es überall und: c'est toujours la vertu et les gens vertueux quil faut avoir en vue quand on écrit . Übrigens findet er auch in den ernsthaften Verirrungen, welche die Menschen aus Leidenschaft oder falsch verstandenem Jnteresse begehen, im Grunde das wahrhaft Lächerliche: le vrai ridicule des hommes et de la vie . Um die „Pflichten“ nun in ihrem vollen Umfange zur Darstellung zu bringen, macht er den Vorschlag, der ihm vor allem andern als ein Verdienst um die Reform des Theaters angerechnet ist, von dem sogar Lessing ganz besondern Vorteil gezogen habe: daß der Dichter des ernsthaften Dramas in seinen Hauptpersonen jedesmal den ganzen Stand derselben wenigstens in seinen wesentlichsten Beziehungen zeichnen und daraus die Grundlage seines Werkes machen solle. Er versteht aber unter diesen états, conditions des hommes nicht nur ihre Stellung im bürgerlichen Leben, sondern auch in der Familie und im Hause. Sein eigenes Beispiel bezeichnet am besten seine Meinung: c'est ce que je me suis proposé dans le „Père de famille“, où l'établissement du Fils et de la Fille sont mes deux grands pivots. La fortune, la naissance, l'éducation, les devoirs des pères envers leurs enfants et des enfants envers leurs parents, le mariage, le célibat, tout ce qui tient à l'état d'un père de famille, vient amené par le dialogue . Ein zweites Beispiel zeigt von einer andern Seite, wie er sich die Darstellung der „Stände“ am wirksamsten denkt, um die Aufgabe des drame honnête et sérieux zu erfüllen: bringe der Dichter z. B. den Stand des Richters auf die Bühne, so müsse er die Jntrigue so führen, que l'homme y soit forcé par les fonctions de son état, ou de manquer à la dignité et à la irgend welcher Beweiskraft für das Gebiet, auf welchem, umgekehrt wie in dem Walten der Naturkräfte, das Gesetz der sittlichen Verantwortlichkeit für den Einzelnen und jede seiner Handlungen herrscht: „La nature humaine est donc bonne?“ „Oui, mon ami, et très-bonne. L'eau, l'air, la terre, le feu, tout est bon dans la nature; et l'ouragan qui s'élève sur la fin de l'automne, secoue les forêts, et frappant les arbres les uns contre les autres, en brise et sépare les branches mortes; et la tempête qui bat les eaux de la mer et les purifie; et le volcan qui verse de son flanc entr'ouvert les flots de matières embrasées, et porte dans l'air la vapeur qui le nettoie. Ce sont les misérables conventions qui pervertissent l'homme et non la nature humaine, qu'il faut accuser. En effet, qu'est-ce qui nous affecte comme le récit d'une action généreuse? Où est le malheureux qui puisse écouter froidement la plainte d'un homme de bien?“ sainteté de son ministère, et de se déshonorer aux yeux des autres et aux siens, ou de s'immoler lui-même dans ses passions, ses goûts, sa fortune, sa naissance, sa femme et ses enfants . Überall findet er die Kraft, die Wärme, die lebhafte Färbung dieser Gattung in den süßen Rührungen, den starken Sensationen, den Thränen, den attendrissements sur les malheurs de la vertu . Er wünscht, daß alle nachahmenden Künste sich darin vereinen möchten, daß sie im Wetteifer mit den Gesetzen uns zur Liebe der Tugend und zum Hasse des Lasters bewegen möchten: pour nous faire aimer la vertu et haïr le vice . Weit mehr als die Darstellung leidenschaftlicher Jugendliebe empfiehlt er den Malern, das Bild zweier blinder Ehegatten zu malen, die noch im hohen Alter zu einander hingezogen, die Augen feucht von Thränen der Zärtlichkeit sich die Hände drückten und noch am Rande des Grabes ihre Liebkosungen austauschten. Aus alledem geht zunächst hervor, daß Diderot in den beiden wesentlichsten Punkten sich wenig über den beschränkten Standpunkt der alten Theorie erhebt: daß der Gegenstand der dramatischen Poesie die Nachahmung der Natur und Wirklichkeit sei, und daß ihr Zweck darin bestünde, auf die moralische Besserung der Zuschauer hinzuwirken. Die wahrheitsgetreue Nachahmung ist ihm zugleich die Nachahmung des Guten, da er ja die menschliche Natur als solche für gut erklärt; die vérité , die er verlangt, schließt also nach ihm im Grunde schon die Forderung der vertu als des Gegenstandes der Darstellung ein: c'est en allant au théâtre , sagt er von den Zuschauern der „sittlichen“ ( honnêtes ) und „ernsten“ Stücke, qu'ils se sauveront de la compagnie des méchants dont ils sont entourés; c'est là qu'ils trouveront ceux avec lesquels ils aimeraient à vivre; c'est là qu'ils verront l'espèce humaine comme elle est, et qu'ils se reconcilieront avec elle . Nun erhebt sich Diderot freilich insofern bedeutend über die lediglich moralisierende Betrachtungsweise der dramatischen Dichtung ─ und darin liegt auch seine große reformatorische Wirksamkeit ─, daß er die direkt an die Zuschauer gerichtete moralische Belehrung, ja sogar die direkt auf dieselben berechnete Wirkung strengstens verwirft. Alles soll sich allein nach den Beziehungen der handelnden Personen untereinander entwickeln, und nur die Wirkung der Ereignisse auf diese soll der Dichter bei der Komposition seiner Handlung im Auge haben. Vor allen anderen Gattungen soll das ernste Drama getreu der Natur folgen, d. h. in Diderots Sinne, es soll einen Vorgang, der inhaltlich seinem Gebiete angehört, genau so wiedergeben, wie er in der Wirklichkeit sich ereignete oder doch ereignet haben könnte. Jn seinem Fils naturel macht er in der That die Fiktion, daß die handelnden Personen ein eigenes Erlebnis in getreuer Wiederholung miteinander in Scene setzen; so, meint er, müsse sowohl der Ausdruck als das Spiel die höchste Wahrheit und damit die stärkste Wirkung erreichen. Aber die reformatorische Bedeutung dieses Beispiels und der gleichzeitig damit aufgestellten Theorie lag vornehmlich in der Bekämpfung der hergebrachten Regeln des falschen Klassicismus. Wenn nun jedoch Diderot so weit ging, alle dramatischen Gesetze, die von der auf die Zuschauer hervorzubringenden Wirkung hergenommen sind, schon um dessentwillen zu verwerfen, so entzog er einmal der Theorie den Boden, auf dem sie allein existieren kann, und trat sodann auch mit seiner eigenen Theorie in Widerspruch; denn in was anderes setzt er den Zweck der Komödie, als bei den Zuschauern „Lachen und Verachtung“ zu erwecken, und den des ernsten Genres, als ihnen die Liebe zur Tugend einzuflößen, die Bewunderung der Pflichterfüllung und die Rührung über die dabei erduldeten Leiden? Der Fehler, aus dem alle Verwirrung bei ihm entspringt, ist eben der, daß diese Zwecke ihm im Grunde sich zu dem einen einzigen verschmelzen, den er überhaupt aller Kunst setzt, d. i. der Tugend Bewunderer zu gewinnen. Die Konsequenzen dieses Fehlers treten sogleich nach beiden Seiten hervor: die Komödie soll sich nicht begnügen, das Lächerliche vorzuführen, sondern sie soll auch das Laster darstellen und den Haß desselben erregen, wodurch die Befreiung von dem Ernste des moralischen Erwägens, ohne welche das ästhetisch Lächerliche gar nicht bestehen kann, unrettbar vernichtet wird; die heitere Anmut, das schrankenlose Phantasiespiel der echten Komödie wird unter den strengen und schweren Bann der Verstandeskritik und des vernünftig=sittlichen Urteils gebeugt, das Zauberland der wahren komischen Poesie verschlossen. Umgekehrt bleibt bei der Beschränkung des genre sérieux auf die Darstellung des honnête , der devoirs und der vertu , da die Meinung doch nicht ist, daß es lediglich in der Malerei idyllischer Scenen bestehen soll, diesem nichts übrig als durch die Vorführung tugendhaften Leidens das Mitleid zu erregen, welches, da seine tragische Vertiefung ausgeschlossen ist, in die bloße Rührung verläuft. Hier ist der Punkt, wo der dramatische Dichter Diderot sich mit Jffland und dem ganz trivialen Rührstück unmittelbar berührt. Hier zeigt sich ferner auf das Deutlichste, an welcher Stelle, bei der durchgehenden Verwirrung, die durch Diderots moralisierende Anschauungsweise in seine dramaturgischen Theorien gebracht wurde, das Wahre vom Falschen sich scheidet: ebenso tritt klar hervor, wie seine Theorie ihn mit Notwendigkeit auf das ihm eigentümliche genre sérieux führen mußte. Wenn nach seiner Überzeugung alle dramatische Poesie die Absicht haben soll, „Liebe zur Tugend und Abscheu vor dem Laster einzuflößen,“ so ist sowohl in dem Satze selbst als in hundert Einzelnheiten der Art, wie er ihn variiert und ausführt, seine Absicht nicht zu verkennen, die Wirkung des Dramas in die Sphäre der Empfindung zu verlegen und nicht in die des einfachen moralischen Urteils. Die starke Seite seiner Theorie liegt nach dieser Richtung hin: daher sein Ruf nach Wahrheit und Natur, der geradeswegs zum Realismus und zum Naturalismus führt; daher seine Erkenntnis, daß die tragische Rührung an der Größe des „menschlichen“ Leidens hafte, nicht an dem Umstande, daß der Leidende hohen Ranges sei, und die daraus entspringende Forderung einer „ häuslichen “ ( domestique ) Tragödie neben der eigentlich so genannten; daher seine Abneigung gegen moralische Sentenzen ebenso als gegen Theatercoups, künstliche Verwickelungen und wunderbare Lösungen, und statt alles dessen die Vorliebe für die immer aufs neue als das Beste der dramatischen Kunst von ihm gerühmten „rührenden Bilder“, zu denen der einfache Gang der Handlung den Zuschauer führen solle; daher auch die Sorgfalt, mit der er das stumme Spiel, die Pantomime, als eines der wesentlichsten Hülfsmittel für die ergreifende Wirkung analysiert, in seinen eigenen Stücken vorschreibt und als beste Abwehr gegen das Unwesen der hohlen Deklamation empfiehlt. Trotz alledem ist die Empfindung, welche nach Diderot durch die dramatische Poesie bewirkt werden soll, keine freie, keine unbeschränkt ästhetische; sie ist und bleibt in ihren Grundbedingungen eng und unauflöslich an das moralische Urteil gebunden, daher ist sie sämtlichen dramatischen Gattungen gegenüber, bei allen Verschiedenheiten derselben, immer die gleiche. Die Komödie stellt die Fehler und das Laster dar, sie erregt die Verachtung jener durch ihre Lächerlichkeit und durch seine Häßlichkeit den Abscheu vor diesem. Die Tragödie, sei es nun die hohe, sei es die „häusliche“, zeigt die unter schrecklichem Leiden sich bewährende Tugend; durch das stärkste Mitleid erweckt sie somit die Liebe zu dieser Tugend und den Abscheu vor den Angriffen gegen dieselbe. Auf dem direktesten Wege aber gelangt der Dichter zu seinem Ziele, wenn er, ohne das Lächerliche oder das Schreckliche zu Hülfe zu nehmen, die Pflichterfüllung selbst zum Gegenstande seiner Darstellung macht, die im Kampfe mit mäßigen Prüfungen die Dinge zum guten Ende kommen läßt und so zu dem Vergnügen des unmittelbaren Anschauens tugendhafter Handlungsweise noch den Zauber süßer Rührungen hinzufügt. Je nachdem nun diese Prüfungen schwererer Natur sind oder nur leichterer Art, wie sie durch die alltäglichen pflicht= und tugendwidrigen Sitten und Handlungen der Nebenmenschen hervorgerufen werden, neigt nach Diderot das „ernsthafte“ Drama entweder mehr nach der Tragödie hin wie sein „Natürlicher Sohn“, oder mehr nach der Komödie wie sein „Hausvater“, solcherweise die Mitte zwischen beiden vollständig ausfüllend. Damit ist das Wesen aller dramatischen Poesie zerstört; denn das richtige Verhältnis ist geradezu umgekehrt: während der Gegenstand aller dramatischen Dichtungsarten immer derselbe ist, nämlich unter allen Umständen die Nachahmung einer irgendwie das Schicksal enthüllenden Handlung, besteht er nach dieser Theorie bald darin, Fehler und Laster darzustellen, bald Pflichten, bald Unglücksfälle; und während die Verschiedenheiten der Gattungen dadurch entstehen, daß je nach dem wechselnden Zwecke der Nachahmung die Auswahl und die Einrichtung der Handlung jedesmal eine andere ist, wird hier allen Gattungen ein und derselbe Zweck gesetzt, immer nur die Liebe zur Tugend und ihr Gegenstück, den Haß des Lasters zu erwecken. Den ungemein fruchtbaren Begriff der „ Handlung “ hat Diderot verkannt; für das Gebiet der Tragödie entdeckte ihn Lessing durch den engen Anschluß an Aristoteles, aber auch nur für dieses und ohne die vollen Konsequenzen daraus zu ziehen; in der Theorie wenigstens kehrte dann Schiller in bedenklicher Weise wieder sich den Diderotschen Jrrtümern zu. Das Drama, welches die Handlung, durch Handelnde nachgeahmt, unmittelbar vor das Auge führt, ist darauf angewiesen, nach beiden Seiten die höchste Prägnanz in sich zu bergen, sowohl nach der Seite der inneren als nach der der äußeren Handlung: das von außen Geschehende und das von innen heraus Gethane, beides muß entscheidend auftreten und zwar so, daß beides, eng zusammenhängend und gegenseitig sich bedingend, vereint die Entscheidung bewirkt. Das Produkt dieser beiden Faktoren nennen wir das Schicksal; Schicksal darzustellen ist also die Aufgabe jeder gut ausgewählten und eingerichteten dramatischen Handlung. Durch den Sprachgebrauch verführt, sprechen wir nun freilich von „Schicksal“ gemeinhin nur da, wo eine seltene und ungeheure Entscheidung plötzlich, und zwar besonders wohl, wenn sie auf unerklärliche Weise hereinbricht; zum mindesten hat die dramaturgische Terminologie in solcher Weise sich herausgebildet. Dieser Sprachgebrauch ist aber nicht nur willkürlich, sondern er ist verwirrend, und es ist kein Grund vorhanden, sich daran zu binden. Wo wirkliche Handlung vorliegt, da ist auch Schicksal, und das Zu= sammentreffen des inneren Handlungskernes mit den für die möglichst vollständige Entwickelung gerade seiner Kraft und Anlage am meisten geeigneten äußeren Bedingungen vorzuführen, ist die immer sich gleich bleibende Aufgabe der dramatischen Nachahmung. Die meisten Jrrtümer, in den dramaturgischen Theorien sowohl wie in der Dichtung, sind daraus entstanden, daß man diesen so einfachen als natürlichen Satz außer Augen gelassen hat, daß man also dasjenige der Nachahmung als ihren Gegenstand substituiert hat, was nur als die Art der Nachahmung dieses Gegenstandes bestimmend in Betracht kam, und daß man daher in betreff dieser selbst fehl ging. Schicksalsentscheidung, als Jnbegriff der Gesamthandlung, also ist dieser Gegenstand und zwar solche, die der Nachahmung wert ist; dasjenige, wodurch sie in jedem Falle diesen Wert erhält, bestimmt zugleich den Zweck derselben und ihre Art und Weise. Die unglückliche Schicksalsentscheidung erhält diesen Wert dadurch, daß sie unverschuldetes Unglück statt als einen Gegenstand des Schreckens und des Jammers vielmehr als eine streng gesetzliche Äußerung der höchsten, das Ganze ordnenden Mächte vorzuführen vermögend ist: demgemäß ist der Zweck ihrer Nachahmung, alle Seelenkräfte in den Empfindungen der Furcht und des Mitleids zur Thätigkeit aufzuregen und durch ihre Läuterung zum rechten, und damit des vollkommenen Gleichgewichtes fähigen, Stande zu bringen, wobei dann die Seele durch die Vollendung dieser Empfindungsenergie gegenüber den höchsten Dingen, die vorgestellt werden können, auch der höchsten Art von Freude genießt. Die glückliche Schicksalsentscheidung kann jenen Wert auf eine doppelte Weise erhalten. Das, was sie ist, muß sie notwendig und gesetzmäßig sein: es müssen also in ihr entweder die Keime des Unglücks gar nicht enthalten sein, vielmehr die maßgebend thätigen Faktoren der glücklichen Entscheidung gemäß geartet, oder es müssen den vorhandenen und auch wohl zur vollen Wirksamkeit gelangenden Unglücksfaktoren um so stärkere die glückliche Entscheidung bedingende Faktoren gegenüberstehen, die über jene den Sieg gewinnen. Jn beiden Fällen wird die Empfindung der Freude an der Wahrnehmung der letzteren überwiegend sein, die Erweckung der unmittelbaren Lustempfindung also der vornehmste Nachahmungszweck. Wenn nun aber in dem ersten Falle die das Unglück mit Notwendigkeit bewirkenden Faktoren ausgeschlossen sind, so bedingt das Wesen der Schicksalsentscheidung, wie überhaupt schon die Natur der menschlichen Verhältnisse es mit sich bringt, doch, daß negative Kräfte mit im Spiele sind, welche Gegenwirkungen ausüben, die zu überwinden sind; ja dieselben sind von so mannigfacher Art, so tausendfältig mit den positiven Kräften gemischt, und diese Mischung ist oft so fein, daß im Leben wie in der Nachahmung nicht nur das Verstandesurteil, sondern auch die Empfindung sehr leicht getäuscht wird, das Negative für das Positive ansieht oder nicht selten auch wohl umgekehrt das letztere für das erstere. So selten die unbedingt erfreuliche Erscheinung im Leben begegnet, so schwer ist es, sie in der Nachahmung darzustellen: um nun aber die Scheidung jener zahlreichen Mischungen zu bewerkstelligen, gibt es ein, wenn es richtig gehandhabt wird, unfehlbar wirkendes Reagens: es ist das Mittel, jene negativen Faktoren in der Handlung sich rein als solche mit Evidenz darstellen zu lassen, d. h. sie als lächerlich vorzuführen. Demgemäß wäre der Zweck dieser Art von Nachahmung, die ganze Kraft der Seele in den Empfindungen des Erfreulichen und des Lächerlichen zur Äußerung hervorzurufen, so daß, indem sie sich gegenseitig zur völligen Reinheit herstellen, auch hier die notwendige Begleiterscheinung solcher zum qualitativen Maximum gesteigerten Empfindungsenergie die edelste Freude sein wird. Es kann geschehen, daß die nachzuahmende Handlung nach der Beschaffenheit der für die Schicksalsentscheidung wirksamen Faktoren es erfordert, daß von jenem Mittel der Klärung ein sehr breit in die Erscheinung tretender Gebrauch gemacht werden muß; aber es erhellt aus dem Vorstehenden auf das deutlichste, daß es ein Mißgriff ist, das Mittel anzuwenden, ohne damit zum Zwecke zu gelangen, ja ohne ihn überhaupt ins Auge zu fassen: also das Lächerliche darzustellen, ohne die Katharsis desselben und des Erfreulichen in gegenseitiger Wechselwirkung herbeizuführen, ja ohne dieses letztere überhaupt sich geltend machen zu lassen. Gerade das aber und noch Schlimmeres liegt vor, wenn man als den anerkannten Gegenstand der Komödie „ le ridicule et le vice “ betrachtete und noch heute das Lustspiel lediglich für die „Darstellung einer lächerlichen Handlung“ ausgibt. Obwohl die spezielle Begründung dieser Sätze in die Theorie der Komödie gehört, so ist doch einem Einwande schon hier zu begegnen; es ist der scheinbare Widerspruch, in welchem zu denselben das Prototyp des Lustspiels steht, die aristophanische Komödie. Aber Aristophanes wäre der große Dichter nicht, der er ist, wenn in der That, wie es auf den ersten Blick scheint, der Gegenstand seiner Nachahmung nur das „Lächerliche und Verächtliche“, nur „ le ridicule et le vice “ wäre. Zu einer solchen genügen eine beliebige Anzahl mehr oder weniger lose verknüpfter Scenen, Stücke also, wie die Franzosen sie als pièces à tiroir bezeichnen; es gäbe da weder bestimmte Grenzen der Ausdehnung noch feste Gesetze der Einrichtung, überhaupt keine organische Einheit, wie zu einer solchen Gesetzlosigkeit der komischen Bühne die falsche Theorie der Komödie thatsächlich geführt hat. Jm stärksten Gegensatze dazu ist bei Aristophanes überall fest begrenzte Handlung der Kern und die Seele der Darstellung; damit also auch notwendig Schicksalsentscheidung, das Wort in dem oben definierten weiten Sinne genommen. Wie war das nun möglich, da die sämtlichen Stücke des Meisters der alten griechischen Komödie ganz erfüllt sind von der schärfsten Satire, ja den direkten heftigsten Angriffen, der grimmigsten Verfolgung gegen Personen und Dinge der umgebenden Wirklichkeit? Es scheint, daß eine Dichtungsweise, die entschiedener und einseitiger das lediglich Lächerliche, Verächtliche, Hassenswerte vor Augen führte, nicht zu denken wäre. Das mächtig wirkende Mittel, durch welches Aristophanes diesen Widerspruch löst, besteht darin, daß er ohne Ausnahme die Handlung seiner Stücke auf den Boden einer höchst phantastischen Symbolik stellt, ohne welche diese Art der Komödie undenkbar wäre. Damit wird zunächst die Handlung den tausendfach bindenden Bedingungen entrissen, welche die Pragmatik der Wirklichkeit unumgänglich machen würde, zugleich wird damit der Widerstreit der bei der Schicksalsentscheidung einander entgegenstehenden inneren und äußeren Faktoren aus einem Gegenstande des leidenschaftlichen realen Jnteresses, das, dem Forum des Verstandes und des Vernunfturteiles unterworfen, das Verkehrte als schädlich und als schmerzlich empfinden lassen würde, zu einem Gegenstande des freien Spieles für die Aisthesis und die ihr allein zustehende, unmittelbar aus der Anschauung hervorgehende Empfindungsentscheidung umgewandelt. Aristophanes erreicht für sein komisches Drama damit eine ganz ähnliche Exemtion von den die Wirklichkeit der Dinge beherrschenden Gesetzen und eine ganz ähnliche Kraft, durch die Kolossalität in der Darstellung des Negativen unmittelbar die entgegengesetzte positive Wirkung zu erzeugen, wie auf dem Boden der erzählenden Gattung des Tierepos sie aufweist; in einfacher Konsequenz dieses das Ganze seiner Dichtung bestimmenden Grundverhältnisses sehen wir ihn denn auch mit Vorliebe der Einführung der Tiermaske und verwandter Erfindungen auf die Scene sich bedienen. Als das Ergebnis dieser ganzen Erörterung über das Wesen des Schauspiels stellt sich also dar, daß die sämtlichen diesem Mittelgebiet angehörigen und unter so vielen verschiedenartigen Namen auftretenden Gattungen der dramatischen Dichtung entweder von der Tragödie oder von der Komödie her, und zwar zumeist aus Entartungen der einen und der anderen, ihren Ursprung haben, so daß der Begriff einer eigenen, fest in sich zusammengeschlossenen Gattung sich dabei nicht zu entwickeln vermochte. Man blieb, um die Zugehörigkeit der einzelnen Produktionen zu bestimmen, bei Äußerlichkeiten stehen, wie bei dem, für das Wesen des Dramas so ganz und gar nicht entscheidenden Umstand, daß es seinen Jnhalt der Geschichte entlehnte, und konstruierte demgemäß eine besondere dramatische Gattung der „ Historie “; oder auch man klassifizierte nach den eingeführten Ständen, Lebenskreisen und Jnteressen, nach vorwaltenden politischen, religiösen oder sozialen Tendenzen und Jdeen, oder endlich, noch vager, nach dem Vorwalten des „Charakter“= und „Sittengemäldes“ oder der „Rührungen“ und „Sensationen“. Jm Gegensatz dazu hat auf dem Gebiete der Tragödie und Komödie von jeher und immerfort erneut das Bestreben vorgewaltet, zu festen Wesensbegrenzungen zu gelangen, freilich mit weit geringerem Erfolge auf diesem letzteren, welches vielleicht an sich als weniger bestritten erschien, als in jenem, auf dem naturgemäß die Verschiedenheiten in den Gesamtanschauungen der Zeiten und Nationen sehr scharf hervortreten. Offenbar meinte man ─ wenn auch sehr mit Unrecht ─ für die kritische Beurteilung des Komischen einen hinreichenden Maßstab in den Entscheidungen des Verstandes zu besitzen, unter denen die Möglichkeit der Abweichung je nach Zeit und Volksart eine so große nicht ist; dagegen macht sich in der Empfindung und noch mehr in der theoretischen Beurteilung des Tragischen die ganze ungeheure Verschiedenheit geltend, welche die Epochen und die Nationen je nach Empfindungsanlage und nach dem jeweilig erreichten Grade der ethischen Entwickelung und der gesellschaftlichen, politischen und religiösen Kultur voneinander trennt. Es versteht sich von selbst, daß nach diesen Verschiedenheiten auch das Lächerliche seiner Erscheinung noch in der mannigfaltigsten Weise variieren wird: aber es bleibt nicht allein der Maßstab seiner Beurteilung derselbe, sondern, weil der bei weitem größte Teil der komischen Kunst sich innerhalb der engeren Kreise des Lebens seine Stoffe sucht, ist die Anwendung desselben eine sehr viel leichtere und deshalb eine im großen und ganzen gleichmäßigere. Gerade über diese gewohnten, engeren Kreise den Menschen hinauszuführen, zu höheren Anschauungen ihn zu erheben ist die Bestimmung des Tragischen: die Auffassung desselben wird also sowohl durch die Gesamtheit der religiösen, politischen und auch der litterarischen Traditionen als durch den jedesmal vorhandenen Lebenszustand immer wieder neu geformt werden. Es wird nun die Aufgabe sein, die Wesensbestimmung der Tragödie und die verschiedenen Auffassungen derselben näher zu untersuchen. ────── XXII. Die Grundlagen für das theoretische Verständnis der Tragödie hat Lessing neu geschaffen, indem er auf des Aristoteles' Buch „Von der Dichtkunst“ zurückging. „Jch habe,“ sagt er am Schluß der Dramaturgie, „von der Grundlage der Dichtkunst dieses Philosophen meine eigenen Gedanken, die ich hier ohne Weitläufigkeit nicht äußern könnte. Jndes steh' ich nicht an, zu bekennen ( und sollte ich in diesen erleuchteten Zeiten auch darüber ausgelacht werden! ), daß ich sie für ein ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer sind. Jhre Grundsätze sind ebenso wahr und gewiß, nur freilich nicht so faßlich, und daher mehr der Schikane ausgesetzt als alles, was diese enthalten. Besonders getraue ich mir von der Tragödie, als über die uns die Zeit so ziemlich alles daraus gönnen wollen, unwidersprechlich zu beweisen, daß sie sich von der Richtschnur des Aristoteles keinen Schritt entfernen kann, ohne sich ebensoweit von ihrer Vollkommenheit zu entfernen.“ Und im St. 74: „Zwar mit dem Ansehen des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur auch mit seinen Gründen zu werden wüßte.“ Lessing verdankt die neuere Ästhetik alles, was sie an Klarheit und Sicherheit besitzt: dennoch hat man neuerdings ─ sehr zum Schaden der Sache ─ wieder begonnen, zwischen dem angeblich richtigen Verständnis der Lehre des Aristoteles von der Tragödie und der richtigen Erkenntnis der Tragödie selbst einen Unterschied zu machen. Es scheint auch hier ein Fortschritt, ernstlich auf Lessing zurückzugehen; seine Sätze bedürfen nicht allzu tief eingreifender Abänderungen, um sie sowohl mit der Meinung des Aristoteles als mit dem Kanon, dem die Meisterwerke der modernen Tragödie ebenso wie die der antiken folgen, in Uebereinstimmung zu zeigen. Nach Aristoteles ist „ die Tragödie die Nachahmung einer Handlung ernsten Jnhalts und in vollständiger Durchführung und zwar einer solchen, der das Attribut der Größe zukommt, in künstlerischem Ausdruck, dessen verschiedene Arten in den einzelnen Teilen gesondert auf= treten, in leibhaftiger (drastischer) Vorführung und nicht durch Erzählung, welche die Kraft besitzt, durch die Empfindungen des Mitleids und der Furcht die Läuterung der entsprechenden Gemütsbewegungen zu vollenden. “ ( \̓εστιν οὖν τραγῳδία μίμησις πράξεως σπουδαίας καὶ τελείας, μέγεθος ἐχούσης , ἥδυσμένῳ λόγῳ χωρὶς ἑκάστῳ τῶν εἰδῶν ἐν τοῖς μορίοις, δρώντων καὶ οὐ δἰ ἀπαγγελίας, δἰ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν .) So hat Lessing die berühmte Definition verstanden: daß darin das Wesen der Tragödie nach der Wirkungskraft, die ihr zu erteilen sei, bestimmt werde, und daß diese Wirkung in einer „Reinigung“ der Furcht- und Mitleidempfindungen zu bestehen habe, durch welche unrichtige Empfindungen in richtige umgewandelt würden. Sie solle „unser Mitleid und unsre Furcht“ reinigen und zwar nicht bloß diese, sondern „ diese und dergleichen Leidenschaften “, also neben dem Mitleid alle verwandten philanthropischen Empfindungen, neben der Furcht z. B. auch Betrübnis und Gram; aber auch nur diese solle sie reinigen, keine andern „Leidenschaften“. Reinigen solle sie dieselben von dem Zuviel und Zuwenig und zwar habe das tragische Mitleid die Seele von den Extremen des Mitleids, die tragische Furcht sie von denen der Furcht zu reinigen, ferner aber auch das tragische Mitleid den Extremen der Furcht, und umgekehrt die tragische Furcht denen des Mitleids in der Seele zu steuern. Lessing nennt diesen vierfachen Prozeß, kurz aber freilich sehr unglücklich, „ die Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten “. Durch diesen Ausdruck zumeist hat er seine und auch seines Meisters Theorie in Mißkredit gebracht; sie scheint freilich dem Vorwurf Jakob Bernays' einigen Grund zu verleihen, daß Lessing die Tragödie zu einem „moralischen Korrektionshause mache, das für jede regelwidrige Wendung des Mitleids und der Furcht das zuträgliche Besserungsverfahren in Bereitschaft halten müsse“. Zumal, wenn man Äußerungen dazu nimmt, wie die im 77. Stück der Hamb. Dramat.: „Bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie: es ist kläglich, wenn man dieses erst beweisen muß; noch kläglicher ist es, wenn es Dichter gibt, die selbst daran zweifeln.“ Und wenn es weiter heißt: „Aber alle Gattungen können nicht alles bessern, wenigstens nicht jedes so vollkommen wie das andere; was aber jede am vollkommensten bessern kann, worin es ihr keine andere Gattung gleichzuthun vermag, das allein ist ihre eigentliche Bestimmung.“ Lessings gesamte Beweisführung vom 74. bis zum 83. Stück der Hamb. Dramat. ist gegen die falsche Praxis und Theorie der Franzosen, vornehmlich des Corneille und Voltaires gerichtet; hier ist er auf der ganzen Linie siegreich. Es erscheint als überflüssig, diese Ausführungen, die nicht besser vorgetragen werden können als es von ihm selbst geschehen ist, und die allbekannt sind, hier noch einmal zu wiederholen. Um so notwendiger ist es, seine eigenen Jrrtümer in der Jnterpretation der aristotelischen Definitionen aufzusuchen und klarzulegen, die nach seiner eigenen, festen Überzeugung eben deshalb auch Jrrtümer über das Wesen der Sache selbst sein müssen. Es kann dabei von dem bekannten Fehler des ihm vorliegenden Textes ─ der das Wort δρώντων fortließ und auf das οὐ δἰ ἀπαγγελίας ein ἀλλά folgen ließ, also den Gegensatz enthielt, die Tragödie sei die Nachahmung einer Handlung „ nicht durch Erzählung, sondern durch Furcht und Mitleid “ ─ abgesehen werden; dieser Textfehler schuf nur eine Schwierigkeit mehr für ihn, vermochte aber die richtige Erkenntnis des Gesamtinhaltes der Definition für ihn nicht zu hindern. Der Kardinalfehler seiner Auffassung, aus dem wohl alle die übrigen geflossen sind, ist der folgende: Lessing hat es nicht klar gestellt, ob unter den Mitleids- und Furchtempfindungen, deren Katharsis durch die Tragödie bewirkt werden soll, diejenigen Empfindungen zu verstehen seien, die dem Zuschauer überhaupt eigentümlich sind, mit denen er zu der Tragödie herantritt, und die, nachdem er deren Einwirkung erfahren, er nun weiterhin aus derselben ins Leben mitnimmt, oder ob es in der von Aristoteles festgestellten Wesensbestimmung ( ὅρος τῆς οὐσίας ) sich nicht vielmehr lediglich um die Bezeichnung derjenigen Wirkungskraft und demgemäß derjenigen Beschaffenheit handelt, welche der Tragödie erteilt werden müssen, damit die durch die Dichtung selbst notwendig aufzuregenden Empfindungen einen in allen Fällen gleichmäßigen Verlauf nehmen und zu einem nach den allgemeinen Kunstgesetzen überall gleichmäßig zu fordernden Abschluß gelangen. Jn diesem Sinne verstanden widerstreitet die aristotelische Definition in nichts den Gesetzen der ästhetischen Wissenschaft und Erfahrung, sie entspricht denselben sogar auf das vollkommenste. Aristoteles hält ganz ebenso wie Kant das „ästhetische Urteil“ über das Schöne für ein rein subjektives, d. h.: daß die Empfindung des Schönen und mit ihr die Freude am Schönen überhaupt zustande komme, ist nach seiner Meinung am letzten Ende immer davon abhängig, daß die Wahrnehmungs= und Empfindungsthätigkeit (die αἴσθησις ) des Empfangenden ( πεισόμενος ) fähig sei, dem in dem Gegenstande gebotenen Anlaß zu entsprechen. Er drückt, wie schon oben erwähnt, dies Verhältnis so scharf aus, daß er es überhaupt nicht für die Sache der Kunst erklärt, die Hedone zu erzeugen, die immer nur durch die Thätigkeit ( ἐνέργεια τῆς αἰσθήσεως ) des Einzelnen entstehen könne, sondern nur die Möglichkeit oder Bereitschaft ( δύναμιν ) dafür im Objekt hervorzubringen. Genau gesprochen stellt sie nach seiner Meinung also auch nicht das Schöne selbst dar, sondern sie trifft nur die Veranstaltung dazu, daß dieses Phänomen, welches seine Existenz schlechterdings nur im Subjekt hat, eben zu dieser Existenz gelange. Ein Satz von der höchsten Bedeutung für die Lösung der wichtigsten Probleme der ästhetischen Wissenschaft, welcher mit Kants ästhetischer Theorie nicht allein zusammenstimmt, sondern geeignet sein möchte, dieselbe in sehr wesentlichen Punkten aufzuklären und zu ergänzen. Denn erstlich legt er die notwendige innere Verbindung zwischen den beiden scheinbar so schwer zu vereinenden Attributen des ästhetischen Urteils offen zu Tage: daß dasselbe nämlich ein rein subjektives sei und zugleich von a priori bestehender, allgemein gültiger Verbindlichkeit; sodann zeigt er ebenso einfach als deutlich, wie dasselbe trotz der von seinem Wesen unzertrennlichen Subjektivität mit Notwendigkeit an die objektiv vorhandene Beschaffenheit des erregenden Anlasses gebunden ist, vermöge dessen es zustande kommt und mit dessen vorzüglicher Beschaffenheit es seinerseits in der entsprechenden vorzüglichen Beschaffenheit der in Bewegung gesetzten Wahrnehmungs= und Empfindungsenergie zusammenstimmen muß, um dem Phänomen des Schönen in der Seele die Existenz zu verschaffen. Die Freude an demselben ist mit seiner Erscheinung untrennbar und notwendig verbunden, wie sie nach des Aristoteles eigentümlicher und tiefsinniger Theorie einer jeden Energie sich zugesellt, sobald dieselbe eine in ihrer Art vollendete ist. Die Aufgabe ( ἔργον ), die die Tragödie nach des Aristoteles Meinung zu leisten hat, um ihr Wesen zu erfüllen, ist also zunächst die, daß sie eine Handlung nachahme, welche die Schicksalsempfindungen, Furcht und Mitleid, zu erwecken geeignet sei. Durch diese wirkt sie! Bloße Nachahmung der Handlung um der Handlung selbst willen wäre ästhetisch unwirksam und tot, ebenso wie Erzählung nur um der Erzählung willen oder Schilderung nur um dieser willen. Alles das liefe nur auf Benachrichtigung hinaus oder auf den passiven Genuß rein äußerlicher Zerstreuung. Ein Schicksalsverlauf also, der Furcht und Mitleid hervorrufe, ist in Handlung vorzuführen: ernst=würdig muß er sein, denn es gilt das Ernsteste und Würdigste vorzustellen, das überhaupt im Bereiche der Kunst liegt, das Schicksal, wie es nicht etwa strafend die Schlechten trifft, sondern mit seiner Macht über allen und den Besten schwebt; vollständig muß er vorgeführt werden, denn nur so kann er in seiner Wahrheit der Wahrnehmung und Empfindung faßbar gemacht werden; es muß sich darin um etwas in diesen Sphären relativ Bedeutendes, um etwas Großes also, handeln, denn die Schicksalsempfindungen der Furcht und des Mitleids müssen in der vollen, ihnen eigenen Wucht hervorgerufen werden, die eben nur den großen Entscheidungen des Lebens gegenüber eintritt. Keine solcher großen Entscheidungen, in denen die Uebermacht des Schicksals über den Menschen offenbar wird, mögen sie nun dem Leben angehören oder in der Phantasie erschaffen sein, wird verfehlen, das Mitleid oder die Furcht oder auch beide Empfindungen zugleich in uns zur Thätigkeit aufzuregen. Worauf nun aber alles ankommt, das ist die Frage: wie müssen diese Empfindungen geartet und beschaffen sein, um das würdige Ziel der Kunst zu bilden? Freilich sind diese Empfindungen, wie eine jede ästhetische Erregung, rein subjektiv; aber wie ein Gemälde, eine Statue, ein lyrisches Gedicht, die wir schön nennen, eben darum so heißen, weil sie die Veranlassung in sich tragen, die durch ihre Wahrnehmung in Bewegung gesetzte Empfindungsthätigkeit zu einer in ihrer Art vollendeten zu gestalten, so erhält nun die Tragödie die Bestimmung, nur solche Schicksalsentscheidungen vorzuführen und ihren Verlauf derartig einzurichten, daß dieselben alle Bedingungen in sich vereinigen, um den ihnen entsprechenden Empfindungen in ihrer vollendetsten Gestalt zur Bethätigung den Anlaß zu gewähren. Es ist ein nie genug zu bewundernder Meistergriff, daß Aristoteles die für die Beschaffenheit der nachzuahmenden Handlung entscheidende Norm in die Aufstellung derjenigen objektiven Kompositionsgesetze gelegt hat, die sich aus der Forderung, für bestimmt geartete Empfindungen die Erregungsursachen in sich zu vereinen, nun mit Notwendigkeit ergeben müssen, und daß er ferner diese Empfindungen selbst und die für sie erforderliche Modifikation so sicher erkannt hat. Dieses Verfahren zeigt, wie unzweifelhaft klar ihm die Natur des „ästhetischen Urteils“ vor Augen stand, daß es nämlich „ohne Begriffe“, ohne die „Reflexion auf irgend welche logische oder moralische Erkenntnisse“ unmittelbar gefällt wird und dennoch „allgemein=gültig und allgemein=verbindlich“ ist, eben weil es in einer durch den objektiv richtig beschaffenen Erregungsanlaß nun auch objektiv richtig bestimmten Empfindungsentscheidung besteht. Danach ist es nun von selbst deutlich, daß Goethes bekannte Einwürfe gegen die aristotelische Definition sich nicht gegen diese richten, sondern nur gegen das durch Lessings Jnterpretation verursachte Mißverständnis derselben. So, wenn er an Zelter schreibt (am 29. März 1827, vgl. IV, 288): „ Die Vollendung des Kunstwerks in sich selbst ist die ewige unerläßliche Forderung! Aristoteles, der das Vollkommenste vor sich hatte, soll an den Effekt gedacht haben! welch ein Jammer!“ Was er hier unter der Bezeichnung „Effekt“ abwehrt, nennt er ein andermal „ Wirkung nach außen “, indem er dabei beidemal über die unmittelbare, ästhetische Wirkung hinaus der Kunst gesetzte weitere Zwecke ins Auge faßt. Jn demselben Sinne schreibt Zelter am 13. Januar 1830 an Goethe (vgl. V, 367): „Unsre neue Lehre geht ganz von der Wirkung an sich aus. Das Publikum freilich will sich solchen Effekt nicht mehr nehmen lassen, um nur etwas für sein Geld zu haben.... Eure Theoristen verschanzen sich ins Philologische, wo sie sich zu Hause meinen, und geht man ihnen nach, so ist man unter lauter Parteien und die Sache bleibt an ihrem Orte. Jst das Kunstwerk ein echtes Gewächs aus seinem eigenen Wesen, so erkenne ich Deine Behauptung als voll und rund, wenn die Wirkung sich von selber findet und die Probe ist des Exempels.“ Und darauf nun Goethe am 29. Januar 1830 (V, 380): „ Wir kämpfen für die Vollkommenheit eines Kunstwerks, in und an sich selbst; jene denken an dessen Wirkung nach außen, um welche sich der wahre Künstler gar nicht bekümmert, so wenig als die Natur, wenn sie einen Löwen oder einen Kolibri hervorbringt. Trügen wir unsere Ueberzeugung auch nur in den Aristoteles hinein, so hätten wir schon recht, denn sie wäre ja auch ohne ihn vollkommen richtig und probat; wer die Stelle anders auslegt, mag sich's haben.“ „Zum Scherz und Überfluß laß mich, in Gefolg des Vorigen, erwähnen: daß ich, in meinen Wahlverwandtschaften, die innige wahre Katharsis so rein und vollkommen als möglich abzuschließen bemüht war; deshalb bild' ich mir aber nicht ein, irgend ein hübscher Mann könne dadurch vor dem Gelüst, nach eines andern Weib zu blicken, gereinigt werden. Das sechste Gebot, welches schon in der Wüste dem Elohim-Jehova so nötig schien, daß er es, mit eigenen Fingern, in Granittafeln einschnitt, wird in unsern löschpapiernen Katechismen immerfort aufrecht zu halten nötig sein.“ „Verzeihung dieses! Denn die Sache ist von so großer Bedeutung, daß Freunde sich immer darüber beraten sollten; ja ich füge noch folgendes hinzu: es ist ein grenzenloses Verdienst unseres alten Kant um die Welt, und ich darf auch sagen um mich, daß er, in seiner Kritik der Urteilskraft, Kunst und Natur nebeneinander stellt und beiden das Recht zugesteht: aus großen Principien zwecklos zu handeln. So hatte mich Spinoza früher schon in dem Haß gegen die absurden Endursachen geglaubigt. Natur und Kunst sind zu groß, um auf Zwecke auszugehen, und haben's auch nicht nötig, denn Bezüge gibt's überall und Bezüge sind das Leben.“ Diese Briefstellen liefern einen erwünschten Kommentar zu Goethes Äußerungen über den Gegenstand in seinem Aufsatz vom Jahr 1826 „Nachlese zu Aristoteles' Poetik“. Er übersetzt darin die Schlußworte der Definition, bekanntlich mit einer starken Versündigung gegen die griechische Sprache, so daß er, statt zu sagen, daß die Tragödie „ durch Mitleid und Furcht die Katharsis bewirke“, setzt: „daß sie nach einem Verlauf von Mitleid und Furcht ( διά also gewissermaßen == durch dieselben hindurch) mit Ausgleichung solcher Leidenschaften ihr Geschäft abschließt. “ Von jenem Jrrtum abgesehen, liegt der Schwerpunkt seiner Auffassung in den letzten Worten: also in dem Eintreten für die unmittelbare, ästhetische „ Wirkung an und für sich “, die er von der Tragödie fordert, und in der Abweisung der entfernteren, moralischen Wirkung, die er ihr so wenig als irgend einer Art der Kunstübung als ein notwendig anhaftendes Attribut zuzuerkennen vermag. „Keine Kunst vermag auf Moralität zu wirken, und immer ist es falsch, wenn man solche Leistungen von ihnen verlangt. Philosophie und Religion vermögen dies allein; Pietät und Pflicht müssen aufgeregt werden, und solche Erweckungen werden die Künste nur zufällig veranlassen.“ Nur diese tendenziöse Wirkung ist es, deren Forderung er von der Tragödie abwehrt, wenn er seiner Übersetzung die Erläuterung hinzufügt: „Wie konnte Aristoteles in seiner jederzeit auf den Gegenstand hinweisenden Art, indem er ganz eigentlich von der Konstruktion des Trauerspiels redet, an die Wirkung und, was mehr ist, an die entfernte Wirkung denken, welche eine Tragödie auf den Zuschauer vielleicht machen würde? Keineswegs! Er spricht ganz klar und richtig aus: wenn sie durch einen Verlauf von Mitleid und Furcht erregenden Mitteln durchgegangen, so müsse sie mit Ausgleichung, mit Versöhnung solcher Leidenschaften zuletzt auf dem Theater ihre Arbeit abschließen. “ Unzweifelhaft also verlangt auch Goethe nicht allein eine „ Wirkung der Tragödie auf den Zuschauer “, sondern er setzt auch, ganz wie Aristoteles, als das Ziel dieser Wirkung die Katharsis, „diese aus= söhnende Abrundung, welche eigentlich von allem Drama, ja sogar von allen poetischen Werken gefordert werde. “ Jn diesen Worten liegt die ausdrückliche Erklärung seiner Uebereinstimmung mit Aristoteles: wie dieser setzt er die Wirkung der Tragödie in die Erregung von Furcht und Mitleid des Zuschauers, und wie diesem ist ihm „ zum Abschluß dieser Wirkung eine Söhnung, eine Lösung unerläßlich, wenn die Tragödie ein vollkommenes Kunstwerk sein solle.“ Aber indem er im scharfen Gegensatz zu Lessing diese „Söhnung“ oder „Lösung“ als allein in dem Kunstwerk selbst liegend erklärt, begeht er den umgekehrten Fehler wie dieser, der die Katharsis als eine „Reinigung“ der Furcht- und Mitleids=„Leidenschaften“ ganz in die Seele des Zuschauers verlegt. Der rechte Sinn der aristotelischen Definition, indem er die Mitte zwischen beiden hält, vereinigt beides: Lessings Jnterpretation, deren Wortlaut bedenklich zu einer moralischen Auffassung des Dichtungszweckes zu neigen scheint (von welcher er doch im Grunde ganz frei war), verleitet dazu, die Grenzen der Definition ungebührlich zu erweitern und die Vorstellung einer möglichen Folge anstatt des Wesens des Kunstwerks selbst ins Auge zu fassen; dagegen verengt Goethes Auffassung die Definition, indem sie den wesentlichen Umstand verkennt, daß die entscheidende Bestimmung für die objektive Beschaffenheit der tragischen Handlung von Aristoteles in die Forderung gelegt ist, daß ihr die Kraft erteilt werde, die reinen Empfindungen der Furcht und des Mitleids hervorzurufen, ─ wo anders also als in der Seele des Zuschauers? Es liegt in der Natur der dramatischen Kunstgattung, daß dieses Ziel in seiner Vollkommenheit erst mit dem Abschluß der Dichtung erreicht werden kann: dies ist es, was Goethe dazu bewogen hat, diesen Umstand so einseitig zu betonen. Erst mit ihrem Abschluß kann die Handlungen nachahmende Kunst dasjenige darbieten, was die bildende Kunst mit eins vor das Auge stellt. Ohne daß freilich damit gesagt würde, daß den Werken der letzteren nicht ebensowohl das Ziel gesetzt wäre, eine entsprechende „ Katharsis “ zu vollenden. Dieselbe tritt nur nicht so deutlich hervor wie bei den fortschreitenden Künsten. Der Sprachgebrauch freilich nennt das Gebilde der Kunst geradehin schön; aber diese Bezeichnung gehört ihm doch nur insofern, als es vermögend ist, das Phänomen der Schönheit in der Seele des Beschauers entstehen zu lassen, denn einzig und allein hier hat dasselbe seinen Sitz! Daß es also diejenigen objektiven Beschaffenheiten in sich vereinigt, welche dem Empfinden den unmittelbaren und mit innerer Notwendigkeit wirkenden Anlaß gewähren, sich in absoluter Reinheit, Gesundheit, Richtigkeit zu bethätigen und mit dem dieser Empfindungsenergie ebenso notwendig und unmittelbar verbundenen Bewußtsein, daß in ihr der empfindende Teil der Seele seine Natur und höchste Bestimmung erfülle, sie zu der lebhaftesten und höchsten Freude zu entzünden und zu erheben. Daß bei der Betrachtung oder dem Anhören der Kunstwerke diese Empfindung des Schönen und die Freude daran sich nicht allein unmittelbar, sondern auch augenblicklich einzustellen scheint, beruht auf der Täuschung, die einen an sich umfangreichen und komplizierten Entwickelungsprozeß, der durch Übung und Gewohnheit allerdings auf den kleinsten Zeitraum zusammengezogen werden kann, nun auch als das Werk des einen Augenblicks betrachten läßt. Was in Wirklichkeit dazu gehört, kann jeder an sich selbst beobachten, sobald er einem bedeutenden, neuen, in seiner Art ihm bis dahin fremden Kunstwerk gegenübertritt, ebenso an der Art, wie der naive moderne Mensch zu der plastischen Kunst der Griechen sich verhält. Auch hier ist die Bedingung, von der die „ Schönheitswirkung “ des Kunstwerks abhängig ist, daß zunächst das durch das Kunstwerk nachgeahmte Seelen-Pathos oder =Ethos in dem Beschauer zur Thätigkeit angeregt, und sodann durch dasselbe in seiner Sphäre die Katharsis vollendet werde: d. h. daß das Kunstwerk durch seine ihm ewig und unzerstörbar anhaftende Beschaffenheit die Kraft bewähre, die Seele von allem Uebermäßigen des erregten Pathos oder Ethos befreiend zu entlasten, das Mangelnde schöpferisch darin zu ergänzen, das Unreine läuternd daraus hinwegzuschmelzen, mit einem Worte: daß es der Seele den Anlaß biete und sie zugleich mit der Kraft erfülle, die gesunde, die richtige, die reine Empfindungsenergie in sich zu erfahren. So allein löst sich auch das Rätsel von der zugleich rein subjektiven und rein objektiven Natur dessen, was wir das Schöne nennen. Rein subjektiv bleibt immer der Akt, durch den die Entstehung des Phänomens des Schönen erst eine Wirklichkeit wird: rein objektiv immer die Bestimmtheit des Anlasses, an den jener Akt mit a priori gewisser und allgemein verbindlicher Notwendigkeit sich knüpft. Am deutlichsten läßt sich die Richtigkeit dieser Sätze an dem sogenannten Naturschönen erkennen. Farbe und Gestalt der einzelnen, nebeneinander befindlichen und doch wieder inmitten der Gesamtheit mit allem verbunden dastehenden Naturdinge können als „ ein Schönes “ nur durch den Sinn des Beschauers empfunden werden, an sich sind sie es nicht, sondern enthalten nur den Anlaß, jenen „ Sinn “ zu bethätigen: d. h. eine durch die Empfindungsenergie geleitete absondernde und wieder zum Ganzen vereinigende Wahrnehmung auszuüben. Daß bei dem Kunstschönen im Grunde genau dasselbe Verhältnis obwaltet, wird nur um des Umstandes willen schwerer erkannt, daß durch den Schöpfer desselben dieser Wahrnehmungsthätigkeit des Empfangenden schon vorgearbeitet, das Material ihr bereit gestellt, und so dieselbe sehr erleichtert ist. Erleichtert ─ aber keineswegs entbehrlich gemacht! Jmmer wird, damit das Schönheitsphänomen sich bildet und als die mächtige Kraft, die ihm eigen ist, unter den übrigen Weltkräften sich wirksam erweise, erst die ureigene Thätigkeit des empfangenden Subjektes erforderlich sein; nur so kann die potentielle Energie des Kunstwerks zu der faktischen, aktuell vorhandenen der Schönheit werden: ganz ähnlich wie die magnetische Kraft einem Körper doch nur potentiell innewohnt und als solche erst existent wird, wenn ein andrer für dieselbe empfänglicher Körper mit ihm in Kontakt tritt. Der Unterschied in der Wirkung des koexistent und des successiv vorgetragenen Kunstwerkes beruht also nur darin, daß bei jenem die die Katharsis der erregten Empfindungen vollendenden Faktoren nebeneinander stehen, also scheinbar ─ nicht wirklich! ─ gleichzeitig wirksam sind, während sie bei diesem aufeinander folgen, und es hier also offenbar ist, daß sie ihr Ziel erst erreichen, wenn sie alle beisammen sind und vereinigt, in absoluter Vollständigkeit ihre Kraft ausüben, d. i. mit dem Abschluß des poetischen Werkes. Es bedarf keines weiteren Beweises, daß genau dasselbe aber auch bei den Werken der bildenden Kunst obwaltet: auch diese äußern ihre volle, d. i. ihre kathartische Wirkung erst, wenn die empfangende Empfindungsenergie die Gesamtheit der darin potentiell vorhandenen Kräfte abschließend zur einheitlichen Wirkung verbunden hat, was im einzelnen Falle nicht allein eine längere Zeit der Betrachtung verlangt, sondern wozu mitunter Menschenalter, ja selbst Jahrhunderte gehören, bis für die in dem Kunstwerke schlummernde volle Wirkungskraft die zureichende Empfindungsenergie sich entwickelt. Oder, wie der Sprachgebrauch es ausdrückt: bis das Verständnis dafür erwacht oder durch den Genius geweckt wird. Es genügt, an die beiden größten Beispiele zu erinnern: an die romanische Renaissance des 16. Jahrhunderts und an die Neubelebung der griechischen Kunst durch Winckelmann. Es scheint erforderlich, alle diese Erwägungen sich gegenwärtig zu halten, wenn man nun daran geht, über den vielumstrittenen Begriff der Katharsis sich Klarheit zu verschaffen. Hier gilt es nun zunächst, die Auseinandersetzung mit der Theorie aufzunehmen, die vor etwa dreißig Jahren Jakob Bernays in seiner bekannten Abhandlung „Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie.“ Abhandl. der Histor. Phil. Gesellsch. in Breslau. 1. Bd. 1857. aufstellte, und deren Ansehen in weiten Kreisen noch in Geltung zu sein scheint oder doch nur halb erschüttert. Bernays gibt die folgende „umschreibende Übersetzung“ der aristotelischen Definition: „Die Tragödie bewirkt durch (Erregung von) Mitleid und Furcht die erleichternde Entladung solcher (mitleidigen und furchtsamen) Gemütsaffektionen,“ die durch das Folgende dahin erklärt wird, daß er darunter „die erleichternde Entladung von solchen Gemütsaffektionen“ versteht. Seine Auffassung der tragischen Kunst, wie der Musik und eigentlich wohl aller Kunst, gipfelt darin, daß sie zunächst die Affekte sollicitiere, diese ganz entfessele, sie so gleichsam sich austoben lasse und somit die erleichternde Entladung, die Katharsis, von den betreffenden Affekten der Seele gewähre und sie auf solche Weise zur Ruhe gelangen lasse. Solche Entladung, streng im medizinischpathologischen Sinne genommen, errege eben durch die damit erzielte Erleichterung ein Lustgefühl, eine „ unschädliche Freude “: dieses ist, nach Bernays, die Hedone, die Freude, die wir durch die Kunst genießen. Zu dieser wunderlichen Theorie, die dem Systeme des Aristoteles ebensosehr widerspricht als unsern modernen Anschauungen, ist Bernays durch die bekannte Stelle verführt, wo am Schlusse der uns erhaltenen Schrift des Aristoteles über die „Politieen“ von „der Heilung und Katharsis “ die Rede ist, welcher die vom Enthusiasmus Überwältigten durch „die heiligen Lieder“ teilhaftig werden. Daß hier die Katharsis mit einem medizinischen Vorgange verglichen wird, ist unbestreitbar und auch niemals bestritten. Lessing ebenso wie Goethe und Herder haben die Stelle gekannt und erwähnt. Sie ist aber von Bernays in einem wesentlichen Punkte ─ ja in dem für die vorliegende Frage wesentlichsten ─ willkürlich gedeutet, und sodann mit dieser unrichtigen Deutung in einer den Grundlehren der aristotelischen Psychologie, Ethik und Kunsttheorie widersprechenden Weise auf die Definition der Tragödie übertragen worden. Das läßt sich in Kürze zeigen, auch ohne den philologischen Apparat der Bernaysschen Abhandlung einer eingehenden Kritik zu unterwerfen, für die hier nicht die rechte Stelle wäre, die übrigens das ausgesprochene negative Resultat durchweg bestätigt. Der Verfasser hat in zwei Schriften diesen Nachweis unternommen, einmal Wie gesagt, die Stelle der „Politik“ war von Goethe wie von Lessing gekannt; aber sie fanden darin nichts, was geeignet war, eine der Gattung nach neue Bedeutung des Begriffs der Katharsis zu eröffnen, nur, wie billig, eine der Art nach unterschiedene. Erst Jakob Bernays machte diese Entdeckung, die man ihm zu so großem Verdienste gerechnet hat, und durch die er nur erreicht hat, die ganze Frage auf eine schwer heilbare Weise zu verwirren. Aristoteles braucht den Ausdruck Katharsis in seinen naturwissenschaftlichen Schriften sehr oft und zwar durchweg in einem unserm deutschen Worte „ Reinigung “ auf das genaueste entsprechenden Sinne. Das Objekt derselben sind durchweg die Wesen, an denen die Reinigung vor sich geht ( ζῶα überhaupt, oder τὸ θῆλυ, γυναῖκες ); sie besteht in der Ausscheidung des Überflüssigen und daher dem Organismus Schädlichen; es kann demgemäß ein Genitiv zur Bezeichnung des auszuscheidenden Stoffes hinzutreten (z. B. τῶν περιττωμάτων ) oder auch ein identischer Genitiv, der synonym mit dem Begriff der Katharsis selbst den dieselbe darstellenden Vorgang anzeigt (z. B. τῶν καταμηνίων ). Jn den „Problemen“ ( I, 42, p. 864 a 23 ff.) definiert er die Katharsis im engsten medizinischen Sinne als durch Arzneimittel bewirkte Abführung. An zwei andern Stellen bedeutet καθαίρειν in der Komposition mit ἀπό aber auch die einfache mechanische Entfernung eines von außen hindernd anhaftenden Gegenstandes, so Probl. 31, 9 ( p. 958 b 5) die Lösung das Auge trübender Stoffe durch im Auge sich bildende Feuchtigkeit oder (683 a 28) einfach das mechanische Wegputzen fremder Körper vom Auge, wie man es bei manchen Jnsekten beobachtet. Übertragen wird dasselbe Wort sodann für die Ausscheidung der Schlacke beim Härten des Eisens (383 a 34 und b 4) gebraucht. Weitaus am häufigsten bezeichnet es, wie schon oben bemerkt, den mit dem Ausdruck καταμήνια charakterisierten physiologischen Vorgang im weiblichen Körper. Von entscheidender Wichtigkeit für die philologische Jnterpretation der Katharsisstelle ist die Frage, wie das Genitiv-Verhältnis in der Verbindung τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν aufzufassen sei. Hier scheint es nun für die Bernayssche Theorie zu sprechen, daß bei Aristoteles nirgends sonst der Genitiv der Person oder Sache, an welcher die „Katharsis“ sich vollzieht, zu finden ist; er sagt statt dessen: ἡ κάθαρσις γίνεται mit dem Dativ der Person ( τοῖς ζῴοις, ταῖς in einer Abhandlung der „ Jahrbücher für klass. Phil. “, 1875, Heft 2: „ Der Begriff der tragischen Katharsis “; sodann in der 1877 bei Teubner erschienenen Schrift: „ Aristoteles, Lessing und Goethe “. γυναιξίν, τοῖς θήλεσιν, ταῖς κυούσαις ) oder auch einfach ohne denselben. Jndessen ergibt eine genauere Betrachtung sofort, mit welcher Vorsicht derartige Beobachtungen aufgenommen werden müssen, damit sie nicht zu einem rein mechanischen Verfahren den Anlaß geben und in die Jrre leiten. Alle Stellen, die hier in Betracht kommen, gehören der zuletzt erwähnten Sphäre an: hier ist nun der aristotelische Sprachgebrauch unserem deutschen Gebrauch des Terminus „Reinigung“ vollkommen analog. Es widerstrebt der strengeren Logik in jeder Sprache, einen physiologisch sich von selbst vollziehenden Vorgang durch eine Wortverbindung zu bezeichnen, die ein aktives, von außen bewirktes Herbeiführen desselben ausdrücken würde. Nicht einmal für die durch „Pharmaka“ erzielte Katharsis im Sinne der Purgation würde Aristoteles sich dieses objektiven Genitivs der Person bedienen ─ es findet sich in seinen Schriften nicht Gelegenheit, dies zu konstatieren ─, ebensowenig als die deutsche Sprache einen solchen Gebrauch gestatten würde. Dafür setzt sie, ganz wie die lateinische, den Genitiv desjenigen Teiles des Körpers, an welchem die Reinigung vollzogen wird, in diesem Falle also alvi , des Leibes. Es ist in der angegebenen Richtung bezeichnend, daß Tieren gegenüber der Sprachgebrauch etwas weiter geht; so findet sich bei Aristoteles der Ausdruck: ἡ βοῦς ... καθαίρεται κάθαρσιν βραχεῖαν (573 a 6). Jn allen Fällen aber bedeutet „Katharsis“ den Vorgang der Entfernung eines Unzugehörigen, Überflüssigen, sei es nun mechanische Abwaschung oder äußerliches Wegwischen der Unreinigkeit, sei es Läuterung von Schlacken, sei es Ausscheidung des περίττωμα , des zur Ernährung nicht verbrauchten aufgenommenen Stoffes, oder „ Ausstoßung “ überflüssig produzierter Säfte. Wo der hinzutretende Genitiv nun nicht ein identischer ist, der den Vorgang selbst bezeichnet, wie καταμηνίων , gibt er den ausgestoßenen Stoff an, das περίττωμα , was auch von Aristoteles καθαρμός genannt wird oder ἀποκάθαρμα : die Ausscheidung. Es liegt also auf der Hand, daß in solcher Verbindung zu dem Begriff „Katharsis“ einzig und allein der Genitiv von Stoffnamen hinzutreten kann, entweder Bezeichnungen eines gleichartigen, beliebig teilbaren Stoffes, von dem ein Zuviel ( ὑπερβολή ) zu beseitigen ist, um den normalen Zustand herzustellen, oder Bezeichnungen eines Stoffes, der, einem andern verwandten beigesellt, als eine Unreinigkeit von demselben abgesondert wird. Sowohl nach der Logik der Sprache, als vollends nach dem psychologisch=ethischen System des Aristoteles ist es also ganz unmöglich, den Genitiv παθημάτων als einen solchen Genitiv des ausge= schiedenen Stoffes aufzufassen, also mit Bernays die viel umstrittene Stelle zu übersetzen: „ eine Entladung von diesen Affektionen “. Die Pathe oder Affekte sind Bewegungen der Seele, in denen sich das Leben derselben äußert, und zwar hängt die Art und Weise jeder einzelnen dieser Bewegungen einmal von der in der Seele dazu vorhandenen Anlage ab, sodann von der innerhalb derselben ausgebildeten Gewöhnung, sich diesen Bewegungen gegenüber zu verhalten. Eine „ erleichternde Entladung “ von den Pathe oder Pathemata überhaupt ist eine nach Aristoteles ganz undenkbare Vorstellung. Gegenüber der Möglichkeit, ihnen ganz frei die Zügel schießen zu lassen, gibt es für ihn nur zwei entgegengesetzte Vorstellungen: entweder sie über das rechte Maß hinaus zu unterdrücken, wobei von einer Katharsis selbstverständlich nicht die Rede sein kann, oder, worauf sein ganzes System überall hinausläuft, sie im rechten Maße in Übung und zu stets bereiter Bethätigung zu halten. Sie aufzuregen, zu „ sollicitieren “, um sie auf solche Art „ auszustoßen “, ist eine Vorstellung, die auf die denkbar stärkste Weise ebenso seinem System als der Sprachmöglichkeit widerspricht. Wie aus Hunderten und Tausenden von Stellen bei ihm zu beweisen ist, würde ein solches „stürmisches Austoben“ der Affekte für den Augenblick, wie jedes Übermaß, eine Erschlaffung hervorbringen, für die Folge jedoch, wie jedes Gewährenlassen des ungezügelten Affektes, eine fehlerhafte Neigung, dazu zurückzukehren. Und bedarf es denn etwa eines Beweises, daß diese Ansicht ebenso mit dem gesunden Menschenverstand übereinstimmt als mit den Theorien unserer modernen Philosophie? Bernays freilich geht von der grundfalschen Meinung aus, daß, überhaupt und nach Aristoteles, „ alle Arten von Pathos wesentlich ekstatisch seien “; „ durch sie alle werde der Mensch außer sich gesetzt! “ Das wird demselben Aristoteles untergeschoben, nach dessen Lehre in den Bewegungen der Pathe sich das ureigene Leben der Seele darstellt, durch die und an denen der Logos und der Nous erst zur Entwickelung gelangt, wie umgekehrt jene an diesen ihre Lehr= und Zuchtmeister finden, so daß er ohne die auf solche Weise hergestellte Metriopathie die Tugend überhaupt nicht für möglich erklärt! Endlich! Wie ist es denn möglich, es zu übersehen, daß Bernays mit seiner Theorie gerade in den Fehler, den er bekämpft, nur um so stärker zurückverfällt? Er zieht dagegen zu Felde, daß die Definition der Tragödie auf ihre entfernte Wirkung bei den Zuschauern gegründet werde, und seine eigene Erklärung derselben geht darauf hinaus, daß durch die ekstatisch=orgiastische Sollicitation von Mitleid und Furcht „ die Seelen der Zuschauer erleichternd von diesen Affekten entladen würden “, also erst recht auf eine „entfernte“, das Kunstwerk an sich weiter nichts angehende „Wirkung“. Zu alledem wäre nach ihm die Forderung der Katharsis für die Definition der Tragödie, weit entfernt ihr wesentlichstes Glied zu sein, vielmehr ein überflüssiges und daher fehlerhaftes Anhängsel. Es ist ja doch klar, daß dieser Zusatz nicht das Geringste daran ändern würde, daß das Wesen der Tragödie eben lediglich in die Nachahmung einer die Furcht und das Mitleid aufregenden Handlung gesetzt wäre; daß eine solche dann die von Bernays definierte Wirkung zu äußern imstande wäre, würde doch zu ihrer Wesensbestimmung nichts weiter beitragen, dem Dichter für sein Verfahren nicht den leisesten Wink an die Hand geben. Zu dem Rezept eines Purgationsmittels gehört nur die Angabe der den betreffenden Reiz ausübenden Jngredienzien, keineswegs aber die Angabe der ihrer Natur nach notwendig durch ihre Mischung hervorgebrachten Wirkung. Zu diesen beiden Fehlern verfällt Bernays auch noch in den dritten, daß er für die Zuhörer des tragischen Kunstwerks eine bestimmte und zwar fehlerhafte Beschaffenheit voraussetzt, die sie aus dem Leben mitbringen, auf deren Fortschaffung die Tragödie bedacht und zu welchem Zwecke sie erfunden sein soll. Daß diese irrige Ansicht immer noch wieder Anhänger gefunden hat, ist lediglich der Geschicklichkeit zuzuschreiben, mit welcher Bernays den philologischen Apparat in der Frage zu Gunsten derselben zu gruppieren verstanden hat; sehr einsichtsvolle Leute, die aber, eben um dieses Umstandes willen, sich der Mühe überhoben geglaubt haben, hier selbst zu prüfen, haben sich deshalb seiner Beweisführung gefangen gegeben: nicht als ob sie nun, wie er, überzeugt wären, daß dies die richtige Definition der Tragödie überhaupt sei, sondern daß Aristoteles sie dafür gehalten habe. Es ist bei der ganzen Kontroverse übersehen worden, daß der Ausdruck „Katharsis“ doch nur vergleichsweise auf das psychologische Gebiet übertragen ist. Es ist einer der schlimmsten Fehler, einen Vergleich buchstäblich zu nehmen, der immer nur ein Ähnlichkeitsverhältnis, nicht völlige Gleichheit bezeichnen will. Die Pathe oder die Empfindungen der Furcht und des Mitleids sind kein gleichartiger Stoff, wie das Blut oder die Galle, von dem ein überschüssiges Quantum ausgeschieden werden kann, sie sind daher auch nicht mit diesen in Vergleich gestellt, sondern mit denjenigen physiologischen Organen oder denjenigen Körperteilen, an welchen durch Ausscheidung eines überflüssigen Stoffes die Reinigung, die Katharsis, sich vollzieht. Was durch die Katharsis von ihnen ausgeschieden wird, nämlich alle die fehlerhaften Beimischungen, durch die ihre richtige, gesunde Beschaffenheit ─ in welcher allein sie der Anlage und Bestimmung der Seele entsprechen, demgemäß also Freude, Hedone, bewirken und damit ein würdiges Ziel der Kunstbestrebung bilden ─ getrübt, und zwar sowohl nach der Seite des Zuviel als nach der des Zuwenig, getrübt wird. Derjenige, welcher die Katharsis erfährt, an dem sie sich vollzieht, ist in beiden Fällen, in dem eigentlichen wie dem uneigentlichen, nur vergleichsweise so bezeichneten, der Mensch; bei der körperlichen Katharsis wäre es überflüssig, das Organ zu bezeichnen, an welchem sich die Katharsis vollzieht, da dasselbe entweder von selbst angezeigt ist, oder da sich in andern Fällen die Katharsis auf den ganzen Organismus bezieht: dagegen war es bei dieser Übertragung des Katharsisbegriffes auf ein ganz fremdes Gebiet unumgänglich erforderlich, den psychologischen Vorgang zu bezeichnen, auf welchen der Vergleich der kathartischen Wirkung seine Anwendung finden soll. Denn die Pathe der Furcht und des Mitleids sind Vorgänge, Bewegungsvorgänge innerhalb der Seele, die durch Erregung ─ Sollicitation ist ein Ausdruck, der sehr mit Unrecht von gewissen physiologischen Vorgängen auf das psychologische Gebiet übertragen ist ─ doch eben hervorgebracht, nicht fortgeschafft werden: sollte aber nach übermäßiger Erregung derselben eine zeitweilige Erschlaffung und dadurch herabgeminderte Neigung, sich aufs neue ihnen hinzugeben, erzielt werden, so wäre das ja wieder eine Wirkung, die mit der Tragödie als Tragödie, mit ihrer Organisation, nicht das Mindeste zu thun hätte, von der in ihrer Definition zu reden aber der Gipfel der Verkehrtheit wäre. Zu was für propädeutischen, paränetischen, ja auch medizinischen, psychiatrischen oder sonst irgendwie tendenziösen Anwendungen kann nicht ein Kunstwerk, und namentlich ein poetisches, unter Umständen sich geeignet erweisen, was alles doch das Wesen der Kunst ganz unberührt läßt. Wird dagegen ─ wie es das gesamte psychologisch=ethische System des Aristoteles verlangt ─ die Katharsis als eine an den Empfindungsvorgängen sich vollziehende Ausscheidung dessen gefaßt, was ihnen Störendes sich beizumischen beginnt, so stellt sich der Schluß der aristotelischen Definition als ihr wesentlichster Bestandteil heraus. Die Forderung, daß die Tragödie eine Furcht und Mitleid erregende Handlung nachahme, die bei der Bernaysschen Auffassung allein übrig bleibt und die seit der Erneuerung der aristotelischen Lehre auch thatsächlich in dieser Lostrennung von der ihr so notwendig zu= gehörenden zweiten Hälfte der Definition sich überwiegend geltend gemacht hat, gewährt keinerlei Schutz gegen die gerade hier die Reinheit der tragischen Gattung am schwersten bedrohenden Ausartungen und verfehlt daher ihren Zweck. Je nachdem der Nachdruck darauf gelegt wird, vor allem das Mitleid zu erregen oder vornehmlich die Furchtempfindungen hervorzubringen, ist die Tragödie dann dem Ueberwuchern der Rührung, des Jammervollen oder des Fürchterlichen, Schrecklichen preisgegeben: in beiden Fällen muß sie peinlich beengend und belastend wirken, statt erfreuend und erhebend. Gerade gegen diese Gefahren aber kämpft die aristotelische Lehre am nachdrücklichsten und höchst erfolgreich an. So soll nach des Aristoteles unvergleichlicher Theorie, die ─ wie es das Siegel einer musterhaften Definition ist ─ zugleich die Grunderfordernisse aller künstlerischen Wirkung in sich vereint, die Tragödie beschaffen sein: Der Gattung nach soll sie Handlung nachahmen, und zwar eine solche, die Furcht und Mitleid in Bewegung setzt, d. h. welche eine große und bedeutungsvolle Schicksalsentscheidung in sich darstellt, denn eine solche ist es, und zwar nur eine solche, die jene beiden Empfindungen im Verein hervorbringt; sie konnte auf keine Weise prägnanter und deutlicher bezeichnet werden, als daß in die Erzielung der Schicksalsempfindungen der „ Zweck der Tragödie “ gesetzt wurde. Die Nachahmung erstrebt damit, es den großen Schicksalen der Wirklichkeit gleichzuthun: Philosophischer aber als die Geschichte, geht die Kunst über die Wirklichkeit hinaus! Das Beängstigende und Erschreckende, das Niederdrückende und Herzzerreißende des Schicksalswaltens im wirklichen Leben, alles das in seinen tausendgestaltigen Erscheinungen wird die tragische Nachahmung, wenn sie ihrem obersten Gesetz, der Wahrheit, getreu bleiben will, zwar nicht den Ereignissen nehmen können; in seiner ganzen Wucht bringt sie es zur Entfaltung und wirkt also durch Furcht und Mitleid: Doch bliebe sie dabei stehen, was wäre sie im besten Falle anders als eine Wiederholung der entsetzlichen und traurigen Erschütterungen, von denen das reale Leben genugsam und übergenug erfüllt ist, und über die das Kunstwerk uns befreiend erheben soll? Hier tritt der Schlußsatz des Aristoteles ein: so hat der Dichter den Furcht und Mitleid erregenden Handlungsstoff auszuwählen, zu gestalten ( συνιστάναι ) und vermöge der dem tragischen Kunstwerk eigenen künstlerischen Durchführung zu behandeln, daß durch An= lage, Komposition und Abschluß es die Kraft erhalte, das in seinem Verlauf unvermeidlich hier und dort erzeugte Übermaß der einen und der andern tragischen Empfindung durch seine Gesamtwirkung hinwegzuläutern, die Schicksalsempfindungen davon befreiend zu entlasten, dem Hörer somit die Möglichkeit, Bereitschaft ( δύναμις ) herzustellen, daß er der reinen Schicksalsempfindungen sich erfreue. Ein späterer Gegner des Aristoteles, den wunderlicherweise Bernays als Zeugen für seine Theorie heranzieht, der Neuplatoniker Proklos, hat für diese Wirkung der Tragödie, also für die Katharsis, den synonymen Ausdruck: τὰς κινήσεις τῶν παθῶν ἐμμελῶς ἀναστέλλειν d. h. „die Bewegungen der betreffenden Empfindungen in harmonischer Weise herabmindern, zur Harmonie zurückführen“. Und zu noch stärkerer Bestätigung: Proklos wandte für die aristotelische Katharsis als gleichbedeutend einerseits den stärkeren Ausdruck ἀπέρασις an ─ διαμηχανᾶσδαι τῶν παθῶν τούτων ἀπεράσεις τινάς d. h. „für gewisse Mittel sorgen, die diesen Empfindungen bei Überladung Abhülfe schaffen “ ─ andererseits den milderen ἀφοσίωσις == ihnen beschwichtigend gerecht werden “; zur Erklärung beider aber fügt er hinzu: αἱ ἀφοσιώσεις οὐκ ἐν ὑπερβολαῖς εἰσὶν, ἀλλ' ἐν συνεσταλμέναις ἐνεργείαις == „solche Beschwichtigung liegt nicht in ihrem Übermaß, sondern in der Einschränkung ihrer Bethätigungen“. Vgl. hierzu den oben citierten Aufsatz des Verfassers in Fleckeisens Jahrb. für klass. Phil., 1875, S. 96 ff. Jn demselben Sinne sagt Proklos von den Schauspielen, daß sie die Möglichkeit gewährten: ἐμμέτρως ἀποπιμπλάναι τὰ πάθη καὶ ἀποπλήσαντας ἐνεργὰ πρὸς τὴν παιδείαν ἔχειν (1486 a 31), d. h. also: „daß man durch die Schauspiele in den Stand gesetzt werde, den Empfindungen im rechten Maße Spielraum zu gewähren und sie solcherweise für die sittliche Bildung in Thätigkeit zu erhalten. “ Also nicht solle man „ von ihnen entladen “ werden, sondern sie sollen in der rechten Weise erregt und lebendig erhalten werden! Hier ist nun auch der Ort der viel berufenen musikalischen Katharsis zu gedenken, von der die aristotelische Politik handelt, und aus welcher Bernays seine mißverständliche Auffassung abgeleitet hat. Aristoteles untersucht an der Stelle das Wesen der Musik hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit für die Erziehung und für noch andere, weiter gehende Zwecke des Gesetzgebers; er unterscheidet zu diesem Behufe ethische, die sittliche Kraft spannende, praktische, die Seele zum Handeln aufregende, und enthusiastische, die Begeisterung weckende, Lieder. Diesen letzteren schreibt er die Kraft zu, „ gleichsam eine Katharsis “ im Gemüt zu bewirken, und begründet diese Ansicht fol= gendermaßen: „Denn die Empfindung, die in einigen Seelen stark auftritt, ist in allen vorhanden, nur nach dem Weniger oder Mehr verschieden, wie Furcht und Mitleid, ebenso auch der Enthusiasmus. Denn es gibt Naturen, die auch diesem Erregungsvorgang vorzugsweise unterliegen. Diese sehen wir durch die heiligen Gesänge, indem sie die Wirkung der die Seele in Entzückung versetzenden Melodien erfahren, zur Ruhe gebracht, als ob ihnen gleichsam Heilung zu teil geworden wäre und Katharsis. Ganz dieselbe Wirkung erfahren natürlich auch ( sc . durch die Musik, von der in der ganzen Stelle die Rede ist) die zum Mitleid oder zu der Furcht besonders stark Neigenden und überhaupt alle, die irgend einer Empfindung vorzugsweise unterliegen ( παθητικός hat nach Nikom. Eth. II, 7 gerade diese Bedeutung); von den Übrigen aber erfährt ein jeder so viel von dieser Wirkung, als die betreffende Empfindung auf ihm lastet: bei allen wird eine Art von Katharsis vor sich gehen und sie werden sich freudig erleichtert fühlen. “ 1342 a 4: \̔ο γὰρ περὶ ἐνίας συμβαίνει πάθος ψυχὰς ἰσχυρῶς τοῦτο ἐν πάσαις ὑπάρχει, τῷ δἐ ἧττον διαφέρει καὶ τῷ μᾶλλον, οἷον ἔλεος καὶ φόβος, ἔτι δ ' ἐνθουσιασμός . καὶ γὰρ ὑπὸ ταύτης τῆς κινήσεως κατακώχιμοί τινές εἰσιν . ἐκ δὲ τῶν ἱερῶν μελῶν ὁρῶμεν τούτους ὅταν χρήσωνται τοῖς ἐξοργιάζουσι τὴν ψυχὴν μέλεσι, καθισταμένους, ὥσπερ ἱατρείας τυχόντας καὶ καθάρσεως, ταὐτὸ δὴ τοῦτο ἀναγκαῖον πάσχειν καὶ τοὺς ἐλεήμονας καὶ τοὺς φοβητικοὺς καὶ τοὺς ὅλως παθητικοὺς . τοὺς δ' ἄλλους καθ' ὅσον ἐπιβάλλει τῶν τοιούτων ἑκάστῳ, καὶ πᾶσι γίγνεσθαί τινα κάθαρσιν, καὶ κουφίζεσθαι μεθ' ἡδονῆς . Was hat denn nun Aristoteles mit der „ Katharsis des Enthusiasmus “ besagen wollen? Dasjenige, worauf er den Nachdruck legt, ist: daß auch diese Empfindung, die gotterfüllte Begeisterung, gerade wie Furcht und Mitleid, und die andern Empfindungen alle, in verschiedenen Stärkegraden erscheine, keineswegs an sich selbst in allen Fällen eine absolut berechtigte sei. Von diesen verschiedenen Stärkegraden kann nach seiner Theorie aber nur einer der rechte, richtige, gesunde, wünschenswerte sein. Welchen nun wird die künstlerische Nachahmung sich zum Ziele, als den zu erregenden, setzen, wenn nicht diesen? Und wie anders kann die Wirkung solcher künstlerischen Nachahmung sich äußern, als daß, „indem der Hörende sie in sich erfährt“, sie von dem, „was an der Empfindung ihn belastet ( καθ' ὅσον ἐπιβάλλει αὐτῷ ), ihn erleichtert, das Zuviel ( μᾶλλον ) ausscheidet ( καθαίρει ), an dieser Empfindung ihn also einer Läuterung, gleichsam einer Heilung teilhaftig werden läßt? Das περίττωμα , das für den erforderten psychologischen Vorgang un= brauchbar Überflüssige, das Übermaß ( ὑπερβολὴ τοῦ παθήματος ) also ist es auch hier, welches ausgeschieden wird ─ genau wie in allen andern Fällen der Katharsis ─ und für diesen Prozeß kann eine passendere deutsche Bezeichnung nicht gefunden werden, als in dem Ausdruck „ Läuterung “. Diese Läuterung wird bewirkt durch die schöne Nachahmung des Enthusiasmus in einer diesem Zwecke geweihten, künstlerischen Musik, in den „heiligen Liedern“. Das Übermäßige, Falsche, des individuellen, mehr oder minder krankhaften Enthusiasmus fällt vor dem Eindruck des echten, wahren in sich zusammen, und die Seele wird davon entlastet. Freilich ist der eigentliche „Zweck“, dem diese Lieder geweiht sind, immer der, überhaupt die Entzückung des reinen, schönen Enthusiasmus hervorzubringen; aber an denen, die von einem Taumel übermäßiger Verzückung gleichsam „besessen“ ( κατακώχμοι ) sind, üben sie, indem sie den Strom der Seelenbewegung in seine rechten Ufer lenken, eine Wirkung, die für sie einer Kur gleichkommt, so daß also für jene die kathartische Wirkung „ gleichsam eine Heilung “ von Aristoteles genannt werden konnte. Übrigens ist das alles nichts spezifisch Aristotelisches, nicht einmal Hellenisches; es ist vielmehr die klare Definition der Wirkung einer jeden Kunst, jedes Anschauens der Schönheit und auch jedes Erkennens der Wahrheit. Auch haben die Alten den Aristoteles so und nicht anders verstanden; das beweisen gerade die Äußerungen der Neuplatoniker, auf welche sich Bernays für seine Theorie so unglücklich berufen hat, nicht zum mindesten die Stelle bei Jamblichus, mit der die Beweisführung der Bernaysschen Abhandlung zum Schluß noch einen ihrer stärksten Trümpfe auszuspielen meint. Jamblichus kämpfte gegen die aristotelische Katharsistheorie in der Musik lediglich, insofern von ihr auf den Enthusiasmus Anwendung gemacht wird. Er erkennt es als „ natürlich und menschlich “ an, daß die Musik die Kraft habe, „Empfindungen einzupflanzen, oder sie von der Wendung zum Fehlerhaften zu heilen “: ἐμποιεῖν \̓η ἰατρεύειν τὰ πάθη τῆσ παρατροπῆς . Aber in seiner mystischen Weise betrachtet er den Enthusiasmus nicht als einen Empfindungszustand, der überhaupt eines Übermaßes, einer Abirrung oder fehlerhaften Wendung fähig wäre, sondern er ist ihm ein unbedingt gotterfüllter Zustand, der in allen Phasen normal und wünschenswert sei. Deswegen sagt er: bei ihm „kann von keiner Ausscheidung, Abklärung, Heilung die Rede sein; denn seinem Ursprunge nach erwächst er in uns nicht als eine Krankheitserscheinung oder irgendwie in Unmaß und belästigender Überfülle, sondern vom ersten Anbeginn und in seinem ganzen Verlauf ist er göttlich“: ἀπέρασιν δὲ καὶ ἀποκάθαρσιν ἰατρείαν τε οὐδαμῶς αὐτὸ κλητέον· οὐδἐ γὰρ κατὰ νόσημά τε \̓η πλεονασμὸν \̓η περίττωμα πρώτως ἐν ἡμῖν ἐμφύεται, θεία δὲ αὐτοῦ συνίσταται ἡ πᾶσα ἄνωθεν ἀρχὴ καὶ μεταβολή . Jamblichus faßt die Katharsis in genauester Übereinstimmung mit allem, was in Obigem erörtert ist, als einen Vorgang auf, der das Überflüssige, Störende und also Erkrankung, Verschlechterung irgend welcher Art Hervorrufende aus einem Körper, einem Organ oder auch, übertragen, aus einem Bewegungsvorgange fortschafft, das περίττωμα : also auch er versteht darunter eine Läuterung, eine Reinigung. Will man noch weitere Bestätigung, so wird dieselbe durch einen Ausspruch des Jamblichus, der in den Scholien des Syrianus zu der Metaph. d. Aristot. (op. Arist. ed. Becker, V, 891 a 15) aufbewahrt ist, über die Wirkung der mathematischen Beweismethode geliefert: „daß durch sie ein Organ in jedes Menschen Seele, das durch andere Beschäftigungen verdorben und abgestumpft war, gereinigt und neu belebt wird“: ὄπως ἐξ αὐτῶν ὄργανόν τι τῆς ἑκάστου ψυχῆς ἐκκαθαίρεταί τε καὶ ἀναζωπυρεῖται , ἀπολλύμενον καὶ τυφλούμενον ὑπὸ τῶν ἄλλων ἐπιτηδευμάτων . Nach dem philologischen Befunde der Sache ─ dessen kritische Darlegung hier nicht umgangen werden kann, da die Bernayssche Theorie noch immer wieder Verteidigung gefunden hat ─ stellt sich also heraus: 1) Daß der Ausdruck „ Katharsis “ ursprünglich dem medizinischen Gebiet angehört ─ eine offenkundige Thatsache, an der weder Lessing noch irgend ein anderer Erklärer jemals gezweifelt hat ─ und daß derselbe eine Ausscheidung des Überflüssigen und daher Schädlichen bedeutet; ebenso auch eine Fortwaschung des von außen störend Anhaftenden: in beiden Fällen also eine Reinigung. 2) Daß in demselben Sinne der Ausdruck auf ein technischindustrielles Verfahren übertragen wird: auf die „ Läuterung “ des Eisens von fremden Bestandteilen. 3) Daß abgesehen von der Übertragung auf das religiöse Gebiet, wo die Katharsis ebenso eine Fortwaschung des Befleckenden bedeutet, eine „ Lustration “, die weitere Übertragung auf das ästhetische Gebiet stattfindet, wo, in dem gleichen Sinne wie in allen andern Fällen, eine Purifikation, eine Reinigung von schädlich Überflüssigem damit bezeichnet wird, die jedoch gleichnisweise statt an Körpern geschehend, an gewissen ästhetischen Vorgängen, an Empfindungsbewegungen sich vollziehend gedacht wird. Eine Empfindungsbewegung aber wird dadurch von dem Übermäßigen, Falschen, Ungesunden, das ihr anhaftet, gereinigt, geläutert, daß die richtige, gesunde, daher dauernd berechtigte Empfindung durch die ihr innewohnende obsiegende Kraft sich jener gegenüber als die am Schlusse des „ Reinigungs “= Prozesses sich behauptende geltend macht. Solches Endziel der Katharsis stellt Aristoteles der Tragödie als das Ziel ihrer Wirkung: gegenüber allen denkbaren Modifikationen der in ihrem Verlauf unvermeidlich aufsteigenden Furcht- und Mitleidsempfindungen soll sie in ihrer gesamten Einrichtung das unfehlbar wirkende Heilmittel tragen, das an jenen die Läuterung vollzieht, sie klärt, zurechtstellt; d. h. mit andern Worten: sie soll die großen Schicksalsentscheidungen, die ihren Stoff bilden, so darstellen, daß jedem am letzten Ende die Möglichkeit gewährt ist, mit seiner Empfindung darüber „völlig ins reine zu kommen“, dem größten und wichtigsten Lebensrätsel gegenüber den rechten Standort zu gewinnen und mit dem vollständigsten Einblick darein zugleich harmonische Beruhigung, Erhebung und das edelste Gefühl der Freude zu erfahren. Daß aber auch Aristoteles dieses „Gefühl der Freude“, auf das sich unverkennbar geltend machende Bewußtsein der Übereinstimmung mit der Natur und Wahrheit setzt, beweist seine Definition der Hedone in der Rhetorik (s. 1369 b 33), wo er den Begriff nicht streng systematisch entwickelt wie in der Ethik, sondern in kurz und populär gefaßter Formel bezeichnet. Er nennt die Freude eine κίνησις τῆς ψυχῆς καὶ κατάστασις ἀθρόα καὶ αἰσθητὴ εἰς τὴν ὑπάρχουσαν φύσιν . Das heißt nicht: „eine plötzliche Erschütterung und Wiedergewinnung des seelischen Gleichgewichts“, wie Bernays seiner Theorie von der Ekstase und Entladung durch Sollicitation zuliebe völlig willkürlich und ganz falsch übersetzt, sondern: „ eine Bewegung der Seele und eine volle und bewußte Herstellung zu der ihr innewohnenden Natur “. Noch eine zweite philologische Frage verlangt zum völligen Erweis der im Obigen vorgetragenen Auffassung der aristotelischen Definition eine kurze Erörterung. Die Tragödie soll die Kraft haben, durch die „Empfindungen“ ─ Pathe ─ der Furcht und des Mitleids die Läuterung „ der entsprechenden Gemütsbewegungen “ ─ Pathemata ─ zu vollenden: τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν . Wie νόσος ─ Krankheit ─ den Namen und damit den Begriff einer krankhaften Veränderung bezeichnet, νόσημα ─ Erkrankung ─ dagegen das Eintreten derselben in einem einzelnen Falle, der also dem allgemeinen Krankheitsbilde keineswegs notwendig entsprechen, vielmehr nach allen Richtungen hin stattfindende, individuelle, so oder so beschaffene Abweichungen aufweisen wird: so hat Aristoteles die Gewohnheit, mit dem Ausdruck „ Pathos “ den Namen und Begriff eines Veränderungsvorganges überhaupt zu bezeichnen, mit „ Pathema “ die demselben entsprechende, so oder so beschaffene Verwirklichung an dem Jndividuum. Er bedient sich der beiden Ausdrücke nach dieser Unterscheidung im allerweitesten Umfange für alle denkbaren Veränderungsvorgänge auf allen Gebieten. Nun liegt es auf der Hand, daß der Begriff eines Veränderungs= vorganges leicht an die Stelle des Begriffes der dadurch bewirkten Veränderung treten kann: z. B. die Verpuppung des Schmetterlings, das Häuten der Schlange, die Veränderungen der Tiere nach den Jahreszeiten, das Ergrauen, das Dunkeln, das Ausfallen der Haare, das Austrocknen oder die Versumpfung von Gegenden, überhaupt die mannigfachsten Vorgänge am Himmel, auf der Erde, im Körper oder in der Seele können, je nach den Umständen, bald von der einen, bald von der andern Seite angesehen oder bezeichnet werden. Wenn das Wort „ Pathema “ die einzelne Erscheinung eines jeden solcher Vorgänge bezeichnet, so ist es klar, das der Pluralis davon in manchen Fällen mit dem Pluralis von Pathos ohne Aenderung des Sinnes mit nur leichter Nüance der Wendung abwechseln kann, da es dann durch die Mehrzahl eben jene Allgemeinheit erhält, die dem Begriff von „Pathos“ eigen ist. Es würden also in manchen Fällen die Plurale „Pathe“ und „Pathemata“ nebeneinander vorkommen können, nur niemals, sobald es dem Autor darauf ankommt, entweder ausdrücklich die Veränderungsvorgänge oder ausschließlich deren individuelle Erscheinungen zu bezeichnen. Dagegen wird es unmöglich sein, den Singular beider Worte auch nur in annähernd ähnlichem Sinne miteinander alternieren zu lassen. Das Nähere über die Frage ist in des Verf.s Schrift: „ Pathos und Pathema im Aristot. Sprachgebrauch “ (Königsberg 1873) nachzusehen, die eine Bekämpfung der gleichnamigen Abhandlung von Bonitz im fünften Hefte seiner „ Aristotel. Studien “ (Wien 1867) enthält. Die im Obigen angegebenen Unterschiede im Gebrauch der beiden Ausdrücke sind von dem Verf. in der citierten Schrift als von Aristoteles durchweg festgehalten nachgewiesen. Da es aber in einem Teil der einschlägigen Litteratur üblich geworden ist, mit Berufung auf eine bestimmte Recension jener Schrift die Resultate derselben als hinfällig zu betrachten, so kann es, bei der Wichtigkeit der Frage, nicht umgangen werden, die Einwürfe dieser Recension hier in kurzem zu widerlegen. Dieselben bestehen in einfachen Behauptungen ohne eingehendere Begründung und richten sich seltsamerweise zum Teil gerade gegen Stellen, in denen der behauptete Unterschied am schärfsten hervortritt. Die Recension erschien im Litter. Centralblatt, 30, 8, 1873 (S. 1091 ff.) und ist von M. Heinze unterzeichnet. Die dort angeführten Stellen seien hier der Reihe nach vorgelegt: 1) „Meteor. I, 14, 352 a 18, wo die Nun ist es, gerade wo es auf die Unterscheidung der beiden Begriffe ankommt, eine der gewöhnlichsten Redewendungen bei Aristoteles, daß er den begrifflich bezeichneten Veränderungsvorgängen mit den Worten τὰ τοιαῦτα παθήματα die Angabe der denselben entsprechenden Verwirklichungsvorgänge folgen läßt. Auf dem Gebiete Versumpfung und Austrocknung von Landstrecken παθήματα genannt werden, seien nicht diese allgemeinen Vorgänge gemeint, die ibid. II, 3, 356 b 34 πάθη heißen, sondern weil vorher von Argos und Mykene die Rede ist, die in den einzelnen Fällen hervorgebrachten einzelnen Erscheinungen. Der Verf. hat aber nicht berücksichtigt, daß diese specielleren Fälle zu einer Verallgemeinerung erweitert sind, ibid. 352 a 15, wo es heißt: ταὐρὸ δεῖ νομίζειν τοῦτο συμβαίνειν καὶ περὶ μεγάλους τόπους καὶ χώρας ὅλας , so daß das darauf folgende τοιαῦτα παθήματα nichts heißen kann, als „derartige Vorgänge“, ganz allgemein gefaßt und gleichgesetzt werden muß dem erwähnten πάθη im zweiten Buch.“ ─ Ein ganz unglaublicher Einwurf! Gerade der Umstand, der hier angeblich „übersehen“ sein soll, dient ja dem Verf. als Stützpunkt; die Stelle ist für sich allein im höchsten Grade für seine Ansicht beweisend. Aristoteles polemisiert an der Stelle gegen diejenigen, welche Versumpfung und Austrocknen von Länderstrecken auf eine Veränderung des Universums zurückführen und erklärt sie seinerseits aus lokalen Ursachen. Er führt zum Beweise Argos und Mykene an, in denen beiden Sumpf und Trockenheit gewechselt haben, und fügt hinzu, daß, was hier auf kleinem Terrain stattgefunden habe, man doch „ ebenso beurteilen müsse, wenn es sich auf großen Strecken und in ganzen Ländern ereigne “. Durch diesen Zusatz soll nun der Schluß des Verf. seine Kraft verlieren, daß es sich also, wie in Argos und Mykene, so nun hier in ganzen Ländern um die in den einzelnen Fällen zu Tage tretenden einzelnen Verwirklichungen des in Rede stehenden Vorganges handle!! Dagegen braucht nun Aristoteles an der Stelle des zweiten Buches, wo er am Abschluß der Untersuchung über den jenen einzelnen παθήματα zu Grunde liegenden allgemeinen Vorgang das Resultat noch einmal zusammenfaßt, den Ausdruck πάθος ( nicht πάθη , wie der Rec. schreibt), und hier wird derselbe gebieterisch gefordert, es könnte πάθημα hier durchaus nicht stehen: τῶν κατά τινα χρόνον ὑπερβολῶν γιγνομένων ὕδατος τοῦτ' ἐστὶ τὸ πάθος == „ Dies also ist der Vorgang bei den zeitweilig entstehenden Ueberschwemmungen.“ 2) „Ebensowenig ist irgend ein Unterschied zwischen den beiden Worten Metaph. I, 4, 985 b 12 zu statuieren, wo die παθήματα keineswegs speciellere Vorgänge sind, als die πάθη .“ Eine Begründung fehlt. Eine solche versucht Susemihl in der Jenaer Litt. Zeit. 1875, Nr. 4, (S. 60 ff.) hinzuzufügen, indem er sagt: „was der Verf. hier vom μανόν nnd πυκνόν redet, ist völlig unbegreiflich, die hier weder πάθη noch, wie er will παθήματα , sondern ἀρχαὶ τῶν παθημάτων genannt werden.“ Völlig unbegreiflich ist vielmehr, wie es möglich ist, ebenso den Aristoteles wie den Verfasser an dieser Stelle mißzuverstehen. Die Stelle lautet: οἱ \̔εν ποιον̃ντες τὴν ὑποκειμένην οὐσίαν τἆλλα τοῖς πάθεσιν γεννῶσιν, τὸ μανὸν καὶ πυκνὸν ἀρχὰς τιθέμενοι τῶν παθημάτων , d. h. auf deutsch: „Diejenigen, welche eine als Einheit zu Grunde liegende Materie annehmen, lassen alles andere durch die Veränderungen derselben entstehen, indem sie das Dünne und das Dichte als die Uranfänge der entstehenden Veränderungen (i. e. Veränderungs= zustände ) annehmen.“ H. wie S. scheinen die Stelle nicht verstanden zu haben, weil der psychischen Empfindungen hat das nun vollends eine höchst prägnante Bedeutung. Während in vielen Fällen dieser Wechsel im aristotelischen Sprachgebrauch eben nur ein Zeugnis von der logischen Schärfe und der Feinheit des Ausdruckes gibt, die dem größten Denker des Altertums eigen sind, ohne daß wesentliche Verhältnisse des Sinnes sie vielleicht, der sonst geltenden Gewohnheit folgend, ὰρχή auch hier mit „Princip“ übersetzen wollen, wodurch dann freilich die Stelle dunkel würde und in solcher Dunkelheit auch der Unterschied von πάθος und πάθημα nicht mehr zu erkennen wäre. Die „Pathe“, die Veränderungsvorgänge sind nach Aristoteles eine Art von Bewegung ─ κίνησις ─ oder können doch ohne eine solche nicht entstehen; nun sind doch offenbar das μανόν und πυκνόν , das Dünnere und Dichtere, keine Bewegungen, sondern Zustände der Materie. Sie selbst setzen also, um in der einheitlichen Materie entstehen zu können, eine Bewegung voraus, die den einen der beiden Zustände hervorbriugt, als dessen Gegensatz dann der andere hervortritt. Daß alles dieses, was sich a priori von selbst ergibt, aber auch die Meinung des Aristoteles ist, steht in seiner Schrift π . φυσικ . ἀκροάς . I, c. 5 und namentlich c. 6 deutlich zu lesen; gerade in diesem Punkte kennzeichnet er die Unklarheit jener naturphilosophischen Systeme (vgl. besonders 189 a 20 ff.). Unmöglich also könnte Aristoteles diese Zustände der Materie die „Uranfänge der Pathe “, der Veränderungs vorgänge, nennen; er kann von ihnen schlechterdings nicht anders sprechen, als daß er sie, im Sinne jener Philosophen, als die uranfänglichen, ersten der hervorgebrachten Veränderungen, der Veränderungs zustände ─ παθημάτων ─ bezeichnet; nur daß jene unlogischerweise die beiden disparaten Zustände schon an sich der einheitlichen Materie zuschreiben, und Aristoteles dagegen nachweist, daß für diesen angeblichen „Uranfang“ wieder nach einem andern „Uranfang“ zu suchen sein würde: ἔσται γὰρ ἀρχὴ τῆς ἀρχῆς . 3) Metaph. IV, 14. 1020 b 19. Hier bemängelt H. nur die Übersetzung „Veränderungs zustände “ für παθήματα , dagegen ist dies die einzige Stelle, mit der sich ein dritter Rec. J. H. Reinkens, im Bonner Theol. Litter. Blatt 1874, Nr. 26 (S. 617 ff.) beschäftigt, ohne indessen, da „der Raum ihm fehle“, seinen Widerspruch gegen die Auffassung des Verf. in der Hauptfrage zu begründen. Jn einem Punkte hat der Verf. seine Auffassung der sehr schwierigen Stelle nach den Erinnerungen des Rec. berichtigt, aber das Ergebnis für die vorliegende Frage wird dadurch nicht im mindesten geändert. Das 14. Kap. des vierten Buches der Metaphysik handelt von der Einteilung des ποιόν , der Beschaffenheit. Dieselbe liegt entweder in den Unterschieden des unveränderlich den Dingen anhaftenden Wesens ─ διαφορὰ τὴς οὐσίας ─ oder in den Wandlungen, denen sie ihrem Wesen nach unterworfen sind. Diese nennt Aristoteles πάθη und führt als Beispiele Unterschiede der Wärme, der Färbung, der Schwere an. Er fügt hinzu: „Auch in Bezug auf Tugend und Fehlerhaftigkeit, überhaupt das Schlechte und Gute“ haben solche Veränderungsvorgänge statt: ἔτι κατ ' ἀρετὴν καὶ κακίαν καὶ ὄλως τὸ κακὸν καὶ ἀγαθόν . Während er also Wärme, Kälte, Schwere, Leichtigkeit geradezu πάθη nennt, thut er das hinsichtlich des ἀγαθόν und κακόν , der ἀρετή und κακία nicht, sondern sagt, daß hinsichtlich ihrer die Veränderung statthabe; bei der Zusammenfassung der Einteilung heißen sie dann geradezu: τῶν παθημάτων μέρος τι , also: „eine Art verwirklichter Veränderungen“, oder „gewissermaßen Veränderungszustände“. Völlig korrekt und in bestem Einklang mit dem der betreffenden Stellen davon abhingen ─ ein Umstand, in dem die hinreichende Erklärung dafür zu finden ist, daß bedeutende Forscher die vorliegende Verschiedenheit des Sprachgebrauchs überhaupt haben leugnen können ─, ist auf dem psychologisch=ethischen Gebiet diese Unterscheidung Grundlage für das richtige Verständnis. gesamten aristotelischen Sprachgebrauch! Schwere und Leichtigkeit, Wärme und Kälte bezeichnen allerdings das Wesen, die wirkende Kraft des Veränderungsvorganges selbst, sie können daher „ Pathe “ genannt werden; nicht so aber das Gute und Schlechte, die Vortrefflichkeit oder Fehlerhaftigkeit, die immer nur die Ergebnisse, die bewirkten Veränderungen sind, „ Pathemata “, zu deren „ Bewirkung “ die denkbar verschiedensten Veränderungs vorgänge, je nach dem Wesen des Dinges, thätig gewesen sein können. 4) Die vierte und letzte Stelle, die M. H. anführt, de part. an. III, 4, 667 a 33 ff. und von der S. meint, daß von H. daran „unwiderleglich gezeigt sei“, wie Aristoteles zwischen den beiden Ausdrücken nicht den kleinsten Unterschied mache, spricht vollends für die Ansicht des Verf. Jn der ganzen, ziemlich langen Stelle ist die Rede davon, daß das Herz das wichtigste aller inneren Organe sei, das keinen bedeutenden Veränderungsvorgang ─ χαλεπὸν πάθος ─ ertragen könne, ohne daß der Tod eintrete. So sei bei Opfertieren auch niemals an ihm ein derartiger Veränderungsvorgang erkennbar ─ ὦφθαι τοιοῦτον πάθος ─ (also niemals ein schwerer Erkrankungsprozeß), wie das bei den andern inneren Teilen der Fall sei. Hier weist das τοιοῦτον π . also auf das χαλεπὸν π . zurück und beidemal bedeutet es den Erkrankungs prozeß, den Veränderungs vorgang. Es wird dann erzählt, daß Nieren, Lunge, Leber und Milz bei der Sektion oft voll von Steinen, Auswüchsen und Blutgeschwüren gefunden würden und hinzugefügt „ und noch viele andere Krankheitserscheinungen kommen an ihnen vor “: hier steht παθήματα . Von denselben wird weiter gesagt, daß sie an Lunge und Leber, da wo sie mit dem Herzen kommunizieren, nicht vorkommen. Dann heißt es zum Schluß: „Bei Tieren aber, die an einer offenbaren Krankheit und derartigen (d. h. also krankhaften νοσώδη ) Veränderungsvorgängen ─ τοιαῦτα πάθη ─ zu Grunde gegangen sind, zeigen sich, wenn man sie seziert, auch am Herzen krankhafte Prozesse (Veränderungsvorgänge) ─ νοσώδη πάθη . Es wird also am Anfang und Schluß von Krankheits vorgängen gesprochen, die auch mit dem Ausdruck νόσος ─ Krankheit gleichartig verbunden werden; sie heißen πάθη , wo dagegen in der Mitte ausdrücklich die durch solche Prozesse im Körper erzeugten Erscheinungen, die λίθοι, φύματα, δοθιῆνα , benannt werden, heißen diese in allgemeiner Zusammenfassung παθήματα . Diese sind keine Krankheit, sondern werden durch einen Krankheitsprozeß hervorgebracht. Deutlicher kann der Unterschied gar nicht hervortreten. H. und S. haben die Stelle nicht verstanden. ─ Noch führt S. zwei Stellen an, auf die näher einzugehen aber nicht der Mühe wert ist, wenn Aristoteles Poet. c. 24 (1459 b 11) sagt, „auch das Epos bedürfe der Erkennungen, der Peripetien und der παθημάτων “, ganz wie die Tragödie, so hat er hier eben die epische Schilderung der Fälle schweren Leidens ins Auge gefaßt und sie von der Seite ihrer Verwirklichung in der Erscheinung benannt, während er im c. 11 den Leidensvorgang als solchen im Sinne gehabt und generell mit πάθος bezeichnet. Für die Sache macht das gar keinen Unterschied, aber die Variation des Ausdrucks ist völlig verständlich und gibt nicht den geringsten Anlaß, die Verschiedenheit der Termini in Wie aus des Aristoteles Büchern „Über die Seele“ und aus seiner nikomachischen Ethik allgemein bekannt ist, betrachtet er die „ Pathe “, die Empfindungen, so zu sagen als die elementaren Vorgänge in der Seele, auf denen alle Lebensäußerungen derselben beruhen. Erst an ihnen üben der Verstand und die Vernunft, Logos und Nous, als die der Seele eingeborenen obersten Kräfte, ihr Geschäft, welches darin besteht, der Bethätigung der Empfindungen das rechte Maß anzuweisen und das durch dieselbe angeregte Begehrungsvermögen zu den richtigen Willensentscheidungen zu bestimmen. Der überaus wichtigen Rolle entsprechend, die Aristoteles den Pathe zuweist, beschäftigen sich alle Disciplinen seiner Philosophie daher mit ihnen sehr eingehend und, nach seiner Weise, überall mit den einfachsten Mitteln das hellste Licht verbreitend. Sein System geht darauf hinaus, die unendlich große Menge jener elementaren Bewegungsvorgänge der Seele auf eine verhältnismäßig geringe Zahl von Gattungen zurückzuführen, die er als die Grundempfindungen mit den durch die Sprache überlieferten Namen bezeichnet. Jede derselben hat nun ein weites, ja unendliches, Gebiet, von dem sie umgeben ist und dessen Mittelpunkt sie bildet, sofern man unter der Bezeichnung des Grundpathos eben die Bethätigung desselben in der richtigen Weise, aus dem richtigen Anlaß an der richtigen Stelle versteht. Eine solche normale, gesunde Bethätigung erfüllt die Natur und Bestimmung der Seele und erweckt als die höchste Vollendung der nach dieser Seite hin denkbaren Energie in ihr das Gefühl der Hedone, der Freude. Die Arten der thatsächlichen Verwirklichungen eines jeden Grundpathos, die Pathemata also, sind ihrer Möglichkeit nach unzählig, unendlich viele Gradationen sind sowohl nach der Seite des Zuviel als nach der des Zuwenig denkbar, ebenso hinsichtlich des richtigen Zweifel zu ziehen. Wenn es endlich Pol. I, 5 (1254 b 24) heißt, daß die Tiere den παθήμασιν unterworfen sind ( ὑπηρετεῖ ), so ist es nach allem Gesagten außer Zweifel, daß hier Aristoteles unmöglich πάθεσιν schreiben konnte; es muß nur Wunder nehmen, daß ein so ausgezeichneter Kenner des Aristoteles wie S. das nicht einsieht. Nicht von den „Empfindungen“ werden die Tiere beherrscht, sondern von den in jedem einzelnen Falle in ihnen Platz greifenden, verwirklichten Empfindungseindrücken. Wer sähe aber nicht, daß nach alledem dem Worte πάθος die Kraft inne wohnt, den Empfindungsvorgang seinem Begriff und Wesen nach zu bezeichnen, daß dagegen dem Worte πάθημα die Färbung anhaftet, die individuelle, mehr oder minder deteriorierte, nach der Seite des Zuviel oder Zuwenig abweichende Form der Verwirklichung desselben verstehen zu lassen. ─ Das sind die sechs Einwendungen, welche nach der Meinung eines Teiles der Kritik die aus einem überreichen Material gewonnenen Resultate der Abhandlung des Verf. widerlegen sollen. oder unrichtigen Anlasses, der rechten oder unrechten Stelle. Unter diesen zahllosen Pathemata, die also die unendlich verschiedenen Gestalten, Formen aufweisen, in denen sich die Grundempfindung verwirklichen kann, für welche die Sprachen nur verhältnismäßig wenige Bezeichnungen ausgebildet haben, und zwar die verschiedenen Sprachen verschiedene, sehr viele sind unbekannt ─ ἀνώνυμα ─ geblieben, gibt es immer nur eine einzige, die die richtige ist: das Richtige ist eins, einfach, eingestaltig ─ μοναχῶς ─, das Falsche vielfach, vielgestaltig ─ πολλαχῶς ─. Auch in dieser einen, allein richtigen Form wird die Empfindung natürlich, insofern sie sich im einzelnen Falle bei dem einzelnen Menschen verwirklicht, zu einem Pathema, aber zu einem Pathema, welches das Wesen des entsprechenden Grundpathos zur vollen, normalen Erscheinung bringt. Wie kann es nun aber, gegenüber dieser von allen anerkannten Lehre des Aristoteles, wenn in der Mehrzahl schlechthin von den einer Grundempfindung entsprechenden Pathemata ─ ─ den τοιαῦτα παθήματα ─ gesprochen wird, zweifelhaft sein, daß dabei eben an jene unendliche, in ihren Einzelheiten mit Genauigkeit gar nicht bestimmbare Vielheit der von der einen Normalform mehr oder minder abweichenden Formen der thatsächlichen Verwirklichung jener Grundempfindung zu denken ist, also an ihre unvollkommeneren Erscheinungsformen? Dennoch sind nach Heinzes Vorgang von den oben genannten Recensenten der cit. Schrift des Verf. diese Zweifel erhoben. Der Grund mag sein, daß der Verf., auf die Kraft der aristotelischen Gedanken vertrauend, in jener Abhandlung das Streben nach Knappheit vielleicht zu weit getrieben hat. Nur so vermag er sich das Stutzen und die scharfen Reprobationen zu erklären, die es bei den Rec. hervorgerufen hat, wenn er der Kürze wegen ohne eingehendere Begründung in den am meisten dazu auffordernden Fällen dort den Ausdruck παθήματα durch „Erscheinungs formen “ des Pathos oder durch „unvollkommene Erscheinungsformen“ umschrieben hat. Somit zum Schluß dieser unerwünschten, aber durch den Gegenstreit erzwungenen philologischen Erörterung! Wenn die Wirkung, auf deren Erzielung die Tragödie eingerichtet werden soll, durch deren Klarstellung sie also ihrem Wesen nach definiert wird, von Aristoteles so erklärt ist, daß sie „ durch Furcht und Mitleid die völlige Läuterung der derartigen, d. h. der diesen Grundempfindungen entsprechenden Pathemata bewirke ( περαίνουσα d. i. „ völlig “, bis zum Ende durchführe): so sind darin die höchst objektiven, nur die Kompositionsweise des Kunstwerkes erläuternden Bestimmungen ausgesprochen, daß: 1) die durch die Tragödie nachzuahmende Handlung ihrem stofflichen Jnhalte nach eine solche sei, welche die Grundempfindungen der Furcht und des Mitleids zu erwecken vermögend sei; und 2) die Behandlung dieses Stoffes, Aufbau, Durchführung der Handlung, Form der Darstellung eine solche sei, daß in dem tragischen Kunstwerk die Wirkungskraft obwalte, die mannigfachen Furcht- und Mitleidsempfindungen, die der bloße Stoff der Tragödie in den vielfältigsten Trübungen, Übertreibungen, aber auch Verkümmerungen naturgemäß unmittelbar bei den Zuhörern wach zu rufen nie und nimmer verfehlen kann, von allen diesen störenden, entstellenden Beimischungen zu befreien, zu läutern: ihre Wirkung also damit zu vollenden, daß die von ihr nachgeahmte Handlung es erzielt hat, den Zuhörer in der höchsten und lautersten Gemütsverfassung zu entlassen, mit den zur völligen Reinheit hergestellten Schicksalsempfindungen der echten Furcht und des echten Mitleids. Es bleibt nun noch die Aufgabe, diese Empfindungen, die so Großes wirken sollen, selbst näher zu betrachten. ────── XXIII. Es ist oben gesagt worden, daß das Ziel der Wirkung in jeder Kunst eine Katharsis ist, eine Läuterung des Empfindens, in den bildenden Künsten wie in der Musik und in der Poesie, und in dieser nicht nur in der Tragödie und Komödie, sondern ebensowohl auch in der Lyrik. Nichts ist daher auch gewöhnlicher, als daß von der „heilenden“ Kraft der Dichtung gesprochen wird, gerade wie Aristoteles sie einer gewissen Art der Musik zuschreibt. Es ist natürlich, daß dieselbe besonders da hervortritt, und daß von musikalischen und von lyrischen Wirkungen der Art eben nur da gesprochen werden wird, wo starke, tiefe, leidenschaftliche Empfindungen der Gegenstand der nachahmenden Darstellung sind. Hier aber kann als Nebenwirkung, nicht als der eigentliche Zweck, um dessentwillen sie entstanden sind, auch die Eigenschaft solcher Kunstwerke hervorgehoben werden, daß sie von der Leidenschaft belastete, gequälte Gemüter „gleichsam wie eine Kur“ befreien und ihnen freudige Erleichterung gewähren. Davon handelt eine schöne Stelle in Goethes „ Wanderjahren “ (Buch 2, Kap. 5), die mit großem Unrecht als ein Zeugnis für die Bernayssche Theorie in Anspruch genommen ist. Hier ist die von leidenschaftlichem Schmerz durchwühlte Erscheinung Flavios geschildert: „sie hatten Orest gesehen, von Furien verfolgt, nicht durch Kunst veredelt, in greulicher, widerwärtiger Wirklichkeit.“ An späterer Stelle heißt es dann: „Hier nun konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Kräfte erweisen. Jnnig verschmolzen mit Musik, heilt sie alle Seelenleiden aus dem Grunde, indem sie solche gewaltig anregt, hervorruft und in auflösendem Schmerz verflüchtigt.“ Natürlich muß die Empfindung, damit an ihr die Läuterung, die „veredelnde“ Wirkung der Kunst möglich werde, „stark angeregt und hervorgerufen“ werden, aber, was nun durch diese Wirkung „ auflösend verflüchtigt “ werden soll, ist doch nicht etwa die Empfindung selbst, sondern es ist das „Seelen leiden “, das Pathematische der leidenschaftlichen Empfindung: die veredelte, gefaßte, geklärte Empfindung ist es, die zurückbleibt und an der Stelle der „greulichen, widerwärtigen, fürchterlichen Wirklichkeit“ nun das Gemüt erfüllt und die Seele beherrscht. Schöner und treffender kann das Wesen der aristotelischen Katharsis, als einer psychischen Läuterung, nicht ausgedrückt werden, als es hier geschehen ist: eine Auflösung und Schmelzung, wobei das individuell Belastende, häßlich Kranke verflüchtigt und ausgeschieden wird. So tritt es denn nun auch klar hervor, warum in der Tragödie die Forderung der Katharsis die wichtige Stelle einnimmt und in ihrer Definition kategorisch gestellt wird. Denn die Empfindungen, deren Nachahmung sie geweiht ist, sind die schrecklichsten, ängstigendsten, die quälendsten, herzzerreißendsten, die das Leben in seinem Wechsel heraufruft, die es immer wieder, wenn sie etwa in Schlaf gelullt sind, aufweckt, und mit denen es keinen verschont. Kann es eine höhere Aufgabe geben, als gerade sie durch die Kunst zu veredeln und das Bild der furchtbarsten und ergreifendsten Erscheinung des Lebens für den Betrachter von den entstellenden Zügen „greulicher Wirklichkeit“ zu reinigen und in auflösendem Schmerze aus der Empfindung desselben das leidvoll Verwirrende zu verflüchtigen? Wenn Lessing von den tragischen Empfindungen immer nur als von „Leidenschaften“ spricht, so gibt der Ausdruck freilich leicht zu mißverständlichen Auffassungen Anlaß, aber er ist doch andrerseits nicht ungeeignet, auf die Macht und Gewalt hinzuweisen, mit der jene Empfindungen im Leben auftreten. Und wenn von Lessing die letzte Wirkung der tragischen Katharsis in die Formel gefaßt wurde, daß sie jene „Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten“ verwandele, so ist die Wendung unglücklich genug gewählt und scheint sich höchst bedenklich in das Moralgebiet zu verirren; sie kann aber dennoch von dem Kundigen in echt aristotelischem Geiste aufgenommen werden: man verstehe nur darunter ─ und es läßt sich nicht nachweisen, daß Lessing etwas anderes gemeint habe ─ die Umwandlung der „Leidenschaften“ in diejenigen berechtigten, d. i. gesunden, richtigen Empfindungen, wie sie von Aristoteles eben auch als die Voraussetzungen richtigen d. i. „tugendhaften“ Handelns betrachtet werden. Damit wäre an sich keineswegs behauptet, daß von der tragischen Kunst eine unmittelbare Einwirkung auf die Moral ausgehe; daß ein mittelbarer Zusammenhang zwischen beiden Gebieten, dem ästhetischen und dem moralischen, bestehe, kann nicht geleugnet werden und ist von allen größten Dichtern aller Zeiten geglaubt worden: eine Veredelung des Empfindens durch die Kunst, und sei es, daß sie auch nur wie ein kurzer Sonnenblick einmal das Gemüt erhelle, ist zum mindesten immer ein Beitrag für eine der wesentlichsten Vorbedingungen zur Sittlichkeit. So ist der Hauptsache nach Lessings Wiedergabe der aristotelischen Definition der Tragödie mehr dem Ausdruck als dem Sinne nach eine verfehlte. Anders steht es mit seiner Auffassung der „tragischen Affekte“; hier ist er einem sehr folgenschweren Jrrtum verfallen. Wenn er sich das große Verdienst erwarb, die berühmten Definitionen des Furcht= und Mitleidsbegriffs aus der Rhetorik des Aristoteles für das Verständnis der Poetik herangezogen zu haben, so verdunkelte er das dadurch geschaffte Licht doch sogleich, indem er das enge Wechselverhältnis, in welchem nach des griechischen Philosophen überaus feinsinniger Darstellung die beiden Empfindungen stehen, so interpretierte, als ob der eine der beiden nun an sich notwendig in dem andern enthalten oder doch mit ihm untrennbar verbunden sein müsse. Eine Abweichung von den überzeugenden Lehren des Aristoteles über die Natur der tragischen Grundempfindungen ist zugleich eine Abweichung von der Wahrheit. Vgl. zum Folgenden die oben schon citierte Schrift des Verf. „ Aristoteles, Lessing und Goethe “, 1877, besonders den zweiten Abschnitt S. 15 ff. Darin hat Lessing vollkommen richtig gesehen, und es ist mit Unrecht später von Bernays, noch mehr von einigen seiner unbedingten oder bedingten Anhänger, wieder in Zweifel gezogen, daß Phobos nur die Furcht bedeuten kann, die wir für uns selber hegen, nicht die Furcht für andere, z. B. also für den tragischen Helden auf der Bühne. Die Furcht für andere ist allerdings gar nichts anderes als Mitleiden; das würde aus den aristotelischen Definitionen klar hervorgehen, auch wenn er nicht ausdrücklich es mehreremal ausspräche, „daß das Furchtbare, welches andern geschieht oder bevorsteht, mitleiderweckend ist “; und ebenso, daß die darstellenden Schauspieler, indem sie uns ein Unglück, sei es als ein bevorstehendes, sei es als ein geschehenes, unmittelbar vor Augen führen, in besonders hohem Grade unser Mitleid erregen. Die „Furcht für andere“ ist nur eine besondere Form des Mitleids, Phobos aber schlechterdings nur die Furcht für uns selbst. Eine einfachere und klarere Unterscheidung läßt sich nicht denken, als die von Aristoteles gegebene Definition der „ Furcht “: „ eine Unlust und Beunruhigung aus der Vorstellung eines bevorstehenden schweren Übels. “ Dennoch ist auch dieser einfache und klare Satz durch den Wust schielender Kommentationen verwirrt und getrübt. Sie konstruieren sich die Unterscheidung eines uns selbst sicher und nahe drohenden wirklichen Übels und eines Übels, das wir auf der Bühne anderen drohen sehen, und geraten nun in Zweifel, wie die „ wirkliche “ und die „ tragische “ Furcht auseinanderzuhalten seien. Nichts kann verkehrter sein. Die Furcht ist in allen Fällen eine wirkliche, eine andere Furcht kann es nicht geben. Sie kann nur eine stärkere oder eine schwächere sein; und der Grad der Furcht hängt davon ab, wie nahe uns die Vorstellung des Übels gerückt wird. Ob dieser Vorstellung, für welche das Übel als ein nahes erscheint ( σύνεγγυς φαίνηται ), irgend ein wirklicher Vorgang zu Grunde liegt oder nicht, ist für das Eintreten der Furcht ganz gleichgültig. Es genügt, daß uns die Vorstellung eines Unglücks als bloße Möglichkeit nahe genug gelegt wird, um uns in die Disposition zu versetzen, daß „auch wir es wohl für uns erwarten könnten, oder einer der uns Zunächststehenden“, und sofort werden wir von Furcht bewegt sein, von jener „Unruhe und schmerzlichen Empfindung“, von der die aristotelische Definition redet. Nicht umsonst ist ihr diese weite Fassung gegeben; und wie sehr entspricht sie der Wahrheit! Wir brauchen uns nur selbst, oder es braucht nur ein anderer unsere „ Phantasie “ nach jener Richtung in Thätigkeit zu setzen, so entsteht die Furcht um so stärker, je lebhafter die Vorstellung des Übels ist, als eines in möglich gedachter Zukunft vorschwebenden, drohenden: ἡ φαντασία μέλλοντος κακοῦ . Ganz dasselbe kann also die bloße Erwähnung eines Unglücksfalles leisten, besonders natürlich für solche, die sich der gleichen Eventualität ausgesetzt fühlen, was bei allgemein menschlichen Leiden lediglich von der Sinnesart des Einzelnen abhängt: in weit höherem Grade aber wird eine lebhafte Schilderung jenes Falls die gleiche Wirkung hervorbringen, im höchsten Grade eine lebendige Vorführung desselben, weil erstlich das „furchtbare“ Ereignis der „Phantasie“ um so näher gerückt wird, und sodann es beiden Darstellungsformen, der epischen wie der dramatischen, in die Hand gegeben ist, die für die Furchtempfindung empfängliche Disposition zugleich bei dem Hörer hervorzubringen. Um die Konfusion aber vollständig zu machen, hat man nun außer der „wirklichen“ und der „tragischen“ Furcht noch eine dritte, die „ eigentliche “ herausgetüftelt, die nach Aristoteles von der tragischen ganz verschieden sei, da sie zum Mitleid unfähig mache, es vertreibe ( ἐκκρουστικὸν τοῦ ἐλέου sei). Ein noch schlimmeres Mißverständnis. Diese Behauptung stellt Aristoteles von keiner Art der Furcht auf, sondern von einem Schrecklichen, welches geschehen ist, dem δεινόν . Man sollte meinen, das sei nicht schwer zu verstehen; und dennoch hat sich auch um diese einfache Bemerkung eine ganze Gruppe mißdeutender Scholien angesiedelt. Natürlich! Wenn das Schreckliche eingetreten ist, kann von Furcht nicht mehr die Rede sein; eine Stimmung tritt bei dem Betroffenen ein, die die Mitleidsempfindung verdrängt, ja sogar das Gegenteil derselben zu erzeugen fähig ist, die Freude über fremdes Leid. Noch aber ist man dem Mitleid zugänglich, solange jenes Schreckliche droht, eben weil man dann noch Furcht empfindet. Alle jene angeblich verschiedenen Gattungen der Furcht existieren weder bei Aristoteles noch existieren sie überhaupt. Sie entsteht in allen Fällen aus der Vorstellung eines Übels, das sich der Phantasie als ein obschwebendes ( μέλλον ) darstellt, mag nun die Phantasie durch einen wirklichen oder durch einen nur vorgestellten Vorgang zur Thätigkeit angeregt werden. Ganz und gar also ist das Eintreten der Furcht von der Vorstellung abhängig: denn es kann ja auch ein thatsächlich drohendes schweres Übel entweder in der Phantasie sich fälschlich gar nicht als ein solches darstellen oder mit Bewußtsein von ihr nicht als ein solches betrachtet werden, und ebenso kann das umgekehrte Verhältnis eintreten, daß ein gar nicht bevorstehendes Übel als drohend angesehen wird, oder ein wirklich herannahendes, aber leichtes irrtümlich als schwer vorgestellt oder mit ganz richtiger Beurteilung der Sachlage doch individuell so geschätzt wird. Jm Seelenzustande des Fürchtenden also liegt das Moderamen dieser Empfindung: nicht allen ist dasselbe furchtbar, sagt Aristoteles, und nicht in demselben Grade (s. Nikom. Eth. III, K. 10. 1115 b 7). Oder, wie er es im ersten Kapitel des zweiten Buchs der Rhetorik ausführt: alles kommt gegenüber einem Ereignis, welches an sich die Bedingungen für die Entstehung der Empfindung vereinigt, noch darauf an, wie wir uns zu demselben verhalten: πῶς διακείμενοί ἐσμεν . Nun ist aber nichts einleuchtender, als daß dieselben Ereignisse, die unsere Furcht erwecken, sobald sie unserer Vorstellung als uns selbst bevorstehend sich darstellen, uns zum Mitleid bewegen müssen, wenn wir sehen, daß andere davon betroffen werden oder sie drohend über andern schweben. Lessing hat trotz aller dagegen erhobenen Einwürfe buchstäblich recht, wenn er im 76. Stück der Hamburger Dramaturgie sagt: „Aristoteles war überzeugt, daß alles, was uns Furcht für uns selbst errege, auch unser Mitleid erregen müsse, sobald wir andere damit bedroht oder davon betroffen erblickten; und daß das eben der Fall der Tragödie sei, wo wir alle das Übel, welches wir fürchten, nicht uns, sondern andern begegnen sehen.“ Richtig sagt Lessing auch ferner: Aristoteles habe von einem Affekte des Mitleids nur gesprochen, sofern er mit Furcht verknüpft sei; die schwächeren Regungen des Mitleids, die nach Lessing nicht ganz ohne Furchtempfindung sind, habe er unter dem Philanthropon verstanden, womit er die Liebe bezeichnet, die der Mensch zu seinesgleichen eben als Menschen hegt. Lessing that sehr recht, diese allgemein menschliche Teilnahme, die Aristoteles nicht in seinen Begriff des Eleos hineinzieht, von dem Begriff des tragischen Mitleids zu sondern, denn unserm gewöhnlichen Sprachgebrauche nach rechnen wir sie allerdings zum „Mitleide“ hinzu. Wir können „Mitleid“ auch mit dem empfinden, der unter den wohlverdienten Strafen seiner Laster oder Verbrechen leidet; Aristoteles nennt diese Empfindung „ Philanthropie “ und empfand „ Eleos “ nur bei dem Anblick oder der nahen Erwartung des unverdienten Leidens anderer. Dann aber verfällt Lessing in den großen Fehlschluß, der die ganze Folgezeit nicht aufgehört hat, die Theorie in die Jrre zu führen: strenge genommen hätte Aristoteles in eine logische Definition der Tragödie auch nur die Erwähnung des Mitleids aufnehmen müssen, da aus demselben ja die Furcht sich von selbst ergebe; die aristotelische Definition sei aber keine streng logische, er habe die Furcht nur miterwähnt, um an den vierfachen gegenseitigen Reinigungsprozeß zu erinnern, den Furcht und Mitleid aneinander auszuüben hätten. Hier ist Lessing einmal in dem felsenfesten Vertrauen auf seinen Philosophen wankend geworden, und die Folgen sind recht schlimme gewesen. Man hat sich nun die beiden Empfindungen nicht anders denken können, als so miteinander verknüpft, daß mit dem Auftreten der einen notwendig auch zugleich die andere in Thätigkeit gerate, daß also in und mit dem Mitleid die Furchtempfindung gegeben sei, daß demzufolge der Tragödie, wo fremdes Leiden dargestellt werde, nur die Erweckung des Mitleids zum Ziel gesetzt werden dürfe. Das ist aber ebenso unaristotelisch als an sich unrichtig. Aristoteles sagt: „Das Mitleid ist ein Schmerzgefühl über ein vor unsern Augen jemanden unverdient treffendes, verderbliches und schmerzliches Übel, welches man auch wohl selbst zu erleiden oder es einen der Angehörigen leiden zu sehen erwarten könnte, und ebenso findet es statt, wenn das Übel als ein nahe bevorstehendes erscheint.“ Ἔστω δὲ ἔλεος λύπη τις ἐπὶ φαινομένῳ κακῷ φθαρτικῷ καὶ λυπηρῷ τοῦ ἀναξίου τυγχάνειν, \̔ο κ\̓αν αὐτὸς προςδοκήσειεν \̓αν παθεῖν \̓η τῶν αὐτοῦ τινὰ, καὶ τοῦτο, ὅταν πλησίον φαίνηται . Man hat den letzten Zusatz in starkem Mißverständnis so aufgefaßt, als wollte Aristoteles sagen, es sei dem Mitleidsgefühl besonders günstig, wenn man selbst das Übel für sich als nahe bevorstehend zu fürchten habe, während er gerade umgekehrt die starke persönliche Furcht vor thatsächlicher Bedrohung als dem Mitleid hinderlich bezeichnet. Damit ist nicht gesagt, daß man das bemitleidet, was man für sich selbst thatsächlich fürchtet, sondern es ist die Beschaffenheit des Übels, mit dem man Mitleid zu empfinden fähig ist, als eine solche gekennzeichnet, daß man es fürchten würde, wenn es einem in Wirklichkeit drohte oder wenn man es als ein solches sich vorstellte. Ganz ebenso erklärt er hinsichtlich der Furcht: „Kurz gesagt, furchterregend ist alles das, was, wenn es einem andern geschieht oder bevorsteht, mitleiderregend ist.“ ὡς δ' ἁπλῶς εὶπεῖν, φοβερὰ ἐστιν ὅσα ἐφ' ἑτέρων γιγνόμενα ἤ μέλλοντα ἐλεεινα ἐστιν . Der Zusatz ἤ μέλλοντα bestätigt die in der vorausgehenden Anmerkung erhobene Einwendung gegen die übliche Jnterpretation. Damit ist einfach gesagt, was uns selbst Furcht erregt, würde, wenn es andern geschähe oder bevorstände, unser Mitleid in Bewegung setzen. Das Verhältnis ist also dieses: ein schweres Unglück, unter welchem wir jemanden unverdient leiden sehen, mag es nun ein wirkliches oder nachgeahmtes sein, wird unser Mitleid erregen, sobald es so beschaffen ist, daß bei uns die Vorstellung, auch wir könnten demselben ausgesetzt sein, möglich ist. Das ist nichts als eine für den Begriff des Mitleids erforderliche Bestimmung, wie es für den der Furcht erforderlich ist zu sagen, wir fürchten das, was uns bei andern mitleidswürdig erscheinen würde. Wie nun bei starker Furcht vor wirklichem, nicht vorgestelltem, drohendem Übel das Mitleid beeinträchtigt, ja sogar leicht erstickt wird, so ist für die Entstehung des Mitleids das gleichzeitige thatsächliche Eintreten der Furcht wenigstens keineswegs notwendig. Es ist gar nicht erforderlich zum Wesen des Mitleids, daß jene Möglichkeit der Furchtvorstellung eine Wirklichkeit werde. Wir können sehr starkes Mitleid empfinden, ohne daß jene Furchtdisposition, welche die unbedingt notwendige Voraussetzung dazu ist, zur Thätigkeit gelange, d. h. ohne daß wir thatsächlich fürchten. Das Eintreten der Furcht hängt von der individuellen Beschaffenheit und Lage des Einzelnen ab, die darüber entscheiden, ob das Leiden eines andern, das er vor sich sieht, ihm die Vorstellung erwecke, daß er selbst davon betroffen werden könnte. Zum Mitleiden aber ist es vollkommen ausreichend, daß die Umstände jenes fremden Leidens solche seien, daß für den Fall, daß er sich in die gleiche Lage mit dem Leidenden setzt, sie ihm als furchterregend erscheinen. Diese Stimmung, daß wir etwas, womit wir Mitleid fühlen, fürchten würden, wenn es uns bevorstände, ist aber keine Furcht. Schon hier ist es evident, welch einen großen Unterschied es für das Verfahren des tragischen Dichters macht, ob er der Lessingschen Theorie sich anschließt oder den Jrrtum derselben erkennt. Nach Lessing genügt es einen Stoff auszuwählen, der Mitleiden erregt; daß der andern Forderung des Aristoteles Genüge geschehe, wäre damit schon außer Frage. Dadurch ist das gewaltige und unentbehrliche Korrektiv, das in dieser zweiten Forderung liegt, einfach eliminiert. Die ganze Schar der sogenannten rührenden Trauerspiele hat durch diese breit geöffnete Pforte ihren Einzug gehalten. Auch Schiller erkennt in der Erweckung der Rührung den einzigen Zweck der Tragödie, und nur die überwiegende Kraft seines unbeirrbaren genialen Jnstinktes bewahrte ihn vor den schlimmen Fehlern seiner theoretischen Spekulation. Gerade gegenüber dem vorwiegend die Rührung, das Mitleiden erweckenden Stoff gilt es alle Mittel der Kompositionsweise und Darstellung in Bewegung zu setzen, um die bloßen Stimmungsansätze des korrespondierenden Affektes zur wirklich eintretenden Furcht zu steigern, die Vorstellung des Zuschauers also dahin zu bringen, daß er sich demselben Gesetz unterworfen fühlte, das er hier walten sieht: solcherweise also das Mitleid in seine richtigen Grenzen einzuschränken und ihm die zum völligen Gleichmaß gesteigerte Furcht ebenbürtig, zu inniger gegenseitiger Durchdringung der beiden Empfindungen an die Seite zu stellen. Das ist aber nur an einem solchen Stoff möglich, der es zuläßt, zur Allgemeinheit erhoben zu werden; nur ein solcher kann dazu geformt werden, das allgemeine, Welt und Menschheit regierende Schicksalsgesetz nachahmend vor Augen zu führen; damit allein gewinnt er zugleich das Attribut der Größe, das Aristoteles von jeder tragischen Handlung verlangt. Verträgt der Stoff aber solche Ausweitung und Erhebung nicht, ist er auf ein individuelles, durch Einzelzufälle und besondere pathologische Verhältnisse bedingtes Unglück eingeschränkt, so ist er tragisch unbrauchbar und zu verwerfen, obwohl er immerhin noch Mitleiden und Rührung zu erwecken imstande sein, ja sogar sie in überaus hohem Grade anzuregen geeignet sein kann. Das eigentliche Musterstück der Lessingschen Theorie, seine Emilia, ist von dieser Singularität des darin dargestellten tragischen Falles nicht völlig freizusprechen: das Mitleid wird durch das Stück in ausgiebigster Weise angeregt, aber sowohl hinsichtlich der Heldin als für die tragische Hauptfigur, den Odoardo, fehlt es an sehr wesentlichen Schattierungen, durch die es erreicht würde, der Handlung das Gepräge eines Schicksals zu verleihen, das in der Gewalt seines unaufhaltsamen Vollzuges jeden Zuhörer widerstandslos mit sich fortrisse, einen jeden mit der Ehrfurcht erfülle, einem für alle geltenden Gesetze sich erschüttert und doch gefaßt gegenübergestellt zu sehen. Die antike Tragödie besaß, um dieser Wirkung gewiß zu sein, ein unvergleichliches Mittel in dem Chore, dessen durch die Macht der Musik und des feierlichen Tanzes unterstützte Lieder die tragische Wucht der Handlung in jedem von dem Dichter gewünschten Grade zu verstärken vermochten. Die moderne Tragödie muß dieselbe Wirkung allein durch die Komposition der Handlung erreichen. Es ist schwierig, dieses verborgenste Wesen der Tragödie zu erörtern, ohne Mißverständnisse zu erregen. Gleich der soeben im tadelnden Sinne angewandte Ausdruck der „ Singularität “ der Handlung gibt dazu reichlichen Anlaß. Die äußern Umstände der Handlung, ja auch selbst die Charaktere können so singulär sein, wie nur irgend denkbar, ohne daß dadurch der echt tragischen Wirkung Eintrag geschieht ─ wie kann man sich Charaktere von stärker ausgeprägter Eigenart vorstellen als den Sophokleischen Ajas oder Shakespeares Lear, und ist eine singulärere Handlung zu ersinnen als die des Ödipus? ─: die Hauptsache ist, daß das dargestellte schwere Schicksal nicht allein unwiderstehlich unser Mitleid errege, dessen alles fremde unverdiente Leiden sicher ist, sondern daß es die Furcht ebenso unwiderstehlich in Bewegung setze, dieses Schicksal sei die einzelne Erscheinung eines Gesetzes, dem auch wir notwendig unterworfen seien: es sei also als solches nicht singulär! Nur solche Umstände der Handlung machen demzufolge die Handlung untragisch, die das daraus hervorgehende Leidensschicksal als ein einzelnes, zufälliges erscheinen lassen: ihm würde die Allgemeinheit fehlen, wir fühlen uns demselben nicht ausgesetzt; obwohl wir immerhin es bemitleiden werden, erregt es uns die Furcht nur in geringerem Grade oder auch gar nicht. Ebenso werden alle solche Singularitäten der Charaktere die tragische Kraft der Handlung abschwächen, die das unverdiente Leiden aus einer gewissen Willkür der Handelnden herleiten, statt daß wir es aus jenen unvermeidlichen Schwächen fließen sehen, denen auf seine Weise ein jeder sich ausgesetzt fühlt, so daß er, wenn auch nicht gerade dem vorgestellten Leiden, so doch in dem Bilde desselben dem Leiden überhaupt sich gleicherweise preisgegeben fühlt. Die geringste Beimischung einer solchen Willkür, die uns den Schluß nahelegt, daß trotz allem, was geschah, das schwere Leiden noch hätte vermieden werden können, schwächt unsere Furcht ab, ja kann sie ganz aufheben, mögen wir immerhin aus dem Charakter der Handelnden uns diese Willkür vollkommen erklären können. Das Schicksal erhält damit, soweit diese Willkür sich erstreckt, den Anstrich eines frei gewählten und verliert seine Allgemeinheit. Nichts Verkehrteres kann es geben, als was von den Erklärern über den Begriff der tragischen Furcht vorgebracht ist, von dem die einen behaupten, daß er schlechtweg ein Unding sei, die andern, daß es unmöglich zu ermitteln sei, wie Aristoteles sich denselben gedacht habe. „Was müßte das für ein wahnwitziger Zuschauer sein,“ heißt es bei dem einen, Reinkens: „Aristoteles über Kunst“, 1870, S. 222. „der bei dem Anblicke oder bei dem Anhören der berühmten Sophokleischen Tragödie ‚König Ödipus‘ plötzlich von der Furcht ergriffen würde, er selbst werde seinen Vater töten, seine Mutter heiraten und schließlich sich die Augen ausbohren, oder einem seiner nächsten Verwandten werde solches begegnen?“ Oder wenn ganz ähnlich von einem andern gesagt wird: Döring: „Kunstlehre des Aristoteles“, 1876, S. 314. „Es ist nun aber auch ganz unwidersprechlich, daß die von der Tragödie anzuregende Furcht von der eigentlichen durchaus verschieden ist. Die Tragödie kann uns nie und nimmer die Vorstellung eines uns oder den Unsrigen wirklich und sicher nahe bevorstehenden Unheils erregen!“ Ob wir es uns so vorstellen oder nicht, ist lediglich unsere Sache und kümmert die Tragödie gar nicht. Diese hat in Bezug auf die Furcht weiter nichts zu thun, als uns die Vorstellung eines schweren Schicksals überhaupt in der Weise nahe zu führen, daß an die Stelle der Sicherheit das unruhige Gefühl ( ταραχή ) tritt, auch wir seien Ähnlichem ausgesetzt. Das geschieht, wie die Poetik in Übereinstimmung mit der Erfahrung lehrt, wenn wir veranlaßt werden, uns deutlich zu machen, der Leidende sei uns ähnlich, und zwar nicht in Bezug auf die besondern Umstände seines Wesens oder seiner Begegnisse, sondern in Bezug auf den einen Umstand, daß er zu der Möglichkeit des Leidens in dem gleichen Verhältnis stand wie wir, daß er ohne Verschulden um kleinen Fehlers willen unvermeidlich schwerem Geschick verfiel. Die Unvermeidlichkeit solches Geschickes ist eine Thatsache, die nur dem Unerfahrenen oder dem Acht- und Sorglosen verborgen sein kann, der gegenüber aber die rechte Stellung einzunehmen zu allen Zeiten eines der wichtigsten Anliegen der Menschheit gewesen ist. Die Religion vor allem ist von jeher hier mit ihren Satzungen eingetreten, neben und mit ihr sodann durch die unmittelbare Wirkung auf die Empfindungen die Kunst. Das „furchtbare“ Geschick des Ödipus ist „für uns“ nicht dadurch furchtbar, daß wir nach der ganz verkehrten Unterstellung jenes soeben citierten Erklärers genau dasselbe nun als uns selbst bevorstehend uns vorstellen sollten, sondern durch die Vorstellung der „vielen Verwirrungen, die die Himmlischen den Erdgeborenen zudenken, durch den tieferschütternden Übergang von der Freude zu Schmerzen“. Vgl. Goethes Jphigenie, IV, 1. Nicht ein „blindes Fatum“ ist es, wie so oft in völliger Verkennung behauptet wird, das uns hier vorgeführt wird, noch beruht, nach Schillers sehr verfehltem Ausdruck, die Wirkung des Stückes auf der „Neugier“ des Ödipus, die wir vor unsern Augen entstehen, wachsen und sich vollenden sehen, S. Schillers Abhandlung „Über die tragische Kunst“ gegen den Schluß. noch entspricht das antike Trauerspiel überhaupt dem Begriff, den man sich in neuerer Zeit von der sogenannten „Schicksalstragödie“ gemacht hat: vielmehr stellt kaum irgend eine andere Dichtung das Wesen der Gattung so rein dar als die Labdakiden-Tragödie des Sophokles; sie steht darin den größten Schöpfungen des Äschylus ebenbürtig zur Seite. Unterwerfung unter das Geschick fordert die christlich=moderne Ethik so gut als die griechische: wenn hier fromme Scheu vor den Sprüchen der Götter gefordert wird und gläubige Anerkennung einer von Anbeginn geordneten „Heimarmene“ und einer alles lenkenden und ausgleichenden „Moira“, so heißt es dort, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen, und daß das Vertrauen auf die göttliche Gerechtigkeit und, nach dem Psalmisten, die „Furcht des Herren“ der Weisheit Anfang sei. Freilich ist das Gebiet der Kunst von dem der Moral strengstens geschieden; aber hier ist ein Punkt, wo beide sich berühren: die Tragödie ist gerade aus dem allgemein menschlichen Bedürfnis entstanden, die Vorstellung furchtbarer Schicksale, wie sie der Sage und Tradition unverlöschlich sich einprägen, im Gemüte mit jenen Satzungen der religiösen Ethik zu vereinbaren, so daß die Empfindung zugleich damit erfüllt und ausgesöhnt, daran erhoben und beruhigt werde. Es war eine der griechischen Empfindungsweise tief eingeprägte Vorstellung, daß nichts so verderblich sei als der Mangel dieser Furcht und Scheu vor der Macht der Götter; die „Hybris“, die durch Erfolg und lang anhaltendes Glück genährt in sicherem Selbstgefühl sich der Abhängigkeit von dem göttlichen Willen enthoben meint, galt ihnen als der sichere Vorbote unvermeidlichen Sturzes, weil Maßlosigkeit im Handeln untrennbar damit verbunden ist. Machtfülle und selten hohes Glück erzeugen die stolze Sicherheit und Überhebung in ihrem Schoße und erregen damit den bangen Zweifel an ihrer Beständigkeit. „ König Ödipus “ ist vor allen andern die Tragödie der tragischen Furcht, wie der Chor in seinem Schlußgesang ihr Ausdruck verleiht: „Jhr Bewohner meiner Thebe, sehet, das ist Ödipus, Der entwirrt die hohen Rätsel und der erste war an Macht, Dessen Glück die Bürger alle priesen und beneideten, Seht, in welches Mißgeschickes grause Wogen er versank! Drum der Erdensöhne keinen, welcher noch auf jenen Tag Harrt, den letzten seiner Tage, preise du vorher beglückt, Eh' er drang ans Ziel des Lebens, unberührt von Schmerz und Leid. Jm schroffsten Gegensatz zu der Auffassung, aus der die moderne „Schicksalstragödie“ hervorging, hielten die Alten schweres, unverschuldetes Unglück nicht für das Werk eines blinden Zufalls, sondern sie sahen den für blind an, der darin, auch wenn er dem Geschick nicht auf den Grund zu blicken vermochte, nicht gläubig das Walten der Gottheit erkannte und verehrte. Die griechische Tragödie verlangt klar bewußte, entschlossene Ergebung in das unabänderliche Gesetz, daß „nie im Leben waltet das Glück lauter und frei vom Leide“. Sophokles' Antigone, S. 607 ff. So greift sie freilich auf den Höhepunkten ihrer mit dieser Furcht uns durchschauernden Wirkungen zum herbsten Ausdruck. So, wenn im „König Ödipus“ der Chor seinen Gesang anhebt: König Ödipus: V. 1155 ff. (nach Donners Übersetzung). Jhr Menschengeschlechter, ach! Euch, die leben im Lichte, wie Zähl' ich ähnlich dem Nichts euch! Denn welcher der Sterblichen Nimmt ein größeres Glück dahin, Als soviel ihm der Wahn verleiht, Bis vom Wahn er hinabsinkt? Durch dein gräßliches Los gewarnt, Dein unseliges Mißgeschick, Armer Ödipus, preis' ich nichts Glückselig auf Erden. Tiefernst ist diese Schicksalsauffassung der griechischen Tragödie; aber es wäre eine Täuschung, sie für pessimistisch=verzweifelt, für fatalistisch=resigniert anzusehen. Sie ist es so wenig als etwa die von der modern=christlichen Ethik recipierte Anschauung, daß die „Züchtigungen“ des Schicksals ein Zeichen „der Liebe Gottes“ seien. Daß über die antike Tragödie so ganz entgegengesetzte Vorstellungen sich verbreitet haben, dürfte seinen Hauptgrund darin haben, daß man als allgemeine Lebensmaximen aufgenommen hat, was doch nur als der einer bestimmten dramatischen Situation natürlich, ja unausbleiblich entsprechende Stimmungsausdruck zu fassen ist: einem furchtbaren Ereignis gegenüber die unmittelbar dadurch aufgeregte Äußerung heftigst bewegter Furchtempfindung. Wem erschiene in solchen Momenten nicht das Leben der schwachen Sterblichen nichtig, wertlos, jedem Ansturm schutzlos preisgegeben? Solche leidenschaftlichen ─ pathematischen ─ Ergüsse, wie die Weisheit des Dichters in sorgfältiger Berechnung ihrer Wirkung ihnen Platz gewährt, ändern nichts daran, daß bei dem Dichter wie bei seinen Personen und bei den aufhorchenden Zuschauern die Grundansicht unerschüttert bleibt ─ die am letzten Ende ja im Gefühl zur siegreichen Geltung zu bringen der eigentliche Zweck der Tragödie ist ─: jedes Schicksal entstammt der Μοῖρα ἀπὸ τῶν θεῶν , dem von den Göttern ausgeführten uralten gerechten und weisen Schluß der Vorsehung; dem Menschen erwächst das Heil allein in der willigen, ehrfürchtigen Anerkennung ihrer Macht; vor verhängnisvollem Fehl bleibt keiner bewahrt; am meisten jedoch der, in welchem das tiefe, aber gefaßte Mitgefühl mit dem vom Schicksal verhängten Leiden und die stets rege, aber im Bewußtsein großer allgemeiner Gesetze über Selbstsucht und Schwäche hoch erhabene Furcht die Besonnenheit des Sinnes nähren und das rechte Maß der Haltung befestigen. Nur in solcher Betrachtung lassen sich Äußerungen recht verstehen, wie die berühmte Chorstrophe aus dem Ödipus Koloneus: Nie geboren zu werden, ist Weit das Beste; doch wenn du lebst, Jst das Zweite, dich schnell dahin Wieder zu wenden, woher du kamest. Denn entschwand erst die Jugendzeit, Oedip. Col. v. 1230 ff. Ὡς εὖτ' \̓αν τὸ νέον παρῇ κούφας ἀφροσύνας φέρον , τίς πλάγχθη πολύμοχθος ἔξὼ , τίς οὐ καμάτων ἔνι ; Die vier Verse sind mit Unrecht von den Herausgebern für verdorben erklärt und von den Übersetzern willkürlich verändert worden. Der conj. aor. sec. παρῇ ist von παρίημ abzuleiten == „ nachließ “; das ἔξω des dritten Verses im adverbialen Sinne von räumlich (übertragen zeitlich) „ darüber hinaus “ mit πλάγχθη zu verbinden. Also höchst ausdrucksvoll: „Wenn erst die Jugend nachließ (ebbte, entschwand ), wer wurde darüber hinaus verschlagen u. s. w.“ Die Verse sind nicht allein dem rechten Sinn des Ganzen gemäß, sondern sie haben demselben einen hochpoetischen Ausdruck verliehen. Leichten, thörichten Sinnes voll, Wer drang weiter noch vielgeplagt, Wer, nicht mitten in Drangsalsnot? Mord, Hader, Aufruhr, Kriegeskampf, Neid und Haß: am düstern Ende Naht sich verachtet Öde, kraftlos, aller Freude Leer, das Alter, dem sich jedes Wehe des Weh's gesellt hat. Finden doch diese bang ergreifenden Dissonanzen in den herrlichen Schlußaccorden des Ganzen ihre voll beruhigende Auflösung! Wenn nun, nachdem der Bote von dem geheimnisvoll verklärenden Abscheiden des Dulders berichtet, in dem Wechselgesange des Chors und der Töchter des Ödipus die Mitleid- und Furchtempfindungen zum vollkommensten Gleichgewicht ( συμμετρία ) verschmelzen: Hört, ihr geliebten edlen Kinder: Was ein Gott zum Heil gefügt, Tragt es, den Schmerz bezwingend; noch dürfet ihr nicht verzagen. So war denn Wonne selbst im Leide; Freundlich erschien mir ja selbst Unfreundliches, So lang ich ihn nur hielt in meinen Armen. Vater, ins ewige Dunkel der Erde gehüllt, o Geliebtester! Ewig ja bleiben wir, ich und die Schwester, dir Mit unsrer Liebe nahe! Jhm wurde ─ Jhm wurde, was sein Herz ersehnt. Was ward ihm? Wie er sich's gewünscht, im fremden Land Schied er, hat ewig sein Wohlbeschattet Lager drunten, Ließ zurück des Kummers Thränen. Versöhnt mit den Rachegöttinnen ist er vom Lichte geschieden, und dieser Sühne entspricht ein immerdauernder Segen für das Land, das den heimatlos Jrrenden schützend aufnahm. Dieser mit geheimnisvollem Schauer tief ergreifende Schluß des Ödipus Koloneus zeigt mit voller Klarheit die Wege zum in sich befriedigten Verständnis auch der Rätsel des „König Ödipus“. Nicht daß die erste der beiden Tragödien, um recht zu wirken, jener zweiten bedürfte ─ das wäre ein schlimmes Urteil über ihren Kunstwert; jede ist in sich vollendet, und ihrer unvergleichlichen Wirkung wird sich niemand entziehen können, jede enthält auch, so zu sagen, die sämtlichen, von der Theorie für diese Wirkung geforderten Jngredienzien. Aber während der „ verwickelte “ Aufbau der ersten in typischer Weise die tragische „ Peripetie “ und „ Erkennung “ vor Augen führt, und es der gewaltigen Kunst eines Sophokles bedurfte, um aus dem Jammer und dem Grausen dieser Handlung den überwältigten Zuschauer zur Katharsis zu leiten: so stellt die zweite den „ einfachen “ Verlauf einer Handlung dar, die im Grunde nur das „ kathartisch “ wirkende Ende eines jammererfüllten Lebens enthält, und es mußte der ganze Reichtum sophokleischer Kunstbeherrschung zur Anwendung kommen, um diesen einfachen Handlungsabschluß mit der starken Bewegung der tragischen Affekte zu erfüllen. Die beiden Tragödien sind als geradezu symbolische Zeugnisse für das Wesen aller Grundbestandteile der tragischen Komposition zu betrachten. Die „ Anagnorisis “, die Erkennung von Personen oder Sachumständen, die einen für das Glück der Beteiligten entscheidenden Umschwung herbeiführt, und die „ Peripetie “, ein Umschlag des Glückes in Unglück, den der Handelnde gerade dadurch über sich hereinzieht, daß er mit aller Kraft auf das entgegengesetzte Ziel hinarbeitet, beide Formen der tragischen Verwickelung, d. h. also die beiden Hauptkennzeichen eines für tragische Handlung geeigneten komplizierten Stoffes, sind in der Ödipussage vereinigt vorhanden und zwar in einer nirgends so wiederzufindenden Reinheit: typische Musterbeispiele. Jede dieser Formen würde für sich die Brauchbarkeit eines Stoffes für die tragische Komposition entscheiden, beide zusammen machen diesen Stoff im denkbar höchsten Grade dazu geeignet. Die Anagnorisis ist deswegen in so typischer Reinheit dem Stoffe eigen, weil schon mit dem Beginne der Handlung, ohne ein Verschulden des Helden, und ohne daß durch die Handlung weiterhin das Geringste dazu gethan werden braucht, das furchtbarste Schicksal unwiderruflich besiegelt ist, so daß die Handlung selbst nur in der Herbeiführung eben der „Erkennung“ besteht. Diese Herbeiführung selbst aber schließt wiederum die Peripetie in sich ein; und zwar so, daß die dem Handelnden unausweichlich angewiesene Richtung seines eifrigsten Bestrebens mit Notwendigkeit auf den entsetzlichen Umschlag seines glänzenden Glückes in das jammervollste Elend hinauslaufen muß. Der Umstand, daß hier jede Möglichkeit einer andern Handlungsweise, jede Wahl, jedes Schwanken oder Zweifeln des Helden ausgeschlossen ist, macht ebenso die Peripetie der Ödipussage zur reinsten ihrer Gattung. Es ist klar, daß die vermöge der Nachahmung durch Handelnde der Vorstellungskraft in unmittelbarste Nähe gebrachte Wirkung eines solchen Handlungsstoffes gleich excessiv in Mitleids- und Furchtempfindung sein muß. Alle stärksten Pathemata des Mitleids bis zum schmerzlichen Jammer ( οἶκτος ) müssen hier aufgeregt werden, ebenso die Pathemata der Furcht bis zum Schauder ( φρίττειν ). Aber während in den Händen eines mittelmäßigen Dichters aus solchem Stoff eine Schauer-Tragödie oder ein Jammer- und Rührstück werden würde oder auch eine widrige Mischung von beiden, ist es die Sache des Meisters, durch kunstvolle Behandlung ihm die Kraft zu erteilen, aus dem Sturm der Affekte zum in sich gehaltenen Gleichmaß der tragischen Empfindungen zu führen, die schwer belastenden Dissonanzen zur beruhigten Harmonie aufzulösen, durch die siegende Macht der ewig gültigen Em= pfindungen der reinen Furcht und des echten Mitleids die ihnen entsprechenden Pathemata vom leidenschaftlich Trüben, beängstigend Entstellenden zu läutern: zur Katharsis. Die Ödipus-Sage stellt dafür die schwerste Aufgabe. Ohne jede, wirklich so zu nennende „ Schuld “ wird Ödipus von dem grausamsten Schicksal getroffen; es scheint der Fall vorzuliegen, den Aristoteles selbst als untragisch bezeichnete, weil er das Entsetzliche ─ das μιαρόν ─ darstellt, das schwere Leiden des völlig Makellosen. Ein vor seiner Geburt ergangener Götterspruch verurteilt ihn zum grauenvollsten Geschick, dem er durch eifrigstes Bemühen, statt es zu vermeiden, nur um so sicherer verfällt. Der antike Dichter ändert an diesem Thatbestande nichts und erreicht dennoch die tragische Wirkung auch für unser modernes Gefühl: ein höchst lehrreiches Zeugnis gegen den Satz, daß wir Neueren kein Leidensgeschick als ein tragisches empfänden, wenn wir nicht die Ursache desselben in einer „ Verschuldung “ des Leidenden erkennen könnten. Dieser Satz, ein Axiom der modernen Ästhetik, enthält neben einem Teil Wahrheit ein weit größeres Teil von Jrrtum, und zwar eines Jrrtums, der die Grundfesten des tragischen Princips erschüttert. Ein Unglück, das der Leidende im vollen Umfang „ verschuldet “ hat, ist ganz untragisch! Menschliches Mitgefühl ( φιλανθρωπία ) empfinden wir auch mit einem solchen; das tragische Mitleid verlangt einen unverdient ( ἀναξίως ) Leidenden. Die Furcht ferner, die ein durch „ Schuld “ herbeigeführtes Unglück erregt, ist diejenige Furcht, deren die Moral als eines Zuchtmittels für die Schwachen bedarf, die Furcht vor der Strafe: die tragische Furcht verlangt einen Leidenden, der in diesem wesentlichsten Punkte uns, den Zuschauern ähnlich ( ὅμοιος ) sei, d. h. eben nicht durch eigenes Verschulden notwendig und mit Recht den damit verketteten Leiden ausgesetzt. Diese Ähnlichkeit allein kann es bewirken, daß wir uns dem Schicksal ganz ebenso wie der Leidende bloßgegeben fühlen, daß wir also unter der Wucht der Vorstellung einer uns selbst bedrohenden Macht die Furchtbarkeit dieser Macht anerkennen, d. h. daß wir das Schicksal fürchten. Nur ein unverdientes Schicksal also ist tragisch, nur die Furcht vor einem solchen ist tragische Furcht. Nicht aber als eine blinde Zufallsgewalt sollen wir das Schicksal über uns empfinden und fürchten, sondern als eine göttlich berechtigte, notwendige und deshalb um so mehr unvermeidliche Macht es anerkennen und verehren. Jn dieser Gestalt hat die Furcht alles Selbstische, Aengstliche, Leidenschaftliche, Ex= cessive verloren: es ist die kathartische Furcht, das eine der beiden Wirkungsziele der Tragödie. Das Schmerzliche und Beunruhigende der dem Furchtaffekt im gewöhnlichen Leben entsprechenden Pathemata, wie die Rhetorik des Aristoteles ihrem Zwecke gemäß sie definiert ─ λύπη καὶ ταραχή ─, ist hier geschwunden, hinweggeläutert; diese reine Furcht ist eine Bewegung der Seele, die dasjenige Gleichgewicht in ihr herstellt, in welchem sich die ihr eigene Natur, das Leben, zu dem sie ihrer Anlage nach bestimmt ist, erfüllt, und zwar nach dieser Seite in der vollendetsten Weise sich bethätigend und sie mit dem Bewußtsein dieser Energie durchdringend: mit andern Worten: diese reine, tragische Furcht ist nicht mehr eine schmerzliche Empfindung, sondern eine im höchsten Sinne freudige, eine der vollkommensten Äußerungen der ästhetischen Hedone. Das ist nun auch einer von den Jrrtümern Lessings, die für die gesamte folgende Forschung verhängnisvoll geworden sind, daß er das Verdienst auf die Definitionen des Mitleids und der Furcht in der aristotelischen Rhetorik hingewiesen zu haben, sogleich durch die Achtlosigkeit trübte, mit der er die für jenes empirische Gebiet geltenden Kennzeichnungen, welche bestimmt sind, dem Redner Anweisung zu geben, wie er auf die Pathemata seiner Zuhörer zu wirken habe, ohne weiteres auf das ästhetische Gebiet übertrug, wo die Namen jener Pathe doch die Bestimmung haben, die reinsten und vollkommensten Bethätigungen des Empfindungsvermögens zu bezeichnen, die eben deshalb würdig sind, dem Dichter als die Ziele der edelsten Kunstschöpfung zu gelten. Doch hätten die Späteren wohl Veranlassung gehabt, dieses Versehen des ersten Entdeckers gut zu machen; statt dessen hat kaum irgend ein anderer Umstand in dieser ganzen Materie zu so viel Verwirrung Anlaß gegeben als der anscheinende Widerspruch, daß jene Unlustaffekte des Mitleids und der Furcht am letzten Ende nun dennoch Freude hervorbringen sollten; ein Widerspruch, an dessen Lösung sogar ein Kenner wie J. Bernays geradezu verzweifelt. „Für den es auf formal logischem Wege keine Lösung gibt“, sagt er in dem Aufsatz „ Ergänzung zu Aristoteles' Poetik “, der das Fragment des Anonymus über die Komödie behandelt (vgl. Rhein. Museum, N. F., VIII, S. 566). Ganz ebenso ist das kathartisch geläuterte Mitleid nicht mehr eine schmerzliche Empfindung, sondern eine im höchsten Sinne hedonische: befreit von dem Jammer und Weh, womit der Anblick des unverdienten Leidens uns so schwer belastet. Aber die Katharsis des Mitleids ist ebenso wie die der Furcht nur möglich, wenn das Leidensschicksal statt als zufälliges, vereinzeltes Ereignis zusammenhanglos sich darzustellen, als von dem Walten ewiger Mächte gesetzmäßig geordnetes Verhängnis dem Empfinden sich kenntlich macht. Hier kann es sich nun nur noch um die Frage handeln: wie geschieht das? welche Mittel hat der Dichter anzuwenden, um diese Wirkung zu erreichen? Das Rätsel aber, wie die schmerzlichen Pathemata des Mitleids und der Furcht sich in die höchst hedonischen Pathe der reinen Schicksalsempfindungen verwandeln, löst sich für den tiefer Blickenden von selbst, ja der Zweifel macht der Bewunderung Platz, wie in der einfachen Formel des griechischen Philosophen das innerste Wesen der Kunst erschlossen ist. Es entdeckt sich hier der Punkt, dem die Wege von Kants und Schillers Kunstbetrachtung zustreben, die freilich durch Krümmen führen und durch fremde Gebiete hindurch abirren. Wie der andächtig=religiöse Glaube die Resultate höchster Weisheit in das unmittelbare einfache Empfinden legt und auf solche Weise es erreicht, was auf andere Art ewig unerreichbar bliebe, sie zum Gemeingut für alle zu machen: gerade so trifft die Kunst ihre Veranstaltungen, um vermittelst der Nachahmung von Empfindungen, Seelenzuständen und Handlungen die Gemütskräfte der Menschen unmittelbar so in Bewegung zu setzen, wie diese Bewegungen durch die Hülfe der klarsten Einsicht, der reinsten Sittlichkeit, der tiefsten Weisheit bei den Besten und Edelsten sich vollziehen. Solche Energien der Gemütskräfte können nicht anders als im höchsten Maße hedonisch, von der reinsten und höchsten Freude begleitet sein. Jndem vermöge solcher Freude die Kunst die Empfangenden an sich zieht und diese Bewegungen in sie übergehen läßt, vermag sie freilich weder Einsicht, noch Sittlichkeit, noch Weisheit unmittelbar mit ihnen zu verbreiten, aber sie teilt als ein köstliches Geschenk an alle, die ihr nur den Sinn, den die Natur ihnen mitgegeben hat, zuwenden, ein Gut aus, zu dessen Erlangung im Leben alle jene höchsten Eigenschaften der Geistes- und Seelenbildung thätig sein müssen. Solche Empfindungen kennt auch die Kantsche Philosophie; aber in scharfem Unterschiede von dem lediglich ästhetischen Wohlgefallen an der Form rechnet sie dieselben zu den „ moralischen Gefühlen “, die nur auf der Grundlage bereits ausgebildeter moralischer Jdeen, auf welche sie reflektieren, möglich werden. Ähnlich führt die Schiller sche Ästhetik die „ tragische Rührung “ darauf zurück, daß die Jdee des Moralisch-Guten einen erhebenden Sieg über das selbstsüchtige Jnteresse davonträgt, der auf das Edle gerichtete Wille über den Körper, der Geist über die Natur, und daß die Freude an der tragischen Rührung aus dem Überschuß der mit solchem Siege verknüpften moralischen Lust über die durch die Vorstellung materiellen Leidens erzeugten Unlustempfindungen resultiere. Direkt oder indirekt nehmen diese Theorien ihren Ausgangspunkt von der Moral; dagegen erklärt die aristotelische Poetik die Wirkung der Tragödie als eine rein ästhetische und erlangt damit eine weit über den speciellen Gegenstand hinausreichende Bedeutung nicht nur für die Kunstlehre überhaupt, sondern für die gesamte Philosophie. Die an sich „ vernunftlosen “ Empfindungen können, um einem von Aristoteles öfters gebrauchten Bilde zu folgen, im Leben durch den Verkehr mit dem Verstande und der Vernunft, dem Logos und Nous, dem sie zu folgen sich gewöhnen, so weit veredelt werden, daß sie von selbst, so zu sagen freiwillig und gern, das rechte Maß der Bewegung einhalten. Aristoteles stimmt nun darin mit Kant überein, daß er in solcher zur ständigen Haltung gewordenen Gewöhnung der Empfindungen noch keine ausreichende Bürgschaft des sittlichen Handelns erblickt, die immer nur in der nach dem Vernunftgesetz erfolgenden Willensentscheidung auch von ihm gefunden wird; aber er erkennt, abweichend von Kant und in näherer Verwandtschaft mit Schillers ästhetisch=ethischer Anschauung, in den veredelten Empfindungen nicht nur die sehr wertvollen, sondern die ganz unentbehrlichen Bundesgenossen für die Erreichung jenes Zieles. Er räumt ihnen also, im Gegensatz zu der Geringschätzung, in der sie bei Kant als „sinnlich=pathologische“ Vorgänge stehen, eine hohe Stelle auch für die Sittlichkeit ein. Daraus ergibt sich von selbst, daß die Kunst in seinen Augen einen ganz andern, ungleich höheren Wert erhalten muß, als den die Kantsche Philosophie ihr einräumen kann. Eingehender hat der Verf. den Gegenstand behandelt in einer Abhandlung zu Kants Geburtsfeier am 22. April 1886 (vgl. Altpreuß. Monatsschrift, Bd. XXIII, Heft 3/4, 1886: „ Ueber Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft “). Dieselbe wird in etwas erweiterter Gestalt im Anhange mitgeteilt, um über das Verhältnis der den Verf. leitenden Grundsätze, wie sie in diesem Buche entwickelt sind, zu den Principien der Kantschen Philosophie näheren Aufschluß zu geben. Aber selbst Schiller, der die Kunst wahrlich hoch hielt, wird in dieser Beziehung von dem Kunstlehrer der Alten übertroffen, dessen Theorie von keiner andern auch nur annähernd ersetzt werden kann. Nach Aristoteles ist die Wirkung der Kunst eine ungemischt ästhetische, die keiner Bundesgenossenschaft bedarf, weder in Verstandeserkenntnissen, noch in moralischen Dispositionen sich ihre Stützen zu suchen braucht. Der Natur und dem Leben gleich, deren Wirkungen auf die empfindende Seele nachahmend, bringt sie vermittelst sinnlicher Vorstellungen die unmittelbar daran geknüpften Seelenbewegungen hervor: aber verschieden von aller Natur und von jedem Vorgang des Lebens wählt sie die Vorstellungen, deren sie sich bedient, so aus und bringt sie so in Verbindung, daß sie die Kraft erhalten, die von dem Künstler gewollte reine, richtige Empfindung unmittelbar zu erzeugen. Daraus erklärt sich auch das Verhältnis der Kunst zur sittlichen Erziehung von selbst. Die Kunst braucht dieselbe nicht vorauszusetzen, denn ihre Wirkungen sind unmittelbare; sie kann dieselbe aber auch nicht ersetzen, denn ihre Wirkungen halten nur so lange an, als die Vorstellungen dauern, die sie erzeugt, und die Empfindungsweise, die sie als ein Geschenk mitteilen, ist zwar ihrer Form nach derjenigen gleich, die als ein Resultat intellektueller und sittlicher Kultur erworben wird, aber sie vermag dieselbe nicht zugleich mit einzupflanzen. So würden also die Wirkungen der Kunst zunächst intellektuell wie sittlich indifferent bleiben. Doch sind mittelbar zwei weitere Folgen von unberechenbarer Tragweite mit ihnen verbunden. Die mächtige hedonische Wirkung, welche die reine, gesunde, richtige Empfindung im Gemüte ausübt, eben weil sie die im höchsten Sinne naturgemäße ist, die wie durch ein Wunder mit durchleuchtender und durchwärmender Kraft in der Seele sich ausbreitet, kann nicht anders als wie ein wünschenswertestes Ziel des Strebens in der Erinnerung zurückbleiben, für die unverdorbene Natur ein spornender Antrieb, für die schon abgeirrte ein Vorwurf und eine Mahnung. Sodann kann es keine Frage sein, daß eine Gewöhnung des Empfindens zum rechten Maße durch die Wirkungen der Kunst, wenn sie auch zunächst für keinen einzigen Fall die Herrschaft der Vernunft oder der Einsicht über die Leidenschaften zu sichern vermag, so doch für unzählige Fälle ihnen ihr Geschäft zu erleichtern geeignet ist, wenigstens den Widerstand, den sie dabei finden, zu vermindern. Nach diesem Ergebnis stellt sich nun die Frage in betreff des Sophokleischen Ödipus: ─ welche Mittel hat der Dichter angewandt, um das Entsetzen und den Jammer, die der Stoff erregt, in die wohlthuenden Affekte der tragischen Furcht und des tragischen Mitleids zu verwandeln? ─ da jede Mitwirkung fremden Gebieten angehöriger Kräfte ausgeschlossen ist, folgendermaßen: wie hat der Dichter die Fabel behandelt, um ihr die Gestalt zu geben, in welcher das Schicksal der bloßen Empfindung sich als ein göttlich=gesetzliches kund thut, das eben dadurch die tragischen Pathemata kathartisch entlastet und zu jener freudigen Erhebung steigert, wie sie jeder Empfindung verbunden ist, die mit der Vorstellung der Gottheit sich im Einklange fühlt? Nur auf diesem Wege eröffnet sich das technisch=theoretische Verständnis der Ödipus-Tragödien und mit ihm der Einblick in das Wesen der antiken Tragödie überhaupt. Die Fabel trägt die starren Züge der urältesten griechischen Mythe, gleich ihr aber auch das Gepräge einer ins große gehenden Symbolik; wie Goethe in der klassischen Walpurgisnacht die Sphinx diesen Charakter bezeichnen läßt: „Wir hauchen unsre Geistertöne, Und ihr verkörpert sie alsdann.“ Der Kampf der Titanen gegen die Götter ist ausgekämpft; unbestritten in ihrer Macht und Herrlichkeit herrschen sie über die Welt und die Menschen; dennoch bleibt unvertilgbar in dem menschlichen Geschlecht der Hang, der eigenen Kraft vertrauend gewissermaßen die Probe zu wagen, ob sie der Allmacht göttlichen Geschickes sich zu entziehen vermöchte, am meisten, wo jemand überragender Einsicht und seltener Erfolge sich bewußt ist. Ein solcher ist Ödipus, der die gottgesandte Sphinx überwunden, ihre dunkeln Rätsel gelöst und aus eigenem Verdienst sich die höchste Stellung gewonnen hatte. Das Charakteristische seines Wesens ist das des jugendlich in Rat und That Sieggewohnten und Selbstvertrauenden. Von dieser Seite her hat die Sage diesen Helden erfaßt und ihm sein Schicksal angedichtet. Seine Vorgeschichte existiert nicht um ihrer selbst willen ─ wie denn auch die Personen derselben nur schattenhaft angedeutet geblieben sind, soweit sie nicht in sein Schicksal selbst anteilnehmend verflochten werden ─, sie ist nur in Bezug auf ihn im Mythos erwachsen. Jm denkbar schneidendsten Gegensatz stellte sie den rascher That Sicheren, Geistesstolzen, Herrschaftgewohnten in eine Schicksalsverwickelung, die ihn von vornherein rettungslos dem Jrrtum, der schlimmsten Fehlthat, dem äußersten Elend preisgibt. Dieser, in nacktester Einseitigkeit ausgeprägte, Grundzug der Ödipussage macht sie zum Typus der tragischen Fabel, weil Mitleid mit solchem Geschick und Furcht vor demselben hier den weitesten Spielraum gewinnen. Es ist die tragische Grunderfahrung, daß im Leben Glück und Unglück nicht nach Verdienst verteilt werden, sondern nach einem unbegreiflichen Zusammenhang der Dinge, in welchem dennoch den Ratschluß einer göttlichen Vorsehung anzuerkennen die beste menschliche Weisheit und der naiv=fromme Glaube zusammenstimmen: diese Grunderfahrung ist es, die in jener Sage auf die einfachste Formel gebracht ist. Einer ähnlichen Auffassung begegnen wir in dem herben Worte des Alten Testamentes, daß die Sünde der Väter an den Kindern heimgesucht werde bis ins dritte und vierte Glied. Die Ödipussage enthält nichts anderes als die Resultate der gleichen Anschauungsweise, die einzig aus dem Grunde uns noch furchtbarer gegenübertritt, weil eben nur das letzte Glied der Schlußfolge in dramatischer Lebendigkeit uns vorgeführt wird, während die vorangehenden kaum angedeutet werden. Der Fluch, der auf Ödipus lastet, und auf den schon sein Name hinweist, ist, daß er überhaupt geboren ist, der nach dem Spruch der Götter nicht hätte entstehen sollen. Denn wie Ödipus selbst es ausruft, als ihm endlich die volle Wahrheit sich enthüllt ( Oedip. Tyr. v . 1184): ὅστις πέφασμαι φύς τ' ἀφ' ὧν οὐ χρῆν „Der sproß, von wem er nicht gesollt“ ─ so hat Jokaste schon früher berichtet ( Oedip. Tyr. v . 711 ff.): χρησμὸς γὰρ ἦλθε Λα ΐῳ ποτ', οὐκ ἐρῶ Φοίβου γ' ἀπ' αὐτοῦ, τῶν δ' ὑπηρετῶν ἅπο , ὡς αὐτὸν ἕξοι μοῖρα πρὸς παιδὸς θανεῖν , ὅστις γένοιτ' ἐμοῦ τε κἀκείνου πάρα . „Einst ward ein Spruch dem La ï os, ich behaupte nicht Von Phöbos selbst, nein, aus der Diener Munde nur: Jhm sei das Los beschieden, durch des Sohnes Hand Zu sterben, den er zeugen würd' aus meinem Schoß.“ Der Fluch, d. h. die Bestimmung zum Unglück, die nach dem gewöhnlichen, unabänderlichen Lauf der Dinge einem Menschen durch Umstände, die selbst vor seiner Geburt liegen, also ohne jedes Verschulden von seiner Seite, mitgegeben sein kann, wäre auf keine Weise stärker und eindringlicher auszudrücken als es durch das Symbol dieser Sage geschehen ist. Hier zeigt sich auch deutlich, warum die Sage auf die Vorgeschichte so geringes Gewicht legt, daß sie sich begnügt, sie eben nur ganz kurz zu erwähnen: es ist ihr eben nichts als diese Endwirkung derselben von Wichtigkeit, die auf die mannigfachsten Arten hervorgebracht werden könnte, für welche alle diese Erzählung als umfassendes Symbol zu gelten hat. Für die ungeheure tragische Wucht der Sage genügt es, daß diese Wirkung da ist; ja ihre Wucht wird durch das isolierte Auftreten dieser Wirkung noch verstärkt. Die Fiktionen des naiven Volksglaubens sind von einer symbolischen Gewalt, die ihre Verwendung für die Kunst unentbehrlich macht. Selbst für die Zeiten, in denen der Glaube an sie längst geschwunden, behalten sie noch diese durch nichts zu ersetzende Kraft, eben weil sie Symbole sind, d. h. Kennzeichen für Jdeen, die der realen Erscheinungswelt entnommen sind. Eben weil solche Symbole aber nicht das Wesen der Dinge selbst enthalten, sondern nur die Ähnlichkeit im großen mit denselben festhalten, vertragen sie nicht die volle Beleuchtung der dramatischen Pragmatik, sondern verlangen ein gewisses Dunkel der Behandlung. So ist Sophokles hier verfahren, und so hat jeder große Dichter nach ihm sich Dingen derart gegenüber verhalten. Daher gelingt es auch den Modernen, mögen sie selbst von griechischer Religion nicht die geringste gelehrte Kenntnis haben, sich völlig mit der Gesinnung zu durchdringen, die der Dichter das ganze Stück hindurch vom Chor und allen beteiligten Personen feierlichst bestätigen läßt, daß hier ein Geschick sich entrollt, das trotz seiner grausigen Abnormität göttlich gewollt, gesetzlich geordnet und daher gläubig hinzunehmen und zu verehren ist. Erst im „ Öedipus auf Kolonos “, in welchem die rückwärts gewandte Betrachtung eine so überwiegende Rolle spielt, läßt der Dichter Wendungen einfließen, die eine pragmatische Beurteilung der Voraussetzungen des Ganzen anbahnen. So, wenn Ödipus auf die Vorwürfe des Kreon erwidert (v. 964 ff.): θεοῖς γὰρ ἦν οὕτω φίλον , τάχ' ἄν τι μηνίουσιν εἰς γένος πάλαι . ἐπεὶ καθ' αὑτόν γ' οὐκ \̓αν ἐξεύροις ἐμοὶ ὁμαρτίας ὄνειδος οὐδὲν, ἀνθ' ὅτου τάδ' εἰς ἐμαυτὸν τοὺς ἐμούς θ' ἡμάρτανον ἐπεὶ δίδαξον, εἴ τι θέσφατον πατρὶ χρησμοῖσιν ἱκνεῖθ', ὥστε πρὸς παίδων θανεῖν , πῶς \̓αν δικαίως τοῦτ' ὀνειδίζοις ἐμοί ; ὅς οὔτε βλάστας πω γενεθλίους πατρὸς , οὐ μητρὸς εἶχον, ἀλλ' ἀγέννητος τότ' ἦν . „ So gefiel's den Göttern ja, Die längst vielleicht Groll hegten wider mein Geschlecht. Bei mir ja selber fändest du doch nimmermehr Ein schimpfliches Vergehen aus, Donner übersetzt ἁμαρτίας ὄνειδος mit „ den Flecken eines Frevels “ doppelt verfehlt: ἁμαρτία == „ Jrrtum, Verfehlung “ wird Ödipus nicht abweisen, wohl aber ὄνειδος == „ Schmach, Schimpf, Schande “. Er hat „ geirrt “, wie jeder Mensch, aber „ nicht schimpflich geirrt “. mit dem ich so An mir und meinem Stamme mich versündigte. Denn sage, wenn ein Götterspruch dem Vater einst Erscholl, er werde fallen durch des Sohnes Hand, Wie kannst du billig diese Schuld vorwerfen mir, Der noch des Lebens Keime nicht vom Vater noch Der Mutter hatte, nein, noch ungeboren war? Ebenso heißt es weiter in der Gegenrede des Ödipus (v. 997 ff.): τοιαῦτα μέντοι καὐτὸς εἰςέβην κακά , θεῶν ἀγόντων . οἷς ἐγὼ οὐδὲ τὴν πατρὸς ψυχὴν ἄν οἶπαι ζὡσαν ἀντειπεῖν ἐμοί . „Jn solches Unheil aber stürzt' auch ich hinein Durch Götterleitung, und der Geist des Vaters selbst, Zum Lichte kehrend, glaub' ich, widerspräch es nicht.“ Dagegen nun aber die Worte der Antigone, mit denen sie den tiefgekränkten Vater bewegen will dem Polyneikes zu verzeihen (v. 1195 ff.): σὺ δ' εἰς ἐκεῖνα, μὴ τὰ νῦν, ἀποσκόπει , πατρῷα καὶ μητρῷα πήμαθ' ἄπαθες· κ\̓αν κεῖνα λεύσσῃς, οἶδ' ἐγώ, γνώσει κακοῦ θυμοῦ τελευτὴν, ὡς κακὴ προσγίγνεται . „Du aber wende deinen Blick auf jenes Leid, Das Leid von deinen Eltern, das du duldetest; Und schaust du hierauf, weiß ich, wird's dir offenbar, Welch' schlimmes Ende schlimmer Zorn zu nehmen liebt .“ Auch hier ist die deutsche Übersetzung (Donner) wieder unzulänglich, aber freilich schwer zu verbessern. „ Schlimmer Zorn “ gibt in Anwendung auf die Geschichte des Laïos keinen Sinn; das griechische κακὸς θυμός , wofür kurz zuvor θυμὸς ὀξύς gesagt ist, bezeichnet das Verhängnisvolle des „ raschen Sinnes “, „ vorschnell entschlossener, leidenschaftlich=jäher Gemütsart “, die menschlichem und selbst göttlichem Einspruch schwer zugänglich ist. Solch „ schneller Mut “ ist der „ Fehler “ ( ἁμαρτία ) des Ödipus, wie er das Verderben seines Vaters war, der den Sohn, den er in Mißachtung des Götterspruchs gewonnen, in Mißachtung göttlicher und menschlicher Gesetze jammervollem Tode preisgab, der in jäher Hitze den begegnenden Fremdling mit toddrohendem Streiche anfiel. Das alles, wie das weiterhin Kommende, hatten die Götter als künftig Geschehendes vorausgesehen, nicht etwa es bestimmt und herbeigeführt, völlig in Übereinstimmung mit dem Worte des Kreon im „König Ödipus“: αἱ δὲ τοιαῖται φύσεις αὑταῖς δικαίως εἰσὶν ἄλγισται φέρειν . „Solcher Art Naturen sind Sich selbst mit Recht unleidlich und die herbste Qual.“ So ist denn auch, damit sich das alles erfülle, eben jener dem Helden vom Vater her eignende „ Fehler “, keine Schuld, kein „ schimpfliches Vergehen “ von seiner Seite, die äußerlich den Anstoß gebende Ursache für die Vollziehung eines tragischen Geschickes, von dem die Sage unter dem Symbol des die Zukunft kündenden Götterspruchs doch nur aussagt, daß es in Vorbereitung und Vollendung leicht durch den jähen, ungestümen Sinn, wie er andrerseits zu That und Erfolg leitet, herbeigezogen wird. Diesen tief verborgenen, aber unlöslichen Zusammenhang der „ Hamartie “ des Helden mit seinem Leidensschicksal dem Zuhörer zum vollen Bewußtsein zu bringen, war die Aufgabe der tragisch=kathartischen Behandlung des Stoffes durch den Dichter, und zwar nicht so, daß er damit gleichsam den Schleier von dem geheimnisvollen Rätsel des Schicksals hinwegzog und an seiner Stelle ein pragmatisch abgestimmtes Exempel sehen ließ, sondern daß er vom Anbeginn bis zum Ende in den Leidenden jenen Sinn der leidenschaftlichen Hitze und vermessenen Selbstgewißheit zur Erscheinung kommen ließ, der, das Gegenteil der „ Furcht “, je mehr er den Göttern trotzt, desto mehr ihren Voraussagungen Recht zu geben scheint. Jn solcher Absicht hat Sophokles die Charakterzeichnung und Handlungsweise des Ödipus und der Jokaste erfunden und sie mit einer Meisterschaft ohnegleichen Schritt für Schritt bis zu einer Stärke der Äußerung sich steigern lassen, die in der vollkommensten Weise die Aufgabe löst: ohne daß der Achtung, die der Held erweckt, und dem Mitleid mit seinem ungeheuren Geschick der geringste Abbruch geschieht, wird das Gemüt von der geheimnisvolloffenbaren Verschwisterung seines Fehlers mit seinem Leiden so tief und innig durchdrungen, wie nur irgendwo, in einem Othello oder Lear, Shakespeare diese verhängnisvolle Verkettung zum Bewußtsein bringt; zugleich wird, indem die Furcht vor der Übermacht des Geschickes den höchsten Grad erreicht, sie von den Schrecken des blinden Ungefährs entlastet, und auf die reine Höhe des vollen Einklanges mit der Anerkennung göttlich weisen und gerechten Waltens erhoben. Die Katharsis der tragischen Pathemata ist vollendet! Es hieße die Geduld des Lesers ermüden, sollte nun Zug für Zug dieses Verfahren des Dichters nachgewiesen werden; alles das liegt klar zu Tage. Nur darauf dürfte noch ein Hinweis erlaubt sein, mit welcher Weisheit im Gebrauch der ihm zu Gebote stehenden Mittel und in welcher unübertrefflichen Schönheit der Meister der antiken Tragödie es verstanden hat, den Sturm der tragischen Empfindungen, indem er die Kraft der einen gegen die andre setzt, in seiner Übergewalt sich brechen zu lassen, um ihrer Läuterung, Klärung, kathartischen Beschwichtigung Raum zu verschaffen. Mit gewaltiger Wucht, die durch jedes kommentierende Wort nur abgeschwächt werden würde, ist in beiden Stücken die mächtige Stimme des Chores für diesen Zweck verwendet. Was aber das aristotelische Wort von dem Gleichmaß, der Symmetrie, der Furcht und des Mitleids zu bedeuten hat, das läßt die wundervolle Weisheit erkennen, mit der Sophokles den Schluß der beiden Tragödien gestaltet hat. „ Ödipus Tyrannos “ ist die Tragödie der Furcht, der unter den neueren nur Shakespeares „ Lear “ zu vergleichen ist. Mit immer gräßlicheren, entsetzlicheren Schlägen sehen wir die Wut des Geschickes sich entladen, und als es seine ganze Kraft erschöpft hat, da erfährt es durch die grimmige, sich gegen sich selbst kehrende Verzweiflung des Getroffenen noch eine weitere, fürchterliche Steigerung. So weit ist alle höchste Kunst des griechischen wie des britischen Dichters darauf gewandt, das überwältigende starre Entsetzen zur tragischen Furcht zu läutern und zu erheben. Jn dieser Furcht ist freilich das Mitleid notwendig mit eingeschlossen, aber gleichsam latent, gebunden und überwogen durch die Schauer, mit denen der Anblick der Schicksalsallgewalt von Angesicht zu Angesicht die Empfindung ganz hinnimmt. So hat denn der Dichter die letzte Scene bestimmt diese Starrheit zu lösen und dem reichen Erguß schmelzenden Mitleids ein breites Bett zu bereiten. Die Scene, wie dem blinden Ödipus die beiden Töchter zugeführt werden: „Jhr Götter! Hör' ich meine zwei Geliebten nicht in Thränen schluchzen?“, wie sie im tiefsten Jnnern die höchste Kraft liebenden Mitgefühls erweckt, läßt sich wieder nur mit jener, bei aller ihrer Herbigkeit dennoch wunderbar versöhnenden, Schlußscene des Lear vergleichen, da der greise König, die Tochter Cordelia tot in den Armen tragend, auf der Bühne erscheint und ihr den Spiegel vorhält um zu prüfen, ob noch Leben in ihr sei: „Die Feder regte sich, sie lebt! O lebt sie, so ist's ein Glück, das allen Kummer tilgt, den ich jemals gefühlt.“ Umgekehrt ist „ Ödipus auf Kolonos “ die Tragödie des Mitleids. Der alternde König, aus der Heimat durch die eigenen Söhne verjagt, im Bettlergewande umherirrend, nur von der Tochter geleitet, nirgends eine Ruhestätte findend, nun am letzten Ziele noch von den Bewohnern des ihm verheißenen Asyls mit Abscheu fortgescheucht, von Keron bedroht, zuletzt noch der Töchter beraubt, ─ das ist ein Stoff, der einem Euripides den Ruhm des „ tragischsten “ Dichters, der das Mitleid am heftigsten aufzuwühlen weiß, noch vermehrt haben würde. Nun aber, zu welcher Höhe echter Tragik weiß die Kunst des Sophokles am Schlusse diesen Stoff zu erheben! Alle die vorausgehenden, mannigfach gefärbten Scenen des Jammers sind ihm nur die vorbereitenden Mittel um zu seinem Endzweck zu gelangen: mit wie von der gegenwärtigen Rachegottheit selbst geheiligter Urgewalt die Furcht zu erwecken vor der unsühnbaren Versündigung gegen die Majestät des Unglücks. Jn der tragischen Kunst aller Völker und Zeiten reicht nichts an die Furchtbarkeit des Fluches heran, den der zürnende Vater auf den unnatürlichen Frevel der Söhne legt, und dem die „wohlgesinnten“ Rachegöttinnen selbst die feierliche Weihe erteilen, da sie den Grollenden auf geheimnisvolle Weise im Schoße ihres heiligen Haines zur Ruhe eingehen lassen. Es ist nur eine symbolische Bestätigung dieses tiefernsten Sinnes, daß der Fürst, der so großem Unglück hülfreich erbarmenden Schutz gewährt, damit dem ganzen Land ein Pfand des Segens erwirbt. Wenn hier die Betrachtung zu Lessing zurückkehrt und zu seiner Verkennung der „Furcht“ als eines selbständigen Faktors der tragischen Wirkung, ein Jrrtum, von dem oben behauptet wurde, daß er auf die Komposition der „Emilia Galotti“ von wesentlichem Einflusse gewesen sei, so drängt sich wie von selbst die Vergleichung zwischen dieser und der dritten Tragödie der Sophokleischen Trilogie auf, der Antigone; natürlich nur in dem einen Punkte, auf den es für diese Betrachtung ankommt, der furchterregenden Beschaffenheit des dargestellten tragischen Schicksals oder mit andern Worten: hinsichtlich der Frage, ob der selbstgewollte Tod der Heldin in beiden Tragödien als das Ergebnis eines von unentrinnbaren Gewalten bestimmten Vollzuges der Ereignisse empfunden werde oder als eine nur in der Singularität der beteiligten Personen begründete Notwendigkeit. Die Frage ist von größerer Bedeutung, als es auf den ersten Blick scheinen möchte, denn ihre nähere Untersuchung ist geeignet, den weitgreifenden Unterschied klar zu stellen, der der Gattung nach zwischen der auf die Größe der Verhältnisse basierten Schicksalsanlage in der sogenannten heroischen Tragödie und der Enge der das Schicksal bedingenden Verhältnisse, die für das „ bürgerliche Trauerspiel “ eine so gefährliche Klippe bildet, vorhanden ist. Es kann kein eindringlicheres Beispiel gefunden werden, um den aristotelischen Begriff der „Größe“ ( μέγεθος ) der Handlung deutlich zu machen als die „Antigone“ des Sophokles. Es ist ganz unmöglich, sich diese Handlung auf den kleinen Maßstab bloßen Familienzwistes reduciert zu denken; alle Motive bestimmen sich von dem großartigen, mythologisch=historischen Hintergrunde aus, der das Ganze beherrscht. Selbst Hämons verhängnisvoller Widerstreit gegen den Vater, wie klein würde er sich ausnehmen gegen das, was Sophokles daraus geschaffen hat, wenn hier nur die Liebe des leidenschaftlichen Jünglings das Wort führte, nicht zugleich das Bewußtsein des Fürstensohnes. Die „Antigone“ ist eine reine Charaktertragödie ( ἠθική ), in der also die Wendung zur Katastrophe durch die Sinnesart der Handelnden entschieden wird, nicht durch die äußere Verwickelung; hierin liegt wohl der Grund, warum sie von allen antiken Tragödien unserm modernen Bewußtsein am nächsten steht. Das Tragische liegt in der unheilschwangeren Situation, in welche die Reinste, Edelste ihres Geschlechts, χρυσῆς ἀξία τιμῆς λαχεῖν , „goldner Ehren wert“, hineingestellt ist, so daß der geringste, ja fast rühmlich erscheinende Fehler, aber eben doch ein Fehler, sie in ein Verderben stürzt, das dann derselbe Fehler vollends über sie herabzieht. Nicht übler hätte mit dieser Tragödie umgegangen werden können, als indem man das Theorem von dem „ Konflikte der Pflichten “, auf dem die tragische Handlung beruhen solle, auf sie anwandte, diese unglückliche Erfindung der modernen Ästhetik, die das Verständnis der antiken Tragödie sowie der Tragödie überhaupt völlig zu verdunkeln geeignet ist. Nicht einmal für eine tragische Fabel, die scheinbar dieser Theorie so wohl sich fügt wie die Orestie, ist sie an ihrer Stelle, wie weiterhin die Choephoren des Äschylus zu erweisen Gelegenheit geben werden. Die Formel von dem „Konflikte der Pflichten“ stellt nicht das Gesetz für den Aufbau der tragischen Handlung dar, sondern einen einzelnen Fall, der an sich selbst die Erfordernisse des Tragischen noch keineswegs enthält, sondern nur eine Kategorie der unzähligen Verwickelungen ausmacht, die das volle Eintreten der Tragik begünstigen. Der Fall, wo zwei Pflichten zugleich ihre Erfüllung verlangen und zwar so, daß die eine die andere ausschließt, und die ältere unter zwei gleichartigen oder die höher berechtigte von dem Handelnden nicht erfüllt werden kann, ohne daß er damit seinen Untergang oder doch sein Unglück besiegelt, wird sicherlich das Mitleid in hohem Grade erregen. Aber wählt nun der in solche Lage Gestellte in wohl erwogener Entscheidung das Rechte um den Preis selbst seines Lebens, so erregt diese moralisch erhabene That, obwohl unser sittliches Urteil sie fordert, mit unsrer Befriedigung zugleich unsre Bewunderung im höchsten Maße; aber je stärker die erhabene Freude ist, die von jenen beiden moralischen ─ d. h. aus unserm sittlichen Bewußtsein hervorgehenden ─ Empfindungen ausgeht, desto mehr wird den reinen, ungemischten tragischen Empfindungen entzogen. Wenn jedoch durch diese fremde Beimischung das Mitleid nur abgeschwächt wird, so wird dadurch die Furcht fast gänzlich aufgehoben. Der Tod selbst verliert seine Schrecken, jedes geringere Opfer erscheint fast als ein wünschenswerter Gewinn vor jener unvergleichlichen Entzückung der Seele, in die sie durch die Vorstellung der schönsten Äußerung des sittlichen Vermögens versetzt wird. Daher haben solche Handlungen im großen Zusammenhange epischer Schicksalsdarstellung ihre Stelle; im Drama nur als episodische Nebenhandlungen. Es wird deshalb immerhin kein Mißbrauch des Wortes sein, solche Handlungen, wie das ja allgemein üblich ist, noch „tragische“ zu nennen, weil sie die eine der beiden tragischen Grundempfindungen, das Mitleid in der besonderen Form der „ Rührung “ in hohem Grade erwecken. Diesem allgemeineren Sprachgebrauch folgend, wird man z. B. den Untergang Rüdigers von Bechlaren, eine Handlung, die den geschilderten Fall in vollkommenster Reinheit darstellt, mit Recht „tragisch“ nennen dürfen. Als Stoff für eine Tragödie ist sie, abgesehen von den früher in anderm Zusammenhange Vgl. oben S. 346. entwickelten Gründen, auch deswegen ungeeignet, weil der Faktor der tragischen Furcht durch ihre dramatische Bearbeitung nicht in die Bewegung gesetzt werden kann, welche die Tragödie verlangt. Als ein Beispiel dafür, wie eine solche Handlung als episodische Nebenhandlung in einer Tragödie wirkt, kann der Konflikt gelten, in welchem Schiller seinen Max Piccolomini in „Wallensteins Tod“ einen heroischen Tod suchen läßt; doch hat der Dichter in genialer Vertrautheit mit dem dramatischen Grundgesetz, welches den leidenschaftlichen Charakter der Entschließungen verlangt, Sorge getragen, die Reinheit dieses Aktes der Selbstopferung, ähnlich wie bei seinem Marquis Posa, durch eine Beimischung jugendlich ungestümer, wenn auch edler Lebensverachtung geflissentlich zu trüben. Für die Tragödie brauchbar gemacht wird ein solcher „Konflikt der Pflichten“ immer erst, sofern er ein Mittel ist, die „ Hamartie “ des Helden, den Fehl, den Jrrtum, die Verirrung des Handelnden, als mit dem ihn unverdient treffenden furchtbaren Leidensgeschick in enger Verbindung stehend aufzuzeigen: mag nun dieser Konflikt eben durch die Hamartie erst geschaffen sein, wie im Falle des Coriolan, oder mag er durch die Hamartie erst seine Wendung zum Verderblichen erhalten, wie im Falle der Antigone. Die tragische Hamartie ihres Geschlechtes, der θυμὸς ὀξύς , der rasche, heftige Sinn, hat sich auf diese echte Tochter des vom Schicksal zerschmetterten, aber in seinem stolzen Starrsinn ungebeugten Fürsten vererbt. Daher gewinnt der Fluch ihres Hauses auch Gewalt über sie, aber nicht ohne daß in der Schlußkatastrophe der großen Labdakidentragödie ihr Untergang über alle in die Schuld derselben Verwickelten die rächende Vergeltung verhängt. Das Mitleiderregende ist, daß die Unschuldige das unselige, aus Unglück und Frevel gewobene, Jammergeschick ihres Geschlechtes büßen muß ─ πατρῷον δ' ἐκτίνεις τιν' ἆθλον klagt der Chor mit ihr ─; das Furchterweckende ist die Hamartie, durch welche die Hohe, Reine irretretend in den geöffneten Schlund des Unheils hinabstürzt. Seltsam ist es, daß die Stelle, wo der Dichter diese doppelte Auffassung in klaren Worten den Chor hat aussprechen lassen, von den Kommentatoren und Übersetzern verwischt und verdorben ist. Es sind die Verse des Wechselgesanges zwischen Antigone und dem Chore (853─856): προβᾶσ' ἐπ' ἔσχατον θράσους ὑψηλὸν ἐς Δίκας βάθρον προςέπεσες, ὦ τέκνον, πολύ . πατρῷον δ' ἐκτίνεις τιν' ἆθλον . Donner übersetzt in Übereinstimmung mit der geltenden philologischen Tradition: „Vorschreitend bis zu des Trotzes Ziel, Stießest du an Dikes hohen Thron Gewaltig an, verwegenes Kind! Du kämpfst wohl aus den Kampf der Ahnen.“ Mit Recht bemerken Schneidewin und Nauck, die diese Auffassung im Übrigen teilen, daß dabei das πολύ sinnlos wird, und wollen es durch Konjektur beseitigen; zudem ist aber auch die Verbindung προςέπεσες ἐς ὑψηλὸν Δίκας βάθρον sprachlich schwer, wenn nicht unmöglich glaubhaft zu machen. Die Grundbedeutung von προςπίπτειν „herabfallen“, genauer „ davor, daneben niederfallen “ widerstrebt dem Bilde, daß dieser „Fall“ „ auf “ den „ hohen “ Standort (eigentlich βάθρον == „ Fußgestell “ einer Statue) der Dike stattfinden sollte, so sehr, daß selbst die übertragene Bedeutung des Verbums im Sinne von „anfallen“, „gegenstoßen“ nicht statthaft sein dürfte. Was aber die Hauptsache ist und die Gesamtauffassung der ganzen Tragödie angeht, ist dieses: es entstellt den Sinn der Handlung völlig, die Vergehung der Antigone gegen das fürstliche Gebot, wobei sie sich in Übereinstimmung mit allen göttlichen und menschlichen Gesetzen befindet, als einen „gewaltigen Anstoß“ gegen Dikes „hohen Thron“ aufzufassen, ebenso ist die Bezeichnung des ἔσχατον θράσους == „des äußersten Trotzes“ oder „der äußersten Verwegenheit“ für diese Vergehung unzutreffend. Dagegen ergibt sich die einfachste, durchweg aufs beste passende Wortverbindung und zugleich der schönste Sinn, wenn man das ὑψηλὸν ἐς Δίκας βάθρον appositionell oder zeugmatisch zu dem ἐπ' ἔσχατον θράσους hinzunimmt, sodann Diese Wiedergabe ist der philiströsen Auffassung entsprungen und leistet ihr Vorschub, daß Antigone durch „Verletzung des Gehorsams gegen die Obrigkeit“ eine „ Schuld “ auf sich geladen habe, daß die irrige Haltung, die sie in Verfolgung des gerechtesten, edelsten Zieles einnimmt, eine schwere Versündigung gegen die Dike, die Vertreterin der göttlichen Gerechtigkeit, einschlösse. Das Gegenteil sagt der Chor: Zum äußersten des kühnen Mutes Vorschreitend auf Dikes hohen Stand, Abstürztest du, Kind, zu tiefem Fall. Du büßest alte Schuld der Väter. Der Chor rühmt den kühnen Sinn, der es unternahm, der verletzten Dike ihre Gebühr zu schaffen, ja an ihrer Stelle selbst auf die erhabene Stufe zu treten ( ὑψηλὸν βάθρον ), von der herab sie ihres Amtes waltet; aber zugleich gedenkt er der Gefahr so hoch gewählten Standes, wo ein falscher Tritt den jähen Sturz bringt. Das so mächtig zu Furcht und Mitleid Bewegende in dem Fall der Antigone ist, daß ihr Charakter sowie ihr Geschick sie fast unwiderstehlich zu dem Fehler treiben, der sie verdirbt. Jhr frommer, edler Sinn, durch eine Kette der grausamsten Leiden so schwer geprüft und so hart gestählt, ist nun zum äußersten empört: sie weiß gegenüber einem frevelhaften Verbot sich eins mit den ewigen Gesetzen der Götter und zögert nicht, dem strengen Gesetz mit offener Gewalt Trotz zu bieten. Wer wollte sie um dieses schönen Ungestüms willen tadeln, das mit der Größe ihres herrlichen Wesens untrennbar verbunden ist! Aber von einem Konflikt der Pflichten, in welchem die eine Pflicht die andere ausschließt, kann hier nicht die Rede sein. Wohl gebietet die Pflicht ihr, den Bruder nicht unbestattet προςέπεσες absolut auffaßt und im eigentlichsten Sinne des Verbums übersetzt: „du fielest daneben nieder “ (wie sonst in Verbindung mit γόνυ oder βωμοῖσιν oder auch mit dem Dat. oder Accus. der Person == „davor“ oder „daneben“ niederfallen). Die wörtliche Übersetzung lautet dann: „Jndem du zu der äußersten Kühnheit vorschrittest, bis auf das hohe Fußgestell der Dike“ ─ d. h. also: zu dem Äußersten der Kühnheit vorschrittest, dieses Fußgestell zu besteigen, dich selbst auf die hohe Stelle des Standbildes der Göttin zu erheben, selbst des Amtes der Dike zu walten ─ „stürztest du neben demselben herab, πολύ weitab, um ein Bedeutendes.“ Das Bild des Sturzes von dem hohen Piedestal, das sie in hohem, kühnen Mute einzunehmen sich vermaß, ist ebenso schön in sich geschlossen als höchst ausdrückend für die Situation: sie getraute sich des Höchsten, in offenem Kampf gegen die Herrschergewalt das Amt der Dike, des göttlichen Rechtes, zu vertreten: dabei fiel sie! Dieses „ Abstürzen “ drückt zugleich objektiv den völligen Mißerfolg aus und subjektiv die Hamartie der Antigone. den Vögeln zum schmählichen Raube zu lassen: aber für ein ruhig besonnenes Handeln stand ihr der Weg offen, nur freilich daß solche ruhige Besonnenheit von der in gerechtem Zorn leidenschaftlich Entflammten, vom härtesten Unglück unablässig Verfolgten nicht erwartet, noch weniger verlangt werden kann! Der eigene Sohn des Gegners, die gesamte Bürgerschaft, der gerade in diesem Falle übermächtige Einfluß der Priesterschaft, des göttlich verehrten Sehers, alle diese Bundesgenossen stehen ihr zur Seite; und was das Ansehen des Teiresias vermag, zeigt gleich die folgende Scene. Auch in dieser Hinsicht findet sich das Urteil des Chors über das Verhalten der Antigone klar und bestimmt ausgesprochen, wenn nur die feinabgewogenen Worte richtig gefaßt werden (V. 871─875): σέβειν μὲν εὐσέβειά τις , κράτος δ' ὅτῳ κράτος μέλει παραβατὸν οὐδαμᾷ πέλει , σὲ δ' αὐτρ́γνωτος ὤλεσ' ὀργά . Schön ist's zu üben frommen Sinn, Doch des Gewalt dem Gewalt gebührt Verachten, nimmer ist's wohlgethan, Dich trieb der Zorn ins offene Unglück. Es ist der „hohe und rasche Sinn“, der sie unbekümmert von Furcht, ohne Zaudern, ja mit leidenschaftlicher Begier nach der Gefahr den kürzesten, aber verderblichsten Weg wählen läßt. Derselbe Sinn ist es dann, der, da die schlimmen Folgen ihrer That sich schnell vollziehen, sie, wie einst ihren Vater, an den Göttern verzweifeln läßt. Jn solcher Verzweiflung gibt sie sich selbst den Tod und vereitelt somit eben durch die verhängnisvolle Hamartie, die ihr Stammeserbteil ist, die vom Geschick ihr zugedachte Rettung. Auch hier ist die entscheidende Apostrophe der Antigone wieder durch die herkömmliche Jnterpretation abgeschwächt, namentlich wird die schneidende Jronie, mit der sie das ihr zur Last gelegte Verschulden dem ihr zugefügten Unrecht vergleicht, in das Gegenteil verkehrt (V. 922─928): τί χρή με τὴν δύςτηνον ἐς θεοὺς ἔτι βλέπειν ; τίν' αὐδᾶν ξυμμάχων ; ἐπεί γε δὴ τήν δυσσέβειαν εὐσεβοῦσ' ἐκτησάμην . ἀλλ' εἰ μὲν οὖν τάδ' ἐστὶν ἐν θεοῖς καλά , παθόντες \̓αν ξυγγνοῖμεν ἡμαρτηκότες· εἰ δ' οἵδ' ἁμαρτάνουσι, μὴ πλείω κακὰ πάθοιεν \̓η καὶ δρῶσιν ἐκδίκως ἐμέ . Wie soll ich Unglücksel'ge zu den Göttern noch Den Blick erheben? Wo um Hülfe flehn? wenn ich Die Götter fürchtend Gottesfrevels schuldig bin. Jst vor den Göttern das gerecht, so sollen wir Wohl erst im Tod' erfahren, was wir fehlgethan! Doch fehlen diese: daß sie nur nicht Schlimmeres Erdulden als sie widerrechtlich thun an mir! Darin liegt nicht ein Widerruf des Mißtrauens gegen die Götter, Bereitschaft sich ihrer, wenn auch unverstandenen Schickung zu fügen und versöhnliche Stimmung gegen den Feind, von dem sie Unrecht leidet, wie man das alles in diesen Versen gefunden hat, sondern der herbste Verzicht auf menschliche und göttliche Gerechtigkeit und in verhüllter Form Wunsch und Drohung schwerster Vergeltung. Das alles kann ja nicht dem groben Mißverstand dienen, daß dadurch das Schicksal der Heldin als ein verdientes erschiene, womit es aufhören würde, tragisch zu sein, aber es erfüllt die tragische Grundbedingung, daß sich dem tragischen Mitleid die tragische Furcht geselle, und zwar so, daß zwischen beiden jenes Gleichgewicht, aus welchem allein die Katharsis hervorgehen kann, vorbereitet wird. So vollzieht sich jeder Fortschritt der Handlung bis zu dem voreilig selbstgewählten Tod der Antigone in strengster Konsequenz ihrer Situation und ihres Charakters. Aber wenn irgendwo, so lassen sich hier die Gesetze der tragischen Katharsis klar erkennen: mit der einfach ethisch=tragischen Entwickelung der Handlung bis zu diesem Punkte könnte die Tragödie unmöglich abschließen, ohne daß das Mitleid mit dem unverdienten Leiden der Antigone die durch ihre Hamartie erzeugte Furcht bedeutend überwöge! Der Totaleindruck, mit dem sie ihr Werk vollendete, wäre doch der des herzzerschneidenden Jammers; die Handlung wäre tragisch unvollständig! Um die Symmetrie der Furcht mit dem Mitleid vollends herzustellen, bedarf es der Weiterführung der Handlung über den Tod der Heldin hinaus, bedarf es der furchtbaren Verwickelung, die in dem einfachen Vollzug der Haupthandlung nach den unerbittlichen Schicksalsgesetzen eingeschlossen ist, an deren ewig gleicher Gerechtigkeit der leidenschaftliche Sinn der Heldin mit Unrecht verzweifelte. Das tiefen Mitleids würdige Leiden der Antigone zeigt sich als furchtbar für Kreons ganzes Haus, ihm selbst für immer glückzerstörend! Den Hörer entläßt das Stück von den kathartisch geläuterten tragischen Empfindungen im Jnnersten durchdrungen: von der hohen Furcht der Götter und dem reichen Mitleid mit dem Menschen, der irrend in dem unaufhaltsamen Getriebe der großen göttlichen Ordnungen dem Leidensschicksal anheimfällt. Vielleicht ist es nun möglich, in wenigen Worten das klar zu legen, was oben als die Schwäche von Lessings Mustertragödie, der „ Emilia Galotti “ bezeichnet wurde. Mit bewunderungswürdiger Meisterschaft ist in dieser auf das feinste angelegten Charaktertragödie alles erfüllt, was Lessing von dieser Gattung verlangt: ihre Wirkung ist ganz und gar auf die Erregung des tragischen Mitleids angelegt, von der Furchtwirkung ist ihr gerade nur so viel zuerteilt, als erforderlich war, um das reine Mitleid überhaupt zustande kommen zu lassen; dagegen ist von den Mitteln die tragische Furcht als selbständige Empfindung hervorzurufen darin kein Gebrauch gemacht, weil Lessing die Bedeutung der tragischen Furcht nicht erkannte. Es ist in dem Stück erstlich die tragische Hamartie der Heldin viel zu schwach; daher fehlt ihrem Geschick die Allgemeinheit, welche die Vorstellung desselben furchtbar macht; zweitens: wenn schon die Art, wie sie rein äußerlich, durch eine zufällige Unterlassung, Anteil an dem sie betreffenden Unglück erhält, nur mitleiderweckend, nicht furchterregend sein kann, so gilt dies noch mehr von ihrem freiwillig gewählten Tode, der nicht durch die Gewalt der Umstände herbeigeführt, sondern durch seltene Besonderheit ihres Charakters motiviert wird. Endlich ist die Tragödie unvollständig, weil sie sich begnügt, das mitleidswerte Opfer der Handlung vorzuführen ohne die andere, die furchtbare, Seite des hier thätigen Geschickes zu zeigen: das Gemüt wird durch schmerzliche Rührung erweicht, ohne durch die Vorstellung der Schicksalsübergewalt erschüttert, auf sich selbst geführt und zu der Höhe lebhafter und zugleich harmonisch in sich beruhigter, allseitig thätiger Schicksalsempfindung erhoben zu werden. Eben jedoch, weil dieser dritte Mangel aus dem zweiten notwendig, gewissermaßen organisch, sich entwickeln muß, weil die unzureichend motivierte Katastrophe der Heldin auch die Wendung der Gesamthandlung zu einem furchtbaren Abschluß entbehrlich machen muß, deshalb fehlt der Lessingschen Tragödie, die uns zur überwältigenden Sympathie hinzureißen vermag, mit der tragischen Größe ein unentbehrliches Attribut ihrer Gattung. Lessing hat die Hamartie seiner Heldin so fein angelegt und so äußerst schwach betont, daß es einer sehr genauen Prüfung des Stückes bedarf, damit sie überhaupt mit Sicherheit erkannt werde; dieser Umstand ist es ohne Zweifel, der die Kritik auf die Vermutung brachte, Lessing habe sich die Handlungsweise seiner Emilia als von einer in ihrem Herzen aufkeimenden Leidenschaft für den Prinzen bestimmt gedacht, deren sie sich zwar nicht bewußt, von deren dunkler Gewalt aber jene sonst schwer zu erklärende Furcht ausgehe, die sie in den Tod treibt. Das Stück bietet für diese willkürliche Konjektur keinerlei An= halt, mehrere sehr bedeutsame Äußerungen Emilias sprechen sogar entschieden dagegen; die von Riemer mitgeteilte Äußerung Goethes über diesen Punkt bestätigt, daß im Stücke eine bestimmte Andeutung derart vermißt werde. Wenn Goethe dennoch sich jener Annahme zuneigte, so zeigt dies um so klarer, daß er die That der Emilia für unzureichend motiviert erachte, obwohl, wie aus einem seiner Briefe an Herder hervorgeht, S. „Aus Herders Nachlaß“, Bd. I, S. 43. er die von Lessing dem Stücke zu Grunde gelegte genaue Rechnung völlig überblickte. Die Hamartie der Emilia besteht, wie von Kuno Fischer scharfsinnig dargelegt ist, S. Kuno Fischer: „G. E. Lessing als Reformator der deutschen Litteratur“ (Stuttgart, J. G. Cotta, 1881), Bd. I, S. 230 ff. und S. 248 ff. lediglich darin, daß sie gegen die eigene richtige Eingebung sich von ihrer Mutter davon abbringen läßt, ihrem Bräutigam die Begegnung mit dem Prinzen in der Messe sofort mitzuteilen; die Kenntnis davon würde den Grafen gewarnt, den Plan Marinellis durchkreuzt und das Unheil vorderhand wenigstens verhütet haben. Nun geht alles seinen verhängnisvollen Gang und zwar so, daß sie sich die Schuld an des Grafen Tode beimißt: „Und warum er tot ist! warum! “ Das ist genug, um den Schmerz über ihr Unglück sehr zu verschärfen, aber nicht genug, um ihren Selbstmordsvorsatz zu erklären. Auch hat Lessing offenbar es geflissentlich vermieden, die Motivierung ihrer That in diesem Lichte erscheinen zu lassen: er hat weder ihrer Liebe zum Grafen Appiani den leidenschaftlichen Charakter, noch ihrem Schmerz über jene Unterlassung den heftig sich vordrängenden Ausdruck geliehen, die dazu erforderlich gewesen wären. Er hat also selbst das Motiv dieser Hamartie nicht für ausreichend stark gehalten, um es zum Träger der Handlung zu machen; es läuft nur das Hauptmotiv verstärkend nebenher: dieses Hauptmotiv hat er in die kunstreiche Komposition des Charakters seiner Heldin gelegt, aus dem allein die Notwendigkeit dieses Ausganges der Jntrigue resultiert. Das ganz singulär Eigenartige dieser hohen und edlen Mädchennatur ist, daß, ähnlich einem überspannten Ehrgefühl in einer edlen Mannesseele, das Gefühl der Reinheit sie in solcher Stärke und Reizbarkeit erfüllt, daß eine nur von außen ihm widerfahrende Trübung genügt, um es zum ausschließlich herrschenden, jede andere Empfindung verdrängenden werden zu lassen: daß die Welt auch nur den Angriff gegen dieses Heiligtum unternimmt, reicht hin, um ihr die Welt und das Leben zu verleiden. Daher die einzigartige Mischung von unbefangener, durch die Leidenschaft noch nicht zur Selbständigkeit entfalteter Kindlichkeit, die sich ganz der elterlichen Leitung vertraut, und einer bis zur Sophistik schwärmerischer Grübelei sich steigernden, bewußten Hingebung an die Jdee der höchsten sittlichen Reinheit, die sie in einem Moment aus „der Furchtsamsten“ zu „der Entschlossensten ihres Geschlechts“ umzuwandeln fähig ist. Eines solchen Charakters bedurfte Lessing als des stärksten Gegensatzes gegen die dissolute Lüsternheit des für die Eindrücke des Edlen sonst nicht unempfindlichen Prinzen, um dem Attentate desselben den tragischen Ausgang zu geben, wie er ihn nun dem Stoffe geben wollte. Eine Änderung dieses Charakters, die den freien Anteil der Heldin an der Katastrophe vermindert hätte und dafür das Maß der gegen sie gübten Gewaltthätigkeit hätte verstärken müssen, würde es dem Dichter unmöglich gemacht haben, die altrömische Virginia-Fabel von der Größe ihres historisch=politischen Hintergrundes loszulösen; es wäre damit die Fortführung der Handlung bis zur Erfüllung der furchtbaren Konsequenzen der fürstlichen Gewaltthat in ihrem ganzen Umfange notwendig geworden: eine völlig veränderte Anlage der ganzen Komposition! Man kann daher diesmal dem eigenen Urteil Lessings über sein Werk nicht zustimmen, wenn er an seinen Bruder schreibt: „Weil das Stück Emilia heißt, ist es darum mein Vorsatz gewesen, Emilien zu dem hervorstechendsten oder auch nur zu einem hervorstechenden Charakter zu machen? Ganz und gar nicht.“ Ob „hervorstechend“ oder nicht, und ob „mit Vorsatz“ oder ohne denselben: der Charakter Emiliens ist das Resultat der Umformung, die Lessing mit dem antiken Fabelstoff vornahm, und nach diesem Charakter hat er alle übrigen geformt. Um seinetwillen hat er dem Prinzen eine von Hause aus dem Edlen und Geistigen zugewandte Natur erteilt, die durch Willensschwäche und den gefährlichen Genuß willkürlicher Macht entartet ist. Aus dem gleichen Grunde hat er die Jnitiative des Verbrechens in die Seele eines diabolischen, von jeder Art der Niedrigkeit angetriebenen Verführers gelegt. Ganz und gar durch das Bestreben, den Charakter Emiliens zu exponieren und ihre That als möglich erscheinen zu lassen, ist die Erfindung der Charaktere Claudias, Odoardos und Appianis bestimmt. Die gutmütig=beschränkte, kleinlich=alltägliche Gemütsart der Mutter ist rechtschaffen und tüchtig genug, um die uneingeschränkte Hingebung der Tochter an ihre Leitung zu sichern, aber weder hochsinnig noch einsichtig genug, um auf ihr innerstes Denken einen bestimmenden Einfluß zu gewinnen, noch weniger das Gefährliche ihrer schwärmerischen Anlage zu erkennen und ihm besonnen zu begegnen. Sie begnügt sich, solche Anlässe zu vertuschen und im Übrigen die Tochter auf das Hülfsmittel eifriger Religionsübungen zu verweisen, die jene Anlage noch verstärken müssen. Mit welcher virtuosen Meisterschaft hat Lessing gleich das erste Auftreten Emiliens benutzt, zugleich die Handlung wesentlich weiter zu führen und in diese ganzen Verhältnisse den klarsten Einblick zu gewähren! Die Art, wie Emilia hier geschäftig ist, die Störung ihrer Andacht durch die leidenschaftlichen Anträge des Prinzen sich selbst zum schweren Vorwurf, ihre natürliche Verwirrung, ihr fassungsloses Verstummen sich zum Vergehen zu rechnen, ist einzig und allein vermögend, ihre spätere Haltung in der Katastrophe zu erklären. Kann etwas die für den Verkehr mit der Welt so verhängnisvolle Anlage der Emilia noch bestärken ─ und mit einer so verderbten Welt, wie sie dieser kleine Hof mit seiner durch und durch vergifteten Atmosphäre darstellt ─, so ist es die unzugänglich rauhe Heftigkeit des Vaters, eng verbunden mit dem überstolzen Hochsinn seines Ehrgefühls, dieses Odoardo, den die Weisheit des Dichters mit allen Zügen ausstattete, um seine Tochter als die Erbin seines Geistes, ganz nach seinem Vorbilde zu denken und zu empfinden gewohnt, erscheinen zu lassen. Noch ein anderes Motiv hat Lessing wirksam gemacht, um jene Hyperästhesie des sittlichen Bewußtseins, die für die That Emiliens der treibende Faktor wird, erklärlich erscheinen zu lassen: es ist die weltfremde Zurückgezogenheit, in welcher sie Odoardos Strenge und seine Mißachtung des prinzlichen Hofes fast während ihres ganzen Lebens erhalten hat. Gerade dadurch, daß die inkonsequente Nachgiebigkeit des Vaters gegen den Wunsch ihrer Mutter sie zuletzt in jene glänzenden und durch das Laster angefressenen Gesellschaftskreise einen kurzen, aber erschreckenden Einblick hat thun lassen, werden die Wirkungen der Vereinsamung, in der sie erzogen wurde, noch sehr bedeutend verstärkt. Die wenigen Züge, mit denen der Dichter den Grafen Appiani ausgestattet hat ─ so meisterhaft jedoch, daß sie ein volles Bild dieses edlen Charakters gewähren ─, sind ganz in der Absicht erfunden, jene schwärmerische Neigung in Emiliens Wesen zu nähren. Jn allem übrigen ihrer und Odoardos Natur ganz gleich, der Mann nach ihrem Herzen und nach seinem Sinn, hat er noch dazu einem stark ausgeprägten Hang zur Schwermut in sich Raum gegeben, der in das bisher sorglos unbefangene Naturell der Braut schnell sich übertragen hat. So fehlt nichts in dem dramatischen Kalkül: die innere wie die äußere Motivierung ist lückenlos, alles drängt mit vereinter Kraft zu dem tragischen Ausgang. Das ändert aber nichts an der nicht zu leugnenden Thatsache, daß dieser Ausgang objektiv schlechterdings nicht notwendig ist, daß er einzig und allein aus einer seltenen Singularität in Emiliens und in Odoardos Charakter erklärlich wird. Die Gesinnung, aus der sie beide handeln, „daß das Leben das Einzige sei, was die Lasterhaften haben,“ während sie selbst es willig, ja achtlos dahingeben, wäre großartig, wäre moralisch erhaben, wenn die Umstände gebieterisch dieses Opfer verlangten. Nichts kann aber die scharfe Beobachtung ebenso wie das natürliche Gefühl darüber hinwegtäuschen, daß der entscheidende Grund für die Darbringung dieses Opfers ein Sophisma ist! Dies ist der schwache Punkt des Stückes und es ist der Angelpunkt desselben! Odoardo. „Jch ward auch so wütend, daß ich schon nach diesem Dolche griff, um einem von beiden ─ beiden! ─ das Herz zu durchstoßen. Emilia. Um des Himmels willen nicht, mein Vater! ─ Dieses Leben ist alles, was die Lasterhaften haben. ─ Mir, mein Vater, mir geben Sie diesen Dolch. Odoardo. Kind, es ist keine Haarnadel. Emilia. So werde die Haarnadel zum Dolch! ─ Gleichviel. Odoardo. Was? Dahin wäre es gekommen? Nicht doch, nicht doch! Besinne dich. ─ Auch du hast nur ein Leben zu verlieren. Emilia. Und nur eine Unschuld! Odoardo. Die über alle Gewalt erhaben ist. Emilia. Aber nicht über alle Verführung. ─ Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. ─ Jch habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Jch stehe für nichts. Jch bin für nichts gut. Jch kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde da, unter den Augen meiner Mutter ─ und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten. ─ Die Religion! Und welche Religion? ─ Nichts Schlimmeres zu vermeiden, sprangen Tausende in die Fluten und sind Heilige! ─ Geben Sie mir, mein Vater, geben Sie mir diesen Dolch.“ Diese Stelle zumeist hat die Hypothese von Emiliens unbewußter Liebe zum Prinzen hervorgerufen, denn diese allein würde ihre Befürchtung erklären, ─ wenn sie ernstlich wäre! Es gibt freilich eine Auffassung, die sie auch ohne jene Annahme für ernstlich gemeint ansieht und obenein in dieser Wendung den gesunden Realismus des Dichters, seine unbestechliche Beobachtung der Wahrheit bewundert. Aber das hieße nicht allein an Lessings Edelsinn zweifeln, was schwer zu verzeihen ist, sondern seine Einsicht in Frage stellen, was gar nicht zu verzeihen wäre: eine Unsicherheit seiner Heldin in diesem Punkte würde ihren Charakter aufheben und damit das ganze Stück über den Haufen werfen. Nicht die Furcht, sich selbst zu verlieren, läßt Emilia den Tod so begierig suchen ─ diese fleckenlose Natur würde keiner Art der Verführung erreichbar sein, auch ohne das furchtbare Ereignis, unter dessen Eindruck sie steht, auch ist der Charakter ihres Bedrohers so angelegt, daß vor dem Adel dieser reinen Seele sein schlimmes Gelüste die Angriffskraft verlieren würde ─, ihr Lebensüberdruß entspringt aus dem verwirrten Tumult ihrer Seele, aus dem namenlosen, starren Entsetzen über den unerhörten Einbruch in die heilige Welt ihres sittlichen Empfindens. Aber das ganz Singuläre ihres Wesens ist, daß das Resultat nicht stolze Empörung ist, nicht Aufraffung zur Abwehr, nicht Umblick nach Rettung, sondern glühende Scham aus dem Gefühl frevelhafter Antastung und nur das eine brennende Verlangen, der abermaligen Berührung mit dem Laster zu entfliehen, die sie wie eigene Verschuldung empfindet. Das „Und warum er tot ist! warum!“ entspringt nicht allein dem quälenden Bewußtsein, jene rechtzeitige Mitteilung an den Grafen unterlassen zu haben, sondern weit mehr noch der verzweifelten Gewißheit, daß der Reiz ihrer Schönheit die Ursache seines Todes ist: diesen Reiz fürchtet, verabscheut sie nun wie etwas, wodurch ihre Reinheit in die Gemeinschaft mit dem Sündigen hineingezogen ist, was zwischen ihr und ihrer Seele steht, so daß sie sich selbst nicht mehr vertrauen mag, daß sie nur den einen leidenschaftlichen Wunsch hat, den Körper zu zerstören, um wie ihre „Heiligen“ das reine innere Leben zu retten. Aus solcher ungestümen Schwärmerei fließen ihre Worte und ─ noch aus einem zweiten: es gibt keinen sophistischeren Advokaten als die schwärmerische Leidenschaft; um den Vater zur Einstimmung fortzureißen, wählt sie die Gründe und gibt ihnen gerade den, wie soll man sagen, geradesten, durch seine Unumwundenheit aufreizendsten, Ausdruck, der der Erreichung ihrer Absicht, ihrer krankhaften Sehnsucht am förderlichsten ist. Und der Vater? ─ der sie vor sich selbst schützen sollte, mit Aufbietung seiner ganzen moralischen Kraft sie zur Besinnung bringen? ─ er übernimmt selbst die grausige Vollziehung, überwältigt von demselben Sturm der Empfindung, der, nur von einer andern Seite her aufgesprungen, ihn demselben Strudel zutreibt! Damit hat diese erschütternde, unnennbare Rührung erweckende, Tragödie ihr Ende. Und mit vollem Recht! Hier ist kein Platz mehr für weitere Katastrophen. Die Opferung Emiliens und Odoardos geschieht in der bestimmt ausgesprochenen Absicht, daß die Strafe des Prinzen in dem zerschmetternden Bewußtsein seiner reuigen Zerknirschung liegen soll, sie wird dem höheren Richter überlassen. Es scheint, Lessing habe die Empfindung gehabt, der Prinz käme mit einem kurzen Dolchstoß des erzürnten Vaters zu wohlfeil fort; es läge eine nachhaltigere Wirkung darin, wenn die Anklage über ihm schwebend bliebe und die Vergeltung in die drohende Zukunft eines Lebens voll Qual verlegt würde, wogegen ein blutiger Tod fast als eine Absolvierung gelten könnte. Diese Erwägung ist unzweifelhaft richtig; die Tragödie Lessings, wie sie ist, duldet keine Änderung. Aber der Fehler steckt in der Anlage, wonach er das großartige Virginia-Motiv auf eine Familientragödie reduzierte und nur die mitleidswürdige Seite desselben herausarbeitete, während er die furchtbare vorsätzlich zurücktreten ließ. Gewiß erweckt der willkürliche Racheakt eines einzelnen Menschen bei weitem nicht die Vorstellung von der Furchtbarkeit der Schicksalsgewalt, als wenn, wie in der Antigone, wir diese Gewalt gewissermaßen selbst handelnd auftreten sehen, wenn wir gewahren, wie eine unsichtbare höhere Macht den Frevelnden durch seine eigenen Entschließungen zu dem seinen Absichten am weitesten entgegengesetzten Ziele führt. Deshalb bestand umgekehrt die Aufgabe für diesen Stoff darin, die Kraft seiner Wirkung auf die Furchtbarkeit der darin sich vollziehenden Peripetie zu gründen, der zur Vollendung der echten tragischen Katharsis „symmetrisch“ die mitleidige Rührung sich hinzugesellen mußte über unverschuldetes, aber durch leichte Hamartie veranlaßtes Leiden. Lessing basierte seine Tragödie allein auf die letztere; aber es fehlt ihr die Kraft, die Furchtempfindung ebenbürtig zu erwecken, weil hier die tragische Katastrophe selbst die Hamartie darstellt, statt durch die Hamartie unvermeidlich herbeigeführt zu werden. Der am letzten Ende alles entscheidende Entschluß Odoardos beruht auf einem starken Verstandesirrtum, den Lessings Kunst begreiflich zu machen wußte, der aber unter allen denkbaren Hamartien die geringste Kraft besitzt, die tragische Furchtempfindung in Bewegung zu setzen, da die Vorstellung der Unvermeidlichkeit, also der Allgemeinheit des damit verbundenen Geschickes, dabei am schwächsten mitgeteilt wird. Selbst wenn Odoardo in dem Glauben war, daß seiner Tochter Ehre unrettbar dem Prinzen preisgegeben war ─ ein Glaube, der, an sich irrtümlich, wohl allenfalls durch die sophistische Selbstanklage Emiliens in ihm momentan erregt werden konnte ─, so hatte er mit seinem Entschluß, durch eine Gewaltthat, bei der er sich selbst opferte, das Netz zu zerreißen, noch immer die Wahl den Prinzen zu töten und die Tochter zu befreien. Dieser Ausweg war der in jeder Beziehung zunächst liegende: der für die Leidenschaft natürlichste, der den Gerechtigkeitssinn minder verletzende, der weniger grausame; nur die seltsame Verbindung von jäher Hitze und moralischer Skrupulosität, die Lessing eigens für diesen Zweck komponiert hat, konnte diese herzzerreißendste aber auch künstlichste Lösung annehmbar machen. „Die Zeit in der Tragödie ist furchtbar, wie das Schicksal selbst,“ sagt Kuno Fischer, A. a. O. S. 257. „und ich kenne kein Trauerspiel, worin mir diese Furchtbarkeit so eingeleuchtet hätte, wie hier, keines, worin jede Handlung und jede Unterlassung so wie hier an ihren Zeitpunkt gekettet wäre. Dies gilt auch von dem Moment, worin Emilia den Entschluß zu sterben faßt; auch von dem Augenblick, worin Odoardo sie tötet. Dadurch wird die Notwendigkeit der Handlungen nicht abgemindert, sondern in Wahrheit erst vollendet.“ Darin liegt ein sehr schwerer Jrrtum. Eine jede unglückliche Übereilung wird durch den Moment, an den sie gekettet ist, psychologisch erklärlich; sie wird sicherlich, je mehr sie das ist, um so beklagenswerter sein, aber in demselben Maße, als das Mitleid durch die Erwägung wächst, daß nur der Moment, und zwar nur für einen ganz eigenartigen Charakter, den unglücklichen Entschluß verschuldete, wird naturgemäß die Furcht, d. h. die Vorstellung, daß das durch diesen Entschluß bedingte Schicksal als ein allgemein vorauszusetzendes, unvermeidliches zu gelten habe, abgeschwächt werden: eine solche That wird, je heftiger sie uus rührt, um so weniger furchtbar sein. Äußerungen wie die eben citierte Kuno Fischers bestätigen nur die Thatsache, daß auf diesem Gebiete eine schwer zu lösende Verwirrung herrscht, eine Verwirrung, die außer durch Lessings und Schillers irrtümliche Theorie zum großen Teil durch den nach dem Sprachgebrauch mit dem Wort „furchtbar“ verbundenen Sinn verschuldet sein mag. Wir sprechen von einem „ furchtbaren Unglück “, wenn jemand bei der Ersteigung des Matterhorns im Absturz zerschmettert wird, wenn auf offener See durch einen Schiffsbrand die Bemannung den Tod findet, oder wenn ein überführter Fälscher seine ganze Familie und sich selbst ums Leben bringt: und doch kann in keinem dieser Fälle von „ tragischer Furcht “ die Rede sein, während ein jeder derselben, in entsprechender Vollständigkeit dargestellt, unser Mitleid in hohem Grade in Anspruch nehmen wird. Die Lessingsche Erklärung der Furcht paßt auf jeden dieser Fälle, und der Sprachgebrauch ist auch in seinem vollen Rechte, sie „furchtbar“ zu nennen; alle diese Ereignisse sind danach angethan, unsere Furcht zu erregen, sobald wir uns vorstellen, sie beträfen uns selber. Es ist auch keine Frage, daß diese „Furchtbarkeit“ in dem Grade wächst als uns die Vorstellung des unglücklichen Ereignisses näher gerückt wird, d. h. je vollständiger, wahrheitsgetreuer sie uns vorgeführt wird, z. B. in einem Gemälde, einer epischen Schilderung: eine Nachahmung durch Handelnde, also eine dramatische, wenn sie möglich gemacht würde, müßte den höchsten Grad jener „Furchtbarkeit“ erreichen. Wie geschieht es nun, daß schon die bildliche oder epische Ausführung eines solchen Vorwurfs, wenn sie nicht Nebenwerk ist, sondern zum Hauptzweck gemacht wird, ein ästhetischer Mißgriff ist, weil sie uns wohl sensationell „impressionieren“ aber nicht künstlerisch erfreuen und erheben kann, daß vollends die dramatische Behandlung eines solchen Stoffes eine Monstrosität wäre? Die Antwort ist: weil diese Stoffe eben nur insoweit „furchtbar“ sind, als es zur Erregung des Mitleids erforderlich ist, da wir nur solche Vorfälle bemitleiden können, die unsre Furcht erregen, sobald wir uns vorstellen, sie träfen uns selbst. Hier ist die Furcht in das Mitleid eingeschlossen! Zur Tragik ist aber erforderlich, daß wir die dargestellten Vorfälle uns so vorstellen! Das ist eine ganz neue, selbständige Forderung, deren Erfüllung von ganz anderen Faktoren abhängt, als die Aufgabe mitleidig zu rühren. Sie kann allein dadurch erreicht werden, daß, ganz abgesehen von dem materiellen Jnhalt des Dargestellten, die Art und Weise seines Vollzuges die Vorstellung eines über allen, also auch über uns, unentrinnbar waltenden Schicksals so unmittelbar dem innern Sinne gegenwärtig macht, daß sie uns zugleich vor seiner Macht erzittern und sie verehrend anerkennen läßt. Diese Empfindung ist der kathartische Phobos des Aristoteles, die reine tragische Furcht. Daß sie diese Empfindung so gewaltig in uns aufzuwecken vermögen, das macht die Größe der Tragödien des Äschylus und des Sophokles aus und ebenso der des Shakespeare! Wie schon früher Vgl. o. S. 270 ff. u. 427. in anderem Zusammenhange so zeigt sich hier wieder die „ Größe “ als ein unentbehrliches Attribut der tragischen Handlung, die im Verhältnis der Allgemeingültigkeit des durch die Handlung repräsentierten Schicksalsgesetzes wächst. Die Allgemeingültigkeit des dargestellten Schicksals vermag allein jene mit hoher Fassung verbundene Furcht hervorzubringen; aber der Begriff derselben verlangt die schärfste Begrenzung. Daß Schwäche, Vergehen, Verschuldung am letzten Ende unglückliche Folgen nach sich ziehe, ist zwar ein allgemeines Gesetz, aber die Nachahmung solcher „traurigen“ Schicksale kann furchterregende Geltung doch nur für die kleine Anzahl derer haben, die sich in einem dem dargestellten ähnlichen Falle befinden oder durch ihre Disposition sich einem solchen ausgesetzt fühlen. Zudem ist diese Furcht nur die Furcht vor der Strafe, ein untergeordnetes Surrogat freier, moralischer Empfindungsweise, und weder diese noch jene ist Wirkungszweck der Kunst. Solche sogenannten tragischen Sujets erwecken im besten Falle nur Mitleid, wie Lessings „Miß Sara“, weit häufiger aber wirken sie peinlich verstimmend, als unwillkommene Wiederholungen menschlichen Elends, wie Jfflands „Verbrechen aus Ehrsucht“; und zwar haben sie diese kunstwidrige Wirkung in um so höherem Grade, je realistisch „wahrer“ sie sind. Aber ebensowenig kommt jene Allgemeingültigkeit dem unglücklichen Schicksal zu, das bisweilen an Handlungen der reinsten Moralität sich knüpft; es ist der große Jrrtum der Schillerschen Theorie, daß sie das Wesen der Tragik gerade in solchen Handlungen erblickt, die mit dem Schmerz über das Leiden das überwiegende Vergnügen an der Moralität der handelnden Personen verbinden. Aber es ist kein allgemeingültiges Gesetz, daß mit solchen Handlungen solche Geschicke verknüpft sein müssen, sondern es ist ein singulärer Fall, wenn so etwas geschieht, welcher eine erhabene Rührung in uns erweckt über die Seelengröße, die um der Tugend willen den Schmerz sich erwählt, aber keineswegs die Furcht, daß die drohende Gewalt des hier sich vollziehenden Geschickes auch über uns schwebe. Es bleibt also nur der dritte Fall übrig: wenn das Leiden weder verschuldet sein darf, noch unverschuldet, so kann es nur ein solches sein, welches durch einen Fehler ursächlich veranlaßt wird. Nun ist aber nur großes, schweres Leiden für die tragische Handlung geeignet, weil nur solches Mitleid und Furcht in vollem Maße erwecken kann; damit jedoch ein Fehler, ein Jrrtum vermögend sei ein solches großes, schweres Leiden ursächlich zu veranlassen, dazu ist entweder die hervorragende Bedeutsamkeit der die Verwickelung bedingenden Verhältnisse erforderlich oder die seltene Kraftfülle der die Handlung tragenden Gemüter: also entweder heroische Situationen oder heroische Charaktere. Es kann aber keine Frage sein, daß die einen geeignet sind die andern hervorzubringen, beziehungsweise ihre volle Kraft zur Äußerung hervorzurufen. Nimmt nun das „ bürgerliche Trauerspiel “ seine Stoffe aus Epochen, in denen das Bürgertum in großartigen Verhältnissen sich kräftig wirksam zeigt, so kann es ohne Zweifel jenen Anforderungen genügen; es trägt dann aber seinen Namen mit Unrecht, weil er nichts zur Sache thut. Beschränkt es sich aber, seinem historischen Ursprung gemäß, auf die engen Kreise modernen bürgerlichen Familienlebens, so scheint die höchste Kunst nicht ausreichend, um es vor jener Einseitigkeit zu bewahren, in der es die Fähigkeit die rechte tragische Furcht zu erwecken einbüßt und bei aller Stärke des Mitleids, mit dem es uns rührt, doch einen Zug von Kleinlichkeit enthält. Auch die Tragik von Shakespeares „ Romeo und Julie “ und „ Othello “ bewegt sich ausschließlich auf dem Boden der Familienbeziehungen, aber es ist instruktiv zu gewahren, wie die Größe und Würde der Tragik in beiden Stücken schlechterdings daran geknüpft ist, daß der Dichter für seine heroischen Charaktere auch die entsprechenden Verhältnisse erfunden hat, in denen allein die ihrer dämonisch kraftvollen Natur anhaftenden Hamartien das „furchtbar“ Verhängnisvolle erhalten. Die Eifersucht eines „bürgerlichen“ Othello könnte durch keine Kunst an der Klippe des Genrehaften vorübergeführt werden; nur in dem Charakter und in der Situation des Mohren, wie Shakespeare sie dafür erschuf, erhielt sie die volle Gewalt der „furchtbar“ wirkenden Hamartie. Mit Recht sagt Lessing von „Romeo und Julie“, daß „die Liebe selbst an dieser Tragödie mitgearbeitet habe“; aber das Tragische dieser Liebe liegt nicht in der Urgewalt, mit der sie sich der Seelen der beiden bemächtigt oder der alles überwindenden, reinen Größe, mit der sie fortan in ihnen, sie ganz ausfüllend, herrscht, sondern es liegt in der völligen Achtlosigkeit gegen alle anderen Verhältnisse, gegen jede außerhalb ihres Bereiches liegende Verpflichtung, die dieser Liebe durch die Gewaltsamkeit der umgebenden Umstände eigen ist, unter denen sie so plötzlich hervorbricht. Die Machtstellung der feindlichen Geschlechter, die den unzähmbaren Haß, der sie entflammt, zu den Dimensionen eines das ganze Gemeinwesen zerrüttenden Übels heranwachsen läßt, die Gewaltthätigkeit einer Zeit, in der das bürgerliche Gesetz nur erst einen schwachen Damm gegen jede Art der Selbsthilfe bildet, sind die unentbehrlichen Voraussetzungen für den „furchtbaren“ Verlauf dieser Tragödie der Liebe. Die tragische Handlung bedarf eines typischen Verlaufs, um den Zusammenhang zwischen der Hamartie und dem Unglücksschicksal, d. i. das Element des Furchtbaren, möglichst rein zur Darstellung zu bringen; jeder vermittelnd, hemmend, retardierend dazwischen tretende Umstand trübt diese Reinheit: die unzähligen, einschränkend bedingenden Verhältnisse des engeren „ bürgerlichen “ Lebens sind ebenso viele derartig die typische Reinheit des „ furchtbaren “ tragischen Schicksals beeinträchtigende Umstände. Es erhellt aus diesem Gesetz, in wie hohem Maße die Erreichung der echten tragischen Wirkung von der Kunst der Behandlung abhängt, sei es nun, daß dieselbe durch die unfehlbar das Richtige treffende Urteilskraft des Genies regiert wird ─ der seltenste Fall ─, sei es, daß klare theoretische Erkenntnis das Ansehen einer anerkannten Regel gewinnt, die auch das minder große Talent vor Mißgriffen zu schützen vermag. Ein schlagendes Beispiel dafür ist die Gretchen-Tragödie in Goethes Faust. Der Stoff an sich ist herzzerreißend, aber nicht furchtbar im tragischen Sinne: was aus diesem Stoff in der Behandlungsweise des „bürgerlichen Trauerspiels“ werden kann, davon gibt Leopold Wagners „Kindermörderin“ ─ ein Stück, dem es an Proben eines starken Talentes keineswegs fehlt, wohl aber gänzlich an jenem genialen Jnstinkt, der die Regel entbehrlich macht ─ ein bedauerliches Zeugnis. Goethe hat sich wohlweislich gehütet diesen Stoff zum Träger der tragischen Handlung zu machen ─ etwa einer Tragödie „Faust und Margarethe“; daß aber die hochbedeutende Episode, zu der er den Stoff gestaltete, uns mit aller Gewalt der echten Tragik ergreift, mit der vollen Kraft des Mitleids und der Furcht uns durchschauert, die eben darum zu der kathartischen Wirkung beruhigten Schmerzes, geklärter erhobener Schicksalsempfindung sich vereinen: das konnte nur durch die wundervolle Kunst der Behandlung dieses Stoffes erreicht werden, die das Detail der Neben- und Zwischenumstände fast völlig zu verflüchtigen vermochte, um das Typische der Handlung in ungetrübter Reinheit erscheinen zu lassen. Es war die einzige mögliche Behandlungsweise, um diesen widerstrebenden Stoff auf der tragischen Höhe zu halten und die mächtige Tragik seiner rein menschlichen Wirkung für das große geistige Gefüge des Ganzen zu gewinnen, zugleich ihn mit der durch das übersinnliche Element bedingten, dort herrschenden Färbung des Wunderbaren so völlig zu verschmelzen. Goethes Kunst vermochte es diese Zwischenhandlung auf dieselbe Höhe poetischer Symbolik zu erheben, auf welcher die Haupthandlung durchweg sich bewegt; die Tendenz des spezifisch sogenannten „bürgerlichen Trauerspiels“ geht dahin, diese Höhen zu vermeiden, ihn in den Niederungen der Realität zu erhalten, ja sie sucht ihre Triumphe in der möglichst „naturwahren“ Wiedergabe des alltäglichen Lebens. Das kann mit mehr oder weniger Geschmack und poetischer Kraft geschehen; aber auch Lessings „Miß Sara“, Goethes „Clavigo“, Schillers „Kabale und Liebe“ kranken an diesem Fehler. Alltägliche Schwäche und Verschuldung, alltägliche Leichtgläubigkeit und Übereilung, alltägliche Selbstsucht und Gemeinheit sind hier die Ursachen jammervoller Katastrophen. Die Kunst unserer drei größten dramatischen Dichter hat in jedem dieser drei Stücke die Alltäglichkeit des Stoffes genugsam geadelt, um dem lediglich Traurigen die Kraft zu verleihen, uns zu tiefstem Mitleid, zu überwältigender Rührung hinzureißen: aber die furchtbare Majestät der über alle gleichmäßig erhabenen Schicksalsgewalt der Empfindung zu unmittelbarer Gegenwart zu erwecken, diese höchste tragische Weihe vermochte sie ihnen nicht zu erteilen. ────── XXIV. Mit einem Worte: der Mangel der modernen Theorie der Tragödie und, bis auf sehr wenige Ausnahmen, auch der modernen tragischen Dichtung ist, daß sie die Bedeutung der tragischen Furcht als eines unentbehrlichen, mächtigen und ganz selbständigen Faktors ihrer Wirkung verkannte. Die klassische Tragödie der Franzosen hatte sich zwar laut genug auf denselben berufen, aber sie hatte ihn mißkannt; sie faßte den Phobos als terreur , die tragische Furcht als Schrecken auf, und setzte statt des Furchtbaren das Fürchterliche, das Gräßliche. Es lag nicht allein in Lessings theoretischem Jrrtum, sondern in der gesamten geistigen Entwickelung des 18. Jahrhunderts, daß man nun das Heroisch= Fürchterliche ganz eliminierte und die Aufgabe der Tragödie allein in der Darstellung des Mitleidswürdigen, des allgemein menschlich Rührenden erblickte. Den aristotelischen Satz, daß furchterweckend das Leiden uns ähnlicher Personen sei, bezog man, statt darin die Forderung der Allgemeingültigkeit des dargestellten Schicksals zu erblicken, auf die Gleichheit der äußeren Lage, wie Stand und sonstige Existenzbedingungen sie hervorbringen, und sprach die Bevorzugung des bürgerlichen Elementes in der Tragödie als einen der wesentlichsten Fortschritte zur Erreichung ihrer vollen Wirkung an. Niemand wird verkennen, daß dieses Stadium der Entwickelung unvermeidlich, daß es notwendig und heilsam war. Das heiße und erfolgreiche Streben nach Wahrheit vor allem in der Nachahmung der Empfindung und der Charaktere, aber auch in der Darstellung des Thatsächlichen führte hier den Kampf gegen die Unnatur, die Leerheit, den widersinnigen Schwulst der unbehülflichen Nachahmung fehlerhafter oder unverstandener Muster. Diese Richtung hatte temporär und relativ ihre gute Berechtigung, aber sie verführte zu dem Jrrtum, die Bevor= zugung des „bürgerlichen Trauerspiels“ als eine absolute Förderung der tragischen Kunst anzusehen, während sie umgekehrt dem tragischen Dichter seine Aufgabe in hohem Grade erschwert. Wenn nun der große Lehrmeister in diesen Dingen, wenn Lessing gerade dieser Richtung durch den Jrrtum seiner Theorie die stärkste Unterstützung lieh, so schien es geboten, alle Kraft der Waffen gegen denselben ins Feld zu führen. Die Konsequenz jener ganzen Erörterung ist diese: wenn es richtig ist, daß es eine sehr große Zahl von Handlungen, wirklichen oder nachgeahmten, geben kann, die unser Mitleid anregen, ohne die in uns vorhandene Furchtdisposition in Bewegung zu setzen, oder doch dieses nur bei einer beschränkten Anzahl besonders beschaffener oder situierter Menschen bewirkend, so werden doch auch Handlungen denkbar sein, wirkliche oder nachgeahmte, welche, indem sie bei allen nicht extrem Gesinnten, d. h. Leichtsinnigen oder Verzweifelten, Mitleid erregen, zugleich die Bedingungen in sich vereinigen, bei diesen allen die vorhandene Furchtdisposition in eine dem erregten Mitleid gleiche oder ähnliche Bewegung zu setzen. Solche Handlungen hielt Aristoteles für die Nachahmung in der Tragödie geeignet; er mußte daher, um sie zu charakterisieren, sich schlechterdings beider Bezeichnungen bedienen. Daraus ergibt sich dann weiter, daß, trotz Lessing und allen anderen, an allen den Stellen, wo in der aristotelischen Poetik „Furcht“ und „Mitleid“ durch die disjunktiven Partikel „weder ─ noch“ und „entweder ─ oder“ verbunden sind, diesen Partikeln allerdings ihre eigentliche disjunktive Kraft beiwohnt. Die besten tragischen Handlungen sind diejenigen, die durch ihren bloßen Verlauf schon beide Affekte gleich stark erwecken; es gibt aber tragische Handlungen, und zwar sehr geeignete, welche zunächst den einen von beiden Affekten als den primären in besonders hohem Grade zu erregen geeignet sind. Tragisch brauchbar sind solche Stoffe aber nur in dem Falle, daß sie wenigstens die Disposition für den verwandten Affekt, als den sekundären, herzustellen vermögen: die Sache des Dichters wird es sein, durch Verstärkung der dahin zielenden Umstände, durch die Anwendung aller dazu wirksamen Mittel diese Disposition nun auch wirklich in Thätigkeit zu setzen. Es bedarf nur eines abermaligen Hinweises auf den antiken Chor, um an zahlreiche Beispiele zu erinnern, in denen dieses so überaus wichtige Jnstitut der alten Tragödie sowohl in Bezug auf das Mitleid als namentlich in Bezug auf die Furcht jene Aufgabe erfüllt; denn bei der Mehrzahl der tragischen Stoffe ist es das Mitleid, das als der primäre Affekt überwiegt. Wenn also Aristoteles von den Stoffen spricht, die zur tragischen Behandlung sich eignen, kann er gar nicht anders als sie in der weitesten Ausdehnung so bezeichnen, wie er es thut: solche, die „ entweder Furcht oder Mitleid “ ─ \̓η ἔλεον \̓η φόβον ─ erwecken; oder wenn er von den Stoffen spricht, die ganz für die tragische Behandlung ungeeignet sind: solche, die „ weder Mitleid noch Furcht “ ─ οὔτε ἔλεον οὔτε φόβον ─ erregen. Das erste und allgemeinste Kennzeichen eines tragischen Stoffes ist, daß er den einen der beiden tragischen Affekte hervorzubringen vermöge. Die Tragödie fordert aber beide. Die schärfere Prüfung hat nun zu untersuchen, ob ihm auch die Motive innewohnen, die zu dem zweiten disponieren. Es ist die Kunst des Dichters, die dafür zu sorgen hat, daß, was in dem Motiv der Handlung noch unentwickelt ist, unter seinen Händen zur vollen Entfaltung komme. Erst durch das ebenbürtige Hinzutreten des zweiten zu dem ersten Affekte wird in der echten Tragödie der Boden geschaffen, auf dem ihr „eigentliches Werk“, die Katharsis, vor sich gehen kann. Die beiden Hauptbedingungen dafür, daß die Handlung beide Empfindungen erwecke, sind, daß das dargestellte Leidensschicksal ein unverdientes sei und daß es nach seinen äußeren und inneren Bedingungen die Erfüllung eines allgemein geltenden Gesetzes repräsentiere, zu dem wir uns in demselben Verhältnis stehend fühlen, wie der Leidende: daß der Leidende also in Bezug auf sein Verhältnis zum Schicksal uns ähnlich sei. Es liegt in diesen beiden aristotelischen Bestimmungen eine ganz unerschöpfliche Tiefe; das tritt namentlich hervor, wenn man damit die Mendelssohn sche Erklärung des Mitleidsbegriffes vergleicht, die mit Unrecht von Lessing gelobt und bewundert wird: daß nämlich das Mitleid eine „gemischte Empfindung“ sei oder vielmehr somit eine Erscheinung auf dem Gebiet der Empfindungen, und zwar gemischt aus der Liebe zu einem Gegenstande und der Unlust über sein Leiden. Sehr mit Unrecht ist dann in neuerer Zeit behauptet worden, daß diese Definition in einem christlich=modernen Gegensatz zu der antiken stehe, die nur ein „selbstsüchtiges“ Mitleid kenne; durch die Mendelssohnsche Auffassung sei der Begriff erst veredelt und erweitert. Das Gegenteil zu behaupten wäre richtiger. Die moderne Erklärung schränkt den Begriff auf das Pathema eines mehr oder minder selbstsüchtigen Affektes ein. Nur da, wo wir lieben, sollen wir Mitleid fühlen? Nach dem aristotelischen Begriff ist das Mitleid vielmehr vermögend, diese Liebe zu erwecken, in jedem Falle die Fähigkeit der Anerkennung und Ach= tung zu erweitern, die Bereitschaft dazu in uns zu erhöhen. Das trifft schon für unser Verhältnis zur Tierwelt zu: es genügt, daß wir ein Tier, das wir vielleicht sonst verabscheuen und zu vernichten geneigt sind, leiden sehen, um die Teilnahme für dasselbe in uns zu erzeugen, uns in ihm das mitlebende Geschöpf erkennen zu lassen, unsere achtsame Aufmerksamkeit auf die Vorzüge seines Baues, auf den Wert seiner Existenz zu lenken. Um wie viel mehr trifft das alles bei menschlichen Leiden zu! Schmerzlich trifft uns der Anblick des Leidens und versetzt uns in eine lebhafte Unruhe, die dem Vorgange unsere ganze Energie zuwendet. Sogleich nun drängt sich der edleren Seele ─ wie denn Aristoteles das Mitleid ein Pathos ἤθους χρηστοῦ , die Empfindung „ eines gutgearteten Gemüts “ nennt ─ die Frage auf, ist das Leiden verdient oder leidet der Unglückliche weit über Verdienst? und damit zugleich die Frage nach dem Verhältnis des einzelnen Unglücksschicksals zu der allgemein geltenden Gesetzmäßigkeit desselben, unter der wir alle gleicherweise stehen. Zeigt uns nun die vollständige Nachahmung der Handlung das Leiden als ein unverdientes, bewährt sich die Kraft des Leidenden im Unglück, so erwächst aus dem dadurch erregten reinen Mitleid zugleich die Achtung und die Liebe für den Leidenden. Wenn aber nach der Natur der menschlichen Verhältnisse, je genauer wir beobachten und je vollständiger uns das Material dazu geboten wird, wir desto mehr Milderungsgründe entdecken werden, selbst da, wo scheinbar verschuldetes Leiden uns begegnet, so ist nach alledem das richtige Mitleid, statt als Voraussetzung die Liebe zu seinem Gegenstande zu haben, vielmehr eine der wesentlichsten Kräfte, um dieselbe hervorzubringen. Dieselbe Wirkung aber, die das reine Mitleid auf unser Verhältnis zu den Nebenmenschen ausübt, nämlich die Achtung vor denselben, die Liebe zu ihnen zu erhöhen, bringt die reine Empfindung der Furcht in unserem Verhältnis zur Gottheit hervor, und zwar als unmittelbare, ästhetische Bewegung, nicht als das Resultat einer moralischen Erwägung und Entschließung. Die Herstellung dieser reinen Mitleid- und Furchtempfindung setzt sich die Tragödie zum Ziel; während die beiden Empfindungen, sobald sie fehlerhaft beschaffen sind, sich gegenseitig Eintrag thun, ja unter Umständen einander geradezu ausschließen, ist ihr Verhältnis, sobald sie in reiner Gestalt auftreten dieses, daß sie notwendig und untrennbar miteinander verbunden sind: die Nachahmung eines Leidensschicksals, die das reine Mitleid erweckt, wird zugleich vermögend sein, auch die reine Furcht zu erzeugen; umgekehrt wird ein Schicksal, das uns mit dieser Furcht erfüllt, auch das Mitleid in seiner reinsten Ge= stalt rege zu machen die Kraft in sich besitzen. Jn beiden Fällen aber ist es die Sache des Dichters, diese Kraft wirksam in die Erscheinung treten zu lassen. Nach diesem Gesichtspunkt hat er den Aufbau der Handlung zu gestalten, ebenso wie er für die Vollständigkeit derselben ihn fest im Auge zu behalten hat. Wie auch die der tragischen Darstellung zu Gebote stehenden verschönernden Kunstmittel im Dienste dieses Hauptzweckes der Nachahmung verwandt werden können, ist im vorstehenden wiederholt angedeutet worden. Auf die Katharsis der Schicksalsempfindungen zielen also die sämtlichen Mittel der Darstellung in der Tragödie mit vereinigter Kraft hin. Jhr Stoff kann nicht eine Handlung sein, die nur Mitleid erzeugt, ebensowenig eine solche, die nur Furcht erregt: in beiden Fällen wären diese Empfindungen, eben weil sie allein herrschen, oder doch insofern die eine von ihnen entschieden vorherrscht, fehlerhaft, unrichtig, unrein und deshalb untragisch. Der Stoff ist so zu wählen, daß die mitleiderregende Handlung auch die Merkzeichen an sich trage, die für die Entstehung der Furcht erforderlich sind, und daß die furchterregende Handlung auch die Bedingungen in sich trage, die für die Entstehung des Mitleids unentbehrlich sind. Für die Behandlung des Stoffes gilt dann das Gesetz, daß in dem einen und in dem andern Falle die Bedingungen für den komplementären Affekt derartig herausgearbeitet werden, daß er dem andern ebenbürtig, symmetrisch mit ihm, zur Geltung gelange: damit, aber auch nur damit, ist die sichere Gewähr gegeben, daß sie beide in richtiger, reiner Gestalt hervorgebracht werden, d. h. mit andern Worten, daß die Katharsis der tragischen Empfindungen erreicht ist. Denn nur in reiner Gestalt vermögen dieselben jene innige Verbindung einzugehen, welche ─ eine seltene und große Erscheinung ─ durch die hohe Kunst des tragischen Dichters zuwege gebracht wird. Es war Lessings Grundirrtum, daß er dieses nur im vollendeten Kunstwerk eintretende Wechselverhältnis als das allgemein vorhandene ansah. Um ein Beispiel anzuführen: die aristotelische Poetik nennt als eines der Hauptkennzeichen eines tragischen Stoffes, daß derselbe die Darstellung schweren körperlichen Leidens ─ Pathos im spezifischen Sinne ─ enthalte. Nun ist gewiß ein jedes derartige Leiden vermögend, Mitleid zu erwecken, tragisches Mitleid jedoch nur, insofern es ein unverdientes Leiden ist. Aber auch die weitaus größte Mehrzahl solcher Leidensfälle wäre an sich noch gänzlich untragisch, wie die tägliche Erfahrung es lehrt und die Theorie bestätigt: eben weil der= artiges Leiden die Furcht nicht erweckt. Eine unheilbare Krankheit, die schweres, äußerlich sichtbares Leiden mit sich bringt und die den Leidenden ohne sein Verschulden überfallen hat, bewegt uns zu lebhaftem Mitgefühl, auch wenn nicht, wie im Falle des Philoktet, das Leiden noch durch Einsamkeit und Hülflosigkeit verstärkt wird. Es ist auch richtig, daß ein solches Leiden uns furchtbar erscheint, sofern wir uns vorstellen, es träfe uns selbst ─ eben deshalb bemitleiden wir es ja ─ aber die Kraft, diese Darstellung als eine unabweisliche thatsächlich in uns zur Herrschaft zu bringen, wohnt einem solchen Leiden an sich noch nicht bei. Ganz allein dadurch erhält das schwere körperliche Leiden ─ das „Pathos“ ─ des Philoktet die tragische Kraft und Würde, daß es als ein „von den Göttern über ihn verhängtes“ erscheint: σὺ γὰρ νοσεῖς τόδ ' ἄλγος ἐκ θείας τύχης , „du krankst an diesem Leid durch göttliches Geschick,“ ruft Neoptolemos dem Philoktet zu. Damit ist dieses, das Mitleid im höchsten Maße herausfordernde Leiden in eine ganz andere Sphäre gerückt: nicht durch eigenes Verschulden hat er es sich zugezogen, auch nicht durch einen blinden Zufall ist er davon befallen, sondern durch den das allgemeine Schicksalsgesetz, unter dem wir alle stehen, ausführenden Götterwillen ist es ihm auferlegt, und zwar um einer Hamartie gegen die Gottheit willen, von der die Sage meldet. Wie aber Sophokles dieses Motiv der Sage aufgefaßt und behandelt hat, gewährt abermals einen tiefen Einblick nicht nur in den Kunstverstand der alten Tragiker, sondern in das Wesen der tragischen Kunst selbst. Es liegt ihm ganz fern, etwa mit rückgreifender Exponierung des Vorfalles, an den die Sage die Erkrankung des Philoktet knüpft, die Hamartie desselben anschaulich zu machen; er läßt vielmehr geflissentlich das Dunkel des symbolischen Schleiers darüber bestehen und begnügt sich, durch gelegentliche starke Betonung das obwaltende Verhältnis im Gefühl lebendig zu machen; nur aber um in der Handlung selbst das Wesen der Hamartie, um derentwillen sein Held leidet, desto nachdrücklicher zur Erscheinung zu bringen: denn diese ganze Handlung dreht sich darum, der verletzten Eusebeia, der mißachteten Götterfurcht, gegen den starren Eigenwillen des Mannes zum Siege zu verhelfen. So lautet der Beschluß der den Knoten lösenden, den Ausgang entscheidenden Anrede des in der Wolke erscheinenden Herakles an den Philoktet: Doch dies behalte fest im Sinne: wenn du nun Die Stadt zerstörst, zu fürchten fromm der Götter Macht: Vor allem andern achtet dies der Vater Zeus. Denn Tod der Götterfurcht ist Tod der Sterblichen Jm Leben: doch sie dauert über ihren Tod. Philoktet: V. 1140─1445 τοῦτο δ' ἐννοεῖσθ', ὅταν πορθῆτε γαῖαν, εὐσεβεῖν τὰ πρὸς θεούς· ὡς τἄλλα πάντα δεύτερ' ἡγεῖται πατήρ Ζεῦς· ἡ γὰρ εὐσέβεια συνθνήσκει βροτοῖς κἄν ζῶσι κἄν θάνωσιν, οὐκ ἀπόλλυται . Der für das ganze Stück hochbedeutsame Schluß der Stelle ist bei den Herausgebern sinnentstellend interpunktiert, es gelten daher V. 1444 und 45 als unecht oder werden durch Hinzufügung einer Negation emendiert, deren der gewöhnliche Text allerdings bedarf, um überhaupt einen notdürftigen Sinn zu geben. Also statt: ἡ γὰρ εὐσέβεια συνθνήσκει βροτοῖς· κ\̓αν ζῶσι κ\̓αν θάνωσιν, οὐκ ἀπόλλυται . schreibt man ο ὐ γὰρ εὐσέβεια . So übersetzt auch Donner: „Die Götterfurcht stirbt mit den Menschen nicht dahin; Sie leben oder sterben, sie blüht unverwelkt.“ Das wäre eine schwächliche Mahnung des Herakles, die den starren Philoktet nur durch den Hinweis auf die segensreiche Frucht der guten That zu beugen suchte. Die ungewöhnliche Verbindung, in der Sophokles das Verbum συνθνήσκειν gebraucht hat, ist dem Verständnis hinderlich gewesen; es heißt „vereint, zugleich sterben“ (wie bei Äschylus, Choe: 979), wobei also, wenn eben weiter nichts ausgedrückt werden soll, als daß der Tod des einen notwendig mit dem des andern verbunden ist, es gleich gilt, welcher von beiden als Subjekt und welcher im Dativ genannt wird: A. stirbt mit B. zugleich oder B. mit A. Nun hat Sophokles statt zu sagen „die Menschen gehen zu Grunde mit dem Aufhören der Götterfurcht“, „sie sterben zugleich mit der Götterfurcht dahin, auch wenn sie fortleben“, „ein solches Leben ist nur ein Scheinleben“, mit höchstem Nachdruck sich so ausgedrückt: „das Absterben der Götterfurcht ist verbunden mit dem Absterben der Menschen, mögen sie immerhin noch am Leben bleiben“, „sobald sie stirbt, sterben mit ihr die Menschen dahin, auch wenn sie leben“, wie dem Philoktet selbst auf Lemnos ein solches Los lebendigen Todes zugefallen war; „Tod der Götterfurcht ist Tod der Sterblichen im Leben“. Der griechische Dichter hat dem einfachen Verbum die Prägnanz erteilt, dieses hypothetische Verhältnis auszudrücken, wofür wir der Umschreibung bedürfen: „die Götterfurcht stirbt nicht ab, ohne daß nicht der Mensch zugleich mit abstürbe “. Mit vollster Deutlichkeit hat der Dichter vom Anbeginn die Handlung auf diese Entscheidung gestellt: ob die Eusebeia, die fromme Scheu vor dem Schluß der Götter und die Ergebung in ihren Willen, zur Geltung gelangt oder der entgegenstehende Trotz, das Mißtrauen und die Erbitterung gegen das Geschick die Oberhand behalten. „Jnnig jammert des Mannes mich,“ singt der Chor, „den kein menschliches Auge, das seiner hütet und wacht, erquickt, wie er ewig allein, ach! am wildwühlenden Schmerze krankt und not leidet an allem, was heischt des Lebens Bedarf. Wie nur, o wie trägt es der Arme nur? Furchtbare Götterhand! Weh, unseliges Staubgeschlecht, maßlos duldend im Leben!“ Und darauf die Erwiderung des Neoptolemos: Mir scheint hier nichts der Verwunderung wert: Denn ward mir einige Weisheit auch, Jst dieses Geschick von den Göttern verhängt, Brach über ihn ein durch Chryses Zorn; Auch was er, freundlicher Pflege beraubt, Jetzt duldet, geschieht nach der Ewigen Rat, Daß nicht auf Jlions Feste zu früh Er spanne des Gott's unbezwinglich Geschoß, Eh' nahte die Zeit, da sie diesem erliegt, Wie's ihr nach dem Spruche verhängt ist. Dagegen nun Philoktetes auf die Kunde, daß Patroklos mit den Besten dahingerafft ist und Thersites zurückkehrt: Wohl muß er leben, weil ja noch nichts Böses starb. Mit zarter Sorgfalt hegen das die Himmlischen; Sie lieben, Tückevolles und Verschlagenes Zurückzuführen aus des Hades Nacht, und stets Hinabzusenden, was gerecht und edel ist. Wie nenn' ich's? Soll ich's loben, wenn ich Götterthun Bereit zu loben, Götter selbst als schlecht erfand? Also: das jammervolle Geschick, unter dem wir Philoktet leiden sehen, beruht auf einer Hamartie, die vor dem Stücke liegt, auf welche zwar immer wieder aufs neue hingewiesen wird, die aber nach ihren näheren Umständen im Dunkel bleibt. Tragisch furchtbar wird dieses Geschick allein dadurch, daß es die Seele des Leidenden zu dem eisernen Trotze verhärtet hat, der ihn die Fortdauer seiner Qualen der doch von den Göttern gebotenen Rettung durch seine Feinde vorziehen läßt. Dies ist die eigentliche, im Stücke selbst wirksame Hamartie des Helden: durch sie wird der entscheidende Ursachsanteil an dem, dadurch erst echt tragisch gestalteten, Leiden aus den Händen des dunkeln Geschickes in die Brust des Handelnden verlegt: dadurch allein erlangt es die Kraft, die Seele des Zuschauers mit der tragischen Furcht zu durchbeben, daß er dem gleichen preisgegeben sei, mit der Empfindung: Wie drohend alles, voll Gefahr, der Menschen Pfad Umlagert, hier das Ungemach und dort das Glück. Wer frei von Leid ist, blicke fürchtend auf das Leid Und wer das Glück hat, schaue frei mit wachem Blick Jns Leben, daß nicht ungeahnt der Fluch ihn trifft! Und ebenso wie durch diese Wendung das Leiden des Philoktet furchterweckend wird, so wird dadurch das peinlich jammervolle Mitgefühl mit demselben zum wahren Mitleid geläutert: der Dichter hat damit das bloße „Pathos“ des schweren körperlichen Leidens zum würdigen Gegenstand der tragischen Handlung geadelt. Noch manches andere in dem Stück erklärt sich aus dieser Betrachtung: so der glückliche Ausgang der Tragödie und die Lösung des Knotens durch den deus ex machina . Es liegt hier der Fall vor, von dem im obigen schon mehrfach die Rede gewesen ist, in welchem die Tragödie zu ihrer kathartischen Wirkung gebieterisch statt des Ueberganges ─ der μετάβασις ─ vom Glück zum Unglück vielmehr der Wandlung des Unglücks in Glück bedarf. Der Fall kann nur in der verwickelten Tragödie statthaben, deren Handlung also auf Peripetie oder Erkennung oder auf beide zugleich gegründet ist. Alles kommt hier auf das Verhältnis des Anteils an, der an dem tragischen Leiden dem Schicksal zur Last fällt und der auf Rechnung der Hamartie des Helden kommt. Beide müssen ja immer zusammenwirken, aber die entscheidende Frage ist, wie weit ein vom Schicksal verhängtes Leiden sich als solches schon im Beginn der Handlung und in ihrem Verlauf fühlbar macht. Auch im Ödipus ist das Schicksal die den Handlungsverlauf bestimmende Macht; aber die Tragödie ist hier darauf gestellt, daß es über den beispiellos Glücklichen, seinem Glück stolz und sicher Vertrauenden zerschmetternd hereinbricht. Doch der Tod, der hülfreiche Bundesgenosse so vieler mittelmäßigen Dichter, ihren Turmbau mit einem Notdache zu Ende zu bringen, ist der Übel größtes nicht. Zeigt nun die Handlung ihren Helden von vornherein unter der Wucht eines solchen schweren Schicksals leidend, versteht es der Dichter, dadurch die Furcht- und Mitleidempfindungen in starke Bewegung zu setzen, so würde ein Ausgang, der den Leidenden vollends erdrückt, keineswegs vermögen, die Symmetrie und Läuterung derselben, die tragische Katharsis, hervorzubringen. Auf den ersten Blick könnte dieser Fall für die Jakob Bernayssche Auffassung der Katharsis zu zeugen scheinen, und es ist zu verwundern, daß die Anhänger derselben ihn nicht für sich verwertet haben. Man könnte sagen: wenn es für den Zweck der Tragödie genügt, daß die tragischen Affekte stark aufgeregt worden sind, so müßte ja wohl die Katharsis in der Entladung von diesen störenden Affekten und in dem damit verbundenen Gefühl freudiger Erleichterung bestehen. Nur schade, daß solche „unschädliche Freude“, wie Bernays sie mit starkem Mißverstand einer Stelle der aristotelischen Politik nennt, Vgl. den oben citierten Aufsatz des Verfassers in Fleckeisens Jahrbücher für klass. Phil. 1875, H. 2. „Über den Begriff der trag. Katharsis“, S. 101. dann durch jedwede Nachahmung eines Leidensfalles erreicht werden würde, durch die sensationellste am meisten. Die Sache liegt ganz anders; gerade diese Fälle erfordern die höchste Kunst des Dichters und ergeben, wenn sie gelingen, die vollkommensten Tragödien. Die Aufgabe ist, beide Schicksalsempfindungen zur Reinheit herzustellen, mit andern Worten, die Handlung so zu führen, daß sie beide Schicksalsempfindungen in der richtigen Gestalt zu erwecken vermögend sei; in der rechten Art und Weise, im richtigen Maß in Thätigkeit gesetzt, fallen sie dann beide zusammen, die eine das Korrelat der andern bildend, nicht mehr eine Beunruhigung der Seele, sondern die vollendete Äußerung einer ihrer höchsten Kräfte: die vollkommen geartete Energie ihres ästhetischen Vermögens gegenüber dem größesten Gegenstande, der in den Bereich desselben fallen kann, gegenüber dem göttlichen Walten des Schicksals. Strengste Wahrheit der Handlungsnachahmung ist hier wie überall die oberste Voraussetzung des Gelingens. Als solche gilt einer sehr bevorzugten Richtung des modernsten Kunstgeschmackes jener Pessimismus, der eine ununterbrochene Kette schwerer Leiden, zu deren Zusammenschließung sich unglückliche Schicksalsumstände mit Schuld oder auch wohl sogar mit leichterem Jrrtum der Handelnden vereinen, in seinen Nachahmungen des „ realen “ Lebens vorführt, um mit dem traurigen Untergange jedes Glückes und sogar der Hoffnung das Ende zu erreichen. Die Wirkung ist, je virtuoser die dazu erforderlichen Kunstmittel gehandhabt werden, eine um so ergreifendere, fortreißendere ─ überwältigende, „packende“, wie die modernen Lieblingsausdrücke lauten ─ d. h. die tragischen Empfindungsregungen, die in dieser „Provinz“ des Empfindens auftretenden Pathemata, werden heftig aufgeregt: aber der Abschluß der Nachahmung, weit entfernt die Klärung, Läuterung, die Ruhe in der Bewegung zu bringen, erfolgt mit dem Fortissimo der Steigerung, inmitten der schrillsten Dissonanz. Die antiken Meisterwerke der Tragik, wie die unseres modernen Klassizismus zeigen eine andere Auffassung von der Lebenswahrheit der Nachahmung. Nicht als ob das Leben selbst dergleichen Hergänge uns nicht leider nur allzuhäufig zeigte! Aber, wie schon gesagt, alles kommt darauf an, daß die Nachahmung das Verhältnis klar vor Augen stelle, in welchem Schicksal und Hamartie der Handelnden an dem Leiden ihren Anteil haben. Diesen Einblick versagt uns das Leben in den bei weitem meisten Fällen völlig oder es erschwert uns doch das Urteil durch die Überfülle der zusammenwirkenden Motive im allerhöchsten Grade. Die Dichtung dagegen gibt die Handlung vollständig, und zwar gibt sie nur die Handlung, sie aus dem umgebenden Gedränge unendlicher Verzweigungen in idealer Abstraktion aussondernd. Sie schöpft ihre Wahrheit aus der Tiefe der religiösen und sittlichen Grundanschauungen, die bei allen Völkern, alten und neuen, in diesem wesentlichsten Anliegen der denkenden und fühlenden Menschenseele dieselben sind. Das zeigt übereinstimmend Mythus, Sage und Märchen der Volkspoesie wie die höchstentwickelte Blüte der tragischen und epischen Dichtung. Diese Grundanschauungen treffen bei aller Verschiedenheit im einzelnen der Hauptsache nach in dem einen Punkte zusammen: das Schicksal des Jndividuums wie das der Gesamtheit ist kein zufälliges Aggregat, sondern es beruht auf einer Ordnung, einem Kosmos, ebensowohl wie das Gefüge der unbeseelten Welt; wie dieses weise ist, so ist jenes gerecht, beide ewig und unerschütterlich. Wie die Stürme nicht das Vertrauen in die Naturordnung aufheben, so ist die Überzeugung von dem Walten der sittlichen Weltordnung so fest im Gefühl, daß selbst durch die scheinbar widersprechende Erscheinung der Glaube daran nicht wanken gemacht werden kann. Deswegen vor allem ist die griechische Poesie für immer ein Muster, überall verständlich, weil sie dieser Überzeugung für die Empfindung den klarsten, sichersten Ausdruck verliehen, den reichen Jnhalt des Lebens ihr ebenso mit unbeirrbarem Ernst als mit freudiger Heiterkeit des Sinnes eingeordnet hat. Mag die moderne Dichtung in ihren Mitteln immerhin sich dem wechselnden Geschmacke anbequemen, „dem Zeitgeiste folgen“, wie die Parole lautet, jenen festen Grund kann sie nicht verlassen, ohne sich ebensoweit von der Richtigkeit, d. i. von der Größe und Schönheit zu entfernen, von dem Ziele, zu dem hin sie ewig die Führerin des Zeitgeistes sein soll. Die Tragödie, die Nachahmung des Leidens, hat nun gerade die Aufgabe, an den Fällen des Unglücks, die am meisten jenen sicheren Glauben zu erschüttern geeignet scheinen, die Empfindung in der überzeugendsten Weise darin zu bestärken und darin zu beruhigen, d. i. die das Leben so unausweichlich durchsetzenden und so mächtig bestimmenden Empfindungen der Furcht und des Mitleids auf diesen Grund zu pflanzen. Von den „vielen Verwirrungen, welche die Himmlischen den Erdgeborenen zudenken“, stellt die Tragödie am häufigsten „den tief erschütternden Übergang von der Freude zu Schmerzen“ dar: wie es Menschenlos ist, ohne Schuld durch leichten Fehl dem schwersten Geschick preisgegeben zu sein. Ebenso gehört ihr aber das andere Gebiet, der nicht minder „tief erschütternde Übergang von Schmerzen zu Freude“. Hier hebt die Tragödie auf der Stelle an, wo sie sonst ihren Abschluß findet; sie zeigt uns die Handelnden in schwer lastendes Unglück, in tiefes Weh, in scharfe Schmerzen verstrickt. Das Leben zeigt genug Beispiele, wie durch Schuld und Jrrtum solches Unglück ins Endlose fort gehäuft wird. Nicht die Trostlosigkeit solcher Handlungen kann der Stoff der „ tragischen “ Nachahmung sein; noch weniger die willkürliche Gefälligkeit einer feilen Phantasie, die, nachdem sie genugsam in den Bildern des Jammers und Schreckens geschwelgt hat, dann, um die innere Wahrheit unbekümmert, jenen gewaltsamen Erregungen die erschlichene Freude an dem sonnigen Glück der belohnten Tugend zu gesellen bemüht ist. Jn einer Tragödie, die mit dem schweren Leiden des Handelnden beginnt, muß notwendig der Anteil des Schicksals an seinem Leiden den seiner Hamartie bei weitem überwiegen, er stellt sich uns als weit über die Gebühr, über sein Verschulden belastet dar: darin liegt das specifisch Tragische, uns zu Furcht und Mitleid bewegende einer solchen Handlung. Einen solchen Zustand aber als dauernden und endgültigen vorzuführen wäre ebenso unwahr als unkünstlerisch. Dieser Verlauf würde stattfinden, wenn die ursächlich wirkende Hamartie unverändert fortbestünde oder gar sich verstärkte. Dem ersten Falle würde die Entwickelung fehlen, er wäre also für die Nachahmung ganz ungeeignet; der andere Fall würde eine Handlung bedingen, die zum Jnhalt die Steigerung eines schon von Anbeginn vorhandenen schweren Unglückes hat, ein Gegenstand, der nicht anders als Entsetzen erregend wirken kann. Es bleibt also für diese Art von Tragödien kein anderer Verlauf, als daß die schon durch die Anlage der Handlung stark aufgeregten und durch die Verwickelung derselben auf den Höhepunkt gebrachten tragischen Empfindungen durch die Wandlung des Unglücks in Glück die kathartische Läuterung und Beruhigung erfahren: diese Katharsis aber würde gänzlich ausbleiben, wenn jene Wandlung sich nicht in der überzeugendsten Weise dem Gefühl als die notwendige Konsequenz des vorgeführten Schicksals darstellte, als ein Ausfluß jenes göttlichen Schicksalswaltens also, auf dessen Anerkennung und Gefühl die tragische Katharsis beruht. Dies kann, nach der Lehre des Aristoteles, äußerlich durch die Form der Erkennung geschehen, wobei eine das Unglück verursachende Unkenntnis in das Glück bedingende Kenntnis verwandelt wird. Aber diese Form würde jene große und tiefe Wirkung doch nicht hervorbringen können, wenn sie lediglich als äußerer Vorgang eingeführt würde, wenn die Kunst des Dichters es nicht versteht, sie mit einer inneren Wandlung der handelnden Personen in organische Verbindung zu setzen. Auch hier kann eine Wandlung von Unkenntnis in Kenntnis vorgehen, von Befangenheit in Klarheit des Sinns, und die berichtigende Auflösung einer jeden Hamartie ist eine solche enthüllende Wandlung. Jn der That erreicht keine dramatische Wirkung die kathartische Kraft einer solchen Wandlung, wenn sie aus dem Kerne der Handlung hervorgehend mit siegender Gewalt das schwer herabhängende, drohende Gewölk des Schicksals zerteilt. Was könnte in dieser Beziehung sich mit dem Schlußakte von Goethes „ Jphigenia “ vergleichen? „Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit,“ so faßte der Meister selbst das Wesen jener Wirkung in Worte; und was dort dem Fluche eines ganzen Geschlechtes gegenüber die leuchtende Reinheit einer fleckenlosen Jungfrau vollbringt, das bewirkt minder grausigem Geschick gegenüber die Umwandlung der Hamartie im Gemüte des Handelnden zur Phronesis, zur Klarheit und Richtigkeit des Sinns. Hiervon ist der Philoktet des Sophokles ein unvergleichliches Beispiel. Freilich wird die „Wandlung“ seines unbeugsam trotzigen Sinnes durch eine unmittelbare „Enthüllung“ des göttlichen Ratschlusses entschieden. Herakles verkündet, auf einer Wolke herabschwebend, den Willen des Zeus, und „freudig gehorcht“ der Held dem Rufe des göttlichen Freundes. Aber mit welcher Meisterschaft hat der Dichter diese scheinbar gewaltsame und willkürliche Lösung vorbereitet, das unmittelbare Eingreifen des Gottes in die unlösbar erscheinende Verwickelung und die anscheinend plötzliche und unmotivierte Sinnesänderung des bisher durch nichts zu bewegenden Helden! Die ganze, unvergleichlich kunstreiche Anlage der Handlung zielt auf dieses Ergebnis. Der unbezähmbare Haß des Philoktet gegen die Anstifter seiner Verstoßung, der ungeachtet seines namenlosen Elends unbesiegbare Widerstand gegen den Seherspruch, der ihm selbst Rettung, dem großen Unternehmen seines Volkes den Sieg verheißt, macht seine Hamartie aus, die jetzt die unwiderrufliche Fortdauer seines Leidens zu besiegeln droht und die auch als die Ursache desselben angesehen werden muß: denn was anders hat ihm den Zorn und die Strafe der Götter zugezogen als der heldenhafte Trotz, der im Vertrauen auf die eigene, durch den Besitz der unentrinnbaren Pfeile des Herakles zum höchsten gesteigerte Kraft die Heiligtümer und die sie schützenden Satzungen nicht achten zu dürfen glaubt? Das auf die gütliche oder gewaltsame Beugung dieses Sinnes des Helden gerichtete Gegenspiel des Odysseus und des Neoptolemos führt nun zu einer doppelten Peripetie, d. h. zu einer Verwickelung, bei der zweimal durch die von ihnen getroffenen Maßnahmen das Gegenteil von dem erreicht wird, worauf sie hinausgehen. Der listige, nur von der Staatsklugheit eingegebene Hintergehungsplan des Odysseus, der die Handlung einleitet und bis auf den Höhepunkt der Verwickelung führt, scheitert im Augenblicke des Gelingens an der edlen Wahrheitsliebe und reinen Güte des Neoptolemos, so daß durch jenen Betrug die Aussicht, den widerstrebenden Helden zu gewinnen, für immer vernichtet scheint. Aber wer sieht nicht, daß gerade mit diesem Siege der Wahrheit und Herzensgüte über die Verstellungskünste einer hinterhaltigen Politik, welcher freiwillig das Spiel verloren gibt, das Wesentlichste, ja das eigentlich Entscheidende dafür gethan ist, um es zu gewinnen, den Zorn des Philoktet zu beschwichtigen, seinen Haß zu mildern, den verschlossenen Sinn dem Rate der Einsicht, der Stimme der Vernunft, dem Gebote der Gottheit zu öffnen! Noch zwar gehen die Wellen hoch, aber sie werden sich sänftigen, noch widerstrebt er der Stimme des neuen Freundes, der mit seiner That sich das Herz des Mannes gewonnen, aber er wird in dieser gänzlich veränderten Stimmung der mächtig überredenden Stimme, mit der das Heil des Ganzen und sein eigenes Heil den Entschluß der Selbstüberwindung von ihm fordert, nicht mehr lange sich verschließen. Es ist dieselbe ergreifende Sinneswandlung, wie die kühne That Jphigeniens sie in der Brust des Thoas zum siegenden Durchbruch bringt. Auf dem Grunde dieser tief eingreifenden psychologischen Vorbereitung konnte der Dichter nun mit vollem Rechte von der poetischen Lizenz Gebrauch machen, den noch übrig bleibenden Vorgang in symbolischer Verkürzung, wie die Sage sie ihm vorzeichnete, durch das unmittelbare Gebot der göttlichen Stimme sich vollziehen zu lassen. Das wäre dem betrogenen oder gewaltsam bezwungenen Philoktet gegenüber unmöglich gewesen; jetzt ertönt des Herakles Stimme aus der Wolke nur um dem Zuspruch des neugewonnenen Freundes, dem ohnehin der Sieg gewiß ist, diesen Sieg sogleich zu gewinnen. Die herrliche Scene zwischen Philoktet und Neoptolemos, die der Göttererscheinung vorausgeht, steht ebenbürtig neben dem in allen Stücken verwandten Gespräch zwischen Jphigenie und Thoas, durch welches Goethes Tragödie zum versöhnenden Ausgang geführt wird. So ist denn die Verwickelung reif für das Eingreifen des Gottes, dignus vindice nodus : „Des Herakles Stimme tönt dem Sohne des Pöas ins Ohr, er sieht sein Bild“: Jch komme aus Liebe zu dir und verließ Der Unsterblichen Sitz, Zu verkündigen dir die Beschlüsse des Zeus Und zu wehren den Weg, zu dem du dich schickst: So vernimm denn meine Gebote! Vor allem ruf' ich dir zurück mein eignes Los, Die Mühen alle, deren Bahn durchkämpfend ich Errang unsterblich Wesen, wie du schauen kannst. Auch dir, vernimm es, ist bestimmt dasselbe Ziel, Aus solchen Mühen ruhmgekrönt hervorzugehn. Du ziehst mit diesem Manne vor die Troerstadt Und wirst zuerst von deiner bittern Qual erlöst; Dann als der Helden erster ausersehn im Heer, Vertilgst du Paris, dieses Leids Urheber einst, Mit meinem Bogen aus der Zahl der Lebenden Und stürzest Troja. Und ὦ φθέγμα ποθεινὸν ἐμοὶ πέμψας , erwidert ihm Philoktet: Du, der willkommenen Ruf mir gesandt Und endlich erscheint, Wie freudig gehorch' ich deinem Gebot! Und gerührt nimmt er Abschied von dem Ort seiner einsamen Schmerzen und wendet sich zur Fahrt Hin, wo das gewaltige Schicksal führt Und der Freunde Geheiß und des Gottes Gewalt, Der dies allmächtig verhängte! Der griechische Dichter faßte das horazische nec deus intersit nisi dignus vindice nodus inciderit tiefer, als es nur allzu oft gefaßt wird. Nicht die Größe der streitenden Jnteressen und die Ratlosigkeit des Dichters, sie anders zu schlichten, machen den Knoten „würdig der Lösung durch einen Gott“, sondern dadurch wird die Verwickelung es „ wert, daß der Dichter eine Gottheit eintreten lasse, um ihrer Entscheidung sich anzunehmen “, daß diese Entscheidung ihrem inneren Sinne nach mit Notwendigkeit aus dem Stande der Dinge hervorgehe, daß sie in den Dingen liege, so daß der Gott nur als der beschleunigende Helfer erscheine, der den Keim zur schnelleren Entfaltung bringe. Um die Resultate zusammenzufassen: der Philoktet ist eine Tragödie, die auf das „Pathos“ schweren körperlichen Leidens gegründet ist, sie nimmt einen glücklichen Ausgang; danach könnte es scheinen, daß in ihrer Wirkung der Mitleidsaffekt vorherrschen müßte und die Furcht nur insoweit darin eine Rolle spielte, als sie an sich eine unentbehrliche Voraussetzung für das Auftreten des Mitleids bildet, wie Lessing das in seiner Theorie der Tragödie gelehrt hat. Dagegen hat die Unter= suchung gezeigt, daß das Mitleid mit den Qualen des Philoktet zum „tragischen“ Mitleid allein dadurch gestaltet wird, daß als ein selbständiger Affekt die Furcht sich ihm zugesellt; daß diese Furchtbewegung in unserer Seele dadurch entsteht, daß uns als die Quelle seines Leidens und namentlich als die Ursache der entsetzlichen Fortdauer desselben die Hamartie des Helden gezeigt wird, so daß wir in dem klaren Bewußtsein unserer eigenen Fehlbarkeit uns dem Leidenden „ ähnlich “ fühlen, d. h. unbewehrt ähnlichem unverschuldetem und doch nach dem ewigen Gang der Dinge gerechterweise uns treffendem Unglück preisgegeben; daß im Verlauf der Tragödie die mehr und mehr miteinander verschmelzenden, zugleich gegenseitig einander klärenden tragischen Empfindungen ─ einander klärend, weil sie durch die wechselseitige Beleuchtung, welche die eine durch die andere erfährt, aus dunklen übermächtig uns fortreißenden Affekten ( παθήματα ) zu klar bewußten, mit den Erkenntniskräften unserer Seele in Harmonie, mit der Richtung unserer Willenskräfte in Übereinstimmung befindlichen Empfindungen werden ─ zur vollendeten Katharsis gelangen, indem sie mit der Bezwingung der Hamartie und dem dadurch bedingten glücklichen Ausgang das Pathematische, das Quälende und Beängstigende ausscheiden und, ohne deshalb ihre nachwirkende Fortdauer in der Seele des Zuschauers zu verlieren, als in der Ruhe lebendig thätige Faktoren sich seiner Anschauung des großen ewig geltenden Schicksalsgesetzes einordnen. So weit Lessings Fehler! Jn der Hauptsache aber hat er richtig gesehen: es handelt sich in der That für die durch den Verlauf der Tragödie zu bewirkende Katharsis um die gegenseitige Läuterung der Mitleidempfindungen durch die Furcht und umgekehrt dieser durch jene. Das klingt in der Schulsprache vielleicht manchem fremd, ist ja auch nicht selten die Zielscheibe wohlfeilen Spottes gewesen; und doch ist es der durch den bewundernswerten Scharfsinn des griechischen Weltweisen auf die einfachste Formel gebrachte Ausdruck einer von jedem immer wieder aufs neue gemachten Erfahrung; aber der Vorgang ist, eben weil er ästhetischer, nicht intellektueller Natur ist, ein unbewußter. Jmmer wird die Nachahmung eines bedeutenden Leidensschicksals in doppelter Weise wirken: sie regt zunächst das Jnteresse für den Leidenden auf, sodann das Jnteresse für sein Schicksal an sich, das als ein Teil des allgemeinen Schicksals nicht anders empfunden werden kann als in direkter Beziehung auf die Person des Betrachtenden selbst. Jndem nun die Kunst des Dichters je nach dem Lauf der Handlung bald die eine Wirkung bald die andere in den Vordergrund treten läßt und je nach Bedürfnis stärker accentuiert, erhält notwendig die fort= gerissene, pathologische Teilnahme an dem Leiden des einzelnen ein Gegengewicht an der Beunruhigung, mit der die Vorstellung der Schicksalsübermacht den Betrachter in Hinsicht auf seine eigene Sicherheit erfüllt. Umgekehrt wird dieses bange Gefühl der störenden Beimischung von Schwäche und Selbstsucht enthoben durch die ihm wehrende Ablenkung zu der Hingabe an das fremde Leiden. Durch dieses Wechselspiel gewinnt der tragische Dichter die Macht, der das Vermögen keiner anderen Kunst vergleichbar ist, über die Seelen seiner Zuschauer: in ihnen, selbst ohne ihr Wissen und Wollen, die stärksten und in ihrem Beginn widersprechendsten Grundempfindungen, das Jnteresse für sich selbst und das Jnteresse für andere in der wichtigsten Frage nach der Stellung gegenüber dem alle beherrschenden Schicksal, in vollem Gleichmaß zu vereinen, weil er beide zuletzt bis zu der reinsten Quelle ihrer Nahrung führt, vor das zum Ganzen gerundete, wahrheitsgetreue Bild des Schicksalsgesetzes in seiner schreckenvollen Majestät und seiner ewigen, erhabenen Weisheit. Woher nun der Sturm gegen Lessings Erklärung der tragischen Katharsis? Man hat sie eine „moralische“ Erklärung genannt; natürlich mußte sie, mit diesem in der Ästhetik verpönten Stigma gekennzeichnet, als beseitigt gelten, und das blendende Sophisma der Bernaysschen „medizinischen“, „psychologisch=hygienischen“ hielt seinen triumphierenden Einzug, um für eine beträchtliche Zeit fast uneingeschränkt zu herrschen. Es ist der Mühe wert zu untersuchen, wie es zu erklären sein möchte, daß ein so gründlicher und geistvoller Forscher zu der Paradoxie der Sollicitations- und Entladungstheorie gelangen konnte, und daß dieselbe bei so vielen ausgezeichneten Gelehrten Zustimmung gefunden hat und noch findet. Die Frage hat eine philologische und eine philosophisch=ästhetische Seite; manche erkennen die Bernayssche Theorie nur als die richtige Jnterpretation der aristotelischen Lehre an, ohne ihr deshalb die philosophisch=ästhetische Richtigkeit zuzusprechen; andere halten, wie Jakob Bernays selbst, mit der philologischen Frage auch die ästhetische für entschieden. Der Versuch, die Genesis der gegnerischen Anschauung zu erklären, gibt die erwünschte Veranlassung, zum Beschluß dieser ganzen Untersuchung die Ergebnisse derselben in vervollständigter Ausrüstung und zu geschlossenem Treffen vereinigt noch einmal gegen sie ins Feld zu führen. ────── XXV. Der Ausgangspunkt liegt in der allgemeinen, philosophisch=ästhetischen Seite der Frage, denn hier erhob sich der Zweifel, der Bernays zu der erneuten philologischen Untersuchung des Katharsisbegriffes erst veranlaßte. Also: 1. Lessing hatte sich das unglücklich gefaßte Wort entschlüpfen lassen: „ bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie: es ist kläglich, wenn man dieses erst beweisen muß; noch kläglicher ist es, wenn es Dichter gibt, die selbst daran zweifeln“. Und die „Besserung“ fand er mit noch mehr verfehltem Ausdruck in der „Verwandlung der tragischen Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten “. Mit Recht hatte dagegen Goethe seine Stimme erhoben: „ Keine Kunst vermag auf Moralität zu wirken “; ebenso richtig verlangt er, daß die Tragödie aus sich selbst erklärt werde, nicht aus einer außerhalb liegenden, entfernten und ungewissen Wirkung: ihr Werk soll „die Ausgleichung der tragischen Leidenschaften“ sein. Auf diesem Punkte Fuß gefaßt und von hier aus die ganze Frage neu angeregt zu haben, ist Bernays' großes Verdienst. 2. Also „ Ausgleichung “ von Furcht und Mitleid! Nach Aristoteles sind diese Affekte Unlust empfindungen; die Tragödie aber hat die Aufgabe, Lust hervorzubringen. Mit Eduard Müller („Theorie der Kunst bei den Alten“) fand Bernays nun völlig konsequent, daß die „Ausgleichung der tragischen Leidenschaften“ in der Verwandlung des Unlustcharakters derselben in Lustgefühl bestehen müßte, daß dieser Prozeß also den Begriff der Katharsis ausmache. Aber wie hat man sich diesen Hergang zu denken? Dies blieb die ungelöste Hauptfrage. Hier hatte Bernays den Punkt gefunden, um den Schacht seiner philologischen Untersuchung abzuteufen. 3. Ob ihm nun hierbei schon eine bestimmte philosophisch=ästhetische Theorie vorschwebte, oder ob das Resultat seiner Untersuchung ihn erst auf dieselbe führt, ist gleichgültig; genug, diese Theorie frappierte in der Fassung, die Bernays ihr gab und in der er sie dem Aristoteles imputierte, durch den Reiz der Neuheit ganz außerordentlich, obwohl sie im Grunde mit der die Mitte des 18. Jahrhunderts beherrschenden, durch Lessing und Schiller überwundenen Kunstanschauung zusammenfällt. Das Altertum kennt sie gar nicht; nur in losem Zusammenhange knüpft sie an Platonische Anschauungen an, und zwar gerade in dem Punkte, den Aristoteles aufs entschiedenste bekämpft hat. Eben deshalb, weil es die vorlessingsche Theorie ist, konnte eine gewisse Übereinstim= mung mit derselben auch noch bei dem jungen Lessing gefunden werden; und so mußte es der Lessing der Dramaturgie sich gefallen lassen, sein eigenes jugendliches Jch von Bernays wider sich ins Feld geführt zu sehen. Jn dem Aufsatz „Ergänzung zu Aristoteles' Poetik“ (Rhein. Museum. N. F. VIII. S. 567) citiert Bernays eine Stelle aus dem Brief Lessings vom 2. Februar 1757 an Mendelssohn: „Darin sind wir doch wohl einig, lieber Freund, daß alle Leidenschaften entweder heftige Begierden oder heftige Verabscheuungen sind? Auch darin, daß wir uns bei jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung eines größeren Grads unserer Realität bewußt sind und daß dieses Bewußtsein nicht anders als angenehm sein kann? Folglich sind alle Leidenschaften, auch die allerunangenehmsten, als Leidenschaften angenehm. Jhnen darf ich es aber nicht erst sagen: daß die Lust, die mit der stärkeren Bestimmung unserer Kraft verbunden ist, von der Unlust, die wir über die Gegenstände haben, worauf die Bestimmung unserer Kraft geht, so unendlich kann überwogen werden, daß wir uns ihrer gar nicht mehr bewußt sind;“ und ebenso, wie dort weiter ausgeführt ist, kann die durch den Gegenstand erregte Unlust von der Lust, die in der stärkeren Bestimmung der Kraft liegt, zu einem Minimum herabgedrückt werden. ─ „Hätte Lessing,“ fährt Bernays fort, „zehn Jahre später, als er die Dramaturgie schrieb, diesen Gedankengang eingeschlagen, so wäre er zu einer ganz anderen und viel richtigeren, nicht zu seiner moralischen, sondern zu einer psychologischen Auffassung der aristotelischen Katharsis geführt worden. Es ist dies nicht das einzige Mal, daß Lessing in seinen früheren Briefen seine späteren Schriften übertrifft.“ Jn diesen Sätzen, hat man gemeint, sei Lessing dem Kernpunkt der aristotelischen Theorie am nächsten gekommen: daß nämlich die tragische Lust auf der bloßen starken Sollicitation der tragischen Affekte beruhe, denn das anhaftende Unangenehme derseben falle durch das Bewußtsein von der „Unwirklichkeit“ ihrer Gegenstände fort. So auch Döring, „Kunstlehre des Aristoteles“, 1876, S. 341. „Hier kommt Lessing, ohne es zu ahnen, der aristotelischen ἐκ φόβου καὶ ἐλέου ἡδονή nahe.“ Aber es ist ein handgreiflicher Jrrtum, wenn behauptet wird, Lessing habe hier die Gedanken des Abbé Dubos, denn um dessen Theorie handelt es sich, „schlechterdings angenommen“; gerade dieses verweist er in dem Briefe vom 2. April 1757 seinem Freunde Nicolai und verlangt, „daß sie, wenn sie nicht leeres Gewäsch sein sollen, ein wenig philosophischer ausgedrückt werden müßten“. Allerdings hatte Nicolai sich den „Gedanken des Dubos schlechterdings angeschlossen“, wenn er (Brief vom 31. August 1756) „das Trauerspiel für das beste erklärte, welches die Leidenschaften am heftigsten erregte“. Wenn er somit die Sollicitationstheorie zuerst in Anregung brachte, so war wenigstens Lessing nicht auf seiner Seite. Dubos entwickelt die Hauptsätze seiner Theorie, die von der Baumgartenschen und Schweizerischen Ästhetik im wesentlichen aufgenommen wurden, gleich im Beginne seiner Réflexions critiques sur la Poésie et sur la Peinture , die 1719 zuerst erschienen. Er geht von der Platonischen Auffassung des Begriffs der Freude aus, die ihm als hors de contestation erscheint: les hommes n'ont aucun plaisir naturel qui ne soit le fruit du besoin . Vgl. Nouvelle édition (Dresde 1760). T. I, S. 5 ff. Das ist gerade der Satz, dem, wie oben schon ausgeführt, die glänzende Polemik des Aristoteles im siebenten und zehnten Buch seiner Nikomachischen Ethik gilt. Nicht aus der Befriedigung eines Bedürfnisses geht die Freude hervor, sondern sie ist an die Ausübung einer Thätigkeit geknüpft, und zwar die höchste an die vollkommenste. Ein auf jener Basis aufgebautes System muß daher in allen Punkten der aristotelischen Kunstlehre widersprechen. So gleich der nächste Satz: plus le besoin est grand, plus le plaisir d'y satisfaire est sensible ; wenn Dubos nun fortfährt: L'ame a ses besoins comme le corps; et l'un des plus grands besoins de l'homme est celui d'avoir l'esprit occupé , so ist diese faktische Bemerkung geeignet, für den Augenblick eine scheinbare Übereinstimmung mit der aristotelischen Anschauung herbeizuführen, aber nur um in den Konsequenzen sich sogleich wieder weit von ihr zu entfernen. Bei Dubos handelt es sich darum, dem Bedürfnis zu genügen, das, durch die crainte de l'ennui hervorgerufen, die occupation de l'ame erfordert, die stärkste Erregung genügt diesem Bedürfnis am besten: bei Aristoteles ist die Thätigkeit um ihrer selbst willen die Bedingung der Freude, die deshalb ganz und gar von der Art und Weise der Bethätigung abhängig ist. Daher bei Dubos Sätze wie die folgenden (S. 11): Véritablement l'agitation où les passions nous tiennent, même durant la solitude, est si vive, que tout autre état est un état de langueur auprès de cette agitation. Ainsi nous courons par instinct après les objets qui peuvent exciter nos passions, quoique ces objets fassent sur nous des impressions qui nous coûtent souvent des nuits inquiétes et des journées douloureuses: mais les hommes en général souffrent encore plus à vivre sans passions, que les passions ne les font souffrir . Das kann allenfalls als Darstellung des realen Herganges im Leben Geltung haben, aber als Ausgangspunkt für eine Gesetzgebung der Kunst muß es zu den falschesten Schlüssen führen. Was Aristoteles von der Kunst verlangt, ist eben die Katharsis solcher Pathemata: die Nachahmung der Kunst soll freilich die Empfindungskräfte der Menschen in Thätigkeit versetzen, nach der sie so sehr verlangen, aber sie soll dieser Thätigkeit die reinsten Objekte darbieten, d. h. sie zu der in ihrer Art vollendetsten gestalten. Das verlangt auch Schiller im Eingange der Abhandlung „Über die tragische Kunst“, indem er sich die im nächsten Kapitel des Dubos gegebenen Beispiele fast wörtlich aneignet; aber seine Beweisführung schlägt einen Umweg ein, der in das moralische Gebiet hineinleitet und bei dem es ohne sehr starke Verirrungen nicht abgeht. Der Hauptgrund liegt in den falschen Prämissen, die er sich aus dem Dubos zu eigen gemacht hat. Mit jeder Art von Bethätigung, besonders der Empfindungen und Leidenschaften, ist naturgemäß Freude verbunden; aber Aristoteles unterscheidet die falsche Art sich zu freuen von der richtigen (dem ὀρθῶς χαίρειν ). Er kennt auch eine Art sich am mittelmäßigen zu freuen, eine unschädliche Freude, die er z. B. in musikalischen Aufführungen „zur Erholung“ für die Leute niederer Bildung, die „Banausen“, gestattet wissen will. Dies ist die χαρὰ ἀβλαβής , S. Arist. 1342 a 16 ff. welche Bernays in stärkstem Mißverstand für das Ziel der hohen Tragödie angesehen hat! Dubos aber betrachtet die passions und agitations um ihrer selbst willen als den Zweck der künstlerischen Nachahmung, die heftigsten am meisten, und weil die schmerzlichen die heftigsten sind, also diese vor allen. Es erhellt ohne weitere Ausführung auf den ersten Blick, welch einer ungeheuren Macht diese Gedanken durch den Umstand sicher sind, daß sie mit der Art, wie im gemeinen Leben die Masse der Menschen thatsächlich der Kunst nachtrachtet, sich völlig decken. Deshalb hat diese Kunstauffassung, der unsere große klassische Litteratur den Krieg auf Leben und Tod erklärte, immerfort die Massen für sich, und sie droht heute unter der Fahne des angeblichen Realismus und des Naturalismus wieder das Feld für sich zu gewinnen. Nach Dubos kommt es also auf weiter nichts an, als daß den heftigen Emotionen das Schmerzliche, das sie im wirklichen Leben für den, der sie erfährt, mit sich führen, genommen werde: das geschieht, indem sie durch Nachahmung unwirklicher Vorgänge „ künstlich “ erzeugt werden. L'art, ne pourrait-il pas produire des objets qui excitassent en nous des passions artificielles capables de nous occuper dans le moment que nous les sentons, et incapables de nous causer dans la suite des peines réelles et des afflictions véritables ? (S. 24). Und ferner: les peintres et les poétes excitent en nous ces passions artificielles, en présentant les imitations des objets capables d'exciter en nous des passions véritables (S. 25). Diese copie de l'objet soll gleichsam auch nur eine copie de la passion in uns hervorbringen, que l'objet y aurait excitée (S. 26). Und: cette impression superficielle faite par une imitation disparait sans avoir des suites durables, comme en aurait une impression faite par l'objet même . Alle diese Sätze enthalten noch einen unbestreitbaren Teil thatsächlicher Richtigkeit. Nun aber der wahrhaft ungeheuerliche Schluß, der diese ganze Anschauungsweise mit einem Schlage und ganz unvermerkt in eine völlig verkehrte Richtung hineinlenkt: Le plaisir qu'on sent à voir les imitations que les peintres et les poétes savent faire des objets qui auraient excité en nous des passions dont la réalité nous aurait été à charge, est un plaisir pur (S. 27). Während bisher von nichts anderem die Rede gewesen ist, als daß die Jllusion einer Empfindung von gewissen Attributen der wirklich erfahrenen frei sein wird, tritt nun die ganz widersinnige Behauptung auf, daß auch eine an sich unreine und verkehrte Empfindung lediglich dadurch, daß sie als eine nur der Vorstellung entstammende auftritt, zu einer reinen und richtigen würde: denn eine solche müßte sie sein, wenn sie imstande sein sollte, un plaisir pur zu erzeugen. Hier liegt der tiefere Grund, warum Plato die Dichter aus seiner Republik ausschließen wollte, weil das Grundprincip, auf welches er seine Kunstphilosophie baute, des Schutzes gegen den Mißbrauch entbehrte, und weil er nicht der Mann dazu war, sich bei der schalen Ausflucht zu beruhigen, daß der Mißbrauch hier wie überall unvermeidlich sei, und ein jeder auf seine eigene Weise sich davor zu schützen habe. Wer sieht nicht, daß aus dem Quell, dem diese Kunstauffassung entsprang, sich in breitem Strome die beiden Mißbräuche ergießen mußten, die bis auf unsere große klassische Epoche die Dichtung verdarben: auf der einen Seite Uebertreibung und Libertinage, auf der anderen Lehrhaftigkeit und moralisierende Tendenz! So werden die Faktoren der vertu und der sagesse , da etwas ihnen Verwandtes in der Beschaffenheit der Empfindungen, deren nachahmende Erregung diese Art von Ästhetik vorschreibt, nicht gefordert wird, unaufhörlich von Dubos als das Korrektiv angepriesen, durch das die bons poétes dem effet nuisible ihrer Schöpfungen vorzubeugen haben. Die émotion , die Aufregung um ihrer selbst willen, ist das Princip dieser ganzen angeblichen Kunstphilosophie, die damit weiter nichts gethan hat, als daß sie das Material bezeichnet, innerhalb dessen die Kunst ihr Wirkungsgebiet und ihre Aufgabe hat. Jmmerhin ein Fortschritt gegen eine Kunstdogmatik, welche die Ziele derselben ganz nach außerhalb verlegte, aber ein Fortschritt, der zum ersten Anfang zurückkehrte. Keine nachträglich hinzugethanen Einzelvorschriften vermögen den Mangel dieses Princips zu ersetzen, wenn es zum Regulativ der Kunstübung erhoben wird. Ja, je höher die Virtuosität im Gebrauch der Kunstmittel sich steigert, um so größer werden seine Gefahren, weil seine unheilbare Fehlerhaftigkeit um so mehr sich der Erkenntnis verschleiert. Niemals waren diese Gefahren drohender als heute, da diese Richtung einen neuen Rechtstitel und einen neuen glänzenden Deckmantel in dem Schlagwort des Realismus gefunden hat, das falschverstandenen Realismus, der sich brüstet, aus der gemeinen, unbestreitbar vorhandenen Wirklichkeit der Dinge „ naturgetreu “ die „ Emotions “stoffe seiner Nachahmung zu schöpfen. Welch ein Fest für den Leidenschaftshunger, die berechtigte Forderung des Schutzes gegen den ennui , das „ Sollicitationsbedürfnis “, um nach erfolgter „Entladung“, „gleichsam einer Kur teilhaftig“, nun wieder den wahrhaften, ernsten Anforderungen des Lebens sich zuzuwenden! Das wäre die gerühmte Katharsis des Aristoteles? Der „positivistische“ Aristoteles ist hier der wahre Jdealist! Die ganz unschätzbare Bedeutung seiner Poetik beruht, weit hinaus darüber, daß er darin für die höchste Kunstgattung, die Tragödie, unvergängliche Normen aufgestellt hat, darin, daß in diesem einen Bau das Fundament seiner Kunstphilosophie sich offenbart, einer Kunstphilosophie, die, ohne der ästhetischen Freiheit der Kunst Eintrag zu thun, vielmehr sie erst wahrhaft fest begründend, in ihrem Grundprincipe die hohe, priesterliche Würde der Kunst gegen alle Angriffe des wechselnden Zeitgeschmackes sicher stellt. Das ist der eigentliche, tiefere Grund, warum trotz des Spottes gegen die von dem Gegenstande unzertrennliche philologische Grübelei die Forschung von diesem Gegenstande nicht loskommt. Von dieser Wahrheit ist keiner so tief durchdrungen gewesen als Lessing, und sein genialer Scharfblick hat ihn vom ersten Beginn seiner aristotelischen Studien auf den richtigen Weg gewiesen. Jener von Bernays für seine Theorie so ganz ungerechtfertigt in Anspruch genommene Brief an Mendelssohn ─ ganz ungerechtfertigt, obwohl alle Welt darin Bernays nachgesprochen hat ─ beweist das am allermeisten. Merkwürdig! in dem Briefe steht das Gegenteil von dem, was Bernays und alle seine Anhänger darin gefunden haben. Die oben citierte Stelle richtet sich gegen Mendelssohns irrtümliche Erklärung der Jllusion. Mendelssohn hatte das Vergnügen an der künstlerischen Nachahmung auf die intuitive Erkenntnis der Vollkommenheit derselben zurückgeführt; diese intuitive Erkenntnis würde uns dadurch zu teil, daß die vollkommene Nachahmung uns mit demselben Affekte erfüllte wie der wirkliche Gegenstand, während wir uns doch zugleich der Täuschung bewußt wären. Lessing weist diese Erklärung an sich zurück; sodann aber zeigt er, daß der Begriff der Jllusion überhaupt für die künstlerische Nachahmung gar nicht in Betracht komme. Er bedient sich dabei des auch schon von Mendelssohn benutzten, so oft und immer wieder mißverstandenen aristotelischen Beispiels von der gemalten Schlange, Vgl. Arist. Poetik, Kap. 4. „die, wenn wir sie plötzlich erblicken, uns desto besser gefällt, je heftiger wir darüber erschrocken sind“. Aristoteles spricht an der Stelle nicht von der Kunst, sondern von dem Ursprung der Kunst und erklärt ihre ersten rohen Anfänge aus dem Vergnügen, das wir an der Nachahmung überhaupt empfinden; nicht also von der künstlerischen Nachahmung ist die Rede, die sich als solche gibt, sondern von der Nachahmung überhaupt, die im Leben als solche gerade umgekehrt darauf ausgeht, zu täuschen. Schon diese, sagt Aristoteles, macht uns Vergnügen, und zwar um so mehr, je gelungener sie ist. Solche Nachahmungen regten zuerst zu primitiven Kunstversuchen ( αὐτοσχεδιάσματα ) an. Die Kunst hat mit jenen auf wirkliche Täuschung berechneten Nachahmungen weiterhin nichts gemein, als daß auch bei ihr allerdings noch ein Vergnügen an der Nachahmung als solcher stattfindet, das aber nur mittelbar und nebengeordnet in Betracht kommt. Genau ebenso trennt nun Lessing; er unterscheidet die reale Wirkung der Nachahmung als solcher von der Wirkung der künstlerischen Nachahmung. Nur für die erste adoptiert er die Dubosschen Sätze von der Leidenschaft, die uns ein erhöhtes Bewußtsein unserer Realität verleiht und von dem Wegfall des mit der Wirklichkeit verbundenen Unangenehmen eben durch die Nachahmung. Aber ─ sehr bemerkenswert! ─ hebt er schon hier auch den entgegengesetzten Fall hervor, ja er stellt ihn sogar in den Vordergrund, daß auch sehr wohl das Unangenehme der sollicitierten Leidenschaft jenen Abzug weit überwiegen könne. Schon dieses widerspricht der nackten Emotions= und Sollicitationstheorie diametral; denn es tritt damit an den Kunstphilosophen die gebieterische Aufgabe heran, schon im Princip die Qualität der Empfindung festzustellen, deren Auferbauung, reine Her= stellung, das Kunstwerk sich zum Ziel zu setzen habe. Die Hauptsache aber ist, daß Lessing solche Uebertragung der Affekte durch die Nachahmung gar nicht als das Wesen der Kunst ansieht; sie sind ihm nur eine untergeordnete Nebenwirkung derselben. Denn so lautet die Hauptstelle jenes Briefes vom 2. Februar 1757: „Dergleichen zweite Affekte aber, die bei Erblickung solcher Affekte an andern in mir entstehen, verdienen kaum den Namen der Affekte; daher ich denn in einem von meinen ersten Briefen schon gesagt habe, daß die Tragödie eigentlich keinen Affekt bei uns rege mache als das Mitleiden. Denn diesen Affekt empfinden nicht die spielenden Personen, und wir empfinden ihn nicht bloß, weil sie ihn empfinden, sondern er entsteht in uns ursprünglich aus der Wirkung der Gegenstände auf uns; es ist kein zweiter mitgeteilter Affekt.“ Er hätte hinzusetzen sollen, das Gleiche geschieht mit dem Affekt der Furcht. Allein das thut er damals so wenig, als er es später gethan hat. Jn der Hauptfrage, der Reinigung der tragischen Affekte, hat er schon damals die Überzeugung gehabt, die in der Dramaturgie von ihm gelehrt wird. Am 2. April 1757 schreibt er an Nicolai: „Aristoteles würde bloß gesagt haben: das Trauerspiel soll unsere Leidenschaften durch das Mitleiden reinigen, wenn er nicht zugleich auch das Mittel hätte angeben wollen, wie diese Reinigung durch das Mitleiden möglich werde; und dieserwegen setzt er noch die Furcht hinzu, welche er für dieses Mittel hielt.“ Unmittelbar auf diese Ausführung folgt die oben citierte Stelle, in der er dann dem Freunde den Text liest, daß er so sklavisch den oberflächlichen Schlüssen des Dubos gefolgt sei. Es schien erforderlich, auf die Gefahr von Wiederholungen hin, hier noch einmal dieses ganze Verhältnis im Zusammenhange darzulegen, um zugleich die Art der Entstehung der Bernaysschen Hypothese und die Gründe ihrer Widerlegung ins Licht zu setzen. Denn wie kann es bestritten werden, daß dieselbe auf ganz genau demselben Boden steht wie die Emotionstheorie des Dubos? Wie dieser aus dem Vorhandensein der Empfindungskräfte ganz mit Recht das Bedürfnis ihrer Bethätigung folgert, sodann aber, völlig unbekümmert um die Art und Weise, wie diese Bethätigung zu erfolgen habe, die Aufgabe der Kunst lediglich in die Befriedigung dieses Bedürfnisses setzt: ebenso nimmt Bernays von den Furcht- und Mitleidempfindungen an, daß sie die Seele mit dem Drange in starker Äußerung hervorzubrechen belasten ─ was ja gleichfalls auf richtiger Beobachtung beruht ─, daß sie damit also störend sich geltend machen; daß dem solchergestalt entstandenen Bedürfnisse die Kunst mit gleichsam medizinischer Heilung entgegenkomme, indem sie die durch jenen beunruhigenden Drang störenden Kräfte zu stärkster Äußerung hervorlocke und durch die damit erzielte Entladung von ihnen der Seele das freudige Gefühl der Erleichterung und Befreiung verschaffe. Mit demselben Kardinalfehler wie bei Dubos ist auch hier das Wesentlichste völlig unterdrückt: von der Qualität der durch die Kunst zu sollicitierenden Kräfte ist mit keiner Silbe die Rede. Statt dessen wird vielmehr in den stärksten Ausdrücken verlangt, daß dasjenige, was die Kunst sollicitierend in Bewegung setzen solle, eben jene dunkeln, chaotisch die Seele bedrängenden Empfindungskräfte seien, diese sollen, zu stürmischem Ausbrechen aufgereizt, „entfesselt hervorrasen“. Doch halt! Von ihnen soll ja als von einer materia peccans die Seele „entladen“ werden, dieser Stoff soll wie ein Krankheitsstoff durch gleichsam „homöopathische Kur“ in Bewegung gebracht und „ ausgeschieden “ werden! Hier scheint also die Stelle zu sein, wo die Würde und die hohe Aufgabe der Kunst gerettet werden. „ Nein im Erstarren such' ich nicht mein Heil! Das Schaudern ist der Menschheit bester Teil! “ ruft Bernays mit Goethe. Schon dieses Schaudern ist eine Lust, und obenein gewährt solch „lustvolles Schaudern“ nun noch die Entladung von dem dumpfen Drange, der dazu treibt, so daß wir freudig erleichtert uns wieder dem Leben zuwenden können, sei es wohlgemut dem gewohnten Tagesgeschäft, sei es mit befreitem Sinne den höchsten Problemen des Denkens. Dies ist die Vorstellungsweise der Bernaysianer, und sie ist nur erklärlich, wenn man annimmt, daß sich dabei als wirkendes Agens unvermerkt die Vorstellung des wirklichen tragischen Kunstwerks mit seiner beruhigenden und klärenden Wirkung unterschiebt, des wirklichen Kunstwerks, zu dessen Bestimmung freilich in ihrer Definition nicht der geringste Keim vorhanden ist. Es ist ein Trugschluß, wenn behauptet wird, daß die Anregung auch nur durch Vorstellung erweckter Empfindung zu fesselloser Äußerung jene geträumte Entladung hervorbrächte, die bei derartigen Gefühlsexcessen höchstens erst mit dem Moment der Erschöpfung eintritt, der denn doch als Ziel der Kunst nicht wird in Anspruch genommen werden können. Man denke doch nur an die Wirkung solcher tragischen Kompositionen wie „ Werthers Leiden “, wo nicht einmal die Kraft der dramatischen Gegenwärtigkeit die Gewalt des Eindrucks verstärkt. Jedes Ubermaß der Empfindung, ja eine jede fehlerhafte Äußerungsweise derselben versetzt, weit entfernt davon, die einmal sollicitierte Bethätigung derselben zur Ruhe zu bringen, vielmehr das Gemüt in fieberartig, krankhaft nachzitternde Störung seines Gleichgewichtes und endet erst mit dem Herabsinken seines gesamten Kräftezustandes unter das Normalmaß. Auch von dieser Seite gesehen, hält die Sollicitations= und Entladungstheorie in keinem Punkte die Prüfung aus; es fehlt ihr das Haupterfordernis der Definition, daß darin das regulative Princip für Wesen und Form des definierten Gegenstandes gegeben sei. Aber könnte nicht der von Bernays festgestellte Begriff der Katharsis zwar an sich für das Wesen der Tragödie unzutreffend, aber dennoch derjenige sein, den Aristoteles damit verbunden hat? Bernays selbst freilich hielt ihn zugleich für aristotelisch und für richtig; aber es gibt bedingte Anhänger seiner Theorie, die nur dem philologisch=hermeneutischen Teil seines Buches zustimmen und diesen für unwiderleglich erklären, während sie die damit eruierte Anschauungsweise des Aristoteles selbst für mehr oder minder verfehlt erklären. Hier handelt es sich also darum, die Ergebnisse der philologischen Prüfung der Frage noch einmal zur genaueren Überschau zusammenzustellen. Obenan steht 4. die berühmte Stelle der Politik über die musikalische Katharsis, die Bernays den Grundstein seiner Theorie lieferte. Die Stelle setzt allerdings den Terminus der Katharsis in Parallele mit dem Vollzug einer Kur und spricht von der „Heilung“ und „Herstellung“ der von übermäßigem Enthusiasmus Heimgesuchten durch die heiligen Olymposlieder. Aber zweierlei wird hier von den Bernaysianer völlig übersehen: a ) die Stelle setzt ausdrücklich und mit vollem Recht als das wirkende Agens dieser kathartischen Heilung dasjenige voraus, was, wie oben bemerkt, die Bernaysianer stillschweigend und unberechtigt in ihrer Theorie dafür in Anspruch nehmen: das vollendete Kunstwerk, das auf Grund eines richtigen Katharsisbegriffes ja doch erst entstehen soll. Die „ heiligen “ Weisen, die den Namen des Olympos trugen, sind als eine Musik zu denken, durch welche die Seele zum Enthusiasmus entzückt wurde: „sie allein“, läßt Plato in seinem „Gastmahl“ den Alkibiades sagen, „vermögen zur Begeisterung hinzureißen und sie lassen es erkennen, wer nach den Göttern und nach den göttlichen Geheimnissen Verlangen trägt, weil sie selbst göttlich sind“. Plato, Symp., p. 215: μόνα κατέχεσθαι ποιεῖ καὶ δηλοῖ τοὺς τῶν θεῶν τε καὶ τελετῶν δεομένους διὰ τὸ θεῖα εἶναι . Eine solche Musik muß trotz ihres stark erregenden Charakters als maßvoll und schön vorausgesetzt werden, war sie doch bestimmt, die Seele zu dem Erhabensten emporzutragen. Wenn nun bei den Griechen der Exceß solcher gottestrunkenen Stimmungen eine nicht ungewöhnliche Erscheinung war, so ist nichts natürlicher, als daß Aristoteles in dem Augenblicke, da er eines überzeugenden Beispiels für die Zweckmäßigkeit und die Berechtigung der „enthusiastischen“ Musik bedurfte, sich darauf berief, wie diese Weisen in der Hand des Künstlers es vermöchten, jene Hyperenthusiastischen gerade in ihrer Stimmung zunächst zu erfassen und diese Stimmung sodann zum rechten Maße zurückzuführen. Damit „erfahren sie gleichsam eine Heilung“, denn sie werden von dem Übermäßigen ─ dem „ μᾶλλον “, der ὑπερβολή ihres Pathema ─ befreit: dieses wird ausgeschieden, nicht etwa nur der Enthusiasmus selbst, was ein vollkommener Widersinn wäre, und dem Zwecke der „heiligen Lieder“ ganz entgegengesetzt. Diesen Prozeß, der die Empfindung durch Ausscheiden des Fehlerhaften läutert, reinigt, nennt Aristoteles „ Katharsis “. b ) Daß aber Aristoteles an der Stelle gar nicht anders verstanden werden kann, und daß die Bernayssche Hypothese völlig unmöglich ist, zeigt der zweite Punkt. Zugegeben selbst, die Enthusiasmuskranken würden durch die Olymposlieder, nachdem sie mit Hülfe derselben sich ausgerast, von dem Enthusiasmus erleichternd entladen: wie sollte es dann denkbar sein, daß dieser Katharsis ganz in derselben Weise auch diejenigen teilhaftig werden, die dem Enthusiasmus mit zu geringem Aufschwung der Seele ─ dem ἧττον , der ἔλλειψις des Pathos ─ gegenüberstehen? Und doch sagt Aristoteles ganz ausdrücklich, daß es in Bezug auf den Enthusiasmus ebensowohl ein Zuwenig und Zuviel gebe, wie in Bezug auf Furcht und Mitleid und die übrigen Empfindungen, und daß die für die Gemüts „heilung“ geeignete Musik allen ohne Unterschied zu gute käme. Er sagt es mit so absichtlicher Betonung, daß eine abweichende Auffassung hier unmöglich ist: jene Herstellung widerfahre ebenso wie den Enthusiastischen, so auch den der Furcht und dem Mitleid oder überhaupt irgend einem Affekte vorzugsweise Zugeneigten, „ den übrigen aber ─ d. h. also den nicht in zu hohem, sondern in zu geringem Grade den betreffenden Affekten Zugeneigten ─ je nach dem Grade, als sie von irgend einem Affekte belastet werden: bei allen tritt eine Art von Katharsis ein und ein freudiges Gefühl der Erleichterung“. An dieser Stelle, scheint es, geben dessenungeachtet viele selbst von denen, die geneigt sind, der Bernaysschen Theorie zu widerstreben, sich derselben gefangen, weil sie, wie offenbar Bernays selbst, sich nicht vorstellen können, wie durch leidenschaftlich erregende Musik an einer in zu geringem Grade ( ἧττον ) vorhandenen Empfindung eine mit dem Gefühl der Erleichterung verbundene Läuterung und heilende Herstellung bewirkt werden solle. Woher denn also schlechterdings die Entladungstheorie als einziges Auskunftsmittel übrig bliebe. Gerade damit verfehlen sie das Verständnis der aristotelischen Empfindungstheorie im wesentlichsten Punkte, in demselben Punkte, um dessentwillen offenbar von Aristoteles auf die in der verlorenen Poetikstelle gegebene ausführliche Definition der Katharsis hingewiesen wird. Dieser wesentlichste Punkt ist der folgende: wie aus Hunderten von Stellen der Ethik und Rethorik selbst für die oberflächliche Lektüre sich ergibt, ist Aristoteles überall von dem mechanischen Verfahren, eine jede Empfindung, von der er handelt, für sich allein zu betrachten, weit entfernt. Wie er das übermäßige Vorwalten einer einzelnen Empfindung dadurch erklärt, daß die entgegenstehenden, mäßigenden Empfindungen in zu geringem Grade vorhanden sind, so erblickt er den Grund der zu schwachen Empfindungsregungen in dem hemmenden, übermäßigen Vorwalten der ihnen entgegengesetzten Affekte. Vgl. die näheren Ausführungen hierüber in dem oben mehrfach citierten Buch d. Verf. „ Aristoteles, Lessing und Goethe “ an vielen Stellen, namentlich S. 7 ff., 18 ff. und S. 40─44. Wie ist da nun noch irgend ein Zweifel über das Fundament der aristotelischen Ästhetik, d. i. seine Katharsistheorie, möglich? Von moralischen Einwirkungen durch die Vernunft und den Willen kann hier freilich keine Rede sein, mit diesen Kräften hat die Kunst nur mittelbaren und indirekten Zusammenhang, sondern nur von Einwirkungen der Empfindungen untereinander; so nämlich: daß den Nachahmungen durch die Kunst die Kraft erteilt werde, sowohl das Übermaß des die Seele gefangen haltenden Affektes durch Auslösung der entgegenstehenden, wohlthätig beschwichtigenden Empfindungsgruppe obsiegend herabzumindern, das Gemüt also zu erleichtern, den betreffenden Affekt selbst zu läutern, zu reinigen, als die zu schwache Empfindung durch Überwindung der disparaten, hemmend entgegenstehenden Affekte, die aus der Seele gleichsam hinweggeschmolzen werden, zur Höhe wohlthätig das Gemüt durchströmender Kraftäußerung zu steigern, auch hier also einen Läuterungs=, Reinigungsprozeß zu vollziehen: eine Katharsis in beiden Fällen! Wo konnte nun die Demonstration und die Definition dieses Prozesses in einfacherer und überzeugenderer Weise geschehen als in der Lehre von der Tragödie? Wie schwer, ja fast unmöglich ist es, die ganz unendliche Mannigfaltigkeit der durch die Musik angeregten Empfin= dungen, in ihrem weit über die Grenzen des sprachlichen Ausdrucks hinausgehenden Reichtum der feinsten Nuancen und Mischungen, auch nur mit einiger Klarheit und Bestimmtheit zu bezeichnen, vollends ihr gegenseitiges Verhältnis, das Streiten und Obsiegen überzeugend darzulegen! Nirgends aber ist das Feld so zubereitet gerade für diese Aufgabe als in der Tragödie; darum wurde sie in so unvergleichlicher Weise von dem Meister wissenschaftlicher Geistesforschung dazu verwandt, um durch ihre Definition das Fundament der gesamten Ästhetik für alle Zeiten unerschütterlich zu errichten. Jn der Tragödie, obwohl das ganze Feld aller denkbaren Seelenbewegungen zur Auswahl für die Mittel ihrer Nachahmung ihr zu Gebote steht, handelt es sich doch nur um zwei Grundempfindungen, die sie als unmittelbare, „erste“ Affekte in der Seele des Zuschauers erweckt, das Mitleid und die Furcht, freilich beide in den unzähligen Abstufungen ihrer Stärkegrade und sonstigen Beschaffenheiten nach Ursache ihrer Entstehung und Art und Weise ihrer Äußerung. Zudem stehen nun aber diese beiden Grundempfindungen gerade in dem engen Wechselverhältnis zu einander, daß in den zu geringen und in den zu starken Graden ihrer Bewegung sie einander über die Gebühr verstärken oder hemmen, ja unter Umständen wechselsweise vernichten, Vgl. „Aristoteles, Lessing und Goethe“, namentlich S. 23 und S. 31 ff. und daß sie nur in dem einen Falle zu jener gleichzeitigen, wohlthätig empfundenen Thätigkeit in der Seele gelangen, die einen so wesentlichen Teil ihres gesunden Lebens ausmacht, wenn jede von ihnen in voller Reinheit erscheint. Da dieser ideale Zustand der reinen Bethätigung für eine jede der beiden Empfindungen also an die Beschaffenheit der anderen gebunden ist, so kann offenbar die vollkommene Symmetrie beider auf keine andere Weise erreicht werden als durch den reciprok bewirkten Reinigungsprozeß der einen durch die andere: „ die durch das Mitleid und die Furcht sich vollendende Katharsis der diesen beiden Gebieten angehörigen Empfindungsäußerungen “. Dies ist das typische Beispiel der Katharsis, die nirgends so klar zur Erscheinung gelangt wie hier, die aber das wesentliche Moment, die unerläßliche Aufgabe einer jeden rein künstlerischen Wirkung bildet. Es gibt Nebenwirkungen der Kunst, wie z. B. die bloße Ergötzung, und zwar eine an sich selbst „unschädliche Ergötzung“ für die Müßigen, Erholung für die von harter Arbeit Überlasteten; ferner wird sie für die Werdenden in der Hand des Erziehers zu ethischen Zwecken der Anfeuerung des Strebens, der Anleitung zum Guten und Edlen, zur Zucht und Übung der Gemütskräfte ein hochbedeutsames Mittel sein; endlich kann sie im Dienste anderer Mächte, nicht nur des religiösen Kultus, sondern auch des politischen und geselligen Lebens, für unmittelbare praktische Zwecke nutzbar gemacht werden: ihre höchste Würde wird sie immer nur da behaupten, wo sie auf rein ästhetische Wirkung und auf nichts anderes gerichtet ist als auf diese. Eine solche ungemischt ästhetische Wirkung wäre die Sollicitation zum Zwecke der Entladung aber keineswegs. Das Mittel der Wirkung wäre zwar dabei ein lediglich ästhetisches, der Zweck aber wäre gerade die Negation ästhetischer Bethätigung zu Gunsten von Ansprüchen, die ganz außerhalb aller Beziehungen der Kunst im wirklichen Leben liegen. Wird dies aber geleugnet und statt dessen als der Endzweck jenes Gefühl „freudiger Erleichterung“ gesetzt, das bei Bernays eine so große Rolle spielt, so gelangt man zu einem Widerspruch, bei dem sich die Anhänger seiner Theorie unmöglich beruhigen können: die Freude, die das Endziel der Tragödie bildet, soll in der Entladung von denselben Affekten ihren Grund haben, deren möglichst starke Sollicitation während ihrer Dauer den eigentlichen Genuß des tragischen Kunstwerks verschafft. Der Begriff der aristotelischen Katharsis setzt die höchste Würde der rein ästhetisch wirkenden Kunst in die Herstellung der durch sie erregten Affekte zur höchsten Reinheit, so daß die Frucht des Kunstwerks für die Seele die Freude an der möglichst vollkommenen Ausübung eines der höchsten Vermögen ist, dessen sie durch ihre Organisation teilhaftig gemacht wurde. Mit seiner Forderung der Reinigung des Mitleids durch die Furcht und dieser durch jenes war Lessing also im Recht. 5. Jn den neuplatonischen Zeugnissen steht das Gegenteil von dem, was Bernays zur Bestätigung seiner Theorie darin zu finden meinte. a ) Obwohl bei Jamblichus der schiefe Gedanke obwaltet, die phallischen Ceremonien dadurch in Schutz zu nehmen, daß er sie hinsichtlich ihrer ableitenden Wirkung mit dem Erfolg der tragischen und komischen (!) Katharsis vergleicht, so schlägt dennoch die Begründung, die er dafür vorausschickt, gegen Bernays, sogar, wenn man seiner eigenen Übersetzung folgt: die gänzlich zurückgehaltenen Affekte werden um so heftiger; „lockt man sie dagegen zu kurzer Äußerung in richtigem Maße hervor ( ἄχρι τοῦ συμμέτρου προαγόμεναι , das lautet genauer: ‚ bis zu der Höhe des Gleichmaßes hervorgerufen ‘), so wird ihnen eine maßhaltende Freude ( χαίρουσι μετρίως , genauer: so sind sie von maßvoller Freude erfüllt, durchdrungen, begleitet ', d. h. also die Freude ist durch ihre Bethätigung gegeben, nicht durch den Akt der Entladung von ihnen bedingt), sie sind gestillt und entladen und beruhigen sich dann auf gutwilligem Wege ohne Gewalt ( καὶ ἀποπληροῦνται καὶ ἐντεῦθεν ἀποκαθαιρόμεναι πειθοῖ καὶ οὐ πρὸς βίαν ἀναπαύονται , hier statt der geradezu falschen Übersetzung Bernays: ‚ und finden volle Befriedigung und, auf solchem Wege geläutert, gelangen sie willig, nicht gewaltsam unterdrückt, zur Ruhe ‘)“. b ) Jn der ersten von Bernays aus Proklus angeführten Stelle Vgl. Plato ed. Bas. 1534, p. 360 ff. und in der Ed. Acad. Reg. Bor. des Aristoteles T. V, p. 1486. spricht nur der Neuplatoniker, ohne daß die geringste äußere Andeutung dazu berechtigte, hier ein Citat aus Aristoteles zu vermuten. Nur seiner eigenen Ansicht zuliebe konnte Bernays ein solches in den Ausdrücken ἀφοσίωσις τῶν παθῶν und κίνησις τῶν παθῶν erblicken. Das letztere, „Bewegung der Empfindungen“, ist der durchaus übliche, fast nicht zu vermeidende Ausdruck an dieser Stelle; was das erstere betrifft, das Bernays als „ Abfindung der Affekte“ wiedergibt, und das sicherlich sinngemäßer übertragen wird mit „ Beschwichtigung derselben“, so widerspricht Bernays in der Anmerkung dem Text, wenn er dort (vgl. Anm. 14 S. 199) sagt, daß das Verbum ἀφοσιοῦσθαι in der Bedeutung „sich mit etwas abfinden“ von „den besten Attikern so gebraucht worden sei, wie etwa in der heutigen Konversationssprache animam salvare “ und dagegen im Text die Wendung für „eine aus dem gediegenen Metall des griechischen Sprachschatzes geprägte Metapher“ erklärt, „deren bedeutungsvolle Lebendigkeit weit über die stilistischen Mittel des matten Proklos hinausgehe“. Wie dem auch sei, es liegt nicht der mindeste Grund vor, das Wort, welches in den vorhandenen Schriften des Aristoteles überhaupt nicht vorkommt, in solchem Sinne auf diesen Gegenstand angewendet ihm zuzuschreiben. c ) Dagegen ist an der zweiten Stelle desselben Autors (S. 362) ausdrücklich Aristoteles citiert und schon in dem vorangehenden Satze aus seinem Sinne gesprochen. Diese Stelle spricht mit lauter Stimme für Lessings Katharsiserklärung gegen Bernays, wieder sogar in dessen eigener Übersetzung: Platos Verbannung der Tragödie und Komödie werde absurd gescholten, „da man ja durch diese Dichtungen die Affekte maßvoll befriedigen und, nach gewährter Befriedigung, an ihnen kräftige Mittel zu sittlicher Bildung haben kann, nachdem ihr Beschwerliches geheilt worden“ ( εἴπερ διὰ τούτων δυνατὸν ἐμμέτρως ἀποπιμπλάναι τὰ πάθη καὶ ἀποπλήσαντας ἐνεργὰ πρὸς τὴν παιδείαν ἔχειν τὸ πεπονηκὸς αὐτῶν θεραπεύσαντας ). Jn diesen Sätzen sind nicht weniger als drei flagrante Proteste gegen Bernays' Theorie enthalten: sie verlangen nicht Sollicitation der Affekte, sondern ein festes Maß, innerhalb dessen das der Seele innewohnende Bedürfnis in betreff ihrer „erfüllt“ werde; mit dieser Erfüllung sind sie keineswegs aus der Seele fortgeschafft, „ entladen “, sondern sie werden vielmehr durch sie „ thätig “ ─ ἐνεργά ─ für ihre höchste Bestimmung; „geheilt“ wird an ihnen nur das, was zuvor Beschwerde verursachte ─ τὸ πεπονηκός ─: diese Heilung ist also nicht eine Ausstoßung der sollicitierten Affekte aus der Seele, sondern sie ist eine Ausscheidung dessen, was an den Affekten über das verlangte Maß hinausging, d. i. eine Läuterung, Reinigung derselben. d ) Die dritte, umfänglichste Stelle des Proklus (S. 362) hat mit der ersten das gemein, daß hier wieder allein der Neuplatoniker sich vernehmen läßt, und ein Hinweis auf Aristoteles darin überhaupt nicht vorhanden ist außer indirekt in einem einzigen Worte. Abermals lehrt die Stelle in allen Punkten das Gegenteil von Bernays' Behauptungen. Das dreimal darin vorkommende Wort ἀφοσίωσις , welches äußerliche „ Abfindung “ bedeuten soll, bestätige sich, wie Bernays meint, „auf die unumstößlichste Weise als eines der hervorragendsten Stichwörter in dem aristotelischen Vortrage“. Die Art, wie Proklus hier die Sache des Plato führt, ist für die Entscheidung der vorliegenden Frage allerdings höchst interessant. Jhm gelten die Affekte, Leidenschaften und die Neigung zu denselben ─ πάθη, παθητικόν ─ überhaupt als der freien Bethätigung der Vernunft hinderlich; nichtsdestoweniger erkennt er mit ihrer Existenz auch ihr Recht auf ein gewisses Maß der Bethätigung an, innerhalb dessen ihnen Genüge geschehen müßte, eben damit der Geist von ihnen befreit den höheren Dingen sich zuwenden könne. Für diese ─ platonische, der aristotelischen direkt entgegengesetzte ─ Auffassung der Procedur, die den Affekten gegenüber stattzufinden habe, gebraucht Proklus den Ausdruck ἀφοσίωσις , Der Ausdruck „ Beschwichtigung “ erscheint insofern als der passendste, als damit beides zugleich bezeichnet wird: die maßvolle Befriedigung des Affektes, wodurch ihm Genüge geleistet wird und, was die Hauptsache ist, die dadurch erfolgte Tilgung desselben, gewissermaßen die „ Entsühnung “ davon. der von ihm selbst als eine „ maßvolle “ ( μετρία ) Beschwichtigung, eine „ Zügelung “ ( χαλινοῦν ) der Affekte charakterisiert wird; oder auf folgende Weise umschrieben: „ihren Bewegungen in wohlgeordneter Weise Einhalt thun “ ( τὰς κινήσεις αὐτῶν ἐμμελῶς ἀναστέλλειν ), ihre „ Bethätigung einschränken “ ( συνεσταλμέναι ἐνέργειαν ). Eben darum erscheint die Bernayssche Wiedergabe des Ausdrucks „ Aphosiosis “ durch „Abfindung“ nicht zutreffend; der offenbar bei den Neuplatonikern feststehend gewordene Terminus hat die ironische Färbung, die Bernays ihm beilegt, nicht, sondern ist ernst gemeint. Der Unterschied der neuplatonischen „Aphosiosis=“ oder „ Beschwichtigungs theorie“ von der aristotelischen Katharsistheorie springt in die Augen. Jene betrachten die Affekte als dem höchsten Zustande der Seele hinderlich; ihre beschwichtigende Befriedigung gestehen sie nur zu, insofern dieselbe ein nicht anders wegzuschaffendes Bedürfnis ist; dieselbe ist demgemäß wie die Ausfüllung eines jeden Bedürfnisses nach platonischer Theorie wohl mit Freude verbunden: aber dieser freudigen Befriedigung sollen die Grenzen eines streng eingehaltenen Maßes gesetzt werden, sie kann niemals selbst, für sich, Zweck werden, sondern sie leistet dem störenden Bedürfnis nur Genüge um mit seiner Beseitigung der Seele die Freiheit zu geben. Dagegen betrachtet die Katharsistheorie ─ und zwar nach der Auffassung des Proklus selbst, wie er sie in dem Citat der zweiten Stelle gibt ─ die maßvolle Befriedigung der Affekte als ein Mittel dasjenige, was an ihnen störend ist, heilend zu beseitigen und sie solcherweise zu kräftigen Faktoren für die Erreichung des höchsten Seelenzustandes umzugestalten. Damit muß die maßvolle ─ künstlerische ─ Befriedigung der Affekte für sich selbst als ein würdiger, ja ein nicht hoch genug zu schätzender Zweck erscheinen. Die Differenz ist interessant genug: zeigt sie doch die engste Verwandtschaft mit dem Gegensatz, in welchen die Schillersche Schönheitslehre sich zur Kantschen Ästhetik stellte! Bei der fundamentalen Verschiedenheit der beiden Kunstanschauungen findet nun aber doch in einem Punkte notwendig ein Zusammentreffen statt: beide verlangen strenges Maß in den Empfindungsbewegungen, welche die eine gestattet, die andere um ihrer selbst willen herbeigeführt wissen will. Ebenso notwendig aber gelangen beide von diesem scheinbar übereinstimmenden Grundsatz aus in der Praxis zu ganz entgegengesetzter Beurteilung. Dieser Gegensatz betrifft das gesamte Gebiet der Kunst; hier kommt er nur in betreff des Dramas zur Sprache. Die Katharsistheorie verlangt die starke Bewegung der Affekte durch das Trauerspiel und die Komödie, vorausgesetzt, daß dieselben eben nur „sollicitiert“ werden um im Verlauf der Handlungsnachahmung zur vollendeten „Läuterung“ zu gelangen. Dagegen muß die „ Beschwichtigungs “= theorie jede stärkere Erregung der Affekte verwerfen, weil sie von der Möglichkeit einer Läuterung ebensowenig etwas wissen will, als sie die Existenz der „reinen“ Empfindungsthätigkeit in der Seele als mit ihrer Vorstellungsweise von dem besten Seelenzustande für vereinbar erachten kann. Sie muß also sowohl die Tragödie als das Lustspiel für verdammlich erklären, obwohl ja auch sie die Notwendigkeit maßvoller Befriedigung der Affekte für ihre Beschwichtigung anerkennt. Nur wird sie immer behaupten, daß durch die dramatischen Aufführungen das Gegenteil erzielt werde; deshalb wird sie der aristotelischen Überzeugung von der Möglichkeit durch die wechselseitige Gegenwirkung stark bewegter Empfindungen die Läuterung derselben zu bewirken, wobei das Fehlerhafte derselben ausgeschieden würde, nicht anders sich gegenüberstellen können als mit ironischer Skepsis. So wird es also völlig gegenstandlos sich mit der unlösbaren Frage zu beschäftigen, ob Aristoteles selbst für jene Ausscheidung den drastischen Ausdruck ἀπέρασις (in der Botanik == „ Abzapfung “ überschüssiger Säfte, aber auch für „Ausspeien“, „Erbrechen“ angewandt) gebraucht habe, oder ob derselbe von den Gegnern in absichtlicher Vergröberung seiner Anschauungsweise gemünzt wurde. Das letztere ist sicherlich wahrscheinlicher. Zum Schlusse stehe hier nach Bernays' eigener Übersetzung die ganze Stelle, die nun für sich selber sprechen mag: „Es erhellt demnach, daß wir uns sowohl vor Tragödie als vor Komödie, weil sie ohne Unterschied Charaktere aller Art nachahmen und unter Lustempfindungen auf die Zuhörer wirken, wohl zu hüten haben, damit ihr Reiz, wenn er das reizbare Gemütselement zu Mitempfindung hinreißt, nicht das Leben der Jünglinge mit den aus jener Nachahmung entspringenden Übeln anfülle und, anstatt eine mäßige Abfindung zu gewähren (richtiger: „statt die Affekte maßvoll zu beschwichtigen “ ἀντὶ τῆς πρὸς τὰ πάθη μετρίας ἀφοσιώσεως ), ihren Gemütern eine schlimme und schwer fortzuwaschende Färbung einflöße, welche das Eine und das Einfache verwischt und das diesen Entgegenstehende, infolge der Neigung zu allartiger Nachahmung, ausprägt. Richten sich doch jene Dichtgattungen vornehmlich auf dasjenige Element der Seele, welches zumeist den Affekten bloßgestellt ist, die Komödie, indem sie das vergnügungssüchtige Gefühl stachelt ( τὸ φιλήδονον ἐρεθίζουσα ) und in unmäßiges Lachen ausbrechen läßt, die Tragödie, indem sie die Trauersucht groß zieht ( τὸ φιλόλυπον παιδοτριβοῦσα ) und zu unmännlichen Klagetönen hinreißt; beide nähren, jede an ihrem Teil, das den Affekten unterworfene Element in uns ( ἑκατέρα δὲ τρέφουσα τὸ παθητικὸν ἡμῶν ), und sie thun dies um so mehr, je vollständiger sie ihrer dichterischen Aufgabe genügen. Allerdings wollen auch wir nicht leugnen, daß es dem Gesetzgeber obliege, gewisse „ Ableitungen “ ( ἀπεράσεις ) jener Affekte zu beschaffen (genauer jedoch, worauf hier viel ankommt: „ Daß freilich der Gesetzgeber für diese Affekte gewissermaßen einen Abfluß schaffen muß, sagen auch wir “: δεῖν μέν οὖν τὸν πολιτικὸν διαμηχανᾶσθαί τινας τῶν παθῶν τούτων ἀπεράσεις καὶ ἡμεῖς φήσομεν ), jedoch nicht so, daß dadurch der Hang zu ihnen noch verstärkt, sondern vielmehr, daß er gezügelt und allgemach gedämpft werde (unrichtig übersetzt für: „daß den Bewegungen derselben in wohlgeordneter Weise Einhalt gethan werde“ τὰς κινήσεις αὐτῶν ἐμμελῶς ἀναστέλλειν ); von jenen Dichtgattungen also, welche außer mit der Mannigfaltigkeit auch noch mit der Maßlosigkeit in der Hervorlockung jener Affekte behaftet sind, glauben wir, daß sie nicht von fern zu Abfindungen dienen können ( πολλοῦ δεῖν εἰς ἀφοσίωσιν εἶναι χρησίμους : „daß sie nicht entfernt zu ihrer Beschwichtigung dienlich sind. “ Überzeugend beweist diese Stelle, daß der „Aphosiosis“ der Begriff der „maßvollen“ Befriedigung des Leidenschaftsbedürfnisses schon an sich innewohnt.). Denn Abfindungen bestehen nicht in Übermaß, sondern in gedämpften Wirkungen und haben nur eine geringe Ähnlichkeit mit dem, wovon sie Abfindungen sein sollen. (Richtiger: „Denn die Beschwichtigung liegt nicht im Empfindungsübermaß, sondern in der Einschränkung ihrer Bethätigung, sie sieht dem wenig ähnlich, was sie beschwichtigt. “) Merkwürdig, wie Bernays in dieser „ Aphosiosis “ ein Synonymon der aristotelischen Katharsis erblicken konnte, noch merkwürdiger aber, wie er in „ dieser Erklärung derselben, die es außer Zweifel setze, daß Proklus dieselbe wie Aristoteles verstanden habe,“ nicht den in schärfster Form ausgesprochenen Gegensatz zu seiner eigenen Sollicitations- und Entladungshypothese erkennen mochte. Die Aphosiosis, die Proklus hier definiert, enthält ja gerade das Charakteristikum der eigenen, neuplatonischen Theorie, die von Proklus der aristotelischen Katharsis polemisch entgegengestellt wird! e ) Ebenso wie alle vorhergehenden von Bernays für seine Theorie angeführten Zeugnisse verwandelt sich auch die letzte, noch aus Jamblichus beigebrachte Stelle bei näherer Betrachtung aus der unerschütterlichen Stütze, für die er sie ausgibt, in eine vernichtende Angriffswaffe. Nicht gegen die musikalische Katharsistheorie des Aristoteles wendet sich die Polemik des Jamblichus, sondern gegen ihre Anwendung auf den Enthusiasmus, den er für „göttlich vom ersten Anbeginn und im ganzen Verlauf“ erklärt ( θεία δὲ αὐτοῦ συνίσταται ἡ πᾶσα ἄνωθεν ἀρχὴ καὶ μεταβολή ). Und wie charakterisiert er nun jenes aristotelische „Heilverfahren“, welches als „natürlich und menschlich und Menschenwerk vom Göttlichen ( θεῖον ) des Enthusiasmus keine Spur habe,“ „weitab davon führe?“ Er bezeichnet es auf das einfachste und treffendste durch die Kombination zweier Vorgänge: ἐμποιεῖν τὰ πάθη und ἰατρεύειν τὰ πὰθη τῆς παρατροπῆς , d. h. „Einpflanzung von Empfindungen“ und „Heilung derselben von Abirrung “. Die Art der letzteren gibt er noch deutlicher durch die Worte an, mit denen er die Anwendung einer solchen „Heilung“ auf den Enthusiasmus abwehrt: Bei ihm dürfe von nichts „ Krankhaftem “ ( νόσημα ), „ Übermäßigem “ ( πλεονασμός ) oder „ störend Belastendem “ ( περίττωμα ) die Rede sein; daher seien die Ausdrücke ἀπέρασις, ἀποκάθαρσις und ἰατρεἰα , also „ Ausscheidung “ ─ nämlich des „störend Belastenden“ ─, „ Abklärung “ ─ natürlich von dem „Übermäßigen“ ─ und „ Heilung “ ─ wovon anders als von dem „Krankhaften“ ─, auf den göttlichen Enthusiasmus in keiner Weise anwendbar. Stärker kann der Gegensatz gegen Bernays' Hypothese und deutlicher die Übereinstimmung mit Lessings „Reinigungs“ theorie nicht ausgesprochen werden. Das wäre also der philologische Befund! Es bleibt noch übrig 6. die specielle psychologische und ästhetische Begründung, mit welcher Bernays seiner Hypothese Eingang zu verschaffen sucht, nach ihren beiden stärksten Verirrungen zu kennzeichnen. Die erste beruht auf einem einzigen Satze, der als fundamentaler Jrrtum die ganze, mit so glänzendem Geistesschmuck ausgestattete Abhandlung durchzieht, und den man immer aufs Neue erstaunt ist bei einem so großen Gelehrten und so scharfen Denker zu finden, wie Jakob Bernays es war. Freilich, die Leser, die diesen Satz von ihm auf Treue und Glauben annehmen, werden im weiteren gegen seine Argumente wehrlos sein; vielleicht erklärt sich hieraus die Nachfolge so manches sonst selbständigen Denkers, den aber seine Studien nicht zur eigenen Prüfung der aristotelischen Ethik und Psychologie geführt haben. „ Alle Arten von Pathos “, heißt es auf S. 176, „ sind wesentlich ekstatisch; durch sie alle wird der Mensch außer sich gesetzt. “ Man könnte einen Preis auf die Entdeckung der Stelle setzen, an der Aristoteles etwas dem Ähnliches sagt. Er findet den Vorgang der „ Ekstasis “ ─ ─ der „Verrückung“ ─ überhaupt „in der Umwandlung eines Natur= gemäßen in ein wider die Natur Gehendes ( ἔκστασίς τίς ἐστιν ἐν τῇ γενέσει τὸ παρὰ φύσιν τοῦ κατὰ φύσιν cf. De coel. II , 3 S. 286 a 19 wörtlich: „Das Widernatürliche ist gewissermaßen eine „Verrückung“, die bei dem Entstehungsvorgange des Natürlichen, des Naturgemäßen stattfindet“). Jn der Schrift „Von der Seele“ sagt er dann freilich gerade in Bezug auf diese, daß „eine jede Bewegung ‚eine Verrückung des Bewegten‘ sei, insofern es bewegt werde“ aber er fügt ausdrücklich hinzu, daß das nur der Fall sei, wenn die Bewegung nicht eine der Natur des bewegten Dinges nach ihm eigene, zukommende sei ( κατὰ συμβεβηκός ), um dann zu dem Schlusse zu gelangen, daß gerade die Bewegung der Seele eine solche sei, die ihr eigen, ihrem Wesen nach ( καθ' αὑτήν ) notwendig bei ihr stattfinde. Die naturgemäße Bewegung der Seele schließt also keineswegs den Vorgang der „Verrückung“ von ihrem Wesen ein. S. De anim. I, 3. 406 b 12. ὥστ' εἰ πᾶσα κίνησις ἔκστασίς ἐστι τοῦ κινουμένου ᾗ κινεῖται, καὶ ἡ ψυχὴ ἐξίσταιτ' \̓αν ἐκ τῆς οὐσίας, εἰ μὴ κατὰ συμβεβηκὸς αὑτὴν κῖνει . ἀλλ' ἔστιν ἡ κίνησις τῆς οὐσίας αὐτῆς καθ ' αὑτήν . Die strikte Anwendung dieser Sätze auf die Empfindungs bewegungen der Seele ist von Aristoteles selbst gemacht und sie widerspricht dem Satze, der die gesamte Auffassung Bernays' von der Seelenlehre des Aristoteles beherrscht, diametral. Sie findet sich in der sehr scharfsinnigen und gründlichen Untersuchung, die dieser im Kapitel 3 des siebenten Buches der phys. auscult . über die Frage anstellt, ob die Beschaffenheiten der Dinge Veränderungen ( ἀλλοιώσεις ) derselben seien. Er verneint dieselbe: die Beschaffenheiten treten zwar nicht ohne Veränderungsvorgänge ein, sie sind aber nicht selbst solche. Ebensowenig seien also die Zustände ( ἕξεις ) des Körpers oder der Seele „Veränderungen“ ( ἀλλοιώσεις ) derselben (S. 246 a 10 ff.); so also auch weder Vortrefflichkeit, Tugend, noch Fehlerhaftigkeit, Schlechtigkeit ( οὔτε ἡ ἀρετὴ οὔτε ἡ κακία ), sondern die erste sei die Vollendung eines Dinges ( τελείωσις ), d. h. also die vollständige Entwickelung desselben bis zu ihrem Ende, die andere die Störung und „ Verrückung “ desselben ( φθορὰ τούτου καὶ ἔκστασις ). Zu der Vollendung ist also einerseits die Freiheit von störendem Pathos erforderlich, andererseits aber ebenso das richtige Pathos unentbehrlich (246 b 19: ἡ μὲν γὰρ ἀρετὴ ποιεῖ \̓η ἀπαθὲς \̓η ὠς δεῖ παθητικόν ); umgekehrt ist die Fehlerhaftigkeit dem störenden Pathos unterworfen und in der entgegengesetzten Weise dem richtigen Pathos verschlossen ( ἡ δὲ κακία παθητικὸν \̓η ἐναντίως ἀπαθές ). Hier ist der Ausdruck „Pathos“ noch im weitesten Sinne genommen; aber die Anwen= dung auf das „ Pathos “ im engeren Sinne als Empfindungsbewegung wird sogleich gemacht. „Ganz ebenso nämlich sei es mit den Seelenzuständen. Auch diese entstehen sämtlich durch ein bestimmtes Verhalten zu den Dingen, die Tugenden also sind die Vollendungen desselben, die Fehler die „ Verrückungen “ davon; die Tugend schließt ein richtiges Verhalten zu den ihr zugehörigen Pathe ein, die Fehlerhaftigkeit ein falsches: auch sie können daher „Veränderungen“ nicht genannt werden.“ 247 a 1 ff: ὁμοίως δὲ καὶ ἐπὶ τῶν τῆς ψυχῆς ἕξεων . ἅπασαι γὰρ καὶ αὗται τῷ πρός τι πῶς ἔχειν, καὶ αἱ μὲν ἀρεταὶ τελειώσεις, αἱ δὲ κακίαι ἐκστάσεις . ἔτι ἡ μὲν ἀρετὴ εὖ διατίθησι πρὸς τὰ οἰκεῖα πάθη , ἡ δὲ κακία κακῶς . ὥστ ' οὐδ' αὗται ἔσονται ἀλλοιώσεις . Diese einleuchtenden Ausführungen setzen es ganz außer Zweifel, wie Aristoteles zu verstehen ist, wenn er in der Ethik wiederholt dem Manne, der sich selbst beherrscht, fest auf dem Vernunftschluß beharrt ( ἐγκρατής, ἐμμενετικὸς τῷ λογισμῷ ) den Unmäßigen, Zügellosen oder Charakterschwachen ( ἀκόλαστος, ἀκρατής ) gegenüberstellt, der „ durch das Pathos sich von der Vernunft, von seiner Meinung wegrücken läßt“ ( ἐκστατικὸς τοῦ λογισμοῦ, πάσης δόξης διά γε τὸ πάθος ), also den „ durch das Pathos Ekstatischen “. Vielleicht sind es solche Wendungen gewesen, die Bernays zu der Auffassung verleitet haben, nach Aristoteles seien „ alle Arten des Pathos wesentlich ekstatisch “, während doch kaum etwas Anderes einen so wesentlichen Grundzug seiner gesamten Philosophie bildet als die Lehre, daß zu der „ Vollendung “ der Seele, auf der sowohl Tugend als Freude und zu einem bedeutenden Anteil auch das Glück beruhen, die wohlgeordnete Bethätigung der Empfindungsbewegungen einer der wichtigsten Faktoren ist: daß also das Pathos, weit entfernt die Seele ekstatisch „ außer sich zu setzen “, Das wäre recht eigentlich das ἀλλοιοῦσθαι , das Aristoteles bestreitet. wie Bernays will, vielmehr richtig bestimmt, d. h. von aller „ Abirrung “ und allem „ krankhaften Übermaß “ geheilt ─ das geläuterte Pathos ─ die naturgemäße Entfaltung ihres innersten Wesens ist. Sähe Aristoteles die Furcht= und Mitleidempfindung an sich selbst als „ekstatisch“ an, so hätte die Entladungstheorie einen Sinn: da es ihm aber gerade darauf ankommt die Seele zu diesen Empfindungen in das richtige Verhältnis zu setzen ( εὖ διατιθέναι ), so kann das Mittel dazu nur sein, dieselben von den Beimischungen, die die Gefahr der „Ekstasis“ nahelegen, zu befreien, zu reinigen. Das geschieht, indem die von außen sie bestimmenden Veränderungsvorgänge ( ἀλλοιώσεις ) dementsprechend in der Nachahmung der Handlung eingerichtet werden, d. h. indem die Katharsis im Sinne der Reinigung der tragischen Affekte zum regulativen Princip für die Komposition der Tragödie erhoben wird. So steht es mit der Grundlage der psychologischen Motivierung in Bernays' Theorie; wie aber war es möglich, daß er und seine Anhänger über die ungewöhnlich starke Zumutung hinwegkommen konnten, die sie an das ästhetische Gewissen stellt? Auch hier liegt die Erklärung in einer, freilich unbewußt geschehenden, Unterschiebung. Wie schon oben bemerkt: die Definition des tragischen Kunstwerks „Entladung durch Sollicitation“ krankt an dem Kardinalfehler, daß sie nicht das geringste Regulativ für die Qualität der zu sollicitierenden Affekte enthält. Wie verfährt nun aber Bernays? Er nimmt gleichwohl vorweg in den Beweis für seine Definition der Katharsis alle die aristotelischen Bestimmungen über die herzustellende Qualität der Furcht- und Mitleidempfindungen mit hinein, welche erst als eine Konsequenz der in dieser selben Definition gestellten Forderung ihrer Katharsis von Aristoteles erhoben werden. Er thut das, obwohl mit der hier gestellten Forderung des Gleichmaßes dieser Empfindungen seine eigene Forderung, daß dieselben fortgeschafft werden sollen, notwendig in Wegfall kommen muß! Denn in solcher Gestalt will Aristoteles eben diese Pathe einpflanzen ( ἐμποιεῖν ), nicht ausstoßen ( ἀποκαθαίρειν ), und wer wollte leugnen, daß diese Forderung ebenso mit der gesamten aristotelischen Philosophie im vollsten Einklange steht wie mit der gemeinsamen ästhetischen Anschauung aller nur einigermaßen erleuchteten Kunstepochen? Für Bernays blieb also nichts übrig, als diese, auch für ihn unentbehrlichen, Qualitätsbestimmungen der Mitleids- und Furchtaffekte aus der bloßen Verkoppelung herzuleiten, in der sie die aristotelische Definition aufführt: „Mitleid und Furcht!“ Auch er muß nun eine wechselseitige, berichtigende Einwirkung der Furcht auf das Mitleid und umgekehrt des Mitleids auf die Furcht annehmen! „Das Mitleid wird also durch seine Verschwisterung mit der Furcht vor Singularität bewahrt “ (S. 181). „Andererseits darf die Furcht nie mit so lähmender Gewalt auf den Zuschauer eindringen, daß sie die zur Teilnahme an einem Andern nötige Gemütsfreiheit raubt “ ( ibid .). „Der tragische Dichter soll das Band, welches die beiden Affekte ihrer Natur nach innerlich verknüpft, stets straff angezogen halten“ ( ibid .). Wohl! Aber was ist damit anders verlangt, als was eben auch Lessing will: eine reciproke, berichtigend einwirkende Modifikation der einen Empfindung durch die andre? Welch ein seltsamer Schluß jedoch, daß der Dichter seine ganze Kunst aufwenden soll, diese „ Verschwisterung “ der beiden Affekte zu bewerkstelligen, lediglich um sie dann gemeinschaftlich hinauszubefördern! Dieser vollkommene Widerspruch ist es, dessen Unlösbarkeit der sonst so klaren, scharfsinnigen Darstellungsweise Jakob Bernays' in den Schlußsätzen seiner berühmten Katharsisabhandlung den Stempel eines dunklen Mysticismus aufdrückt. Hier liegt in einem nicht zu schlichtenden Streit die Wahrheit der aristotelischen Bestimmungen über die Qualität der zu erregenden Furcht- und Mitleidempfindungen zusammengezwungen mit der Unwahrheit der Bernaysschen Forderung, sie durch ihre „Hervorlockung“ auszulöschen. „Nur durch die stete straffe Verknüpfung der beiden Affekte,“ heißt es S. 182, „wird das tragische Kunstwerk die kathartische, d. h. die ekstatisch=hedonische Erregung von selbst herbeiführen. Denn wenn das Mitleid so universalisiert worden, daß der Zuschauer mit dem tragischen Helden zusammenfließt, so verschwindet vor der Wonne, welche dieses Heraustreten aus dem eigenen Selbst begleitet, das Gefühl der Pein, welches die bemitleidete nackte Thatsache an sich erregen könnte, zumal da das nie ganz einschlafende Bewußtsein der Jllusion jene empirische Pein ohnehin mäßigt. Dagegen würde auch bei dem wachesten Bewußtsein der Jllusion das direkt dargestellte Furchtbare immer noch, da die Furcht kein räsonnierender Affekt ist, erdrückend und peinvoll wirken; die Persönlichkeit des Zuschauers, statt in ekstatisch=hedonischer Weise sich aufzulösen, würde vor solchen Schreckbildern sich in sich selber zusammenkrümmen; und nur wenn die sachliche Furcht durch das persönliche Mitleid vermittelt ist, kann der rein kathartische Vorgang im Gemüte des Zuschauers so erfolgen, daß, nachdem im Mitleid das eigene Selbst zum Selbst der ganzen Menschheit erweitert worden, es sich den furchtbar erhabenen Gesetzen des Alls und ihrer die Menschheit umfassenden unbegreiflichen Macht von Angesicht zu Angesicht gegenüberstelle, und sich von derjenigen Art der Furcht durchdringen lasse, welche als ekstatischer Schauder vor dem All zugleich in höchster und ungetrübter Weise hedonisch ist! “ Daß die Berufung B's. auf das φρίττειν „Schaudern“ in c. 14 der Poetik (p. 1453 b ) auf totalem Mißverständnis beruht, ist vom Verfasser in der öfters citierten Abhandlung der N. Ph. Jahrb. p. 85 nachgewiesen. Es ist das nicht mit Recht angeeignete, reine Gold der aristotelischen Weisheit, das dieser seltsamen Legierung mit der „ unschädlichen Freude “ an dem „ ekstatischen Aufwallen “ und „ momentanen Ausbrechen in lustvolles Schaudern “ den Kurs verschafft hat gegen Lessings vollwichtige, nur im Gepräge verwischte Münze. ────── XXVI. Es ist oben davon die Rede gewesen, inwiefern Lessing sich im Ausdruck vergriffen hat, wenn er von der Verwandlung der tragischen Leidenschaften in „tugendhafte Fertigkeiten“ sprach und von der Kunst überhaupt eine „bessernde“ Wirkung verlangte. Gleichwohl lebt in der Hülle dieser beirrenden Formel der Keim des Richtigen, den Lessing auch sicherlich zur Entfaltung gebracht hätte, wenn seine Aufmerksamkeit dem Gegenstande erhalten geblieben wäre. Wie in Wahrheit hier die Dinge liegen, zeigt sich am besten bei der Untersuchung, wie in Schillers Händen, der die weitere Pflege übernahm, dieser Keim sich entwickelte. Schiller folgte in der Anschauung von dem Wesen der tragischen Affekte ohne eigene Prüfung der Lehre Lessings; nachdem dieselbe im vorausgegangenen Abschnitte der Gegenstand der Kritik gewesen, kann die Darstellung nun ohne Unterbrechung sich der Frage zuwenden, wie die Theorie der tragischen Kunst durch Schiller fortgebildet ist. Kein Zweifel! die moralisierende Färbung der Lessingschen Definition lief der Kunstanschauung Schillers zuwider. An die Spitze seines Aufsatzes vom Jahr 1792 „ Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen “ stellt er die Sätze: „Die Künste der Phantasie und Empfindung zwecken auf Vergnügen ab. “ „Was alle übrigen Richtungen und Thätigkeiten des menschlichen Geistes nur mittelbar erfüllen, nämlich Vergnügen auszuspenden und Glückliche zu machen, das leisten sie unmittelbar. “ Dieser Zweck aber sei von dem armseligen Zweck nur „ zu belustigen “ weit verschieden. Weil man beide verwechselt habe, deswegen werde der Kunst als höchster Zweck das Moralischgute untergeschoben, wodurch sie ihre „Freiheit“ verliere. Nichtsdestoweniger sei „ihr Einfluß auf die Sittlichkeit in die Augen fallend“, sie „befördere jenen höchsten Zweck der Menschheit in großem Maße“. Hier liege ein anscheinender Widerspruch vor, den es zu heben gelte. Bis dahin hat Schiller von der ihm eigentümlichen Ansicht noch kein Wort ausgesprochen; dennoch liegt schon in diesen Vordersätzen ein formaler Jrrtum von so folgenschwerer Bedeutung, daß seine ganze Untersuchung dadurch in eine falsche Bahn geleitet und auf Hindernisse geführt wird, die sich als unüberwindlich erweisen. Eine gründliche Kenntnis des Aristoteles hätte Schiller davor bewahren können. Der Satz: „die Künste zwecken auf Vergnügen ab“ ist unrichtig: die Reinheit der aristotelischen Kunstanschauung erträgt selbst diesen Grad von Teleologie nicht, schon durch sie wird der Zweck des Kunstwerks aus seinem eigenen Wesen heraus nach außen verlegt. Die Frage ist oben schon erörtert: S. S. 332 ff. freilich muß das Kunstwerk so beschaffen sein, daß es die Bereitschaft für die Freude herzustellen vermöge, aber diese Freude selbst, „das Vergnügen“, ist abhängig von der Thätigkeit des Empfangenden; daß sie wirklich eintrete, ist lediglich Sache dessen, der das Kunstwerk mit williger Energie seiner Empfindungskräfte aufnimmt, es behält seine Vollkommenheit auch ohne das Eintreten dieses äußeren Ereignisses, dieselbe ist also ohne Rücksicht auf jenes zu bestimmen. Der Unterschied für die Richtung der Untersuchung ist ein entscheidender! Jener teleologische Satz zwingt sie die höchsten philosophischen Fragen in ihren Kreis zu ziehen: die Fragen nach dem Verhältnis der sinnlichen Natur des Menschen zu seiner geistigen und sittlichen Anlage, ob Vergnügen und Schmerz der einen mit Gesetz und Verbot der andern im Einklang oder Widerspruch stehe, ob eine Vereinigung beider möglich sei und wie sie bewerkstelligt werde? Und diese letzten und höchsten Fragen sollen gelöst werden, während die nächste und wichtigste Vorfrage unbeachtet bleibt, die Frage nämlich, auf welche unmittelbaren, in seiner Organisation selbst liegenden Ziele denn das Kunstwerk gerichtet sein muß, um jenem weiteren, außerhalb liegenden Zwecke entsprechend zu sein; dennoch ist es die Lösung dieser Frage, auf der einzig und allein die Gesetzgebung für das Kunstwerk auferbaut werden kann. Jn dieser Richtung liegen alle Lessingschen Forschungen auf dem ästhetischen Gebiet; deshalb sind sie unvergänglich fruchtbringend, selbst wo er irrte: Schillers spekulativer Sinn, von seinem feurigen Jdealismus getragen, und freilich von seinem produktiven Genie geleitet, verleiht seinen ästhetischen Untersuchungen die Kraft zu folgenreicher philosophischer Anregung und macht sie zu einem unschätzbaren Gewinn für die geistig=sittliche Bildung, aber die technische Erkenntnis der Dichtkunst, die τέχνη ποιητική , ist wenigstens auf dem Gebiete des Dramas durch seine Abhandlung nicht wesentlich gefördert. Etwas ganz anderes ist, daß umgekehrt seine dramatischen Schöpfungen eine neue reich strömende und unversiegbare Quelle für diese Erkenntnis eröffneten. Die Richtigkeit dieser Ausführungen erprobt sich auf Schritt und Tritt, wenn man die einfachen Grundsätze der aristotelischen Theorie zum Maßstabe für die Kritik der Schillerschen Aufsätze über die Tragödie erwählt. Während diese Kritik sonst ins Grenzenlose philosophischer Spekulation führen muß, entdeckt sich hier jede Krümme der Bahn von selbst. Um den Widerspruch zwischen Vergnügen und Sittlichkeit zu heben, setzt Schiller das „ freie Vergnügen “, das nur durch „ moralische Mittel erreicht werden könne“. Die „Kunst müsse durch Moralität ihren Weg nehmen“ und dennoch dabei ihre „ Freiheit “ behaupten, ohne welche sie ihre höchste Wirkung nicht ausüben könne. Diese „Freiheit“ ist also zunächst lediglich negativ bestimmt: sie bedeutet die Abwesenheit der moralischen Tendenz, durch welche das „Spiel“ der Kunst in ein ernsthaftes Geschäft verwandelt werden würde. Zugleich aber wird schon hier angedeutet, daß der Verfasser ihr auch einen positiven Jnhalt zu geben beabsichtigt: „eine bündige Theorie des Vergnügens“ würde ergeben, daß das „freie Vergnügen“ der Kunst durchaus auf moralischen Bedingungen beruhe. Die Unklarheit und der Fehler dieses Satzes werden sofort offenbar, wenn man ihm die aristotelische Grundlehre gegenüberstellt: der Kunst liegt es ob, reine, d. h. richtige Empfindungen nachzuahmen. Auch die höchste Moralität setzt dieselben voraus, dadurch werden reine Empfindungen aber noch keineswegs zu moralischen. Das Moralische ist ohne Willensaktion undenkbar; gerade aber die Bestimmung des Willens soll die Aufgabe der Kunst nicht sein, weil sie damit ihre Freiheit verlieren würde. Gleich der nächste Satz verstärkt den Jrrtum Schillers. „Jedes Vergnügen, insofern es aus sittlichen Quellen fließt, verbessert den Menschen sittlich: die Kunst wirkt also nicht deswegen allein sittlich, weil sie durch sittliche Mittel ergötzt, sondern auch deswegen, weil das Vergnügen selbst, das die Kunst gewährt, ein Mittel zur Sittlichkeit wird. “ Ein unrichtiger Schluß! Das sittliche Vergnügen ist dasjenige, welches die pflichtgemäße Thätigkeit des Willens begleitet; ihm verwandt ist das Vergnügen an den durch die Anschauung pflichtgemäß bestimmter Entschlüsse und Handlungen eben um dieser willen erregten Empfindungen, die Kant „ moralische Gefühle “ nennt: aber weder das eine noch das andere ist identisch mit dem Vergnügen, „ das die Kunst gewährt “. Die ersten sind ihr ganz fremd, die zweiten können höchstens doch nur als Nebenwirkungen der Kunst in Betracht kommen: das „Vergnügen selbst, das die Kunst gewährt“, ist allein das Vergnügen der durch die bloße Wahrnehmung ─ Aisthesis ─ befriedigten Empfindung, ohne daß diese Befriedigung etwa der Billigung durch die Vernunft erst bedürfte, ja so völlig unbekümmert um diese letztere, daß das ästhetische „Vergnügen“ sehr oft als der gefährlichste Feind sich den „moralischen Gefühlen“ entgegenstellt. Wie grundverderblich aber dieser falsche Schluß für den ganzen Verlauf der Untersuchung, für Schillers ganze ästhetische Theorie ist, tritt schon in dem unmittelbar folgenden Absatz überzeugend hervor, der das „freie Vergnügen“ definiert. Hier ist nicht ein einziges Wort richtig! „Die Mittel, wodurch die Kunst ihren Zweck erreicht, sind so vielfach, als es überhaupt Quellen eines freien Vergnügens gibt.“ Das gute Handeln sowie das richtige Erkennen sind Quellen „freien“ Vergnügens in Schillers Sinn; aber sowohl das rein moralische, wie das rein dianoetische Vergnügen sind der Kunst völlig fremd. Die Kunst erreicht ihren Zweck nur durch ein einziges Mittel: durch reine Thätigkeit der sinnlichen Wahrnehmung, vollendete Energie der Aisthesis! Nur insofern es gelingt den Gehalt jener anderen „freien“ Thätigkeiten dieser einzigen Quelle des künstlerischen Vergnügens zuzuleiten, kann er zum Gegenstande desselben umgeschaffen werden. Die Thätigkeit der Vernunft und des Verstandes, die eigentliche Arbeit der moralischen und logischen Erkenntniskräfte, ist also aus der Kunst ausgeschlossen: das hindert nicht, daß die Kunst von den Resultaten derselben recht eigentlich angefüllt sein kann. Die gewaltige Aufgabe des Künstlers ist es, diese Resultate zu Gegenständen sinnlich wahrnehmbarer Nachahmung zu machen, einer Nachahmung, die vermögend sei Empfindungen und Seelenzustände unmittelbar und zwar richtig bestimmt zu erregen. Daher ist der nächste Satz Schillers: „frei ist dasjenige Vergnügen, wobei die geistigen Kräfte, Vernunft und Einbildungskraft thätig sind“, insofern damit Wesen und Wirkung der Kunst bezeichnet sein soll, ebenfalls unrichtig. Die „ Einbildungskraft “ ist nur eine von den Hülfsmächten der Kunst, die sie nur da anruft, wo ihre Mittel unmittelbarer sinnlicher Einwirkung nicht ausreichen. Die „ Vernunftthätigkeit “ darf sie im eigentlichen Sinne niemals in Anspruch nehmen. Hier dürfte es jedoch erforderlich sein einem Trugschluß vorzubeugen. Wie oft erreicht nicht die Poesie ihre höchsten Wirkungen, indem sie die obersten Vernunftwahrheiten unmittelbar ausspricht? wie oft thun nicht die andern Künste mittelbar dasselbe, indem sie auf jene Wahrheiten hindeuten? Beide verfehlen ihren Zweck, sobald sie an die eigentliche „Vernunftthätigkeit“, an die Erkenntniskraft mit dem Anspruch sich wenden, ihrerseits ihre Arbeit zu thun: beide erreichen ihren Zweck nur, indem, ganz ohne Erkenntnisthätigkeit, die ausgesprochene oder angedeutete Wahrheit als Ergebnis eines Sinneneindrucks, ästhetisch aufgenommen, unmittelbar die Empfindung in Thätigkeit versetzt. Nehmen wir ein griechisches Chorlied, das den großen Vernunftgedanken der sittlichen Weltordnung ausspricht: die mächtige Wirkung geht nicht auf Beweis und Erkenntnis, sondern auf Gestaltung, Modifikation, sei es Erhöhung sei es Besänftigung, der durch die Situation aufgeregten Furcht- oder Mitleidsempfindung. Ja sogar hinsichtlich der Einbildungskraft findet etwas Verwandtes statt, durch dessen Verkennung viele Wirrnis erzeugt ist. Wo die Poesie in Schilderung und Erzählung der Unterstützung durch die Einbildungskraft benötigt ist, geht ihre Absicht keineswegs auf deren eigentliche Thätigkeit, möglichst exakte und vollständige Vorstellung der Gegenstände ─ das würde zur beschreibenden Poesie und nur stofflich wirkender Erzählung führen ─, sondern sie begehrt ihrer Vorstellungen nur von der einen Seite, durch welche sie der nachgeahmten Empfindung, Stimmung, Gesinnung Nahrung bieten oder sie der künstlerischen Absicht gemäß modifizieren. Hierdurch erhalten die „poetischen“ Vorstellungen ihre Lebendigkeit und Kraft, nicht durch die im Grunde mechanische Thätigkeit der Einbildung. Diese Sätze widersprechen freilich den gangbaren Theorien von dem Hauptanteil der „ Phantasie “ an den Schöpfungen und auch an dem Genusse der Kunst. Aber man vergesse nicht, daß durch den Sprachgebrauch dieser Begriff ein höchst komplizierter geworden ist, der die sämtlichen, die bloße Einbildungskraft eigentlich erst bestimmenden, Kräfte schon einschließt: also je nach Umständen Verstand, Vernunft, Empfindung, ja das ganze Ensemble dieser, d. h. der seelischen Kräfte überhaupt, wie oben (s. S. 380 ff.) schon ausgeführt wurde. Jn theoretischen Untersuchungen ist dieser Begriff daher nur mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen. Jnfolge dieser Theorie, daß zum „freien Vergnügen“ die „geistigen Kräfte“ thätig sein müssen, schließt Schiller die „ sinnliche Lust, wo die Empfindung unmittelbar auf ihre sinnliche Ursache erfolgt “, ganz vom Gebiete der Kunst aus. Solche sinnlichen Eindrücke könnten nur insofern künstlerisch wirken, als „die Planmäßigkeit ihrer Anordnung durch die Vorstellung erkannt werde“. Damit wäre nichts Geringeres aus der Kunst ausgeschlossen als der Reiz, und zwar der Reiz im weitesten Sinne dieses Wortes. Jn der von Schiller definierten unmittelbar sinnlichen Weise wirkt der Klang auf die Empfindung, und doch ist er das Element der Musik und des verschönerten Ausdruckes in der Poesie, wirkt Gestalt und Farbe sowohl in der malerischen und plastischen als in der drastischen Darstellung: hier überall ist unmittelbare „sinnliche Lust“ mächtigste und unentbehrliche Bundesgenossin der vollen ästhetischen Kunstwirkung. Freilich müssen diese Mittel der Kunst wie überhaupt alle ihre Mittel „planmäßig geordnet“ sein; diese Planmäßigkeit kann auch bis zu einem gewissen Grade „ erkannt “ werden; aber solche Erkenntnis ist die Arbeit des kritischen Verstandes, der Erwerb eines theoretisch geschulten „Geschmackes“, nimmermehr jedoch die Vorbedingung des unmittelbaren Genusses, der Kunstwirkung überhaupt. Als Konsequenz alles dessen nun die schlimmste Schlußfolgerung: „Die allgemeine Quelle jedes, auch des sinnlichen Vergnügens, ist Zweckmäßigkeit. Das Vergnügen ist sinnlich, wenn die Zweckmäßigkeit nicht durch die Vorstellungskräfte erkannt wird, sondern bloß durch das Gesetz der Notwendigkeit die Empfindung des Vergnügens zur physischen Folge hat. Das Vergnügen ist frei, wenn wir uns die Zweckmäßigkeit vorstellen und die angenehme Empfindung die Vorstellung begleitet.“ Es ist einer der häufigsten, aber auch gefährlichsten, logischen Fehler, den Schiller hier gemacht hat, allerdings in Übereinstimmung mit einem System, das in seiner Zeit herrschend war und noch heute seine Anhänger hat: der Fehler die Angabe von Eigenschaften, die einem Dinge seiner Natur nach zukommen, für die Definition seines Wesens zu halten. Wie wenn jemand mit Recht sagt, daß in einem schönen Musikstück keine Fehler gegen Takt und Harmonie sein dürften, und man nun definieren wollte: schöne Musik beruht auf Takt und Harmonie. Oder wenn aus dem Satze: ein schönes Gebäude müsse symmetrisch angeordnet und zugleich wohl übersichtlich sein, gefolgert würde: Schönheit der Architektur beruht auf Symmetrie und Übersichtlichkeit. Gleichwohl ist dies geschehen und der Fehler geht zurück bis auf das Mißverständnis eines aristotelischen Satzes, das auf diesem Felde viel Unheil angerichtet hat. Jm siebenten Kapitel der Poetik sagt er gelegentlich, zur Schönheit gehöre Ordnung, aber außer dieser sei auch die Größe des schönen Gegenstandes nicht eine beliebige; d. h. also die hervorragende Ausdehnung ─ was Größe an sich bedeutet ─ bestimmt sich bei einem jeden Gegenstande nach dem ihm eigenen Wesen; die damit gegebenen Grenzen darf das Kunstwerk weder nach der Seite des „zu klein“ noch des „zu groß“ überschreiten, ohne den Anspruch auf Schönheit zu ver= lieren. Diesen zuvor schon ausgesprochenen Gedanken resümiert er kurz in den Worten: „zum Schönen gehört Größe und Ordnung“ ─ τὸ γὰρ καλὸν ἐν μεγέθει καὶ τάξει ἐστί . Diese Worte hat man für eine aristotelische Definition der Schönheit ausgegeben und ─ so ungeheuerlich es ist ─ sie als eine solche acceptiert und in Geltung erhalten! Das Wesen des Schönen also soll in „Größe und Ordnung“ bestehen; da aus dem ersten Teil dieser angeblichen Definition nicht viel zu folgern war, so verweilte man mit um so größerem Nachdruck auf dem zweiten: aus dem Princip der „ Ordnung “ also galt es den Schönheitsbegriff zu entwickeln. Dazu mußte man sich diese Ordnung als die höchste denken, gewissermaßen als ein Abbild der großen Weltordnung, so also, daß sie in allen, auch in ihren kleinsten Äußerungen jene absolute Zweckmäßigkeit darstellte, die man in der göttlichen Schöpfung bewunderte. Dieser Vorstellungsweise schloß sich Schiller an und machte also den Fehlschluß mit, daß, weil dasjenige, was mit Recht Vergnügen bereitet, nicht anders beschaffen sein kann, als daß es sowohl dem ihm selbst innewohnenden Zweck entspreche als dem Zwecke des Menschen, wie man sich denselben auch denke, konform sei, eben diese Zweckmäßigkeit nun auch der Grund des Vergnügens sein müsse. Diese Zweckmäßigkeit kann zwar an und für sich auch ein Gegenstand des Gefallens sein, aber nur indem sie erkannt wird: dieselbe aber zu erkennen ist einzig und allein das Werk des kritischen Verstandes. Statt dessen macht Schiller gerade die „Erkenntnis“ der Zweckmäßigkeit zur Vorbedingung des ästhetischen Genusses; obenein soll dieselbe durch die „ Vorstellungskräfte “ erfolgen, denen dazu gar nicht das Vermögen beiwohnt. Wie es nicht anders geschehen kann, führt dieses falsche Princip sofort zu arger Verwirrung. Die Kunst erzeugt ein freies Vergnügen; alles freie Vergnügen beruht auf Zweckmäßigkeitsvorstellung; daher sind alle Zweckmäßigkeitsvorstellungen Gegenstände der Kunst! Sie erschöpfen sich nach Schiller „in folgende Klassen: Gut, Wahr, Vollkommen, Schön, Rührend, Erhaben“. Es ist klar, daß nach dem Vorangehenden nun jede dieser „Klassen“ für fähig erklärt werden müßte, Gegenstand der Kunst zu sein. Wäre diese Konsequenz von Schiller mit Entschiedenheit gezogen, so hätte ihm der Fehler seines Systems an diesem Widersinn sich entdecken müssen. Denn die Darstellung des Guten oder des Wahren für sich allein hätte er wohl nicht als Gegenstand der Kunst gelten lassen. Aber er verschleiert sich diese unbequeme Folgerung vor sich selbst durch die stilistische Wendung, daß „in derselben Kunstklasse mehrere, ja oft alle Arten des Vergnügens zusammenfließen können“. Vermittelst dieses Uberganges kommt er darüber hinweg, daß die „Zweckmäßigkeitsvorstellungen“ des Guten und Wahren für sich allein oder auch beide zusammen gar nichts mit der Kunst zu thun haben, und wirft, ohne darüber weiter ein Wort zu verlieren, diese beiden Klassen mit dem Schönen zusammen. Das bedeutet denn doch aber: daß das Gute und Wahre nur insofern es zugleich schön ist, Gegenstand der Kunst sein kann, daß also nicht alle Zweckmäßigkeitsvorstellungen dazu die Qualifikation verleihen. Dagegen behauptet er, daß das Rührende und das Erhabene allerdings einem „ ganz verschiedenen Felde“ angehöre wie das Schöne, wenn es auch „unmöglich sei, es von dem Schönen durchaus zu trennen “. Man sieht, hier herrscht völlige Unklarheit. Wie kann es auch anders sein, wo der Versuch gemacht wird das logische Gebäude von der Kuppel beginnend zu errichten, statt von den Fundamenten aus! Denn nicht anders verfährt man, wenn man von der Begriffsbestimmung des Schönen aus die Kunst und die Künste konstruiert, statt durch Erforschung des Wesens und der Aufgabe der einzelnen Künste zur sichern Erbauung der Grundpfeiler zu gelangen, welche die das Ganze überdachende Wölbung tragen, aus denen sie organisch erwächst! Es ist die unausbleibliche Folge dieser falschen Methode, daß Schiller, trotz der Jntuitionen seines großartigen Genies, in der Theorie hier so ratlos zwischen den Begriffen des Guten und Schönen, des Schönen und Rührenden umherschwankt. Statt von dem festen Grund auszugehen, daß das Gute wie das Wahre, das Rührende wie das Erhabene doch nur insofern Gegenstände der nachahmenden Künste sein können, als sie zu willkommenen Gegenständen für die durch die unmittelbare Sinneswahrnehmung vermittelte reine Empfindungsthätigkeit umgeschaffen werden, ─ d. h. mit andern Worten: als sie gefallen, ἡδεῖα für die Aisthesis sind ─; statt infolgedessen die Frage so zu stellen: wie hat nach den ihr eigenen Mitteln eine jede Kunst zu verfahren, damit sie das Wahre, Gute, Rührende, Erhabene mit Sicherheit zu einem Gegenstande unmittelbarer freudiger ─ d. i. richtiger ─ Empfindungsenergie gestalte: statt so den einzig zum Ziele führenden Weg des Aristoteles zu beschreiten, läßt er durch seine vorgefaßte Theorie sich verleiten, das Schöne einzig und allein in der vollkommenen Zweckmäßigkeit der äußern, körperlichen, Erscheinung zu erblicken, wodurch nun alle abweichenden oder gar widersprechenden Erscheinungsformen, deren die Künste sich bedienen, zu jenem vorgefaßten Schönheitsbegriff in einen unlösbaren Gegensatz treten, während doch wieder alle Kunstformen sich in demselben vereinen sollen. Es kann hier nicht verschwiegen werden, daß auch Lessing sich von diesem Fehler nicht frei gehalten hat, wenn er im Laokoon die „ schöne Gestalt “ zum Princip der malerischen und bildenden Kunst macht, wodurch, wie auf der Hand liegt, der sogenannten Kunst des Ausdrucks in gefährlicher und ungebührlicher Weise Luft und Licht benommen wird. Allein Lessing hatte in der Dramaturgie schon den Weg beschritten, der aus diesem leidigen Dilemma herausführt. Jener eng formale Schönheitsbegriff läßt sich nicht einmal für die bildende Kunst durchführen, obwohl in dieser doch wenigstens ein Gebiet vorhanden ist, das demselben völlig entspricht: denn die in Ruhe befindliche Gestalt kann als summarischer Ausdruck, gewissermaßen als das Ergebnis, nach allen Seiten oder doch nach einzelnen Richtungen vollendeter Seelenbeschaffenheiten aufgefaßt werden. So kann eine Götterstatue, ein Madonnenbild jenem Schönheitsbegriff entsprechen. Aber wie ist es mit einem Kruzifix, einer Kreuztragung, Geißelung oder vollends einem jüngsten Gericht? Und doch steht die Frage für die Malerei noch günstig, weil ein Gemälde um schön zu sein das leidenschaftlich erregende Moment mit dem klärenden, das pathematische mit dem kathartisch wirkenden in eine Schau verschmelzen muß. Nun aber erzählte, dramatisch dargestellte Handlungen! Der Versuch eine einzelne, „ vollkommen schöne “, Handlung, losgelöst für sich, episch oder dramatisch darzustellen, ist nur von der Mittelmäßigkeit angestellt worden; er ist nie geglückt und kann niemals glücken. Die That, die den Mittelpunkt einer solchen Handlung bildete, müßte vollkommen gut sein, d. h. im höchsten Sinne pflichtgemäß und zugleich durch eine dem Gebote der Pflicht vollkommen entsprechende Empfindung eingegeben; und zwar müßte, was die Hauptsache ist, ohne die der That die wirkliche moralische Güte nicht innewohnen kann, diese Empfindung nicht als momentane Regung auftreten, sondern als feste, ständige Gesinnungsweise sich kundthun. Die Malerei kann eine solche durch die bloße Gestalt nachahmen; die Poesie dagegen vermag durch die Erzählung einer einzelnen That die moralisch vortreffliche und zugleich schöne Gesinnung nicht für die Anschauung und Empfindung überzeugend nachzuahmen ─ dazu gehört immer das große Ganze einer Reihe von einzelnen Situationen und Handlungen ─, sondern sie bringt es nur dazu, die Handlung dem moralischen Sinn, d. i. also dem Forum der Vernunft, zur Beurteilung vorzulegen. Mit andern Worten, sie hört mit solchem Versuch auf Poesie zu sein und wendet poetische Hülfsmittel zu erbaulicher, paränetischer, belehrender Wirkung an. Dagegen ist in jedem größeren Ganzen einer Handlungsnach= ahmung für solche einzelne „Züge“ eine Stelle, die eben darum jedoch nicht Nachahmungszweck derselben sein können, sondern wie alle anderen an ihrer Stelle dazu mitzuwirken haben, die Gesamtwirkung zu erreichen. Nur in einem Falle können sie mit dem Gesamtzweck des Ganzen parallel gehen: das geschieht, wie oben schon ausgeführt wurde, S. S. 268 ff. und 338 ff. im Jdyll, welches auf möglichst reine, unmittelbar hedonische Wirkung ausgeht und im Schauspiel, das dieselbe durch kathartische Ausgleichung mit den Nemesisempfindungen zu erreichen sucht. Jn beiden Dichtungsgattungen aber ist das Gegenspiel der Darstellung unvollkommener, also im Sinne jener Theorie „ unschöner “ Handlungen unentbehrlich; dasselbe ist in noch viel höherem Maße bei den übrigen größeren Dichtungsgattungen der Fall, am meisten bei den tragischen: hier also mußte jener formale Schönheitsbegriff ganz versagen, und es wurde erforderlich nach einem andersgearteten Princip sich umzusehen. Wie aber dieses fremde Princip nun mit dem allgemeinen Gesetz, daß die Kunst schön sein solle, versöhnen? oder, wenn das nicht anging, doch wenigstens mit der Forderung, daß es, ebenso wie das Schöne, Vergnügen zu schaffen geeignet sei? Die bloße Emotionstheorie konnte Schiller nicht genügen, ebenso wie er die Sollicitations- und Entladungshypothese weit abgewiesen haben würde. Seine Einteilung des freien Vergnügens nach dem Zweckmäßigkeitsbegriff führt ihn dazu, das gesuchte Princip für die tragische Dichtung in den Begriffen des Rührenden und Erhabenen zu finden. Dies scheint ein glücklicher Griff, da der eine ebensoleicht auf den Begriff des Mitleids wie der andere auf den der Furcht hinüberleiten könnte. Beides hätte sofort eintreten müssen, wenn Schiller wenigstens hier nun die Frage gestellt hätte: auf welche Weise wird denn das Rührende und das Erhabene Gegenstand rein ästhetischer Wirkung, d. i. unmittelbar durch die Sinneswahrnehmung erregter Empfindung? Da er auch an dieser entscheidenden Stelle die Frage unterläßt, so ist der weitere Gang der Abhandlung rettungslos der Verirrung in das moralische Gebiet verfallen. Er bleibt bei dem Zweckmäßigkeitsschema. Das Rührende und Erhabene „bringen Lust und Unlust hervor,“ nämlich Lust über eine Zweckmäßigkeit, welche über eine Zweckwidrigkeit, die unsern Schmerz hervorruft, den Sieg davon trägt. Beides definiert Schiller in ziemlich engem Anschluß an Kant; das Erhabene aus dem Gefühl unserer geistigen und vernünftigen Übermacht über unsere sinnliche Ohnmacht: „ein er= habener Gegenstand ist eben dadurch, daß er der Sinnlichkeit widerstreitet, zweckmäßig für die Vernunft und ergötzt durch das höhere Vermögen, indem er durch das niedrige schmerzt;“ die Rührung durch den Schmerz über ein Leiden, das als solches doch „eine Zweckwidrigkeit in der sinnlichen Natur ist,“ das aber „für unsere vernünftige Natur dadurch zweckmäßig, also Lust hervorbringend wird, weil es zweckmäßig für die menschliche Gesellschaft ist“. „Jene Unlust selbst wird dadurch also zweckmäßig,“ d. h. sie wird in Lust verwandelt. Darnach sind also diese beiden Empfindungen keineswegs rein ästhetisch, d. h. unmittelbar zu ihrer Thätigkeit durch die bloße Anschauung, wie die Kunst sie zu geben vermag, angeregt, sondern es sind moralische Gefühle, d. h. Gefühle, die durch eine selbständige Handlung der Vernunft hervorgerufen sind. Die Vernunft spricht gegenüber den unmittelbaren, d. i. rein ästhetischen Empfindungen, welche das Leiden hervorruft, und die nach dem Schillerschen Gedankengange im Falle des Rührenden Regungen des schmerzlichen Mitleids, im Falle des Erhabenen der schmerzlichen Furcht sein müssen, ein autonomes, ihren eigenen unabänderlichen Gesetzen entstammendes, Urteil: die darauf folgende hohe Befriedigung des Gefühls, die Freude an diesem freien Akt der sittlichen Urteilskraft ist das moralische Gefühl des Rührenden und des Erhabenen nach der Kant-Schillerschen Definition. Hier sehen wir also allerdings eine Klärung, Reinigung der schmerzlichen Affekte, der tragischen Pathemata, aber wir sehen sie bewerkstelligt durch eine von außen her erfolgende selbständige Handlung des Vernunftvermögens: dagegen ist die ästhetische Katharsis des Aristoteles eine Veredelung der tragischen Affekte an ihrer Quelle in dem eigenen Gebiet der bloßen Empfindungsenergie und nach ihren eigenen Gesetzen, daher durch keine andere Mittel bewirkt als die an die Sinneswahrnehmung sich wendende Nachahmung, d. i. durch die Kunst. Es kann nicht anders sein, als daß dieses falsche Princip nun auch im einzelnen zu lauter unrichtigen Aufstellungen führt, sowohl in den allgemeinen Sätzen als in den Beispielen. Wohlverstanden allerdings: diese Sätze als moralische Thesen sind unanfechtbar, auf Wesen und Ziele des tragischen Kunstwerks angewandt, sind sie am falschen Platz, für den Gebrauch also, den Schiller von ihnen macht, sind sie unrichtig. „Das Leiden des Tugendhaften rührt uns schmerzlicher, weil dem besondern Zweck, daß die Tugend glücklich mache, widersprochen wird; demnach, weil die Naturzweckmäßig= keit noch immer problematisch ist, die moralische dagegen immer für uns erwiesen, so geht die „Erkenntnis“ der letzteren uns über alles. Daher „kann das höchste Bewußtsein unserer moralischen Natur nur in einem gewaltsamen Zustand, im Kampfe, erhalten werden, und das höchste moralische Vergnügen wird jederzeit von Schmerz begleitet sein“. Die Tragödie soll also „diejenige Dichtungsart sein, die uns die moralische Lust in vorzüglichem Grade gewährt “ und „ihr Gebiet soll alle möglichen Fälle umfassen, in denen irgend eine Naturzweckmäßigkeit einer moralischen, oder auch eine moralische Zweckmäßigkeit der andern, die höher ist, aufgeopfert wird.“ Diese Sätze verderben die tragische Kunst an ihrer Quelle, denn sie machen aus einer Handlungsnachahmung, die uns die Wahrheit des Schicksalsgesetzes auf eine unsere Empfindung zugleich in kraftvollste Thätigkeit setzende und zum Gleichmaß lebensvoller Ruhe erhebende Weise vor Augen führt, die Darstellung eines moralischen Exempels, das unser natürliches, unmittelbares Empfinden zur Prüfung, Belehrung und Besserung vor das Tribunal des „Principes unserer Vernunft, des Palladiums unserer Freiheit“ verweist. „Hüon und Amanda, an den Marterpfahl gebunden, beide aus freier Wahl bereit, lieber den fürchterlichen Feuertod zu sterben, als durch Untreue gegen das Geliebte sich einen Thron zu erwerben“ ─ dieser Auftritt soll als Beispiel höchster Tragik uns „ein himmlisches Vergnügen“ bereiten, weil „er die siegende Macht des sittlichen Gesetzes,“ „Übereinstimmung im Reich der Freiheit“ zeigt. Dieser Auftritt, an und für sich genommen, ist genau ebenso untragisch wie der freudige Tod eines Märtyrers seines Glaubens. Wer die Hüon= und Amandafabel zur tragischen umgestalten wollte, müßte den Schwerpunkt in die Darstellung des Leidens dieses edlen Liebespaares, insofern dasselbe als eine Folge ihrer Hamartie erscheint, legen; der Ausgang müßte dann ein unglücklicher sein; die Auffassung der Leiden als einer zur Besserung auferlegten Prüfung würde dem Wesen der Tragödie auf das Entschiedenste widersprechen. Man müßte sich also die Handlung der Atmosphäre des Wielandschen „Oberon“, die durch eine Mischung moralischer Tendenzen mit romantischer Willkür gebildet wird, vollständig entrückt denken, was ohne fundamentale Änderungen derselben wohl schwerlich angehen würde. Mit derselben Verschiebung des wesentlichen Gesichtspunktes erblickt Schiller das Tragische in der Coriolan fabel, wie Shakespeare sie darstellt, in dem Siege des Pflichtgefühls in der Brust des Helden über sein Jnteresse, während es doch in dem Schicksalsgewebe liegt, das den Helden durch seine Hamartie in eine Lage verstrickt, die, ihn rings mit Verderben umgebend, sogar jenen Sieg der Pflicht mit dem Untergang verkettet. Was soll man vollends dazu sagen, wenn Schiller auch in dem folgenden Zuge ein tragisches Motiv anerkannt wissen will: „Es ist nicht nötig, daß ich lebe; aber es ist nötig, daß ich Rom vor dem Hunger schütze, sagt der große Pompejus, da er nach Afrika schiffen soll und seine Freunde ihm anliegen, seine Abfahrt zu verschieben, bis der Seesturm vorüber sei!“ Jn dieser Linie liegt eine der schlimmsten Gefahren für die tragische Komposition: die Strenge des großen, einheitlichen Gesetzes für den Aufbau der Tragödie dem vereinzelt wirkenden moralischen Rührungseffekt aufzuopfern. Der jugendliche Schiller ist an dieser Klippe oftmals gescheitert; sein zur Vollkraft gelangtes Genie hielt die hohe See trotz mancher Fehler seiner Karten und Meßinstrumente. Dem Halbtalente aber, das so gerne gerade den jugendlichen Schiller sich zum Vorbilde erwählt, ist jene Gefahr um so verderblicher, weil es so sehr viel leichter ist, heroischmoralische Brillantwirkungen zu erzielen, als den künstlerischen Plan anzulegen und unbeirrt durchzuführen, der durch das hohe Ziel der ästhetischen Katharsis in jedem seiner Teile übereinstimmend bedingt ist. Ebenso irreleitend für die tragische Dichtung ist die nach der andern Seite gezogene Konsequenz: „nicht weniger tragischergötzend als das Leiden des Tugendhaften ist das Leiden des Verbrechers. “ „Reue, Selbstverdammung, selbst in ihrem höchsten Grade, in der Verzweiflung, sind moralisch erhaben,“ weil sie Zeugnisse für die supreme Hoheit des Sittengesetzes seien. Der weitere Erweis dürfte hier überflüssig sein; es genügt, an die bedenkliche Verwandtschaft zu erinnern, in der diese Theorie zu jener Praxis steht, die niemand schärfer gegeißelt hat als Schiller selbst in den Versen von der Tugend, die zu ihrem Teile kommt, wenn das Laster abgewirtschaftet hat. Das Beispiel von Shakespeares Richard III., das Schiller in etwas anderm Zusammenhange hierbei anführt, beweist, wie oben S. S. 398 ff. schon erörtert, nichts für seine Behauptung. Die Handlung ist nicht tragisch, sondern sie gehört dem Schauspiel an. Daß in diesem die Handlung eine Kette von Verbrechen darstellen kann, die der Vergeltung auf irgend eine Weise zueilen, ist unwidersprechlich; allein Aufgabe und Wirkungszweck ist hier auf ebenso rein ästhetische Grundsätze gestellt wie in der Tragödie und würde durch die Herrschaft des moralischen Gesichtspunkts ebenso schwer geschädigt, ja vernichtet werden wie dort. Zu welcher Unerträglichkeit moralischer Sophisterei diese unglückliche Zweckmäßigkeitstheorie führen kann, zeigt das Beispiel, welches Schiller für den Konflikt der Pflichten anführt. „Wenn der Korinthier Timoleon einen geliebten, aber ehrsüchtigen Bruder Timophanes ermorden läßt, weil seine Meinung von patriotischer Pflicht ihn zur Vertilgung alles dessen, was die Republik in Gefahr setzt, verbindet, so sehen wir ihn zwar nicht ohne Entsetzen und Abscheu diese naturwidrige Handlung begehen; aber unser Abscheu löst sich bald in die höchste Achtung der heroischen Tugend auf.“ Warum? Weil es „gerade solche Fälle sind, wo unser Verstand nicht auf seiten der handelnden Person ist, aus welchen man erkennt, wie sehr wir Pflichtmäßigkeit über Zweckmäßigkeit, Einstimmung der Vernunft über die Einstimmung mit dem Verstande erheben! “ Es gäbe nur eine Art die Geschichte Timoleons tragisch zu behandeln: wenn der Dichter aus dem vergossenen Bruderblut die Erinnys sich erheben ließe, welche die Überhebung „seiner Meinung “ von patriotischer Pflicht über das Gesetz der Natur rächte. Wie richtig hat das Shakespeare in seinem „Brutus“ erkannt, auf dessen Hamartie und Untergang er die Tragik seines „ Julius Cäsar “ sich aufbauen ließ! Jn dem Sinne aber, wie Plutarch die Geschichte Timoleons erzählt, wäre sie nur für das Schauspiel brauchbar: auch hier nicht auf moralische Beurteilung zugespitzt ─ deren große Mißlichkeit für diesen Fall Schiller selbst ausführlich erörtert ─, sondern auf die unmittelbar billigende oder reprobierende Stimme unseres natürlichen Empfindens eingerichtet, so zwar, daß durch die bloße Anschauung die beruhigte, geklärte Antwort aller gewährleistet würde. So ist Schiller selbst in seinem „Wilhelm Tell“ verfahren. Natürlich müßte in dem weit schwierigeren Falle des Timoleon der Dichter sehr viel hinzuthun, um erstlich durch Belastung der gegenüberstehenden Seite die That unabwendbar und sodann durch die dazu geeignete Verwickelung den Bruder als den einzig berufenen Thäter mit Evidenz erscheinen zu lassen. Schiller schließt mit der Bemerkung, die sein Zweckmäßigkeitsprincip zu bestätigen scheinen könnte, daß auch „geistreiche Bosheit“, insofern sie uns eine „Naturzweckmäßigkeit“ vorstelle, uns vergnüge. Die Bemerkung ist richtig, aber aus einem andern, allgemein ästhetischen Grunde: weil nämlich die Anschauung einer jeden bedeutenden Kraftentfaltung an sich die Empfindung zu einer ihrer Natur gemäßen, daher wohlgefälligen Bethätigung veranlaßt. Diese Kraftentfaltung besteht nun in dem von Schiller erörterten Fall gerade in der hervorragend geschickten Wahl zweckentsprechender Mittel. Die Bemerkung hat für die dramatische Technik ihre Wichtigkeit, aber in untergeordneter Weise; das Wesen des Dramatischen oder gar des Tragischen wird durch diese vermeintliche Bestätigung der Zweckmäßigkeitstheorie nicht berührt. Das Ergebnis der Schillerschen Untersuchung ist demnach, daß er: 1) den Affekt des Mitleids in moralische Rührung umwandelt; 2) den Affekt der Furcht, da er die Wirkung des Erhabenen gleichfalls nur in dem Siege des moralischen Bewußtseins erblickt, ganz eliminiert; und daß er: 3) das Vergnügen an der Tragödie, die Umwandlung also der Unlustempfindung, die mit dem Tragischen verbunden ist, in eine Lustempfindung in dem moralischen Gefühl der Befriedigung über den Sieg des Vernunftprincips erkennt. Auf denselben Grundanschauungen, obwohl nicht ohne Widersprüche gegen die Hauptargumente des ersten Aufsatzes und mit teilweise neuer Begründung, baut er seine zweite Abhandlung, „ Über die tragische Kunst “, auf. Er setzt von der, oben entwickelten, Emotionstheorie des Dubos aus, indem er dessen Beispiel aus dem Lukrez und seine Hauptargumente sich aneignet. Er erkennt in der allgemein verbreiteten Lust an der Befriedigung des Leidenschaftsbedürfnisses ein allgemeines psychologisches Gesetz, nach welchem „das rohere Naturgefühl“ zu dem Anblick von Schmerzen und Gefahren sich unwiderstehlich hingezogen fühlt, dem aber ebenso der verfeinerte, sittlich gebildete Mensch folgt, wenn er „an dem peinlichen Kampf entgegengesetzter Neigungen oder Pflichten,“ „in der Sympathie mit dem reinen moralischen Schmerz eine nur desto süßere Lust empfindet“. Er geht auch noch einen Schritt weiter mit Dubos: „ natürlicherweise gelte dies nur von dem mitgeteilten oder nachempfundenen Affekte.“ Aber hier trennt er sich entschieden von Dubos und allen dessen Nachbetern: jene meinen doch, daß der Nachempfindung des an sich schmerzlichen Affektes das Schmerzliche, welches der Affekt in Wirklichkeit mit sich bringe, nicht anhafte, daß also für den nachempfundenen Affekt lediglich die Lust übrig bleibe, die ihm als Befriedigung des Leidenschaftsbedürfnisses notwendig eigen sei. Ohne dieser Theorie Erwähnung zu thun, bestreitet sie Schiller auf das Entschiedenste, „es könne niemand sich einfallen lassen zu behaupten, daß dadurch die unangenehmen Affekte an und für sich in Lust gewährende verwandelt würden; es sei genug, wenn diese Zustände des Gemüts bloß die Bedingungen abgeben, unter welchen allein gewisse Arten des Vergnügens für uns möglich sind.“ Die Sache liegt also seltsam genug so: Schiller macht den schlimmsten Jrrtum des Dubos mit, er hält nämlich die durch die Tragödie bei den Zuschauern erregten Hauptaffekte für mitgeteilte, nachempfundene, statt zu erkennen, daß Mitleid wie Furcht, von der er freilich gar nicht spricht, erste, ursprüngliche Empfindungen seien, was schon von Lessing mit Nachdruck hervorgehoben war; dann aber ist er nahe daran, diesen Jrrtum wenigstens in seinen Folgen zu korrigieren, wenn er den falschen Schluß ablehnt, daß die angenommene sekundäre Natur des Mitleids das Schmerzliche desselben in ein Wohlgefälliges verwandeln werde. Denn auf diese Weise wird die Frage, wie diese Umwandlung erfolgt, wieder eine offene. Aber er greift auch hier wieder sofort zu dem moralischen Surrogat, das nun einmal seiner sittlich so hoch gespannten Natur zunächst lag. So verschließt er sich denn den Weg zu der einfachen, klaren, ästhetischen Auffassung um so fester, als eine gewisse Ähnlichkeit der Resultate ihn in der Täuschung befestigt, eine Ähnlichkeit, die jedoch die Fehlerhaftigkeit der Theorie in keinem Punkte zu verhüten vermag. Denn natürlich ist der richtige Affekt derselbe, ob er nun unmittelbar, rein ästhetisch, als solcher entsteht oder doch durch bloße Einwirkung sinnlicher Wahrnehmung, also durch rein ästhetische Mittel zuwege gebracht wird, oder ob durch bewußte Einwirkung von Vernunftvorstellungen, durch das Gegengewicht sittlicher Erziehung diese Arbeit geleistet wird. Wenn es aber darauf ankommt, gerade jene ästhetischen Mittel und die Art ihrer Anwendung zu bestimmen, so leuchtet es ein, daß die Annahme, die Veredelung des Affektes sei eine moralische Leistung, genügend ist, um den Erfolg einer von diesem Princip geleiteten Untersuchung von vornherein zu vereiteln. Gerade so aber verfährt Schiller. Seine Sätze sind an sich vollkommen korrekt, nur gehören sie ausschließlich dem Gebiet der Ethik an und haben mit der Frage nach der unmittelbaren Wirkung der Kunst nichts zu thun. Er leitet Lust und Unlust der Affekte von ihrer Beziehung auf unser sinnliches oder sittliches Vermögen her. Die Freiheit, die dem Affekte gegenüber behauptet wird, rührt her von dem Übergewicht „des moralischen Sinnes über die eigennützige Anhänglichkeit an das individuelle Jch“, von „der Obergewalt des allgemeinen Vernunftgesetzes über den Glückseligkeitstrieb“. „Eine solche Verfassung des Gemüts ist am fähigsten, das Vergnügen des Mitleids zu genießen und selbst den ursprünglichen Affekt in den Schranken des Mitleids zu erhalten,“ wobei also Schiller, seinem Grundirrtum zufolge, das Mitleid als „ mitgeteilten “ Affekt mit dem Schmerz über eigenes Unglück kontrastiert. Alles schön und richtig, aber das alles ist Wirkung der Philosophie, ist Weisheit, und die Kunst, so mächtig sie ist, vermag leider weder die eine noch die andere durch ihre Darstellungen mitzuteilen. Das erkennt freilich auch Schiller an: „diese erhabene Geistesstimmung ist das Los starker und philosophischer Gemüter;“ demungeachtet macht er jene Schlußfolgerung zur Grundlage für die Entwickelung seiner Theorie der tragischen Kunst. Der Fehlschluß, durch welchen er dazu bewogen wird, ist dieser: das durch praktische Philosophie geläuterte Mitleid ist mit Vergnügen verbunden: das tragische Mitleid gleichfalls: folglich muß das tragische Mitleid das durch den moralischen Sinn von seinen eigennützigen Bestandteilen befreite sein, und das Mittel, wodurch die tragische Kunst dieses Ziel erreicht, ist der Angriff auf die Sinnlichkeit, um dem moralischen Bewußtsein zur Freiheit zu verhelfen. Also ein Schluß wie dieser: eine gute Predigt wirkt erhebend; ein gutes Trauerspiel gleichfalls; folglich sind dieselben Mittel, welche für eine gute Predigt in Anwendung kommen, auch zu gebrauchen, um ein gutes Trauerspiel zu machen. Nicht um ein Haar anders verfährt Schiller. Er sagt: 1) Der traurige Affekt bewirkt in moralischen Gemütern um so mehr Vergnügen, je vollständiger sie den eigennützigen Trieb unterdrücken. 2) „Wir kennen aber nicht mehr als zweierlei Quellen des Vergnügens, die Befriedigung des Glückseligkeitstriebes und die Erfüllung moralischer Gesetze“ (in der vorigen Abhandlung kannte er außer dem sinnlichen Vergnügen doch noch sechs Quellen des „freien Vergnügens“, worunter das Wahre und Schöne noch eine Stelle hatten!). 3) Da die Freude am Tragischen eine sinnliche nicht ist, muß sie eine moralische sein. „Aus unserer moralischen Natur also quillt die Lust hervor, wodurch uns schmerzhafte Affekte in der Mitteilung entzücken und, auch sogar ursprünglich empfunden, in gewissen Fällen noch angenehm rühren“ (wobei der letzte, verwirrende Zusatz wieder aus der Verkennung des Mitleids als sekundären Affektes herrührt). All diese endlose Konfusion löst das eine aristotelische Wort: „ Die Hedone ist die Vollendung jedweder Energie; “ es gibt also so viele Arten der Hedone als es Energien gibt. Und also ebensoviele Quellen derselben. Die Hedone der Kunst ist unter allen aber die einzige, welche allgemein mitteilbar ist: denn während die sinnliche Hedone an den gegenwärtigen Genuß des Gegen= standes gebunden ist, erfordern alle übrigen Energien freien, selbständigen Entschluß und Willen. Die Kunst macht durch die Nachahmung die Dinge, insofern sie die Energie der Empfindungen erregen, gegenwärtig für die Aisthesis: indem sie die Dinge der Aisthesis in solcher Gestalt vorführt, daß die dadurch erregte Energie der Empfindungen eine vollkommene, d. i. eine richtige sei, gibt sie die Gelegenheit dazu, auf diesem Gebiet mühelos der höchsten Freude zu genießen. Noch eine Bemerkung wird hier an der rechten Stelle sein. Für die Schöpfungen der Kunst gattet sich also das Vergnügen an der bloßen Aktivität der Empfindung an sich, von dem Schiller und seine Vorgänger so viel sprechen, mit der Freude an dem qualitativen Maximum (dem ἀκρότατον ) dieser Aktivität, welches von dem dynamischen Maximum derselben sehr verschieden ist. Für die praktische Beurteilung der Werke der Kunst ist dieser Satz von höchster Wichtigkeit; denn nichts ist gewöhnlicher als daß in ihrer Schätzung das dynamische Maximum mit dem qualitativen verwechselt wird, ja daß um der damit verbundenen heftigeren Erregung, sensationellen Wirkung willen, dem ersteren vor dem letzteren der Vorzug gegeben wird, während umgekehrt das qualitative Maximum, d. i. die höchste Richtigkeit, wegen der maßvollen Begrenzung seiner Wirkung oft genug geringere Beachtung findet. Doch sind die Mischungsverhältnisse, die hier stattfinden können, sehr verschiedenartige; so kann es geschehen, daß eine an sich richtige Empfindungsweise, wenn sie den Druck lang anhaltender Hemmung mit plötzlichem Durchbruch überwindet, zunächst gerade in excessiver Stärke sich berechtigten künstlerischen Ausdruck und allgemeinste Geltung verschafft. Für Goethes Genius ist es das eigentlich Charakteristische, daß vom Anbeginn durch eine unbeirrbare Jntuition seine Schöpfungen auf keine andere Wirkung als jene rein ästhetische gestellt sind, und daß seine Entwickelung eben nur in der Richtung von dem dynamischen zu dem qualitativen Maximum der reinen, ästhetischen Wirkung sich bewegt. Dagegen zwingt der hochgespannte moralische Jdealismus Schillers seine ganze gewaltige dichterische Kraft von Hause aus in den Dienst sittlich kräftigender und erhebender Wirkung, und seine Entwickelung liegt darin, daß er mehr und mehr dazu vorschreitet, die Lösung dieser Aufgabe auf das rein ästhetische Gebiet zu verlegen und rein ästhetische Mittel dafür zu verwenden. Seine dramaturgischen Aufsätze geben ein deutliches Zeugnis, wie starke Hindernisse er dabei zu überwinden hatte. Die völlige Unrichtigkeit der Schillerschen Deduktion des Tragischen zeigt sich auch darin, daß nach derselben der Komödie gegenüber der Tragödie eine ganz inferiore Stellung angewiesen werden müßte. Schiller argumentiert folgendermaßen: „Der mitgeteilte Affekt überhaupt hat etwas Ergötzendes für uns, weil er den Thätigkeitstrieb befriedigt; der traurige Affekt leistet jene Wirkung in einem höheren Grade, weil er diesen Trieb in einem höheren Grade befriedigt. Nur im Zustand seiner vollkommenen Freiheit, nur im Bewußtsein seiner vernünftigen Natur äußert das Gemüt seine höchste Thätigkeit, weil es da allein eine Kraft anwendet, die jedem Widerstand überlegen ist.“ Dieser Zustand müsse für ein vernünftiges Wesen der befriedigendste und mit einem vorzüglichen Grade von Lust verknüpft sein. „ Jn einen solchen Zustand versetzt uns der traurige Affekt, und die Lust an demselben muß die Lust an fröhlichen Affekten in eben dem Grad übertreffen, als das sittliche Vermögen in uns über das sinnliche erhaben ist. “ Zu solchem Widersinn kann eine falsche Theorie führen! Wie schön entspricht dagegen die aristotelische Lehre dem sokratischen Wort, daß die Komödie dieselbe Kunst erfordere wie die Tragödie, und wie völlig entspricht ihr das Beispiel Shakespeares! So gelangt denn also Schiller, ohne des Affektes der Furcht mit einem Wort zu gedenken, zu dem Schluß: „die tragische Kunst ahmt die Natur in denjenigen Handlungen nach, welche den mitleidigen Affekt vorzüglich zu erwecken vermögen.“ Danach schreitet er nun zu der Untersuchung vor, „unter welchen Bedingungen das Vergnügen der Rührung am gewissesten und stärksten erzeugt zu werden pflege.“ Auch hier operiert er nur mit den Begriffen der Zweckmäßigkeit und Zweckwidrigkeit; es würde daher eine Analyse dieser Partie nur zur Wiederholung des schon früher Gesagten führen; auch hier gipfelt die Untersuchung darin, den Fall als die Krone des Tragischen zu bezeichnen, wo für alle Beteiligten ein reiner Konflikt der Pflichten, für den die höchste Moral den Ausschlag gibt, die Ursache des Leidens ist, weil hier das moralische Vergnügen durch keine Vorstellung moralischer Zweckwidrigkeit getrübt wird. Nur eine Stelle erfordert noch scharfe Beleuchtung: es ist die Stelle, wo Schiller an dem in greifbarster Gestalt sich darbietenden Postulat der tragischen Furcht, durch den Glanz seines moralischen Leitgestirns geblendet, achtlos vorübergeht. Sein tragisches Jdeal des schuldlosen Leidens moralisch erhabener Wesen wird ihm doch durch einen Schatten, „eine Wolke des Schmerzes“ getrübt: das ist die „zweckwidrige“ Vorstellung der Schicksalsnotwendigkeit, welche „der höchsten Würdigkeit zum Glück“ das Unglück zuteilt. Nirgends zeigen sich die verderblichen Folgen jenes Lessingschen Jrrtums, der die Furcht ganz im Mitleid verschwinden ließ, handgreiflicher als hier. Eine einigermaßen deutliche Vorstellung von der Natur dieses Affektes hätte Schiller mit Notwendigkeit aus dem Gewebe, in das er sich mehr und mehr verstrickt, befreien müssen. Sie hätte ihm den primitiven Charakter der tragischen Affekte entdecken müssen, statt daß er sie als mitgeteilte behandelt; zugleich damit hätten sie sich ihm als spontane, reine Empfindungen darstellen müssen, in Entstehung und Verlauf ganz unabhängig von moralischer Erkenntnis, vielmehr geeignet diese erst anzuregen, auf sie hinzuführen! Jst doch die Furcht einer der mächtigsten Faktoren des religiösen Empfindens! Aber gleichviel, ob mit der Heiligkeit des religiösen Gebotes umkleidet und durch sie gefordert, oder durch die künstlerische Nachahmung des Schicksalslaufes unmittelbar erzeugt: immer ist diese „Furcht“ die Vorläuferin und Vorbedingung der Philosophie, „der Weisheit Anfang“, niemals das erst durch moralische Kultur ermöglichte Ergebnis. Schiller, da er in seiner Rechnung unbewußt auf die Unentbehrlichkeit dieses Koefficienten stößt, ersetzt ihn durch die Forderung einer teleologischen Erkenntnis des Weltenplans! Die merkwürdige Stelle muß hier im vollen Wortlaut wiedergegeben werden: „Wie viel auch schon dadurch gewonnen wird, daß unser Unwille über jene Zweckwidrigkeit kein moralisches Wesen betrifft, sondern an den unschädlichsten Ort, auf die Notwendigkeit abgeleitet wird, so ist eine blinde Unterwürfigkeit unter das Schicksal immer demütigend und kränkend für freie, sich selbst bestimmende Wesen. Dies ist es, was uns auch in den vortrefflichsten Stücken der griechischen Bühne etwas zu wünschen übrig läßt, weil in allen diesen Stücken zuletzt an die Notwendigkeit appelliert wird und für unsere Vernunft fordernde Vernunft immer ein unaufgelöster Knoten zurückbleibt. Aber auf der höchsten und letzten Stufe, welche der moralisch gebildete Mensch erklimmt, und zu welcher die rührende Kunst sich erheben kann, löst sich auch dieser, und jeder Schatten von Unlust verschwindet mit ihm. Dies geschieht, wenn selbst die Unzufriedenheit mit dem Schicksal hinwegfällt ─ (wie nahe kommt Schiller hier der Forderung des gereinigten, berechtigten Affektes! der aber nichtsdestoweniger doch Affekt bleibt: lebendige, mit Wärme die Seele durchströmende Thätigkeit des Empfindens! Elementarkraft, aber zur Wirkung an rechter Stelle in das rechte Bett gelenkt!) ─ und sich in die Ahnung oder lieber in deutliches Bewußtsein einer teleologischen Verknüpfung der Dinge, einer erhabenen Ordnung, eines gütigen Willens verliert ─ (der Jrrtum verschleiert sich für Schiller auch namentlich dadurch, daß er der Forderung der moralischphilosophischen Thätigkeit immer sogleich die des entsprechenden moralischen Gefühls hinzufügt, wie hier der Forderung des „ deutlichen Bewußtseins teleologischer Verknüpfung der Dinge“ die des Bewußtseins „ erhabener “ Ordnung, eines „ gütigen “ Willens. Damit wird der Grundfehler nur im Ausdruck gemildert und um so gefährlicher gemacht, denn an seinem Wesen wird damit nichts geändert.) ─ Dann gesellt sich zu unserem Vergnügen an moralischer Übereinstimmung die erquickende Vorstellung der vollkommensten Zweckmäßigkeit im großen Ganzen der Natur, und die scheinbare Verletzung derselben, welche uns in dem einzelnen Falle Schmerzen erweckte, wird bloß ein Stachel für unsere Vernunft, in allgemeinen Gesetzen eine Rechtfertigung dieses besondern Falles aufzusuchen und den einzelnen Mißlaut in der großen Harmonie aufzulösen. Zu dieser reinen Höhe tragischer Rührung hat sich die griechische Kunst nie erhoben, weil weder die Volksreligion, noch selbst die Philosophie der Griechen ihnen so weit voranleuchtete. Der neueren Kunst, welche den Vorteil genießt, von einer geläuterten Philosophie einen reineren Stoff zu empfangen, ist es aufbehalten, auch diese höchste Forderung zu erfüllen und so die ganze moralische Würde der Kunst zu entfalten. Müssen wir Neueren wirklich darauf Verzicht thun, griechische Kunst je wieder herzustellen, da der philosophische Genius des Zeitalters und die moderne Kultur überhaupt der Poesie nicht günstig sind, so wirken sie weniger nachteilig auf die tragische Kunst, welche mehr auf dem Sittlichen ruht. Jhr allein ersetzt vielleicht unsere Kultur den Raub, den sie an der Kunst überhaupt verübt.“ ────── XXVII. Wie singt doch der Chor in des Äschylus „ Prometheus “? μηδάμ' ὁ πάντα νέμων θεῖτ' ἐμᾷ γνώμᾳ κράτος ἀντίπαλον Ζεῦς , μηδ' ἐλινύσαιμι θεοὺς ὁσίαις θοίναις ποτινισσομένα βουφόνοις παρ' Ὠκεανοῦ πατρὸς ἄσβεστον πόρον , μηδ' ἀλίτοιμι λόγοις· ἀλλά μοι τόδ' ἐμμένοι καὶ μήποτ' ἐκτακείη . ἡδύ τι θαρσαλέαις τὸν μακρὸν τείνειν βίον ἐλπίσι, φαναῖς θυμὸν ἀλδαίνουσαν ἐν εὐφροσύναις . φρίσσω δέ σε δερκομένα μυρίοις μόχθοις διακναιόμενον . Ζῆνα γὰρ οὐ τρομέων αὐτόνω γνώμᾳ σέβει θνατοὺς ἄγαν, Προμηθεῦ . φέρ' ὅπως ἄχαρις χάρις, ὦ φίλος, εἰπὲ ποῦ τίς ἀλκά ; τἰς ἐφαμερίων ἄρηξις ; οὐδ' ἐδέρχθης ὀλιγοδρανίαν ἄκικυν , ἰσόνειρον, ᾇ τὸ φώτων ἀλαὸν γένος ἐμπεποδισμένον ; οὔποτε θνατῶν τὰν Διὸς ἁρμονίαν ἀνδρῶν παρεξίασι βουλαί . ἔμαθον τάδε σὰς προςιδοῦσ' ὀλοὰς τύχας, Προμηθεῦ . τὸ διαμφίδιον δέ μοι μέλος προςέπτα τόδ' ἐκεῖνό θ' ὅ τ' ἀμφὶ λουτρὰ καὶ λέχος σὸν ὑμεναίουν ἰότατι γάμων, ὅτε τὰν ὁμοπάτριον ἕδνοις ἄγαγες Ἡσιόναν πιθὼν δάμαρτα κοινόλεκτρον . Nimmer errege den Sinn Zeus, der allwaltende mir zum Trotzkampf gegen ihn! Säumt' ich doch nie, Göttern zu nahen mit Feststieropfern nach heiligem Brauch An der nieversiegenden Flut des Okeanos! Spräche ich Nimmer ein frevelndes Wort! Bliebe dies doch fest in mir, für immer unzerstörbar! Süß ist's, getrösteten Muts Langen Lebens Dauer genießen, vom hellen Strahl des Frohsinns immer die Seele erfüllt. Doch schaudert es mich, seh' ich dich an, So von tausend Qualen entsetzlich zerfleischt. Denn nur dem Rat Folgend des eigenen Sinns Ehrst du, Zeus nicht fürchtend, Menschen allzuhoch, Prometheus. Und dein Dank ist Undank! Wo ist helfende Kraft? wie käme, sprich Freund, Von den Tagesgeschöpfen Beistand? Sahst du denn nicht, Wie so schwächliches Unvermögen, Schattenhaftes, eingeengt hält Alle die blinden Geschlechter der Menschen? Wie sollte doch jemals Sterbliches Trachten die Harmonie des Vaters Zeus erschüttern! Das erkannt' ich im Angesicht deines Verderbengeschicks, Prometheus. Doch herüber ertönt das Lied mir, weit verschieden, Jenes Lied, das ich einst gesungen Hochzeitsfestlich deinem Brautbett Am Gestade der Fluth, als mit schmeichelndem Wort und mit Reichtums Gaben Hesione du, die Schwester, heimgeführt als Gattin. Es schien erforderlich den unübersetzbaren Ausdruck „Die Harmonie des Zeus“ in der Wiedergabe beizubehalten: „die ewig feste, ewig zusammenstimmende Ordnung des Zeus“! Und im „Anschauen“ des Prometheusschicksals wird der Chor zugleich durch das Mitleid mit dem Ge= quälten und durch die Furcht vor dem „Allwalter“ von der Gewißheit dieser „Harmonie“ in frommem Gefühl durchdrungen: denn das „eigenwillige“ Vertrauen auf seine Kraft hat den Prometheus zum Widerstreit gegen Zeus gereizt, daß er, der „Furcht“ vergessend, gegen Zeus' Beschluß der Menschen Sache führte. Schillers Dichtungen beweisen, daß er später eine andere Anschauung von der Religion, Philosophie und Poesie der Griechen gewann, als die hier citierte Stelle sie im flagranten Widerspruch gegen die offenkundigsten Zeugnisse aufweist. Er kannte, als er diese Abhandlungen schrieb, die griechischen Tragiker noch nicht von der Quelle her, und dort allein kann man sie kennen lernen. Vielleicht ging ihm jene Ansicht gerade aus der irrigen Auffassung des äschyleischen Prometheus hervor, dieser tiefsinnigsten Schöpfung des größten griechischen Tragikers; wie er ja auch des Sophokles Ödipus so sehr verkannte, daß er darin eine Bestrafung unzeitiger, zu weit getriebener „Neugier“ erblicken konnte. Der „ gefesselte Prometheus “, das einzige uns erhaltene Stück der Prometheustrilogie, bildete das Mittelglied dieser großartigen Komposition. Damit ist es gegeben, daß die Verwickelung der Gesamthandlung darin auf ihren Höhepunkt gelangen mußte: die Lösung derselben kann hier nicht erwartet werden, vielmehr muß hier das furchtbare Geschick zur Vollendung ausreifen, für dessen Ausgleichung als Abschluß des Ganzen die dritte Tragödie erfordert wird. Die Katharsis des Ganzen bringt erst das dritte Stück; um die Katharsis der mittleren Tragödie zu vollenden, das also zu erreichen, wodurch allein dieses Stück zu einem Ganzen, einem selbständigen Kunstwerk geschaffen werden konnte, mußte der Dichter sich die Aufgabe stellen, mit dem dargestellten, furchtbar=ungeheuren Schicksal die Empfindung zu versöhnen, ihren Widerstand dagegen zu überwinden, d. h. also die hier aufs stärkste erregten Mitleid- und Furchtgefühle ihres Übermaßes zu entlasten und sie zur „Symmetrie“ zu führen. Das konnte nur auf eine Weise geschehen: indem das entsetzliche Geschick, das über Prometheus hereinbricht, nicht als Willkürrache, auch nicht als Verhängung einer „blinden Notwendigkeit“ der Wahrnehmung dargestellt und von der Empfindung aufgenommen wird, sondern als der unerbittliche Vollzug ewigen göttlichen Waltens, der wie über Prometheus so über aller Welt und über uns fortwährend, Unterwerfung fordernd, schwebt: so die rechte Vereinigung von fürchtender Scheu und vertrauender Ehrfurcht unmittelbar in unserm Empfinden zu thätiger Kraft erweckend. Und wiederum dieses konnte nur erreicht werden: indem das furchtbare Leiden des Prometheus nicht als die durch verbrecherische Schuld verwirkte Strafe erschien, sondern als der tieferschütternde Fall des Hochherrlichen, aller Ehren Würdigen, der dennoch durch seine Verfehlung, seine „Hamartie“ unvermeidlich notwendig wird: so die rechte Versöhnung leidenschaftlichen Mitgefühls mit dem aus der Anschauung göttlicher Schicksals= „ Harmonie “ mächtig aufsteigenden Gefühl beruhigter Befriedigung als im unmittelbaren Empfinden sich vollziehende Thatsache bewirkend. Deshalb bildet jenes Chorlied von der „Harmonie des allwaltenden Zeus“, das im Mittelpunkte der Tragödie steht, auch deren eigentlichen Schwerpunkt. Wenn nun Schiller daran vorübersah ─ und daß er es that, bezeugen seine Worte ─, so mußte sich ihm damals wie das Verständnis des Prometheus, so das der griechischen Tragik überhaupt völlig verschieben. So hat er vielleicht gerade das jenem Chorlied vorangehende Gespräch des Prometheus mit dem Chor bei seinem Urteil über die griechische Tragödie im Sinne gehabt; wenigstens hat es so sehr wie kaum irgend eine andere Stelle den Anschein, dieses Urteil zu bestätigen. Prometheus hat den Okeaniden die lange Reihe der Wohlthaten aufgezählt, die er den Menschen erwiesen und schließt: Die ganze Fülle fass' ich in dies eine Wort: Was Menschen können, wissen, haben sie durch mich! So höre auf, den Menschen ohne Maß und Ziel Zu dienen! Denke doch des eignen Mißgeschicks! So kann ich freudig hoffen dieser Bande dich Befreit und neben Zeus dich wieder in Kraft zu sehn. Niemals! Die endbestimmende Moira hat nicht so Mein Los zu wenden mir verhängt. Erst lang gequält, Unendlich schmerzgefoltert, lös' ich diesen Zwang Denn stärker ist Notwendigkeit als alle Kunst . Doch wer sitzt an dem Steuer der Notwendigkeit ? Die Moiren sind's und die wachsamen Erinnyen . So wären diese stärker als die Macht des Zeus ? Auch Zeus entgeht doch endlich dem Verhängnis nicht . Was wäre ihm verhängt, als Herrschen in Ewigkeit? Hör' auf zu fragen! Keinem Dringen gäb' ich nach. Ein heiliges Geheimnis scheint's, das du verwahrst. Denkt des nicht weiter! Noch ist weit entfernt die Zeit, Dies laut zu künden. Drum sei's tief im Jnnersten Verborgen: denn bewahr' ich's wohl, so werd' ich noch Der Schmach der Fesseln ledig und des Leides frei. S. Äsch. Prom. V. 505─525: βραχεῖ δὲ μύθῳ πάντα συλλήβδην μάθε πᾶσαι τέχναι βροτοῖσιν ἐκ Προμηθέως . χο . μή νυν βροτοὺς μὲν ὠφέλει καιροῦ πέρα , σαυτοῦ δ ' ἀκήδει δυστυχοῦντος· ὡς ἐγὼ εὔελπίς εἰμι τῶνδέ σ' ἐκ δεσμῶν ἔτι λυθέντα μηδὲν μεῖον ἰσχύσειν Διός . Πρ . οὐ ταῦτα ταύτῃ Μοῖρά πω τελεσφόρος κρᾶναι πέπρωται, μυρίαις δὲ πημοναῖς δύαις τε καμφθεὶς ὧδε δεσμὰ φυγγάνω τέχνη δ ' ἀνάγκης ἀσθενεστέρα μακρῷ . χο . τίς οὖν ἀνάγκης ἐστὶν οἰακόστροφος ; Πρ . Μοῖραι τρίμορφοι μνήμονές τε Ἐρινύες . χο . τούτων ἄρα Ζεύς ἐστιν ἀσθενέστερος ; Πρ . οὔκουν \̓αν ἐκφύγοι γε τὴν πεπρωμένην . χο . τί γὰρ πέπρωται Ζγνὶ πλὴν ἀεὶ κρατεῖν ; Πρ . τοῦτ' οὐκέτ' \̓αν πύθοιο μηδὲ λιπάρει . χο . ἦ πού τι σεμνόν ἐστιν \̔ο ξυναμπέχεις . Πρ . ἄλλου λόγου μέμνησθε, τόνδε δ' οὐδαμῶς καιρὸς γεγωνεῖν, ἀλλὰ συγκαλυπτέος ὅσον μάλιστα· τόνδε γὰρ σώζων ἐγὼ δεσμοὺς ἀεικεῖς καὶ δύας ἐκφυγγάνω . Wer hier das Problem so faßt, als spräche Prometheus den Sinn des Dichters und des Gedichtes aus, für den muß freilich die Tragödie ein unlösbares Rätsel sein; wer also meinte, Äschylus und mit ihm die griechischen Tragiker überhaupt hätten diese Auffassung von der Welt und dem Schicksal: über Zeus und den Göttern steht Ananke, die Notwendigkeit, als eine dunkle Macht, die unfaßbare Beschlüsse eines unbegreiflichen Verhängnisses blind ausführt, eines Verhängnisses, dessen in undurchdringlicher Nacht die geheimnisvollen Moiren walten, so daß alles, was es im Himmel und auf Erden gibt, fortwährend in Frage gestellt ist, unsicher, früher oder später dem Untergange geweiht. Das wäre jene „blinde Notwendigkeit“, die nach Schillers damaliger Ansicht den Boden bildet, auf welchem die Tragik der Griechen stände. Die Meinung hat ja noch heute ihre Anhänger, noch immer wird von dem „Fatum“ geredet, das dort regieren soll, von den „antiken Schicksalstragödien“, denen das „Princip der sittlichen Verantwortlichkeit“ und „der Zusammenhang menschlicher Schuld und menschlichen Leidens“ unbekannt sein soll. Wobei denn freilich nur schreckhaft bange Furcht und schmerzlich peinliches Mitleid gedeihen könnten, und womit die echte Tragik unrettbar vernichtet wäre! So aufgefaßt, muß der Schluß des „gefesselten Prometheus“ als eine entsetzliche, unlösbare Disharmonie empfunden werden, denn das Leiden des Helden erscheint ebenso willkürlich als zwecklos herbeigeführt, wenn die Macht, die es verhängt, bestimmt sein soll, derselben „Notwendigkeit“ zum Opfer zu fallen, die wir hier blind ihres Amtes walten sehen. Ja, die schrille Disharmonie wird durch diese Aussicht in endloses Verderben noch verstärkt. Wie anders stellt sich in Wahrheit die Handlung dieser unvergleichlichen Tragödie dar, auch ohne daß man versucht sie durch Hypothesen über den Jnhalt des vorangehenden und folgenden Stückes, „des feuerbringenden“ und des „befreiten Prometheus“, zu ergänzen! Größeres ist nie erdacht als diese hochsymbolische Dichtung, wo dennoch der Gedanke in nichts über das Bild hinausgeht, sondern durch die bloße Darstellung des Mythus zur vollen, reinen Wirkung auf die Empfindung gebracht wird, des Mythus freilich, wie ihn der Dichter nach den Gesetzen seiner Kunst umzugestalten gewußt hat. Die symbolische Deutung verlangt die Thätigkeit der Reflexion, und es wäre eine schlechte Tragödie, die ihre Wirkung nur auf diesem Umwege erreichte. Sinne und Empfindungen sind es, an welche sie sich zu wenden hat. Es ist also zweierlei zu untersuchen: die symbolische Bedeutung des Stoffes, welche den Dichter dazu bewog, ihn zu wählen, und die dramatische Technik, durch die er den Stoff zu einer tragischen Handlung gestaltete. Die Prometheussage verkörpert den uralten, noch heute immer wieder auflebenden Kampf der Autonomie des vorausschauenden Verstandes gegen die Forderung, eine göttliche Übergewalt anzuerkennen und in bereitwilliger Selbstbeschränkung sich ihr zu unterwerfen. Die Zeit, in der Äschylus zu diesem Stoffe griff, sah aus dem Besitz einer reichen Kultur den Beginn einer kühnen Emancipation des philosophischen Denkens von der altehrwürdigen Tradition des Götterglaubens sich entwickeln. Damit trat also das Bestreben auf an die Stelle des gläubigen Aufschauens zu dem persönlichen Walten des Zeus und der Götter, an die Stelle der heiligen Scheu vor ihrer Macht, der frommen Furcht vor ihrem Zorne die aus der selbständigen Beobachtung des Weltlaufs und des Zusammenhanges der Dinge geschöpften Begriffe zu setzen. Hier steht obenan das Gesetz der „ Ananke “, das Gesetz eiserner, undurchbrechlicher Naturnotwendigkeit, das keine Ausnahme leidet, dem also die Götter und Zeus an ihrer Spitze ebenso unterworfen sein müssen, wie jedes Ding und Wesen. Aber hierbei konnte und kann die grübelnde Vernunft sich nicht beruhigen: die Frage verlangt Antwort, woher dies Gesetz seinen Ursprung hat, wer über seinen Bestand und seine Ausführung wacht, „ wer das Steuer der Ananke führt “. Hier ist, wie nicht anders möglich, die Philosophie von jeher bei dem „Jgnorabimus“ angelangt, aber sie hat den Verzicht auf bestimmte Erkenntnis verschieden ausgedrückt. Am liebsten begnügte sie sich, auf die im sittlichen Volksbewußtsein lebendigen Vernunftideen zurückzugehen und diese in abstrakter Fassung zu einer höchsten, letzten Jnstanz zu formulieren, um sie so außerhalb der Jndividualität und Willkür göttlicher Personen gestellt zu denken. Obenan steht hier die in der Vorstellung der „ wachsamen Erinnyen “ verkörperte Forderung einer jede Verletzung ihrer Majestät rächenden Gerechtigkeit, „ Themis “. Aber darüber hinaus gibt es einen minder deutlich hervortretenden, dennoch geahnten, hin und wieder auch erfaßbaren Zusammenhang im dichten Gedränge der wechselnden Erscheinungen; es ist eine in der Organisation des menschlichen Geistes begründete Forderung hier im Gegensatz zu den in dem Lauf der Dinge sich häufenden, scheinbaren Widersprüchen eine feste, unwandelbare Ordnung vorauszusetzen. So bei Anaximander τὸ χρεών „ das Notwendige “; bei Heraklit die „ Heimarmene “, das festbestimmte Maß der ewig wechselnden Veränderungen; bei den Pythagoräern die Zahl als Grundlage der kosmischen Harmonie. Aber es ist ein großer Unterschied, ob diese Ordnung in gläubigem Vertrauen fromm empfunden, in von solchem Sinn geformten Bildern freudig angeschaut wird, oder ob reiches Wissen und klares Erkennen sie aus dem Gewußten und Erkannten durch analogisches Schlußverfahren folgert, oder endlich ob an der Stelle des einen wie des andern die bloße Anerkennung einer allem überlegenen Macht steht, die aber unergründlich geheimnisvoll keinen Blick in das ewige Dunkel ihres Wesens gestattet: „ Verhängnis! “ Nun ist es aber der Sinn des Redenden, der dem Worte seine Prägung verleiht; ihre Neigung zum Bildlichen, Personifizierenden behielt die griechische Sprache im Munde eines jeden, ob er nun diesem oder jenem Standpunkte Ausdruck verlieh. Danach ist es klar, daß Bezeichnungen wie die „ Moiren “, die „ Pepromene “, „ Heimarmene “, selbst der Name der „ Erinnyen “ etwas wesentlich Verschiedenes bedeuten, je nachdem sie in diesem oder jenem Zusammenhange gebraucht werden. Es genügt daran zu erinnern, daß die „ Eumeniden “, wie der Schluß des gleichnamigen äschyleischen Stückes sie uns zeigt, ganz andere geworden sind als wie sie im Beginne desselben auftreten. Vollends jene Schicksalsbezeichnungen der Moiren, Pepromene, Heimarmene, kann ebensowohl das naivgläubige Vertrauen gebrauchen, das diese Mächte im Walten der Götter eingeschlossen erblickt und verehrt, wie die philosophische Erkenntnis, die sie auf ihre höchsten Begriffe anwendet, und ganz ebenso auch jene, nur in der Negation des specifisch Religiösen bestimmte, sonst resignierte, dunkel fatalistische Vorstellungsweise. Äschylus war nicht der Mann die Existenz dieser ungeheuren rationalistischen Opposition einseitig tendenziös zu bekämpfen, deren Unsterblichkeit, Unbesiegbarkeit er vielmehr auf das Augenfälligste anerkennt. Eine höhere, und allein der Kunst würdige Aufgabe war es, das Göttliche, der Kraft des Zeus Verwandte, darin zur Erscheinung zu bringen, wie es endlich wieder sich ihm versöhnt. Aus dieser Entwickelung hatte das mittlere Stück der Trilogie die Krisis des erbittertsten Kampfes darzustellen. Der Geist, der sich selbst berät und nur sich selbst vertrauen will, ist nun so reich entwickelt, daß er in offener Auflehnung der Himmlischen nicht länger zu bedürfen erklärt. Existieren sie in ihrer Macht doch nur durch ihn! Er half sie einsetzen gegen die Geltung älterer Gewalten, die um ihrer willen fallen mußten: so wird er, der allein meint, ewig sich gleich zu bleiben, auch sie wiederum einst stürzen sehen. Er allein wüßte das Wort diesem Sturz zu wehren; doch er ist entschlossen, unbekümmert um die Götter, über ihren Untergang zu triumphieren. Dieser Geist also wird als in unlösbare Bande geschlagen vorgeführt, zu unfruchtbarer Thatenlosigkeit verurteilt, solange sein Trotz gegen die Gottheit anhält! Und dennoch soll die Gottheit zu ihrer dauernden Geltung dieses Geistes nicht entbehren können; sie bedarf seines ratenden Aufschlusses, um der schwer drohenden Gefahr des Sturzes ihrer Macht zu entgehen. Jn diesem Doppelverhältnis liegt die Gewähr der künftigen Versöhnung begründet: er erlangt Freiheit und volle Kraft zurück, sobald die Zeit erfüllt ist, sowohl daß die Götter ihn nicht mehr zu fürchten haben, als auch er selbst für sie gewonnen wird! ─ Wie tiefsinnig ist diese Vorstellungsweise, welche die Quintessenz kultur- und religionsgeschichtlicher Entwickelung in ihrem streitenden und wieder sich einenden Wechselverhältnis darzubieten scheint! Doch was wären der Bühne solche Philosopheme! Sie hat es mit Gestalten und Handlungen zu thun. Nicht unter Zeus, sondern ihm nebengeordnet, gleichen Rechtes fühlt sich Prometheus, den Urgöttern zugehörig, als den gewaltigsten der Titanen, der Themis Sohn. Jn dem großen Götterkampfe hatten die Titanen seinen Rat verschmäht; Zeus aber, der ihm folgte, war der Sieger geblieben. Nach neuen, eigenen Gesetzen ( ἰδίοις νόμοις ) herrscht er nun gewaltig über Götter und Menschen. Doch Prometheus will sich diesem neuen Gesetz nicht fügen, sondern folgt, unbekümmert um die furchtbaren Strafen, mit denen Zeus die empörten Titanen daniedergeworfen, „ohne Furcht vor Zeus dem eigenen Sinn“. Vgl. V. 543 ἰδίᾳ γνώμᾳ , wo für ἰδίᾳ , des Versmaßes wegen als Glosse verdächtig, vermutet ist αὐτόνῳ „nach dem Sinn der eigenen Vernunft“; oder οἰόφρων γνώμαν „eigenwilligen Sinnes“. Welches aber ist das Vergehen, wodurch er nun für sich die entsetzlichste Strafe verwirkt? Jn der Behandlung dieses entscheidenden Umstands ist deutlich die mit sorgfältigstem Bedacht den Mythus ausgestaltende Hand des Dichters zu erkennen. Etwas anderes ist es hier, was wir aus dem Munde des Prometheus selbst erfahren, und etwas anderes, was wir den bedeutungsvollen Fragen des Chors entnehmen und vor allem den tiefernsten Mahnungen des Okeanos. Ohne Zweifel hat die höchst wichtige Rolle, die Äschylus dem Okeanos zuteilte, aus dem vorangehenden Stücke, und vielleicht auch aus dem folgenden, helles Licht erhalten; aber auch aus dem, was der „gefesselte Prometheus“ selbst bietet, ist sie zu verstehen. Wir erfahren in dem Stück das eine über die Handlung des früheren, daß Okeanos an dem Unternehmen des Prometheus in seinem ganzen Umfange mitbeteiligt war, so jedoch, daß er dabei vollkommen straflos ausgehen konnte, ohne also zu der „neuen Herrschaft des Zeus“ sich irgendwie feindlich zu stellen! „Jch beneide dich,“ spricht Prometheus zu ihm, „wie du so ganz frei von Vorwurf dastehst, außerhalb jeder Anklage, obwohl du doch an allem mit teilgenommen, alles mit mir gewagt hast “. S. V. 330, 331: ζηλῶ σ' ὁθούνεκ' ἐκτὸς αἰτίας κυρεῖς , πάντων μετασχὼν καὶ τετολμηκὼς ἐμοί . Jedes weitere Wort des Gesprächs der beiden, das von Prometheus in zunehmend gereiztem Tone geführt wird, trägt den Charakter der bitteren Jronie des in stürmisch rücksichtslosem Vorwagen Gescheiterten gegen den besonnenen Genossen, der in weiser Mäßigung die verderbliche Klippe vermied. „Gib dir doch um mich nur keine Mühe! Überlaß mich meinem Schicksal! Sieh dich sorglich vor ( πάπταινε !), daß dir nicht etwa selbst noch etwas Schlimmes widerfährt.“ Trotz alledem bleibt Okeanos dem Gatten seiner Tochter gegenüber unerschütterlich bei seinem freundlich dringenden Mahnen zur Mäßigung und zum Nachgeben, in der gewissen Zuversicht, daß Zeus ihm zuliebe sich zum Verzeihen werde bewegen lassen: „Ja freudig, freudig rühm' ich mich, daß Zeus die Gabe mir nicht weigern wird, er löst dich sicherlich aus dieser Qual!“ V. 338, 339: αυχῶ γὰρ αὐχῶ τήνδε δωρεὰν ἐμοί δώσειν Δί', ὥστε τῶνδέ σ' ἐκλῦσαι πόνων . Nur um so wilder lodert Haß und Zorn gegen Zeus in Prometheus empor, und er schließt die lange Rede der Anklage wider ihn aufs neue mit der bittern Apostrophe an Okeanos: „Du kennst das alles und brauchst meine Belehrung nicht; so sorge für dich selbst, wie du es ja verstehst. Doch ich will dies mein Schicksal auskosten bis zum Ende, bis einst die Wut in Zeus' Sinn zahm geworden ist.“ S. V. 373 ff.: σὺ δ' οὐκ ἄπειρος, οὐδ' ἐμοῦ διδασκάλου χρῄζεις· σεαυτὸν σῶζ' ὅπως ἐπίστασαι . ἐγὼ δὲ τὴν παροῦσαν ἀντλήσω τύχην , ἔς τ' \̓αν Διὸς φρόνημα λωφήσῃ χόλου . Vollends steigert sich dieser Ton in der nun sich anschließenden Stichomythie. Vergeblich mahnt Okeanos an die besänftigende Kraft der Rede, „des Wortes, das der Arzt ist für das gärende Zornesgift“, vergebens beruft er sich auf das eigene Beispiel des Prometheus, der ja seinen Namen von der „ vorausschauenden Fürsorge “ für andere habe, „ wie magst du prometheisch handelnden Wagemut gefährlich nennen? lehr mich das!“ (unübersetzbar! ἐν τῷ προμη- θεῖσθαι δὲ καὶ τολμᾶν τίνα ὁρᾷς ἐνοῦσαν ζημίαν ; δίδασκέ με .): Finster=trotzig setzt Prometheus aller Überredung entschlossene Abwehr entgegen, bis zuletzt der eigentliche Grund seiner Weigerung, der solange in scheinbar dankender Anerkennung der gebotenen Hülfsbereitschaft verschleiert war, in offenem Hohne hervortritt. Ok.: „So schickst du kurzerhand mich meines Wegs zurück.“ Pr.: „Jn Feindschaft stürzen könntst du dich um meinethalb!“ Ok.: „Du zielst auf ihn, den neuen Herrscher des Weltenthrons?“ Pr.: „Ja, sorge doch nur, daß nichts je das Herz ihm kränkt.“ Ok.: „Dein Unglück, o Prometheus, soll mein Lehrer sein!“ Pr.: „So geh! fahr wohl! und bleibe stets bei diesem Sinn!“ Ok.: „Schon auf dem Wege trifft mich dieses herbe Wort.“ S. V. 387 ff.: Ωκ . σαφῶς μ' ἐς οἶκον σὸς λόγος στέλλει πάλιν . Πρ . μὴ γάρ σε θρῆνος οὑμὸς εἰς ἔχθραν βάλῃ . Ωκ . ἦ τῷ νέον θακοῦντι παγκρατεῖς ἕδρας ; Πρ . τούτου φυλάσσου μή ποτ' ἀχθεσθῇ κέαρ . Ωκ . ἡ σὴ, Προμηθεῦ, συμφορὰ διδάσκαλος . Πρ . στέλλου, κομίζει, σῶζε τὸν παρόντα νοῦν . Ωκ . ὁρμωμένῳ μοι τόνδε ἐθώϋξας λόγον . Diese auf das feinste ausgeführte Scene enthält den Schlüssel zum Verständnis einer der wesentlichsten Voraussetzungen des Ganzen. Es läßt sich deutlich erkennen, wie Äschylus den starren Zügen des alten Mythus Leben verliehen hat. Mit „unerbittlicher, unbeugsamer Kraft“ ( κράτος ) herrscht Zeus „nach neuen Gesetzen“ ( νεοχμοῖς νόμοις κρατύνει ). Diese „ Kraft “ ─ Kratos ─ tritt als Person in der Eröffnungsscene des Stückes auf, den mitleidbewegt zögernden Gott Hephästos bei dem grausigen Werk der Fesselung und Anschmiedung des Prometheus an den Fels nach Zeus' Gebot zu unnachsichtlicher Ausführung anzuhalten. Der Jnhalt des Stückes ist es, die „diamantne“ Härte dieser neuen Herrschergewalt als urgesetzlich ─ θεμιτόν , die „mit der Themis in Übereinstimmung“ ─, in „Harmonie“ mit Moira und Pepromene ─ dem uranfänglich verhängten Schicksalsgesetz ─ zu zeigen. Es ist gewissermaßen der reine Grundstoff der Tragödie, der hier prototypisch behandelt wird, man könnte das Stück die Tragödie der Tragödien nennen: das scheinbar Unerträgliche, unerhört Jammervolle, entsetzlich Schreckenerregende wird an dem eigentlichen Ort dieser Empfindungen als ein Glied der ewigen Ordnung zu Anerkennung gebracht. Zunächst freilich kann es in dem Stücke sich nicht anders darstellen, als wie es dem ursprünglichen, noch nicht kathartisch geläuterten Gefühl erscheint. So finden die Seufzer des Hephästos um den verwandten Gott, den Freund, tief schmerzlichen Wiederhall. Um wie viel mehr wird der Chor der naheverwandten Okeanostöchter, da er die Qual des furchtbar gestraften Gottes erblickt, in lauthallende Mitleidsklagen ausbrechen und schwerste Anschuldigung erheben gegen „den eisernen Sinn“ des neuen Gewaltherren, der die alten Herrscher des Himmels wider das Recht ─ ἀθέτως ─ gestürzt hat und nicht aufhören wird „sein zorniges Herz zu ersättigen“, bis es „irgend einer List gelingt das übelgewonnene Reich ihm wieder zu entreißen“ ( παλάμᾳ τινὶ τὰν δυσάλωτον ἕλῃ τις ἀρχάν ). Diesem Chor nun gibt Prometheus den Bericht über die Ursache seines Leidens, welches Vergehen es sei, das von Zeus so über alle Gebühr gestraft werde. Natürlich ist nach seiner eigenen Meinung seine Handlungsweise gerechtfertigt, nicht strafbar. So erzählt er denn, daß Zeus, sobald er nur den Thron des Vaters, zu dem ihm Prometheus verholfen, eingenommen, die Herrschaft der Welt unter die Götter verteilt habe, der unseligen Sterblichen aber habe er nicht geachtet, sondern er habe das ganze Geschlecht zu Grunde gehen lassen, ein anderes neues an seine Stelle setzen wollen. Da sei keiner der Himmlischen ihm entgegengetreten, nur er, Prometheus, habe es gewagt. Durch ihn seien die Menschen vor der Vernichtung bewahrt! Dafür, für sein Mitleid mit ihnen, treffe ihn nun mitleidslos die schmachvolle, unbarmherzige Strafe. Wie verträgt es sich mit dieser Erzählung, daß Prometheus später selbst den Okeanos den Genossen seiner That nennt, der „ mit ihm alles gewagt habe? “ Warum ferner hätte Zeus, der doch die Gewalt besitzt, nachgegeben, da er doch in Wahrheit die Menschen nicht vertilgt? Der Schicksalsspruch, den Prometheus von seiner Mutter Themis weiß, daß ein Ehebund dem Zeus einst Verderben bringen werde, wenn er nicht, gewarnt, ihn vermeide, spielt nicht, wie gemeint worden ist, hierbei eine Rolle. Denn erstlich hat er an sich nichts mit den Menschen zu thun, und sodann tritt dieses Motiv erst am Schlusse des Stücks in Wirksamkeit, wo es sich um Aufhebung oder Verschärfung der Strafe handelt; daß es für ihre Verhängung bestimmend gewesen sei, wird nirgends mit einem Worte erwähnt. Es gibt nur eine Lösung dieser Widersprüche, die aber ebenso einfach ist, als hinreichend, um nach allen Seiten befriedigende Aufhellung zu verschaffen: Äschylus faßte den Mythus so, daß jene Anklage des Prometheus, Zeus habe die Menschen vertilgen wollen, nur die Übertreibung seines erzürnten Gemütes ist, daß also die nach seiner Meinung unzulängliche Fürsorge für seine Lieblinge ihm als gleichbedeutend mit ihrer Vernichtung gilt. Wie anders erscheint nun der ganze Kampf! Der selbstherrliche Geist des klug vorausschauenden Verstandes, eine der alten, gewaltigen Urkräfte, empört sich gegen das unerbittliche, eiserne Gesetz langsam allmählicher Entwickelung, welches Zeus' weise Herrschaft den Menschen bestimmt, und welches jenem als hassenswürdig grausamer Beschluß sie zu verderben gilt. Daß dem aber so sei, dafür liegt das vollgültige Zeugnis in dem Anteil, den an diesem ganzen Vorgange Äschylus dem Okeanos zugedichtet hat. Jn vollem Einverständnis mit Zeus, dem er fest vertraut, in Freundschaft ver= bunden ist, bei dem sein Rat großes Gewicht hat, war mit und neben Prometheus Okeanos als Anwalt der Menschen aufgetreten, „Teilnehmer seines Werks und Wagnisses“. Aber da er sich mit dem von Zeus zugemessenen Lose der Menschen begnügte, nicht „ über das Geschick hinaus sie fördern “ wollte, erhielt er einerseits sich die Gunst und Liebe des Allgewaltigen, anderseits aber galt er fortan dem rücksichtslos entschlossenen Gegner des Zeus als ein mattherzig vorsichtiger Helfer, dessen Hülfe er für nichts rechnet, sich allein das Verdienst des ganzen Werkes zuschreibend! So erklärt sich nun alles! Die Scene zwischen Okeanos und Prometheus, die den Höhe= und Wendepunkt des Stückes darstellt, bestätigt Wort für Wort diese Auffassung. Sie bringt auch in der Haltung des Chors einen Umschwung hervor, jedoch nicht ohne daß derselbe schon vorher eingeleitet wäre. Denn dem vollen Mitleidserguß folgt bei dem Chor nun die zweifelnd bedenkliche Frage: „Und bist du nicht noch weiter vorgegangen, wie du's sagst?“ Prometheus: „Jch nahm den Menschen die Blindheit gegen ihr Geschick“. V. 248: θνητούς γ' ἔπαυσα μὴ προδέρκεσθαι μόρον . Der Vers ist von Droysen durch unrichtige grammatische Auffassung der Negation ins Gegenteil verkehrt: „ Jch nahm's den Menschen, ihr Geschick vorauszusehn “; während es doch heißen muß: „ihr Geschick nicht vorauszusehn“. Als ob die Menschen zuvor diese Gabe besessen hätten! Vielmehr sagt Prometheus von ihnen, daß sie „sehend nicht sahen, hörend nicht hörten, wie Traumesgestalten ohne Sinn durch das lange Leben gingen“. Er hat also ihren Sinn erweckt, über das Gegenwärtige hinauszublicken ! Freilich konnte er ihnen kein anderes „Heilmittel dieser Krankheit“ geben als die Hoffnung, die für das wirkliche Geschick ja auch „blind“ ist; doch der Chor erkennt auch darin ein großes, wertvolles Geschenk. Dann erst erwähnt Prometheus seines eigentlichen Frevels, der auch in der Eingangsscene von „Kratos“ als die Ursache seiner Fesselung genannt wird: des Feuerdiebstahls, der Verleihung des Feuers an die Sterblichen, durch das sie alle Künste lernen, das ihnen das Mittel zu aller Vervollkommnung wird. Auch hier also hat Äschylus durch die wohlbedachte Steigerung Sorge getragen das symbolische Verständnis unverfehlbar nahe zu legen, daß die Verleihung des göttlichen Feuerfunkens an die Menschen die Weckung jenes Sinnes bedeutet, der dem religiösen Gefühl der Griechen zu allen Zeiten als der Gottheit am schwersten verhaßt galt: des Sinnes, der auf die erhöhte Kraft, die er= worbene Geschicklichkeit sein Vertrauen stellt, als ob er im Besitz der göttlichen Gabe der Götter nun nicht weiter bedürfe: der Hybris. Was aber bei den Menschen Hybris wäre, ist bei den Göttern Empörung; deswegen ist Prometheus dem Kratos verhaßt als: ὁ θεοῖς ἔχθιστος θεός „der den Göttern feindlichste Gott!“ Deswegen ändert sich auch die Stimmung des Chors sofort, als er dies vernommen: „Siehst du nicht, Daß du gefehlt hast? Wie du fehltest, das zu sagen ist Mir keine Freude, dir ein Schmerz. So schweigen wir Davon; Du aber sinne auf Lösung deiner Qual“. S. V. 259 ff.: οὐχ ὁρᾷς ὅτι ἥμαρτες ; ὡς δ' ἤμαρτες οὔτ' ἐμοὶ λέγειν καθ' ἡδονὴν σοί τ' ἄλγος· ἀλλὰ ταῦτα μὲν , μεθῶμεν, ἄθλου δ' ἔκλυσιν ζήτει τινα . Und nun in der Erwiderung des Prometheus die Worte: „Das hab' ich alles wohl gewußt. Mit klarem Vorsatz fehlte ich, ich leugn' es nicht.“ S. V. 265 ff.: ἐγὼ δὲ ταῦθ' ἅπαντ' ἠπιστάμην . ἑκὼν ἑκὼν ἥμαρτον, οὐκ ἀρνήσομαι . Nur das Eine gibt er zu, daß er die Folgen so schwer sich nicht vorgestellt habe. Das Prototyp der tragischen „ Hamartie “! Auch darin das Urbild derselben, daß der bewußte Fehl, den er im Augenblicke der That für recht hält und auch später nicht bereuen will, ihm mit der Achtung und Liebe derer, die ihn umgeben, das tiefe Mitleid derselben erwirbt; so nicht allein der Okeaniden, des Okeanos, sondern anch des Hephästos, trotzdem doch dieser es war, dem er den Feuerfunken raubte! Überall erscheinen hier gewissermaßen die reinen Grundformen der tragischen Komposition: so, wenn Okeanos den tiefen Schmerz ausspricht, den er um Prometheus fühlt, mit melisch erhöhtem Wort in den Klagegesang des Chors einstimmend, und ihm seine Hülfe zusagt: denn Prometheus habe keinen zuverlässigeren Freund als ihn; nichts gäbe es, dem nach Schicksalsgebühr er einen größeren Anteil zolle als seinem Leiden (ein merkwürdiger, unübersetzbarer Ausdruck: οὐκ ἔστιν ὅτῳ μείζονα μοῖραν νείμαιμ' \̓η σοί· „dem er eine größere Moira zollen möchte“, d. h. also doch, daß dieser „Anteil“ in der vollen Erkenntnis des Schicksalsgesetzes begründet ist, nach welchem Prometheus unverdient und dennoch wohlbegründet leiden muß!). Aus dieser Gesinnung fließen die tief eindringlichen Ermahnungen des besonnenen Freundes, der in weiser Erkenntnis sich willig der neuen höher berechtigten Ordnung gefügt hat, der Vertreter der Selbsterkenntnis, Selbstbeschränkung und freiwilligen Unterordnung gegenüber dem unbezähmbaren Stolz des sich allein vertrauenden Eigenwillens: „Erkenne selbst dich, wandle dich zu neuem Sinn!“ S. V. 309: γίγνωσκε σαυτὸν καὶ μεθάρμοσαι τρόπους νέους . „Wirf deinen Trotz ab! Zähme deine Zunge! Beuge dich!“ Aber wie wäre Prometheus zu erschüttern, dessen ganzes Wesen darin beruht, daß er eben jene „Harmonie“ des Zeus nicht anerkennt, in der er nur eine Gewaltherrschaft ( τυραννίδα ) erblickt! Seinen unabänderlichen Sinn gibt er gleich im ersten Monologe klar zu erkennen: Weh, weh! Zu der jetzigen Pein noch die Qual Die die Zukunft bringt! Wo seh' ich das Ziel? Wann erscheint mir das Ende der Mühsal? Jedoch was sag' ich? Weiß ich alles doch vorher Genau, was mir bevorsteht; unerwartet wird Kein Leid mir kommen. Aber das verhängte Los, So leicht als möglich muß es tragen, wer erkennt: Nichts hilft's zu streiten wider die Notwendigkeit ! S. V. 98 ff.: φεῦ, φεῦ, τὸ παρὸν τό τ ' ἐπερχόμενον πῆμα στενάχω, πῆ ποτε μόχθων χρὴ τέρματα τῶνδ' ἐπιτεῖλαι . καίτοι τί φημι ; πάντα προὐξεπίσταμαι σκεθρῶς τὰ μέλλοντ', οὐδέ μοι ποταίνιον πῆμ' οὐδὲν ἥξει . τὴν πεπρωμένην δὲ χρὴ αἶσαν φέρειν ὡς ῥᾷστα, γιγνώσκονθ' ὅτι τὸ τῆς ἀνάγκης ἔστ' ἀδήριτον σθένος . Das wäre freilich jenes dunkle Verhängnis, jene unaufgeschlossene „Notwendigkeit“, die Schiller in der Schicksalsauffassung der antiken Tragödie für das letzte Wort hält. Der Kern der äschyleischen Prometheustragödie ist, daß diese Auffassung als die Zeus verhaßte, gottfeindliche ihren Träger ins Verderben stürzt: denn ganz wie Sophokles im ähnlichen Falle, macht Äschylus zwar das mythische Motiv zum Träger der Fabel, hier also den Feuerdiebstahl des Prometheus, zugleich aber zeigt er die damit gegebene tragische Hamartie durch die gesamte Handlung hin in lebendiger Wirksamkeit. Jener blinde Verhängnis= und Notwendigkeitsglaube ist eben die ewig sich wiederholende Grundformel, die der ohnehin der eigenen Natur und Sinnesrichtung zu folgen ent= schlossene Wille dem geltenden Gesetz, und sei es auch das höchste, das göttliche, entgegenstellt; es ist nur ein anderer, den Schein allgemeiner Berechtigung suchender, Ausdruck für das Übergewicht eines machtvollen Willensimpulses, der nur sich selbst anerkennt, gegen den kategorischen göttlichen Jmperativ. Dieser aber ist dem griechischen Volksglauben wie der griechischen Tragödie, ebenso dem alten Epos, und wie sehr z. B. dem Pindar, vertreten durch Zeus, den Herrscher der Götter, dessen Walten, was es auch dem einzelnen bringe, und wie es auch im einzelnen erscheine, in unverbrüchlichem ewigen Einklang steht mit der uranfänglichen Gerechtigkeit, mit der Themis Gebot und der Erinnyen Gesetz, mit der alles erhaltenden unergründlich weisen Ordnung der Moiren und der weltenlenkenden Vorsehung, der Pepromene, Heimarmene. Das ist die „Harmonie des Zeus“, die auf dem Wendepunkt des Stückes durch das Stasimon des Chors gefeiert wird. So kann es nicht anders sein, als daß die zweite Hälfte der Tragödie die zur Katastrophe führende Entwickelung, die Steigerung des Leidens durch die unbeugsame Hamartie des Helden bringen muß: zugleich aber damit die Bekräftigung jener „Harmonie des Zeus“, ohne welche das gehäufte Leiden das Übermaß der tragischen Affekte erzeugen würde, Entsetzen und Grauen. Wie die erste Hälfte mit ihren Motiven in dem vorangehenden Stücke wurzelt, so weisen die Motive der zweiten auf das folgende hin, das mit der Lösung, der Wandlung des Unglückes in Glück durch eine doppelte „ Erkennung “ ( ἀναγνώρισις ) ─ indem nach beiden Seiten der letzte, tiefste Sinn der trennenden Schicksalssprüche sich enthüllt ─, einen wohl nie wieder so erreichten Gipfelpunkt tragischer Wirkung dargestellt haben muß. Eine Fülle herrlichen Lichtes muß diese letzte Tragödie des „Befreiten Prometheus“ auf den Zusammenhang des Ganzen ausgegossen haben; aber, wie schon gesagt, die mittlere Tragödie hat ihren Schwerpunkt in sich selbst und ist von diesem her zu erfassen. Es ist eine gewaltige Jdee des Dichters, zuerst die zerschmetternde Übermacht des Zeus gegen die Empörung sich unaufhaltsam erfüllen zu lassen, indem er der ungeheuren Bewegung des Mitleids und der Furcht nichts entgegensetzt als das unbedingte, gläubige Vertrauen in die Harmonie des Zeus. Noch bleibt das „Wie“ der Lösung im Dunkel: um so großartiger, und mit wahrhaft unvergleichlicher Erhabenheit, wirkt die eherne Strenge des Gedichtes, das gläubig vertrauende Gewißheit vor dem Erweise fordert; doch nein, nicht fordert von der Vernunft, oder der religiösen Gewöhnung, sondern sie hervorbringt im Empfinden durch die Anschauung des Handlungsverlaufes; demgemäß sie hervorbringt nicht als eine „ Jdee “ ─ vor der so vieles und so unrichtiges in Erörterungen tragischer Kunstwerke gesprochen wird, als ob „Jdeen“ im Empfinden entstehen ─, sondern als eine mit der Katharsis der tragischen Affekte in diesem Stücke unauflöslich verbundene Thatsache im Gemüt. Das „Wie“ der Lösung bleibt im Dunkel, obwohl der zweite Teil der Tragödie, der mit dem Auftreten der Jo beginnt, den Prometheus dieser gegenüber die Zukunft enthüllen läßt, wie er sie durch seine Mutter Themis kennt: aus dem Geschlecht der Jo wird ihm im dreizehnten Gliede der Retter erwachsen; Zeus aber wird einen Ehebund schließen, dessen Sprößling, stärker als er selbst und als Poseidon, den Vater zu stürzen bestimmt ist. Mit wunderbarem Tiefsinn hat Äschylus diese Verknüpfung der Prometheussage mit dem Jomythus benutzt, um eine herrliche Entwickelung vorzubereiten. Es wird auch hier erforderlich sein dem Sinne nachzugehen, in welchem er diesen Mythus umgestaltet hat, ehe seine dramatische Technik erkannt werden kann. Dennoch also soll dem Prometheus, obwohl der Chor ihn mahnte, die Menschen, um derentwillen er all sein Leiden auf sich genommen hat, könnten ihm nicht helfen, von dem Menschengeschlecht die Rettung kommen. Doch in geheimnisvoller Weise muß Zeus selbst sich dem Menschengeschlecht verbinden, um die Rettung möglich zu machen: der „schwarze Epaphos“, der Ahnherr des Halbgottes Herakles, hat seinen Namen davon, daß durch die bloße Berührung der Jo Zeus ihn erzeugte, nachdem er am Ende ihrer Leiden in der Nilstadt Kanobos sie vom Wahnsinn geheilt hat. S. V. 848 ff.: ἐνταῦθα δή σε Ζεὺς τίθησιν ἔμφρονα ἐπαφῶν ἀταρβεῖ χειρὶ καὶ θιγὼν μόνον . ἐπώνυμον δὲ τῶν Διὸς γέννημ' ἁφῶν τίξεις κελαινὸν Ἔπαφον . Dort gibt des Geistes Gesundung Zeus, mit sanfter Hand Schmerzlosem Druck dich nur berührend, dir zurück. Du aber wirst von Zeus' Berührung so benannt Den schwarzen Epaphos ihm gebären. Den gleichen Bericht gibt der Chor in den „ Schutzflehenden “, V. 573 ff.: daß nach „untrüglichem Zeugnis“ ─ ἀψευδεῖ λόγῳ ─ Jo durch Berührung und göttlichen Anhauch den Sproß des Zeus empfangen habe. Hier zeigt sich also die Aussicht auf eine Schlichtung des Konflikts unter Mitwirkung des Zeus durch menschliche Kraft, die vernichten zu wollen Prometheus dem Zeus in leiden= schaftlicher Erbitterung vorwarf. Das ganze Jnteresse lenkt sich damit auf die Persönlichkeit der Jo! Das mystische Wunder des Mythus konnte dem dramatischen Dichter nicht genügen: er bedurfte eines inneren Zusammenhanges, der aus der Fremdartigkeit der berichteten Ereignisse hervorleuchtete. Wenn es nun auch uns Modernen für immer unmöglich sein wird von der Eigenartigkeit des religiösen Empfindens der Griechen gerade auf diesem uns ganz fernab liegenden Gebiete eine irgend zureichende Vorstellung zu gewinnen, so sind uns doch die dort vorhandenen Erscheinungen thatsächlich bekannt, und die Auffassung, in welcher Äschylus den Jomythus für seine Tragödie in lebendige Wirksamkeit setzte, läßt sich daraus verstehen. Der Bericht der Jo von ihrem Schicksal ist bei Äschylus etwas weit Verschiedenes von der Erzählung eines Liebesabenteuers mit Zeus und der Eifersucht der Hera. Von Zeus selbst geht ihre Strafe aus und den Anlaß dazu hat ihr eigenes Verhalten gegeben! So lautet nach Droysens Übersetzung, die nur an einer Stelle wesentlicher Berichtigung bedarf, Jos Mitteilung ihres Leidensgeschickes an Prometheus und den Chor der Okeaniden, der Schwestern ihres Vaters Jnachus (s. V. 640 ff.): Jn klaren Worten sollt ihr alles, was ihr wünscht, Vernehmen. Freilich selbst zu sagen schäm' ich mich, Von wannen dieses gottverhängte Wetter mir, Der einst'gen Schönheit grauser Tausch mir Armen kam. Denn immer schwebten nächtige Traumgestalten still Herein in meine Kammer, und liebkos'ten mich Mit leisen Worten: „o, du vielglücksel'ge Maid, „Was bleibst du jetzt noch Mädchen, da dir werden kann „Die höchste Brautschaft; Zeus erglüht in Liebe dir „Vom Pfeil der Sehnsucht; nach der Kypris süßem Kampf „Verlangt's ihn; du, Kind, weise nicht von dir den Kuß „Kronions; geh' nun nach der tiefen Wiesenau, „Gen Lerna, nach des Vaters Herden und Gehöft, „Daß seiner Sehnsucht ruhn des Gottes Auge mag.“ Und solche Träume kamen mir Vieltraurigen Jn allen Nächten, bis dem Vater ich zuletzt Zu sagen wagte meine Träume, meinen Gram. Der sandte nun gen Pytho, gen Dodonas Wald Vielfache Frage, zu erkunden, was er thun, Was sagen müßte, das genehm den Göttern sei. Bald kamen seine Boten mit vieldeutigen, Mit unerklärlich rätselhaften Sprüchen heim; Dann aber endlich kam an Jnachos ein Spruch, Der unverkennbar ihm gebot und anbefahl, Mich auszustoßen aus dem Haus, dem Vaterland, Daß ich, gotteigen, schweifte bis zum Saum der Welt; Und wollt' er nicht, glutzuckend fahre dann des Zeus Blitzstrahl herab, all' sein Geschlecht hinwegzuthun. Und er, gehorsam diesem Spruch des Loxias, Trieb mich von hinnen, schloß des Vaterhauses Thor Mir Weinenden weinend; doch es zwang, es lenkte ihn Kronions Zügel mit Gewalt zu solchem Thun. Und alsobald war Leib und Seele mir verkehrt, Die Stirn, ihr seht es, stiergehörnt; endlos gequält Vom Stich der Bremse, irren Sprungs, wahnsinnverwirrt, So floh ich rastlos gen Kechreios' klaren Quell, Zum Hügel Lerna. Und es kam ein Riesenhirt, Der erdgeborne, grimme Argos, hinter mir, Zahllosen Auges spähend, hütend meine Spur; Doch unerwartet eines schnellen Todes Raub Sank hin der Leib des Riesen. Wutgestochen flieh' Jch vor der Gottesgeißel nun von Land zu Land. Jm letzten Verse übersetzt Droysen μάστιγι θείᾳ „vor der Göttin Geißel“ statt „vor der göttlichen Geißel“; das stünde im Widerspruch mit Jos Erzählung, in der von des Zeus Umarmung und dem Zorn der Hera mit keinem Wort die Rede ist. Dazu steht freilich in Widerspruch, daß an andern Stellen Prometheus, der Chor, sogar Jo selbst die Hera als die Anstifterin ihrer Leiden nennt, daß also dort Äschylus der vulgären Tradition zu folgen scheint. Allein ganz unverkennbar hat der Dichter absichtlich, mit feinster Kunst, den Bericht der Jo so gestaltet, daß derselbe, immer noch der hergebrachten Auffassung offen stehend ─ denn was hindert daran, Hera als die Anstifterin des Orakelspruchs hineinzudenken, wenn auch Jo nichts davon zu sagen weiß ─, dennoch dieselbe zu dem ihm vorschwebenden tiefen Sinne hinüberleitet. Erst dadurch tritt Jo zu Prometheus in eine innere gegensätzliche Beziehung und mit der Handlung des Stücks in einen tief begründeten, großartigen Zusammenhang. Jst Prometheus der gewaltige Vertreter der allein sich selbst vertrauenden Vernunft, die gegen die Gottheit sich erhebt, so erscheint in Jo die Vertreterin des gottentzückten Sinnes, jener auch den Griechen nicht fremden, aber besonders dem Orient eigentümlichen Übersteigerung des schwärmenden Enthusiasmus, die nach der entgegengesetzten Seite eine Verirrung von der echten und rechten Götterscheu darstellte. Wahnsinn, wild ausbrechende Wut, phantastisch widernatürliche Verkehrung des Menschlichen, irre Ausartung jeder Gattung sind seine unmittelbaren, unvermeidlichen Konsequenzen. Es wäre nun freilich ein völlig aussichtsloses Unternehmen, der Geschichte der Jo, wie das Stück sie vorherverkündigt, ausdeutend nachgehen zu wollen, der Schilderung ihres irren Laufes durch die vielen Gebiete des Orients, ihrer endlichen Gesundung und der Zurückverpflanzung des ihr entsprossenen Geschlechtes nach der Heimat, wo ihm dann die höchste göttlich=menschliche Mission bestimmt ist. Jndessen scheint die Vermutung nicht ungerechtfertigt, daß diese uns so fremdartig berührende Partie des Stückes dem griechischen Publikum, vielleicht durch Anlehnung an den in das Gemeinbewußtsein übergegangenen Teil der Mysterienweisheit, vertraut und so für die Absicht des Dichters ein sehr wirkungsvolles Mittel gewesen sein mag. Für die dramatische Technik aber, die nicht durch künstliche symbolische Veranstaltungen sich an die Reflexion wendet, sondern die durch persönliche Handlung wirkt, kommen alle diese Erwägungen durch drei einfache, große Momente zur Geltung: Jo erscheint als Leidensgenossin des Prometheus, wie er durch den Zorn des Zeus und die herrschenden Götter verfolgt; verfolgt jedoch aus dem entgegengesetzten Grunde, nicht wegen des Hasses gegen sie, sondern wegen einer durch die heiligen Orakelstätten, welche die uralten Satzungen des Götterrechtes hüten, als unstatthaft und verderblich verurteilten Liebe, um derentwillen sie, von Wahnsinnsangst gefoltert, in der Jrre schweifend umhergetrieben wird; eine ferne Zukunft zeigt nach dem Willen des Geschickes von der mit Zeus versöhnten Jo, die durch die befruchtende Berührung des Gottes geheilt ist, auch den Befreier des Prometheus von dem Banne des Zeus ausgehend. Jn die Haupthandlung des Ganzen fügt sich nun aber dieses neue Motiv auf folgende Weise ein: nach der felsenfesten Überzeugung des Prometheus ist seine Befreiung gewiß; aber ebenso gewiß ist es ihm, daß zuvor Zeus gestürzt sein wird! Jn beidem meint er dem untrüglichen Spruch seiner Mutter Themis, der Hüterin unverbrüchlichen Gesetzes, zu folgen. Aber hier irrt er! Dieser Jrrtum ist sein Verderben, und das unaufhaltsam daraus über ihn hereinbrechende furchtbare Leidensschicksal ist der Jnhalt der Tragödie des „ gefesselten Prometheus “! Denn die Schlußfolgerung, welche die beiden Prophezeiungen der Themis in die Verbindung gegenseitig sich bedingender Wechselwirkung bringt, entstammt nicht der Themis, sondern allein seinem eigenen Sinn. Jch selbst, sagt er sich, werde nimmer nachgeben, ebensowenig aber Zeus: weiß ich nun von Themis, daß Zeus einen Ehebund begehren wird, aus dem ein Sohn hervorgeht, stärker wie er, der ihn stürzen wird, wie er selbst einst seinen Vater Kronos stürzte, weiß ich ferner, daß mir selbst die Befreiung durch Jos dreizehnten Sproß gewiß ist, so weiß ich auch, daß zu dieser Zeit die Herrschaft des Zeus am Boden liegen wird, denn nicht anders ist meine Befreiung möglich. Diese unzerbrechbar erscheinende Schlußkette gibt ihm den ehernen Trotz ein, der unerschüttert die zerschmetternden Donner des Zeus über sich ergehen läßt. Was könnte auch nur annähernd an Macht und Gewalt dieser äschyleischen Scene an die Seite gestellt werden! Die gleiche Überzeugung sucht Prometheus auch in Jos Brust zu erwecken, die ja wie er „den Sturz des Zeus mit Freuden sehen müßte“. Gelingt es ihm nun auch nicht den in zweifelnden Fragen sich ausdrückenden Unglauben der Jo ganz zu besiegen, so erreicht er doch ihre Einstimmung in seine Gesinnung: eine stark betonte Wendung des Dichters, um durch diese in der Handlung selbst hell hervortretende Hamartie der Jo die Fortdauer ihrer Leiden, den bald auf offener Scene wieder ausbrechenden Wahnsinn zu begründen. Doch wie könnte je der Spruch der Themis sich erfüllen? Wie könnte je Zeus den Bund schließen, dessen Frucht verderblich, „ gegen die Themis “, „ nicht Themis “ sein würde, wie die griechische Sprache das ungöttlich Gesetzwidrige so schön zu bezeichnen weiß! Diese unerschütterliche Gesinnung ist die Grundlage der griechischen Tragödie, vor allem der Tragödien des Äschylus, der den Chor der „Schutzflehenden“ so sein Lied beschließen läßt: Drum wen mag, welches Gottes Beistand Jch anflehn mit gerecht'rer Bitte? Der teure Sämann, unsres Stammes Vater ist Der urgewaltige, wissende ─ Allvater, alllautrer Born des Heils, Zeus! Er, niemand pflichtgebannt zu dienen, Jn Allmacht herrschet Er der Höchsten, Er hat zu niemand über sich empor zu schaun, Da steht mit seinem Wort das Werk; Was still im Geist kaum ihm keimt, vollbracht ist's! Nach Droysens Übersetzung: Hiketides V. 590 ff. Wie konnte dem griechischen Sinn die Auflösung jenes Spruchs der Themis anders erscheinen, als daß Zeus der Themis folgend von seinem Begehren absteht, daß gewissermaßen von selbst und notwendig seine Entscheidung mit dem Willen der Themis eins ist! Pindar er= zählt den Hergang in dem siebenten seiner isthmischen Gesänge, wie Themis den Streit des Zeus und Poseidon um die Thetis durch ihre Warnung schlichtet, und schließt seine Erzählung mit den Worten: „So zu des Kronos Söhnen sprach die Göttin: sie aber winkten Einstimmung ihr zu mit den unsterblichen Brauen, und die Frucht der Worte ging nicht verloren: denn vereint mit ihr haben die Herrscher, beide selbst, der Hochzeit der Thetis gewaltet. “ S. Pindar, Jsthm. VII, V. 27─47. Am Schluß V. 46, 47, nach Boeckhs Emendation: φαντὶ γὰρ ξύν' ἀλέγειν καὶ γάμον Θέτιος ἄνακτε . Diese hohe, unverbrüchliche Einigkeit und Einheit des Zeus mit der Themis, die der Chor die „Harmonie des Zeus“ nannte, ist der Fels, an welchem der Titanentrotz des Prometheus, der nimmer sich beugt, zersplittert. Das Stück zeigt in einer Scene, an deren machtvolle Großartigkeit nichts heranreicht, was je erdacht ist, die zerschmetternde Katastrophe. Die Wirkung steigert sich dadurch zum Höhepunkt, daß die Kräfte in lebendigem Ringen dargestellt werden: nicht etwa also Zeus in Ruhe thronend, der Zukunft kundig und des Sieges gewiß, sondern besorgt, den Jnhalt der Drohung des Feindes zu erfahren, obwohl die Gefahr ja nur eine scheinbare sein kann, die, sobald sie sich kund geben wird, notwendig auch aufhören muß zu bestehen. So bleibt das Schwergewicht dieser „furchtbaren“ Scene doch in dem Umstande beruhend, daß mit der Erfüllung der durch Hermes an ihn gestellten Forderung Prometheus sich selbst, die eigene Hamartie, überwinden und frei werden würde, daß er aber unbeugsam bleibt, auf sein uraltes Recht der Selbständigkeit sich berufend und zuversichtlich dem eigenen Schlusse vertrauend, daß er diese Göttermacht, deren Entstehen er sah, auch wieder werde vergehen sehen: denn er allein vermöge solchem Sturz zu wehren. S. V. 913, 914: τοιῶνδε μόχθων ἐκτροπὴν οὐδεὶς θεῶν δύναιτ' \̓αν αὐτῷ πλὴν ἐμοῦ δεῖξαι σαφῶς . Vergebens mahnt der Chor zur Mäßigung, zur Furcht des Zeus und zur Scheu vor der Adrastea; er erhält die bittere Antwort: Bet' an, verstumme, beuge dich dem je Herrschenden; Mich aber kümmert minder dieser Zeus denn nichts! Er schalt' und walte diese kleine Spanne Zeit, Wie's ihm gefällt; lang bleibt er nicht der Götter Herr! S. V. 937 ff., nach Droysens Übersetzung. Und sodann dem Hermes gegenüber, der die Angabe des gefährlichen Ehebunds verlangt: Erhaben tönend, vornehm stolzen Mutes voll Jst deine Rede nach der Götterknechte Art! Neu steht in neuer Herrschaft ihr und denkt nun wohl, Jn eurer Burg zu thronen über allem Leid! Doch sah ich nicht von dort zwei Kön'ge schon verjagt? An diesem dritten, deinem Herrn, seh' ich es bald Geschehn, am schnellsten, schmählichsten; ─ du glaubst doch nicht, Vor diesen neuen Göttern zittert' ich', beugt' ich mich? Dran fehlet viel und alles! Du nun aber magst Desselben Weges, den du kamst, heimeilen; denn Von jenem allem, was du fragst, erfährst du nichts! S. V. 953 ff.; zum Teil nach Droysens Übersetzung. So bricht das Schreckliche über ihn herein! Vom Flammenblitz des Zeus getroffen versinkt er, während rings im Erdbeben die Felsen über ihm zusammenstürzen, für Jahrtausende in tiefes Dunkel, um endlich zum Licht zurückgekehrt, der qualvollsten Marter zu verfallen, die der unsterblich sich immer wieder ersetzenden Kraft sich täglich erneut. Auch hier ist es schwer der andringenden symbolischen Bezüge sich zu erwehren. Der Dichter aber enthält sich jedes, auch des leisesten Hinweises nach dieser Richtung, sondern läßt nur die Handlung sprechen: und wie diese mit der stärksten Furchterregung sich beschließt, so verwendet er hier am Schluß wieder wahrhaft meisterlich den Chor, um jenem Affekt durch eine ergreifende Äußerung schönsten Mitgefühls die Wage zu halten. Jn Worten edelster Abwehr verschmäht es der Chor, nach Herems Rat der herannahenden Katastrophe zu entfliehen und bleibt hingebenden Mitleids voll dem untergehenden Helden treu zur Seite. Mit dem erschütternden Aufschrei des Gequälten endet das Stück. Was an früherer Stelle wiederholt bemerkt wurde, daß in dem Chor dem tragischen Dichter ein unschätzbares Mittel gegeben ist, die kathartische Symmetrie der Schicksalsempfindungen herbeizuführen, bewährt sich im Prometheus auf das vollkommenste. Diesem Stoffe ist es seiner Natur nach eigen, vornehmlich die Furchtempfindungen in Bewegung zu setzen: daher fällt von Anfang an wie zuletzt wieder am Schluß dem Chor die Aufgabe zu, dem Anteil an dem Schicksal des Helden in ergreifendem Mitleidserguß sich hinzugeben. Ja, dieser Gesichtspunkt ist es, der offenbar auch die Wahl der Okeaniden zum Chor für diese Tragödie bestimmt hat! Das kann nicht hindern, daß auf dem Höhepunkt des Stückes, da wo die Hamartie des Helden unwiderruflich sich entscheidet, umgekehrt der Chor der reinen Furcht= empfindung den höchsten lyrisch=melischen Ausdruck verleiht: in jenem herrlichen Stasimon, dessen Citat den Ausgangspunkt dieser Analyse bildete. Dieselbe Aufgabe fällt dem Chor am Beschlusse der die Jo betreffenden Nebenhandlung zu: während er zuvor nur in die Klage um ihr Jammergeschick einstimmt, erhebt er hier die Stimme zur Warnung vor dem Sinn der Jungfrau, die, Männerliebe verschmähend, ihr Trachten zu hoch gerichtet hat ( ταρβῶ γὰρ ἀστεργάνορα παρθενίαν εἰσορῶσα ), aber, echt griechisch, nicht etwa in moralisierendem Tadel, sondern die Scheu, die Furcht betonend, vor dem unausweichlichen Geschick dessen, dem die Gottheit solches Trachten ins Herz legte, den sie „mit solchem Auge ansähe“; das wäre „ein Kampf nicht auszukämpfen, ein Weg in unwegsame Wildnis“ ( ἀπολέμιστος ὅδε γ' ὁ πόλεμος , ἄπορα πόριμος ). Eine herrliche Kraft verfällt durch die ihrer Eigenart anhaftende Hamartie einem furchtbaren Leidensschicksal; aber der eigentliche Lebensnerv dieser Tragödie, wie der Tragödie überhaupt, liegt darin, daß dies Geschick kein dunkles ist, nicht als „blinde Notwendigkeit“ eine resignierte Hinnahme verlangt, sondern als Forderung der höchsten, ewigen Ordnung auf das lebendigste empfunden wird. Hier äußert diese höchste „Harmonie“ ihre Macht in der Überwindung des gegen sie gerichteten Angriffs; die dritte Tragödie mußte ihre positive Erfüllung zeigen und mit ihr die Aussicht über ein weites Meer des Strahlenglanzes eröffnen: die Herrschergewalt des Zeus in hoher Einigkeit mit Themis Rat, sicher vor der drohenden Gefahr, in Ewigkeit bewährt: Prometheus durch der Jo Sprößling seiner Bande ledig, nun seines verhängnisvollen Jrrtums in tief umwandelnder „ Erkennung “ inne geworden, vom Zeussohne Herakles dem Vater der Götter und Menschen zugeführt, nicht länger ihm feindlich, sondern in dem strengen Walter den Freund des Menschengeschlechtes erkennend: durch die Titanide Themis er, der Titan, dem obersten Herrscher des Himmels versöhnt. Noch einmal mußte in dieser Schlußtragödie der Trilogie der Anblick unerhörten Leidens das Mitleid zum Äußersten treiben, noch einmal die erschütternde Furcht aufsteigen, daß der unglückliche Lauf der Handlung zum hoffnungslosen Untergang hineilte: bis dann die „Erkennung“ die bis ins Jnnerste durchgreifende Wandlung brachte, den Umschwung des Unglücks zum Glück, und so die vollendetste tragische Wirkung erzeugt wurde, in der die Freude an der vollkommenen Klärung der Schicksalsempfindungen ─ die Hedone der tragischen Katharsis ─ sich durch die doppelte, unmittelbar entstehende Freude potenziert, das befriedigte Wohlgefallen an der Erscheinung des Glückes an sich und das hohe Entzücken, es als die positive Äußerung der Harmonie des Weltgesetzes zu empfinden. Es ist der Fall, den Aristoteles in der viel umstrittenen Stelle des Kap. 14 seiner Poetik als denjenigen bezeichnet, der die beste Tragödie ergibt: daß ein drohendes Furchtbares durch Erkennung abgewendet wird, durch Erkennung, die nach ihm sich auf Personen, Dinge, Handlungen, Verhältnisse erstrecken kann. Es ist der einzige Fall einer Tragödie mit glücklichem Ausgang; jede gute Tragödie, die glücklich ausläuft, muß so gebaut sein! Nicht anders ist die Komposition von Goethes „ Jphigenie “ beschaffen: ist der äußere Gang der Handlung durch die Personenerkennung der Geschwister bestimmt, so ist der wesentlich innere Verlauf ganz allein herbeigeführt durch Jphigeniens Enthüllung des in Wahrheit obwaltenden Verhältnisses und die damit vollbrachte Umwandlung . Als das wahre Urbild der tragischen Kunst gewährt der „Prometheus“ des Äschylus einen tiefen Einblick in das Wesen der Weltanschauung, aus der die Tragödie entstanden ist, und auf deren Grunde sie allein gedeiht. Die griechische Anschauung von einem Kosmos nicht nur der natürlichen, sondern auch der geistig=sittlichen Welt steht im schroffsten Gegensatz zu jeder Art der dualistischen Vorstellungsweise. Die Verirrung erscheint dieser als das Böse in ewigem Kampf mit dem Guten, im Princip auf immer von ihm getrennt; das Unglück ist die Strafe des Abfalls, nach dem Ermessen der göttlichen Zucht je nach Umständen verhängt oder zugelassen, immer also angesehen als der Sold der Sünde, die Vergeltung der Schuld. Wo diese Anschauung in Geltung ist, kann die Tragödie nicht aufkommen oder muß sie wieder verkümmern. Jn grellen Farben wird sie Schreckbilder des Bösen mit Glanzbildern des Guten kontrastieren lassen, oder sie wird, einem gebildeteren Geschmack zuliebe, im besten Glauben zum Dienste „sittlicher Jdeen“ genötigt, d. h. moralisch=paränetischen Tendenzen unterthan gemacht werden, wenn sie die Aufgabe erhält, den Sieg des Edlen über das Niedrige und Boshafte zu zeigen, das gekrönte Laster oder Verbrechen an den Pranger zu stellen, der verkannten Tugend Verehrer zu erwecken: Dienste des Büttels, im bessern Falle des einsichtigen Richters, im besten des philosophischen Sittenlehrers! Aber ein Verzicht auf die Höhen, aus denen dem Flug des Genius die großartige Einheit in dem unendlich sich durchkreuzenden Kampf der Kräfte erscheint, und wo aus tausendfachen Dissonanzen die große Harmonie zu ihm heraufklingt! Und doch! Jst nicht noch heute die Ansicht im Schwange, wenn nicht vielleicht die herrschende, daß weit über die antike Tragödie, die unverschuldetes Schicksal darstellte, sich das moderne, dem christlichen Bewußtsein entstammte Trauerspiel erhoben habe, das im Lichte freier sittlicher Verantwortung die Schuld zeige und die nach dem Sittengesetz sie treffende Strafe? Tragisch also nur das Leiden, sofern es als adäquate Buße der in freiem Handeln verwirkten Schuld zu erfassen ist, dergestalt, daß jeder neue Fall einen neuen Paragraphen des Sittencodex befestigt, indem es die Folgen seiner Übertretung illustriert, oder vornehmer und im Sinne des Systems ausgedrückt: dergestalt, daß es den Triumph einer ethischen Jdee verherrlicht, indem es den Sturz dessen, der sie verletzt, vor Augen führt. Wie anders die Griechen! Die selbst da, wo sie einmal eine „ Schuld “ tragisch darzustellen unternahmen, das doch nur so mit dem Gesetz der Tragödie vereinen zu können meinten, daß sie die Schuld selbst dann als ein „Schicksal“, eine von den Göttern verhängte, unentrinnbare Fügung erfaßten und darstellten. Nicht anders faßte Goethe die „Schuld“ auf, sofern sie ein tragischer Gegenstand, d. i. sofern sie Furcht und Mitleid zu erwecken vermögend ist, wenn er die Urheberschaft solcher Schuld den „ himmlischen Mächten “ zuweist: Jhr führt ins Leben uns hinein; Jhr laßt den Armen schuldig werden, Dann überlaßt Jhr ihn der Pein; Denn alle Schuld rächt sich auf Erden. Über die tragische Weltanschauung der Griechen hat einer der berufensten Kenner des Altertums, der Verfasser der „ Populären Aufsätze “, Karl Lehrs, sich in einer schönen Stelle ausgesprochen, die den Kernpunkt der Frage trifft, und zwar gerade mit dem Bezug auf das im obigen behandelte Stück. Siehe den Aufsatz „ Zeus und die Moira “. 2. Aufl. 1875, S. 207. Dieselbe möge daher hier folgen: „Vom Prometheus des Äschylos will ich auf meine Weise reden ohne Rücksicht auf andere: nur das muß ich sagen, daß die Erklärung ihn gar nicht verstanden hat, auch nicht verstehen konnte, welche die Ähnlichkeiten mit dem Christentum heraufbeschwört, die nicht vorhanden sind. Die Principien der Äschyleischen Religion und des Christentums, und nirgends tritt dies entschiedener auf als hier, sind grundverschieden. Sie sind es in zwei Hauptstücken. Dort steht voran die gesetzmäßige Notwendigkeit, im Christentum der absolut freie, gegen seine freie Schöpfung grundgütige Gott: und ebenso die absolute menschliche Freiheit im Christentum, dagegen bei Äschylos ─ die Grenze, bis zu welcher der Mensch im Handeln frei handelt, bleibt im Halbdunkel. Hier finden wir also, merkwürdig gewiß, die Unfreiheit Gottes, ein Begriff, sehr gangbar bei den Philosophen, aufgenommen in die Volksreligion. Auf diesem Punkte treten Spinozismus und Griechentum aneinander und hier ist der Einigungspunkt für Goethes Liebe zu beiden und Ruhen in beiden. Während wir hineingezogen werden in die Auffassung: die Welt ist verschlechtert, wuchs der Grieche auf in der Vorstellung: die Welt ist nicht schlechter, sie ist nicht schlecht, sie ist wie ihre Notwendigkeit von Anfang ist. Auch das Unglück des Menschen, auch das Unglück, daß der Mensch nicht ohne Vergehen sein kann, die dann auch nach den unverbrüchlichen sittlichen Gesetzen Ausgleichung verlangen, gehört in diese uranfängliche, abgestufte Notwendigkeit. Die auf einer höheren Stufe stehenden göttlichen Wesen, wie herrlich und mächtig und wie wohlwollend ihm und hülfreich und hoffnungsreich, dürfen für ihn, wie für sich, nicht alles. Nun entsteht durch diese beiden Faktoren eine große Dehnbarkeit innerhalb der religiösen Vorstellung. Nach Stimmung, Bildung und Bedürfnis konnte man dem einen und dem andern einen weitern Spielraum, eine strengere oder erweiterte Sphäre zuweisen und konnte sich immer noch innerhalb der heimischen Religion fühlen und dem Schmerz der Wunden enthoben sein, den ein Losreißen von dieser so leicht zurückläßt. Denn hier glauben wir noch etwas anderes zu verstehen. Jene Überzerfallenheit mit den göttlichen Dingen, wie sie in denkenden Männern der neueren Zeit hervorgetreten ist, warum blieb sie dem Griechen in dieser Weise fremd? Man denkt sich die Lösung dieser Frage gewöhnlich zu leicht: sie ist Schiller nicht gelungen. Die Schicksale der Griechen waren nicht so heiter als man nach Analogie ihres Himmels sich gewöhnlich vorstellt: dies beweist die Geschichte, dies beweist die Empfindung des tiefen menschlichen Wehes, welche durch ihre Tragödie geht. Die Ursachen müssen tiefer liegen, und einen Punkt haben wir hier. Wenn ─ so etwa gingen die beunruhigenden Gedanken jener neueren ─ wenn jener Gott so frei und so grundgütig ist, warum hat er das Unglück so schrecklich wuchern lassen in der Welt und das Verbrechen? Warum hat er dem Menschen diese absolute Freiheit gegeben seine Welt so schrecklich zu entstellen? Warum gab er wohl gar einem grundbösen Wesen über den Menschen so viel Macht? einem Wesen, über welchem der strebsame, wenn auch verschuldete Mensch sich doch erhaben fühlen muß? Kenner von Byron werden sich hierbei an Manfreds back to thy hell! erinnern. ─ Faust! Die herkömmliche dogmatische Lösung ergibt wahrlich einen unwürdigen Gott. ─ Äschylos, der den Begriff der Notwendigkeit aus seiner Religion empfing, löste sich diese Frage über die göttlichen Gewalten zu seinem befriedigendsten Erstaunen, indem er gerade den Begriff der Moira vertiefte und gleichsam in eine unabsehbare Scene ihrer Wirksamkeit hineinschaut. Jhre Jahrtausende und Jahrtausende hindurch angelegten Fäden, die den Konflikt der mächtigsten und unbeugsamsten göttlichen Willen aussöhnen werden, indem diese Fäden angelegt sind auf diese Willen eine beschwichtigende Wirkung zu üben, und alles, auch das Unerwartetste, sich zusammenfinden zu lassen, das war es, was ihn in staunende Ehrfurcht versenkte und den Menschen gar, der etwa vermeinte in diesen unabsehbaren Großgang eingreifen zu können, so zerschmetternd klein erscheinen ließ, und so groß, daß auch seine Geringfügigkeit in derselben mit einbeschlossen ist. Das ist das gewaltige Schicksal, Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt. Wie es Schiller mit tiefstem Verständnis und in einem seiner glücklichsten Augenblicke für das Verständnis des Griechentums gesprochen hat. Eingreifen zu können! Zeus glaubte es einen Augenblick ─ denn was sind Jahrtausende in jenen Urzeiten göttlicher, ringender Gewalten und nach ihren Riesenmaßen, und er ahnte nicht, wie der Gang des Schicksals auf seinen Willen einwirken werde. Je unabsehbarer aber eine solche Entwickelung auf Äonen angelegt geschaut wird, um so mehr macht neben Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit zugleich das Gefühl eines Planes sich geltend.“ ────── XXVIII. Wohl war in Schillers großer Seele die Vorstellung von der echten Größe der antiken Tragödie lebendig: aber in der theoretischen Erkenntnis der tragischen Gattung ist er nie zu voller Klarheit gelangt; auch seine späteren Äußerungen bewegen sich um den entscheidenden Punkt, ohne ihn zu treffen. Seine gesamte ästhetische Spekulation hatte eine Richtung eingeschlagen, die ihn mit Notwendigkeit an diesem Punkte immer wieder vorbeiführen mußte. Das Studium Kants konnte daran nichts ändern; es diente viel eher dazu ihn in dieser Richtung zu bestärken, weil es ihm Veranlassung bot, den weitergehenden Jrrtum der Kantschen Ästhetik zu bekämpfen, woraus naturgemäß eine Befestigung in seinen eigenen Anschauungen hervorging. Mit ergreifendem Ernst und unermüdlicher Ausdauer suchte er in der Verbindung der Sinnlichkeit mit dem Sittlichen, der zwanglosen Wohlgefälligkeit der Erscheinung mit dem strengen Gesetz der Vernunft, die Formel für den Begriff des Schönen. Ein unlösbares Problem! Der unkorrigible Fehler lag in den Prämissen, die ihn zur Aufstellung desselben in dieser Form verleitet hatten; diese Prämissen aber standen ihm als das Ergebnis der beiden im vorletzten Abschnitt erörterten Abhandlungen über die tragische Kunst unerschütterlich fest. Die hohe Würde der Tragödie hatte er sich nicht anders zu definieren gewußt, als daß er in ihr die Verkörperung des Sieges erblickte, den die Vernunft über die Sinne davon trägt. Die edle Freiheit des Schönen konnte er auch ferner sich nur durch die Negation einer jeden von außen die Erscheinung bestimmenden Bedingung erklären, sie komme woher sie wolle. Aber die „freie Selbstbestimmung des Dinges“, die „Heautonomie der Erscheinung“ ist kein begrifflicher, sondern nur ein gleichnisweiser Ausdruck, aus dem sich für die „Techne“, das Kunst verfahren, keine andern als höchstens einige negative Vorschriften ableiten lassen. Die Formel hat etwas Mystisch-Symbolisches an sich, wodurch sie für den ahnenden Sinn des Genius ihren Wert erhält, während sie der theoretischen Erkenntnis geringe Ausbeute gewährt. Vollends unerwiesen und unerweisbar aber ist der zugleich mit dieser Formel postulierte Satz, daß diese „heautonome Erscheinung“ der Dinge ─ man kann nicht anders sagen als vermöge einer prästabilierten Harmonie ─ an sich selbst den höchsten Forderungen des Vernunftgesetzes entsprechen müsse. Es ist die alte, aus einer schwärmerisch erhöhten Divination ihre Kraft schöpfende Gewißheit des platonischen Jdealismus, dem die schöne Gestalt die sinnenfällige Erscheinung des Guten und des Wahren ist, und der Schiller an der Schwelle seiner höheren Laufbahn in seinen „Künstlern“ seine hinreißende poetische Beredsamkeit geliehen hatte. Der dichterischen Phantasie stehen diese Bilder entzückten Ahnens wohl an, für die theoretische Untersuchung sind sie trügerisch und für die Bestimmung der poetischen Technik unfruchtbar. Es sind Symbole, Gleichnisbilder, die, mit ihrem goldigen Glanze den Wahrheitskern umhüllend, wohl auf ihn hindeuten, ihn aber nicht zu erkennen geben. Das Glück, das uns so vieles früher Erkannte neidisch wieder entzog, hat uns hier den magischen Schlüssel gegönnt, unter dessen Berührung der Weihrauchnebel verschwindet und der „glühende Dreifuß“ aufsteigt, durch den, wer ihn besitzt, nun „Held und Heldin aus der Nacht ruft“: Der erste, der sich jener That erdreistet; Sie ist gethan, und er hat es geleistet. Dann muß fortan nach magischem Behandeln Der Weihrauchsnebel sich in Götter wandeln. Nichts Geringeres hat Aristoteles mit der Enthüllung des Geheimnisses der tragischen Kunstform gethan und nichts Geringeres Lessing, daß er sie aus „dem tiefsten, allertiefsten Grund“ wieder ans Licht brachte. Kein Zweifel, daß wenn Schiller die aristotelisch=lessingsche Lehre von dieser Kunstform richtig erkannt hätte, seine tragische Dichtung noch früher zu ihrer vollen Größe gelangt wäre, ja, daß wir ihm noch Herrlicheres zu danken haben würden. Dafür ist ein vollgültiges Zeugnis, daß auch ohne diese Erkenntnis er durch sein Genie auf den Weg der Alten geführt wurde: in seiner „ Braut von Messina “. Die Lektüre der antiken Tragiker und sein Umgang mit Goethe brachten ihn auf diesen Weg. Jn einem nachgelassenen Fragmente untersucht er, welche von beiden Dichtungsgattungen höher stehe, die Komödie oder die Tragödie, und entscheidet: „Die Komödie setzt uns in einen höhern Zustand, die Tragödie in eine höhere Thätigkeit. Unser Zustand in der Komödie ist ruhig, klar, frei, heiter, wir fühlen uns weder thätig noch leidend, wir schauen an, und alles bleibt außer uns; dies ist der Zustand der Götter, die sich um nichts Menschliches bekümmern, die über allem schweben, die kein Schicksal berührt, die kein Gesetz zwingt. Aber wir sind Menschen, wir stehen unter dem Schicksal, wir sind unter dem Zwang von Gesetzen. Es muß also eine höhere, rüstigere Kraft in uns aufgeweckt und geübt werden, damit wir uns wiederherstellen können, wenn jenes glückliche Gleichgewicht, worin die Komödie uns fand, aufgehoben ist. Dort brauchten wir diese Kraft nicht, weil wir mit nichts zu kämpfen hatten; aber hier müssen wir siegen und bedürfen also der Kraft. Die Tragödie macht uns nicht zu Göttern, weil Götter nicht leiden können; sie macht uns zu Heroen, d. i. zu göttlichen Menschen oder, wenn man will, zu leidenden Göttern, zu Titanen. Prometheus, der Held einer der schönsten Tragödien, ist gewissermaßen ein Sinnbild der Tragödie selbst. “ Jmmer freilich bleibt der Grundpfeiler seiner Theorie des Tragischen unerschüttert, daß die sinnenfällige Vorführung des Leidens bestimmt sei, der Jdee der Vernunftfreiheit zur siegenden Geltung zu verhelfen. Hier wurzelt sein mächtiges Bestreben die entartete Bühne zu veredeln, von der er in der Abhandlung „ Über naive und sentimentalische Dichtung “ ein Bild entwirft, das seine wenig schmeichelhafte Ähnlichkeit mit den wirklichen Zuständen noch nicht verloren hat: „Jn dem Tempel Thaliens und Melpomenens, so wie er bei uns bestellt ist, thront die geliebte Göttin, empfängt in ihrem weiten Schoß den stumpfsinnigen Gelehrten und den erschöpften Geschäftsmann und wiegt den Geist in einen magnetischen Schlaf, indem sie die erstarrten Sinne erwärmt und die Einbildungskraft in einer süßen Bewegung schaukelt.“ Und wie sehr trifft diese Schilderung vollends auf dem Gebiet der heutigen Romandichtung zu: „Der Last des Denkens sind sie hier auf einmal entledigt, und die losgespannte Natur darf sich im seligen Genuß des Nichts auf dem weichen Polster der Platitüde pflegen!“ Aber, wenn Schiller auch mit allen Kräften gegen die Auffassung der Poesie ankämpft, die sie in den Dienst des „ bloß sinnlichen Bedürfnisses der Erholung “ stellen will, so sehen wir ihn doch jetzt „gerade umgekehrt“ bemüht „den viel zu weiten Umfang einzuschränken, den man dem Begriff der Veredelung durch die Poesie gegeben hatte, weil man sie zu einseitig nach der bloßen Jdee bestimmte “. Der Dichter soll sich hüten, dabei „den Begriff der Menschheit aufzuheben und ihre notwendigen Grenzen zu verrücken“. Es war der Einfluß Goethes, der ihn die Forderung sinnlicher Wirkung in der Kunst fortan als diejenige erkennen ließ, von deren Erfüllung ihre Wirkung überhaupt vor allem andern abhängig ist. Kein Weg aber schien ihm ungeeigneter dieses Ziel zu erreichen, ja keiner, sie weiter von ihrer eigentlichen und höchsten Aufgabe zu entfernen, als der Weg der „ gemeinen Naturnachahmung “, jenes falsche Bestreben in der getreuesten Wiederholung der Wirklichkeit ein künstlerisches Verdienst zu suchen. Jm Prolog zum „ Wallenstein “ hat er seine Meinung hierüber ausgesprochen; er verlangt von der Poesie: „daß sie das Bild der Wahrheit in das heitere Reich der Kunst hinüberspielt, die Täuschung, die sie schafft, aufrichtig selbst zerstört und ihren Schein der Wahrheit nicht betrüglich unterschiebt.“ Wie nun aber diese Richtung auf seine Ansichten von der dramatischen Technik wirkte, davon gibt eine interessante Stelle der Briefe Zeugnis, die er mit Goethe über die Unterschiede des Dramas vom Epos wechselte. Er schrieb dem Freunde am 29. Dezember 1797: „Wenn das Drama wirklich durch einen so schlechten Hang des Zeitalters in Schutz genommen wird, wie ich nicht zweifle, so müßte man die Reform beim Drama anfangen und durch Verdrängung der gemeinen Naturnachahmung der Kunst Luft und Licht verschaffen. Und dies, deucht mir, möchte unter anderm am besten durch Einführung symbolischer Behelfe geschehen, die in allem dem, was nicht zu der wahren Kunstwelt des Poeten gehört und also nicht dargestellt, sondern bloß bedeutet werden soll, die Stelle des Gegenstandes verträten. Jch habe mir diesen Begriff vom Symbolischen der Poesie noch nicht recht entwickeln können, aber es scheint mir viel darin zu liegen. Würde der Gebrauch desselben bestimmt, so müßte die natürliche Folge sein, daß die Poesie sich reinigte, ihre Welt enger und bedeutungsvoller zusammenzöge und innerhalb desselben desto wirksamer würde.“ Es ist das innerste Lebensprincip der Poesie, das Schiller hier in kurzem Wort ebenso prägnant als scharf bezeichnet hat. Wie so ganz die Goethesche Auffassung der Poesie damit zusammenstimmt, wurde in einem früheren Abschnitt ausgeführt. Vgl. oben S. 193 ff. Jn ganz demselben Sinne spricht Goethe an verschiedenen Stellen der erwähnten Briefe über das Epos und Drama von der „physisch=poetischen Gewalt der alten Götterbilder, den Wundergeschöpfen, Wahrsagern, Orakeln der Alten, für die wir, so sehr es zu wünschen ist, nicht leicht Ersatz finden“; er sieht sich daher nach den Mitteln um, „symbolisch“ die „Ahnung einer unsichtbaren Welt und ihres Zusammenhanges mit der sichtbaren“ in seine Dichtungen, epische wie dramatische, einzuflechten. Und so bleibt auch Schiller in jenem Briefe nicht bei der theoretischen Bemerkung stehen, sondern er zieht die Konsequenzen für die dramatische Technik: „Jch hatte immer ein gewisses Vertrauen zur Oper, daß aus ihr wie aus den Chören des alten Bacchusfestes das Trauerspiel in einer edlern Gestalt sich loswickeln sollte. Jn der Oper erläßt man wirklich jene servile Naturnachahmung, und obgleich nur unter dem Namen von Jndulgenz, könnte sich auf diesem Wege das Jdeale auf das Theater stehlen. Die Oper stimmt durch die Macht der Musik und durch eine freiere harmonische Reizung der Sinnlichkeit das Gemüt zu einer schönen Empfängnis; hier ist wirklich auch im Pathos selbst ein freieres Spiel, weil die Musik es begleitet, und das Wunderbare, welches hier einmal geduldet wird, müßte notwendig gegen den Stoff gleichgültiger machen.“ Solche Erwägungen waren es, die ihn zu der Wahl des Stoffes der „feindlichen Brüder“, oder der „ Braut von Messina “ bewogen: ihn zog dazu, wie er an Körner schreibt (9. September 1802), vornehmlich die Einfachheit des Planes hin und die Möglichkeit hier mit „einem Schritt näher zur antiken Tragödie“ eine neue Form zu schaffen, „denn das Stück ließe sich wirklich zu einer äschyleischen Tragödie an.“ „Jch habe noch bei keiner Arbeit so viel gelernt,“ schreibt er am 18. August desselben Jahres an Goethe; „es ist ein Ganzes, das ich leichter übersehe und auch leichter regiere; auch ist es eine dankbarere und erfreulichere Aufgabe, einen einfachen Stoff reich und gehaltvoll zu machen, als einen reichen und zu breiten Gegenstand einzuschränken.“ Hier ist die moralisierende Rührungstheorie endlich völlig über Bord geworfen; zum erstenmal hat Schiller sich einen Stoff erwählt, der, in größter Einfachheit allein auf die Erweckung der reinen tragischen Affekte angelegt, ihn das Ziel der Tragödie geradeaus ins Auge fassen läßt. Wie ganz verschieden sind nun seine Ansichten über das Wesen und die Mittel der dramatischen Nachahmung von denen, die ihm noch in der Recension über Goethes „ Egmont “ für unumstößlich gelten! Nichts mehr von jenem falschen Streben, in die sittliche Größe des Helden den Schwerpunkt der tragischen Wirkung zu verlegen! Und in dem jetzt ihm aufgegangenen bewundernden Verständnis der antiken Tragödie, ihrer Chöre, der „symbolischen“ Bedeutung ihrer Götter- und Wunderwelt, welch ein Gegensatz zu dem Schlußwort der Egmontrecension vom Jahre 1788: „Je höher die sinnliche Wahrheit in dem Stücke getrieben ist, desto unbegreiflicher wird man es finden, daß der Verfasser selbst sie mutwillig zerstört. Egmont hat alle seine Angelegenheiten berichtigt und schlummert endlich, von Müdigkeit überwältigt, ein. Eine Musik läßt sich hören, und hinter seinem Lager scheint sich die Mauer aufzuthun; eine glänzende Erscheinung, die Freiheit, in Klärchens Gestalt, zeigt sich in einer Wolke. ─ Kurz, mitten aus der wahrsten und rührendsten Situation werden wir durch einen Salto mortale in eine Opernwelt versetzt, um einen Traum ─ zu sehen! Lächerlich würde es sein, dem Verfasser darthun zu wollen, wie sehr dadurch unserm Gefühle Gewalt angethan werde (ursprünglich hatte Schiller geschrieben: „wie sehr er sich dadurch an Natur und Wahrheit versündigt habe“); das hat er so gut und besser gewußt als wir; aber ihm schien die Jdee, Klärchen und die Freiheit, Egmonts beide herrschende Gefühle, in Egmonts Kopf allegorisch zu verbinden, gehaltreich genug, um diese Freiheit allenfalls zu entschuldigen. Gefalle dieser Gedanke, wem er will ─ Recensent gesteht, daß er gern einen sinnreichen Einfall entbehrt hätte, um eine Empfindung ungestört zu genießen.“ Schiller hatte sich aus der Enge dieser naturalistischen Kunstbetrachtung längst befreit: möchten wir nur nie wieder Ästhetik und Kritik sich ein Verdienst daraus machen sehen, wenn sie zu dieser Enge zurückkehren! Die „größere Bekanntschaft mit Äschylus“ hatte ihm zu dem neuen Fluge die Kraft gegeben (Brief an W. v. Humboldt vom 17. 2. 1803). Die Wirkung der „Braut von Messina“ war bei den ersten Aufführungen eine gewaltige, auch in der breiten Masse des Publikums, trotz der Ungewöhnlichkeit der angewandten Mittel. Eine höchst bedeutsame Äußerung Schillers darüber liegt in seinem Bericht von den ersten Aufführungen an Körner vor (Brief vom 28. 3. 1803): „Über den Chor und das vorwaltend Lyrische in dem Stücke sind die Stimmen natürlich sehr geteilt, da noch ein großer Teil des ganzen deutschen Publikums seine prosaischen Begriffe von dem Natürlichen in einem Dichterwerke nicht ablegen kann. Es ist der alte und der ewige Streit, den wir beizulegen nicht hoffen dürfen. Was mich selbst betrifft, so kann ich wohl sagen, daß ich in der „Braut von Messina“ zum erstenmal den Eindruck einer wahren Tragödie bekam. Der Chor hielt das Ganze trefflich zusammen, und ein hoher furchtbarer Ernst waltete durch die ganze Handlung. Goethe ist es auch so ergangen; er meint: der theatralische Boden wäre durch diese Erscheinung zu etwas Höherm eingeweiht worden.“ Worin lag diese von Schiller wie von Goethe so hoch gepriesene Wirkung? Es ist im höchsten Maß instruktiv sich diese Frage zu beantworten. Um diese Antwort zu erhalten, genügt es, eine Reihe von Sätzen der das Stück begleitenden Abhandlung Schillers „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“ zusammenzustellen. Dabei ergibt sich die überraschende Thatsache, daß der verborgene Punkt, um den sich alle Argumente Schillers bewegen, auf den sie alle hinzielen, das Centrum gerade jener Lücke bildet, die in Schillers theoretischer Erkenntnis des Tragischen offen blieb. Sie alle gehen dahin, die mangelnde Forderung der tragischen Furcht und der tragischen Katharsis zu ersetzen. Er verlangt zu oberst: Veredelung der tragischen Kunst, das „Würdigste soll sie sich zum Ziele setzen“. „Es ist nicht wahr, was man gewöhnlich behaupten hört, daß das Publikum die Kunst herabzieht; der Künstler zieht das Publikum herab, und zu allen Zeiten, wo die Kunst verfiel, ist sie durch die Künstler gefallen. Das Publikum braucht nichts als Empfänglichkeit, und diese besitzt es. Es tritt vor den Vorhang mit einem unbestimmten Verlangen, mit einem vielseitigen Vermögen. Zu dem Höchsten bringt es eine Fähigkeit mit: es erfreut sich an dem Verständigen und Rechten. “ Doch nicht etwa, weil es einen gebildeten Verstand und eine entwickelte Vernunft mitbringt: wohl aber die Fähigkeit, sein Empfinden der Wahrnehmung des an sich „Ver= ständigen und Rechten“ zu öffnen und durch die solches Empfinden begleitende Freude des „Verständigen und Rechten“ als solchen inne zu werden. „Alle Kunst ist der Freude gewidmet, und es gibt keine höhere und keine ernsthaftere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken. Die rechte Kunst ist nur diese, welche den höchsten Genuß verschafft. Der höchste Genuß aber ist die Freiheit des Gemüts in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte.“ Ein solches „freies Spiel aller Gemütskräfte“ schließt es aus, daß Verstand und Vernunft direkt in Anspruch genommen werden, was ohne Arbeit nicht geschehen kann; es kann nur in der Thätigkeit der Empfindungskräfte erfolgen, insofern in der richtigen Beschaffenheit ihrer Äußerung ein Resultat im Gemüte auftritt, das sowohl die Billigung des Verstandes als die der Vernunft notwendig einschließt. Noch einmal irrt Schiller im Ausdruck ab: „Der wahren Kunst ist es Ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in der That frei zu machen, und dieses dadurch, daß sie eine Kraft in ihm erweckt, übt und ausbildet, die sinnliche Welt, die sonst nur als roher Stoff auf uns lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Form zu rücken, in ein freies Werk unsers Geistes zu verwandeln und das Materielle durch Jdeen zu beherrschen.“ Den Worten nach scheint hier noch die alte Theorie von der Vernunftfreiheit, die durch die tragische Kunst zum Bewußtsein gebracht werden soll, zu spuken. Der weitere Verlauf zeigt aber trotz eines gewissen Schwankens im Ausdruck, das eben durch die mangelnde Sicherheit der theoretischen Erkenntnis unvermeidlich wird, doch unzweideutig, daß Schiller „jene Kraft, die erweckt, geübt und ausgebildet“ werden soll, nicht mehr im sittlichen Vermögen, sondern daß er sie im Empfinden sucht. „Jm Gemüt“ soll diese Kraft „erbaut und begründet“ werden. Das erreicht die Kunst, indem sie die „ wahre Natur “ darstellt, „indem sie das Wirkliche ganz verläßt und rein ideell wird. Die (wahre) Natur selbst ist nur eine Jdee des Geistes, die nie in die Sinne fällt. Unter der Decke der Erscheinungen liegt sie, aber sie selbst kommt niemals zur Erscheinung. Bloß der Kunst des Jdeals ist es verliehen, oder vielmehr, es ist ihr aufgegeben, diesen Geist des Alls zu ergreifen und in einer körperlichen Form zu binden. Auch sie selbst kann ihn zwar nie vor die Sinne, aber doch durch ihre schaffende Kraft vor die Einbildungskraft bringen, und dadurch wahrer sein als alle Wirklichkeit, und realer als alle Erfahrung.“ Dasselbe gilt von der Tragödie. „Auch hier hatte man lange und hat noch jetzt mit dem gemeinen Begriff des Natürlichen zu kämpfen, welcher alle Poesie und Kunst geradezu aufhebt und vernichtet.“ „Alles Äußere bei einer dramatischen Vorstellung steht diesem armseligen Begriff der Jllusion entgegen ─ alles ist nur ein Symbol des Wirklichen. “ Die Einführung einer metrischen Sprache ist der erste Schritt in dem Kampf gegen den Naturalismus in der Tragödie, die Einführung des Chors wäre der letzte, entscheidende. „Der Chor sollte uns eine lebendige Mauer sein, die die Tragödie um sich herum zieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen und sich ihren idealen Boden, ihre poetische Freiheit zu bewahren.“ Die alte Tragödie „fand den Chor in der Natur und brauchte ihn, weil sie ihn fand“; „in der neueren Tragödie wird er zu einem Kunstorgan; er hilft die Poesie hervorbringen “. Hier beginnt der Hauptteil der Abhandlung: die Aufzählung der Eigenschaften, um derentwillen dem Chor diese hohe Bedeutung zukommt. Die wesentlichste freilich entgeht dem Auge Schillers, die außerordentliche Kraft nämlich, die er den Alten für die Vollendung der tragischen Katharsis in die Hand gibt; aber es ist im höchsten Grade interessant zu beobachten, wie alle Argumente Schillers sich vereinigen, nach diesem tragischen Hauptziele hin zusammenzuwirken. 1) „Der Chor verwandelt die moderne gemeine Welt in die alte poetische, weil er (indem er die Fabel in die einfachen Formen des Lebens zurückversetzt) dem Dichter alles das unbrauchbar macht, was der Poesie widerstrebt und ihn auf die einfachsten, ursprünglichsten und naivsten Motive hinauftreibt.“ Jndem er „alles Unmittelbare, das durch die künstliche Einrichtung des wirklichen Lebens aufgehoben ist, wiederherstellt, und alles künstliche Machwerk an dem Menschen und um denselben, das die Erscheinung seiner innern Natur und seines ursprünglichen Charakters hindert, abzuwerfen“ veranlaßt, übt er einen starken äußeren Zwang aus, die Komposition der Handlung so einzurichten, wie es ohnehin durch die Aufgabe der Tragödie verlangt wird: die reinen tragischen Affekte möglichst unvermischt mit fremden Erregungen und störendem Beiwerk hervorzubringen. 2) „Durch den Chor erhält die Reflexion in der Tragödie ihren Platz. Soll sie aber diesen Platz verdienen, so muß sie das, was ihr an sinnlichem Leben fehlt, durch den Vortrag wieder gewinnen.“ „Denn das Poetische liegt grade in dem Jndifferenzpunkt des Jdeellen und Sinnlichen.“ „So umgibt der Chor die streng abgemessene Handlung und die festen Umrisse der handelnden Personen mit einem lyrischen Prachtgewebe, in welchem sich, als wie in einem weit gefalteten Purpurgewand, die handelnden Personen frei und edel mit einer gehaltenen Würde und hoher Ruhe bewegen.“ „Er verläßt den engen Kreis der Handlung, um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten, um die großen Resultate des Lebens zu ziehen und die Lehren der Weisheit auszusprechen. Aber er thut dieses mit der vollen Macht der Phantasie, mit einer kühnen lyrischen Freiheit, welche auf den hohen Gipfeln der menschlichen Dinge wie mit Schritten der Götter einhergeht ─ und er thut es, von der ganzen sinnlichen Macht des Rhythmus und der Musik in Tönen und Bewegungen begleitet.“ Lauter feine Beobachtungen und in bilderreicher Sprache treffend ausgedrückt! Aber es fehlt ihnen das zusammenhaltende Princip, wodurch alle diese Funktionen des Chors erst zu einem integrierenden Teile des tragischen Kunstwerks werden, wodurch zugleich auch das Wie? und das Warum? derselben gegeben ist. Teilt man dem Chor, wie Schiller es thut, eben nur die Aufgabe zu mit lyrischer Reflexion die Handlung zu begleiten und so „das tragische Gedicht von derselben zu reinigen“, so könnte dieselbe gar leicht zu einem bloßen „Prachtgewande“ werden, zu einer schmuckvollen Zuthat, die auch entbehrlich, mithin ihrem Wesen nach dem Kunstwerk nicht angehörig wäre. Der Chor leistet alles das, was Schiller von ihm aussagt, indem er als dem Handelnden nahestehender und doch von seinem Leiden minder betroffener Beobachter vorzüglich geeignet ist die durch sein Schicksal in Bewegung gesetzten Affekte auf das lebhafteste zu teilen, ohne von ihnen doch überwältigt zu werden. Er ist der natürliche Jnterpret unserer eigenen Empfindungen diesem Schicksal gegenüber, zugleich berufen sie mächtig in uns aufzuregen und geschickt ihnen das rechte Maß anzuweisen, daß wir darüber unsre Freiheit nicht verlieren. Schillers Wort von dem „Jndifferenzpunkt des Jdeellen und Sinnlichen“ ist sehr glücklich gewählt, wenn man es dahin deutet, daß auf solche Weise der rohe, elementare Stoff der tragischen Affekte diejenige absolut berechtigte Form erhält, in welcher er mit den ideellen Forderungen des Geistes in vollkommene Harmonie tritt. Das aber ist nichts als eine andere Formel für das Wesen der tragischen Katharsis. 3) „Der Chor berechtigt den tragischen Dichter zu einer Erhebung des Tons, die das Ohr ausfüllt, die den Geist anspannt, die das ganze Gemüt erweitert. Diese eine Riesengestalt in seinem Bilde nötigt ihn, alle seine Figuren auf den Kothurn zu stellen und seinem Gemälde dadurch die tragische Größe zu geben.“ Es liegt auf der Hand, daß dieses Argument ein rein äußerliches wird, wenn die „tragische Größe“ der Handlung nicht ohnehin eigen ist, d. h. mit andern Worten, wenn die Handlung nicht die veranlassenden Elemente für die großartigen Empfindungsäußerungen des Chors enthält, d. i. wenn sie nicht auf die Erweckung von Furcht und Mitleid und die Vollendung ihrer Katharsis angelegt ist. 4) „So wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er Ruhe in die Handlung ─ aber die schöne und hohe Ruhe, die der Charakter eines edlen Kunstwerkes sein muß. Denn das Gemüt des Zuschauers soll auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten; es soll kein Raub der Eindrücke sein, sondern sich immer klar und heiter von den Rührungen scheiden, die es erleidet.“ Wie nahe kommt Schiller mit diesen Worten der Forderung der tragischen Katharsis! Sie in voller Klarheit zu erkennen, daran hindert ihn ein Rest seiner früheren Kunsttheorie, der sich in der weiteren Motivierung bemerkbar macht. Daß der Chor die „Gewalt der Affekte breche“, sei an ihm nicht zu tadeln, sondern gereiche ihm zur höchsten Empfehlung; „denn eben diese blinde Gewalt der Affekte ist es, die der wahre Künstler vermeidet“. Aber anstatt nun den richtigen Affekt selbst als Wirkungsziel in Aussicht zu nehmen, bleibt er mit seiner Betrachtungsweise bei nebengeordneten oder mehr äußerlichen Argumenten stehen: träte der Chor nicht mit seiner Würde dazwischen, „so würde das Leiden über die Thätigkeit siegen“; „wir würden uns mit dem Stoffe vermengen und nicht mehr über demselben schweben“; „dadurch, daß er die Teile auseinander hält und zwischen die Passionen mit seiner beruhigenden Betrachtung tritt, gibt er uns unsere Freiheit zurück, die im Sturm der Affekte verloren gehen würde“. Betreffs der Einheitlichkeit des Chors und seiner dramatischen Verwendung als Person folgt noch die wichtige Bemerkung, die mit dem Verfahren der antiken Tragiker in völligem Einklange steht, daß zu unterscheiden sei, „wo der Chor als wirkliche Person und als blinde Menge mithandelt“, und „wo er als ideale Person auftritt“ und „immer eins mit sich selbst“ bleibt. Nur hätte Schiller hinzufügen können, daß bei den Alten auch diese Unterscheidung eine organische und gewissermaßen von selbst aus der Hauptaufgabe des Chors hervorgehende war. Bestand diese letztere darin, einmal je nach dem Bedürfnis des Stoffes den durch denselben minder stark erregten Affekt gegen den überwiegenden zu kräftigen, also bald dem Mitleid, bald der Furcht seine Stimme zu leihen, sodann aber für die Herstellung der Symmetrie der beiden Affekte sein ganzes Gewicht einzusetzen, hier gewissermaßen seinen ständigen Posten zu fassen: so war mit dieser doppelten Aufgabe auch seine doppelte Stellung gegeben, bald inmitten der Handlung und neben dem Träger des Leidens, in seine Empfindungen einstimmend, bald als über ihn und über die Gesamthandlung sich erhebend und so natürlich „für alle Tragödien sich gleich bleibend“, „immer eins mit sich selbst“, „eine ideale Person“. Trotz dieser Schwankungen der Theorie, durch die Schiller sich wohl hat bestimmen lassen die Betrachtungen des Chors mitunter zu weit ins allgemein Sententiöse zu leiten, ist aus diesen Erwägungen eine Tragödie hervorgegangen, welche in allem Wesentlichen genau den Forderungen der aristotelischen Definition entspricht. Es dürfte kein Stück gefunden werden, das dem Vorbild des Sophokleischen Ödipus so nahe kommt als Schillers „ Braut von Messina “. Die Handlung ist wie dort eine verwickelte, sie beruht auf Erkennung und damit verbundener Peripetie. Die Erkennung betrifft den Personenstand, setzt also eine Verheimlichung desselben voraus und verlegt damit den eigentlichen Anlaß des furchtbaren Geschehnisses in die Vorgeschichte der Handlung. Hier wie dort ist aus einer Übelthat ein Fluch für die nachfolgenden Generationen hervorgegangen, der durch den Versuch der Umgehung in furchtbarer Peripetie gerade erfüllt wird. Sophokles erwähnt den Frevel des La ï os nicht, weil er die Kenntnis der Sage Der Fluch, daß, wenn ihm ein Sohn geboren werden sollte, er durch diesen sterben würde, ging von Pelops aus, dessen Sohn Chrysippus er geraubt und geschändet hatte. Seine Ehe mit Jokaste war zuerst kinderlos; das Orakel, das er um Rat anging, gab ihm jenen Spruch zur Antwort. Trotz dreimaliger Warnung erzeugte er „dem schlimmen Rat der Lüste folgend“ den Sohn, der ihm verderblich wurde. (Vgl. Äschyl. Septem V. 744─752; Euripid. Phöniss. V. 13─21; und Aristophanes Grammat. zu den Phöniss. des Euripid. ed. Nauck II, S. 393 ff. Jn einer besonderen Tragödie, Chrysippus, hatte Euripides den Stoff behandelt: vgl. die Ausgabe von Nauck III, S. 234, wo auch die weiteren Zeugnisse angegeben sind.) bei seinen Zuschauern voraussetzte, und weil er ohnehin sicher sein konnte, daß sie einen Orakelspruch, wie er La ï os zu teil geworden war, schon an sich nicht anders auffassen konnten als infolge einer schweren Verletzung der göttlichen Ordnungen ergangen. Dagegen war es für Schiller unumgänglich geboten, den die Grundlagen seines Stückes bedingenden Teil der Vorgeschichte, die Frevelthat des „alten Fürsten“, wiederholt und nachdrücklich zu erwähnen. Das Stärkste sagt Jsabella selbst unmittelbar nach dem Eintritt der Katastrophe am Schlusse des fünften Auftritts des vierten Aktes: Komm, meine Tochter! Hier ist unsers Bleibens Nicht mehr ─ den Rachegeistern überlass' ich Dies Haus. ─ Ein Frevel führte mich herein, Ein Frevel treibt mich aus. ─ Mit Widerwillen Hab' ich's betreten und mit Furcht bewohnt, Und in Verzweiflung räum' ich's. ─ Alles dies Erleid' ich schuldlos; doch bei Ehren bleiben Die Orakel, und gerettet sind die Götter. Aber schon am Schlusse des ersten Aufzuges hat der Chor über den verborgenen Grund des im Fürstenhause heimischen Unglücks genauen Aufschluß gegeben, da er den heimlichen Bund Manuels mit Beatrice und den Raub derselben durch ihn in ahnungsvollem Ernste mißbilligt: Nicht Wahrsagung reden soll mein Mund; Aber sehr mißfällt mir dies Geheime, Dieser Ehe segenloser Bund, Diese lichtscheu krummen Liebespfade, Dieses Klosterraubs verwegne That; Denn das Gute liebt sich das Gerade, Böse Früchte trägt die böse Saat. Auch ein Raub war's, wie wir alle wissen, Der des alten Fürsten ehliches Gemahl Jn ein frevelnd Ehebett gerissen, Denn sie war des Vaters Wahl. Und der Ahnherr schüttelte im Zorne Grauenvoller Flüche schrecklichen Samen Auf das sündige Ehebett aus. Greuelthaten ohne Namen, Schwarze Verbrechen verbirgt dies Haus. Ja, es hat nicht gut begonnen, Glaubt mir, und es endet nicht gut; Denn gebüßt wird unter der Sonnen Jede That der verblendeten Wut. Es ist kein Zufall und blindes Los, Daß die Brüder sich wütend selbst zerstören; Denn verflucht ward der Mutter Schoß, Sie sollte den Haß und den Streit gebären. ─ Aber ich will es schweigend verhüllen, Denn die Rachegötter schaffen im stillen; Zeit ist's die Unfälle zu beweinen, Wenn sie nahen und wirklich erscheinen. Dunkle Wendungen von dem „unbekannt verhängnisvollen Samen, aus dem der unselige Bruderhaß emporwuchs“, von „der unregiersam stärkeren Götterhand, die dieses Hauses Schicksal dunkel spinnt“, von dem „eigenen freien Weg, den das Verhängnis mit ihm geht“, „dem alten Fluch, der lastend auf ihm ruht“ durchziehen das ganze Stück. Damit ist die wesentlichste Voraussetzung für die tragische Handlung gewonnen: ein furchtbares Schicksal kann sich hier entwickeln ohne Verschulden der Betroffenen. Für die weitere Exposition machte Schiller von den „symbolischen“ Mitteln, deren hohen Wert er nach den obigen Citaten so wohl erkannte, einen freien Gebrauch. Träume und Orakel spielen ihre bewährte Rolle als die poetischen Verkörperungen einerseits der unruhig fürchtenden Ahnung, andererseits der im voraus sich ankündigenden Vergeltung. So tief hatte Schiller sich in die hier geltende specifische Anschauungsweise der antiken Tragödie eingelebt, daß er in dem lebendigen Gefühl ihrer allgemein menschlichen Wahrheit es für ein poetisches Grundrecht erklärt, unbekümmert um die Verschiedenheiten des Glaubens und der Sitte, diese Formen auf alle Zeiten und Völker zu übertragen. Denn es ist die große sittlich=religiöse Jdee der tragischen Weltanschauung der Griechen, auf die das Schlußwort der dem Stück vorausgeschickten Abhandlung zielt ─ es handelt sich darum die Freiheit zu entschuldigen, mit der er griechische, maurische und christliche Religionsanschauungen in dem Stücke vermischt habe ─: „Und dann halte ich es für ein Recht der Poesie, die verschiedenen Religionen als ein kollektives Ganze für die Einbildungskraft zu behandeln, in welchem alles, was einen eigenen Charakter trägt, eine eigene Empfindungsweise ausdrückt, seine Stelle findet. Unter der Hülle aller Religionen liegt die Religion selbst, die Jdee eines Göttlichen, und es muß dem Dichter erlaubt sein, dieses auszusprechen, in welcher Form er es jedesmal am bequemsten und am treffendsten findet.“ Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß für das hier in Frage kommende Gebiet des sittlich=religiösen Gefühls eine „bequemere und treffendere“ poetische Form nicht erdacht werden kann, als die in der griechischen Tragödie ausgebildete: was in den andern Religionen als Aberglaube, phantastische Abirrung nur zeitweise und bedingte Geltung hat, im besten Falle doch nur nebenher geduldet wird, steht dort da mit der ganzen Autorität des höchsten göttlichen Waltens umkleidet, ein Ausfluß seines innersten Wesens. Daher wirkt bei den Griechen auch Zweifel oder gar entschiedener Unglaube und Ungehorsam den Orakeln der Götter gegenüber als stärkste Jmpietät unmittelbar auf die Empfindung, während die Übertragung solcher Vorgänge auf andere Religionsgebiete die gewünschte Wirkung nur erst erzielt, wenn wir mit einer Art bewußter Selbsttäuschung die in der griechischen Tragödie geläufige Vorstellungsweise darauf anwenden. Schiller macht von diesem Mittel in der „Braut“ mit größter Meisterschaft Gebrauch, und wieder ist es der Chor, der ihm zum Gelingen hilft. Das wäre aber nicht möglich, selbst bei den klassisch Gebildeten nicht, um wieviel weniger bei den mit den Griechen Unbefreundeten, wenn in diesen Formen nicht eine allgemein menschliche, unmittelbar bezwingende Wirkung läge. Das Geheimnis dieser Wirkung ist das Geheimnis der Tragödie: es ist die Macht dieser Formen über die Erregung der Furcht= Empfindungen und ihre Kraft dieselben kathartisch zu läutern. Daher auch der Umstand, daß der Chor wie von selbst sich als ihr Träger einstellt. Jedes Wort zur Begründung dieser Sätze ist zugleich ein Argument zur Erklärung des Baues der Tragödie. Deswegen also gehört die „Braut von Messina“ zu den nach Aristoteles am vollkommensten angelegten Tragödien, zu der Gattung der verwickelten, auf Erkennung und Peripetie basierten Handlungen, weil mit dieser Anlage die Furcht vor dem durch die Vorgeschichte bedingten schweren Schicksal von vornherein gegeben ist. Diese Furcht, insofern sie dem Einzelnen seine unbedingte Abhängigkeit von ganz außerhalb seiner Willenssphäre liegenden, schon vor seiner Geburt endgültig festgestellten Faktoren vorstellig macht, ist uneingeschränkter Verallgemeinerung fähig; sie erhält dieselbe, wenn die Ausgestaltung der Handlung die irrende Schwäche der Menschen, die das Geschick auf ihre Weise bezwingen will, gerade als die Vollenderin desselben zeigt. Das wären die Elemente die tragische Furcht zu stärkster Aktion zu bringen: die Katharsis aber muß von einer andern Seite kommen! Ohne dieselbe wäre die „Braut von Messina“, wie man sie oft gescholten hat, eine Schicksalstragödie im tadelnden Sinne des Wortes; sie wäre das, was Schiller früher irrtümlich in der griechischen Tragödie erblickt hatte, eine Darstellung dunklen Verhängnisses, von blinder Notwendigkeit regiert. Schiller aber hat, ohne die Aufgabe sich mit theoretischem Bewußtsein gestellt zu haben, allein durch seinen Genius und die getreue Beobachtung der Alten geführt diese Aufgabe in würdigster Weise gelöst. Die gewählte Form in ihrem engen Anschlusse an die Antike erleichterte ihm dies Gelingen in hohem Grade. Er hat es von Sophokles und Äschylus gelernt, den Fluch der Vorgeschichte seines Stücks unausgesetzt über dem Ganzen schwebend zu zeigen und doch nun nicht etwa von dorther mechanisch das Verderbliche hereinbrechen zu lassen, sondern dessen ursächliche Begründung mit sorgfältigstem Bedacht aus der Hamartie der Handelnden herzuleiten. Jäher Zorn, leidenschaftlich rascher Sinn (der θυμὸς ὀξύς ) und die so gern sich ihnen als Begleiterin zugesellt, die Heimlichkeit, das sind die verhängnisvollen Wirkungen des Fluchs, Wirkungen, die in dem freien Willen der Handelnden ihr Korrektiv finden könnten und die ohne dasselbe als Jrrtümer und Fehler der Handelnden sich darstellen. Sie entziehen ihnen nichts von der Achtung, auf der unser tiefes Mitleid mit ihnen beruht, wir sehen sie unverschuldet leiden, aber ihr Leiden erfüllt uns nicht mehr mit dem grauenvollen Entsetzen vor grausamer Willkür eines unbegreiflichen Fatums, sondern wir erkennen seinen Zusammenhang und fürchten das Schicksal, dessen hohe Gesetzlichkeit wir verehren. Jn dem frevelhaft geschlossenen Ehebund Jsabellas fehlte das Vertrauen; dem aus Gewissensangst entsprungenen grausamen Befehl des Gatten die neugeborene Tochter zu töten, setzt sie Täuschung und eine für das ganze Leben dauernde Verstellung entgegen, die ihr mehr und mehr den Gemahl entfremden: Der von des Argwohns ruheloser Pein Und finster grübelndem Verdacht genagt Auf allen Schritten ihr die Späher pflanzte. Dieser Sinn ist auf den erstgeborenen Sohn übergegangen, der, wie der Vater, „von jeher es liebte, sich verborgen in sich selbst zu spinnen und den Ratschluß zu bewahren im unzugangbar fest verschlossenen Gemüte!“ Vor allem aber ist „aus diesem verhängnisvollen Samen der unsel'ge Bruderhaß emporgewachsen“, der den Boden bildet, auf dem allein die Handlung sich so ereignen kann. Diesen Verhältnissen entstammen die Äußerungen banger Furcht, mit denen der Chor gleich bei seinem ersten Auftreten sein Lied beschließt: Ungleich verteilt sind des Lebens Güter Unter der Menschen flücht'gem Geschlecht; Aber die Natur, sie ist ewig gerecht. Uns verlieh sie das Mark und die Fülle, Die sich immer erneuend erschafft; Jenen ward der gewaltige Wille Und die unzerbrechliche Kraft. Mit der furchtbaren Stärke gerüstet Führen sie aus, was dem Herzen gelüstet, Füllen die Erde mit mächtigem Schall; Aber hinter den großen Höhen Folgt auch der tiefe, der donnernde Fall. Darum lob' ich mir niedrig zu stehen, Mich verbergend in meiner Schwäche. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ Die fremden Eroberer kommen und gehen; Wir gehorchen, aber wir bleiben stehen. „Schwere Thaten, des Argwohns und der Rache Kinder“ sind in dem Bruderstreite geschehen, und noch stehen die beiden unerweicht den Bitten der Mutter gegenüber, aus deren flammenden Worten sich wohl erkennen läßt, woher jenen der rasch zum äußersten emporlodernde Sinn gekommen ist. Da kommt ebenso rasch und unvermutet die Versöhnung; sehr bald entdeckt sich die Quelle der plötzlichen Wandlung und Erweichung der Geister: es ist die erhöhende, zu edler Hingabe stimmende Kraft einer jede andere Regung überwindenden Liebesleidenschaft, die beide Brüder zugleich ergriffen hat, von beiden bisher sorgfältig geheim gehalten. Und gleich hier tritt die Hamartie des älteren der Brüder, Don Manuels, in ihrer ganzen verhängnisvollen Stärke hervor. Der Raub Beatricens wäre wahrlich mit sehr schwächlichen Gründen motiviert, wenn nicht die Schwäche dieser Motivierung ihre Stärke wäre: wenn sie nicht vom Dichter bestimmt wäre den vorschnellen Eigenwillen auch dieses, sonst so edel entworfenen Charakters in seiner ganzen rücksichtslosen Gewaltthätigkeit zu zeigen. Der nächste Tag soll Beatrice den Jhren zurückgeben, einer von ihr nur einmal in frühster Kindheit erblickten, dennoch über alles verehrten und geliebten Mutter, ihr „Schicksal soll sich entscheidend lösen“: aber weil „jeder Wechsel den Glücklichen schreckt, wo Gewinn nicht zu hoffen, Verlust zu fürchten ist“, reißt er sie „verwegen räuberisch“ aus ihrem Zufluchtsort, um sie vor allem sich zu gewinnen. Und dieselbe Hamartie in Beatricens Entschluß ihm zu folgen; derselbe Sinn, der diesem ganzen Geschlecht innewohnt, dem die eigene Leidenschaftlichkeit als ein Verhängnis gilt, gegen das es kein Widerstreben gibt! Wo waren die Sinne? Was hab' ich gethan? Ergriff mich bethörend Ein rasender Wahn? Den Schleier zerriß ich Jungfräulicher Zucht, Die Pforten durchbrach ich der heiligen Zelle! Umstrickte mich blendend ein Zauber der Hölle? Dem Manne folgt' ich, Dem kühnen Entführer, in sträflicher Flucht. Und weiter dann: Vergib, du Herrliche, die mich geboren, Daß ich, vorgreifend den verhängten Stunden, Mir eigenmächtig mein Geschick erkoren. Nicht frei erwählt' ich's, es hat mich gefunden; Eindringt der Gott auch zu verschlossnen Thoren; Zu Perseus' Turm hat er den Weg gefunden, Dem Dämon ist sein Opfer unverloren. Wär' es an öde Klippen angebunden Und an des Atlas himmeltragende Säulen, So wird sein Flügelroß es dort ereilen. Das ist es, was am Schlusse des ersten Aktes zu jenem mächtigen, die Furcht im tiefsten Jnnern aufregenden Chorgesange bewegt, der schon oben citiert wurde. Aber nicht bloß im Wellenreiche Auf der wogenden Meeresflut, Auch auf der Erde, so fest sie ruht Auf den ewigen alten Säulen, Wanket das Glück und will nicht weilen. Und dann weiter die Ahnung, daß aus dieser Heimlichkeit, diesem segenlosen Bund, diesen lichtscheu krummen Pfaden böse Saat aufgehen müsse, und der bange Hinweis auf den alten Fluch des Hauses. Doppelter Ungehorsam gegen das Gebot der Mutter und gegen das des Geliebten ─ auch sie schreibt die Schuld den Sternen zu: „doch weiß ich nicht, welch bösen Sternes Macht mich trieb mit unbezwinglichen Gelüsten“ ─ hat Beatrice den Blicken Don Cesars ausgesetzt und seine noch heißere, noch dringendere, noch gewaltsamer jedes Hindernis aus dem Wege schleudernde Leidenschaft erweckt. Wenn nun in der folgenden Entwickelung die immerfort sich näher zudrängende Erkennung fast überkünstlich immer wieder hinausgeschoben wird, so ist auch hierin nicht eine Schwäche der Dichtung zu sehen, sondern das Ergebnis berechneter Charakteristik: hier ist jeder nur der eigenen Leidenschaft hingegeben, so ausschließlich, daß er blind und taub für alles ist, was dem despotischen Wunsch dieser Leidenschaft nicht schmeichelnd sich fügt. Das ist die eigentliche und rechte Art, um dem verderblichen Schicksal die breite Bahn zu ebnen, und in Jsabellas Worten ist dafür der klassische Ausdruck gefunden: Den eignen freien Weg, ich seh' es wohl, Will das Verhängnis gehn mit meinen Kindern. Vom Berge stürzt der ungeheure Strom, Wühlt sich sein Bette selbst und bricht sich Bahn; Nicht des gemessnen Pfades achtet er, Den ihm die Klugheit vorbedächtig baut. So unterwerf' ich mich, wie kann ich's ändern? Der unregiersam stärkern Götterhand, Die meines Hauses Schicksal dunkel spinnt. Hier setzt nun voll und voller die lang vorbereitete Mitleid-Empfindung ein, da immer dunkler die drohenden Wolken um die hoheitsvolle edle Mutter und ihre hochherzigen Kinder sich zusammenziehen. Voll berechtigt erscheint ihr Anspruch auf reichste Entfaltung eines herrlichen Glückes, gering nur ihr Fehl und doch unvermeidlich ein nahe bevorstehender jäher Sturz. So klagen und bangen wir mit der Fürstin ─ denn diese Furcht für die handelnden Personen ist nur eine Art des Mitleids ─: Wann endlich wird der alte Fluch sich lösen, Der über diesem Hause lastend ruht? Mit meiner Hoffnung spielt ein tückisch Wesen, Und nimmer stillt sich seines Neides Wut. So nahe glaubt' ich mich dem sichern Hafen, So fest vertraut' ich auf des Glückes Pfand, Und alle Stürme glaubt' ich eingeschlafen, Und freudig winkend sah ich schon das Land Jm Abendglanz der Sonne sich erhellen: Da kommt ein Sturm, aus heitrer Luft gesandt, Und reißt mich wieder in den Kampf der Wellen! Und nun die entsetzliche Katastrophe! und am Schlusse des Aktes dann der großartige Chorgesang, der an Tiefe und Macht der gleichmäßig ihn durchströmenden Furcht- und Mitleids-Darstellung sich dem Erhabensten, das uns von den Griechen überkommen ist, an die Seite stellt. Es müßte das ganze, unvergleichlich reiche Lied citiert werden, um zu zeigen, wie hier die beiden Affekte unablässig sich ablösen, um sich gegenseitig zu vertiefen und zu klären, gleichsam in wechselseitigem Gegenstreben nach dem gemeinsamen Gleichgewicht suchend. Über dem Schmerz um den Toten, über dem Jammer mit den Überlebenden, über dem schmerzlichen Gefühl der menschlichen Gebrechlichkeit ─ „Was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe, die der Mensch, der flüchtige Sohn der Stunde, aufbaut auf dem betrüglichen Grunde?“ ─ erhebt sich der Schauer der Verehrung vor der Majestät der ewigen göttlichen Ordnung: „Drunten aber im Tiefen sitzen lichtlos, ohne Gesang und Sprache, der Themis Töchter, die nie vergessen, die Untrüglichen, die mit Gerechtigkeit messen!“ Und weiter: „Nichts ist verloren und verschwunden, was die geheimnisvoll waltenden Stunden in den dunkel schaffenden Schoß aufnahmen ─ die Zeit ist eine blühende Flur, ein großes Lebendiges ist die Natur, und alles ist Frucht, und alles ist Samen. “ Zu spät erfolgt die Erkennung. Zum zerschmetternden Schlage hat sich gewandelt, was ein ringsum segenverbreitendes Glück hätte werden können. Das Unheil ist geschehen, das nicht mehr gut zu machen ist; es bleibt nur die Aussicht auf noch weiteres Leid und auf ein Leben voll Schmerz und Entsagung. Hier tritt der Chor mit der ganzen kathartischen „Heilungskraft“ auf, deren die tragische Kunst fähig ist und für die sie kein annähernd so mächtiges Organ besitzt als eben ihn. Die Furcht und mit ihr das Mitleid hebt er hoch empor über die Enge des schrecklichen Einzelfalles zu dem unmittelbaren Anschauen der ewigen Gesetze, denen alles Menschenlos gleichmäßig unterworfen ist: wahrlich nicht um von Furcht und Mitleid die Herzen der tief ergriffenen Zuschauer zu entladen, sondern um sie gleichsam zu dem reinen Akkord der rechten Schicksalsempfindungen zu stimmen! Durch die Straßen der Städte, Von Jammer gefolget, Schreitet das Unglück ─ Lauernd umschleicht es Die Häuser der Menschen, Heute an dieser Pforte pocht es, Morgen an jener, Aber noch keinen hat es verschont. Die unerwünschte Schmerzliche Botschaft Früher oder später Bestellt es an jeder Schwelle, wo ein Lebendiger wohnt. Wenn die Blätter fallen Jn des Jahres Kreise, Wenn zum Grabe wallen Entnervte Greise, Da gehorcht die Natur Ruhig nur Jhrem alten Gesetze, Jhrem ewigen Brauch, Da ist nichts, was den Menschen entsetze! Aber das Ungeheure auch Lerne erwarten im irdischen Leben! Mit gewaltsamer Hand Löset der Mord auch das heiligste Band; Jn sein stygisches Boot Raffet der Tod Auch der Jugend blühendes Leben! Wenn die Wolken getürmt den Himmel schwärzen, Wenn dumpftosend der Donner hallt, Da, da fühlen sich alle Herzen Jn des furchtbaren Schicksals Gewalt. Aber auch aus entwölkter Höhe Kann der zündende Donner schlagen; Darum in deinen fröhlichen Tagen Fürchte des Unglücks tückische Nähe! Nicht an die Güter hänge dein Herz, Die das Leben vergänglich zieren! Wer besitzt, der lerne verlieren; Wer im Glück ist, der lerne den Schmerz ! Was wäre da noch hinzuzufügen! Das ist die Katharsis, das ist Wesen und Jnhalt der tragischen Wirkung, wenn es überhaupt eine gibt, und so hat Aristoteles das ἔργον τραγῳδίας verstanden. Aber es bleibt dem Dichter noch die große und schwerste Aufgabe, sie an seinen Personen durchzuführen. Sie ist es, die für jede Tragödie, die des Namens würdig sein soll, den Aufbau des Schlußaktes zu bestimmen hat. Auch hierin ist Schillers „Braut von Messina“ ein unübertroffenes Muster. Ehe der stolze, ungestüme Sinn sich beugt, schwillt er zum Übermaß. Die verzweifelnde Mutter hat nur wilde Flüche für den Mörder des Sohnes und bitteren verachtenden Hohn für jede Form, in der ein frommer Glaube auf irgend welche gerechte Leitung des Schicksals vertraut: „Lernt die Lügen kennen, womit die Träume uns, die Seher täuschen! Glaube noch einer an der Götter Mund!“ „Die Kunst der Seher ist ein eitles Nichts; Betrüger sind sie, oder sind betrogen. Nichts Wahres läßt sich von der Zukunft wissen, du schöpfest drunten an der Hölle Flüssen, du schöpfest droben an dem Quell des Lichts.“ Und darauf der Chor: Weh! Wehe! Was sagst du? Halt ein, halt ein! Bezähme der Zunge verwegenes Toben! Die Orakel sehen und treffen ein; Der Ausgang wird die Wahrhaftigen loben. Der Eindruck ist ja immerhin ein starker durch den bloßen Gegensatz jenes eifernden Unglaubens gegen die schreckliche Gewißheit des Zu= schauers, daß „die Orakel“ recht haben. Dennoch macht sich hier am stärksten der oben schon erwähnte Umstand geltend, daß dieser Unglaube an sich für das moderne Bewußtsein nichts Verletzendes hat, wie bei den Alten, und daß auch in der historischen Atmosphäre des Stückes er nicht als Gotteslästerung empfunden werden kann. Diese schwache Stelle hat der Dichter wohl bemerkt; er hat daher Sorge getragen, der Verzweiflung Jsabellas denjenigen ganz allgemeinen Ausdruck zu leihen, der Gültigkeit hat für alle Zeiten: Nicht zähmen will ich meine Zunge, laut Wie mir das Herz gebietet, will ich reden. Warum besuchen wir die heil'gen Häuser Und heben zu dem Himmel fromme Hände? Gutmüt'ge Thoren, was gewinnen wir Mit unserm Glauben? So unmöglich ist's, Die Götter, die hochwohnenden, zu treffen, Als in den Mond mit einem Pfeil zu schießen. Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft, Und kein Gebet durchbohrt den eh'rnen Himmel, Ob rechts die Vögel fliegen oder links, Die Sterne so sich oder anders fügen, Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur, Die Traumkunst träumt, und alle Zeichen trügen. Und der Chor: Halt ein, Unglückliche! Wehe! Wehe! Du leugnest der Sonne leuchtendes Licht Mit blinden Augen! Die Götter leben, Erkenne sie, die dich furchtbar umgeben ! Dann folgt der letzte schlimmste Schlag, die Erkennung, die das Gräßliche enthüllt. Sie weiß nun, daß der überlebende Sohn der Mörder des toten ist, und daß ihre Heimlichkeit „all dies Gräßliche verschuldet“ hat. Wie die Seher verkündet, so ist es gekommen; Denn noch niemand entfloh dem verhängten Geschick. Und wer sich vermißt, es klüglich zu wenden, Der muß es selber erbauend vollenden. Die Peripetie hat sich vollzogen. Sie treibt die Verblendete zu dem letzten Schritt, der noch übrig bleibt, um auch das noch dem Verderben zu weihen, was ihr an Glück geblieben ist. Jn jener äußersten Verzweiflung, die keine Furcht mehr kennt, sagt sie sich von dem Sohne los, „der ihr den bessern Sohn zu Tode stach“: Was kümmert's mich noch, ob die Götter sich Als Lügner zeigen, oder sich als wahr Bestätigen? Mir haben sie das Ärgste Gethan. ─ Trotz biet' ich ihnen, mich noch härter Zu treffen, als sie trafen. ─ Wer für nichts mehr Zu zittern hat, der fürchtet sie nicht mehr . Und weiter bis zu dem oben schon citierten Schluß: Alles dies Erleid' ich schuldlos; doch bei Ehren bleiben Die Orakel, und gerettet sind die Götter. Schuldlos leidet sie und leiden die Jhren; und nur das schuldlose Leiden ist das Tragische. Die Fehler, die das Leiden auf die so furchtbar Betroffenen herabziehen, sind das verhängnisvolle Erbteil ihres Hauses; in ihnen und in den Umständen, durch die sie so verderblich werden, liegt der Fluch, unter dem sie leiden: aus beiden zusammen webt sich ihr tragisches Geschick. Wieder gibt der Chor diesem Verhältnis den schlagenden Ausdruck, wenn er gegenüber der gefährlichen Größe sich die bescheidene Einfalt und die Sicherheit des einfachen Naturlebens erwählt: Wohl dem, selig muß ich ihn preisen, Der in der Stille der ländlichen Flur, Fern von des Lebens verworrenen Kreisen, Kindlich liegt an der Brust der Natur! Denn das Herz wird mir schwer in der Fürsten Palästen, Wenn ich herab vom Gipfel des Glücks Stürzen sehe die Höchsten, die Besten Jn der Schnelle des Augenblicks! Und weiter hin bis zu jenem oft citierten Schlusse, der als der Gipfel der „sentimentalen“ Anschauungsweise angesehen wird, während er doch in Wahrheit nur auf die Lösung des Tragischen hinweist, die allein in der Einfalt reinen, gesunden Empfindens gefunden werden kann: Nur in bestimmter Höhe ziehet Das Verbrechen hin und das Ungemach, Wie die Pest die erhabenen Orte fliehet; Dem Qualm der Städte wälzt es sich nach. Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte; Die Welt ist vollkommen überall, Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual. Dem strengen Gesetz der Furchtempfindung ist volles Genüge geschehen: aber nicht mit dem Eindruck starrer Gesetzlichkeit darf uns die Tragödie entlassen. Mit der wunderbar schmelzenden Kraft der reinen Schönheit machen die letzten Scenen den reichen Quell des Mitleids fließen, das von der Furcht geläutert, ihr innig vermählt, nicht länger als der „trübe Strom des Jammers“ wild daherrauscht, sondern das von selbst sein rechtes Bette findet, in welchem es tief und ruhig strömend sich ergießt. Jn diesen wundervollen Scenen tritt die reine Schönheit uns entgegen, denn hier haben alle handelnden Personen die echte und rechte Katharsis schon in sich erfahren, was sie sprechen und thun, ist das Ergebnis dieser im tiefsten Jnnern durchlebten Läuterung, Reinigung, Entsühnung. Hier endlich sind die Leidenschaften ausgeglichen, und nur die sanfte Stimme reiner, edler Menschlichkeit läßt sich vernehmen. Doch das rührende Flehen der versöhnten Mutter, die ergreifende Bitte der liebenden Schwester vermögen das Opfer nicht aufzuhalten, das der Bruder dem gemordeten Bruder schuldet. Sie können den festen, klaren Entschluß nicht aufheben, aber sie nehmen ihm die Bitterkeit: in der erhabenen Ruhe, mit der Don Cesar die Selbstopferung beschließt, in der fast freudigen Verklärung, in der er dazu schreitet, liegt schon die Sühnung seiner That. Der Tod drückt nur das letzte Siegel darauf. Jn grandioser Einfachheit ertönen in dem Schlußgesang des Chors wieder die beiden tragischen Grundempfindungen, beide nun zu einem einzigen, untrennbaren, reinen Klange verschmolzen: Erschüttert steh' ich, weiß nicht, ob ich ihn Bejammern, oder preisen soll sein Los. Dies eine fühl' ich und erkenn' es klar: Das Leben ist der Güter höchstes nicht, Der Übel größtes aber ist die Schuld . Der müßte diese Tragödie schlecht verstanden, noch weniger aber sie empfunden haben, der hier bei dem Worte der Schuld an das Verbrechen denken wollte, das seine Strafe gefunden hat: der nicht vielmehr empfände, wie in diesem einen Worte sich die Gesamtbezeichnung für die ganze Last zusammendrängt, mit der Schwäche, Verfehlung und Verwirrnis der Seele auf das menschliche Leben drückt, für alle jene tausendfachen Gespinste, aus denen in dem Gewebe des Schicksals sich der überall durchgehende Faden des Unheils zusammenschlingt. Unbehindert bleibt keiner von diesen verhängnisvollen Fäden: wohl dem, um den das Schicksal sie nicht so gefahrbringend durchkreuzt hat, daß ein unsicherer Tritt ihn in ihrem Netze rettungslos verstrickt. Schuldlos verfiele er so jenem „ größten Übel “, der großen, allgemeinen Schuld des menschlichen Geschlechtes, ein tragischer Gegenstand zugleich unseres Mitleids und unserer Furcht! ────── XXIX. Faßt man alles in eins zusammen: so ist es die völlige Übereinstimmung mit dem Gesetz und dem Bau der antiken Tragödie, wodurch „die Braut von Messina“ ihrem Dichter selbst bei ihrer Aufführung „zum erstenmal den Eindruck einer wahren Tragödie“ verschaffte und wodurch Goethe „den theatralischen Boden zu etwas Höherem eingeweiht“ hielt. Es tritt in diesem Stück das Grundwesen des Tragischen mit derselben Klarheit und in derselben Einfachheit zu Tage wie bei den großen Alten, unverhüllt durch das reiche Beiwerk, wodurch in der modernen Tragödie der Blick so leicht irre geführt wird. Daß es aber trotz reichster, kunstvollster Ausführung in seinem Kerne unverändert dasselbe bleibt, mag zum Schlusse durch eine Vergleichung der Art und Weise gezeigt werden, wie die drei großen Tragiker des Altertums und der größe Tragiker der modernen Zeit ein und dasselbe tragische Problem behandelt haben. Es ist unter allen tragischen Motiven das tragischte: schwere Schuld der Mutter, die nicht anders gesühnt werden kann als durch die rächende That des Sohnes! Es ist die tragische Fabel der Orestie, die Äschylus in den „ Choephoren “ und „ Eumeniden “, Sophokles und Euripides in ihrer „ Elektra “ behandelt haben; derselbe Stoff liegt Shakespeares „ Hamlet “ zu Grunde. Diese Vergleichung bietet eine Fülle der interessantesten Gesichtspunkte; doch gilt es hier nur die eine Frage ins Auge zu fassen: wie hat jeder dieser Dichter dem Stoff die tragische Wirkung abgewonnen? Das frevelhaft vergossene Blut verlangt zur Sühne das Blut des Mörders: diese uralte, ursprünglich allen Völkern gemeinsame Anschauung verliert selbst in Zeiten, in denen das bürgerliche Gesetz herrschend geworden ist, niemals ihre Kraft völlig. Gibt es doch sogar noch bei uns viel umstrittene Grenzgebiete, in denen die blutige Selbsthülfe sich unausrottbar behauptet. Jn den großen Verhältnissen jedoch, wo das bürgerliche Gesetz seine Kraft verliert, wo zwingende übermächtige Rücksichten dennoch Herstellung des Rechtes, Ausgleichung des Frevels ge= bieten, bleibt die Frage für alle Zeiten eine offene, immer wieder neu zu lösende. Solche Größe der Verhältnisse, wo eben die einfache Entscheidung auf gesetzlichem Wege als von vornherein gegeben nicht der Handlung ihren Verlauf zwangsweise vorschreibt, ist das Feld für die tragischen Handlungen. Jst nun hier der Handelnde durch die Schuld der vorangegangenen Geschlechter belastet, wird ihm durch die Umstände die Aufgabe zugewiesen diese Schuld zu sühnen, sie an den ihm zunächst stehenden Blutsverwandten gewaltsam, blutig zu sühnen, so stellt eine solche Handlung den Gipfel des Tragischen dar. Aber jeder dieser Fälle bietet der Auffassung die verschiedensten Seiten dar, er läßt die mannigfaltigste dramatische Behandlung zu; und so haben denn auch die genannten Tragiker ihre Aufgabe in der denkbar verschiedensten Weise gelöst. Äschylus und Sophokles haben den Stoff in seinem tiefsten Grunde erfaßt und, indem sie völlig getrennte Wege einschlagen, beide ihn zu grandioser tragischer Wirkung gebracht; das Stück des Euripides gibt nur Veranlassung zu zeigen, was alles er an dem großartigen Stoff verdorben hat. Die handgreiflichen Fehler dieser seltsamen Komposition sind so grotesk, daß trotz des durchgehenden Ernstes der Behandlung man an vielen Stellen immer wieder aufs neue versucht wird fast an absichtliche Parodierung zu glauben. Mit nicht allzugroßen Änderungen könnte aus dem Stück eine parodische Komödie gemacht werden. Schon A. W. Schlegel äußert sich in ähnlicher Weise darüber (s. A. W. Schlegels Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Teil II. Geschichte der klassischen Litteratur. Heilbronn, 1884 in den Neudrucken deutsch. Litt. Denkm. S. 371): „Das Stück des Euripides ist ein seltenes Beispiel poetischer Unvernunft. Warum narrt z. B. Orest seine Schwester so lange, ohne sich ihr zu erkennen zu geben? ─ Was etwa von tragischen Anklängen vorkommt, ist nicht sein eigen: es gehört dem Mythus, seinen Vorgängern und der Observanz an. Durch seine Jntentionen ist es wenigstens keine Tragödie, sondern vielmehr ein Familiengemälde in der modernen Bedeutung des Worts geworden. Die Effekte mit der Dürftigkeit der Elektra z. B. sind elend. Alle Vorbereitungen zu der That sind äußerst leichtsinnig; die That wird gleich nach der Vollbringung durch die schwächlichste Reue wieder ausgelöscht. Von den Lästerungen gegen das Orakel will ich gar nichts sagen. Da das ganze Stück dadurch vernichtet wird, so sehe ich nicht ein, wozu es Euripides überhaupt geschrieben, wenn es nicht war, um die Elektra an den Mann zu bringen, und den alten Bauer, zur Belohnung seiner Enthaltsamkeit, sein Glück machen zu lassen. Jch wünschte nur, daß die Vermählung des Pylades mit der Elektra vor sich ginge und der Bauer eine erschreckliche Summe Geldes ausgezahlt erhielte: so würde alles zur Satisfaktion der Zuschauer, wie eine moderne Komödie, endigen.“ Sehr treffend urteilt Goethe in einem Brief an Zelter (28. Juli 1803) über den Chor und zugleich über die Epochen der griechischen Tragödie: „Jn der griechischen Tragödie zeigt sich der Chor in vier Epochen.“ „Jn der ersten treten zwischen dem Gesang, in welchem Götter und Helden erhoben, Genealogien, große Thaten, ungeheure Schicksale vor die Phantasie gebracht werden, wenige Personen auf und rufen das Vergangene in die Gegenwart. Hiervon findet sich ein annäherndes Beispiel in den „ Sieben vor Theben “, von Äschylus. Dieses wären also die Anfänge der dramatischen Kunst, der alte Stil.“ „Die zweite Epoche zeigt uns die Masse des Chors als mystische Hauptperson des Stückes; wie in den „ Eumeniden “ und „ Bittenden “. Hier bin ich geneigt, den hohen Stil zu finden. Der Chor ist selbständig, auf ihm ruht das Jnteresse, es ist, möchte man sagen, die republikanische Zeit der dramatischen Kunst, die Herrscher und Götter sind nur begleitende Personen.“ „Jn der dritten Epoche wird der Chor begleitend, das Jnteresse wirft sich auf die Familien und ihre jedesmaligen Glieder und Häupter, mit deren Schicksalen das Schicksal des umgebenden Volks nur lose verbunden ist. Der Chor ist untergeordnet, und die Figuren der Fürsten und Helden treten in ihrer abgeschlossenen Herrlichkeit hervor. Hier möchte ich den schönen Stil finden. Die Stücke des Sophokles stehen auf dieser Stufe. (Hierzu wäre freilich zu bemerken, daß in der Mehrzahl der uns erhaltenen Stücke auch Äschylus sich auf dieser Stufe zeigt, was wohl auch von Goethe nicht anders angesehen sein wird.) Jndem die Menge dem Helden und dem Schicksal nur zusehen muß, und weder gegen die besondere noch allgemeine Natur etwas wirken kann, wirft sie sich auf die Reflexion und übernimmt das Amt eines berufenen und willkommenen Zuschauers.“ „Jn der vierten Epoche zieht sich die Handlung immer mehr ins Privatinteresse zurück, der Chor erscheint oft als ein lästiges Herkommen, als ein aufgeerbtes Jnventarienstück. Er wird unnötig und also, in einem lebendigen poetischen Ganzen, gleich unnütz, lästig und zerstörend, z. B. wenn er Geheimnisse bewahren soll, an denen er kein Jnteresse hat und dergl. Mehrere Beispiele finden sich in den Stücken des Euripides, wovon ich „ Helena “ und „ Jphigenia auf Tauris “ nenne.“ Die „Eumeniden“ sind von Goethe selbst als der zweiten Gattung des „hohen Stiles“ zugehörig bezeichnet worden, die „Choephoren“ dagegen gehören wie die „Elektra“ des Sophokles der dritten, der des „schönen Stiles“ an; in der „Elektra“ des Euripides ist der Chor ein gerade so überflüssiges „Jnventarienstück“, wie in den von Goethe angeführten Tragödien. Dennoch ist es die sehr verschiedene Verwendung des Chors, aus der die durchgreifend verschiedene Behandlungsweise hervorgeht, der Äschylus im Vergleich zu Sophokles den Stoff unterwirft. Die Träger der Handlung sind bei diesem wie bei jenem Orestes und Elektra, aber während der Chor bei Sophokles für die tragische Wirkung nur sekundierend auftritt, ist ihm bei Äschylus ein wesentlicher Teil an derselben zugewiesen. Äschylus räumt dem Chor einen sehr weitgehenden Einfluß auf den Vollzug der Handlung ein und zwar, wie es das Gesetz der Tragödie mit sich bringt, indem er in seinen Gesängen die beiden mächtig bewegenden Kräfte der tragischen Furcht und des tragischen Mitleids zu immer erneuter Wirkung lebendig werden läßt. Zu einem bedeutenden Teile wird das zur That treibende und auch die That rechtfertigende Ethos bei ihm durch den Chor vertreten. Sophokles hat dasselbe ganz und gar in den Charakter seiner Heldin, der Elektra, gelegt. Daher ist, wie schon früher bemerkt wurde, S. oben S. 479. das Motiv des Konfliktes der Pflichten für den Aufbau der tragischen Handlung bei beiden Dichtern ganz außer Wirksamkeit geblieben, kaum daß es im Verlaufe flüchtig auftauchend sich bemerkbar macht. Bei Äschylus wie bei Sophokles ist die furchtbare That unvermeidlich notwendig, nach menschlichem und göttlichem Gebot unweigerlich gefordert und wird auch solcherweise ohne jede Rücksicht, ohne alles Schwanken in einfach gradaus gehender Handlung vollzogen. Die wichtige Frage ist, wie stellt es der Dichter an, solche rächende Strafthat dennoch zur tragischen Wirkung zu erheben? Es sind völlig getrennte Wege, auf denen beide Dichter zu im Grunde derselben Lösung gelangen. Die „Choephoren“ ─ „Grabspenderinnen“ ─ des Äschylus sind das mittlere Stück einer Trilogie. Durch das vorausgehende erste Stück, den „Agamemnon“, ist die Unvermeidlichkeit der rächenden That höchst eindringlich motiviert. Die schwere Blutschuld und der ehebrecherische Bund der Klytämnestra mit Ägisthos bedingt ihren Untergang nicht allein durch die persönlich sie selbst angehende Notwendigkeit der Sühne, sondern das Recht und die Geltung aller göttlichen und menschlichen Ordnung sind im ganzen Lande erschüttert, zerrüttet, vernichtet, solange die Gewaltherrschaft des Verbrechens dauert, solange nicht der rechtmäßige Stamm des Atreus wieder auf den Thron zurückgeführt ist. Gerade auf diese Seite der durch den Mord des Agamemnon geschaffenen Lage der Dinge weist der Schluß der ersten Tragödie mit stärkstem Nachdruck hin, und hierin liegt zum bedeutsamsten Teil die Exposition der Choephoren begründet: die fürchterliche Strafe, die Apollo dem Orest androht, wenn er sein Rachegebot unerfüllt läßt, der gräßliche Fluch, den er für diesen Fall über ganz Argos verhängt, sind nur der ergreifende, dramatisch nachgeahmte Ausdruck dieses Verhältnisses. Ganz dasselbe, nur subjektiv nach innen gewandt, gibt auch zu der äußerlich das Stück exponierenden Handlung den Anlaß: aus der quälenden, nimmer zu beschwichtigenden Empfindung jenes Verhältnisses, aus der die Seele mit Grauen erfüllenden Angst, Blut müsse Blut verlangen, geht jener Traum der Klytämnestra hervor, der sie die „Grabesspende“ veranstalten läßt. Elektra soll die Spende am Grab des Vaters ausgießen, die sie begleitenden Dienerinnen, die die Grabesspende tragen, mit ihr einig im Hasse gegen die Königin und gegen Ägisthos, bilden den Chor. Er gibt vom ersten Auftreten an jenem selben Gefühl den ergreifenden, objektiven Ausdruck: Das Blut, vom Mutterschoß der Erde eingeschlürft, Der Rach' Empfängnis, dickt zum Keim unlöslich sich. Und hin hält Ate, die ihn bethört, den Schuldigen, Bis seine Seuch' in Blütenpracht! Doch, flieht er ─ auch des Brautgemaches Heimlichkeit Verbirgt ihn nicht; und strömte aller Ströme Flut, Der Blutthat Schuldmal von ihm hinwegzuspülen her, Sie strömten immer doch umsonst! Und diese Liebe liebelos, zu wehren noch dem Weh, Jo, Erde, Erde! Spendet, sendet her das gottvergessne Weib! Mich bangt's, auszusprechen jenes Wort! Denn welche Sühne gibt es für vergossen Blut? Jo, du jammerreicher Herd! Jo, du untergrabnes Haus! Ja graungemieden, sonnenlos umhüllen Finsternisse das Haus, Licht wird's nur mit der Herren Tod! Hoheit, bekämpft, versäumt, mißachtet nimmer sonst, Dem Volk eingewöhnt sonst Tief in Ohr und Herzen ─ nun dahin ist sie! Es bangt jene vor des Glückes End'; Und glücklich sein ist Gott den Menschen, mehr denn Gott! Doch Dike trifft ─ die einen jäh Jn ihres Glückes Mittagsglanz; Was andrer noch in Zwielichts Schoß harret, mahnend schwillt's und reift's; Andre täuschet die Nacht noch. Eben als der Zug sich zu dem Grabe Agamemnons bewegt, hat dort Orestes, aus der Fremde heimgekehrt, eine Locke seines Hauptes niedergelegt. Nun entwickelt sich die Handlung, schnurgerade zum Ziel vorschreitend. Sie behält den Charakter der einfachen Anlage, obwohl sie gleich mit einer „Erkennung“ beginnt. Allein Äschylus hat auf die dramatische Ausnutzung dieses Verwickelungsmotivs verzichtet; die Erkennung erfolgt geradehin, ohne Erregung von Spannung, mit, wie es scheint absichtlich, ganz kunstlosen, fast naiv gewählten Mitteln, so daß Euripides, in seiner vermeintlichen Überlegenheit, sich durch dieselben zu jener befremdlichen technischen Kritik veranlaßt sah, die neben vielen andern Ungeheuerlichkeiten sein Stück interessant macht. Zu dem allgewaltigen Zeus wendet sich nun das Gebet der wieder vereinten Geschwister, hülfreich auf ihr Beginnen herabzuschauen; „nicht bleibt dir, wenn das Geschlecht des Adlers du vertilgst, zu senden glaubhaft Zeichen an die Sterblichen;“ „Sei unser Hort! Vom Boden richt' ein hoch Geschlecht empor, das jetzt gar tief dahingesunken scheint!“ Auf das Gebot des Loxias beruft sich Orestes und auf den grauenhaften Fluch, mit dem er den Ungehorsam gegen seinen Spruch bedroht hat: Solch einem Ausspruch muß man glauben und vertraun; Und traut' ich minder, dennoch muß die That geschehn; Vielfacher Antrieb strömt vereint auf mich herein, Des Gottes Auftrag, meines Vaters große Schmach, Des eignen Lebens Dürftigkeit, das alles läßt Mich meine Bürger, aller Zeit berühmteste, Die Überwinder Jlions in Heldenkraft, Nicht länger unterthänig zween Weibern sehn; Denn weibisch ist er; ist er's nicht, bald sehen wir's! Die stärksten eigenen Motive also unterstützen das Gebot des Götterspruchs; aber die Verantwortung der ungeheuren That ruht ganz auf diesem. Hier setzt nun der Chor mit aller Macht ein, die Stimme des Orakelspruchs zu verstärken: Jhr gewaltigen Moiren, mit Zeus' Beistand Werd' so es vollbracht, Wie das Recht mitwandelnd den Pfad zeigt! „Für feindliches Wort sei feindliches Wort.“ Also ruft Dike, die lautere, laut, Wenn die schuldige Buße sie eintreibt! „Für blutigen Mord sei blutiger Mord! Wer that, muß leiden!“ so heißt das Gesetz Jn den heiligen Sprüchen der Väter! Er mahnt an des Toten Seele, die nicht durch die Glut bewältigt wird, an den zürnenden Schatten, der mit lautem Schmerzschrei Gericht heischt. So repräsentiert der Chor hier die laute, gebieterische Volksstimme: „Ja, es ist ein Gesetz, daß sterbend der Strom des vergossenen Bluts Blut wieder verlangt; und es rufet der Mord die Erinnys wach, von den früher Erschlagnen die Blutschuld wach, die heraufführt andere Blutschuld!“ Jn die immer bewegteren Mahnungen des Chors in frommer Furcht das uralte heilige Götterrecht zu ehren mischt sich, gleichfalls melisch erregt, das Gelöbnis des Orestes, das Unsühnbare zu rächen, es mischt sich die Klage der Elektra darein um das unwürdig, schmachvoll, ehrentblößte Leben, das die Mutter sie erdulden lassen, und weckt nun auch das Mitleid: Jn meiner Kammer, eingesperrt wie ein böser Hund, Vergaß ich das Lachen, brach in bittre Thränen aus, Froh, wenn ich verhehlte meines Grames nassen Blick! Was du vernommen, Bruder, schreib' es dir ins Herz! Durchs Ohr bohre tief sich dieses Wort dir Ein in des Herzens stillen Grund! Das alles war wahrlich so! Das andre geh' selbst zu schaun! Du mußt mit furchtloser Kraft zum Kampf gehn! Jch rufe dich, Vater, sei den Deinen nah! Mit ruf' ich dich, Vater, bitterweinend dich! Wir allzumal stimmen lauten Rufes ein! Erhör' uns, steig' ans Licht empor, Wider die Feinde hilf du! So messe sich jetzt Stärk' um Stärke, Recht um Recht! O Götter, jetzt endet unser Recht gerecht! Mich überströmt Beben, hör' ich euer Flehn! Das Gottverhängte harret längst; Flehet ihr drum, so kommt es! O du des Hauses Fluch! O des verhängten Mords schneidender, blut'ger Mißlaut! Weh, weh! gräßliches Amt des Sohnes! Weh, weh! nimmergestillter Jammer! „Dessen ein Balsam kann Nimmer dem Haus' von Fremden, nur von ihm selber kommen Durch bluttriefenden Hader“: also Das Lied drunten der dunklen Götter! Jhr drunten, vernehmt, ihr Sel'gen der Nacht, Hört dieses Gebet, o erfüllt's! Beistand Schickt gnädig den Kindern zum Siege! Kein Wort also des Schwankens zwischen zwei Pflichten! Die That wird unbedingt gefordert durch das eigene dringendste Jnteresse der Geschwister, durch das noch stärker mahnende Jnteresse des ganzen Landes; aber gebieterischer als alles andere fordert Gottesspruch und Volksstimme die That als Sühnung des geschändeten Rechtes. Für Orestes bleibt nur den von überallher sich vereinigenden Antrieben gehorsam zu folgen: denn auch die Art der Ausführung ist ihm vom Gotte vorgeschrieben. Wie jene den Agamemnon mit List umbrachten, so soll auch er mit gleicher List, mit klug verstecktem Plane die That beginnen, „ weil das ganze Haus in Freveln rast “. Auch hier also ist, was der Zwang der Umstände ergibt, dem Willen des Gottes zugeschrieben. Doch auch diese List wird von Äschylus, damit sie nicht unwürdig wirke ─ wie ganz anders doch bei Euripides, der auch hier wieder luxuriert ─ auf das äußerlich ganz Notwendigste beschränkt: dann folgt die geradeaus zerschmetternd vordringende That. Das anschließende Stasimon des Chors erweckt aufs neue die Furcht vor der unerbittlichen Dike, ─ „denn Rechtes Schändung nieder in den Staub getreten, ist Zeus' ganze Zier; dem Frevler ist er unerbittlich!“ ─ vor dem Richtschwert der Aisa ─ „die der alten Blutschuld Kind in das Haus führt“ ─ vor der wachen „listkundigen Nachterinnys!“ Jn dem Fortgang der Handlung zum Höhepunkt gemahnt die Oekonomie des Aufbaues an shakespearesche Kunst. Jn der Darstellung der äußeren Vorbereitungen zur That gewinnt der Dichter Raum, die gewaltige Spannung der tragischen Affekte durch ein kräftiges humoristisches Motiv für einen Augenblick zu lösen, das zugleich höchst geschickt für die Weiterführung der Handlung benutzt wird. Die Fremdlinge haben im Palast die falsche Meldung von Orests Tode gemacht, und Klytämnestra, äußerlich eine flüchtige Trauer heuchelnd, im Herzen hocherfreut, sendet Kilissa, die alte Amme des Orestes, zu Aegisthos hinaus, um ihn herbeizuholen; er soll selbst die Nachricht empfangen, aber nicht ohne bewaffnete Begleitung erscheinen. Da kommt nun die Alte, bekümmert um den Tod ihres Lieblings und voll Unmuts über die Heuchelei und unnatürliche Freude der Mutter des Totgeglaubten, und schüttet in der geschwätzigen Weise des Gesindes ihr Herz dem Chore aus: All andres Leid trug ich geduldig bis ans End'; Daß aber mein Orestes, meiner Seelen Lust, Den aus der Mutter Schoß ich nahm und auferzog, Mit aller Unruh nächtens, wenn das Kindchen schrie, Und all den vielen Plagen, die ich vergebens nun Ertrug ─, denn solch ein unverständig Kindchen muß Wie's liebe Vieh man ziehn, nicht wahr? mit klugem Sinn; Da kann es denn nicht sprechen, solch ein Wickelkind, Ob's Hunger, ob es Durst hat, ob sich naß gemacht, Der kleine Magen macht was je nach seiner Not; Das muß voraus man merken, und, glaub' mir, man irrt Sich auch, und wäscht dem Kinde dann die Windeln rein, Versieht zugleich der Wäscherin und Amme Dienst; Und ich versah die beiderlei Geschäfte selbst, Und hat Oresten seinem Vater aufzuziehn ─; Nun muß ich Arme hören, daß er gestorben ist, Muß nun zum Herrn gehn, der geschändet unser Haus, Und meine Zeitung frohen Sinnes hören wird! Es wird dem Chore leicht die so Gesonnene zu bestimmen, daß sie den wichtigsten Teil der Meldung, Ägisthos solle nicht ohne bewaffnete Begleiter kommen, unterdrückt und sich als halbe Vertraute für den Plan der That gewinnen läßt. Noch einmal tritt, unmittelbar vor der Katastrophe, dem Deinon, der Chor mit einem Stasimon auf, das alle Motive für die That und alle durch dieselbe aufgeregten Furcht- und Mitleidempfindungen zusammenfaßt: das Recht, das ihr den Schutz des Zeus sichert, das Leiden der Elektra, die euphemistisch verhüllte Fürbitte für den Thäter, die Forderung des Landes, dem die That nur Freude bringt und das tiefe Mitgefühl für den, dem sie auferlegt ist: „Fester Hand, gleich dem Perseus ungeschreckt thu' den Deinen, welche das Grab deckt, thu' zugleich hier den Deinen Liebesdienst, grausigsten; welche des Mordes Greul gethan, töte sie!“ Jn knappster Kürze wird Ägisthos einzig durch die hybristische Sicherheit charakterisiert, mit der er unmittelbar vor dem hereinbrechenden Strafgericht seiner wachsamen Klugheit sich rühmt: „denn meines Geistes scharfen Blick betrügt man nicht“. Bald erschallt aus dem Jnnern des Palastes das Jammergeschrei des Erschlagenen. Es folgt eine Scene, die nirgends ihresgleichen hat, in ihrer ehernen Kürze übergewaltig erschütternd. Der Dichter ergriff das einzige Mittel, um den furchtbaren Vorgang auf der Bühne möglich zu machen: er lieh der Klytämnestra die heroisch entschlossene Kraft, den finster drohenden Trotz, die allein ihre That verständlich machen und womit sie bis zum letzten Augenblick ihr Leben und ihre That verteidigt. Selbst ihre Bitte um Schonung atmet diesen Sinn. Einen Augenblick schwankt Orest, allein des Pylades Mahnung ─ „hab' alle lieber als die Götter dir zu Feind!“ ─ und die Erinnerung an den gemordeten Vater siegen ob, mehr scheut er den Fluch des toten Vaters als die Flüche seiner Mörderin. „Du! vor der Mutter grimmen Hunden hüte dich!“ ruft sie dem zum Grausigsten Entschlossenen zu: „die meines Vaters, lass' ich dich, wie meid' ich die?“ lautet die Gegenrede. „So klagt die Lebende an ihrem Grab umsonst?“ „Das Grab des Vaters sendet dir dies Schicksal zu!“ „Weh mir des Drachens, den ich geboren und genährt!“ „Wohl war ein scharfer Seher deiner Träume Furcht! Das Ungeheure hast du gethan, so duld' es jetzt!“ Der Chor preist die versöhnte Dike, er dankt der gerechten Gottheit: „Der in den Himmeln waltet, Ehrfurcht vor ihm!“ ( ἄξια δ' οὐρανοῦχον ἀρχὰν σέβειν .) „Wieder erscheint Licht! Wieder des Jochs ist dies Haus entlastet! Richte dich auf o Haus! Lange, zu lange Zeit in Staub gestürzt danieder lagst du! Bald in des Schlosses Thor ziehet der Feierchor weihenden Sanges ein, wenn den befleckten Herd jeglichen Bannes getilgt die Sühne.“ Aber schon mischt in die eigene Freude sich der Laut tiefen Mitleids um das Schmerzenslos des Befreiers: Laßt uns beweinen beider doppelt Mißgeschick; Und weil Orestes traurig jetzt zum Gipfel führt Die viele Blutschuld, lasset beten uns zugleich, Daß dieses Hauses Auge nicht ganz brechen mag! Hiermit ist die Betrachtung bei dem tief verschlungenen, schwer zu entwirrenden Rätsel des Stückes und des Stoffes überhaupt angelangt. Voll Weisheit und mit höchstem Kunstverstand hat der Dichter scharf unterschieden zwischen der objektiven Seite der That und ihrer subjektiven Seite; diese Unterscheidung ist streng festgehalten in den Choephoren wie in den Eumeniden, ja die Komposition beider Stücke beruht darauf. Die Herstellung des Rechtes ist eine objektive, von Menschen und Göttern unbedingt geforderte Notwendigkeit. Wie nun aber, wenn dazu statt des unparteiischen Richters der zunächst Jnteressierte der ausschließlich Berufene ist, statt des Fernestehenden, der ohne jede Rücksicht zu entscheiden vermag, der nächste Blutsverwandte? So schiene also dennoch jener „Konflikt der Pflichten“ vorzuliegen, wo keine gewahrt werden kann, ohne die andere zu verletzen, und wo der edle Mensch durch reinste Willensentscheidung unrettbar sich zu Grunde richtet! Wie weit ist Äschylus von dieser schematischen Konstruktion, von solcher untragischen Auffassung seines Stoffes entfernt, wie viel tiefer dringt sein Blick in das Wesen der menschlichen Dinge! Vor allem: eine Wahl gibt es für seinen Helden nicht, der Befehl des Gottes ist unzweideutig, sein Versprechen, daß der Thäter aller Schuld ledig sein solle, klar und bündig; das ist gleichbedeutend damit, daß die That in voller Übereinstimmung mit dem Volksglauben und der Sitte unternommen wird, und der Thäter ohne Schwanken dazu schreitet. Von dieser Seite hat er keinen Vorwurf zu fürchten, er darf sogar auf Ruhm und Ehre rechnen. Aber wie ganz anders liegt die Sache von ihrer subjektiven Seite betrachtet! Hier gilt es vor dem unbestechlichen Gericht des eigenen inneren Bewußtseins zu bestehen. Der Sohn hat das höchste göttliche und menschliche Richteramt zu verwalten gegenüber der Mutter! Weh ihm, wenn auch nur der leiseste Schatten irgend eines andern Beweggrundes, wenn auch nur die geringste eigensüchtige Regung sich in die Vollziehung dieses Richteramtes mischt neben der lauteren Reinheit des höchsten Rechtssinnes! Jn solchem höchsten, heiligsten Sinn wird die That von dem Gotte verlangt: aber es geht über die menschliche Kraft hinaus, sie in solchem Sinne zu leisten. Dies ist der Punkt, in welchem Äschylus die tragische Hamartie seines Helden aufgewiesen hat, und von hier aus erreicht er die gewaltige tragische Wirkung seiner Dichtung. Diese Hamartie ist für den Helden in der Lage, in die das Schicksal ihn gestellt hat, unausweichlich, denn sie beruht in der allen Menschen gleicherweise eigenen Schwäche gegenüber der Aufgabe ein heilig göttliches Richteramt auszuüben. Solange die That vor ihm liegt, alle Nerven spannend, den Sturm aller Empfindungen aufregend, List und Kühnheit in die stärkste Bewegung setzend, glaubt Orestes ihr gewachsen zu sein, und er wäre verloren, der Verachtung verfallen, wenn er zweifelte! Dennoch erfaßt der Dichter seinen Stoff allein aus diesem Punkte, daß diesem heldenhaft entschlossenen Zugreifen, diesem kühnen, unerbittlichen Vordringen unausweichlich ein Zusatz menschlichen Jrrtums, menschlichen Fehls sich anheftet ─ keine Schuld, wie Loxias es verheißen hat, aber das Bewußtsein der Unzulänglichkeit zu der That, der inneren Unberechtigung solches Recht zu üben, stark genug um nun nach der That den Thäter an allen Sprüchen der Götter irre werden zu lassen, ihn in die schwerste, furchtbarste Zerrüttung zu stürzen, für die es nur die eine Heilung gibt: unbedingten Verzicht auf alle äußeren Vorteile der That, irre Flucht aus dem Lande der Väter und selbstvergessene Hingabe an die sühnende Gottheit, gläubige Unterwerfung unter ihren Spruch. Mit feinstem Gefühl für die Absicht des Dichters hat Schiller in einem Chorlied der „Braut von Messina“ das Verständnis derselben erschlossen: Ein andres Antlitz, eh sie geschehen, Ein anderes zeigt die vollbrachte That. Mutvoll blickt sie und kühn dir entgegen, Wenn der Rache Gefühle den Busen bewegen; Aber ist sie geschehn und begangen, Blickt sie dich an mit erbleichenden Wangen. Selber die schrecklichen Furien schwangen Gegen Orestes die höllischen Schlangen, Reizten den Sohn zu dem Muttermord an; Mit der Gerechtigkeit heiligen Zügen Wußten sie listig sein Herz zu betrügen, Bis er die tödliche That nun gethan ─ Aber da er den Schoß jetzt geschlagen, Der ihn empfangen und liebend getragen, Siehe, da kehrten sie Gegen ihn selber Schrecklich sich um ─ Und er erkannte die furchtbaren Jungfraun, Die den Mörder ergreifend fassen, Die von jetzt an ihn nimmer lassen, Die ihn mit ewigem Schlangenbiß nagen, Die von Meer zu Meer ihn ruhelos jagen, Bis in das delphische Heiligtum. So kommt nun am Schlusse des Stückes erst die volle Tragik zur Geltung. Bis dahin wirkte nur das furchtbar leidvoll („pathetisch“) Tragische und freilich das Vorgefühl der unvermeidlichen Konsequenzen; jetzt erst kommt das Mitleid mit dem Sohne, der zu solcher That durch das Geschick geführt wurde zu voller Kraft und mit ihm die tragische Furcht vor solchen Gefahren des Schicksals. Die Zweifel erfassen ihn mit nicht abzuschüttelnder Gewalt; vergebens läßt er die stummen Zeugen von seiner Mutter Schuld reden, „die Blutflecke, die des Purpurs Farbe weggefressen haben“. Nun preis' ich mich, nun jammer' ich laut auf, hier zu stehn Und anzureden meines Vaters Mordgespinst; Es quält mich meine That, mein Leid, all mein Geschlecht, Mit dieses Sieges reicher Schuld verflucht zu sein! S. V. 1011, 12: ἀλγῶ μὲν ἔργα καὶ πάθος, γένος τε πᾶν , ἄζηλα νίκης τῆσδ' ἔχων μιάσματα . Und dazu der Chor, die allgemeine Furcht aussprechend: Kein Sterblicher, der sein Leben in Ruh Hinwandelt und jeglicher Schuld frei! O Sohn, Leid kommt Heut diesem, dem andern morgen! Der tief ergreifende Schluß bringt die Katharsis dieser Tragödie. Das Mitleid mit dem Unglücklichen, der von dem Grausen über seine That in zügelloser Raserei fortgerissen wird, tritt in seine Rechte: „meines Herzens Entsetzen will sein Lied beginnen, seinen Tanz zum Schall der Wut!“ ─ Aber es bleibt die Hoffnung, daß der Gott, der ihn trieb, ihm die Heilung gewähren wird: „denn,“ so ruft er den Freunden zu ─ und dieses hoch bedeutsame Wort ist geeignet, die Absicht des Dichters vollends klar zu legen ─ „meiner Kühnheit Liebestrank (die φίλτρα τόλμης τῆσδε ), ihn mischte mir der Pythoseher Loxias durch seinen Spruch! “ So verläßt er flüchtig irrend die Heimat, um „fromm angethan mit dem Ölzweig und dem Kranze“ als Schutz und Entsühnung Flehender zum Heiligtum des Apollo zu fliehen. Und schon tauchen, ihm allein sichtbar, die schwarzverhüllten schlangenumzüngelten Gorgonen auf, der Mutter blutempörte Hunde, um ihn fortzutreiben, während der Chor ihm das trostreiche Wort zuruft: Es gibt Entsühnung! Wenn du Loxias berührst, So wird er huldreich dieser Qualen dich befrein! Damit ist die Orestes-Tragödie zu Ende, denn er hat den Sinn bewährt, aus dem allein ihm Entsühnung und Heilung hervorgehen kann. Aber nach der Art, wie Äschylus die Entscheidung nach außen, in die Hand der Götter gelegt hat, bedarf die Handlung der Fortführung. Orestes tritt hier nur passiv auf, unter den Göttern selbst erfolgt die Schlichtung des Streites, wie die Forderung der Dike, die von Zeus und Apollo ausgeführt ist, mit dem Anspruch der Erinnyen zu versöhnen sei, die Rache für das neuvergossene Blut verlangen. Das Stück, das diese Frage zu lösen gedichtet wurde, ist wohl das merkwürdigste Erzeugnis, welches die dramatische Litteratur hervorgebracht hat. Es fügt sich in keine der vorhandenen Gattungen der Tragödie! Der Ausgang ist ein nach allen Seiten glücklicher; sogar hocherfreulicher, dabei hat die Handlung den einfachsten Verlauf; keine Spur einer Verwickelung durch Peripetie oder Erkennung, man müßte denn die letztere im psychologischen Sinne auffassen und sie in der Sinneswandlung finden, durch welche aus den „Erinnyen“ die „Eumeniden“ werden. Aber das wäre eine gezwungene Deutung, denn wie die Hand= lung sich als eine einfache, gradaus verlaufende Gerichtsverhandlung darstellt, so ist jene Sinneswandlung das Resultat eines Vergleiches, der dem unterliegenden Teil von dem obsiegenden in Anerkennung seines wohlbegründeten Rechtes geboten wird. Dagegen steht es außer Zweifel, daß in dem Stücke die Sache der besonnenen, nach den Motiven der That und nach ihrem inneren Sinne urteilenden Gerechtigkeit, für die Apollon und Athene einstehen, geführt wird gegen die blinde Rache für vergossenes Blut, die die Erinnyen vertreten. Eine Jdee also ist es, die durch dieses Stück der Empfindung zur Gewißheit gebracht wird, Vgl. oben S. 366. und das Forum der Empfindung ist es auch, vor dem in durchgeführtem kontradiktorischem Verfahren das pro und contra abgewogen wird, indem von beiden Seiten die Affekte das Unwillens, ja der heftigsten Empörung sich gegenübertreten, bis sie endlich ihre Einigung im gegenseitigen Wohlwollen, in vollster Befriedigung, ja in hoher Freude finden. Das sind die charakteristischen Züge des Schauspiels, nicht der Tragödie. Wie kommt es nun aber, daß dieses Drama nicht allein immer für eine Tragödie gegolten hat, sondern daß es in der That auch durch und durch von den tragischen Affekten erfüllt ist, die an Kraft, Tiefe und kathartischer Wirkung den durch die Tragödie hervorgebrachten nichts nachgeben? Die ebenso einfache als überraschende Lösung ist die, daß es die kathartische Läuterung der tragischen Affekte selbst ist, ihre Reinigung und Entsühnung von dem Gewaltsamen, Überheftigen, Ungemäßigten, ihre Umwandlung zu klarem, in sich gefestigtem, dauerndem, schönem Empfinden, die den ideellen Gehalt der vorgeführten Schauspielhandlung bilden. Ein tragisches Element bildet allerdings in dem Drama das „Pathetisch-Leidvolle“, das darin zur Entfaltung kommt: das schwere Seelenleiden des Orestes und die drastisch furchtbare Erscheinung der Erinnyen. Aber das sind eben nur tragische Färbungen, das Gemälde der Handlung selbst enthält die tragische Anlage und Durchführung nicht. Die Handlung der „Eumeniden“ ist, wozu das Schauspiel seiner Natur nach neigt, durchweg symbolisch angelegt, wie das schon von A. W. Schlegel bemerkt ist. Obwohl dessen Deutung viel zu sehr am äußerlichen haften bleibt! S. a a. O., S. 338: „ Eumeniden: Tragische Höhe gleich Anfang. ─ Orestes ganz als Werkzeug vom Schicksal gelenkt. Das freie Handeln in eine höhere Sphäre übergegangen. Pallas eigentlich Hauptperson. Die Kollision des Heiligsten als Zwist in der Götterwelt ausgedrückt. ─ Symbolische Deutung des Ganzen. ─ Titanen überhaupt die dunkeln Urkräfte. Die jüngeren Götter, was mehr in den Kreis des Bewußtseins Durch diese Behandlungsweise gelangt das Ethische der Handlung nur zu indirekter Darstellung, es ist durch den symbolischen Vorgang mehr angedeutet als nachgeahmt. Obgleich es sich um die Entsühnung des Orestes handelt, so tritt dieser doch persönlich zurück; die Erinnyen selbst sind der Held des Dramas, und ihr Streit mit den jüngeren Göttern ist der Jnhalt des Schauspiels: Orests Sache ist damit zugleich die der Götter und Menschen, und von diesem Standpunkt aus findet die ganze symbolische Verhandlung statt, deren Entscheidung mit der Heilung und Entsühnung des Orestes und der principiellen Klärung des in Betreff seiner schwebenden dunkeln, menschliche und göttliche Gerechtigkeit gleich stark angehenden Problems zugleich die Läuterung der durch dasselbe so mächtig aufgeregten Empfindungen mit sich bringt: ─ eine theoretische Darstellung der tragischen Katharsis durch das Mittel eines in höchster dramatischer Lebendigkeit vorgeführten, symbolischen Schauspiels. Die „Grabesspenderinnen“ betonen mit weit überwiegendem Nachdruck die Forderung der Dike; wie die Gottheit selbst, so verlangen sie von Orestes die Ausübung jener hohen Gerechtigkeit, als deren Vollstrecker er unsträflich erscheint. Daß er die Rache an der Mutter vollzieht, ist göttliches Gebot, das Wie dieser Vollziehung jedoch findet ihn in jener allgemeinen Schwäche der irrenden Menschheit, die keinen Sterblichen solchen Richteramtes würdig erscheinen läßt. Vom Schicksal gezwungen übernimmt er es, ihm bleibt kein Ausweg, und so verfällt er durch das Schicksal der verzweifelnden Erkenntnis, daß er über das dem Menschen Erlaubte Hinausgehendes, daß er Unmenschliches gethan. Er wird unschuldig=schuldig ein Raub der ihn mit Wahnsinnsangst folternden Gorgonen. So die „Choephoren“ des tritt. ─ Die Eumeniden ─ furchtbare Gewalt des Gewissens, insofern es keinen Vernunftgründen weicht. Apoll, Gott der Jugend, der edlen Aufwallung der Leidenschaft, der kühnen That. Pallas, besonnene Weisheit, Gerechtigkeit, Milde. Anlaß zu zu der allegorischen Deutung schon in den ersten Scenen. (Das Schlafen im Tempel symbolisch, ebenso die Erscheinung der Klytämnestra und mehrmals ihre Anreden ganz symbolisch.) Recht des Flüchtlings. Weise Veranstaltung der Priester. ─ Verherrlichung Athens. Zuerst Delphi als religiöser Mittelpunkt. Kann den Orest doch nur für den ersten Moment schützen, nicht ganz frei machen. Athen das Land der Gesetzmäßigkeit und Menschlichkeit. ─ Einsetzung des Areopag, ein unbestechlicher, aber dennoch milder Gerichtshof. Das weiße Steinchen der Pallas. Aus einem entsetzlichen Cyklus von Verbrechen geht eine Anstalt hervor, die ein Segen für die Menschheit wurde. ─ Bedeutung der Aufnahme der besänftigten Furien in das athenische Gebiet. Nicht zu überschreitende Grenze im menschlichen Gemüt, ehrfurchtsvolle Vermeidung um innern Frieden zu bewahren.“ Das hier Angedeutete ist in den „Dramaturgischen Vorlesungen“ ausgeführt, ohne verändert oder erweitert zu werden. Äschylus, die, wenn sich diese verborgene innere Konstruktion des Stückes, auf die der Dichter wohlweislich mit keinem Worte direkt hingewiesen hat, nur der seinen Jntentionen nachgehenden Kritik entdeckt, doch ihrem zuständigen Forum, dem offen empfänglichen Gefühl, die vom Dichter beabsichtigte Wirkung mit eindringlichster Stimme kund thun. Äschylus aber wollte das aufgeworfene Problem nicht verschleiern, sondern ihm bis auf den Grund gehen. Die Frage liegt so: Blutrache am Blutsverwandten, von den Göttern zum Schutz der Dike, der Ausgleich verlangenden Gerechtigkeit, befohlen, wird von den Erinnyen als neue, unsühnbare Blutschuld verfolgt; wessen Recht ist das geltende? Die Erinnyen stützen sich auf das ältere, unzerstörbare Recht des Gewissens, das durch die Götter nicht aufgehoben werden kann, ja dessen Aufhebung die Götter nicht wollen können! Des menschlichen Gewissens, das ein Ausdruck ist des menschlichen Bewußtseins, dem also das Bewußtsein der menschlichen Schwäche, die göttlichem Richteramt nicht gewachsen ist, untilgbar innewohnt. Von diesem menschlichen Gewissen wird die That des Orestes, an und für sich genommen, verurteilt; und daß hierin das antike Bewußtsein mit dem modernen völlig eins war, das beweist uns eben die Dichtung des Äschylus, der sich nicht scheute der Frage bis in ihre innerste Tiefe nachzugehen. Wie führen nun die Götter, Apollon und Athene, ihre Sache zum Siege? Sie verlegen den Kampf grade auf das Feld, das die Erinnyen behaupten: aus dem Bewußtsein des Thäters rechtfertigen sie die That. Die Schicksalslage war eine solche, daß es zur Wahrung des Rechtes kein anderes Mittel gab, als daß der Sohn die Sühnung des auf dem Hause und auf dem ganzen Lande lastenden Frevels an der Mutter vollzog, denn derjenige, dem allein solche Sühnung nach göttlicher und menschlicher Ordnung zusteht, der Vater des Hauses und der König des Landes, war eben der frevelhaft Erschlagene selbst. Das ist die äußere Rechtfertigung der That; aus diesem vollberechtigten Sinne heraus erklärt sich auch die befremdliche, scheinbar so stark sophistische Argumentation, durch die Apollon das höhere Anrecht des Vaters an solche blutige Sühnung vor dem natürlichen Recht der Mutter auf Schonung beweist. Es handelt sich darum, den Grundstein der Rechtsordnung im patriarchalisch=absolutistischen Staat zu sichern. Aber von weit größerem Belang ist die innere Rechtfertigung des Muttermörders. Jm Auftrage der Moiren und des Zeus, des Walters der Dike, hat Apollon ihm die That geboten; aus reinem Antrieb also hat er sie unternommen; daß er als Mensch dem ungeheuren Auftrage nicht gewachsen ist, muß er büßen: es ist eine Schuld, die er der Natur zahlt! Aber er büßt die That, er zahlt die Schuld, er gewährt der Natur ihr volles Recht! Ein Orestes, der das nicht thäte, den nicht „des Herzens Entsetzen“ zum Opfer der Erinnyen machte, wäre kein tragischer Held. Ein harter Politiker wäre er, dem vielleicht in Herrschaft und Sieg eine Zeit lang glänzender Erfolg zur Seite stehen würde, bis den Gefühllosen und der Hoheit der Jdee Fremden von einer andern Seite her Sturz und Verderben ereilen würde. Der tiefe, bis zum Wahnsinn quälende Schmerz des Orestes ist das eine Moment seiner Reinigung; das zweite sein festes, hingebendes Vertrauen auf die Gottheit, die er glaubt. Seine Sühnung und Freisprechung ist keine leere Form, sondern sie hat den tiefen Sinn, daß auch das fernere Leben des Mannes von frommer Furcht und heiliger Scheu der Götter erfüllt sein wird, bei denen er Zuflucht gefunden hat. So läßt der Dichter ihn sprechen, nachdem seine Freisprechung erfolgt ist: O Pallas, o du meines Hauses Retterin! Jn meine Heimat hast mich Heimatlosen du Zurückgeführet! Heißen wird's in Hellas nun: Der Mann von Argos ist Argeier wieder, wohnt Jn seines Vaters Habe wieder; Pallas gab's Und Phoibos und der dritte allvollendende Zeus Soter, der vielehrend meines Vaters Los Wohl sieht der Mutter Vertreter dort, doch mich bewahrt! Die Stimmen der Richter sind gleich, aber Athene gibt den Ausschlag zu Gunsten des Rechtes der neuen Götter gegen die ausschließliche, ausnahmslose Geltung der durch die Erinnyen vertretenen, blinden Blutrache. Aber nicht soll die Furcht vor ihrer uralten Macht aufhören. An die Stelle der blutigen Rache, die fortzeugend immer neue Greuel gebiert, soll ein geordnetes Gericht treten, das höchste und heiligste, das der Götter Wille und Gesetz auf Erden vertritt. Den Erinnyen aber oder vielmehr den „Eumeniden“, wie die „Freundlichen“ ( εὔφρονες ) besser genannt werden, wird auf das feierlichste durch Athene die ewige, unverbrüchliche Geltung ihres Rechtes verbürgt. Ja noch mehr! Während sie sonst mit Grausen gefürchtet und verhaßt waren, sollen sie jetzt geachtet und verehrt werden; was bedeutet das anders, als dies: aus angstvollem Grauen soll heilige Ehrfurcht werden, aus grausendem Entsetzen fromme Scheu, die echte, kathartisch geläuterte Furcht. Die alte Furcht soll abgethan sein! Am meisten entgegen der dumpfen, schreckhaften Furchtbarkeit der in grauenhafter Gestalt erscheinenden Gorgonen ist der Gott, dem lautere Harmonie und helle, hohe Freudigkeit von Stirn und Auge strahlt, Apollon. Er nennt sie: Der Nacht ergraute Kinder, Weiber, denen nie Der Götter einer, nie ein Mensch, noch Tier sich eint, Des Bösen wegen sind sie da; sie hausen drum Jm bösen Dunkel unten tief im Tartaros, Der Menschen Abscheu und der Götter im Olymp. Und auf den Vorwurf der Erinnyen, daß er dem Muttermörder Schutz gewährt: Mit solchem Blutgreul, Seher du, an deinem Herd Schändest dein Haus du selbstwilligend, selbstberufend, Der du die Menschen ehrst wider der Götter Recht, Der Moiren Macht, der uralten, brichst! erwidert er: Fort! meiner Wohnung dürfet ihr nicht nahe sein! Nein da, wo mörderköpfendes, augauswühlendes Gericht, wo Mordgemetzel, frevele Fehlgeburt, Entmannung, Schändung, alles Jammers Übermaß, Wo Aufgespießte jammerlaut, Gesteinigte Verröchelnd wimmern! Habt ihr nun genug gehört, Um welche Festlust, dran ihr euch ergötzt, verhaßt Den Göttern ihr seid? Eine neue, aus dem inneren Wesen der Dinge urteilende Rechtsauffassung tritt der alten, starren, mechanisch nur den Thatbestand erfassenden Racheübung entgegen. Den Muttermörder heißt Apollon „zur Reinigung sich herzuwenden zu ihm“, während er die Blutthat der Klytämnestra schonungslos verfolgt: jene wenden umgekehrt ihren ganzen Grimm auf Orestes und müssen sich von Apollon vorwerfen lassen, daß sie „lau genug“ sind, den Ehebruch und Gattenmord Klytämnestras „nicht zu strafen“ oder doch „sichtlich viel gelassener aufzunehmen“. So repräsentieren die Erinnyen die uralte Naturgewalt des Fluches, der auf dem vergossenen Blut des Verwandten, Befreundeten ruht, am schwersten auf dem „niedergeflossenen, unwiederbringbaren Mutterblut“. Nicht kann Apollon, nicht Athenes heilige Kraft Dich schützen, daß du nicht von meiner Wut verfolgt Verkommst, vergissest, wo im Herzen Freude weilt, Du meine Weide, Blutes leer, ein Schatten bald! Lebendig mußt du mich laben, nicht geopfert erst! Hör unser Bannlied, dich zu fesseln und zu fahn Und nun erheben sie ihren „furchtbaren“ Gesang, „Verstörung, Wirrsinn, Wahnsinn bringend, harfenlos, den Sinn zu fah'n, welk zu dörren Menschenkraft!“ Hier gibt es keine Milderung, kein Vergeben, kein Vergessen: „Ein irrendes Dunkel umnachtet die Schuld der Gehetzten, Gestürzten, und von dem Schatten, der finster durch sein Geschlecht hingeht, redet tausendfacher Mund!“ Denn listenreich sind wir und des Ziels gewiß, Rächerinnen aller Schuld, furchtbar; Allunerbittlich jedem Flehn, Handhabend, verachtet, haßbringendes Amt, Den Göttern abgewandt, in sonnenlosen Lichtes Dämmrung, Pfadunerforschlich dem sehenden Auge Und dem blöden Blick zugleich. Wo ist ein Mensch, welcher nicht erbangt, erbebt, Wenn er anhört meines Amtes Satzung, Von Moira gottbeschieden mir, Daß ich es völlig erfülle, verhängt! Das ist mein altes Ehrenamt, und keine Schmach trifft mich, Hausen wir auch in den Tiefen der Erde, Und in sonnenleerer Nacht! Hier trifft also die sinnvolle, zur Milde geneigte Auffassung der Gerechtigkeit mit der unerbittlichen Starrheit des alten unentwickelten Rechtsbewußtseins in hartem Kampf zusammen. Aber auf seine Höhe gelangt das tragische Schauspiel erst, als durch Athenes Entscheidung die Sache des Orest den Erinnyen entzogen und den dazu bestellten Richtern übergeben ist. Von einer ganz andern Seite läßt nun der tiefsinnige Dichter den Chor der Erinnyen sich zeigen. Trat vorhin das Übermaß ihres Wesens, das der klärenden Erwägung Unzugängliche ihres grausen Waltens hervor, so liegt jetzt die Gefahr vor, daß ihr Walten an seiner Wurzel geschädigt werde, daß mit dem drohenden Einbruch in ihre von uralters her geheiligte Sphäre ihr Ansehen eine unheilbare Abschwächung erfahre, daß die Furcht vor ihnen unter den Menschen dahinsinke. Auch diese Wendung ist nur ein notwendiger Zug in der Entwickelung der Schauspielhandlung, aber das Schauspiel tritt ganz in die Sphäre der Tragödie ein, wenn nun der Chor in wildbewegter Klage den Sturz aller sittlichen Ordnung verkündet und in überwältigender Hoheit jetzt, da er die Grundfesten seines Rechtes erschüttert glaubt, dessen wahren, ewig unzerstörbaren Kern zu erkennen gibt. Schon hier beginnt die große Jdee dieses Dramas hervorzutreten: zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig der Nemesisempfindung die rechte Mitte zu suchen, die Entsetzensangst zu bannen und die echte Furcht zu finden, die nur da erscheint, wo sie mit dem echten Mitleid sich gattet! So strömt nun die leidenschaftliche Klage der Erinnyen hervor: Alles alte Recht, es stürzt jetzt dahin, Wenn des gottlosen Muttermörders Schuld Vor Gericht siegen darf! Allzumal lockt die Menschen dieser That leichtes Spiel zu gleicher That; Offenkundig, von Kindeshänden Freche Gewalt, geahndet nicht, ist hinfort der Eltern Los! Nicht der Blutmänaden Zorn ferner noch Menschenschuldspähend schleicht er nach der Schuld; Allen Mord geb' ich frei! Und umsonst andre forschend anderswo, schildernd was und wie's geschah, Suchen dess' ein End' und Abwehr ; Alle die Mittel, die ein Thor eitel rät, sie helfen nichts ! Bald aber wendet sich ihr Lied von der zürnenden Klage zu dem erhabensten Ausdruck ihrer ewigen Sendung: Auch der Schrecken dient zum Heil! Warnend soll er für und für Hüter sein der Leidenschaft! Denn es frommt, Maß zu halten durch den Zwang. Wer, in dessen Herzen nicht Weilt und Wurzel schlägt die Furcht, Einzelwesen oder Volk, scheute sonst wohl noch das Recht? Zügellosem Leben nicht, Nicht dem bangen Sklavensinn Sei der Preis! Gott hat die Stärke der Mitte gesellt, und er blickt Hinweg von dem andern. Gleichen Sinnes ruf' ich drum: Mangelt die Scheu, hat der Frevel gewißlich das Feld; Geistes Gesundheit Aber entsprießt der vielgeliebte, Allen ersehnte Segen! Die Droysensche Übersetzung, nach der sonst mit geringen Abänderungen citiert ist, konnte für diese beiden letzten Strophen als ungenau und unzulänglich nicht benutzt werden. Die vom Verfasser gegebene Übersetzung folgt dem Hermann schen Text, nur im Beginne der ersten Strophe die ursprüngliche Lesart herstellend (V. 510, 511) und in V. 512 das unrichtige δειμαίνει der Handschrift statt, wie G. Hermann, in δειμανεῖ in δεῖ μένειν umändernd. Noch dürfte die Wiedergabe von V. 522, 523 zu rechtfertigen sein: παντὶ μέσῳ τὸ κράτος θεὸς ᾤπασεν ἄλλ' ἄλλᾳ δ' ἐφορεύει . „Jeder Mitte hat Gott die Kraft beigegeben, auf anderes aber blickt er anders. “ Wie hätte der Dichter aber seine Absicht deutlicher kund geben können, als indem er die Göttin Athene, da sie nun den Areopag, jenes höchste, heilige Gericht einsetzt, das den Orestes den Erinnyen entzieht, ihre hochbedeutenden Worte im engsten Anschluß diesem Chorgesange entnehmen läßt, in welchem die verletzten Göttinnen ihr unzerstörbares Recht so ergreifend verkünden? Es sei versucht, die Rede in der fast wörtlichen Übereinstimmung mit dem Chorlied wiederzugeben, wie das Original sie bietet: Hier soll fromme Scheu, Es soll die ihr verwandte Furcht der Bürger hier Wacht halten und dem Unrecht wehren Tag und Nacht. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ Gleich fern von Zügellosigkeit und Sklavensinn Zu bleiben, sei dem Volke heiliges Gesetz! Doch auch des Schreckens sei es völlig nicht befreit: Denn wer der Menschen, der nichts fürchtet, bleibt gerecht? Bewahrt ihr fromm euch solche Ehrfurcht, treu dem Recht, Dann schaffet ihr ein Bollwerk eurem Land, der Stadt Ein schützend Kleinod, wie die Welt kein gleiches kennt. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ So setz' ich diesen Rat zum unbestechlichen, Ehrwürdig milden, strenge strafenden und für Die Schlummernden stets wachen Hüter dieser Stadt. Damit ist die Versöhnung in nahe glückliche Aussicht gerückt; denn diese Worte zeigen, daß Athene den Kern des Erinnyen-Rechtes nicht G. Hermann in den Anmerkungen Bd. II, S. 612 erklärt: „ alia enim aliter gubernat “, i. e. alia aliis rebus pro suo arbitrio attribuit. Scholiastes, quid in mente habuerit, non ausim dicere. Verba ejus haec sunt, ἄλλα ἄλλως ἐφορᾷ ὁ θεός· ἔσθ' ὅπη δέους . G. Hermanns Jnterpretation ergibt keinen scharf auschließenden Sinn, noch weniger Droysens „ Ob andres anders er scheide “. Die Worte sind jedoch keineswegs ein müßiger Zusatz, sondern von wichtiger und fest eingefügter Bedeutung. Jn dem ganzen Gesange handelt es sich um die Furcht: sie soll weder fehlen noch zu stark, knechtisch, sklavisch, sein. Der Mitte (dem μέσον ) allein wohnt die Kraft bei. Sie also sieht der Gott günstig, gnädig an und stattet sie reich aus. Dazu die emphatisch ausgedrückte Ergänzung: „ anderes “, d. i. was über die Mitte hinaus oder unter ihr liegt, „sieht der Gott anders, mit anderem Auge, an“, d. i. ungnädig, er versagt ihm die Kraft. Der verhüllte Ausdruck deutet den Zorn des Gottes an, im Gegensatz zu seinem Segen. Also: „ und er blickt hinweg von dem andern! “ Der Scholiast hat ganz richtig interpretiert: „Der Gott sieht auf anderes anders hin: ἔσθ' ὅπη δέους , d. h.: „es handelt sich darum, auf welche Stelle der Furcht sc. er blickt;“ nämlich auf ihr Zuviel oder Zuwenig. Die „ symmetrische “ Fortführung der Stelle durch die Erinnyen bestätigt diese Auffassung auf das vollkommenste: ξύμμετρον δ ' ἔπος λέγω u. s. w. antasten will. Zwar zunächst scheint die Heftigkeit des Kampfes sich zum äußersten zu steigern, denn die wirklich nun, und zwar durch Athenes Stimme erfolgende Freisprechung des Orestes reizt die Gekränkten zu wild empörter Wut und schrecklichster Drohung. Erst dem unermüdlich wiederholten Zuspruch der Athene gelingt es, sie zu besänftigen: Jhr aber wollt nicht schweren Haß auf dieses Land Ausschütten, nicht so zürnen, nicht Fruchtlosigkeit Verhängen, Giftschaum niederspeiend, scheußlichen, Der grünen Saat zerfressenden, schonungslosen Brand. Denn ich gelob' euch und verspreche feierlich, Daß ihr an rechter Stelle Sitz und Heiligtum, An reichem throneshellen Herd zu weilen hier Euch sollt gewinnen, meinen Bürgern fromm verehrt. Und weiter, der erneuten Klage gegenüber: Bring deines Jngrimms schwarzen Wogensturz in Ruh, Die ehrenhehr du, stadtvereint mir werden sollst. Und wenn dir einst Erstlinge dieser weiten Au, Dir Opfer für der Kinder, für der Ehen Heil Geweihet werden, loben wirst mein Wort du dann! Vollends deutlich tritt der Sinn der Dichtung in der folgenden Gegenrede der Göttin gegen die immer erneut andringende Klage der Erinnyen hervor. Neben der Verehrung der übrigen Götter soll ihnen ein geordneter Kultus zu teil werden, auch für sie sollen zum heiligen Hause des Erechtheus empor Festzüge der Männer und Frauen wallen. Aber diese göttliche Verehrung soll nur jenem berechtigten Kern ihres Wesens erwiesen sein, den Athenes weiser Spruch unangetastet gelassen hat. Aufhören soll die wilde Aufreizung zu blutigem Hader, zu verwildertem Haß, zu jener Trunkenheit fortrasender Wut, die die eigene Heimat zum Schauplatz erbitterten Kampfes macht, als ob in solcher Sitte der Blutrache und Geschlechterfehde der Mut der Jugend, die Kraft der Männer sich erprobe. Jm Kampfe gegen den äußeren Feind sei fortan die Stelle für den Wettkampf des Mutes und für edle Ruhmesliebe: Das nun zu wählen laß von mir dich lehren, daß Wohlthuend, wohlempfangend, wohlgeehrt, du teil An meinem Lande nehmst, dem gottgeliebtesten. Nicht müde wird die Göttin, die immer noch Grollenden mit dem Zauberwort freundlicher Überredung zu besänftigen, sie geordneter Verehrung, nimmer erlöschenden Ansehens zu versichern, bis endlich ihr Zorn weicht und sie sich gewinnen lassen. So werden nun die Furchtbaren zu den „ Wohlwollenden “; der „ Eumeniden “ hohe unverbrüchliche Verehrung soll hinfort dem Lande und dem Volke eine Quelle reichen, herrlichen Segens sein. Gnadenmild und holdgesinnt rufen die so Verwandelten nun die Horen und ihre Mutterschwestern, die hohen Moiren, um ihren vollen Schutz für das Land an, wo sie selbst Wohnsitz gefunden haben, wo fürder kein Haus ohne sie je gedeihen soll, wo erhöht wird, wer sie verehrt. Die tiefsinnige Chorstrophe ist nach ihrem vollen Gehalt unübersetzbar, denn sie umfaßt symbolisch den großen Gedanken des ganzen Dramas. Es ist eine Bestätigung und Ausführung des früheren Spruchs: δυσσεβίας μὲν ὕβρις τέκος ὡς ἐτύμως· ἐκ δ ' ὑγιείας φρενῶν ὁ πᾶσι φίλος καὶ πολύευκτος όλβος . „Der Scheulosigkeit Kind ist der Frevel gewiß; doch aus Gesundheit des Sinnes kommt allgeliebtes, vielersehntes Glück.“ Dieser selbe Gedanke wird nun von der Seite der des Gedeihens und des Segens waltenden Gottheiten ausgedrückt. Nicht fürchterlich rächend soll ferner der Rechtssinn wirken, sondern wohlthätig sich einfügend in die allgemeine feste Ordnung. Das wilde Übermaß der die Schicksale begleitenden Affekte ist in heilige Schranken eingedämmt, daß es nicht mehr zerstörend hervorbricht, sondern in der hohen Verehrung der „wohlgesinnten Gottheiten“, der gewaltigen Eumeniden, zu dem „gesunden“ Maß, zu jener „rechten Mitte “ geläutert und gereinigt werde, der Zeus die Kraft beigesellt und die Glücksgewähr gesichert hat. Die Gesetzeswalterinnen solchen geordneten Schicksals sind nach griechischer Religionsvorstellung die Moiren, die Vollzieherinnen aber, die nach den ewig geltenden Gesetzen die Schicksale wohlthätig zu ihrer rechten Zeit heraufführen, sind die Horen, die Töchter der Themis. Die Moiren galten als Schwestern der Themis; nach in die Theogonie eingeschobenen Versen werden sie jedoch auch als Töchter derselben angenommen. Äschylus, der sie mit Bezug auf die Horen ματροκασιγνῆται nennt, kann sowohl das eine als das andere im Auge gehabt haben, denn das Wort kann ebensowohl „Mutterschwestern“ bedeuten als „Schwestern von der Mutter her“. (Vgl. G. Hermann: Äschyl. Bd. II, S. 641 ff.) Welchen überwältigenden Eindruck mußte es im Gemüt der griechischen Hörer hervorbringen, wenn nun die „Furchtbaren“ freundlich gesonnen, ihre immerwährende, Verderben abwehrende Gegenwart zusagen und, sie selbst, die bis dahin angstvoll Gefürchteten, von den Moiren und Horen den Segen für jedes Haus und für jede Stunde, was sie nach der Zeiten Gesetz in ihrem Schoße berge, herabfleh'n! Diesen Eindruck würde auch die gelungenste Übersetzung nicht wiederzugeben So mag denn Athene es rühmen: Wohl hab' ich gethan, vorsorgend dem Volk, Daß in unsere Stadt ansiedelnd ich auf Die gewaltigen, schwer zu versöhnenden nahm ─; Denn zu schaffen der Sterblichen Wohl und Weh Ward ihnen zu teil; Wem sie nicht hold, nicht weiß er, woher Jhn treffen die Schläge des Lebens; Denn die Schuld von den Vätern ererbet, sie treibt Jhn in ihre Gewalt; und ein lautlos End', Ob er laut auch prahlt, Es vergräbt ihn in grauser Vernichtung! Und wenn sie so in dem Groll der Erinnyen den Urgrund des tragischen Geschickes aufgewiesen hat, so zeigt sie in der Gesundung des Sinnes, in der Klärung des Grausens zur Ehrfurcht den Quell des Gedeihens und Glücks: vermögen. Doch sei eine möglichst genau dem Wortlaut folgende Wiedergabe versucht, um die im obigen Texte vertretene Auffassung zu rechtfertigen (vgl. Äschyl. ed. G. Hermann, V. 943─952): ἀνδροκμῆτας δ ' ὰώρους ἀπεννέπω τύχας , νεανίδων τ ' ἐπηράτων ἀνδροτυχεῖς βιότους δότε, κύρι' ἔχοντες , θεαί τ' ὦ Μοῖραι, ματροκασιγνῆται , δαίμονες ὀρθονόμοι , παντὶ δόμῳ μετάκοινοι , παντὶ χρόνῳ δ ' ἐπιβριθεῖς ἐνδίκοις ὁμιλίαις , πάντᾳ τιμιώταται θεῶν . Menschen vor der Zeit entraffend Schicksal halt' ich fern! Doch der Liebe Bund, o schenkt Menschenerhaltende Dauer, ihr Göttinnen, waltend Des Amtes, und Moiren, schwestergesellt, auch ihr, Hütend der Ordnung Gesetz, Heimisch an jeglichem Herde, Segens für jegliche Zeit reich Jedem Bund nach heil'gem Recht, Überall der Götter höchst verehrte! Für das griechische Ohr war der Gedanke an die „ Horen “, obwohl sie nicht genannt, sondern nur ihrem Wesen nach bezeichnet sind, schon durch den Gegensatz zu den τύχαι ἄωροι des ersten Verses, ebenso durch das Epitheton παντὶ χρόνῳ δ ' ἐπιβριθεῖς gegeben, ganz abgesehen davon, daß sie mit den Moiren in Gemeinschaft zu denken als die das von jenen geordnete Geschick den Menschen bringen, eine der gewohntesten Vorstellungen der griechischen Religion war. Von der furchtbaren Schar der Erinnyen seh' Jch erblühen dem Volk vielteuren Gewinn! Wenn die Freundlichen ihr mit freundlichem Sinn Hochehret hinfort, Wird Land, wird Stadt euch blühn allzeit Jn der Übung heiligen Rechtes. Mit dem feierlichen Festzug der Eumeniden zu ihrem neuen Heiligtum unter dem Jubelruf der Geleitenden schließt das Stück. Mit wenigem sei nun noch auf das wunderbar großartige Werk des Sophokles hingewiesen, das in seiner Art so einzig dasteht wie das des Äschylus; obwohl er den Stoff so völlig verschieden behandelt. Hier hat die Symbolik keine Stelle, die Handlung ist aus dem Reiche des Wunderbaren ganz in das rein Menschliche gerückt. Sophokles hat es vermieden die tiefe, schwer zu lösende Frage der Sühnung des Muttermordes anzurühren; er umgeht sie ganz und gar, indem er die Person des Orestes in den Hintergrund treten läßt vor der tragischen Heldin des Stückes, Elektra. An die Vollziehung der That durch Orestes wird keinerlei Reflexion geknüpft, ebenso wird der Spruch des Apollo, der bei Äschylus, mit so starkem Nachdruck hervorgehoben, den Angelpunkt der Handlung bildet, einfach berichtet, ohne daß die Stellung des Thäters zu seiner Aufgabe weiter erörtert würde. Die ganze Motivierung der That ist damit in Elektras Seele und Charakter gelegt: sie ist die Personifikation jenes unbeugsamen und unerbittlich auf Vollzug dringenden Ethos, welches mit heroischer, alles Bedenken ausschließender innerer Gewißheit und Kraft, im Bewußtsein der inneren Reinheit die Forderung der Nemesis, der Dike vertritt. Nichts kann sie davon abbringen, keine Lockung von Glück und Behagen, sie zieht ein düstres Leben lange währender härtester Entbehrung, schwerster Bedrückung, ja die Aussicht auf das höchste, schreckhafteste Leiden der Versuchung vor auch nur einen Augenblick dem ihre ganze Seele erfüllenden Gedanken und Empfinden ungetreu zu werden. Ja, als die Nachricht von Orestens Tode alle ihre Hoffnungen daniederschlägt, als nichts als Öde und Verzweiflung mehr auf ihrem Wege zu liegen scheint, vermag auch das die heroische Kraft, von der ihre Seele glüht, nicht zu brechen: sie selbst ist nun entschlossen die That allein zu vollbringen, unbeirrt den Weg zu beschreiten, der ins Grauenvolle, unerhört Entsetzliche führt. Das heroische Ethos dieses tragischen Charakters ins hellste Licht zu setzen, dazu hat Sophokles die ganze Kraft seiner Kunst aufgeboten. Es könnte nun scheinen, er habe seine Aufgabe sich so gestellt ─ und das ist die herkömmliche Auffassung dieser Tragödie ─, daß die Tragik des Stückes in der Ausführung der furchtbaren Rachethat, die das Schicksal den Kindern auflegt, beruhe, und daß die Rechtfertigung der That in der fleckenlosen Reinheit der Gesinnung gegeben sein solle, die Elektra gewissermaßen zu der Seele der rächenden Sühnung macht, ihr fast die gleiche Stellung zuweist, die der treibende Wille Apollons in des Äschylus Choephoren einnimmt. Aus eben dem Grunde hätte er Orestes, der seine Hand mit der Ausführung des Mordes beflecken muß, zurücktreten lassen und Elektra, gleichsam als die hohe, reine Priesterin der Nemesis, zur Heldin seiner Dichtung erwählt. Jn einer solchen Auffassung läge nichts Falsches; dennoch müßte sie zum Mißverständnis des Meisterwerkes führen, weil sie nur die eine Hälfte der Wahrheit enthielte und mit der Unterdrückung der zweiten, höchst wesentlichen, die Erkenntnis des eigentlichen Zieles der tragischen Wirkung unmöglich machte. Es ist leicht zu erkennen, wie der Dichter die höchste Kunst angewendet hat, um alle erdenkbaren Motive zur Erklärung und zur Rechtfertigung der That, auf deren Vollziehung Elektras ganzes Sinnen gerichtet ist, zu vereinigen. Gewiß ist er darin siegreich. Trotzdem ist es ihm nicht gelungen, das Gefühl heftigen Widerstrebens zu überwinden, mit dem wir auf die diamantharte Unversöhnlichkeit der Tochter blicken, welche die Abschlachtung der Mutter mit dem Frohlocken des befriedigten Gerechtigkeitssinnes begleitet! Nicht für unser modernes Gefühl ist ihm das gelungen; daß aber die Empfindungsweise der Alten in diesem für die Beurteilung der Sache wesentlichsten Punkte der unsern durchaus verwandt war, dafür zeugt die großartige Vertiefung, die Äschylus der Lösung der Frage zu geben für erforderlich hielt. Nicht das moderne, sondern das menschliche Gefühl muß durch die Elektra des Sophokles tief verletzt werden, sobald man sie in der angegebenen Weise auffaßt; daran kann kein Zweifel sein. Aber rätlich dürfte es erscheinen, ehe man der Größten einem auch nur in dem einen Falle den Mißerfolg seiner Absicht vorwirft, zu zweifeln, ob man denn auch seine Absicht recht erkannt habe. Selbst die Art, wie einer der besten Kenner und feinsten Beurteiler des Altertums über den Gegenstand ins reine zu kommen sucht, kann unmöglich befriedigen. Otto Jahn zieht in der schönen Abhandlung über „ Goethes Jphigenie auf Tauris “ S. O. Jahn, „Populäre Aufsätze aus der Altertumswissenschaft“ (Bonn 1868). S. 376 ff. neben der Orestie des Äschylus auch des Sophokles Elektra in ausführliche Betrachtung. Er kommt bei beiden zu dem Schlusse, daß sie unserer modernen Denkart kein Genüge leisten können. „Vielleicht,“ sagt er, „hat Sophokles, der Meister der psychologischen Tragödie, nicht geglaubt, durch dichterische Behandlung dieser Sage den Widerstreit in der Seele des Muttermörders befriedigend lösen zu können. Mindestens hat er in der Tragödie, welche den Muttermord des Orestes zum Gegenstand hat, in seiner Elektra, einen ganz andern Weg eingeschlagen als Äschylus, indem er sich an die ältere Auffassung des Epos anschloß.“ Dieser erschien, wie O. Jahn ausführt, die Blutrache als eine große heroische That. „Aber,“ fährt er fort, „seine Aufgabe war es, dem, was er seinem Publikum als Thatsachen der Sage vorführte, dichterische Wahrheit zu verleihen. Der Befehl des Gottes war allerdings ein bedeutendes Motiv, allein um wahrhaft wirksam zu werden, mußte es als ein Gebot höherer Sittlichkeit nachgewiesen werden, wie es Äschylus in seiner Weise versuchte. Die größte Schwierigkeit aber war, die That des Orestes und sein Verhalten zu derselben begreiflich zu machen und dadurch zu rechtfertigen. Ein wirksames Mittel war die Darstellung der Klytämnestra als einer Frau, welche ihre Pflicht als Gattin und Mutter so gänzlich vergessen hat, in Selbstsucht und Buhlerei so untergegangen ist, daß sie keinen Anspruch mehr auf Mitgefühl hat. Jndessen, wie sehr sie auch die härteste Strafe verdient haben mag, der Anstoß, daß der Sohn sie an ihr vollziehen muß, wird dadurch nie beseitigt. Jeder Versuch aber, seinen Seelenzustand zu zergliedern und im Verlauf des Dramas aus den verschiedenen Stimmungen und Erwägungen des Orestes die That hervorgehen zu lassen, mußte scheitern, denn sobald ihn in irgend einem Moment Zweifel an der Berechtigung seines Handelns ergriffen, waren diese nur durch ein Zurückgehen auf überwundene Anschauungen einer roheren Zeit oder durch Sophismen ohne überzeugende Kraft zu beseitigen. Mit der Genialität des wahren Dichters ist Sophokles diesen Schwierigkeiten begegnet, indem er den vom Orakel gebotenen Muttermord als ein unabänderliches Faktum, Orestes nur als Werkzeug des göttlichen Willens darstellt, die psychologische Motivierung dagegen in eine Persönlichkeit verlegt, welche an der That selbst nicht beteiligt, aber von allen hier einwirkenden Verhältnissen ebenso nahe berührt ist, als der Thäter selbst. Was Elektra erlebt und empfindet, gibt dem Zuschauer das Gefühl, daß Orestes berechtigt ist, die grauenvolle That zu vollziehen.“ Und das hieße der Schwierigkeit „ begegnen “? und obenein „mit der Genialität des wahren Dichters“? Es hieße der Schwierigkeit aus dem Wege gehen, es wäre die Art des schwächeren Dichters, über die Tiefe der geöffneten Kluft hinwegzutäuschen und durch die Künstlichkeit der Behandlung dem Jnteresse die Richtung auf andere, für das Wesen der Handlung nicht entscheidende Dinge zu geben! O. Jahn verfehlt nicht, in der sich anschließenden, eingehenden Jnhaltsangabe des Stückes auf die feinen Kunstmittel hinzuweisen, die der von ihm hervorgehobenen Absicht des Dichters dienen: das Mitleid mit der jammervollen Lage der Elektra, das der Chor ergreifend ausspricht, die Drohung ihrer Bedränger sie lebendig zu begraben, vor allem die Haltung der Klytämnestra, die durch ihre hochfahrenden Drohungen gegen die Tochter, zumeist aber durch den Hohn und Übermut bei der Nachricht von dem elenden Tode des Sohnes „sich vor dem Zuschauer selbst gerichtet hat, das letzte Band, welches ihre Kinder noch an sie fesseln konnte, zerrissen, so daß sie auf Mitgefühl keinen Anspruch mehr machen kann“. Endlich den Entschluß der Jungfrau selbst die Mannesthat zu vollziehen. „Diese äußerste Anspannung der Leidenschaft macht es klar, bis zu welchem Grade alle Verhältnisse, wie sie die Natur zwischen Eltern und Kindern gegründet hat, zerrüttet sein müssen, daß ein solcher Entschluß in der Brust der Jungfrau entstehen konnte; man empfindet es als eine Wohlthat, wenn nun Orestes für sie eintritt und gewissermaßen als der Berufene, die schwere Pflicht auf sich nimmt. Hat Elektra bisher nur leidenschaftliche Äußerungen der Klage, des Hasses und der Rache kundgethan, so muß der Zuschauer auch die Überzeugung gewinnen, daß diese nicht einem herben und harten Gemüt entspringen, daß ihr Herz auch den weichen und innigen Gefühlen der Liebe und Zärtlichkeit offen ist. Als Chrysothemis Elektra verlassen hat, tritt Orestes mit der Urne auf, in welcher sich angeblich die Asche des Gestorbenen befindet. Elektra empfängt sie mit den rührendsten Klagen weichsten Schmerzes, und als Orestes ihr dann den Trug offenbart, sich ihr als Bruder kundgibt, da strömt sie über in jubelnder Freude und kann sich ihres Glückes mit dem wiedergeschenkten Bruder nicht ersättigen; auch den treuen Pädagogen, den sie nun erst wiedererkennt, begrüßt sie mit überquellender Herzlichkeit. Nun erst ist man zu der Gewißheit gelangt, daß ein echt weibliches, tief empfindendes Gemüt nur durch schwere Verletzung in dem, was den Kern seiner liebenden Empfindung und seines sittlichen Gefühles ausmacht, bei starker Leidenschaft und seltener Energie zu solcher Bitterkeit und Heftigkeit gebracht werden konnte, nun erst hat man die Überzeugung von der Berechtigung dieses unauslöschlichen Rachegefühls gewonnen: die That selbst wird dem Zuschauer entzogen. Während Orestes drinnen Klytämnestra überrascht, verfolgt Elektra gespannt, was vorgeht, und nimmt durch die herben Worte, mit welchen sie die Ausrufungen der Klytämnestra begleitet, namentlich durch das furchtbare Wort, welches sie auf deren Jammern: ‚Weh mir! verwundet!‘ dem Orestes zuruft: Schlage zweimal, wenn du kannst! von neuem die Verantwortung für das, was er thut, gewissermaßen auf sich. Nachdem die Rache vollzogen ist, verhindert das Erscheinen des Ägisthus jede nähere Betrachtung über das was geschehen ist. Sein übermütig rohes Benehmen, das Unwillen und Verachtung erregt und die verdiente Strafe herausfordert, drängt nicht nur die Tötung der Klytämnestra zurück, sondern wirft auch den Schatten des Gefühls, daß hier nur Gerechtigkeit geübt wird, auf die Genossin seiner Frevel zurück.“ So richtig diese Hinweisungen an sich sind, dergestalt, daß die Citierung derselben ein weiteres Eingehen auf die hier hervorgehobenen Züge überflüssig macht, so höchst unsicher sind die daraus gezogenen Schlüsse: „nun erst hat man die Überzeugung von der Berechtigung dieses unauslöschlichen Rachegefühls gewonnen“? als ob dieselbe je einen Augenblick zweifelhaft sein könnte! Und was für ein gezwungenes und unhaltbares Argument, daß Elektra durch jene „furchtbaren“ Worte „von neuem die Verantwortung für das, was Orestes thut, gewissermaßen auf sich nehme“! O. Jahn hat auch ein deutliches Bewußtsein von der Schwäche dieser Konstruktionen gehabt, aber er weist sie dem Dichter zu statt seiner eigenen, in diesem Falle unzulänglichen Auffassung der Dichtung. „Sophokles,“ fährt er fort, „hat auch hier seine große Meisterschaft bewährt, das seiner Natur nach Verletzende in den Hintergrund zu stellen und als etwas rein Thatsächliches wirken zu lassen, und dadurch den Zuschauer frei zu machen, um dem künstlerischen Spiel der feinsten psychologischen Entwickelung mit reinem Genuß zu folgen. Wie sehr wir aber auch die Kunst bewundern, mit welcher er uns über das schwierige sittliche Problem hinwegzutäuschen weiß, so gelangen wir, denen jenes Thatsächliche eben kein wahrhaft Thatsächliches mehr ist, dadurch doch nicht zu vollkommener Befriedigung. “ Schwächer kann die Sache des Dichters nicht geführt werden. Es ist nicht die wahre Kunst, am wenigsten die des echten Genies, die über das schwierigste Verhältnis der Handlung statt die Empfindung mit klärender Gewißheit zu durchdringen, vielmehr das Gefühl in Täuschung zu erhalten sucht, und es wäre ein Kunstwerk von sehr untergeordnetem Werte, dessen Wirkung von dem Glauben an die Thatsächlichkeit seines sagenhaften Jnhaltes abhinge. Damit noch nicht genug! Auch die Forderungen an Form und Wesen der Tragödie, wie sie sonst in den tragischen Meisterwerken der Griechen erfüllt werden, müßten bei einer solchen Auffassung der Sophokleischen Elektra leer ausgehen. Denn grade die Umstände der Handlung, die deren tragische Vertiefung zuwege bringen, wären es, für deren Beseitigung der Dichter alle seine Kunst aufgewandt hätte; es bliebe nur die gerechte Bestrafung der Schuldigen übrig und zwar so, daß wider den Willen des Dichters, der uns die Handlungsweise seiner Heldin als völlig gerechtfertigt vorführen möchte, die Zuschauer die unabweisbare Empfindung einer Hamartie derselben erhalten, daß er also die an sich wenig tragische Wirkung, die er beabsichtigte, nicht einmal erreichte. Wie aber, wenn der Dichter grade diese Hamartie, ohne welche dem griechischen Empfinden das Tragische gar nicht vorstellbar war, gewollt hat, wenn sie ihm die Grundlage dieses Charakters bildete, wenn der Aufbau der tragischen Handlung grade durch sie bestimmt wurde? Nur die voreingenommene, falsche Meinung, daß man es hier mit einer Orestie zu thun habe, nicht vielmehr mit der Tragödie der Elektra, konnte die Täuschung darüber hervorbringen und erhalten. Man lese die Tragödie in diesem Sinne, man denke sie sich in diesem Sinne vorgestellt, und alles gewinnt ein ganz verändertes Ansehen! Wie erscheint diese Elektra auf der Bühne? Gramdurchfurcht, vom Leiden verzehrt, die königliche Gestalt von Kummer gebeugt, durch Entbehrung entstellt, zu Sklavendienst erniedrigt, ein Bild des Schmerzes, des Jammers, ist sie der Gegenstand tiefsten Mitleids für den Chor, den Chor der Dienerinnen des Hauses, denen sie zugesellt ist. Orestes vermag sie in dieser Erniedrigung nicht zu erkennen, und als er sie erkennt, erfaßt ihn Grauen und er bricht in laute Klage aus: „Du wärst Elektra! Wäre dies dein edles Bild? Und weiter: „Ha! dieser gottlos frevelhaft entstellte Leib!“ Aber nicht nur als ein Bild „unsel'gen Unglücks“ mitleiderweckend erscheint sie, sondern von flammendem Haß durchlodert, von dem langgenährten Feuer eines Rachegeistes durchglüht, das nur in dem Blute der Mörder ihres Vaters erlöschen kann: furchtbar! Hierin das Äußerste vor Augen zu stellen, das die menschliche Phantasie ersinnen kann, hat der Dichter sich vorgesetzt. Nur so ist die an Furchtbarkeit alles andere hinter sich lassende Scene zu erklären, die den Höhepunkt der Tragödie bildet: Weh, weh! Die Hallen, ach! Sind leer von Freunden, Mörder drohen rings umher! Da drinnen ruft man! Hörtet ihr's, o Freundinnen? Ja! Grauenvoll scholl es her! Hört' ich's nicht! Mich schaudert! Weh mir Unsel'gen! Wo, Ägisthos, weilst du doch? Schon wieder! Lautes Schreien! O, mein Kind! mein Kind! Erbarmen deiner Mutter! Hast du's denn gefühlt? Nicht mit dem Sohne und mit seinem Vater nicht ! Königlich Haus! O Geschlecht des Jammers! Heute Rafft dich hinab das Geschick! Du sinkst, du sinkst! Weh mir! Jch blute ! Triff sie doppelt, hast du Kraft ! Weh! Weh! Noch einmal ! Fiele doch Ägisthos mit ! Erfüllt der Fluch! Auferstehn, die das Grab drunten barg! Denn zurückgefordert Blut entsaugen schlürfend nun Den Mördern die vorlängst Gestorbnen! Auch hier konnte mit der Übersetzung nur Wiedergabe des Wortlauts erstrebt werden; denn wer vermöchte die ungeheure Wirkung des griechischen Originales nachzuahmen? Κλ . αἰαῖ· ἰὼ στέγαι φίλων ἔρημοι, τῶν δ ' ἀπολλύντων πλέαι . Ηλ . βοᾷ τις ἔνδον· οὐκ ἀκούετ', ὦ φίλαι ; Χορ . ἤκουσ' ἀνήκουστα δύστανος, ὥστε φρῖξαι . Κλ . οἴμοι τάλαιν· Αἴγισθε, ποῦ ποτ' ἄν κυρεῖς ; Ηλ . ἰδοὺ μάλ' αὖ θροεῖ τις . Κλ . ὦ τέκνον, τέκνον , οἴκτειρε τὴν τεκοῦσαν . Wie die verkörperte Ate, wie die Fluch-Erinnys des Hauses verschärft Elektra das Entsetzliche der That durch ihre Verwünschungen, während der doch mit seinem Empfinden weit minder beteiligte, ja durch die erlösende Rache eher zur aufatmenden Freude berechtigte Chor tief erschüttert, von Furcht und Mitleid bewegt, dem Schrecklichen mit ernstem, frommem Schauder gegenübersteht. Wie wäre es möglich, daß dieser grell hervorstechende Zug von dem Dichter ohne eine tief begründete Absicht verwendet sein sollte? Sophokles hat die Orestie als solche nicht zum Gegenstande seiner Tragödie gemacht; die Rachethat des Orestes bildet für die Handlung seines Stückes nur einen, allerdings unentbehrlichen Umstand. Der Jnhalt dieser Handlung ist das tragische Leiden der Tochter Agamemnons in dem durch den Mord des Vaters, durch das schmachvolle Treiben der Mutter und ihres gleich verächtlichen und gewaltthätigen Buhlen geschändeten Atridenhause, dieses Leiden verschärft durch ihre heroische Natur, die unfähig ist der Schande des Geschlechts schweigend zuzuschauen und nicht, wie sie mit ganzer Seele sie haßt, sie auch mit grenzenloser Hingebung zu bekämpfen; dieses Leiden zum Gipfel gesteigert durch den vermeintlichen Tod des Bruders, des geliebtesten Wesens, und durch den Verlust aller Hoffnung, verbunden mit der drohenden Aussicht auf äußerste Mißhandlung, ja den qualvollsten Tod: endlich durch eine erlösende Erkennung all dieses Unglücklichste abgewandt, das lange, schwere Leiden durch die Erfüllung der ersehnten sühnenden Rache geendigt, aber geendigt doch nur durch die furchtbarste Schreckensthat, den Mord der eigenen Mutter! Den Mord selbst zu vollziehen, erspart ihr das Schicksal, aber ihr tragisches Schicksal ist es, daß sie nach der Natur ihres Wesens ─ ihrer φύσις , die der Dichter sie so bedeutsam selbst bezeichnen läßt: die φύσις , die „ Natur “ dazu den Mord des Vaters zu strafen, hatte sie schon im zartesten Ηλ . ἀλλ' οὐκ ἐκ σέθεν ᾤκτειρεθ' οὗτος, οὐδ' ὁ γεννήσας πατήρ . Χορ . ὦ πόλις, ὦ γεννεὰ τάλαινα, νῦν σε μοῖρα καθαμερία φθίνει, φθίνει . Κλ . ὤμοι πέπληγμαι . Ηλ . παῖσον, εἰ σθένεις, διπλῆν . Κλ . ὤμοι μάλ' αἶθις . Ηλ . εἰ γὰρ Αἰγίσθῳ γ' ὁμοῦ . Χορ . τελοῦσ' ἀραί . Ζῶσίν οἱ γᾶς ὑπὸ κείμενοι . παλίρρυτον γὰρ αἷμ' ὑπεξαιροῦσι τῶν κτανόντων οἱ πάλαι θανόντες . Alter, damals als er geschah, nur die dazu erforderliche Einsicht fehlte ihr ἀλλ' ἦ φύσιν γε, τὸν δὲ νοῦν ἥσσων τότε . (V. 1023.) ─ und nach der Situation, in die sie gestellt ist, weit über die Grenze hinaus von der verzehrenden Glut des Sinnes, den die That erfordert, noch schwerer erfaßt wird, als sogar der Thäter selbst. Wie könnte auf dem starren Antlitz, das mit Begierde dem Schreckensruf der unter dem Schwerte zusammenstürzenden Mutter lauschte, je wieder ein Lächeln erblühen, wie könnte der Mund, der jenes gräßliche „Triff sie doppelt, hast du Kraft“ auszusprechen vermochte, je wieder zu einem Laut der Freude sich öffnen! Für Orest, den der Gott zum Werkzeug berufen, gibt es eine Entsühnung. Die Sage meldet davon, der Dichter setzt es voraus und berührt die Frage gar nicht: für Elektra ist das Leiden zwar beendet, aber das Glück, das ihr früh geraubt wurde, bleibt ihr auf immer entrissen. Einsam, düstren, herben Sinnes, tief verschlossen und dem hoffenden Leben abgestorben, wird sie den Fluch weiter forttragen, von dem Schicksal zu dem sterblichen Gefäß der göttlichen Nemesis erwählt gewesen zu sein. Die Elektra des Sophokles ist eine ethische Tragödie. Der Charakter der Heldin ist tragisch; tragisch durch seine Anlage und durch die Schicksalssituation, die diese Anlage zum verhängnisvollen Äußersten steigert. Nun aber die wunderbare Kunst, mit der er seine Aufgabe behandelt! Von ihr ist mit Recht zu sagen, daß sie das Genie des wahren Dichters zeigt, während es doch nur eine Pseudokunst zu nennen ist, die den Mangel des Wesentlichsten zu verdecken aufgewendet würde. Durch das ganze Stück hin zeigt uns Sophokles seine Heldin vor allem als einen würdigen Gegenstand unseres tiefsten Mitleides! Wir sehen ihr namenloses Leiden, wir erleben es mit allen seinen Steigerungen, wir erkennen, wie der heroische Adel ihrer Seele es ist, durch den es mit seinen immer tiefer einschneidenden Verschärfungen so qualvoll auf ihr lastet: seine Quellen sind ihre heiße, erhabene Verehrung des ihr entrissenen Vaters, ihre überquellende Bruderliebe, zu deren voller, mit überwältigender Rührung ergreifender Entfaltung der Dichter das Mittel der Anagnorisis zu höchster dramatischer Spannung verwertet hat, endlich ihre edle Gerechtigkeitsliebe, der den brennenden Schandfleck der Schmach ungetilgt thatenlos fortwährend vor Augen sehen zu müssen die höchste Qual ist. Sie leidet und sie leidet unverdient, ja um dessentwillen, das sie des schönsten Ruhmes wert macht. Solches tragische Leiden sichert ihr unser volles Mitleid. Hier wäre jedes Wort des Nachweises überflüssig. Mit gleichem Bedacht aber hat der weise Dichter durch das ganze Stück hin, von seinem ersten Beginn bis zum Schlusse, der Darstellung des Edelsinns und des Leidens die scharf bestimmte Zeichnung der Hamartie hinzugefügt, jener Überschreitung des Maßes, wodurch ihre Gesinnungsweise so verhängnisvoll für sie wird. Nicht als ob dieser unversöhnliche Haß, diese stürmende Heftigkeit, diese unbeugsame Starrheit eine Schuld der Elektra bedeuteten, durch die sie ihr Leiden verdiente! Aber die wirkende Ursache, die ihr Unglück zur tragischen Höhe steigert, liegt allerdings in diesem Fehler ihres Charakters, nur daß dieser Fehler nach menschlicher Weise von der heroischen Kraft, der imponierenden Größe ihrer Seele untrennbar ist. Und hierin liegt die Furchtbarkeit dieser düster=tragischen Erscheinung! Es liegt darin zugleich die Allgemeinheit der tragischen Darstellung dieses Einzelfalles. Jmmer und überall wird so die fleckenlose Reinheit dem Verbrechen und dem Laster, in deren Händen die Herrschaft ist, gegenüberstehen, immer wird das unterdrückte Gefühl der Gerechtigkeit, dem die Mittel fehlen sich selbst Genüge zu schaffen, mit diesem unbezähmbaren Trotz, dieser stolzen, ungezügelten Verachtung, diesem lodernden Jngrimm dem Unrecht und der Schmach, die es nicht vernichten kann, wenigstens die eigenen Züge zeigen; immer wird der verzehrende Schmerz um die ungesühnte Schändung und Vertilgung des Teuersten so in lang genährter Qual auch in der Brust der Edelsten endlich jede Regung der Milde, jede Spur des Erbarmens mit dem Feinde nicht des eigenen Glückes, sondern der heiligen Sache, verdorren lassen, bis nur das eine furchtbare Gebot der schonungslosen Rache als Herrscher der Seele übrig bleibt! Dennoch, wie sollte man diese Gesinnung tadeln, die der Rettungsanker des im Sturm verschlagenen und dem Untergange preisgegebenen Rechtes ist, der strahlende Stern in der Nacht des Frevels? Wer wollte der Fügsamkeit, die ohne sich zu erniedrigen doch in besonnener Mäßigung die Zeit abwartet, wo die Wolken von selbst sich klären werden, vor ihr den Preis zuerkennen? Diese Gegensätze sind es, die Sophokles mit höchster Feinheit gegeneinander abgewogen, sowohl durch den Streit der Schwestern, als durch die Haltung, die er dabei den Chor einnehmen läßt. Andrerseits legt er dem Chor auch, und zwar gleich von den ersten Scenen an, den klar ausgesprochenen Tadel des Übermaßes in den Mund, dem Elektra sich hingibt. Noch stärker erhält dann der Zuschauer diesen Eindruck in der großen Scene der Elektra mit Klytämnestra, und nicht umsonst hat der Dichter das Äußerste, Furchtbarste ihrer Verleugnung des Weiblichen, ja des Menschlichen an den Schluß gesetzt, wo ihre Aufforderung an Orest, den Leichnam des Ägisthos den Hunden und Vögeln zum Raub vorzuwerfen, fast befriedigend wirkt gegenüber der Haltung, mit der sie kurz zuvor beim Mord der Mutter das Blut der Hörer erstarren machte. Ein Umstand fällt dabei noch besonders schwer ins Gewicht. Nachdem die Erkennung des Orest erfolgt ist, liegt die Ausführung der That ganz in den Händen des Bruders und seiner Begleiter; es wird von ihr nichts zur Förderung derselben verlangt. Die Handlung geht nach dieser Seite ihren Gang ohne sie: die eigentliche Handlung des Stückes aber bleibt auch hier das ethische Verhalten Elektras bei diesem äußern Fortgang der Ereignisse. Die ungestüme Heftigkeit ihrer Freude wirkt nicht allein verzögernd und hemmend, sondern sie würde dem Unternehmen verderblich werden, wenn nicht die Wachsamkeit des treuen Pflegers es verhütete. Aber statt in dem furchtbar hohen Ernst des Schreckensmomentes nun die Empfindung des Schauders zu zeigen, gemischt mit dem befreit auftretenden Dankgefühl, daß durch das Schicksal die Last ihren schwachen Schultern abgenommen ist, läßt der Dichter in strenger Wahrheit die Konsequenz dieses in schwerstem Leidensgeschick zu granitner Härte erstarrten Frauencharakters sich enthüllen. Es ist eine Feinheit, die wieder uns den großen Dichter anzeigt, daß Sophokles die Wucht der tragischen Wirkung eben nur in die Entfaltung dieses so gearteten, tragisch durch das Leiden fehlgeleiteten Ethos legt und durch keinerlei Andeutung ihres ferneren äußeren Geschickes dieser Wirkung zu Hülfe kommt. Jhr schweres Leid liegt fortan in ihr selbst; ihre tragische Größe ist es, daß es aus dem Adel ihrer Seele und aus dem Heroismus ihres Charakters in der Lage, die ihr zugewiesen war, unabwendbar erwachsen mußte. Deshalb konnte in dieser Tragödie von Reue und von den Erinnyen keine Rede sein, von keiner Sühnung! Jn streng einheitlichem Aufbau wendet das Stück die Furchtempfindung des Zuschauers auf denselben Punkt, von dem aus es sein reiches Mitleid entquellen ließ: aus ihrer völligen Verschmelzung entsteht ihm die ernst gehobene, in sich geläuterte und gefestigte Stimmung der tragischen Katharsis. Die „ Elektra “ des Euripides scheint entstanden zu sein, indem in unverstandener Kritik sowohl der Äschyleischen „Choephoren“ als der Sophokleischen „Elektra“ der Autor eine Reihe von Umständen, die bei jenen ihm Anstoß gaben, geflissentlich, zum Teil mit direkter Polemik, in entgegengesetzter Weise behandelte. So ist eine Art von Karikatur jener beiden Stücke entstanden, die ernst zu nehmen immer wieder schwer fallen muß: so stark versündigt sich dieses seltsame Stück gegen alle Anforderungen des Tragischen. Gewandte Rhetorik und ein gewisser Schimmer und Schmuck der Diktion ist alles, was man ihm nachrühmen kann. Die bloße Jnhaltserzählung kann als Beweis genügen, daß Euripides in dieser angeblichen Tragödie das Unerhörte an Verhöhnung aller ihrer Gesetze geleistet hat. Ägisthos, der einen Preis auf den Kopf des Orestes gesetzt hat, wollte auch Elektra töten; Klytämnestra, die nicht so schlimm war wie er, „denn einen Vorwand hatte sie beim Gattenmord“, rettet die Tochter. Um sie aber unschädlich zu machen, verheiratete man sie an einen mykenischen Bauern, einen redlichen Mann jedoch, der teils aus „Tugend“, teils freilich aus kluger Vorsicht in ihr die königliche Jungfrau respektiert, denn Orestes, wenn er doch einmal heimkehrte, würde ihm übel mitspielen, fände er ihn wirklich als seinen Schwager. Elektra tritt auf, durch armseligen Aufzug Mitleid erregend, auch in wortreichen Klagen sich ergießend, aber in friedlicher, dankbar frommer Fassung sich in ihr Los schickend. Sie dankt dem „Freunde“ für seine zarte Schonung und verheißt ihm, die Last der häuslichen Arbeit auch fernerhin gemeinsam mit ihm zu tragen, „im Hause muß ich alles ordnen; kommt der Tagelöhner heim, so freut er sich, es innen wohlbestellt zu sehn.“ Jn gleicher idyllischer Stimmung erwidert er mit Sentenzen besonnener Weisheit. ─ Orestes erscheint mit Pylades und exponiert in poetisch geschmückter Rede seine Absicht, um sich dann, da Elektra zurückkehrt, im Gebüsch zu verbergen, während jene ein längeres, wohlgesetztes Klagelied singt. Ganz äußerlich motiviert tritt der Chor mykenischer Landfrauen auf, um Elektra zu einem Fest der Hera zu laden; er mahnt sie von ihrem Klagen ab und empfiehlt ihr das Gebet zu den Göttern. Orestes tritt nun hervor und unterrichtet sich in ausführlicher Weise im Gespräch mit Elektra über alle Vorgänge im elterlichen Hause, wobei der Chor ohne den geringsten Anteil assistiert. Obwohl Elektra die Frauen als unbedingt ergeben und verschwiegen rühmt, zögert Orestes doch sich ihr zu entdecken. Wie genrehaft die Behandlung des alten heroischen Sagenstoffes durchweg gehalten ist, dafür statt vieler Proben ein einziges Zeugnis! Der Landmann erblickt heimkehrend die Männer im Gespräch mit der ihm vermählten Elektra: „Ha! welche Fremden seh ich hier an meiner Thür?“ ruft er aus. „Dem Weibe bringt's Unehre, so mit jungen Männern dazustehn.“ Und Elektra: „Mein Liebster, sei doch meinetwegen unbesorgt! Du sollst die Wahrheit hören u. s. f.“ Jn dieser Situation nun hält Orestes den Umstehenden eine lange Rede von mehr als dreißig wohlgefeilten Versen ─ worüber? Über die echte Tugend des wahren Biedermannes! Hängt sie vom Gelde ab? Nein! Jst sie die Begleiterin der Armut? Auch nicht. Nicht Waffenruhm, nicht adelige Herkunft, nicht Körperkraft entscheiden darüber, sondern Seele und Geist. Dieser Mann des Volkes gebe davon ein Beispiel! Der Landmann lädt die Fremden in sein Haus, denn trotz seiner Ärmlichkeit werde für einen Tag sich das Erforderliche wohl noch auftreiben lassen, und knüpft daran erbauliche Betrachtungen über den Wert des Geldbesitzes. Nun zum erstenmale erhebt der allein zurückbleibende Chor seine Stimme zu einer zusammenhängenden Äußerung. Er singt ein nach den Regeln der metrischen Kunst komponiertes Stasimon; aber als ob er direkt die horazische Regel verhöhnen wollte ─ neu quid medios intercinat actus, quod non proposito conducat et haereat apte ─, preist er in vier prächtigen Strophen und Antistrophen den Schild des Achilleus, um am letzten Ende der Schlußstrophe dem das Folgende anzuhängen: „Und solcher lanzenkundigen Männer König, ihren Gemahl, erschlug das ruchlose Weib. Darum werden dich die Götter in den Tod senden; ich sehe noch, wie vom Nacken das Blut dir strömt, den der entseelende Stahl getroffen!“ Die folgende Scene bringt die über jede Vorstellung abgeschmackte Polemik gegen die skizzenhafte Behandlung, in der Äschylus seiner großartigen Weise entsprechend den äußeren Hergang der Erkennung mehr geflissentlich in den Hintergrund gerückt als ausgeführt hat. Ein Greis, der einst Agamemnons Erzieher war, naht keuchend, „mit des Rockes Zipfel sein Auge trocknend, welches feucht von Thränen ist;“ er kommt, die darbende Tochter seines alten Gebieters aus seinem geringen Besitz mit Mundvorrat zu versorgen, zugleich aber hat er ihr zu melden, daß er am Grabe des Königs Opferspenden und blonde Haarlocken gefunden: gewiß sei Orestes heimgekehrt! Und nun entspinnt sich der folgende Dialog, in welchem die drei von Äschylus kurz angegebenen Erkennungszeichen durchgehechelt werden: Sieh diese Locken, lege sie zu deinem Haar, Ob dies dem abgeschor'nen gleich an Farbe sei. Denn, die von eines Vaters Blut entsprossen sind, Sind meist in allem an Gestalt und Art sich gleich. Du redest nicht, wie's klugen Männern ziemt, o Greis: Du meinst, Ägisthos fürchtend, sei mein mutiger Orestes heimlich angelangt in diesem Land? Und dann sein Haar, wie glich' es meinem Haare wohl? Er wuchs im Ringplatz, edler Väter Kind, heran; So ward es rauher: meines blieb vom Kamme zart. Auch findest du bei vielen gleiches Haar, o Greis, Die doch von einem Blute nicht entsprossen sind. So tritt in seiner Sohle Spur und prüfe, Kind, Ob sie mit deines Fußes Maß zusammenstimmt. Wie könnte hartem Steinesgrund der Füße Spur Wohl eingedrückt sein? Aber wär' es möglich auch: Nie könnten doch des Bruders und der Schwester Fuß Einander gleich sein: größer ist der männliche. Doch, wenn Orestes heimgekehrt hier stünde, hast Du nichts, woran du dein Geweb' erkennen magst, Jn das ich ihn einhüllend einst dem Tod entriß? So weißt du nicht mehr, daß ich, als Orestes floh, Noch Kind war? Aber hätt' ich auch ein Kleid gewebt: Wie trüg' er, damals Knabe, jetzt dasselbe noch, Wenn mit dem Leibe nicht zugleich die Kleidung wächst? Seines vollen Triumphes genießt dann Euripides nicht allein über Äschylus, sondern auch über Sophokles, der einen Ring als Bestätigungszeichen benutzt, indem er durch etwas ganz Neues die Erkennung herbeiführt, durch eine Narbe! Sogleich wird nun zwischen den dreien ein höchst umständlicher Plan beraten, wie mit List die Rachethat auszuführen sei, darunter ein empörendes Detail. Es handelt sich darum, die Mutter zu fangen: El.: „Geh, Alter, Klytämnestren anzukündigen, geboren hab' ich einen Sohn, sei Wöchnerin.“ D. A.: „Von lange her schon, oder erst in jüngster Zeit?“ El.: „Seit zehen Sonnen: heute sei die Reinigung.“ D. A.: „Wohl; aber wie führt dieses ihren Tod herbei?“ El.: „Sie kommt sogleich, vernimmt sie, daß ich Mutter bin.“ D. A.: „Wie so? Du meinst wohl, sie bekümmere sich um dich?“ El.: „Gewiß; sie weint um meiner Kinder edles Los.“ D. A.: „Vielleicht; doch lenke wieder um aufs Vorige.“ El.: „Nun, kommt die Mutter, ist es traun um sie geschehn!“ D. A.: „Sie muß hinein, zum Hausesthore selbst hinein!“ El.: „So steigt sie leicht in Hades' düstres Haus hinab.“ ─ Man weiß nicht, was schlimmer wirkt, die Niedrigkeit dieses sauberen Arrangements, oder die behagliche Breite, mit der es vereinbart wird: beides hätte seinen Platz nur in der burlesken Parodie. Orestes eilt zur Entscheidung, nachdem Elektra in plötzlicher heroischer Aufwallung ihm erklärt hat, daß sie im Falle des Mißlingens sich ein „doppelschneidig Schwert in die Brust“ stoßen werde. Jn= zwischen singt der Chor das zweite Stasimon. Es enthält eine rationalistische Kritik der Sage, daß, als Thyestes das Weib des Atreus berückt hatte, um das goldene Vließ zu gewinnen, die Sonne und die Sterne ihren Lauf geändert hätten. Der Chor schenkt dem geringen Glauben, daß Hyperion seinen goldenen Wagen umgewendet habe, Leid dem Menschengeschlecht zu bringen wegen eines Sterblichen Schuld. Solche furchtbaren Sagen aber seien nützlich, die Verehrung der Götter zu erhalten. Schluß: Dieser Verehrung hast du vergessen, als du deinen Gatten mordetest! Mordgeschrei und Getümmel klingt herüber, mit theatralischer Gebärde will Elektra schon zum Selbstmord schreiten, da erscheint der Bote und berichtet in langer Erzählung, einem epischen Glanz= und Schaustück ─ so viel leichter ist es, ein einzelnes Ereignis spannend und lebensvoll zu schildern, als eine Handlung aufzubauen ─, von der Ermordung des Ägisthos. Jetzt beginnt die Polemik gegen Sophokles, dessen rauhe Größe den zart empfindenden Dichter beleidigt. Der sieggekrönte Orestes bringt den Leichnam des Ägisthos und befiehlt der Schwester, ihn den Hunden und Vögeln zum Raube an einem Pfahle schwebend aufzuhängen. Darauf El.: „Jch muß erröten, aber doch erklär' ich mich ─“ Or.: „Wovor? O rede! Denn befürchten darfst du nichts.“ El.: „Auf Tote Schmach zu häufen: Haß wär' unser Lohn.“ Or.: „Hier gibt es niemand, der dich darum schelten wird.“ El.: „Reizbar, zu Tadel aufgelegt ist unser Volk.“ Und nun geschieht das Unglaubliche. Zur Leiche tretend hält Elektra ein großes Plaidoyer, volle fünfzig Verse lang, nach allen feinsten Regeln forensischer Beredsamkeit; von der Frage aber, was mit der Leiche geschehen soll, sagt sie kein Wort. Statt dessen gibt sie ein Resum é des Thatbestandes und knüpft daran einen nicht endenden Schwall der verschiedenartigsten moralischen Betrachtungen. Z. B: „Doch jeder wisse, der ein fremdes Weib berückt zu loser Buhlschaft, und sie dann gezwungen nimmt, unglücklich ist er, wenn er wähnt, sie werde Zucht bei ihm bewahren, die sie früher nicht bewahrt. Sie ward durch dich unglücklich, du durch ihre Schuld.“ „Schmachvoll ist es, wenn im Haus das Weib gebietet, nicht der Mann.“ „Jene Kinder auch sind mir zuwider, die man nicht dem Mann nach, dem Vater, sondern nach dem Stamm der Mutter nennt.“ Dann eifert sie ferner gegen die Ehe eines Mannes mit einem vornehmeren Weibe, gegen die Jagd nach Größe, nach Schätzen: „Das ist ja nichtig, das verweilt nur kurz bei uns. Nicht Schätze, nur ein großer, edler Sinn besteht.“ Endlich das Tollste, was in dieser Situation denkbar ist: „Andeutend nur ─ denn einer Jungfrau ziemt es hier zu schweigen ─ sag ich, deutlich doch, das Folgende: Stolz blähtest du dich als des Königshauses Herr, auf deine Schönheit trotzend; doch mein Gatte sei begabt mit Mannessinne, nicht mit Mädchenreiz! Denn Söhne solcher Männer glühn von Kriegesmut; die schönen Knaben sind ein Schmuck für Reigen nur.“ Als ob sie mit dieser schönen Rede etwas zur Sache gesprochen, erwidert Orestes einlenkend: „Wohlan, den Leichnam, Diener, tragt ins Haus hinein.“ Doch die Parodierung der großen Vorgänger steigert sich noch höher. Klytämnestra naht, und bei ihrem Anblick sinkt Orestes der Mut. „Weh! Sie soll ich morden, die mich aufzog und gebar? Welch Wort des Wahnes, Phöbos, scholl aus deinem Mund! “ El.: „Doch, ist Apollon thöricht, wer ist weise dann? Wie kann's dir schaden, wenn du deinen Vater rächst?“ Or.: „Einst schuldlos, werd' ich schuldig sein des Muttermords.“ El.: „Und rächst du nicht den Vater, fehlst du deiner Pflicht.“ Or.: „Doch büß' ich dann der Mutter, geb' ich ihr den Tod.“ El.: „Wem aber wirst du büßen, bleibt er ungerächt?“ Or.: „ Ein böser Geist ( ἀλάστωρ ) wohl sprach es, der dem Gotte glich. “ El.: „Auf heil'gem Dreifuß sitzend? Nein, das glaub' ich nicht.“ Or.: „Doch glaub' ich auch nicht, daß der Spruch wahrhaftig sei.“ Auf weiteres Drängen der Schwester entschließt er sich gleichwohl zur That. Da wäre ja das Rezept von dem Konflikt der Pflichten in optima forma zur Anwendung gebracht. Zudem, die feine Unterscheidung, das vermeintliche Gottesgebot könnte wohl im Grunde nichts sein als das herkömmliche, den Fluch fortspinnende, Rachegebot, die Stimme des Alastors, ist ganz der skeptisch=grübelnden Weise des Euripides entsprechend, die der modernen Auffassung sehr nahe steht, und offenbar ein Versuch, die Lösung des Problems nach innen, auf das psychologische Gebiet zu verlegen. Aber wie elend schwankt dieser schwächliche Versuch einher zwischen der zielbewußten Größe der gewaltigen Tragödien, deren angebliche Mängel er zu verbessern und deren Vorzüge er vereinen zu können meinte. Ein neues langes Plaidoyer: die Verteidigung der Klytämnestra. Sie führt außer der Opferung der Jphigenia zu ihrer Entschuldigung an, daß Agamemnon ihr die Kassandra als Nebenbuhlerin ins Haus gebracht. Und El.: „ Du bist im Rechte, doch es ist ein schimpflich Recht; denn eine Gattin, ist sie klug, muß überall dem Gatten nachsehn! “ Darauf Elektras Anklagerede; als Höhepunkt derselben das Folgende: „Nicht jeder weiß so gut als ich, wie du, bevor man deines Kindes Tod beschloß, als eben sich von Hause dein Gemahl entfernt, am Spiegel schon die blonden Locken ordnetest. Doch wenn die Gattin, ist der Mann vom Hause fern, sich putzt und schön macht ( εἰς κάλλος ἀσκεῖ ), zähle sie den Schlimmen zu u. s. f.“ Und am Schluß: „Soll Mord den Mord vergelten, muß dein Sohn und ich vereint, den Vater rächend, dich dem Tode weihn. Denn war das eine billig, ist auch dies gerecht.“ Klytämnestra aber nimmt das nicht übel; sie ist sehr versöhnlich und weich gestimmt: „Den Vater stets zu lieben, ist in deiner Art. So geht es: ein Kind gibt sich ganz dem Vater hin, das andre neigt sich wieder mehr der Mutter zu. Jch will es dir vergeben: bin ich selbst doch nicht so gar erfreut, o Tochter, über meine That! “ Dementsprechend bereut sie auch, daß sie Elektra so hart behandelt und zeigt eine wirklich freundliche Teilnahme für den vermeintlichen Zustand der Tochter, in dessen künstlicher Fiktion dieselbe mit höchst verletzendem Raffinement fortfährt. Ja, sie treibt die Verstellung ganz ohne alle Nötigung so weit, daß sie den Worten, mit denen die Mutter die Härte ihres Gatten entschuldigt: „So ist er einmal; du ja bist auch ungestüm“, die Erwiderung entgegenstellt: „Wohl, denn man kränkt mich; aber bald erlischt mein Zorn! “ Mit freundlicher Gebärde lockt sie die Mutter ins Haus zur Schlachtbank, der Eintretenden ruft sie, plötzlich verwandelt, Worte voll grauenvollen Doppelsinnes nach und folgt ihr, um bei dem entsetzlichen Werke zu helfen! Der Chor singt, endlich einmal, ein der Situation entsprechendes, aber des tieferen Gehaltes ganz bares, Lied; gleich darauf ertönt von innen das Jammergeschrei der Ermordeten. Dann treten die Geschwister mit den beiden Leichen aus dem Hause hervor, um, aufs neue völlig umgewandelt, jetzt einen vereinten Hauptangriff auf die „allertragischte“ Rührung der Zuhörer auszuführen. Jn melischen Rhythmen geben sie unter Ausrufen verzweifelter Reue eine Schilderung der Katastrophe. El.: „Wohin, wohin, ach, werd' ich gehn? Zu welchem Tanz, zu welchem Hochzeitfeste? Welcher Gatte wird mich im Brautgemach empfangen?“ Or.: „Jn andern Sinn ist dein Gemüt gewandelt nach dem Winde! Fromm denkst du jetzt, und anderes dachtest du zuvor. Grausam, Liebe, thatest du an mir, dem Bruder, der sich sträubte, Schwester! Ach, sahst du, wie die Mutter aus dem Kleide hervor die Brust enthüllte bei dem Mord, die Arme, wehe, wehe mir! und sich kläglich niederwarf am Boden? Weich ward mir das Herz!“ El.: „Jch weiß es, wohl ergriff dich Schmerz, als du der Mutter Weheruf vernahmst, die dich geboren.“ Or.: „Ans Kinn die Hand mir legend, rief sie jammernd mir die Worte zu: ‚Mein Kind, mein Kind, Erbarmen!‘ und hing sich fest an meine Wangen, daß der Stahl aus meinen Händen sank.“ El.: „O Grauen! Wie vermochtest du's, der Mutter Mord mit Augen zu sehen, wie sie hinstarb?“ Or.: „Vor diese beiden Augen warf ich mein Gewand, hob den Stahl, wie opfernd, auf, und senkt' ihn ein in der Mutter Brust.“ El.: „ Jch rief dich mahnend auf zur That und faßte selbst zugleich das Schwert! “ Der Chor: „ Ja, du verübtest der Thaten schwerste! “ Or.: „Nimm, birg in diese Tücher hier der Mutter Leib, deck ihre Wunden zu! (vor die Leiche tretend) So hast du Mörder dir gezeugt!“ El.: (die Tote verhüllend) „Sieh, freundlich und nicht freundlich dir, hüll' ich dich ins Totenkleid, endend das schwere Geschick des Hauses!“ Die Lösung ist des übelgeschürzten Knotens würdig. Ungerufen erscheinen die Dioskuren und sprechen ein Machtwort. Klytämnestra büße gerecht, aber Orestes habe unrecht gehandelt, ebenso Apollon. „ Phöbos ─, doch ich schweige, denn er ist mein Herr ─ so weise, sprach er dir unweisen Spruch. Wir müssen uns hier beugen: fortan mußt du thun, was Zeus und was das Schicksal über dich beschloß. Elektra führe Pylades als Gatten heim, und du verlaß Mykene.“ Kastor verheißt dann weiter dem Orest Freisprechung mit Stimmengleichheit durch den Areopag, „denn Apollon nimmt die Schuld auf sich.“ „Darüber grollend tauchen sich beim Hügel selbst die grausen Rachegöttinnen in der Erde Schlund.“ Orestes soll seinen Wohnsitz in Arkadien nehmen, Elektra mit ihrem neuen Gemahl in dessen Heimat ziehen, ihr bisheriger Scheingatte mit „reichem Gute“ abgefunden werden. Ferner wird bestimmt, daß Ägisthos von den Bürgern in Argos bestattet werde, und daß für Klytämnestra mit Helena zusammen von Menelaos ein Grab bereitet werden solle. Ohne ersichtlichen Grund teilt dabei Kastor noch weiter mit, daß Helena gar nicht in Troja gewesen sei, sondern Zeus statt ihrer „ein hohles Scheinbild nach Jlion sandte, daß auf Erden Mord und Fehde sei. “ Vielleicht geschah diese Mitteilung nur, um diese fatalistische Erklärung solcher irrationalen Schicksale auch auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Denn auf die sehr berechtigte Frage des Chors an die Dioskuren, die so unvermutet sich einstellen, um kurzer Hand das ganze Wirrsal zu ordnen: „Da Götter ihr seid, was wehrtet ihr nicht von dem Hause die Not?“ antwortet Kastor: „Dies Leiden erschuf der Verhängnisse Macht und der thörichte ( ἄσοφος ) Spruch aus Apollons Mund.“ Und damit man auch über Elektra beruhigt werde, muß auch diese noch die schwer zu erklärende Frage thun: „Doch welcher Apoll, welch göttliches Wort trieb mich zu dem Mord der Gebärerin an?“ um denselben Bescheid zu erhalten: „Gleich thatet ihr, gleich ist euer Geschick; euch beide verfolgte der gleiche Fluch eurer Väter.“ Noch folgt ein allseitiger zärtlicher Abschied, namentlich die höchst rührend in die Breite gezogene Trennungsscene zwischen Orestes und Elektra. Dann schließt das Stück, indem zuletzt noch die Dioskuren ihre Legitimation zu dem etwas tumultuarischen Verfahren vorweisen, mit dem sie den Streit Apollons und der Erinnyen präjudiziert haben: „Wer Heiligkeit nur und Gerechtigkeit stets im Leben geliebt, dem stehen wir bei, aus quälender Drangsal retten wir ihn. Drum möge vor Unrecht jeder sich scheun, er geselle sich nie Meineidigen bei: so ruf ich den Menschen, ein Gott, zu!“ Und der Chor, der das ganze Stück nur so wenig zur Sache zu bemerken gehabt hat, was kann er angesichts dieser glatten und im ganzen doch immerhin vergnüglichen Lösung einer recht bedenklich verwickelt scheinenden Angelegenheit Verständigeres thun, als, nachdem Orestes, der eben noch seinem Freunde Pylades und seiner Elektra Glück gewünscht hat, unter vorläufiger Verfolgung der Erinnyen entflohen ist, den Zurückbleibenden zuzurufen: Lebt, freut euch! Wer sich zu freuen vermag, Und des Unglücks Macht nie trauernd empfand, Er lebt ein seliges Leben. Es ist zuzugeben, daß die „Elektra“ vielleicht das schlechteste der uns erhaltenen Stücke des Euripides ist; aber die Fehler desselben, wenn auch nicht in so auffälligem, bis an die Grenze der Parodie gehenden Grade, wiederholen sich auch in seinen übrigen Tragödien. Faßte man das Wesen derselben in ein Wort zusammen, so müßte das lauten: Die eigentliche Kraft der tiefen, tragischen Wirkung ist ihm unbekannt; statt ihrer wendet er seine Kunst dem einzelnen Rührungsaffekt zu. So mag er sich den billigen Ruhm des „ Tragikotatos “, des „ allertragischten “ Dichters erworben haben, nicht indem er es verstand, die Aufgabe der Tragödie, die Katharsis der tragischen Affekte zu bewirken, am würdigsten zu lösen, sondern indem er auf Kosten des Ernstes und der Wahrheit des großen Schicksalzusammenhanges seine Zuschauer an der reich besetzten Tafel des herzzerreißenden Jammers über fremde Leiden sich satt schwelgen ließ. Zum Beschluß noch ein Wort über die obengenannte „ Hamlet “= Tragödie Shakespeares, nicht um auf dieses an Rätseln reiche Stück näher einzugehen, sondern nur um nachzuweisen, inwiefern es mit den die Orestie behandelnden Tragödien in Vergleich zu stellen wäre, und welches Resultat ein solcher Vergleich ergibt. Es bedarf nicht vieler Worte, um die Ähnlichkeit der Situation in beiden Fabeln zu kennzeichnen. Hier wie dort ein Königssohn, dessen Mutter den Mörder ihres Gatten zum Gemahl und auf den Thron erhoben hat, der dem Sohne gebührt; nur daß die Mitschuld der dänischen Königin an dem Morde sich auf die Zulassung desselben beschränkt. Jn beiden Fällen ist die Rache an dem Mörder des Vaters dem Sohne zur Pflicht gemacht. Dort ist das Verbrechen notorisch und die Gottheit verlangt bei Androhung schwerster Strafe seine Sühnung; hier öffnet sich das Grab und der Geist des gemordeten Vaters trägt dem Sohne feierlich die Rache auf; hier wie dort verlangt zugleich die Fäulnis des ganzen Staatskörpers die entschlossen durchgreifende Heilung. Aber während von Orestes der Muttermord gefordert wird, warnt der Geist seines Vaters den Dänenprinzen: „Doch, wie du immer diese That betreibst, befleck' dein Herz nicht; dein Gemüt ersinne nichts gegen deine Mutter; überlasse sie dem Himmel und den Dornen, die im Busen ihr stechend wohnen.“ Gleichwohl eilt jener ohne Bedenken zur That, während bei diesem die Wirkung des Auftrags sich in dem Seufzer kundgibt: The time is out of joint ─ o cursed spite, That ever I was born, to set it right . Shakespeare hat dem Stoffe die Tragik von der entgegengesetzten Seite abgewonnen, wie die antiken Meister der Tragödie; und er, der Schöpfer des modernen Dramas, konnte nicht anders verfahren. Für die moderne Ethik wäre die Blutrache an der Mutter eine Monstrosität; aber Religion wie Philosophie verbieten die Blutrache überhaupt. Wer sich weigert, eine derartige Mission zu übernehmen, ist nach ihnen im Recht; ja, wen auch, ohne daß er sich mit voller Klarheit dessen bewußt wäre, ein inneres Widerstreben davon zurückhielte, bei dem müßten wir diese Hemmung der blind auf ihr blutiges Ziel losstürzenden Thatkraft als die Wirkung sittlicher und intellektueller Kultur auffassen, als das Resultat der aus einer der beiden Quellen oder aus beiden zugleich entspringenden Bedenklichkeit des inneren Empfindens. Der Fall, der in der Fabel von Shakespeares Hamlet exponiert ist, wäre also völlig untragisch, sowohl wenn der Prinz in pietätvollem Zorn schnell entschlossen hinginge, um den verräterischen Oheim über den Haufen zu stechen, „sich waffnend gegen eine See von Plagen“ ─ ob ihm das glückte oder er dabei umkäme, wäre vom Standpunkte der Anforderungen an das tragische Kunstwerk ganz gleichgültig ─, als auch wenn er, einem klar erkannten sittlichen Grundsatz unerschütterlich getreu, die Rache mit Entschiedenheit ablehnte, „es als edler im Gemüt erkennend, die Pfeil' und Schleudern des wütenden Geschickes zu erdulden“. Shakespeares Genie fand ganz unabhängig von dem Handlungsverlauf, der ihm in seinen Quellen vorlag, diejenige Behandlungsweise, die allein diesem Stoffe die tragische Vertiefung zu verleihen vermochte. Wie Sophokles basierte er seine Tragödie der Hauptsache nach auf eine rein ethische Anlage; aber während jener dieselbe nur durch höchst geschickte Benutzung des Erkennungsmomentes erweiterte, im übrigen aber ihr den einfachen Verlauf ließ, errichtete Shakespeare auf dieser ethischen Grundlage den kunstvollen Bau einer doppelten Peripetie von der gewaltigsten tragischen Wirkung, die sowohl den König mit seinem ganzen Anhange ins Verderben stürzt als auch dem Helden des Stücks den Untergang bereitet. Die ethische Veranlagung des Stoffes bildet so gleichsam nur das Feld, auf welchem wir das Schicksal selbst in erschütternde Aktion treten sehen. Den vollen Gegensatz zu dem Ethos der Sophokleischen Elektra hat Goethe in dem herrlichen Bilde seiner „ Jphigenie “ erschaffen, und beide Dichter thaten wohl daran, ein weibliches Gemüt, mit seiner Fähigkeit in ausschließender Hingabe ganz von einem Gefühl sich leiten zu lassen, zum Träger der Handlung zu erwählen. Fast wie in der Kriemhild des Nibelungenliedes hat in der Elektra des Sophokles der Rachegedanke jede entgegenstehende Empfindung aufgezehrt; in Goethes Jphigenie erweist das Ethos lauterer Wahrhaftigkeit, klarster Seelenreinheit und reichster Herzensgüte seine „sühnende“ Kraft gegenüber „allen menschlichen Gebrechen“. Einen ganz anderen Gegensatz zu dem Ethos leidenschaftlicher That ersann Shakespeare für seinen Zweck, eine Charakterbeschaffenheit, die in ihren vielfältigen und feinen Mischungsverhältnissen schwer zu analysieren ist. Dieser Charakter ist eine freie Schöpfung seines Genies; seine Quelle bot ihm nichts als die Nachricht von Hamlets fingiertem Wahnsinn, der dort aber als klug gewähltes Mittel zu raschester, energischer That sich darstellt. Das die Seele Hamlets beherrschende Charakter-Ethos steht der von ihm geforderten That mit stärkster Hemmung entgegen: keineswegs aber ist es die siegende Kraft eines zu absoluter Reinheit geläuterten sittlichen Bewußtseins, die ihm die Rolle des Rächers zu übernehmen verwehrt ─ wie etwa eine rückkehrende Jphigenie an Elektras Stelle zu treten unfähig gewesen wäre ─, sondern eine zu höchstem Reichtum des Gedankens und des geistigen Empfindens entwickelte intellektuelle Kultur ist es, deren Schwergewicht den zur Vollstreckung erhobenen Arm herniederzieht, ohne daß sie es vermöchte, den Vorsatz völlig zu überwinden, ja sogar den Antrieb dazu ganz auszulöschen. Daher sein Zögern und Schwanken! Und daher das Tragische dieses Schwankens und das Tragische seines verderblichen Ausgangs: denn die Ursache desselben liegt nicht in einer physischen oder moralischen Schwäche, die wir geringschätzen müßten, sondern in einer entgegenstehenden hochbedeutenden Kraft, deren Berechtigung wir anzuerkennen nicht umhin können, die an sich selbst unsere Bewunderung in hohem Grade erregt, während wir doch zugleich in der Fehlerhaftigkeit des durch ihr Dazwischentreten weder kräftig geförderten noch entschieden sistierten Handelns die Quelle einer Kette von schweren Leidensschicksalen mit voller Klarheit erkennen. Das, wodurch Hamlet in der Vollziehung der Rachethat sich gehemmt fühlt, ist ihm selbst ein Problem; darin liegt das Rätsel, das die Kontroverse über diese Tragödie nicht zur Ruhe kommen läßt und das auch Goethe bei seinem tiefen Blick in das Jnnere des Stückes nicht zu voller Befriedigung und zum Abschluß gelangen ließ. Ausführlicher ist der Gegenstand vom Verfasser in einer besondern Schrift behandelt, die von der Polemik gegen K. Werders „Hamletvorlesungen“ ausgeht: „ Die Hamlettragödie und ihre Kritik. “ (Königsberg 1877.) Keiner seiner Nachfolger hat das liebevolle Verständnis für die Wahrheit und den Adel von Hamlets Natur gehabt, wie es Goethe empfunden und ausgesprochen hat. Nur ein weniges fehlt in seiner Schilderung, das dem Zünglein der Wage verwehrt zur Ruhe zu gelangen. Zu sehr stellt er das Hemmnis in Hamlets Natur als einen Mangel an Kraft, „an sinnlicher Stärke, die den Helden macht“, dar, zu wenig als eine notwendige Äußerung der in ihm strömenden Kräfte. Zu wenig ferner bringt er die gerade diesen Charakter notwendig so furchtbar belastende Natur der ihm bereiteten Schicksalssituation in Anschlag. Jn dem Zusammenwirken dieser beiden Hauptfaktoren liegt das Tragische des Stückes: die sinnliche Stärke des Helden fehlt dem Dänenprinzen nicht an sich, sie fehlt ihm bei dieser Aufgabe, vor die das Schicksal gerade ihn gestellt hat; sie fehlt ihm gerade um der Eigenschaften willen, welche dem Menschen wie dem künftigen Könige die höchste Zierde versprachen. Das Tragische dieser Gestalt und dieser ganzen Dichtung, das ihr eine so unvergleichliche Macht über das moderne Empfinden verleiht, ist, daß sie zeigt, wie in dieser groß, edel und reich angelegten Seele vermöge jener, durch die Schicksalsverwickelung in ihr hervorgebrachten, inneren Hemmung mit furchtbarer Rapidität eine schwere Erkrankung sich entwickelt: die Lähmung der Thatkraft auf dem Felde, auf das sie gewiesen ist, und infolge davon die Stockung der zurückgestauten Kräfte der Reflexion und Empfindung, die mißgeleitet nun überallhin schädliche, ja verderbliche Wirkungen verbreiten bis zur zerstörenden Katastrophe. Diese Erkrankung aber kennzeichnet sich ihrem Ursprung und Wesen nach als ein Übel, dem die moderne Zeit, mit ihrer Neigung, die Pflege sittlicher, intellektueller und ästhetischer Kultur hoch über die Übung einseitig bestimmter Thatkraft zu stellen, sich besonders stark ausgesetzt fühlt. Daher der große Reiz, den gerade diese Tragödie auszuüben nicht aufhört. „Mir ist es deutlich, was Shakespeare habe schildern wollen,“ läßt Goethe seinen Wilhelm Meister sagen: „eine große That, auf eine Seele gelegt, die der That nicht gewachsen ist.“ „Er geht unter einer Last zu Grunde, die er weder tragen noch abwerfen kann; jede Pflicht ist ihm heilig, diese zu schwer.“ Jst es denn eine „große That“, die von Hamlet gefordert wird, die Rache an einem feigen Meuchelmörder? Jst es ihm „zu schwer“, sein Leben zu wagen, oder zaudert er nur deshalb, weil er den rechten Moment nicht zu finden weiß, er, der, als der Korsar sein Schiff entert, der erste ist, zum Kampf hinüberzuspringen? Weshalb also ist er der That „nicht gewachsen“? Das ist es: ohne ihr mit Bewußtsein „entwachsen“ zu sein, widerstrebt seine Natur derselben nach ihrer ganzen Anlage aufs äußerste. Die seltenste Begabung ist ihm zugefallen, die, wenn das Schicksal ihm günstig wäre, ihn zu den größesten Leistungen befähigen würde; Anlagen, die sonst sich gegenseitig auszuschließen pflegen, sind vereinigt und zwar jede im höchsten Grade bei ihm vorhanden: die reichsten, zartesten und feurigsten Empfindungskräfte und das klarste und durchdringendste Denkvermögen. Wenn sonst die Zartheit oder die Leidenschaftlichkeit der Gemütsanlage leicht die Objektivität der Beurteilung beeinträchtigt, wenn umgekehrt hervorragende Klarheit und Schärfe und damit notwendig zusammenhängende, bedeutende Kultur der intellektuellen Anlage oft von einer gewissen Kälte des Fühlens begleitet wird oder sie auch mit hervorbringt, so ist bei Hamlet beides in so wunderbarer Weise gemischt, es tritt so gleichzeitig beides mit, neben und zwischen einander hindurch hervor ─ wie nur bei Shakespeare selbst. So steht Hamlet in einer Zeit, die „aus den Fugen ist“, die mit ihren faulen Dünsten ihm Gift entgegenhaucht, Gift, das keinen mit so tödlicher Lähmung trifft, wie ihn, der die Heilung bewirken soll. Weit eher ist zu solchem Werk ein Fernestehender befähigt, wie Fortinbras, und doppelt überzeugend klingt aus dessen, des ganz entgegengesetzt Gearteten Munde das anerkennende Zeugnis: „Er hätte, wär' er zum Thron gelangt, unfehlbar sich höchst königlich bewährt.“ „Da bricht ein edles Herz! Gute Nacht, mein Prinz! und Engelscharen singen dich zur Ruh!“ so ruft der edle und besonnene Horatio ihm nach. Es ist kein Grund vorhanden, die Lobsprüche in Ophelias Munde für Übertreibungen mädchenhafter Schwärmerei zu nehmen, denn alles, was wir über Hamlet hören, stimmt damit genau überein. Von alledem aber, was die dumpf lastende Schwermut über sein Geschick in ihm das ganze Stück hindurch hervorbringt, von allem jenem Druck, jener Zerstörung seines Gemütes und jener Zerrüttung seines Willens erfahren wir durch das Zeugnis seines schlimmsten Feindes, des Königs, daß es dem, was er früher war, in allem widerspricht, daß „noch der äußere, noch der innre Mensch dem gleichet, was er war“. Dem Hamlet also, wie Ophelia ihn schildert: „des Hofmanns Auge, des Gelehrten Zunge, des Kriegers Arm, des Staates Blum' und Hoffnung, der Sitte Spiegel und der Bildung Muster, das Merkziel der Betrachter!“ Weit entfernt, es an Mut fehlen zu lassen, übertrifft er, wo es darauf ankommt, alle andern: in der Scene mit dem Geist, die wir sehen, in dem Gefecht mit dem Korsaren, von dem wir hören; er ist entschlossen und geschickt im Ringen und Fechten, er zeigt sich dem als Meister in solchen Künsten bewunderten Laertes zweimal überlegen. Nur hat er nicht wie jener hierin den Schwerpunkt seines Wesens, sondern Kraft und schneller Mut sind eingeschlossen und umhüllt von edler Sitte und von hoher Bildung. Das Stück aber zeigt ihn uns von vornherein von schweren Wunden getroffen, in einem Zustande des Leidens, welches seine besten Eigenschaften nicht allein außer Kraft setzt, sondern wie ein böses Fieber ihre Stärke sich gegen ihn selbst wenden läßt; die furchtbare Erkenntnis, die es dann gleich in den ersten Scenen über ihn bringt, steigert dieses Fieber auf seinen Höhepunkt. Es ist ein Zeichen seiner edelsten Gemütsart, das seine Willenskraft nicht kompromittiert, wenn der frische Schmerz um den verlorenen unvergleichlichen Vater und die brennende, vernichtende Scham, daß das Verehrungswürdigste, die fromme Scheu und die liebevolle Achtung vor der Mutter, ihm zertreten und geschändet vor die Füße geworfen ist, wenn dieser Gram und dieser Schmerz vereinigt alle andern Gedanken aus ihm verscheucht hat und allein das tiefe Gefühl der Vernichtung aller Fähigkeit, zu achten und zu lieben, in ihm übrig bleibt. Aber nun sieht er sich umgeben von der gedankenlos und gefühllos zustimmenden Menge, er sieht sich auf Schritt und Tritt aufs unerträglichste beleidigt von der rohen und üppigen Schwelgerei der Freudenfeste, mit denen die Gemeinheit ihren Triumph feiert; er selbst von dem ihm gebührenden Platz verdrängt und zu müßiger Träumerei verurteilt. Hier ist die Stelle, wo der Gegensatz zur antiken Auffassung am schroffsten hervortritt. Für Orestes ist das Recht und sogar die Pflicht zum Morde des Ägisthos von Göttern und Menschen bekräftigt, nur der Muttermord gibt ihn den verfolgenden Erinnyen preis. Bei Shakespeare handelt es sich nicht mehr um Erfüllung eines religiösen Gebotes, nicht einmal einer allgemein als solche anerkannten sittlichen Forderung, sondern um persönliche Genugthuung für die Schändung der Ehre und den tückischen Mord seines Vaters in dem Sinne heißblütigen Rachezornes, dem der kriegerische Geist seines Vaters ohne jedes Zögern die schnellste Folge gegeben haben würde. Auch ist Hamlet genugsam von der Tradition solcher Gesinnungsweise beeinflußt, um im ersten Augenblicke ebenso zu fühlen. Der Geist enthüllt ihm den Mord, und voll Ungeduld ruft er aus: „Eil ihn zu melden: daß ich auf Schwingen, rasch wie Andacht und des Liebenden Gedanken, zur Rache stürmen mag.“ Und der Geist: „Du scheinst mir willig: auch wärst du träger als das feiste Kraut, das ruhig Wurzel treibt an Lethes Bord, erwachtest du nicht hier.“ Doch schon der nächste Augenblick zeigt, daß Hamlet sich selbst in dieser Beziehung sehr wenig kennt, und den ganzen weiteren Verlauf der unvergleichlichen Scene benutzt der geniale Dichter, um mit unnachahmlicher Feinheit es augenfällig zu machen, wie schon hier die oben bezeichnete Hemmung in des Prinzen Seele mit voller Kraft sich geltend gemacht hat. Die einseitige Kraft des persönlichen Rachegefühls ist nicht in ihm; er wird die übernommene That nicht anders ausführen als unter dem Eindruck einer erneuten momentanen Aufwallung. Seine Fähigkeit und Neigung philosophisch zu denken hat ihn mit übermächtigem Zwang gewöhnt auch philosophisch zu fühlen: in der Anschauung der großen, allgemeinen sittlichen Verhältnisse geht die heftige Empfindung der persönlichen Kränkung auf in dem bitteren Schmerz über die schmachvolle Niederlage des Guten und Edlen überhaupt in dieser Welt. Wer möchte diese Art zu denken und zu fühlen, für sich betrachtet, tadeln? Nur darf nicht vergessen werden: es ist eine Betrachtungsweise, die zur echten Philosophie hinzuführen vermöchte, aber sie macht den wahren Philosophen noch nicht, für den die klare, fest bestimmte Entschließung auf seinem Felde ebenso erforderlich ist wie für den Mann der That. Hamlets tragisches Schicksal ist, daß er mit der eminenten Anlage für den einen in eine Verwickelung gestellt ist, die schlechterdings den andern erfordert, daß der Sturm der Ereignisse, ohne ihm Zeit zur Klärung zu gewähren, ihn verwirrend überwältigt, so daß er überall fehlgehend, statt selbst zu handeln ein blindes Werkzeug in der Hand des Schicksals wird, das in seinem mächtigen Getriebe mit Schuldigen und Unschuldigen auch ihn zermalmend erfaßt. Wie es dieser ganzen Betrachtung vorangestellt wurde: das Problem ist an sich selbst ein unlösbares! Hat der Einzelne unter Umständen, die es gebieterisch zu erfordern scheinen, die Pflicht das verletzte Recht durch blutige That herzustellen sogar gegenüber den nächsten Blutsverwandten? Die antike Auffassung neigt sich der Bejahung der Frage zu, die moderne eher der Verneinung; eine bedingungslose Entscheidung trifft weder die eine noch die andere. Darin aber stimmen beide überein in solchen Schicksalsverkettungen eine hohe Tragik zu erkennen. Das Altertum zeigte die Tragik des rücksichtslos zur sühnenden Rache vordringenden Ethos, Shakespeare führt die Tragik des Zurückweichens vor dem durch die Notwendigkeit auferlegten Blutrichteramt vor Augen; beide, indem sie die verhängnisvolle Hamartie ihrer Helden aus dem besten Teil ihrer Seele herleiten; beide also indem sie ebenmäßig mit dem Mitleid die Furcht erwecken und so den Zweck der Tragödie, die Katharsis beider Empfindungen, in vollkommener Weise erreichen: des echten Mitleids um das Leiden großer und edler Menschen, die durch menschliches Jrren schwerem Geschick verfallen, und der echten Furcht, da wir in dem Leiden und Untergang der Guten und Besten den strengen Ernst und die unentrinnbare Macht des alles beherrschenden Schicksals scheuen und verehren. Am meisten ergreifen uns, nach dem Geiste unserer Zeit, diese echte Furcht und dieses echte Mitleid, wenn wir die Verwickelung der Handlung erst durch ihr Zusammentreffen mit der Eigenart des Charakters des Helden die entscheidende tragische Wendung erhalten sehen, wie bei Shakespeare, in der verwickelt=ethischen Tragödie: mit klarerem Bewußtsein thun wir hier den tiefen Blick in das Wesen des rätselvollen Schicksals. Die moderne Tragödie ist durch die Abwesenheit des Chors in ihrem Bau vorzugsweise, wenn nicht ausschließlich auf die breiteste Entwickelung des ethischen Momentes gewiesen. Wenn die Alten durch die weisheitsvoll mahnende, tief bewegende Stimme des Chors den überwältigenden Schmerz um das Leiden, das Grausen vor dem Verhängnis zu der Reinheit von Furcht und Mitleid läutern, so durch ihre Tragödie die Katharsis aller in den Menschen vorhandenen, diesem Gebiet angehörigen Gesinnungen und Empfindungen bewirkend, so hat Shakespeare, der Meister der verwickelt=ethischen Tragödie, den Weg gewiesen, dasselbe Ziel ohne jenen idealen Mitspieler, den wir nicht wieder zurückführen können, zu erreichen. Die furchterregende Peripetie der Handlung zeigt uns die Majestät und Herrschergewalt des Schicksals, um so mehr, wenn es die Häupter der Besten trifft und durch die besten Kräfte ihrer Seele sie zu dem verhängnisvollen Fehler treibt. Auf der andern Seite ist durch den Anteil der Charakterbeschaffenheit an der tragischen Wendung der Ausgang genugsam in das Gebiet der Freiheit und Verantwortlichkeit gerückt, um uns, ohne daß wir dem Helden das Geringste von unserer Achtung und Liebe entziehen, das reine Mitleid fühlen zu lassen, das von dem Grausen über blindtreffendes Verderben ebenso entfernt ist wie von der lediglich allgemein menschlichen Teilnahme an selbst verschuldetem Unglück. ────── XXX. Es ist in den obigen Darlegungen über das Drama verschiedentlich von der Komödie die Rede gewesen, ebenso ist in einem früheren Abschnitt von dem Wesen des Lächerlichen gehandelt; allein es fehlt noch das abschließende Wort über den Begriff und die Aufgabe dieser dramatischen Gattung. Dem Versuch dieselben darzustellen soll dieser letzte Abschnitt gewidmet sein. Das komische Epos wurde oben definiert: als die vermittelst der Erzählung erfolgende Nachahmung einer vollständigen und einheitlichen, das Fehlerhafte und Verkehrte ohne schmerzliche und verderbliche Wirkung darstellenden Handlung, welche, indem sie die Empfindungen des Lächerlichen und des Wohlgefälligen hervorruft, die wechselseitige Herstellung beider zur reinen Wirkung ermöglicht. S. oben S. 314. Durch einen Druckfehler steht dort „ des Wohlthätigen “, statt: „ des Wohlgefälligen “. Die innere Begründung dieser Definition ist in dem vierzehnten Abschnitt gegeben, der die Darstellung der Theorie des Komischen zur Aufgabe hat. Das Resultat jener Ausführungen für die hier vorliegende Untersuchung ist der Satz, daß die Empfindungen des Lächerlichen und des Wohlgefälligen auf dem Gebiete des Komischen eine ganz analoge Stellung einnehmen, wie die des Mitleids und der Furcht auf dem des Tragischen, daß sie also in der Definition der komischen Dichtungsarten dieselbe Rolle zu spielen berufen sind wie jene in der der Tragödie. Dieses Resultat hat sich der bisherigen Darstellung aus der Prüfung des Wesens der Sache ergeben; der Fall lag hier umgekehrt wie bei der Definition der Tragödie, wo es galt das rechte Verständnis für die überlieferte Formel des anerkannten Meisters zu gewinnen. Gleichwohl gewährt ein günstiger Zufall die Möglichkeit auch hier an der Autorität des Aristoteles eine mächtige Stütze zu gewinnen; es ist die überzeugende Kraft der inneren Wahrheit und die im Kern der Sache hervortretende vollkommene Analogie mit der Anschauungsweise und Methode der aristotelischen Poetik, die in dem anonym überlieferten Fragment über die Komödie, das Cramer als Anhang zum ersten Bande seiner Pariser Anekdota aus einer Coislinianischen Handschrift mitgeteilt hat, mit Sicherheit ein Excerpt der in unsern Handschriften der Poetik des Aristoteles verloren gegangenen Abhandlung über die Komödie erkennen lassen. Das Fragment ist in einem zum Teil höchst scharfsinnigen und mustergültigen Aufsatz von Jakob Bernays eingehend behandelt worden. S. Rheinisches Museum, N. F. VIII, S. 561 ff.: „ Ergänzung zu Aristoteles' Poetik “. Wir haben es mit einem nicht allein schematisch und gedankenlos verfahrenden, sondern offenbar ungebildeten Excerptor zu thun, dessen Auszüge von groben Fehlern und sinnentstellenden Lücken wimmeln, und dessen eigenmächtigen Zusätzen derselbe Charakter des Ungeschickes und der Kritiklosigkeit aufgeprägt ist. Dennoch vermochte J. Bernays mit ebenso gelehrter als feinsinniger Prüfung in dem weit überwiegenden Teil des Fragmentes die echte aristotelische Überlieferung mit überzeugender Sicherheit nachzuweisen. Leider aber war seine persönliche Stellung zu dem kostbarsten Teil des Jnhaltes, zu dem Hauptstück des Ganzen, der eigentlichen Definition der Komödie nämlich, die uns das Fragment gerettet hat, von vorneherein präjudiziert durch seine eigene, schon unerschütterlich feststehende Auffassung des vermeintlich aristotelischen Begriffes der tragischen Katharsis. Zu der Bernays schen Jnterpretation der aristotelischen Definition der Tragödie wollen die Sätze des Excerptors über die Komödie nun freilich gar nicht passen; Bernays hat daher grade den wertvollsten Teil des Fragmentes verächtlich beiseite geworfen. Desto besser, und zwar vollkommen harmonisch, stimmen diese Sätze mit derjenigen Auffassung der hier in Betracht kommenden Begriffe, für welche Lessing den Grund gelegt hat: sie geben uns somit nicht allein den ersehnten Aufschluß über die Lehre des Aristoteles von der Komödie, sondern sie dienen zugleich zu erwünschter Bekräftigung der Lessingschen Grundauffassung und zur Bestätigung der Polemik gegen die von Bernays verfochtene Theorie. Der Excerptor, dem es nur darauf ankommt, die Hauptsätze über die Komödie zusammenzustellen, läßt der im zweiten Paragraphen folgenden Definition derselben im ersten eine allgemeine Einteilung der Poesie in ihre Hauptarten vorausgehen, die wertlos ist. Jndessen liegt in seiner Scheidung einer ποίησις ἀμίμητος von der ποίησις μιμητή ─ einer nicht nachahmenden Dichtung von der nachahmenden ─ durchaus keine Veranlassung ihn, wie Bernays es thut, einer abgeschmackten Versündigung gegen den Aristoteles zu zeihen, der eine „ nicht nachahmende “ Poesie gar nicht kenne. Eben daraus erklärt sich ja diese Schematisierung. Bei Aristoteles selbst lesen wir, daß alle Kunst und so auch die Poesie nachahmend sei ─ Mimesis; ebenso aber auch, daß es zahlreiche und große, sogenannte Dichtungen gäbe, die diesen Namen nur um ihrer Form willen trügen, in Wirklichkeit aber, da sie keine Nachahmung enthielten, auch nicht als Poesie zu betrachten seien. Wenn nun der Excerptor von der Betrachtung dessen ausgehend, was thatsächlich für Poesie gehalten wird, jene Unterscheidung macht, so liegt darin gar kein Grund ihn gleich im Beginne zu verdächtigen. Um so weniger aber hat man dazu ein Recht, als die beiden kurzen Sätze, mit denen er von jener kahlen Einteilung den Übergang zur Definition der Komödie macht, mitten in den innersten Kern der Sache treffen. Er hat in der eigentlich so zu nennenden, nachahmenden Poesie die beiden Hauptgattungen der erzählenden und dramatischen unterschieden und von der letzteren die dazu gehörigen Arten aufgeführt. Um nun von dort aus zur Komödie zu gelangen, hebt er, mit ganz richtigem Gefühl, wenn auch mit unbeholfenem Ausdruck, den springenden Punkt aus den Erörterungen des Aristoteles über das Wesen der tragischen Katharsis hervor, deren Erklärung, ebenso wie die der Komödie in unsern Exemplaren der aristotelischen Poetik fehlt, die aber sicherlich den Abschluß der Kapitel über die Tragödie bildete und zugleich den Übergang zur Behandlung der Komödie herzustellen vorzüglich geeignet war. Es kann nach dem Gesamtinhalt des Fragmentes, welches so viel echt Aristotelisches bietet, kein Zweifel sein, daß wir in diesen geringen und ungeschickt zusammengelesenen Brocken unschätzbare Reste jener Partien der Poetik vor uns haben, deren Verlust mit Recht so tief beklagt wird. Die Sätze lauten: ἡ τραγῳδία ὑφαιρεῖ τὰ φοβερὰ παθήματα τῆς ψυχῆς δἰ οἴκτου, καὶ ὅτι συμμετρίαν θέλει ἔχειν τοῦ φόβου . ἔχει δὲ μητέρα τὴν λύπην . Also im unbeholfensten Excerptenstil: „Die Tragödie enthebt die Seele der fürchterlichen Affekte vermittelst der schmerzlichen Rührung, und weil sie ein Ebenmaß der Furcht haben will. Zur Mutter aber hat sie die Trauer. “ Bernays wird mit diesen inhaltschweren Sätzen sehr leicht fertig. Er sagt: „Das erste Sätzchen: ‚die Tragödie hebt die Furchtempfindung durch Mitleid auf‘ zeigt, daß schon vor Lessing jemand die tragische Katharsis des Mitleids und der Furcht für eine wechselseitige, der Furcht durch das Mitleid und umgekehrt, genommen hatte. Aristoteles wollte sicherlich nicht so mißverstanden sein, und wer Lessing auch da wo er irre geht zum Führer nimmt, darf doch dieses Sätzchen wenigstens nicht als eine alte, etwa auf eigenen für uns verlorenen Äußerungen des Aristoteles fußende Autorität geltend machen. Denn es verrät nur zu deutlich den auf seinen Kopf angewiesenen Scholiasten. Das ὑφαιρεῖ gibt sich als eine Umschreibung für die vielgedeutete, bisher unerledigte Katharsis zu erkennen ─ (ein unglaubliches Argument! Anstatt also es als eine solche Umschreibung mit Freuden zu begrüßen, erklärt es Bernays aus eben dem Grunde, weil es das erfüllt, was man von ihm erwarten muß, für ein Anzeichen des unaristotelischen Ursprungs der ganzen Stelle!) ─, und während Aristoteles immer nur vom tragischen Eleos redet, hielt der Spätling mit der feierlichen Tragödie nur den ebenfalls feierlichen οἶκτος verträglich.“ Als einziges Verdachtsmoment bleibt also übrig, daß der Excerptor οἶκτος statt ἔλεος schreibt, „ schmerzliche Rührung “ statt „ Mitleid “. Nichts könnte aber besser die Vermutung bestätigen, daß die fraglichen Worte aus der aristotelischen Erklärung der tragischen Katharsis herausgegriffen sind. Der reine „Phobos“ und der reine „Eleos“ ─ die richtigen, reinen Furcht- und Mitleidempfindungen ─ sind das Resultat der Katharsis; das Objekt dagegen, an dem sie sich vollzieht, sind gerade die von dem Excerptor genannten „ Pathemata “, also „ die fürchterlichen Affekte “, die übermäßigen Furchtempfindungen ( ὑπερβολαὶ τοῦ φόβου ). Diesen stellt die Komposition des tragischen Kunstwerks ebenso die „ Pathemata “ des „Eleos“ entgegen, die wir im Deutschen unter dem Namen der schmerzlichen Mitleidsäußerungen, also der „ Rührung “ in ihrer Gesamtheit bezeichnen. Hierfür hat die griechische Sprache das Wort οἶκτος ; sie besitzt gar kein anderes Wort, das hier mit größerem Recht erwartet werden könnte. Nun ist aber nach der aristotelischen Theorie der Zweck der Tragödie keineswegs, „ Rührung “ und „ fürchterliche Affekte “ ─ φοβερὰ παθήματα und οἶκτος ─ hervorzubringen, mit diesen ─ übrigens so leicht zu erzielenden ─ Wirkungen ihr „Werk“ ( ἔργον τραγῳδίας ) abzuschließen: sondern ihr Ziel ist aus der Gegenwirkung der beiden Gruppen von Affekten das Gleichmaß beider Empfindungen, die reinen Pathe also der echten Furcht und des echten Mitleids hervorgehen zu lassen, d. h. die Katharsis beider Affekte „abschließend zu bewirken“ ( περαίνειν ). Grade das also „ will “ sie: und grade das schreibt der Excerptor aus: συμμετρίαν θέλει ἔχειν τοῦ φόβου , „sie will ein Ebenmaß der Furcht haben“. Diesen Satz läßt sogar Bernays gelten: „Wenn dieses Sätzchen, mit dem Zeichen des Excerptes ( ὅτι ) an der Spitze, auch nichts Neues lehrt, so ist es doch vollkommen im Sinne des Aristoteles gehalten. Denn freilich ‚will die Tragödie eine Symmetrie der Furcht haben‘, nämlich ein Ebenmaß der Furcht mit dem Mitleid.“ Aber Bernays schränkt dieses Zugeständnis, das im übrigen weitab von seiner eigenen Theorie liegt, auf die dürftige Bemerkung ein, „die Furcht dürfe sich nicht zur Betäubung steigern, bei der eine reflektierende Empfindung wie Mitleid nicht bestehen könne“. Er beruft sich dabei auf eine Stelle der Rhetorik (1386 a 22), die nicht allein gar nichts mit der Tragödie zu thun hat, sondern die von der „ Furcht “ überhaupt nicht handelt, sondern von einem schrecklichen Ereignis ─ δεινόν ─; von diesem sagt Aristoteles, daß wenn es die Zuhörer des Redners selbst getroffen hat, es sie für die Empfindung des Mitleids unfähig mache, da sie von dem eigenen Unglück dann völlig hingenommen seien. Bernays verfehlt also das Verständnis der Stelle vollständig. Jhr echt aristotelischer Ursprung wird aber im folgenden noch evidenter. Die beiden soeben erörterten Sätzchen greifen die beiden wesentlichsten Bestimmungen aus der aristotelischen Erklärung der Katharsis heraus: 1) das Mittel ihrer Wirksamkeit, nämlich die wechselseitige Benutzung der durch die Natur des tragischen Stoffes gegebenen schrecklichen und traurigen Seelenbewegungen zur Enthebung der Seele von ihrer Last; und 2) das Ziel ihrer Wirksamkeit: die „ Symmetrie “ derselben. Daß aber in dieser Symmetrie wirklich und gewiß nach der Denkweise des Aristoteles die Aufgabe der Tragödie beschlossen liegt, ist mit zwei aristotelischen Worten unumstößlich zu erweisen. Diese Aufgabe besteht nach ihm darin in den Zuschauern die Bereitschaft zur Freude ─ τὴν δύναμιν τῆς ἡδονῆς ─ herzustellen; was versteht er aber unter der „ Freude “? Er sagt es im dritten Buche seiner Psychologie im Kap. 7 (431 a 10) ἔστι τὸ ἥδεσθαι τὸ ἐνεργεῖν τῇ αἰσθητικῇ μεσότητι πρὸς τὸ ἀγαθὸν ᾗ τοιοῦτον , d. h. „ Sich freuen heißt das rechte Mittelmaß der Empfindung gegenüber dem Vortrefflichen als solchem bethätigen (d. i. insofern und weil es das Vortreffliche ist).“ Daraus geht unbestreitbar hervor: die Freude an der Tragödie, der rechte Genuß des Tragischen, beruht auf der Thätigkeit der tragischen Empfindungen, insofern dieselben durch die Darstellung einer zu diesem Zweck eingerichteten Handlung zum rechten Mittelmaß, d. i. in diesem Falle ihre vollkommene Symmetrie, gebracht werden. Hieraus erklärt sich zugleich das letzte Sätzchen: ἔχει δὲ μητέρα τὴν λύπην . Bernays nennt die Worte „ein warnendes Beispiel, wie ein Kommentator durch scheinbar vernünftiges Verfahren aus seinem Autor das gerade Gegenteil von dem herausfolgern kann, was er meint. Mit einer Metapher, die im Griechischen und zumal auf aristotelischem Gebiet wo möglich noch geschmackloser ist als im Deutschen, besagen sie ‚die Tragödie habe die Unlust zur Mutter‘. Wie ist der gute Unbekannte hierauf geraten? Die aristotelische Rhetorik, in der er sich auch sonst noch wohlbeschlagen erweist, verführte ihn.“ Bernays meint nämlich, der Excerptor habe die dort enthaltenen Definitionen von Furcht und Mitleid als „Unlustempfindungen“ im Sinne gehabt und in lächerlichem Mißverständnis übersehen, daß Aristoteles ja von der Tragödie im Gegensatz dazu verlange, daß sie „ Hedone “ bereiten sollte. Übrigens, fügt Bernays hinzu, „ein Widerspruch, für den es auf formal logischem Wege keine Lösung gibt.“ Nun, von diesen Dingen ist oben die Rede gewesen; aber die dort vorgetragenen Ansichten erhalten hier direkte Bestätigung. Dem Sinne wie dem Ausdruck nach steht nichts im Wege auch diese Worte für ein, freilich dem festen Zusammenhange entrissenes, Citat aus Aristoteles zu halten. Das Wort μήτηρ wird von ihm mehrere Male metaphorisch gebraucht (s. 192 a 14 und 391 b 14), ebenso wendet er nicht selten die Bezeichnung „Vater“ vergleichsweise auf begriffliche Verhältnisse an. Dem Ausdrucke nach liegt also weder eine „Geschmacklosigkeit“, noch überhaupt irgend etwas Befremdendes vor. Dem Sinne nach jedoch kann diese Äußerung sehr wohl in den aristotelischen Ausführungen über die tragische Katharsis erwartet werden, ja eine derartige Äußerung kann dort gar nicht gefehlt haben: weist doch das kurze Wort in prägnanter Weise gerade auf die Lösung der= jenigen Frage hin, die zu allen Zeiten den Ausgangspunkt aller theoretischen Untersuchungen über das Wesen der Tragödie gebildet hat, auf die Frage, wie die Nachahmung einer traurigen Handlung Vergnügen bereiten könne. Daß die Tragödie das erste ist und daß sie das zweite dennoch erreicht, wird durch die thatsächliche Erfahrung immer wieder aufs neue bestätigt; aber alle Versuche, dieses unbestreitbare Faktum zu erklären, sind ausnahmslos bis in die neueste Zeit hin gescheitert: einzig und allein aus den Konsequenzen der aristotelischen Theorie sind die Mittel für eine solche Erklärung zu gewinnen. Und zwar mit der größesten Einfachheit. Reinheit d. i. vollkommene Richtigkeit der Empfindung ist überhaupt im Leben eine seltene Erscheinung, nirgends aber ist sie seltener und nirgends schwerer zu erreichen als gegenüber den schweren Schicksalen, von denen man selbst bedroht wird oder von denen man andere bedroht oder betroffen sieht. Daher sind die Empfindungen, die durch die Nachahmung derartiger Schicksale erregt werden, zunächst nicht die reinen, richtigen, ja es gibt kein Mittel, durch welches die Kunst direkt und unmittelbar die reinen Schicksalsempfindungen zu erregen vermöchte. Die Tragödie, die dieses Ziel verfolgt, kann nicht umhin zunächst das Objekt herzustellen, an welchem nun den Läuterungsprozeß zu vollziehen, die Katharsis zu vollenden ihr eigentliches Geschäft ist. Die Erregung der traurigen, schmerzlichen, beunruhigenden Furcht= und Mitleidaffekte ist die unerläßliche Vorbedingung für die Erzeugung des hohen künstlerischen Genusses, des „Vergnügens an tragischen Gegenständen“, der Hedone, welche die gewissen Begleiter der „ Symmetrie “ der Furcht und des Mitleids, ihres durch die Katharsis erzielten rechten Gleichmaßes sind. Ohne daß diese Trauer, dieser Schmerz ─ λύπη ─ vorangegangen, kann von der tragischen Kunst und von dem Genuß derselben keine Rede sein: sehr treffend heißt darum der Schmerz gleichsam ihr Erzeuger. Der Beweis, daß Aristoteles die „ Trauer die Mutter des Trauerspiels “ genannt habe, ist natürlich nicht zu erbringen; daß aber die Metapher dem Kern seiner Lehre entspricht, und daß sie daher mit großer Wahrscheinlichkeit in dem Zusammenhange, in welchem wir sie bei dem Excerptor finden, für einen Teil der verlorenen Erläuterung des Aristoteles über die Katharsis gehalten werden kann, dürfte keinem Zweifel unterworfen sein. Es bedarf aber keines Hinweises darauf, von welcher Wichtigkeit der Nachweis der Echtheit dieser Excerpte ist, nicht nur um ihres Jnhaltes willen, sondern namentlich wegen ihres schwerwiegenden Zeugnisses für die Echtheit auch des sich daran schließenden zweiten Paragraphen, der die Definition der Komödie uns überliefert. J. Bernays hat es durch sein kategorisches Verwerfungsurteil verschuldet, daß seitdem niemand es der Mühe wert gehalten hat diesen Schatz zu heben, den er für einen „Kohlenschatz“ erklärt, „eine jämmerlich ungeschickte Travestie der aristotelischen Definition der Tragödie, obendrein durch Lücken verstümmelt und durch Fehler verwirrt.“ Die „Lücken und Fehler“ finden sich bekanntlich in unserer Überlieferung der echten aristotelischen Poetik nicht minder zahlreich; wären sie dort nur überall ebenso leicht auszufüllen und zu verbessern, wie es hier glücklicherweise der Fall ist. Diese Korrekturen liegen so auf der Hand, daß sie in der Hauptsache nicht einmal eines Wortes der Begründung bedürfen. Sie sind im folgenden durch stärkeren Druck ausgezeichnet, während die Lesart der Handschrift in Klammern hinzugefügt ist: Κωμῳδία ἐστὶ μίμησις πράξεως γελοίας (- ου ) καὶ ἀμοίρου μεγέθους, τελείας (- ου ), ἡδυσμένῳ λόγῳ (fehlt), χωρὶς ἑκάσ τ ῳ (- ου ) τῶν μορίων ( ἐν ) τοῖς εἰδεσι, δρώτων (- ος ) καὶ οὐ (fehlt) δἰ ἀπαγγελίας ( ἐ- ), δἰ ἡδονῆςκαὶ γέλωτος περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν . Also: „ Die Komödie ist die Nachahmung einer lächerlichen und Größe nicht beanspruchenden, vollständigen Handlung, in kunstmäßig erhöhtem Ausdruck, in für jeden ihrer Teile verschiedener Verwendung der Arten desselben, durch Aktion und nicht durch Erzählung, welche Wohlgefallen und Lachen erregt und durch beide die ihnen entsprechenden Empfindungsäußerungen zu klären die Kraft hat. “ Für J. Bernays genügen die folgenden wenigen Worte um diese fest geschlossene Definition, die sogar eine sehr wertvolle Berichtigung des uns überlieferten Textes der aristotelischen Definition der Tragödie bietet, kurzer Hand abzuthun: „Jedermann muß sehen, daß γέλως , eine Unterart der ἡδονή , nicht mit dieser auf gleiche Linie kann gestellt werden, daß ἡδονή auch der Tragödie zukommt, also keine unterscheidende Eigentümlichkeit der Komödie abgibt, daß endlich ἡδονή nie und nimmer ein πάθημα zu nennen ist ─ kurz das ganze Machwerk beweist nur, daß der Verfertiger desselben in seinem Exemplar der Poetik ebensowenig wie wir in dem unsrigen eine Definition der Komödie vorfand. Die zum Ersatz des Mangels gefertigte verrät durchweg so wenig Sinn, daß es unnütz wäre viel zu forschen, was wohl mit dem völlig sinnlosen und offenbar verschriebenen καὶ ἀμοίρου könne gemeint sein.“ Jn jedem Wort ein Beweis, daß Bernays durch nichts als durch seine vorgefaßten Meinungen gehindert ist, diesem Paragraphen dieselbe Anerkennung zu teil werden zu lassen, wie fast dem gesamten übrigen Text des Fragmentes „über die Komödie“, wo allerdings jene Bernaysschen Privatmeinungen gar nicht in Betracht kommen. Was kann klarer sein als jenes angeblich „völlig sinnlose“ καὶ ἀμοίρου μεγέθους : im Gegensatz zu der tragischen Handlung, die der „ Größe “ nicht entbehren darf, weil sonst das „Tragische“ zum lediglich „Traurigen“ entarten würde, macht die komische Handlung auf „ Größe “ nicht Anspruch, sie ist ἄμοιρος „ unteilhaftig “ der Größe. Die „ Größe “ d. h., wie oben erörtert wurde, die hervorragende Bedeutung der ins Spiel kommenden Jnteressen, an und für sich betrachtet, seien sie sachlicher oder ethischer Natur, würde sogar der reinen Wirkung der „lächerlichen“ Handlung hindernd im Wege stehen, ja sie aufzuheben geeignet sein. Die komische Wirkung besteht nur so lange, als der durch die Handlung augenfällig gemachte Mangel, Jrrtum oder Fehler nicht schädlich, verderblich erscheint; diese letztere Wirkung tritt aber um so leichter, ja gewisser ein, je höher die Bedeutung der dadurch in ihrem Bestand bedrohten Jnteressen ist, d. h. also je mehr die Handlung auf das Attribut der Größe an und für sich Anspruch hat. Um Beispiele anzuführen: ein „ großes “ Jnteresse würde in Lessings „ Minna von Barnhelm “ ins Spiel kommen, wenn das ethische Hamartema in Tellheims Charakter, die übermäßige Reizbarkeit seines Ehrgefühls, ihn zu einem Schritte hinreißen würde, der durch die von außen hinzutretenden Umstände zu einem irreparablen, also für das Lebensglück der Beteiligten verhängnisvollen gemacht würde; damit wäre die komische Wirkung des Ganzen vernichtet: Jn den „ Captivi “ des Plautus würde es sich um ein „ Großes “ handeln, wenn die „Erkennung“ durch äußere Verwickelung verzögert würde, und Hegio unwissentlich den eigenen Sohn im Zorn getötet oder verstümmelt hätte, wie er droht es zu thun; dabei könnte die Komik des Stückes nicht bestehen. Shakespeare ist zweimal in seinen Kompositionen bis an die äußerste Grenze gegangen: er hat in seinem „ Wintermärchen “ und in „ Viel Lärmen um nichts “ die Handlung zunächst im Maßstabe der „ Größe “ angelegt; er hat sich damit die schwierige Aufgabe gestellt, die er sich freilich durch eine Reihe der feinsten Kunstmittel erleichtert, oder besser, überhaupt lösbar gemacht hat, die scheinbar „große“ Bedeutung der Handlung erst wieder aufzuheben, um in dem einen Fall die wohlgefällige, im andern die komische Wirkung frei werden zu lassen. Die Bestimmung, daß die Handlung der Komödie „ unteilhaftig der Größe “ ─ άμοιρος μεγέθους ─ sein solle, ist also eine aus dem Kern der Sache hergeleitete, unentbehrliche Vorschrift für ihre richtige Komposition, einer der wesentlichsten Bestandteile ihrer Definition. Beiläufig bemerkt mag die Endung des Kompositums ἀμοίρου den flüchtigen Abschreiber verleitet haben, durch Assimilation auch den beiden andern Attributen dieselbe Endung zu geben statt der richtigen, weiblichen: γελοίου und τελείου statt γελοίας und τελείας zu schreiben. Diese beiden letzteren Bestimmungen bedürfen keiner Rechtfertigung; daß die Handlung „ vollständig “ sei, ist Grunderfordernis, daß sie „ lachenerregend “ sei, bezeichnet ebenso ihren stofflichen Grundcharakter, das Feld ihrer Wirksamkeit, wie für die Tragödie die Bestimmung, daß ihre Handlung dem „ Ernste “ der Schicksalsempfindungen Raum gebe, daß sie eine „ernsthaft=würdige“ ─ σπουδαία ─ sei. Daß in dem Folgenden die Worte ἡδυσμένῳ λόγῳ nur durch ein Versehen ausgefallen sind, bezeugt der Zusatz, von welchem dieselben in der Poetik begleitet sind und der sich hier wiederfindet. Wenn dieser Zusatz aber auf den ersten Blick abermals eine Verdrehung des Wortlautes aufzuweisen scheint, nämlich χωρὶς ἐκάστου τῶν μορίων ἐν τοῖς εἴδεσι , während in der Poetik steht χωρὶς ἑκάστου τῶν εἰδῶν ἐν τοῖς μορίοις , so erweist die nähere Untersuchung, daß dieser wegen seiner Kürze schwer verständliche Satz, der auch in der Poetik fehlerhaft überliefert ist, durch die Variante des Excerptors vielmehr eine wesentliche Berichtigung erfährt. Der Sinn des Satzes ist im Texte der Poetik erklärt: die Tragödie soll, und dasselbe wird hier von der Komödie gelehrt, in „verschönertem“ d. i. „kunstmäßig erhöhtem“ Ausdruck vorgetragen werden; die Arten desselben seien „ rhythmische Gliederung “ ( ῥυθμός ), „ musikalische Begleitung “ ( ἁρμονία ) und „ Gesang “ ( μέλος ); die gesonderte Anwendung dieser Arten (das χωρὶς für dieselben) bedeute, „daß in manchen Teilen die Wirkung hervorgebracht werde ( περαίνεσθαι ) allein durch das rhythmische Wort ( διὰ μέτρων μόνον ), in andern wieder durch den Gesang ( καὶ πάλιν ἕτερα διὰ μέλους )“. Der Sinn jenes Satzes ist also klar, obwohl die Übersetzer und Kommentatoren die aristotelische Unterscheidung von Harmonia, welches Wort den musikalischen Klang bedeutet, wie aus einer großen Zahl von Beispielen des aristotelischen Sprachgebrauchs zu erweisen ist, und von Melos, welches den Gesang mit und ohne Wort bezeichnet, nicht erkannt und durch allerlei Änderungen des Textes verwischt haben. Nicht so klar ist es aber, wie in den durch den Text der Poetik überlieferten Worten dieser Sinn in präcisem Ausdruck gefunden werden soll. Man hat zunächst allgemein die Änderung von ἑκάστου in ἑκάστῳ an= genommen und konstruiert nun: ἡδυσμένῳ λόγῳ, χωρὶς ἑκάστῳ τῶν εἰδῶν ἐν τοῖς μορίοις „in künstlerischem Ausdruck, gesondert, durch eine jede seiner Arten, in den Teilen ( sc . der Tragödie)“. Das erweist sich aber bei genauerer Betrachtung als ein Nonsens. Von den drei Kunstmitteln des dramatischen Ausdrucks kann nur das erste, der Rhythmos „ gesondert “ zur Anwendung kommen, nämlich in der metrisch gegliederten Rede; derselben kann eine musikalische Begleitung, z. B. durch die Flöte sich zugesellen, endlich können im Chorlied alle drei Kunstmittel vereinigt verwendet werden. Es ist also falsch, daß die Nachahmung „ gesondert durch eine jede der Arten “ des künstlerischen Ausdrucks „ in den Teilen “ der Tragödie zu geschehen habe; der Sinn verlangt, daß das Wort ἑκάστῳ nicht dem Begriff der εἴδη sondern dem der μόρια zugeordnet sei: für die einzelnen Teile findet eine Sonderung der Arten des Schmuckes statt, für jeden der einzelnen Teile der Tragödie, also Prologos und Epeisodia, Parodos und die Stasima, ebenso für die Kommoi, ist der künstlerische Ausdruck seinen Arten nach besonders geordnet. Auf diesen Wortlaut weist auch die Erläuterung der Poetik zurück durch die Worte τὸ δὲ χωρὶς τοῖς εἴδεσιν . Es wäre also zu schreiben: χωρὶς ἑκάστῳ τῶν μορίων τοῖς εἴδεσιν und zu übersetzen: „ für jeden ihrer Teile gesondert nach seinen Arten, also bald bloßes Metrum, bald zu diesem Musikbegleitung, bald das Lied allein oder von Jnstrumenten begleitet, bald dieses mit der metrischen Rede abwechselnd. Also auch die Lesart des Fragmentes wäre schon verdorben durch die Änderung des Dativs ἑκάστῳ in den Genitiv, die offenbar durch die fälschliche Auffassung des χωρίς als Präposition veranlaßt ist, und durch die Einschiebung des ἐν , die erfolgte, weil man die Stelle nicht mehr verstand. Aber durch die richtige Verbindung des ἕκαστον gegenüber der unlogischen Entstellung im Texte der Poetik hat das Fragment einen unleugbaren Vorzug, der beweist, daß der Excerptor aus einem aristotelischen Texte geschöpft hat und zwar aus einem älteren als wir ihn besitzen. Dieser Umstand, der an sich für den vorliegenden Gegenstand nicht in Betracht kommt, ist doch für den Beweis der Echtheit der Definition, in der die Stelle enthalten ist, von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. Die drei andern Einwendungen, die Bernays außer der Behauptung der Sinnlosigkeit des ἀμοίρου erhebt, gehen aber das Wesen der Sache an. Es sei die dritte zuerst betrachtet: „nie und nimmer sei die Hedone ein Pathema zu nennen“; sodann die beiden ersten, daß das Lachen, als eine Unterart der Hedone, mit dieser nicht auf gleiche Linie gestellt werden könne, daß diese zudem, als auch der Tragödie zukommend, keine unterscheidende Eigentümlichkeit der Komödie sein könne. Hier darf im Jnteresse der Sache die schärfste Verurteilung nicht zurückgehalten werden: diese Bernays'sche Kritik gibt Zeugnis davon, daß ihm das Verständnis der Begriffe, von denen er spricht, absolut fehlt. Um das zu beweisen bedarf es keines ausgedehnten philologischen Apparates; es ist angänglich hier mit wenigen Sätzen auszukommen. „ Pathema “ nennt Aristoteles einen jeden Veränderungsvorgang, wie oben schon erörtert, auf psychologischem Gebiet einen jeden Veränderungsvorgang in der Seele. Statt hundert Stellen nur eine zum Zeugnis aus de interpret. c. I : ἔστι μὲν οὖν τὰ ἐν τῇ φωνῇ τῶν ἐν τῇ ψυχῆ παθημάτων σύμβολα . S. Aristot. περὶ ἑρμηνείας , S. 16 a 3. „Was die Stimme ausdrückt ist Zeichen der ─ Pathemata ─ Veränderungsvorgänge in der Seele.“ Wer wollte behaupten, daß Lachen und Freude nicht zu diesen „Pathemata“, diesen Veränderungen der Seele gehörten? Ferner aber heißt es in der Psychologie des Aristoteles (vgl. περὶ ψυχῆς , II, 2, S. 413 b 23 und 414 b 4) ὅπου αἴσθησις καὶ λύπη τε καὶ ἡδονή . „wo Empfindungsvermögen vorhanden ist, da findet auch Schmerz und Freude statt“. Also nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren. Die Hedone, die Freude, ist also mit dem, was wir im Deutschen im engeren Sinne „Empfindungsvorgänge“ nennen, und was auch Aristoteles in der Ethik im engeren Sinne mit Pathos bezeichnet, allerdings nicht auf eine Linie zu stellen ─ und etwas Ähnliches mag Bernays vorgeschwebt haben ─, aber sie hat mit der λύπη , dem Schmerz, die gemeinsame Stellung, daß diese beiden Veränderungsvorgänge, Pathemata, der Seele mit Notwendigkeit als Begleiterscheinungen bei einem jeden Empfindungsvorgang sich einstellen. Jn der Nikomachischen Ethik heißt es II, 6 (1105b 21) λέγω δὲ πάθη .... ὅλως οἷς ἕπεται ἡδονὴ καὶ λύπη „unter Empfindungen verstehe ich überhaupt alle die Vorgänge, die von Freude und Schmerz begleitet sind “. Aus den ferneren Ausführungen des Aristoteles erhellt, was übrigens an sich keines weiteren Beweises bedarf, daß die „Empfindungen“ sich nicht allein untereinander nach diesem Gesichtspunkte unterscheiden, daß den einen schmerzliche, den andern freudige „ Pathemata “ entsprechen, sondern daß auch eine und dieselbe Empfindung unter Umständen bald den einen bald den andern Charakter annehmen kann. Aber der Bann des Jrrtums, der Bernays' sonst so glänzenden Scharfsinn gefangen hält, erstreckt sich noch weiter. Offenbar denkt er bei dem Ausdruck „ Hedone “ nur an jene höchste, richtige, reine „Freude“, deren Wesen, wie es von Aristoteles so herrlich erfaßt und so unvergleichlich definiert ist, im Obigen wiederholt und ausführlich dargestellt wurde. Daß dem so ist, zeigt sich darin, daß Bernays zum Beweise seiner Behauptungen sich auf diejenige „ Hedone “ beruft, die Aristoteles der tragischen Wirkung zum „Ziel“ gesetzt hat. Er vergißt dabei aber völlig, daß dieser einen einzigen rechten, daher hohen und reinen, Freude Tausende und aber Tausende von „falschen, schlechten, schändlichen, krankhaften, schädlichen, schimpflichen, sklavischen, ja tierischen“ Arten der Freude, ─ lauter Pathemata der Seele ─ zur Seite stehen, sämtlich auf dem specifischen Gebiete des Empfindungslebens von Aristoteles so bezeichnet ( ἡδοναί φαῦλαι, αἰσχραὶ , βλαβεραὶ, ὀνειδιζόμεναι, ἐπονείδιστοι, νοσηματώδεις, ἀνδραποδώδεις , θηριώδεις ), denen auf der andern Seite ebensoviele Bezeichnungen des Gesunden, Richtigen, Edlen, auch vielfältiger Mischungsverhältnisse gegenüberstehen. Ein Blick in den Jndex zu Aristoteles' Schriften, den wir dem großartigen Fleiß und ausgezeichneten Scharfsinn Bonitz's verdanken, liefert überreiches Beweismaterial. Es wurde oben schon zu anderem Gebrauch die unübertreffliche Definition der aristotelischen Psychologie für die echte Freude citiert: „ Sich freuen (also wahrhaft freuen!) heißt das rechte Mittelmaß der Empfindung gegenüber dem Vortrefflichen als solchem bethätigen. “ Daraus ergibt sich mit absoluter Sicherheit das folgende Resultat als ein echt aristotelisches, d. h. als ein solches, das mit der Anschauungs- und Ausdrucksweise des großen Philosophen auf das genaueste zusammenstimmt: durch die Aufgabe der Komödie wird es bedingt, daß sie zu einem Teile darauf eingerichtet sei, unmittelbares Wohlgefallen hervorzubringen, d. h. also, daß die von ihr als Stoff ausgewählten Handlungen zu einem Teile solche Empfindungen hervorbringen sollen, die unmittelbar und notwendig von Freude, Hedone, begleitet sind. Damit aber bereitet sie sich nur das Feld, auf dem ihre eigentliche Wirkung nun vor sich gehen soll: nämlich diesen ihren Handlungsstoff so anzulegen und durchzuführen, daß derselbe die Kraft habe die Bethätigung jener wohlgefälligen Empfindungen in ihrem rechten Mittelmaß herbeizuführen. Um das aber zu erreichen, bedarf sie zugleich des andern Teiles der von ihr anzuregenden Pathemata. Dieses sind die Empfindungen des Lächerlichen, die nach Bernays eine Unterart der Hedone und daher mit dieser nicht auf gleiche Linie zu stellen sein sollen. Das ist aber grundfalsch, ja diese Behauptung beruht auf einem der gröbsten logischen Fehler, die überhaupt begangen werden können. Leider fehlt uns die aristotelische Definition des γέλως , des Lachens, bezüglich der er auf die Poetik hinweist, wo wir sie so schmerzlich vermissen. Nur an wenigen Stellen spricht er vorübergehend von der Natur des γελοῖον , des Lächerlichen; eine derselben steht am Schluß des elften Kapitels im ersten Buch der Rethorik, und diese ist es offenbar, auf die Bernays Bezug nimmt. Hier bespricht Aristoteles, nicht mit wissenschaftlicher Schärfe sondern absichtlich in einer für den praktischen Gebrauch eingerichteten Weise (vgl. darüber S. 1369 b 31), die Natur dessen, was dem Menschen „ angenehm “ ─ ἡδύ ─ erscheint; und zwar ausdrücklich, was ihnen so erscheint, keineswegs was ihnen mit Recht „angenehm oder erfreulich“ ─ ἡδύ kann ja beides bedeuten ─ erscheinen soll. Er schickt der Aufzählung dieser ἡδέα , dieser „ angenehmen “ Dinge die populär gehaltene und absichtlich für den hier vorliegenden Zweck dem Begriff die weitesten Grenzen ziehende Definition der Hedone voraus, die oben schon einmal citiert ist. Vgl. oben S. 444. „Die Freude ist eine Bewegung der Seele und eine volle und bewußte Herstellung derselben zu der ihr innewohnenden Natur“ ( Ὑποκείσθω δ' ἡμῖν εἶναι τὴν ἡδονὴν κίνησίν τινα τής ψυχῆς καὶ κατάστασιν ἀθρόαν καὶ αἰσθητὴν εἰς τὴν ὑπάρχουσαν φύσιν ). Wie gleichfalls oben schon bemerkt, paßt diese Erklärung sowohl auf die echte und rechte Freude, sofern man unter der der Seele innewohnenden Natur diejenige versteht, die ihrer Anlage nach ihr Wesen ausmacht, als auch auf jede Form, in welcher die Freude thatsächlich sich äußert, selbst wenn es die verkehrteste wäre, sofern man an den in jedem einzelnen Falle thatsächlich der Seele zur Natur gewordenen und als solche in ihr obwaltenden Zustand denkt. Unter diesem Gesichtspunkt zählt nun Aristoteles alles das auf, was den Menschen für „angenehm“ gilt, da es die ihnen gemäße Art der Freude in ihnen hervorbringt. So sagt er z. B.: Bemühung, Fleiß, Anstrengung ist ihnen unangenehm ( λυπηρόν ); sobald sie zur Gewohnheit werden, sind auch sie ihnen angenehm ( ἡδύ ); leichter Sinn, Muße, Sorglosigkeit, Spiel, Erholung, Schlaf gehören zu den „angenehmen“ Dingen. Nachdem er sodann alles Erdenkliche das unter diesem Gesichtspunkt zu vereinigen ist, aufgereiht hat, schließt er mit folgenden Worten: „ebenso muß, da ja das Spiel und jede Erholung zu den angenehmen Dingen gehört und also auch das Lachen angenehm ist, notwendig das Lächerliche angenehm sein, ob es nun an Menschen, in Worten oder Handlungen hervortritt“ ( ὁμοίως δὲ καὶ ἐπεὶ ἡ παιδιὰ τῶν ἡδέων καὶ πᾶσα άνεσις, καὶ ὁ γέλως τῶν ἡδέων, ἀνάγκη καὶ τὰ γελοῖα ἡδέα εἶναι, καὶ ἀνθρώπους καὶ λόγους καὶ ἔργα ). Das sind die Sätze, aus denen Bernays die Behauptung konstruiert, Aristoteles betrachte das „Lachen“ als eine Unterart der „Freude“! Danach müßte Aristoteles den Schlaf, den Leichtsinn, das Nichtsthun ebenfalls für „Unterarten“ der Freude erklärt haben, nicht minder den Zorn, die Rache, die Wehmut, die Prozeßsucht und noch vielerlei anderes, denn von allem diesem sagt er ebenso wie vom Lachen, daß es den Menschen „angenehm“ sei oder sein könne. Nach diesem Schlußverfahren würde aus dem Vordersatz: „mäßiges Lachen ist gesund“ mit demselben Recht die Folgerung gezogen werden können, daß es eine Unterart der Gesundheit sei. Aristoteles handelt von dieser logischen Operation, eine anhaftende Eigenschaft zur Wesensbestimmung zu machen, ausführlich im vierten Kapitel des dritten Buchs seiner Metaphysik; man kann damit beweisen, daß ein Schiff, eine Wand und ein Mensch ein und dasselbe seien. Das „Lachen“ kann also sehr wohl mit der „Freude“ auf eine Linie gestellt werden, um so mehr, da es durch seine Eigenschaft, zu den angenehmen Dingen zu gehören, in jener nahen Beziehung zu dem Begriff der Freude steht, die unumgängliches Erfordernis für die Zusammenstellung von Begriffen ist. Wie ist nun aber die gegenseitige Beziehung der beiden Begriffe zu bestimmen? Hier fehlen uns abermals die Licht verbreitenden aristotelischen Aufschlüsse, die ohne Zweifel an die in der Poetik entwickelte Definition des Lachens sich angereiht haben; die Erläuterung des Wesens der komischen Katharsis muß dazu den reichlichsten Anlaß gegeben haben. Der Versuch diese Lücke auszufüllen ist oben im vierzehnten Abschnitt gemacht worden; was dort, namentlich von S. 240 an bis zum Ende des Abschnittes gesagt ist, müßte hier von Wort zu Wort wiederholt werden. Die folgende Darstellung nimmt darauf in der Weise Bezug, als ob diese Wiederholung geschehen wäre. Nur in einem Punkte bedarf das oben Ausgeführte hier noch einer Ergänzung. Es ist dort die Natur des Lächerlichen auf Grund der aristotelischen Definition desselben untersucht: es bliebe noch übrig, die Untersuchung auf den Vorgang des Lachens selbst zu richten. Es muß hier als der Kernpunkt der obigen Erörterungen noch einmal hervorgehoben und den modernen, verwirrenden Untersuchungen gegenüber um so stärker betont werden, daß es die fehlerhafte oder deforme Erscheinung selbst ist, die das Freudige im Affekt des Lachens erzeugt, nicht die über dieselbe im Wettstreit der beiden den Sieg davontragende Kontrastvorstellung. Die unmittelbar, mit blitzartiger Schnelligkeit eintretende ästhetische Entscheidung, die durch die augenfällig fehlerhafte, deforme Erscheinung hervorgerufen wird, ist ein Akt des voll und bewußt richtigen Empfindens, des wirklichen oder vermeintlichen, da sie ein ästhetisches Urteil über das Negative als solches mit Sicherheit, und zwar mühelos, ohne Reflexion und mit überraschender Evidenz feststellt: als ein solcher Akt des vollen und bewußt naturgemäßen Empfindens hat dieser Seelenvorgang die Eigenschaft des Freudigen. Die Freude ist auch hier die Begleiterin einer Energie, der Bethätigung des ästhetischen Vermögens. Daß dem so ist, wird durch eine Untersuchung über den Vorgang des Lachens selbst noch mehr bekräftigt und außer Zweifel gestellt. Es bedarf keines Beweises, sondern nur des Hinweises auf die Thatsache, daß der Affekt des Lachens über einen viel weiteren Bezirk ausgedehnt ist als den des eigentlich sogenannten Lächerlichen. Als überwiegend physiologischer Vorgang wird es durch eine Anzahl bestimmter Nervenreizungen hervorgerufen, von denen schon Aristoteles in seinen „Problemen“ gelegentlich handelt, so durch Hautkitzel an gewissen, dafür besonders empfänglichen Stellen und durch äußere Erschütterung des Zwerchfells, vorzugsweise wenn beide Reizungen unvermutet erfolgen (vgl. Arist. Probl. 965 a 11 ff.). Sehr treffend hebt Aristoteles hervor, daß diese Reizungen das Lachen nicht erzeugen, wenn man sie selbst an sich ausübt, und daß sie ebensowenig oder doch bei weitem schwächer jene Reflexbewegung des Lachens auslösen, wenn man sie vorbereitet und mit Bewußtsein erfährt, daher auch bei Erwachsenen schwächer wirken als bei Kindern, bei Gebildeten weniger als bei Ungebildeten. Die das Lachen erregende Ursache liegt also weniger in jenen Reizungen selbst als vielmehr in dem Heimlichen, Unvermuteten derselben. Von diesem Lachen sagt er daher, es beruhe auf einer Art täuschender Überraschung, Hintergehung ( παρακοπή τις καὶ ἀπάτη ). Auch hier ist es das Resultat einer Bethätigung des Empfindungsvermögens und zwar, wie die neuere Physiologie lehrt, einer für den Organismus höchst zweckmäßigen Aktion des Nerven= systems; Vgl. die erste Abteilung der sehr anregenden Schrift von Dr. Ewald Hecker: „Die Physiologie und Psychologie des Lachens und des Komischen.“ Berlin 1873. es wird daher auch sinnlich angenehm empfunden, solange die Reizung durch Heftigkeit oder Dauer nicht etwa den Charakter des Schmerzlichen oder Schädlichen annimmt. Es darf aber gegenüber der medizinischen Forschung, die den Vorgang als rein physiologisch auffaßt, nicht vergessen werden, daß, wie aus den erwähnten Umständen hervorgeht, derselbe doch ohne die Mitwirkung des psychologischen Bewußtseins nicht zustande kommt; das Lachen ist daher von den reinen Reflexbewegungen, wie z. B. Niesen und Husten, wesentlich verschieden; diese letzteren treten ebenso wie beim Menschen auch bei den Tieren auf, jenes kommt nur dem beseelten, menschlichen Organismus zu. Zwischen diesem aus vorwiegend physiologischen Ursachen erfolgenden Lachen und dem Lachen über das Komische mitten inne steht, den Übergang vermittelnd, das Lachen als unmittelbarer Ausdruck des körperlichen Behagens und weiterhin der psychischen wohlgefälligen Erregung. Wenn Aristoteles das Lachen als auf einer Art von Täuschung und Überraschung beruhend bezeichnet, so weist dieser Fingerzeig auch hier auf den rechten Weg. Das Wohlgefühl freilich, von dem es erregt wird und das es begleitet, beruht nicht auf Täuschung; wohl aber ist die Bedingung dafür, daß der Affekt des Lachens dadurch erzeugt wird, daß die wohlgefälligen Erregungen plötzlich und unvermutet stattfinden, während gleichzeitig das Gemüt von jeder andern, etwa entgegenstehenden Regung frei ist, oder dieselbe ihm doch völlig fern gehalten wird. Solch ein Zustand vollkommener Unbewußtheit und Sorglosigkeit ist vor allem den Kindern eigen, die Jugend ist demselben leicht zugänglich und ebenso geben sich Leute von geringer Geistes- und Charakterbildung demselben gern hin; in allen Fällen waltet eine Art von Unkenntnis oder Vergessen, kurz von Täuschung ob über alles das, was jenen wohlgefälligen Regungen gegenübersteht. Das Bewußtsein desselben ist es, was den Ernst hervorbringt, der es verhindert, daß die wohlgefällige Erregung in den Affekt des Lachens ausbricht. Aber während diese Art des Lachens leicht ins Kindische und Alberne ausartet und nur in selteneren Fällen als harmloses Spiel auch dem Ernste zur Erholuug dient, ist jene dritte Art des Lachens, wo es durch das eigentlich sogenannte Lächerliche erzeugt wird, ein Affekt von allgemeiner Macht und Geltung. Der Grund davon ist leicht einzusehen. Hier ist die Überraschung des Bewußtseins an ihrer rechten Stelle. Auch hier findet das statt, was Aristoteles „ gewissermaßen als Hintergehung und Täuschung “ ─ παρακοπή τις καὶ ἀπάτη ─ zu bezeichnen sich veranlaßt sieht; aber diese „Täuschung“ hat ihre gute Berechtigung, wir lassen sie uns gern und geflissentlich als solche gefallen. Sie besteht darin, daß wir der überraschend uns entgegentretenden Erscheinung des Fehlerhaften und Deformen gegenüber alle Empfindungen des Mißfallens, Unwillens, Bedauerns, unter Umständen hohe Grade derselben, von denen sie an sich begleitet sein müßte, fallen lassen und sie als eine erfreuliche aufnehmen und festhalten; und zwar so, daß wir jene widrigen Empfindungen nicht etwa mit Bewußtsein aufgeben, sondern daß der wohlgefällige Affekt des Lachens unmittelbar und von selbst, unter Umständen unwiderstehlich und gegen unsern Willen in unsrer Seele Platz greift. Das Lachen beruht also auf einer offenbaren Täuschung unsres Bewußtseins: jenes gelegentlich von Aristoteles hingeworfene Wort, das ganz die Form trägt, in der er auch sonst gelegentlich auf fest ausgeprägte Resultate seiner Untersuchungen hindeutet, ist ein Funke, der, zum Aufglühen angefacht, die ganze Materie erleuchtet. Denn es zeigt sich sofort, daß diese Definition jenes aristotelische Siegel der Echtheit an sich trägt, daß sie den Begriff in seinem ganzen Umfange deckt, daß sie die Fälle des möglichen Mißbrauchs ebenso bezeichnet, wie sie das Wesen desselben in seiner richtigen Anwendung enthüllt. Die Bedingung nämlich, unter der allein die Täuschung des Lachens ihre volle Berechtigung hat, die fehlerhafte Erscheinung also mit gutem Grunde wohlgefällig aufgenommen wird, ist die, daß das blitzartig aufleuchtende ästhetische Urteil, welches das Fehlerhafte und Deforme als solches erkennt, ein richtiges sei. Dies wäre das Lachen, welches Lessing unter dem „ richtigen Lachen “ verstand, und das von Aristoteles in Analogie seines ὀρθῶς χαίρειν sicherlich auch ebenso bezeichnet worden ist. Die Freude daran beruht darauf, daß diese nach der negativen Seite hin sich geltend machende Empfindungsthätigkeit eine an sich gesunde, richtige ist. Die Täuschung darüber, daß die den Anlaß der wohlgefälligen Empfindung gebende Erscheinung im Grunde dennoch ein Schädliches, Verderbliches ist, das vor dem Forum des Verstandes, der Vernunft wie vor dem der ernsten Empfindung Mißbilligung verdient, ist in diesem Falle zwar auch eine momentan unwillkürlich erfahrene: aber das Korrektiv dagegen liegt in der den Affekt des Lachens begründenden ästhetischen Entscheidung selbst, durch das die sichere Gewähr gegeben ist, daß in jedem ferneren Augenblick das erregende Objekt den zuständigen Jnstanzen zur verdienten Behandlung übergeben werden kann. Ganz anders aber steht die Sache in den im Leben ungleich zahlreicheren Fällen, wo das plötzlich und überraschend durch die vermeintlich fehlerhafte Erscheinung hervorgerufene Empfindungsurteil, das dieselbe als solche aufnimmt, kein gesundes und richtiges, sondern ein mangelhaftes, ja vielleicht grundfalsches ist. Hier ist die durch das Lachen involvierte Täuschung eine dauernde und deshalb schädliche, obwohl der Affekt nichtsdestoweniger seine Natur des Erfreulichen behält; dasselbe bleibt subjektiv aus denselben Gründen bestehen, wie bei dem „richtigen“ Lachen, aber objektiv verliert es seine Berechtigung völlig. Ein solches Lachen, dem also vielleicht grade die Erscheinung des Richtigen, Gesunden als Veranlassung zu Grunde liegt, wird freilich, wie schon oben bemerkt, Vgl. oben S. 244. wegen seines inneren Widerspruches gegen die Wahrheit der Dinge, nicht von reiner und klärender Freude begleitet sein, sondern getrübt durch alle die Unlauterkeiten, die eben das Empfindungsurteil selbst verfälschen. Nun ist es aber klar, daß sowohl das richtige, berechtigte Lachen als das unrichtige, unberechtigte auf zwei verschiedene Arten begründet sein kann. Der Grund kann entweder subjektiv in der Beschaffenheit des die Erscheinung aufnehmenden Empfindungsvermögens liegen, oder objektiv in der Beschaffenheit der demselben unvermutet entgegentretenden Erscheinung. Das erste bedarf nicht des Beweises; das zweite erklärt sich daraus, daß, wie schon oben (s. S. 243 ff.) nachgewiesen wurde, die Erscheinung des „ reinen “ Lächerlichen im Leben eine ebenso seltene Erscheinung ist und in der Kunst ebenso schwer herzustellen wie die Erscheinung des reinen Schönen. Wo sie aber auftritt, wird sie die Kraft besitzen durch ihr bloßes Auftreten unmittelbar, mit blitzartig erleuchtender Wirkung und mit unbedingter Gewißheit die subjektiv richtige Empfindungsentscheidung, d. h. also das richtige Lachen hervorzurufen. Umgekehrt wird es im Leben irreführende Erscheinungen geben, und in den Nachahmungen der Kunst werden dieselben nicht minder häufig sein, die, indem sie mit Unrecht den Affekt des Lachens erzeugen, nicht allein das subjektiv falsche Empfinden in seiner dauernden Täuschung bestärken, sondern auch das an sich gesunde Empfinden zu momentaner, unberechtigter Täuschung zu verleiten vermögen. Ehe nun die Darstellung dazu vorschreitet, aus dieser Entwickelung die Konsequenzen für den vorliegenden Gegenstand zu ziehen, mag hier noch der gewagte Versuch gemacht werden, das Resultat derselben zu einer Rekonstruktion der aristotelischen Definition des Lachens zusammenzufassen. Dieselbe müßte also etwa so gelautet haben: Ἔστι μὲν ὁ γέλως κίνησις ἡδεῖα τῆς ψυχῆς Als solche, als κίνησις τῆς ψυχῆς , muß Aristoteles den γέλως definiert haben, da er gelegentlich, in einer Stelle der ersten Analytik (I, 36, S. 48 b 33) es abweist, daß das Lachen als ein Symptom aufzufassen sei: ὥστ' ού σημεῖον ὁ γέλως . καὶ παρακοπή τις καὶ ἀπάτη τῆς αἰσθήσεως δἰ ἁμαρτήματός τινος καὶ αἴσχους ἀνωδύνου καὶ οὐ φθαρτικοῦ . „ Das Lachen ist eine wohlgefällige Erschütterung der Seele, die in einer Überraschung und Täuschung des Empfindungsvermögens durch die weder schmerzlich noch verderblich wirkende Erscheinung des Fehlerhaften und Häßlichen besteht. “ Die „Täuschung“ würde also grade darin bestehen, daß das Fehlerhafte und Häßliche weder als schmerzlich noch als verderblich wirkend, sondern daß es wohlgefällig empfunden wird. Jene Bestimmungen des ἀνώδυνον und οὐ φθαρτικόν in der Definition des Lächerlichen im fünften Kapitel der Poetik wären also mehr als ein limitierender Zusatz, sie enthielten einen Hauptteil der Wesensangabe des Begriffes. Aus alledem ergibt sich aber für die Kunst, die sich die Aufgabe stellt, eine lächerliche Handlung nachzuahmen und durch „ Lachen “ also zu wirken, die Aufgabe, daß sie alles aufwende, damit die wohlgefällige Täuschung, die sie erregt, eine berechtigte, das Lachen, das sie hervorbringt, ein echt und wahrhaft erfreuendes sei. Kaum irgendwo ist die Gefahr der Abirrung für Dichter und Zuschauer so groß als eben hier. Nicht die Gefahr allein liegt vor, die Erscheinungen und Handlungen hinsichtlich des Fehlerhaften, Deformen, Häßlichen an ihnen falsch zu beurteilen ─ und welche, fast unbesiegbare Macht übt hier das Vorurteil in jeder Gestalt, nach Stand, Sitte, Religion, Partei, Erziehung, Schicksal, kurz nach der Gesamtheit der Lebensanschauungen und =Gewohnheiten! ─, es liegt auch die nicht minder große Gefahr vor, eben nur auf das Lächerliche den Blick zu richten und so ein unvollständiges Bild der Erscheinung oder Handlung zu entwerfen, also ein innerlich unwahres. Jm ersteren Falle ist das Vorurteil zu besiegen, im zweiten die Schmähsucht und die Spottlust. Aus der Erörterung dieser wesentlichsten Materie hat der Excerptor drei einzelne, unverbundene Sätze herausgegriffen, die jedoch, wenn man die sonst vorhandenen Äußerungen des Aristoteles über den Gegenstand hinzunimmt, genügen, um den ursprünglichen Zusammenhang mit Sicherheit wieder herstellen zu lassen. Der erste dieser Sätze lautet: § 4 Λιαφέρει ἡ κωμῳδία τῆς λοιδορίας . ἐπεὶ ἡ μὲν λοιδορία ἀπαρακαλύπτως τὰ προςόντα κακὰ διέξεισιν . ἡ δὲ δεῖται τῆς καλουμένης ἐμφάσεως . „Die Komödie ist von der Schmähung verschieden: diese spricht die vorhandenen Gebrechen unverhüllt aus; jene bedarf der sogenannten Emphasis “, d. i. einer Darstellung, welche dieselben aus dem wiedergespiegelten Bilde erraten läßt. Es kann hier von der Bekämpfung der wiederum völlig verfehlten Erklärung dieses und der folgenden Sätze durch J. Bernays abgesehen werden zu Gunsten einer kürzeren direkten Darstellung des Sachverhaltes. Jn der Poetik bezeichnet es Aristoteles als den Beginn, gewissermaßen die Geburt der Komödie, daß man statt in jambischen Spottliedern die Fehler und Laster bestimmter einzelner Personen direkt anzugreifen, sich dazu erhob, das Lächerliche solcher Gebrechen überhaupt, als eine allgemeine Erscheinung, darzustellen. Sie band sich also nicht wie jene an die Vorkommnisse, die thatsächlich diesem oder jenem passiert waren, sondern sie baute die Handlung nach Maßgabe dessen auf, was geeignet war, das Lächerliche an sich selbst am besten hervortreten zu lassen (vgl. Kap. 9 συστήσαντες γὰρ τὸν μῦθον διὰ τῶν εἰκότων ) und legte den handelnden Personen die nach dieser Rücksicht sich ihr darbietenden Namen bei ( οὕτω τὰ τυχόντα ὀνόματα ὑποτιθέασιν ). Trotzdem Lessing in dieser Sache längst das Richtige gesehen und ausgesprochen hat, wird auch heute noch selbst diese Äußerung des Aristoteles für die ganz willkürliche und irrige Annahme als Zeugnis betrachtet, daß er der „neueren“ Komödie vor der „alten“ den Vorzug gegeben habe: diese habe, wie jedes beliebige Stück des Aristophanes beweise, bestimmte einzelne Personen unter ihrem wahren Namen verspottet, dagegen habe die neuere Komödie des Menander allgemeine Charaktere eingeführt. Dagegen Lessing in der Hamb. Dramat. St. 90, 91: „Man könnte einwenden, daß dergleichen bedeutende Namen (d. h. die zur Bezeichnung des Charakters erfunden sind) wohl nur eine Erfindung der neueren griechischen Komödie sein dürften, deren Dichtern es ernstlich verboten war, sich wahrer Namen zu bedienen; ..... aber es ist ebenso falsch, als falsch es ist, daß die ältere griechische Komödie sich nur wahrer Namen bedient habe. Selbst in denjenigen Stücken, deren vornehmste einzige Absicht es war, eine gewisse bekannte Person lächerlich und verhaßt zu machen, waren außer dem wahren Namen dieser Person die übrigen fast alle erdichtet, und mit Beziehung auf ihren Stand und Charakter erdichtet. Ja, die wahren Namen selbst, kann man sagen, gingen nicht selten mehr auf das Allgemeine als auf das Einzelne. Unter dem Namen Sokrates wollte Aristophanes nicht den einzelnen Sokrates, sondern alle Sophisten, die sich mit der Erziehung junger Leute bemengten, lächerlich und verdächtig machen. Der gefährliche Sophist überhaupt war sein Gegenstand, und er nannte diesen nur Sokrates, weil Sokrates als ein solcher verschrieen war. Daher eine Menge Züge, die auf den Sokrates gar nicht paßten, so daß Sokrates in dem Theater getrost aufstehen und sich der Vergleichung preisgeben konnte! Aber wie sehr verkennt man das Wesen der Komödie, wenn man diese nicht treffende Züge für nichts als mutwillige Verleumdungen erklärt und sie durchaus nicht dafür erkennen will, was sie doch sind, für Erweiterungen des einzelnen Charakters, für Erhebungen des Persönlichen zum Allgemeinen! “ Die einzige Ausstellung, die Aristoteles gelegentlich einmal an der alten Komödie zu machen hat, ist aus moralischen Bedenken hergeleitet und betrifft das Wesen und den Aufbau derselben nicht im geringsten; es ist die bekannte Stelle der Nikom. Ethik (IV, 14 S. 1128 a 20), wo davon die Rede ist, daß es für den Anstand ersprießlich sei für obscöne Witze lieber des verblümten Ausdrucks sich zu bedienen; das thue die neuere Komödie, die ältere nicht. Etwas ganz Verschiedenes davon enthält der Satz unseres Excerptors! Er betrifft das Wesen des Komischen. Wenn die im obigen gegebenen Definitionen des Lächerlichen und des Lachens richtig sind, so wird die Wirkung des Komischen aufgehoben oder doch schwer beeinträchtigt, sobald die Darstellung ihre Absicht Gebrechen zu kennzeichnen von vorneherein ankündigt, indem sie dieselben „ unverhüllt vorbringt “; sie wird um so besser erreicht, je mehr diese Absicht verschleiert ist, und demgemäß, sobald sie erraten wird, überraschend wirkt. Nur so kann die Täuschung, auf der das Lachen beruht, entstehen, während durch die unverhüllte Schmähung ganz andere Empfindungen hervorgerufen werden, als das reine Wohlgefallen an der echten Komik. Daß aber jene Definitionen wenigstens im Sinne des Aristoteles die richtigen sind, dafür gibt eine in der bisherigen Darstellung noch nicht benutzte, ausführliche Äußerung des Aristoteles ein vollgültiges Zeugnis ab. Dieselbe ist zugleich in hohem Grade geeignet, die allem Vorstehenden zu Grunde gelegte Auffassung von der „poetischen Nachahmung“ zu bekräftigen. Jm dritten Buch seiner Rhetorik Kap. 10 und 11 erörtert Aristoteles die Methoden des schönen und des witzigen Ausdruckes. Als Mittel den Ausdruck wohlgefällig zu machen gilt ihm überhaupt jedes Verfahren, welches in größerer Kürze ein leichteres Verständnis herbeiführt. Es wird sich zeigen, daß er damit dasselbe meint, was wir im Deutschen unter der erhöhten Lebhaftigkeit des Verständnisses verstehen; eine solche ist naturgemäß erfreulich ( ἡδύ ). Jede Vergleichung, ein jedes Bild, noch mehr eine jede Metapher, die gradezu für das Verglichene dasjenige einsetzt, womit es verglichen wird, dient diesem Zweck, ob sie nun die Art für die Gattung, die Gattung für die Art, eine Art für eine andere, oder ob sie das noch der Analogie sich ähnlich verhaltende für den eigentlichen Begriff setzt. Je kürzer der Weg ist, der dabei eingeschlagen wird, je mehr daher die Seele gezwungen ist nach dem Verständnis zu suchen und je schneller sie dabei durch die Methode des Ausdruckes zum Ziele geführt wird, desto schöner ist derselbe. Die Antithese, die auf Analogie beruhende Metapher erfüllen jene Aufgabe in hervorragender Weise; außer ihnen die Anschaulichkeit des Ausdrucks, die die Dinge „ vor Augen stellt “ ( τὸ πρὸ ὀμμάτων ποιεῖν ), die Aristoteles auch schlechtweg „ Energie “ nennt, da sie nämlich die Dinge sich bethätigend vorführt (s. 1411 b 25: λέγω δὴ πρὸ ὀμμάτων ταῦτα ποιεῖν, ὅσα ἐνεργοῦντα σημαίνει ). Sie zeigt das Belebte in Handlung begriffen, die das innere Wesen desselben kundgibt, sie verleiht dem Unbelebten gleichnisweise Leben und Seele ( τῷ τὰ ἄψυχα ἔμψυχα λέγειν διὰ τῆς μεταφορᾶς ). Jn solchen Schönheiten liegt der Zauber der Darstellung Homers: „ allem verleiht er Bewegung und Leben; solche energische Anschaulichkeit aber ist Mimesis, ist künstlerische Nachahmung “ ( κινούμενα γὰρ καὶ ζῶντα ποιεῖ πάντα, ἡ δ ' ἐνέργεια μίμησις ). Diese Sätze gewähren einen tiefen Einblick in die Kunstauffassung des Aristoteles; sie möchten den Stoff zu einer eigenen Abhandlung hergeben. Hier sei nur das eine hervorgehoben, daß also nach des Aristoteles Meinung ein wesentlicher Teil der poetischen Schönheit auf dieser lebhaft energischen Anschaulichkeit beruht, die dem Zuhörer die Freude des schnellsten, leichtesten Erkennens gewährt, weil sich vermöge derselben das innerste Wesen der Dinge unmittelbar dem „Auge“ darstellt. Wenn er dieses Verfahren nun gradezu „ Mimesis “ nennt, wenn andrerseits aber nach ihm alle Kunst auf Mimesis beruht, so ergeben sich die weiteren Schlüsse daraus von selbst. Auch die komische Darstellung, die ja ein Kunstmittel ist, muß also auf diesem Grunde erwachsen. Das geschieht nach Aristoteles, indem zu jener metaphorischen, energisch anschaulichen und antithetischen Darstellung nun noch das Moment der Täuschung sich hinzugesellt. Die Seele wird gegenüber der sich offenbar gegensätzlich zur Wahrheit verhaltenden Erscheinung in höherem Grade sich des Erkennens bewußt und sagt gleichsam zu sich selber: „so liegt's in Wahrheit, ich war im Jrrtum“ (s. 1412 a 17: ἔστι δὲ καὶ τὰ ἀστεῖα τὰ πλεῖστα διὰ μεταφορᾶς καὶ ἐκ τοῦ προςεξαπατᾶν == „und aus der dazu kommenden Täuschung“. μᾶλλον γὰρ γίγνεται δῆλον ὅτι ἔμαθε παρὰ τὸ ἐναντίως ἔχειν καὶ ἔοικε λέγειν ἡ ψυχὴ „ ὡς ἀληθῶς , ἐγὼ δ' ἥμαρτον “.) So wird das Fehlerhafte, dessen „unverhüllte“ Erscheinung ihr Mißfallen erregt hätte, für sie ein Gegenstand des Wohlgefallens. Aus demselben Grunde hat das leichten Aufschluß darbietende Rätselhafte ( εὖ ᾐνιγμένα ) dieselbe Wirkung. Ebenso die Paradoxie ( τὸ παράδοξον ) und die komische Verdrehung ( ἐν τοῖς γελοίοις τὰ παραπεποιημένα ), desgleichen der spottende Wortwitz ( τὰ παρὰ γράμμα σκώμματα ). Es mag hier ein Verbesserungsvorschlag für das von Aristoteles von dieser Art des Wortwitzes gegebene Beispiel seine Stelle finden, der, wie es scheint, nur ausgesprochen werden darf, um sich zu empfehlen. Theodorus sagt zu dem Zitherspieler Nikon „ θράττει σε “, „er stört dich“. Dann heißt es weiter: „er thut nämlich so, als ob er ‚ θράττει σε ‘ sagen wollte, und täuscht ihn, indem er etwas anderes sagt.“ Das Witzige des Wortes soll darin liegen, daß Nikon „ ein Thracier “ genannt wird, denn er war der Sohn einer thracischen Sklavin. Der Text hat in dieser Gestalt keinen Sinn, denn einmal läßt er den Theodorus gar nichts anderes sagen, als das, dessen Erwartung er erregen will, sodann ist die witzige Anspielung darin nicht erkennbar. Offenbar hat Aristoteles das Futurum von θράσσω geschrieben, und Theodorus hat erwarten lassen: „ θράξει σε “ und gesagt: „ Θρᾷξ εἶς “, oder vielleicht auch: „ Θρᾷξ εἶ σύ .“ Man wird getäuscht, und empfindet die Täuschung, die sonst widrig wäre, angenehm, weil sie ein neues Licht gibt. Dasselbe findet statt, wenn ein Vers statt des erwarteten Wortes ein ganz widersprechendes bringt: „So schritt er einher, an den Füßen ─ die Beulen“, nicht: „die glänzenden Sohlen“. Natürlich liegt das eigentlich Lächerliche solcher witzigen Wendungen aller Art immer nur darin, daß durch die überraschende Täuschung ein in den vorhandenen Sach- und Personenumständen verborgenes Gebrechen in helles Licht gesetzt wird: daß sie also „zutreffend“, „passend“ ( προσηκόντως ) angewendet werden. Nach alledem wird also die direkte Verspottung in ähnlicher Weise der Absicht des komischen Kunstwerks widersprechen wie die unverhüllte Schmähung. Diesen Gedanken deutet der zweite Satz des Excerptors an: § 5. Ὁ σκώπτων ἐλέγχειν θέλει ἁμαρτήματα τῆς ψυχῆς καὶ τοῦ σώματος . „Der Spottende will Gebrechen der Seele und des Körpers verächtlich machen. “ Hier hat der Excerptor es unterlassen das gegensätzliche Verfahren der Komödie hinzuzufügen; dasselbe ergibt sich jedoch aus dem Zusammenhange von selbst. Der Nachdruck des Satzes ruht auf dem ἐλέγχειν , dem „verächtlich machen“. Der Spott wird sich also, da seine Absicht ist, Hamartemata, Gebrechen, kenntlich zu machen, ähnlicher, zum Teil ganz derselben Mittel bedienen, wie die komische Darstellung: es wird ihm ebenso auf die Kürze der Form und die Schnelligkeit des Verständnisses ankommen (vgl. Rhetor. 1412 b 21: ὅσῳ \̓αν ἐλάττονι καὶ ἀντικειμένως λεχθῇ, τοσοὺτῳ εὐδοκιμεῖ μᾶλλον ). Er wird also, ebenso wie auch viele Formen der Schmähung, die Wirkung des Lächerlichen erzielen, er wird es aber in anderer Absicht und daher auch in anderer Weise thun, wie die Komödie es kann und soll. Das Angenehme, wohlgefällig Empfundene, das, wie aus dem obigen Nachweis hervorgeht, mit jeder Form des Lächerlichen verbunden ist, wird auch ihm nicht fehlen: aber die solchergestalt erzielte Wirkung ist für den Spottenden, wie ebenso für die Schmähung, nicht das Endziel; sie dient ihm nur dazu eine für ihn wichtigere Wirkung zu erreichen, nämlich von dem thatsächlichen Vorhandensein des Gebrechens, das er hervorzieht, zu überführen und dasselbe verächtlich zu machen. Die Absicht ist also in beiden Fällen am letzten Ende eine ernste, die als letztes Resultat erregte Empfindung nicht die der Freude, sondern die der Mißbilligung. Es springt in die Augen, daß der Fall der Komödie grade umgekehrt liegt. Sie wird sich sehr wohl des Spottes, ja mitunter sogar der direkten Schmähung bedienen können: nur daß es niemals ihre Absicht sein darf, diese oder jenen zum Endziel ─ τέλος ─ ihrer Komposition zu machen. Dieses ist für sie dasselbe, welches jede andere Kunst, welches die Kunst überhaupt, mit den einer jeden zugewiesenen Mitteln der Nachahmung zu erstreben hat: reine Freude zu erregen, oder genauer: ihre Komposition so einzurichten, daß sie die Kraft habe, so zu wirken. Das Verfahren, welches sie einzuschlagen hat, um den Fehler zu vermeiden, in bloßen Spott auszuarten, wird also dasselbe sein, dessen sie bedarf, um sich über die unverhüllte Schmähung zu erheben. Das ist auch der Grund, warum es der Excerptor nicht in § 5 noch einmal anführt. Er hat es mit dem einzigen Wort bezeichnet: „sie bedarf der sogenannten Emphasis “. Es gilt also diesen Ausdruck recht zu verstehen. Es wäre ein Jrrtum, wenn man den Ausdruck „ Emphasis “ hier in dem engen Sinne verstehen wollte, wie ihn die späteren Rhetoren eingeführt haben, bei denen sie eine Redefigur bedeutet, „die ihren Gegenstand nicht selbst ausspricht, sondern ihn durch etwas anderes erkennen läßt“, oder „die das, was sie ausspricht, durch Nebensinn erweitert“ (vgl. Walz. Rhet. VIII, 543 u. 747). Bei Aristoteles kommt der Ausdruck in den erhaltenen Schriften als Bezeichnung einer Redefigur überhaupt nicht vor. Das ist aber kein Grund, ihn für unaristotelisch zu halten und mit Bernays, der den betreffenden Satz als aristotelisch anerkennt, „zu vermuten, daß statt seiner ὑπόνοια zu lesen sei: „verhüllter, verblümter Ausdruck“. Das wäre eine sehr ärmliche Unterscheidung der Komödie von der Schmähung, wenn sie nur in der Ausdrucksform glimpflicher verfahren sollte, nicht im Wesen und in ihrer Absicht anders geartet. Der Begriff der Emphasis, wie er hier, vielleicht zuerst, von Aristoteles eingeführt ist, bestimmt nicht die Form des einzelnen Ausdrucks, sondern das gesamte Verfahren der Komödie, die nicht mehr wie in ihren ersten Anfängen in nächtlichen Aufzügen, nach Art der noch heute in manchen Gegenden Deutschlands üblichen „ Haberfeldtreiben “, dem Nachbarn scheltend und spottend seine Sünden vorhält, Vgl. Bergk: Aristophanes Prolegg. IV, 1, S. XXV; VIII, 2, S. XXVII; IX, 2, S. XXXIII, wo in den dort abgedruckten Fragmenten περὶ κωμῳδίας diese Anfänge ausführlich geschildert sind. sondern die sich die Nachahmung einer lächerlichen Handlung als solcher zur künstlerischen Aufgabe gestellt hat. Was kann nun Aristoteles dem Worte „ Emphasis “ für eine übertragene Bedeutung geliehen haben? Jn seinen physikalischen und meteorologischen Schriften gebraucht er es öfters und immer in dem Sinne von „ Spiegelung “, oder „ Spiegelbild “; in der Rhetorik gebraucht er das zu Grunde liegende Verbum ἐμφαίνειν auch in übertragener Bedeutung und zwar in ähnlicher Weise wie die späteren Rhetoren. Warum sollte er den Ausdruck nun nicht bildlich auf die Methode der komischen Nachahmung angewendet haben, zumal da das Bild ein vortrefflich passendes, übrigens auch uns Neueren keineswegs fremdes ist? Also: die Komödie darf sich nicht begnügen, die Gebrechen der Einzelnen, wie sie im Leben vorkommen ( τὰ προσόντα ), zu schmähen oder sie spottend der Verachtung preiszugeben, sie „ bedarf “ eines andern, mehreren: sie soll sie gleichsam im Spiegel auffangen und so, losgelöst von der Einzelerscheinung, zum Gesamtbilde vereinigt, d. i. ihre Erscheinung an sich, in ihrer Allgemeingültigkeit ( τὸ καθόλου ) nachahmend vorführen. Die Handlung der Komödie stellt die Gebrechen der Menschen gleichsam im Spiegelbilde dar und läßt sie aus dem wiedergespiegelten Bilde als solche erkennen, ohne sie direkt zu schmähen und ohne die Absicht sie verächtlich zu machen. Ja, sie erreicht ihre Absicht um so besser, je weiter sie sich von der offenen Schmähung und dem direkten Spott, der nur eine besondere Art der Schmähung ist (vgl. Nikom. Eth. 1128 a 30) entfernt hält. Welches ist denn nun aber ihre Absicht? Hier tritt der dritte Satz unseres Fragmentes ein, der sich mit unverkennbarer Deutlichkeit als ein Referat aus dem Texte, den der Excerptor vor sich hatte, kennzeichnet. Hier sagt er nicht mehr „die Komödie will dies oder das“, sondern er berichtet, offenbar als Summe und Resultat einer längeren, ihm vorliegenden Ausführung, deren Wiedergabe für sein kurz gefaßtes Schema nicht angänglich war, was „ Er “, nämlich was sein Autor, was also Aristoteles „ will “. Es ist dem Excerptor aber gelungen, dieses Resultat in aller Kürze schlagend zusammenzufassen: § 6. Σύμμετρα τοῦ φόβου θέλει εἶναι ἐν ταῖς τραγῳδίαις , καὶ τοῦ γελοίου ἐν ταῖς κωμῳδίαις . „ Er will, daß in den Tragödien ein Element vorhanden sei, das der Furcht, und in den Komödien ein solches, das dem Lächerlichen ebenmäßig die Wage halte. “ Es ist klar, daß dieser Satz aus dem Mittelpunkt der aristotelischen Erörterungen über das Wesen der Katharsis geschöpft ist. Also: wie Aristoteles es verlangt, daß in der Tragödie „etwas“ vorhanden sei, das mit dem Affekt der Furcht in das Verhältnis des Ebenmaßes trete, das also doch nur ein der Furcht verwandter Affekt sein kann, fähig ein solches Reciprocitätsverhältnis mit ihr einzugehen, so verlangt er für die Komödie dem Lächerlichen gegenüber einen solchen verwandten Affekt, der fähig sei mit ihm in das Verhältnis des Ebenmaßes zu treten, d. h. sowohl auf jenes in diesem Sinne einzuwirken als selbst solche Einwirkungen von ihm zu empfangen. Die Definition der Komödie in § 2, zu der die Darstellung nun zurückgelangt, nennt als diesen Affekt die Hedone, die Freude, das Wohlgefallen. Wie ist diese Zusammenstellung der Freude mit dem Lachen zu verstehen? Findet zwischen beiden das im § 6 verlangte Verhältnis statt? Und wie hat man sich den Vorgang der wechselseitigen Katharsis vorzustellen? Das eine ist sicher, daß es viele Arten des Lachens gibt, die keineswegs gleiche Berechtigung haben, die des edlen, guten, gebildeten Menschen würdig oder unwürdig sind. Aristoteles spricht davon öfters (vgl. Nik. Ethik. 1128 a 26 ff. und Rhet. 1419 b 5 ff.) und verweist an der letztgenannten Stelle darauf, daß er in der Poetik den Gegenstand ausführlich behandelt habe. Sicher ist auch, daß Aristoteles das des „freien, des edlen Menschen würdige“ Lachen der Komödie als Mittel ihrer Wirkung wird zum Ziel gesetzt haben. Welches ist aber das Kriterium, nachdem dieses von dem unwürdigen, falschen gesondert werden kann? Der Vorgang des Lachens selbst ist an sich in allen Fällen immer derselbe: immer beruht er auf der erwünschten Überraschung und Täuschung, die das Fehlerhafte zu dem Gegenstande einer angenehmen Empfindung macht. Die Frage ist also: geschieht das mit Recht oder mit Unrecht? Die Beantwortung dieser Frage ist von zwei Rücksichten abhängig: einmal von dem Wesen des als lächerlich erscheinenden Gegenstandes an sich, sodann von der Behandlung desselben durch die Art und Weise seiner Darstellung. Da das Lachen darauf beruht, daß das überraschend als solches hervortretende Fehlerhafte uns durch das freudige Gefühl des unmittelbar damit verbundenen sichern und klaren ästhetischen Erkennens über das ihm eigene Schädliche oder Schmerzliche hinwegzutäuschen vermag, so muß also, damit es berechtigt sei, erstlich die dasselbe erregende Erscheinung wirklich fehlerhaft sein, nicht etwa nur so scheinen, sodann aber dürfen die entgegenstehenden ernsten Empfindungen, seien es die des Unwillens, der Furcht oder des Mitleids, oder auch nur die der Mißbilligung, des Bedauerns oder der Beunruhigung, nicht den Anspruch auf selbständige, höhere Geltung haben. Jn diesem Falle wäre die Täuschung unerlaubt und unwürdig, das Zeichen eines unachtsamen oder rohen Gemütes. Da aber nach der Natur der lächerlichen Erscheinung die entgegen= stehenden ernsten Empfindungen nie ganz fehlen können ─ denn das Urteil des Verstandes und der Vernunft über dieselbe kann wohl umgangen und in Vergessenheit gebracht aber niemals völlig aufgehoben werden ─, so wird es der Kunst der Behandlung bedürfen, um jene zum Schweigen zu bringen und das ungestörte Wohlgefallen desto kräftiger sich bethätigen zu lassen. Jn der Lösung dieser Aufgabe beruht das Geheimnis der komischen Kunst; aber die Gesetzgebung für dieselbe ist nicht etwa auf die Summierung einer Menge von Einzelvorschriften gewiesen, die nur durch die Erfahrung zu sammeln wären, sondern sie folgt wie die der Tragödie aus einem organischen Princip. Das allgemeine Mittel, durch dessen Anwendung jener Zweck erreicht wird, ist nach der Denkweise und Sprache des gewöhnlichen Lebens leicht zu bezeichnen: es ist die Erregung der heiteren Stimmung. Denn die Heiterkeit der Seele ist nicht sowohl die Wirkung und Folge des Lachens als die wesentlichste Voraussetzung für die Entstehung desselben, weil grade dieser Zustand der Seele es ist, der sie dazu disponiert die Erscheinungen und Vorgänge nicht ernst zu behandeln, d. h. nicht vor das strenge Forum des Verstandes und der Vernunft zu ziehen, sondern mit ihnen zu spielen, also sich mit ungestörter, voller Freude der überraschenden Täuschung hinzugeben, die durch das augenfällige Hervortreten ( πρὸ ὀμμάτων πεποιημένον ) des Fehlerhaften als solchen erzeugt wird. „Dem Heitern erscheinet die Welt auch heiter“, wie Goethe seine „zweite Epistel“ einleitet, die überhaupt für die hier entwickelte Theorie ein treffliches Beispiel abgibt. Wodurch aber wird die Heiterkeit der Seele als dauernder Zustand hervorgebracht als durch die Freude, für deren Erscheinung und Wirkung im Gemüt sie nur ein anderer Ausdruck ist. Wie auch Aristoteles χαρὰ, τέρψις und εὐφροσύνη im Gegensatz zu Prodikus für gleichbedeutende Bezeichnungen der ἡδονή erklärt. Vgl. Topica II. 112 b 21 ff. Wenn also Aristoteles dem Lachen den Ernst als Gegensatz gegenüberstellt und mit Gorgias es als ein Mittel der Redekunst empfiehlt, den Ernst des Gegners mit Lachen, das Lachen desselben durch Ernst aufzuheben (Rhet. III, 18, S. 1419 b 2: τὴν μὲν σπουδὴν τῶν ἐναντίων διαφθείρειν γέλωτι , τὸν δὲ γέλωτα σπουδῇ ), so ist die Verbindung von Lachen und Freude ─ ἡδονή und γέλως ─, wie wir sie bei dem Excerptor finden, als korrelativer Empfindungen mit vollstem Recht als seiner Lehre entstammend in Anspruch zu nehmen. Denn es zeigt sich nun klar, daß wie die beiden Affekte wechselseitig. sich begünstigen, der eine das Entstehen des andern befördert, so auch weiterhin die engsten Wechselwirkungen zwischen ihnen stattfinden. Das Lachen, da es die unmittelbare Erkennung des Verkehrten als solchen einschließt, ist eines der wirksamsten Mittel, um die Empfindungen jeder Art zu berichtigen, sowohl ihrem Übermaß zu wehren als ihrem Mangel abzuhelfen, sie somit der rechten Mitte anzunähern: umgekehrt ist die rechte Freude, da sie aus der richtigen Bethätigung des Empfindens an dem Vortrefflichen als solchen hervorgeht, die stärkste Schutzwehr gegen die großen Gefahren, die mit der Täuschung des Lachens, da es das Verkehrte als solches wohlgefällig aufnimmt, notwendig verbunden sind. Kurz gefaßt stellt sich dieses Verhältnis in folgenden Sätzen dar: das Lachen vermag die wohlgefälligen Empfindungen zu läutern; die Freude ist das Mittel, die Empfindungen des Lächerlichen richtig zu stellen, also den entsprechenden Affekt des Lachens zu läutern; durch zweckmäßige Auswahl des Stoffs und zielbewußten Aufbau der Handlung abwechselnd ins Spiel gesetzt und zu gleichzeitiger Wirkung hervorgerufen vollenden diese beiden Affekte die Aufgabe der Komödie, sie bewirken die komische Katharsis. Welche zwingende Wahrheit in diesen Sätzen liegt, zeigt die Erfahrung und die Prüfung der komischen Meisterwerke auf Schritt und Tritt. Schon die bloße Anmut der Form, der Schmuck des künstlerischen Vortrags ( ᾑδυσμένος λόγος ) übt als Gegengewicht gegen die specifisch lächerliche Wirkung, dieselbe zugleich hebend und wohlthätig hemmend, d. i. sie zum Gleichmaß führend, eine mächtige und überaus wohlgefällig empfundene Wirkung. Es erhellt hieraus, von welcher fast unersetzlichen Wichtigkeit die Anwendung des Metrums für die Komödie ist. Jm Vorübergehen sei daran erinnert, wie die Anfänge der Erhebung des deutschen Lustspiels im achtzehnten Jahrhundert mit dem in größester Erbitterung über diesen Punkt geführten Streit zusammenfallen. Shakespeares überragendes Genie hat auch hier mit sicherem Griff das Richtige erfaßt: er leiht seinen Komödien allen entzückenden Wohllaut seiner Verskunst und bewahrt ihnen für die rein komischen die volle Freiheit des engsten Anschlusses an die Ausdrucksformen des gemeinen Lebens. Nimmermehr könnte er im Gebrauch des Niedrig-Komischen und des Burlesken ─ d. h. also doch desjenigen Lächerlichen, dem wir uns im Grunde mit Unrecht hingeben, weil die durch dasselbe erregten mißbilligenden Empfindungen überwiegen ─ so weit gehen, als er mit vollster künstlerischer Berechtigung wagen darf, wüßte er nicht diesen oft wider unsern Willen uns überwältigenden Affekten des Lachens den hinreißenden Zauber reinster, wahrhaft „ klärender “ Schönheit gegenüberzustellen. Und das Herrlichste vermag er zu vollbringen, wenn er diese von den entgegengesetzten Seiten ausgehenden Lichtwirkungen auf ein und denselben Punkt vereinigt: wenn das Verkehrte, worüber wir lachen, und das Vortreffliche, an dem wir uns erfreuen, die mannigfachen, negativen und positiven Äußerungen ein und derselben Eigenschaft des Geistes, des Gemütes, des Charakters darstellen. Lessings „Minna von Barnhelm“ tritt diesen großen Mustern zur Seite; und wohl hätte Lessing das Vermögen besessen, seinem Lustspiel auch jenen höchsten Schmuck der idealen Kunstform zu verleihen, um damit die Kraft der kathartischen Wirkung noch um ein Bedeutendes zu steigern. Denn die Jdealität der Nachahmung ist für die Komödie ein ebenso großes, wenn nicht noch größeres Erfordernis, wie für die Tragödie; ist dieser schon das grobe Streben nach realistischer Jllusion, das Schiller so strenge verurteilt, gefährlich und verderblich, so wird das Lustspiel dadurch geradezu vernichtet oder doch in den Niederungen des lediglich „amüsanten“ oder gar „pikanten“ Zeitvertreibes erhalten. Hier zeigt sich die Größe der Komödien des Aristophanes. Der Wechsel der Prosarede und des Blankverses bei Shakespeare steigert sich bei ihm zu dem Wechsel des jambischen Trimeters als des Ausdrucks der gemeinen Rede und der melisch=chorischen Rhythmen, als der bis zu den wunderbarsten Wirkungen erhobenen Form für alle Arten des Reizes, der Anmut, der reinen Schönheit. Abgewandt dem engen und platten Naturalismus, erobert er der Komödie den Platz in den weiten Reichen der Phantastik. Dieser Begriff verlangt aber eine strenge Begrenzung! Es ist im Verlauf der obigen Darstellung verschiedentlich, der herrschenden Ansicht entgegen, der Satz aufgestellt, daß die Phantasie keineswegs eine selbständig schaffende Kraft sei, sondern daß sie nur das Material liefere für die Kräfte der Empfindung und des Geistes, die mit diesem Material nun „schaffen“, d. h. das thun, was Aristoteles ποιεῖν nennt; richtiger nennt er auch diesen Akt „ Poiesis “, während wir fälschlich die Bezeichnung „ Poesie “ auf das durch diesen Akt „ Geschaffene “ eingeschränkt haben. Die Frage nach Wesen, Berechtigung, Begrenzung des Phantastischen in der Komödie wird lösbar, wenn demgemäß untersucht wird, nach welchen Gesetzen die Empfindungs- und Geisteskräfte das Material der Phantasievorstellungen zu den komischen „Schöpfungen“ auszuwählen und zusammenzustellen haben? Es wird sich dabei ergeben, ob sie in ihren komischen Gestaltungen daran gebunden sind, das Vorstellungsmaterial nach den in der wirklichen Welt vorhandenen Formen zusammenzufügen, oder ob es ihnen erlaubt ist, dasselbe zu ganz neuen und unerhörten Gebilden zu formen, und wie weit solche Befugnis gehen darf? Diese Gesetze liegen in der aristotelischen Definition der Komödie, für deren Erhaltung wir dem anonymen Excerptor hoch verpflichtet sind, eingeschlossen, und es ist nicht schwer, sie daraus zu entwickeln. Es ist oben gezeigt, daß die reine komische Wirkung nur zustande kommen kann, wenn die Erscheinung des Verkehrten, Fehlerhaften dem ernsten Forum des Verstandes und der Vernunft, ebenso der ernsten Mißbilligung durch die Empfindung entzogen bleibt. Da aber diese Operation um so schwieriger wird, je bedeutender das dargestellte Fehlerhafte an und für sich ist, so läuft die komische Kunst Gefahr, um sich rein zu erhalten, auf das Unbedeutende, Kleinliche eingeschränkt zu werden, oder, sobald sie weiter greift, die Reinheit ihrer Wirkung einzubüßen. Der größte Teil der in allen Litteraturen vorhandenen Lustspiele zeigt den einen oder den andern Grundfehler, oder auch beide zugleich. Nun ist aber das Lächerliche, wie aus seiner Definition mit dem einfachsten Schlußverfahren sich beweisen läßt, an die Wirklichkeit oder objektive Möglichkeit seiner Existenz keineswegs gebunden, sondern es wirkt durch seine bloße Erscheinung, sei es nun im Bilde oder durch Worte nachgeahmt. Daher ist jene ganze, soeben erörterte Schwierigkeit mit einem Schlage gehoben, sobald die komische Darstellung den Boden der Wirklichkeit aufgibt, auf diese Weise dem Ernst der Beurteilung sich entzieht und, indem sie die Erscheinungen und Vorgänge frei erschafft, lediglich nach den Gesetzen des Lächerlichen und des unmittelbar Erfreulichen, ihre ganze Wirkung nur von der Kraft dieser Erscheinungen und Vorgänge als solcher erwartet. Nur so vermag sie das Größeste und Wichtigste, was die Zeit bewegt, in ihren Bereich zu ziehen, indem sie es also nicht wirklich darstellt, sondern im Spiegelbilde einer nur für diesen Zweck erschaffenen, also nur als lächerlich, andrerseits erfreulich vorgestellten Welt, es zu erkennen gibt ─ δι' ἐμφάσεως ! ─ So ist Aristophanes verfahren, der auch darum von keinem Nachfolger erreicht ist, weil seitdem noch niemals wieder die öffentlichen Verhältnisse und die private Sitte es gestatteten, ihr Bedeutendstes und Wichtigstes im Spiegel des komischen Kunstwerkes aufgefaßt, der Lust des Lachens in öffentlicher Schaustellung preiszugeben. Aber eben auch nur das Bedeutende verlangt und verträgt die Anwendung dieses kräftigsten Mittels; auf das Kleine übertragen, das seiner nicht bedarf, erregt es das Mißfallen, das allemal durch das falsche Verhältnis des Mittels zum Zweck unfehlbar wach gerufen wird. An diesem Grundfehler krankt die phantastische Komödie Tiecks und Platens, die trotz vieler guter Einfälle und ungeachtet der Virtuosität, mit der vielfach die Darstellungsmittel gehandhabt sind, nur mäßig erfreut und die ganze Reihe der Verstimmungen erregt, die durch die Skala des Willkürlichen, bis zum Läppischen hin, hervorgebracht wird. Denn die Grenzen, in welche das freie Walten im Reiche der Phantasievorstellungen strengstens eingeschlossen ist, sind, da der unerbittliche Ernst der Wirklichkeit der Dinge aufgegeben ist, gezogen durch den ebenso unerbittlichen Ernst des Großen und Schönen an und für sich. Beides vereint, das hohe Bewußtsein von der Würde der in dem dargestellten Gegenstand in Betracht kommenden absoluten Jnteressen und das Vermögen, die positive Gestalt desselben unmittelbar herzerfreuend, d. i. schön, vor Augen zu führen, bildet die unverrückbare Basis, auf der allein sich erst die Kunst, das Lächerliche als solches nachzuahmen, entfalten kann. Denn daß der Ernst der Gesinnung, aus dem das komische Kunstwerk wie jedes andre Gebilde der echten Kunst hervorgehen, und der es in allen seinen Teilen durchströmen muß, als solcher nicht hervortrete, wodurch die komische Wirkung zerstört werden würde, gleichwohl verborgen mit nicht minderer Kraft wirke, das eben wird erreicht durch die vollendete Schönheit der Darstellung, sei es nun, daß dieselbe in der einzelnen Erscheinung des positiv Erfreulichen ihre Macht kund gibt, oder daß der höchstvollendete Schmuck der Nachahmung den Zauber des Rhythmus, der Musik, ja auch des scenischen Apparates zu einer in vollkommenem „Zusammenklange“ Auch hiervon hat die Poetik des Aristoteles gehandelt, wie uns ein von dem Excerptor aus jener Erörterung herausgegriffenes Wörtchen verrät. Es ist von der Wirkung der Musik die Rede gewesen, deren Erörterung der musikalischen Theorie zugewiesen wird ( Μέλος τῆς μουσικῆς ἔστιν ἴδιον· ὄθεν ἀπ' ἐκείνης τὰς αὐτοτελεῖς ἀφορμὰς δεήσῃ λαμβάνειν ); sodann heißt es von der οψις , der Scenerie, der Aristoteles für die Tragödie mindere Bedeutung beilegt ─ die Tragödie müsse ihre Wirkung auch gelesen thun ─, daß sie für diese dramatischen Nachahmungen, also für die Komödie, „einen großen Vorteil zu Gunsten der Uebereinstimmung, des ‚ Zusammenklanges ‘ des Ganzen gewähre“. Ἡ ὄψις μεγάλην χρείαν τοῖς δράμασι τὴν συμφωνίαν παρέχει . Für den metaphorischen Gebrauch des Ausdrucks συμφωνία in solchem Sinn bei Aristoteles vgl. u. a. Pol. 1334 b 10. verschmelzenden Gesamtwirkung vereinigt. Um zu zeigen, wie die „Sym= metrie“ des Komischen auf diesen beiden Grundpfeilern ruht, müßte der ganze Aristophanes analysiert und citiert werden, aber jedes seiner Stücke bietet reiche Gelegenheit, diese Erfahrung zu machen; die volle Wirkung seiner Kunst kann von uns Modernen freilich nur geahnt werden, da sie eben an die lebendige Erfahrung jenes großartig „symphonischen“ Gesamteindruckes geknüpft war. Unter den Neueren kommt ihm Shakespeare dadurch am nächsten, daß auch er, wie oben schon bemerkt wurde, dem Unvermögen der Komödie eine „Größe“ enthaltende Handlung nachzuahmen, abzuhelfen weiß, indem er die Grenzen der Wirklichkeit mehr oder minder weit in das Reich des Phantastischen hinausrückt. Auch in einer andern Hinsicht wendet er dasselbe Mittel mit der gleichen Genialität an, wie jener: das Niedrig-Komische und Burleske durch das Gegengewicht des Wohlgefälligen, Schönen über Wasser zu erhalten und so das Ganze zu einem anmutig heitern Spiele zusammenklingend verschmelzen zu lassen. Welch bedeutende Mitwirkung die Musik zu solchem Ziele leistet, wissen wir durch Mendelssohns unübertrefflich wohlgelungene Kompositionen zum „ Sommernachtstraum “. So sehen wir die durch Schönheitsgesetze begrenzte Phantastik in den entgegengesetzten Gebieten des Komischen ihre Herrschaft üben: sowohl wo es sich darum handelt, den Ernst des Bedeutenden zu mildern, als wo es gilt, das Spiel mit dem an sich Geringen zu adeln. Auf dem mittlern Gebiete erwuchs die nacharistophanische Komödie der Griechen, die sogenannte mittlere und neuere; hier sind Plautus und Terenz gefolgt, und das ganze moderne Lustspiel hat mit wenigen Ausnahmen sich in diesen Traditionen entwickelt. Es ist nicht angänglich, hier diese Entwickelung im einzelnen zu verfolgen; aber eine solche Untersuchung würde erweisen, daß, was in der Geschichte des Lustspiels keimkräftig und zukunftsvoll war, was ihm Prosperität in der Gegenwart und neuen Jmpuls für die Zukunft gegeben hat, in einer Annäherung an die im Obigen aus der aristotelischen Definition der Komödie gefolgerten Principien bestanden hat. Die Masken der Comedia del Arte , der Harlekin, das deutsche Puppen- und Stegreifspiel bewahrten ihre unverwüstliche Lebenskraft, weil sie ein Element phantastischer Freiheit in sich trugen, das gegen die Öde des platten Realismus Abwehr in sich trug: die aus der Renaissance hervorgehende kunstmäßige Charakterkomödie verhielt sich zwar abwehrend dagegen, aber schon Moli è res gesunder und glücklicher Kunstverstand verschaffte ihm unter andern Formen wieder Eingang. Es war die Eintönigkeit und Halbheit des bloß lächerlichen Lustspiels, der Mangel also der Hedone, woraus die Reaktion der comédie larmoyante und des genre sérieux hervorging; und wenn diese auch auf verfehlten Jntentionen beruhten, so zeigten sie doch den Weg zu der rechten Vereinigung, wo die rechte Freude das rechte Lachen hervorbringt und umgekehrt dieses jene, und beide Affekte in eine Harmonie verschmelzen, den Weg, den Lessing fand und so erfolgreich beschritt. Ganz auf demselben Wege liegt, was mit Recht als die Krone des Komischen gilt, das Humoristische, und es zeigt sich hier, warum es diesen Ruhm verdient. Mit größter Einfachheit erklärt es sich nach den obigen Voraussetzungen als die Vereinigung des Lächerlichen und des direkt Erfreulichen in ein und derselben Erscheinung; der Humor wäre danach die Fähigkeit, jene beiden Eigenschaften, in derselben Erscheinung organisch verbunden, zu erkennen und darzustellen. Sehr mit Unrecht hat man behauptet, daß das Altertum den humoristischen Charakter nicht gekannt habe, wie man ebenso fälschlich gemeint hat, daß für den Charakter, den die Attiker und Aristoteles als den „ ironischen “ bezeichnen, und der freilich etwas ganz anderes ist, als wir heute darunter verstehen, in den modernen Sprachen kein dessen Eigenart erschöpfend wiedergebendes Wort vorhanden sei. Der „ Jroniker “ des Aristoteles ist der „ Humorist “, wie sich mit Bestimmtheit nachweisen läßt. Aus der Abhandlung des Aristoteles in der Poetik über die komischen Charaktere hat uns der Excerptor den wichtigsten Satz aufbewahrt, der die überraschend einfache und erschöpfende Einteilung derselben enthält. Es sind nicht mehr als diese drei: die possenhaften, die „ ironischen “ und die prahlerischen: Ἠθη κωμῳδίας τά τε βωμολόχα καὶ τὰ είρωνικὰ καὶ τὰ τῶν ἀλαζόνων . Daß diese Einteilung die aristotelische ist, beweisen verschiedene Stellen der Ethik und Rhetorik (vgl. 1108 a 20 ff.; 1127 a 20 ff. und 1419 b 5 ff.). Sie charakterisiert sich jedoch auch durch ihren Jnhalt als solche; die Art, wie die scheinbar unübersehbare Masse der komischen Charaktere auf diese übersichtliche Gruppe zurückgeführt wird, trägt das aristotelische Siegel. Hier verhält sich auch Bernays unbedingt zustimmend. Alle drei stimmen darin überein, daß sie das Verhalten des Menschen zu seinen Fehlern und Tugenden bezeichnen. Als die richtige Mitte dieses Verhaltens bewahrend, nennt die Ethik den αὐθέκαστος , „der ganz er selbst ist, wahrhaftig die Lebensweise und Rede, die Eigenschaften, welche er besitzt, eingestehend, sie weder vergrößernd noch verringernd“. Dieser Charakter ist ernst, er kommt für die Komödie also nicht in Betracht. Dagegen müssen sich die komischen Charaktere, da die Komödie es mit der Darstellung des Fehlerhaften als solchen zu thun hat, danach klassificieren, wie ein jeder auf die Fehler als solche sein Augenmerk richtet. Das kann nur auf drei Arten geschehen: 1) entweder jemand ist darauf gerichtet, überall nur das Fehlerhafte als solches hervorzuheben, also was ihm immer nur möglich ist, als lächerlich darzustellen an sich, an andern, an den Dingen; das ist der Spaßmacher, der Possenreißer ─ βωμολόχος ─. Aristoteles nennt ihn unedler („unfreier“) als den „Jroniker“; denn dieser stelle das Lächerliche um seiner selbst willen für sich dar ─ αὑτοῦ ἕνεκα ποιεῖ τὰ γελοῖον ─ jener um anderer willen ─ ἑτέρου . 2) Oder jemand ist bestrebt, sein Fehlerhaftes zu verbergen und geschätzte Eigenschaften zur Schau zu tragen, die er entweder gar nicht besitzt oder nicht in solchem Maße; das ist der Prahler ─ ἀλαζών ─. Jm Gegensatz zum Spaßmacher, der überall das Lächerliche hervorkehrt, will er es überall vermeiden und wird dadurch selbst zum lächerlichen Gegenstande. 3) Als den dritten nennt die Ethik den, der weder das eine noch das andre thut, der vielmehr geneigt ist, „ sich geringer darzustellen, als er ist “, also „seine guten Eigenschaften in Abrede zu stellen oder zu verkleinern“, und der, was als Ergänzung dazu sich von selbst ergibt, für das Komische aber besonders in Betracht kommt, seine Fehler offen als solche gelten läßt, ohne jedoch etwa damit in Ziererei zu verfallen, wodurch er sich in eine Art von Prahler verwandeln würde. Jn der Ethik nun schätzt Aristoteles diese Charaktere nur nach ihrem moralischen Wert und Unwert; sie nach ihrem gesamten Wesen darzustellen, dafür war die Poetik der geeignete Ort. Daß diese Darstellung hier vorhanden war, sagt die aus der Rhetorik citierte Stelle (1419 b 7) ausdrücklich. Es wäre überflüssig, auf die Ergiebigkeit der ersten beiden Kategorien für die Einteilung der komischen Charaktere ausführlich hinzuweisen; es liegt auf der Hand, wie die größte Zahl derselben sich in die Klassen der „Spaßmacher“ und der „Prahler“ von selbst einordnet. Anders ist es mit der dritten Kategorie der εἴρωνες , der „ Jroniker “. Wenn die Ethik das Verhalten derselben gegen sich selbst angibt und es vom sittlichen Standpunkte aus würdigt, so mußte die Poetik, wenn sie den Charakter derselben ästhetisch beurteilt und seine komische Kraft erläutert, die Gesamthaltung desselben nicht nur gegen sich selbst, sondern den andern und den Dingen gegenüber in Betracht ziehen. Der gemeinen Natur der Menschen entgegen geht der „Jroniker“ über seine Vorzüge hinweg und verweilt bei seinen Fehlern; indem er die letzteren als solche hervortreten läßt, wirkt er um so komischer, je augenfälliger er sie macht und doch dabei, die in der Ethik vorgezeichnete Grenze innehaltend und seiner dem Guten und Edlen zugewandten Natur folgend, der Wahrheit nahe bleibt. Da aber gerade dadurch, und zwar ohne daß er diese Wirkung zum Gegenstand seiner Berechnung machte und also in Affektation und Prahlerei verfiele, das Vortreffliche seines Wesens, dessen Schaustellung er zu vermeiden gesonnen ist, um so mehr hervorleuchtet, so ist sein Charakter zu gleicher Zeit um so erfreulicher, je komischer er auf der andern Seite sich darstellt. Das Wesen des echten „Jronikers“ übt also die Wirkung einer beständigen Katharsis der Empfindungen des Lächerlichen und des Erfreulichen; in allem diesen aber stimmt es völlig mit dem Wesen des echten „ Humoristen “ überein: daher der hohe Rang, der mit Recht dem einen wie dem andern zuerkannt wird. Dieselbe Übereinstimmung zwischen beiden zeigt sich aber auch in ihrem Verhalten gegen andre und gegen die Dinge. Dasselbe läßt sich aus den vorhandenen Prämissen mit Sicherheit folgern. Die Fähigkeit und Lust die eigenen Gebrechen zu erkennen und als solche darzustellen, wird den „Jroniker“ oder „Humoristen“ natürlich zum besonders scharfen Beobachter und gewandten Darsteller der Gebrechen der andern und der Dinge machen; aber derselbe Scharfblick, der ihn in den Stand setzt, den tief verborgenen Zusammenhang der eigenen Fehler mit den eigenen Vorzügen zu entdecken, wird ihm die fremden Mängel nicht anders zeigen als auf dem Grunde des Tüchtigen, dem sie anhaften, und die Güte seines Wesens, die sich selbst gern verbirgt, wird ihn um so bereitwilliger sein lassen, das fremde Gute als solches anzuerkennen. Daraus geht hervor, daß die „ ironische “ ─ immer das Wort in dem attischen, nicht im modernen Sinne genommen ─ oder humoristische Menschenbetrachtung und Weltanschauung gleicherweise jenen kathartischen Prozeß von heiterem Lachen und reiner Freude in sich schließt. Beiläufig bemerkt, erklärt sich aus diesem Sachverhalt die hohe Bedeutung, welche die Romantiker, ohne den Begriff deutlich zu erkennen, der „ Jronie “ beilegten. Aus dem Zusammenhange des ganzen Fragmentes, sowie aus jedem einzelnen Teile desselben bestätigt sich nach alledem die Richtigkeit der im § 2 desselben enthaltenen Definition der Komödie; daß sie aber die aristotelische, wird zudem noch durch den Umstand bekräftigt, daß die Formeln derselben in den über die Komödie enthaltenen Fragmenten wiederkehren, die, wie aus vielen Gründen ersichtlich ist, aus Aristoteles geschöpft haben. So heißt es in dem seinem Jnhalte nach hervorragendsten Fragment περὶ κωμῳδίας (s. Cramer: Anecd. Paris I . 3 und Bergk: Aristoph. Prolog de comoedica S. XXVIII) in Nr. VIII § 12: Ἔστι δὲ ἡ κωμῳδία μίμησις πράξεως καθαρωτέρας παθημάτων , συστατικὴ τοῦ βίου, διὰ γέλωτος καὶ ἡδονῆς τυπουμένη . Ebenso kehrt die Zusammenstellung von „ Lachen und Freude “ bei dem Scholiasten zu Dionysius Thrax in Nr. IX wieder (s. ebenda S. XXXII und Becker: Anecdot. Gr . S. 747), wo der Begriff des „ Heiteren “ dadurch umschrieben wird: τουτέστιν ἱλαρῶς ... ἀντὶ τοῦ ἐν ἡδονῇ καὶ γέλωτι . Eine fernere Bestätigung der Echtheit liefert der Umstand, daß unser Exzerpt in teilweiser Übereinstimmung mit den bei Bergk unter Nr. VI und VIII abgedruckten Fragmenten, auch die vollständige Angabe der beiden andern Arten des Lächerlichen enthält, auf die in der Rhetorik I. K. II. „als in der Poetik gegeben“ verwiesen wird: nämlich zu den komischen Charakteren nun das komische der Rede und der Handlungen ( γέλως ἀπὸ λέξεως und ἀπὸ πραγμάτων ). Hier erkennt auch Bernays bedingungslos die unzweifelhafte Echtheit an und die vortreffliche Erklärung der in kürzestem Schema aufgezeichneten, höchst wertvollen Bestimmungen ist das eigentliche Verdienst seines Aufsatzes. Die Resultate derselben werden im folgenden teilweise benutzt. Der Excerptor knüpft die Aufzählung der Arten des Lächerlichen in § 2 an die Definition der Komödie vermittelst einer Wendung an, deren fehlerhafte Form auf seine Rechnung zu setzen ist, die aber dem Sinne nach ebenso der aristotelischen Auffassung entspricht, wie das ähnliche, oben behandelte Wort über die Tragödie: ἔχει δὲ μητέρα τὸν γέλωτα „die Komödie hat das Lachen zur Mutter“. So kann natürlich Aristoteles nicht geschrieben haben, aber der Ausspruch, daß die Grundempfindung, auf deren Boden die Wirkung der Komödie erwächst, die des Lächerlichen ist, gehört ebenso in sein System, wie er passend ist zu der Bestimmung der Arten des Komischen überzuleiten. Die Erregung des Lachens durch den Ausdruck geschieht nach Aristoteles auf siebenfache Art: Vgl. zum Folgenden den o. a. A. von Bernays, S. 24 ff. 1) κατὰ ὁμωνυμίαν , der „ homonymische Witz “. Es ist die unerschöpfliche Fundgrube von Wortspielen, die auf verschiedenen Bedeutungen desselben Wortes beruhen. 2) κατὰ συνωνυμίαν , das synonymische Wortspiel, das darauf beruht, daß „bei mehreren Worten der Begriff ein und derselbe ist“. 3) κατὰ ἀδολεσχίαν , der „ oft wiederholte Gebrauch ein und desselben Wortes “. Daß uns hier wie für das ganze übrige Schema die Beispiele fehlen, für welchen Verlust die oben citierten Fragmente einen nur sehr spärlichen Ersatz bieten, kann leicht verschmerzt werden, da ein Blick in den Aristophanes und in den Shakespeare Beispiele in Fülle liefert. 4) κατὰ παρωνυμίαν , und zwar entweder παρὰ πρόσθεσιν oder παρὰ ἀφαίρεσιν , paronymische Wortspiele, die durch Verlängerung oder Verkürzung des gebräuchlichen Wortes zustande kommen. 5) κατὰ ὑποκόρισμα , die Anwendung der Deminutivendung, die nach Rhet. III, K. 2, da sie die Dinge, sowohl die guten als die schlimmen, kleiner darstellt, ein Mittel ist, Lachen zu erregen, wofür die Gründe leicht einzusehen sind. 6) κατὰ ἐξαναλλαγήν mit der Unterabteilung φωνῇ τοῖς ὁμογενέσιν , komische Wirkung durch Vertauschung verwandter Worte, die also zu derselben Gattung aber zu verschiedenen Arten gehören; die Unterabteilung erstreckt diese Vertauschung auch auf die lautlich verwandten, dem Sinne nach vielleicht ganz verschiedenen Worte. 7) κατὰ σχῆμα λέξεως , am besten wiederzugeben als das hinsichtlich der grammatischen Ausdrucksform Lächerliche; also Verwechselungen des Genus, der Kasus, Modi, Fehler in der Konstruktion, die alle erstlich an sich als Fehler lächerlich wirken können, sodann aber vermöge des durch sie unter Umständen erregten Doppelsinns. Es folgt dann die Bestimmung des sachlich Komischen, von welchem acht Arten aufgeführt werden, die hinsichtlich der Weite ihres Umfanges in absteigender Folge geordnet sind. Ὁ ἐκ τῶν πραγμάτων γέλως , „ das durch die Vorgänge erzeugte Lachen “ entsteht: 1) ἐκ τῆς ὁμοιώσεως und zwar entweder πρὸς τὸ χεῖρον oder πρὸς τὸ βέλτιον : also aus der Verwechselung, Verkleidung entweder zu etwas Geringerem oder zu etwas Höherem. Es erhellt auf den ersten Blick, wie diese Art des sachlich Komischen fähig ist, die Anlage einer ganzen Komödienhandlung zu bestimmen. 2) ἐκ τῆς ἀπάτης , jede auf welchem Wege immer durchgeführte Täuschung, sowohl die Jntrigue, welche sich durch das ganze Stück hinzieht, wie das noch so kurze Betrügen eines Klugen oder Foppen eines Dummen. 3) ἐκ τοῦ ἀδυνάτου , aus dem Unmöglichen; diese Kategorie umfaßt das ganze weite Gebiet des Phantastischen, Chimärischen, Utopistischen, wo der Widerspruch der Zwecke und Mittel gegen den gesunden Verstand eine reiche Quelle des Komischen eröffnet. 4) ἐκ τοῦ δυνατοῦ καὶ ἀνακολούθου , aus dem Möglichen und Verkehrten, Unfolgerichtigen, wo der komische Widerspruch also nicht in den Zwecken selbst, sondern in den ungereimten Mitteln und in dem Mangel des Zusammenhanges bei ihrer Anwendung liegt. 5) ἐκ τοῦ παρὰ προςδοκίαν , aus dem Unerwarteten. Wie leicht ersichtlich, steht diese Kategorie in enger logischer Verbindung mit den beiden vorangehenden, denn während dort die komische Wirkung durch das Fehlen der Möglichkeit oder des Zusammenhanges erregt wurde, ist hier die Möglichkeit sowohl als der Zusammenhang vorhanden, aber der komische Widerspruch, der das irgendwo versteckte Gebrechen aufdeckt, besteht darin, daß der Zusammenhang ein anderer ist als der erwartete. 6) ἐκ τοῦ χρῆσθαι φορτικῇ ὀρχήσει , wörtlich übersetzt: „ aus der Anwendung des gemeinen, plumpen Tanzes “, aber weiter zu fassen als: „ aus der Anwendung des Burlesken überhaupt “, denn der Tanz war den Griechen eine nachahmende Kunst und umfaßt alle Arten, wie durch Körperbewegung, Stellung, Gestikulation „mimisch“, d. i. eben „nachahmend“ Empfindungen, Gemütszustände, Handlungen vorgeführt werden können. Es ist daher für uns Moderne bei dieser Kategorie nicht nur an Scenen wie die Rüpelkomödie im „Sommernachtstraum“ oder die Doktorpromition im „ Malade imaginaire “ zu denken, sondern an das burleske, groteske Element als solches, d. h. also an den augenfälligen Widerspruch der körperlichen Erscheinung und Bewegung gegen ihre Natur, soweit dieser Widerspruch in den, im obigen hinlänglich erörterten, Grenzen des Komischen bleibt, also weder mitleidserregend noch furchtbar ist. 7) ὅταν τις τῶν ἐξουσίαν ἐχόντων παρεὶς τὰ μέγιστα φαυλότητα λαμβάνῃ , d. i. „ wenn jemand in der Lage zu wählen das Wichtigste beiseite läßt und eine Geringfügigkeit ergreift. “ Diese, sowie die achte und letzte Kategorie überraschen zunächst einigermaßen, weil sie nur einzelne Fälle zu bezeichnen und sowohl der Allgemeinheit als des Einteilungsprincips zu entbehren scheinen, wodurch sie mit dem Vorangehenden in logischer Verbindung stünden. Die nähere Prüfung ergibt das Gegenteil. Es wird hier der burlesken körperlichen Erscheinung, die vorher genannt wurde, das Analogon auf geistigem Gebiete zur Seite gestellt, die in kolossalem Maßstabe auftretende und daher komisch wirkende Abweichung von der normalen Urteilsfähigkeit: also burleske Dummheit, für die wir das bezeichnende Wort „ Tölpelhaftigkeit “ besitzen, hier in ihrer komischen Äußerung charakterisiert. 8) ὅταν ἀσυνάρτητος ὁ λόγος ἦ καὶ μηδεμίαν ἀκολουθίαν ἔχῃ , „ wenn die Rede unzusammenhängend ist und keine Folgerichtigkeit hat “, in Weiterführung des vorangehenden als der äußerste Grad komischer Begriffsverwirrung mit Recht dem sachlich Komischen eingereiht, nicht, wozu der Anschein verleiten könnte, dem Komischen des Ausdrucks. Mit Recht bemerkt dazu Bernays: „je leichter ein unsicher geführtes Einteilungsmesser in solchem Falle schief schneidet, desto kenntlicher erprobt sich noch hier zuletzt die feste Hand des Aristoteles.“ Es ist im Obigen viel Veranlassung gewesen, die von Bernays vertretenen Meinungen zu bestreiten; desto erfreulicher ist es, hier am Schlusse in dem wesentlichsten Punkt die volle Übereinstimmung mit ihm hervorheben zu können, wenn er dem zuletzt behandelten Aufsatz „Ergänzung zu Aristoteles' Poetik“ die folgenden, trefflichen Worte hinzufügt: „Auch das Geringste, was sich zur Vervollständigung der Poetik noch auffinden läßt, bekommt Anteil an der eigentümlichen Bedeutung, welche von den übrigen Schriften des Aristoteles diejenigen Werke auszeichnet, in denen er die Gesetze menschlichen Denkens und Dichtens niedergelegt hat. Diese Werke, das Organon und die Poetik, konnten nicht durch zwei Jahrtausende zu Büchern von bloß historischem Jnteresse herabgedrückt werden; sie haben den Wert und die unmittelbare Anwendbarkeit von Lehrbüchern unübertroffen behauptet. Für das Organon zeugt Kants Geständnis, daß die formale Logik seit Aristoteles nicht vorwärts gegangen; und Lessings begeistertes Anraten vereinigt sich mit Goethes und Schillers lebendigem Beispiel, um auf die jetzige Poetik, nur ein Torso des großen aristotelischen Werkes, noch heutige Dichter hinzuweisen. Es entspringt aber diese unverminderte Brauchbarkeit der Poetik aus der Universalität ihrer Gesetze und aus der weisesten Mäßigung im Gesetzgeben. Jn allem Unwesentlichen ist sie, wie Schiller sich verwundert ausdrückt, „sogar sehr lax“, und das Wesentliche wird über wandelbare Sitten und Meinungen hinausgehoben, erscheint verknüpft mit unveränderlichen Forderungen der Vernunft, gegründet auf tiefere Erkenntnis der nicht minder unveränderlichen Leidenschaften. “ Mag ein schönes Wort Goethes aus den Noten zum westöstlichen Diwan den Beschluß bilden und dem Unternehmen des Ganzen gewissermaßen zur Rechtfertigung dienen: „Die Besonnenheit des Dichters bezieht sich eigentlich auf die Form, den Stoff gibt ihm die Welt nur allzu freigebig, der Gehalt entspringt freiwillig aus der Fülle seines Jnnern; bewußtlos begegnen beide einander, und zuletzt weiß man nicht, wem eigentlich der Reichtum angehöre.“ „Aber die Form, ob sie schon vorzüglich im Genie liegt, will erkannt, will bedacht sein, und hier wird Besonnenheit gefordert, daß Form, Stoff und Gehalt sich zu einander schicken, sich ineinander fügen, sich einander durchdringen.“ Dazu der sich daranschließende Spruch: „Der Dichter steht viel zu hoch, als daß er Partei machen sollte. Heiterkeit und Bewußtsein sind die schönen Gaben, für die er dem Schöpfer dankt: Bewußtsein, daß er vor dem Furchtbaren nicht erschrecke, Heiterkeit, daß er alles erfreulich darzustellen wisse.“ Jn echt goethescher, ebenso einfacher als eigentümlicher Weise ist damit die schöne, mittlere Haltung bezeichnet, die der wahre Dichter zwischen den tragischen und den komischen Eindrücken des Lebens selbst zu behaupten und eben dadurch in seinen Schöpfungen andern mitzuteilen weiß. Kants Kritik der ästhetischen Arteilskraft in ihrem Verhältnis zur aristotelischen Philosophie. (Anhang zu Seite 470.) ────── Als Ergänzung der „Kritik der reinen Vernunft“ und der „Kritik der praktischen Vernunft“ und gewissermaßen als ein verbindendes Mittelglied fügte Kant im Jahre 1790 jenen beiden die dritte hinzu: „ Die Kritik der Urteilskraft. “ Bestimmt er in der ersten die Natur und die Grenzen des Erkenntnisvermögens, stellt er in der zweiten das durch das Vernunftvermögen bestimmte sittliche Gesetz fest, so ist in der dritten der Gegenstand der Untersuchung: das Wesen und die Wirksamkeit des „ Gefühls “, als eines zwischen jenen beiden stehenden Vermögens, zu erkennen. Der Verstand erkennt die Dinge nach den ihm eingeborenen a priori gültigen Gesetzen; auf diesem allein beruht die Gewißheit und die Allgemeingültigkeit unserer Erkenntnis; über die reale Existenz der Dinge erhalten wir durch ihn keineswegs Gewißheit. Wie den so erkannten Dingen gegenüber sich unser Begehrungsvermögen zu verhalten hat, dafür gibt uns die Vernunft das unbedingt verbindliche Gesetz. Wir bemerken nun, daß es eine dritte Art gibt, wie wir uns zu den Dingen verhalten, wobei wir sie weder mit unserem Verstande zu begreifen suchen, noch sie zu dem Vernunftsgesetz oder zu unserem sittlich bestimmten Willen in irgend eine Beziehung setzen, wobei wir aber nichtsdestoweniger ein ähnliches Bewußtsein haben mit sicheren und allgemein geltenden Gesetzen uns in Übereinstimmung zu befinden wie in jenen beiden andern Fällen. Ohne zu erkennen und ohne uns in den Besitz irgend welcher Begriffe gesetzt zu haben, fällen wir Urteile, denen wir gleichwohl eine unbedingte Gewißheit und ewige Geltung zuschreiben, und indem wir die Gegenstände solcher Beurteilung strengstens von dem Gebiete absondern, in welchem die Vernunftgesetzgebung herrscht, vindizieren wir ihnen gleichwohl nicht allein eine völlige Freiheit von allem Zwange des Sinnlichen, wie sie sonst nur in jenem zu erreichen ist, sondern ein dunkler, aber nur um so mächtigerer Trieb zwingt uns, sie als mit jenem Reich der Freiheit in der innigsten Verwandtschaft stehend uns vorzustellen. Als die Gegenstände einer solchen Beurteilung unterscheidet Kant das Schöne und das Erhabene; das Vermögen ihrer Beurteilung nennt er die „ ästhetische Urteilskraft “. Die Kritik dieses Vermögens und die Analysis der Erscheinungen, die diesem Vermögen unterworfen sind, bildet den Hauptteil seiner „Kritik der Urteilskraft“. Dieses Buch ist die Grundlage der modernen wissenschaftlichen Ästhetik geworden; es ist bekannt, wie Schillers ganzes Denken und Dichten sich im engsten Anschlusse daran entwickelte. Bis auf den heutigen Tag stehen Kants Sätze im Mittelpunkte der Erörterung, so zwar, daß von den entgegengesetzten Seiten sich die Angriffe gegen dieselben richten: hier eröffnete Herder den Reigen mit fast leidenschaftlicher Polemik, und von dort begann Herbart die Opposition, über die seine Anhänger noch bedeutend hinausgegangen sind. Nach den üblichen Schlagworten kennzeichnet sich die eine Richtung als die der idealen, die andre als die der formalen Ästhetik. Keiner von beiden genügt Kants Lehre vom Schönen; während sie den Anhängern der idealistischen Ästhetik, die an die objektive Existenz des Schönen und seine Jdentität mit dem Guten und Wahren glauben, als viel zu formal erscheint, halten die formalen Ästhetiker, die über Kant hinausgehend die Realität der Dinge geradezu leugnen, und daher das Phänomen des Schönen lediglich als die Wirkung eines reinen Formenspieles betrachten, die Kantsche Lehre noch für bei weitem zu idealistisch. Denn einerseits erkennt Kant allerdings der Schönheit sowie der Erhabenheit keine selbständige Existenz zu, sondern betrachtet beide nur als subjektiv in dem Gemütszustande des die Eindrücke Empfangenden vorhanden. Wie alle Erkenntnis subjektiv ist und uns keineswegs die wirkliche Beschaffenheit der Dinge an sich lehrt, dennoch uns Gewißheit gewährend, weil die Gesetze, nach denen sie verfährt, Gewißheit enthalten: so beruhe die Lust am Schönen und am Erhabenen ganz allein auf dem Bewußtsein, mit welchem die Art und Weise seiner Beurteilung das Gemüt erfüllt. Ohne den Gegenstand, der uns als schön oder erhaben erscheint, nach Begriffen zu bestimmen, ohne ihn nach irgend einem Zwecke zu messen, sondern lediglich in der Vorstellung oder, wie Kant es nennt, mit der Einbildungskraft, seine Teile zu einem Gesamtbilde vereinigend, werden wir durch ein unmittelbar gefälltes Urteil uns seiner Zusammenstimmung mit den Forderungen des Verstandes bewußt, Forderungen, die, nach Kant, der Urteilskraft durch eine unbewußte und unmittelbar sich vollziehende Reflexion auf die überhaupt geltenden Gesetze des Verstandes immerfort gegenwärtig sind. So kommt das zustande, was unter einem seltsam paradox klingenden Ausdruck in der Kritik der Urteilskraft unaufhörlich wiederkehrt und den Eckstein des ganzen Systems bildet: ein Urteil, welches auf Verstandeserkenntnis reflektierend Bezug nimmt und doch ohne alle Begriffe gefällt wird, das ferner eine Zweckmäßigkeit zu lebhaftestem Bewußtsein bringt, ohne doch irgend einen Zweck dabei ins Auge zu fassen. Die bloße Harmonie der durch die Einbildungskraft gewonnenen Vorstellung mit dem durch jene allgemeine Reflexion ins Bewußtsein tretenden, das All beherrschenden Verstandesgesetze erfülle das Gemüt mit dem Gefühl einer in diesem Urteile gegebenen Zweckmäßigkeit, einer Zweckmäßigkeit also, die in der Thätigkeit der Urteilskraft selbst enthalten ist, nirgend anders ihren Sitz hat. Jn dieser Zweckmäßigkeit, dieser Harmonie mit dem allgemein gültigen Erkenntnisgesetz liegt das Princip a priori der Urteilskraft und daher die allgemein verbindliche Gültigkeit der Geschmacksurteile über das Schöne und Erhabene. Es ist leicht zu erkennen, was in diesem System den Jdealisten Anstoß gibt, ja sie gelegentlich zur Empörung bringt, da sie das Wahre, Gute, Schöne in den Eigenschaften der Dinge finden, den Jdeen desselben daher ein von Uranfang her gegebenes Dasein zuschreiben und die Lust an der Wahrnehmung derselben darauf zurückführen, daß die Erinnerung oder Ahnung derselben, jedenfalls die Fähigkeit ihrer Aufnahme eine durch die Erschaffung der Seele mitgeteilte Gabe sei, ein Beweis ihres göttlichen Ursprungs. Allerdings läßt es sich nicht leugnen, daß Kant durch sein System zu befremdenden Konsequenzen sich führen läßt: wenn er z. B. sehr nachdrücklich behauptet, daß das Naturschöne einer jeden Art des Kunstschönen weit überlegen sei; ferner, daß „das Gefühl fürs Schöne nicht allein vom moralischen Gefühl specifisch unterschieden sei, sondern auch das Jnteresse, welches man damit verbinden kann, mit dem moralischen schwer, keineswegs aber durch innere Affinität, vereinbar zu sein scheine“ (S. 165); Ausgabe von Rosenkranz und Schubert, IV. oder „daß die Kunst, wenn sie das Schöne der Natur nachahme, nur durch ihren Zweck, niemals an sich selbst, interessieren könne.“ (S. 169.) Andrerseits aber wehren sich die Formalisten mit aller Kraft gegen das spekulative Element in Kants System; ihnen gilt jede Einmischung eines intellektuellen oder reflektierenden Elementes in das rein ästhetische Urteil schon als eine Verfälschung desselben oder doch als eine seinem Wesen fremde Zuthat. Sie wollen dasselbe aus der reinen Perception der bloßen Formen herleiten, die sie auf das strengste von allen Wirkungen, welche dieselben in den übrigen Seelenvermögen hervorbringen, zu sondern bestrebt sind. Das Wohlgefallen am Schönen sei daher auch nicht nach den Gegenständen verschieden, sondern es sei nur ein einziges und immer dasselbe: die Lust an dem Einklange nach gewissen Grundverhältnissen zusammenstimmender Formen. Es gibt einen Punkt, in welchem diese, in allem übrigen von entgegengesetzten Seiten ausgehenden Angriffe dennoch zusammentreffen. Beide nämlich legen ihrer Betrachtung die Beschaffenheit des Objektes selbst zu Grunde, das Schöne ist ihnen eine objektive Erscheinung, der nach ihrer Meinung eine ideale oder formale Zweckmäßigkeit als Eigenschaft anhaftet. Eine solche sich vorzustellen, eine objektiv vorhandene Zweckmäßigkeit ohne den Begriff eines Zweckes, ist nach Kant „ein wahrer Widerspruch“. (S. 76.) Die Lustempfindung, auf der unser Urteil, ein Gegenstand sei schön, beruht, setzt er in „nichts als die subjektive Zweckmäßigkeit der Vorstellungen im Gemüte des Anschauenden, welche wohl eine gewisse Zweckmäßigkeit des Vorstellungszustandes im Subjekt und in diesem eine Behaglichkeit desselben, eine gegebene Form in die Einbildungskraft aufzufassen, aber keine Vollkommenheit irgend eines Objektes, das hier durch keinen Begriff eines Zweckes gedacht wird, angebe“ ( ibid .). Nun scheint freilich Kant an einer Stelle (S. 93) dem gegnerischen Standpunkt eine Konzession zu machen, wenn er den Widerspruch, daß das ästhetische Urteil auf freier Gesetzmäßigkeit der Einbildungskraft beruhe, während diese doch, obwohl frei produktiv thätig, an eine bestimmte Form des gegebenen Objektes gebunden sei, auf folgende Weise zu lösen sucht: „es ließe sich doch noch wohl begreifen, daß der Gegenstand ihr gerade eine solche Form an die Hand geben könne, die eine Zusammensetzung des Mannigfaltigen enthält, wie sie die Einbildungskraft, wenn sie sich selbst frei überlassen wäre, in Einstimmung mit der Verstandesgesetzmäßigkeit überhaupt entwerfen würde.“ Damit scheint Kant sich auf den Boden der Anerkennung zu stellen, welche die Gegner an ihm vermissen, daß nämlich das Schöne allerdings im Objekte gelegen, in einer bestimmten Form desselben gegeben sei. Allein er hat nichts Eiligeres zu thun, als diese scheinbare Konzession sogleich wieder aufzuheben. Die Einbildungskraft könne gar nicht zugleich frei und autonom und doch von selbst gesetzmäßig sein; das sei ein Widerspruch: das Gesetz gebe allein der Verstand. Es bleibt also dabei, daß nach ihm das Schöne nur insoweit existent ist, als es durch das ästhetische Urteil konstatiert wird, und daß dieses letztere einzig und allein in der subjektiven Uebereinstimmung der Einbildungskraft „zu der freien Gesetzmäßigkeit des Verstandes“, die durch eine unmittelbar geschehende Reflexion im Urteil zum Bewußtsein gebracht wird, bestände. Jch glaube daher, daß Lotze entschieden unrecht hat, wenn er sagt: „Jn Wahrheit ist für Kant doch nicht die Harmonie der Seelenkräfte das Schöne selbst; sie ist vielmehr die sich selbst genießende ästhetische Lust; schön ist für ihn, wie für den gewöhnlichen Sprachgebrauch der Gegenstand, dessen Einwirkung auf uns diese Lust erzeugt.“ S. Lotze, „ Geschichte der Ästhetik in Deutschland “, 1868, S. 65. Und: „es ist Kants eigene Meinung, was man als Bedenken gegen ihn angeführt hat: wenn auch das Wohlgefallen am Gegenstand nur die harmonische Thätigkeit unseres Jnnern ist: der Grund, der diese Thätigkeit anregt, liegt doch in dem Gegenstande selbst.“ Ebendaselbst, S. 65, 66. Das eben ist Kants Meinung nicht, sondern das gerade Gegenteil, und man wirft sein ganzes System über den Haufen, wenn man das leugnet. Er hat das mit einer Deutlichkeit ausgesprochen, die keinen Zweifel übrig läßt. So an folgender Stelle (§ 32 S. 143): „Sagen: diese Blume ist schön, heißt ebensoviel, als ihren eigenen Anspruch auf jedermanns Wohlgefallen ihr nur nachsagen. Durch die Annehmlichkeit ihres Geruchs hat sie gar keine Ansprüche; denn einen ergötzt dieser Geruch, dem anderen benimmt er den Kopf. Was sollte man nun anders daraus vermuten, als daß die Schönheit für eine Eigenschaft der Blume selbst gehalten werden müsse, die sich nicht nach der Verschiedenheit der Köpfe und so vieler Sinne richtet, sondern danach sich diese richten müssen, wenn sie darüber urteilen wollen, und doch verhält es sich nicht so. Denn darin besteht eben das Geschmacksurteil, daß es eine Sache nur nach derjenigen Beschaffenheit schön nennt, in welcher sie sich nach unserer Art, sie aufzunehmen, richtet.“ Ebendaher erklärt es auch Kant für eine Unmöglichkeit, ein objektives Prinzip des Geschmackes aufzustellen; ein Satz, der mit der Annahme, daß das Schöne im Grunde doch in den Gegenständen liege, deren Einwirkungen wir erfahren, ganz unverträglich ist. Diese letzteren ergeben nach Kant an und für sich nichts als ein empirisches Urteil der Lust oder Unlust; das allgemein verbindliche, also a priori gültige, ästhetische Urteil allein bringt die Schönheit hervor: dieselbe ist ein freier Effekt der harmonischen Thätigkeit unserer Seelenvermögen; indem wir dieselbe wahrnehmen und unseren Vorstellungszustand mit Lust empfinden, genießen wir das durch unser Urteil in uns erzeugte Phänomen der Schönheit, das zuvor nicht existierte und das aufhört zu existieren, sobald unsere Urteilsthätigkeit aufhört. Natürlich fordert das scheinbar Paradoxe diese Anschauungsweise, deren wahrer Kern nicht leicht zu erkennen ist, den Widerspruch der Gegner ebenso heraus, als es die Anhänger dazu antreibt, das Anstößige derselben zu mildern oder ihr Vorhandensein bei Kant überhaupt in Abrede zu stellen. Was liegt näher als das Zugeständnis, daß, um jenes harmonische Zusammenstimmen der Erkenntnisvermögen überhaupt möglich zu machen, sicherlich um es thatsächlich ins Spiel zu setzen, die Vorstellung eines angemessenen Objektes erforderlich ist, dessen Beschaffenheit also doch notwendig eine objektiv bestimmte und bestimmbare sein muß. Es gehört mit zu den vielfachen Schwierigkeiten des Studiums von Kants Kritik der Urteilskraft, daß man diesen Schluß unaufhörlich verlangt und erwartet, und in dieser Erwartung durchaus getäuscht wird. Kaum daß im Ausdruck er vorübergehend gestreift wird: wirklich gezogen wird dieser Schluß nicht; noch viel weniger also kommen die ungemein wichtigen Konsequenzen zur Entwickelung, die sich, sobald er gezogen ist, notwendig an ihn knüpfen müssen. Ganz besonders durch diesen Umstand, aber keineswegs allein durch ihn, wird der seltsame Zustand der Erregung veranlaßt, den, wie ich vermute, ein jeder empfunden haben muß, der sich jemals anhaltend mit dem Studium des merkwürdigen Buches beschäftigt hat, oder dasselbe auch nur versucht hat: ein Zustand, in dem überzeugte Beistimmung mit ebenso überzeugtem Widerspruch, lebhafteste Bewunderung mit Zweifel und Mißbilligung unaufhörlich in den härtesten Kampf gesetzt werden. Hier ist, in der modernen Ästhetik wenigstens, zum erstenmale ein fester Boden für bestimmte, wissenschaftliche Erforschung ihrer Probleme geschaffen durch die scharfe Unterscheidung des ästhetischen Urteils über das Schöne von der bloß empirischen Empfindung des Angenehmen sowohl als von den Urteilen, die uns über das Nützliche, das Gute unterrichten, oder die unsere Erkenntnis bereichern. Der Vermischung des Schönen mit Nützlichkeitszwecken, mit lehrhaften oder moralischen Tendenzen ist hier ein für allemal in der Theorie ein Ende gemacht. Hoch erhoben ist das Wesen des Schönen über das niedrige Niveau der Ansicht, daß es, lediglich aus der Erfahrung und Gewöhnung sich bildend, nur relative Geltung habe, die nach Zeiten und Völkern und Sitten, ja nach Temperament, Jndividualität und Lebensalter unaufhörlichem Wandel unterworfen sei. Die ästhetische Urteilskraft ist den höchsten Vermögen des menschlichen Geistes ebenbürtig beigesellt und ihrem Ausspruch absolute Gewißheit und ewige und allgemeine Gültigkeit zuerkannt. Dem gegenüber steht nun aber: daß dieses System vor allem die Möglichkeit einer objektiven Gesetzgebung, also einer fest bestimmten, durch den Verstand zu begründenden Kritik des Schönen, ausschließt; daß es ferner sich nicht begnügt, das Schöne vom Wahren und Guten streng zu scheiden, sondern daß es „jede Affinität“ zwischen seinem Gebiet und dem des Guten wie des Wahren leugnet; daß es ─ eins der schwersten Bedenken ─ die subjektiven Empfindungen und Gefühle als rein sinnliche Vorgänge auffaßt, bei denen das Subjekt sich passiv verhält, und die als pathologische Zustände jeder Thätigkeit der höheren Erkenntnisvermögen und namentlich dem durch die praktische Vernunft bestimmten Willen als Hindernisse im Wege stehen; daß es demzufolge „Reiz und Rührung“ als nicht zum Gebiete des Schönen zugehörig erklärt, und aus allen diesen Gründen zusammen das Schöne nicht in den Einwirkungen der Beschaffenheit der Dinge erkennt, sondern allein in dem durch die Thätigkeit der Urteilskraft bedingten Vorstellungszustande. Neben allen diesen Bedenken, denen sich noch manche andere hinzufügen ließen, ist es aber ein Bestandteil der Deduktion dieses ganzen Systems, und zwar gerade der wesentlichste, der Hauptpfeiler, auf dem es ruht, der einen nicht zu besiegenden Zweifel hervorruft. Jmmer aufs neue kehrt dieser Teil der Beweisführung wieder, in unzähligen Wiederholungen wird er für jeden neuen Satz als Stützpunkt in Erinnerung gebracht und aufs neue festgestellt, ohne daß es der formalen Logik gelänge in unserer inneren Überzeugung ihm einen Platz zu gewinnen. Wir sollen im ästhetischen Urteil einer Zweckmäßigkeit uns bewußt werden, ohne daß doch irgend ein Zweck uns dabei ins Bewußtsein trete; die Einbildungskraft, will sagen unser Vorstellungsvermögen, welche die mannigfachen Teile des Gegenstandes zu einem Ganzen vereinigt, soll sich mit der Reflexion auf die Verstandesgesetze in uns zu einem zusammenstimmenden Urteile verbinden, ohne daß doch irgend ein Begriff dabei in Betracht käme. „ Jm Gemüt “ soll diese Zweckmäßigkeit ohne Zweck, diese Verstandesmäßigkeit ohne Begriffe, zum Bewußtsein gelangen, und die Lust an diesem Bewußtsein der harmonierenden Thätigkeit der Einbildungskraft und des Erkenntnisvermögens überhaupt, nicht der auf irgend ein Objekt gerichteten Erkenntnis, soll die eine, einzige, immer sich gleichbleibende Freude am Schönen sein, den tausend= und abertausendfachen Manifestationen des Schönen gegenüber immer qualitativ die gleiche, höchstens quantitativ verschieden: das bedeutet doch also, von den Empfindungen, die durch die Beschaffenheit der Dinge in uns erzeugt werden, nicht im mindesten modifiziert, sondern ein ewig sich gleichbleibender Effekt in dem Zusammenwirken der Kräfte unseres geistigen Organismus. Das widerspricht nicht allein aller unserer Erfahrung auf das schroffste, sondern auch der Jntuition, die uns von dem theoretischen Verhältnis dieser Dinge eigen ist. Beiden, dieser Jntuition wie unserer Erfahrung, ist es nicht fremd, daß es ein solches „ Lustgefühl “ in unserem „ Gemüte “ gibt, aber wir sind weit entfernt es mit der Freude am Schönen für dasselbe zu halten. Ein solches Lustgefühl ist es, welches die verstandesmäßige Erkenntnis des Richtigen, des Wahren begleitet: dieses bleibt immer dasselbe, mag eine Rechnung zum Stimmen gebracht, eine mathematische oder physikalische Aufgabe gelöst, eine philosophische Wahrheit erkannt oder ein neues Weltgesetz gefunden sein. Diese selbe Lust wird uns durch die Anschauung unmittelbar zu teil, wenn uns die Resultate solcher Erkenntnis in Figuren und Körpern vor Augen treten. Hier wäre die Zusammenstimmung der Vorstellungskraft mit der Verstandesmäßigkeit, welche die Kantische Deduktion verlangt; vorhanden: aber freilich im Gegensatze zu derselben würde sie gerade auf erkannte Begriffe gegründet sein, nur daß dieselben uns so völlig geläufig geworden wären, daß wir ohne sie zu „ denken “ auf sie „zu reflektieren“ vermöchten. Von dieser selben Art der Freude an der Übereinstimmung des Geschauten mit dem Erkannten ist nach Kant die Freude am Schönen, nur daß statt des „Erkannten“ zu setzen wäre des „der Erkenntnis Gemäßen“, auf das ohne Begriffe die Reflexion in der Seele gemacht werden soll. Hier liegt der unaufgeklärte Punkt in Kants Kritik der Urteilskraft, der uns in dem ganzen System nirgends zur völligen Ruhe und Befriedigung gelangen läßt. Es liegt etwas fast mystisch zu Nennendes in diesem von Kant statuierten Vermögen der „ Urteilskraft “, das uns nur in seiner Wirkung, nicht in seiner Existenz nachgewiesen wird. Fragt man, wo dasselbe denn nun seinen Sitz hat, so kann man aus dem System nur die Antwort entnehmen: im „ Gemüt “ oder im „ Gefühl “, obwohl diese Frage nirgends eine direkte und ausführliche Beantwortung findet. Denn im „Gemüte“ oder im „Gefühl“ soll ja die harmonische Vereinigung der Thätigkeit der Einbildungskraft mit der Reflexion auf das Erkenntnisvermögen stattfinden und, zum Bewußtsein gelangt, die „ Lust “ erzeugen; und zwar die Lustempfindung des Schönen, wenn die Reflexion auf Verstandeserkenntnis und die des „ Erhabenen “, wenn sie auf das Vernunftgesetz stattfindet, beide Male „ ohne Begriffe “ von der einen oder dem anderen. Jn dieser Reflexion auf die a priori geltenden Prinzipien der reinen und der praktischen Vernunft liegt die allgemein verbindliche Geltung der ästhetischen Urteile über das Schöne und das Erhabene. Was haben wir uns nun nach Kant unter diesem Vermögen des Gemüts zu denken? Vor allem, in welchem Verhältnis haben wir es zu dem Vermögen der reinen und praktischen Vernunft uns vorzustellen? Nach sehr zahlreichen Stellen seiner Werke versteht er darunter die Gesamtheit der Seelenvermögen: um so mehr aber bleiben wir im Unklaren darüber, welcher Platz in demselben nun der ästhetischen Urteilskraft zugewiesen sein soll? So viel ist sicher, daß jene beiden Hauptvermögen der reinen und praktischen Vernunft in strengster Scheidung von dem Vermögen des „ Gefühls “ ihr Geschäft vollziehen, daß denselben ferner eine direkte Beteiligung an dem ästhetischen Urteil durchaus nicht zusteht. Wenn nun Kant dennoch annimmt, daß „ im Gemüt “ eine Reflexion der ästhetischen Urteilskraft auf die Prinzipien jener Vermögen, wenn auch „ohne Begriffe“ von denselben, stattfindet, so muß er ─ obwohl das nirgends von ihm näher untersucht oder auch nur angedeutet wird ─ schlechterdings doch zwischen jenen obersten Vernunftvermögen und dem „Gefühl“, dem Vermögen, Lust und Unlust zu empfinden, auf Grund ihrer beständigen Vereinigung „im Gemüt“ irgend ein Verhältnis gegenseitigen Verkehrs für möglich halten, zum mindesten eine Fähigkeit des Gemütes, die Resultate der Thätigkeit jener beiden Hauptvermögen, in solcher Weise dem Gefühlsvermögen zu übermitteln, daß dieses dieselben in sich aufzunehmen und festzuhalten in den Stand gesetzt werde. Ohne diese Annahme bliebe die Kantsche Hypothese von dem Vermögen der ästhetischen Urteilskraft ein leeres Schema. Dies ist der Punkt, an welchem die aristotelischen Grundan= schauungen, deren alleinige Geltung für das ästhetische Gebiet der Verfasser in dem vorstehenden Buche behauptet hat, zu Hilfe genommen werden müssen, um zugleich das Dunkle und Unklare des Kantschen Systems aufzuklären und das Richtige desselben zu bestätigen. Dieselben sind im Obigen so vielfach erörtert, daß hier ohne Wiederholungen auf dieselben einfach Bezug genommen werden kann. Jn der Auffassung zweier Grundbegriffe weicht Kant am weitesten von Aristoteles ab, der subjektiven Empfindung, Pathos, und des Gefühls der Lust, Hedone. Unter „ Empfindung “ versteht Kant zunächst nur die sinnliche Wahrnehmung, also was die Griechen „Ästhesis“ nennen; von dieser „objektiven“ Empfindung unterscheidet er die „subjektive“, die durch die erstere bewirkte Bestimmung des Gefühls der Lust und Unlust, und nennt diese „ Gefühl “. Hier bleibt aber eine Lücke, die Kant ignoriert! Bei Kants Einteilung bleibt dasjenige, was der Sprachgebrauch vorzugsweise unter „Empfindung“ versteht, unberücksichtigt und unbenannt. Liebe, Zorn, Hoffnung, Mitleid, Furcht sind an sich weder Gefühle der Lust, noch der Unlust, sondern je nach ihrer Beschaffenheit sind sie von Lust oder Unlust begleitet, und zwar kann eine jede dieser Empfindungen, sowohl von der einen als von der anderen begleitet sein. Sie alle und alle ihnen verwandten Seelenbewegungen geben durch ihr Dasein von einem Vermögen der Seele Kunde durch dasjenige, was Kant „objektive Empfindungen“, d. i. sinnliche Wahrnehmungen nennt, affiziert d. i. verändert, bewegt zu werden, und zwar nicht derartig verändert, daß sie dabei ihre naturgemäße Beschaffenheit verliert, aus derselben heraustritt, „ ekstatisch “ ihr Wesen verrückt, sondern so, daß sie diesem in sie gelegten Vermögen, den „objektiven“ Eindrücken entsprechend sich zu wandeln, naturgemäße Folge leistend, ihre Bestimmung erfüllt. Die Erfüllung dieser Bestimmung ist eine ihrer wesentlichsten Aufgaben, was zu allernächst schon daraus bewiesen wird, daß ohne dieselbe nicht einmal die physischen, körperlichen Vermögen ausgeübt und ausgebildet werden könnten. Dasjenige aber, was Kant „ Gefühl “ nennt, ist erst eine Folge dieser Erfüllung ihrer Bestimmung, denn Lust oder Unlust treten als Begleiterscheinungen jener Veränderungsvorgänge der Seele auf, je nach der Art und Weise, wie dieselben eintreten und verlaufen. Es bedarf keines weiteren Nachweises, daß die aristotelische Lehre vom „ Pathetikon “, als einem besonderen Vermögen der Seele, und von den „ Pathe “, als den jenem Vermögen entsprechenden Bewegungsvorgängen, gerade das darbietet, was geeignet wäre, die Lücke des Kantschen Systems auszufüllen. Um so mehr aber wäre das der Fall, wenn es sich als richtig erwiese, was Aristoteles von der ursprünglichen Natur dieses Pathetikon ─ des Empfindungsvermögens der Seele ─ lehrt, daß es nämlich zwar an sich selbst vernunftlos ─ ἄλογον ─ sei, daß es aber gleichsam im Verkehr mit den oberen Seelenvermögen des Verstandes und der Vernunft Einflüsse von jenen in sich aufzunehmen und sich der Vorschrift jener gemäß selbständig zu gestalten fähig sei. Die Frage ist, wie Kant sich zu alledem stellt? Das „Gefühl“ und alle einzelnen „Gefühle“ betrachtet Kant lediglich als Bestimmungen der subjektiven Lust und Unlust, demgemäß als Äußerungen der bloßen Sinnlichkeit, die nur das subjektiv Angegenehme und Unangenehme anzeigen. Zwischen ihnen und den oberen Seelenvermögen kann daher nach ihm kein Zusammenhang vorhandeu sein. Er bezeichnet dementsprechend alle Gefühle und auf dieselben begründeten Neigungen als „ pathologisch “, gelegentlich, sofern sie vorwalten, geradezu als Krankheiten des Gemüts (so in der Anthropologie § 72 und 74), und erkennt das stoische Prinzip der Apathie als einen „richtigen und erhabenen moralischen Grundsatz“ an (ebendas. § 74). Aber wenn Kant mit vollem Rechte verlangt, daß die Triebfeder der sittlichen Handlungsweise von aller sinnlichen Bedingung frei sein solle, daß die Vernunft sich selbst ihr Gesetz gebe, welches alle Gefühle und Neigungen unnachsichtlich niederschlagen müsse, um ungeteilt als Bestimmungsgrund des Handelns zu wirken, so folgt daraus doch nicht, daß das „Gefühl“ auch in seiner eigenen Sphäre nun immerfort als ein der Vernunft gegnerisches Vermögen zu gelten habe, daß es nicht vielmehr einer freiwilligen Einstimmung zu ihren Forderungen fähig sein könne. Ein Gefühl kennt auch Kant, von dem er nicht allein dieses, sondern noch viel mehr behauptet, das er geradezu ein „ moralisches “ nennt und aus der Anerkennung des a priori geltenden Vernunftgesetzes herleitet: die Achtung; aber da diese Anerkennung seinem Axiom, daß alle Gefühle pathologisch und sinnlich seien, offenbar widerstreitet, so sucht er zugleich zu beweisen, daß dieses moralische „Gefühl“ der Achtung im Grunde gar kein Gefühl sei. Es ist eine sehr merkwürdige Stelle seiner „Kritik der praktischen Vernunft“, wo er diesen sehr langen und sehr gewundenen Beweis zu führen sucht, der darauf hinausläuft, daß die Achtung in der That zugleich ein Gefühl und kein Gefühl sei, „man dürfe sich nicht wundern, diesen Einfluß einer bloß intellektuellen Jdee aufs Gefühl für unergründlich zu finden, und sich damit begnügen zu müssen, daß man a priori doch noch so viel einsehen könne, ein solches Gefühl sei unzertrennlich mit der Vor= stellung des moralischen Gesetzes in jedem endlichen vernünftigen Wesen verbunden.“ S. VIII, S. 206. Bei diesem Kapitel („Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“) hätte eine ausführliche Bekämpfung der Lehre Kants von den „Empfindungen“ einzusetzen; sie fände fast in jedem Satze reichen Stoff. Kant geht von den Sätzen aus: „alle Neigungen zusammen machen die Selbstsucht ( solipsismus ) aus. Diese ist entweder die der Selbstliebe, eines über alles gehenden Wohlwollens gegen sich selbst ( philautia ), oder die des Wohlgefallens an sich selbst ( arrogantia ). Jene heißt besonders Eigenliebe, diese Eigendünkel. “ S. VIII, S. 197. Aber wer sähe nicht, daß Kant diese „Gefühle“ an sich von vornherein viel zu niedrig schätzt, da er sie nur von der Seite ihrer Übertreibung betrachtet und ganz außer acht läßt, daß sie auch in einer Modifikation nach Grad, Begründung und Art und Weise der Bethätigung auftreten können, wonach sie nicht allein berechtigt sind, sondern unbedingt gefordert werden. Gibt es nicht ein berechtigtes „ Wohlgefallen “ des Menschen an sich selbst? und ist nicht ein solches berechtigtes Wohlgefallen an sich selbst zugleich Voraussetzung und Resultat gesunder sittlicher Entwickelung, als die begleitende Empfindung unauflöslich und notwendig mit kräftigem, rechtem Handeln verbunden? Und ist es mit der „ Selbstliebe “ etwa anders beschaffen? Woher nimmt Kant das Recht von diesen „Gefühlen“ nur in den Ausdrücken des Tadels, ja der Verachtung zu sprechen, als wären sie krankhaft und unter allen Umständen auszurotten? Obendrein sind die Gefühle der „Selbstliebe“ und des „Wohlgefallens an sich selbst“ bei ihm Kollektivbezeichnungen und umfassen im Grunde alle „subjektiven Gefühle“, also z. B. auch Hoffnung, Liebe, Vertrauen, Furcht und Mitleid. Gewiß ist Kant im Recht, sie alle „von dem Beitritt zur obersten Gesetzgebung auszuschließen“; aber es ist eine ganz falsche Folgerung diesen Gefühlen an sich deshalb die Perfektibilität abzusprechen. Niemand wird das Zutreffende der aristotelischen Beobachtung verkennen, daß jede dieser Empfindungen denkbar sei und auch wirklich angetroffen werde in mannigfachen Graden des Übermaßes und der Unzulänglichkeit, drittens jedoch in einem mitten inne gelegenen Grade, in welchem ihr das Prädikat der „ Richtigkeit “ zukommt, d. h. sie nach der Stärke, den Gründen und der Art und Weise ihres Auftretens so beschaffen ist, wie sie beschaffen sein soll. Niemand wird ferner der überzeugenden Kraft sich verschließen können, mit der die aristotelische Ethik nach diesen Gesichtspunkten die so vielfach benannten Empfindungen auf einheitlich geordnete Gruppen zurückführt, so daß sich auf einen Blick zeigt, wie die gangbaren Bezeichnungen bald das Übermaß, bald den Mangel, mitunter die rechte Mitte treffen, während die Sprache andrerseits bald diese bald jene beiden ohne Bezeichnung läßt. Kant aber betrachtet das Gefühl so ausschließlich als ein dem moralischen Gesetz gegnerisches Vermögen, daß er auch bei der Untersuchung des rein ästhetischen Gebietes sich von dieser Voreingenommenheit keinen Augenblick frei zu machen vermag. Man kann den Beweis gegen ihn aus seinen eigenen Worten führen. Jn der „Kritik der praktischen Vernunft“ heißt es, nachdem der Satz aufgestellt ist, daß von den Bestimmungsgründen des Willens alles ausgeschlossen werden müsse, was sich als Objekt des Willens vor dem moralischen Gesetze darbiete, folgendermaßen: S. VIII, S. 198 ff. „Nun finden wir aber unsere Natur, als sinnlicher Wesen, so beschaffen, daß die Materie des Begehrungsvermögens (Gegenstände der Neigung, es sei der Hoffnung oder Furcht) sich zuerst aufdringt und unser pathologisch bestimmbares Selbst, ob es gleich durch seine Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung ganz untauglich ist, dennoch gleich, als ob es unser ganzes Selbst ausmachte, seine Ansprüche vorher und als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen bestrebt sei. Man kann diesen Hang, sich selbst nach den subjektiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objektiven Bestimmungsgrunde des Willens zu machen, die Selbstliebe nennen, welche, wenn sie sich gesetzgebend und zum unbedingten praktischen Prinzip macht, Eigendünkel heißen kann. Nun schließt das moralische Gesetz, welches allein wahrhaftig (nämlich in aller Absicht) objektiv ist, den Einfluß der Selbstliebe auf das oberste praktische Prinzip gänzlich aus, und thut dem Eigendünkel, der die subjektiven Bedingungen des ersteren als Gesetze vorschreibt, unendlichen Abbruch. Was nun unserem Eigendünkel in unserem eigenen Urteile Abbruch thut, das demütigt. Also demütigt das moralische Gesetz unvermeidlich jeden Menschen, indem dieser mit demselben den sinnlichen Hang seiner Natur vergleicht. Dasjenige, dessen Vorstellung als Bestimmungsgrund unseres Willens, uns in unserem Selbstbewußtsein demütigt, erweckt, sofern als es positiv und Bestimmungsgrund ist, für sich Achtung. Also ist das moralische Gesetz auch subjektiv ein Grund der Achtung. Da nun alles, was in der Selbstliebe angetroffen wird, zur Neigung gehört, alle Neigung aber auf Gefühlen beruht, mithin was allen Neigungen insgesamt in der Selbstliebe Abbruch thut, eben dadurch notwendig auf das Gefühl Einfluß hat, so begreifen wir, wie es möglich ist, a priori einzusehen, daß daß moralische Gesetz, indem es die Neigungen und den Hang, sie zur obersten praktischen Bedingung zu machen, d. i. die Selbstliebe, von allem Beitritt zur obersten Gesetzgebung ausschließt, eine Wirkung aufs Gefühl ausüben könne, welche einerseits bloß negativ ist, andrerseits und zwar in Ansehung des einschränkenden Grundes der rein praktischen Vernunft positiv ist, und wozu gar keine besondere Art von Gefühl, unter dem Namen eines praktischen oder moralischen, als vor dem moralischen Gesetze vorhergehend und ihm zum Grunde liegend, angenommen werden darf.“ Also Kant selbst erkennt ausdrücklich an, daß „ das moralische Gesetz eine positive Wirkung auf das Gefühl ausüben könne “, eine „ positive “, d. h. eine sowohl freudige als zugleich „in Ansehung des sie hervorbringenden moralischen Gesetzes“ eine berechtigte. Aber mag der erzeugende Anlaß sein, welcher er wolle, die Wirkung bleibt doch immer hervorgebracht in dem Gefühlsvermögen an und für sich. Wenn Kant hinzufügt, „es dürfe dazu gar keine besondere Art von Gefühl als vor dem moralischen Gesetze vorausgehend und ihm zu Grunde liegend angenommen werden“, so ist der Satz ja unbestreitbar, aber er verneint etwas, was gar nicht in Frage kommt, und wird zugleich von Kant als Argument für eine Behauptung angesehen, für welche er nicht das mindeste beweist. Freilich kann das Gefühl der Freude an dem Gesetz, der ehrfürchtigen Achtung desselben, nicht dem Gesetze vorausgehen, da es ja erst durch dasselbe hervorgebracht wird; noch weniger kann es als ihm „ zu Grunde liegend “ gedacht werden, da es die die Vorstellung des moralischen Gesetzes begleitende, demselben entsprechende, demgemäß also richtige Bewegung des Gefühlsvermögens selbst ist. Es ist und bleibt eine selbständige Äußerung dieses abgesonderten Vermögens, ein durch die Vorstellung der reinen praktischen Vernunft, also wahrheitsgemäß, bestimmtes Pathos; die erregende Ursache gehört dem Vernunftvermögen an, der Vorgang ist ein ästhetischer und tritt in Übereinstimmung mit der erregenden Ursache im Gefolge oder auch schon in Begleitung derselben allemal unmittelbar ein, gleichviel ob der Anlaß im Handeln des wirklichen Lebens gegeben wird, oder ob durch die Nachahmung desselben im Spiel die Vorstellung desselben erweckt wird. Jn diesem ganzen Kapitel herrscht bei Kant ein durchgehender Mangel an Klarheit; im Grunde wird er dabei seinem eigenen Prinzip ungetreu. Das „ Gefühl “ der Achtung ─ welches dann freilich wieder kein „Gefühl“ sein soll ─ erkennt er als Triebfeder des moralischen Handelns an. Das konnte nur geschehen, weil er es nicht unternahm, die intime Verbindung, welche zwei ihrer Natur nach durchaus getrennte Vermögen bei dem Auftreten der „ Achtung “ eingehen, kritisch zu scheiden. Das Vermögen der reinen und der praktischen Vernunft trifft seine Entscheidung: das Resultat derselben, die Überzeugung, thut in demselben Augenblicke sich dem Gesamtvermögen der Seele, dem „ Gemüte “, kund: die Folge davon ist, daß mit der Überzeugung sich als unzertrennliche Begleitung die entsprechende Bewegung des Gefühls verbindet. Nach der Konsequenz von Kants System sollte nun jene Überzeugung ganz allein die Triebfeder des Handelns sein: aber ─ ein schönes Zeugnis für den „fühlenden“ Menschen Kant gegen den systematischen Philosophen ─ die Wahrheit ist stärker als die Einseitigkeit des formalen Rigorismus, das Feuer der eigenen „Empfindung“, das in diesem ganzen Abschnitt so herrlich bei ihm hervortritt, überwältigt ihn und zwingt ihm das Anerkenntnis ab, daß das solchergestalt bestimmte „ Gefühl “ einer der mächtigsten Antriebe des moralischen Handelns sei, „dessen Stimme auch den kühnsten Frevler zittern macht und ihn nötigt, sich vor dem Anblick des Gesetzes zu verbergen.“ S. S. 205 ff. Es würde schwierig sein die bei Kant fehlende kritische Scheidung auf diesem Gebiete vorzunehmen, wenn nicht die Psychologie und Ethik des Aristoteles den Weg dazu klar vorgezeichnet hätte. Seine Lehre läßt sich in wenige Sätze zusammengefaßt darlegen. Wie der Logos niemals sein Geschäft vollziehen und seine Kraft entwickeln könnte, ohne daß die Ästhesis, die sinnliche Wahrnehmung, ihm Vorstellungen zuführte, welche die „Phantasia“ für ihn sammelt und aufbewahrt, wie er ohne dieselbe eine leere Form bleiben und nie in Thätigkeit gesetzt werden würde, so wäre der Nous (die praktische Vernunft) ohne die Empfindungsvorgänge in der Seele niemals imstande seine Aufgabe, den Willen zu bestimmen, zu vollziehen; in einer gänzlich empfindungslosen ─ apathischen ─ Seele, wenn eine solche gedacht werden könnte, müßte er für immer unentwickelt bleiben. Einer jeden Einwirkung von außen her, sei es durch einen Gegenstand, sei es durch einen Vorgang, entspricht eine Veränderung in der empfindenden Seele, ein Pathema derselben. Wie diese Pathemata nun auch sonst beschaffen sein mögen, so scheiden sie sich in zwei Gattungen, sie sind entweder wohlgefällig oder mißfällig, von Lust oder Unlust begleitet; sie bestimmen daher das Begehrungsvermögen, entweder positiv oder negativ, zur δίωξις oder φυγή , zum Streben nach einem Ziel oder zur Abwendung davon. Diese Pathemata sind an sich dem vernunftlosen Teil ( ἄλογον μορίον ) der Seele zugehörig; sie sind verstand= und vernunftlos, d. h. ohne Anteil an jenen beiden Vermögen, nicht ihnen widersprechend. Natürlich haben nicht allein die wirklichen Dinge und Vorgänge, sondern auch ihre Abbilder in der Phantasie die Kraft, Pathemata (Empfindungen) hervorzurufen und durch sie also auch das Begehrungsvermögen in Thätigkeit zu setzen. Mit dem Spiel dieser Kräfte beginnt das Leben der Seele und mit demselben gelangt sie zuerst zur Entfaltung, Sofort aber beginnen alle diese Bewegungen und Reizungen nun ihren Einfluß zu üben auf die beiden Vermögen der Seele, die Aristoteles in völliger Übereinstimmung mit Kant als von Anbeginn in ihr vorhanden und als die Gewähr ihres göttlichen Ursprungs betrachtet: auf den Logos und auf den Nous. Jndem der Logos jenem Spiel zuschaut, vergleicht er nach den ihm eingeborenen Wahrheitsgesetzen die Bilder der Dinge und erkennt ihr Wesen als entweder der Wahrheit gemäß oder ihr widersprechend, als richtig oder falsch. Ebenso beobachtet er die Pathemata oder die ihnen folgenden Begehrungsbestimmungen und bejaht sie als richtig und verneint sie als falsch: stellt sich also mit seinem Einfluß dem Begehren entgegen oder verstärkt es durch sein Gewicht. Dieser letztere Fall ist es eben, den Kant außer acht läßt. Es ist aber nach seinem eigenen System unwidersprechlich, daß, sofern das „Gefühl“ nach dem Grunde seiner Entstehung und nach der Art und Weise seines Auftretens die Zustimmung des Logos erhält, es nun, ob zwar immer nach seiner Natur noch subjektiv und an sich ohne das Recht a priori Geltung zu beanspruchen, durch die Sanktion eines a priori entscheidenden Vermögens als objektiv richtig angesehen und demgemäß nach sicheren Kennzeichen in seiner Beschaffenheit objektiv festgestellt werden kann. Derselbe Schluß ergibt aber, daß ein solcherweise durch den Logos als berechtigt anerkanntes Gefühl nicht allein ein an sich wohlgefälliges sein, sondern daß die dasselbe begleitende Freude eine berechtigte sein müsse, und daß diese Berechtigung, um mit Kant zu reden, a priori erkannt werden könne. Dasselbe Schlußverfahren findet seine Anwendung auf das Verhältnis zwischen den „ Gefühlen “ und dem Nous, dem praktischen Vernunftvermögen. Doch ist der Kampf zwischen dem Empfindungsbegehren und der Vernunftentscheidung ein viel heißerer; denn das der Vernunft eingeborene Gesetz tritt in sehr vielen Fällen zu der vernunftlosen Empfindung in schroffen Gegensatz. Aber dieser Kampf ist keineswegs ein solcher, der nicht anders als mit der „ Demütigung “ und Vernichtung der streitenden Empfindung endigen könnte; dieselbe kann vielmehr sich dem Gebote der Vernunft unterwerfen, ihm willig zustimmen, „wie ein Kind auf die Stimme des Vaters hörend und ihr gehorsamend“. So kann das „ Gefühl “ dazu gelangen, ebenso wie das Verstandesgesetz auch das Vernunftgebot in sich aufzunehmen, indem es sich gewöhnt, nachdem es in vielen Fällen der Vernunft gehorsam, das rechte Maß in sich selbst erfahren hat, nun unmittelbar und von selbst dieses rechte Maß zu treffen, sich selbstthätig richtig zu bewegen. Aristoteles bezeichnet ein solches zur Gewöhnung gewordenes Verhalten mit dem Namen des richtigen „ Ethos “. Ein solches Ethos darf freilich die Bestimmung über das Handeln nicht an sich reißen, die immer nur dem durch die Vernunft erkannten Gesetze gebührt, aber ebensowenig darf eine Handlung im vollen Umfange eine „ sittliche “ genannt werden, bei der nicht zu dem Gebot der Vernunft der Antrieb des Ethos mitgewirkt hat. Bekanntlich läuft hierauf die Polemik Schillers gegen Kant hinaus. Kant selbst hat sich offenbar dadurch täuschen lassen, daß ein solches Ethos seinerseits darauf beruht, daß durch die in ihm siegend gewordene richtige Empfindungsweise zuvor andere, individuell=egoistische, Gefühle beschränkt, beziehungsweise unterdrückt wurden, sei es, daß dieser Prozeß schon früher vollendet war oder daß er bei dem Handlungsakte selbst sich wiederholen mußte. Das Wesentliche aber ist: Kant hat darin unrecht, daß er die Möglichkeit eines an sich selbst objektiv richtig bestimmten Gefühls, d. h. eines solchen, das aus eigener Bewegung, ohne die ad hoc zuvor eintretende Bestimmung durch Verstandes- oder Vernunftreflexion mit den a priori geltenden Gesetzen beider Vermögen in Übereinstimmung sich befindet, leugnet. Jm Grunde beruht seine eigene Behauptung auf der Annahme dieser Möglichkeit, nur daß er durch eine unrichtige Fragestellung an der Anerkennung jener Möglichkeit verhindert wird. Kant fragt immer nur, ob es möglich sei, daß von Anbeginn im Subjekt ein Gefühl dem sittlichen Handeln vorhergehen könne, das auf Moralität gestimmt sei, und antwortet: „dies ist unmöglich, weil alles Gefühl sinnlich ist; die Triebfeder der sittlichen Gesinnung muß von aller sinnlichen Bedingung frei sein. Vielmehr ist das sinnliche Gefühl, das allen unsern Neigungen zum Grunde liegt, zwar die Bedingung derjenigen Empfindung, die wir Achtung nennen, aber die Ursache der Bestimmung desselben liegt in der reinen praktischen Vernunft, und diese Empfindung kann daher, ihres Ursprungs wegen, nicht pathologisch, sondern muß praktisch gewirkt heißen. “ S. VIII, S. 200. Wer wollte das leugnen, Aristoteles gewiß am allerwenigsten! Aber die Frage ist eine ganz andere, ob, nachdem die Bestimmung des Gefühls durch die praktische Vernunft einmal stattgefunden hat, das so modifizierte Gefühlsvermögen nun nicht imstande sein soll, sich als solches fernerhin selbständig zu bethätigen? Die kritische Scheidung der Seelenvermögen kann doch nur in abstracto vorgenommen werden; in Wirklichkeit sind sie im „Gemüt“ aufs innigste vereinigt, und wie die Vernunft überhaupt nicht in Thätigkeit und zur Entwickelung gelangen könnte, außer indem die Gefühle und Neigungen den Anlaß dazu geben, so kann nun die solchergestalt vor sich gehende Entwickelung des Vernunftvermögens nicht stattfinden, ohne daß rückwirkend in der Art und Weise der Gefühle, sich zu bethätigen, eine große Veränderung geschehe: daß das im Beginn „ vernunftlose “ Gefühlsvermögen zu einer mehr oder minder vollständigen Übereinstimmung mit den Gesetzen des Verstandes oder der Vernunft erzogen und an sich selbst gewöhnt werde. Die Erfahrung aber verlangt, daß hier noch mehr zugegeben werden muß, als auf irgend eine Weise bewiesen werden könnte! Alle Naturanlage der menschlichen Seele ist nach der Art ihrer Entstehung ein undurchdringliches Geheimnis: nun ist es aber eine erfahrungsmäßig unbestrittene Thatsache, daß die Anlage ( δύναμις ) des Gefühlsvermögens bei den Menschen in Bezug auf Zahl, Art und Grad der Gefühle, zu denen sie „von Natur geneigt“ sind, eine sehr verschiedene ist; daß es, um alle übrigen zu übergehen, einige Menschen gibt, in denen von Natur eine fast allseitige Anlage vorhanden ist, die gesamte Zahl der verschiedenartigen Gattungen der Gefühle in sich zu bethätigen, und zwar so, daß die Natur selbst in sie die Neigung gelegt hat, dieselben in einer Weise zu bethätigen, die den Forderungen des Verstandes und der Vernunft auf mehr als halbem Wege entgegenkommt, ja in seltenen Fällen irrige Forderungen derselben mit unwiderstehlicher Autorität zu berichtigen. Genies und Propheten pflegen wir so begabte Menschen zu nennen; bei beiden sind wir uns freilich bewußt, daß die noch so große Naturanlage der Gefühlsbegabung in ihnen doch für sich allein niemals gesetzgebend werden darf, ohne die Gefahr schwerer Verirrung, sondern daß gerade sie des innigsten Verkehrs mit dem theoretischen und praktischen Vermögen und der festen Leitung durch sie am dringendsten bedarf. Hier böte die Erfahrung aber in der That dasjenige dar, was Kant für unmöglich erklärt: „ein im Subjekt der Erkenntnis des Gesetzes vorhergehendes Gefühl, das auf Moralität gestimmt wäre“. Unzweifelhaft ist nach alledem das, was Kant unter „ Achtung “ versteht, ein Pathos zu nennen; wie er auch selbst sie als eine „ Wirkung auf das Gefühl sinnlicher, endlicher Wesen“ bezeichnet und mit Recht hervorhebt, daß sie einem höchsten, von aller Sinnlichkeit freien Wesen nicht beigelegt werden könnte. Ein Pathos also wäre die Achtung im einzelnen Falle ihrer Bethätigung; als ständig wirksame Gesinnungsweise wäre sie ein Ethos: immer aber ist sie eine Gefühlsbethätigung, deren Gegenstand das Gesetz selbst ist oder aber die sinnliche Wahrnehmung, sei es einer Erscheinung, sei es eines Vorganges, die objektiv den Forderungen des Gesetzes entsprechen. Jm ersteren Falle müßte ihr Reflexion vorausgehen und sie wäre ein durch moralische Erkenntnis bedingtes Gefühl, im zweiten Falle aber wäre sie eine rein ästhetische Empfindung. Wenn Kant also von der Achtung (S. 206) sagt, „ sie sei nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie sei die Sittlichkeit selbst, “ so hat er im Grunde das selbst behauptet, was Schillers ästhetisch=moralische Philosophie ihm entgegenstellte. Ja, er spricht das sogar direkt aus, wenn er (S. 208) die „Gefühle“ der „ Achtung “ und „ Ehrfurcht “ vor der Pflicht fordert und (S. 211) weiter verlangt, daß wir die „ Liebe zum Gesetz zum beständigen, obgleich unerreichbaren Ziele unserer Bestrebungen machen. Denn an dem, was wir hochschätzen, aber doch scheuen, verwandelt sich, durch die mehrere Leichtigkeit, ihm Genüge zu thun, die ehrfurchtsvolle Scheu in Zuneigung und Achtung in Liebe, wenigstens würde es die Vollendung einer dem Gesetz gewidmeten Gesinnung sein, wenn es jemals einem Geschöpfe möglich wäre, sie zu erreichen.“ Damit ist von Kant die Perfektibilität der Gefühle zugestanden, die Möglichkeit, daß im einzelnen Falle das Gefühl an sich mit dem übereinstimme, was das a priori geltende Gesetz fordert, wenn auch es dem Menschen unmöglich ist, in sich eine Gefühlsweise herzustellen, von der solche Übereinstimmung in allen Fällen und mit Sicherheit zu erwarten wäre. Daraus ergibt sich aber, daß seine Sätze von der unbedingt „ pathologischen “ Natur der „Gefühle“ falsch sind und daß der Satz, welcher die Befreiung der Seele von den Gefühlen, die Apathie, daher für den wünschenswertesten Zustand erklärt, ebenso falsch ist. Das sind aber Jrrtümer Kants, die nur formalen Fehlern seines dialektischen Verfahrens entspringen; es zeigt sich, wie es bei diesem gewaltigen Denker nicht anders seine konnte, daß seine wahre Meinung vielmehr doch auf der Seite der aristotelischen Doktrin zu finden ist: daß der beste Zustand der Seele nicht der sei, in dem sie am wenigsten empfindet, sondern der, in welchem sie von den qualitativ mächtigsten, d. h. von den richtig bestimmten Gefühlen bewegt wird. Dies aber ist der Satz, der für die Kritik der „ ästhetischen Urteilskraft “ die Grundlage bilden muß. Durch die Anwendung dieses Satzes sind die Unklarheiten und Widersprüche in Kants System der Ästhetik mit einem Schlage zu beseitigen. Es wird hier nur erforderlich sein, die Hauptsätze in Kürze zusammenzustellen, deren näherer Ausführung das vorstehende Buch gewidmet ist. Das „ richtig bestimmte Gefühl “ ist von der richtigen, also berechtigten, Freude begleitet, die eben darum auch a priori als allgemein gültig, verbindlich für alle zu betrachten ist. Das mit der Bewegung des richtigen Gefühls verbundene Eintreten der rechten Freude, als der „Vollendung der ästhetischen Energie“ ( τελείωσις τῆς ἐνεργείας ), ist die Thatsache, deren Vorhandensein in dem ästhetischen Urteil ausgesprochen wird; welches subjektiv lautet: „ das dieses freudige Gefühl erregende Ding erscheint schön “, und objektiv: „ dieses Ding ist schön “. Die subjektive Gewähr der Richtigkeit des Urteils liegt lediglich in der Qualität der das Urteil veranlassenden Freude, die, ein qualitatives Maximum ( ἀκρότατον ), als solches sich durch ihr bloßes Erscheinen im Gemüt legitimiert. Kants Behauptung, das Schöne beruhe auf einem Vorgange im beurteilenden Subjekt, ist also insofern richtig, als das ästhetische Urteil, dieses Ding erscheint schön, allerdings nur die Konsta= tierung eines subjektiven Vorganges ist, eben der Erscheinung der das richtig bestimmte Gefühl begleitenden qualitativ höchsten Freude. Dieser rein subjektive Vorgang ist aber unauflöslich an die rein objektive Beschaffenheit der ihn hervorbringenden Erscheinung gebunden. Nach dem Sprachgebrauch kommt das Prädikat der Schönheit gerade der objektiven Beschaffenheit der Dinge oder Handlungen zu, welche vermögend sind, jenen subjektiven Vorgang hervorzubringen. Damit er zustande komme, ist erforderlich, daß die Ästhesis, die Auffassungskraft durch die Sinne (die Kant die Einbildungskraft nennt), die vorzüglichste sei und an dem am vorzüglichsten für die Erregung des richtig bestimmten Gefühls geeigneten Gegenstande ausgeübt werde. Zwischen beiden besteht aber ein Verhältnis der Wechselwirkung. Freilich werden die Empfindungsvorgänge zuerst durch das allein erregt, was die Ästhesis der Seele von den Erscheinungen und Vorgängen vermittelt. Nun aber existieren sie als selbständige Bewegungen und erhalten durch den Verkehr mit dem Logos und dem Nous, der unausgesetzt ihnen offen steht, eine ganz veränderte Natur, ohne daß sie doch ihre ursprüngliche und engste Verbindung mit der Ästhesis jemals aufzugeben imstande wären. Aber statt daß sie früher der Ästhesis unterthan waren und sich nicht zu bewegen vermochten, außer auf deren Veranlassung, nehmen sie umgekehrt diese jetzt in ihren Dienst und weisen sie an, setzen sie auch in den Stand dazu, dasjenige an den Dingen und Vorgängen aufzufinden und zusammenzufassen, was ihrem eigenen höheren Bedürfnis entspricht, ja sie vermögen zuletzt der die „Ästheseis“ (Wahrnehmungen) festhaltenden Einbildungskraft den Auftrag zu geben, Dinge und Vorgänge so hervorzubringen, wie dieselben von ihnen verlangt werden. Der in seinem Empfinden veredelte Mensch sieht die Dinge und Vorgänge anders, er weiß mehr darin zu entdecken, sie in anderer Weise zu verbinden, als er zuvor es vermochte; wir fassen die Ursache in die Bezeichnung der Wirkung zusammen und nennen ihn „ ästhetisch gebildet “. Der ästhetisch Höchstgebildete vermag aus der wirklichen Welt eine zweite zu schaffen, die seinem veredelten Empfinden entspricht: er ist der Künstler, der das Schöne bildet. Hier wäre also die, von Kant geforderte, aber nicht erwiesene, Zusammenstimmung der Einbildungskraft mit den a priori geltenden Prinzipien des Verstandes und der Vernunft, ohne daß Begriffe dabei ins Spiel kämen. Der Ausdruck derselben wäre das ästhetische Urteil, einfach gegeben in der vollendeten, d. h. denkbar richtigsten und höchsten Energie der Ästhesis gegenüber der am vorzüglichsten für sie geeigneten Erscheinung. Daher hat Kant unrecht, zu behaupten, daß eine objektive Bestimmung des Schönen unmöglich sei. Es gibt auch eine objektive Gewähr der Richtigkeit des ästhetischen Urteils, daß ein Ding schön sei, also allen so erscheinen müsse. Sie liegt in der Feststellung der Beschaffenheit, die ein Ding oder Vorgang haben muß, damit sie geeignet seien, der Ästhesis den vorzüglichsten Anlaß zur Entfaltung ihrer höchsten Energie zu gewähren. Diese Beschaffenheit läßt sich zu einem Teile mit vollster Bestimmtheit feststellen, zum andern freilich nur aus der Erfahrung bestimmen: die Grenze zwischen diesen beiden Teilen ist bei den verschiedenen Künsten, je nach den Mitteln und der Art und Weise ihrer Nachahmung eine verschiedene und nur aus der Untersuchung ihrer Technik kennen zu lernen. Da die Gegenstände der Nachahmung immer dieselben sind, Empfindungen, Gesinnungen, Handlungen, so wird nach dieser Richtung auch immer eine fest bestimmte objektive Kritik des Schönen durch die Vermögen des Verstandes und der Vernunft nach ihren a priori geltenden Gesetzen geübt werden können. Jn der Poesie, deren Nachahmungsmittel das Wort ist, wird die Grenze dieser Kritik daher am weitesten vorgerückt sein. Schwerer sind die Nachahmungsmittel der Töne in ihrer harmonischen und melodischen Anordnung, und der Rhythmen einer solchen Kritik zu unterwerfen; doch sind auch hier bestimmte Gesetze erkennbar, nach denen allgemeingültige Wirkungen dieser Art von Nachahmung sich bestimmen lassen. Die griechische Musik besaß hierfür ein System fest ausgebildeter Vorschriften. Dem Fortschreiten der ästhetischen Theorie der modernen Musik ist nach dieser Seite hin noch ein weites Feld offen. Noch weiter weicht die Grenze in dem Reiche der Formen zurück, weil Formen und Farben nicht Nachahmungen psychischer Bewegungen selbst, sondern im günstigsten Falle nur die Zeichen derselben sein können, in andern nur durch Analogie und Supposition als solche betrachtet werden. Es ist ein radikaler Fehler der Methode, die Kant in seiner Kritik der Urteilskraft anwendet, durch den sich viele Jrrtümer derselben er= klären, daß er gerade in diesem ungünstigsten Falle, wo nur durch Analogie und Supposition der unbelebten Form das Prädikat der Schönheit erteilt wird, das eigentliche Urphänomen des Schönen anzutreffen meint und die Beobachtungen, die er dort anstellt, nun auf das ganze Gebiet der eigentlichen Schönheit ausdehnen zu müssen glaubt, deren Nachahmungsmittel eine ganz andere Art der Untersuchung verstatten. Für den Zweck dieses Anhanges ist es nicht erforderlich, das hiermit Angedeutete weiter auszuführen, doch wird es genügen, um die Wahrheit des Goetheschen Wortes zu erweisen: S. Sprüche in Prosa: Kunst VI, Nr. 760. „Kant hat uns aufmerksam gemacht, daß es eine Kritik der Vernunft gebe, daß dieses höchste Vermögen, was der Mensch besitzt, Ursache habe, ‚über sich selbst zu wachen‘. Wie großen Vorteil uns diese Stimme gebracht, möge jeder an sich selbst geprüft haben. Jch aber möchte in eben diesem Sinne die Aufgabe stellen, daß eine Kritik der Sinne nötig sei, wenn die Kunst überhaupt, besonders die deutsche, irgend wieder sich erholen und in einem erfreulichen Lebensschritt vorwärts gehen solle.“ Register . ────── A. Agricola, Johann, von Eisleben 323. Alberus, Erasmus 171. 321. Alkman, Fragm. 60. S. 24 f. Allegorie: Berechtigung, Gesetze 91 ff. 188 ff.; Definition 95; Goethe über die A. 192 ff.; Lessings Definition 91. 187. 188; Quintilians Definition 91. 187 f.; A. im Epigramm 129 ff.; in Goethes reflektierenden Gedichten 91. 95 ff. 190; in der humoristisch=satirischen Poesie 113; in Lessings Fabeln 174 ff.; Verhältnis zur Fabel 176, zur Parabel 190 ff., zur poetischen Symbolik 193 f 197. Anagnorisis (Erkennung ) 277. 364 f. 395. 465 f. 508 f. Anakreontik 198. Anaximander 564 Anm. Anekdote 233. Anthologie, palatinische, Epigramme aus derselben 122 ff. 127. 133 f. 134 ff. Architektur 60 ff. Ariost 311. Aristophanes, Komödien 420 f. 679. 689. 690 ff.; die Vögel 198; die Wolken 198; die Wespen 198. Aristoteles: Anagnorisis und Peripetie 277; Anfänge des Kunsttriebes 32; Dianoia 278; δυνάμεις τῶν παθῶν 42. ἔκστασις 533 ff.; Emphasis 684 f.; Energieenlehre 79. 149 f. Anm. 332 f. Anm.; Enthusiasmus, kathartische Heilung desselben 42 Anm. 433. 440 f. 523 ff.; epische Handlung: Einheit, Ganzheit, Vollständigkeit derselben 212 f. 278 f.; Ethos in derselben 277 f.; ernstes und komisches Epos 222. 227 f.; Ethos 57 ff.; Furcht 457; Furcht und Mitleid 274 f. 453 ff.; Harmonie 668; Hedone 7 f. 79. 149 f. Anm. 243. 332 f. Anm. 444. 468 ff. 516. 517. 554 f. 664. 670 ff. 720 f.; Jlias und Odyssee 260. 275 Anm. 277; κατὰ πάθος ζῆν 144. 217; Katharsis 274 f. 432 ff. 523 ff. 661 ff.; komische Poesie 222. 227 f.; Komödie 556; Kunst 57. 332 f. Anm. 470 ff. 539 ff.; Kunstbetrachtung des Aristoteles 23 ff. 545; Lachen, Lächerliches 672 ff. 686; λύπη καὶ ταραχή 468; Melos 668; μιαρόν 467; Mimesis 6 ff. 39 f. 57. 661. 681 f.; Mitleid 457; Mitleid und Furcht 274 f. 453 ff.; ὄψις 691 Anm.; Pathos 144 ff. 710 f. 715 ff.; Pathos und Pathema 276. 444 ff. 670; Philanthropia 456; Phronesis 359 f.; Phthartikon 220; Poesie und Geschichte 205; ποιεῖν 689; πρᾶξις 144 ff.; μέγεθος τῆς πράξεως 269. 315. 459. 478 f. 493 ff. 667 f.; Schönes 240 332 f. Anm. 543 f. 720 f.; συμβεβηκὸς καθ' αὑτό 181; Tragödie: Definition 423 ff. 662 ff.; Handlung der Tragödie 278; Personen der Tragödie 342; vollkommenste Tra= gödie 357 f. 582 Anm. 599. ─ Aristotelische Fragmente von der Komödie 660 ff. Äschylus 210. 493; Agamemnon 612; die Choephoren 479. 609. 610. 611. 612 ff. 623 f. 643. 645; die Eumeniden 366. 565. 609. 610. 611. 621 ff.; die Schutzflehenden 578; die Sieben vor Theben 596 Anm.; Prometheus 558 ff. Äsop, Fabeln, 171; Auffassung im achtzehnten Jahrhundert 225 f.; Grimm über dieselben 172; Herder über dieselben 161; Lessings Erneuerung derselben 172. 223; von Lessing citierte 162 ff. 167. Aisthesis 21. 78. 149 ff. 218. 258. 715. 721. Ästhetisches Urteil 151 f. 182. 200. 218. 226. 231. 238 ff. 674. 701 ff. Ästhetisches Vergnügen s. Hedone. B. Ballade 49 ff.; Definition 64; episches und lyrisch=ethisches Element 49 ff. 63 ff. Verhältnis zur Romanze 71 ff.; Balladen Bürgers 52 ff., Goethes 50 f. 64 Anm. 66 f. 68, Schillers 51. 64 Anm. 66. 68 ff., Volksballaden 51 ff. 63 f. Batteux, Definition des Epigramms 117 f., der Handlung 162. Baumbach 315. Baumgart „Aristoteles, Lessing und Goethe“ 149 f. Anm. 333 Anm. 433 f. Anm. 453 Anm. 525 Anm. 526 Anm.; „Der Begriff der tragischen Katharsis“ 433 f. Anm. 440 Anm. 506 Anm. 537 Anm.; „Die Hamlettragödie und ihre Kritik“ 654 Anm.; „Goethes Märchen“ 95 Anm. 197 Anm.; .„Pathos und Pathema im aristotelischen Sprachgebrauch“ 276 Anm. 445 ff. Anm; „Über Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ 470 Anm. 701 ff. Baumgarten Ästhetika 2. 218. 516. Begriff ─ Jdee 194 ff. Bergk, Fragmente über die Komödie (Prolegg. zu Aristophanes) 684 Anm. 695. Bernays, Jakob, über die aristotelischen Fragmente von der Komödie 660 ff.; über die aristotelische Theorie der Tragödie und Lessings Erklärung derselben („Ergänzung zu Aristoteles' Poetik,“ „Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über die Wirkung der Tragödie“) 424. 433 ff. 452. 468. 505 f. 513. 514 ff. 661 ff. Blümner, Kommentar zu Lessings Laokoon 3. 6 f. 12. 15. 16. 17. Boccaccio, Dekameron 324; Erzählung von Melchisedek und Saladin 184 f. 404. Boileau, Allegorieen desselben 95 Anm.; Lutrin 328. Boner 171. Bonitz, Jndex zu Aristoteles 671; „Pathos und Pathema im aristotelischen Sprachgebrauch“ 445 Anm. Born, Bertran de, 72. Börne 235. Brinkmeier, „Die proven ç alischen Troubadours“ 72 Anm. Brockes 26. 85. Bürger, Balladen 52 ff.: Das Lied von der Treue 53; Der wilde Jäger 52 f.; Des Pfarrers Tochter zu Taubenhain 53; Entführung 53; Graf Walter 52; Lenore 53 ff. ─ poetische Erzählungen 227: Das Lied vom braven Mann 266; komisch=poetische Erzählungen 102. 319: Der Kaiser und der Abt 319; Vogel Urselbst 102. Buttler, Hudibras 328. Byron 102; Harold 44 f. C. Cervantes 310. Chamisso, Kreuzschau 183. 191. Chaucer, Canterbury-Tales 82. 324 ff. Chor 65 Anm. 459. 498. 542. 658; Schiller, über den Gebrauch des Chors in der Tragödie 593 ff. Cid 75; s. Herder. Corneille 425. Cramer, Fragmente von der Komödie 660 ff. D. Dante 198. Denkthätigkeit s. Dianoia. Dianoia 77 ff. 200 ff. 216. 278. 395 f. Didaktische Poesie 77. Diderot, Dramatisches System ( discours de la poésie dramatique ) 407. 413 ff.; Fils naturel 413. 418; Père de famille 413. 418. Dietz, „Leben und Werke der Troubadours“ 72 Anm. Dilthey „Über Gotth. Ephr. Lessing“ 4 f. Döring, Kunstlehre des Aristoteles 460. 515 Anm. Drama ahmt Handlung nach 63. 203 ff. 330; Einheit und Vollständigkeit der dramatischen Handlung 203 ff. 331 ff.; gute Handlungen mit glücklichem Ausgang in demselben 337 ff. 346 ff.; schlechte mit glücklichem Ausgang ausgeschlossen 334 ff.; „historische“ Dramen 400 ff. 422; „Jdee“ im Drama 366 ff; D. verglichen mit dem Epos 329 ff. 341 ff. Dramatisches Gedicht 347. Dubos, Réflexions critiques sur la Poésie et la Peinture 515 ff. 552 f. E. Ekstasis, aristotelischer Begriff 533 ff. Elegie, griechische, 80. Empfindung s. Pathos. Emphasis 679 ff. 690. Energieen, aristotelische Lehre 79. 149 f. Anm 332 f. Anm. 469. Enthusiasmus, kathartische Heilung 42 Anm. 433. 440 f. 523 ff. Epigramm 115 ff.: Aufgabe 118 ff.; Batteuxsche Definition 117 f.; Gattungen 127; Herders Theorie 121 ff. 141. 143; hyperbolisches E. 132 ff.; Lessings Theorie 115 ff. 132 ff. 141 ff.; Pseudo=E. 139 ff.; technisches Verfahren: abstrakte, konkrete Darstellung 127 ff.; allegorische 129 ff.; Verhältnis zur Fabel 141 ff.; Epigramme aus der griechischen Anthologie 122 ff. 133 ff., Goethes 128 f. 130. 131, Herders 119 ff. 131 f., Logaus 136. 138 f., Martials 132 f. 136 f., Schillers 128. 129. 130. 131. Epos: ahmt Handlung nach 152. 161. 203 ff. 257 f.; aristotelisches Kompositionsgesetz 212 f.; Arten, Beschaffenheit der darzustellenden Handlung 75. 258 ff. 266 ff.; Einheit derselben 205. 211 ff.; ausgeschlossen Verstandesreflexion, moralische Erwägung 261 ff.; Epos verglichen mit dem Drama 329 ff. 341 ff., mit der Ballade und Romanze 74 ff., der Parabel 181 f.; Wesen des E. 205 ff.; Wunder im E. 213 ff. ─ Heroischtragisches 270 ff.: Gegenstand der Nachahmung 270 ff.; Einheit, Ganzheit, Vollständigkeit der Darstellung 212. 277 ff.; Äneis 280 f.; Nibelungenlied 292 ff.; romantisches Epos 281 ff. ─ Komisches 221 ff. 310 ff. 328 f.; Aristoteles über dasselbe 222. 227 f.; Definition 314 f. 659. ─ Tierepos (Reineke Fuchs) 171. 313 f. 315. 336. 421. ─ Volksepos 205 ff 212. Erkennung s. Anagnorisis. Ethos 21 ff. 57 ff. 146 ff.; in der Ballade 63 ff. 71; im Drama 341; im Epigramm 115. 118 ff. 137 ff; im Epos 200. 203 f. 257 ff. 266 ff. 277 f.; im Schauspiel 395 f.; in der komischen Poesie 228 f.; in der Lyrik 23 ff.; in der satirisch=humoristischen Poesie 103 ff.; in der Tierfabel 203. 216 ff.; Reflexionsethos 79 ff.; allegorische Darstellung desselben 93 ff.; romantisches E. 71 ff. 281; „ethische“ Handlungen 259 ff. 276 f. Eulenspiegel 221. Euripides 478; Alcestis 268; Chrysippus 596 Anm.; Elektra 609. 610. 611. 643 ff.; Phönissen 596 Anm. F. Fabel: Anwendung der Tiere in derselben 170. 216 f.; äsopische 161. 167. 171. 172. 223. 225 f.; Entwickelung der F. 170 ff. 215 f.; epischer Natur 156 ff.; Gellerts F. 223; Grimm über die F. 156 ff. 172. 179 f. 216; Handlung der F. 204. 205. 217 ff.; Herder über die F. 141. 143. 156. 161 f.; Lafontaines F. 172; Lehrhaftigkeit der F. 160. 163. 166; Lächerliches und Wohlgefälliges in der F. 217 ff. 225 ff.; Lessings F. 167 f. 172 ff. 223; Lessings Theorie der F. 101. 141 ff. 154 f. 162 ff. 172 f. 180. 218. 225; Phädrus' F. 164 f. 172; F. verglichen mit der Allegorie 176, mit dem Epigramm 141 ff., mit der Parabel 179 ff. Fabliaux 323 ff. Finkenritter 221. Fischart 320 f. Fischer, Kuno, über Lessings Emilia Galotti (Lessing als Reformator der deutschen Litteratur) 486. 492. Frank, Sebastian, 323. Freidank, Bescheidenheit 139. Freude s. Hedone. Furcht: aristotelische Definition 454; tragische F. (und Mitleid) 274 f. 453 ff. 497 ff. 536 ff. 662 ff.; verglichen mit dem Lächerlichen und Wohlgefälligen 108. 220 f. 243 ff. 659 f. G. Gellert, Lustspiele 248 f. 409; Parabeln: Die beiden Wächter 183, Die Reise 183; poetische Erzählungen 223. 227 (ernste): 224 f. 257 (Amynth 257, Calliste 224, Das neue Ehepaar 225, Der arme Greis 257, Der Jnformator 224, Herodes und Herodias 225, Monime 225); (komische): 252 f. 256 f. (Der Bauer und sein Sohn 253. 256, Der glückliche Dichter 257, Der Greis 257, Der gute Rat 257, Der Jüngling und der Greis 257, Der Maler 257, Der Selbstmord 257, Der zärtliche Mann 257, Die Bauern und der Amtmann 257, Die kranke Frau 257, Die Mißgeburt 257, Die Widersprecherin 257, Lisette 257.) Genre sérieux s. Komödie. Gervinus über Shakespeares „Jessica“ 369 Anm.; über Shakespeares „Richard III.“ 399 Anm. Geßner, Jdyllen 350. Gleichnis 181. Gleim 224. 227. Gnomische Poesie s. Reflexionsdichtung. Goethe, Balladen 50 f. 64 Anm. 66 ff.: Ballade vom vertriebenen und zurückgekehrten Grafen 66 ff.; Der Fischer 50; Der untreue Knabe 68; Der Zauberlehrling 51; Die Braut von Korinth 66; Die wandelnde Glocke 51; Erlkönig 50 f. Hochzeitslied des Grafen 51. ─ Dramen: Clavigo 496; Die Geschwister 350 Anm. 351 Anm.; Egmont 199; Faust 36. 37. 120. 198 f. 202. 265. 472. 496.; Götz von Berlichingen 352 f.; Jphigenie 276. 347. 358. 461. 507. 509. 510. 582 Anm. 583. 653; Stella 353 ff.; Tasso 310 f. 352. 353. ─ Episteln 102. 111 f. 687. ─ Epigramme 128 ff.: Schadet ein Jrrtum wohl 129; Vier Jahreszeiten 130; Wie verfährt die Natur 128. Xenien, Goethe-Schillersche 131. 140. Hermann und Dorothea 268. 315. 338. 349 Anm. ─ Legende vom Hufeisen 319. 320; Der Gott und die Bajadere 265; Paria=Legende 265. ─ Lyrische Gedichte 23 ff. 36 f. 153 f.: Amor als Landschaftsmaler 30; An den Mond 257; Auf dem See 27 f.; Chinesisch=deutsche Jahreszeiten (8. Lied) 31; Die schöne Nacht 29; Frühzeitiger Frühling 26; Gefunden 152 f. 154 Anm.; Heidenröslein 153 f.; Herbstgefühl 26; Kennst du das Land 26 f.; Meeresstille 26; Wanderers Nachtlied 23 f.; Willkommen und Abschied 29. ─ Märchen von der schönen Lilie (Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter) 197 Anm. Parabolisches 102. 114. 183. 320: Der Meister einer ländlichen Schule 320; Der Recensent 183; Die Freude 183; Dilettant und Kritiker 183. 320; Kenner und Enthusiast 320; Pfaffenspiel 183. ─ Poetische Erzählungen: Hans Sachsens poetische Sendung 316 ff.; Johanna Sebus 266. Reflexionsdichtungen 83 ff. 87 ff. 95 ff.: Adler und Taube 91. 100 f.; An Schwager Kronos 36. 91. 197; Das Göttliche 87 ff.; Der Wanderer 62; Deutscher Parnaß 87. 190. 191; Die Nektartropfen 197; Ganymed 36. 197; Geheimnisse 87; Gesang der Geister über den Wassern 36. 91. 197; Gott und Natur 84; Grenzen der Menschheit 88 ff.; Harzreise im Winter 91 ff.; Jlmenau 100; Künstlerlied 84; Lilis Park 190; Magisches Netz 190; Mahomets Gesang 91. 96 ff. 190. 191. 192; Meine Göttin 36. 91; Metamorphose der Pflanzen 84 f.; Metamorphose der Tiere 84. 85; Prometheus 90 f.; Seefahrt 99 f. 91. 190. 191. 192 f.; Wanderers Sturmlied 87. 91; Zueignung 87. Goethe über Allegorie (Sprüche) 95. 193; Allegorie und Symbolik (dgl.) 193; Allgemeines und Besonderes (dgl.) 316; über Begriff und Jdee (Sprüche) 294 f.; über den Chor und die Epochen der Tragödie (Brief an Zelter) 610 f.; über den Dichter (Noten zum west=östlichen Divan) 699 f.; über die aristotelische Definition der Tragödie (Briefe an Zelter) 428 f. 433. 434; (Nachlese zu Aristoteles Poetik) 429 f. 514; über Drama und Epos (Briefe an Schiller) 588. 589; Kants Kritik der Vernunft (Sprüche) 723; Kathartische Wirkung der Kunst (Wanderjahre) 451 f.; Klassisches und Romantisches 311; Lachen und Lächerliches 231. 232. 237. 238; Lessings Emilia Galotti (Brief an Zelter) 486; „Schuld“ 583; Wort und Gegensinn 311. ─ Werthers Leiden 43 f. 522. Gottfried von Straßburg, Tristan und Jsolde 282 ff. 310. 345. Gottsched 248; (kritische Dichtkunst): über die Epik 223. 226; über die Komödie 408 ff. Götz 225. Grimm, Jakob, Nibelungen-Theorie 292. 294; „Über das Wesen der Tierfabel“ 34 Anm. 156 ff. 172 f. 179 f. 216. Grimm, Wilhelm, Nibelungen-Theorie 292. 294; „Über das Wesen der Mär= chen“ 206 f.; über die älteste deutsche Dichtung („Entstehung der althochdeutschen Poesie“, v. d. Hagens „Nibelungen“) 210 f.; „Über Geschichte und Poesie“ 205 f. Gudrun-Lied 275. 292. Guiraut Riquier 72 Anm. H. Hagedorn 168. Haller 26. Hamann, Polemik gegen Lessing ( Aesthetica in nuce ) 155. Handlung ( πρᾶξις ), aristotelischer Begriff 144 ff.; Batteuxsche Definition 162; Herdersche Theorie 12 ff.; Lessings Theorie 10 ff. 162 ─ Äußere H. 16 ff.; poetische Nachahmung derselben als Mittel der Darstellung 18 ff.; im Epos 143. 150 ff. 161. 200 ff. 257 f.; in der Ballade 49 ff. 63 ff.; in der gnomischen Poesie 77. 82. 86; in der Lyrik 23 ff. 49. 143. 152 ff.; in der Satire 105. ─ Jnnere H. 16 ff. 144 ff.; poetische Nachahmung derselben als Gegenstand der Darstellung 18 ff. 40: in Drama und Epos 143. 150 ff. 200 ff.; im Drama 330 ff.; im Epos 257 ff.; im heroisch=tragischen Epos 270 ff.; im Jdyll 268 ff. 348 ff.; im komischen Epos 221 ff. 227 ff. 241 ff. 310 ff. ─ „ Größe der Handlung “ 242. 269 ff. 459. 478 f. 493 ff. 667 f. Hartmann von Aue, Erec 282; Jwein 282. Hecker, „Die Physiologie und Psychologie des Lachens und des Komischen“ 675 Anm. Hedone (ästhetisches Vergnügen) 34. 79. 149 ff. 218. 226. 258. 332 f. Anm. 516. 517. 554 f. 670 ff; aristotelische Definitionen 149 Anm. 332 f. Anm. 444. 554 f. 664. 671. 672. 674; hedonische Wirkung der Tragödie 468 ff. 664. Heine 102. 238. Heinze, Recension von Baumgart „Pathos und Pathema“ 445 ff. Anm. 450 Anm. Helmholtz 5. Heraklit 564 Anm. Herder 101. ─ „ Briefe zur Förderung der Humanität “ 339. ─ Der Cid 46 ff. 74. ─ Epigramme 119 ff.: An das Kruzifix im Konsistorium 131 f.; Der Abglanz 120; Die Trichternasen 131; Licht und Liebe 191; Reformation 120 f.; Wie der köstliche Wein 119 f. ─ Legenden 262 ff.: Bild der Andacht 263 f.; Der gerettete Jüngling 264; Die wiedergefundenen Söhne 264. ─ Lieder aus „ Stimmen der Völker “ 52 53 ff. 63 f. ─ Polemik gegen Lessings Theorie der Handlung (erstes kritisches Wäldchen) 3. 12 ff. ─ H. über das Epigramm („Anmerkungen zur Anthologie der Griechen“) 121 ff.; über die Fabel („Adrastea, Über die Fabel“) 141. 156. 161 f. Herodot 210. Hertzberg, W., über Chaucer (Einleitung zu Chaucers Canterbury-Geschichten) 325 ff. Hirtengedicht 347. Holberg, Fabel von den Ziegen 166. Hoffmannswaldau 26. Homerische Epen 64. 210. 212. 227. 280. 681; Jlias 345; pathetischen Charakters 260; Odyssee 345. 346; ethischen Charakters 260. 277; Pseudo-Homerischer Margites 221. 313. Horaz, Episteln 111; „ nec deus intersit“ 511; „neu quid medios intercinat actus “ 645; Satiren 102. 109 ff. ( I 4 Eupolis atque Cratinus Aristophanesque poetae 111); Schilderung des Achill 260. Humor 107 f. 114. 236. 693. Humoristisch=satirische Poesie s. Satire. Hygin, Tiresias 177 f. Hyperbel, phantastische 236. J. Jahn, Otto, über die Elektra des Sophokles 634 ff. Jamblichus, gegen die aristotelische Katharsis-Theorie 442 f. 527 f. 532 f. Jdeale Darstellung 148 f. Jdee ─ Begriff 194 ff.; J. im Drama 366 ff. 396. 403. Jdyll 65. 268 ff. 338. 348 ff. 547. Jean Paul, Definition des Komischen 235. Jffland, Lustspiele 251. 416; Der Verbrecher aus Ehrsucht 494. Jndignation s. Nemesis. Jronie, Jroniker, aristotelischer Begriff 693. 694 f. K. Kant, 129. 130; K. und Schiller 530. 585 f.; „ästhetisches Urteil“ (Kritik der Urteilskraft) 238 f.; 425 f.; 701 ff.; über Begriff und Jdee (Kritik der reinen Vernunft) 195 Anm.; über das Lächerliche (Kritik der Urteilskraft) 332; „moralische Gefühle“ 469 f. 540 f. 548. Rührendes und Erhabenes 549 f. Katharsis, komische (des Lächerlichen und Wohlgefälligen) 105 ff. 220 f. 243 ff. 673. 685 ff., verglichen mit der tragischen 220 f. 243 ff. 659 f.; ─ tragische (von Furcht und Mitleid) 274 f. 432 ff. 523 ff. 661 ff. Kleist, Ewald von, Epik dess. 227; Cissides und Paches 227; Emire und Agathokles 227; Freundschaft 227. Klopstock, Jugendoden 42. Koexistentes und Successives in bildender Kunst und Poesie 9 ff. 23 ff. 40 f. 45 ff. 432. Komisches, komische Poesie 221 f. 227 ff.: Aristoteles über dies. 221 f. 227 f. 229; komische Charaktere (aristotelische Fragmente von der Komödie) 693 ff.; komische Handlung und Rede (ebendas.) 696 ff. ─ Lächerliches 229 ff. und Wohlgefälliges in ders. 243 ff. 659 ff. Komisches Epos s. Epos. Komische ─ poetische Erzählung s. poetische Erzählung. Komödie 222. 229. 422. 659 ff.: aristotelische Fragmente von der K. 660 ff.: Definition 666: ἄμοιρος μεγέθους 667 f.; δεῖται τῆς ἐμφάσεως 679 ff. 690; ἡδονή und γέλως 669 ff. 685 ff.; K. des Aristophanes 420 f. 679. 689. 690 ff.; Entwickelung der K. 246 ff. 692 f.; Lessing über die K. 249 ff.; Shakespeares K. 246. 247. 364. 410. 556. 688 f. 692; Theorieen der K.: Diderots 407. 413 ff., Gottscheds 408 ff., Voltaires 411 ff.; K. verglichen mit dem Schauspiel 393 ff., mit der Tragödie 555 f. 587; comoedia commovens ( comédie larmoyante, genre sérieux ) 242. 247 f. 347. 409. 410 ff. 693. Körner, über die Goethe-Schillerschen Xenien (Briefe an Schiller) 140. Körperwelt, ruhende, Anwendung in der Poesie 41 ff. Kortüm, Jobsiade 328. Kotzebue 251. Kreyssig, über die Fabliaux (Geschichte der französischen Nationallitteratur) 323 ff. Krüger 248. Kunst, Allegorie in ders. 188 ff.; Gegenstand, Mittel, Ziel der K. 9 ff. 29. 32 ff. 49 f. 332 f. Anm. 469 ff. 517. 539 ff. 553 ff.; Schönes der K. 148 f. Kunstbetrachtung, Aristoteles-Lessingsche 6 ff. L. Lachen 184. 230. 237 f. 243. 407 ff. 672 ff. 686. Lächerliches 183 f. 220. 229 ff.; Aristoteles über das L. 230. 672 ff. 696 ff.; Goethes Definition 231. 232. 237, Kants 232, Lessings 232; ästhetisch=L. 238 ff.; das auf Verstandesurteil beruhende L. 231 ff.; moralisch L. 231; verglichen mit der Nemesis-Empfindung 407; ─ L. und Wohlgefälliges in der komischen Poesie 219 ff. 243 ff.; in der humoristischsatirischen Poesie 107 ff.; in der Komödie 659 f. 669 ff. 685 ff.; in der Parabel 182 ff.; in der Tierfabel 219 ff. 225 f.: verglichen mit Furcht und Mitleid 220 f. 243 ff. 659 f. Lachmann, Nibelungen-Theorie 292. 294 ff. Lafontaine, Fabeln 172. Lalenbuch 221. Landschaftspoesie 377 f. Legende 262 ff. 319; christliche 265 f.; Fischarts 320, Hans Sachsens 319, Herders 262 ff., Goethes 265. Lehrs, Populäre Aufsätze aus dem Altertum 36 Anm. 38 Anm. 206 Anm. 2. 208 ff. 583 f. Lessing, Definition der Allegorie 91. 187. 188, der Parabel 180 f., des Lächerlichen 232. ─ Dramen: Emilia Galotti 459. 478. 484 ff.; Minna von Barnhelm 242. 364. 369 f. 398. 667. 689; Miß Sara Sampson 494. 496; Nathan der Weise 80. 184 ff. 364. 379. 398. 402 ff. ─ Epigramm: auf eine lange Nase 135. ─ Fabeln 167 f. 171 ff. 223: Der Adler 173; Der Adler und der Fuchs 173; Der Dornstrauch 173. 176; Der Falke 167 f.; Der Fuchs und der Rabe 173. 174; Der Fuchs und die Larve 173. 174; Der junge und der alte Hirsch 173; Der Schäfer und die Nachtigall 173; Der Strauß 173. 175. 176 f.; Der wilde Apfelbaum 173; Die Eiche 173. 174; Die Eule und der Schatzgräber 173; Die Maus 173; Die Nachtigall und die Lerche 173; Die Sperlinge 173. 175 f.; Die Wespen 173. 175; Die Wohlthaten 173; Merops 173. 175; Tiresias 177 ff. ─ L.s Gesetz über die Nachahmungsgegenstände der Poesie und der bildenden Kunst 9 ff. 23. 29. 30 f. 45 f.; 76. 77. 86. 152. 162. ─ L.s Kunstbetrachtung 2. 3 ff. ─ L.s Parabeln 191: vom Palast im Feuer (Anti= Goeze) 183. 186 f. 191; von den 3 Ringen (Nathan) 180. 184 ff. ─ L.s Theorie der Fabel 101. 141 ff. 154 f. 162 ff. 180. 218. 225. ─ Theorie der Handlung 10 ff. 162. ─ Theorie des Epigramms 115 ff. 132 ff. 141 ff. ─ Theorie des Komischen 249 ff. ─ Theorie des Tragischen (über die aristotelische Definition der Tragödie) 246 f. 423 ff. 433. 434. 443. 452 ff. 468. 497 ff. 511 ff. 514 ff. 538. 539. 553. 556 f. 587. 661. ─ L. über des Aristoteles Poetik 423; über die griechische Komödie 679 f.; Jllusion (Brief an Mendelssohn) 515. 519 ff.; Kunstanfänge 32; künstlerische Abstraktion 202 f. Anm.; richtiges Lachen 243. 676; Romeo und Julie 495; schöne Gestalt 546. ─ L. und Dubos (Briefe an Nicolai) 515. 520. Logau 136. 138 f. Lohenstein, Daniel Kaspar von, Venus 48 f. Lucian Γλαύκῳ καὶ Νηρῆι 122. 124. Lyrik 23 ff. 36 ff. 49 f. 143. 152 ff.; die L. Goethes 23 ff. 36 f. 152 ff. M. Mantik 42 Anm. Märchen 33. 204. 205. 206 ff. 215. 216. 233. Margites, Pseudo-Homerischer 221. 313. Martial, Epigramme 132. 133. 136 f. Meier (Schüler Baumgartens) 2. Menander 679. Mendelssohn, Felix, Sommernachtstraum 692. Mendelssohn, Moses, 10. 248; über Jllusion 515. 520; Mitleid 499 f. Metapher 181. 681. Milton 198. Mimesis s. Nachahmung. Minnegesang, deutscher 73. Mitleid, aristotelische Definition 457; tragisches M. (und Furcht) 274 f. 453 ff. 497 ff. 536 ff. 662 ff.; verglichen mit dem Lächerlichen und Wohlgefälligen 108. 220 f. 243 ff. 659 f. Moli è re, Komödien 247. 410 f. 692; l'Avare 247; le Malade imaginaire 698; le Misanthrope 247; Tartuffe 242. 337. Mucius Scävola 16 ff. Müllenhof, Nibelungentheorie 292. Müller, Eduard, Theorie der Kunst bei den Alten 514. Musik 59 ff. Mylius 248. Mythologie, griechische 35 f. 206 Anm. 2. N. Nachahmung, künstlerische, aristotelische Theorie 6 ff. 39 f. 661. 681 f.; Gegenstand, Mittel derselben 9 ff. 38 ff. 57. 150 ff. Nemesis-Empfindung 365. 407 f. Nibelungenlied 212. 260. 274. 346. 480. 653; Einheit desselben 287. 292 ff.; W. Grimm über das N. 210 f. Nicolai ─ Dubos (Briefe an Lessing) 515 f. Noesis 78. Novelle, des deutschen Mittelalters 321 ff.; italienische 324. ─ Prosa-Novelle 329. O. Opitz (Definition der Dichtungsarten) 270 Anm.; (über Komödie und Tragödie) 408. P. Parabel 179 ff.: Beispiele 183. 184 ff.; Definition 182; Lessings Definition 180 f.; verglichen mit der Allegorie 190 ff.; mit der Fabel 179 ff. Parny, guerre des dieux antiques et modernes 329. Pathema und Pathos, aristotelicher Begriff 276. 444 ff. 670. Pathos 15. 21 f. 33 ff. 41 ff. 57 ff. 144 ff. 200. 203. 257 f. 259. 266 f. 533 ff.; δυνάμεις τῶν παθῶν 41 ff. 58. 60 f. Anm. Pathos und Pathema, aristotelische Scheidung 276. 444 ff. 670; „pathetische“ Handlungen 259 ff. 276 f. Peripetie 277. 363 ff. 395. 465 f. 508 f. Pfaffe Amis 221. Pfeffel, Fabeln: Ochs und Esel 173; Stufenleiter 168; poetische Erzählungen 225. Phädrus, Fabeln 164 f. 172. Phantasie 380 f. 542 Anm. 689. Phantastisches in der Komödie 689 ff. Phidias, olympischer Zeus desselben 18. Phronesis 341. 359 ff., Darstellung derselben im Drama 360 ff. Pindar, Oden 65 f. Anm. 210. 573. 578 f. Platen 691. Plato, Begriff der Freude 516; Jdeenlehre 83. 586; schließt die Dichter aus seiner Republik aus 518; über die Olymposlieder 523. Plautus 692; Captivi 667. Plutarch 9. 551. Poesie, Gegenstand, Mittel der Nachahmung 9 ff. 23 ff. 38 ff. 59. 62 f. 82. 86. 152. Poetische Erzählung 76. 223 ff. 261 f.: Gellerts 224 f.; komisch=poetische E. ( Schwank ) 224. 227 ff. 251 ff. 316 ff.; Bürgers 227. 319 f., Chaucers 324 ff., Gellerts 252 ff., Hans Sachsens 252 ff. 316. 319. 320 f.; Goethe, Hans Sachsens poetische Sendung 316 ff. ─ Fabliaux s. diese; Novellen s. diese. Poetische Malerei 23 ff. Pope 95 Anm.; der Lockenraub 328. Prohairesis 145. 216. 258. Proklos über die Tragödie 440. 528 ff. Proven ç alen, Sirventes 72. 80. Pythagoräische Zahlentheorie 5. 564 Anm. Q. Quintilian, Definition der Allegorie 91. 187 f. Ouistorp 248. R. Rätselfrage 236. Reineke Fuchs 171. 313 f. 315. 336. Reinkens, Aristoteles über die Kunst 460; Recension von Baumgart „Pathos und Pathema“ 447 ff. Anm. Reflexionsdichtung (gnomische Poesie) 77 ff.; Goethes 83 ff.; Schillers 77. 80 ff. Rochelle, de la, 412. Rollenhagen 171. 321. Roman (Prosa=R.) 315 f. Romans, französische 282. Romantik 43. Romantisches Epos 281 ff. Romantisches Ethos 71 ff. 281. Romanze 71 ff.: Definition 73; moderne R. 76; proven ç alische und spanische R. und moderne Umdichtung derselben 74; R.=Cyklen 74 ff.; R. verglichen mit der Ballade 71 ff. Rückert, Der Mann im Syrerland 183. 191. S. Sachs, Hans, Legenden 319. 320: Die ungleichen Kinder Evä 319; St. Peter mit der Geiß 319; Schwänke 252 ff. 316. 319. 320 f.: Der verlogen Knecht mit dem großen Fuchs 253 ff. Sage (Mythus) 93. 204. 205. 208; heroisch=tragische 271 ff. Satire, satirisch humoristische Poesie 102 ff. 149. 229. 320; Allegorie in derselben 113 f.; Beispiele 102. 109 ff.; Definition 108 f.; Gegenstand, Mittel, Verfahren der Darstellung 102 ff.; kathartische Wirkung 106 ff.; Schiller über die S. 103 ff.; S. verglichen mit der Reflexionsdichtung 102 f. Scaliger, Julius Cäsar, über die Arten der Poesie ( Poetices libri septem ) 270 Anm. 408. Schäferspiel 338. 347. Schauspiel 352 ff. 440 Anm.; an das Lustspiel grenzendes (Phronesis= Drama) 358 ff. 421 f. 547; Beispiele 389 ff. 398 ff.; Erkennung und Peripetie im S. 363 ff.; „Jdee“ im S. 365 ff. 396; stellt Phronesis dar 358 ff.; symbolische Darstellung seines Wesens in Shakespeares „Sturm“ 370 ff.; technische Gesetze 393 ff. ─ An die ethische Tragödie grenzendes 352 ff. Scheffel, Victor von, 315. Scherer, Wilhelm, über die Novelle (deutsche Litteraturgeschichte) 321 ff.; über die Tierdichtung (Über J. Grimm) 158 f. Anm. Schicksal, Gegenstand der Darstellung im Drama 331 f. 418 ff (in der Tragödie) 461 ff.; in der heroischen Sage 272 ff. Schiller, Balladen 51. 64 Anm. 66: Der Graf von Habsburg 70; Der Handschuh 70. 74; Der Kampf mit dem Drachen (51) 74; Der Ring des Polykrates 66. 68 f.; Der Taucher 69 f.; Die Bürgschaft 66. 68 f. 259. 276. 340; Die Kraniche des Ibykus 66. ─ Dramen: Die Braut von Messina 587. 589. 596 ff. 620; Don Carlos 480; Kabale und Liebe 356. 496; Wallenstein, Prolog 588; Wallensteins Tod 480; Wilhelm Tell 259. 363. 401 f.; 551. ─ Epigramme: Aus den Votivtafeln: Aufgabe 128; Das Belebende 128; Das Werte und Würdige 129; Die moralische Kraft 129; Die Triebfedern 129; Die Übereinstimmung 128; Jnneres und Äußeres 128; Mitteilung 128; Sprache 22 Anm.; Unterschied der Stände 129; Zweierlei Wirkungsarten 129; Kant und seine Ausleger 130; Xenien, Goethe-Schillersche 128. 131. 140. ─ Reflexionsdichtungen 77. 80. 81: An die Freunde 82 f.; Das Glück 83; Das Jdeal und das Leben (Reich der Schatten) 82. 83; Das Mädchen aus der Fremde 191; Der Genius 82; Der philosophische Egoist 83; Der Spaziergang 86 f.; Der spielende Knabe 83; Die Führer des Lebens 83; Die Glocke 86; Die Künstler 78 f. 80 f. 214 Anm. 374. 586; Die Worte des Glaubens 82. 88; Die Worte des Wahns 82; Nänie 83; Natur und Schule 82; Sprüche des Confucius 82. ─ Symbolische Gedichte: Das Eleusische Fest 198; Das verschleierte Bild zu Sais 198; Der Pilgrim 198; Die Klage der Ceres 198. ─ Satirische Gedichte: Die Teilung der Erde 102. 113 f. 190. 191. 192; Jeremiade 102. 112. 115; Pegasus im Joch 102. 113. 191; Shakespeares Schatten 102. 112 f. 115; satirische Jugendgedichte 102 (Der Venuswagen) 320. ─ Auffassung der griechischen Tragödie 558. 560. 585 ff. ─ S. über die Braut von Messina (Brief an Körner) 589. 591 (Brief an Goethe) 589 f. (an Humboldt) 591. ─ S. über die Berechtigung der Landschaftspoesie („Über Matthisons Gedichte“) 37; die Poesie der Minnesänger 235; die Satire (über naive und sentimentalische Dichtung) 103 ff.; über die Tragödie 247. 393. 418. 458 469 f.; Brief an Goethe 588 f.; Prolog zum Wallenstein 588; „Recension von Goethes Egmont“ 590; „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“ 591 ff.; „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen“ 538 ff.; „Über die tragische Kunst“ 461. 494. 517. 552 ff. 585 ff.; Über naive und sentimentalische Dichtung 587 f. Schlegel, A. W. v., Arion 66; über des Äschylus Eumeniden (Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst) 622 f. Anm.; über des Euripides Elektra (ebendaselbst) 610 Anm. Schlegel, Elias, Lustspiele (Triumph der guten Frauen) 248. Schlesische Dichter 48. Schönes 6. 148 ff. 152. 425 f. 430 ff.; Aristotelische Definition 240. 332 f. Anm. 543 f. 720 f.; Kantsche Theorie 702 ff. Schuld, tragische, 582 ff. Schwab, Gustav, Johannes Kant 261 f. Schwank s. komisch=poetische Erzählung. Schweizer, Ästhetik derselben 2. 218. 223. 226. 516. Seume, Der Kanadier 339. Shakespeare 6. „ Historien “ 401. ─ Komödien 246. 247. 364. 410. 556. 688 f. 692: Ein Sommernachtstraum 692. 698; Viel Lärm um nichts 667. ─ Schauspiele 364: Der Kaufmann von Venedig 242. 268. 367 ff. 398; Der Sturm 370 ff.; Heinrich IV. 363; Heinrich V. 363; Maß für Maß 365. 366 f.; Richard III. 398 ff. 550; Wintermärchen 385. 389 ff. 667. ─ Tragödien 247. 396. 493: Coriolan 352. 366. 480. 549 f.; Hamlet 199. 609. 651 ff. Julius Cäsar 551. 556; König Lear 459. 476. 477; Macbeth 199; Othello 366. 476. 495; Romeo und Julie 366. 495. Sidney, Philipp, über die Chevy= Jagd 63 f. Simrock, Nibelungen-Theorie 294. Singspiel 347. Sinnspruch s. Epigramm. Sokrates 556. Sophokles 493.; Ajas 366. 459; Antigone 366. 462. 478 ff.; Elektra 609. 610. 611. 612. 633 ff. 646. 653; König Ödipus 366. 459. 461 ff. 471 ff. 560. 572. 596; Ödipus in Kolonos 461 ff. 471 ff.; Philoktet 199. 501 ff. 509 ff. Spangenberg 171. Sprache 22 Anm. 40. Spruchdichtung des deutschen Mittelalters 80. 139. Stricker 322; Pfaffe Amis 221. 322. Successives und Koexistentes in bildender Kunst und Poesie 9 ff. 23 ff. 40 f. 45 ff. 432. Susemihl, Recension von Baumgart, „Pathos und Pathema“ 446 f. Anm. Symbol, Symbolik, Symbolische Poesie 193 f. 196 ff. T. Tassoni, Der Eimerraub 328. Terenz 692. Theuerdank 95 Anm. 1. Thorwaldsen, Argustöter 17; Die Alter der Liebe 196 f. Thukydides 210. Tieck 691. Tierepos s. Epos. Tierfabel s. Fabel. Timoleon (bei Plutarch) 551. Tragödie: aristotelische Definition 423 ff.; (Fragment über die Komödie) 662 ff. 668 f.; Bernayssche Jnterpretation derselben 423 ff. 468. 514 ff.; Goethe über dieselbe 428 ff.; Lessings Erklärung 423 ff. 452 ff. 468. 497 ff. 511 ff. 514 ff. 556 f. ─ Beispiele: Die Braut von Messina 596 ff.; Die Ödipustragödien 461 ff. 471 ff.; Emilia Galotti 485 ff.; Hamlet 609. 651 ff.; Philoktet 501 ff. 509 ff.; Prometheus 558 ff. ─ Dubos über die Tr. 515 ff. Furcht und Mitleid 274. 453 ff. 497 ff. 536 ff.; Größe der Handlung 459. 478 f. 493 ff. 667; Hedonische Wirkung 468 ff. 664. Katharsis 274 f. 432 ff. 523 ff. 661 ff.; Schillersche Theorie der Tr. 247. 458. 461. 469 f. 494. 517. 538 ff. (─ 596); Tr. verglichen mit dem Schauspiel 358 f. 393 ff.; mit der Komödie 555 f. 587. Troubadours 72. U. Uhland: Die verlorene Kirche 263; Lob des Frühlings 38; Nibelungen-Theorie 292. 294; Romanzen (Bertran de Born, Der Kastellan von Couci, Don Massias, König Karls-Lieder, Rolandslieder, Rudello, Taillefer) 74. Urteil, ästhetisches, s. Ästhetisch. V. Ventadour, Bernard von, 72. Vergnügen, s. Hedone. Virgil, Äneis 280 f. Vischer, Th., Definition des Komischen (Über das Erhabene und Komische) 235. Volkslied 49. 51 ff. 153 f.; epischer Volksgesang 205 ff. 212. 213 f. Voltaire 185 425; Enfant prodigue 411; Nanine 412; Pucelle 329; Theorie der Komödie 411 ff. Vossius 187. W. Wagner, Leopold, Die Kindermörderin 496. Waldis, Burkhard, Tierfabeln 168. (vom Hecht) 172. 321. Walther von der Vogelweide 73. Werder, Hamlet-Vorlesungen 654 Anm. Wieland 252; Oberon 549. Willensentscheidung s. Prohairesis. Witz 114 f. 235 f. Wohlgefälliges und Lächerliches 219 ff. 243 ff.; in der Tierfabel 225 f.; in der Parabel 182 ff.; in der satirischhumoristischen Poesie 107 ff.; in der Komödie 669 ff. 685 ff. Wolff, Julius, 315. Wolffsche Philosophie 2. Wolfram von Eschenbach, 282; Parzival 287 ff. 310. 345. Wunder, das im Epos, Märchen u. s. w. 213 ff. X. Xenien, Goethe-Schillersche, 128. 131. 140. Z. Zachariä 95 Anm. 329. Zelter, über die aristotelische Definition der Tragödie (Briefwechsel mit Goethe) 428. Zeus, olympischer 18. Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung in Stuttgart . ──────────────────────────────────── Geschichte der Römischen Dichtung. Von Otto Ribbeck . I . Dichtung der Republik. VII u. 348 Seiten. gr. 8°. M. 7. ─ ──────────────────────────────────── Sophokles' Tragödien übersetzt von Gustav Wendt. 2 Bände. 1884. 8°. VI u. 583 Seiten. Broschiert M. 7. ─ Gebunden M. 9. ─ ──────────────────────────────────── Sophokles' Antigone verdeutscht in den Formen der Urschrift, mit Erläuterungen und Analysen der einzelnen Scenen und Chorlieder und einem Versuch über Ursprung und Wesen der antiken Tragödie von Dr . L. W. Straub, Professor am Eberhard-Ludwigs=Gymnasium in Stuttgart. 1886. 8°. XIV u. 161 Seiten. M. 1. 80. ──────────────────────────────────── Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. Vom 5. Jahrhundert bis zum 16. Jahrhundert. Von Ferdinand Gregorovius. Dritte und vierte Auflage. 1875─1886. 8 Bände. gr. 8°. M. 83. 50. ──────────────────────────────────── Der Kaiser Hadrian. Gemälde der römisch=hellenischen Welt zu seiner Zeit. Von Ferdinand Gregorovius. Zweite neugeschriebene und dritte Auflage. 1884. gr. 8°. X u. 505 Seiten. M. 10. ─ ──────────────────────────────────── Geschichte des Altertums. Von Eduard Weyer. Erster Band: Geschichte des Orients bis zur Begründung des Perserreichs. 1884. 8°. XX u. 647 Seiten. M. 12. ─ Druck von Gebrüder Kröner in Stuttgart.